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German Pages [282] Year 2009
Nietzsche und Europa – Nietzsche in Europa
Nietzscheforschung Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft
Herausgegeben von Volker Gerhardt und Renate Reschke in Zusammenarbeit mit Jørgen Kjaer Jacques Le Rider Annemarie Pieper Robert B. Pippin und Vivetta Vivarelli
Band 14
Nietzsche und Europa – Nietzsche in Europa
Herausgegeben von Volker Gerhardt und Renate Reschke
Akademie Verlag
Die Drucklegung erfolgte mit Unterstützung der Landesregierung Sachsen-Anhalt (Regierungspräsidium Halle) Einbandgestaltung unter Verwendung eines Ausschnitts aus einem Exlibris für Torsten Unger von Olaf Gropp (Magdeburg). Mit Genehmigung des Künstlers.
Redaktion: Katja Deuretzbacher, Sebastian Döring und Veit Friemert
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-05-004298-5
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2007 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Veit Friemert, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer“, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
Inhaltsverzeichnis
Siglenverzeichnis .
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Rüdiger Görner Das Übermorgen im Einstmals oder wie modern ist die Moderne Laudatio für Silvio Vietta zur Verleihung des Nietzsche-Preises in Naumburg/ Saale am 26. August 2006 . . . . . . .
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Silvio Vietta Mit Nietzsche europäisch denken Rede zur Verleihung des Nietzsche-Preises am 26. August 2006 in Naumburg/Saale .
I. Der Nietzsche-Preis
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Hans-Martin Gerlach „Diese Aufklärung haben wir jetzt weiterzuführen …“ Friedrich Nietzsche und die europäische Aufklärung .
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Enno Rudolph Nietzsches Europa .
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II. Nietzsche und Europa – Nietzsche in Europa
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Andreas Urs Sommer Skeptisches Europa? Einige Bemerkungen zum Sechsten Hauptstück: wir Gelehrten (Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Aphorismen 204–213) .
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Damir Barbarić „Wir Heimatlosen“ Nietzsches Gedanken zum Europäertum
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Inhaltsverzeichnis
6 Leila Kais Ein ach so guter Europäer: Thomas Common und seine Nietzsche-Zeitschrift Notes for Good Europeans . . .
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Martine Prange Nietzsche’s Artistic Ideal of Europe: The Birth of Tragedy in the Spirit of Richard Wagner’s Centenary Beethoven-essay
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András Czeglédi „Er hat mich kaputt gemacht“ Zur Nihilismusdeutung Friedrich Nietzsches
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Robert B. Pippin How to Overcome Oneself Nietzsche on Freedom . .
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Hans Gerald Hödl Zur Funktion der Religion Anmerkungen zu Nietzsches Einfluss auf Max Weber und zur Antizipation von religionssoziologischen Fragestellungen in Menschliches-Allzumenschliches . . . . . . . . . .
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Marco Brusotti ‚Der Cultus wird wie ein fester Wort-Text immer neu ausgedeutet‘ Nietzsches Betrachtungen über den Synkretismus im Gottesdienst der Griechen und die Genealogie der Moral . .
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Ekaterina Poljakova „Beherzter Fatalismus“ Das (Anti-)Christliche in der Perspektive des russischen Denkens .
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Herbert Frey Nietzsche und die antike griechische Religion .
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Niklas Corall „Unwälzbar ist der Stein ‚es war‘: ewig müssen auch alle Strafen sein!“ Nietzsches Auslegung des Monotheismus als Rache am Leben . . .
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Paolo Stellino Jesus als ‚Idiot‘ Ein Vergleich zwischen Nietzsches Der Antichrist und Dostojewskijs Der Idiot . . . . . . .
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III. Nietzsche und die Religionen Philosophische, religionswissenschaftliche und theologische Aspekte in historischer, systematischer und rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht 14. Nietzsche-Werkstatt, Schulpforta (13.–16. September 2006)
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IV. Aufsätze Klaus Goch Erweckungsphilologie Martin Pernets seltsame Präsentation eines Nietzsche-Familiendokuments Jacques Le Rider Nietzsche et Flaubert .
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Nietzsche et l’Europe, hg. von Paolo D’Iorio und Gilbert Merlio (Knut Ebeling) . . . . . . . . . . . . . .
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Enrico Müller, Die Griechen im Denken Nietzsches; Theodor Lindken, Rudolf Rehn, Die Antike in Nietzsches Denken. Eine Bibliographie (Renate Reschke) . . . . . . . . .
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Volker Ebersbach, Der „Verlust des Mythus“ oder Das Unerlässliche steht in Frage. Nietzsches Tragische Anthropologie, Teil 2 (Karen Joisten) .
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Uwe Janensch, Goethe und Nietzsche bei Spengler. Eine Untersuchung der strukturellen und konzeptionellen Grundlagen des Spenglerschen Systems (Hans-Gerd von Seggern) . . . . .
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Hans-Gerd von Seggern, Nietzsche und die Weimarer Klassik (Sandro Barbera) .
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V. Rezensionen
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Claudia Rosciglione, Homo Natura. Autoregolazione e caos nel pensiero di Nietzsche (Mattia Riccardi)
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Werkausgaben Werkausgaben nach den Kritischen Werk-/Briefausgaben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin, New York 1967ff. und 1980. KGW KGB KSA KSB
Kritische Gesamtausgabe, Werke Kritische Gesamtausgabe, Briefe Kritische Studienausgabe, Werke Kritische Studienausgabe, Briefe
sowie nach der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe Werke bzw. Briefe, München 1933ff. HKGW HKGB
Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Werke Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Briefe
Siglen einzelner Werke AC BA CV DD DS DW EH FW GD GG GM GMD
Der Antichrist Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern Dionysos-Dithyramben David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller (Unzeitgemäße Betrachtungen 1) Die dionysische Weltanschauung Ecce homo Die fröhliche Wissenschaft Götzen-Dämmerung Die Geburt des tragischen Gedankens Zur Genealogie der Moral Das griechische Musikdrama
Siglenverzeichnis
10 GT HL IM JGB M MA MD NF NH NW PHG SE SGT ST VM WA WB WL WS WzM Za
Die Geburt der Tragödie Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (Unzeitgemäße Betrachtungen 2) Idyllen aus Messina Jenseits von Gut und Böse Morgenröthe Menschliches, Allzumenschliches (I und II) Mahnruf an die Deutschen Nachgelassene Fragmente Ein Neujahrswort an den Herausgeber der Wochenschrift Im neuen Reiche Nietzsche contra Wagner Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen Schopenhauer als Erzieher (Unzeitgemäße Betrachtungen 3) Sokrates und die griechische Tragödie Sokrates und die Tragödie Vermischte Meinungen und Sprüche Der Fall Wagner Richard Wagner in Bayreuth (Unzeitgemäße Betrachtungen 4) Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne Der Wanderer und sein Schatten Wille zur Macht Also sprach Zarathustra
Abkürzungen für Nietzsche-Periodika Nietzsche-Studien – Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzscheforschung, begründet von Mazzino Montinari, Wolfgang Müller-Lauter, Heinz Wenzel, hg. von Günter Abel, Josef Simon, Werner Stegmaier, Berlin, New York: Walter de Gruyter Verlag Nietzscheforschung – Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, hg. von Volker Gerhardt und Renate Reschke, Berlin: Akademie Verlag
I. Der Nietzsche-Preis
RÜDIGER GÖRNER
Das Übermorgen im Einstmals oder wie modern ist die Moderne Laudatio für Silvio Vietta zur Verleihung des Nietzsche-Preises in Naumburg/Saale am 26. August 2006
Was verbinden wir mit der Moderne? Eine Vielzahl von aufrüttelnden künstlerischen Ereignissen, skandalträchtige Affronts gegen den etablierten bürgerlichen Geschmack, die zu einem Politikum werden können. Wir sprechen vom ‚modernen Staatswesen‘ im Gegensatz zum feudalen und verbinden dies mit demokratisch-effizienten Strukturen. Funktionale ‚neue Sachlichkeit‘ galt als Signum moderner Architektur, wobei funktionale Rationalität sich verhängnisvoller Weise auch in den Dienst der totalitären Regime stellte, die sich ihrerseits mit den modernsten Errungenschaften der Technik und auch der Machttechnik ausstatteten. ‚Modern‘ meinte im positiven Sinne aufgeklärt, ohne abgeklärt zu sein, auf Augenhöhe zu bleiben mit Anschauungen, die sich einst revolutionären Errungenschaften verdanken. Der Moderne stellte lange seine Uhr nach 1789 und dem Zeitmaß des für ewig erklärten Revolutionskalenders. Das alles bedeutet: Die Moderne ist in erster Linie der Name für einen Bewusstseinsfaktor, für den Glauben an Neues, Unerhörtes, nicht für permanente, sondern für eine verstetigte Avantgarde. Der junge Friedrich Nietzsche brachte dieses Unerhörte noch mit einer Grund- oder Daseinsmelodie in Zusammenhang, die „immer wieder von Neuem“ zu gebären verstehe, und zwar Dichtung, Poesie der Menschheit, wenn auch nicht unbedingt der Menschlichkeit. Zum Unerhörten konnte in der Moderne seit Georg Büchner immer auch die Frage nach dem Umgang mit dem Nichts, der Leerstelle gehören. Nehmen wir folgenden Fall: Mehr als zehn Jahre hatte ein Bildkünstler namens Frenhofer an seinem „unbekannten Meisterwerk“ in Honoré de Balzacs gleichnamiger Novelle gearbeitet, hatte seine Motive revidiert, korrigiert und übermalt, die Konturen aufgelöst, das Konkrete entstellt und dann seine Freunde Poussin und Porbus eingeladen, um ihnen sein großes Werk zu zeigen. Beide betrachten das Bild, kopfschüttelnd, verwundert, sehen einander an, weil sie auf dem Bild rein nichts erkennen oder gleichsam das Nichts erblicken. Und Frenhofer sieht, dass seine Freunde nichts sehen in seinem Meisterwerk. Zehn Jahre also hat er am Nichts gearbeitet und die Nuancen des Nichts gemalt, ganz so wie später Nietzsche eine Meisterschaft in den Nuancen des Schwarz und Weiß fordern sollte. Der Künstler in Balzacs Geschichte wirft seine Freunde hinaus, erleidet einen Nervenzusammenbruch, verbrennt seine Kunst und nimmt sich das Leben. Und warum? Weil er den Freunden dieses dargestellte Nichts nicht erklären kann. Denn das ist die Moderne unbedingt: er-
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Rüdiger Görner
klärungsbedürftig. Wenn wir bei John Cage nichts hören oder auf einem Bild nichts sehen, dann will dieses Nichts gedeutet, umschrieben sein. Noch auf der postmodernen Bühne der iranisch-französischen Dramatikerin Yasmin Reza spielt dieser wortmächtige Umgang mit dem Nichts, dem leeren Weiß, das zum scheinbar bedeutungsvollen, fraglos jedoch kostbaren Kunstwerk erklärt wird, eine zentrale Rolle. Damit ist jedoch noch nicht gesagt, wie die Stücke dieser Autorin zeigen, dass solches schein-erklärende Reden über das ästhetische Nichts irgendwelchen Sinn ergibt. Eigenartigerweise schätzte Karl Marx die Geschichte Balzacs vom „unbekannten Meisterwerk“ und gab sie seinem Freund Friedrich Engels just zu dem Zeitpunkt zu lesen, als er den ersten Band von Das Kapital zum Druck beförderte, jenes Fragment gebliebene opus magnum, das Marx selbst ausdrücklich als ein abstraktes literarisch-philosophisches Kunstwerk verstanden hatte. Die Pointe nun ist, dass das, was Balzacs Künstler Frenhofer gemalt und was seine Zeitgenossen verkannt hatten, einer Vorwegnahme der Kunst des Abstrakten im Sinne einer radikalen Moderne glich. Und erfährt nicht auch Marxens Kapital (nur Band eins, versteht sich!) gegenwärtig eine Neubewertung als abstrakt-konkretes Gedankenkunstwerk, in dem Menschen bekanntlich nicht vorkommen, als Roman und Kreuzung von Laurence Sterne und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Auguste Comte und Balzac, als Schwellenwerk einer sozialen Moderne, die sich literarisch collagenhaft inszenierte? Übrigens schreitet die Ästhetisierung von Marx als einem modernen „poet of dialectics“ (Francis Wheen) inzwischen unaufhaltsam voran. Nebenbei bemerkt: In Düsseldorf hält man, wie zu hören ist, Das Kapital inzwischen sogar für bühnenreif. Man wird es dort diesen Herbst als abstraktes Schauspiel in Szene setzen. Was sagen uns diese Beispiele? Dass jeder Aspekt der Moderne in sich eine kleine Novelle ist. Und in Silvio Vietta haben diese Novellen ihren animierend gelehrten Erzähler gefunden, einen Ästhetiker des vitalen Dialogs, der Kultur als Textur begreift, das Wort als richtungweisenden Wink, ein vitalistischer Intellektueller, der aus solchen Winken, wie sie sich in der modernen Lyrik im Sinne Hugo Friedrichs, in der ebenso ekstatischen wie gebrochenen Sinnlichkeit des Expressionismus und in der Selbstreflexivität der Frühromantik aufnehmen lassen, die Plastizität seiner eigenen Sprache gewonnen hat. Vietta vertritt eine europäistische Kulturpoetik, die sich zur „Produktivität der Einbildungskraft“ ebenso bekennt wie zum hermeneutischen Verfahren, das er jedoch pluralisiert hat, indem er die Verstehenskontexte ihrerseits als Texte begreift. Vietta versteht sich als ein sensibilisierter und sensibilisierender Intellektueller, der sich zu den Traditionszusammenhängen bekennt, in denen er steht oder in die er sich gestellt hat. Dazu gehören Jacob Burckhardt ebenso wie Martin Heidegger, mit dessen archaisch-modernem Technikbegriff er sich kritisch auseinandergesetzt hat, Hans-Georg Gadamer, mit dem er noch 2002 ein großes Gespräch über Verstehensverfahren führen konnte, und wiederholt Nietzsche, dessen ästhetischen Denkansatz er bei Gelegenheit wie folgt gewichtet hat: „Nietzsche hat einen sehr genauen Blick dafür, dass unsere Weltanschauungen immer eine fiktiv-ästhetische Struktur haben.“ Die literarische Moderne, ihre experimentelle Ästhetik und ihr Beitrag zur europäischen Bewusstseinsbildung stehen im Mittelpunkt von Silvio Viettas Schaffen und Wirken. Seine wegweisenden Studien sind dabei immer auch eines: Findebücher, Bekenntnisse zum Umgreifenden im Denkansatz und schiere Inspirationsquellen. Die Moderne ist nicht sein Credo, sondern kritische Substanz, die uns etwas über die verschiedenen Epochen und unser Verhältnis zu ihnen sagt. Vietta versteht die Moder-
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ne immer auch als Zeitzeugenschaft, als einen ästhetischen Chronometer sozusagen, der in Konkurrenz zu unseren Uhren die Zeit angibt. Daraus ergeben sich fruchtbare Spannungsmomente, die vom Widerspiel des Alten mit dem Neuen leben. Dabei können kuriose Konstellationen entstehen, etwa wenn der noch nicht zwanzigjährige Thomas Mann, sozusagen mitten in der literarischen Moderne, schreibt: „Das Modernste ist heute die Reaktion. [… Hermann] Bahr schwört jetzt auf die Klassiker […] Und der ist l’homme de tête und hat immer die richtigen Instinkte für den letzten und kommenden Zeitgeist.“ Seltsam hat es die deutsche Sprache eingerichtet, dass eine Akzentverschiebung genügt, um aus ‚modern‘ ein morbides ‚módern‘ werden zu lassen. Es scheint, als habe das Deutsche dem Modernen ein ‚memento mori‘ eingeschrieben, die notwendige Erinnerung daran, dass selbst das Avancierteste, dem Verfallen anheim gegeben ist. Dabei beschäftigen uns zumeist eher die Anfänge der Moderne, die wir nicht selten in allem und jedem glauben wetterleuchten zu sehen. Denn nur wer am Beispiel seines bevorzugten Autors oder Themas den Modernitätsnachweis zu erbringen vermag, gilt intellektuell als satisfaktionsfähig. Ein solcher Nachweis dient als Entréebillet für die höheren Diskurszirkel. Nur im Gewand des vorgeblich Modernen scheint sich für manche das Dasein ästhetisch rechtfertigen zu lassen. Wie modern war, sagen wir, Heinrich von Kleist oder Georg Büchner, Heinrich Heine, Karl Marx eben, die Frühromantik oder der Symbolismus? Darüber lassen sich trefflich Kongresse abhalten, meist mit dem Ergebnis, dass man sich einmal mehr darauf einigt, die Kategorie ‚modern‘ neu bestimmen zu müssen. Denn wir haben uns zu Postmodernen erklärt, bevor wir darüber einig waren, was es denn genau sei, dem wir nachgeboren sind. Und postmodern ist, wer dem Hoffen auf das Neue entsagt hat, die Gleichzeitigkeit der Stile beschwört und wer zu oszillieren versteht zwischen kulturell kodierter Wellness-Befindlichkeit und ironischer Coolness. Doch der betonungsbedingte Zusammenhang von ‚modern‘ und ‚módern‘ sollte unseren Blick beharrlicher auf die Halbwertzeit alles Modernen lenken und wir sollten uns fragen, welche Enzyme oder Verfallsstoffe es in der Moderne denn sind, die in ihr stets auch den Verfall keimen lassen. Modern können in ästhetischer Hinsicht Erzählverfahren sein, Montagekunst, Auflösungen von Formprinzipien. Womit gesagt ist: Das Wie tendiert zur Modernität; die Inhalte dagegen erweisen sich eher als beständig. Die Art wie der Frühromantiker Wilhelm Heinrich Wackenroder und der Zeitgeist-Romancier vom cut-and-paste-Dienst, Dan Brown, über Leonardo da Vinci im mehr oder weniger freien Fall phantasieren ist das eine; die Tatsache, dass Leonardo bis heute solcher Phantasien für wert befunden wird das ganz andere. Modern zu sein tritt seit Arthur Rimbaud gerne als Forderung in Erscheinung. Was verband er eigentlich mit diesem Imperativ: „Il faut être absoluement moderne“, den er in seinem Prosagedicht Une saison en enfer aus dem Jahre 1873 ausgegeben hatte? Offenbar die Vorstellung, dass der Zustand oder die Haltung des Modern-Seins etwas Losgelöstes, eben Absolutes, sein könne. Nun zeigt die Geschichte der Moderne aber, dass eben dies nicht der Fall gewesen ist: Moderne ist stets abhängig gewesen, von Vorgaben und Erwartungen, von Größen oder Werten, von denen sich die Modernen absetzen konnten. Modernität aus dem Nichts zu entwickeln, ist augenscheinlich nicht möglich. Womöglich aber ist es gerade dieser Absolutheitsanspruch der Moderne, der in sein Gegenteil, in den Verfall umschlagen kann; er ist der Keim der Selbstzerstörung im Modernen.
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Modern war in ihrer Zeit die Renaissance, also der Rückgriff auf antike Muster; modern waren Dada und object trouvé, unerhört modern die späten Streichquartette Ludwig van Beethovens und schon Arnold Schönbergs zweites, opus 10. Modern wurden Caspar David Friedrich und William Turner, nie dagegen Anselm Feuerbach. Schönberg erklärte 1933 Johannes Brahms, nicht etwa Franz Liszt, zum Progressiven, also Modernen, eine These, die gewissermaßen an allen Tönen herbeigezogen klang. Kleist, der Radikale im Dienst der Moderne, schrieb zu Johann Wolfgang von Goethes Missfallen für eine erst noch zu schaffende Bühne. Richard Wagner schuf sich diese selbst für seine Zukunftsmusik. Gabriele d’Annunzio, Ezra Pound und Wyndham Lewis waren radikal modern, bevor sie sich reaktionär gebärdeten. Und T. S. Eliot wurde sich zeitlebens nicht darüber klar, wie modern sein Waste Land war; zumindest bot er seinen ganzen anglo-katholizistischen Konvertitenmut und seine Four Quartetts auf, um dieses ihn zuletzt peinlich berührende Frühwerk zu widerrufen. Dass dieser Widerruf niemanden interessierte, war das Glück von Eliots Nachruhm. Sie stirbt nicht aus, sie veraltet nie, die Frage nach dem, was modern sei. Man könnte sie einen Jungbrunnen des Denkens nennen; denn das Moderne unterhält bekanntlich eine ironische Dauerbeziehung zur Idee des Neuen, Unverbrauchten, zum Unerhörten, in ihrer dogmatischen Form jedoch auch zum Unsäglichen. In technisch-funktionaler Hinsicht will das Moderne in Gestalt des Innovativen Lebenserleichterung bewirken bis hin zur Automatisierung von Verfahrensabläufen. In London gab es, ein Frühjahr lang, ein Kontrastprogramm der besonderen Art zu bewundern: Das Victoria & Albert Museum in Kensington, jener bizarre Gipfelpunkt viktorianischer Sammelwut, konfrontierte sich mit Bauhaus-Versatzstücken. Nie wirkte das Moderne unwahrscheinlicher, absurder als auf jenem Plakat, das am Eingang zu diesem Sammlertempel prangte, vielleicht auch gerade weil dieses Museum einst selbst als modern galt, heute jedoch eher seine eigene Antiquiertheit ausstellt. Will sagen: Das Moderne versteht sich als ein Anspruch, seine Zeitbedingtheit vergessen zu machen, wenn es ihn erhebt, den Anspruch das zu sein, was es vorgibt zu bleiben: modern. Modern hat mit Mode zu tun; wie es auch im Trend der Zeit liegen kann, anti-modern zu sein. Doch die Moderne als Bewusstseins- und Stilkategorie will mehr. Sie hat von Anbeginn ihren (letztlich unabschließbaren) Projektcharakter behauptet, wobei die Frage nach dem Beginn der Moderne ebenso wenig ausstirbt wie jene nach dem Wesen der Moderne. Die zwischen Renaissance und Reformation, Galileo Galilei und Isaak Newton sich einpendelnde Neuzeit ist jedoch noch nicht das, was wir landläufig als Moderne bezeichnen. Modern ist ein romantisches Bewusstsein, welches das Unbewusste ahnte, dann sogleich reflektierte und gleichzeitig ein erstes Ende der Geschichte erlebte: Napoleons Stornierung des Heiligen Römischen Reiches vor genau zweihundert Jahren. So lange war immerhin einer der wichtigsten mittelalterlichen Staatsrechtstitel präsent, eine sakral-profane Konstruktion, die Novalis, kurz bevor sie vom Weltgeist zu Pferde überrannt wurde, als anachronistisches Zukunftsmodell für Europa gepriesen hatte. Die Moderne kann ein Chamäleon sein, ein Einhorn oder ein weißer Elefant; dieses Fabelwesen im Dienste der Kunst, bewegt sich zwischen Aufbruch und Abbruch, kennt anmaßende, selbstische Gebärden, lebt vom Zweifel an den Gegebenheiten, richtet sich ein in Zwischenbereichen, die es als experimentelles Biotop zu nutzen weiß. „Moderni-
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tät als Zweideutigkeit der Werthe“ so lautet eine späte Notiz Nietzsches, über die Silvio Vietta in einer grundlegenden Abhandlung über Nietzsches Kulturkritik ausführlich gehandelt hat, eine Notiz, die verdeutlicht, welche Aufgabe sich die Moderne verstärkt seit Ende des 18. Jahrhunderts gestellt hat: Die Subjektivität nicht nur freizusetzen, sondern sie sich an den Zweideutigkeiten im Leben erproben zu lassen. Wie stellt man sich zu Gegensätzen wie jenen zwischen Natur und Zivilisation, Denken und Handeln, Träumen und Verwirklichen, Kunst und Wissenschaft? Das war zum Beispiel Adam Müllers Frage, der daraus seine Theorie von den Wechselbeziehungen entwikkelte, durch welche die Welt der schroffen Gegensätze überwunden werden sollte. Zu den Zweideutigkeiten der Modernität gehört ihr Umgang mit Tradition und Avantgarde. Einerseits versichert sich die Moderne traditioneller Überlieferungen, und sei es nur, um sich von ihnen abzusetzen; andererseits sieht sie sich durch Avantgarden immer wieder dynamisiert, wobei der Sensations- und Selbstüberbietungscharakter der Avantgarde ihr eher suspekt ist. „Neue Ohren für neue Musik. Neue Augen für das Fernste. Ein neues Gewissen für bisher stumm gebliebene Wahrheiten“, fordert Nietzsche in Der Antichrist und weist damit auf die für jede Phase der Moderne so entscheidende Erneuerung der sinnlichen Wahrnehmung und ihrer intellektuellen Verarbeitung. Die sich im Regietheater inszenierende Dauerverfremdung bestimmter Stoffe gehört dabei ebenso zu dieser radikalisierten Wahrnehmungsweise wie Arthur Rimbauds Wille zur „Entregelung der Sinne“ – für ihn die Folge einer Subjektivität, die dem Ich nicht mehr gestattet, Herr im ohnehin schon verpfändeten Haus zu sein. Jedes Sinnesorgan gewinnt durch diese Entregelung eine eigene Subjektivität. Was das Auge sieht, korrespondiert nicht mit dem vom Ohr Gehörten oder von den Händen Betasteten, nicht mit dem Gerochenen oder dem zeit-räumlich Erfahrenen. Die Moderne ist ein im wesentlichen eurozentrisches Phänomen, was kein Verdienst darstellt, sondern eine Bürde; die Kunst besteht darin, diese Bürde kreativ und kulturinteraktiv zu nutzen, das Potential der jeweiligen Modernen auszuschöpfen und sich dabei stets neu zu fragen: Wie viel Zeitgemäßheit verträgt die Moderne? Wie unzeitgemäß soll und kann sie sein? Das waren auch Nietzsches Fragen, die sich vor allem darauf richteten, was das überhaupt sei, das Gemäße, ob nun im zeitkonformen oder trendkritischen Sinne. Ist modern, wer die technischen Möglichkeiten seiner Zeit erfasst und anzuwenden versteht, dabei aber gegen den Uhrzeigersinn denkt und gegen den Strom schwimmt? Oder erfordert Modernität ein Auf-der-Höhe-seiner-Zeit-Sein in allen Lebenslagen? Den Anspruch auf Modernität hat nur verwirkt, wer sich als Anachronist zu erkennen gibt, wer also dogmatisch unzeitgemäß in Erscheinung tritt, um sich der eigenen Zeit zu verweigern. Es spricht tatsächlich einiges dafür, dass Nietzsche die Kategorie des Unzeitgemäßen auch deswegen so emphatisch ins Gespräch gebracht hatte, um den umfassenden Anspruch des neuen, Modernen zu unterlaufen. Noch 1886 lässt sich dies in seiner berühmten Äußerung über Goethe erkennen, die besagt, dass dieser zu seiner Nation „weder im Verhältnis des Lebens, noch des Neuseins, noch des Veraltens“ stehe, sondern in der „Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen“ gewesen sei. Denn das heißt doch: Goethes Werk liefert das Gegenmodell zum Diskurs über jede Moderne. Nietzsche fasste es als ein unzeitliches Werk auf, als einen archetypischen Fall von wissens- und weisheitsgetränkter Kunst, einzigartig eben, mit Modernem allenfalls spielend, etwa in der Homunculus-Welt von Faust II, in welcher sich die Frage der Synthetisierung von
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Humaniora mit souveräner Radikalität stellt, zu schweigen von den Wahlverwandtschaften, welche den Sinn von Beziehungsproblemen wissenschaftspoetisch als Laborbericht aus dem Bereich der Chemie und der Psyche erzählend aufbereitet. In einem Xenion Goethes heißt es bezeichnend lakonisch zum Thema Moderne: „Wir sind vielleicht zu antik gewesen./ Nun wollen wir es moderner lesen.“ An Goethe wie übrigens auch an Wolfgang Amadeus Mozart scheitert denn auch gemeinhin der Versuch, Modernität als universal-ästhetische Kategorie zu erproben. Denn ihre Werkstrukturen tendierten, trotz fragmentarischer Einzelstellen, zur Geschlossenheit, wobei das Moderne sich eher als permanente Versuchung zum Offenen darzustellen pflegt, aber auch als Verlockung dazu, sich eher auf das Labyrinth der Brüche in unserer Welterfahrung einzulassen und nicht auf die Lösungen aller Formprobleme, wie sie zum Beispiel Schönberg an Mozart wahrgenommen hat. Die Janusgesichtigkeit der Moderne ergibt sich schon allein daraus, dass sie der Aufklärung verpflichtet ist, aber eben auch der Freisetzung einer Gefühlswelt, die sich zur Nachtseite des Daseins bekennt, zu den Träumen, den Sehnsüchten, dem Altneuland der Psyche, in dem das Ich sein Es erkennt. Die Moderne ist reflektierend und expressiv zugleich; sie sucht Aufklärung über den Mythos und bedient sich selbst mythischer Bilder. In der These von der Unabschließbarkeit der Moderne formuliert sich ein Postulat, das ihre immerwährende Aktualität suggeriert. – Im Wechselspiel von Regression und Progression verortet sich die Moderne immer wieder neu, wobei sie die Rede vom Durchbruch pflegt: Durchbruch zur Subjektivität um 1800, Durchbruch zur ästhetischen Erfassung der Wirklichkeit um 1850, Durchbruch zum gültigen Symbol noch bei Stefan George, Durchbruch zur Abstraktion, Durchbruch zu diesen Erfahrungen unter den radikal veränderten Vorzeichen des Holocaust, des hochgerüsteten Friedens der Nachkriegszeit, der Atombombe, des Terrors. Die Moderne scheint mittlerweile im Stadium ihres Leerlaufs angelangt zu sein, in dem sie eines inzwischen eingebüßt hat: ihre deutlich identifizierbaren Fürsprecher. Denn in unseren Tagen ist aus dem Dandy und Flaneur als den Widergängern der Moderne der Konsument in der demontierten Passage geworden, der von Reproduktionen lebt und sich mit Hörknopf im Ohr oder als TV-Zapper wirklicher Kommunikation verschließt. Wir sind bereits dabei, die Postmoderne zu verabschieden zugunsten eines Unbekannten, Amorphen, einer Mischung von verschiedensten Orientierungsnöten. Behaupten die einen, die Moderne habe sich dadurch besonders ausgezeichnet, dass sie sich quasi im Selbstversuch aus dem ästhetischen Material generierte, meinen die anderen, sie habe auf die Herrschaft des Materialismus reagiert und eine neue Geistigkeit ausgerufen. Dafür steht das Beispiel Wassily Kandinsky, der sich an Nietzsches Also sprach Zarathustra, Wagners Lohengrin und Claude Monet orientierte und Das Geistige in der Kunst 1911 zunehmend in Abstraktionsvorgängen verwirklicht sah. Modern ist, was dringlich erscheint oder, genauer gesagt, was sich dem öffentlichen Bewusstsein als dringlich aufdrängt oder als solches vorgeführt wird, sei es im Bereich des Konsums und der Warenästhetik oder in künstlerischer Hinsicht. Was ist zum Beispiel gemeint, wenn wir William Shakespeares Titus Andronicus, eine seiner grauenerregendsten Tragödien, für ‚modern‘ erklären, sei es in der Bearbeitung von Botho Strauß oder in der Inszenierung des japanischen Starregisseurs Yukio Ninagawa? Bedeutet das, dass wir die Trauer des Titus, die umschlägt in wahnwitzige Rache, auf uns heute bezie-
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hen können? Oder bezieht sich dessen Modernität auf den Umstand, dass sich bei Titus schwer entscheiden läßt, ob sein Wahnsinn echt oder gespielt ist? Goethes These, nach der im geglückten Werk Altes und Neues, Antikes und Modernes ineinander verschränkt, besser noch: vereinigt sein sollen, traf bereits nicht mehr auf den radikalsten Modernen der späten Goethe-Zeit zu: auf Büchner, auf dessen gedachter Bühne sich das Nichts wirkungsmächtig inszenierte und geradezu jede Spielart des modernen Theaters antizipierte. Ist es nicht das, was wir von einem Modernen erwarten, dass er bestimmte Entwicklungen vorwegnimmt, Bewusstseinszuständen vorgreift, ahnt, was werden kann und sagt, was sonst niemand auszusprechen wagt? Kein Wunder, dass die Artisten-Religionen um 1900 in Nietzsches Zarathustra eine Offenbarung erkannten, etwa im Kernstück des dritten Teils, das unter dem Titel Von alten und neuen Tafeln einen ganzen Katalog von ‚modernen‘ Befindlichkeiten bietet. Nietzsches Zarathustra empfiehlt sich darin als „ein Vorspiel besserer Spieler“ und erklärt, dass es darauf ankomme, alle „Tafeln“ oder Dogmen zu „zerbrechen“ – auch die neuen. Auf eines freilich verpflichtet er sich und seine „Brüder“: „Wer über alte Ursprünge weise wurde, siehe, der wird zuletzt nach Quellen der Zukunft suchen und nach neuen Ursprüngen.“ Und das meint, im Vorgestern das Übermorgen entdecken lernen, im Archaischen die Urbilder unserer Prognosen. Was Zarathustra lehrt, ist Gespür, Witterung, eine Ahnung auf der Suche nach Gegenwart, Bekenntnis zum Instinkt. In Bezug auf das Moderne meint das: wir sollten unserem Gefühl dafür vertrauen. Auch ohne detaillierte Kenntnis spüren wir einfach, dass Johann Pachelbels Kanon und Gigue keine Fanfare der Moderne ist und Joseph von Eichendorffs Mondnacht nicht ihr Credo. Was dagegen in Hector Berlioz aufbrach oder in Charles Baudelaire, in Alfred Döblin und Paul Klee, zeigte sich in ästhetischen Konfigurationen, die aus Bruchlinien bestanden. Zur einer Hauptrichtung in der Moderne konnte dabei die Kunst des Absurden werden, für die Theodor W. Adorno eine an Nietzsche wie von weither erinnernde Formel fand: „Es bedarf des Absurden, um dem objektiven Wahnsinn nicht zu erliegen“, schreibt er in den Minima Moralia, seinen „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“. Dass die Moderne eine Geschichte hat, gehört zu den Einsichten ihrer Interpreten. Diese Geschichte hat sich ihrerseits in das Leben und Wirken Silvio Viettas eingeschrieben. Man darf das wörtlich verstehen, weil er in einer seiner großen Untersuchungen zur Ästhetik der Moderne ihre Texturen herausgearbeitet und dabei zwischen sechs Textualitäten der Moderne unterschieden hat: Jene der Emotion, der Imagination, der Erinnerung, der Assoziation, der sinnlichen Wahrnehmung und schließlich der Reflexion. Texturen verweisen auf Verfahren und Prozesse. Sie meinen das Verweben von Sprache und Bildlichkeit, Eindruck und Ausdruck, aber auch das Exponieren von Situationen oder Brüchen. Bei Gottfried Benn arbeitet das lyrische Ich an solchen Texturen, um sich wirkungsvoll entblößen zu können. „Welch Bruderglück um Kain und Abel,/ für die Gott durch die Wolken strich –/kausalgenetisch, haissable:/ das späte Ich.“ Das „Hassenswerte“ an diesem Ich ist seine Ursprungsgeschichte, durch die sich die zarathustraisch-prophetische Aufbruchsstimmung annulliert. „Im Anfang war die Flut. Ein Floß Lemuren/ schiebt Elch, das Vieh, ihn schwängerte ein Stein./ Aus Totenreich, Erinnern, Tiertorturen/ steigt Gott hinein.“ Schon der frühe Benn, der das späte Ich bedichtet, webt seine poetischen
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Texturen aus Disparatem. Hier wächst zusammen, was augenscheinlich nicht zusammen gehört. Und das Ergebnis: ein lyrisches Karzinom, ein poetisch-medizinischer Fall. Das kalkulierte Skandalon der frühen Bennschen Lyrik und damit des unüberbietbaren Beitrages zum Modernismus des 20. Jahrhunderts bestand ja gerade darin, dass dieser Arzt-Dichter aus karzinogenem bis syphilitischem Wortmaterial lyrische Pathologien entstehen ließ, die er dann als zeittypisch deklarierte und weniger kulturkritisch, denn gefühlsdenunzierend einsetzte. Textualität im Sinne Viettas trifft auch exakt das Verfahren Walter Benjamins, für den Moderne, etwa im Surrealismus, die Bündelung quasi revolutionärer Intelligenz bedeutete. Benjamin, der konsequenter als viele andere moderne Denker das Material sprechen ließ, beziehungsweise zum Sprechen brachte, begriff die Passage als die Textur von Paris, ihre Auslagen, das in ihnen Gesammelte, Auffindbare, die Waren also, als das Vokabular des 19. Jahrhunderts und die Passagen-Konstruktionen als dessen architektonische Grammatik. In der Moderne erklären sich alle nur denkbaren Zeichen zu Texten – von den Traumspuren bis zu den Graffitis der Städte. Damit verbunden ist der Glaube an die Lesbarkeit dessen, was in der Welt ist. Der Künstler erschließt seinem zunehmend fassungslosen Publikum jene Erscheinung des Lebens als Text, liest sie ihm vor und nicht selten dadurch auch die Leviten. Der Künstler deutet durch seine Lesart der Dinge und Gesten die Welt. Dieses Lesen gleicht an sich einem synästhetischen Vorgang, der sich aus romantischen Wahrnehmungsformen herleitet, von Wagner zum Programm erhoben und von den Symbolisten bereits als Selbstverständlichkeit behandelt wurde. In diesem Lesen der Phänomene, das um 1900 auch die Philosophie ergreift, sind das Sehen, Tasten und Hören mit enthalten. So kann selbst der Klang zum visuellen Phänomen werden und die Farbe zum musikalischen Ereignis. Der gelbe Klang Kandinskys, der „farbige Ton“, wie er sagte, ist nicht mehr nur Farbnuance oder Farbintensität, wie sich dies im Wort ‚Farbton‘ ausdrückt, sondern ein buchstäblich neues Ausdrucksmedium. Doch versucht die Moderne um 1910 mehr als nur die lesende Erschließung von Welt; sie ist darauf angelegt, neue Welten zu entdecken, womit keinesfalls nur der Bereich des Unbewussten gemeint ist. Vielmehr handelt es sich um Welten, die durch ungewöhnliche Verbindungen von Farbe und Form, Klang und Wort entstehen, also im und durch das Material generiert werden. Diese spirituell noch gesteigerte Überbietung der Wirklichkeiten, die ihrerseits nunmehr nur im Plural stehen können, tendiert zur Abstraktion. Die Linie abstrahiert vom Raum, der farbige Klang von der Zeit und dem spektralen Kontext und das lautlich sich verselbständigende Wort (in der Dada-Bewegung) von traditionellen Bedeutungsstrukturen in der Sprache. Modern war nun, was sich zu abstrahieren verstand, wobei die eigentliche Entdeckung darin bestand, selbst das Abstrakte sinnlich erfahren zu können. Die Modernität der Moderne definiert sich nach der Art und Intensität des Selbstversuchs, dem sie sich unterzieht. Ihr Experimentcharakter wirkt existentiell und spielerisch zugleich. Dass Arnold Schönberg am Ende seines Lebens Spielkarten entwarf, mag dabei ein Symbol sein für die Bereitschaft des Modernisten, noch zuletzt alles auf eine Karte zu setzen. – Modern im Denken war die Überlegung, dass selbst die Kommunikation Sprachspielen unterworfen sei. Nur fragt sich, was bringt sich dabei ins Spiel? Die Worte, ihre fluktuierenden Bedeutungen, die damit verbundenen Intentionen? Ludwig Wittgen-
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stein, dessen philosophisches Schreiben phasenweise einer protokollsatzartigen Poetik gleicht, entwarf schon im Tractatus logico-philosophicus von 1918, übrigens einem veritablen modernistischen Manifest, eine Grammatik des Denkens, die immerhin den Satz enthält: „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist“. Wenn Nietzsche Recht hat mit seiner These, dass wir an die Grammatik glauben wie an einen Gott, dann liefert Wittgensteins Denkgrammatik geradezu einen Gottesbeweis. Das Moderne an ihm ist, dass Wittgenstein unsere Denkansätze aufs Spiel setzt, diesem Spiel aber Regeln abgewinnt und neue zuschreibt und der Logik dabei auch ihren Scheincharakter entlockt. „Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit.“ Liest man diesen Satz des Tractatus, dem die Behauptung folgt, dass das Bild auch eine Tatsache sei, vor dem Hintergrund des Kubismus, dann besteht an der ästhetisch-modernistischen Dimension dieses kontingenten Sprachdenkspiels kein Zweifel mehr. Wie hält es die Moderne mit der Erinnerung und also mit der Zeit? Gemeinhin verbinden wir ‚Moderne‘ mit Neuanfang, wobei sie zuweilen sogar unter tabula-rasa-Verdacht steht. Aber die Moderne meint nicht ‚Stunde Null‘, dieses absurde Zeitmaß der Selbsttäuschung und zweifelhafter Mittag der Geschichtsentsorger. Der nicht überbrückbare Zivilisationsbruch, der quer durch das moderne Bewusstsein geht, der Holocaust, verbietet ein für allemal einen selbstgefälligen Umgang mit der Vergangenheit, auch gerade weil er von einem der modernsten, zivilisatorisch avanciertesten Kulturen, der deutschen nämlich, inszeniert und ins verbrecherische Werk gesetzt worden ist. Moderne bedeutet immer auch radikale Vergegenwärtigung des Gewesenen. Selbst die Scheinnaivität von Dada erforderte eine beträchtliche Gedächtnisleistung seiner Akteure. Jeder Schritt nach vorne setzt in der Moderne Reflexion voraus und diese Erinnerung. Von einer bloßen Dialektik der Moderne zu sprechen wäre dabei allzu schematisch. Längst haben wir es in den diversen Stadien der Moderne mit einer Pluralektik der Reflexionen und Phänomene zu tun, die alles mit allem ins Spiel bringen aber im Wissen, dass der Zivilisationsbruch der Brüche, der in den labyrinthischen Tötungsgräben des Ersten Weltkrieges blutig vorgezeichnet war, die Shoa, durch nichts überspielt werden kann. Die Moderne: sie bedeutet(e) die Entfesselung aller Sinne, die Mobilisierung aller Kräfte in Laboratorien, Werkshallen, Schützengräben und Ateliers, diese Moderne ist sich immer wieder selbst geschichtlich geworden, hat sich scheinbar selbst überholt und als Postmoderne überboten, sie zeigt sich uns als potentiell stets erneuerungsfähiges Mixtum compositum aus Archaischem und Überreflektiertem, aus Instinkt und Kalkül, verdrängtem Bewusstsein, das als Unbewusstes weiterwirkt und sich in strengen Linien oder Arabesken ausdrückt. Der Moderne, so befand Friedrich Schlegel im Jahre 1800, fehle im Vergleich zur Antike, eine Mythologie als Anspielungshorizont. Wenig später relativierte er diese Aussage zwar und meinte: Shakespeare und Miguel de Cervantes hätten diese Aufgabe übernommen und mit Hamlet und Don Quichote quasi mythologische Figuren geschaffen, auf die sich die Moderne beziehen könne. Aber die Frage blieb nicht nur bei Schlegel offen, inwieweit die Moderne mythosbedürftig sei und ob sie nicht gerade dadurch ‚modern‘ sei, dass sie mit dergleichen Bezugsgrößen im Sinne einer radikaleren Spielart der Moderne, nämlich der Avantgarde, breche. Gewiss ist, eine traditionsreflektierte Moderne kann und will nur gemäßigte Avantgarde sein; sie arbeitet an den Mythen weiter, während es in der Natur der Avantgarden zu liegen scheint, sich selbst zum Mythos zu werden.
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Von Gadamer hat Vietta die Formel übernommen, dass Interpretation ein dialogisches Geschehen sei. Aber er ist dabei nicht stehen geblieben, sondern hat die Moderne als ein großes Gespräch begriffen, ein Gespräch über die Poetik des Bewussten und Unbewussten, über die Ästhetik der Erinnerung und das Wechselspiel von Tradition und Utopie. Die Moderne seit der Frühromantik als ein kulturstiftendes Wagnis zu begreifen, das Novalis praktizierte und Nietzsche radikalisierte, dieses Wagnis vor europäischem Horizont vorgeführt zu haben, ist Silvio Viettas Maßstäbe setzendes Verdienst. Diesem Wagnis Moderne zu entsprechen, erfordert intellektuellen Lebensmut. Silvio Vietta hat ihn Werk um Werk, Vortrag um Vortrag – und an deren Schlüsselstellen auch in kritischer Auseinandersetzung mit Nietzsche – unter Beweis gestellt; und sein Wirken macht Mut, sich auf das Wagnis Moderne immer wieder neu einzulassen.
SILVIO VIETTA
Mit Nietzsche europäisch denken Rede zur Verleihung des Nietzsche-Preises am 26. August 2006 in Naumburg/Saale
Den Nietzsche-Preis zu erhalten, ist eine Ehre besonderer Art. Friedrich Nietzsche ist meiner Wahrnehmung nach der symptomatischste Denker der Moderne. Kaum einer hat wie er so viele Symptome der Moderne erkannt und zugespitzt formuliert. Oft provokativ im Übrigen. Oft auch über das Ziel hinausschießend. Nietzsche war kein Autor der political correctness. Lieber wollte er provozieren als anpasslerisch im main stream der Zeiten schwimmen. Aber darum auch sind viele seiner Symptomanzeigen so hellsichtig. In der Nietzsche-Lektüre und entlang seiner Gedanken können wir viel von der Moderne – und damit auch über unsere eigene Gegenwart – lernen. Nietzsche ist aber auch ein Autor, der wie wenige andere große Autoren der Moderne die Symptome dieser Epoche an sich erfahren, man kann sagen: erlitten hat. Symptomatisch hat er den Schmerz der Moderne erfahren: ihren Sinnverlust, den ‚Tod Gottes‘, das Aufkommen und die Propagierung von Ersatzgöttern, die Moderne überhaupt als Vollendung und Erfüllung einer abendländischen Metaphysikgeschichte. Diese verläuft – in seinen Augen – seit Platon und dem Christentum fehlprogrammiert. Als jener Prophet des Lebens und des Diesseits, als den er sich selbst erfuhr, sah Nietzsche in der Jenseitskodierung der platonischen Philosophie wie des Christentums den entscheidenden Irrtum der abendländischen Kulturgeschichte. Dabei nimmt sein Kampf gegen das Christentum im Alter und schon unter den Zeichen seiner Krankheit immer bizarrere und auch schrecklichere Formen an. Schließlich stilisiert er sich im Kampf gegen das Kreuz selbst zum modernen Schmerzensmann: Ecce homo. In dieser Phase wird seine Sprache immer heftiger, auch unsubtiler, kriegerischer. Auch dieser Schmerzensmann Nietzsche mit seinen sprachgewaltigen Irrtümern ist ein Symptom der Moderne. Die Frage, die sich uns hier schon stellt, lautet: Wie Nietzsche lesen? Es ist ein Grundund Hauptproblem aller Nietzsche-Forschung und Nietzsche-Deutung. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle den Satz des Novalis nahe bringen: „Der wahre Leser muss der erweiterte Autor sein.“1 Auf Nietzsche adaptiert: Das Lesen soll/muss ihn produktiv öffnen, nicht verschließen, erweitern, nicht verengen, wenn wir denn von Nietzsche etwas lernen wol1
Friedrich von Hardenberg (Novalis), Historisch kritische Ausgabe. Das philosophische Werk I, hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz, Stuttgart 1965. Dritte erweiterte und verbesserte Auflage 1981, 470.
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len. Ich halte daher, das kann ich hier in Paranthese zufügen, die Nietzsche-Lektüre auch einiger bekannter deutscher Gegenwartsphilosophen für unproduktiv. Man muss sich nur angucken, was da ein bekannter deutscher Philosoph über das Thema ‚Nietzsche und Hitler‘ ins Netz stellt. Aber was können wir von Nietzsche lernen, Anfang des 21. Jahrhunderts, mit einer gebrochenen nationalen Identität und einer unentwickelten europäischen? Nietzsches Denken setzte an, als der Nationalismus in Deutschland hohe Wogen schlug: nach dem gewonnenen Krieg gegen Frankreich und der Reichsgründung von 1871. Er warnt in den Unzeitgemäßen Betrachtungen von 1873 sehr nachdrücklich vor dem neudeutschen Siegergefühl des so genannten „Bildungsphilisters“. „Gut deutsch sein“, sagt er an anderer Stelle, „heisst sich entdeutschen“, nämlich „Ueberwindung seiner deutschen Eigenschaften“ (KSA, MA-II, Aph. 323, 2, 511f.) – und dies im Sinne ihrer progressiven Höherentwicklung und Nichterstarrung in Hochmut und Dünkel. „Wenn nämlich ein Volk vorwärts geht und wächst, so sprengt es jedes Mal den Gürtel, der ihm bis dahin sein nationales Ansehen gab. Bleibt es bestehen, verkümmert es […]“ (ebd.). Wohlgemerkt: Das heißt gerade nicht Abschiednehmen von einem nationalen Bewusstsein, wohl aber ein Abschiednehmen von jenem imperialen Herrschaftsdenken, das in der Tat die deutsche Mentalität insbesondere nach 1871 prägte. Aber dieser neudeutsche Imperialismus hatte auch schon seine nicht nur deutsche, sondern europäische Vorgeschichte. Nietzsche hatte einen klaren Blick dafür, dass bereits Anfang des 19. Jahrhunderts – und hier vor allem durch Napoleon – ein neuer Nationalismus in Europa Einzug gehalten hatte, dessen schlimme kriegerische Auseinandersetzungen erst noch bevorstünden, „denn die nationale Bewegung, aus der diese Kriegs-Glorie herauswächst, ist nur der Gegen-choc gegen Napoleon und wäre ohne Napoleon nicht vorhanden“ (KSA, FW, Aph. 362, 3, 610). Circa dreißig Jahre vor dem Ersten und circa sechzig vor dem Zweiten Weltkrieg prognostizierte Nietzsche bereits, „dass sich jetzt ein paar kriegerische Jahrhunderte aufeinander folgen dürfen, die in der Geschichte nicht ihresgleichen haben, kurz, dass wir in’s klassische Zeitalter des Kriegs getreten sind“ (ebd.). Nietzsche sah das damals auch im Kontext eines europäischen Imperialismus, verbunden mit dem Glauben an eine ‚Vermännlichung‘ und auch Vorherrschaft Europas. Aber welche Rolle könnte ein anderes, entwickelteres Deutschland in Europa spielen? In Menschliches, Allzumenschliches sieht Nietzsche mit modernem europäischen Handel, Industrie, Bücher- und Briefverkehr, eine übernationale „europäische Mischrasse“ – den „europäischen Menschen“ – entstehen und gerade Deutschland dabei in der Rolle als „Dolmetscher und Vermittler der Völker […]“ (KSA, MA-I, Aph. 475, 2, 309). Das ist ein Konzept, das sowohl den Rassismus wie auch den hegemonialen Nationalismus verabschiedet. Dabei auch und gerade die jüdische Kultur Europas in die von Nietzsche prognostizierte und herbeigewünschte Mischung der Kulturen integriert. Denn, so Nietzsche, „das ganze Problem der Juden ist nur innerhalb der nationalen Staaten vorhanden, insofern hier überall ihre Thatkräftigkeit und höhere Intelligenz, ihr in langer Leidensschule von Geschlecht zu Geschlecht angehäuftes Geist- und Willens-Capital, in einem neid- und hasserweckenden Maasse zum Uebergewicht kommen muss, so dass die litterarische Unart fast in allen jetzigen Nationen überhand nimmt […]“ (ebd. 309f.). Nietzsche ahnt bereits, dass dies zu einer Denkform führt, „die Juden als Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und inneren Uebelstände zur Schlachtbank zu führen“ (ebd.).
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„Zur Schlachtbank zu führen“ – noch und erst als „litterarische Unart“ (ebd.). Daraus aber wird in Deutschland furchtbares Handeln werden. Dabei hat sich der Nationalsozialismus zwar Nietzsches Begriff eines ‚Willens zur Macht‘ bedient, aber er steht doch in seinem Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus diametral entgegen Nietzsches Anti-Anti-Semitismus, Anti-Rassismus und Anti-Nationalismus. Das haben intelligente Nationalsozialisten übrigens auch klar erkannt. Nietzsche war kein Steigbügelhalter des Dritten Reiches.2 Nietzsche hat sich selbst als ‚guten Deutschen‘ wie auch als ‚guten Europäer‘ verstanden. Wir sind „gute Europäer, die Erben Europa’s“, sagt er in der Fröhlichen Wissenschaft (KSA, FW Aph. 377, 3, 631). Auch und gerade als moderne Europäer aber sind wir „Heimatlose“, weil Nicht-Anhänger des modischen Nationalismus und Rassismus seiner Zeit. „Nein“ sagt Nietzsche, wir sind „auch lange nicht ‚deutsch‘ genug, wie heute das Wort ‚deutsch‘ gang und gäbe ist, um dem Nationalismus und dem Rassenhass das Wort zu reden, um an der nationalen Herzenskrätze und Blutvergiftung Freude haben zu können, derenthalben sich jetzt in Europa Volk gegen Volk wie mit Quarantänen abgrenzt, absperrt.“ (ebd. 630) Europäisch an Nietzsche ist aber nicht nur dieses explizite Bekenntnis zu Europa. Europäisch an ihm ist auch und gerade der Denkstil dieses deutschen Denkers Friedrich Nietzsche. Er fühlt und denkt: europäisch. Was heißt das? Europäisch denken, auch und gerade in Zeiten des hegemonialen Nationalismus, heißt: immer und jederzeit sich nicht nur seiner deutschen, sondern auch seiner europäischen Kulturwurzeln bewusst sein. Europäisch denken und fühlen heißt: im Gesamtkontext der europäischen Kultur- und Bildungsgeschichte fühlen und denken. Es gibt nach meiner Kenntnis überhaupt keinen anderen Kulturphilosophen in Europa, der die europäische Bildungs- und Kulturgeschichte so differenziert, so bis in ihre Verästelungen hinein gut kennt und vielfach auch in ihren psychologischen Entstehungsbedingungen durchschaut hat wie Nietzsche. Insbesondere die beiden Hauptstränge der europäischen Kulturentwicklung, die abendländische Philosophie-Wissenschaft kennt Nietzsche in Genese und Entwicklung, wie auch die Entstehung und Entwicklung des christlichen Glaubens. Er ist ein Spezialist sowohl in der Logos-Kodierung wie Pistis-(Glaubens)-Begründung der abendländischen Kultur.3 Er kennt die antike Philosophie, das antike Drama, das frühe Christentum – das Mittelalter kennt und liebt er bekanntlich weniger –, aber kennt gut wiederum die Epochen der europäischen Renaissance, der Aufklärung, der Moderne. In diesem Sinne ist er ein moderner europäischer Denker im Gefolge der Aufklärung, aber mit jener Decadence- und Krankheitssymptomatik, die er selbst mit der Romantik verbindet. Nietzsche ist ein europäischer Denker gewaltigen Zuschnitts, in seinem Werk denkt sich die europäische Aufklärung, die französische insbesondere, weiter bis in ihre modernen Konsequenzen hinein. 2
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Das hat bereits die Nietzsche-Forschung aufgearbeitet. Ich verweise auf die Studie von Martha Zapata Galindo, Triumph des Willens zur Macht. Zur Nietzsche-Rezeption im NS-Staat, Hamburg 1999, die ihrerseits die Literatur dazu bereits sichtet. Eine neuere Studie ist die im Privatdruck erschienene Dokumantation von Alexander P. Aeberli, Friedrich Wilhelm Nietzsche und das Dritte Reich, Zürich 2006. Ich entwickele diese Kategorien in meiner Studie: Europäische Kulturgeschichte. Eine Einführung, München 2005.
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Das übrigens macht auch die große Wirkung Nietzsches in den Kunst- und Literaturbewegungen des 20. Jahrhunderts aus: Futurismus, Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus, die Brüder Thomas und Heinrich Mann, Robert Musil, Hermann Hesse, der amerikanische Autor Eugene O’Neill und viele andere sind auf die eine oder andere Weise nietzscheanischem Denken verpflichtet. Gottfried Benn hat einmal gesagt: „Eigentlich hat alles, was meine Generation diskutierte, innerlich sich auseinander dachte, man kann sagen: erlitt, man kann auch sagen: breittrat – alles das hatte sich bereits bei Nietzsche ausgesprochen.“4 Wenn wir Nietzsche als einen großen europäischen Aufklärer sehen und beschreiben, so gehört dazu auch seine Kritik an der „Feindschaft der Deutschen gegen die Aufklärung: Der ganze grosse Hang der Deutschen gieng gegen die Aufklärung, und gegen die Revolution der Gesellschaft“, schreibt er in der Morgenröthe (KSA, M, Aph. 197, 3, 171). Und dazu gehört jener „Cultus des Gefühls“, der sich in Deutschland „an Stelle des ‚Cultus‘ der Vernunft“ gesetzt habe, „und die deutschen Musiker, als die Künstler des Unsichtbaren, Schwärmerischen, Märchenhaften, Sehnsüchtigen, bauten an dem neuen Tempel erfolgreicher, als alle Künstler des Wortes und der Gedanken“ (ebd. 171f). Da spricht auch ein deutscher Denker, der mit seiner eigenen Wagner-Schwärmerei abrechnet, aber keine Zweifel an seiner eigenen Position lässt: „Diese Aufklärung haben wir jetzt weiterzuführen […]“ (ebd.). In einem Punkt allerdings weicht Nietzsche von der Vernunftphilosophie der europäischen Aufklärung entschieden ab: Er glaubt nicht mehr an die Einheit des Cartesianischen ‚Ich denke‘ oder gar an die integrierte ‚Architektonik‘ der reinen Vernunft Immanuel Kants. Er glaubt, dass die Ich-Struktur sehr viel diffuser ist als die Vernunftphilosophie annahm, dass das so genannte ‚Subjekt‘ ein Bündel divergenter Triebe, Wollungen und auch kultureller Einflüsse sei. „Das sogenannte ‚Ich‘“ ist seiner Meinung nach eine „unbekannte Welt des ‚Subjects‘“, ein Tummelplatz letztlich unbekannter Motive und Wollungen, die wir zwar nachträglich rationalisieren und uns zurechtlegen, deren Tiefenstruktur wir aber oft genug nicht durchschauen (ebd. 115f., 129, 107ff). Zur „Kriegsgeschichte des Individuums“ gehört, dass jedes ein Schnittpunkt „mehrerer Culturen“, auch Generationen und Parteien ist (KSA, MA-I, Aph. 268, 2, 222), mithin das Ich selbst kein einheitliches Subjekt, sondern ein Ort divergenter Motive und kultureller Einflüsse. Das ist kein Plädoyer für den Irrationalismus, sondern eine selbst rationale Einsicht sowohl in die vorrationalen Stufen unseres Denkens und Handelns wie auch in die divergenten kulturellen Schichtungen unseres Ich und somit selbst ein Stück Aufklärung über die Aufklärung und ihre Annahme eines vernunftgesteuerten und somit homogeneren Ich. Diese Einsichten nehmen im Übrigen auch wichtige Gedanken Sigmund Freuds vorweg, der zu den interessantesten Nietzsche-Kennern und kuriosen Nietzsche-Lesern gehörte. Sigmund Freud versagte sich nämlich nach eigenem Eingeständnis bewusst „den hohen Genuß der Werke Nietzsches“, um die Priorität seiner eigenen Forschung zu wahren.5 Bei aller selbstverordneten Leseabstinenz also kannte Freud seinen Nietzsche ganz gut. 4 5
Gottfried Benn, Essays, Reden, Vorträge, hg. von Dieter Wellershoff. Wiesbaden 1959, 482. Sigmund Freud, Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, Gesammelte Werke X. Werke aus den Jahren 1913–1917, Frankfurt/M. 1999, 53.
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Angesichts der klaren Selbstpositionierung Nietzsches als Aufklärer und im Gefolge der Aufklärung muss man allerdings auch ein paar Worte sagen zu den Irrschritten seines eigenen Denkens. Bekanntlich ist er einer der schärfsten Kritiker des Christentums gewesen: nicht Kritiker jenes Juden Jesus von Nazareth, den er den „edelsten Menschen“ nennt (KSA, MA-I, Aph. 475, 2, 310), wohl aber jener Jünger- und Priesterreligion, die sich nach seinem Tode und in seinem Namen installierte. Das Versprechen ewiger Erlösung, vor allem aber die Androhung ewiger „Höllenstrafen“ war nach Nietzsche das „fruchtbarste Ei ihrer Macht“ (KSA, M, Aph. 72, 3, 70). Nietzsches regelrechter Hass gegen das Christentum und sein Fortleben in der christlichen Moral richtet sich gegen diese Jenseitsfixierung. Sie bedeutet seiner Meinung nach eine Abwertung des Lebens, einen Verrat an der Erde, sie vergiftet das Leben mit Sündenbewusstsein, benutzt religiöse Angst als Mittel der Machtpolitik. Christentum, wie schon der Platonismus, haben das Diesseits und die Welt, in der wir leben, abgewertet und geschändet. Nietzsche: „Der christliche Entschluss die Welt hässlich und schlecht zu finden, hat die Welt hässlich und schlecht gemacht“ (KSA, FW, Aph. 130, 3, 485). Sein Ideal war der vornehme antike Mensch, wie er – kurzzeitig – in der Renaissance wieder auftaucht, bis Reformation und Gegenreformation dieser neuheidnischen Kultur der starken Diesseitsbejahung in ganz Europa ein Ende bereiteten. Im Zusammenhang mit der Kritik an der christlichen Moral aber, das muss man nun auch klar sehen und sagen, kommt es zu schrecklichen Formulierungen bei Nietzsche. Der selbst alternde und zunehmend von Krankheit entstellte Nietzsche, wie kaum ein anderer auf Mitleid und menschliche Fürsorge angewiesen, stößt solche Ethik des Mitleidens fast angeekelt von sich und gibt in jenem Antichrist die schlimme, als „Fluch auf das Christenthum“ formulierte Parole aus: „Die Schwachen und Missrathnen sollen zu Grunde gehn: erster Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen“ (KSA, AC, 6, 170). Hier wütet einer auch gegen seine eigene Schwäche und Krankheit. Solche Hassparolen konnten sicher auch politisch missbraucht werden. Gleichwohl: ‚Wille zur Macht‘ und ‚Übermensch‘, jene Leitbegriffe Nietzsches, welche das Dritte Reich nicht eigentlich beschlagnahmte, sondern von der Schwester Nietzsches, Elisabeth Förster-Nietzsche, auf dem Tablett dargereicht bekam, hießen bei Nietzsche selbst etwas ganz anderes als bei Adolf Hitler. ‚Wille zur Macht‘ ist einerseits ein universeller Lebensbegriff, dem Aggressionstrieb der Psychoanalyse vergleichbar, andererseits ein kulturkritischer Begriff: so bei der Analyse des Missbrauchs von Religion als Mittel der politischen Macht, und erst beim späten Nietzsche auch ein verzerrtes Leitbild gesellschaftlicher Entwicklung. Der ‚Übermensch‘, Zarathustras Hauptlehre, wird gedacht als ein anthropologisches Übergangsprodukt. „Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden?“ (KSA, Za, Vorrede III, 4, 14). Der Über-Mensch ist eine Brückenkonstruktion der Selbstüberwindung des Menschen, verbunden mit dem Auftrag: „Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu“ (ebd. 15). Im Grunde greift Nietzsche hier einen neuzeitlichen Gedanken auf, den erstmals Pico della Mirandola in seiner Schrift Über die Würde des Menschen Ende des 15. Jahrhunderts formuliert hat. Am Beginn der Neuzeit entwarf Pico das Projekt einer Selbstgestaltung und Weiterentwicklung des Menschen geradezu als einen Auftrag Gottes an Adam. So spricht der Herr zum Menschen: „Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben,
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Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluss habest und besitzest. Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen […] Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst.“ Gott verbindet das allerdings auch mit einer Warnung an den Menschen: „Du kannst zum Niedrigeren, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt.“ 6 Bei Nietzsche, wie denn auch in der späteren Neuzeit insgesamt, fällt das Motiv des religiösen Auftrags der Selbstgestaltung des Menschen weg. Aber auch für Nietzsches Zarathustra ist „der Mensch […] ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde“ (ebd. 16). Wir stehen Anfang des 21. Jahrhunderts, an einem Punkt der Weltgeschichte, an dem der Mensch im globalen Maßstab transitorisch geworden ist und dies nicht nur im Sinne einer planetarischen Mobilität, sondern auch im Sinne der Möglichkeit einer technischbiologischen Neukonstruktion seines Selbst. Das ist ein, durch den Stand der Naturwissenschaften, der Biologie insbesondere, neuer Stand in der Geschichte der Menschheit, der sich aber bereits in der Bildhauer-Metaphorik der Renaissance ankündigt. Die Frage, was der Mensch sei, ist gerade nicht durch die Schöpfung definitorisch vorgegeben, sondern mit der menschlichen Rationalität auch die Möglichkeit der Selbst- und Umgestaltung eröffnet. Dabei lässt Nietzsche keinen Zweifel daran, dass er die Grundhaltung der neuzeitlichen Naturwissenschaften für eine gigantische Form von Hybris hält: „[…] unser ganzes modernes Sein, soweit es nicht Schwäche, sondern Macht und Machtbewusstsein ist, [nimmt sich] wie lauter Hybris und Gottlosigkeit aus […] Hybris ist heute unsre Stellung zur Natur, unsre Natur-Vergewaltigung mit Hülfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfindsamkeit; Hybris ist unsere Stellung zu Gott […], Hybris ist unsre Stellung zu uns, denn wir experimentiren mit uns, wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben würden [… ]“ (KSA, GM, 3. Abhandlung, Aph. 9, 5, 357). Seltsam dieser Vorwurf der Gottlosigkeit aus Nietzsches Mund. Wir sehen daraus aber auch: Er vollzieht selbst jene hybriden Denkfiguren der Moderne, die er gleichzeitig kritisch durchschaut. Und in der Tat führt ja die Logik der abendländischen Logos-Kodierung an einen Punkt, an dem der Mensch über sein eigenes zukünftiges Schicksal auch biotechnisch entscheiden muss. Er kann wählen, aber hat gegenüber dem Zwang zur Wahl keine Wahl. Diese Denkfigur ist auch mit Nietzsches ‚Übermensch‘ angesprochen, ohne dass dieser Gedanke sogleich mit faschistischen Vorgaben in Zusammenhang gebracht werden sollte, wie immer noch in einer typisch deutschen Debatte der jüngeren Zeit. In der ‚erweiterten‘ Nietzsche-Lektüre, die ich zum bessern Verständnis ans Herz lege, wird dieser Autor übrigens auch als vorausschauender Analytiker solcher Massenphäno6
Pico della Mirandola, De hominis dignitate/ Über die Würde des Menschen. Lateinisch und deutsch, übersetzt von Norbert Baumgarten, hg. von August Buck. Hamburg 1990, 5 und 7.
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mene lesbar, wie sie die Führerdiktatur des Dritten Reichs darstellte. In der Morgenröthe schreibt Nietzsche: „Die Völker werden so sehr betrogen, weil sie immer einen Betrüger suchen. Nämlich einen aufregenden Wein für ihre Sinne. […] Der Rausch gilt ihn mehr, als die Nahrung, – hier ist der Köder, an dem sie anbeissen werden! Was sind ihnen Männer, aus ihrer Mitte gewählt – und seien es die sachkundigsten Praktiker – gegen glänzende Eroberer […] Mindestens muss der Volksmann ihnen Eroberung und Prunk in Aussicht stellen: so findet er vielleicht Glauben. Sie gehorchen immer, und thun noch mehr, als gehorchen, vorausgesetzt, dass sie sich dabei berauschen können. […] Das Volk ist der letzte wilde Boden, auf dem das Unkraut noch gedeihen kann“ (KSA, M, Aph. 188, 3, 161). Nietzsche nicht also als Vorbereiter des Nationalsozialismus und seiner Führerideologie, sondern als deren vorausschauender Analytiker. Immer wieder erstaunt der prognostische Blick Nietzsches, der sich aus seiner Analyse der Geschichtslogik ableitet und in der sicheren Form des Futurs ausspricht: „Köder, an dem sie anbeissen werden!“ (Ebd.) In diesem Zusammenhang aber nun ein Wort zu der seltsamen deutschen Mentalitätsgeschichte im 20. Jahrhundert und speziell der Nietzsche-Rezeption darin: Die Nationalsozialisten haben Schlagworte Nietzsches vereinnahmt wie ‚Wille zur Macht‘, ‚Übermensch‘, sie haben sein Denken mit ‚Irrationalismus‘ und ‚Vernunftfeindschaft‘ in Verbindung gebracht. Das aber ist, wie die Forschung nachgewiesen hat, eine Form der Instrumentalisierung gewesen.7 Auf genau diesen Bahnen der aus Nietzsches Werk entnommenen NS-Schlagworte bewegt sich aber auch die wirkmächtige Rezeption einflussreicher deutscher Philosophen nach dem Kriege und dies im Osten wie im Westen. Nietzsche sei der Denker des Antihumanismus, der Vernunftfeindschaft. Genau gelesen wurde weder hier noch dort, weder vor dem Krieg noch danach. Die Schlagworte entfalteten ein Eigenleben. Das charakterisiert auch ein Stück Nachkriegs-Mentalitätsgeschichte in Deutschland, diese Antithetik von Nationalsozialismus und Anti-Nationalsozialismus. Dem ‚Deutschland-Deutschland-Über-Alles‘ vor dem Kriege entsprach nach dem Kriege streckenweise bei vielen Intellektuellen eine Totalabwertung Deutschlands. Deutschland war zum Ort des Bösen schlechthin geworden. In Deutschland hatte sich nicht nur eine schreckliche Form von Geschichte ereignet, sondern: das Böse schlechthin. Diese seltsame Form der Dämonisierung des Hitlerregimes zeigte Züge einer Ersatzmetaphysik, einer negativen Theologie, in der es keinen Gott mehr gab, aber: das absolut Böse. Und sein Wirkkreis war allein Deutschland. ‚Gott ist tot‘, aber nicht der Satan. Und seine Wohnstatt war Deutschland. Ich lasse keinen Zweifel daran, dass jene historische Wirklichkeit, über die wir sprechen, in der Tat alle Züge einer von Deutschland ausgehenden schrecklichen Katastrophe aufweist und auch, dass die historische und geistesgeschichtliche Aufarbeitung dieser Katastrophe eine permanente Aufgabe bleibt. Die metaphysische Überhöhung der Historie aber als absolut und unvergleichlich, als das Böse schlechthin, ist letztlich weder politisch, noch historisch gewesen, sondern war eine Form von politischer Dämonologie. 7
Martha Zapata Galindo, Triumph des Willens zur Macht. Zur Nietzsche-Rezeption im NS-Staat, 29ff.
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Dabei setzt logisch die Behauptung der Unvergleichbarkeit bereits den Vergleich voraus. Darüberhinaus aber hat die Unvergleichbarkeitsthese eben jene Einsichten in die modernen Entstehungsbedingen solcher absoluter Diktaturen, wie sie das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, eher blockiert als gefördert. Die Bedingungen totalitärer Diktaturen mit ihrem absoluten Zugriff auf Leben und Tod und der Durchsetzung totalitärer Gewalt mit den Mitteln und Möglichkeiten der Großtechnologie sind selbst schreckliche Erscheinungsformen einer Moderne, die sich von allen ethischen Vorgaben und Maßstäben abgekoppelt hat. Und das war eben nicht nur im Dritten Reich der Fall. Es ist vielmehr erstaunlich, in wie vielen Teilen der Welt und unter ganz unterschiedlichen Bedingungen solche modernen totalitären Diktaturen im 20. Jahrhundert aus dem Boden schossen. Man muss nur nachlesen, wie Josef W. Stalin Feind wie Freund über lange Todeslisten einem Massentod anheimgab und wie die Vernichtungsmaschinerie in Russland ein „Blutbad nach Quoten“ inszenierte, um die Diktatur Stalins mit Furcht und Schrecken dort zu verfestigen.8 Aber zurück zur deutschen Mentalitätsgeschichte: Zu den fatalen Folgen der Dämonologisierung des Dritten Reichs in Deutschland gehörte die Behandlung der Folgeschuld. Es gab nicht wenige einflussreiche deutsche Intellektuelle, die der Meinung waren, die Teilung Deutschlands müsse ‚immer‘ währen. Die Deutschen hätten durch Hitler auf immer und ewig die Einheit verwirkt. Eine Art deutsche Höllenstrafe zu Erdzeiten für den deutschen Pakt mit dem Satan. Im Grunde war die Forderung nach Ewigkeit der Teilung Deutschlands als gerechte Strafe für die ewige Schuld des Dritten Reiches nicht wirklich politisch gedacht. Auch wenn sich solche Strafprediger politisch gerierten. Im Kern und im Denkansatz war solche Forderung nach Ewigkeit der deutschen Teilung eine Form der Negativtheologie und Polito-Dämonologie. Nur in einer metaphysischen Logik gibt es ewige Strafen. So weit hatte ich den Text im Sommer 2006 geschrieben, als in die deutsche Öffentlichkeit die Nachricht vom Waffen-SS-Mann Günter Grass platzte. Er selbst, der als antinationalistischer und antifaschistischer Radikalmoralist über fünfzig Jahre lang die deutsche Öffentlichkeit nach Belieben beherrscht hatte, setzte die Nachricht beinahe beiläufig ab, als hätte er da nichts Genaueres zu erklären. Seine Autobiographie kann man an diesem Punkt ‚verquast‘ nennen. So schlecht und so unpräzise wie in diesem ‚Zwiebelbuch‘ hat noch kaum ein deutscher Autor von Rang sein eigene Biographie eher verdeckt als enthüllt.9 Ich denke, eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte der deutschen Nachkriegszeit wird darüber nachdenken müssen, in welchem Maße hier Persönlichkeiten mit jahrzehntelang radikal abgespaltenen Teilstrukturen ihres Ich die deutsche Öffentlichkeit nach dem Kriege beherrscht haben. Es ist interessant, sich einmal anzusehen, mit welchen Worten Grass seine Forderung nach der deutschen Ewigkeitsspaltung begründete. Noch 1990, schon nach dem Fall der Mauer also, schrieb und druckte er: „Der deutsche Einheitsstaat verhalf der nationalsozialistischen Ideologie zu einer entsetzlich tauglichen Grundlage. An dieser Erkenntnis führt nichts vorbei. Wer gegenwärtig über Deutschland nachdenkt und Antworten auf die deutsche Frage sucht, muß Auschwitz mitdenken. Der Ort des Schreckens, als Beispiel 8 9
Simon Sebag Montefiore, Stalin. Am Hof des roten Zaren, Frankfurt/M. 2006, 261ff. Günter Grass, Beim Häuten der Zwiebel, Göttingen 2007.
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genannt für das bleibende Trauma, schließt einen zukünftigen deutschen Einheitsstaat aus. Sollte er, was zu befürchten bleibt, dennoch ertrotzt werden, wird ihm das Scheitern vorgeschrieben sein.“10 Wer heute nicht nur über Deutschland nachdenkt, sondern auch über die deutschen Vordenker der letzten Jahrzehnte, kann nicht umhin, hier ungeheure Denkblockaden wahrzunehmen. Auch noch 1990 kann Grass den ‚deutschen Einheitsstaat‘ nur als Hort der schrecklichen Nazi-Ideologie denken. Wo Auschwitz erfunden wurde, darf nie wieder deutsche Einheit sein. Wenn wieder Einheit, was Grass damals schon befürchtet, dann ist die erneute Katastrophe vorprogrammiert. Wir können annehmen, dass Grass’ radikales Plädoyer für die Ewigkeit der deutschen Spaltung eben jener inneren Spaltung entsprach, mit der er seine verdrängte Vergangenheit unter Kontrolle hielt. Der inneren Mauer gegen das eigene verdrängte faschistische Erbe musste eine ewige äußere entsprechen, der äußeren die innere, damit nur nichts von dem verdrängten Erbe hochkam. Wahrscheinlich begann der Aufstieg des Verdrängten in Grass bereits mit dem Fall der Mauer, beziehungsweise bröckelte die Abschottung gegen jenes auch in dem Moment, als die äußere Mauer als Trennlinie der Geschichte zerbrach. Dabei geht es nicht darum, dass junge Männer vom Männlichkeitskult der Nazis angezogen waren. Das ging auch dem christlichen Hans Egon Holthusen so. Er landete bei der SS. Das war ‚menschlich, allzumenschlich‘. Holthusen aber konnte seinen Fehler beizeiten und freiwillig zugeben, verständlich machen und damit auch korrigieren. Das Problem bei Grass und wahrscheinlich ja auch bei Walter Jens ist eben das der inneren Abspaltung und Verdrängung dieses Erbes, der ein ebenso moralposaunenhaftes und auch gnadenloses Auftreten nach außen entsprach. Man muss nicht Nietzsche bemühen, aber man kann es, um einmal mehr die innere Problematik solcher Formen von angemaßter Moral und prätendiertem Gutmenschentum zu erkennen. Mit der klassischen deutschen Trennung von bösen Vergangenheits-Verdrängern und guten Vergangenheits-Bewältigern ist es jedenfalls vorbei. Nietzsche war in den Kreisen der deutschen Moralisten der letzten Jahrzehnte nicht besonders beliebt. Vielleicht wussten sie immerhin, dass er zu viel von ihnen wusste. Nietzsche wusste, dass die Kehrseite der Moral häufig die Heuchelei ist, dass in der Erinnerung zumeist viel Verdrängung nistet, dass in der Pose der Aufklärung eine gehörige Portion Machtwille steckt. Ein Plädoyer für eine neue, offene Nietzsche-Lektüre ist aber auch ein Plädoyer für ein Denken über Deutschland und über Europa hinaus: Schon Nietzsche erkannte die globale Dimension der zukünftigen Geschichte der Menschheit. Ein letztes Zitat aus Menschliches, Allzumenschliches : „Der Baum der Menschheit und die Vernunft. – Das, was ihr als Ueberbevölkerung der Erde in greisenhafter Kurzsichtigkeit fürchtet, giebt dem Hoffnungsvolleren eben die große Aufgabe in die Hand: die Menschheit soll einmal ein Baum werden, der die ganze Erde überschattet, mit vielen Milliarden von Blüthen, die alle neben einander Früchte werden sollen, und die Erde selbst soll zur Ernährung dieses Baumes vorbereitet werden. […] Wir müssen […] der großen Aufgabe in’s Gesicht se10
Ders., Ein Schnäppchen namens DDR. Letzte Reden vorm Glockengeläut, Frankfurt/M., November 1990, 13.
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hen, die Erde für ein Gewächs der grössten und freudigsten Fruchtbarkeit vorzubereiten, – eine Aufgabe der Vernunft für die Vernunft!“ (KSA, WS 189, 2, 635f.). Der Vernunftbegriff, an den Nietzsche hier appelliert, ist kein rein abendländisches Produkt, sondern ein Ergebnis des Dialogs der Kulturen, der jüdischen, christlichen, islamischen, zu der auch die islamische Philosophie eines Ibn Said (Avicenna) und Mohammed ibn Ruschd (Averroës) gehört. Man kann durchaus mit Nietzsche an die Gemeinsamkeit der Kultur der Vernunft auf der Erde appellieren. Dieser Appell enthält zugleich die Aufforderung, die Arbeit der Aufklärung auf der Erde fortzusetzen. Das hieße für den Westen: Nicht nur Soldaten in Krisengebiete zu entsenden, sondern dort auch Schulen und Universitäten zu errichten. Das sind auf Dauer die einzigen Gegenmittel gegen Fanatismus und Religionshass.
II. Nietzsche und Europa – Nietzsche in Europa
HANS-MARTIN GERLACH
„Diese Aufklärung haben wir jetzt weiterzuführen …“ Friedrich Nietzsche und die europäische Aufklärung
Die Aufforderung Nietzsches, ‚diese‘ Aufklärung weiterzuführen, die im Aph. 197 der Morgenröthe, der unter der bezeichnenden Überschrift Die Feindschaft der Deutschen gegen die Aufklärung (KSA, M, 3, 171f.) steht, stellt provozierend die Frage in den Raum, welche Aufklärung er damit gemeint hat. Und in direkter Folge dazu ist nachzufragen, was unter Aufklärung überhaupt zu verstehen ist und welche Positionen Nietzsche dazu einnimmt. Nun kann hier keineswegs die schier unendliche Diskussion zur Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung, wie sie in Deutschland (und darüber hinaus in Europa) seit jener berühmten Auseinandersetzung in der Berlinischen Monatsschrift 1783/1784, an welcher bekanntlich auch Moses Mendelssohn und Immanuel Kant mit bedeutsamen Aufsätzen teilgenommen haben1, geführt wird, behandelt werden. Eines sei jedoch aus der Vielfalt von Begriffsbestimmungsversuchen unserer Tage hervorgehoben. Es ist die allgemein sehr akzeptierte Feststellung, dass Aufklärung einmal als ein Epochenphänomen verstanden wird, welches wesentlich auf das geistig-kulturelle und politische Leben des 18. Jahrhunderts fokussiert ist, wobei eine Vorläuferschaft natürlich in vorausgehenden Jahrhunderten seit der Renaissance im Denken der Neuzeit sicher nicht geleugnet werden kann. Zum anderen wird Aufklärung als ein allgemeines Programm der Befreiung des menschlichen Individuums aus allen Vorurteilen, Dogmatismen, Halbwahrheiten und Lügen, aber auch aus gesellschaftlichen und sozialen Pressionsmechanismen begriffen. Und in diesem letzteren Verstehenszusammenhang übergreift sie als geistige Bewegung natürlich jenes historische Epochephänomen sowohl in Richtung einer bis in die Antike zurückreichenden als uns auch in der Gegenwart treffenden menschlichen Grundverhaltensweise, die die Menschen auch zukünftig bewegen wird. In einer Gesprächsrunde während des 9. Internationalen Kongresses zum Zeitalter der Aufklärung, der vom 23. 1
Vgl. Norbert Hinske, Einleitung, in: Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift, hg. von Norbert Hinske, Darmstadt 1990; Gisbert Beyerhaus, Kants Programm der Aufklärung aus dem Jahre 1784, in: Kantstudien XXVI, 1921; Hans-Martin Gerlach, Moses Mendelsohn – Immanuel Kant. Zwei Antworten auf die Frage: „Was ist Aufklärung“, in: Formen der Aufklärung und ihrer Rezeption. Expressions des Lumières et de leur réception. Festschrift zum 70. Geburtstag von Ulrich Ricken, hg. von Reinhard Bach, Roland Desné, Gerda Hassler, Tübingen 1999; Wolfgang Vogt, Moses Mendelssohns Beschreibung der Wirklichkeit menschlichen Erkennens, Würzburg 2005.
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bis 29. Juli 1995 in Münster stattfand, bemerkte der Münsteraner Aufklärungsforscher Werner Schneiders, „daß man […] Aufklärung einerseits als eine allgemeine Aufgabe, ein Programm, eine Aktion, einen Prozeß beschreiben kann und andererseits als ein historisches Phänomen: ‚Das Zeitalter der Aufklärung‘“.2 In beiden Bestimmungen stehen mindestens zwei Grundverhaltensweisen aufklärerischen Tuns und Denkens fest. Es ist einmal die Aufklärung des menschlichen Verstandes und der menschlichen Vernunft mit Hilfe klarer und unmissverständlicher Begrifflichkeit und zum anderen die Befreiung des Menschen aus aller geistigen, sozialen, politischen etc. Fremdbestimmung – also die Emanzipation des Menschen, die Kant weiland als Selbstbestimmung des Individuums im Geiste und Karl Marx später als kollektive Befreiungstat einer Klasse, der des Proletariats, in der realen Gesellschaft gefasst haben. Werner Schneiders bemerkte in der schon erwähnten Diskussionsrunde: „Wenn man sich an beiden Bedeutungen von Aufklärung in Deutschland anschließt (und das gilt m.E. nicht nur für Deutschland – H. M. G.), an die rationalistische wie die emanzipatorische, dann ist Aufklärung eine Aufgabe, die nicht vollendet ist und nie vollendet werden kann. Insofern ist Aufklärung so aktuell wie eh und je.“3 Unsere Frage ist nun: Wo und wie ist Friedrich Nietzsche mit seinem Denken in diesen permanenten aufklärerischen Prozess einzuordnen und wie versteht er sich selbst als Teil dieses Prozesses oder womöglich als eingeschworener Gegner desselben? Für beide Positionen scheint es im gesamten Schaffen Nietzsches Belegstücke zu geben. Doch zunächst soll versucht werden, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob Nietzsche die Aufklärung auf eine bestimmte Epoche und damit auf ein Jahrhundert fixiert hat, oder ob er sie als einen nie zu vollendenden Prozess der Menschheitsgeschichte ansieht und wie er an diesem Prozess die historisch bedingte Wandlung von Aufklärung objektiv und subjektiv verfolgt. Zunächst lässt sich jedoch eindeutig festhalten, dass Nietzsche Aufklärung nicht im engeren Sinne nur auf eine Epoche fixiert wissen will, wenngleich er durchaus das 18. Jahrhundert am stärksten von aufklärerischem Gedankengut durchzogen sieht. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei für ihn in Frankreich, bei den französischen Moralisten und insbesondere bei François Marie Arouet Voltaire. „La Rochefoucauld und jene anderen französischen Meister der Seelenprüfung […] gleichen scharf zielenden Schützen, welche immer und immer wieder in´s Schwarze treffen, — aber in´s Schwarze der menschlichen Natur“ (KSA, MA-1, 2, 59). Sie sind psychologische Beobachter der Natur des Menschen und diese aufklärerische Art der Beschäftigung mit dem Menschen ist notwendig, „weil die Wissenschaft ihrer nicht entrathen kann. Die Wissenschaft aber kennt keine Rücksicht auf letzte Zwecke, ebenso wenig als die Natur sie kennt“ (ebd., 61). Die französischen Moralisten und ihre psychologischen Analysen, die sie in ihren Aphorismen-Büchern über menschliche Verhaltensweisen offen legten und die eine ironische Kritik an bedeutenden Repräsentanten 2
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Harro Zimmermann (Leitung): Robert Darnton, Juan Mondot und Werner Schneiders im Gespräch über Aufklärung und Aufklärungsforschung, in: Das achtzehnte Jahrhundert, Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts, Jg. 20, Heft 2, Wolfenbüttel 1996, 142. Vgl. auch: Werner Schneiders, Aufklärung – eine unlösbare Aufgabe, in: Wer ist weise? Der gute Lehr von jedem annimmt. Festschrift für Michael Albrecht zu seinem 65. Geburtstag, hg. von Heinrich P. Delfosse, Hamid Reza Yousefi, Nordhausen 2005. Ebd., 138.
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der französischen feudalabsolutistischen Gesellschaft und damit dieser selbst darstellten, waren entscheidende Anreger für Nietzsche in dieser Schaffensperiode seines Freigeistertums. Ganz besonders aber war er Voltaire zugeneigt, den er als Inbegriff der französischen Aufklärung im vorrevolutionären Frankreich und im Kampf gegen das Ancien Régime ansah. Voltaire, dem er die hohe Auszeichnung zuerkannte „ein grandseigneur des Geistes“ zu sein, war, wie er in Ecce homo festhielt, ein Wegweiser zu seinem eigenen Freigeistertum, zu sich selbst, denn: „Der Name Voltaire auf einer Schrift von mir (es handelt sich um das Schlüsselwerk Menschliches Allzumenschliches in seiner zweiten Schaffensphase – H. M. G.) – das war wirklich ein Fortschritt – zu mir …“ (KSA, EH, 6, 322). In Voltaire ‚wie in sich selbst‘, entdeckt er einen „unbarmherzigen Geist, der alle Schlupfwinkel kennt, wo das Ideal heimisch ist, – wo es seine Burgverliesse und gleichsam seine letzte Sicherheit hat. Eine Fackel in den Händen, die durchaus kein ‚fackelndes‘ Licht giebt, mit einer schneidenden Helle wird in diese Unterwelt des Ideals hineingeleuchtet“ (ebd., 322f.). Die Bildhaftigkeit in der Argumentation für Voltaire und in seinem eigenen aufklärerischen Tun erinnert stark an jenen Aufklärungsaktivismus, der auch in des Deutschen Christoph Martin Wielands Sechs Fragen zur Aufklärung zum Tragen kommt, denn auf die Frage, ‚Was ist Aufklärung?‘ antwortet Wieland, dass das jedermann wisse, „der vermittels eines Paars sehender Augen gelernt hat, worin der Unterschied zwischen Hell und Dunkel, Licht und Finsternis besteht. Im Dunkeln sieht man entweder gar nichts oder wenigstens nicht so klar, daß man die Gegenstände recht erkennen und voneinander unterscheiden kann; sobald Licht gebracht wird, klären sich die Sachen auf …“4 Und auch Wieland ist der festen Überzeugung, dass Aufklärung sich „über alle Gegenstände ohne Ausnahme ausbreiten“ muss, um jenen Leuten das Handwerk zu legen, „die ihr Werk unmöglich anders als im Finstern […] treiben zu können“, die „natürliche Gegner der Aufklärung“5 sind. Licht in eine Sache zu bringen, die die dunklen Machenschaften der Gegner der Aufklärung in jeglicher Hinsicht aufdecken, Ideale hinterfragen und Gespenster des Geistes aus ihren dunklen Höhlen und Schlupflöchern mit der Fackel der Vernunft und des Verstandes vertreiben, das ist zumindest in der zweiten Phase seines Schaffens auch für Nietzsche der Stachel seines freigeistig-aufklärerischen Tuns. Und hier weiß er sich mit diesen Denkern in den Kernlanden der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts, in Frankreich und in Deutschland, durchaus eins, wie auch mit Gotthold Ephraim Lessing, der für ihn „der ehrlichste theoretische Mensch“ ist, da er „es auszusprechen gewagt“ hat, „daß ihm mehr am Suchen der Wahrheit als an ihr selbst gelegen sei“ (KSA, GT, 1, 99) oder Georg Christoph Lichtenberg, der ihm als glänzender aufklärerischer Stilist bezüglich der aphoristischen Schreibweise (die auch seine eigene ist) gilt und von dessen Aphorismen er behauptet, dass sie es in der „deutschen ProsaLiteratur“ verdienen, „wieder und wieder gelesen zu werden“ (KSA, MA-2, 2, 599). Es ließen sich noch eine ganze Reihe von Beispielen dafür anführen, wie Nietzsche in dieser Schaffensperiode die Aufklärung in einer Reihe ihrer bedeutendsten Repräsentanten in Frankreich und Deutschland auf jenes 18. Jahrhundert fokussiert, welches allgemein seit Kants Feststellung, dass wir zuvor in keinem aufgeklärten wohl aber in einem Jahrhun4 5
Christoph Martin Wieland, Sechs Antworten auf sechs Fragen, in: Ders., Werke in vier Bänden, Bd. 4, Berlin, Weimar, 1984, 147. Ebd., 148.
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dert der Aufklärung leben, als Epochebewusstsein gilt. Freilich hat Nietzsche sich nie darauf eingrenzen lassen, denn im Blick zurück sieht er Quellen für eine solche geistige Strömung schon in der griechischen Antike, insonderheit in ihrer hellenistischen Phase bei Epikur und Epiktet. Religionskritik, die Befreiung von den traditionellen Göttervorstellungen, Befreiung von der Angst vor dem Tode und die Erlangung von Seelenruhe, die aufklärerisches Denken charakterisieren, lassen Nietzsche in diesen beiden spätantiken Denkern Bezugspersonen zu einer Bewegung erkennen, die im Europa des 18. Jahrhunderts jene Aufklärung charakterisiert, die er als solche favorisiert. „Epikur der SeelenBeschwichtiger des späteren Altertums, hat jene wundervolle Einsicht, die heutzutage immer noch so selten zu finden ist, daß zur Beruhigung des Gemüts die Lösung der letzten und äußersten theoretischen Fragen gar nicht nötig sei. So genügt es ihm, solchen, welche ‚die Götterangst‘ quält, zu sagen: ‚wenn es Götter gibt, so bekümmern sie sich nicht um uns‘, – anstatt über die letzte Frage, ob es Götter überhaupt gebe, unfruchtbar und aus der Ferne zu disputieren“ (ebd., 543). Das ist für Nietzsche das eine Trostmittel, welches Epikur, „der Erfinder einer heroisch-idyllischen Art zu philosophieren“ (ebd., 687) vermittelt. Das andere lautet, dass, wenn eine Hypothese uns das Gemüt verfinstert, es noch eine zweite gibt, uns dieselbe Erscheinung anders zu erklären. Diese Mehrheit der Hypothesen genüge auch, „in unserer Zeit noch, zum Beispiel über die Herkunft der Gewissensbisse, um jenen Schatten von der Seele zu nehmen, der aus dem Nachgrübeln über eine einzige, allein sichtbare und dadurch hundertfach überschätzte Hypothese so leicht entsteht“ (ebd., 544). Gerade in dieser antiken Freigeisterei sieht Nietzsche eine wesentliche Initialzündung für die Aufklärung insgesamt in Europa, aber auch für sein eigenes Freigeistertum, welches dem Menschen zum Zustand einer heiteren, furcht- und angstfreien Gelöstheit seiner Lebensvollzüge bringen sollte. Insofern spricht er vom „ewigen Epikur“, der zu „allen Zeiten gelebt“ habe und noch lebt (ebd., 656), wenngleich er uns unbekannt geblieben ist. Henning Ottmann schreibt dazu in seinem umfangreichen Aufsatz Nietzsches Stellung zur antiken und modernen Aufklärung: „Nietzsche, der Freigeist, will offensichtlich die antike Aufklärung beerben. Der Sinn des Begriffs ‚Aufklärung‘ ist bei Nietzsche nie beschränkt auf den Epochebegriff, den das 17. und 18. Jahrhundert meint. Er schließt immer die antike Aufklärung mit ein.“6 Allerdings, wenn wir in Epochenabfolgen denken, nicht nur die antike Aufklärung, in die er auch nicht nur Epikur und Epiktet aus der hellenistischen Periode des griechischen Altertums einbezieht, wie Konstantin Broese mit Verweis auf Demokrit als Repräsentant der klassischen Periode Griechenlands darlegt7, sondern 6 7
Henning Ottmann, Nietzsches Stellung zur antiken und modernen Aufklärung, in: Nietzsche und die philosophische Tradition, hg. von Josef Simon, Bd. 2, Würzburg 1985, 13. Konstantin Broese hat darauf verwiesen, dass der junge Student Nietzsche in Leipzig im Zusammenhang mit seiner Lektüre von Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus zu einer Auseinandersetzung mit dem Gedankengut Demokrits fand und in seinen Aufzeichnungen aus dieser Zeit festhielt, „daß Demokrit der ‚Vater aller aufklärenden rationalistischen Tendenzen‘ (59 [1], KGW, NF, 1/4, 504) bzw. derjenige Mensch sei, in dessen Denken sich der Übergang vom Mythos zum Logos vollziehe“. Gleichzeitig meint Nietzsche aber auch, dass Demokrit „in dem Moment der Gegenaufklärung verfalle, wie er ‚glaube‘, die letzte Erkenntniß erreicht zu haben […] bzw., das Räthsel der Welt gelöst und dadurch die Menschen glücklicher gemacht zu haben […]“ (ebd.). An diesem Punkt ist Demokrit für Nietzsche nur „schwärmerischer Apostel“. „Aus dieser Sicht muss Demokrits System einer kritischen Revision unterzogen werden, insoweit es auf der Gegenaufklä-
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auch den Beginn der Philosophie der Neuzeit, der sich für ihn in den Renaissancedenkern Francesco Petrarca und Erasmus von Rotterdam (die ganz selbstverständlich für ihn neben Voltaire stehen) repräsentiert. Im Aph. 26 des ersten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches, welcher mit Die Reaktion als Fortschritt überschrieben ist, verweist Nietzsche darauf, dass neue Richtungen, wie die Reformation und die Renaissance „noch unsicher, zart, jugendlich waren; die Wissenschaft konnte noch nicht ihr Haupt erheben. Ja die gesamte Renaissance erscheint wie ein erster Frühling, der fast wieder weggeschneit wird“ (ebd., 47). Es bedarf bedeutender Denker, die in ihrer retrospektiven Art, trotz Anklingens des neuen aber noch schwachen Zeitgeiste auch in ihrem Werk uns in die Vergangenheit zurückzwingen wollen, so wie es in seiner Zeit Arthur Schopenhauer tat, der „unsere Empfindung zeitweilig in ältere, mächtige Betrachtungsarten der Welt und Menschen zurückzwingt, zu welchen sonst uns so leicht kein Pfad führen würde“ (ebd.). Der Gewinn für Historie und Gerechtigkeit sei dabei sehr groß, denn ohne solche Denker könnte man der Vergangenheit z.B. des Christentums mit „seinen asiatischen Verwandten“ keine Gerechtigkeit widerfahren lassen. Aber „erst nach diesem großen Erfolge der Gerechtigkeit, erst nachdem wir die historische Betrachtungsart, welche die Zeit der Aufklärung mit sich brachte, in einem so wesentlichen Puncte corrigirt haben, dürfen wir die Fahne der Aufklärung – die Fahne mit den drei Namen: Petrarca, Erasmus, Voltaire – von Neuem weiter tragen. Wir haben aus der Reaction einen Fortschritt gemacht“ (ebd.). Wenn also der retrospektive Historismus, der aus Nietzsches Sicht auch ein Produkt der Aufklärung (und somit bedeutsam) ist, überwunden wird, dann erst kann die Fahne auf der hervorragende Aufklärer der Renaissance und der Neuzeit verzeichnet sind, erneut ergriffen werden. In dieser Linie stehend, begreift auch er sich mit seinem Freigeistertum der mittleren Schaffensperiode. Wir können aus all diesen Gründen festhalten, dass Nietzsche bezüglich der Einordnung der Aufklärung in ein Zeitschema sich von jeglicher Begrenzung auf ein Zeitalter, nämlich das 18. Jahrhundert, fernhält. Sicher hat Aufklärung auch einen Kulminationspunkt in diesem Jahrhundert gehabt, aber allein darauf lässt sie sich nicht fixieren, ganz abgesehen davon, dass Nietzsche gerade in diesem Jahrhundert auch gegenläufige Tendenzen zu erkennen vermag. Aufklärerisches Denken und Handeln ist darüber hinaus ein gesamteuropäisches Geschehen, wenngleich die Kernlande der Aufklärung Frankreich und (trotz kritischer Distanz) Deutschland sind. Aber mit der Renaissance (und insbesondere ihrer ,Initialzündung‘ in Italien) und mit dem antiken Griechenland sind in historischer und territorialer Hinsicht weitere Felder europäischer Aufklärungsentwicklung von Nietzsche festgehalten worden. Damit ist Aufklärung ein Menschheitsgeschehen, welches sich selbstverständlich in bestimmten Zeitabschnitten auf bestimmte Regionen fokussiert, und als solche sowohl rückwärts gewendet als auch zukunftsorientiert ein offenes sich stets in Inhalt und Methode wandelndes Projekt ist, welches nicht an ein Ende kommt: Abgeschlossenheit, Letztgültigkeit ist für ihn ein Zeichen für Metaphysik, die im aufklärerischem Denken und Tun nichts zu suchen hat, geradezu in Kontraposition zu rung bzw. dem Glauben basiert“ (Konstantin Broese , Nietzsches Verhältnis zur antiken und modernen Aufklärung. Aspekte ihrer Aneignung und Radikalisierung durch den frühen Nietzsche im Licht unveröffentlichter Manuskripte, in: Nietzsche – Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer (Nietzscheforschung. Sonderband 2), hg. von Renate Reschke, Berlin 2004, 233f.).
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diesem steht und die von Nietzsche in allen Abschnitten seines Schaffens (und nicht nur in seiner mittleren Periode) heftig bekämpft wird. Kommen wir nunmehr zu Nietzsches eigener Position bezüglich der Aufklärung. Zwei ausgewählte Zitate aus verschiedenen Schaffensperioden zeigen auf den ersten Blick ein merkwürdig kontradiktorisches Bild. So lesen wir im dritten Buch der Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurteile im berühmten Aph. 197, welcher mit Die Feindschaft der Deutschen gegen die Aufklärung überschrieben ist (nachdem Nietzsche die Leistungen der deutschen Philosophie, Geschichte und Naturwissenschaft zunächst äußerst kritisch einschätzte) folgendes: „Der ganze große Hang der Deutschen ging gegen die Aufklärung, und gegen die Revolution der Gesellschaft, welche mit grobem Missverständnis als deren Folge galt“ (KSA, M, 3, 171). Und an deren Stelle wurde dann der Kult des Gefühls gegen die Vernunft, das Schwärmerische, Märchenhafte in der Musik aufgerichtet. Mit Kant zu sprechen, wurde dem Glauben wieder Bahn gemacht durch die Grenzziehung des Wissens. Aber Nietzsche stellt sogleich erleichtert fest: „Atmen wir wieder freie Luft: die Stunde dieser Gefahr ist vorübergegangen! Und seltsam: gerade die Geister, welche von den Deutschen so beredt beschworen wurden, sind auf die Dauer den Absichten ihrer Beschwörer am schädlichsten geworden, [… sie] haben eines Tages eine andere Natur angenommen und fliegen nun mit den breitesten Flügeln an ihren alten Beschwörern vorüber und hinauf, als neue und stärkere Genien eben jener Aufklärung, wider welche sie beschworen waren. Diese Aufklärung haben wir jetzt weiterzuführen, — unbekümmert darum, dass es eine ‚große Revolution‘ und wiederum eine ‚große Reaktion‘ gegen dieselbe gegeben hat, ja dass es Beides noch gibt: es sind doch nur Wellenspiele, im Vergleiche mit der wahrhaft großen Flut, in welcher wir treiben und treiben wollen!“ (ebd.). Nietzsches Bekenntnis zur Aufklärung und ihren echten oder missverstandenen Konsequenzen ist hier recht eindeutig. Auch in seinem Buch für freie Geister, in welchem er Menschliches, Allzumenschliches kritisch analysiert, beschwört er, wie wir wissen, den für ihn besonders von Voltaire repräsentierten „Geist der Aufklärung und der fortschreitenden Entwicklung“, der aber schon lange Zeit verscheucht wurde und er fordert jeden auf, „bei sich selbst“ zuzusehen, „ob es möglich ist, ihn wieder zurückzurufen“. (KSA, MA-1, 2, 299). Nietzsche also ein begeisterter Anhänger der Aufklärung, so mag man sich fragen. Aber wie merkwürdig anders nimmt sich da seine ‚Aufklärungsschelte‘ aus dem Fragment-Nachlass der achtziger Jahre aus, wenn wir dort lesen: „Die geistige Aufklärung ist ein unfehlbares Mittel, um die Menschen unsicher, willensschwächer, anschluß- und stütze-bedürftiger zu machen, kurz das Heerdenthier im Menschen zu entwickeln: weshalb bisher alle großen Regierungs-Künstler […] wo die herrschenden Instinkte bisher kulminirten, auch sich der geistigen Aufklärung bedienten; […] Die Selbsttäuschung der Menge über diesen Punkt z.B. in aller Demokratie, ist äußerst werthvoll: die Verkleinerung und Regierbarkeit des Menschen wird als ‚Fortschritt‘ erstrebt! Die Verdüsterung, die pessimistische Färbung, kommt nothwendig im Gefolge der Aufklärung“ (KSA, NF, 11, 570). Die Frage taucht deshalb sofort auf: Ist die Aufklärung also nicht mehr der Geist jener fortschreitenden Entwicklung, nicht mehr jene wahrhaft große Flut, in welcher wir treiben und auch treiben wollen, wie wir es noch in der Morgenröthe lasen? Nietzsche, wie in vielen Dingen, so auch in denen der Wertschätzung der Aufklärung, eine gespaltenen Persönlichkeit? Vielleicht dies auch. Und sicher ist dabei zu bedenken,
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wann und in welchem Entwicklungsabschnitt Nietzsche diese Einschätzungen und Wertungen vornahm. Fakt ist, dass er in seiner sogenannten mittleren oder ,positivistischen‘ Periode ein wesentlich positiveres Verhältnis zur historischen Aufklärung hatte als in der vorausgehenden ersten, der des Künstlergenies, oder der nachfolgenden dritten und letzten Periode seines Schaffens. Es gibt also durchaus Wechsel in den Positionen, es gibt eine Entwicklung, zumindest aber gibt es veränderte Sichtweisen dessen, was ihm gewiss als Aufklärung galt. Dennoch glauben wir, dass bei Nietzsche eine gewisse Konstanz in seinen Ansichten zu dieser Thematik vorhanden ist. Die ,neue Aufklärung‘, in den Fragmenten der Jahre 1884/1885 orientiert er zielgerichtet auf eine solche, ist ihm das Denken der ,freien Geister‘, welche zwar an einigen Elementen der historischen Aufklärung anzuknüpfen vermochte, die aber dann wesentlich und grundlegend über jene hinaus ging, sie sozusagen prinzipiell überwandt. Nietzsche, weder der junge noch der spätere, war nicht schlechthin ein ,Anti-Aufklärer‘, ein Gegner der Aufklärung, allenfalls war er ein Spätling jener Aufklärung, die zum Wegbereiter der europäischen Moderne wurde, die auch und gerade mit seiner Hilfe zur ,Postmoderne‘ mutierte. Für Jürgen Habermas fungierte Nietzsche als „Drehscheibe“ zum „Eintritt in die Postmoderne.“8 Und schon Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben in ihrer Dialektik der Aufklärung auf die beiden „dunklen Schriftsteller des Bürgertums“, Alphonse François Marquis de Sade und Nietzsche verwiesen, die einerseits aus dem Geist der Aufklärung hervorgingen, die andererseits aber „nicht wie seine Apologeten, die Konsequenz der Aufklärung durch harmonistische Doktrinen abzubiegen“9 gedachten. Ganz im Gegensatz zu den „hellen“ Schriftstellern, die „das unlösliche Bündnis von Vernunft und Untat, von bürgerlicher Gesellschaft und Herrschaft durch Leugnung schützten, sprachen jene rücksichtslos die schockierende Wahrheit aus“.10 Damit aber steht Nietzsche in der Traditionslinie einer „Selbstkritik der Aufklärung“11, die schließlich in den Ideen der späteren Frankfurter Schule kulminierte. Er befindet sich in einer Gemeinschaft von Kritikern, die schon in der Aufklärung, insbesondere seit Ende des 18. Jahrhunderts, hervorgerufen wesentlich durch das blutige Ende der französischen Revolution, zur Kritik und Selbstkritik dieser Bewegung des 18. Jahrhunderts, der sie sich ursprünglich sehr verbunden fühlten, ansetzten. Friedrich Schiller gehört dazu wie auch die Brüder Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Novalis wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel, später Marx ebenso wie Max Weber. Während aber bei den meisten dieser Kritiker die Kritik dann doch in ein Telos mündete, sei es materieller oder ideeller Art, schließt Nietzsche dies radikal aus. Aus diesem Grund bleibt für ihn eine ‚neue Aufklärung‘, die die alte kritisch überwindet, ein permanentes und offenes Projekt. Wir können nicht auf alle Details des Nietzscheschen Aufklärungsverständnisses im Gesamtverlauf seines Schaffens eingehen, die Weimarer Konferenz aus dem Jahre 2003 zu Nietzsche – Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer? hat in Referaten und Diskussionsbeiträgen hierzu eine Vielzahl an interessanten Positionen dargelegt. Was 8 9 10 11
Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1986, 144ff. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1982, 106. Ebd. Ernst Nolde, Nietzsche und der Nietzscheanismus, Frankfurt/M., Berlin 1990, 139.
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Hans-Martin Gerlach
Nietzsche jedoch an der Voltaireschen Aufklärung bemerkens- und bewahrenswert erschien, dass war deren Hang zur modernen Wissenschaftsentwicklung und der Kampf gegen jegliche Metaphysik, es war aber auch die „Bitterkeit gegen jegliche Religion“, ja die „Feindschaft“ gegen diese (KSA, JGB, 5, 152) und das war schließlich auch die Kritik der traditionellen Moralnormen, insonderheit der christlich gefärbten Mitleidsmoral: wie überhaupt Voltaires Kritik der christlichen Kirche ihm ein aufklärerisches Vorbild war. Nicht zuletzt sei auch die Kritik jenes kältesten aller Ungeheuer, des Staates, genauso erwähnt wie die Kritik aller moralischen, politischen oder ganz gewöhnlichen Alltagsvorurteile und Lebensnormen. Aber auch der viel gepriesene Voltaire und dessen aufklärerisches Denken wurde schließlich im weiteren Verlauf des Nietzscheschen Philosophierens zu dieser Problematik überwunden; für ihn wird in seiner Spätphase immer deutlicher, dass die geistige Aufklärung auch eine Gefahr sein kann, dass Machtmenschen, „Regierungskünstler“ (von Konfuzius bis Napoleon) „sich der Aufklärung bedienten“, „um die Menschen unsicher, willensschwächer, anschluss- und stützebedürftiger zu machen, kurz das Heerdenthier im Menschen zu entwickeln“ (KSA, NF, 11, 570). Aufklärung führt also nach Nietzsche in die Demokratie und damit zur Vermassung des Menschen in einer Herde gelenkter und geleiteter Individuen. Kants Idee (am Ende des 18. Jahrhunderts), dass der Mensch gerade mit der Aufklärung, die unter dem Leitspruch „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ steht und mit der man sich so aus der „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ und aus dem „Gängelwagen“ der „Vormünder, die die Oberaufsicht über sie günstig auf sich genommen haben“12 zu befreien vermag, scheint sich für Nietzsche am Ende des 19. Jahrhunderts in ihr Gegenteil zu verkehren. Daraus resultiert letztendlich nunmehr Nietzsches „Feindschaft gegen alles Litteratenhafte und Volks-Aufklärerische“ (ebd.). In den Nachgelassenen Fragmenten des Jahres 1884, genau einhundert Jahre nach Erscheinen des Kantschen Aufsatzes Beantwortung der Frage: Was heißt Aufklärung? in der Berlinischen Monatsschrift niedergeschrieben (welcher Zufall), hält Nietzsche einen ersten Entwurf eines Konzepts einer ,neuen Aufklärung‘ bereit, welchen er an verschiedenen Stellen verstreut immer nur kurz anreißt. Fakt ist dabei, dass er die „neue Aufklärung“ als eine Vorbereitung zu einer „Philosophie der ewigen Wiederkunft“ ansieht (ebd., 228). Die „neue Aufklärung“ will, im Gegensatz zur „alten“, die für den späten Nietzsche nur „im Sinne der demokratischen Heerde“ und der „Gleichmachung Aller“ zu verstehen ist, „den herrschenden Naturen den Weg zeigen – inwiefern ihnen alles erlaubt ist, was den Heerden-Wesen nicht freisteht“ (ebd. 295). Zunächst wendet er sich in seinen fragmentarischen Auslassungen dem zu, wogegen diese „neue Aufklärung“ eingesetzt werden soll: „Gegen die Kirchen und Priester gegen die Staatsmänner“, also gegen die „Herrschenden“, dann „gegen die gutmüthigen Mitleidigen“, gegen die GutMenschen und schließlich „gegen die Gebildeten und den Luxus“, gegen die bisherigen „Eliten“ und „in summa“, so fasst er zusammen, „gegen die Tartüfferie“ (ebd., 86f.). Theoretisch soll sie alle „Grundirrthümer (hinter denen dieFeigheit, Trägheit und Eitelkeit des Menschen stehen)“ (ebd., 294) aufdecken, so etwa „die Verirrung der rein Geistigen“ oder die „Moralität als Zähmung“ bzw. „Gott und Jenseits als fehlerhafte Griffe des gestaltenden Dranges“ und schließlich „das Gesammt-Gefühl: an Stelle der Sündhaftigkeit 12
Immanuel Kant, Beantwortung der Fragen: Was ist Aufklärung?, in: Ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 9, Darmstadt 1983, 59
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das allgemeine Mißrathensein des Menschen“ (ebd.). In einer zweiten Stufe des Konzepts einer „neuen Aufklärung“ soll dann „die Entdeckung des schöpferischen Triebes, auch in seinen Verstecken und Entartungen“ (ebd., 295) vorgenommen werden. Und auf einer dritten Ebene vollzieht sich nach Nietzsches Konzept dann „die Überwindung des Menschen“, auf der sich „die Selbstüberwindung als Stufe der Überwindung des Menschen“ (ebd.) vollzieht. Während er auf der Ebene der Kritik ein prinzipielles ,Nein‘ sagt zu den Idealen der antiken und christlichen Geisteswelt sowie denen der ,alten Aufklärung‘, soll die ,neue Aufklärung‘ ,Ja‘ sagen im dionysischen Sinne zum ,neuen Menschen‘, der sein bisheriges Menschsein, welches gefesselt ist durch christliche Glaubensdogmen und tradierte Moralnormen, die nur der ,Zähmung‘ dienen, durch Wissenschaftsfetischismus und Kausalitätsgläubigkeit und durch eine starke Betonung der ,Hinterwelt‘ (Idealwelt eines Platon oder transzendente Jenseitigkeit des Christentums), die die wirkliche reale Welt, die eigentliche Lebenswelt des Menschen vergessen machen will, zu überwinden gedenkt. Diese neue Aufklärung ist für Nietzsche „ein Vor- und Für-Wort zur Philosophie der ewigen Wiederkunft“ (ebd., 229). Und die „Lehre der ewigen Wiederkunft“ sieht er als Quintessenz der ,neuen Aufklärung‘ an, die zum „Hammer in der Hand der mächtigsten Menschen“ (ebd. 295) wird. Vivetta Vivarelli verweist darauf, dass Nietzsche „sein Projekt einer neuen Aufklärung“ entwickelt, „die das tragisch-dionysische Zeitalter der Experimente und die post-nihilistische Experimental-Philosophie des Willens zur Macht einführen wird. So wird ein ‚gefährlicher und vulkanischer‘ Boden für den Geist vorbereitet, um die Spannung des Bogens dauernd aufrecht zu erhalten.“13
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Vivetta Vivarelli, Nietzsche als Verkünder einer neuen Aufklärung, in: Nietzsche – Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer (Nietzscheforschung, Sonderband 2), Berlin 2004, 65.
ENNO RUDOLPH
Nietzsches Europa
Das komplexe Werk Nietzsches und dessen ebenso komplexe Textlage verführen seine Interpreten immer wieder dazu, den Autor auf eine Hauptthese oder eine Primärbotschaft festzulegen, von der ausgehend der Rest des Werkes zu erschliessen wäre. So verfuhr Karl Löwith mit dem ‚Mythologem‛ (Hans Blumenberg) von der ‚ewigen Wiederkehr des Gleichen‘1, und so hielt es Martin Heidegger mit der Ontologisierung des ‚Willens zur Macht‘2: Beiden diente ihr Zugang als Schlüssel für eine integrierende Interpretation, beide verfuhren dabei nicht ohne hermeneutische Gewaltsamkeit. Für Löwith kulminiert in Nietzsche eine gegen den Hegelianismus gewendete negative Geschichtsphilosophie, für Heidegger kulminiert in Nietzsche die Moderne, die sich gegen sich selbst richtet. Auch Thesen jüngeren Datums, wie diejenige von Gilles Deleuze, Nietzsche habe Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft noch einmal schreiben wollen3, oder die scheinbar zurückhaltendere von Annemarie Pieper, die Genealogie der Moral sei Nietzsches „Kritik der praktischen Vernunft“4, sind bona fide gemeint, stiften Kontinuität zwischen dem paradigmatischen Kritizismus der Moderne Kants einerseits und dem genealogischen Nietzsches andererseits. Allerdings, die Verkürzungen, die solche Kontextualisierungen mit sich bringen, liegen auf der Hand: Nietzsche stand für keinen Vernunftbegriff mehr, der sich auch nur in die Nähe der mit diesem Terminus bezeichneten Kompetenz des transzendentalen Subjekts oder gar des moralischen Willens im Sinne Kants bringen ließe. Wenn einer lange Zeit vor Georg Lukács, vor den frühen Frankfurtern und vor Michel Foucault die ‚Zerstörung der Vernunft‛ als deren Selbstzerstörung sowohl diagnostizierte als auch forcierte, dann war es Nietzsche, und vielleicht lesen manche ihn in extremer Kehrtwendung zu den genannten Interpreten immer noch zu sehr wie den Erstplatzierten auf einer inoffiziellen schwarzen Liste der Philosophenzunft, weil sie nicht sicher sind, ob sein Zerstörungswerk noch etwas für sie zu tun übrig lässt. 1 2 3 4
Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Stuttgart 1956. Martin Heidegger, Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961. Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, Hamburg 1991; dazu Enno Rudolph, Odyssee des Individuums. Zur Geschichte eines vergessenen Problems, Stuttgart 1991, 77. Annemarie Pieper, Vorrede, in: Otfried Höffe (Hg.), Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Berlin 2004, 15.
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Weniger reduktionistisch und vor allem nicht exklusiv wäre die Lesart, Nietzsche als einen kritischen, gelegentlich auch erbarmungslosen Phänomenologen der europäischen Kultur zu lesen, der Europa einen grell erleuchteten Spiegel vorhält und seine Zeitgenossen als betroffener Europäer ungeschminkt wissen lässt, was er sieht: Er nimmt Europa seinen Stolz, indem er ihm sein naturalistisches Antlitz zeigt und ihm die Maske des Humanismus vom Gesicht reißt, nicht ohne selbst darunter zu leiden, er, der gelernte Humanist.
I. Die ‚commedia umana‘ – Europas christliche Hypothek Mit dieser ironischen Verkehrung des Dante-Titels bringt Nietzsche in einem nachgelassenen Fragment aus dem Jahr 1885/86 sein Europabild pointiert zur Sprache: die nicht nur ideellen Errungenschaften, die Europas Stolz auf sich selbst begründen – für sie stehen die Stichworte ‚Humanität‘, ‚Moralität‘, ‚Menschlichkeit‘, ‚Mitleid‘ oder ‚Gerechtigkeit‘ – mögen die Gefährlichkeit der menschlichen Spezies ein wenig vermindert haben, sie sind aber vor allem ursächlich für seine „endgültige Vermittelmässigung“ (KSA, NF, 12, 71). Nietzsche fingiert dabei eine ebenso neutrale wie kompetente Beobachterperspektive, um diesen Blick auf Europa zu kommentieren: es ist die des ‚epikuräischen Zuschauer-Gott[es]‘. Also die Perspektive jenes Gottes, der sich, wie zahlreiche Traditionen uns lehren, an seiner Schöpfung ergötzen will (KSA, NF, 12, 72), und der sich über den eher tragikomischen Umgang der Menschen mit der ihnen geschenkten Freiheit tatsächlich nicht grämt, sondern programmgemäss belustigt. Die Moral der Europäer war konzipiert, Menschen vom Tier ‚zum Range der Götter‘ aufsteigen zu lassen. Eben dieselbe Moral aber erwies sich als geeignet, ihn zum ‚Herdentier‘ zu degradieren, d.h. zum mitleidsbereiten Gleichen unter Gleichen. Als Komödie erlebt der göttliche Betrachter diesen Abstieg, weil der Zuschauergott ein konsequenter Epikuräer ist, also einer, der das Streben nach Lust als die wahre Tugend bewertet und den es infolgedessen keineswegs überrascht, dass der Mensch sich selbst verfehlt, indem er statt zum Genießer zum Asketen wird. Christliche Askese, Moral der Selbstverleugnung, kulminierend im demokratischen Verzicht auf individuelle Besonderheit, „Moral ist heute in Europa Herdentier-Moral“ (KSA, JGB, 5, 124): dies sind Verfallserscheinungen und gerade keine heroischen Leistungen, die Europas Kultur veredelt hätten. Aus dem engeren wie auch weiteren Kontext wissen wir, dass Nietzsches evolutionsanalytischer Blick im Christentum die fatale Einrichtung sieht, die den Menschen darauf trainierte, aus der Not seiner natürlichen Defizite durch Umdeutung eine Tugend zu machen: Er lernt, das ‚Mängelwesen‛ zu sein, das sich als solches bejaht, indem es fröhlich leidet, ja, indem es nicht die lustvolle ‚Überwindung‛ seiner Mangelhaftigkeit, sondern das Leiden als obersten Wert des Lebens etabliert. Der drohende Nihilismus, auf den das Christentum eigentlich effektiv reagieren soll und will, also das Dementi lebenstranszendenter Werte oder Zwecke, dem die Position des Naturalismus entspricht, wird durch einen neuen, getarnten Nihilismus nur konterkariert, anstatt durch eine echte Alternative überwunden zu werden: Der asketische Idealismus treibt den Teufel mit dem Beelzebub aus. Denn, so Nietzsches unerbittliches Fazit: Das asketische Ideal ist am Ende selbst ein Nihil. Es ist die Negation des Lebens als Methode und Ziel, es enthält nichts als Verneinung, ein ‚leeres‘ Ideal: „Die
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Sinnlosigkeit des Leidens, nicht das Leiden, war der Fluch, der bisher über der Menschheit ausgebreitet lag, – und das asketische Ideal bot ihr einen Sinn […] die ungeheure Leere schien ausgefüllt; die Tür schloss sich vor allem selbstmörderischen Nihilismus zu“ (KSA, GM, 5, 411f.). Der Schein aber trügt: Sinnloses Leiden wird durch neues Leiden ersetzt, scheinbar sinnvolles, das sich erschöpft im „Widerwillen gegen das Leben“. Aber „lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen“ (ebd.)5. All dies sind Diagnosen, die sich nicht im Projekt der Kritik des Christentums erschöpfen. Die Kritik, und der ihr inhärente Nachweis einer Dialektik des Nihilismus, gehört elementar zur Demaskierung Europas. Dabei schließt Nietzsches Europabild die vorchristliche Antike selbstverständlich mit ein. Insbesondere Platon ist es, dessen Botschaft vom Ideal der Ideenwelt der christlichen Weltanschauung und ihrem theologischen Überbau als willkommene Vorlage diente: Platons Aufstiegspädagogik, wir wissen das auch ohne Nietzsche, wurde nahezu 1:1 auf den christlichen Asketismus abgebildet. Dabei findet sich bei Nietzsche wenig Anhalt dafür, dass ihm an der Markierung einer Differenz zwischen Platon ipse und dem getauften Platon gelegen war. Immerhin aber sieht Nietzsche einen deutlichen Unterschied zwischen den ursprünglichen Absichten des Sokratismus, „für den er [scil. Platon] eigentlich zu vornehm war“ (KSA, JGB, 5, 111), und seiner Stilisierung durch Platon. Nietzsche erkennt in Sokrates einen „Utilitarismus der Moral“ (ebd.), der sich darin artikuliere, unmoralisches Handeln als dumm und moralisches als klug zu bewerten: wer sähe es nicht als nützlich an, klug statt dumm, und deshalb moralisch zu sein. Es scheint aber, dass Nietzsche gerade in dem Platon, der alles tat, „um etwas Feines und Vornehmes in den Satz seines Lehrers hinein zu interpretieren“ (ebd.), den Vordenker des christlichen Asketismus sah und keinen Autor, dessen Position sich als Opposition zum Platonismus der Weltverneinung anböte.6 Dass mit Fug und Text ein Platon-Bild zu zeichnen wäre, das im christlichen Platonismus nicht nur keineswegs aufgeht sondern ihm widerspricht, ist heute plausibler als zu Nietzsches Zeiten: Platon, der Autor des Symposion, und d.h. der Apologet lebensbejahender Erotik, Platon, der Konzepteur eines individualistischen Politikbegriffs, Platon, der konstruktive Demokratiekritiker: Nietzsche hat ihn sich nicht angeeignet.7 Wie sehr der Autor des Politikos mit seiner strikten These, dass alle Gesetzlichkeit am Individuum ihr erstes und letztes Kriterium habe, an dem sie auch scheitere8, ein fundamentales Anliegen Nietzsches vorwegnahm, ist ihm entgangen. An Platon interessierte ihn, was das Christentum aus ihm gemacht hat, und er schien die Christianisierung Platons, die Transformation des platonischen Idealismus in den christlichen Asketismus für angemessen zu halten. Wie kompromisslos Nietzsche diese Diagnose durchhält, zeigt seine Kritik an diversen Phänomenen und Ereignissen der europäischen Geschichte, die wir in historischer Per5
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Dazu Werner Stegmaier, Die Bedeutung des Priesters für das asketische Ideal. Nietzsches ‚Theorie‘ der Kultur Europas, in: Otfried Höffe (Hg.), Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 149ff. Dass dies im Falle der anderen Ursprungskultur Europas, im Judentum ganz anders ist, wird in Teil II gezeigt. Dazu Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin 1987, 148, der immerhin eine konstruktive Rezeption der Nomoi bei Nietzsche vermutet. Platon, Politikos 294c.
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spektive eher als Etappen nachhaltiger Säkularisierungen deuten und damit als Schritte auf dem Weg zur Emanzipation vom religiösen Asketismus bewerten: Etappen, von denen sich legitim behaupten liesse, dass sie mindestens ebenso sehr Europa zu dem gestaltet haben, was Nietzsche vorlag, wie Europas Primärreligion. Thomas Hobbes etwa, wie überhaupt die englische Frühaufklärung, ist bei Nietzsche schlecht beleumundet. Er hat keine Chance, als einer der effizientesten Akteure einer Emanzipation der Philosophie, der Wissenschaft und der Politik von der kirchlichen Definitionsmacht anerkannt zu werden: „Das ist keine philosophische Rasse – diese Engländer: Bacon bedeutet einen Angriff auf den philosophischen Geist überhaupt, Hobbes, Hume und Locke eine Erniedrigung und Wertminderung des Begriffs ‚Philosoph‘ für mehr als ein Jahrhundert“ (KSA, JGB, 5, 195). Und Kant? Zahlreiche längere und kürzere Belege zeigen einheitlich, wie sehr sich Nietzsche von ihm hat herausfordern lassen. Den Kant der theoretischen Vernunft respektierte er, trotz aller Ironie, mit der er an ihm das Exempel der Anwendung genealogischer Methode statuierte9, deutlich mehr, als den der praktischen Vernunft: „Die ebenso steife wie sittsame Tartufferie des alten Kant, mit der er uns auf die dialektischen Schleichwege lockt, welche zu seinem ‚kategorischen Imperativ‘ führen, richtiger verführen“ (ebd., 19), gilt es zu entlarven, denn in ihr treffen wir die reformierte Version des christlichen Asketismus an: nun nicht mehr unmittelbar theologisch, sondern moralisch begründet. Nietzsche nennt Kant einmal einen „Moralfanatiker à la Rousseau mit unterirdischer Christlichkeit der Werte“ (KSA, NF, 12, 340), und in einer Notiz aus derselben Zeit resümiert er, was seine Ablehnung stabil hält: „Das theologische Vorurteil bei Kant, sein unbewusster Dogmatismus, seine moralistische Perspektive als herrschend, lenkend, befehlend […]“ (ebd., 264). Kants Erfolg bleibt ein „Theologenerfolg“ – „gleich Luther, gleich Leibnitz, ein Hemmschuh mehr in der an sich nicht taktfesten deutschen Rechtschaffenheit“ (KSA, AC, 6, 177). Und daraus folgt, dass selbst die vielleicht radikalste Form der philosophischen Selbstkritik Europas, verstanden als Kritik an versäumter Aufklärung, wie Kant sie vortrug und auch auf die christliche Religion bezog, zu bewerten ist als Fortsetzung der Apologie der Lebensfeindlichkeit mit anderen Mitteln. Die Permanenz der Heroisierung asketischer Selbstverleugnung ist durch Kant auf höchstem Niveau gesichert worden. Er garantiert den anhaltenden Bühnenerfolg der ‚commedia umana‘ im europäischen Theater. Das Programm profiliert die Institution: das aufgeklärte Europa bleibt mit dem christlichen essentiell identisch. Alle seine Hauptdarsteller, Platon, Paulus, Luther, Kant, auch Richard Wagner, üben sich in Mimesis. Markant an Nietzsches Bild von Europa ist weniger, dass er diese Region durch seine hinlänglich bekannten und kommentierten Verdikte über Platonismus, Christentum, Metaphysik, Asketismus und Demokratismus definiert, sozusagen als Herkunftsangabe für den Typ eines Antinihilismus, den er nun selbst, wohl auch kraft seiner Berufung als „Kulturphilologe“ (KSA, JGB, 5, 37), als einen Nihilismus sui generis identifiziert. Markant ist, dass Nietzsches Europa sein begriffliches Profil durch die kontinuierliche Fort9
„[…] es ist endlich an der Zeit, die Kantische Frage ‚wie sind synthetische Urteile a priori möglich?‘ durch eine andere Frage zu ersetzen ‚warum ist der Glaube an solche Urteile nötig?‘“ (KSA, JGB, 5, 25).
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und Festschreibung eines Irrtums erhält. Europäisch sein heißt für den Europäer, seine natürliche Mangelhaftigkeit erkennen: vom nichts wissenden Sokrates über das sündig geborene und schuldig gebliebene Individuum bis zum moralischen Zögling Kants; auf seine Mangelhaftigkeit mit einer Strategie reagieren, an deren Konzeption Theologen und Philosophen gleichermaßen, wenngleich nicht selten in Konkurrenz, gearbeitet haben: es handelt sich um die Konzeption des asketischen Idealismus; es geht darum, als „guter Europäer“ Erbe zu sein „von Europas längster und tapferster Selbstüberwindung […]. Alle grossen Dinge gehen durch sich selbst zu Grunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung […]. Dergestalt ging das Christentum als Dogma zugrunde, an seiner eignen Moral; dergestalt muss nun das Christentum als Moral noch zu Grunde gehen, – wir stehen an der Schwelle dieses Ereignisses“ (KSA, GM, 5, 410). Der prominente Text, an dessen Ende diese ebenso prominenten Thesen stehen, klingt zwar pathetisch und prophetisch, aber auch konstruktiv. Die Sätze enthalten die Andeutung der Vision eines neuen, eines postnihilistischen Europa. Das sich selbst aufhebende Europa korrespondiert fraglos dem Europa, für das eine neue Strategie gefordert ist, eine, die im Gegensatz zur Politik des angepassten Nihilismus, zur Herdentierpolitik, welche alle zum gleichen Maß an Selbstverleugnung nötigt, aristokratische Erhabenheit zulässt: sie äußert sich im „Pathos der Distanz“ (KSA, NF, 12, 73): ein neues Ideal? Nietzsche fragt: „Wäre es nicht an der Zeit, je mehr der Typus ‚Herdentier‘ jetzt in Europa entwickelt wird, mit einer grundsätzlichen, künstlichen und bewussten Züchtung des entgegengesetzten Typus und seiner Tugenden den Versuch zu machen? Und wäre es für die demokratische Bewegung nicht selber erst eine Art Ziel, Erlösung und Rechtfertigung, wenn Jemand käme, der sich ihrer bediente […]?“ (ebd.). Die Rede von ‚Züchtung‘ ist in strikter Unterscheidung zu lesen von der makabren Karriere, die die Vokabel und das mit ihr propagierte Programm nach Nietzsche im nationalsozialistischen Deutschland gemacht hat. Nietzsche steht Platon de facto näher als Hitler, und er wird durch Karl Poppers Platon-Kritik beiden auch nicht wieder gleich nah. Nietzsches Aristokratie bedeutet, zu ‚züchten‘ im Sinne von heranzubilden. Platon, ebenfalls Verfechter einer Tugendaristokratie, angeführt von Gerechtigkeitsexperten, verteidigte ein Menschenrecht auf Diversität, auf Lebensführung nach dem Maß individueller Besonderheit. Dieses Maß diente ihm als Orientierung für die Etablierung einer sozialen Ordnung, die den Namen ‚Gerechtigkeit‘ verdient. Nietzsches Europa der Zukunft? Der Sache nach ein platonisches, aber antiplatonistisches Europa.
II. Verführungen zum Leben – das Judentum als Chance Europas Antisemitismus ist für Nietzsche ein Zeichen von Verdummung: „Man muss es in den Kauf nehmen, wenn einem Volke, das am nationalen Nervenfieber und politischen Ehrgeize leidet, leiden will –, mancherlei Wolken und Störungen über den Geist ziehn, kurz, kleine Anfälle von Verdummung: zum Beispiel bei den deutschen von Heute bald die antifranzösische Dummheit, bald die antijüdische, bald die antipolnische, bald die christlich-romantische, bald die Wagnerianische, bald die teutonische, bald die preussische […] und wie sie alle heissen mögen, diese kleinen Benebelungen des deutschen Geistes und Gewissens“ (KSA, JGB, 5, 192). Dass die Juden als Rasse bezeichnet werden, hat
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nichts mit dem Rassenbiologismus der Nazis zu tun. Nietzsches Rede von ethnischen Typen als Rasse war Kulturjargon, auch Engländer oder Franzosen konnten als ‚Rasse‘ bezeichnet werden: „Es kennzeichnet eine solche unphilosophische Rasse, dass sie streng zum Christentume hält“ (KSA, JGB, 5, 195). Europa verdankt den Juden sehr viel: Nietzsche pointiert die Gründe: „[…] die ganze Romantik und Erhabenheit der moralischen Fragwürdigkeiten – und folglich gerade den anziehendsten, verfänglichsten und ausgesuchtesten Teil jener Farbenspiele und Verführungen zum Leben, in deren Nachschimmer heute der Himmel unsrer europäischen Cultur, der Abendhimmel, glüht, – vielleicht verglüht. Wir Artisten unter den Zuschauern und Philosophen sind dafür den Juden – dankbar“ (ebd., 192). Die fällige Dankbarkeit hat sich darin zu erweisen, den Juden zu helfen, endlich ihr Nomadenleben zu beenden. Nietzsche lässt anklingen, dass die Juden die „Herrschaft über Europa“ verdient haben könnten, obwohl sie eine solche Dominanz keineswegs anstreben, und dass es nützlich wäre, „die antisemitischen Schreihälse des Landes zu verweisen“ (ebd., 194). Was die Juden den anderen Europäern voraushaben, verdanken sie einer lange währenden, gründlichen Schule: „In Europa aber haben sie eine Schule von achtzehn Jahrhunderten durchgemacht, wie sie hier kein andres Volk aufweisen kann, und zwar so, dass nicht eben der Gemeinschaft, aber umso mehr den Einzelnen die Erfahrungen dieser entsetzlichen Übungszeit zu Gute gekommen sind“ (KSA, M, 3, 181). Es mag scheinen, als sei das Judentum der europäische Beleg für ein anderes als das lebensverneinende, asketische Europa, ja als verdanke es seine historische Rolle negativ dem europäischen main-stream selbst, als seien es mithin die Juden, die prädestiniert sind, den Selbstaufhebungsprozess des christlich geprägten Europa zu vollenden. Die Gründe dafür liegen nahe. Die Juden sind ihren Konkurrenten überlegen, weshalb Europa sie braucht: überlegen an Erfahrung und Geschichte. Damit ist nicht das Judentum gemeint, dessen Geburt das Christentum ist, das, einem ebenfalls jüdischen Impuls folgend, den ‚Sklavenaufstand der Moral‘ zur neuen, teils post-, teils gegenjüdischen Religion gestaltete. Genauer: Es gibt ein jüdisches Projekt des Christentums und ein davon verschiedenes, antijüdisches. Das letztere trug den Sieg in Europa davon, in der Form des christlichen Asketismus, der sich gegen den ursprünglichen jüdischen Vitalismus richtet. Das erstere hingegen manifestierte sich in Jesus selbst, wurde aber durch Paulus in eine ultimative Doktrin verwandelt. Paulus, den Nietzsche im Antichrist als den „Dysangelisten“ bezeichnet (KSA, AC, 6, 211): Jesus hingegen, bevor ihn Paulus noch einmal ans Kreuz schlug: „war er nicht gerade die Verführung in ihrer unheimlichsten und unwiderstehlichsten Form, die Verführung und der Umweg zu eben jenen jüdischen Werten und Neuerungen des Ideals?“ (KSA, GM, 5, 268f.). Nietzsche deutet es lediglich an: gemeint ist das aristokratische Ideal des ursprünglichen Judentums, das er gegen das asketische des Christentums ausspielt. Der Kreis schließt sich: Das ‚Ereignis‘ der Selbstaufhebung Europas ist die Stunde der Renaissance des aristokratischen Judentums, zu dessen Typ auch Jesus zählt, gleichsam als unzeitgemäße Erscheinung. Nietzsche lässt keinen Zweifel daran, dass er im Christentum den Triumph eines bestimmten Judentums sieht, eines, das Rom eroberte und das erwirkte, dass das klassische Rom lebendig begraben wurde: „Rom selber bewegte sich wie ein aufgeweckter Scheintoter unter dem Druck des neuen, darüber gebauten judaisierten Rom, das den Aspekt einer ökumenischen Synagoge darbot und ‚Kirche‘ hieß: aber sofort trium-
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phierte wieder Judäa, dank jener gründlich pöbelhaften (deutschen und englischen) Ressentiments-Bewegung, welche man die Reformation nennt, hinzugerechnet, was aus ihr folgen musste, die Wiederherstellung der Kirche, – die Wiederherstellung auch der alten Grabesruhe des klassischen Rom“ (ebd., 287). Weit entfernt also, dass man unter Berufung auf Nietzsche die Reformation als eine Etappe im Prozess der ‚Selbstaufhebung‘ Europas bezeichnen könnte: ebenso wenig wie die Aufklärung oder die Französische Revolution. Gerade sie wird von ihm unzweideutig als eine Spätfolge des zähen Selbstbehauptungswillens Judäas gegen Rom gedeutet. Umso wichtiger ist es, dieses Judäa und seine christlich-europäische Erfolgsgeschichte sorgsam zu unterscheiden von jenem aristokratischen Typ des Judentums, das man im Sinne der von Nietzsche vorgenommenen Kontrastierung als antijudäisches Judentum zu charakterisieren hätte: „Der Christ, diese ultima ratio der Lüge, ist der Jude noch einmal […]“ (KSA, AC, 6, 219). Aber dieses Fazit ist zu lesen vor dem Hintergrund der Geschichte Israels, aus der sich erklären lässt, wie es zur Diastase zwischen den beiden Typen des Judentums kam: Nietzsche rekonstruiert einen Bruch in der Geschichte des Judentums. Dieser Bruch führte dazu, dass die Juden aus Jahwe, dem Gott der Selbstbejahung des Volkes, dem Gott der Naturfreude, der Macht, des politisch erlebten Schicksals unter Druck von innen (Anarchie) und außen (assyrische Bedrohung) zunächst einen König, einen Krieger und einen Richter machten, um dann zu resignieren. Der politische Gott wurde in einen moralischen Gott verwandelt, er wurde zum Gott der Gerechtigkeit. Diesem Bruch, dieser Mutation in der religiösen Kultur eines Volkes ist die Entstehung des Christentums als strategische Gestalt des neuen Judentums geschuldet. Voraus ging der Prozess, in dem aus einer politischen Religion der Immanenz eine moralische der apokalyptischen Transzendenz wurde: „Die Moral, nicht mehr der Ausdruck der Lebensund Wachstumsbedingungen eines Volkes, nicht mehr sein unterster Instinkt des Lebens, sondern abstrakt geworden, Gegensatz zum Leben geworden […]“ (ebd., 194). Dieses Judentum ist nicht dasjenige, auf das Nietzsche wie auf eine nachnihilistische europäische Hoffnung setzt, das Judentum der „Verführung“ zum Leben, das sich in der und durch die europäische Schule behauptete und das im vorpaulinischen Jesus eine ohnmächtige Symbolisierung fand. Dieses Judentum nach dem prekären Bruch ist der Brutkasten des Christentums. Von ‚Geschichtsfälschung‘ spricht Nietzsche ausdrücklich und konsequent, wenn er diese Metamorphose des Gottesbegriffs geißelt: der Geschichtsfälschung angeklagt sind die priesterlichen Juden: „[…] sie haben ihre eigne Volks-Vergangenheit mit einem Hohn ohne Gleichen gegen jede Überlieferung, gegen jede historische Realität ins Religiöse übersetzt […]“ (ebd., 195) Nietzsche konstatiert diesen Betrug nicht ohne eine gewisse Genugtuung: der Kontext legt die Vermutung nahe, dass es die Genugtuung über die nun neu sichtbar gewordene Chance des alten Judentums im neuen Europa ist. Die fatale ‚Leistung‘ der ‚Geschichtsfälschung‘ besteht nicht allein darin, dass die Geschichte mit Priesterhand umgeschrieben wurde.10 Vielmehr haben die Priester ihr Volk um seine Geschichte, besser: um Geschichte gebracht. Und es ist dieser Verweis 10
„[…] unter den Händen der jüdischen Priester wurde die grosse Zeit in der Geschichte Israels eine Verfalls-Zeit; das Exil, das lange Unglück verwandelte sich in eine ewige Strafe für die grosse Zeit – eine Zeit, in der der Priester noch nichts war […]“ (KSA, AC, 6, 195).
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auf die Geschichte, die mit dem wieder aktuell gewordenen Erfahrungsreichtum der Juden gemeint ist. Europa wurde durch den ins Christentum übertragenen Selbstbetrug des Judentums von einer Endzeit-Religion geprägt: Europa, im Schatten eines finalen Erlösungsgeschehens, im Schatten eines letzten Weltgerichts, hatte sich zu legitimieren vor der Priestermoral und ihren säkularen Nachfolgermodellen. Das Europa hingegen, auf das Nietzsche setzt, ist ein Europa nach der ‚Überwindung‘ seiner interimistischen Existenz unter Vorbehalt, ein Europa, dem seine Geschichte zurückgegeben wird, eine ohne Ziel und ohne die Fessel moralischer Sinngebung. Die Juden sind gefragt, im Interesse Europas an ihre Geschichte, die unverfälschte, anzuknüpfen. Geschult sind sie hinreichend dafür.
DAMIR BARBARIĆ
„Wir Heimatlosen“ Nietzsches Gedanken zum Europäertum
Im Aph. 377 des fünften Buches der Fröhlichen Wissenschaft ruft Nietzsche die unbekannten Freunde und Verwandten, „die ein Recht haben, sich in einem abhebenden und ehrenden Sinne Heimatlose zu nennen“, folgenderweise an: „Wir Kinder der Zukunft, wie vermöchten wir in diesem Heute zu hause zu sein! Wir sind allen Idealen abgünstig, auf welche hin einer sich sogar in dieser zerbrechlichen, zerbrochenen Übergangszeit noch heimisch fühlen könnte“ (KSA, FW, 3, 628f.). Im Weiteren setzt er sich ab sowohl von einer abstrakt allgemeinen Liebe zur Menschheit als auch von jedem Nationalismus und Rassenhass, durch welche „sich jetzt in Europa Volk gegen Volk wie mit Quarantänen abgrenzt, absperrt“ (ebd.). Dementgegen soll das Losungswort für seine eigene Position ‚der gute Europäer‘ sein. Auch wenn es scheinen könnte, als ob die heimatlosen guten Europäer der heutigen zerbrechlichen Übergangszeit im Begriff sind, auf das Meer des allgemeinen Unglaubens hinauszufahren und ob allen jenen ‚Neins und Vielleichts‘, an denen sie zusammen mit ihrer Zeit krank sind, auch des letzten Grundes unter den Füßen verlustig gehen, ist das nicht der Fall, denn ihr verborgenes Ja ist stärker als all dieses Verneinen und Zweifeln. Trotz allem Anschein sind auch sie durch ein Glauben und ein verborgenes Ja dazu gezwungen worden, auf das Meer, und das heißt auf den „Horizont des Unendlichen“ (ebd., 480), auszuwandern. Versuchen wir, Schritt für Schritt die hier angedeuteten Gedanken etwas genauer zu fassen, vor allem jenen der ‚Heimatlosigkeit‘. Nach Gesagtem scheint es naheliegend zu sein, sie zunächst zeitlich zu verstehen. Heimatlos ist der, der in seinem eigenen Heute nicht heimisch, nicht zu Hause ist. Was heißt das? Und wie sollte das Gegenteil davon aussehen, nämlich in eigener Gegenwart heimisch zu sein? Machen wir zunächst einen Umweg. Vielleicht ist es ratsam, hier auf den Gedankengang der zweiten unzeitgemäßen Betrachtung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben zurückzugreifen. Dort wird der Mensch, im Unterschied zum Tier, das völlig unhistorisch lebt, das heißt immer restlos in der Gegenwart aufgeht, als ein solches Lebewesen dargestellt, das durch die grundsätzliche Unfähigkeit zum vollständigen Vergessen bestimmt ist. Das Vergangene, das unaufhebbare ‚es war‘, begleitet den Menschen ständig, um ihn immer wieder daran zu erinnern, dass sein Dasein im Grunde nur ein „nie zu vollendendes Imperfectum“, bzw. „nur ein ununterbrochenes Gewesensein“ ist (KSA, HL, 1, 249). Um nicht durch die ihn belästigende und bedrängende Übermacht des Ver-
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gangenseins all seiner handelnden, schöpferischen und zeugenden Lebenskraft verlustig zu gehen, muss der Mensch die Kraft und Kunst des Vergessens in sich bewahren, vielmehr sie absichtlich fördern und pflegen. Nur dadurch, dass er gelegentlich wie das Kind „zwischen den Zäunen der Vergangenheit und der Zukunft in überseliger Blindheit spielt“ (ebd., 249), das heißt „sich auf die Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend“, niederlässt (ebd., 250), lässt er dem Vergangenen nicht zu, „zum Todtengräber des Gegenwärtigen zu werden“ (ebd.), womit er die plastische Kraft seines Lebens stärkt. Diese plastische Lebenskraft besteht nämlich darin, dass man sich zum Gewesenen tätig, d.h. wählend, einiges hervorhebend und anderes weglassend, verhält, dass daraus all das, was zur Stärkung der Gegenwart und zum Schaffen der Zukunft als Nahrung dienen kann, genommen, und alles andere dem Dunkel des Vergessens überlassen wird. Erst auf Grund eines solchen wählenden, sowohl aufnehmenden als auch verdrängenden Verhältnisses zum Vergangenen bildet der Mensch, wie ein jedes Lebewesen auch, um sich einen Horizont, d.h. eine umschließende „Linie, die das Übersehbare, Helle von dem Unaufhellbaren und Dunklen scheidet“ (ebd., 252). „[J]edes Lebendige kann nur innerhalb eines Horizontes gesund, stark und fruchtbar werden“ (ebd., 251). Die Heiterkeit, das gute Gewissen, die frohe Tat, das Vertrauen auf das Kommende hängt bei dem Einzelnen wie beim Volke nur davon ab, dass es in seinem Leben eine solche umhüllende und umschließende Linie des Horizontes gibt (ebd., 251f.). Das Vergessen-können, bzw. „das Unhistorische“, ist also „einer umhüllenden Atmosphäre ähnlich, in der sich Leben allein erzeugt, um mit der Vernichtung dieser Atmosphäre wieder zu verschwinden“ (ebd., 252). Diese unhistorische Atmosphäre, als eine „pietätsvolle Illusions-Stimmung“ (ebd., 296) und „ein geheimnisvolle[r] Dunstkreis“ (ebd., 298), ist der fruchtbare Grund, auf dem jede echte und heftige Leidenschaft beruht. Sie ist der Geburtsschoß jeder Tat, in ihr ist jedes große geschichtliche Ereignis entstanden (vgl. ebd., 253f.). Nur innerhalb eines so verstandenen Horizontes kann der Mensch heiter und froh, gesund und kräftig, das heißt in eigener Gegenwart heimisch sein. Nur darin kann er von dem Überschwang der Liebe überfallen werden, der als schaffender und zeugender Instinkt unaufhaltsam danach drängt, das Vergangene wie das Gegenwärtige nicht nur zu vergessen, sondern sie vielmehr von Zeit zu Zeit sogar „zu zerbrechen und aufzulösen“ (ebd., 269), um auf dem damit freigemachten Boden einer „bereits in der Hoffnung lebendigen Zukunft“ ihr Haus zu bauen (ebd., 295f.). Was passiert aber, wenn sich das menschliche Verhältnis zur Vergangenheit zur Form der Wissenschaft zurechtmacht und wenn die Wissenschaft der Historie den Anspruch darauf erhebt, als der einzig richtige Bezug zum Vergangenen zu gelten? Für Nietzsche gibt es hier keinen Zweifel: „Die Geschichte als reine Wissenschaft gedacht und souverän geworden, wäre eine Art von Lebens-Abschluss und Abrechnung für die Menschheit“ (ebd., 257). Denn ein historisches Phänomen rein und vollständig erkennen heißt, es in ein reines Erkenntnisphänomen aufzulösen, damit aber auch tot zu machen. Die vollständige Erkenntnis eines Phänomens durchschaut nämlich auch ‚den Wahn, die Ungerechtigkeit, die blinde Leidenschaft und überhaupt den ganzen irdischen umdunkelten Horizont‘ dieses Phänomens. Damit wird für diese Erkenntnis auch die eben in diesem Horizont geborgene geschichtliche Macht machtlos. Erkennend setzt sie sich in einer alles durchschauenden Gleichgültigkeit dem Phänomen selbst und dem ganzen es umhüllenden Horizont entgegen. Beides schaut sie jetzt kalt, fern, unberührt und unbeteiligt an (vgl. ebd., 257).
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Der Wissensdrang ist nach der früh erreichten und dann lebenslang festgehaltenen Einsicht Nietzsches an sich schlechthin grenzen- und schrankenlos. Wenn nicht vom Leben, genauer von dessen unhistorischen und überhistorischen Mächten der Religion und Kunst gebändigt, dehnt er sich immer weiter, bohrt fragend, suchend und erklärend immer tiefer, und macht von sich keinen Halt bevor alles, was als seiend und bestehend erscheint, in einer Wissenschaft des universalen Werdens aufgelöst wird. Ungezügelt und selbstständig geworden, führt die Wissenschaft, genauer die Leidenschaft des Erkennens, dazu, „überall ein Gewordenes, ein Historisches und nirgend ein Seiendes, Ewiges“ zu sehen (ebd., 330). Ihrer innigsten Natur nach trachtet sie danach, „alle Horizont-Umschränkungen aufzuheben […] und den Menschen in ein unendlich-unbegrenztes Lichtwellen-Meer des erkannten Werdens“ hineinzuwerfen (ebd.). Das letzte Ergebnis dieses verhängnisvollen Geschehens ist eine vollständige Grund- und Bodenlosigkeit des Menschen und seiner Welt: „Wie die Städte bei einem Erdbeben einstürzen und veröden und der Mensch nur zitternd und flüchtig sein Haus auf vulkanischem Grunde aufführt, so bricht das Leben selbst in sich zusammen und wird schwächlich und mutlos, wenn das Begriffsbeben, das die Wissenschaft erregt, dem Menschen das Fundament aller seiner Sicherheit und Ruhe, Glauben an das Beharrliche und Ewige, nimmt“ (ebd., 330). Die in der Fröhlichen Wissenschaft erwähnte Heimatlosigkeit der guten Europäer, von der wir ausgegangen sind, ist vielleicht am ehesten aus dem hier Dargelegten zu verstehen. Statt sich an die unübersehbaren kleinen Zwistigkeiten der Nationen, als angeblich abgeschlossenen originalen Volks-Kulturen, worin in Wahrheit nichts anders zu sehen ist als der Rest einer längst überwundenen romantischen Phantastik (vgl. KSA, MA, 2, 45), zu zerstreuen, oder sich wiederum an der bequemen Allgemeinheit einer vermeintlich einheitlichen ‚Menschheit‘ zu verlieren, gilt es, sich auf die heutige zerbrechliche, zerbrochene Übergangszeit kritisch einzulassen. Eben darin liegt die erste wesentliche Bestimmung des von Nietzsche verlangten Europäertums. Wie ist diese Übergangszeit des Näheren zu bestimmen? Den Hinweis entnehmen wir dem Aph. 179 des zweiten Buches von Menschliches, Allzumenschliches. Unsere gegenwärtige Zeit wird hier in ihrem zwiespältigen Verhältnis zur Vergangenheit und zur Zukunft geschildert. In Hinsicht auf die Vergangenheit hebt sich unser Zeitalter von allen vorherigen dadurch ab, dass es von keinem geschlossenen und ganzheitlichen Horizont mehr umschlossen ist: „[W]ährend frühere Kulturen nur sich selber zu genießen vermochten und nicht über sich hinaussahen, vielmehr wie von einer weiter oder enger gewölbten Glocke überspannt waren, aus welcher zwar Licht auf sie herabströmte, durch welche aber kein Blick hindurchdrang“, sind wir jetzt in der Lage, alle Kulturen und deren Hervorbringungen zu genießen und uns mit dem edelsten Blute aller Zeiten zu nähren (KSA, MA-2, 2, 457). Vielleicht ist diese unsere Lage und unsere Zeit eben deswegen glücklich zu nennen, wie es Nietzsche im Titel des Aphorismus, wohl nicht ohne Absicht auf eine herausfordernde Zweideutigkeit, auch tut. Als glücklich kann diese Übergangszeit besonders jetzt an ihrem Anfang erscheinen, wo wir „noch dem Zauber der Gewalten, aus deren Schoße jene geboren wurden, nahe genug [stehen], um uns vorübergehend ihnen mit Lust und Schauder unterwerfen zu können“ (ebd.). Der feierlichen Stimmung des hier waltenden Verhältnisses zur Vergangenheit entspricht auch der hoffnungsvolle und vorbehaltslos einsatzbereite Blick auf das Zukünftige: „In Hinsicht auf die Zukunft erschließt sich uns zum ersten Male in der Geschichte der un-
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geheuere Weitblick menschlich-ökumenischer, die ganze bewohnte Erde umspannender Ziele. Zugleich fühlen wir uns der Kräfte bewußt, diese neue Aufgabe ohne Anmaßung selber in die Hand nehmen zu dürfen, ohne übernatürlicher Beistände zu bedürfen; ja, möge unser Unternehmen ausfallen, wie es wolle, mögen wir unsere Kräfte überschätzt haben, jedenfalls gibt es niemanden, dem wir Rechenschaft schuldeten als uns selbst: die Menschheit kann von nun an durchaus mit sich anfangen, was sie will“ (ebd., 457). Das Ausbleiben des geschlossenen Horizontes, das Ereignis, durch welches unsere Zeit wesentlich bestimmt ist, wird nicht als Verlust und Gefahr empfunden, sondern umgekehrt als eine höchst willkommene Herausforderung für die Menschheit, endlich einmal die eigene Geschichte in die eigene Hand zu nehmen und sie dann bewusst und wissentlich selbst zu gestalten. Der Unterschied zur Grundstellung in der Frühschrift ist auffallend. Es ist nicht zu übersehen, dass und wie sehr dieses Pathos der unbedingten Freiheit, in welcher die Menschheit die volle Verantwortung auf sich nimmt und die Geschichte der gesamten Erde wissend und kunstvoll, sogar auf einer ausdrücklich wissenschaftlichen Basis zu gestalten unternimmt, manche Gedankengänge Nietzsches bestimmt und leitet, insbesondere zur Zeit der Entstehung von Menschliches, Allzumenschliches und Morgenröte. So heißt es etwa, „die Menschen können mit Bewußtsein beschließen, sich zu einer neuen Kultur fortzuentwickeln, während sie sich früher unbewußt und zufällig entwickelten“. In dieser Weise können sie jetzt „die Erde als Ganzes ökonomisch verwalten“. Diese „neue bewußte Kultur“ tötet vielmehr die alte, „welche als Ganzes angeschaut ein unbewußtes Tier- und Pflanzenleben geführt hat“ (ebd., 45). In den anschließenden Überlegungen, die zweifelsohne die Mahnungen des ‚tollen Menschen‘ aus dem Aph. 125 der Fröhlichen Wissenschaft präludieren, heißt es dann: „Seitdem der Glaube aufgehört hat, daß ein Gott die Schicksale der Welt im großen leite und trotz aller anscheinenden Krümmungen im Pfade der Menschheit sie doch herrlich hinausführe, müssen die Menschen selber sich ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele stellen“ (ebd., 46). Die vereinigte Menschheit, die in ihrer vollen, bedingungslosen Freiheit die ökumenischen, die ganze Erde umspannenden Ziele stellt, diese Idee zieht sich, mehr oder weniger ausdrücklich, durch das gesamte Werk Nietzsches. Eben darin besteht sein Begriff der ‚großen Politik‘, wie sie noch am Ende seines Schaffens, im Aph. 208 von Jenseits von Gut und Böse, beschworen wird: „Die Zeit für kleine Politik ist vorbei: schon das nächste Jahrhundert bringt den Kampf um die Erd-Herrschaft – den Zwang zur großen Politik“ (KSA, JGB, 5, 140). Vor diesem Hintergrund bekommt die von Nietzsche heftig befürwortete Einheit Europas einen neuen, einigermaßen überraschenden Sinn. Obwohl es selten ausgesprochen und nicht weiter ausgeführt wurde, fühlte er sich in diesem Zusammenhang von der ziemlich vagen, Napoleon zugeschriebenen Idee des einen Europa als der „Herrin der Erde“ (KSA, FW, 3, 610) stark angezogen. Kulminieren also Nietzsches Überlegungen von Europa in einer Konzeption der Geschichte, die als eine Art des Menschheitsimperialismus zu bezeichnen ist? Ob er mit seiner Vorhersage einer vollbrachten „Beherrschung der Natur“, durch die „etwas vom Luxushaften unter die Menschen kommen [wird], von dem wir uns jetzt keine Vorstellung machen können“ (KSA, NF ,9, 135), oder auch der Vorhersage eines Zeitpunkts, wo der Mensch dank der Wissenschaft und der von ihr herbeigeführten „Sklaverei der Natur“ (KSA, NF, 12, 207) die ‚Kraft‘ im Überfluss zu Diensten hat und dann Muße bekommt,
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sich selbst ‚auszubilden‘, zu etwas Neuem, Höherem, in eine fragwürdige Nähe zu den verhängnisvollen Zukunftsentwürfen des späteren Karl Marx kommt? Einer solchen Ansicht stehen mindestens zwei Tatsachen im Weg. Erstens die ganz problematische Stellung der Wissenschaft in Nietzsches Denken und zweitens seine Einsicht in die Maßlosigkeit als das Wesen von Europa und von der neuen Welt überhaupt. Im Phänomen der Wissenschaft erkennt Nietzsche ein ganz wesentliches, vielleicht eben entscheidendes Moment des gegenwärtigen Zeitalters. So heißt es in einer Aufzeichnung aus dem Nachlass: „Verbergen wir es uns nicht! Die Wiss‹enschaft› oder, ehrlicher geredet, die Leidenschaft der Erkenntniß ist da, eine ungeheuere neue wachsende Kraft, dergleichen noch nie gesehen worden ist …“ (KSA, NF, 9, 594). Und seine mindestens zeitweilige Meinung war, wie gesagt, die, dass der endgültige Übergang zur neuen, von der Menschheit ganz selbstständig zu gestaltenden Geschichte, bzw. die Stiftung und kunstvolle Ausbildung einer die ganze Menschheit in Anspruch nehmenden und die ganze Erde umfassenden Kultur, nicht anders als auf der Grundlage der Wissenschaft verwirklicht werden kann. Nach seiner Meinung sind mindestens die Grundsteine (wenn auch nicht die neuen Ideale selber) für den bevorstehenden gänzlichen Neubau der Gesetze des Lebens und Handelns aus den Wissenschaften zu entnehmen (vgl. KSA, M, 3, 274). Allerdings weist die hier in Klammern von Nietzsche vorsichtig angedeutete Warnung, nach der die gesuchten neuen Ideale selber nicht aus den Wissenschaften zu nehmen sind, auf die grundsätzliche Frage, mit der Nietzsche in diesem Zusammenhang unaufhörlich ringt, und die er bei einer anderen Gelegenheit sogar als „die heikeligste aller Fragen“ bezeichnet. Diese Frage lautet: „[O]b die Wissenschaft imstande sei, Ziele des Handelns zu geben, nachdem sie bewiesen hat, daß sie solche nehmen und vernichten kann“ (KSA, FW, 3, 379)? Freilich wusste Nietzsche wohl, dass es der Wissenschaft wesentlich nicht darum geht, die Ziele und Zwecke für die Handlung und Tat zu geben, sondern umgekehrt sie zu nehmen und zu vernichten, womit dem menschlichen Leben sowohl sein Horizont, innerhalb dessen es nur gesund und fruchtbar werden kann, als auch der Grund seiner Bodenständigkeit und seiner schaffenden, zukunftsträchtigen Zeugungskraft entzogen wird. Und trotzdem hat er mindestens vorübergehend von einer Möglichkeit geschwärmt, die Wissenschaft selbst, und zwar gerade als das, was dem Leben ansonsten jeden tragenden Grund entzieht, zu einem neuen, ganz eigentümlichen ‚Grund‘ der neuen Geschichte zu machen. Auch wenn es unbestreitbar ist, dass die Wissenschaft „jetzt noch bekannter [ist] wegen ihrer Kraft, den Menschen um seine Freuden zu bringen und ihn kälter, statuenhafter, stoischer zu machen“, könnte sie doch ganz umgekehrt „auch noch als die große Schmerzbringerin entdeckt werden – und dann würde vielleicht zugleich ihre Gegenkraft entdeckt sein, ihr ungeheueres Vermögen, neue Sternwelten der Freude aufleuchten zu lassen!“ (ebd., 379). In einer Aufzeichnung aus dieser Zeit heißt es dementsprechend: „Wie kalt und fremd sind uns bisher die Welten, welche die Wissenschaft entdeckte! […] Und doch soll allmächlich ‚die Wahrheit‘ sich in unseren Traum verketten und – wir sollen einmal wahrer träumen!“ (KSA, NF, 9, 623). Aber es hilft nichts: Durch die immer ausschließlicher werdende und zur alleinigen Herrschaft kommende Wissenschaft werden dem Menschen seine Welt und alle weltlichen Dinge immer fremder und gleichgültiger. Wie Nietzsche gleich im Anschluss daran schreibt, sind wir Menschen durch die Nachwirkung der Wissenschaft dazu verurteilt, sicher einmal zu den Einsamsten der Einsamen zu werden: „Nachmals werden wir den
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Freund suchen – die Menschen werden selbsteigene Herrlichkeiten und Sonnenkreise geworden sein – aber einsam“ (ebd., 625). Trotz allem Zögern und dauernder Unsicherheit scheint Nietzsches Abschied vom verfänglichen Ausblick auf eine sich auf der Wissenschaft gründenden Weltkultur im Wesentlichen schon zu dieser Zeit genommen worden zu sein: „Die Wissenschaft hat viel Nutzen gebracht, jetzt möchte man, im Mißtrauen gegen die Religion und Verwandtes, ‹sich› ihr ganz unterwerfen. Aber Irrtum! Sie kann nicht befehlen, Weg weisen: sondern erst wenn man weiß wohin?, kann sie nutzen. […] die höchsten Formen der Moralität sind vielleicht unmöglich bei voller Helle“ (ebd., 403). Ein klares Zeugnis dafür sind auch seine danach immer häufiger sich meldenden und immer dramatischer werdenden Äußerungen, die den unbedingten Willen zur Wahrheit, worin das Wesen nicht nur der Wissenschaft sondern sogar der Philosophie selbst einzusehen sei, zu einem verborgenen Willen zum Tode und zum Symptom des entartenden und absterbenden Lebens erklären. Außerdem wird die Wissenschaft für Nietzsche allmählich immer mehr als nur ein, obwohl ganz wesentliches Moment in der allgemeineren und wesentlich komplizierteren Grundkonstellation des gegenwärtigen Zeitalters erkannt. Das Wesen dieser Konstellation scheint er in einer dieses Zeitalter im Ganzen und von Grund aus bestimmenden Maßlosigkeit eingesehen zu haben. Denn es gibt kaum etwas, was das Wesen des modernen Menschen so durchgängig prägt und wesentlich bestimmt als sein zweideutiges Verhältnis zum Maßlosen, Unmessbaren, Unendlichen: „Das Maß ist uns fremd, gestehen wir es uns; unser Kitzel ist gerade der Kitzel des Unendlichen, Ungemeßenen. Gleich dem Reiter auf vorwärtsschnaubendem Rosse lassen wir vor dem Unendlichen die Zügel fallen, wir modernen Menschen, wir Halbbarbaren …“ (KSA, JGB, 5, 160). Der moderne Geist hebt sich von allen vorhergehenden vor allem durch eine ihn beherrschende ‚Unruhe, seine[n] Haß gegen Maß und Schranke‘ ab. Zu seinem letzten großen Ausbruch kam dieser Geist der Maßlosigkeit insbesondere in den letzten Jahrhunderten in Europa, wo er zuerst durch das Fieber der sogenannten großen französischen Revolution entzügelt worden war, um sich dann bald wieder selbst Zügel anzulegen, „wenn ihn Angst und Grauen vor sich selber anwandelte, – aber die Zügel der Logik, nicht mehr des künstlerischen Maßes“ (KSA, MA, 2, 182). In diesem Zusammenhang zweifelt Nietzsche nicht daran, dass alle positivistischen und wissenschaftlichen, vielmehr alle vermeintlich antimetaphysischen geistigen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts im ganzen Europa ihren wahren Sinn in einem verzweifelten und ganz unzureichenden Versuch haben, dem nicht mehr auf eine lebendige, ‚künstlerische‘ Weise zu bändigenden Maßlosen mindestens die Zügel der Logik anzulegen. Die tiefe Zweideutigkeit des menschlichen Verhältnisses zum Maßlosen, durch dessen Ausbruch die Linie des lebenserhaltenden und -kräftigenden Horizontes gebrochen und sogar vernichtet wird, ist eines der wichtigsten und schwierigsten Probleme des Nietzscheschen Denkens. Vielleicht ist diese höchst rätselhafte Zweideutigkeit am auffälligsten im Aph. 343 der Fröhlichen Wissenschaft zum Ausdruck gebracht, der im engsten Zusammenhang steht sowohl mit dem den Tod Gottes ankündigenden Aph. 125 derselben Schrift als auch mit dem vorhergehenden, unter dem bezeichnenden Titel Im Horizont des Unendlichen. Schränken wir uns auf einige Hinweise ein. Nur die Wenigen, die überhaupt imstande sind wahrzunehmen, was sich im Verborgenen der stillsten Stille ereignet hat, haben Ohr und Auge dafür, dass durch das ‚größte neuere Ereignis, dass Gott tot ist, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist, eben irgendeine
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Sonne untergegangen, irgendein altes tiefes Vertrauen in Zweifel umgedreht‘ ist. Diesen Seltenen erscheint unsere alte Welt täglich abendlicher, misstraurischer, fremder, ‚älter‘. Aber die dem mit Notwendigkeit folgende Zerstörung auch von allem, was auf der Idee eines solchen Gottes aufgebaut worden ist, vor allem der ganzen europäischen Moral, liegt auch für sie noch in der entferntesten Zukunft: „Diese lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz, die nun bevorsteht: wer erriete heute schon genug davon, um den Lehrer und Vorausverkündiger dieser ungeheueren Logik von Schrecken abgeben zu müssen, den Propheten einer Verdüsterung und Sonnenfinsternis, deren gleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat?“ (KSA, FW, 3, 573). Da sich das weltumdrehende Ereignis im Verborgenen ereignet hat und immer noch völlig abseits der Fassungsfähigkeit der Menschen liegt, bleiben sein Sinn und seine letzten Folgen solchermaßen unbekannt, dass sich auch den guten Europäern, jenen Seltenen, die die eigene Zeit ohne Vorbehalt als eine zerbrechliche Übergangszeit zu leben wagen, und daher „zwischen Heute und Morgen hingestellt und in den Widerspruch zwischen Heute und Morgen hineingespannt“ sind, nur die „nächsten Folgen dieses Ereignisses“ zeigen. Und ganz anders als es zu erwarten wäre, sind diese nächsten Folgen für sie „durchaus nicht traurig und verdüsternd, vielmehr wie eine neue schwer zu beschreibende Art von Licht, Glück, Erleichterung, Ermutigung, Morgenröte …“ Jetzt „endlich erscheint ihnen der Horizont wieder frei, endlich dürfen ihre Schiffe wieder auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so ‚offenes Meer‘“ (ebd., 574). Vor diesem Hintergrund leuchtet auch der Sinn des auf den ersten Blick ganz rätselhaften Aph. 124 wie von selbst ein, vermutlich so sehr, dass eine ausdrückliche Auslegung nicht nötig ist. Stattdessen darf es erlaubt sein, den vielsagenden Text im Ganzen anzugeben: „Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter uns – mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! Sieh dich vor! Neben dir liegt der Ozean, es ist wahr, er brüllt nicht immer, und mitunter liegt er da wie Seide und Gold und Träumerei der Güte. Aber es kommen Stunden, wo du erkennen wirst, daß er unendlich ist und daß es nichts Furchtbareres gibt als Unendlichkeit. Oh des armen Vogels, der sich frei gefühlt und nun an die Wände dieses Käfigs stößt! Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befällt, als ob dort mehr Freiheit gewesen wäre – und es gibt kein ‚Land‘ mehr!“ (ebd., 480). Ob es aus dieser Sackgasse der zum Unendlichen führenden und notwendig daran scheiternden (vgl. KSA, M, 3, 331) Freiheit irgendeinen Ausweg gibt? Was wäre Nietzsches Antwort auf diese Frage? Und ob es bei ihm überhaupt eine Antwort darauf gibt? Ob er einen Ausweg unbedingt wünschenswert findet?1 Zunächst gilt es festzustellen, dass es Nietzsche erst dank dem geschärften Blick für das Maßlose, mit anderen Worten für den die Natur des Unendlichen ausmachenden Drang zu einer sowohl befreienden wie auch vernichtenden Zerstörung des Lebenshorizontes, gelungen ist, das Wesen Europas differenziert genug zu fassen. Die das neuere Europa wesentlich bestimmende und immer totaler werdende Naturbeherrschung, die große Politik als der noch bevorstehende Kampf um die Erdherrschaft, selbst der Gedanke von Europa als Herrin der Erde, kann es nicht sein, dass 1
„[W]as liegt uns an Ihrem Weg hinauf, an Ihrem Strick, der hinaus führt? Zu Glück und Tugend führt, ich fürchte es …“ (KSA, NF, 13, 602).
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all dies nur die verschiedenen Erscheinungen eines und desselben Maßlosen sind, das im Wesen Europas wie auch der neueren Welt überhaupt steckt? Mit Sicherheit hat Nietzsche mindestens ab und zu eine solche Möglichkeit in Erwägung gezogen. Vor allem gilt das für die späte Äußerung in der Genealogie der Moral, nach der alle Hauptzüge unseres modernen Seins als Hybris und Gottlosigkeit anzusehen sind: „Hybris ist heute unsere ganze Stellung zur Natur, unsere Natur-Vergewaltigung mit Hilfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfindsamkeit; Hybris ist unsere Stellung zu Gott, will sagen zu irgendeiner angeblichen Zweck- und Sittlichkeits-Spinne hinter dem großen Fangnetz-Gewebe der Ursächlichkeit […]. Hybris ist unsere Stellung zu uns, denn wir experimentieren mit uns, wie wir es uns mit keinem Tiere erlauben würden, und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf …“ (KSA, GM, 5, 357). Kein Wunder, dass diese unversöhnliche Absage an das Ganze des modernen Menschseins gemacht ist mit einem vergleichenden Blick auf die alten Griechen, genauer „mit dem Maße der alten Griechen gemessen“ (ebd.). Bei den alten Griechen und nur bei ihnen scheint Nietzsche ein lebendiges und kunstvoll bewahrtes Maß für das Leben gefunden zu haben, das im nachkommenden Europa, insbesondere durch den Auftritt des Christentums, unwiederholbar verloren gegangen ist. Früh genug hat der Altphilologe Nietzsche das Wesen des Christentums am entschiedendsten dem Griechentum entgegengesetzt. Das Christentum „will vernichten, zerbrechen, betäuben, berauschen, es will nur eins nicht: das Maß, und deshalb ist es im tiefsten Verstande barbarisch, asiatisch, unvornehm, ungriechisch“ (KSA, MA-1, 2, 118). Unter diesem Blickwinkel kann das Europa, insofern es vom Christentum maßgeblich geprägt ist, nicht ohne weiteres als von dem Orientalischen und Asiatischen wesentlich verschieden verstanden werden: „Orientalisch oder Modern, Asiatisch oder Europäisch: im Verhältnis zum Griechen ist diesem allen die Massenhaftigkeit und der Genuß an der großen Quantität als der Sprache des Erhabenen zu eigen …“ (KSA, M, 3, 151). Daher muss sich das Suchen nach dem echten Europäertum noch über das Europäische hinaus in der Richtung auf das anfänglich Griechische erkühnen: „Schritt vor Schritt umfänglicher werden, übernationaler, europäischer, übereuropäischer, morgenländischer, endlich griechischer – denn das Griechische war die erste große Bindung und Synthesis alles Morgenländischen und eben damit der Anfang der europäischen Seele, die Entdeckung unserer ‚neuen Welt‘…“ (KSA, NF, 11, 682). Um zu ermessen, wie weit sich das gegenwärtige Europa von diesem Anfang seiner Seele, von dieser Entdeckung unserer ‚neuen Welt‘ entfernt hat und inwiefern dieser Anfang geschichtlich wiederholbar ist, und zwar auf einer Ebene, wo man nicht blindlings versucht, das sich inzwischen durchgesetzte Maßlose zu verdrängen und wegzuschaffen, sondern bereit ist, es anzuerkennen, das heißt positiv in sich aufzunehmen und erst damit einigermaßen zu überwinden, tut es not, mit Nietzsche zusammen die maßgeblichen Phänomene der Gegenwart, dieser zerbrechlichen und zerbrochenen Übergangszeit, möglichst scharf ins Auge zu fassen und auf ihren metaphysischen Grund hin auszulegen. Trotz allem Anschein liegt bei Nietzsche keine, wenn auch so scharfsinnige und überzeugende, bloße Kulturkritik vor. Seine immer wieder unternommenen leidenschaftlichen, oft anscheinend nur intuitiv verfahrenden Versuche, die entscheidenden Phänomene der europäischen Gegenwart zu klären, sind in Wahrheit die ernst zu nehmenden und streng zu fassenden mühsamen Versuche, die metaphysische Grundkonstellation unserer Übergangszeit zu einer zureichenden begrifflichen Fassung zu bringen.
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Zunächst scheint das moderne Leben durch eine wachsende, geographisch vom Osten nach dem Westen sich immer mehr steigernde Bewegtheit bestimmt zu sein: „Nach dem Westen zu wird die moderne Bewegtheit immer größer, so daß den Amerikanern die Bewohner Europas insgesamt sich als ruhebleibende und genießende Wesen darstellen, während diese doch selbst wie Bienen und Wespen durcheinanderfliegen“ (KSA, MA-1, 2, 232). Diese vermutlich aus einer nie genug bewusst gemachten tiefen Unruhe stammende Bewegtheit ist inzwischen so groß geworden, „daß die höhere Kultur ihre Früchte nicht mehr zeitigen kann; es ist, als ob die Jahreszeiten zu rasch aufeinanderfolgen“ (ebd.).2 Woher kommt diese merkwürdige Unruhe oder dieser grundsätzliche Mangel an Ruhe, von dem Nietzsche meint, dass er sogar das verhängnisvolle Entgleiten unserer Zivilisation „in eine neue Barbarei“ (ebd.) veranlassen könnte?3 In einer eindringlichen Analyse der der modernen Gesellschaft zugrundeliegenden Triebstruktur, die ihre Inspiration offensichtlich Arthur Schopenhauer verdankt, wird diese Struktur von Nietzsche als ein mehrfach verflochtenes und vielschichtiges Zusammenspiel von Bedürfnis, Arbeit und Spiel erklärt: „Das Bedürfnis zwingt uns zur Arbeit, mit deren Ertrage das Bedürfnis gestillt wird; das immer neue Erwachsen der Bedürfnisse gewöhnt uns an die Arbeit. In den Pausen aber, in welchen die Bedürfnisse gestillt sind und gleichsam schlafen, überfällt uns die Langeweile. Was ist diese? Es ist die Gewöhnung an Arbeit überhaupt, welche sich jetzt als neues, hinzukommendes Bedürfnis geltend macht. […] Um der Langeweile zu entgehen, arbeitet der Mensch entweder über das Maß seiner sonstigen Bedürfnisse hinaus oder er erfindet das Spiel, das heißt die Arbeit, welche kein anderes Bedürfnis stillen soll als das nach Arbeit überhaupt“ (ebd., 346). Die ursprüngliche Leere, die das Wesen des menschlichen Bedürfnisses ausmacht, wird durch die Ergebnisse seiner Arbeit vorübergehend zum Stillstand gebracht. Da aber das Bedürfnis an sich unersättlich und nie zu stillen ist, werden die Menschen so sehr an die Arbeit gewohnt, dass der Mangel an ihr als eine neue, kaum auszuhaltende Leere der Langeweile erscheint, was daher kommt, dass die Arbeit selbst für die Menschen zu einem neuen, gleichsam hinzukommenden Bedürfnis emporgestiegen ist. Auch darin, wo man sonst etwas der Arbeit völlig Entgegengesetztes zu finden vermeint, im Spiel nämlich, erkennt Nietzsche nichts anderes als wieder eine ganz eigentümliche Art der Arbeit, eine solche nämlich, die in der Befriedigung des allgemein gewordenen Bedürfnisses nach der Arbeit überhaupt besteht. Sowohl die übermäßige Arbeit als auch das Spiel stehen also ausschließlich im Dienst einer unstillbaren, nie zur Ruhe der Befriedigung zu bringenden Leere, worin das Wesen des am weitesten verstandenen Bedürfnisses besteht. In der Tat lassen sich fast alle Grundphänomene des modernen Lebens entweder auf die übermäßige Arbeit oder auf das Spiel als ihren vermeintlichen Gegensatz zurückführen. In der „atemlose[n] Hast der Arbeit“ sieht Nietzsche „das eigentliche Laster der neuen Welt“ (KSA, FW, 3, 556), das am auffälligsten „in der jetztigen Narrheit der Nationen, welche vor allem möglichst viel produzieren und möglichst reich sein wollen“ (KSA, M, 3, 183) zum Vorschein kommt. Arbeit und Produktion dienen seit langem nicht in erster 2
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In einer späten Aufzeichnung heißt es dazu: „Wir haben alle Verkehrsmittel verzehnfacht in der Geschwindigkeit: zugleich aber das Bedürfnis nach Schnelligkeit in uns verhundertfacht …“ (KSA, NF, 13, 118). „Ein Zeitalter der Barbarei beginnt, die Wissenschaften werden ihm dienen!“ (KSA, NF, 9, 395).
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Linie zur Befriedigung der einfachen, natürlichen Bedürfnisse; sie sind zum Selbstzweck geworden: Unser Zeitalter, als das fleißigste aller Zeitalter, „weiß aus seinem vielen Fleiße und Gelde nichts zu machen, als immer wieder mehr Geld und immer wieder mehr Fleiß“ (KSA, FW, 3, 392). Auch im Spiel und als Spiel wird eigentlich nichts anderes betrieben als eine mehr oder weniger unverdeckte Narkotisierung. Von den gröbsten Narkotika des Alkohols und der verschiedenen Opiate über die Massenveranstaltungen zum Zweck der kollektiven Zerstreuung bis zur zum öffentlichen Spektakel umgedeuteten und missbrauchten Kunst: überall geht es im Grunde nur um die verschiedensten Reiz- und Beruhigungsmittel, durch die stets nur eine vorübergehende, immer kürzer wirkende und immer stärkere neue Reizmittel brauchende Beruhigung herbeigebracht wird. Das Entscheidende ist dabei eine gleichsam doppelte Entfremdung, durch die solches Leben gekennzeichnet ist: die Entfremdung des Menschen von den nächsten ihn unmittelbar umgebenden Dingen und von sich selbst. Das leuchtet vor allem daraus ein, dass der Handel immer mehr und immer unaufhaltsamer zum innersten Beweggrund der gegenwärtigen Gesellschaft wird: „Man sieht jetzt mehrfach die Kultur einer Gesellschaft im Entstehen, für welche das Handel-treiben ebensosehr die Seele ist, als der persönliche Wettkampf es für die älteren Griechen und als Krieg, Sieg und Recht es für die Römer waren. Der Handeltreibende versteht alles zu taxiren, ohne es zu machen, und zwar zu taxiren nach dem Bedürfnis des Konsumenten, nicht nach seinem eigenen persönlichsten Bedürfnisse …“ (KSA, M, 3, 155). Der Handel bringt also ein Verhältnis zu den Dingen mit sich, in dem das einzelne Ding weder in seinem einfachen Beruhen in sich zugelassen noch in die Erfahrung des persönlichen bedürftigen Umgangs aufgenommen wird. Umgekehrt wird immer schon im voraus von jedem Ding gleichsam abgesehen und es wird bloß ‚taxiert‘, das heißt in Hinsicht auf jedes andere Ding und auf das Ganze aller Dinge festgelegt, damit auch zu jedem möglichen Gebrauch ständig zur Verfügung gestellt. Als Folge solcher Anstellung setzt sich dann die überhebliche Überzeugung durch, nach der ein jedes Ding wie auch ein jeder Mensch zu jeder Zeit auch ganz anders sein könnte. Es wird immer mehr gleichgültig, was ein jedes und ein jeder ist; es kommt einzig noch darauf an, was ein jedes und ein jeder wird. Eben darin besteht nach Nietzsche „jener Amerikaner-Glaube von heute, der immer mehr auch Europäer-Glaube werden will: wo der einzelne überzeugt ist, ungefähr alles zu können, ungefähr jeder Rolle gewachsen zu sein, wo jeder mit sich versucht, improvisiert, neu versucht, mit Lust versucht, wo alle Natur aufhört und Kunst wird“ (KSA, FW, 3, 596). Diese doppelte Zurückweichung, sowohl vor dem konkreten Ding wie auch vor sich selbst als der bedürftigen Persönlichkeit, beruht auf einem tiefer liegenden Grund, den Nietzsche in einem dumpfen Drang nach Sicherheit erkennt. Eine solche Gesellschaft wie die moderne, in der fortwährend gearbeitet wird, sorgt damit vor allem für die Sicherheit, „und die Sicherheit betet man jetzt als die oberste Gottheit an“ (KSA, M, 3, 154). Der ganze Arbeits- und Handelsbetrieb der modernen Weltgesellschaft, zusammen mit der ihn wesentlich bestimmenden doppelten Entfremdung des Menschen von den Dingen und von der eigenen Persönlichkeit, beruht auf einem instinktiven und daher nie wirklich zu Bewusstsein zu bringenden Bedürfnis, „so sehr wie möglich vor allen Gefahren geschützt zu sein“ (KSA, NF, 9, 79). Gerade dieser Drang, vor allem das Menschenleben zu erhalten, ist das, was „unserer Kultur den Anstrich der Feigheit und der Alten-Mannes-Gier nach langem Leben“ gibt (ebd.). Der unbedingte Drang nach Sicherheit und
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nach dem Geschütztsein und das unstillbare Bedürfnis nach der möglichst langen, wenn möglich endlosen Dauer, hängen mit einer ebenso unbedingten und unstillbaren tiefen Furcht vor der Gefahr jeder Art zusammen, vielmehr werden sie von ihr bedingt. Aus der übermäßigen Furcht vor der Furcht arbeitet die moderne Gesellschaft unermüdlich daran, jeden Anlass, vielmehr jede Gelegenheit für die Furcht endgültig auszuschließen und abzutreiben: „Wer das Gewissen des heutigen Europäers prüft, wird aus tausend moralischen Falten und Verstecken immer den gleichen Imperativ herauszuziehen haben, den Imperativ der Herden-Furchtsamkeit: ‚wir wollen, daß es irgendwann einmal nichts mehr zu fürchten gibt!‘ Irgendwann einmal – der Wille und Weg dorthin heißt heute überall der ‚Fortschritt‘“ (KSA, JGB, 5, 123). Alle bisher dargelegten wesentlichen Merkmale des modernen Lebens werden von Nietzsche zumeist zu einer einheitlichen Bezeichnung zusammengefasst, die ‚Verkleinerung‘ heißt und wieder eminent metaphysisch zu fassen ist. Was ist darunter zu verstehen? Vor allem die wachsende gegenseitige Annäherung, Anpassung, Angleichung und Ausgleichung der Menschen, die von einem ebenso wachsenden Verlust eines jeden Gefühls der Fremdheit des Anderen und der zugehörenden Ehrfurcht vor dieser Fremdheit begleitet werden. Und eben darin liegt nach Nietzsche „das Verhängnis Europas“. Mit der Furcht vor dem Menschen haben wir nämlich „auch die Liebe zu ihm, die Ehrfurcht vor ihm, die Hoffnung auf ihn, ja den Willen zu ihm eingebüßt“ (ebd., 278). Auf diesem Weg bewegt sich der heutige Mensch überall auf der Erde abwärts „ins Dünnere, Gutmütigere, Klügere, Behaglichere, Mittelmäßigere, Gleichgültigere, Chinesischere, Christlichere“ (ebd.). Der „heutige Europäer“ zeigt sich immer mehr als „eine verkleinerte, fast lächerliche Art, ein Herdentier, etwas Gutwilliges, Kränkliches und Mittelmäßiges“ (ebd., 83). Sein Weg aber führt noch weiter. An dem vorhersehbaren Ende dieses Stürzens wartet das Schreckensbild jenes Menschen, den Nietzsche in Also sprach Zarathustra so eindrucksvoll als den ‚letzten Menschen‘ schildert und dessen Wesen auf eine nicht minder beeindruckende Weise in einer ganz späten Aufzeichnung bestimmt wird: „Gesammt-Anblick des zukünftigen Europäers: derselbe als das intelligenteste Sklaventier, sehr arbeitsam, im Grunde sehr bescheiden, bis zum Exzess neugierig, vielfach, verzärtelt, willensschwach – ein kosmopolitisches Affekt- und Intelligenzen-Chaos“ (KSA, NF, 13, 17). Die Ergebnisse unserer mit Nietzsche unternommenen kritischen Diagnose der gegenwärtigen Übergangszeit konnten kaum düsterer ausfallen. Fast mit Gewissheit zeichnet sich ein Weg des Menschen in die Zukunft vor, auf dem eine vollständige Barbarisierung des Lebens erreicht wird, eine solche sogar, der ein jegliches Mittel fehlt, um sich selber in eigener Wahrheit zu durchschauen. Es ist höchst fraglich, ob diesem Europa in dem schlimmen Schauspiel eine wesentliche Rolle zugeteilt ist. Alle bedeutsamen Erscheinungsformen des Maßlosen, die ehemals aus Europa nach allen Seiten der Welt ausgebreitet worden sind, etwa die unaufhaltsam wachsende Verschleunigung, der alles äußerlich machende utilitäre Geist des Handels, der unersättliche Arbeits- und Spielbetrieb, schlagen jetzt in ihrer vielfältig gesteigerten Gestalt von der ehemaligen ‚Neuen Welt‘ auf es zurück. Die mechanische Anpassung und Ausgleichung sowie der weltverneinende Fatalismus des passiven Nihilismus, zwei Momente, welche Nietzsche als bestimmend vor allem für den Fernen Osten, nämlich für China und Indien sieht, wachsen jetzt entgegen der Erwartung aus Europas eigener Mitte heraus.
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Mit der angestrebten Beseitigung der Furcht wird der Mensch dazu gelangen, auch jede Autorität und jedes Vertrauen wegzuschaffen. Was übrigbleibt, ist nur noch ein vielfältig täuschendes, vermeintlich reizvolles Leben nach dem flüchtigsten Augenblick und nach dem gröbsten Ziele, ein Leben, das nur noch nach dem Sichtbarsten gerichtet ist (vgl. KSA, NF, 9, 200). Die angestrebte Beseitigung jeder Gelegenheit für echte Furcht und für wirkliche Liebe muß zur völligen Auflösung der Moral führen, da sie auf jenen beiden als ihre tragenden Säulen beruht. Diese Auflösung der Moral führt aber „in der praktischen Konsequenz zum atomistischen Individuum und dann noch zur Zerteilung des Individuums in Mehrheiten – absoluter Fluß“ (KSA, NF, 10, 138). In einer schwer zu überbietenden Knappheit schließt Nietzsche im nächsten Gedankenschritt daran sein ernstzunehmendes Fazit: „Die Gefahr der Umkehr zur Tierheit ist da“ (ebd.). Tierheit! Sind wir nicht damit auf eine überraschende Weise wieder auf den Anfang unserer Untersuchung zurück gewiesen, wo beim Versuch, die Heimatlosigkeit der guten Europäer genauer zu verstehen, Nietzsches zweite Unzeitgemäße Betrachtung zu Hilfe genommen wurde? Das Tier wurde dort durch ein restloses Aufgehen in der Gegenwart gekennzeichnet, sowie durch ein eigentümliches Glück, das darauf beruht, dass das Tier infolge des ständigen Vergessens der unmittelbar verschwindenden Gegenwart anscheinend in einer ständigen Gegenwart lebt und daher keine Vorstellung von Vergangenheit und Vergänglichkeit überhaupt hat. Mit seiner Lust und Unlust kurz an den Pflock des Augenblicks angebunden, lebt das Tier zwar ohne jeglicher Schwermut oder Überdruss, aber auch ohne jede Möglichkeit zu denken oder zu reden. Erst mit dem Menschen und mit dem ihn ständig begleitenden ‚es war‘ zeigt sich das Dasein des Lebewesens als ein ununterbrochenes Gewesensein, woraus beim Menschen ein nie wegzuschaffendes, ihn zutiefst bestimmendes Leiden und Lebensüberdruss entsteht. Eine Möglichkeit, dieses ununterbrochenen Leidens an eigener Vergänglichkeit und an der Vergänglichkeit als solcher loszuwerden, kann der Mensch unter Umständen darin finden, dass er unter der unaushaltbaren Last des Leidens auf sein menschliches Wesen, das in der ständig zu vollziehenden Unterscheidung der Gegenwart von der Vergangenheit und der Zukunft besteht, wodurch erst die Möglichkeit von Erinnerung, damit auch von Vorstellung, Denken und Rede gegeben wird, verzichtet, um dann in einer rückläufigen Bewegung nur noch danach zu streben, sich möglichst in den Zustand des Tieres zu versetzen. Nietzsche hat diese eine in der abgründigen Verzweiflung wurzelnde Möglichkeit wohl ins Auge gefasst. Sie scheint den rätselhaften Andeutungen des Kapitels Unter Töchtern der Wüste im letzten Buch von Also sprach Zarathustra zugrunde zu liegen. Des „wolkigen feuchten schwermutigen Alt-Europa“ mit seinem ständigen „Zweifel“ satt, ist der daran übermäßig leidende Wanderer „am fernsten“ davon bis zur kleinsten Oase am Rande der Wüste ausgewandert, um sich dort, „[o]hne Zukunft und ohne Erinnerung“, von den stummen weinenden afrikanischen Tänzerinnen und von einer als eine noch bessere Tänzerin erscheinenden Palme in der Kunst des Lebens „auf einem Beine“, das heißt eines solchen Lebens, das sich in einem einzigen, unterschiedslosen Zeitpunkt der Gegenwart abspielt4 – unterrichten zu lassen (KSA, Za, 4, 379ff.). 4
Vgl. Karl-Heinz Volkmann-Schluck, Nietzsches Gedicht „Die Wüste wächst, weh dem, der Wüsten birgt …“, in: Ders., Leben und Denken. Interpretationen zur Philosophie Nietzsches, Frankfurt/M. 1968.
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Wäre dann auch das immer wieder angesprochene „Blinzeln“ des „letzten Menschen“ (ebd., 19ff.), worin wohl alle wesentlichen Merkmale des modernen Lebens gleichsam symbolisch zusammengefasst werden sollen, nichts anderes als sein verzweifelter Versuch, durch das ständige Vergessen die unerträgliche Last jenes ‚es war‘ von sich abzuwerfen, um einmal ausschließlich ‚unhistorisch‘ zu leben, und sich dadurch jenes sonst stets im Geheimen eifersüchtig angeschaute tierische Glück anzueignen, das zwar recht bescheiden aber immerhin gewiss und dauerhaft ist? Dass solche Überlegungen nicht ganz irreführend sind, zeigt unter anderem eine Aufzeichnung vom Herbst 1887, wo Nietzsche wieder einmal unternimmt, das Wesen der Modernität, und zwar diesmal ‚unter dem Gleichnis von Ernährung und Verdauung‘, ans Licht zu bringen. Diese Ausführungen scheinen aus einem zweifachen Grund von höchstem Belang zu sein. Einerseits bringen sie in alle bisherigen Erörterungen des Themas eine neue Klarheit und Bestimmtheit, andererseits knüpfen sie, nebenbei gesagt, auf eine Weise, die alle gängige Rede von den ‚Phasen‘ oder ‚Entwicklungsstufen‘ der Philosophie Nietzsches von Grund aus in Frage stellt, auch zu dieser späten Stunde seines wachen Denkens wieder an die Gedankengänge seiner zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung an. In dieser Aufzeichnung wird das Wesen der Modernität in der Sensibilität gefunden, die überaus reizbar geworden ist, weil in ihr ‚die Fülle disparater Eindrücke größer als je‘ ist. Durch ein zu schnelles und daher überwältigendes Tempo ihrer Einströmung kommt es dazu, dass sich die Eindrücke gegenseitig auswischen. Subjektiv, also von der Seite des aufnehmenden Menschen gesehen, entspricht dem eine instinktive Abwehr davon, irgendwelchen Eindruck wirklich „hereinzunehmen, tief zu nehmen“. Oder physiologisch ausgedrückt: man wehrt sich, „etwas zu ‚verdauen‘“. Daraus entsteht eine Schwächung der Verdauungskraft – vielleicht kann man hier genauer von der Erfahrungskraft reden – und der Spontaneität überhaupt: „Eine Art Anpassung an die Überhäufung mit Eindrücken tritt ein: der Mensch verlernt zu agiren: er reagiert nur noch auf Erregungen von außen her.“ Auf die gesteigerte Überhäufung mit Eindrücken reagiert der Mensch mit einer „[k]ünstliche[n] Zurechtmachung seiner Natur zum ‚Spiegel‘“; der Mensch bleibt zwar „interessiert, aber gleichsam bloß epidermal-interessiert“. Was bei ihm jetzt antritt und weiterhin bestimmend bleibt, ist „eine grundsätzliche Kühle, ein Gleichgewicht, eine festgehaltene niedere Temperatur dicht unter der dünnen Fläche, auf der es Wärme, Bewegung, ‚Sturm‘, Wellenspiel gibt. Gegensatz der äußeren Beweglichkeit zu einer gewissen tiefen Schwere und Müdigkeit“ (KSA, NF, 12, 464). Erst wenn diese Ausführungen in den Zusammenhang gebracht werden mit den entsprechenden früheren analogen Darlegungen in der Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, kann ihr eigentlicher Sinn zureichend verstanden werden. Um das Entscheidende voranzuschicken: Hier wird mit anderen Worten wieder jene verhängnisvolle Horizontzerstörung zusammen mit allen ihren lebensgefährdenden Wirkungen thematisiert und weiter bedacht. In der frühen Schrift wurde der unbedingte Anspruch der Wissenschaft darauf, das einzig richtige und maßgebliche Verhältnis zur Vergangenheit zu sein, als ein solcher gezeigt, der notwendig dazu führt, dass alle Grenzpfähle umgerissen werden, die die Horizontlinie bilden, durch welche das durch die Erinnerung Erhellte von dem durch das Vergessen zum Dunkel Gedrängten abgegrenzt wird, so dass jetzt alles, was einmal war, auf den Menschen zustürzt (vgl. KSA, HL, 1, 272). Die Masse des Einströmenden wird damit so groß und drängt sich so heftig an, dass sich die Menschen-
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seele, insbesondere die jugendliche, „nur mit einem vorsätzlichen Stumpfsinn zu retten weiß“, wodurch der Mensch, der junge vor allem, heimatlos wird (ebd., 299). Daraus entsteht bei ihm „die Gewöhnung, die wirklichen Dinge nicht mehr ernst zu nehmen“, auf welcher Grundlage sich dann so etwas wie die schwache Persönlichkeit entwickelt, „zufolge deren das Wirkliche, das Bestehende nur einen geringen Eindruck macht“. In Folge all dessen wird man „im Äusserlichen zuletzt immer lässlicher und bequemer“, und es erweitert sich immer mehr „die bedenkliche Kluft zwischen Inhalt und Form bis zur Gefühllosigkeit für die Barbarei, wenn nur das Gedächtniss immer von Neuem gereizt wird“ (ebd., 274). Diese ganze Entwicklung, die von der Abwehr gegen die Maßlosigkeit der unaufhaltsam einströmenden Eindrücke herkommt, welches maßlose Einströmen wiederum durch die Zerstörung des das Maß bewahrenden Lebenshorizontes möglich geworden ist, führt letzten Endes dazu, dass „der moderne Mensch zum geniessenden und herumwandelnden Zuschauer geworden [ist] und in einen Zustand versetzt, an dem selbst grosse Revolutionen kaum einen Augenblick lang etwas zu ändern vermögen“ (ebd., 299). Dass mit dem hier Gesagten nicht nur die in der eben angegebenen späten Aufzeichnung angesprochene Zurechtmachung der Natur des modernen Menschen zum ‚Spiegel‘, sondern auch alle dort dargelegten Grundzüge des modernen Lebens im Wesentlichen antizipiert sind, liegt auf der Hand. Fassen wir zusammen. Die den Bruch des Lebenshorizontes verursachende Maßlosigkeit des Wissensdranges hat das Leben zu einem solchen Grad seiner Schwächung gebracht, dass dem Menschen nach allen Anzeichen ein gleichsam freiwilliges Entgleisen zur Barbarei bzw. zur Tierheit bevorsteht. Das Wesen einer so mit Nietzsche verstandenen Barbarei liegt darin, daß sich der Mensch, in das ‚unendlich-unbegrenzte Lichtwelle-Meer des erkannten Werdens‘ versunken und sowohl der Welt und den Dingen wie auch sich selber gegenüber fern, kalt, gefühllos und gleichgültig geworden, in tiefer Unruhe der unablässigen Furcht und der gleichzeitigen Gier nach der immer weiteren Dauer, jetzt als bloßer Zuchauer an den gegenwärtigen Augenblick klebt und alles andere methodisch vergisst. Sieht Nietzsche einen Ausweg? Könnte vielleicht sein Gedanke des guten Europäers dabei wegweisend sein? Schwer zu sagen. Sein ‚verborgenes Ja‘, das nämlich, was er gelegentlich als die positive Seite seiner Lehre zu bezeichnen pflegte, verlangt vermutlich, um entsprechend entfaltet zu werden, einen anderen Anlauf und eine andere Form der Auslegung. Eines scheint aber fast wie sicher zu sein: Wenn es einen solchen Ausweg gäbe, könnte er nur von einem mit der Zukunft trächtigen Überschwang der Liebe gebahnt werden. Auch als ‚guter Europäer‘ bleibt Nietzsche vor allem ein ‚Kind der Zukunft‘.5 Wie Zarathustra am Ende seiner Wanderung durch das Land der Bildung sagt: „Aber Heimat fand ich nirgends: unstät bin ich in allen Städten und ein Aufbruch an allen Toren. Fremd sind mir und ein Spott die Gegenwärtigen, zu denen mich jüngst das Herz trieb; und vertrieben bin ich aus Vater- und Mutterländern. So liebe ich allein noch meiner Kinder Land, das unentdeckte, im fernsten Meere: nach ihm heiße ich meine Segel suchen und suchen. An meinen Kindern will ich es gut machen, daß ich meiner Väter Kind bin: und an aller Zukunft – diese Gegenwart!“ (KSA, Za, 4, 155). 5
Insofern ist es vielleicht nicht falsch zu sagen, dass seinem Europabegriff etwas vom ‚Utopischen‘ anhaftet (vgl. Annemarie Pieper, Europa – ein utopisches Konstrukt, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 20, Heft 1/2, Frankfurt/M. 1996).
ANDREAS URS SOMMER
Skeptisches Europa? Einige Bemerkungen zum Sechsten Hauptstück: wir Gelehrten (Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Aphorismen 204–213)
[W]ir Gelehrten (KSA, JGB, Aph. 204–213, 5, 129–149), der wenig mitreißende Titel des sechsten Hauptstücks von Jenseits von Gut und Böse, könnte wie das vierte Hauptstück: Sprüche und Zwischenspiele (ebd., Aph. 63–185, 85–104) ein Interludium, eine Abspannung erwarten lassen, nachdem die Leser im fünften Hauptstück: [Z]ur Naturgeschichte der Moral (ebd., Aph. 186–203, 105–128) mit (gegenwarts)moralzersetzenden Ansichten konfrontiert wurden und bevor sie sich im siebten Hauptstück: [U]nsere Tugenden (ebd., Aph. 214–239, 151–178) mit den Zumutungen neuer Moralen beschäftigen müssen. Jedoch trügt diese Erwartung. Denn die „Gelehrten“, wahlweise die „wissenschaftlichen Mensch[en]“ (ebd., Aph. 204, 129) oder „objektive[n] Mensch[en]“ (ebd., Aph. 207, 135) sind zwar prädisponiert, Abspannungspezialisten zu werden: „Das Schlimmste und Gefährlichste, dessen ein Gelehrter fähig ist, kommt ihm vom Instinkte der Mittelmässigkeit seiner Art: von jenem Jesuitismus der Mittelmässigkeit, welcher an der Vernichtung des ungewöhnlichen Menschen instinktiv arbeitet und jeden gespannten Bogen zu brechen oder – noch lieber! – abzuspannen sucht“ (ebd., Aph. 206, 134). Aber gerade dieser Abspannung, diesem Sich-Schicken in die Mittelmäßigkeit will das den Gelehrten gewidmete Hauptstück entgegenwirken. Die zehn Paragraphen zehren von der Spannung, die erzeugt wird zwischen dem Gelehrten als dem Repräsentanten einer erschlafften Jetztzeit und dem echten Philosophen, der eine Gestalt der Zukunft ist. Das Aufweisen von Spannung im scheinbar so harmonischen Gefüge der Moral, war bereits im vorangegangenen Hauptstück unverhohlene Absicht. Hier nun will das sprechende ‚Ich‘ (davor und noch im Hauptstück-Titel waren die ‚Wir‘ vorherrschend) jene Differenz aufzeigen, die man zu lange verwischt habe, nämlich zwischen dem Philosophen und dem „objektiven Menschen“: Ersterer sei in Wahrheit ein „cäsarische[r] Züchter und Gewaltmensch[ ] der Cultur“, letzterer hingegen nur „ein Werkzeug, ein Stück Sklave, wenn gewiss auch die sublimste Art des Sklaven“ (ebd., Aph. 207, 136). Für das Philosophendasein qualifiziert es keineswegs, „‚klug und abseits‘“ (ebd., Aph. 205, 133) zu leben, wie das heutige Vorurteil meine. Im Gegenteil: der „rechte Philosoph“ pflege gerade eine „unklug[e]“ Lebensweise, das heisst, er verausgabt sich ohne Rücksicht auf Verluste, geht jedes Risiko um des Risikos willen ein, fühlt er doch „die Last und Pflicht zu hundert Versuchen und Versuchungen des Lebens“ (ebd). Nietzsche malt die Schwierigkeiten, die heute der Entwicklung eines rechten Philosophen im Wege
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stehen, in grellen Farben aus, ist eine Philosophie, die „herrschen“ (ebd., Aph. 204, 132) will, doch dem gegenwärtigen, auf Nivellierung der Gegensätze bedachten Zeitalter mehr als nur verdächtig. Entsprechend hat Nietzsche für die (im neukantianischen Gefolge Immanuel Kants erfolgte) Reduktion der „Philosophie auf ‚Erkenntnistheorie‘“ (ebd., 131) nur Spott übrig.1 Diese Art der „Epochistik und Enthaltsamkeitslehre“ (ebd.) verzichtet ängstlich auf jede Festschreibung, jedes laute Wort, jeden Gedanken, der sich mit ‚Wissenschaft‘ nicht harmonisch verbinden lässt. Das sechste Hauptstück will jene Spannung im Wesen des europäischen Intellektuellen sinnenfällig machen, die in den vorangegangenen Hauptstücken etwa an Religion und Moral exemplifiziert worden ist. Jenseits von Gut und Böse lässt sich insgesamt als der Versuch verstehen, jene vom heutigen „europäischen Mischmensch[en]“ (ebd., Aph. 223, 157) nur allzuleicht als bloße Kostümfrage abgetane „prachtvolle Spannung des Geistes“ (ebd., Vorrede, 12f.) in verschiedenen Bereichen zu wirkungsvollster Darstellung zu bringen. Diese Spannung, von der die Vorrede handelt, rührt vom „Kampf gegen Plato, oder, um es verständlicher und für’s ‚Volk‘ zu sagen, [vom] Kampf gegen den christlich-kirchlichen Druck von Jahrtausenden“ (ebd., 12) her.2 In der Vorrede erscheint die „dogmatische Philosophie“ als eine „Fratze“, die in Gestalt des Platonismus tiefe Spuren hinterlassen hat: Als der „schlimmste, langwierigste und gefährlichste aller Irrthümer“ wird der „Dogmatiker-Irrthum“ Platons ausgewiesen, nämlich die „Erfindung vom reinen Geiste und vom Guten an sich“. Der Kampf gegen diese beiden Setzungen, die im Christentum ihre populäre Ausprägung gefunden haben, hat nach Nietzsches Diagnose in der europäischen Kultur völlig neue Möglichkeiten eröffnet3; die Spannung bedeutet, dass jetzt ungeahnte Denk- und Handlungsräume erschlossen werden könnten, „mit einem so gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten Zielen schiessen“ (ebd., 13). Wenn diese Spannung das Thema des ganzen Buches ist, heißt dies zugleich, dass es darin um das Problem Europa oder das Problem Europas zu tun ist, wie nämlich mit dieser als welthistorisch singulär empfundenen Spannung umgegangen werden soll. Auch in „Asien und Ägypten“ (ebd., 12) sei die dogmatische Philosophie eminent wirksam geworden; und die „Vedanta-Lehre“ wird direkt mit dem Platonismus parallelisiert, aber nur in dem Asien „vorgeschobene[n] Halbinselchen Europa“ (ebd., Aph. 52, 72, vgl. KSA, MA-2, Aph. 215, 2, 650) wird offenbar der Kampf gegen die Vorstellung „vom reinen Geiste und vom Guten an sich“ ausgetragen, die jene „Spannung des Geistes“ erzeugt, die Chance und Problem zugleich ist.
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Nietzsches Frontstellung gegen eine auf Erkenntnistheorie reduzierte Philosophie bestimmt übrigens noch Richard Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton 1979. Enrico Müller, Die Griechen im Denken Nietzsches, Berlin, New York 2005, 244, macht deutlich, dass es nach Nietzsche für die Philosophie weder ein Zurück zu Platon geben kann noch eine Loslösung von ihm. Zum Thema maßgeblich die Beiträge in Georges Goedert, Uschi Nussbaumer-Benz (Hg.), Nietzsche und die Kultur — ein Beitrag zu Europa?, Hildesheim, Zürich, New York 2002; Werner Stegmaier (Hg.), Europa-Philosophie, Berlin, New York 2000; Gilbert Merlio, Paolo D’Iorio (Hg.), Le rayonnement européen de Nietzsche, Paris 2004, sowie die beiden einschlägigen Monographien von Ralf Witzler, Europa im Denken Nietzsches, Würzburg 2001 und Stefan Elbe, Europe. A Nietzschean Perspective, London, New York 2003.
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Traut man der Vorrede zu Jenseits von Gut und Böse, soll der Platonismus keineswegs ‚überwunden‘ und als monströse Antiquität eingemottet werden. Denn dann würde jene Abspannung Wirklichkeit werden, die dem heutigen Menschen, der die „Spannung als Nothstand“ empfindet, zwar entgegenkäme und die von „Jesuitismus“ und „demokratische[r] Aufklärung“ (ebd., Vorrede, 13) energisch betrieben werde. Damit würde aber zugleich das Ferment vernichtet, das dem Menschen zur Selbstverwandlung verhilft: ein Ferment, das sich in einer Philosophie materialisieren soll, die aus der Spannung heraus lebt. Hier wäre anzumerken, dass ein derart ambitionierter Begriff von Philosophie ein dezidiert platonischer Begriff ist. Wenn Platons „Dogmatiker-Irrthum“ Gefährlichkeit in höchster Potenz zuerkannt wird, sind die von Nietzsche imaginierten neuen Philosophen selbst „Philosophen des gefährlichen Vielleicht“ (ebd., Aph. 2, 17), kultivieren eine „gefährlichere und härtere neue Art der Skepsis“, die „dem Geiste gefährliche Freiheit“ gibt, „zu gefährlichen Entdeckungsreisen, zu vergeistigten Nordpol-Expeditionen unter öden und gefährlichen Himmeln“ (ebd., Aph. 209, 141) aufzubrechen. Jene Abspannung, die die Vorrede perhorresziert, fände sowohl dann statt, wenn man den „Kampf gegen Plato“ und gegen das Christentum erstickte, als auch dann, wenn Platon und das Christentum endgültig aus dem europäischen Denkhorizont getilgt würden. Symptomatisch hierfür ist, dass die Vorrede zu Jenseits von Gut und Böse zwar Platons „reinen Geist“ als Irrtum brandmarkt,4 zugleich aber den Begriff des Geistes beibehält, um den Ort der zu erhaltenden Spannung zu benennen. Die Vorrede zeigt an, in welchem Kontext das Hauptstück über die Gelehrten und die Philosophen steht: Im Kontext versuchter Abspannung und neuerlicher Anspannung des Geistes, der kein reiner, mit sich selbst identischer, nur auf sich selbst angewiesener Geist mehr sein kann. Das Problem des Gelehrten taucht in Nietzsches philosophischen Werken schon früh auf. In der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung: Ueber Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben ist es ebenso präsent wie in den Aufzeichnungen zu der nie fertiggestellten Unzeitgemässen Betrachtung unter dem Arbeitstitel „Wir Philologen“ (KSA, NF, 8, 11ff). Aber noch im Wanderer und sein Schatten ist der Gelehrte in erster Linie ein psychologisches oder psychosoziales Problem, insofern ihn bei all seinem rastlosen Tun „eine Art Gewissensqual“ überfällt, in sich selbst plötzlich einen „kunstfertigen Zwergen“ zu erkennen, dessen Tun nichts weiter ist als „eine Ausflucht vor der Mahnung zur Grösse des Lebens und Gestaltens“ (KSA, WS, Aph. 179, 2, 629). Auch hier steht der Gelehrte wie im sechsten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse im Gegensatz zu jenen Geistesheroen, die das Große wollen und das Große tun.5 Aber dieser Gegensatz wird im Wanderer und sein Schatten noch nicht gedeutet als Ausdruck der fundamentalen Spannung der europäischen Kultur, in die Jenseits von Gut und Böse den Gegensatz von Philosophen und Gelehrten einschreibt. Des Gelehrten Verzicht auf das Trachten nach Größe ist im Wanderer und sein Schatten (Aph. 179) noch kein Ausdruck einer 4
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„Der ‚reine‘ Geist ist eine reine Dumhheit: rechnen wir das Nervensystem und die Sinne ab, die ‚sterbliche Hülle‘, so verrechnen wir uns – weiter nichts“ (KSA, AC, 6, 181). Dazu: Andreas Urs Sommer, Friedrich Nietzsches „Der Antichrist“. Ein philosophisch-historischer Kommentar, Basel 2000, 172. Christian Benne, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, Berlin, New York 2005, hat gezeigt, wie sehr Nietzsche bis in sein Spätwerk dem Ideal des philologischen Gelehrten trotz aller Kritik verbunden bleibt.
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Krise der europäischen Kultur und wird auch nicht als Gefahr „für die Entwicklung des Philosophen“ (KSA, JGB, Aph. 205, 5, 132) betrachtet. Ist Der Wanderer und Schatten (Aph.179) eine kulturkritische Glosse zum Psychogramm des Gelehrten, wird in Jenseits von Gut und Böse. Aph. 204–213 das Schicksal der Gelehrten symptomatisch für das Schicksal der europäischen Kultur. Wenn der Titel des Hauptstückes explizit „wir Gelehrten“ heißt, das wortführende ‚Ich‘ aber aus seiner Aspiration, als Philosoph „ein nothwendiger Mensch des Morgens und Übermorgens“ (ebd., Aph. 212, 5, 145) zu werden, keinen Hehl macht, könnte man versucht sein, das ‚Wir‘ im Titel ironisch zu lesen, weil doch die ‚Wir‘ keine Gelehrten mehr sind. Bezeichnet das Possessivpronomen im Titel des folgenden Hauptstücks „unsere Tugenden“ andere „Wir“? „Wir Europäer von Übermorgen, wir Erstlinge des zwanzigsten Jahrhunderts“ (ebd., Aph. 214, 151) legen da Rechenschaft über unsere Tugenden ab, die wenig Ähnlichkeiten mit den Tugenden der Gelehrten, der objektiven und wissenschaftlichen Menschen zeigen. Weshalb dann zunächst die Selbstidentifikation mit den Gelehrten im Titel des Hauptstücks „wir Gelehrten“, während im Text die ‚Wir‘ nur marginal vorkommen, die Wendung „wir Gelehrten“ überhaupt nicht? Wohl deshalb, weil die zehn Paragraphen demonstrieren wollen, wie sehr das Schicksal der Gelehrten und objektiven Menschen noch immer das Schicksal jener ‚Wir‘ ist, die neue Werte setzen wollen. Konnte Der Wanderer und sein Schatten (Aph. 179) das Schicksal der Gelehrten noch als etwas Fremdes distanzieren, als eine Versuchung, die der dort sprechende Philosoph längst überwunden hat, ist diese Überwindung in Jenseits von Gut und Böse (Aph. 204–213) erst im Gange. Erst hier wird die Tragweite sichtbar, die die wissenschaftlich ‚objektive‘ Denkungsart für den Menschen hat.6 Die ‚Gelehrten‘ sind noch in ‚uns‘ drin – auch die ‚Wir‘ sind keine ‚reinen Geister‘, die ohnehin gemäß der Vorrede nur eine platonische Chimäre sind. Das sechste Hauptstück schildert die Selbstüberwindung des Gelehrten zum „Philosophen der Zukunft“ (ebd., Aph. 209, 142), der aber als solcher auch ein „noch nicht festgestellte[s] Thier“ (ebd., Aph. 62, 81) ist. Entsprechend offen ist die Charakteristik, die Jenseits von Gut und Böse (Aph. 210–213) von diesem Zukunftsphilosophen gibt. Auch die ‚Wir‘ sind noch nicht angekommen, sie bleiben multiple ‚Wir‘. Das sechste Hauptstück beginnt mit einer Gegenwartsdiagnose, die zunächst nichts mit der in der Vorrede vermerkten, fundamentalen Spannung des europäischen Geistes zu tun zu haben scheint, nämlich mit der „ungebührlichen und schädlichen Rangverschiebung“, die sich „zwischen Wissenschaft und Philosophie herzustellen droht“ (ebd., Aph. 204, 129). Dieser Diagnose gemäß bekommt die Wissenschaft mehr und mehr Oberwasser und streift die Philosophie als überflüssigen Ballast ab, so wie sie sich einst der theologischen Vormundschaft entledigt hat. Der Prozess der Selbstermächtigung der Wissenschaft wird begünstigt durch die offensichtliche Gestaltungs- und Denkschwäche derer, die gegenwärtig als „Mischmasch-Philosophen“ (ebd., 131) auftreten. Dass Nietzsche zur dieser Gruppe explizit die „‚Positivisten‘“ rechnet, macht freilich deutlich, dass er keineswegs im Gefolge Augustes Comtes daran denkt, die Selbstermächtigung 6
Schon in Aph. 357 der Fröhlichen Wissenschaft (KSA, FW, 3, 600) hatte Nietzsche das „wissenschaftliche[ ] Gewissen“, die „intellektuelle[ ] Sauberkeit“ als Sublimation der „christlichen Moralität“ gedeutet – eine Stelle, die er in der Genealogie der Moral (III 27) (KSA, GM, 5, 409) bestätigend zitiert.
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der Wissenschaft positiv zu werten.7 Wenn das wortführende ‚Ich‘ in diesem Prozess dennoch eine gewisse Zwangsläufigkeit erkennt, dann nicht, weil die Stadien Theologie und Metaphysik nach notwendigen sozialen Entwicklungsgesetzen schließlich von der Wissenschaft überwunden werden müssten. Vielmehr sind die „Agonie“ (ebd., 132) der Philosophie und der gleichzeitige Triumph des Gelehrten oder wissenschaftlich-objektiven Menschen Ausdruck einer erlahmenden Fähigkeit zur Wertsetzung: Der Gelehrte „gehört in die Hand eines Mächtigeren. Er ist nur ein Werkzeug“ (ebd., Aph. 207, 135). Indessen ist, mit Ausnahme des sprechenden ‚Ichs‘, noch niemand sichtbar, der sich dieses Werkzeuges zu bedienen wüsste. Die Wissenschaft, wie sie das sechste Hauptstück darstellt, ist keiner eigenständigen Wertschöpfungen fähig; sie ist als dominant gewordener Kulturfaktor Symptom der „europäischen Krankheit“, nämlich der „Skepsis und Willenslähmung“ (ebd., Aph. 208, 138). Diese Krankheit wiederum verweist zurück auf das Ausgangsproblem in der Vorrede, das Problem von Spannung und Abspannung. Die Wissenschaft mit gelähmtem Schöpfungs- und Gesetzgebungswillen zeugt von jener Abspannung, die „Jesuitismus“ und „demokratische Aufklärung“ laut Vorrede zu bewirken versuchen. Demokratische Aufklärung versteht Nietzsche also keineswegs als etwas, was im Kampf gegen Platonismus und Christentum jene für das Schöpferische unerlässliche Spannung aufrecht erhält, sondern sie im Gegenteil vernichtet, weil diese Art Aufklärung die plebejischen Instinkte des Christentums teilt. Demokratische Aufklärung ist, im Hinblick auf Moral, auf Werthaltungen, Christentum mit anderen Mitteln.8 Beredter Ausdruck der Willenslähmung ist nach Nietzsche eine um sich greifende Skepsis9,die der Zeitgeist als einzig angemessene Form der Philosophie gutheißt, gebe es doch „anerkanntermaassen heute kein besseres Schlaf- und Beruhigungsmittel, als Skepsis, den sanften holden einlullenden Mohn Skepsis“ (ebd., Aph. 208, 137). Diese 7
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Dazu auch Nietzsches kritische Bemerkungen zu Jean-Marie Guyaus Esquisse d’une morale sans obligation ni sanction (Paris 1885) in KSA, NF, 11,525. Die Guyau-Lektüre wirkt auch im Aph. 204 von Jenseits von Gut und Böse nach. Zum Thema Hans Erich Lampl (Hg.), Zweistimmigkeit – Einstimmigkeit? Friedrich Nietzsche und Jean-Marie Guyau („Esquisse d’une morale sans obligation, ni sanction“), Cuxhaven 1990; Giuliano Campioni, Paolo D’Iorio, Maria Cristina Fornari, Francesco Fronterotta, Andrea Orsucci (Hg.), Nietzsches persönliche Bibliothek, Berlin, New York 2003, 270f. Zu Nietzsches Aufklärungskritik: Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, Bd. 2: Von der Romantik bis zum Ende des Dritten Reichs, Darmstadt 1985, 135; ausführlich die beiden Sammelbände: Renate Reschke (Hg.), Nietzsche – Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer? Internationale Tagung der NietzscheGesellschaft in Zusammenarbeit mit der Kant-Forschungsstelle Mainz und der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen vom 15.–17. Mai 2003 in Weimar, Berlin 2004 (Nietzscheforschung, Sonderband 2), und Beatrix Himmelmann (Hg.), Kant und Nietzsche im Widerstreit. Internationale Konferenz der Nietzsche-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der Kant-Gesellschaft. Naumburg an der Saale, 26.–29. August 2004, Berlin, New York 2005. Zu Nietzsches „Skeptical Critique of Skepticism“ in Jenseits von Gut und Böse (Aph. 208ff.): Paul J. M. van Tongeren, Reinterpreting Modern Culture. An Introduction to Friedrich Nietzsche’s Philosophy, West Lafayette (Ind.) 1999; zum Thema Skepsis bei Nietzsche: Richard Bett, Nietzsche on the Skeptics and Nietzsche as Skeptic, in: Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. 82 (2000), Heft 1; Andreas Urs Sommer, Nihilism and Skepticism in Nietzsche, in: Keith Ansell Pearson (Hg.), A Companion to Nietzsche, Oxford, Malden 2006. Eine Quelle für Nietzsches neue, harte Skepsis im Aph. 209 kann auch in Ralph Waldo Emerson vermutet werden (Benedetta Zavatta, Nietzsche, Emerson, und das Selbstvertrauen, in: Nietzsche-Studien, Bd. 35 (2006).
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Skepsis enthält sich jeder eigenen Wertsetzung, insbesondere schreckt sie vor dem harten Nein zurück. Sie veranschaulicht ein Nichtaushaltenwollen oder besser ein Nichtaushaltenkönnen jener in der Vorrede thematisierten Spannung, die freilich in Aph. 208 von Jenseits von Gut und Böse gar nicht thematisch wird. Vielmehr wird hier eine (sozial-)physiologische Erklärung der Skepsis gegeben, wonach sie die geistige Artikulation von „Nervenschwäche und Kränklichkeit“ (ebd., 138) sei, deren Ursache wiederum in einer plötzlichen Stände- und Rassenvermischung liege. Diese offenbar jüngst mit dem Ende der alteuropäischen Ständeordnung aufgekommene Vermischung habe Menschen erzeugt, denen das „Gleichgewicht“ noch fehle, bei denen „Alles Unruhe, Störung, Zweifel, Versuch“ sei: „Unser Europa von heute, der Schauplatz eines unsinnig plötzlichen Versuchs von radikaler Stände- und folglich Rassenmischung, ist deshalb skeptisch in allen Höhen und Tiefen, bald mit jener beweglichen Skepsis, welche ungeduldig und lüstern von einem Ast zum andern springt, bald trübe wie eine mit Fragezeichen überladene Wolke, – und seines Willens oft bis zum Sterben satt!“ (ebd.). Die europäische Krankheit von Skepsis und Willensschwäche präge sich je nach kultureller Entwicklung unterschiedlich aus: Im modernen Frankreich grassiere sie am schlimmsten, während sich in Russland demgegenüber ein ungeheures Willenspotential aufgestaut habe, das nur darauf warte, aktualisiert zu werden. Nun könne es zwar auch dort geschehen, dass mit einer „Zersprengung des Reichs“ und der „Einführung des parlamentarischen Blödsinns, hinzugerechnet die Verpflichtung für Jedermann, zum Frühstück seine Zeitung zu lesen“ (ebd., 139f.), Russland aufhöre, für Europa eine Gefahr zu sein, indem es so an der Aktualisierung seines Willenspotentials gehindert wird. Aber das sprechende ‚Ich‘ wünscht sich eher, dass Russlands Macht und Wille derart bedrohlich wachsen, „dass Europa sich entschliessen müsste, gleichermaassen bedrohlich zu werden, nämlich Einen Willen zu bekommen, durch das Mittel einer neuen über Europa herrschenden Kaste, einen langen furchtbaren eigenen Willen, der sich über Jahrtausende hin Ziele setzen könnte: – damit endlich die langgesponnene Komödie seiner Kleinstaaterei und ebenso seine dynastische wie demokratische Vielwollerei zu einem Abschluss käme. Die Zeit für kleine Politik ist vorbei: schon das nächste Jahrhundert bringt den Kampf um die Erd-Herrschaft, – den Zwang zur grossen Politik“ (ebd., 140). Hatte sich das sechste Hauptstück bis hier so lesen lassen, als würde hier eine Einführung in die Philosophie oder in das gegeben, was Philosophie sein soll, nämlich gesetzgebende Geisteskraft (dafür ist übrigens nach wie vor „die ganze Art der Heraklite, Plato’s, Empedokles‘“ [ebd., Aph. 204, 131] maßgebend), so folgt in Aph. 208 ein jäher Wechsel ins Politische. Dieser Wechsel stimmt den skeptischen Leser misstrauisch, weniger, weil er sich in seiner kleinmütigen Taktik der Spannungsvermeidung entlarvt sieht, als vielmehr, weil ihm dieser Sphärenwechsel als Mittel zur Widerlegung der resignativen Skepsis nicht tunlich erscheint. Aber Nietzsche behandelt hier keine philosophische Lebenshaltung, die es mit Argumenten zu erledigen gälte, sondern eine kulturell epidemische Willenskrankheit, bei der nur ein starker Gegenwille Selbstheilungskräfte wecken kann. Die Wendung zum Politischen ist ein bewusster Bruch eingespielter Diskursregeln innerhalb einer philosophischen Auseinandersetzung: Es soll sich nicht durchsetzen, was die besseren Argumente, sondern was den stärkeren Willen hat. Wird verlangt, eine Philosophie habe darauf hinzuwirken, dass eine menschliche Gesellschaft, ganz Europa wohlverstanden, unter ‚einem Willen‘ vereinigt würde, bedeutet dies die
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triumphale Rückkehr Platons ins intellektuelle Tagesgeschäft. Zwar entfallen die metaphysischen Spezifika des Platonismus, die die Vorrede zu Jenseits von Gut und Böse als gefährliche Irrtümer denunziert hat, nicht aber dessen dominierendes Strukturelement, möglichst die Gesamtheit der (europäischen) Menschen dem Diktat der Philosophie zu unterwerfen. Die Evokation einer neuen „herrschenden Kaste“ hat ihr Pendant in der Ständekonzeption der Politeia (ausgeblendet bleibt demgegenüber die andere Seite der platonischen Philosophie, ihre Dialogizität, ihre Aporetik: es sei denn, man läse Nietzsches Textstrategie und Gedankenführung wohlwollend als Adaption des platonischen Dialogmodells). Politikfähigkeit, der Nutzen für die Gestaltung des Politischen wird in Aph. 208 zum Kriterium für die Tauglichkeit einer philosophischen Haltung, die als Haltung allerdings gleich unter Pathologieverdacht gerät. Dass Politikfähigkeit, Nutzen für die Gestaltung des Politischen, oder genauer, der Nutzen für „grosse Politik“, ein Kriterium solcher Tauglichkeit sein könnten, wird der resignative Skeptiker (wie alles) füglich bezweifeln. In welche Richtung die visionierte ‚große Politik‘ gehen soll, hatte schon der letzte Abschnitt des fünften Hauptstücks deutlich ausgesprochen, nämlich „[d]em Menschen die Zukunft des Menschen als seinen Willen, als abhängig von einem Menschen-Willen zu lehren und grosse Wagnisse und Gesammt-Versuche von Zucht und Züchtung vorzubereiten, um damit jener schauerlichen Herrschaft des Unsinns und des Zufalls, die bisher ‚Geschichte‘ hiess, ein Ende zu machen – der Unsinn der ‚grössten Zahl‘ ist nur seine letzte Form“ (ebd., Aph. 203, 126).10 An dieser Stelle könnte man einen trefflichen Beleg für Martin Heideggers These finden wollen, Nietzsche sei noch immer in der Tradition der Metaphysik gefangen11, denn was hier ausgemalt wird, ist eine klassische Beschreibung der Aufgabe, die Metaphysik bewältigen soll, nämlich Kontingenz auszuschalten.12 Es scheint, als ob hier mit der Selbstermächtigung des Menschen als Herr der Geschichte – eine Selbstermächtigung, die inhaltlich all dem entgegensteht, was seit Platon als Metaphysik Geltung beansprucht – nicht nur der Bemächtigungsgestus der Metaphysik reproduziert würde, sondern dass ein zentrales Motiv dieser Metaphysik unversehrt erhalten bliebe. Jedoch wird man sich wohl zu hüten haben, in diesen Äußerungen von Aph. 203 und 208) Bekenntnisse des Herrn Nietzsche zu vermuten. Es handelt sich um Texte, die in bestimmten Kontexten bestimmte radikale Optionen experimentell erproben. Das ist im Aph. 208 mit dem Sphärenwechsel ins Politische besonders deutlich. Der Effekt dieser textuellen Operation ist beim Leser, der skeptischen Positionen zuneigt, weil er dies für die angemessene Konsequenz aus der von Nietzsche selbst verlangten Loslösung von den alteuropäisch-christlichen Wertsetzungen hält, eine tiefgreifende Verunsicherung. Der Aph. 208 will die Nicht-Angemessenheit der resignativen Skepsis für die Lösung 10
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Urs Marti, Große Politik, in: Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 2000, 249; ausführlich zum Thema ‚Große Politik‘ Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin, New York 21999, 239–292, 437 und 443; zu Zucht und Züchtung: Gerd Schank, „Rasse“ und „Züchtung“ bei Nietzsche, Berlin, New York 2000. Martin Heidegger, Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961. Wie mühsam die Philosophie erst lernen musste, sich auf die Kontingenz des Geschichtlichen einzulassen, ohne es zum Verschwinden zu bringen, zeigt die Geschichte der Geschichtsphilosophie, vgl. Andreas Urs Sommer, Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativ-universalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant, Basel 2006, bes. 463–472.
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der großen Probleme der Zeit herausstellen. Freilich müssen dazu die Probleme erst konstruiert werden, denen die schwache Skepsis nicht gewachsen ist, eben die europäische Willensschwäche im Gegensatz zum russischen Willenspotential. Dagegen ließe sich, durchaus auch auf dem Hintergrund der Erfahrung des 20. Jahrhunderts, fragen, ob es wirklich Europas Problem ist, dass es keinen geeinten und einen Willen hat. Man könnte dagegen halten, dass gerade die Nicht-Einbarkeit, die Polyvalenz und Polymorphie der einzelnen menschlichen Willen jene Schöpferkraft hervorbringt, die Nietzsche allenthalben anmahnt.13 Wäre da nicht gerade eine Skepsis als „Sinn für Gewaltenteilung“ gefragt14 statt einer Regression in Wunschvorstellungen vom einen und unteilbaren Willen Europas?15 Angenommen, Nietzsche habe seinen Leser zwar nicht davon überzeugt, dass jetzt nur noch der eine Wille und eine neue europäische Herrscherkaste nottäten, ebensowenig wie davon, dass Russland die Willensdisgregation in Europa bedrohen werde, so bleibt bei diesem Leser doch die Ratlosigkeit, wie er sich denn nach der Makulierung alteuropäischer Überzeugungen in moralischen Belangen, das heißt im Hinblick auf Werte und Wertsetzungen denkend und handelnd zu verhalten habe, wo doch die Haltung skeptischen Abwartens, die pyrrhoneische Urteilsenthaltung nur Hohn und Spott erntet. Genau in der Erzeugung dieser Ratlosigkeit liegt die strategische, performative Pointe des Aph. 208. Dieser Abschnitt will, zumindest nach der hier vorgeschlagenen Lesart, seinen Leser weniger mit neuen Glaubensüberzeugungen indoktrinieren, als vielmehr jene Spannung auf einer anderen Ebene neu erzeugen, die als ‚Spannung des Geistes‘ gemäß der Vorrede erst intellektuelle Produktivität ermöglicht. Der Leser wird in die Spannung einer Erwartung gesetzt, was denn die Alternative zu der so naheliegend erscheinenden, resignativen Skepsis sein könnte. Mit einer Antwort warten die nächsten Abschnitte auf, ohne freilich Abspannung in Aussicht zu stellen. Aph. 209 stellt der krankhaften, resignativen Skepsis die mögliche „Entwicklung einer anderen und stärkeren Art von Skepsis“ (ebd., 140) entgegen, der „das neue kriegerische Zeitalter, in welches wir Europäer ersichtlich eingetreten sind“, förderlich sein könne. Inwiefern ein solches kriegerisches Zeitalter tatsächlich eine solche, andere Skepsis begünstigen werde, will das sprechende ‚Ich‘ freilich „nur durch ein Gleichniss ausdrücken“, wobei dieses Gleichnis die Geschichte von Friedrich II. von Preussen ist, dessen Vater Friedrich Wilhelm I. mit Recht gesehen habe, dass in Deutschland „Männer fehlten“ und zugleich fürchtete, selbst sein eigener Sohn sei „nicht Manns genug“.16 Friedrich Wilhelm I. habe seinen Sohn verdächtigt, unter französischem Einfluss Opfer jener schwa13
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Andreas Urs Sommer, Was (er)schafft die Umwertung aller Werte? Zu Nietzsches Kreativitätsmythologemen, in: Oliver Krüger, Refika Sariönder, Annette Deschner (Hg.), Mythen der Kreativität. Das Schöpferische zwischen Innovation und Hybris, Frankfurt/M. 2003. Odo Marquard, Skepsis und Zustimmung. Philosophische Studien, Stuttgart 1994, 11; Andreas Urs Sommer, Die Kunst des Zweifelns. Anleitung zum skeptischen Denken, München 2005, 22007. Je nach dem Grad seiner Benevolenz könnte der Leser in dieser Vision der Willenseinheit entweder eine augenzwinkernd-ironische Reverenz oder einen unbewusst-unbeholfenen Rückgriff auf die Konzeption eines der plebejischen Lieblingsfeinde Nietzsches, nämlich auf Jean-Jacques Rousseaus volonté générale erkennen wollen. Zu Nietzsches Rousseau-Rezeption: Giuliano Campioni, Französische Aufklärung, in: Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch, 397ff. Vgl. Leopold von Ranke, Preussische Geschichte, Bd. 1, hg. von Willy Andreas, Essen o. J., 459f.
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chen Skepsis, der „grosse[n] Blutsaugerin“, der „Spinne Skepsis“ (ebd., 141) geworden zu sein: „Aber inzwischen wuchs in seinem Sohne jene gefährlichere und härtere neue Art der Skepsis empor – wer weiss, wie sehr gerade durch den Hass des Vaters und durch die eisige Melancholie eines einsam gemachten Willens begünstigt? – die Skepsis der verwegenen Männlichkeit, welche dem Genie zum Kriege und zur Eroberung nächst verwandt ist und in der Gestalt des grossen Friedrich ihren ersten Einzug in Deutschland hielt. Diese Skepsis verachtet und reisst trotzdem an sich; sie untergräbt und nimmt in Besitz; sie glaubt nicht, aber sie verliert sich nicht dabei; sie giebt dem Geiste gefährliche Freiheit, aber sie hält das Herz streng; es ist die deutsche Form der Skepsis, welche, als ein fortgesetzter und in’s Geistigste gesteigerter Fridericianismus, Europa eine gute Zeit unter die Botmässigkeit des deutschen Geistes und seines kritischen und historischen Misstrauens gebracht hat“ (ebd). Nimmt man die Geschichte von Friedrich dem Großen wirklich als ein „Gleichniss“, so scheint es, als ob erst extremer Druck jene „andere und stärkere Art von Skepsis“ hervortreiben könne. Nietzsche setzt bei seinen Lesern die Bekanntschaft mit den Auseinandersetzungen voraus, die der junge Kronprinz mit seinem Vater austrug und die 1730 zu einem vereitelten Fluchtversuch aus der väterlichen Obhut führten. Friedrichs Freund und Fluchthelfer Hans Hermann von Katte wurde „durch einen vom Könige verschärften Spruch des Kriegsgerichts vor den Augen F[riederich]s, der aus dem Fenster seines Gefängnisses zusehen musste, hingerichtet. Auch F[riedrich] fürchtete für sein Leben, obgleich das Kriegsgericht, vor das auch er gestellt war, ihm das Verbrechen der Desertion als unausgeführt absprach. Indessen ist es Sage, dass der Vater ihn dem Tode habe überantworten wollen und nur durch die Fürsprache eines Geistlichen und des österr. Gesandten Grafen Seckendorf davon abgebracht sei. Immerhin traf F[riederich] das harte Los des Gefängnisses, und auch nach seiner Entlassung musste er unbedingt dem rücksichtslosen Willen des Vaters weichen.“17 Erst ein unerbittlicher Gegenwille ermöglicht, wie sich das der Aph. 208 vom Erstarken Russlands erhofft, jene starke Skepsis, deren Hauptcharakteristika nicht Willenslähmung und Urteilsenthaltung, sondern gerade Willensstärke und Urteilsbereitschaft sind, im Wissen darum, dass es für kein Urteil eine letzte Rechtfertigung gibt, die außerhalb des individuellen Wollens in irgendeiner vorgeblichen metaphysischen Wahrheit liegt. Starke Skepsis entsteht also als Reaktion auf einen erheblichen Druck. So ließe sich mit der Genealogie der Moral fragen, ob diese starke Skepsis blosse „Aktivität zweiten Ranges, eine blosse Reaktivität“ (KSA, GM, 5, 316) sei, die „reaktive[ ] Affekte“ (ebd., 310) und damit Ressentiment zum Ausdruck bringt.18 Aber Jenseits von Gut und Böse (Aph. 209) vermeidet derartige Assoziationen tunlichst, indem der Abschnitt die Nähe von harter Skepsis und Krieg so stark hervorkehrt. Dabei erscheint das Schaffen „der grossen deutschen Philologen und Geschichts-Kritiker“ als Werk von „Artisten der Zerstörung und Zersetzung“ (KSA, JGB, 5, 141), die Friedrichs Taten auf dem Schlachtfeld mit Feder und Druckerpresse (vgl. ebd., 13) auf dem Feld des Geistes fortführen.19 17 18 19
Brockhaus’ Conversations-Lexikon. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie. Dreizehnte vollständig umgearbeitete Auflage, Bd. 7, Leipzig 1884, 329. Vgl. Marco Brusotti, Wille zum Nichts, Ressentiment, Hypnose. ,Aktiv‘ und ,reaktiv‘ in Nietzsches „Genealogie der Moral“, in: Nietzsche-Studien, Bd. 30 (2001). Vgl. Christian Benne, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, 90ff.
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Allerdings läuft diese starke Skepsis nicht nur Gefahr, mit der schwachen verwechselt zu werden, wie es nach Aph. 209 Friedrich Wilhelm I. ergangen ist, als er seinen Sohn der Schwäche und der Leichtlebigkeit des französischen Atheismus, dem esprit verfallen glaubte. Diese starke Skepsis scheint selbst in der schwachen zu gründen, gegen die das wortführende ‚Ich‘ fortwährend polemisiert. Beim Kronprinzen Friedrich ist der gegebenen Schilderung zufolge die neue, starke Skepsis erst im Laufe seines Kampfes gegen den unerbittlichen Willen des Vaters entstanden, und zwar auf dem Boden der Rezeption ‚schwacher‘ französischer Freigeisterei. Nimmt man diese versteckte Genealogie der starken Skepsis ernst, dann erscheint die im Aph. 208 gegeißelte Willensschwäche als ein notwendiges Durchgangsstadium auf dem Weg zur neuen Stärke des Willens. Aph. 209 beschreibt, wie sich, aus der Schwäche, die ein starker Gegenwille zum eigenen Willen zwingt, „allmählich“ „ein neuer Begriff vom deutschen Geiste“ (ebd., 141) gebildet habe, trotz aller „Romantik“.20 Als Kulminationspunkt dieser Entwicklung, nach einer Breitseite gegen Madame de Staëls De l’Allemagne, erscheint Johann Wolfgang von Goethe, von dem Napoleon Bonaparte nach der Audienz am 2. Oktober 1808 in Erfurt gesagt hat: „‚Voilà un homme!‘ – das wollte sagen: ‚Das ist ja ein Mann! Und ich hatte nur einen Deutschen erwartet!‘“ (ebd., 142).21 In der Reinschrift-Vorstufe zu Jenseits von Gut und Böse (Aph. 209) werden übrigens als Repräsentanten der „muthigen Scepsis“ ausdrücklich „Lessing, Herder [!], Kant, Friedrich August Wolf, Niebuhr“ namhaft gemacht (KSA, 14, 363), die wiederum in einer vorbereitenden Notiz (nur Herder fehlt dort) noch unter der Rubrik „Abwehr des Scepticismus“ geführt worden waren (KSA, NF, 11, 496)! Je nach textstrategischen Bedürfnissen nimmt Nietzsche eine völlige Neuausrichtung des gesammelten Materials vor. Aph. 209 kehrt die Mannhaftigkeit der starken Skepsis hervor und sieht in ihr den spezifischen deutschen Beitrag zur europäischen Kultur gegen diejenigen, die mit Madame de Staël diesen Beitrag in der Erfindung des romantischen Tiefsinns gesehen hatten. Dass 20
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Vgl. Nachlass 1885, 34[157], wo für die „Erklärung jenes innerlichen verwegenen Scepticismus in Deutschland“ (KSA, NF, 11, 473) der Protestantismus, insbesondere das protestantische Pfarrhaus, namhaft gemacht wird. Der Umstand, dass „die deutsche Philosophie eine Fortsetzung des Protestantismus“ (ebd., 474) ist, führt nach Nietzsches späterer, konträrer Diagnose allerdings nicht zu einem „verwegenen Scepticismus“, sondern sei ihr eigentliches „peccatum originale“ (KSA, AC, 6,176); dazu Andreas Urs Sommer, Friedrich Nietzsches „Der Antichrist“. Ein philosophisch-historischer Kommentar, 138ff. Die ummittelbare Quelle hierfür ist nicht, wie der KSA-Kommentar (KSA 14, 363) suggeriert, Johann Wolfgang von Goethes Unterredung mit Napoleon (Johann Wolfgang von Goethe, Werke, hg. im Auftrage der Grossherzogin Sophie von Sachsen, I. Abt., Bd. 36, Weimar 1893, 269–276), derzufolge Napoleon ihn mit den Worten „vous êtes un homme“ (271) angesprochen habe, sondern Kanzler Friedrich von Müllers Erinnerungen aus den Kriegszeiten 1806–1813(1851), wonach Napoleon bei Goethes Abgang zu Alexandre Berthier und Pierre Antoine Noël Bruno Daru gesagt habe: „Voilà un homme“ (Friedrich von Müller, Erinnerungen aus den Kriegszeiten 1806–1813, hg. im Auftrage der Gesellschaft Hamburgischer Kunstfreunde, Hamburg 1907, 139). Müllers Version, der im Vorzimmer auf Goethe warten musste (ebd., 137) und nicht Ohrenzeuge der kaiserlichen Äußerung gewesen sein kann, kolportiert auch Karl Goedeke, Goethes Leben [1874]. Supplement zu den Werken des Dichters, Stuttgart o. J., 170. Weder Müllers Erinnerungen noch Goedekes Goethes Leben sind in Nietzsches Bibliothek erhalten, wohl aber Goethes Unterhaltungen mit dem Kanzler Friedrich von Müller (Stuttgart 1870) (Giuliano Campioni u.a. [Hg.], Nietzsches persönliche Bibliothek, 400), in denen die Episode freilich nicht überliefert ist.
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mit der harten Skepsis die deutsche Kultur wieder den Anschluss an überzeitliche Größe gefunden hat, verdichtet das geistig-militärische Gipfeltreffen von Napoleon und Goethe am Schluss in einer Sentenz. Ob Goethe als harter Skeptiker qualifiziert ist, stellt eine vorbereitende Notiz zum Aph. 209 im Nachlass 1885 allerdings in Frage: „Goethe hatte gute deutsche Augenblicke, wo er über das Alles innewendig lachte. Aber dann fiel er selber wieder in die feuchten Stimmungen zurück“ (KSA; NF, 11, 453). Dies ist ein Beleg mehr, wie sehr Nietzsche sein Material für die momentanen Bedürfnisse zurüstet. Was aber jemanden wirklich zum harten, neuen Skeptiker macht, bleibt im Unbestimmten; so unbestimmt auch, dass im Drucktext im Unterschied zur Vorstufe mit Ausnahme von Friedrich II., über dessen Denken man nichts erfährt, und Goethe überhaupt keine konkreten Personen als Referenzgrößen dieser neuen Skepsis auftauchen, an denen man sich orientieren könnte. Der Leser kann nur hoffen, dass er selbst, wenn er seinen Willen bündelt und der Romantik abschwört, für eine neue Art von Skepsis in Betracht kommt. Ist man schon ein starker Skeptiker, wenn man Nietzsches Zumutungen im Aph. 208 Fragezeichen entgegensetzt? Immerhin ist offenkundig, dass sich das wortführende ‚Ich‘ selbst auf der Fluchtlinie dieses deutschen Sonderwegs des Geistes sieht: „Voilà un homme!“ lässt sich als französische Fassung von „Ecce homo!“ (Johannes 19, 5) lesen!22 Die letzten vier Abschnitte des sechsten Hauptstücks verdeutlichen, dass harte Skepsis allenfalls ein, aber nicht der ausschliessliche Charakterzug „im Bilde der Philosophen der Zukunft“ (KSA, JGB, Aph. 210, 5, 142) sei. Ebenso könne man sie als „Kritiker“ bezeichnen, weil sie im Unterschied zum landläufigen Skeptiker eine „Sicherheit der Werthmaasse“ (ebd., 143) besitzen. Jedoch begegnen die Zukunftsphilosophen diesem Namen gleichfalls mit Vorbehalt, denn Philosophie reduziert auf Kritik, womöglich im (neu)kantianischen Sinn, wäre wiederum eine ungebührliche Verengung und Vereinseitigung dessen, was „unsre neuen Philosophen“ im Sinne haben: „Kritiker sind Werkzeuge des Philosophen“ (ebd., 144). Erst Aph. 211, der den Unterschied zwischen dem „wissenschaftlichen Menschen“ und dem „Philosophen“ herausarbeitet, stellt im Anschluss an das Ende von Aph. 208 die alte platonische und neue zukunftsphilosophische „Aufgabe“ ins rechte Licht: „sie verlangt, dass er Werthe schaffe“. „Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber: sie sagen ‚so soll es sein!‘, sie bestimmen erst das Wohin? und Wozu? des Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit aller philosophischen Arbeiter, aller Überwältiger der Vergangenheit, — sie greifen mit schöpferischer Hand nach der Zukunft, und Alles, was ist und war, wird ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer“ (ebd., 145).23 Wie sehr diese Anmaßung der Philosophen dem Zeitgeist zuwiderläuft, betont der Aph. 212, der sich in allen Punkten gegen die herrschenden Ideale stellt, wobei – wie das Beispiel Sokrates zeigt, der als „Pöbelmann[ ]“ (ebd., 146) gegen den müden Aristokratismus seiner Zeit agitiert habe, während heute, „wo in Europa das Heerdenthier allein zu Ehren kommt“ (ebd., 147), das „Vornehm-sein“ erst „Grösse“ ausmache – diese Ideale, gegen die sich das philosophische Dasein richtet, höchst unterschiedlich, ja entgegenge22
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Zum Thema auch Andreas Urs Sommer, Jesus gegen seine Interpreten oder Die Hermeneutik der Urteilsenthaltung. Pilatus und der „Typus des Erlösers“, in: Nietzscheforschung, Bd. 11: Antike und Romantik bei Nietzsche, Berlin 2004. Ralf Witzler, Europa im Denken Nietzsches, 198.
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setzt sein können. Philosophie ist also ein zeitbedingtes Wesen, das aber nicht einfach die eigene Zeit in Gedanken fasst, sondern von einer in der Gegenwart vorweggenommenen Zukunft bestimmt werden soll. Die Zukunft möchte das wortführende ‚Ich‘ mit seinem Willen gestalten und dieser Wille artikuliert sich als eine dem eigenen Anspruch nach gesetzgebende Philosophie. Über das, was die Philosophen der Zukunft zu sagen und zu dekretieren haben werden, gibt das sechste Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse freilich keine hinreichende Auskunft. Die Spannung ist unaufgelöst und soll unaufgelöst bleiben – man wird sehen müssen, ob das nächste Hauptstück hier Linderung verschafft. Einerseits ist Philosophie also das Produkt historischer Kontingenz – und ihre zweifelhafte Geburt bei den Griechen, namentlich bei Sokrates und Platon macht im Aph. 212 augenfällig, dass sie von Motiven durchdrungen sein kann, die denen der Zukunftsphilosophen genau entgegengesetzt sind. Andererseits ist sie etwas, was herrschen soll, ein Mittel, dem Gestaltungs- und Gesetzgeberwillen willensstarker Individuen freien Lauf zu lassen. Zwar ist die neue starke Skepsis von Aph. 209 dem dogmatischen Philosophieren, gegen das sich die Vorrede gewandt hatte, genau entgegengesetzt. Jedoch bleibt auch die neue Philosophie in ihrem Gesetzgebungsanspruch der alten Maßlosigkeit verpflichtet, die schon Platons Philosophiebegriff eigen war. „Was ein Philosoph ist, das ist deshalb schlecht zu lernen, weil es nicht zu lehren ist: man muss es ‚wissen‘, aus Erfahrung, – oder man soll den Stolz haben, es nicht zu wissen“ (ebd., Aph. 213, 147). Vielleicht ist es, so die Vermutung eines skeptisch unbelehrbaren Lesers, für Europa besser, es nicht zu wissen, und entgegen aller politischen Aspirationen der Zukunftsphilosophen bei der Pluralität der Moralen zu bleiben, die der Aph. 187 (ebd., 107) beschreibt.
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Ein ach so guter Europäer: Thomas Common und seine Nietzsche-Zeitschrift Notes for Good Europeans
Für Memnon Um aber mit guten Aussichten um den Kampf in die Regierung der Erde einzutreten […], hat Europa wahrscheinlich nöthig, sich ernsthaft mit England zu ‚verständigen‘. (Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, 1885)
Erst spät und mit allerhand Hindernissen wurde Friedrich Nietzsche in Großbritannien eingeführt.1 Zwar finden sich Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts hier und da Spuren seines Einflusses bei britischen Literaten, doch erst im Jahre 1894 wurden Vorkehrungen für eine englische Übersetzung seiner Gesamtwerke getroffen, die auf der damals noch in Entstehung begriffenen Großoktavausgabe2 basieren sollte. Initiator des Übersetzungsprojekts war der Sozialdarwinist Thomas Common (1850– 1919). Common kam auf der Upper Tofts Farm im schottischen Roxburghshire zur Welt und strebte in jungen Jahren als Presbyterianer ein kirchliches Amt an. Vorlesungen im Fach Logik lösten jedoch religiöse Zweifel in ihm aus und führten schließlich zu seiner Loslösung von der Kirche. Common hörte außerdem Vorlesungen in politischer Betriebswirtschaft und Landwirtschaft und gewann dabei Einsichten, aufgrund derer er die bestehenden politischen Systeme, einschließlich der staatlichen Bildungseinrichtungen, in Frage stellte. Daraufhin gab er seine Studien auf und unterrichtete, vermutlich als Privatlehrer, Mathematik. Alsdann wanderte er nach Kanada aus, siedelte nach kurzer Zeit in die Vereinigten Staaten um, kehrte aber schließlich nach Europa zurück und ließ sich in London 1
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Zur Geschichte der Nietzsche-Bewegung in England: Gertrud von Petzhold, Nietzsche in englischamerikanischer Beurteilung bis zum Ausgang des Weltkrieges, in: Anglia 53, N. F. 41 (1929); Paul Hultsch, Das Denken Nietzsches in seiner Bedeutung für England, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, 26 (1938); David S. Thatcher, Nietzsche in England 1890–1914: The Growth of a Reputation, Toronto 1970; Patrick Bridgewater, Nietzsche in Anglosaxony: A Study of Nietzsche’s Impact on English and American Literature, Leicester 1972; Marita Knödgen, Die frühe politische Nietzsche-Rezeption in Großbritannien, 1895–1914, Trier 2000. Friedrich Nietzsche, Werke, 19 Bände und 1 Registerband, Leipzig (Naumann, Leipzig; später Kröner, Stuttgart) 1894–1913. (Der Registerband folgte 1926.)
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nieder. Dort widmete er sich zehn Jahre lang privaten philologischen Studien. Anfang der neunziger Jahre stieß er dabei im British Museum auf die Werke Nietzsches.3 Unmittelbar danach setzte er sich mit dem Verlagshaus Naumann in Leipzig in Verbindung, bei dem die deutsche Gesamtausgabe der Werke Nietzsches erschien, und leitete deren englische Übersetzung ein. Das unter der Herausgeberschaft von Alexander Tille, ebenfalls ein überzeugter Sozialdarwinist, geführte Projekt blieb jedoch unvollendet: Aufgrund verlagsrechtlicher Auseinandersetzungen mit dem Nietzsche-Archiv und geringer Absatzzahlen4 erschienen lediglich vier der geplanten elf Bände.5 Noch während der Editionsarbeit zog Common nach Schottland zurück, wo er abwechselnd in Glasgow und Edinburgh wohnte. Dort machte er im Jahre 1901 erstmals die persönliche Bekanntschaft von Tille.6 Im Vorgriff auf die noch angestrebte Gesamtausgabe veröffentlichte Common im selben Jahr eine Nietzsche-Anthologie7, in der er Auszüge aus Nietzsches Werken in eigener englischer Übersetzung zusammenstellte. Als das Übersetzungsprojekt im Jahr 1903 vollends zum Stillstand gekommen war, zog Common mit einer seiner beiden Schwestern in den kleinen schottischen Ort Corstophine, um Nietzsche auf anderem Weg bekannt zu machen: Von dort aus gründete der Einzelgänger und ewige Junggeselle in Edinburgh mit seinen knappen Mitteln die Zeitschrift Notes for Good Europeans. Sie erschien von 1903 bis 1916. Nachdem Common im Februar 1919 an den Folgen eines Verkehrsunfalls starb, folgte im Frühjahr 1920 noch eine von seiner Schwester, Mary Elder (Common), herausgegebene Memorial Edition seiner Zeitschrift. Im Abonnement wurden die Notes for Good Europeans zu drei Groschen je Ausgabe verkauft, doch hieß es in den Abonnementbedingungen, dass sie ernsthaft interessierten Lesern kostenlos zur Verfügung gestellt würde, wohingegen sie als „an esoteric publication, not designed for thoughtless readers, nor even for learned dunces“8 war und diesen entweder verweigert oder aber zu einem höheren Preis angeboten wurde. Geplant waren ursprünglich vier Zeitschriftenausgaben pro Jahr, doch ließ sich diese Frequenz nur 1906 umsetzen. Tatsächlich erschienen, einschließlich der Gedenkschrift, insgesamt 14 Hefte 3 4
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Mary Elder (Common), Introduction, in: The Good European, Memorial Edition, Frühjahr 1920, 1–7. Diese waren insbesondere auf mangelhafte Übersetzungsleistungen, irreführende Einleitungen, eine ungünstige Reihenfolge der Werke, hohe Verkaufspreise und generelle Vorbehalte gegen Nietzsche in der britischen Öffentlichkeit zurückzuführen. Alexander Tille (Hg.), The Works of Friedrich Nietzsche, Bd. 11, übers. v. Thomas Common, London 1896 (darin: The Case of Wagner, Nietzsche contra Wagner, The Twilight of the Idols und The Antichrist); Ders. (Hg.), Thus spake Zarathustra. A book for all and none, Bd. 8, übers. v. Alexander Tille, London 1896; Ders. (Hg.), A Genealogy of Morals. A Polemical Treatise, Bd. 10, übers. v. William A. Haussmann u. John Gray, London 1897; Ders. (Hg.), The Dawn of Day, übers. v. Johanna Volz, London 1903. Für Common ist er „a man entitled to the highest esteem“ (Thomas Common, Thoughts about the War, in: Ders., The Good European Point of View, Bd. 3, 12 (1915), 124. Thomas Common (Hg.), Nietzsche as Critic, Philosopher, Poet, and Prophet: Choice Selections from his Works, London 1901. Thomas Common, Terms of Subscription, in: Ders. (Hg.), Notes for Good Europeans, Bd. 1, 1 (1903), 32.
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im Umfang von jeweils circa 30 Seiten in unregelmäßigen Abständen. Ein geplantes vierwöchiges Begleitheft namens Good European Pioneer9 kam nicht zustande. Auch der Titel der Zeitschrift variierte. Schon die zweite Ausgabe trug den Zusatz The Good European Point of View. Dieser Zusatz wurde ab dem fünften Heft, wie bereits im vierten angekündigt, als neuer Titel geführt, allerdings ohne den ebenfalls angekündigten neuen Untertitel, nämlich Aristocratic Radicalism. In den letzten beiden Ausgaben wurde der Titel abgekürzt auf The Good European. In einer Werbeanzeige wurde die Zeitschrift vorab als „A new little quarterly for the propagation of the best knowledge, exoteric and esoteric, on religious, moral, economic, and political questions“10 vorgestellt. Ausdrücklich wurde darauf hingewiesen, dass Einflüsse von Thomas Carlyle, John Ruskin, Ralph Waldo Emerson, Arthur Schopenhauer, Karl Marx, William Morris, Henrik Ibsen, George Bernard Shaw und anderen prägend sein würden. Da jedoch die Schriften Nietzsches „embody the foremost philosophical thought of the age, it will be one of our special objects to introduce these works to the English readers“.11 Dementsprechend wies Common in den Heften regelmäßig auf neu erschienene Sekundärliteratur zu Nietzsche hin, informierte über den Fortschritt der deutschen Nietzsche-Ausgabe, warb für die bereits erschienenen englischen Nietzsche-Bände und veröffentlichte in den Ausgaben der Jahre 1906 und 1907 die Teile I bis III von Thus spake Zarathustra in eigener Übersetzung.12 Die Notes for Good Europeans entstanden unmittelbar nachdem eine andere NietzscheZeitschrift eingestellt wurde: The Eagle and the Serpent, die im Abstand von vier Wochen bis acht Monaten in den Jahren 1898 bis 1903 unter wechselnden Herausgebern in London erschien und unter anderem Shaw zu ihren Schreibern zählen durfte. Unter den vielen britischen Zeitungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts, die eine gesellschaftliche Reform anstrebten, war The Eagle and the Serpent „still one of the most readable“.13 Ihr Titel bezog sich auf die beiden Gefährten Zarathustras (vgl. KSA, Za, 4, 11), und sie war laut Untertitel A Journal of Egoistic Philosophy and Sociology. Sie widmete sich erklärtermaßen der ‚Lebensphilosophie‘ Nietzsches, Emersons, Max Stirners, Henry David Thoreaus und Johann Wolfgang von Goethes und trat für die Anerkennung neuer Ideale in Politik, Gesellschaft, Ethik, Philosophie, Literatur und Kunst ein. Tatsächlich steigerte das Blatt die Bekanntheit Nietzsches in der britischen Öffentlichkeit maßgeblich. Common, der als führender Nietzsche-Kenner galt, veröffentlichte in The Eagle and the Serpent regelmäßig Beiträge. Bereits in einer sehr frühen Ausgabe hatte er einen Aufruf zur Gründung einer „Nietzsche-Society“14 gestartet und erhielt dafür viel Zustimmung, unter anderem von seinem engen Mitarbeiter, dem Nietzsche-Übersetzer William A. Haussmann15, und Shaw. 9 10 11 12 13 14 15
Siehe: Thomas Common, Short Notes, in: Ders. (Hg.), The Good European Point of View, Bd. 2, 5 (1906), 30f. Ders. (Hg.), Notes for Good Europeans, Bd. 1, 1 (1903), 1. Ders., Our Purpose, in: Ders. (Hg.), Notes for Good Europeans, Bd. 1, 1 (1903), 12. Ders. (Hg.), The Good European Point of View, Bd. 2, 5 (1906); Bd. 2, 6 (1906); Bd. 2, 7 (1906); Bd. 2, 8 (1906); Bd. 3, 9 (1908); Bd. 3, 10 (1909). David S. Thatcher, Nietzsche in England 1890–1914, 55. Thomas Common, Nietzsche as a Social Reformer, in: The Eagle and the Serpent. Frühjahr 1898, 25f. Siehe: Thomas Common, The Organisation of Philosophers, in: Ders. (Hg.), The Good European Point of View, Bd. 2, 6 (1906), 59.
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Dennoch kam die Society nicht zustande. Als das „curious and entertaining little paper“16 eingestellt wurde, schuf Common sich eine eigene Plattform zur Verbreitung seiner auf Nietzsche gestützten gesellschaftspolitischen Ideen.17 Denn, abgesehen von einigen wenigen Leserbriefen, die sporadisch veröffentlicht wurden, stammen sämtliche Beiträge in den Notes for Good Europeans aus Commons eigener Feder (gleichwohl äußerte er sich stets in der ‚Wir‘-Form, entweder um suggestiv seine Leser oder aber einen mehr oder weniger realen Kreis Gleichgesinnter in seine Gedankengänge einzubeziehen). Dementsprechend sind einige wiederkehrende thematische Schwerpunkte auszumachen, die sämtlich mit dem Ziel behandelt wurden, eine bessere Gesellschaftsordnung zu konzipieren. Common gelangte dabei durchaus zu einigen bedenkenswerten Schlüssen, trat aber mit einem konservativ aufklärerischen Gestus auf, der zuweilen an dogmatische Starrheit grenzte. Das Christentum sei ein Kniff der Evolution, der schwachen Gesellschaftsmitgliedern das Überleben ermöglicht habe, so der Sozialdarwinist. Naturgemäß führe es daher zum kulturellen Verfall und sei zu bekämpfen. Zwar seien Menschen aller Rassen zunächst als gleichwertig anzuerkennen, doch unterscheide sich jeder Einzelne von anderen nicht nur körperlich, geistig und ethisch, sondern vor allem in seinem jeweiligen Wert für die Gesellschaft.18 Deshalb sei dem christlichen Gebot der allgemeinen Nächstenliebe eine differenzierte Begegnung des Gegenübers vorzuziehen. Gleichwohl sei Religion an sich eine zivilisatorische Notwendigkeit, „to regulate the masses of the population in the interest of a ruling or rule-seeking class“.19 Deshalb sieht Common eine neue „exoteric religion“20 vor, die „will often require to curse where Christianty blesses, and bless where Christianity curses“.21 Ihr Ziel sollte darin bestehen, dass „the worthy classes of society will again assert their superiority over the self-deluded and self-seeking multitude“.22 Bei alledem berief er sich auf Nietzsche, der geschrieben hatte, der „Philosoph wird sich der Religionen zu seinem Züchtungs- und Erziehungswerke bedienen, wie er sich der jeweiligen politischen und wirthschaftlichen Zustände bedienen wird. […] Für die Starken, Unabhängigen, zum Befehlen Vorbereiteten und Vorbestimmten, in denen die Vernunft und Kunst einer regierenden Rasse leibhaft wird, ist Religion ein Mittel mehr, um Widerstände zu überwinden, um herrschen zu können […]. Den gewöhnlichen Menschen endlich, den Allermeisten, welche zum Dienen und zum allgemeinen Nutzen dasind und nur insofern dasein dürfen, giebt die Religion eine unschätzbare Genügsamkeit mit ihrer Lage und Art, vielfachen Frieden des Herzens, eine Veredelung des Gehorsams“ (KSA, JGB, 5, 79f.). Vor allem in dessen Zarathustra sah er die Grundpfeiler einer solchen ‚neuen Religion‘. 16 17 18 19 20 21 22
David S. Thatcher, Nietzsche in England 1890–1914, 63. Ein ausführlicher Überblick über die Themen, mit denen sich Common in seiner Zeitschrift befasste: Marita Knödgen, Die frühe politische Nietzsche-Rezeption in Großbritannien, 52–60. Siehe: Thomas Common, Defects of Popular Secularism, in: Ders. (Hg.), Notes for Good Europeans. The Good European Point of View, Bd. 1, 2 (1903/4), 44f. Thomas Common, The Use and Abuse of Religion, in: Ders. (Hg.), Notes for Good Europeans. The Good European Point of View, Bd. 1, 2 (1903/4), 37. Ders., New Religious Formulae. in: Ders. (Hg.), Notes for Good Europeans. The Good European Point of View, Bd. 1, 3 (1904), 78. Ders., ebd. Ders., ebd., 36.
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Auch Politik und Wirtschaft seien vom schädlichen Einfluss des Christentums nicht unberührt geblieben: Die Demokratie, so Common, sei als Herrschaft der weitgehend ungebildeten Massen, die von Presse und Demagogen nach Gutdünken beeinflusst würden, als Regierungsform gefährlich. Ihr philosophischer Grundgedanke, der Utilitarismus, propagiere das größte Glück der größten Zahl, ohne Rücksicht auf den Wert oder Unwert der Individuen für die Gesellschaft. Er sei daher höchst ungerecht und nicht in der Lage, das tatsächliche kulturelle Potential einer Gesellschaft auszuschöpfen.23 – Den von Adam Smith entworfenen radikalen Wirtschaftsliberalismus kritisierte Common dahingehend, dass er weder zur größtmöglichen Produktionseffizienz noch zu einer gerechten Verteilung der Produktionsgüter führe, sondern einen neuen Geldadel hervorbringe und dabei der Ausbeutung und Massenarmut Tür und Tor öffne: „the wealth of the country is more and more controlled by an ignoble, ignorant, and unscrupulous class of Mammonworshippers, who practically rule the world, and exercise a most deteriorating influence on the human race“.24 Dazu führte Common Argumente von Marx ins Feld, distanzierte sich jedoch zugleich von dessen radikal sozialistischen Ideen und propagierte stattdessen eine „social aristocracy“25, in der „intelligent and honest ‚working men‘ will have their positions elevated, while unworthy characters may be degraded“.26 Dazu sei unter anderem eine Kontrolle der Eheschließungen27 und Beschränkung des freien Zugangs zu Bildung vonnöten.28 Mit letzterem ließe sich, so hoffte Common, ein höheres Unterrichtsniveau an den Bildungseinrichtungen durchsetzen. Insbesondere würde jedoch eine neue gesellschaftliche Führungselite gebraucht, die sich aus „sages and philosophers“ etablieren sollte, „those who know something of the conditions of social well-being, and are more anxious to conform to these conditions than to seek merely selfish gratification otherwise“.29 Wie bereits in The Eagle and the Serpent, rief Common zu diesem Zweck erneut zur Gründung einer philosophischen Vereinigung auf. Die Auf23 24 25
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Siehe: Ders., Defects of Popular Secularism, 46. Ders., ebd., 48. Sozialistisch angehauchte Bestrebungen zu einer Neuordnung der menschlichen Gesellschaft waren in jenen Jahrzehnten des Umbruchs in Großbritannien gang und gäbe: „the word ‚socialism‘ was in this country loosely used by (and applied to) innumerable separate movements, and it actually united them to some degree“ (Philip Mairet, A. R. Orage. A Memoir, London 1936, 40). Thomas Common, The New Outlook, in: Ders. (Hg.), Notes for Good Europeans, Bd. 1, 1 (1903), 8. Derartige ‚Zuchtbestrebungen‘ zur Beschränkung der Zahl Kranker, Behinderter oder Krimineller in der Bevölkerung waren damals in aller Munde und gingen oft weiter als von Common vorgeschlagen. Das 1913 in Großbritannien verabschiedete Mental Deficiency Bill (‚Gesetz über geistige Unzulänglichkeit‘) sah die Absonderung geistig Behinderter vor. In der Schweiz wurden aus eugenischen Gründen von 1892 bis 1970 Zwangssterilisationen vorgenommen. (Thomas Huonker, Diagnose: ,moralisch defekt‘. Kastration, Sterilisation und Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik und Psychiatrie 1890–1970, Zürich 2003.) Auch in den USA wurden von der Wende zum 20. Jahrhundert bis in die siebziger Jahre hinein rund 60000 arme, kranke, einfältige, kriminelle und farbige Männer und Frauen zwangssterilisiert, um die „Schaffung einer überlegenen nordischen Rasse“ zu bewerkstelligen. Die entsprechende Gesetzgebung wurde erst 2003 aufgehoben. (Edwin Black, War Against the Weak. Eugenics and America’s Campaign to Create a Master Race, New York 2004). Thomas Common, Defects of Popular Secularism, 51. Ders., The Functions of Philosophers, in: Ders. (Hg.), Notes for Good Europeans. The Good European Point of View, Bd. 1, 4 (1904), 113.
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gaben dieser „Organisation of Philosophers“30 sollten darin bestehen, das Bildungssystem zu gestalten, freie Debatten über Gegenwartsprobleme einzurichten, Berufssparten festzulegen und zu überwachen, eine gesellschaftliche Rangordnung zu implementieren, Eigentum nach Kriterien sozialer Verdienste umzuverteilen und Staatseinnamen sinnvoll zu investieren.31 Common bedauerte, dass Nietzsche keine klare Charakterisierung des höheren Menschentypus vorgenommen habe und holte das Versäumnis kurzerhand selbst nach: Auszeichnen sollten sich die Mitglieder jener Elite nicht durch die üblichen Kriterien für soziales Ansehen, wie etwa Kleidung, Wohlstand, gesellschaftliche Stellung, Intelligenz oder Beliebtheit32, sondern durch ihre Weltanschauung und Ziele.33 An dieser Stelle fasste Common die oben bereits ausgeführten Standpunkte als Gesinnungsmaßstab zusammen. Visionen einer gesellschaftlichen Elite, welche die öffentliche Meinung vertreten beziehungsweise steuern sollte, fanden sich damals in vielen Kreisen, angefangen bei Wladimir Iljitsch Lenins Avantgardepartei bis hin zu Walter Lippmanns class of experts. Eventuelle Übereinstimmungen und Unterschiede wären im Einzelfall zu untersuchen. Die in der neokonservativen amerikanischen Politik derzeit gelebte Variante einer die öffentliche Meinung durch Einflussnahme auf die Medien und staatliche Einschüchterung kontrollierenden Gruppe, die sich selbst über das Gesetz stellt, steht jedoch schon aufgrund ihrer wirtschaftlichen Verflechtungen mit Commons Utopie einer selbstlosen und integeren organisation of philosophers in Widerspruch. In diesem Sinne postulierte Common, ohne sich jedoch auf Erklärungen einzulassen, der Erste Weltkrieg habe seine Ursache darin, dass „Mammonism has been substituted for Morals almost universally“.34 Diese Wertesubstitution habe zur Folge, dass Besitz als solcher Anerkennung und damit politischen Einfluss verschaffe: eine kapitalistische Tendenz, die suggestiv durch die von Wohlhabenden kontrollierte mediale Meinungsmache noch verstärkt worden sei. Für dieses verhängnisvolle Phänomen sei der euphemistische Begriff der ‚politischen Ökonomie‘ in Umlauf gekommen. Unter solchen Vorzeichen der sozialen Ungerechtigkeit, die in allen kriegsbeteiligten Ländern gleichermaßen herrsche, sei auch die Abwesenheit des Krieges kein Frieden. Wenn England daher behaupte, man kämpfe für Freiheit, müsse, so Common, stets nachgefragt werden: „‚Freedom for whom?‘ For the notion of universal freedom is a self-contradiction.“35 Die Freiheit der vielen Schurken in der Politik, Presse und Religion bedeute nämlich Unfreiheit für die Aufrichtigen und Klugen. Daher sei stets Vorsicht geboten, wenn die Freiheit als Schlachtruf verwendet werde. In Parenthese sei angemerkt, dass diese Warnung knapp ein Jahrhundert später Aufmerksamkeit verdient, da der Präsident der Vereinigten Staaten einen Krieg mit globalen Ausmaßen und nahezu allen Mitteln mit der Begründung führt: „We will defend our freedom. We will bring freedom to others and we will prevail.“36 30 31 32 33 34 35 36
Ders., The Organisation of Philosophers, 58–61. Ders., The Functions of Philosophers, 115ff. Ders., Who is the Good Man?, in: Ders. (Hg.), The Good European Point of View, Bd. 3, 11 (1914), 69f. Ders., Characteristics of Higher Men, in: Ders. (Hg.), The Good European Point of View, Bd. 2, 8 (1906), 122. Ders., Thoughts about the War, 123. Thomas Common, Thoughts on the War, in: Ders. (Hg.), The Good European, Bd. 4, 13 (1916), 23. George W. Bush in seiner Rede an die Nation vom 19.03.03.
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Commons Bestrebungen im Hinblick auf eine organisation of philosophers ließen sich in der von ihm gewünschten Form jedenfalls nicht durchsetzen. Was seine diesbezüglichen Pläne jedoch auszeichnete, war ihre übernationale, ja sogar globale Ausrichtung: „It is needless to say that a society of philosophers, if organised, will be international.“37 Im Titel seiner Zeitschrift wird ebenfalls Commons übernationale, zunächst europäische Orientierung deutlich. Er bezog sich auf ein Zitat Nietzsches aus der Fröhlichen Wissenschaft: „Wir sind, mit Einem Worte – und es soll unser Ehrenwort sein! – gute Europäer, die Erben Europa’s, die reichen, überhäuften, aber auch überreich verpflichteten Erben von Jahrtausenden des europäischen Geistes“ (KSA, FW, 3, 631). Aus diesem Ansinnen heraus strebte Common auch eine gemeinsame internationale Sprache an: „The subject of International Language is naturally of great interest to us would-be Good Europeans – we look to it as a means for facilitating our intercourse in the future.“38 Hier kamen ihm seine eigenen früheren linguistischen Studien zugute. In seiner Zeitschrift veröffentlichte er mehrere linguistische Abhandlungen39 und dokumentierte entsprechende Entwicklungen bei den Esperantisten und ähnlichen Bewegungen.40 Während im Deutschen Kaiserreich spätestens zu Beginn des Ersten Weltkriegs Visionen über einen europäischen Staatenbund weite Kreise zogen, war es in England ungleich schwerer, europäische Denker auszumachen: „Die Briten hatten als Nachfahren der Niederländer ihre Tradition als ‚Seeschäumer‘ ausgebildet, d.h. als vom Meer her denkende Nation. […] Einzig bei den britischen Nietzscheanern fällt die Europa-Orientierung auf“41, schreibt der Historiker Peter Hoeres. Die Europa-Vorstellungen der britischen Nietzsche-Anhänger waren jedoch nicht homogen. Nietzsche selbst hatte den Staat als „das kälteste aller kalten Ungeheuer“ (KSA, Za, 4, 61) gesehen und gemahnt: „[d]ort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist“ (ebd., 63). Eine ihm gemäße europäische Orientierung hätte sich demnach von allem Staatswesen fernhalten müssen. Commons Vision einer social aristocracy beruhte aber auf autoritären staatlichen Strukturen. Außerdem war Nietzsches europäisches Denken frei von Nationalismus und Rassendünkel (vgl. KSA, MA-1, Aph. 475, 2, 309). Common hegte jedoch durchaus Vorbehalte gegen Nationen oder Rassen. Im Hin37 38 39
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Thomas Common, The Organisation of Philosophers, 59. Ders., International Language, in: Ders. (Hg.), The Good European Point of View, Bd. 3, 11 (1914), 75. Ders., The Classification of Words, in: Ders. (Hg.), Notes for Good Europeans. The Good European Point of View, Bd. 1, 3 (1904); Ders. Word Classification – Solving the Problem, in: Ders. (Hg.), The Good European Point of View, Bd. 3, 12 (1915); Ders. Word Classification (continued), in: Ders. (Hg.), The Good European Point of View, Bd. 3, 13 (1916); Ders. Word Classification – Further Improvements, in: Mary Elder (Common) (Hg.), The Good European, Memorial Edition (1920), 8ff. Ders., Esperantists and Nietzsche, in: Ders. (Hg.), The Good European Point of View, Bd. 2, 5 (1906), 28; Ders., Short Notes, in: Ders. (Hg.), The Good European Point of View, Bd. 2, 6 (1906); Ders., International Language, in: Ders. (Hg.), The Good European Point of View, Bd. 2, 8 (1906), 127f.; Ders., Nietzschean and other Literature, in: Ders. (Hg.), The Good European Point of View, Bd. 3, 9 (1908); Ders., International Language, in: Ders. (Hg.), The Good European Point of View, Bd. 3, 11 (1914), 75ff. Peter Hoeres, Nationalismus, Europäismus und Universalismus, in: Matthias Schöning u. Stefan Seidendorf (Hg.), Reichweiten der Verständigung. Intellektuellendiskurse zwischen Nation und Europa, Heidelberg 2006, 123.
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blick auf die Juden zitierte er ausgiebig den Antisemiten Houston Stewart Chamberlain42 und kam zu dem Schluss: „we are forced to ejaculate […] ‚Prodigious!‘“43 Auch war er bisweilen gegen die Deutschen voreingenommen und sprach von „German inferiority“.44 Damit unterlag Common derselben Aporie, die stets im Zusammenhang mit dem Nationalismus droht. An seinem Beispiel wird deutlich, dass „auch der Europäismus dem Mechanismus von In- und Out-Group, von Inklusion und Exklusion nicht entkommt“.45 Das europäische Denken begegnet, wie jedes Denken in Kategorien, einem Mengenlehrenproblem, insofern es zur Definition und Präzisierung des Eigenen stets des Fremden bedarf, so dass „jeder supranationale Zusammenschluss selbst wieder in einen FreundFeind-Mechanismus eingebunden [ist]“.46 Einer im Umkreis Commons, der dieser Zwickmühle nicht erlag, war Oscar Levy. Für ihn war klar, „dass es sich in Europa nicht um den alten Nationalismus oder den alten Inter-Nationalismus handeln könne, sondern um einen neuen ‚sur nationalisme‘“.47 Damit wusste er sich im Einvernehmen mit Nietzsche, für den der ‚gute Europäer‘ das „Über-Nationale“ (KSA, NF, 11, 229) verkörperte. Mit anderen Worten, der Europäer der Zukunft identifiziere sich gerade nicht mehr mit einem Staat, einem Staatenbund oder gar einer globalisierten Gesellschaft, sondern denke autonom. In diesem Sinne kann mit gutem Recht gesagt werden: „Den Idealtypus eines ‚guten Europäers‘ im Sinne Nietzsches stellte Oskar [sic] Levy (1867–1946) dar.“48 Der in Pommern geborene, 1894 nach London ausgewanderte Mediziner Levy war derjenige, der nach dem Scheitern der Editionsarbeit Commons und Tilles die Herausgabe der Werke Nietzsches in England neu in Angriff nahm und in den Jahren 1909 bis 1913 in achtzehn Bänden sämtliche Werke Nietzsches auf eigene Kosten in englischer Übersetzung veröffentlichte. Das geschah zunächst mit dem Einverständnis und der vollen Unterstützung Commons. Im Frühjahr 1908 berichtete Common seinen Lesern froh von „the rapidity with which the publication of Nietzsche’s works has been pushed on, now that Dr. Oscar Levy has taken the matter in hand“.49 Das war auch der Grund dafür, dass er auf eine Veröffentlichung des Teils IV von Thus spake Zarathustra in der Zeitschrift verzichten konnte. Common war sich zu diesem Zeitpunkt dessen sehr bewusst, dass Levy „has helped us considerably“.50 Und diese Hilfe bezog sich keineswegs nur auf die Herausgabe der Werke Nietzsches. Levy war im Jahr 1906 im British Museum zufällig auf Commons Notes for Good 42 43 44 45 46 47
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Houston Stewart Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, München 1899. Thomas Common, The Question of the Jews, in: Ders. (Hg.), The Good European Point of View, Bd. 3, 12 (1915), 119. Ders. Thoughts about the War, 123, Fn. Peter Hoeres, Nationalismus, Europäismus und Universalismus, 132. Ders., ebd., 133. Defensor Fidei, alias Oscar Levy, Nietzsche-Feier in Nizza, in: Oscar Levy, Nietzsche verstehen. Essays aus dem Exil 1913–1937. Gesammelte Schriften und Briefe, hg. von Steffen Dietzsch, Leila Kais, Bd. 1, 255. Peter Hoeres, Nationalismus, Europäismus und Universalismus, 123. Thomas Common, Short Notes, in: Ders. (Hg.), The Good European Point of View, Bd. 3, 10 (1908), 64. Ders., Short Notes, 64.
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Europeans gestoßen. Unmittelbar nach dieser ‚Entdeckung‘ bot er Common finanzielle Unterstützung für die Zeitschrift an: „There is everything we want so badly in it: courage, noblesse, wisdom and a knowledge of what the world needs […] No wonder ‚endowment is lacking for its support‘ – but this can be remedied. I am a rich man, for a ‚literateur‘, I mean, and will help you with any sum I can spare.“51 Insbesondere begeisterte sich Levy für Commons Pläne in Bezug auf eine organisation of philosophers. Auch hier kam es Levy aber darauf an, dass die Mitglieder der Organisation sich durch eine autonome Lebensart Unabhängigkeit im Denken wahren müssten. Im Sommer 1906 veröffentlichte Common einen Leserbrief Levys, in dem dieser einstimmte: „a new kind of Templar-Order should be organised; and if I had anything to say, I should appeal foremost to people not too much tied to the actual state of society: people who are either not married, or not in government or university employment, or who live as exiles out of their country: only under these favourable circumstances can any individuality be left! […] Only in the way you indicate can new men spring up who may lead us out of our present anarchy. […] But how difficult it will be to keep the smart business people out of that! Anyhow, it should be tried … Compared with this organisation all other subjects are of minor importance – don’t you think so? Even the translation of Nietzsche’s works, for this would be a translation of his ideas into reality! Do try to have this most in view: it is really the only important thing! And your review must be the point round which crystallisation takes place!“52 Im Gegenzug für seine Unterstützung wies Common in seiner Zeitschrift auf die Publikationen Levys hin.53 Das Verhältnis der beiden Männer blieb bis Mitte 1911 scheinbar ungetrübt. Dann jedoch richtete Common, zunächst brieflich und später öffentlich in seiner Zeitschrift, Vorwürfe bezüglich der Rechte an der englischen Nietzsche-Ausgabe gegen Levy. Unter der Überschrift ‚Nietzschean Business Blundering‘ rechnete Common Ostern 1914 zunächst mit Elisabeth Förster-Nietzsche ab, die im Jahr 1908 bestehende Verträge zwischen dem Verlagshaus Naumann und ihm beziehungsweise Haussmann für ungültig erklärt und einen neuen Urheberrechtsvertrag mit Levy abgeschlossen hatte. In der darauf folgenden Ausgabe griff Common Levy direkt an. Unter der Überschrift Uprightness or Unscrupulousness betonte er zunächst, dass er „wish to acknowledge whatever merits Dr Levy possesses and whatever help he has given to the Nietzschean cause in England or elsewhere“54, widersprach dann aber vehement dessen Darstellung der Entstehung der Nietzsche-Edition in England, insbesondere der Behauptung, dass die frühen Nietzsche-Ausgaben auf wenig Resonanz gestoßen und die Pläne für eine Gesamtausgabe deshalb zunächst zum Stillstand gekommen seien. Common schrieb: „As Dr Levy knows very well, the main cause of the delay has been Mrs Förster-Nietzsche, the unworthy sister of the philosopher“, die „with almost witchlike perversity insisted 51 52 53
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Oscar Levy an Thomas Common, Brief v. 24.05.1906, im Privatbesitz von Maud Rosenthal, Oxford. Ders., Leserbrief, in: Thomas Common (Hg.), The Good European Point of View, Bd. 2, 6 (1906), 60f. So auf seinen Gedichtband Aus dem Exil: Verse eines Entkommenen, London 1907 (Thomas Common, Nietzschean Literature and Lectures, in: Ders. [Hg.], The Good European Point of View, Bd. 2, 5 [1906], 93). Thomas Common, Uprightness or Unscrupulousness, in: Ders. (Hg.), The Good European Point of View, Bd. 3, 12 (1915), 112.
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on mismanaging the affairs of the Nietzsche Archive.“55 Dann behauptete er wiederum, er selbst hätte seine eigenen Bemühungen um eine englische Gesamtausgabe der Werke Nietzsches in naher Zukunft umsetzen können, „had not Dr Levy come forward, professing to be anxious to help us“.56 Dabei hatte Common die Edition Levys selbst über lange Zeit hinweg tatkräftig unterstützt und erhielt für seine Leistungen von Levy ein Honorar.57 Auf einmal bedauerte er jedoch, dass „the share we had in this undertaking monopolised so much of our time that we could not then give attention to the little periodical“58 und hatte das Gefühl, sich zu sehr für „other people’s [gemeint waren eben Levy und seine Mitarbeiter; L. K.] Nietzschean tasks“59 verausgabt zu haben. In einem für Levy überraschenden Sinneswandel warf Common ihm vor, sein Vertrauen durch den neuen Vertragsabschluss skrupellos missbraucht60, seine Arbeitskraft ausgenutzt61 und unbrauchbare Übersetzungen veröffentlicht zu haben. Er sprach in diesem Zusammenhang sogar von einer „inferior, careless translation of one of his [Levys; L. K.] creatures“.62 Auch zog er Levys Nietzsche-Lesart in Misskredit, indem er folgendes Zitat abdruckte, ohne jedoch die Quelle zu nennen: „Everything that I have read of his (Dr Levy’s) goes to convince me that he has not the slightest sympathy with the real Nietzsche, nor any intuition of what he meant and how he felt. Dr Levy’s doctrine seems to me to be a religion of simple unscrupulousness, which is not Nietzscheanism at all, but only the vulgarest misunderstanding from which Nietzsche has suffered.“63 Seine Lossagung von Levy kam einer Zäsur in der Ausrichtung seiner Zeitschrift gleich. Dementsprechend stellte Common der Ausgabe von Ostern 1914 Reintroductory Notes voran. Darin beklagte er nicht nur, viel Zeit mit der englischen Nietzsche-Edition und mit der Frage einer internationalen Sprache vertan zu haben,64 sondern distanzierte sich sogar von einigen Aspekten der Philosophie Nietzsches: „We are now completely absolved from all further obligation to be silent about the weak points in Nietzsche’s philosophy, which we hushed up formerly.“65 Insbesondere bezeichnete er Nietzsches Vorstellung einer ‚ewigen Wiederkehr des Gleichen‘ als haltlos, töricht und absurd,66 seine Nomenkla55 56 57
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Ders., ebd., 114. Ders., ebd., 116. Am 12.09.1911 schrieb Thomas Common an Oscar Levy nach Erhalt eines Schecks für die Neuausgabe von dessen Übersetzung von Thus spake Zarathustra im Rahmen der Edition Levys: „Philosophy after all is apparently going to be profitable to me – a rather unusual circumstance for those who devote themselves to philosophy – I do hope it will be profitable to you also.“ (Thomas Common an Oscar Levy, unveröff. Brief vom 12.09.1911, Oscar-Levy-Archiv, Sils-Maria) Thomas Common, Reintroductory Notes, in: Ders. (Hg.), The Good European Point of View, Bd. 3, 11 (1914), 65. Ders., ebd., 66. Ders., Uprightness or Unscrupulousness, 116. Ders., ebd., 118. Ders., 116. Ders., ebd., 118. Ders., Reintroductory Notes, 65. Ders., ebd., 66. Ders., ebd.
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tur, vor allem in Bezug auf Fragen der Moral, als fehlerhaft und eine „everlasting source of confusion“67, die dazu führe, dass „Nietzsche could not but encounter the hostility, or at least the indifference, of many who would otherwise have been his friends“.68 Auch habe Nietzsche insgesamt viel, allzu viel geschrieben, seine Gedanken seien in weiten Teilen nicht gründlich durchdacht oder wiederum unvollständig zu Papier gebracht worden. Vor allem hätte Common sich „more definite and unambiguous answers to such questions as, Who is the Good Man?“69 gewünscht. „We require in the first place some definite notions with regard to the fundamental principles of moral and social science, as a preliminary to practical measures for the readjustment of social conditions“70, schrieb er verbittert. Und genau das sollte den neuen Schwerpunkt seiner Zeitschrift bilden, denn solange derartige Standards fehlten und Nietzsches Philosophie diesbezüglich nicht eindeutig ausgelegt sei, „satisfactory steps cannot well be taken to form a union of Good Europeans“.71 Daraus wird noch einmal ersichtlich, dass Common, anders als Levy, den Perspektivismus und Individualismus in der Philosophie Nietzsches, die allgemeingültige ethische oder politische Aussagen ausschließen („Mein Urtheil is mein Urtheil: dazu hat nicht leicht auch ein Anderer das Recht“ (KSA, JGB, 6, 253; vgl. auch: KSA, NF, 12, 202)) und sich sogar einer schablonenhaften Verwendung von Begrifflichkeiten entziehen, nicht würdigte. Damit bildete Common in England keine Ausnahme, wie sich an dem Ergebnis einer Analyse von Paul Hultsch ablesen lässt: „Mir scheint, daß wir mit der Ablehnung von Nietzsches extremem Individualismus auf eine typisch englische Verhaltensweise gegenüber Nietzsche gestoßen sind.“72 Dennoch bleibt abschließend festzuhalten, dass Common dadurch, dass er mit seiner Zeitschrift das Thema ‚Europa‘ zur Zeit des ‚Great War‘ in England zur Sprache brachte, einen Vermittlungsprozess anstieß, der wiederum von Levy und anderen aufgegriffen und fortgeführt wurde, so dass heute festgestellt werden kann: „Die Europa-Orientierung Levys und der britischen Nietzscheaner relativierte das deutsche Feindbild. […] Er hoffte auf eine geistige Elite, die ein starkes, vereintes Europa schaffen werde.“73
67 68 69 70 71 72 73
Ders., ebd., 67. Ders., ebd. Ders., ebd., 68. Ders., ebd. 69. Ders., Uprightness or Unscrupulousness, 109. Paul Hultsch, Das Denken Nietzsches in seiner Bedeutung für England, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, 26 (1938), 372. Peter Hoeres, Nationalismus, Europäismus und Universalismus, 127.
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Nietzsche’s Artistic Ideal of Europe: The Birth of Tragedy in the Spirit of Richard Wagner’s Centenary Beethoven-essay
Introduction In 1886, when Nietzsche was writing new prefaces to his books for the reprint, he also wrote a new foreword to The Birth of Tragedy.1 In that foreword, entitled ‚Attempt at Self-Criticism‘, he admitted: „I regret […] that I had attached hopes to things where there was nothing to hope for, where everything pointed all too clearly to an end. And that I should have begun to invent stories about the ‚German character‘, on the basis of the latest German music, as if it were about to discover or re-discover itself – and this at a time when the German spirit, which had recently shown the will to rule Europe and the strength to lead Europe, had abdicated, finally and definitively“ (BT, 10f.) („ich bedauere […] dass ich Hoffnungen anknüpfte, wo Nichts zu hoffen war, wo Alles allzudeutlich auf ein Ende hinwies! Dass ich, auf Grund der deutschen letzten Musik, vom ‚deutschen Wesen‘ zu fabeln begann […] und das zu einer Zeit, wo der deutsche Geist, der nicht vor Langem noch den Willen zur Herrschaft über Europa, die Kraft zur Führung Europa’s gehabt hatte, eben letztwillig und endgültig abdankte“, KSA, GT, 1, 20). This fragment summarizes in a nutshell the thesis I want to defend in this article: The Birth of Tragedy (1872) is motivated by the cultural goal to save Europe from artistic decadence. In that book, Friedrich Nietzsche expressed his expectation that Richard Wagner’s music-drama would lead Europe out of cultural decadence due to the fact that it was a ‚Greek‘ form of art. I shall argue that this cultural expectation forms the directive of The Birth of Tragedy. Nietzsche interpreted the fact that a genius like Wagner was born in Germany as a sign that Germany had a special vocation with regard to European culture (KSB, 4, 153f.). This vocation would be what Wagner classified, in his celebration essay Beethoven of 1870, to lead Europe out of „the jungle of depraved paradise“2 and, in a letter to Nietzsche, to spawn „the great Renaissance“ (KGB II/2, 145f.). 1 2
I thank Marian Counihan for her comments on and corrections of an earlier version of this text. Richard Wagner, Beethoven, in: Dieter Borchmeyer (ed.), Richard Wagner’s Dichtungen und Schriften. Bd. IX, 38–109 [henceforth: DS IX and page-number]. All English translations from this text and from secondary literature are mine. English translations from Nietzsche’s texts are according to the translations at hand. English abbreviations and translations of Nietzsche’s works: AOM = Assorted Opinions and Maxims (first part of HH II); ASC = Attempt at Self-Criticism (1886 Preface
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In the literature, very little notion has been given to Nietzsche’s artistic view of Europe, although his concern for Europe was preponderantly with European culture and art.3 Moreover, whereas studies concerning Nietzsche and Europe generally focus on Nietzsche’s later works, especially from Thus Spoke Zarathustra onwards, I concentrate on Nietzsche’s cultural ideal for Europe as it comes to the fore in The Birth of Tragedy. I therefore concentrate on the relationship between Nietzsche’s (musical) aesthetics and his philosophy of culture while interrogating his view of Europe.4 Of this aesthetics and philosophy of culture, Wagner was an important source and centre. Therefore, I examine in more detail the artistic ideal for Europe upheld jointly by Nietzsche and Wagner, and the ‚cultural war‘ (‚Kulturkampf‘) they embarked together. I begin my examination with an analysis of Wagner’s philosophy of culture and music as expounded in Beethoven. Then, I discuss The Birth of Tragedy, focusing on Nietzsche’s defence of Wagner’s music-drama as the saviour of European cultural decadence. Next, in discussing Nietzsche’s plea for the aestheticization of culture, I point out the differences in Nietzsche’s and Wagner’s views of the ‚cultural war‘ that must be waged to ‚save‘ Europe out of the deceitful hands of France and Italy.
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to BT); BGE = Beyond Good and Evil. Prelude to a Philosophy of the Future, ed. by Rolf-Peter Horstmann, Judith Norman, transl. by Judith Norman, Cambridge, New York, Melbourne 2002; BT = The Birth of Tragedy, ed. by Raymond Geuss, Ronald Speirs, transl. by Ronald Speirs, Cambridge, New York, Melbourne 1999; CW = The Case of Wagner. in: Friedrich Nietzsche, The Anti-Christ, Ecce Homo, Twilight of the Idols and Other Writings, ed. by Aaron Ridley, Judith Norman, transl. by Judith Norman, Cambridge, New York, Melbourne 2005; EH = Ecce Homo in: Friedrich Nietzsche, The Anti-Christ, Ecce Homo, Twilight of the Idols and Other Writings, ed. by Aaron Ridley, Judith Norman, transl. by Judith Norman, Cambridge, New York, Melbourne 2005; GS = The Gay Science. With a Prelude in German Rhymes and an Appendix of Songs, ed. by Bernard Williams, transl. by Josefine Nauckhoff, Cambridge, New York, Melbourne 2001; HH I and II = Human all too Human. A Book for Free Spirits, transl. by R. J. Hollingdale. Cambridge, New York, Melbourne 1986; WS = The Wanderer and his Shadow (second part of HH II). Fritz Krökel, Europas Selbstbesinnung durch Nietzsche. Ihre Vorbereitung bei den französischen Moralisten (München 1929); H. L. Visser, De goede Europeaan (Zutphen 1933). Seventy years later, the interest in Nietzsche’s view of Europe was stirred again, given the heap of publications from the nineties onwards: Elisabeth Kuhn, Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus, Berlin/New York 1992; Manfred Riedel, Die Perspektive Europas, Nietzsche in unserer Zeit, in: Volker Gerhardt, Norbert Herold (ed.), Perspektiven des Perspektivismus, Würzburg 1992; Nicholas Martin, „We Good Europeans“: Nietzsche’s New Europe in „Beyond Good and Evil“, in: History of European Ideas, 20 (1–3) 1995; David Farrell Krell, Donald L. Bates, The Good European: Nietzsche’s Work Sites in Word and Image, Chicago 1997; Harald Seubert, Der schwierige Weg zum guten Europäer: Europäische Visionen bei Hegel und Nietzsche, in: Europavisionen im 19. Jahrhundert: Vorstellungen von Europa in Literatur und Kunst, Geschichte & Philosophie, Würzburg 1999; Ralf Witzler, Europa im Denken Nietzsches, Würzburg 2001; Georges Goedert, Uschi Nussbaumer-Benz (ed.), Nietzsche und die Kultur – ein Beitrag zu Europa?, Hildesheim, Zürich, New York 2002; Stefan Elbe, Europe. A Nietzschean Perspective, London, New York 2003; Marco Brusotti‚ „Europäisch und Über-Europäisch“. Nietzsches Blick aus der Ferne, in: Tijdschrift voor Filosofie, 66 (2004). Only Elisabeth Kuhn, Die Gefährten Zarathustras in Nietzsches gutem Europa and Marco Brusotti, Europäisch und Über-Europäisch specifically ask what kind of music would suit Nietzsche’s ideas concerning Europe.
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This will bring me to the conclusion that Wagner and Nietzsche wanted to uplift European culture by accomplishing the cultural war Johann Wolfgang Goethe and Friedrich Schiller had started on the one hand, but also that Wagner, according to Nietzsche’s standards, was too moralistic or ‚Socratic‘ to accomplish the aestheticization of culture. The general view has it that Nietzsche was a one-dimensional Wagner-enthusiast in the early seventies, but that the influence of Beethoven on The Birth of Tragedy was not as large as Nietzsche claimed.5 My examination leads me to the reversion of this view: Nietzsche’s Wagner-enthusiasm was tempered by what I call ‚secret Wagner-scepticism‘, while the theoretical influence of Beethoven, especially concerning the diagnosis of modern European culture, was much deeper than realized until today.
Wagner’s conception of modern information-society as ‚paradise lost‘ Wagner wrote his essay on Ludwig von Beethoven, commemorating the composer’s hundredth birthday, while Germany and France were waging the Franco-Prussian War (1870/71), and Prussia was close to victory.6 However, on Wagner’s view, there was another war to be waged. Wagner hoped that the military victory would invoke cultural supremacy as well. France had been dominating European culture for about two hundred years, and that had not done Europe much good, according to him. In fact, Wagner abominated the dictation of the French, superficial taste in Europe, as it, to him, did not exhibit a truly cultural, but rather a pseudo-cultural and weakening influence. A similarly negative view of French art and culture had been ruling German aesthetics for decades by then. Goethe and Schiller’s ‚cultural war‘ (‚Kulturkampf‘), which they fought in the decade of ‚Weimar Classicism‘ (marked by the year they met, 1794, and the year Schiller died, in 1805) consisted in the development of a theatrical aesthetics in opposition to French naturalistic theatre, and fierce resistance to the subjectivity of Romantic poetry. Both art forms never reached the symbolic or general level of the ‚objective‘, according to Goethe and Schiller, but remained on the superficial level of the particular and subjective only.7 In On the Naïve and the Sentimental in Literature (Ueber naive und sentimentalische Dichtung), Schiller wrote the French off as the nation „which has gone farthest towards unnaturalness“.8 Wagner and Nietzsche adopted this idea and, in agreement with Arthur Schopenhauer’s metaphysical division of noumenal ‚Will‘ and phenomenal ‚reality‘, supplied it with a metaphysical touch by interpreting the French superficiality as a matter 5 6
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Roger Hollinrake, Nietzsche, Wagner, and the Philosophy of Pessimism, London 1982, 174. Richard Wagner, Beethoven, 9ff. Throughout his career, Wagner had reflected on Beethoven’s music. The essay discussed here, however, is by far the most important one, as it is not only an essay on Beethoven, but also an exposé of Wagner’s own ideas on music and culture, and their intimate relation. It discusses the cultural importance of Beethoven’s music to Germany and Europe and in this context formulates the musical aesthetics Wagner sees embodied in Beethoven’s œuvre. See for a longer account on the importance of reaching the symbolic level in art to Wagner and Nietzsche my article The Symbolization of Culture: Nietzsche in the Footsteps of Goethe, Schiller, Schopenhauer, and Wagner, in: Paul Bishop, Roger H. Stephenson (ed.), Cultural Studies and the Symbolic 2, Leeds 2006. Friedrich Schiller, On the Naïve and Sentimental in Literature, Transl. Helen Watanabe-O’Kelly, Manchester 1981, 34.
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of sticking to the empirical world of individuality and, hence, lacking metaphysical depth and universal evocation. In order to substantiate his view of French culture as a pseudoculture, Wagner points to French fashion and French journalism. They are evidence, he contends, that the commercial spirit and ‚the principle of novelty‘ rule French art and culture. The French people are guided by the desire for ‚new‘, fashionable, and spectacular things, hopping from trend to trend. The Frenchman, according to Wagner „is entirely ‚modern‘ […], totally ‚News‘“ („durch und durch ‚modern‘ […] völlig ‚Journal‘“, DS, IX, 101). Wagner traces the French or ‚Roman tendency‘ to superficiality to the huge decline in artistic taste that Europe had already been suffering for several centuries. This decline originated in the augmenting influence of ‚plasticity‘ in Western art, according to him, which had started with the invention of the art of printing (in Western Europe around 1455 by Johannes Gutenberg). Before this time, human art and culture were based on ‚myth‘ or ‚poetry‘, Wagner maintains, because humankind reflected on its relationship to the world in myths, in the artistic creation of spoken-word stories. Wagner identifies this mythical or poetic state with ‚paradise‘, a paradise that went missing with the gradual domination of the written word. Printed text, he argues, caused a decrease of poetical powers. Hence, poetry increasingly became a matter of rhetoric and dialectics, resulting eventually in the fact that contemporary literature is created primarily in favour of the readers. The art of printing created a „lexicomania“ („Buchstaben-Krankheit“ DS IX, 99), as Wagner marks it, which is currently best experienced in the growth of journalism, particularly in France. The increase of daily magazines jeopardizes the human spirit, because, instead of narrating poetic myths that convey one deep truth supported by the whole community, the magazines are only interested in promoting public opinions, Wagner states. Hence, ephemeral and superficial public opinions structure present society. In Wagner’s view, Modernity began when the „shift of the poetic world in a newspaper-literary world“ („Umwandlung der poetischen Welt in eine journal-literarische Welt“ ibid., 99) took place, thus with the invention of printing. What Wagner tried to say, may be paraphrased with the help of Walter Benjamin, who lamented the loss of myth too: „Every morning brings us the news of the globe, yet we are poor in noteworthy stories. This is because no event any longer comes to us without already being shot through with explanation. In other words, by now almost nothing that happens benefits storytelling; almost everything benefits information“.9 According to Walter Benjamin and Wagner, ‚the word‘ must be kept free from its task to inform in order to preserve the ‚poetical freedom‘, to use a Schillerian term. However, according to Wagner, the word must also be empowered by music in order to gain depth and lasting truth. Benjamin’s and Wagner’s plea for the preservation of the poetic realm boils down to a plea for a more imaginative culture, a culture rich in fantasy. Indeed, information does not leave anything to the imagination, because that is exactly the purpose of informing. The overriding aim in the process of information is to tell the truth in a manner as detailed and exact as possible, and thus to rule out all illusion and whatever may jeopardize the truth. A world as ‚information society‘, in which art and the imagination taste defeat against ‚truth‘, and where ‚truth‘ 9
Walter Benjamin, The Storyteller. Reflections on the Works of Nikolai Leskov, in: Illuminations, London 1999, 89.
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moreover is not understood as the essence of all life but as ‚news‘, the latest events, is what Wagner feared and fought. This information society is therefore what he must have had in mind when he called the modern world „the jungle of paradise lost“ („die Wildnis des entarteten Paradieses“ ibid., 109).10 ‚Paradise‘, we may deduce inversely, thus is the ‚mythical society‘ in which art and the imagination rule, and in which truth, understood as the essence of life, forms the centrifugal point of every human expression.
The model of Greek mythical society as paradise To find a model of the pre-lexicomaniac, mythical world, Wagner harked back to Greek Antiquity. Based on myths as the Greek experience of life was, it abounded in spiritual depth. In contrast, every kind of spiritual depth is considered to be in danger today. However, the modern world has become so remote from the ideal Greek world that we have hardly any idea of the divine, sublime quality of Greek art, Wagner argues. We do not possess any means to measure its magnitude but Italian Renaissance art, Wagner remarks, which, due to its Christian and musical spirit, gives some indication of the Greek genius: „The Christian spirit revived the spirit of music. She cleared the eye of the Italian painter, and inspired his power of observation. […] Almost all these great painters were musicians, and it is the spirit of music, which makes us forget that we are seeing, as we sink into the view of their holy men and martyrs“ („Der Geist des Christentums war es, der die Seele der Musik neu wiederbelebte. Sie verklärte das Auge des italienischen Malers, und begeisterte seine Sehkraft […]. Diese großen Maler waren fast alle Musiker, und der Geist der Musik ist es, de runs beim Versenken in den Anblick ihrer Heiligen und Märtyrer vergessen läßt, daß wir sehen“ ibid., 104f.). This intimate view of the relationship between music and picture, in which music inspires the power of vision, is one of the richest and most convincing ideas of Wagner’s lengthy Beethoven-essay. It resurfaces when Wagner sets the ideal for his own musicdrama, in which the drama is so much empowered by music that it renders the ‚idea‘ of things in place of the particularity of a feeling, happening, or object. In Greek society, the musical spirit and myth pervaded every aspect of society, Wagner says. Therefore, this musical and mythical society was ‚paradise‘: „It must seem to us that the music of the Greeks permeated the world of appearances intensely, and melted together with the laws of her perceptibility. […] the architect built after the rhythmic laws, the sculptor sculpted the human body after the laws of harmony, the laws of melody shaped the poet into a singer, and the drama projected itself from the chorus onto the stage, everywhere we see how the inner law, which is only comprehensible from the spirit of music determines the outer law that orders the world of appearances: […] Indeed, the laws of music guided the war organization, the battle […]. – But this paradise was lost: the primal source of the world’s movement dried up“ („Uns muß es dünken, daß die Musik der Hellenen die Welt der Erscheinung selbst innig durchdrang, und mit den Gesetzen ihrer Wahrnehmbarkeit sich verschmolz. […] nach den Gesetzen der Eurhythmie baute der Architekt, nach de10
In his Schopenhauer-enthusiasm, Wagner also calls this superficial world ‚the world of appearances‘, then equating ‚the world of appearances‘ with ‚paradise lost‘ (DS IX, 73).
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nen der Harmonie erfaßte der Bildner die menschliche Gestalt; die Regeln der Melodik machten den Dichter zum Sänger, und aus dem Chorgesange projizierte sich das Drama auf die Bühne, wir sehen überall das innere, nur aus dem Geiste der Musik zu verstehende Gesetz, das äußere, die Welt der Anschaulichkeit ordnende Gesetz bestimmen; […] ja die Kriegsordnung, die Schlacht, leiteten die Gesetze der Musik […]. – Aber das Paradies ging verloren; der Urquell der Bewegung einer Welt versiechte“ ibid., 104). This quotation not only indicates that Wagner understood the Greek world as a paradise, but also that his aim was to lead modern society out of its unartistic, superficial state of ‚information‘ back to its original, paradisiacal, mythical state by infusing it with music. Wagner’s ideal of a new „great Renaissance“11 rested on the success of reforming music by enriching the existing musical culture with metaphysical truth and myth. Wagner saw it as his task to fulfil the cultural war started by Goethe and Schiller against superficiality by way of continuing Beethoven’s heritage and raise its level by completing it with drama. Within this scope, Wagner specifically has in mind Beethoven’s Pastoral and Choral symphonies, because they return humankind to paradise just as Greek myth did.
The experience of paradise in Beethoven’s music In Wagner’s view, the Roman tendency was not only ruling in France, but also in Italian music, and, because of the general popularity of French fashion and Italian opera in Europe, all over Europe. According to him, this had caused a decline of European culture, that could only be stopped by a ‚German Reformation‘. German religious and artistic ‚Reformations‘ had saved Europe from falling even deeper before, he recalls: „We know that it was the ‚over the mountains‘ [in Italy, MP] much feared and hated ‚German spirit‘, which everywhere, also in the field of art, met the artistically conducted decadence of the spirit of European nations, in a redemptive manner“ („Wir wissen, daß der ‚über den Bergen‘ so sehr gefürchtete und gehaßte ‚deutsche Geist‘ es war, welcher überall, so auch auf dem Gebiete der Kunst, dieser künstlich geleiteten Verderbnis des europäischen Völkergeistes erlösend entgegentrat“ DS IX, 63). That Italian music lacks depth, is a matter of natural bent, according to Wagner, however fortified by the fact that Italy is a catholic country. Wagner argues that Italians due to their Catholicism are ‚sceptical‘, which he strongly defines as ‚hostility to the truth‘ rather than as doubting the possibility of a rational foundation of truth. This lack of interest in the truth made Italians ‚frivolous‘, he continues in a peculiar reasoning, meaning that their love of decoration and spectacle prevails over the content: „on the foundation of a falsified history, a falsified science, and a falsified religion [through Catholicism, MP], was a by nature joyful and happy people [the Italians, MP] educated to a scepticism, which, because it must undermine the dedication to what is true, real, and free in the first place, had to manifest itself as frivolity“ („auf dem Boden einer gefälschten Geschichte, einer gefälschten Wissenschaft, einer gefälschten Religion [through Catholicism, MP], war eine von der Natur heiter und frohmütig angelegte Bevölkerung [Italians, MP] zu jenem Skeptizismus erzogen worden, welcher, da vor allem das Haften am Wahren, Ächten und Freien untergraben werden sollte, als wirkliche Frivolität 11
Wagner in a letter to Nietzsche of around 12 February 1870, KGB II/2, 145f.
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sich zu erkennen geben mußte“ ibid., 74f.). Scepticism, in Wagner’s view, implies frivolity. Alternatively, this characterization entails that when one is a ‚Protestant‘, one is ‚German‘, a searcher after truth, a serious, yet joyful and happy person. However, due to German artists such as Gotthold Ephraim Lessing, Goethe, Schiller, and, above all, Beethoven’s music, the European decadence was interrupted and European culture took a turn for the better. German art and Beethoven’s music in particular showed the way back to the true essence of art, away from Italian amusement and decorative beauty. With Beethoven, music returned to its very self, the metaphysical truth as its source. This success originated not in the least in Beethoven’s deafness, Wagner states, neglecting Beethoven’s personal suffering from his handicap entirely. Due to his deafness, Beethoven’s inner world was infinitely rich, Wagner suggests, „undisturbed by the noises of life, [he] just listens to his inner harmonies“ („ungestört vom Geräusche des Lebens [lauscht er] nun einzig noch den Harmonien seines Inneren“ ibid., 72). Deaf „is the genius redeemed from everything outside, totally with and in himself“ („von jedem Auβer-sich befreit, ganz bei sich und in sich“, ibid.). Thus reaching the inner truth of things, Beethoven was able to express in his music a deep, inner joy. This deep, metaphysical joy returns to the world its original, paradisiacal, childlike innocence, according to Wagner: „Even the lamentation, so intimately and authentically typical for all tone setting, calms down: the world regains its childlike innocence. ‚You shall be with me in Paradise this day‘ – who would not hear this word of redemption calling to him, if he listened to the ‚Pastoral-Symphonie‘?“ („Selbst die Klage, so innig ureigen allem Tönen, beschwichtigt sich zum Lächeln: die Welt gewinnt ihre Kindesunschuld wieder. ‚Mit mir seid heute im Paradiese‘ – wer hörte sich dieses Erlöserwort nicht zugerufen, wenn er der ‚Pastoral-Symphonie‘ lauschte?“ ibid., 72). This deep joy, laughter, and childlike innocence are, in Wagner’s view, hallmarks of the genius, who knows (his knowledge triumphs over his will), and enjoys his play with the figures of his inner world, the figures of his imagination. Simultaneously, he laughs at himself, because he acknowledges the illusory, ephemeral character of his own existence. These joy and laughter, then, restore the desired ‚innocence‘ (‚Unschuld‘), and also redeem the conscience of the beholder of its ‚guilt‘: „The effect of this laughter on the beholder is in fact this redemption of all guilt, as is the effect on the long term the feeling of paradise lost, by which we return to the world of appearances“ („Die Wirkung hiervon auf den Hörer ist eben diese Befreiung von aller Schuld, wie die Nachwirkung das Gefühl des verscherzten Paradieses ist, mit welchem wir uns wieder der Welt der Erscheinung zukehren“ ibid., 73). Sympathetic hearing plunges the beholder into a dream-like state, in which his eyesight is paralyzed by the music to such a degree that he, although his eyes are wide open, does not see. The dreamlike state is a state of hypnotic clairvoyance, and „it is in this state alone that we immediately belong to the musician’s world“ („es [ist] nur dieser Zustand daß wir der Welt des Musikers unmittelbar angehörig werden“ ibid., 53). The decrease of visual powers is generated by the ‚magic‘ (‚Zauber‘) of music. It makes us, we may say, dream the dream the musician had dreamt in deepest sleep. Under the spell of the musical magic, however, we not only find ourselves as in a dream, but also in a state of ecstasy. This is the experience of the ‚sublime‘ (ibid., 56). There is only one piece of music that tops this joyful and sublime effect of Beethoven’s Pastoral: his Choral symphony, because it is the most joyous music Beethoven made. The
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Ninth Symphony attests to the „most sublime naivety“ („erhabenster Naivetät“, ibid., 78) and represents „the good man“ („den guten Menschen“, ibid., 78), the „primordial type of innocence“ („Urtypus der Unschuld“, ibid., 79). And in representing the good man, it has restored „the melody of this good man“ („die Melodie dieses guten Menschen“, ibid., 78), which is a melody of „purest innocence“ („reinste Unschuld“, ibid., 78), which was lost in Italian opera, because of its lust for fashionable, frivolous, decorative, and amusing tunes. The restoration of melodic and human, „childlike innocence“ („kindliche Unschuld“, ibid., 82), in the finale of the Ninth Symphony, fills us with „joy because paradise is gained“ („Freude an dem gewonnenen Paradiese“, ibid., 82). Specifically the later Beethoven symphonies turned against the ‚impudent fashion‘ (‚freche Mode‘) of Italian opera and spread „the new religion, the world-redeeming message of the most sublime innocence“ („die neue Religion, die welterlösende Verkündigung der erhabensten Unschuld“, ibid., 109). Beethoven ennobled melody: „melody has been emancipated by Beethoven from all influence of the Mode, of shifting taste, and raised to an eternal purely-human type“ („die Melodie ist durch Beethoven von dem Einflusse der Mode und des wechselnden Geschmackes emanzipiert, zum ewig giltigen, rein menschlichen Typus erhoben worden“, ibid., 83). Beethoven achieved the archetype of innocence, the purely human, and in the representation of this (in posing his inner vision on the outer forms), he made the beholders happy, which is exactly the task of art. Commemorating Beethoven’s birthday, Wagner concludes, we therefore celebrate the birthday of a „pioneer in the jungle of a paradise lost“ („den großen Bahnbrecher in der Wildnis des entarteten Paradieses“, ibid., 109). The same joyful and sublime effect should Germany have on Europe, in Wagner’s view: Europe should shine with deep, German joy and return it to paradise, the experience of humanity’s original, childlike innocence. In that experience the bond between genius art and metaphysical truth is restored, and Italian frivolity (its play with outer forms instead of inner figures of imagination) ended. The saviour of Europe, in fact, depends on the restoration of the innocence of melody. The ‚innocence of melody‘ leads Europe to ‚Elysium‘. The question remains as to how to enrich this Elysium with myth, and turn information society into a mythical society? For Wagner the answer resided in his own ‚total artwork‘ of music-drama.
Music-drama as the ‚perfect‘ art form and saviour of Europe Both Beethoven’s and Wagner’s music must be seen in the light of the longer northern opposition against the Italian style, which dominated European musical culture. When Beethoven composed the Ninth, between 1822 and 1824, Vienna was engrossed by Gioacchino Rossini and the Italian opera. Beethoven and the members of the ‚New German School‘, Franz Liszt, Franz Brendel, and Wagner, refused to bow to this trend. To them, Beethoven had expressed that music should be free to move and not be bound to formal laws. Laws such as the da capo (in the aria) or reprise (of the overture) endowed music with frills, fulfilled the common expectations, took the road of least resistance, and did not add anything to the content of music. By crossing the formal symphonic borders, the Ninth symphony in fact ushered in the end of the symphonic form, so at least the
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musicians of the ‚New German School‘ diagnosed the situation. This inspired Liszt to compose ‚symphonic poems‘ and Wagner to create musical dramas with a strong symphonic streak, akin to Christoph Willibald Gluck, Louis Hector Berlioz, and Beethoven. Flexibility, movement, melody and (dramatic, emotional, musical) expression replaced the tonal laws of measure and harmony, especially in Wagner’s Ring cycle, which, according to Wagner, accomplished the development from Beethoven’s symphonies (which themselves culminate from the rudimentary Third to a climax of sublime naivety and innocence in the Ninth, in his view), via Liszt’s symphonic poems into the music-drama. However, music-drama not only fulfilled Beethoven’s musical reformation but also offered a serious alternative to Italian opera. Wagner’s music-drama was characterized by a strong, internal relation between music and drama, he claimed, in which drama was the „visible counterpart of the music“ („das Drama, […] sichtbar gewordenes Gegenbild der Musik“, ibid., 94). Music and drama both expressed the same metaphysical truth. By combining music and poetry in this manner, art’s cultural magnitude would be extremely forceful, complete, and perfect. His drama, Wagner asserted (deviating from Opera and Drama12), was born from the same musical impulse as music and in this the difference with opera rooted. Because Italian opera was all about spectacle sound and scene, it did not express a deeper, true thought, according to Wagner. Occupied by both sound and scene, opera satisfied neither ear nor eye completely. Thus, music-drama is the perfect artistic mirror of truth, because the music mirrors the metaphysical truth that life is Will immediately, and the drama, in turn, reflects the music.13 Contemporary Europe is in decadence, Wagner argued, because of its lack of ‚depth‘, due to the popularity of the ‚Roman tendency‘. This manifested itself in the (Italian) pre12
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Although both Wagner and Nietzsche claim to base their musical aesthetics on Schopenhauer’s philosophy of music, they modify his philosophy from the start. Whereas Schopenhauer holds to a hierarchical division of nature, the arts, and music, in which everything is a more or less adequate objectification of the Will, Wagner and Nietzsche pass over this hierarchy. They maintain a view of the arts, which is much more dualistic than Schopenhauer’s view, claiming that only music expresses the truth of life. Next, they confine this claim very strongly to a certain type of music. Moreover, Schopenhauer’s philosophy of music stands or falls with the embrace of the tonal system. Wagner, on the other hand, uses Schopenhauer’s metaphysics to justify his annihilation of the tonal system. Further discussion of the similarities and dissimilarities in Schopenhauer’s and Wagner’s philosophy of music falls out of the scope of this article. But it is interesting to underline that according to Schopenhauer the metaphysical depth of music did not depend on German superiority whatsoever, but rather on the ability to keep free from sticking to words (see The World as Will and Representation I, translated by E. F. J. Payne, Minneola 1969, § 52, 262, Sämtliche Werke, Wolfgang von Löhneysen [ed.], Frankfurt/M. 1986, § 52, 346). Schopenhauer’s favourite composer was Rossini, whose music „has a wholly independent, separate […] existence by itself […]; it can therefore be completely effective even without the text“ (The World as Will and Representation II, transl. by E. F. J. Payne, New York 1958, § 39, 449; „Die Musik einer Oper […] hat eine völlig unabhängige, gesonderte […] Existenz für sich […] daher sie auch ohne den Text vollkommen wirksam ist“, Sämtliche Werke, Wolfgang von Löhneysen (Hg.), Frankfurt/M. 1986, Bd. II, § 39, 522f.). Schopenhauer disliked Wagner’s music, something which Wagner did not mention to Nietzsche during their first meeting, although he fulminated against the philosophy professors because they did not understand his music. Instead, he praised Schopenhauer for being the only one to understand music (Klaus Kropfinger, Wagner and Beethoven. Richard Wagner’s Reception of Beethoven, transl. by Peter Palmer, Cambridge, New York, Melbourne 1991, 130).
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ference for frivolity and formalism, (catholic) scepticism (which Wagner defined as ‚hostility to the truth‘) and the popularity of fashion in France. Journalism, also popularized by France, is a threat, because it has a much-deformed concept of the truth: the truth is no longer defined as the metaphysical essence of life but rather as what has happened most recently, what is new. This occasioned a general inflation of spirituality and the levelling down of creative imagination. A lively, productive imagination, however, is the root of „a true paradise of productivity by the human mind“ („ein wahres Paradies von Produktivität des menschlichen Geistes“, ibid., 98), according to Wagner. The cultural task Wagner addressed himself was to renew paradise, to return to European culture imagination and stories, in his music-dramas. The fight over melody in Italian versus French opera, and French and Italian music versus German music forms the surprising core of the discussion about which path Europe had to take in order to find a better future, – the ‚northern‘ road, as Wagner advocated, or the ‚southern‘ road, as Jean Jacques Rousseau had defended long before Wagner.14 In The Birth of Tragedy, Nietzsche chose the ‚southern‘ road, arguing in his own typical way of ‚binary synthesis‘ that the ‚southern‘ road is the ‚northern‘ one.15
The Birth of Tragedy in the spirit of Wagner’s Beethoven-essay Everyone who is familiar with Nietzsche’s Birth of Tragedy, which came out slightly more than one year after Wagner’s Beethoven, and reads Wagner’s Beethoven-essay must be struck by the similarity in ideas one finds. Thus, when Nietzsche expresses his indebtedness to Wagner’s theories, particularly in the Foreword to Richard Wagner (Vorwort an Richard Wagner), chapter 1 and chapter 16 of The Birth of Tragedy, he is not exaggerating, on the contrary. In the Foreword, he links his book to Wagner’s celebration essay by pointing to the fact that the book was written at the same time as the essay and that it only contains thoughts „which were appropriate in your [Wagner’s, MP] presence“ (BT, 13) („dieser [Wagner’s, MP] Gegenwart Entsprechendes“, KSA, GT, 1, 23). He dedicates the book to his friend, and establishes an ideological link with Wagner’s ideas by presenting the problem in the book as a „grave“ („ernsthaft“, ibid., 24) problem of an aesthetic nature, thereby alluding to his presentation of Wagner as the person, who resolves this aesthetic problem in the last ten chapters of the book. In chapter 1, Nietzsche not only introduces the „two artistic deities“ (BT, 76) („beiden künstlerischen Gottheiten“, ibid., 103) Apollo and Dionysus, but, in explaining these terms by quoting a phrase from 14
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In his Letter on French Music (Lettre sur la musique française, 1753), Jean-Jacques Rousseau distinguished between the ‚unmusical‘ French language of northern origin, which cannot easily be sung, and the musical, southern, Italian language, which can be easily sung (in: Jean-Jacques Rousseau, Œuvres complètes, Vol. XI, Paris 1828, 249–312). Paul Bishop and Roger H. Stephenson define ‚binary synthesis‘ as follows: „In binary synthesis, the name of one element in a pair of antitheses is also applied to the synthesis, which thus represents both a richer concept, but one that tends towards on of the original antitheses in an ascending hierarchy“ (Nietzsche and Weimar Classicism, New York 2005, 34). They show that ‚binary synthesis‘ is a typically Weimarian mode of argumentation and that Nietzsche installs this especially in his use of the term ‚semblance‘ (‚Schein‘) in The Birth of Tragedy (Nietzsche and Weimar Classicism, New York 2005, 33f.).
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Wagner’s Mastersingers (Die Meistersinger) that asserts that poetry (and art in general) comes down to „dreaming’s prophecy“ (BT, 15) („Wahrtraumdeuterei“, ibid., 26)16, he also reveals that Wagner’s dream-theory is the key source of his understanding of these concepts and their (agonal and/or playful) interrelation. In chapter 16, in which the major turn from historical analysis of ancient Greek culture to the diagnosis of modern culture is made, Nietzsche explicitly and in assent refers to Wagner’s Beethoven-essay (BT, 77) (ibid., 104), underlining Wagner’s paramount importance for aesthetic theory, because the composer (in the footsteps of Schopenhauer) divided the arts into music on the one hand and visual arts on the other, explaining that they had to be judged according to different principles. Those principles, then, are ‚Apollo‘, the god and principle of plasticity, and ‚Dionysus‘, the god of music. Wagner’s unique achievement resided in having applied the theory in his music-dramas, and in so doing having restored the balance between Dionysian „stream of melody“ (BT, 21) („Strom des Melos“, ibid., 33) and Apollonian „redemption in semblance“ (BT, 76) („Erlösung im Scheine“, ibid., 103; ibid., 39)17. Wagner had already pointed out that music raises the drama to a symbolical level, in which we witness „the destruction of the individual“ (BT, 80) („die Vernichtung des Individuums“, ibid., 108). To Nietzsche, this is „the prime demand we make of every kind and level of art […] the conquest of subjectivity, release and redemption from the ‚I‘“ (BT, 29) („in jeder Art und Höhe der Kunst vor allem und zuerst [fordern wir] Besiegung des Subjectiven, Erlösung vom ‚Ich‘“, ibid., 43). This task coincides with the aim to evoke joy, because overcoming subjectivity gives this deep joy. In Nietzsche’s terms, the joyful, sublime experience is the symbolic expression and materialization of the Silenian wisdom that „the very best thing is […] to be nothing“ (BT, 23) („das Allerbeste ist […] nichts zu sein“, ibid., 35). Nietzsche wrote Wagner that he had found „the philosophy of music“ in the Beethovenessay, but he could have added to this: „and the philosophy of culture“ (KSB, 3, 156f.). In fact, Nietzsche had some problems with Wagner’s musical aesthetics, in particular because Wagner did not nearly as much care about the chorus as Nietzsche.18 Nevertheless, in the last ten chapters of The Birth of Tragedy, Nietzsche portrays Wagner as the saviour of European culture, because his ‚German‘ music-dramas would revive the tragic, Greek spirit. In The Birth of Tragedy, thus, Nietzsche’s cultural hope is localized in Wagner’s music. His cultural hope amounts to the hope „that music will have a Dionysian future“ 16 17
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The English translation does not reflect the ‚truth‘ which is revealed by the dream as matter of ‚illusion‘. More information on the importance of ‚semblance‘ in The Birth of Tragedy and its roots in Goethe and Schiller’s ‚perennial aesthetics‘: Paul Bishop, Roger H. Stephenson, Nietzsche and Weimar Classicism, New York 2005 (chapter 1). Despite Wagner’s awareness that Greek tragedy had emerged from the chorus, he perceived the chorus a ‚false‘ instrument by which the opera pretended to be Greek tragedy. Wagner made the orchestra the musical centre of his music-drama: Dieter Borchmeyer, Das Theater Richard Wagners. Idee-Dichtung-Wirkungm, Stuttgart 1982, 156f.: „The application of the chorus in opera performance was rejected by Wagner as false analogy with Greek Tragedy […] Wagner never gave up the idea that the orchestra was the inheritor of the antique chorus“ („Die Verwendung des Chors auf der Opernbühne hat Wagner in seinen Reformschriften als falsche Analogie zur griechischen Tragödie verworfen […] Die Idee, daß das Orchester der Nachfolger des antiken Chors sei, hat Wagner nie aufgegeben“); Also KSA, NF, 7, 273f., 277.
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(BT, 110) („eine dionysische Zukunft der Musik“ KSA, GT, 1, 313) in order for a ‚tragic age‘ to come: „tragedy, the highest art of saying yes to life, will be reborn“ (ibid.) („die höchste Kunst im Jagagen zum Leben, die Tragödie, wird wiedergeboren werden“, ibid.). Wagner’s music, to Nietzsche, was Dionysian music, and that made Wagner a ‚dithyrambic artist‘, a producer of choir-songs, procession-songs, and director of artistic-religious events, of feasts for a selected group of people, who crowned themselves followers of Dionysus during those celebrations.19 As followers of Dionysus, they were an aesthetic public of „counter-Alexanders“ ( („Gegen-Alexander“, KSA, WB, 1, 447) who retied the Gordian knot of Greek culture instead of untying it, as Alexander had done due to his Oriental orientation.20 Wagner set the ideal of rejuvenating paradise, childlike innocence, and mythical society and understood the cultural war as a war against the ‚Roman‘ tendency towards superficiality and information society as the outcome of the dissolution of the metaphysical bond between art and truth. Nietzsche set the ideal of rejuvenating the ‚tragic‘ age with the help of ‚Dionysian‘ music. Is this only a difference in terminology or is there a conceptual difference in Nietzsche’s view of music and culture?
The transition from Socratic to tragic-aesthetic culture The coming of the tragic age is discussed most poignantly in Chapter 18 of The Birth of Tragedy. To Nietzsche, Modernity is the age in which the Gordian knot of Greek culture is untied, and Modernity should indeed be overcome. However, rather than the printing machine, Socrates untied the Gordian knot of Greek culture, according to Nietzsche. Modernity began already with Socrates’s trust in human reason and rejection of art as communicator of truth. Thus, rather than equating Modernity with the emergence of information society, Nietzsche understands Modernity as the moment that three things happened; first, art and knowledge were separated; second, the truth become a matter of logical deduction; third, art was judged morally. To Nietzsche, Socrates personalizes this moment where the tragic age of the Greeks ended, and he therefore baptizes ‚Modernity‘ as ‚Socratism‘. Inversely we may deduce that the ‚tragic‘ age was the age in which art and truth were united, and the truth was not something obtainable by logical deduction, but only by artistic or aesthetic revelation. Moreover, in the tragic age, art was judged purely aesthetically. Information society, to Nietzsche, is the last convulsion of the long reign of ‚Socratic‘ culture.21 But in agreement with Wagner, he sees signs that a new artistic age is coming. According to Nietzsche, the first signs to overcome Socratism are found in Immanuel Kant’s Kritik der reinen Vernunft, because it tried to nail down the limits of reason, in Goethe’s Faust, because it is the poetical expression of the idea that human reason and conceptual knowledge are limited, and Schopenhauer, who put the genius perception 19 20 21
This to indicate that Nietzsche’s expectation of the Bayreuther Festspiele was very different from what he encountered there, in the summer of 1876. ‚Alexander‘ refers to Alexander the Great who, in order to „hellenize the world“ („Hellenisierung der Welt“) „orientalized“ („Orientalisirung“) (KSA, WB, 1, 446) Greece. This is ‚Socratic‘ serenity, the serenity of the ‚theoretical‘ person that threatens all true art. The present state of Socratism is in fact „simply the red flush across the evening sky“ (BT, 4) („eine Abendröthe“ KSA, GT, 1, 12).
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and art above the intellectual perception and theoretical knowledge in his World as Will and Representation books (Die Welt als Wille und Vorstellung I, 1818 and II, 1841). In so doing, he continued and fulfilled the ‚tragic‘ tendencies of Kant and Goethe. Hence, Modernity (Wagner) and ‚Socratism‘ (Nietzsche) stand for „the discordance of art and truth“22. The characteristic of Modernity then is ‚aesthetic alienation‘, meaning the dismissal of art from the centre to the borders of society and the forbiddance for art(ists) to participate in the truth. ‚Socratism‘, more specifically, starts with Plato’s Republic, in which the truth is installed as fundament of society, while at the same time this truth is made the domain of philosophical (dialectical) reason, and artists are considered ‚strangers‘. Thus, when Nietzsche searches for a culture in which the genius is no longer a stranger, he searches for an anti-Platonic Republic, a ‚tragic‘ culture, in which art and truth, imagination and reason are re-united. – Nietzsche derives his trust that a tragic age will come also from Socrates self. Interestingly, he sees a tragic tendency in Socrates, although he is the counter-example of the tragic-aesthetic. Nietzsche argues that, eventually, there will always come a moment when even the theoretical optimist feels ‚the need for art‘, and starts perceiving life with a ‚tragic perception‘. He considers Socrates’s attempt to put Aesop’s fables to rhyme, after being ordered to do so by a dream, as metaphor for the scientific need for art: „The words spoken by the figure who appeared to Socrates in dream are the only hint of any scruples in him about the limits of logical nature; perhaps, he must have told himself, things which I do not understand are not automatically unreasonable. Perhaps there is a kingdom of wisdom from which the logician is banished? Perhaps art may even be a necessary correlative and supplement of science?“ (BT, 71) („Jenes Wort der sokratischen Traumerscheinung ist das einzige Zeichen einer Bedenklichkeit über die Grenzen der logischen Natur: vielleicht – so musste er sich fragen – ist das mir Nichtverständliche doch nicht auch sofort das Unverständliche? Vielleicht giebt es ein Reich der Weisheit, aus dem der Logiker verbannt ist? Vielleicht ist die Kunst sogar ein nothwendiges Correlativum und Supplement der Wissenschaft?“, KSA, GT, 1, 96). This famous story from Plato’s Phaedo even becomes an allegory of modern culture to Nietzsche. Nietzsche takes on the role of the demon of contemporary culture: he is the voice that orders modern Man to ‚aestheticize‘, to interchange his logical understanding and moral view of life with aesthetic perception and the need for art. Both Wagner and Nietzsche thus advocated the union of art and truth as cultural fundament, whereby truth should not be understood as logical, scientific truth, but rather as wisdom, as insight into the metaphysical essence of life. Moreover, both Wagner and Nietzsche claimed that the redemption of modern culture depended on Wagner’s musicdramas. However, while Wagner understood his music-dramas as typically and natural ‚German‘ art works, Nietzsche venerated them because of their ‚Greek‘ spirit. According to him, Germany could only fulfil its European task by becoming Greek and thus heighten the artistic value of the music-drama. This was also how Italian opera and German Classicism had viewed the matter, however they failed in their attempts to rejuvenate the Greek spirit, according to Nietzsche, as we shall see below.
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J. M. Bernstein, The Fate of Art. Aesthetic Alienation from Kant to Derrida and Adorno. Cambridge 1992, 1. Bernstein explains Modernity as constituted by the ‚aesthetic alienation‘ too.
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The failure of German Classicism Nietzsche understood Wagner’s art as the attempt to ‚aestheticize‘ culture, to make art the centre of knowledge and culture again, to accomplish the preliminary work of Goethe, Kant, and Schopenhauer. Crucial, however neglected in the secondary literature, is Nietzsche’s discussion of Italian opera and German Classicism as failing attempts to ‚Graecize‘ art and culture. In my view, Nietzsche discusses this not only with the intention to make Wagner come out better, but also, and perhaps in the first place, to point out what must be done and what not when a modern art form or culture turns to the Greeks. By this, I mean that he wants to range what can be learned from the Greeks and how this lesson should be put into practice. It is obvious that Nietzsche highly estimated the fact that people had seriously tried to interact with the past and to come closer to the high artistic moments of human history. In this perspective, Nietzsche’s reflections on Italian opera and German Classicism should be seen as his own attempt to learn from the past. At the same time they function as imperative for Wagner (‚learn from the past!‘). Therefore, when I speak of ‚failing‘, I should relativize that, referring to an aphorism of Nietzsche about Goethe. In Assorted Opinions and Maxims (Vermischte Meinungen und Sprüche) Aph. 227, a long aphorism called Goethe’s errors (Goethe’s Irrungen), he regards Goethe as a Greek, because he was a true searcher, a searcher who in order to learn about himself changed himself, or ‚experimented‘ with his life (GS, 179f.) (KSA, FW, 3, 550f.). This search, however, was always directed at attaining a new norm. Goethe’s search had always been a matter of self-overcoming as self-education: „Without this digression through error he would not have become Goethe: that is to say, the only German literary artist who has not yet become antiquated“ (AOM, 271) („Ohne die Umschweife des Irrthums wäre er nicht Goethe geworden: das heisst, der einzige deutsche Künstler der Schrift, der jetzt noch nicht veraltet ist“, KSA, VM , 2, 483). In brief, we can still learn from Goethe, because he was always busy learning. This is relevant for our case because in Nietzsche’s view, a ‚cultural war‘ is not just a matter of fighting Italian opera and ‚word-drama‘. A cultural war distinguishes itself from, for example, a military campaign because it involves ‚learning‘. In that sense, a cultural war is also always a war against the self, because ‚learning‘ means that the self is put to the test in competition with the other. The ‚war‘ is waged to strengthen the self, and so did Nietzsche want to relate to Wagner, as his challenger and teacher, who could teach him how to become more Greek. This agonal perception of relations between friends and of learning is perhaps more palpable in the works after The Birth of Tragedy, but nevertheless an important point of perception in Nietzsche’s début-book too. For example, let us have a look at the beginning of chapter 20, a relatively longer fragment, which confirms that we can still learn from German Classicism, despite its failure: „Some day the attempt might be made to weigh up, under the gaze of an impartial judge, at what period and through which men the German spirit had striven most vigorously to learn from the Greeks; and if we may confidently assume that this unique praise must be accorded to the noblest struggles for self-cultivation of Goethe, Schiller, and Winckelmann, we would also have to add that, since those days and the immediate effects of their struggle, the striving to reach the Greeks and to achieve self-cultivation by the same route has become, for
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incomprehensible reasons, weaker and weaker“ (BT, 95f.) („Es möchte einmal, unter den Augen eines unbestochenen Richters, abgewogen werden, in welcher Zeit und in welchen Männern bisher der deutsche Geist von den Griechen zu lernen am kräftigsten gerungen hat; und wenn wir mit Zuversicht annehmen, dass dem edelsten Bildungskampfe Goethe’s, Schiller’s und Winckelmann’s dieses einzige Lob zugesprochen werden müsste, so wäre jedenfalls hinzuzufügen, dass seit jener Zeit und den nächsten Einwirkungen jenes Kampfes, das Streben auf einer gleichen Bahn zur Bildung und zu den Griechen zu kommen, in unbegreiflicher Weise schwächer und schwächer geworden ist“, KSA, GT, 1, 129). Nietzsche obviously values the Classicist openness to learn from the Greeks and the fact that Johann Joachim Winckelmann, Goethe and Schiller took the ‚Greek‘ road, noting that the will to learn from the Greeks was never as high in German culture as in the Classical Age of Winckelmann, Goethe, and Schiller. This implies, importantly, that, ‚before‘ learning from the Greeks, current German culture (artists, philosophers) must learn that they must make a ‚Greek‘ turn, and what they should learn from the Greeks in order to fulfil the aestheticization of Europe. To put it differently: Wagner must become a really, good student of the Greeks in order to rejuvenate Greek tragedy. This is precondition to his cultural success. However, it is not just about rejuvenating, but also about going into competition with the great examples of the past, trying to make even more striking, wonderful, beautiful things. The problem with German Classicism thus was not the fact that it turned to the Greeks, but that it misinterpreted the Greeks, and thus learned something from the Greeks, which was not entirely Greek. There had been too much projection and wishful thinking in Winckelmann’s ‚idyllic‘ and ‚humanistic-optimistic‘ perception of the Greeks. Despite its will to learn from the Greeks, German Classicism failed „to penetrate to the essential core of Hellenism“ (BT, 96) („in den Kern des hellenischen Wesens einzudringen“, ibid., 129), Nietzsche underlines, arguing that Winckelmann’s sunny, optimistic, noble view of the Greeks is not in accordance with the monstrous worlds that the Greeks called to life in many of their myths. Instead of being optimistic, elegant, and ‚cheerful‘, the Greeks were pessimists, Nietzsche avers. Nietzsche turned to Goethe’s and Schiller’s aesthetics to understand Wagner’s aesthetics, but he also criticized their moralism and optimism, implicitly advancing that Wagner, because of his musicality and tragic insight in the Greeks, will overcome this moralism. In a note of 1871, Nietzsche wrote that only the end of Goethe’s Faust I and Egmont came close to his artistic ideal. (KSA, NF, 7, 328) However, it was the idyllic tendency in Goethe, which drove him away from his musical lyricism and to producing works like Tarquato Tasso and Iphigenie auf Tauris. In one of the most striking passages of The Birth of Tragedy, and what may be considered the axis of its last ten chapters, Nietzsche nota bene uses a scene from Goethe’s Iphigenie to show the failure of German Classicism in rejuvenating the Greek spirit: „If such heroes as Goethe and Schiller were not granted the ability to break open the enchanted gateway leading into the Hellenic magic mountain, if the furthest reach of their most courageous struggle was that wistful gaze which Goethe’s Iphigeneia sends homewards across the sea from the barbaric land of the Taurians23, what was left to the epigones of such heroes to hope for, if the gate did 23
Johann Wolfgang von Goethe, Iphigenie auf Tauris, Act I, scene I.
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not open of its own accord, suddenly, in a quite different place, as yet untouched by all the previous exertions of culture, to the mystical sound of the re-awakened music of tragedy? Let no one seek to diminish our belief in the impending rebirth of Hellenic Antiquity, for this alone allows us to hope for a renewal and purification of the German spirit through the fire-magic of music“24 (BT, 97) („Wenn es solchen Helden, wie Schiller und Goethe, nicht gelingen durfte, jene verzauberte Pforte zu erbrechen, die in den hellenischen Zauberberg führt, wenn es bei ihrem muthigsten Ringen nicht weiter gekommen ist als bis zu jenem sehnsüchtigen Blick, den die Goethische Iphigenie vom barbarischen Tauris aus nach der Heimat über das Meer hin sendet, was bliebe den Epigonen solcher Helden zu hoffen, wenn sich ihnen nicht plötzlich, an einer ganz anderen, von allen Bemühungen der bisherigen Cultur unberührten Seite die Pforte von selbst aufthäte – unter dem mystischen Klange der wiedererweckten Tragödienmusik. Möge uns Niemand unsern Glauben an eine noch bevorstehende Wiedergeburt des hellenischen Alterthums zu verkümmern suchen; denn in ihm finden wir allein unsre Hoffnung für eine Erneuerung und Läuterung, des deutschen Geistes durch den Feuerzauber der Musik“, KSA, GT, 1, 131). Although all signs in modern culture25 point towards the opposite direction, Nietzsche nevertheless believes in a rebirth of old times. Wagner’s Valkyrie and Tristan beat Goethe’s Iphigeneia, Faust and Egmont in effectiveness. Goethe had made frantic efforts to ‚the gateway leading into the Hellenic magic mountain‘, but did not surpass the ‚atrium‘, as he would express it himself. A ‚lack of music‘ and ‚idyllic tendencies‘ obstructed Goethe and Schiller to bridge the gap between perfect (not in the static sense of having reached perfection, because it was a dynamic culture, constantly busy overcoming itself via a kind of agonal dialectics, if I may call it so) Greece and imitative, ‚epigone‘ Germany. Schiller and Goethe may have possessed some kind of ‚musical drive‘ (‚musikalische[n] Antrieb‘), but they never produced (true) music. In the end, both Weimarians suffered from what Nietzsche dubbed in his literary remains a „lack of music“ („Mangel an Musik“, KSA, NF, 7, 241), and „idyllic sheep-breeding“ („idyllische Schäferei“, ibid., 287), let alone that they were able to pass on the ‚Dionysian magic‘ that the magic fire music of The Valkyrie contaminates, and in which the impudent fashion‘ (BT, 18) (‚freche Mode‘) is resisted (KSA, GT, 1, 29).
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Here Nietzsche alludes to the ‚magic fire music‘ in act III of Wagner’s Valkyrie (Die Walküre). Nietzsche speaks of „the growing sterility and exhaustion of present-day culture“ (BT, 97) („Verödung und Ermattung der jetzigen Cultur“) and „the wilderness of our tired culture“ („Wildniss unserer ermüdeten Cultur“, KSA, GT, 1, 131) The term ‚wilderness‘ gives an indication of the meaning Nietzsche’s definition of culture as ‚unity of style‘ might have: „Culture is unity of artistic style in all expressions in life of a people“ („Kultur ist vor allem Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes“, KSA, DS, 1, 163). Viewed in this context, ‚Wilderness‘ suggests that stylization is needed in order to tame the fragmented, chaotic life into a unity of style. This (artistic) style, in turn, is called forward by the dominant perception of life shared by all members of a community (eg. the ‚tragic‘ view of life).
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The failure of Italian opera One expression of this impudent fashion‘ is Italian opera. As discussed above, Wagner strongly opposed the Italian musical style by continuing Beethoven’s symphonic work and stretching the harmonic laws as much as possible. In so doing, he hoped to bring the cycle Beethoven – Liszt – Wagner, and thus the creation of what can be round-heartedly called a German type of music to a close and definitely overthrow the Italian dominance in European musical culture. With a hostility quite similar to Wagner’s, Nietzsche discusses Italian opera as a ‚typically‘ modern art form, which is interested in text and form play rather than in music and truth. In fact, he starts this chapter by claiming that „nothing can define the innermost substance of this Socratic culture more sharply than the culture of opera“ (BT, 89) („Man kann den innersten Gehalt dieser sokratischen Cultur nicht schärfer bezeichnen, als wenn man sie die Cultur der Oper nennt“, ibid., 120). Nietzsche particularly objects to the recitative and the stilo rappresentivo as „externalized“ („veräusserlichte“, ibid.) elements, which the Italians nevertheless regarded as the key to unlock Greek tragedy. Such reasoning, according to Nietzsche, reveals that the Italian ‚humanistic optimists‘ had an „extra-artistic“ („ausserkünstlerisch“, ibid.) motiv for returning to Greek culture. The motiv resides in „the longing for the idyll“ ( ibid. 90) („die Sehnsucht zum Idyll“, ibid., 122), according to Nietzsche. Jacopo Peri and his Florentine circle imagined that the stilo rappresentativo and the recitative paved the way back to the paradisiacal, original state of humankind, the ‚magic mountain‘ of Hellenism, which they located in the Homeric world (KSA, NF, 7, 271f.). Their humanity would encounter its original state of „innocence“ (ibid.) („Unschuld“, KSA, GT, 1, 122), understood in its moral sense of „the good human being“ (ibid.) („guten Menschen“, ibid.): „Recitative was thought to be the rediscovered language of those original humans, and opera to be the rediscovered land of that idyllic or heroic good being who follows a natural artistic drive in all his actions; who, whenever he speaks, at least sings a little; and who promptly bursts into full song at the slightest stirring of emotion“ (ibid.) („Das Recitativ galt als die wiederentdeckte Sprache jenes Urmenschen; die Oper als das wiederaufgefundene Land jenes idyllisch oder heroisch guten Wesens, das zugleich in allen seinen Handlungen einem natürlichen Kunsttriebe folgt, das bei allem, was es zu sagen hat, wenigstens etwas singt, um, bei der leisesten Gefühlserregung, sofort mit voller Stimme zu singen“, ibid.). The attraction of opera, therefore, resided in the optimistic picture it drew of humankind. In fact, it is the product of the „unartistic man per se“ (ibid.) („kunstohnmächtige Mensch“, ibid., 123), founded on the belief that every person is, because he has feelings, fundamentally artistic. According to Nietzsche, Italian opera departed from the idea of an idyllic reality, in which nature and ideal (think of Schiller’s ‚real‘ and ‚ideal‘) come together, a primordial moment in which humanity ‚lay at the heart of nature‘, a state of paradise and an ultimately artistic state at the same time. Opera reintroduced this idyllic image in history, by means of the singing herdsman, who expresses „the cheerfulness of eternal re-discovery“ (BT, 92) („Heiterkeit des ewigen Wiederfindens“, ibid., 125) against the elegiac suffering on account of an eternal loss. Nietzsche identifies this kind of ‚serenity‘ (‚Heiterkeit‘) as ‚Alexandrian‘. Nietzsche resists the Alexandrian serenity of opera, saying expressly: „Anyone who wants to destroy opera must take up arms against that Alexandrian cheerfulness“ (BT, 23) („Wer die Oper vernichten will, muss den Kampf
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gegen jene alexandrinische Heiterkeit aufnehmen“, ibid., 125), alluding to Schiller’s expression that ‚war‘ was needed to conquer Naturalism in art. What art should do, Nietzsche argues, is redeem us from the agitations of the will in aesthetic semblance, in ‚schöner Schein‘. This important task of art, however, is threatened under the influences of the idyllic temptations of merely Apollonian, or even Socratic, art forms, in which music has been completely excluded in its true nature as the mirror of truth. – The ‚war‘ that Nietzsche declares against the ‚typical music of modern, unartistic man‘, opera, is also a call to Wagner to fight the idyllic tendencies of his historic examples, thus the belief that ‚man is good‘, an „eternally singing or flute-playing shepherd“ (BT, 92) („ewig flötende oder singende Schäfer“, ibid.). This entails, however, that Wagner must also fight his own idyllic tendencies. I come back to this further on in this article.
Goethe’s Faust, Beethoven’s Ode to Joy and Wagner’s Tristan and Isolde As noted above, Kant’s criticism and Schopenhauer’s pessimism marked „the beginning of a culture“ (BT, 87) („eine Cultur [ist] eingeleitet“, ibid., 118) which Nietzsche described „as a tragic culture“ („als eine tragische [Cultur]“, ibid.), while Goethe’s Faust expressed the despair humanity experienced because of his limited Reason. However, the despair of Faust apparently missed something. Somehow, it was not ‚Greek‘ enough. Winckelmann, Goethe, nor Schiller, including Goethe’s Faust, had not thrived to „penetrate to the essential core of Hellenism and to create a lasting bond of love between German and Greek culture“ (BT, 96) („in den Kern des hellenischen Wesens einzudringen und einen dauernden Liebesbund zwischen der deutschen und der griechischen Cultur herzustellen“, ibid., 129). It did not create the „aesthetic public“ (BT, 38) („aesthetisches Publicum“, ibid., 53)26 that could grasp the tragic situation of humanity: its finitude and therefore utter powerlessness. What would create an ‚aesthetic public‘? Wagner suggested in Beethoven, referring to Faust, that the ‚infinite nature‘ was grasped by Beethoven’s music and that this was the intrinsic and unique merit of music (DS IX, 49). Especially the finale of Beethoven’s Ode to Joy had been successful in restoring humanity’s unity with nature. Nietzsche talks of a similar restoration, suggesting that the „rebirth of tragedy“ (BT, 95) („Wiedergeburt der Tragödie“, KSA, GT, 1, 129) will accomplish the „blissfull reunion with its own being“ (ibid.) („ein seliges Sichwiederfinden“, ibid.), yet „provided, of course, that the German spirit goes on learning, unceasingly, from the Greeks, for the ability to learn from this people is in itself a matter of lofty fame and distinguishing rarity“ (ibid.) („wenn er nur von einem Volke unentwegt zu lernen versteht, von dem überhaupt lernen zu können schon ein hoher Ruhm und eine auszeichnende Seltenheit ist, von den Griechen“, ibid.). Here we encounter again the important Nietzschean idea that the creation and accomplishment of tragic culture is a matter of incessantly learning from the Greeks. Obviously, one must assent to such dedication, in order to fulfil the artistic task of creating a culture in which one is actually 26
See also „aesthetic listener“ (BT, 105) („ästhetische Zuhörer“, KSA, GT, 1, 141), who Nietzsche opposes to the Socratic- critical audience, that judges the moral qualities and not the aesthetic merits of art.
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„capable of conversing about Beethoven and Shakespeare“ (BT, 107) („im Stande […], sich über Beethoven und Shakespeare zu unterhalten“, ibid., 144). This Graecization has to continue. Here lies a task for German music, because it has a „Dionysiac ground“ (BT, 94) („dionysischen Grund“, ibid., 127). In a note, Nietzsche had remarked that Schiller’s poem Ode to Joy was testimony to a specifically German talent for the Dionysian, but only Beethoven’s musical setting perfected the Ode to Joy (KSA, NF, 7, 275).27 In The Birth of Tragedy, the Ode to Joy is considered a part of the „mighty, brilliant course“ (BT, 94) („mächtigen Sonnenlaufe“, KSA, GT, 1, 127) that runs from Johann Sebastian Bach to Beethoven and from Beethoven to Wagner. Nietzsche also reviews the Pastoral Symphony, positing that „even when a musician speaks in images about a composition, as when he describes a symphony as pastoral, calling one movement a ‚scene by a stream‘ and another a ‚merry gathering of country folk‘, these too are merely symbolic representations born out of the music“ (BT, 35) („Ja selbst wenn der Tondichter in Bildern über eine Composition geredet hat, etwa wenn er eine Symphonie als pastorale und einen Satz als ‚Scene am Bach‘, einen anderen als ‚lustiges Zusammensein der Landleute‘ bezeichnet, so sind das ebenfalls nur gleichnissartige, aus der Musik geborne Vorstellungen“ ibid., 50). This is the case, because Beethoven’s words are the result of the discharge of music in images. The relation between music and text or image is not one of mere imitative expression or analogous representation, but is ‚symbolic‘. This means, I think, that the image or word ‚speaks music‘, as Wagner said of the Italian Renaissance painters in Beethoven. Despite these textual descriptions, there is one thing that lacks in Beethoven’s music, though. It contains the ‚Dionysian magic‘, but it does not contain ‚Apollonian semblance‘. It mirrors Dionysus, but its music still seeks fulfilment and expression in semblance too. It exactly misses the discharge of music in image. As Nietzsche pointed out by referring to Raphael’s painting Transfiguration, Apollo and Dionysus are in a mutually dependent relationship (ibid., 39). ‚Release and redemption‘ is what ‚the primordial unity‘ (which is ‚eternal suffering and contradictory‘) aims at (ibid., 38f.). „If one were to transform Beethoven’s jubilant ‚Hymn to Joy‘ into a painting and place no constraints on one’s imagination as the millions sink into the dust, shivering in awe, then one could begin to approach the Dionysiac“, Nietzsche writes (BT, 18) („Man verwandele das Beethoven’sche Jubellied der ‚Freude‘ in ein Gemälde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn die Millionen schauervoll in den Staub sinken: so kann man sich dem Dionysischen nähern“, ibid., 29). Wagner’s music-drama therefore indeed tried to ‚transform‘ musical melody in textual and dramatic motives and characters in order to employ fully the powers of imagination of both artist and beholders. In so doing, Wagner comes closer to true „health“ (ibid.) („Gesundheit“ ibid.), the „universal harmony“ (ibid.) („Evangelium der Weltenharmonie“, ibid.) than Beethoven, while Beethoven came closer to ‚health‘ than Goethe’s Faust. ‚Health‘ stands for the experience that Wagner called ‚paradise‘. It is the renewal of „the bond between human beings“ (ibid.) („der Bund zwischen Mensch und Mensch“, ibid.), and the „festival of reconciliation“ (ibid.) („Versöhnungsfest“, ibid.) of nature „with her lost son, humankind“ (ibid.) („mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen“, 27
Compare chapter 5 of The Birth of Tragedy, where Nietzsche defends Schiller’s lyrical strength, pointing to his avowal that he wrote poetry inspired by a „musical mood“ (ibid., 43).
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ibid.). True health is only gained in tragedy or music-drama, because the aesthetic people can only be created by truly ‚aesthetic play‘. Nietzsche stated that a tragic culture needed an art, which provided ‚metaphysical comfort‘. This now can only be supplied by the ‚Apollonian semblance‘, thus: by drama, ‚aesthetic play‘. Wagner’s music-drama, specifically Tristan and Isolde as we shall see next, therefore is the ideal art form for a tragic-aesthetic culture. Nietzsche regarded it as the fulfilment of the cycle starting with Bach, and ending in Wagner, but also as the fulfilment of Goethe’s Faust and Beethoven’s Ode to Joy. Although Nietzsche calls the finale of Beethoven’s Ninth Symphony the „gospel of universal harmony“ (BT, 18) („Evangelium der Weltenharmonie“, ibid.), only Tristan and Isolde nears or perhaps even fulfils Nietzsche’s ideal. In The Birth of Tragedy, Tristan and Isolde is portrayed as the perfect marriage of Dionysus and Apollo, in which „Dionysus speaks the language of Apollo, but finally it is Apollo who speaks the language of Dionysos“ (BT, 104) („Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schliesslich die Sprache des Dionysus“, ibid., 140).28 Hence, Tristan and Isolde ‚repairs‘ the damage done by the „impudent fashion“ (BT, 18) („freche Mode“, ibid., 29). Wagner’s music-dramas, Nietzsche argues, cause the ‚rebirth‘ of the aesthetic in culture, in which the public (including the critical journalist) does not judge art from a moral (Aristotelian or Schillerian) point of view, nor from a political one („similar to […] times of patriotic or martial sentiment“ (BT, 107); „wie in patriotischen oder kriegerischen Momenten“, ibid., 143), but in a purely aesthetic way. The aesthetic public does not want the return of an „universal moral order“ (ibid.) („sittlichen Weltordnung“, ibid.). – Wagner’s „musical tragedy“ (BT, 106) („musikalische Tragödie“, ibid., 142) brings about the same effect of Greek tragedy, when it transforms the tragic into joy, or rather vindicates modern „dullness of spirit“ (BT, 17) („Stumpfsinn“, ibid., 29) with Dionysian energy and ‚magic‘. This transformation turns the public into a healthy, and aesthetic public. Nietzsche seeks this experience in the Wagnerian theatre, the experience in which „the bond between human beings [is] renewed by the magic of the Dionysiac“ (BT, 18) („unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich […] der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen“, ibid.), and „nature, alienated, inimical, or subjugated, celebrates once more her festival of reconciliation with her lost son, humankind“ (ibid.) („die entfremdete, feindlich oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen“, ibid.). As „a restorative draught“ (BT, 98) („nothwendige Genesungstrank“, ibid., 132), Tristan and Isolde distinguishes itself from ‚textual drama‘, because its music clarifies the drama from within, thus supplying it with metaphysical meaning. Moreover, because of its content (that is, the Dionysian wisdom) and the perfect, balanced manner in which this wisdom is brought forward (so that its effect on the public is not only painful but also comforting, meaning that both the pain for the lost unity with Dionysus as the regained unity is being commemorated and celebrated in tragedy), Tristan and Isolde (ideally) elevates itself to the kernel of human identity. This means that the theatre is the place where 28
Nietzsche attended a performance of Tristan and Isolde, conducted by Hans von Bülow, for the first time at the end of June 1872 in Munich. The only other work of Wagner Nietzsche had heard fully until then was The Mastersingers, which he had heard at the music festival in 1868, in Dresden in January 1869 and in Karlsruhe in April 1869. Thus, when he wrote his extolling passages for The Birth of Tragedy, he knew Tristan mainly from the score, from some piano-play with his friend Krug ten years earlier, and from hearing the prelude at the Euterpe concert in October 1868.
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humanity gains self-awareness. And this is, I think, the core of Nietzsche’s Wagner-hope: Nietzsche expects Wagner’s Bayreuth theatre to be the place where people look into the mirror and see their Dionysian inner core.
Nietzsche’s call for aestheticization and his secret Wagner-scepticism According to Wagner, the reign of ‚impudent fashion‘, Modernity or ‚information society‘ began with the art of printing and culminated in the increasing power of journalism in his day. Wagner considered Beethoven’s ‚sublime innocence‘ exposed in the Ode to Joy a banner of triumph, which heralded a new ‚mythical‘ era. In a letter to Nietzsche, Wagner described this as ‚the great Renaissance‘ in which „Plato embraces Homer and Homer, filled with Plato’s Ideas, only now truly becomes the greatest Homer“ („Platon den Homer umarmt, und Homer, von Platons Ideen erfüllt, nun erst recht der allergrößte Homer wird“ KGB II/2, 145f.). Nietzsche indeed regarded Wagner as the artist who would bring about a ‚great Renaissance‘, on the condition that he would not attempt to unite Homer and Plato, but follow Aeschylus, champion of the tragic chorus. Moreover, Nietzsche regarded Wagner as the successor of Goethe and Schiller because he continued their project to raise a national theatre and in so doing interrupt European decadence, by turning to and learning from the Greeks: „Wagner fulfils, what was initiated by Schiller and Goethe“ („Wagner vollendet was Schiller und Goethe begonnen haben“ KSA, NF, 7, 280). Despite Nietzsche’s high expectations of Wagner’s musical theatre, and despite Wagner’s penetrating influence on Nietzsche’s musical aesthetics and philosophy of culture, Nietzsche was much more critical of Wagner’s aesthetics than The Birth of Tragedy at first sight suggests. This entails that Nietzsche’s trust in Wagner’s cultural project was more ambiguous than realized until today. Although he tried to obscure his concern with an ardent and hyperbolic defence of music-drama, Nietzsche was to a certain extent sceptical of Wagner already during his work on The Birth of Tragedy. As I suggest below, Nietzsche’s explicit Wagner-enthusiasm went together with what I call a ‚secret Wagnerscepticism‘. The Birth of Tragedy therefore has a strange, double, and even contradictory nature, as it both defends Wagner as the renewer of the Greek spirit and criticizes Wagner for a lack of Greek spirit. As Nietzsche confessed many years later, he wrote The Birth of Tragedy because he was concerned about Wagner’s ‚Graecization‘ and ‚southernization‘: „While the thunders of the Battle of Wörth rolled away over baffled Europe – I, in some corner of the Alps, wrote down this book’s [The Birth of Tragedy, MP] decisive thoughts: in essence not so much for me as for Richard Wagner, for whose Graecization and southernization until then no one had really cared“ („Während die Donner der Schlacht von Wörth über das erstaunte Europa weggiengen – schrieb ich in irgend einem Winkel der Alpen die entscheidenden Gedanken dieses Buches nieder: im Grunde nicht viel für mich, sondern für Richard Wagner, um dessen Gräcisierung und Versüdlichung sich bis dahin Niemand sonderlich Mühe gegeben hatte“ KSA, NF, 14, 45).29 29
In the first version of the „Attempt at Self-Criticism“ (KSA, NF, 14, 45). In the definitive version, Nietzsche left his concern about Wagner’s ‚Graecization‘ and ‚southernization‘ out and replaced it with more ‚Zarathustrian‘ language: „While the thunder of the Battle of Wörth rolled across Europe,
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The ‚Graecization‘ and ‚southernization‘ consisted in the development of one’s aesthetic capabilities, the aesthetic view of the world, and the aesthetic translation of the metaphysical, pessimistic truth, together with the development of the ‚eye for depth‘ or the insight into the tragic nature of life. Nietzsche shared Wagner’s plea for more cultural depth. But whereas Wagner put all his money on German music as the provider of cultural depth (or ‚height‘), Nietzsche took a roundabout road, via Greece. Moreover, the ‚Greek‘ road served as a touchstone for the contemporary attempt to bring about a cultural renaissance, in short, for Wagner’s music-drama. While Wagner’s norm was the ‚German‘ character of an artwork (i.e. Beethoven’s Ninth Symphony), Nietzsche’s criterion was Wagner’s ‚Greek‘ or ‚southern‘ spirit. Therefore, The Birth of Tragedy contains a crucial difference in respect of Wagner’s Beethoven-essay. While Wagner extolled Germany’s unique qualifications and ability to dominate and save European culture, Nietzsche built a Germany-critical, thus self-critical attitude into his account. Contrary to Wagner, who made a strict opposition between the ‚bad‘ cultural influences of France and Italy and the ‚good‘ cultural influence of Germany, Nietzsche criticized Germany in the first place, especially for accommodating cultural power to military-political power.30 In Nietzsche’s view, art only might establish and preserve a culture and its ‚unity of style‘. Equalizing spirit and state, on the other hand, is clear-cut expression of the ‚philistinism‘, the cultural decadence, Nietzsche claims to fight. ‚Philistinism‘ in the Nietzschean sense is „the absolute negation of the aesthetic“.31 However, Nietzsche’s cultural war is not only directed against the philistine idea that ‚state‘ and ‚culture‘ are taken together, but also against the moral interpretation of art. The clash between moral and aesthetic value forms the apex of The Birth of Tragedy.32 This, in turn, implies that the rebirth of aesthetic culture can only
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the brooder and lover of riddles who fathered the book was sitting in some corner of the Alps, utterly preoccupied with his ponderings and riddles and consequently very troubled and untroubled at one and the same time, writing down his thoughts about the Greeks – the core of this odd and rather inaccessible book […]“ (BT, 3) („Während die Donner der Schlacht von Wörth über Europa weggiengen, sass der Grübler und Räthselfreund, dem die Vaterschaft dieses Buches zu Theil ward, irgendwo in einem Winkel der Alpen, sehr vergrübelt and verräthselt, folglich sehr bekümmert und unbekümmert zugleich, und schrieb seine Gedanken über die Griechen nieder, – den Kern des wunderlichen und schlecht zugänglichen Buches“ KSA, GT, 1, 11). In the first Untimely Meditation about anti-Wagnerite David Strauss, Nietzsche emphasized that the military victory of Germany over France should certainly not be regarded as a cultural victory: ‚Geist‘ and ‚Reich‘, spirit and state, should not be mistaken for one and the same thing. See especially KSA, DS, 1, 159ff. This self-critical turn is traceable to a letter to Carl von Gersdorff, in which Nietzsche admitted: „My worries about the current state of culture are big […]; In confidence, I regard current Prussia as an enormous powerful threat for culture“ („Vor dem bevorstehenden Culturzustande habe ich die größten Besorgnisse […] Im Vertrauen: ich halte das jetzige Preußen für eine der Cultur höchst gefährliche Macht“ (KSB, 3, 155). Malcolm Bull, The Ecstacy of Philistinism, in: Dave Beech, John Roberts, The Philistine Controversy, London 2002, 51. Daniel Came, Nietzsche’s Attempt at a Self-Criticism: Art and Morality in The Birth of Tragedy, in: Nietzsche-Studien, 33 (2004). This was also what Malcolm Bull implied, when he claimed: „read in the light of Nietzsche’s subsequent attack on Strauss’, The Birth of Tragedy emerges as an account not just of the birth of tragedy from the spirit of music, but also of the birth of philistinism from the spirit of rationality“ (in: The Ecstacy of Philistinism, 62).
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happen from the musical spirit (as in ‚of the muses‘, thus artistic spirit). This is indeed Nietzsche’s central claim. What exactly does Nietzsche’s ‚aestheticism‘ or ‚aestheticist claim‘ precisely come down to? Is it the positive formulation of the ‚anti-moralistic‘ or the ‚immoral‘ view of life, or is there more to it? Taking the above into account, it occurs to me that the aesthetic view Nietzsche proposes is not only a view ‚beyond good and evil‘. For such an interpretation, his ‚immorality‘ is too closely related to art as the sole creator of culture and the promoter of life. Indeed, in stating famously and somewhat enigmatically that „art ist the highest task and the true metaphysical activity of this life“ (BT, 14) („Kunst d[ie] höchste[…] Aufgabe und d[ie] eigentlich metaphysische[…] Thätigkeit dieses Lebens [ist]“ KSA, GT, 1, 24), Nietzsche posits the field of aesthetics as the only field in which humanity can reach its innermost core and full growth. For Nietzsche, this entails the task „to look at science through the prism of the artist, but also to look at art through the prism of life“ ( BT, 5) („die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens“, ibid., 14). Nietzsche makes it humanity’s task to spread art and the aesthetic view to all directions of life and thereby affirming life and creating culture. Only art may establish and preserve a culture and its ‚unity of style‘ (KSA, DS, 1, 163). Nietzsche maintained what we may call a broad conception of aestheticism, one which not only transcended the realm of morality, but also those of art and the experience of beauty: it sought to bridge and penetrate all domains of life.33 However, we may add to this that Nietzsche’s aestheticism also implies the protection of the aesthetic sphere against non-aesthetic (moral, dialectical, and political) intrusion and pollution. Moreover, we must consider that it implies the (Kantian and Schillerian) idea that our faculty of aesthetic judgement must be cultivated. In brief, the aesthetic realm must be protected from non-aesthetic influences, while the non-aesthetic must be viewed from an aesthetic perspective. Both positions are and must remain innocent, meaning not polluted by moral views. The aesthetic realm to Nietzsche is the realm of innocence, the realm in which humanity regains its ‚childlike innocence‘. This seems to be confirmed by Chapter 22 of The Birth of Tragedy, where Nietzsche describes the childlike innocence in the Schopenhauerian way of ‚will-less‘, which implies the Kantian ‚without interest‘. The child (and the genius is childlike in its play and conception too) plays as it is ordered to by its fantasy, by the figures and voices of its imagination. It plays with dwarfs, dragons, giants, in brief, with mythical figures. The child creates myths. Moreover, the child is ‚at home‘ in the world, it does not experience any differentiation with nature and other children, they are all united in the play. Nietzsche describes this experience as a „supreme, artistic, primal joy in the womb of the Primordial Unity“ (BT, 105) („künstlerische Urfreude im Schoosse des Ur-Einen“ KSA, GT, 1, 141), a „return to home and origin“ („Rückkehr zur Urheimat“, ibid.). The child is the Mythical Man of the future, on whom the future of Europe depends. What Europe need is more fantasy: „Without myth […] all culture loose their healthy, creative, natural energy; only a horizon surrounded by myths encloses and unifies a cultural movement. Only by myth can 33
As Rebecca Bamford expressed: „Nietzsche’s own version of aestheticism is constituted in the deliberate application of aesthetic concerns to nonaesthetic situations and arenas“, in: Nietzsche’s Aestheticism and the Value of Suffering, in: Paul Bishop, Roger H. Stephenson (ed.), Cultural Studies and the Symbolic 1, Leeds 2003, 66.
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all the energies of fantasy and Apolline dream be saved from aimless meandering“ (BT, 108) („Ohne Mythus aber geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab. Alle Kräfte der Phantasie und des apollinischen Traumes werden erst durch den Mythus aus ihrem wahllosen Herumschweifen gerettet“, ibid., 145). Society needs „the mythical fundament“ (ibid.) („das mythische Fundament“, ibid.). A humanity without myths is ‚homeless‘, ‚heimatlos‘. According to Nietzsche, culture is a tragic and a healthy culture. Such a culture offers humanity a home, a mythical and healthy home. True culture, according to Nietzsche, offer humanity a „mythical home“ (ibid.) („mythischen Heimat“, ibid., 146). Both Wagner’s and Nietzsche’s philosophy of culture comes down to two basic ideas. The first is that Italian and French influences are responsible for the current cultural decadence in Europe. The second is that Germany will interrupt this process of decay by reinstalling myth and thus returning humankind to its original home, its childlike innocence, and imagination. However, while Wagner described this as a ‚paradise‘, Nietzsche avoids this term, associating it with the ‚idyllic‘ tendency of Italian opera and Rousseau. Instead he uses terms like ‚health‘ and ‚Urheimat‘. Although this seems like a harmless, trivial difference of terms rather than of concepts, it may indicate that Nietzsche had some difficulty with Wagner. Wagner’s theoretical influence on and parallelism with Nietzsche is obvious. So is the fact that Nietzsche was a Wagner-enthusiast, regarding the composer as the saviour of European culture. However, it may be that Nietzsche’s Wagner-enthusiasm was accompanied by an undertone of Wagner-scepticism. When Nietzsche wrote that he had written his book out of concern for Wagner’s ‚Graecization‘ and ‚southernization‘, he meant in fact that Wagner was not ‚tragic‘ enough, because he was too moralistic and optimistic in describing his ideal Beethoven. Nietzsche does not explicitly point to Wagner’s description of Beethoven’s music as expression of „sublime naivety“ („erhabenster Naivetät“ DS IX, 78) because of his belief that ‚man is good after all‘, this man being the „primordial type of innocence“ („Urtypus der Unschuld“, ibid., 79). However, he criticizes the socialist-utilitarian translation of paradise into the goal to gain happiness for as many as possible (BT, 24; KSA, GT, 1, 117), Italian opera, German classicism, and Rousseau (ibid., 37) precisely for their ‚idyllic‘ and ‚moral‘ belief in ‚the good man‘. In so doing, Nietzsche implicitly criticizes exactly the point that Wagner venerated most in his forerunner Beethoven: his rejuvenation of paradise, in which humankind would experience its original innocence, and primordial ‚good man‘34, that is Wagner’s moral and idyllic tendency. – However, we can raise the question if it is Wagner or Nietzsche who should be blamed for a too idyllic view of things? Despite his criticism of German Classicism and of the current German inclination to mix up military and cultural powers, 34
The idea that Wagner might indeed have been too ‚idyllic‘ for Nietzsche’s aestheticist standards is confirmed in several Nachlass notes of 1871. There Nietzsche described Wagner as a ‚radical idyllist‘ and a composer of ‚tragic idylls‘, of which Tristan and Isolde is regarded a typical example (KSA, NF, 7, 287, 306f., 313f., 324). See for more information on Nietzsche’s apprehension of Wagner as composer of ‚tragic idylls‘: Martine Prange, Valuation and Revaluation of the Idyll: Schillerian Traces in Nietzsche’s Early Musical Aesthetics, in: Volker Gerhardt, Renate Reschke (ed.), Friedrich Nietzsche. Zwischen Musik, Philosophie und Ressentiment (Nietzscheforschung 13), Berlin 2006.
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Nietzsche is perhaps not self-critical enough. By hiding his Wagner-scepticism behind a critique of Rousseau, the socialist-utilitarian translation of paradise into the goal to gain happiness for as many as possible (ibid., 117), Schiller’s concept of the idyll, and Italian opera’s idyllic humanism, he drew a too idyllic picture of Wagner as purely tragic counterpoint of Modernity.
Conclusion The Birth of Tragedy (1872) is motivated by the cultural goal to save Europe from artistic decadence. There, Friedrich Nietzsche expressed his expectation that Richard Wagner’s music-drama would lead Europe out of cultural decadence due to the fact that it was a ‚Greek‘ form of art. Richard Wagner would conduct Europe out of ‚the jungle of paradise lost‘ and spawn ‚the great Renaissance‘. This cultural expectation formed the directive of The Birth of Tragedy, just as it was the directive of Wagner’s celebratory essay Beethoven. Wagner and Nietzsche wanted to accomplish Goethe and Schiller’s ‚cultural war‘ (‚Kulturkampf‘) by way of a ‚musicalization‘ and ‚mythologicization‘ of art and culture, and, in Nietzsche’s case, the general ‚aestheticization‘ of the moral, political, and military view of life. According to Nietzsche, Wagner’s Greek, tragic insight in life and his musical genius enabled him to mirror this wisdom in musical symbolism which would transform the public into an ‚aesthetic‘ public. In so doing, he would ‚redeem‘ German culture and, in spreading his ‚deep joy‘ ‚over the mountains‘ alike, European culture. Nietzsche’s task in this ‚aestheticization of culture‘ was not only to explain Wagner’s cultural importance to a broader, academic, public, but also to educate Wagner in the Greek way of life, because, in order to accomplish Goethe and Schiller’s ‚cultural war‘ successfully, Wagner had to ‚Graecize‘ first. Nietzsche took it as his most important task (as a specialist in ancient Greek art and culture – to teach Wagner as to how to complete his personal ‚Graecization‘. Therefore, the analysis Nietzsche gave in the first fifteen chapters of The Birth of Tragedy were not only meant as informing his colleagues in philology, but also, and I would even say in the first place, to instruct Wagner. Without this instruction, Wagner would never find the firm footing the ‚great Renaissance‘ needed, according to Nietzsche. This entails, however, that Nietzsche’s explicit Wagner-defence in the book has an undertone of ‚secret scepticism‘ regarding Wagner’s moral and idyllic, ‚sick‘ inclinations. The Birth of Tragedy is therefore indeed written out of Nietzsche’s concern for Wagner’s ‚Graecization‘ and ‚Southernization‘, as Nietzsche had written himself in retrospect. However, Nietzsche’s concern for Wagner’s ,Graecization‘ and ‚southernization‘ arose from his concern for Europe’s ‚Graecization‘ and ‚southernization‘. This concern formed the core of Nietzsche’s philosophical anthropology and philosophy of culture. Man and culture, Europeans and Europe, had to return to their Greek roots, guided in their journey by Germany, so Nietzsche maintained. In The Birth of Tragedy, Nietzsche was involved with forging a „lasting love“ (BT, 97) („dauerende Liebesbund“ KSA, GT, 1, 131) between Greek and German culture, which would, in the end, purify Europe as a whole from its modern, ‚Socratic‘ deviation from the truth. – Despite his doubts, thus, Nietzsche
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defended Wagner in The Birth of Tragedy insofar he was ‚Greek‘, „as a foreign country“ („als Ausland“), as he declared in Ecce Homo (KSA, EH, 6, 288), and even as „European event“ (BGE, 148ff.) („Europäisches Ereigniss“ KSA, JGB, 5, 201ff.).35 Indeed, had Wagner not written in ‚Art and Revolution‘ (‚Kunst und Revolution‘): „Greek art spanned the mind of a beautiful nation; in like manner should the artwork of the future span the minds of a free humanity, exceeding all borders of nationalities; his national soul should not be more than a stain, an incentive of individual multiplicity, not a hemming limit“ („Umfaßte das griechische Kunstwerk den Geist einer schönen Nation, so soll das Kunstwerk der Zukunft den Geist einer freien Menschheit über aller Schranken der Nationalitäten hinaus umfassen; das nationale Wesen in ihm darf nur ein Schmuck, ein Reiz individueller Mannigfaltigkeit, nicht eine hemmende Schranke sein“).36 And when he was only twenty-one years old, Wagner had noted, in his address „On German opera“ („Die deutsche Oper“, 1834): „We must grasp our time and attempt to express its new forms; and the master of this will be the one who writes neither Italian nor French – neither German“ („Wir müssen die Zeit packen und ihre neuen Formen auszubilden suchen; und der wird der Meister sein, der weder italienisch, französisch – noch aber auch deutsch schreibt“).37 These expressions are testimony to Wagner’s early Europeanism and cosmopolitan spirit, characteristics which are traded for a dubious form of nationalism in Beethoven. However, the young Wagner propagated what Nietzsche later, during his ‚free spirit‘ period of anti-Wagnerism, designated as the need to ‚de-Germanize‘ (‚entdeutschen‘) (WA, 236)38, and to „become Mediterranean“ („méditerraniser“, KSA, WA, 6, 16). Remarkably, around 1885, when Nietzsche rewrote the Human all too Human books, the ‚will for Renaissance‘ still formed the hope of Nietzsche’s philosophy. Then, however, he considered the Renaissance to consist in the ‚abolition‘ (‚Vernichtung‘) or ‚amalgamation‘ (‚Verschmelzung‘) of the European nations into one, united Europe which would be inhibited by a „mixed race“ of „good Europeans“ (HH-1, 174f.) (KSA, MA-1, 2, 309). This is a Europe for „free spirits“ (HH-1, 6) (ibid., 15), who keep remote from politics (KSA, NF, 8, 348) and dedicate themselves to the old, German task of making European culture the „continuation of the Greek“ (HH-1, 174f.) („Fortsetzung der griechischen“ KSA, MA-1, 2, 311). In this will to create the ‚lasting love‘ with the Greeks, in this process of ‚Graecization‘, Nietzsche declared in a Nachlass note‚ „resided (and always resided) my hope for the German soul!“ („liegt [und lag von jeher] meine Hoffnung für das deutsche Wesen!“ KSA, NF, 11, 679). Although at that time Nietzsche considered his former Wagnerism a matter of youthful „self-blinding“ (BGE, 31f.) („Selbst-Verblendung“ KSA, JGB, 5, 49), because, in a typically German way, he had mistaken Wagner’s 35
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Dieter Borchmeyer, „Ein Dreigestirn ewig verbundener Geister“, Wagner, Nietzsche, Thomas Mann und das Konzept einer übernationalen Kultur, in: Heinz Gockel (ed.), Wagner – Nietzsche – Thomas Mann, Frankfurt/M. 1993, 4. Also: KSA, JGB, 5, 198ff. Borchmeyer writes that to Nietzsche, Wagner was „the medium of de-provencialisation and becoming European“ („das Medium der Entprovinzialisierung und Europäisierung“, 7) and remarks that the move to Bayreuth was interpreted by Nietzsche as a fall back into provencialism. Cited after Dieter Borchmeyer’s quotation (Ein Dreigestirn ewig verbundener Geister, 10). Ibid. The desire to de-Germanize may be considered as a typically German-Romantic desire, though.
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„obscurity“ („Unklarheit“) for „depth“ („Tiefe“ KSA, NF, 11, 674)39, he still assigned a special role to the Germans in the achievement of this renaissance, as „people of the middle“ („Volk der Mitte“, ibid., 703). He still hoped that the Germans would be the pioneers of a new European Renaissance. However, this time they would be pioneers not because of Germany’s unique ‚metaphysical‘, ‚aesthetic‘, and ‚tragic talent‘, but rather due to their talent for ‚de-Germanization‘ (‚Entdeutschung‘, ibid., 702) and ‚Mediterranization‘40. The renaissance, Nietzsche then understood the matter, had to be generated not so much by closing off from French taste and Italian formalism as with the help of „our good will, our patience, our fair-mindedness and gentleness with what is strange“ (GS, 186) („unsere guten Willen, unsere Geduld, Billigkeit, Sanftmüthigkeit gegen das Fremde“ KSA, FW, 3, 560). The cultural redemption had to be established by ‚borrowing‘ (‚entlehnen‘) ‚forms […] from abroad‘ (‚die Formen aus der Fremde‘) in order to ‚transform them into the fairest appearance of beauty‘ (‚zum schönsten Scheine umbilden‘), yet still for the reason that „that [my underlining, MP] is Greek“ (AOM, 266) („das [my underlining, MP] ist griechisch“, KSA, VM, 2, 474).
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At that time, Nietzsche underlines that Wagner used to be a ‚free spirit‘, an atheist and immoralist. Of course Nietzsche hints at the pre-Parsifalian Wagner (KSA, NF, 11, 592). See for more information on Nietzsche’s philosophy as a plea for ‚Mediterranization‘: Martine Prange, Lof der Méditerranée, Nietzsches vrolijke wetenschap tussen noord en zuid, Kampen 2005.
ANDRÁS CZEGLÉDI
„Er hat mich kaputt gemacht“ Zur Nihilismusdeutung Friedrich Nietzsches1
Der Haupttitel „Er hat mich kaputt gemacht“ stammt von Martin Heidegger und bezieht sich auf Friedrich Nietzsche. Hans-Georg Gadamer und Otto Pöggeler waren die Zuhörer, denen gegenüber sich Heidegger so geäußert hat. Was aber könnte diese mundartliche und gleichzeitig so kanonisierte Äußerung Heideggers tatsächlich bedeuten? Mit fallen dazu drei Gedanken ein. Erstens: die sich verbreitende englische Übersetzung „He corrupted me“ (dazu die gedankenreichen Texte von Daniel Fidel Ferrer und Alfred Denker) ist sicher eindeutig und zum Teil aber irreführend; sie weckt zu starke sokratische Reminiszenzen. Zweitens: sicherlich ist der Heideggersche Satz nicht einfach Ausdruck einer Art von Eifersucht, es sei denn, in dem leidenschaftlichen und ironisierenden Sinne nach einem Schleiermacher-Fragment: ‚Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft‘; obzwar Heidegger persönlich, ich meine die Schreib- und Denkweise des Philosophen, einer der wichtigsten und tief leidenschaftlichen Nietzsche-Interpreten und Philosophen, Ausgangs- und Bezugspunkt fast sämtlicher bedeutender Meta-Interpretationen (Kommentare der Nietzsche-Interpretationen) von der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts an ist. Am Anfang Nietzsche, am Ende Nietzsche, dazwischen Heidegger, so und obwohl dieser Kentaur-Heidegger immer und lebenslang hoffnungslos ohne einen Hauch von Ironie à la Nietzsche blieb und was das eigentlich Ironische an der Sache ist. Drittens: höchstwahrscheinlich hängt eine der unbestrittenen und unumgänglichen Bedeutungen des Heidegger-Satzes mit seinem großangelegten Versuch zusammen (meines Erachtens mit dem ‚unvergänglichsten‘ Teil dieses Versuches), Nietzsches Nihilismus-Auffassung und Nihilismus-Deutung zu interpretieren und zu erläutern. Es wird hier vor allem um diesen dritten Punkt gehen. Also nicht detailliert um alle möglichen Aspekte des Nietzscheschen Nihilismusgedankens, um die philologische Textualität, um die Begriffsgeschichte, um die Geschichte der Konzeption (Herbert Frey hat seine Dissertation dem Thema der Genesis des Nihilismus bei Nietzsche gewidmet). Wir berühren sozusagen das Ende des Nihilismus bei Nietzsche. Und es geht auch nicht um das von den Anfängen seines Denkens immer anwesende ästhetische Interesse eines nicht 1
Überarbeitete Fassung eines Vortrages auf der Internationalen Nietzsche-Tagung Gedankensplitter zu Nietzsche vom 6.–8. September 2006 in Szeged (Ungarn).
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begriffsgeschichtlich, sondern konzeptionell gefassten Nihilismus (man denke an den berühmten locus classicus in der Geburt der Tragödie, dass die Welt und das Dasein nur als ästhetisches Phänomen ewig gerechtfertigt seien [!] und auch an das Selbstverständnis und an die Nihilismuskritik der späten Vorrede), an die Wertebezogenheit der ‚Entwertung der obersten Werte‘, an die ‚décadence‘. Zuletzt geht es auch nicht um die brisanten inneren Unterscheidungen zwischen aktiven und passiven, vollkommenen und unvollkommenen Nihilismen, zwischen den verschiedenen pessimistischen Vorformen der historisierenden Schwäche und der analytischen Stärke, zwischen psychologischen Zuständen, die als Nihilismen auftreten, zwischen extremen, kontagiösen, theoretischen, praktischen, ekstatischen und anderen Nihilismen (Ganz zu schweigen von den durch die Kommentatoren weiter verkomplizierten ‚Ergänzungen‘, als ob ‚klassischer‘ oder ‚reaktiver‘ Nihilismus originale Nietzsche-Termini wären), nicht um die allgemeine Wirkungsgeschichte. Um mindestens einen flüchtigen Eindruck von der philologischen Problematik und des wichtigsten Heideggerschen Anhaltspunktes im Verständnis der Nihilismuskonzeption zu gewinnen, soll Heidegger selbst zu Wort zu kommen: „Nietzsche hat seine Erkenntnis des europäischen Nihilismus nicht in dem geschlossenen Zusammenhang dargestellt, der seinem inneren Blick wohl vorschwebte, dessen reine Gestalt wir nicht kennen und auch nicht mehr aus den erhaltenen Bruchstücken werden ‹erschließen› können. Nietzsche hat gleichwohl, innerhalb des Bezirkes seines Denkens, das mit dem Titel ‹Nihilismus› Gemeinte nach allen wesentlichen Richtungen und Stufen und Arten durchdacht und die Gedanken in Niederschriften verschiedenen Umfanges und verschiedenen Prägungsgrades festgelegt. Ein Teil, aber nur ein streckenweise willkürlich und zufällig [Ich würde sagen: ‚willkürlich‘ – aber ob ‚zufällig‘? – A. C.] ausgewählter Teil, ist nachträglich in dem Buch gesammelt, das nach Nietzsches Tod aus seinem Nachlass zusammengestückelt wurde und unter dem Titel Der Wille zur Macht bekannt ist. Die dem Nachlass entnommenen Stücke sind ihrem Charakter nach unter sich ganz verschieden: Überlegungen, Besinnungen, Begriffsbestimmungen, Leitsätze, Forderungen, Voraussagen, Aufrisse längerer Gedankengänge und kurze Merkworte […] In dem so angefertigen ‹Buch› sind Gedankengänge aus ganz verschiedenen Zeiten und aus verschiedenen Ebenen und Perspektiven des Fragens willkürlich und gedankenlos aneinander- und durcheinandergeschoben. Alles in diesem ‹Buch› Veröffentlichte ist zwar Niederschrift Nietzsches, und dennoch hat er es so niemals gedacht.“2 Aber Heidegger hat(te) natürlich eine klare Perspektive, von welcher aus das philologisch-editorische Problem gelöst werden kann. Schlagwort/Schlüsselwort ‚Seinsgeschichte‘: „Inwiefern jedoch auch andere, entweder in den folgenden Büchern untergebrachte oder überhaupt nicht in dieses Nachlassbuch aufgenommene Stücke des Nachlasses mit gleichem, ja sogar mit mehr Recht unter den Haupttitel Der europäische Nihilismus gehören, haben wir hier nicht zu erörtern. Denn wir wollen Nietzsches Gedanken des Nihilismus durchdenken als das Wissen eines in die Weltgeschichte hinausdenkenden Denkers. Solche Gedanken sind niemals die bloße Ansicht dieses einzelnen Menschen; noch weniger sind sie der vielgenannte ‹Ausdruck seiner Zeit›. Die Gedanken eines Denkers vom Range Nietzsches sind der Widerklang der noch nicht erkannten Geschichte des Seins in dem Wort, das der geschichtliche Mensch als seine ‹Sprache› spricht.“3 2 3
Martin Heidegger, Nietzsche, Bd. 2, Pfullingen 1961, 42. Ders., ebd., 43.
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(Frage:) Was ist unter dem unvergänglichsten Teil der Heideggerschen Interpretation zu verstehen? (Antwort:) Die Betonung, nein, nicht einfach die Betonung, vielmehr geradezu die Entdeckung des Nihilismus als dringende Logik, das heißt die Entdeckung des durch Nietzsche zu seinem metaphysischen Endstadium gelangenden Nihilismus als 1. (esoterisch formuliert) eine innere und dringende, unvermeidbare Logik, 2. (exoterisch gesagt, ‚für das Volk‘) die innere Logik des Westens: „[D]enn der Nihilismus ist weder nur eine Geschichte, noch auch der Grundzug der abendländischen Geschichte, er ist die Gesetzlichkeit dieses Geschehens, seine ‚Logik‘.“4 Und eben dieser Standpunkt der strengen Gesetzmäßigkeit, dass wir den Nihilismus nicht etwa willkürlich oder optional wählen können, wurde und wird auch von den meisten anspruchsvollen Kritikern vertreten, die im allgemeinen Heidegger oder in concreto seine Feststellungen bezüglich der Nietzscheschen Philosophie ablehnen. Diese Nicht-Optionalität, Notwendigkeit ist eine, sagen wir es so, gemeinsame Einsicht der Nietzsche-Forschung nach Heidegger. Um nur ein Beispiel zu nennen: Gilles Deleuze, der sehr stark gegen Heidegger polemisierte, besonders in punkto Nietzsche-Interpretation (übrigens: praktisch könnten hier alle französischen Vertreter der sogenannten ‚Differenz‘ erwähnt werden). Heidegger habe der Nietzscheschen Philosophie eine Deutung gegeben, die vielmehr mit Heideggers eigenen Gedanken zu tun hatten; er habe seine Ansichten über die ontologische Differenz bzw. Seinsgeschichte in Nietzsche hineingebracht, wiewohl letzterer der Auffassung entgegengetreten ist, die Affirmation im Sein zu gründen. Das sind wesentliche und nicht unbegründete Einwände des französischen Philosophen. Und dieser Deleuze hat in seinem Buch Nietzsche und die Philosophie Heidegger als den Nietzsche-Interpreten auf dem Gebiet des Nihilismus anerkannt.5 Demnach ist Nihilismus ‚die‘ Vorbedingung aller Metaphysik und der wirkliche Motor der universalen Geschichte. Deleuze zitiert in seinem Buch Heidegger im vollen Einvernehmen: „Der Nihilismus bewegt die Geschichte nach der Art eines kaum erkannten Grundvorganges im Geschick der abendländischen Völker. Der Nihilismus ist daher auch nicht nur eine geschichtliche Erscheinung unter anderen, nicht nur eine geistige Strömung, die neben anderen […] innerhalb der abendländischen Geschichte auch vorkommt.“6 Aber warum Logik des ‚Westens‘, warum ‚Geschick der abendländischen Völker‘ – und bei Nietzsche bereits ‚der europäische Nihilismus‘? Besonders wenn nach Nietzsche der Buddhismus die andere paradigmatische nihilistische Bewegung neben dem Christentum sei, und es ist ja bekannt, wie der Philosoph in seinen späten Werken und Fragmenten gewissermaßen die Überlegenheit des Buddhismus betont hat! Was ist der Sinn der oben formulierten Paraphrase, die eine esoterische und ebenso eine exoterische Formulierung unterscheidet? Erinnern wir uns: Esoterisch = Nihilismus ist eine dringende, unvermeidbare Logik; exoterisch = die innere Logik des Westens! Diese Fragen sind weniger endgültig zu beantworten, als vielmehr zu entfalten. Auf diese Weise erhalten wir etwa sehr wichtiges: die denkerische Form dieser Logik des Nihilismus. 4 5 6
Ders., ebd., 43. Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, München 1976 (Nietzsche et la philosophie, Paris 1962). Martin Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: Ders., Holzwege, Frankfurt/M.1950, 218. Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, 161ff. Auf die von Deleuze nicht zitierten resp. ausgelassenen Stellen bei Heidegger wird zurückzukommen sein. Sie sind mindestens ebenso interessant.
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Um sich über die Tragweite der Sondierung ‚exoterisch – esoterisch‘ beim Nietzsche der achtziger Jahre klar zu werden, also bei dem Denker, für den die Nihilismusproblematik häufig begrifflich explizit und zentral wiederkehrt, soll man die späten Fragmente und Giorgio Colli, einen der Herausgeber der Kritischen Werkausgabe lesen. Colli schrieb in seinem Nachwort zu den Nachgelassenen Fragmenten vom Herbst 1885 bis Herbst 1887: „Eines der nachgelassenen Fragmente verdient die ganz besondere Aufmerksamkeit dessen, der am ‹Rätsel› Nietzsche interessiert ist: ‹Exoterisch – esoterisch/1. – alles ist Wille gegen Willen/2. Es giebt gar keinen Willen/1. Causalismus/2. Es giebt nichts wie Ursache-Wirkung›‘ (5, [9]). Wenn wir nicht fehlgehen, greift Nietzsche hier auf die antike Unterscheidung zwischen gemeinverständlicher Mitteilung und mystischer Ausdrucksweise zurück, und in den Beispielen, die er anführt, erniedrigt er seine These vom Willen – das heißt: vom Willen zur Macht – auf die Ebene populärer Darstellung […] Bemerkenswert ist, dass sich Nietzsche die Möglichkeit einer Antithese zwischen exoterischer und esoterischer Darlegung nicht am Schluss einer theoretischen Ausarbeitung – vielleicht nach der Entdeckung ihrer schwachen Punkte – klarmacht, sondern sie an den Anfang seiner Theorie vom Willen zur Macht stellt. Noch bevor diese Theorie entwickelt ist, wird sie in den Augen ihres Schöpfers zu nichts anderem als dem exoterischen Ausdruck seines Denkens. Und dabei hat man sich ein Jahrhundert lang um die Interpretation und Bewertung der magischen Formel vom Willen zur Macht bemüht! Es sieht fast so aus, als habe Nietzsche überlegt, dass ein Philosoph, der überzeugen will, ein System brauche, eine geschlossene Form, die sowohl die Intuition anspricht wie greifbare, unveränderliche Anhaltspunkte liefert. Der Anti-Metaphysiker muss zum Metaphysiker werden. Schopenhauer, sonst das Angriffsziel […] wird dabei helfen und das Material für diese konstruktive Phase liefern“ (KSA, NF, 13, 651ff.). Natürlich schildert Colli dann, was er die ‚Überwindung Schopenhauers‘ nennt, hebt die Subjekt-Kritik hervor, weist darauf hin, wie sich exoterischer Wille zum System und esoterisches Misstrauen bei Nietzsche paaren: „Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Wege“ (KSA, GD, 6, 63). Und wenn Colli Deleuze gewesen wäre, hätte er hinzugefügt, dass der Wille bei Schopenhauer eins sei, bei Nietzsche habe er aber immer eine Vielheit, und man sollte eher von ‚Kräften‘ reden. Wenn schon ‚exoterisch-esoterisch‘ bzw. Deleuze, dann schon eher Karl Löwith. Die beiden Denker, die aus ganz unterschiedlichen Richtungen kommen und in ganz verschiedene Richtungen gehen, unterstreichen denselben Zug der Trennung ‚exoterisch – esoterisch‘ des Nietzscheschen Gedankens: exoterisch – antichristlich, esoterisch – die ewige Wiederkehr des Gleichen.7 Darnach verschleiert der populär-vulgäre und popularisierte und vulgarisierte Nietzsche den echten Denker, der ‚Fluch auf das Christentum‘ den Philosophen, dem zufolge das Christentum ‚keine historische Ursache‘, sondern ein (wie auch immer sehr wichtiger und wesentlicher) ‚historischer Träger‘ des Nihilismus sei. Hier wollte ich ankommen: am symbolischen Ort von Löwiths Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Eschatologie und Geschichtsphilosophie. Die denkerische Form der vielmals erwähnten ‚Logik des Nihilismus‘ bei Nietzsche ist von der geschichtsphilosophischen Prägung dieser Logik bestimmt. Wie in Eugen Fink ein spezifisch akzentuierter Heidegger widerhallt: „Im Grunde steckt darin [gemeint ist die Nihilismusproblematik 7
Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie (1953) (Zweiter Anhang).
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im kompilierten Spätwerk Der Wille zur Macht – A. C.] Nietzsches ganze Geschichtsphilosophie […] Von Anfang an ist der Nihilismus in der metaphysischen Philosophie, der christlichen Moral und Religion angelegt, bleibt lange verborgen und kommt als das ‹Geheimnis› dieser verbündeten Geschichtsmächte an den Tag, wenn sie zu Ende laufen.“8 Noch einmal: Nietzsche macht aus dem Nihilismus weder ein alleinstehendes historisches Ereignis, noch eine Reihe von Ereignissen. Vielmehr konzipiert er den Nihilismus als die notwendige Vorbedingung, als ‚die‘ historische Teleologie, die (End-)Zweckmäßigkeit einer universell aufgefassten Geschichte, ‚den Sinn der Geschichte‘. Dasselbe gilt für die Metaphysik, weil alle Metaphysik vom Standpunkt einer angeblichen übersinnlichen Welt das Sein (oder eher: das Werden) verurteile, das heißt das Nichts transzendiere. Dies alles könnte/müsste/sollte gewöhnlich so vervollständigt werden, dass einerseits eine damit zusammenhängende Nietzsche-Kritik aller möglichen Metaphysik und der Entwurf einer Alternative als die Umkehrung und Vollendung des westlichen metaphysischen Denkens gedeutet wurde (nämlich von Heidegger), indessen in vielen anderen Auslegungen bereits als ein neuer Aufbruch erscheint, der Denkmotive einführe, die in der abendländischen philosophischen Tradition tief verdrängt worden sind: „‚Lachen, Spiel, Tanz‘ und den in seiner tiefen Bedeutung bis heute nicht ausgeloteten Gedanken der ‚ewigen Wiederkehr des Gleichen‘.“9 Andererseits heißt es geschichtsphilosophisch freilich die Kritik aller möglichen universalen und teleologischen Geschichtsphilosophie. Aber ‚eine‘ negative Teleologie und Notwendigkeit bleibt natürlich, nämlich die des Nihilismus, oder wie Fink formuliert: „Der Nihilismus ist im Kommen, wir alle leben in seinem Advent.“10 Dem Nietzscheschen Selbstverständnis zufolge ist dieses Kommen („Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: Die Heraufkunft des Nihilismus“, KSA, NF, 13, 189) erzählbar, weil über die düstere Zukunft eine Logik herrscht („Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden: denn die Notwendigkeit selbst ist hier am Werke“, ebd.) und weil der Erzähler diese Logik verstanden und über sie gesiegt hat: „als der erste vollkommene Nihilist Europas, der aber den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat, – der ihn hinter sich, außer sich hat“ (ebd.). Jetzt schon wieder: Europa! Und nicht zufällig: die letzten drei Zitate Nietzsches stammen aus der ‚Vorrede‘ zur von der Schwester besorgten Text-Kompilation Der Wille zur Macht, deren sogenanntes erstes Buch den Titel Der europäische Nihilismus trägt. Ist nur Europa der Ort des Nihilismus? Ist nicht schon der Titel ein Hinweis auf den damals geläufigen Ausdruck, den auch unser guter europäischer Philosoph benutzt und dessen Inhalt eine außerordentlich wesentliche Quelle seiner späten Nihilismus-Konzeption bildet: der russische Nihilismus? Ist, mit Andrea Orsuccis Buchtitel redend, Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild 11, naiv und unreflektiert aufzufassen, mit Außer-Europa als dem unberührten Boden? Oder gibt es nach Nietzsche keine nichtokzidentale Logik des Nihilismus? Aber doch, den bereits angeführten Beispielen des Buddhismus und des russischen Nihilismus mag man noch mehrere hinzufügen; minde8 9 10 11
Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, Stuttgart 1992, 156. http://home.concepts-ict.nl/~kimmerle/Text6.htm Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, 156. Andrea Orsucci, Orient-Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild, Berlin, New York 1996.
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stens das persische Moment ist hier herauszuheben, was in der bekanntesten NietzscheFigur Zarathustra gipfelt: „Man hat mich nicht gefragt, man hätte mich fragen sollen, was gerade in meinem Munde, im Munde des ersten Immoralisten [ohne weiteres könnten wir sagen: des ersten vollkommenen Nihilisten – A. C.] der Name Zarathustra bedeutet: denn was die ungeheure Einzigkeit dieses Persers in der Geschichte ausmacht, ist geradezu das Gegenteil. Zarathustra hat zuerst im Kampf des Guten und des Bösen das eigentliche Rad im Getriebe der Dinge gesehn, – die Übersetzung der Moral in’s Metaphysische, als Kraft, Ursache, Zweck an sich, ist sein Werk“ (KSA, EH, 6, 367). Sogar die Vorahnung und Vor-Bildung des vollkommenen Nihilisten ist da: „Die Selbstüberwindung der Moral aus der Wahrhaftigkeit, die Selbstüberwindung des Moralisten in seinen Gegensatz – in mich – das bedeutet in meinem Munde der Name Zarathustra“ (ebd.). Sind vielleicht die Interpretationen und speziell Heidegger verantwortlich für eine Okzidentalisierung des Nietzscheschen Nihilismusgedankens, indem sie sich nur auf den kompilierten ‚europäischen Nihilismus‘ konzentrieren? Keineswegs. Die weiter oben zitierten Heidegger-Sätze, die Deleuze im Einvernehmen mit ihm angegeben hat und in denen es sich um den Nihilismus als den ‚Grundvorgang im Geschick der abendländischen Völker‘ handelt. Aber nehmen wir nur die engere Textumgebung. Heidegger weiß natürlich über den esoterischen Zug, über die Nietzschesche Unmöglichkeit eines reinen Ursprungs und daher über die Desorientierung und Des-Okzidentalisierung des Nihilismus: „Der Nihilismus ist eine geschichtliche Bewegung, nicht irgendeine von irgendwem vertretene Ansicht und Lehre [Wieder: der Nihilismus verfügt über eine objektive und unabhängige Logik! Jetzt kommen die bereits angeführten Passagen einer Pseudo-Okzidentalisierung, deren Eindruck aber die ausgelassenen Stellen und das Nachspiel gleichzeitig verstärken und problematisieren – A. C.]. Der Nihilismus bewegt die Geschichte nach der Art eines kaum erkannten Grundvorganges im Geschick der abendländischen Völker. Der Nihilismus ist daher auch nicht nur eine geschichtliche Erscheinung unter anderen, nicht nur eine geistige Strömung, die neben dem Christentum, neben dem Humanismus und neben der Aufklärung innerhalb der abendländischen Geschichte auch vorkommt [Es ist klar, dass die von Deleuze nicht benannten und von mir unterstrichenen Substantive zwar westliche historische Phänomene bezeichnen, die aber universaler Bedeutung und zum Teil ‚fremden‘ Ursprungs sind – A. C.]. Der Nihilismus ist, in seinem Wesen gedacht, vielmehr die Grundbewegung der Geschichte des Abendlandes. Sie zeigt einen solchen Tiefgang, dass ihre Entfaltung nur noch Weltkatastrophen zur Folge haben kann [‚Weltkatastrophen‘: Noch einmal die Universalität – und in diesem Fall ganz explizit! – A. C.]. Der Nihilismus ist die weltgeschichtliche Bewegung der in den Machtbereich der Neuzeit gezogenen Völker der Erde [Darum geht es also! Okzidentale Geschichte in ihrer letztendlich nicht alles in den Machtbereich der in einem weiten Sinne genommenen Neuzeit zieht … – A. C.]. Darum ist er [der Nihilismus – A. C.] nicht erst eine Erscheinung des gegenwärtigen Zeitalters, auch nicht erst das Produkt des 19. Jahrhunderts, in dem zwar ein geschärfter Blick für den Nihilismus wach und auch der Name gebräuchlich wird. Der Nihilismus ist ebenso wenig nur das Produkt einzelner Nationen, deren Denker und Schriftsteller eigens vom Nihilismus reden [Gemeint ist vor allem die große russische literarische Tradition und die große philosophische Tradition der Deutschen. In der zweibändigen Nietzsche-Monographie Heideggers tauchen auch solche Namen auf: Ivan Turgenjev,
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Fjodor Dostojevskij, Heinrich Jacobi und Jean Paul. Meines Wissens interessierte sich Heidegger nicht besonders für die gegenseitige Abhängigkeit beider Traditionen, obwohl er zum Beispiel bei Walter Rehm viel von der Interdependenz lesen konnte und die Jean Paul-Dostojevskij-Linie eine Rolle in der Monographie spielte.12 Die russische Jean Paul-Wirkung gründete sich keineswegs nur auf dessen Rede des toten Christus; die soll übrigens auch einen eminenten Einfluss auf Nietzsche gehabt haben, sondern auch auf die antiromantische Novaliskritik. Um die anfangs angekündigte Vermeidung einer ausführlichen Analyse des ästhetischen Interesses am Thema des Nihilismus nicht ganz ungerecht zu werden, erwähne ich folgendes nur kurz: Die Novaliskritik und das ästhetische Moment des Nihilismusbegriffes wurde eigentlich von dem russischen Kritiker N. I. Nadezdin in Russland tradiert. Nadezdins Novalis hieß Alexander Puschkin; Dostojevskijs sogenannte ‚Puschkinrede‘, die paradigmatische anti-nihilistische Rede und das Lob Puschkins, ist einer der bekanntesten Nihilismus-Referenzen. Heidegger bezieht sich auf sie. Auf die allgemeine Bedeutung Dostojevskijs hinsichtlich der Nietzscheschen Nihilismus-Deutung gehen wir noch zurück. Die Langeweile als ästhetisches Moment in der Geschichte der Nihilismuskonzeption von Jean Paul über die Puschkinrede bis zu Dostojevskijs Roman Dämonen wäre ein eigenständiges lohnendes Thema – A. C.]. Diejenigen, die sich frei davon wähnen, betreiben seine Entfaltung vielleicht am gründlichsten. Es gehört zur Unheimlichkeit dieses unheimlichen Gastes, dass er seine eigene Herkunft nicht nennen kann [Des-Okzidentalisierung! Auch Heidegger betrachtet den Okzident nicht als Ursache, sondern als Träger des Nihilismus! Die esoterische Antwort Heideggers auf die Nietzschesche Frage: „Der Nihilismus steht vor der Thür; woher kommt uns dieser unheimlichste aller Gäste?“, KSA, NF, 12, 125 – A. C.].“13 Damit ist noch einmal Licht auf die geschichtsphilosophische Denkform der Nietzscheschen Nihilismusdeutung geworfen worden. Und eine nicht endgültige, eher eine heuristisch-versuchende Antwort auf die Frage: ‚Warum so viel Europa‘ (= exoterisch) in dieser Logik des Nihilismus sowohl bei Nietzsche, als auch bei dem Interpreten, obwohl beide auch den esoterischen Kern betonen. Dennoch darf man sich nicht mit dem gerechtfertigten Anspruch auf gemeinverständliche Mitteilung oder mit dem Spruch ‚Nietzsche hat so ziemlich alles gesagt, er hat miteinander Unzuvereinbarendes gesagt und zugleich gesagt, dass er sie sagt‘, nicht zufrieden geben. Und auch nicht stereotyp und unzureichend, dass auch noch die Prominenz der Denkwelt ‚Kind‘ ihrer eurpoazentristischen Zeit ist. Daraus folgt, dass das Übergewicht des Okzidentalen in dieser Nihilismusdeutung keine Überlegenheit bedeutet (Nietzsche sieht das Christentum dem Buddhismus unterlegen). Und noch dazu ‚verspätet‘ und ‚frühgeboren‘: „eine übernationale Religion in ein Chaos hinein gepredigt, wo noch nicht einmal Nationen da waren […] Die beiden großen nihilistischen Bewegungen: a) der Buddhism b) das Christenthum: letzteres hat erst jetzt ungefähr Cultur-Zustände erreicht, in denen es seine ursprüngliche Bestimmung erfüllen kann – ein Niveau, zu dem es gehört…in den es sich rein zeigen kann“ (KSA, NF, 13, 166f.). Aus geschichtsphilosophischer Hinsicht entspringt das Übergewicht des Okzidentalen in dieser Nihilismusdeutung einer spezifisch okzidentalen Geschichtlichkeit, die die 12 13
Martin Heidegger, Nietzsche, Bd. 2, 31. Ders., Holzwege, 218f.
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Universalität mit Teleologie und technisch-theoretischem Denken verknüpft und dadurch eine eigenartige Dynamik hervorruft. Also: obwohl es metaphysische Reflexionen und die Anfänge der Spaltung, sogar des Konflikts zwischen der mythisch-kosmischen Naturzeit und einer geschichtlichen Zeitlichkeit auch vor den Griechen und außer Europa gab, aber erst die griechische Metaphysik und dann ihr Zusammentreffen mit der jüdischchristlichen Geschichtsauffassung ermöglicht „den ersten theoretischen Menschen“, die Weltherrschaft der Techné, die Weltgeschichte als Heilsgeschichte: „Historie [ist] immer noch eine verkappte Theologie […] Steckt nicht vielmehr in diesen lähmenden Glauben an eine bereits abwelkende Menschheit das Missverständnis einer, vom Mittelalter her vererbten, christlich theologischen Vorstellung, der Gedanke an das nahe Weltende, an das bänglich erwartete Gericht“ – das ist nicht Löwith, sondern der Nietzsche der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung (KSA, HL, 1, 304f.). Und letztendlich die globale Erfüllung des Nihilismus. Um ein konkretes Beispiel zu geben: das binäre, zweiwertige, polare Denken (schwarz-weiß, gut-böse), das bei Nietzsche eines der Hauptmerkmale des nihilistischen Denkens sei (denken wir nur an die bereits zitierte Ecce homo-Passage), ist überhaupt nichts spezifisch okzidentales. Aber welche Wichtigkeit gewinnt es durch Gottfried Wilhelm Leibniz, János Neumann und die Internet-Gesellschaft. Der späte Nietzsche der 1880ger Jahre legte außerordentlichen Wert darauf, durch ‚Umkehrung‘ und ‚Umwertung‘ zum vollkommenen Nihilisten zu werden, den Nihilismus zu Ende zu leben und ihn damit außer sich zu haben: ‚Der Nihilismus ist unsere einzig mögliche Chance‘, glauben mit Gianni Vattimo viele Nietzsche-Interpreten bis heute, aber es geht nicht, aus Heidegger einen Vattimo zu zaubern: Die Gültigkeit einer notwendigen Logik und eine Überwindung durch dieselbe Logik sind keinesfalls identisch, wie ein Neuaufbruch mit oder nach Nietzsche auch nicht. Das Nietzschesche Ende der Erzählung des Nihilismus steht mit den ‚Cultur-Zuständen‘ in engem Zusammenhang, in dem „es [das Christentum – A. C.] sich rein zeigen“ – damit kam eine große Überraschung für Nietzsche: sie hieß Dostojevskij. In seinen späten Jahren und inmitten der Ausarbeitung der Nihilismus-Konzeption geschah die Begegnung mit dem Werk Dostojevskijs. „Der erste vollkommene Nihilist Europas“ ist der nach seiner Vorstellung geeignetste und allein authentische Erzähler des Nihilismus musste feststellen, dass es eine Ausnahme, eine anzunehmende Herausforderung gibt, „wie sehr er auch meinen untersten Instinkten zuwider geht“ (Brief an Georges Brandes vom 20. 11. 1888, KSB, 8, 483). Dostojevskij, diese Ausnahme, sei „[d]er einzige Psychologe, von dem ich etwas zu lernen hatte“ (KSA, GD, Aph. 45, 6, 146), besonders wenn es darum ging, „die große nihilistische Bewegung“ aufzuzeigen: „Ich kenne nur Einen Psychologen, der in der Welt gelebt hat, wo das Christenthum möglich ist, wo ein Christus jeden Augenblick entstehen kann…Das ist Dostoiewsky“ (KSA, NF, 13, 409). Renate Müller-Buck schreibt dazu: „Ernst Benz geht in seiner Schrift über Nietzsche und das Christentum sogar soweit zu behaupten, erst Dostojevskij habe Nietzsche zu dem gemacht, was er sein wollte: zum Psychologen des Christentums, erste Dostojevskij habe ‚ihm die Möglichkeit gegeben, den seelischen Typus des Christen bis in seine letzten Tiefen zu erfassen und das Wesen des Christentums vom Seelischen her zu begreifen‘.“14 14
Renate Müller-Buck, „Der einzige Psychologe, von dem ich etwas zu lernen hatte.“ Nietzsche liest Dostojevskij, in: Dostoevsky Studies, New Series, Vol. VI (2002), 113f.
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Ob ihn Dostojevskij ‚kaputt‘ gemacht hat? Wie dem auch sein, die Auseinandersetzung mit dem russischen Schriftsteller hat neben vielen anderen Gründen dazu beigetragen, dass die gesamte systematische Ausarbeitung des Nihilismus zuerst aufgeschoben und dann aufgegeben wurde. In der Nietzsche-Forschung ist die zeitliche Koinzidenz resp. der zeitliche Zusammenfall bisher kaum gesehen worden. Dies könnte ein anderes, weiteres Thema sein.
ROBERT B. PIPPIN
How to Overcome Oneself Nietzsche on Freedom
I One would not be saying anything terribly controversial if one claimed that the most important problem in modern European philosophy was the problem of freedom. What is it to live a free life? Is such a life possible? And just how important is such freedom as a value? This context suggests an obvious question for Friedrich Nietzsche: Does it matter to Nietzsche whether individuals are free in any of the manifold senses that have been so important throughout the modern European philosophical tradition (self-knowledge, voluntarist ‚spontaneity‘, self-realization, autonomy, freedom from external constraint, morality, rational agency, authenticity, ‚non-alienated‘ identification with one’s deeds, power)? And if persons are or can become in any of these or any other sense free, how important is it to him that all or some or a small few should be able to attain such a state or to exercise such a capacity? Even given the great variety of interpretations of Nietzsche and the variety of positions attributed to him, the problem of freedom, whether as a metaphysical issue or as a possible human aspiration in any of the above senses, does not seem to be one of Nietzsche’s central concerns. He often gives the impression that he thinks discussions of such topics are pointless and are motivated in self-deceit. However, it would appear that there is a sense of freedom, one at least somewhat still connected to much of our intuitive and everyday understanding of freedom, that is quite important to Nietzsche. It is the topic he discusses under the label: ‚self-overcoming‘. Or so I want to argue here. But to get to that issue one should note first some of the details of his impatience with the ‚problem of free will‘ and with assessments of the ‚value of freedom‘, especially as those have been understood in Christian apologetics and in Western metaphysics from Saint Augustine of Hippo to Immanuel Kant and Arthur Schopenhauer. Perhaps it would be better to say that his only interest in such questions is in dissolving the problems, not resolving them. In a much cited discussion of the metaphysical issue of the causa sui in Aph. 21 of Beyond Good and Evil, he not only dismisses the voluntarist or incompatibilist commitment to such a causa sui (which he calls it „a type of logical rape [Notzucht] and abomination [actually just „Unnatur“ in the original]“ (KSA, JGB, 5, 35)), he goes on to be equally severe about what would appear to be its metaphysical contrary, the ‚unfree
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Robert B. Pippin
will‘ or the position of determinism. Both positions are said to be mere ‚mythologies‘; and he encourages us to see that the real problem (the problem as it is manifested in ‚real life‘) is the distinction and contestation between ‚strong‘ and ‚weak‘ wills. Even this will not be easy to understand since in Aph. 19 Nietzsche had already effectively dismantled and rejected what would seem to be all the elements necessary for claiming that there is any faculty of the will, distinct from thought and desire. He reinterprets what had been taken as ‚the will‘ as in reality a ‚complex of feeling and thinking‘ which can produce a distinct sort of affect and pleasure (in commanding). It is this affect that is mistakenly interpreted as ‚the will‘ (cf. ibid., 31ff.; also KSA, M, 3, 91f.).
II In passages like these, we can at least see what does interest Nietzsche about this and all other traditional philosophical positions: an etiology and often genealogy of the psychological type to whom one or the other of these positions would appeal. As in many other cases, philosophical positions are treated as psychological symptoms, and so an invitation to speculate on the need one type or another would have to believe either in a self-causing spontaneity or in what Nietzsche calls the ‚dominant mechanistic stupidity‘ of causal necessity. In this case he speculates on the stake a sort or type or ‚race‘ – ‚the vain race‘ – would have in taking absolute credit for their deeds, and the stake in those motivated by self-contempt and so an interest in ‚shifting the blame‘ from their contemptible selves. They (the determinists) disguise this ‚personal‘ need when they write books, Nietzsche says, and adopt „their most attractive disguise … socialist pity“ (KSA, JGB, 5, 37). This same psychological inflection is apparent in his treatment of the political aspiration to achieve a free life, a life wherein one would be able to develop one’s capacities and/or pursue one’s preferences with minimal external constraint by others. In Aph. 260 of Beyond Good and Evil, at the end of his concise summary of the difference between master and slave morality, he applies this psychological typology and suggests that a desire for freedom from external constraint is typical of the slavish, while by contrast ‚artistry and enthusiasm in respect and devotion‘ characterize the noble type.1 This psychological dimension – in effect the lens through which Nietzsche considers ‚the problem‘ of freedom, including the issue of ‚self-overcoming‘ – immediately introduces the most fundamental issue in interpreting Nietzsche. Although Nietzsche is capable of stating his basic interests and overall approach in a variety of not always consistent ways, there does indeed seem to be good evidence, like the passages just discussed, that his stated insistence on the priority of ‚psychology‘ in both explanation and evaluation is genuine, not another mere ‚mask‘. I mean such sweeping claims as in Aph. 23 of Beyond Good and Evil, where Nietzsche encourages us to ‚clench our teeth‘, ‚open our eyes‘, and ‚keep our hand firm on the helm‘. We are to make a voyage that will entitle us to demand that „psychology be recognized again as the queen of the sciences, for whose service and 1
„Free from what? As if that mattered to Zarathustra! But your eyes should tell me brightly: free for what?“ (KSA, Za, 4, 81).
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preparation the other sciences exist. For psychology is now again the path to the fundamental problems“ (ibid., 38f.). This does not appear to be an empirical psychology (Nietzsche presents the results of no studies), nor is it the kind of inference from a broad claim about ‚human nature‘ that we might expect from a philosophical anthropology. There are, though, some general characteristics of such a Nietzschean psychology with which most Nietzsche commentators would agree. First, he is primarily interested in what we need to say ‚psychology‘ in order to understand what happens when we act on the basis of some value claim, or express in some way a commitment to a value. (One way of interpreting Nietzsche on the ‚priority‘ of psychology is already visible: he clearly believes that any activity, whether theoretical or practical, already involves such a value commitment (for example, to the ‚value of truth‘) and so the place of value and its psychological conditions in the economy of the soul must be ‚fundamental‘ for an account of any other activity).2 Second, it is often said that Nietzschean psychology must be ‚naturalist‘ and third, that it is therefore largely deflationary. At a minimum, the naturalism requirement amounts to an insistence that, when trying to account for the human capacities required when persons direct their actions on the basis of norms, we should appeal to capacities also discoverable in non-moral or non-ethical contexts, and those capacities must be consistent with our being nothing but organic material bodies located in space and time. If we can only explain normative constraints and a set of practices by appealing to a capacity uniquely required by a particular view of value (such as a free will, an uncaused cause, or a unified subject independent of and directing its deeds), especially if that capacity is supernatural, the odds are high, at the very least, that we are dealing with a kind of philosophical fantasy.3 This enterprise turns out to be critical and deflationary, especially with regard to the set of values and practices that Nietzsche designates as ‚morality‘ – the Christian and post-Christian values of universal equality, absolute individual responsibility and guilt. The way the psyche works in commitment to and pursuit of moral values is in reality4 far 2
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Some (and I think Nietzsche would be one of them, were he not to object so much to this abstract language) would claim that even the most basic form of intentionality requires the play of normative commitments. (To be conscious of X is to claim or judge that X, and so to undertake these commitments and be prepared to justify them if challenged.) It is in this sense that the primordiality issue in Nietzsche has to do with value, and in this case this means something like the basic authority of the constraints and requirements I undertake to accept, impose on myself and hold to. To assert, or to pledge to do, or to claim to know, are thus au fond kinds of promises, and such promises are not explicable as merely natural events. The constraints we undertake are not physical impossibilities. They require my futural commitments and my holding to them, sustaining them (under some understanding of, and commitment to, why I ought to), in order to be the promises – the assertions and expressions of intention – that they are. These sorts of commitments are thus basic or constitutive for the very possibility of thought, belief, action, all intentionality. And like many, Nietzsche would like to understand the source of this normative authority, why and in what sense we are bound as we are (cf. KSA, FW, 3, 560ff.). This is how Bernard Williams encourages us to understand what he calls Nietzsche’s „minimalist psychology“: Bernard Williams, Nietzsche’s Minimalist Moral Psychology, in: Richard Schacht (ed.), Nietzsche, Genealogy, Morality: Essays on Nietzsche’s On the Genealogy of Morals, Berkeley 1994. I mean in ,historical‘ reality. The ,real‘ roles of ressentiment, hatred and revenge are not instances of any general law about the psyche, but aspects of a ,slavish‘ institution at a time. To deny that this
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different than the self-descriptions of moral agents (That psychology is the sort of fantasy just described.5). Finally though, if the Nietzschean enterprise is deflationary, it is not reductionist (or, we might say today, physicalist). One of the things natural organic beings can do, must do, is to create all sorts of different institutions under varying circumstances, train themselves to observe certain constraints and not others, and there is no reason to believe that exclusive attention to the biological or physical properties of these organisms best explains (or could explain at all) why they create one sort rather than another, and no way a purely natural science account could explain what these institutions actually mean to the participants, what they take themselves to be doing. (It would be right to say that if a reductionist naturalism were true, what it would be to be the subject of one’s deeds, in effect, a spectator of the clashes and pulls and pushes of various contesting drives and passions.6 But we cannot assume such a stance in leading or living a life; there is no first-person point of view which could embody such a perspective. We cannot ‚wait‘ to see which drive wins, but rather must act, and Nietzsche has both already dismissed the determinist version of a naturalist position, and in II, Aph. 12 of On the Genealogy of Morals had insisted that a ‚Grundbegriff‘ for his own notion of ‚life‘ is ‚Aktivität‘ (KSA, GM, 5, 315).7
III These are all quite contestable claims, and the status of a Nietzschean psychology is easily a book-length topic.8 But since so much depends on how Nietzsche understands a psychological treatment of the nature and value of freedom, we should also keep in mind that Nietzsche himself gives us a model to think of when we are interested in his notion of psychology, and this model will be important in assessing how he wants us to think about the issue. I mean the sixteenth and seventeenth century French moral psychologists,
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restriction to historical time could be a possible explanation (because linked to something historically unique) is like saying we cannot discuss why Emma Bovary had an affair with Leon unless we see it as an instance of a general law about bored provincial housewives. This is a minimalist ascription of naturalism to Nietzsche, but it is, I think the only sort justified. The topic is a complex one, though, and Nietzsche has different things to say about it in different contexts. For example, the famous „translate humanity back into nature passage“ in Beyond Good And Evil, Aph. 230, and yet the attack on the Stoics, on the idea that one could actually live „according to nature“ (given that nature is mere „indiffernce“) in Beyond Good And Evil, Aph. 9. I agree with many of Christopher Janaway’s objections to more than minimal naturalist reading of Nietzsche in his Naturalism and Genealogy manuscript. See the description in J. David Velleman, What Happens When Someone Acts, in: Mind, 101 (1992), 461, and the discussion of this and the general problem of ‚fatalism‘ in Nietzsche in Brien Leiter, The Paradox of Fatalism and Self-Creation, in: Nietzsche, ed. John Richardson and Brien Leiter, Oxford 2001. Not that it is entirely clear what Nietzsche takes ‚Aktivität‘ to commit him to. See Robert B. Pippin, Nietzsche, moraliste français: La conception nietzschéenne d’une psychologie philosophique, Paris 2006. The following discussion of the French is a summary of some of the themes of this book.
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whom Nietzsche cited with such great enthusiasm, especially and above all, Michel Eyquem de Montaigne (about whom he had almost nothing critical to say in the forty-eight references to him), but also, in a more qualified, yet still enthusiastic way, Blaise Pascal and François de La Rochefoucauld. (Pascal’s ‚l’homme honnète‘ is the clear model for the Nietzschean ‚freie Geist‘ from the 1876 Nachlass written in preparation for Human All Too Human, and thereafter.9 I think that there are two things that interest Nietzsche about this model. What intrigues Nietzsche in ‚essays‘ or ‚maxims‘ or ‚pensées‘ is that they are presented without, and with no hidden reliance on, any putative deeper philosophical theory of being, or of human nature or of reason or of anything else, and it is clearly an assumption in all three (and by Nietzsche) that this is not a limitation undertaken out of modesty but unavoidable if one is to write ‚honestly‘ about human beings as they are, as they live, and so this assumed priority of a psychological perspective counts as a virtue. (The Beyond Good and Evil passage had claimed that psychology was to be first philosophy, not an enterprise that rested on metaphysics or a substantive theory of nature.) And it is also no accident that the three moralists Nietzsche admired the most wrote in such unusual, original forms, quite foreign to any notion of systematic thought or metaphysical or epistemological foundations. Not that it is easy to imagine what psychology as first philosophy might look like, how the issue of what is at stake psychologically in posing a question or holding a belief could be understood such that it would not itself have to rest on some view of being or nature or mind and so forth, some view of how what Nietzsche claims about psychology is possible. Even if Nietzsche does not mean that very strong or logical notion of priority, and means only to signal something weaker – say, that he thinks these psychological questions are just more interesting, have too long been neglected and have led to self-deceit, or are in some way more important, and so forth – we will still need to hear about this scale of interest or importance. All of this remains mostly implicit. But he at least issues a number of clear warnings about what will happen if we get his focus wrong. The most interesting is in Part Two of Human All Too Human, in the „Assorted Opinions and Maxims“ and describes what Nietzsche calls ‚[a]n original sin (Erbsünde) of philosophers‘. It is important enough to quote at length: „Philosophers have at all times appropriated the propositions of the examiners of men (moralists) (Menschenprüfer) and ruined them, inasmuch as they have taken them for unqualified propositions and sought to demonstrate the absolute validity of what these moralists intended merely as approximate signposts or even as no more than truths possessing tenancy only for a decade – and through doing so thought to elevate themselves above the latter … Even the word ‚will‘, which Schopenhauer remoulded as a common designation for many different human states and inserted into a gap in the language – greatly to his advantage insofar as he was a moralist, since he was now at liberty to speak of the ‚will‘ as Pascal had spoken of it – even Schopenhauer’s ‚will‘ has, in the hands of its originator through the philosopher’s rage for generalization turned out to be a disaster for science … finally so that it (Schopenhauer’s ‚will‘) can 9
Vivetta Vivarelli has, I think, established this convincingly: Vivetta Vivarelli, Montaigne und der freie Geist, in: Nietzsche-Studien, 23 (1994). Also KSA, MA-1, 2, 70 for Nietzsche and La Rochefoucauld on pity. For criticisms of La Rochefoucauld as still bound to essentially Christian categories of evaluation, see KSA, NF, 9, 295, 441.
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be pressed into the service of all kinds of mystical mischief it has been misemployed towards a false reification …“ (KSA, MA-2, 2, 382f.). Secondly, what Nietzsche seemed to get from this reading of les moralistes, especially in the late 1870’s, is a way to formulate one of his most important questions: while, according to Nietzsche, La Rochefoucauld’s tendency to see petty egoism everywhere, while a mark of great honesty, finally belittles man unfairly, and while Pascal’s noble and honest and eventually despairing soul was crushed by Christianity or the Christian understanding of the weakness and depravity of man, by contrast the Nietzschean question is at its clearest with Montaigne. How, he wants to know above all, did Montaigne manage to exhibit such a thorough-going skepticism and clarity about human frailty and failings (the virtue of ‚Redlichkeit‘ so often praised by Nietzsche) without Pascal’s despair and eventual surrender10, or La Rochefoucauld’s icy contempt for the ‚human all too human‘ (cf. KSA, MA, 2, 58f.)? Instead Montaigne ended up a thoughtful, ferociously honest, cheerful free spirit, someone who had succeeded at what seems a supreme Nietzschean goal, the task, „to make oneself at home on the earth [sich auf der Erde heimisch zu machen]“ (KSA, SE, 1, 348).11 So what would avoiding such a ‚false reification‘ and achieving something in the spirit of the French moralists look like? It is at least clear that Nietzsche believes that views of the soul and its capacities vary with views about norms; normative commitments are subject to radical historical change and vary among different types in any epoch; and so what counts as soul or psyche or mind also changes. (So no reification; moralists deal in truths that are time-indexed, holding for perhaps only ‚a decade‘.) ‚The soul‘ is merely the name for a collective historical achievement of one sort or another, what we have made ourselves into at one point or other in the service of some ideal or other. When we describe to each other what we think the soul is, we express thereby a view about determinate ideals and their psychic functioning; we often are thereby oriented in our explanations from something like psychic health. Hence also the deep interconnection or inseparability between psychology and (an evaluative often deflationary) genealogy.12 10
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Beyond Good And Evil, Aph. 62 enlists Blaise Pascal in Nietzsche’s own view of Christian degeneracy; and there are pensées that could have been written by Nietzsche. See the famous Le moi est haïssable-Aph. 597, and Pascal’s remarks about the two qualities of the self. Pascal, Œuvres complètes, v. 2, éd. M. Le Guern, Paris 2000, 584. See also KSA, MA, 2, 58f. on Le Rochefoucauld and the „danger“ that Montaigne avoided. Also KSA, M, 3, 53: „Zweifel am Zweifel. – ‚Welch‘ gutes Kopfkissen ist der Zweifel für einen wohlgebauten Kopf!‘ – diess Wort Montaigne’s hat Pascal immer erbittert, denn es verlangte Niemanden gerade so stark nach einem guten Kopfkissen, als ihn. Woran fehlte es doch?“ The Gay Science, Aph. 335 for one of Nietzsche’s most interesting reflections on the relation between a claim like „this is right“ and the question „what impels me to listen to it?“ As Zarathustra says, living is leading or directing a life and so living essentially is esteeming (schätzen) or valuing. So the priority of psychology looks very like Nietzsche’s occasional suggestion that all human phenomena, including knowledge claims, be looked at „from the perspective of life,“ that is, as valuing. Psychology, that is, will make manifest what is involved, what we are committed to, in understanding „living“ in this sense. As has already been noted, from the time of the second Untimely Meditation on, Nietzsche claimed that modern philosophy and science and religion and even art had lost any connection with life in this sense, and in so far as any of these enterprises had a living presence in modern culture, they were actively life-denying presences.
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IV But all this is by way of setting the context, of beginning to understand how Nietzsche wants to raise the question of freedom. Let us say that he seems primarily interested in freedom as a value or aspiration, has his own views about the nature of genuine freedom, and he is especially interested in the psychology and psychological typology that would help explain genuine freedom (the ‚psychology of freedom‘ one might say), and the psychology behind differing understandings of freedom, what is at stake in the appeal of one or another aspiration, all presumably with the hope that we might eventually see what sorts of ideals and aspirations might be admirable and which not (although again the connection between diagnosis and evaluation, here as elsewhere in Nietzsche, is not obvious). Finally, whatever this psychological treatment is, it is neither an empirical psychology, nor a philosophical psychology modeled either after Aristotle or David Hume, and seems modeled after the older French sense of a moraliste. Some aspects of what results from this approach to freedom are of course well known. If herd morality, conformism and sheep-like timidity are to be held in contempt, then some contrary seems suggested, some ideal of ‚social independence‘ and a kind of ,selfrule or self-reliance‘. A Stoic like emphasis on self-rule is particularly prominent in later works, Twilight of the Idols especially. There in Aph. 38 of the „Expeditions of an untimely man“ (Streifzüge eines Unzeitgemässen) section, called „My conception of freedom“, Nietzsche offers an encomium to a wide-ranging set of psychological dimensions of freedom: „That one has the will to self-responsibility. That one preserves the distance that divides us. That one has become more indifferent to hardship, toil, privation, even to life. The man who has become free … spurns the contemptible sort of well-being dreamed of by shopkeepers, Christians, cows, women, Englishmen and other democrats. The free man is a warrior“ (KSA, GD, 6, 139f.). The passage goes on like this, praising danger, risk and strength, but, as he tries to characterize what he calls ‚psychologically true‘ (psychologisch wahr) about freedom, Nietzsche adds something that is easy to overlook: „How is freedom measured, individuals as in nations? By the resistance which has to be overcome, by the effort it costs to stay aloft. One would have to seek the highest type of free man where the greatest resistance is constantly being overcome“ (Ibid. my emphasis). Nietzsche here is most interested in a sort of psychological self-relation as constitutive of freedom, (a self-relation that would immediately define of itself acceptable and unacceptable relations to others) and he clearly thinks of this psychological state as an achievement along a spectrum of possibilities, not an ,either-one-has-it-or-one-doesn’t‘ kind of capacity, as among the voluntarists, an achievement that he also treats in a sort of soul-writ-large way, ascribing this achievable state to possible nations as well.13 And he notes that whatever the resistance that has to be overcome, there results no settled state, 13
On this account, freedom for Nietzsche involves achieving a certain sort of relation to oneself that only a few are capable of, and, it would appear, which cannot be the product of any sort of direct intention by an individual. The conditions for its achievement depend on far more than individual ‚will power‘. This means such a notion of freedom does not rely at all on a libertarian or ‚could have unconditionally done otherwise‘ conception of freedom. See the valuable discussion by Ken Gemes in Nietzsche on Free Will and Autonomy manuscript, especially his case for this „achievement“
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the resistance must be constantly (beständig) overcome (überwunden). (He notes that he understands freedom as the Romans and Venetians did, as „something one has and does not have, something one wants, something one conquers …“, ibid., 140). Earlier in Twilight, in Aph. 3 of Morality as Anti-Nature, he had stressed both this notion of achievement and also characterized it as an odd sort of calm amidst unsettled endeavors: „Or the expression of ripeness and mastery in the midst of action, creation, endeavor, volition and a quiet breathing, ‚freedom of the will‘ attained [die erreichte Freiheit des Willens] … Götzendämmerung: who knows? Perhaps this too is only a kind of ‚peace of soul‘ [Frieden der Seele]…“ (ibid., 85).
V But what is this sort of self-relation? What counts as self-mastery in this sense? Two elements have been suggested in recent discussions. One is inspired by passages in The Gay Science, echoed elsewhere, about what appears to be a kind of literary self-creation as the „greatest will to power,“ the desire „to impose upon becoming the character of being“ (WP 617). On this view freedom for Nietzsche has elements both of a self-realization theory (‚become what you are‘, the subtitle of Ecce Homo, i.e., become, own up to being, the kind of creature who must fashion his own character and personality) and an authenticity theory (as in passages in Schopenhauer as Educator and The Gay Science which insist that one ought to become who one individually is – „sei du selbst“ [KSA, SE, 1, 338] in the former, and „Du sollst der werden, der du bist“ [KSA, FW, 3, 519] in the latter). And according to these interpretations, these injunctions can be fulfilled if one creates oneself as if a ‚literary character‘ in a novel, ‚gives style‘ to one’s character, finds a way to identify oneself with all one’s actions, to see that no aspect of one’s character and deeds can be what it is without literally every other aspect of one’s character and deeds. This would be one way of attaining what appears to be the second necessary aspect of ‚achieved freedom‘ (erreichte Freiheit), a complete and hierarchical unity among states of one’s soul, memories, desires, aversions and so forth. We would thus have fulfilled what appears to be the ideal suggested by The Gay Science Aph. 299 to become ‚the poets of our own lives‘ or the call to ‚become those who we are‘ in The Gay Science Aph. 335, human beings who, Nietzsche says, ‚create themselves‘. We would not be what circumstances or others have made us, not be pulled or pushed about by whatever inclination or aversion we happen to be feeling, would be who we really, ontologically and individually, are, self-creating and individually self-created, hierarchically unified beings, and in that sense would have ‚reached‘ freedom. There are several problems with this approach. In the first place, the formulation attributes to us a distinct power or capacity which seems to cry out for a further, deeper metaphysical account, something, I have suggested, inconsistent with Nietzsche’s claim about the priority of psychology and too traditional to match his intentions. Why are we entitled to believe that we can assume such a possible independence between a creator or sense of freedom and Nietzsche’s compatibilism. See also my discussion in Nietzsche, moraliste français.
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ruler self and a created object and ‚commonwealth‘?14 It seems just as implausible that one could assume such a detached, artist-like creator position as that, for any deed, one could have done otherwise. Secondly, some aspects of the position seem wildly implausible. Why is it a condition of this literary unity that I must be able to understand every single deed of mine as necessary for another? That my getting a divorce or resigning my professorship is to be somehow understood as linked together with which tie I choose to wear or what I had for breakfast? Third, the self-creation view often imports a notion of what creation is that is foreign to Nietzsche, whose sympathies here are not with the hyper-modernist, ironic, insubstantial position of Denis Diderot’s Rameau’s nephew or Marcel Proust, but remain essentially romantic. From the beginning of his publishing career to near the end, the creative state is always understood as Dionysean, a dissolution of boundaries and not their Apollonian establishment, a state of reverie and intoxication (Rausch) (cf. KSA, GD, 6, 116).15 In the Zarathustra chapter of Ecce Homo he goes to great lengths to describe precisely the involuntariness and necessity of this creative state, insisting that he, as author, has virtually vanished (cf. KSA, EH, 6, 335f.), and his account of artists in Beyond Good and Evil, those for whom necessity and ‚freedom of the will‘ (cited with the usual sneer quotes by Nietzsche) are the same, makes the same point even more clearly (cf. KSA, JGB, 5, 148). Even in the The Gay Science Aph. 335 self-creation passage, Nietzsche goes on to say that such creation requires that we learn „everything that is lawful and necessary in the world,“ that to become creators we have to become physicists (KSA, FW, 3, 563f.). In the discussion of the „way of the creator“ in Thus spoke Zarathustra, Nietzsche’s account does not sound like aesthetic self creation: „With my tears go into your loneliness, my brother. I love him who wants to create over and beyond himself and thus perishes“ (KSA, Za, 4, 82). Finally, and most important, the concept of creating oneself as if the author of one’s life is inherently unstable, potentially incoherent. In literary terms, the character creating the unity of character in the story of one’s life is obviously also a character himself in the story he is narrating. For that character to form a unity with the character being created, one will always require, in an obvious iteration, another creator-character who could bring the creator and created characters together, and so on. There are literary attempts to write the story of a character who finally becomes the author of the story of this becoming that we have just read. Proust is the obvious example. But the mere existence of that novel simply raises its own version of this problem, a legendary one for readers: how to understand the relation between the Marcel who is the object of the story, the older Marcel who appears to be narrating and writing the story, and the absent Ur-narrator, Proust himself. If anything, the briefest contemplation of the details of this issue in Proust make much more unlikely the possibility of construing freedom as the self-creation of a unified character. And all of this is not yet to mention that this account leaves unclear how we are 14 15
„In human beings creature and creator are combined …“ (KSA, JGB, 5, 161). Nietzsche can speak out of both sides of his mouth on this, praising both irony and whole heartedness (Beyond Good And Evil, Aph. 40; Aph. 284; Aph. 289, and contrast Twilight of the Idols, Aph. 44). As we shall see, the tension created by such passages is not an oversight by Nietzsche. He very deliberately wants to claim both aspects as essential in „the achievement of freedom“.
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to put together the idea of an author/creator of one’s own character with the requirement of some whole-hearted identification with one’s creation, something far more passionate and unqualified than any picture of a Rameau-like independence.
VI We move in a more promising direction, I want now to suggest, if we pay attention to another dimension central to Nietzsche’s picture of agency, something already alluded to in several passages cited above. That is the fact that for Nietzsche one does not count as an agent, the true subject of one’s deeds, just by in effect ‚showing up‘. One has to achieve something, and I am suggesting that this is a distinct sort of psychological self-relation, both attitudinal and dispositional, in order to be capable of any real practical intentionality or real agency (I say here „one has to achieve …“ but as we shall see shortly it is important to note that there is no reason to think that Nietzsche must mean an individual achievement, the result of an individual’s ‚resolve‘ and efforts. It could be, perhaps exclusively, a civilizational or social achievement, or even an ‚achievement‘ of fate that is responsible for one’s being in such a self-relational state). The state is described in any number of ways, but all of them have something to do with a kind of self-dissatisfaction, a generally ‚negative‘ as well as positive stance towards some current set of standing attitudes, commitments and ideals. By and large, Nietzsche describes this condition when he wants to talk about, as he calls it, freedom of the ‚highest‘ sort, the ,true‘ or paradigmatic instance of independence from others and a kind of self-direction, not humdrum or ordinary cases of such intentionality, like pumping water, or turning on the light switch, and so forth. All action involves a negation of a sort, an alteration of what would have remained the same without one’s intervention, but Nietzsche appears particularly interested in a kind of inward-looking self-negation, a transformation of what had been subject’s restraints, or commitments, basic desires or passions, all in a way that makes possible a new kind of outward-looking relation to the world. In those paradigmatic cases (where, especially the direction and course of one’s whole life is at stake) he often focuses our attention on what he calls a ‚tension of the spirit‘ that allows a genuine ‚self-overcoming‘. One initial, still quite crude summary of what he is getting at in these passages would simply be that achieved freedom involves achieving a capacity both to sustain a wholehearted commitment to an ideal (an ideal worth sacrificing for, that provides the basis for a certain hierarchical unity among one’s interests and passions), and what appears at first glance to be a capacity in some tension with such wholeheartedness – a willingness to overcome or abandon such a commitment in altered circumstances or as a result of some development. To be unable to endure the irresolvable dynamic of what Nietzsche calls an ideal’s or a goal’s or a value’s constant self-overcoming, to remain dogmatically attached to an already overcome form of life (as with the Christians described in The Anti-Christ who, as a result of the „self-overcoming of the intellect“ know that prior terms of belief can no longer be invoked in the same way but do so anyway, „[e]veryone knows this: and everyone nonetheless remains unchanged“, KSA, AC, 6, 210), or to concede such mutability but with a cynical relativism that prohibits any wholehearted identification with a new ideal (as the ‚last men‘ like those who so casually respond to the „God is dead“ news
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in Aph. 125 of The Gay Science), or to slide into a complacent, lazy identification with whatever is conventionally valued (as Nietzsche says in the second Untimely Meditation of the Germans of his own day, who have let themselves go and „elect for ease and comfort and the smallest possible degree of self-overcoming“, KSA, HL, 1, 275), all these are treated as forms of unfreedom. To be sure, freedom is not the term Nietzsche prefers, although as we have seen, despite its dangerous associations, it is one he uses.16 He more often speaks of satisfying the conditions of life, leading a life, truly living, recognizing one’s life as one’s own. The Nietzschean ‚theory of agency‘ is couched in such elusive formulations as: „I wish your self were in the deed like the mother is in the child; let that be your word on virtue“ from Thus spoke Zarathustra (KSA, Za, 4, 123). But the agency issues seem to me clearly present. This is so even though neither Nietzsche nor Zarathustra ever simply encourages us to ‚overcome yourselves‘. The issue seems to be the proper acknowledgement and endurance of the self-overcoming character of life, an orientation that itself, as we shall see, has several social and historical conditions for its possibility. The achieved state of mind that Nietzsche promotes in these passages is not easy to make out. In the first place, underlying it appears to be a much broader theory about the historical fragility of all human norms, the inevitability not just of a kind of organic growth and death, but of a self-undermining process that sometimes sounds positively Hegelian. It is this historical fate for norms that requires the kind of acknowledgement and endurance that Nietzsche praises when he discusses self-overcoming. Indeed some of the references translated as self-overcoming are actually to the famously Hegelian term ‚Selbstaufhebung‘ and its cognates, as in On the Genealogy of Morals when Nietzsche claims that ‚every good thing on earth‘ eventually overcomes (‚sublates‘) itself, or later in On the Genealogy of Morals when Nietzsche proclaims what he calls the ‚law of life‘, ‚the law of the necessity of self-overcoming in the nature of life‘ where he uses both Selbstaufhebung and Selbstüberwindung. Morality’s commitment to an ethic of truthfulness about intentions is his chief example of this self-undermining and self-overcoming, but as stated it is presented as simply a law of life itself. (The death of Attic tragedy, which Nietzsche calls a suicide, a Selbstmord, might be another example of this law. So might truthfulness about the value of truth.)17 Secondly, the state itself, the proper responsiveness to the self-overcoming character of life, is itself quite complicated, full of dialectical, affirmation/negation flourishes, all of which evoke Nietzsche’s characterization of freedom in Twilight of the Idols, that it 16
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The well known discussion of the „sovereign individual“ in the second essay of On the Genealogy of Morals (II, 2) is another case in point, as is his discussion of the „right“ to make promises (II, 1). See my discussion of the general issue raised by such claims about promising in the second chapter of my Nietzsche, moraliste français. In Georg Wilhelm Friedrich Hegel there is an elaborate speculative theory about why commitment to a certain norm or to any principle would, in the process of becoming a more articulated or selfconscious commitment, render continued allegiance more and more problematic until the original position was ‚negated‘ even while preserved and ‚raised up‘ or ,aufgehoben‘. There is no such theory in Nietzsche although there are indications that he thinks that commitments require a certain sort of selective attentiveness, perhaps even a sort of self-delusion which is inevitably rendered more difficult with time. His summary of this ‚process‘ in Ecce Homo: „The self-overcoming of morality, out of truthfulness; the self-overcoming of the moralist into his opposite – into me – that is what the name of Zarathustra means in my mouth“ (KSA, EH, 6, 367).
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is something one ‚has and has not‘. When Zarathustra discusses the ‚way of the lover‘, he characterizes it as ‚yourself you love and therefore you despise yourself, as only lovers despise. What does he know of love who does not have to despise precisely what he loved.‘ As in Human All Too Human, Nietzsche will frequently pronounce himself in favor of a morality „as a continual self-command and self-overcoming practiced in great things and in smallest“ (KSA, MA, 2, 573f.), but his more detailed accounts of such a self-relational, self-overcoming state are even more figurative and more difficult to summarize. A typical passage is from his account of Thus spoke Zarathustra in Ecce Homo: „The psychological problem in the type of Zarathustra is how he that says No and does No to an unheard of degree, to everything to which one has so far said Yes, can nevertheless be the opposite of a No-saying spirit … how he that has the hardest, most terrible insight into reality, that has thought the ‚most abysmal idea‘, nevertheless does not consider it an objection to existence, not even to its eternal recurrence – but rather one reason more for being himself the eternal yes to all things …“ (KSA, EH, 6, 344f.). The language of a negation that is also an affirmation is sometimes transposed into a more familiar Nietzschean trope and one more familiar in compatibilist accounts of freedom, the simultaneity, in the experience of true freedom, of both freedom (the capacity to negate, free oneself from, some state or other) and necessity (the affirmation of a cycle of necessity). In the Richard Wagner in Bayreuth section of Untimely Meditation, Nietzsche claims that in listening to Wagner, one does not have the usual aesthetic experiences of enjoyment or interest, „one feels only the necessity of it all. What severity and uniformity of purpose he imposed upon his will, what self-overcoming the artist had need of in the years of his development so as at last in his maturity to do with joyful freedom what was necessary at every moment of creation, no one will ever be able to calculate: it is enough if we sense in individual cases how, with a certain cruelty of decision, his music subordinates itself to the course of the drama, which is as inexorable as fate, while the fiery soul of this art thirsts to roam about for once unchecked in the freedom of the wilderness“ (KSA, WB, 1, 495f.).18 The two sorts of formulations, necessity and freedom, affirmation and negation, are brought together in a still highly figurative passage in The Gay Science, Aph. 276: „I, too, shall say what it is that I wish from myself today, and what was the first thought to run across my heart this year – what thought shall be for me the reason, warranty and sweetness of my life henceforth. I want to learn more and more to see as beautiful what is necessary in things; then I shall be one of those who makes things beautiful. Amor fati: let that be my love henceforth. I do not want to wage war against what is ugly. I do not want to accuse; I do not even want to accuse those who accuse. Looking away shall be my only negation. And all in all, and on the whole: some day I wish to be only a yes-sayer“ (KSA, FW 3, 523). Finally, there is a last set of images that appear to treat as a condition for such a self-overcoming, that is, self-negating and yet self-identifying and self-affirming, state. These images continue the unusual emphasis of the passage just cited, where the achieve18
It is interesting that, when describing his own most difficult ‚self-overcoming‘, his break with Wagner, Nietzsche describes it both as a difficult act of self-overcoming, but as also his fate (Schicksal) (KSA, WA, 6, 11).
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ment of freedom seems much more the achievement of an intellectual (i.e. ‚to learn more and more‘) and erotic attitude (as in the references to his heart and what he hopes for his ‚love‘). This is consistent with the intellectualist account of freedom in Socraticism, Stoicism and Baruch Spinoza, a notion which Nietzsche expressed admiration for. For Nietzsche too there is a kind of knowledge that will set one free, but it is not knowledge of the human good and not, or at least not wholly, the Spinozist knowledge of necessity. It appears to be a psychological realization of the ineliminable need for self-overcoming. The image is also consistent with the fact that, despite what can seem the hortatory character of Nietzsche’s rhetoric, many of the passages we have looked at do not really directly encourage readers to do anything, as if simply to resolve to become free, to attain freedom. One cannot, as an act of will traditionally understood, will oneself into a state of knowledge or to desire something. The conditions for the attainment of freedom – the proper relation of attachment and detachment – seem largely pre-voluntary and extend in scope beyond what individuals can do. Likewise, while Nietzsche is not encouraging anyone to ‚overcome himself‘ but rather writes about bearing or enduring a fate in a certain way, he is also still not encouraging one not to flee that fate, as if that too were a matter of simple resolve, but describing what it would like for that fate to be borne or endured and affirmed, what else would have to be ‚in place‘ for that to happen, and what it would be like.19 Thus the following images that suggest these necessary conditions. For example, in the Preface to Beyond Good and Evil, he notes that our long struggle with and often opposition to and dissatisfaction with our own moral tradition, European Christianity, has created a „magnificent tension (Spannung) of the spirit in Europe, the likes of which the earth has never known: with such a tension in our bow we can now shoot at the furthest goals.“ But, he goes on, the „democratic Enlightenment“ also sought to „unbend“ such a bow, „make sure that spirit does not experience itself so readily as ‚need‘“ (KSA, JGB, 5, 12f.). This latter formulation coincides with a lapidary expression in The Gay Science. In discussing „the millions of Europeans who cannot endure their boredom and themselves,“ he notes that they would even welcome „a craving to suffer“ and so „to find in their suffering a probable reason for action, for deeds.“ In sum: „neediness is needed!“ (Not ist nötig!) (KSA, FW, 3, 418). In Thus spoke Zarathustra, the point is formulated in a similar way: „Beware! The time approaches when humans no longer launch the arrow of their longing beyond the human, and the string of their bow will have fogotten how to whir! … Beware! The time approaches when human beings will no longer give birth to a dancing star. Beware! The time of the most contemptible human is coming, the one who can no longer have contempt for himself“ (KSA, Za, 4, 19).20 There is no suggestion in any of these passages that ‚neediness‘ can be created by an act of individual will and the conditions described as necessary for self-dissatisfaction 19
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This dimension obviously has many resonances in the Martin Heidegger of Sein und Zeit. Two are the clearest: Heidegger’s description of authenticity as a ‚readiness‘ for anxiety, and so the stance of ‚anticipatory resoluteness‘ for a being that is always ‚ahead of itself‘; and the fact that Heidegger does not think of the forgetfulness of the everyday as a ‚failure‘ of ,Dasein‘ that we should be encouraged to avoid. Rather such forgetfulness is as constitutive of what it is to be ,Dasein‘ as authenticity. There is something of this in Nietzsche’s discussion of the ‚clouds of illusion‘: necessary for the creation and affirmation in life. See also On Unwilling Bliss in the third part, where Zarathustra speaks of the ‚desire for love‘.
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and so self-overcoming (in Nietzsche’s somewhat purple prose, ‚self-contempt‘ and ‚selfdespising‘) are clearly here historical (dependent on one’s time) and social (dependent in some way on the state of a shared social world). There is a kind of culmination of this sort of language in the section, „On Self-Overcoming“ in Thus spoke Zarathustra. In this section we hear again many of the themes sounded about self-overcoming. „Life“ reveals to Zarathustra its „secret“: „I am that which must always overcome itself“ (ibid., 115; 148). Any good and evil presumed not transitory are said „not to exist“. „Driven on by themselves, they must overcome themselves again and again“ (ibid., 116; 149). But now something else, apparently momentous, is added. We also learn that it is this feature of life – and Nietzsche seems to mean here this feature of the historical life of values, the feature of having to overcome itself – that is somehow equivalent to the claim that ‚all life is will to power.‘21 We have heard this link before, as in the Human All Too Human remark about „continual self-command and self-overcoming practiced in great things and in smallest.“ But the conjunction of topics is puzzling. One set of images deals with the necessity of mastery and servitude in existence, the omnipresence of commanders and obeyers and such maxims as ‚[w]hatever lives, obeys‘ and ‚he who cannot obey himself is commanded‘. The second deals with images of the transitoriness of any fixed, settled value and suggests the great difficulty of acknowledging, accepting, or ‚living out‘ in some way this perpetually self-undermining dynamic. Both, this unavoidable struggle for mastery and this ability to acknowledge the transitoriness of that in the name of which one claims mastery, seem related to Nietzsche’s view of freedom. The link between the will to power and self-overcoming appears to be related to the unusual way Nietzsche understands power, or more precisely what he is willing to count as the realization of any will to power. For Nietzsche sometimes concedes that the most essential element in a contestation over power has to be the interpretive question of what counts as having achieved mastery. („[A]ll events in the organic world are a subduing, a becoming master, and all subduing and becoming master involves a fresh interpretation, an adaptation through which any previous ‚meaning‘ and ‚purpose‘ are necessarily obscured or even obliterated“, KSA, GM, 5, 313f.). The ability to bully and tyrannize someone into cooperation is one thing, the ability to inspire true service another; selfcommand is one thing, self-overcoming is another; being unimpeded in the satisfaction of one’s desires is one thing; being able to order one’s desires in a ‚hierarchy of rank‘ is another; commanding is one thing, being ‚strong‘ enough to ‚yield‘ command is another. ‚Yield‘ (hingeben) is Nietzsche’s word in the passage that link the themes of mastery and self-overcoming: „And as the smaller yields to the greater that it may have pleasure and power over the smallest, thus even the greatest still yields, and for the sake of power risks life. That is the yielding (Hingebung) of the greatest; it is hazard and danger and casting dice for death“ (KSA, Za, 4, 115; 148). The upshot of these obscure allusions seems to be that nothing really counts in some probative way as ‚the‘ establishment of mastery. There are of course wider, more appar21
I discuss the place and function of this ideal in Thus spoke Zarathustra as a whole in my Introduction to the new Adrian del Caro Cambridge University Press translation of Thus spoke Zarathustra, forthcoming 2006.
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ently metaphysical dimensions of the will to power notion in Nietzsche’s work, but in the most intuitively obvious instance – dominating and being dominated in the human sphere – these passages suggest that it is a mistake to understand the meaning of mastery in such a human dimension without taking into account the unsettled and precarious interpretation of mastery upon which the claim of having-mastered will always actually rest. These ‚interpretations‘ are mutable, of a time and place, and so true masters must be prepared to ‚yield‘ as well as to seize ‚command‘. To be capable of this is to have achieved freedom; to become, in Nietzsche’s earlier invocation of freedom, a ‚freier Geist‘, a free spirit.22 And all of this is apparently connected with the uniquely historical situation in which Nietzsche believes we must evaluate and act, the first epoch in which we must admit that we do not know, in the traditional objectivist or religious sense, what is worth wanting or aspiring to, where the danger of ‚nihilism‘ (on this reading, not a failure of knowledge or of will, but of desire) is always threatening. The prospect of a constantly ‚self-overcoming‘ structure of valuation is what obviously provokes this danger, and Nietzsche’s aspiration is that such an age might also allow human beings who are prepared to be constantly ‚over‘ or beyond themselves – ‚Übermenschen‘ they might be called. He sums up such a stance in just this way in Aph. 347 of The Gay Science: „one could conceive of such a pleasure and power of determination, such a freedom of the will that the spirit would take leave of every faith and every wish for certainty, being practiced in maintaining himself on insubstantial ropes and possibilities and dancing even near abysses. Such a spirit would be the free spirit par excellence“ (KSA, FW, 3, 583). This is a tangle of themes, any one of which would require much more discussion. I have suggested that we should follow Nietzsche’s lead in considering the ‚problem of freedom‘ to be a ‚psychological‘ problem in his sense of the term. That is, Nietzsche clearly considers freedom to consist in some sort of affirmative psychological relation to one’s own deeds, a relation of identification, finding oneself in one’s deeds, experiencing them as genuinely one’s own. He also considers this state of being an achievement, rather than the exercise of an inherent capacity. The achieved state in question requires an unusual intentional self-relation, in particular an intentional relation to one’s own commitments. The relation involves both a kind of whole-hearted identification and affirmation, as well as the potential for great self-dissatisfaction. It is a state of great ‚tension‘. One is neither as passionately identified with one’s projects as Johann Wolfgang von Goethe’s Werther, nor as ironically detached from them as Diderot’s Rameau’s nephew. To be in such a state of tension is to be capable of self-overcoming, genuine freedom, or one might better say, to be capable of bearing the burden of such self-overcoming and of affirming under its condition. Yet the conditions for the possibility of such an achievement extend far beyond what an individual alone can be called on to achieve. These conditions are partly social and historical, and Nietzsche’s basic psychology does not appear to include an addressee for any call to simple resolve or strength of will (Even if it did, a will cannot resolve to be strong unless it already is). Whatever the nature of the perspective achieved 22
The discussion in II, 10 of On The Genealogy Of Morals where, in his genealogy of punishment, Nietzsche notes that „as its power increases, a community ceases to take the individual transgressions so seriously …“ and that in the development of justice it all „ends by winking and letting those incapable of discharging their debt go free; it ends as does every good thing on earth by overcoming itself“ (KSA, GM, 5, 308f.).
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by Montaigne that Nietzsche so much admired, it was not achieved (cannot be achieved) by force of will or as the consequence of practical reasoning. All of this is in partial explanation of Nietzsche’s unusual rhetoric, a mixture of so many different styles, tropes and voices, as he tries, in effect, to create a picture that can get some grip or hold on his readers. This is especially true of Zarathustra who, readers inclined to the blood-thirstyblonde-beast Nietzsche rarely notice, is quite an unusual hero; often perplexed, confused, disappointed in his comrades and followers, at times bombastic and self-important, at times tender-hearted and resigned to his fate; a figure as much of parody as of tragedy, a fact and paradox Nietzsche was himself eager to point out. All of which raises the question that, in Nietzsche’s terms, arises within the perspective of ‚life‘ – what would it be to live out both bearing the burden of the finitude and temporal fragility of one’s ideals and yet to be capable of ‚self-overcoming‘? These questions can be pursued in any number of ways. My point here has only been to suggest if the topic is freedom and self-rule according to Nietzsche, any investigation of that issue will have to lead to yet another unusual paradox in Nietzsche’s account. There is, in other words, an analogue here to the famous maxim of Pascal’s that Nietzsche must have relished: ‚La vraie philosophie se moque de la philosophie.‘ True philosophy ridicules, has nothing to do with, ‚philosophy‘. The Nietzschean turn of that screw would be: the true realization of the will to power has nothing to do with gaining and holding power as traditionally understood, except as an indifference to power in this sense. The implication from the passages we have reviewed would seem to be: the true realization of the will to power, genuine freedom, has rather to do with self-overcoming.
III. Nietzsche und die Religionen Philosophische, religionswissenschaftliche und theologische Aspekte in historischer, systematischer und rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht 14. Nietzsche-Werkstatt, Schulpforta (13.–16. September 2006)
HANS GERALD HÖDL
Zur Funktion der Religion Anmerkungen zu Nietzsches Einfluss auf Max Weber und zur Antizipation von religionssoziologischen Fragestellungen in Menschliches-Allzumenschliches
1. Religionssoziologie im Rückgriff auf und im Vorgriff durch Nietzsche? In seiner Einführung in die Religionssoziologie rechnet Hubert Knoblauch Nietzsche, gemeinsam mit anderen Religionskritikern wie David Hume, Ludwig Feuerbach und Karl Marx, unter die Vorläufer der Religionssoziologie1. Hier kommt zunächst der allgemeine Gesichtspunkt zur Geltung, dass die Religionskritik und die durch sie vollzogene Zurücknahme der absoluten Geltung einer eigenen religiösen Sphäre wohl als Bedingungen der Möglichkeit einer rein funktionalen Betrachtung der Religion anzusehen sind, wie wir sie in der Regel in der Religionssoziologie vorfinden. Wenn man von einer sozusagen doppelten Gründung der Religionssoziologie auf beiden Seiten des Rheins ausgeht2, so muss man als den französischen Gründervater Emile Durkheim ansehen und auf der deutschen Seite Georg Simmel und Max Weber nennen. Simmel hatte in einem 1898 in der Neuen Deutschen Rundschau erschienen Aufsatz mit dem Titel Zur Soziologie der Religion3 die Thematik definiert, Weber ist nicht nur durch seine bekannte Protestantismusthese, sondern auch durch Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen und besonders durch die Ausführungen zu den Typen religiöser Vergemeinschaftung in Wirtschaft und Gesellschaft zu einem Klassiker der Religionswissenschaft geworden.4 Durkheims Elementare Formen des religiösen Lebens haben mit der These des Ursprungs der Religion aus dem totemistischen Ritual starke Impulse aus der im 19. Jahrhundert in der englischsprachigen Religionsanthropologie geführten Diskussion um den Ursprung der Religion, die schon Hume beschäftigt hatte, erhalten.5 Auch Julius 1 2 3 4 5
Hubert Knoblauch, Religionssoziologie, Berlin, New York 1999, 20–35. Zur Geschichte der Disziplin, ebd. Georg Simmel, Zur Soziologie der Religion, in: Neue Deutsche Rundschau (Freie Bühne) 9 (1898). Vgl. Günter Kehrer, Max Weber (1864–1920), in: Axel Michaels (Hg.), Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, München 1997. Dazu Hans Gerald Hödl, Religionswissenschaft und Aufklärung. Historische Aspekte und gegenwärtige Fragen, in: Konstantin Bröse, Andreas Hütig, Oliver Immel, Renate Reschke (Hg.), Aufklärung der Vernunft – Vernunft der Aufklärung, Berlin 2006, 92ff.
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Wellhausens Forschungen sind, zumindest über die Vermittlung von William Robertson Smith, als geistesgeschichtlicher Hintergrund zu nennen.6 Friedrich Nietzsche hat nun seinerseits, wie Andrea Orsucci7 deutlich ausgeführt hat, die Diskussion um die Ursprünge der Religion und Kultur, wie sie von Edward Burnett Tylor, John Lubbock und anderen geführt worden ist, mitverfolgt und in diesbezüglichen Ausführungen in Menschliches, Allzumenschliches Stellung dazu bezogen. Insgesamt kann man Nietzsches Religionskritik, die in eine Genealogie der Religionen mündet, stark von den Fragen nach den Ursprüngen beeinflusst ansehen. Ohne der Frage nach Nietzsches historisch rekonstruierbaren Einflüssen auf die Gründerväter der Religionssoziologie ausführlich nachzugehen, kann festgehalten werden, dass Simmel8 ebenso wie Weber mit Nietzsches Schriften vertraut war. Der von Weber zur Charakterisierung der Religionen gebrauchte Begriff der „Hinterwelt“9 dürfte von Nietzsche stammen.10 Eine gewisse Kenntnis der Religionsphilosophie Nietzsches verrät auch der Rekurs auf den Ressentiment-Begriff in Wirtschaft und Gesellschaft.11 Weber geht im § 712 des der Religion gewidmeten Kapitels seines opus posthumum der Frage nach, wie bestimmte soziale Positionen (Schichtenzugehörigkeiten) in der Gesellschaft zu bestimmten religiösen Einstellungen prädisponieren. Seine in viele kleine Differenzierungen sich verästelnde Interpretation und Argumentation kann hier nicht genau nachgezeichnet werden. Jedenfalls bildet die Unterscheidung von ‚privilegiert‘ und ‚negativ privilegiert‘ das Grundprinzip seiner Erhebung schichtenspezifischer Religionsfor6
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Zur Fachgeschichte der Religionswissenschaft: Hans G. Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997 (zum Einfluss Julius Wellhausens auf William Robertson Smith, 100ff.). Dazu: Andrea Orsucci, Orient – Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild, Berlin, New York 1996. Vgl. bes. seine Interpretation Nietzsches als Philosoph des Lebens (und nicht: ‚Lebensphilosoph‘; zur Inadäquatheit dieser Kategorisierung von Nietzsches Denken: Volker Gerhardt, Der Begriff des Lebens bei Kant und Nietzsche, in: Beatrix Himmelmann (Hg.), Kant und Nietzsche im Widerstreit. Internationale Konferenz der Nietzsche-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der Kant-Gesellschaft, Berlin, New York 2005, 295f.); in den 1902 gehaltenen Vorträgen Tendencies in German Life and Thought since 1870, die auf eine lange Beschäftigung mit Nietzsche schließen lassen (wie Edith Weiller, Max Weber und die literarische Moderne. Ambivalente Begegnungen zweier Kulturen, Stuttgart, Weimar 1994, 43, belegt). Die auf Schopenhauer und Nietzsche bezüglichen Vorträge sind auf deutsch erschienen als: Georg Simmel. Schopenhauer und Nietzsche. Tendenzen im deutschen Leben und Denken seit 1870, Hamburg 1990. Weiller (ebd., 42) spricht von einer ambivalenten Beurteilung Nietzsches durch Simmel, der dennoch in ihm den „Überwinder einer Epoche allgemeinen kulturellen Sinnverlustes“ gesehen habe. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1980, 248, wo er davon spricht, dass die Götter ein „hinterweltliches Dasein“ führen. Vgl. etwa KSA, VM, Aph. 17, 2, 386); Hartmann Tyrell, Das Religiöse in Max Webers Religionssoziologie, in: Saeculum 43 (1992), 193, Anm. 93 führt den Begriff ‚Hinterwelt‘ auf Arthur Schopenhauer zurück, ohne es zu belegen. Edith Weiller, Max Weber und die literarische Moderne, 42 findet die stärksten Anknüpfungspunkte Webers an Nietzsche in der Aufnahme von dessen Ressentimentbegriff im Rahmen der Religionssoziologie. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1980 , 285–314.
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men, wobei innerhalb dieser Unterscheidung nochmals nach dem tatsächlichen Grad an Macht, also nach dem faktischen Einfluss innerhalb der Gesellschaft differenziert wird13, wodurch Webers Ausführungen zusätzlich an Komplexität gewinnen. Weber orientiert die jeweilige Funktion der Religion für verschiedene Schichten der Gesellschaft grundlegend am jeweiligen Begriff der Würde. Privilegierte Klassen haben demnach ihr Würdegefühl in dem, was sie sind, während die negativ Privilegierten ihre Würde in dem finden, worauf sie aus sind.14 Die darin anklingende Unterscheidung von Herren- und Sklavenmoral15 bei Nietzsche, interpretiere ich in der folgenden Weise: Gesetzt den Fall, dass sich diejenigen im Leben durchsetzen, die stärker, mächtiger, lebensvoller, kräftiger sind, dann werden in einer nach den Werten des aufsteigenden Lebens bestimmten Gesellschaft auch diejenigen an der Macht sein, also herrschen. Sie werden in ihrem Verhältnis den Beherrschten gegenüber nicht von Furcht bestimmt sein. Wenn sie diese nun verletzen, beleidigen, ihnen Schmerz zufügen, dann aus einer Position der Stärke heraus, die nicht nochmals auf die eigenen Handlungen zu reflektieren braucht, also in einer naiven Art und Weise. Auf der anderen Seite stehen die Beherrschten, mit Nietzsches Worten die Sklaven, denen eine direkte Reaktion auf eine Verletzung durch einen sogenannten Herren aus ihrer Position der Schwäche, der Ohnmacht heraus, versagt ist. Nietzsche spricht also in erster Linie nicht über real vorfindbare Verhältnisse von Herrschaft und Knechtschaft, sondern er konstruiert, aus dem Anteilhaben am als Machtsteigerung aufgefassten Leben, zwei Typen, einen der Stärke und einen der Schwäche, um Typen von Handlungs- und Reaktionsweisen zu schildern, die er zur Analyse von Moral und Religion gebraucht, und die er in der Genealogie der Moral als den Gegensatz der ‚vornehmen‘ Wertung und der ‚Sklavenmoral‘ bezeichnet. Die Schwachen können nun nicht direkt reagieren, also können sie sich ihrer durch die Verletzung hervorgerufenen negativen Gefühle nicht sofort durch eine Handlung der Entladung entledigen, sondern sie werden diese in sich zurückhalten. Dadurch entsteht das negative Gefühl, das Nietzsche mit einem wohl bei Eugen Dühring entlehnten Begriff Ressentiment nennt.16 13
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Ders., ebd., 306ff, wo er darauf eingeht, dass auch privilegierte Schichten einer Gesellschaft eine Erlösungsreligiosität entwickeln können, wenn sie von der realen Machtausübung in der Gesellschaft ausgeschlossen sind und wo er diese spezifische Art von Erlösungsreligiosität beschreibt. Ders., ebd., 298f. Nietzsche führt die Unterscheidung von Herrenmoral und Sklavenmoral in JGB 260 ein (KSA, JGB, 5, 208ff); in der ersten Abhandlung Genealogie der Moral (Aph. 10) bringt er die Sklavenmoral in Verbindung mit dem Begriff des Ressentiment, um dem eine vornehme Moral im nächsten Aph. 11 entgegenzusetzen (KSA, JGB, 5, 270ff.). Dazu: Werner Stegmaier, Nietzsches „Genealogie der Moral“, Darmstadt 1994, 118–123. Dazu die Stelle im Exzerpt, das Nietzsche im Sommer 1875 von Eugen Dührings Der Wert des Lebens angelegt hat: „Das Rechtsgefühl ist ein Ressentiment […] auch die Vorstellung einer jenseitigen Gerechtigkeit geht auf das Rachegefühl zurück“ (KSA, NF, 9, 176). Während aber Dühring darunter eine mechanische Reaktion versteht, ist für Nietzsche der Vorgang, den Sigmund Freud später als ‚Verschiebung‘ bezeichnen wird, der springende Punkt am Ressentiment. Die Raffinesse an Nietzsches Gedankengang besteht darin, dass durch den Vorgang der Verschiebung in den Schwachen erst so etwas wie eine seelische Tiefendimension entsteht. Sie sind nicht mehr naiv, sondern reflektiert und raffiniert. Die Moral ist nun nach Nietzsche eine Erfindung solcher Seelen, denn sie dient zunächst dazu, den Racheimpuls zu verschieben und symbolisch, in der moralischen Entrüstung, in der Vorstellung eines jenseitigen Gerichtes usw. abzureagieren. Erst dadurch verfe-
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Ähnlich, meine ich, geht Weber vor17, wenn er sich nach der Funktion der Religion für die Privilegierten und die negativ Privilegierten fragt: Religion hat für die Privilegierten in der Regel eine Legitimierungsfunktion.18 In den von der Würde des in sich ruhenden Wesens, dessen Vornehmheit gerade darin besteht, nicht über sich hinauszuweisen, bestimmten Religionen findet eine prinzipiell diesseitsorientierte Haltung ihren Ausdruck. Das Gegenstück zu einer legitimierenden Funktion der Religion bildet die von nicht-privilegierten Schichten ausgebildete Erlösungsreligion. Erlösung wird genau dann notwendig, wenn es eine Not zu wenden gilt19, die nicht aus eigener Kraft unmittelbar gewendet werden kann. Die Situation der negativ Privilegierten ist Weber zufolge im Allgemeinen also von dem Wunsch nach Erlösung vom Leiden charakterisiert. Hier ist der von Nietzsche konstatierte Verschiebungseffekt zu bemerken. Am deutlichsten hat diese Erlösungshoffnung Weber zufolge im Judentum und in den Hindu-Religionen religiöse Gestalt gewonnen. Das jüdische Volk ist für Weber, seit der exilischen und nachexilischen Zeit das Pariavolk par excellence, im allgemeinen Sinn des Wortes, negativ privilegiert, in einer ökonomischen und sozialen Sonderstellung der Umwelt gegenüber.20 Und je gedrückter die Lage, umso stärker wird die Bindung an die Gruppe, die ihre Gemeinschaft vor allem über genaue religiöse Observanz als Weg zur Herbeiführung einer grundlegenden Änderung der Situation definiert. In dieser Situation befinden sich laut Weber auch die ‚unterkastigen‘ Hindus, wobei er hier einen charakteristischen Unterschied zwischen dem festen Kastensystem des Hinduismus, dessen Erlösungsvorstellung auf der Idee des karmischen Gesetzes basiert und der jüdischen Idee des Messianismus feststellt.21 In ersterem kann der einzelne durch Befolgung der religiösen Riten seine Wiedergeburt in einer besseren sozialen Stellung herbeiführen, während der letztere durch religiöse Observanz Gott zum Eingreifen zugunsten seines Volkes bewegen will und zur Herbeiführung einer neuen Ordnung der Dinge, in der die jetzt Unterdrückten zur Herrschaft gelangen werden. Dieser Gedankengang scheint wiederum eine gewisse Nähe zu Nietzsches Favorisierung des Kastensystems aufzuweisen. Und genau hier macht Weber auf die Rolle des Ressentiments aufmerksam und nennt Nietzsche als denjenigen, der dies zuerst in den Blick gebracht hätte.22 In diesem Zusammenhang zitiert er dessen Wort vom ‚Sklavenaufstand der Moral‘ und meint, dass man von einem solchen nicht sprechen könne.23 Ihm zufolge schafft das universalistisch angelegte
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stigt sich der Gegensatz zwischen Gut und Schlecht, der einer vornehmen Moral entspringt, in den zwischen Gut und Böse. Zu Webers über Simmel vermittelte Bezugnahme auf den im neunten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse entwickelten Begriff des Vornehmen Edith Weiller, Max Weber und die literarische Moderne, Stuttgart, Weimar 1994, 53. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 299; doch auch hier argumentiert er differenziert, indem er etwa das Beispiel der homerischen Weltsicht anführt, in der der Held nicht wegen, sondern trotz der Götter sein Sein vollendet. „Jedes Erlösungsbedürfnis ist Ausdruck einer ‚Not‘“ (ebd.); vgl. ebd. 307, wo die Erlösung von „innerer“ Not, wie sie Intellektuellenreligionen eignet, der Erlösung von „äußerer Not“, die die nicht privilegierten Schichten erwarten, gegenübergestellt wird. Ders., ebd., 300. Ders., ebd., 300ff. Ders., ebd., 303. Ders., ebd., 303f.
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Christentum, das eine Abkehr von der Welt fordert, einerseits gerade die Idee einer nach außen geschlossenen Kaste oder Gruppe und kann, in seiner prinzipiellen Weltabkehr, auch nicht als grundlegend vom Ressentiment motiviert angesehen werden. Interessanterweise vergleicht er in dieser Hinsicht die Haltung Jesu mit derjenigen des Buddha, der in seiner Abkehr von der Welt gerade nicht vom Ressentiment bestimmt gewesen sei.24 So folgt er in erstaunlicher Weise Nietzsche weiter, als ihm bewusst ist, denn diese Parallele zieht Nietzsche selbst im Antichrist25, wo er ausdrücklich die von Weber vorgebrachte Einschätzung der Lehre des Buddha vorbringt26, während Weber der Ansicht ist, Nietzsche hätte den Buddhismus als Ressentimentreligion bezeichnet.27 Offensichtlich hat Weber den Antichrist nicht zur Kenntnis genommen, wo sich sowohl die auch von ihm vorgenommene Annäherung der Lehre Jesu von der vergebenden Liebe an die Weltabkehr des Buddha findet, als auch eine deutliche Distanzierung des Buddhismus vom Ressentiment. Einige Stellen, an denen Weber den Buddhismus beschreibt, klingen in der Tat stark an Nietzsches diesbezügliche Ausführungen an. Er bringt, anders ausgedrückt, an dessen RessentimentLehre Einschränkungen an, die dieser selbst schon vorgenommen hat28. Wie dem auch sei, jedenfalls sind solche Anknüpfungspunkte an Nietzsche im Rahmen der sich formierenden Religionssoziologie nun meines Erachtens nicht reiner Zufall, sondern liegen in der Logik eines Paradigmenwechsels, den Nietzsche in Hinblick auf die Behandlung religiöser Fragen vollzieht, mit der er, wie ich zeigen will, bestimmte Grundcharakteristika der religionssoziologischen Theoriebildung antizipiert. Ich gehe dabei davon aus, dass, was immer man sonst unter Religionssoziologie verstehen mag, man die folgenden zwei Hauptfragen dieser religionswissenschaftlichen Untersuchungsrichtung benennen kann: Einerseits wird nach sozialen Formen religiöser Organisation gefragt, nach Typisierungen der Institutionalisierung von Religion (was eine Typisierung der Religionen voraussetzt) und andererseits wird die soziale Funktion der Religion untersucht, die Stellung und Leistung der Religion als einem kulturellen System neben anderen kulturellen Systemen im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang in den Blick genommen. Diese Blickrichtung setzt, wie das bereits Weber am Beginn seiner diesbezüglichen Ausführungen in Wirtschaft und Gesellschaft ausgesprochen 24
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Weber zufolge sind „Proletarische Instinkte“ „dem Propheten akosmistischer Liebe, der den geistig und materiell Armen die frohe Botschaft […] bringt, ebenso fremd wie etwa dem Buddha, dem das absolute Ausscheiden aus der Welt unbedingte Voraussetzung der Erlösung ist“ (ebd., 303f). Im Rahmen der Unterscheidung zwischen der Botschaft Jesu und der nach dem Kreuzestod entstandenen ressentimenthaften Verkündigung der Apostel, insbesondere des paulinischen Christentums. Dazu Hans Gerald Hödl, Die Träume der Leidenden. Ein Zugang zu den Kriterien der Bewertung von Religionen beim späten Nietzsche, in: Renate Reschke [Hrsg.] Zeitenwende – Wertewende. Internationaler Kongreß der Nietzsche-Gesellschaft zum 100. Todestag Friedrich Nietzsches vom 24.–27. August 2000 in Naumburg, Berlin 2001, 189–195. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 304. Vgl. auch die Bemerkungen, die Weber zu der „seit Fr. Nietzsches glänzendem Essay, seitdem auch von Psychologen mit Geist behandelten Theorie vom ‚Ressentiment‘“ in der Einleitung zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen macht (Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie 1, Tübingen 1988, 241f.). Daraus geht Webers Wertschätzung der Genealogie der Moral hervor. Seine Bedenken gegen die Verwendung des Ressentiment-Begriffes zur Herleitung der Erlösungsreligionen, die auch Weiller, a.a.O. 54ff., referiert, entspringen einer ungenauen Kenntnis bzw. einem Missverständnis von Nietzsches diesbezüglichen Ausführungen.
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hat29, ein Absehen von der Wahrheitsfrage voraus. Religion wird also in der Hauptsache funktional betrachtet. In der Regel gibt es zwei Arten funktionaler Religionserklärung. Zunächst die psychologische, die stärker vom Individuum ausgeht und die kognitiven, affektiven und pragmatischen Dimensionen der Religion in ihrer Leistung für die Daseinsbewältigung des Einzelnen in den Blick nimmt, nämlich Unbekanntes einer Erklärung zugänglich zu machen, dazu beizutragen, besondere emotionale Erlebnisse in die Gesamtpersönlichkeit integrieren zu können und zur Bewältigung krisenhafter Situationen zu verhelfen. Der soziologische Funktionalismus baut freilich auf diesen Basisfunktionen auf, nimmt jedoch die Leistung des Systems Religion für den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang ins Auge, wie Religion das System fundiert, die Individuen in das System integriert und letzteres schließlich legitimiert. Meine Frage wird nun sein, inwieweit wir diese Betrachtungsweisen in Nietzsches Werk vorgebildet finden können, ihn also mit Fug und Recht zu den Vorläufern der funktionalen religionssoziologischen Betrachtung von Religionen rechnen können, resp. seine diesbezüglichen Thesen in den wissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit einzuordnen vermögen, aus dem diese Forschungsrichtung entstanden ist.
2. Das Programm von Menschliches–Allzumenschliches Meine These lautet, dass man bei Nietzsche zumindest beide genannten Formen der funktionalen Religionsbetrachtung in nuce finden kann, und zwar bereits im dritten Abschnitt von Menschliches, Allzumenschliches, Das religiöse Leben, in den Abschnitten 108–144 dieses zu Unrecht als Aphorismenbuch bezeichneten Werkes.30 Ich schränke meine Überlegungen also auf eine kursorische Lektüre dieses Abschnittes ein.31 In diesem Kapitel meine ich, eine Untersuchungsrichtung zu finden, die ich eine anthropologische Wende in der Religionsbetrachtung zu nennen vorschlage. Nietzsche setzt sich zunächst deutlich von der Wahrheitsfrage als Leitidee der Betrachtung des Religiösen ab. Er macht klar, dass er den Wahrheitsanspruch der Religionen in Hinblick auf deren Abbildung der Wirklichkeit als erledigt erachtet. Stattdessen wendet er sich hauptsächlich Fragen nach der Entstehung und Entwicklung des religiösen Bewusstseins zu, die er zumeist aus deren psychologischer Funktion erklärt. Er will an die Stelle der religiösen Erklärung der Religion, der Theologie, eine wissenschaftliche Betrachtungsweise dieses Phänomenbereiches einführen, ohne dass er dieses Verfahren Religionswissenschaft nennen würde. 29
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Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 245, wo er ausführt, dass es ihm nicht um das Wesen der Religion geht. Zu den Spannungen, die dies im Verhältnis zu seinen Versuchen, Religion als Sphäre sui generis ins Auge zu fassen, die auf die Gesellschaft einwirkt und nicht bloß als Überbau erklärbar ist, in seinen Überlegungen zur Religionssoziologie ergibt und zu Webers Verhältnis zur Religionsgeschichtlichen Schule, vgl. Hartmann Tyrell, „Das Religiöse“ in Max Webers Religionssoziologie, 178–185. Edith Weiller sieht eine Verwandtschaft zwischen Nietzsches Kritik des Wesensbegriffs und Webers Distanzierung desselben (dies., Max Weber und die literarische Moderne, 54f., 49). Im Folgenden wird aus redaktionellen Gründen stets „Aph.“ geschrieben. Ich sehe davon ab, diese Abschnitte in Bezug zu Nietzsches Vorlesung über den Gottesdienst der Griechen (KGW II/5, 355–520) zu setzen; vgl. dazu den Beitrag von Marco Brusotti in diesem Band.
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Damit bleibt er im Rahmen des von ihm im ersten Paragraphen von Menschliches, Allzumenschliches entwickelten Programms der Schrift (KSA, MA-1, 2, 23f): Das dort vorgestellte Programm einer Historischen Philosophie als Gegenentwurf zur Metaphysik soll die Herkunft jener Bereiche des menschlichen Handelns und der menschlichen Kultur, die bislang als Erweis einer an-sich-seienden, überzeitlich-gültigen, geistigen, in sich selbst begründeten Sphäre herangezogen worden waren, aus deren Gegenteil erklären. Dazu bedarf es, so Nietzsche, einer Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen. Wie ihre heutzutage weniger angesehene Ahnherrin, die Alchemie, beschäftigt sich die Chemie mit der Elementenlehre und vor allem damit, wie die einzelnen Stoffe durch Verbindungen dieser Elemente entstehen resp. auseinander hervorgehen. Nietzsche will also eine Elementenlehre geben und zeigen, wie die einen, hochgeschätzten, Empfindungen als Sublimierungen aus den weniger hoch geschätzten hervorgehen. Damit werden aber jene aus einem seelischen Anteil, der sich auf einen eigenen Bereich der Wirklichkeit bezieht und von daher seine Vorrangstellung unter den seelischen Vermögen begründet, zu etwas Menschlich-Allzumenschlichem. An die Stelle metaphysischer Begründungen tritt simple Anthropologie. Ich will zuerst überblicksmäßig einige der von Nietzsche in Abschnitt 3 von Menschliches, Allzumenschliches im Rahmen des skizzierten Programms behandelten Thematiken nennen: Den Ursprung der Religion, das Verhältnis von Religion und Wissenschaft sowie deren jeweiligen Wahrheitsanspruch erörtern die Aph. 108–111 (ebd., 107ff.), Ansätze zu einer Typisierung von Religionen finden sich in den Aph. 111–114 (ebd., 113ff.), Typen christlichen Alltagslebens werden in den Aph. 115 und 116 (ebd., 118f.) vorgestellt, zu diesen Typologisierungen kann man auch die Ausführungen über die Irreligiosität der Künstler in Aph. 125 (ebd., 121f.) rechnen. Das Fortleben religiöser Gefühle nach dem Ende der Religion behandelt Nietzsche in den Aph.121 (ebd., 120), 130 und 131 (ebd., 123ff). Ab Aph. 130 werden auch die knappen, aphoristischen Einsprengsel, die den Hauptteil der Aph. 117–129 (ebd., 119ff.) bilden, wieder durch zwei längere, einen deutlich erkennbaren Zusammenhang bildende Reflexionsreihen abgelöst, die den Schluss des Abschnittes ergeben: Zunächst die Aph. 132–135 (ebd., 125ff.), in denen eine Psychologie des Erlösungsbedürfnisses entworfen wird, worauf Nietzsche den Abschnitt mit der Behandlung der in den Aph. 126 und 127 (ebd., 122) vorbereiteten Thematik des Heiligen und der Heiligkeit in den Aph. 136–144 (ebd., 130f.) beschließt.
3. Ursprung und Wahrheit der Religion Ich will zunächst auf die Thematik des Ursprunges der Religion und deren Wahrheitsanspruch eingehen. Im Aph. 108 (ebd., 107) wird Religion als eine Art der Kontingenzbewältigung, als Erklärung des Vorhandenseins von Übeln in der Welt, dargestellt. Die religiöse Kontingenzbewältigungsstrategie ist für Nietzsche nur aufgrund einer falschen Ansicht von der Ursächlichkeit möglich. Die religiöse Erklärung der Welt zielt demnach nur darauf, den vom Übel Betroffenen ruhig zu stellen, sie vermag es aber nicht, die Ursachen des Schmerzes aus der Welt zu schaffen. Die Attraktivität dieser illusionä-
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ren Behandlungsart vermag Nietzsche aber zu erklären, wenn er im Aph. 128 sagt, dass sich die wissenschaftliche Aussicht auf Seligkeit durch Schmerzminderung allerdings im Vergleich mit den Versprechungen der Religion eher bescheiden ausnehme (ebd., 123). Jedenfalls klingt hier bereits die scharfe Scheidung an, die er in diesem Abschnitt zwischen der religiösen und der wissenschaftlichen Welterklärung vornimmt. Im Aph. 111 (ebd., 112ff.) wird er die Thematik in umfassenderem Sinne wieder aufnehmen, an den gängigen Theorien dessen orientiert, was er im Aph. 133 die „völkervergleichende Wissenschaft“ (ebd., 128) nennt. Demnach ist die Kausalitätsvorstellung, die den Religionen zugrunde liegt, auf einer Projektion menschlicher Abhängigkeitsverhältnisse in die Natur aufgebaut, während die wissenschaftliche Welterklärung auf Naturgesetzlichkeit rekurriert. Im Hintergrund dieser Ausführungen ist ganz klar die animistische Theorie zu erkennen, die davon ausgegangen ist, dass es im Frühstadium der religiösen Entwicklung einen Glauben an die Allbeseeltheit der Welt gegeben habe.32 Die Entwicklung habe dann in weiteren Abstraktionsstufen zur Idee einer einzigen für den Gesamtkosmos verantwortlichen Gottheit geführt.33 Nietzsche nimmt nun diese Herkunftsgeschichte der religiösen Ideen, um die religiöse Ideenwelt insgesamt als einer schlechten Interpretation der Welt entstammend zu diskreditieren. Dagegen setzt er die naturwissenschaftliche Lesart: „Der Sinn des religiösen Cultus ist, die Natur zu menschlichem Vortheil zu bestimmen und zu bannen, also ihr eine Gesetzlichkeit einzuprägen, die sie von vornherein nicht hat; während in der jetzigen Zeit die Gesetzlichkeit der Natur erkennen will, um sich in sie zu schicken“ (ebd., 115). Damit nimmt er entschieden gegen die Vorstellung eines in den Religionen enthaltenen Wahrheitsgehaltes im Sinne des sensus allegoricus Stellung, wie ihn noch Schopenhauer vertreten hatte. Entsprechend kritisch äußert er sich im Aph. 110 (ebd., 109ff.) über diese Ansicht, ebenso wie über Schopenhauers Lehre, dass die allgemeine Verbreitung der Religionen zu allen Zeiten und in allen Gebieten ein metaphysisches Bedürfnis des Menschen als sozusagen anthropologisches Apriori aufweise, das sich in Religion und Philosophie entfalte34, erstere durch Autoritätsglauben, letztere durch rationale Argumentation gekennzeichnet. Schopenhauers daraus folgende Bezeichnung der Religion 32
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Zur Kritik an der von Edward B. Tylor ausgearbeiteten Theorie des Animismus: Edward Evans Pritchard, Theorien über primitive Religionen, Frankfurt/M. 1968, 58ff.; eine von der üblichen Kritik an der kulturevolutionistischen und projektiven Animismustheorie leicht abweichende, die kulturwissenschaftlichen Verdienste Tylors positiv evaluierende Beurteilung der These, an der Survival-Theorie orientiert, bei Hans G. Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionsgeschichte und Moderne 1997, 97ff. Zu Nietzsches Tylor-Lektüre zur Zeit der Abfassung von Menschliches, Allzumenschliche (Hubert Treiber, Zur „Logik des Traumes“ bei Nietzsche. Anmerkungen zu den Traum-Aphorismen aus Menschliches, Allzumenschliches, in: Nietzsche-Studien, 23 [1994], 6f.). Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, § 17. Ueber das metaphysische Bedürfnis des Menschen, in: Ders., Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Band 3, Zürich 1977, 186–219; Zum metaphysischen Bedürfnis vgl. die Äußerung des Demopheles im Dialog Ueber Religion in den Parerga und Paralipomena: „Der Mensch ist ein animal metaphysicum, d.h. hat ein überwiegend starkes metaphysisches Bedürfnis: demnach faßt er das Leben vor Allem in seiner metaphysischen Bedeutung […] Daher ist […] die Übereinstimmung in den metaphysischen Grundansichten für ihn die Hauptsache […] In Folge davon identificiren und scheiden die Völker sich viel mehr nach den Religionen, als nach den Regierungen, oder selbst nach den Sprachen“ (ebd., Bd. 10, 380).
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als Volksmetaphysik35 klingt noch in Nietzsches berühmter Karikierung des Christentums als „Platonismus für’s Volk“ an (KSA, JGB, 5, 12). Schopenhauers Stellungnahme oszilliert in diesem Punkt, da er in gewissem Sinne die Philosophie gegenüber der Religion auszeichnet und dadurch in eine ambivalente Stellung dem von ihm vertretenen senus allegoricus gegenüber gerät.36 Nietzsche hat mit seiner klaren Stellungnahme gegen einen in den Religionen enthaltenen sensus allegoricus diese Spannung in Schopenhauers Religionsphilosophie für sich gelöst.37 Mit deutlichen Worten: „[…] noch nie hat eine Religion, weder mittelbar, noch unmittelbar, weder als Dogma, noch als Gleichniss, eine Wahrheit enthalten“ (KSA, MA-1, 2, 110), trennt er hier Religion und Erkenntnis. Vielmehr betrachtet er in den Aph. 126 und 143 Religion und Metaphysik als schlechte und voreilige Interpretationen (ebd., 139), gegen die er seine Forderung einer ‚streng philologischen‘ Interpretation im Aph. 8 (ebd., 28f.) stellt. Dennoch führt dies nicht dazu, dass er die Beschäftigung mit der religiösen Welt aufgibt. Vielmehr liegt es im Programm von Menschliches, Allzumenschliches, einen verborgenen Sinn in den Religionen ausfindig zu machen, allerdings nicht den einer zeitlosen Wahrheit in zeitbedingter Einkleidung, sondern deren psychologischen Sinn für das Lebewesen Mensch und seine Daseinsbewältigung. Deshalb spreche ich von einer anthropologischen Wende in der Religionsbetrachtung. Diese Wende drückt sich darin aus, dass religiöse Phänomene nunmehr in einer historisch-psychologischen Betrachtungsweise thematisiert werden. So wird im Aph. 111 das Ohnmachtsgefühl den natürlichen Abläufen gegenüber, die von den Menschen als übermächtige Kräfte empfunden werden, zum Ursprung des religiösen Kults erklärt (ebd., 112ff.). Ausdrücklich schreibt Nietzsche im Aph. 132 anlässlich seiner Thematisierung des christlichen Erlösungsbedürfnisses, dass es ihm darum zu tun sei, diesem Phänomen „eine Erklärung abzugewinnen, die frei von Mythologie ist: also eine rein psychologische“ (ebd., 125). Die psychologische Interpretation übernimmt auch die Aufgabe der Kritik und der Aufhebung des Wahrheitsanspruches der religiösen Weltinterpretation: „Also: eine bestimmte falsche Psychologie, eine gewisse Art von Phantastik in der Ausdeutung der Motive und Erlebnisse ist die nothwendige Voraussetzung davon, dass Einer zum Christen werde und das Bedürfniss der Erlösung empfinde. Mit der Einsicht in diese Verirrung der Vernunft und Phantasie hört man auf, Christ zu sein“ (ebd., 129).
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„Für die große Anzahl der Menschen […], als welche nicht zu denken, sondern nur zu glauben befähigt […] ist“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, in: Ders., ebd., Bd. 3, 191f), sind diejenigen Systeme bestimmt, die Schopenhauer „Volksmetaphysik“ nennt. Hent de Vries, Zum Begriff der Allegorie in Schopenhauers Religionsphilosophie, in: Schopenhauer-Studien 4, 187–197. Zur Wertung der Religionen bei Schopenhauer: Jörg Salaquarda, Beiträge Schopenhauers zur Religionswissenschaft, in: Kurt Luethi, Siegrfried Kreuzer (Hg.), Zur Aktualität des alten Testaments, Frankfurt/M. 1992, 249–58. Dazu Hans Gerald Hödl, Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos. Studien zur systematischen Bedeutung von Nietzsches Selbstthematisierungen im Kontext seiner Religionskritik, Habilitationsschrift, vorgelegt der Philosophischen Fakultät III der Humboldt-Universität zu Berlin, 2001, 326ff.
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4. Typologien In dieser Art der Welterklärung findet Nietzsche nun aber kulturell bedingte Unterschiede. Ansatzweise beginnt er in Menschliches, Allzumenschliches mit einer Typisierung der Religionen, wobei er vor allem die Vornehmheit der griechischen Religion, wie sie sich im Verhältnis der Griechen zu ihren Göttern ausdrücke, von der christlichen Religion abhebt. In beiden Religionen erblickt er letztendlich eine Symbolisierung und Objektivierung des Verhältnisses des Menschen zur umgebenden Natur, die in weiterer Folge internalisiert wird. Nietzsche zufolge unterscheidet sich aber das grundlegende Verhältnis jener symbolischen Weltverdoppelung gegenüber in den beiden Kulturen: auf der einen Seite finden wir die Vorstellung von streng geschiedenen Sphären, auf der anderen Seite das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Die Griechen hatten demnach ihrer idealen Götterwelt gegenüber eine freie Stellung, die einem Verwandtschaftsverhältnis entspräche, während sich in der jüdisch-christlichen Tradition das nach dem Bilde menschlicher Beziehungen gebildete Verhältnis den Naturgewalten gegenüber in den Kategorien von Herrschaft und Knechtschaft ausgedrückt hätte (ebd., 117f.).38 Von dieser Typologie her erschließen sich auch die längeren Reflexionen zur Gestalt des Heiligen und zum Erlösungsbedürfnis am Schluss des Abschnittes (ebd., 125–140). Letzteres entsteht Nietzsches Ausführungen zufolge aus der Internalisierung des Verhältnisses einem aufgrund seiner Vollkommenheit unerreichbaren Ideal gegenüber. Er geht dabei von einer Art Analyse der Destruktivität des Ideals aus, das zu einer Abwertung dessen führt, der sich an ihm misst. Hierin sieht er den grundlegenden Irrtum des Christen: anstatt zu einem ausgewogenen Verhältnis seiner Seelenkräfte zu gelangen, werden bestimmte von ihnen als erstrebenswert, andere als nicht erstrebenswert betrachtet und wird eine Vorstellung von einem Wesen gebildet, das alles Erstrebenswerte verwirklicht hätte. Es hat also eine Isolierung und eine anschließende Projektion seelischer Anteile stattgefunden. Am hypostasierten Ergebnis dieser Projektion misst sich nun der Mensch, der dadurch diejenigen Bestrebungen und Begehrungen, die aus diesem Idealbild ausgeschlossen worden waren, diabolisiert. Die beiden genannten Elemente trägt der Mensch nicht bloß in sich, sondern sie sind wesentlich miteinander verbunden: es gibt gar keine unegoistische Liebe, gar kein Verhältnis zwischen Menschen, in denen der eine nur Gebender und der andere nur Empfangender wäre. Aus solchen Verhältnissen aber wäre das Bild eines Gottes, der nur Liebe ist, gebildet. Weiters werden die wechselnden Stimmungslagen mit Hilfe dieses künstlich gebildeten Gegensatzpaares interpretiert. Depressive Stimmungslagen führt der Christ, wie ihn Nietzsche zeichnet, auf ein Überwiegen der einen zurück, dadurch zur Vorstellung von Schuld und Sünde gelangend. Auf der anderen Seite können ausgeglichene Stimmungslagen im Bewusstsein der eigenen Unvollkommenheit nur als ein Eingreifen einer äußeren Macht, als Gnade interpretiert werden. So entsteht Nietzsches Analyse zufolge der ganze Vorstellungskomplex von Schuld und Erlösung. In ähnlicher Weise behandelt er, worauf ich im einzelnen nicht eingehen will, die Gestalt des Heiligen als eines Virtuosen in diesem Komplexes von Selbstverachtung und Größenselbst. So sucht er zu zeigen, dass die Selbstverachtung, die sich in übertriebener Demut ausdrückt, eine Form der Eitelkeit 38
Vgl. die Schlusspassage von Aph. 111, ebd., 116.
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darstellt: einerseits verachtet der sich als niedrig und unwürdig erachtende demutsvolle Mensch selbst, indem er sich an einem hohen Ideal misst; andererseits ist dieses hohe Ideal aus einem psychischen Anteil gebildet, der durch diese Idealisierung vergöttlicht wird. In Nietzsches Worten im Aph. 137: „In jeder asketischen Moral betet der Mensch einen Theil von sich als Gott an und hat dazu nöthig, den übrigen Theil zu diabolisieren“ (KSA, MA-1, 2, 131). Den Zustand der Heiligkeit definiert Nietzsche in Aph. 138 (ebd., 131f.) als die zum Habitus gewordene Selbstaufopferung. Indem er diese als die Ableitung eines starken Affektes auffasst, nämlich der Rache, die, statt sich nach außen zu wenden, den das Rachegefühl Empfindenden selbst zum Zielpunkt macht, erreicht er wohl schon den Ansatzpunkt für seine spätere berühmte Analyse des Ressentiments, die Verschiebung eines Affektes. Der Punkt, den ich hier hervorheben will, ist, dass Nietzsche in seiner Analyse der Gestalt des Heiligen dasjenige, was als heilig angesehen wird, als Ergebnis der Triebökonomie betrachtet und, entsprechend dem im Aph. 1 entwickelten Programm zeigt, wie etwas, nämlich Selbstaufopferung, aus dem, was man gemeinhin für sein Gegenteil hält, nämlich den Racheimpuls, entstehen kann. Hier wird eine psychologisch-funktionale Erklärung gegeben, ebenso wie im Aph. 139 (ebd., 133), in dem Askese und Ritualismus als Formen der Erleichterung des Lebens durch die Unterordnung unter einen höheren Willen interpretiert werden. Man könnte also sagen, dass es sich um Formen der Reduktion von Komplexität im Dienste der Systemerhaltung handelt.
5. Schlussfolgerungen Nach diesem kursorischen Überblick über Themen und Motive von Nietzsches Ausführungen zur Religion in Abschnitt 3 von Menschliches, Allzumenschliches möchte ich versuchen, abschließend die anfangs aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Nietzsche interpretiert im Abschnitt 3 Religionen in gewisser Weise als Projektion: Angesichts einer bedrohlichen Umwelt entwickelt der Mensch Strategien der Naturbeherrschung. Scharf trennt Nietzsche die wissenschaftliche, aus genauer Naturbeobachtung stammende Weise des Umganges mit der Welt von der religiösen, die auf einer Projektion menschlicher Verhältnisse in die Natur beruht. Er nimmt also das Anthropomorphismus-Argument aus der Geschichte der Religionskritik auf. Damit beginnt er eine Typologie von Religionen einzuführen, die er nur ansatzweise an der Entgegensetzung von Griechentum und Christentum durchführt. Andere Verhältnisse von Menschen untereinander werden in der olympischen Götterwelt symbolisiert als in der monotheistischen Religion. Das entscheidende aber ist, dass diese Symbolwelten gesellschaftlich vermittelte sind und von den Individuen entsprechend internalisiert werden. Es wird also ein jeweils verschiedenes Ideal davon aufgestellt, was der Mensch sein kann. Diese rein anthropologische Grundlegung der Religion und ihre Betrachtung hinsichtlich ihrer psychologischen Funktion weist ganz deutlich eine Nähe zur religionssoziologischen Fragestellung nach der gesellschaftlichen Funktion von Religion auf. In dieser ansatzweise durchgeführten Typisierung von religiösen Gemeinschaften, die umfassender im Spätwerk durchgeführt werden wird, allerdings auch dort nicht in der Genauigkeit und Breite, in der dies Weber in seinen religionssoziolo-
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gischen Schriften getan hat39, finden wir aber eingestreute Überlegungen zur Funktion der Religion in Hinblick auf jenen Vorgang, den Thomas Luckmann und Peter Berger die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit genannt haben und wovon ihre jeweiligen sehr unterschiedlichen religionssoziologischen Theorien ausgehen40: Nietzsche zeichnet den Menschen als ein Mängelwesen, das zur Bewältigung des Überlebenskampfes durch Externalisierung und Objektivierung symbolische Welten ausbildet, die wiederum durch Internalisierung letztendlich die Wirklichkeit einer bestimmten Sozietät konstruieren.41 Über diese deskriptive Betrachtungsweise geht Nietzsche jedoch einen entscheidenden Schritt hinaus: er beschreibt nicht nur die Leistungen der Religion im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang, sondern fügt seine, zumeist auf der zeitgenössischen Literatur der in Entstehung begriffenen Sozialwissenschaften42 basierenden, Beschreibungen in einen religions- wie kulturkritischen Kontext ein. Was als die Ausbildung gesellschaftlich anerkannter Symbolisierungen der Wirklichkeit bezeichnet werden könnte, nennt Nietzsche Interpretationen und unterscheidet definitiv zwischen schlechteren und besseren Interpretationen. Insofern wird Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches in Hinblick auf den Nutzen und Nachteil der religiösen Einstellung für das Leben präskriptiv.
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Der aber, wie gezeigt, dabei seinerseits auf Gedankengänge Nietzsches zurückgegriffen hat. Nietzsche denkt zwar prinzipiell in diese Richtung, ist jedoch weit davon entfernt, eine umfassende theoretische Fundierung für eine soziologische Analyse des religiösen Teilbereiches menschlicher Gesellschaften zu liefern. Peter L. Berger, Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M. 1980. Bryan S. Turner hat dies „an emergent social science of comparative religion“ genannt: Ders., Introduction. The Study of Religion, in: Ders. (Hg), The Early Sociology of Religion. Volume 1. Readings in Nineteenth-Century Theory, London 1997, 1.
MARCO BRUSOTTI
‚Der Cultus wird wie ein fester Wort-Text immer neu ausgedeutet‘ Nietzsches Betrachtungen über den Synkretismus im Gottesdienst der Griechen und die Genealogie der Moral1
Der Synkretismus der griechischen Religion, den Nietzsche in der Vorlesung über den Gottesdienst der Griechen2 wissenschaftlich zu erkunden sucht, bietet ihm noch in späten Jahren ein Modell für künftige Entwicklungen: Er selbst und seinesgleichen müssen, heißt es 1885, „Schritt vor Schritt umfänglicher werden, übernationaler, europäischer, übereuropäischer, morgenländischer, endlich griechischer, denn das Griechische war die erste große Bindung und Synthesis alles Morgenländischen und damit der Anfang der europäischen Seele, die Entdeckung unserer ‚neuen Welt‘“ (KSA, NF, 11, 682).3 Nicht nur der Gegenstand der Untersuchung, die Fähigkeit der Griechen, aus fremdkulturellen Elementen eine neue Kultur zu schaffen, behält für Nietzsche seinen Vorbildcharakter. Auch an den methodischen Einsichten, die er in seiner Auseinandersetzung mit den religiösen Altertümern der Griechen entwickelt, wird er bis zuletzt festhalten: Die religionsgeschichtlichen Betrachtungen über den Synkretismus des griechischen Kultus werden dann weit über die kultische und religiöse Sphäre hinaus verallgemeinert. Eine „Synthesis“, genauer „eine ganze Synthesis von ‚Sinnen‘“ (KSA, GM, 5, 317), stellt in der Genealogie der Moral der Begriff der Strafe dar und zuletzt jede späte Institution; und 1
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Das Zitat im Titel stammt aus Der Wanderer und sein Schatten: „Was ist das Vergänglichere, der Geist oder der Körper? – In den rechtlichen, moralischen und religiösen Dingen hat das Aeusserlichste, das Anschauliche, also der Brauch, die Gebärde, die Ceremonie am meisten Dauer: sie ist der Leib, zu dem immer eine neue Seele hinzukommt. Der Cultus wird wie ein fester Wort-Text immer neu ausgedeutet; die Begriffe und Empfindungen sind das Flüssige, die Sitten das Harte“ (KSA, WS, 2, 578) Nietzsche hat über das Thema im Wintersemester 1875–1876 und im Wintersemester 1877–1878 gelesen. Das Vorlesungsmanuskript enthält eine lange, in zwölf Kapitel gegliederte Einleitung (GdG, 363–415), die er einmal auch „Vorrede“ nennt (ebd., 400), sowie einen „Haupttheil“, der mittendrin abbricht (ebd., 416–520). Vorarbeiten sind z.T. unveröffentlicht (insbes. die Vorstufe in PI II; vgl. GA XIX, 419), z.T. im Bd. 8 der Kritischen Studienausgabe zugänglich (Fragmentgruppe 5 aus dem Frühling-Sommer 1875). Zu den späten Reflexionen: Marco Brusotti, „Europäisch und über-europäisch.“ Zarathustra, der gute Europäer, und der Blick aus der Ferne, in: Mathias Mayer (Hg.), Also wie sprach Zarathustra? West-östliche Spiegelungen im kulturgeschichtlichen Vergleich, Würzburg 2006, 73–87; auch die frühere Fassung: „Europäisch und über-europäisch.“ Nietzsches Blick aus der Ferne, in: Tijdschrift voor Filosofie, 66 (2004), 31–48.
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die Synthesis (die in diesem Fall wie ein Sammelsurium aussehen mag) ist das Ergebnis unausgesetzter Konflikte und sich verschiebender Machtverhältnisse. Dass Nietzsche Mitte der siebziger Jahre den Gottesdienst der Griechen näher erforschen will, dürfte den Leser der Geburt der Tragödie nicht überraschen; „ihre ‚klassische Litteratur‘ mit Chorlied, Tragödie, Komödie ist ja auf dem Boden des Cultus oder als Anhang zu demselben zum guten Theil erwachsen“ (GdG, 364). Dieser kultische Ursprung, den die Vorlesung hier beiläufig erwähnt, stand im Mittelpunkt der Tragödien-Schrift. Aber im Gottesdienst der Griechen knüpft Nietzsche an seine früheren Arbeiten nicht einfach an, sondern unterzieht deren Ergebnisse einer gründlichen Revision. Ihm ist weiterhin daran gelegen, dass man den Griechen „ihren einzigen Platz in der Weltgeschichte“ (ebd., 363) zuerkennt. Bezeichnend für den neuen Ansatz ist jedoch eine bewusst ausgetragene Spannung. Das wissenschaftliche Anliegen der Vorlesung ist nämlich, einen neuen Zugang zum alten Griechenland durch den kombinierten Einsatz philologischer und ethnologischer Methoden und Ergebnisse zu bahnen; und sobald die Griechen einer ethnologischen Betrachtung unterzogen werden, wird ihre traditionelle geschichtliche Sonderstellung problematisch.4 Die Vorlesung gewinnt so einen Abstand zur griechischen Welt, wie er am Anfang nicht zu erwarten war; denn die einleitenden Sätze lesen sich wie ein klassisches Dokument der Graekophilie des neunzehnten Jahrhunderts: „Es hat nie einen solchen Gottesdienst gegeben wie den griechischen: er ist durch Schönheit Pracht Mannichfaltigkeit Zusammenhang einzig in der Welt und eins der höchsten Erzeugnisse ihres Geistes“ (ebd., 363). „Der ‚festfeiernde Grieche‘“, also der festliche Aspekt des Kultus, steht hier im Mittelpunkt der Betrachtung. Gerade „als prachtvolle Erscheinung in Aufzügen, Tempeln, Cultusgeräthschaften, überhaupt als festefeiernde Hellenen“ (ebd., 363f.), erlangten die Griechen ihre kulturelle Hegemonie über „die Römer u. den Orient“. Vorbildlich und überwältigend ist der griechische Kultus als kunstvolles Fest, das die Freude des Lebens mehrt, als „die Summe aller Erholungen und Ergötzlichkeiten“ (KSA, NF, 8; 81). Nietzsches Interesse für das griechische Festwesen ist vor dem Hintergrund seiner Tragödienschrift und seines direkten Engagements in den Bayreuther Festspielprojekten verständlich, und auch die eingehende kulturgeschichtliche Betrachtung in Jacob Burckhardts Cultur der Renaissance in Italien, wo das Festwesen als „ein wahrer Uebergang aus dem Leben in die Kunst“ behandelt wird, ist zu erwähnen.5 Die Griechen sind für 4
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Zu dieser ‚Entlarvung der Antike‘: Hubert Cancik, Nietzsches Antike. Vorlesung, Stuttgart, Weimar 1994, 102ff; Andrea Orsucci, Orient-Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild, Berlin, New York 1996, 1–150. Nietzsches Vorlesungsmanuskript ist zu weiten Teilen eine Zusammenstellung von oft wörtlich exzerpiertem Lektüre-Material; zur Aufschlüsselung der Quellen: GA XIX, 393ff.; Andrea Orsucci, Beiträge zur Quellenforschung, in: Nietzsche-Studien, 23 (1994); ders., Beiträge zur Quellenforschung, in: Nietzsche-Studien, 24 (1995). Orsucci markiert den Unterschied zwischen dem Ansatz von Nietzsches Vorlesung und dem seiner früheren Schaffenszeit, geht seiner Bemühung um eine Verbindung von Altertumswissenschaft und Ethnologie nach und zeigt, wie im Vorlesungsmanuskript Ergebnisse philologischer und ethnologischer Lektüren verflochten werden. Das Manuskript diente als Grundlage des mündlichen Vortrags, war aber weit davon entfernt, nur die partielle Rohfassung eines Buches zu sein. Einzelne Reflexionen wurden zu Aphorismen überarbeitet und in Menschliches, Allzumenschliches veröffentlicht. Zu diesen Übernahmen: GA XVIII, Xf.; Andrea Orsucci, Orient-Okzident, 4 u. passim; Hubert Cancik, Nietzsches Antike, 105f. Jacob Burckhardt, Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, 2. durchges. Aufl., Leipzig 1869, 320; Burckhardts Einfluss darf nicht überschätzt werden. Nietzsche und der Basler Historiker
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Nietzsche ‚die Festefeiernden‘ und als solche ein Gegenbild zur Jetztzeit, etwa zur Lebensweise des Philologen und zu den damaligen deutschen Verhältnissen.6 Der Gottesdienst der Griechen fasziniert Nietzsche im Absehen von seiner religiösen Bedeutung; denn sofern der Kultus noch eine religiöse oder metaphysische Bedeutung hat, ist er eine endgültig untergegangene Möglichkeit. Er gehört zu dem, was uns von „der alten Cultur“ auf immer „trennt“, zu deren „hinfällig“ gewordener „Grundlage“ (ebd., 83).7 Die antiklassizistische Tendenz der Geburt der Tragödie wird nun in diesem entschieden antimetaphysischen Sinn weitergeführt; anders als in der Tragödienschrift findet man in der Vorlesung nichts mehr, was mit einem metaphysischen Anliegen verwechselt werden könnte. Bereits die frühe Schrift hatte die griechische ‚Heiterkeit‘ radikal in Frage gestellt: Der Grieche sah wie kein anderer Mensch die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins. In der Vorlesung aber erscheint er nicht mehr als derjenige, der den Schleier der Maja zerreißt, das principium individuationis durchbricht und mit dem geheimnisvollen Ur-Einen eins wird. Im Kern zeigt der Kultus keine metaphysische Einsicht, seinen ursprünglichen Boden bildet vielmehr finsterer Aberglaube: urtümliche Denkfehler, eine primitive Logik, die rohe und düstere „Religiosität der Götzen und Fetische“ (ebd., 204) mit ihren grausamen Riten. Der Gottesdienst der Griechen erhebt sich vor diesem rohen und düsteren Hintergrund: „Auf diesem Boden des unreinen Denkens erwuchs der griechische Cultus“ (GdG, 365). Nietzsche will diesen Ursprung aufzeigen. Er will das „unreine“, das heißt logisch unsaubere, abergläubische, unwissenschaftliche Denken im Hintergrund der griechischen Religion aufdecken; er geht den primitiven Vorstellungen nach, die darin, wie auch im Christentum und noch in modernen Zeiten, weiterleben. Der Philologe, der das griechische Festwesen verklärt, verfolgt also zugleich ein ganz anderes Ziel. Die Vorlesung durchziehen beide Anliegen: die Entlarvung des unreinen Denkens und die Apotheose des griechischen Festwesens. Denn der Gottesdienst der Griechen ist und bleibt für Nietzsche auch in kultur- und religionskritischer Absicht ein unerreichtes Vorbild. Noch Menschliches, Allzumenschliches, auf dessen Gedankenwelt der Begriff des unreinen Denkens vorausweist, hebt hervor, dass in „der antiken Welt“,
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sind beide vom Festwesen fasziniert, aber ihre Ansichten über den griechischen Synkretismus gehen diametral auseinander; die Daten über das griechische Festwesen entnimmt Nietzsche anderen Autoren, z.B. Georg Friedrich Schoemann (Andrea Orsucci, Orient-Okzident, 11; zu Nietzsche und Burckhardt: ders., Orient-Okzident, passim). „Wo wir forschen und arbeiten, da feiern die Griechen Feste. Sie sind die Festefeiernden“ (KSA, NF, 8, 81.) „Es fragt sich“, heißt es im Vorlesungsmanuskript kritisch, „ob eine Zeit wie die unsere, die in Maschinenwesen und Ausbildung des Krieges ihre Stärke hat, ihre Zeit auf eine allgemein nützlichere Weise anlegt“ (GdG, 364). Die Aufzeichnung enthält auch eine philologiekritische Pointe: Die Philologen „forschen“, wo die Griechen feierten. Nietzsche will weitaus allgemeiner „zeigen, wie alle Cultur“, auch die moderne, nicht allein die antike, „auf Vorstellungen ruht, die hinfällig sind“ (KSA, NF, 8; 83). „Dies wäre eine Aufgabe, das Griechenthum als unwiederbringlich zu kennzeichnen und damit auch das Christenthum und die bisherigen Fundamente unsrer Societät und Politik“ (ebd., 83). In der anvisierten „Gesammtabrechnung des Alterthums“ (ebd., 79) ist also auch eine Abrechnung mit dem Christentum enthalten und zuletzt eine Kritik der Jetztzeit, wie sie dann der Freigeist von Menschliches, Allzumenschliches durchführen wird.
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anders als in „der Zeit des Christentums“, „eine unermeßliche Kraft von Geist und Erfindungsgabe verwendet worden ist, um die Freude am Leben durch festliche Culte zu mehren“ (KSA, MA-1, 2 136f.). Auch später befürchtet Nietzsche, daß den Modernen „jene höhere Kunst, die Kunst der Feste“, abhanden kommt (KSA, FW, 3, 446), und blickt hoffnungsvoll auf die Zeit, in der „die Kunst der Künstler ganz in das Festebedürfniß der Menschen aufgehen“ muß und die Künstler „dann in der ersten Reihe derer ‹stehen›, welche in Bezug auf Freuden und Feste erfinderisch sind“ (KSA, NF, 9, 25). Nietzsches Vorhaben, die irrtümlichen, abergläubischen Vorstellungen auf dem Grund von Sitten und Gebräuchen aufzudecken, speist sich aus den Ergebnissen einer breiten interdisziplinären Forschung. Viele Anregungen verdankt er Edward Burnett Tylor und John Lubbock. Das Hauptinteresse der von ihnen vertretenen evolutionären Ethnologie verraten bereits die Titel ihrer Werke: Lubbock will durch ‚die Sitten und Gebräuche der jetzigen Wilden‘, durch ‚das innere und äußere Leben der Wilden‘, den ‚Urzustand des Menschengeschlechtes‘, die ‚vorgeschichtliche Zeit‘, die ‚Entstehung der Civilisation‘ erläutern. Tylor, die Hauptfigur dieser Forschungsrichtung, will die Anfänge der Cultur erforschen bzw. die primitive culture (so der Originaltitel seines Hauptwerks). Beide Autoren benutzen den Ausdruck ‚Kultur‘ nur im Singular. Eher als individuierte Kulturen unterscheiden sie allgemeine Kulturstufen innerhalb einer linearen Entwicklung, die bei Tylor von der Wildheit über die Barbarei bis zur Zivilisation führt. So ist auch die ‚primitive Kultur‘ (im Singular) eine Kulturstufe, die in den unterschiedlichsten Gegenden und Epochen anzutreffen ist.8 Auf die kulturelle Eigentümlichkeit ethnologischer Erscheinungen kommt es in dieser Forschungsrichtung also kaum an (die intrakulturellen Zusammenhänge der einzelnen angeführten Erscheinungen werden in der Regel ebenfalls ausgeblendet). Anders steht es bei Nietzsche. Ihm geht es gerade um die eigenartige kulturelle Leistung der Griechen, um ihr Verhältnis zu anderen Kulturen und vor allem um ihre Fähigkeit, aus fremden Elementen eine neue Kultur zu schaffen. Der klassische Philologe kennt also ‚Kulturen‘ im Plural und richtet den Blick gerade auf Synkretismen und interkulturelle Beziehungen. Aber er teilt das historische Hauptinteresse der evolutionären Ethnologie für die urzeitlichen Anfänge der Kultur, für eine angeblich allgemein verbreitete primitive Kulturstufe, über deren Beschaffenheit das Studium der lebenden ‚Primitiven‘, wenn auch nicht unmittelbar, Aufschluss geben soll. Nietzsches Analyse des unreinen Denkens hat also einen allgemeinen Anspruch. Die Vorlesung stellt „die charakteristischen Züge und Fehler dieses Denkens und Schliessens“ 8
Edward Burnett Tylor, Die Anfänge der Cultur. Untersuchungen über die Entwicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte, Leipzig 1873 (Nietzsche hat es am 29. Juni 1875 aus der Basler Universitätsbibliothek ausgeliehen: Luca Crescenzi, Verzeichnis der von Nietzsche aus der Universitätsbibliothek in Basel entliehenen Bücher (1869–1879), in: Nietzsche-Studien, 23 (1994), 432); John Lubbock, Die Entstehung der Civilisation und der Urzustand des Menschengeschlechtes, erläutert durch das innere und äußere Leben der Wilden, übers. v. A. Passow, nebst einleit. Vorwort v. R. Virchow, Jena 1875; Lubbocks Die vorgeschichtliche Zeit, erläutert durch die Ueberreste des Alterthums und die Sitten und Gebräuche der jetzigen Wilden (übers. v. A. Passow, mit einleit. Vorwort v. R. Virchow, Jena 1874) ist weder in Nietzsches Bibliothek vorhanden noch unter seinen Ausleihen verzeichnet. Zu seiner Lubbock-Lektüre: David S. Thatcher, Nietzsche’s Debt to Lubbock, in: Journal of the History of Ideas, 44 (1983); Marco Brusotti, Beiträge zur Quellenforschung, in: Nietzsche-Studien, 21 (1992), 396f.; Andrea Orsucci, Orient-Okzident, passim. Tylor wird besprochen in Andrea Orsucci, Orient-Okzident.
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zusammen, und zwar als etwas, was „alle Menschen, die an Wunder und Magie glauben“ (GdG, 365), teilen: Es geht also um eine allgemeine, über den ganzen Globus verbreitete Art des Denkens, deren charakteristische ‚Züge und Fehler‘ über jeden historischen und kulturellen Unterschied hinaus immer dieselben sind. Mit den Evolutionisten sieht Nietzsche eine vollkommene Analogie zwischen den „Völkerschaften auf niederen Culturstufen“ und „den niederen schlecht unterrichteten Volksklassen der civilisierten Nationen“: „Überall, wo man jetzt noch Völkerschaften auf niederen Culturstufen findet, und ebenso überall in den niederen, schlecht unterrichteten Volksklassen der civilisierten Nationen findet man die gleiche Art, zu denken“ (ebd., 364f.). Wie Tylor und Lubbock nimmt er also an, dass auf einer bestimmten Entwicklungsstufe überall dieselben Vorstellungen herrschen und sie unabhängig voneinander in entlegenen Erdteilen entstanden sind.9 Die britischen Evolutionisten gehen von einer unabhängigen Entwicklung (independent invention) ähnlicher Anschauungen und Gebräuche in fernen Kulturen aus. Sie leugnen die historische Tatsache fremdkultureller Einflüsse und Anleihen nicht, betrachten aber die ‚Diffusion‘ als einen Erklärungsfaktor zweiten Ranges.10 Die Tatsache, dass in verschiedenen Epochen und Kulturen ähnliche Anschauungen und Gebräuche herrschen, wird durch „die angeborene Gleichartigkeit der Menschennatur in geistiger Beziehung“ (Tylor II, 401) genügend erklärt; der Tylorianer will die überall waltenden allgemeinen Gesetze des menschlichen Geistes ans Licht bringen. Zu Nietzsches Zeit sind unabhängige Entwicklung und Diffusion, Evolutionismus und Diffusionismus, konkurrierende Erklärungsmodelle, die je nach Autor und Richtung mehr oder weniger friedlich koexistieren und/oder jeweils den Vorrang behaupten.11 Nietzsche konstatiert im alten Griechenland beides, die Überreste einer universell verbreiteten primitiven Kulturstufe und einen extremen Synkretismus, und er folgert aus beidem, dass die Einzigartigkeit der Griechen, an der er festhält, mit einer naiv verstandenen Originalität nichts zu tun hat: „Original zwar sind sie, im Sinne eines ganz autochthon und unberührt gebliebenen Cultus, nicht; im Gegentheil, die Elemente ihres Cultus finden wir überall wieder“ (GdG, 364). Einerseits kommen die Elemente des Kultus auf dem ganzen Erdball ohne wesentliche Unterschiede vor, einfach weil sie in der menschlichen Denkweise begründet sind, die bei allen Primitiven dieselbe ist; andrerseits haben die Griechen jene Elemente tatsächlich anderen Kulturen entnommen. Es geht also einerseits um den Ursprung auch der griechischen Religion in einer allgemein verbreiteten primitiven Kulturstufe, andrerseits um (historisch belegbare oder angenommene) Beeinflussungen und Überlieferungen, die ebenfalls primitiven, abergläubischen Charakter haben können. Diese Entlehnungen, der Synkretismus der griechischen Religion, bilden ein Hauptthema von Nietzsches Untersuchung. Schon früh hatte er hervorgehoben, dass die Griechen „den aus Asien heranstürmenden Dionysos“, also einen fremden rohen „Naturkult“ (KSA, DW, 1, 556), bändigten, subli9 10 11
So sieht Tylor „kaum eine Hand breit Unterschied zwischen einem englischen Ackermann und einem Neger Centralafrikas“ (Edward B. Tylor, Die Anfänge der Cultur, Bd. I, 7). John Lubbock, Die Entstehung der Civilisation, 417. Zu den Entleihungen vgl. auch Tylor, Anfänge, I, 75. Zu Diffusionismus und Evolutionismus als unterschiedlichen theoretischen Optionen: George W. Stocking Jr., Victorian Anthropology, New York u.a. 1987. Selbst Tylors und Lubbocks frühere Arbeiten sind noch im Übergang vom ersteren zum letzteren begriffen (George W. Stocking, Victorian Anthropology, 152f.; 158f.).
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mierten, idealisierten und mit dem hellenischen Kunstgott Apollo einen „Bruderbund“ (KSA, GT, 1, 140) eingehen ließen. Im Mittelpunkt der Gottesdienst-Vorlesung steht dann die Kunst der Griechen, sich disparate fremdkulturelle Elemente anzueignen und in etwas Neues zu verwandeln.12 Der Synkretismus des Dionysos-Kultus wird auch hier festgehalten; „der Syncretismus ist außerordentlich“ (GdG, 385), nämlich die Verschmelzung phrygischasiatischer, thrakischer und babylonisch-phönizischer Elemente, heißt es zum Kultus des Dionysos und der Demeter. Darüber hinaus wird bereits der „Synkretismus der phöniz.‹ischen› Religion“ hervorgehoben, durch den „das ganze oriental.‹ische› Religionswesen in das Griechische eingedrungen ‹ist›, ägyptisch-assyrisch-babylonisch“ (ebd., 383); und in der griechischen Religion findet sich „der älteste Synkretismus“ schon „auf pelasgischer Stufe“ (ebd., 397). Die Einleitung erläutert „die Elemente des griech.‹ischen› Cultus nach der Verschiedenheit der hier einwirkenden Völker“ (ebd., 400). Dieser „Überschlag aller der verschiedenartigen Elemente, auf denen der griechische Cultus beruhte“ (ebd., 377), beginnt „mit den semitischen Elementen“ (ebd., § 5), setzt sich mit den thrakischen (§ 6) und den graeko-italischen (§ 8) fort und schließt mit den „Elemente[n] aus ureinheimischen niedriger stehenden Bevölkerungen“ (ebd., 395, § 9). Semitische und besonders phönizische Einflüsse hatten bereits von Nietzsche gelesene Forscher wie Franz Karl Movers und Karl Viktor Müllenhoff herausgearbeitet.13 Aber dass Nietzsche gerade ‚mit den semitischen Elementen‘ beginnt, dürfte auch aus anderen Gründen kaum Zufall sein. Es geht weniger um eine dezidierte Kritik antisemitischer Strömungen, die er erst in späteren Jahren formuliert; eher will er unterstreichen, wie weit die Griechen in der Aneignung des Fremden gingen. Und dies mit einem kritischen Seitenblick auf das Deutschland, das den Krieg gegen Frankreich gewonnen hatte, auch wenn die Vorlesung sich eines expliziten Gegenwartsbezugs enthält. Die Griechen bleiben zwar in Nietzsches Augen „das einzig geniale Volk der Weltgeschichte“ (KSA. NF, 8, 59), aber zu einem solchen sind sie erst geworden. Sie haben die niedrigen Stufen der Kulturentwicklung nicht übersprungen, die frühen Formen ihres Kultus 12
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Die Vorlesung beschränkt sich auf die dokumentierbare kulturelle Perspektive, aber in Nietzsches Augen besteht eine strikte Parallele zwischen kulturellem Synkretismus und Ethnogenese: Wie der griechische Kultus nicht autochthon ist und aus Elementen unterschiedlichster Herkunft hervorgeht, so vermutet eine nachgelassene Aufzeichnung, „daß Italiker mit thrakischen und semitischen Elementen gepaart Griechen geworden sind“ (KSA, NF, 8, 96). Nietzsches Antworten auf die Frage „Was sind ‚Rassegriechen‘?“ (ebd.) untersuchen Hubert Cancik und Hildegard Cancik-Lindemaier („Mongolen, Semiten, Rassegriechen“. Nietzsches Umgang mit den Rasselehren seiner Zeit, in: Dies., Philolog und Kultfigur. Friedrich Nietzsche und seine Antike in Deutschland, Stuttgart/Weimar 1999, 87–103). Ihre Untersuchung vermittelt ein ganz anderes Gesamtbild der Vorlesung als Orsuccis Buch: Sie sehen Nietzsche vor allem in Rassenspekulationen (z.B. über die Arier) verstrickt, Orsucci wiederum setzt den Akzent auf das antinationalistische Anliegen seiner Reflexionen (zu den ‚Rassegriechen‘, Andrea Orsucci, Orient-Okzident, 116). Die von Cancik/Cancik-Lindemaier betonte Gegenüberstellung von Griechen und Semiten, die in früheren und späteren Texten (auch in den vorbereitenden Aufzeichnungen von 1875) durchaus anzutreffen ist, prägt gerade die Vorlesung wenig: Sie arbeitet vielmehr die Tragweite semitischer Einflüsse auf die Griechen heraus. Nietzsches Analysen synkretistischer Erscheinungen in der griechischen Religion samt deren Quellen ausführlich zu erläutern würde hier den Rahmen sprengen. Im Text werden nur einige Beispiele stichwortartig angeführt. Zum Thema sei auf Orsuccis Monographie verwiesen, in der auch Nietzsches Movers- und Müllenhoff-Lektüre besprochen wird. Eine nahezu wörtliche Übernahme aus Müllenhoff ist das unten angeführte Stichwort „Aneignung u. Überwindung des Fremden“ (Andrea Orsucci, Orient-Okzident, 120).
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sind ähnlich primitiv wie bei allen Völkern, und diese Anfänge sind bereits synkretistisch. Einzigartig sind bei den Griechen in dieser Sicht also nur das letzte Ergebnis, der ausgebildete Kultus, und der ungeheure Kraftaufwand, der zu diesem Resultat geführt hat, nicht die Elemente, aus dem der Kultus entstanden ist, und auch nicht der Geist, der ihn aus jenen Elementen zusammengestellt hat. An sich hatten die Griechen, so Nietzsche, nicht mehr Geist als andere Völker, und in älteren Zeiten waren sie in einem nicht weniger finsteren Aberglauben befangen. Was sie auszeichnet, sind eher „Charakter-Eigenschaften“: Einmalig ist bei ihnen die „anhaltende Energie des Nachdenkens“ (GdG, 364), die „ungeheure Kraft“ (ebd., 363), der Aufwand an „Geist“ und „Mühe“ (ebd., 364). Als „freudige Dilettanten“ (KSA, NF, 8; 59) sind die Griechen einzigartig auch in der Offenheit gegenüber den fremden Elementen und in der Fähigkeit, sie zu ordnen, in einen neuen Zusammenhang einzugliedern und zu einem neuen Ganzen zu gestalten. Es kennzeichnet die Griechen, dass sie „mehr anzunehmen wußten u. die wenigst spröde Nation waren“ (GdG, 397).14 „Es ist ihre glänzendste Seite: die Aneignung u. Überwindung des Fremden; sie sind von Anfang an durch eine fremde Culturwelt ganz allseitig u. gleichmäßig angeregt worden“ (ebd., 377).15 „Die Griechen verstanden sich auf die Inoculation des Neuen, auf das Einwachsenlassen des Fremden, so daß der ganze Stamm nicht beschädigt wird“ (ebd., 415). Bei den Griechen betont Nietzsche immer wieder „[d]as erfinderische Denken, Vereinigen, Ausdeuten, Umbilden auf diesem Gebiete“ (ebd., 363; vgl. ebd., 366), das „Talent zu ordnen“ (ebd., 376), den Sinn „für Ordnung, Gliederung, Schönheit, kÒsmoj“ (ebd.; vgl. ebd., 377). Diese idealisierende volkspsychologische Betrachtung über griechische „CharakterEigenschaften“ muss als Erklärung unzulänglich bleiben; auf die Frage „Was schuf aus so vielspältigen Elementen immer wieder neue Einheiten?“ (ebd., 400) gibt Nietzsche jedoch eine konkretere Antwort. So gehören „die organisirenden Gewalten des Cultus“ (ebd.), die im Manuskript näher erläutert werden, sämtlich dem sozialen und politischen Bereich an. Als „die Kräfte, welche den ganzen komplizierten Bau des Cultus zum kÒsmoj machen, vor Selbstzerstörung bewahren“ (ebd.), werden hier aufgelistet: „die Gewalt des Hauses, der Familie, des Geschlechtes, der Phratrie (Sippe), des Stammes […] Dann der dÁmoj, die Amphiktyonie und vor allem die pÒlij, die mächtigste organisirende Gewalt des Cultus“ (ebd.). Die historische Analyse bleibt also konkret, die Syntheseleistungen werden sozialen und politischen Institutionen zugeschrieben, und die „Mannigfaltigkeit des Kultus“ wird auf die „Kämpfe seiner Entstehung“ (ebd., 376) zurückgeführt. In Nietzsches Gottesdienst-Vorlesung hat das kultische und festliche Element eine ungleich größere Bedeutung als bei Tylor und Lubbock; er fokussiert den Blick auf das Fest, den Kultus als feierliche Handlung und schreibt der Syntheseleistung der Griechen im kultischen Bereich einen künstlerischen Charakter zu. Seine Graekophilie führt den Altphilologen dazu, einen anderen Schwerpunkt zu setzen als die genannten Ethnologen. In der späteren Geschichte des Faches wurde der Ansatz letzterer als intellektualistisch abgelehnt: Magische bzw. kultische Handlungen führen sie auf irrtümliche, abergläubische 14
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Die Fähigkeit der Griechen, „das Chaos zu organisiren“, war bereits in der zweiten Unzeitgemässen ein Vorbild; aber nachahmenswert schien damals in Einklang mit Wagner weniger deren Offenheit als die Art, wie sie die Gefahr einer „Ueberschwemmung durch die Fremde“ bewältigten (KSA, HL, 1, 333). Dazu Marco Brusotti, Erinnern und Vergessen, Mainzer Nietzsche-Kolloquium, 19.– 20.4.2007, erscheint in Nietzscheforschung 15, 2008. Zur ‚Aneignung u. Überwindung des Fremden‘ siehe Anm. 13.
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Vorstellungen zurück, selbst wenn erstere letztere oft überleben. Handlungen gehen also auf Vorstellungen zurück, die Handlungsweise auf eine (primitive) Denkweise. Diese wird darüber hinaus sehr allgemein charakterisiert; denn eher als individuierte Kulturen unterscheiden die Evolutionisten, wie bereits erläutert, allgemeine Stufen kultureller Entwicklung, auf denen sie dann die einzelnen sozialen Gruppen ansiedeln. Nietzsche ist von diesen Fehlern nicht frei. Seine Analyse des unreinen Denkens, in Menschliches, Allzumenschliches und bereits in der Vorlesung, ist von den Ansichten der Evolutionisten geprägt und tendiert zu einer ähnlichen Allgemeinheit. Seine Untersuchung über den Gottesdienst der Griechen hat jedoch nur zum Teil den intellektualistischen Charakter, der noch Jahrzehnte später James Frazers Golden Bough prägen wird. Nietzsche unterzieht das unreine Denken der Griechen einer kompromisslosen Kritik. Aber gerade weil er die Glaubensinhalte des griechischen (wie jedes) Kultus für obsolet hält, will er in seiner Untersuchung des griechischen Synkretismus nicht allein ein Sammelsurium abergläubischer Vorstellungen unterschiedlicher Provenienz ans Licht bringen; sein Thema ist vielmehr zugleich und hauptsächlich die Synthese ritueller, festlicher Handlungen im Kultus. Dieses Interesse lenkt seine Gedanken in eine neue Richtung. Er passt das methodische Instrumentarium der damaligen evolutionären Ethnologie, insbesondere Tylors, seinem eigenen Anliegen an: Daraus wird schließlich eine neue Methode, in ihrer reifsten Form die genealogische Methode, die lange nach dem Untergang der evolutionären Ethnologie die philosophische und kulturwissenschaftliche Debatte beherrschen wird. Bereits in der Ethnologie des späten 19. Jahrhunderts treten Ansätze hervor, die den rituellen Handlungen vor den mythologischen Vorstellungen einen eindeutigen Vorrang einräumen. In seinen 1889 erschienenen Lectures on the Religion of the Semites, dem entscheidenden Werk des sogenannten ritualistischen Ansatzes, wird William Robertson Smith zu dem Ergebnis gelangen, dass die letzte Form eines Ritus nicht durch eine bestimmte Vorstellung geprägt ist, sondern durch eine ganze Reihe historisch sedimentierter Interpretationen.16 Wie Nietzsche unabhängig von Smith (sie dürften einander nicht gelesen haben) zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt, ob selbständig oder in Auseinandersetzung mit weiteren Positionen, die auch Smith vertraut waren, ist meines Wissens noch unbekannt und kann hier nicht geklärt werden. Abschließend soll nur erläutert werden, wie er Tylors auch Smith bestens bekannten Theorien eine neue Richtung gibt. Tylor bemerkt, „dass gewisse religiöse Ceremonien eine erstaunliche Beständigkeit besitzen, indem sie dieselbe Form und Bedeutung durch lange Zeiten hindurch festhalten und weit über das Gebiet der historischen Ueberlieferung hinausreichen“ (Tylor II, 364). Bei vielen alten Gebräuchen besteht freilich eine Asymmetrie zwischen „Form und Bedeutung“, „indem die Form derselben treu und oft sklavisch erhalten blieb, während ihre Natur und Bedeutung die tiefgehendsten Umgestaltungen erfuhr“ (ebd.). Dieses „Beharrungsstreben der Cultur“ (Tylor I, 70) zeigen am deutlichsten die in einem anderen Kapitel behandelten „Überlebsel“ oder „Überbleibsel“ (survivals), „Bruchstücke einer todten niedrigern Cultur, welche in eine höhere lebende eingebettet liegen“ (ebd., 72). Dazu 16
William Robertson Smith, Lectures on the Religion of the Semites: The fundamental Institutions, Edinburgh 1889, insbes. 399. Zu Smith: George W. Stocking Jr., After Tylor. British Social Anthropology 1888–1951, Madison 1995, 63ff.
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gehören Vorstellungen, welche seit Jahrhunderten ihre Bedeutung verloren haben (vgl. ebd., 71), aber auch Bräuche, an denen sich jene Asymmetrie von Form und Bedeutung zeigt: Die äußere Form überlebt, die ursprüngliche Bedeutung ist verloren gegangen, sei es, dass eine neue Bedeutung sie überdeckt hat, wenn auch nur an der Oberfläche, sei es, dass der Brauch jetzt sinnlos anmutet. Nietzsche, der noch in der Genealogie der Moral diese „tiefgehendsten Umgestaltungen“ (Tylor II, 364) verfolgen wird, macht sich Tylors Auffassung schon im Gottesdienst der Griechen zueigen.17 Die Theorie erscheint besonders geeignet, „antike Religiosität“ zu erschliessen; deren „Princip“ ist nämlich „starre Stabilität“ des Kultus, während die „Meinungen“ über die Götter synchronisch und diachronisch höchst variabel sind (GdG, 411). Aber die unterschiedliche Beharrungskraft von Gebräuchen und Vorstellungen ist eine weit allgemeinere Tatsache: Gebräuche, Sitten, Riten bilden „das stabile Element“ (ebd., 375), Vorstellungen „das unstabile Element“ (ebd., 376); die einen sind „das Harte“, die anderen „das Flüssige“ (KSA, WS, 2, 587); „alle Gebräuche sind zäh, und verharren, ob auch die Vorstellungen wandeln.“ (GdG, 375). Noch die Genealogie der Moral hält an Tylors Ansicht einer unterschiedlichen Beharrungskraft von Form und Bedeutung fest; sie unterscheidet an der Strafe „zweierlei“: „einmal das relativ Dauerhafte an ihr, den Brauch, den Akt, das ‚Drama‘, eine gewisse strenge Abfolge von Prozeduren, andrerseits das Flüssige an ihr, den Sinn, den Zweck, die Erwartung, welche sich an die Ausführung solcher Prozeduren knüpft“ (KSA, GM, 5, 316). Die Beharrungskraft der Form wird hier, im Vergleich zu Nietzsches früheren Formulierungen, deutlich relativiert: Die Form ist nur „relativ“ dauerhaft, also nur im Vergleich zum „Sinn“, und es heißt sogar: „Die Form ist flüssig, der ‚Sinn‘ ist es aber noch mehr“ (ebd., 315). Über die nur relative Festigkeit der Form ist sich Nietzsche eigentlich schon im Gottesdienst der Griechen im klaren. Aber während die Genealogie der Moral diesen Punkt hervorhebt und nur unterschiedliche Flüssigkeitsgrade gelten lässt, vergleicht noch der Wanderer und sein Schatten den Kultus mit einem festen Text: „Der Cultus wird wie ein fester Wort-Text immer neu ausgedeutet“ (KSA, WS, 2, 587). „Die Ceremonien bleiben meistens“, heißt es vorsichtiger im Nachlass, „aber werden nun umgedeutet.“18 Bereits in der Vorlesung rückt Nietzsche die Prozesse der Um- und Ausdeutung, die Tylor nicht an und für sich interessieren, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Das Kapitel über „Riten und Ceremonien“, in dem Tylor die Unterscheidung von Form und Bedeutung formuliert, geht anschließend auf eine oft vorkommende Art der Umdeutung ein: Der Ethnologe bemerkt kritisch „das Streben der Priester […], alte Riten, deren eigentliche barbarische Bedeutung mit dem Geiste der späteren Zeit nicht mehr in Einklang zu setzen war, einfach in heilige Mysterien zu verwandeln“ (Tylor II, 364). Ähnlich wie die Evolutionisten sieht Nietzsche die Urform des Kultus in magischen Riten und deutet Magie als eine von abergläubischen Vorstellungen geleitete primitive Technik, die Natur zu beeinflussen. Zeremonien, die ursprünglich einen magischen Charakter hatten, wurden in späteren Zeiten, so Nietzsche mit Tylor, „symbolisch umgedeutet“. 17
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Andrea Orsucci hat auf die zitierte Stelle aus den Anfängen der Cultur hingewiesen, in der Tylor Form und Bedeutung der Riten eine unterschiedliche Beharrungskraft zuschreibt (Edward B. Tylor, Die Anfänge der Cultur, Bd. II, 364), und geht auf dessen Theorie der Überlebsel ein (Andrea Orsucci, Orient-Okzident, 33). P I II. Zu dieser ‚Vorstufe‘ der Vorlesung: Andrea Orsucci, Orient-Okzident, 62.
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Als die ursprünglichen abergläubischen Vorstellungen unplausibel wurden, verloren die entsprechenden Riten ihren magischen Charakter und wurden zu symbolischen Rudimenten. Aus der Magie wurde Symbol. Dabei beschränkte man sich nicht darauf, den in Urzeiten, jedenfalls in vorhomerischen Zeiten, erfundenen Bräuchen neue Vorstellungen unterzuschieben. Die Zeremonien selbst blieben nicht unverändert: Die oft grausamen kultischen Handlungen der rohen ‚vorhomerischen‘ Kulte (Menschenopfer etwa) wurden bis zur Unkenntlichkeit umgebildet, das heißt sublimiert, veredelt, in ein neues System eingefügt. Die Gestalt, in dem der Ritus zuletzt gefeiert wurde, hatte also, darauf kommt es Nietzsche an, eine neue, ihr eigene, selbständige Bedeutung. Tylors ‚Überbleibsel‘ sind kulturelle Fossilien, die ihre „eigentliche Heimat und Bedeutung“ (Tylor I, 71) in einem lange überholten früheren Kulturzustand haben. Sie zeigen, „wie direkt unser modernes Leben sich auf das Alterthum und die Wildheit stützt“ (ebd., 158), „in wie nahem und direkten Zusammenhange die moderne Cultur und der Zustand der rohesten Wilden stehen können“ (ebd., 159). Den Überlebseln sind „allgemeine Gesetze für die Culturentwicklung zu entnehmen“ (ebd., 158), sie sind „Fundgruben für historische Kenntnisse“ (ebd., 71); die urzeitlichen Anfänge der Kultur, über die es keine direkte historische Nachricht gibt, können nur konjekturell erschlossen werden, und hier helfen den Evolutionisten, abgesehen von archäologischen Befunden, nur die Analogie mit den lebenden ‚Primitiven‘ und die Überlebsel weiter, v.a. die Riten, weil sie eine höhere Beharrungskraft aufweisen als Vorstellungen. Indem Tylor die ursprüngliche Bedeutung der Überbleibsel wieder ans Licht bringt, will er die primitiven Kulturstufen, die urzeitlichen Anfänge der Kultur erschließen. Die „Umgestaltungen“ bzw. die „Umwandlungen“ (Tylor II, 364; vgl. ebd., 384), die derlei Gebräuche im historischen Prozess erfahren, geraten in den Blick, nur sofern sie deren ursprünglichen Sinn verdecken, dem Forscher den Zugang zur primitiven Kultur erschweren. An und für sich interessieren Tylor die genannten Prozesse der Umdeutung, Umgestaltung und Umwandlung kaum. Darin liegt der Unterschied zu Nietzsche. Dessen Untersuchungsgegenstand ist der Synkretismus des griechischen Kultus, in dem verschiedenartige Elemente zusammengestellt, einander angepasst, in eine neue Ordnung eingefügt und umgedeutet werden. Deshalb interessieren ihn in der Vorlesung die aktiven Prozesse, in denen diese Umgestaltungen und Umdeutungen sich abspielen, und die entsprechenden Machtkonstellationen. Nietzsche hebt hervor, dass die „Mannigfaltigkeit des Kultus“ auf die „Kämpfe seiner Entstehung“ (GdG, 376) zurückgeht. Ähnlich wie in der Genealogie der Moral werden die Neuauslegungen und -gestaltungen auf die Kraftverhältnisse der Konfliktparteien und auf deren Verschiebungen zurückgeführt. Am Kultus ist „das stabile Element […] so mächtig […], daß er gar zu leicht stehen bleibt. Alle Weiterentwicklung ist an den Kampf, das Aufeinanderstoßen verschiedener Cultusansprüche und an die Versuche zu vermitteln gebunden.“ (Ebd., 375f.) Um den Sinn der kultischen Gebräuche wird gekämpft, oder die Ergebnisse sonstiger Konflikte wirken sich auch auf den Kultus aus, richten ihn aber nicht zugrunde. In Nietzsches Augen zeichnen sich die Griechen gerade dadurch aus, dass bei ihnen mitten im „unaufhörlichen Kampf“ „die zahllosen Culte fortleben […], überall als der zarteste u. verfänglichste Theil geschont, u. doch fortwährend verschoben, neu gruppirt, höchst lebendig sich entwickelnd, unendlich mannichfach: und nirgends herrscht in der Entwicklung des Cultus die Gewalt, die Rohheit der Übermacht, die mo-
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mentane Leidenschaft. Es ist ein sorgsam geschontes Leben, inmitten aller Gewalt: und von der höchsten Fruchtbarkeit!“ (ebd., 415). Diese Spannung von Gewalt und sorgsamer Schonung wird in der Genealogie nicht wiederaufgenommen. Ansonsten aber erhält in der Gottesdienst-Vorlesung der genealogische Ansatz eine erste bedeutende Formulierung. Bereits im Wanderer und sein Schatten gilt die Regel, dass Prozeduren sich weniger und langsamer wandeln als Vorstellungen, nicht nur bei kultischen Gebräuchen, sondern auch in „den rechtlichen […] Dingen“ (KSA, WS, 2, 587). Die späte Streitschrift wird vorschlagen, „die ganze Geschichte eines ‚Dings‘, eines Organs, eines Brauchs“ als „eine fortgesetzte Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen“ zu deuten, als „die Aufeinanderfolge von mehr oder minder tiefgehenden, mehr oder minder von einander unabhängigen, an ihm sich abspielenden Überwältigungsprozessen“ (KSA, GM, 5, 314). Während Überlebsel in Tylors Untersuchungen gleichsam die Funktion kultureller Fossilien haben, untersucht die Genealogie der Moral vor allem lebendige Formen, das heißt Prozeduren, die zwar ihre ursprüngliche Bedeutung verloren haben mögen, dafür aber im Laufe der Geschichte eine ganze Reihe neuer Bedeutungen erhalten haben. Nietzsche betont gegen die Idee eines ‚hohen‘ oder sogar metaphysischen Ursprungs der Moral immer wieder ihre niederen Anfänge. Aber der Begriff einer ‚ursprünglichen Bedeutung‘ löst sich bei ihm zuletzt auf. „Mit der Einsicht in den Ursprung nimmt die Bedeutungslosigkeit des Ursprungs zu“, heißt es bereits in Morgenröthe unter dem Titel Ursprung und Bedeutung (KSA, M, 3, 52).19 Die ursprüngliche Bedeutung, hierin stimmt Nietzsche mit den Evolutionisten überein, ist rudimentär, primitiv, unsymbolisch; so primitiv, folgert er, diesmal anders als die Evolutionisten, dass sie beinahe nichts ist. Es kommt am Ende nicht auf die ‚ursprüngliche Bedeutung‘ an, sondern auf die sich überlagernden Prozesse der Umdeutung und Umgestaltung, die in der aktuellen Bedeutung sedimentiert sind. Dieselben Prozeduren und Institutionen werden in ständig erneuten Kämpfen immer neu interpretiert, neue Kräfte bemächtigen sich ihrer, geben ihnen einen neuen Sinn und eine neue Funktion, ordnen sie in neue funktionale Zusammenhänge ein. Zuletzt stellt jede späte Institution gleichsam „eine ganze Synthesis von ‚Sinnen‘“ (KSA, GM, 5, 317) dar, so die Genealogie der Moral über den Begriff der Strafe; Ähnliches könnte man über das ausgebildete griechische Festwesen sagen. Die Faszination für das griechische Festwesen, für die antike Kunst der Feste, das Interesse für eine bestimmte Kultur, die griechische, und für das synkretistische Zusammenspiel der Kulturen, dies alles führt den Altphilologen dazu, an dem methodischen Instrumentarium der evolutionären Ethnologie wesentliche Änderungen vorzunehmen. Diese methodischen Errungenschaften wird Nietzsche in den Folgejahren über den spezifischen Kontext der Gottesdienst-Vorlesung hinaus ständig weiterentwickeln. Aus Anschauungen der damaligen Ethnologie entsteht eine neue Methode, die genealogische, die noch die Philosophie der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, hier sei nur Foucault genannt, und durch sie die zeitgenössischen Kulturwissenschaften entscheidend beeinflussen wird. 19
Zu diesem Aphorismus und zur historischen Untersuchung der Moral in Morgenröthe: Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenröthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin, New York 1997, 246ff.
EKATERINA POLJAKOVA
„Beherzter Fatalismus“ Das (Anti-)Christliche in der Perspektive des russischen Denkens
Friedrich Nietzsches Aussagen zu Russland sind wohl bekannt, vor allem seine Definition des russischen Charakters als „jene[n] beherzten Fatalismus ohne Revolte, durch den […] heute noch die Russen in der Handhabung des Lebens gegen uns Westländer im Vortheil sind“ (KSA, GM, 5, 321). Es geht an dieser Stelle in der Genealogie der Moral bekanntlich um Fjodor Dostojewskijs Aufzeichnungen aus dem Totenhaus, wo die Verbrecher, die „Übel-Anstifter“ als „aus dem besten, härtesten und werthvollsten Holze geschnitzt“ dargestellt (ebd.) werden. Dennoch sind Nietzsches Auslegungen des Russischen sowie sein Begriff des Fatalismus nicht eindeutig, sondern stellen eine komplexe und vielschichtige Verflechtung verschiedener Themen und Perspektiven dar: von seinem Begriff der Bosheit („Böse Menschen haben keine Lieder. Wie kommt es, dass die Russen Lieder haben“, KSA, GD, 6, 62)1 bis zu seiner Interpretation der Moderne als Verfall und Müdigkeit der Kultur, wodurch der Fatalismus in den Zusammenhang mit seiner Deutung des Buddhismus und des Christentums, den zwei bei Nietzsche stets aufeinander bezogenen nihilistischen Bewegungen, gebracht wird. Es waren die Russen, bei denen er das Wort ‚Nihilismus‘ fand, bei Iwan Turgenjew, welcher in seinem Roman Väter und Söhne einen neuen Menschentypus darstellte, einen redlichen Nihilisten, der konsequent alle Werte, sowohl religiöse als auch moralische und ästhetische, aufgibt.2 „Sie zerstören alles […] Allein es ist doch auch notwendig, aufzubauen“, entgegnet ihm einer der ‚Väter‘. „Das ist nicht mehr unsere Sache […] zunächst ist wichtig, den Platz freizumachen“, antwortet der Nihilist Bazarow.3 Jedoch wird er selbst in der Wahrhaftigkeit seiner Ansichten zweimal geprüft, inwieweit er ohne Werte 1 2
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Dazu: Ekaterina Poljakova, Die „Bosheit“ der Russen: Nietzsches Deutung Russlands in der Perspektive russischer Moralphilosophie, in: Nietzsche-Studien, 35 (2006). Nietzsche las Väter und Söhne bereits im Jahr 1873 (KSA, NF, 15, 50). Hierzu ausführlich: К. М. Азадовский, (K. M. Azadowskij), Русские в ‚Архиве Ницше‘ (Russen im ‚Nietzsche-Archiv‘), in: Н. В. Мотрошилова (Nelly W. Motroschilowa), Фридрих Ницше и философия в России (Friedrich Nietzsche und die Philosophie in Russland), Санкт-Петербург 1999, bes. 114–118; Elisabeth Kuhn, Nietzsches Quelle des Nihilismus-Begriffs, in: Nietzsche-Studien, 13 (1984). Iwan Turgenjew, Väter und Söhne, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 3, Berlin 1952, 263.
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auskommen kann: durch die Liebe und durch das Sterben.4 Sein ‚beherzter Nihilismus‘ hält beiden Prüfungen stand; es kommt nicht zur Sinngebung, nicht zum Selbstbetrug. Die Revolte gegen alle Werte findet in der Akzeptanz des eigenen Schicksals, des Fatums, des Lebens und des Sterbens, der Vernichtung seines Selbst, seine Vollendung. Dieses „neuentdeckt[e] Russisch[e] Nihilin“ (KSA, JGB, 5, 137), das im Fatumsgedanke mündet, öffnete Nietzsche eine verlockende Perspektive, dem Begriff des Fatalismus eine neue Dimension zu geben und den Weg zur Überwindung des europäischen Nihilismus anzuzeigen.5
Nietzsches Begriff des Fatalismus: ‚mit Ergebung‘, ‚mit Revolte‘, ‚ohne Revolte‘, seine ‚Vollendung‘ des Fatalismus. Zunächst sollen einige Aspekte des komplexen Fatalismusbegriffs erläutert werden, die für Nietzsches Verwendung im Kontext des Russischen wichtig sind. Die Abgrenzung und gegenseitige Verdeutlichung des Fatalismus und des Nihilismus spielt für das Verständnis beider Schlüsselbegriffe eine wichtige Rolle. Es sieht so aus, dass Nietzsche verschiedene Formen des Fatalismus unterscheidet, vor allem die, die zur Ergebung oder, im Gegensatz dazu, zur Revolte führen.6 Der Fatalismus als „du musst an das Fatum glauben“ kann zu „Feigheit, Ergebung oder Grossartigkeit und Freimuth“ führen (KSA, MA, 2, 523). „Fatalismus, ‚es giebt keine Antwort‘ aber ‚es geht irgend wohin‘, ‚es ist unmöglich ein wozu? zu wollen‘, mit Ergebung … oder Revolte“ (KSA, NF, 12, 356). Der Glaube an das Fatum ebenso wie der nihilistische Glaube, „daß es gar keine Wahrheit giebt“ (KSA, NF, 13, 491), kann seinerseits über sich selbst hinaus als ‚Glaube an den Unglauben‘7 und Wille zur Zerstörung, zum Nichts einen zwar erschreckenden, dennoch festen Boden bilden, wo die Sicherheit durch den Hass auf alle Sicherheiten, der Glaube durch den Krieg gegen jeden Glauben, durch das Rebellieren gegen alle Wertschätzungen und Werte gewonnen wird: eine reine Form des Ressentiments, der Rachgier, des Niedergangs des Lebens. Die andere Form des Fatalismus, ein Fatalismus ohne Revolte, ohne Ressentiment und Rache wäre die reine Ergebung, das Sich-mitder-Welt-Versöhnen und Nicht-anders-haben-Wollen, der Gegensatz zum Begriff „Held“, „zu allem Ringen“, „das Nicht-feind-sein-können“ (KSA, AC, 6, 199f.), die décadence. Bemerkenswert ist, dass sich zwischen diesen beiden Polen, dem nihilistischen Ressen4
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Dies ist die Interpretation eines der berühmtesten russischen Literaturkritiker: Дмитрий Иванович Писарев (Dmitrij Pisarew), Базаров. Роман Тургенева „Отцы и дети“ (Bazarow. Turgenjews Roman „Väter und Söhne“), in: Русское слово, Bd. 3, 1862. Zum Begriff des Nihilismus: Elisabeth Kuhn, Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus, Berlin, New York 1992. Zur Auseinandersetzung zwischen Nietzsches Amor fati und seiner Auslegung des europäischen Nihilismus: Kiyoshi Nishigami, Nietzsches Amor fati: der Versuch einer Überwindung des europäischen Nihilismus, Frankfurt/M., Berlin, Bern 1993. In dieser Untersuchung wird gezeigt, wie der Amor-fati-Gedanke zur Überwindung des Nihilismus bei Nietzsche diente. Der Nihilismus-Begriff wird in seiner Mannigfaltigkeit dargestellt. Dennoch wird die notwendige Unterscheidung der Fatalismusformen nicht vorgenommen. Diesen Glauben nennt Nietzsche den „Nihilismus nach Petersburger Muster“ (KSA, FW, 3, 582).
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timent und dem Willen zur Rache einerseits und dem Sich-Ergeben, dem Nicht-andershaben-Wollen, der ‚Instinkt-Ermüdung‘, dem Verzicht auf jegliche geistige Anstrengung andererseits, Nietzsches Begriff des Christlichen bewegt. Die letztere Option, das NichtRevoltieren und das Kindliche als Kunstgriff, das Leben zu ertragen, entspricht seinem Verständnis des ‚Typus Jesus‘ als Ursprung des Christentums in Der Antichrist. Die erste Option, das rachsüchtige Revoltieren gegen alle Werte, gegen jeden anderen Glauben außer dem ‚Glauben an Nichts‘, ist die Figur der Selbstaufhebung des Christentums, wenn es an sich selbst zugrunde geht: an seiner eigenen Moral (vgl. KSA, GM, 5, 410). Aus diesem Grund ist der revoltierende Fatalismus kein contradictio in adjecto: weil der Glaube an das Fatum sich selbst als Glaube an die Nichtigkeit aller Ansprüche des schaffenden Willens versteht und sich an allen Werten, allen Kunstgriffen der Versöhnung mit dem Leben, aller Versuche, dem Leben einen Sinn zu verleihen, rächen will. Insofern wäre der Fatalismus mit Revolte als reine Form des Nihilismus zu verstehen, die Selbstaufhebung jedes Glaubens. Aber auch die ursprüngliche Form des Christlichen ist eine Form des Nihilismus, als Lebensform, wo, wie Nietzsche sagt, „nicht die kleinste Spur von Geistigkeit, von Zucht und Strenge im Geistigen, von Gewissenhaftigkeit“ (KSA, NF, 13, 175) zu finden ist. In der Spannung zwischen diesen beiden Extremformen des nihilistischen Fatalismus bewegt sich nach Nietzsche das historische Christentum, allerdings nicht als Fatalismus, sondern als das Anders-haben-Wollen, als Ressentiment der Moral, als Anti-Fatalismus schlechthin. Nur in seinem Ursprung und in seiner Aufhebungsfigur wird der Wille zum Nichts fatalistisch: in seinem Ursprung als Lebensform und Verfahren, das Reich Gottes auf Erden zu entdecken und das innere Gleichgewicht gegen alles Neue, gegen alle Veränderungen zu bewahren; und in seiner Selbstaufhebungsfigur, wo die Entdeckung der Verlogenheit aller Werte zum Fatums-Glauben, zum Glauben an das Nichts führt, wo keine Erneuerung, keine schöpferische Tätigkeit möglich ist. Ersteres ist vielleicht als Hygiene, als Heilsund Vorbeugungsmittel gegen die nihilistische Gefahr des letzteren zu verstehen. Hier, in seinem Ursprung, ist das Christentum einem anderen hygienischen Kunstgriff gegen die Krankheit der Kultur nahe, dessen Grundlage nicht Moral, sondern Klugheit ist: dem Buddhismus, dessen Vorzüglichkeit Nietzsche unermüdlich betont, der dennoch auch als Zeichen der Entkräftung und Müdigkeit zu den nihilistischen Bewegungen gezählt werden muss. Mit dem Christlichen des ‚Typus Jesus‘ ist dieser Kunstgriff praktisch identisch.8 Mit diesen zwei Formen des nihilistischen Fatalismus, dem mit Ergebung und dem mit Revolte, zwischen denen sich das gesamte europäische Christentum als nihilistische und dennoch antifatalistische Bewegung erstreckt, erschöpfen sich bei Nietzsche allerdings nicht alle Möglichkeiten des Fatumsgedankens, zu dessen ‚Vollendung‘ er selbst gelangen will. Für dieses Gedankenexperiment (wie der Fatalismus ohne Revolte dennoch mit ‚Zucht‘ und Wahrhaftigkeit des Geistes, wie ‚Amor fati‘ ohne Ressentiment und Rachegefühle gegen alle Werte, mit anderen Worten, wie der Fatalismus als Überwindung des Nihilismus möglich sein kann: weder Ergebung noch Revolte scheinen dazu fähig zu sein) waren die russischen Denker, zumindest, wie er sie verstanden hat, besonders hilfsreich: „Die Freiheit vom Ressentiment“, „ein grosses Heilmittel“ für einen Kranken, so nennt er in Ecce homo den „russischen Fatalismus, jenen Fatalismus ohne Revolte, mit dem sich ein russischer Soldat, dem der Feldzug zu hart wird, zuletzt in den Schnee legt.“ „Nichts 8
„Buddhism und Christenthum: Kampf mit dem Ressentiment“ (KSA, NF, 13, 93).
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überhaupt mehr annehmen, an sich nehmen, in sich hineinnehmen, – überhaupt nicht mehr reagiren“ (KSA, EH, 6, 272). „Die grosse Vernunft dieses Fatalismus“ erspart einem Kranken alle Ressentimentaffekte, weil man sich daran zu schnell verbrauchen würde. Zu solchen Kranken zählt Nietzsche auch sich selbst: „Jener ‚russische Fatalismus‘, von dem ich sprach, trat darin bei mir hervor, dass ich beinahe unerträgliche Lagen, Orte, Wohnungen, Gesellschaften, nachdem sie einmal, durch Zufall, gegeben waren, Jahre lang zäh festhielt, – es war besser, als sie ändern, als sie veränderbar zu fühlen, – als sich gegen sie aufzulehnen … Mich in diesem Fatalismus stören, mich gewaltsam aufwecken nahm ich damals tödtlich übel: – in Wahrheit war es auch jedes Mal tödtlich gefährlich.“ (ebd., 273) Es ist aus dem Kontext nicht ganz klar, was Nietzsche mit ‚gefährlich‘ meint: Ob ihn aus diesem Zustand zu wecken oder dieser Zustand selbst, der, wie bei dem russischen Soldaten, nicht nur innerliche Ruhe und Ökonomie der innerlichen Kräfte, sondern auch Todesgefahr ist. Der Fatalismus tritt bei Nietzsche selbst da hervor, wo das Neue abgelehnt werden muss, wo jede Veränderung als schmerzhafte Unruhe empfunden und dieser vorgebeugt werden muss. Nichts liegt der großen Vernunft dieses Fatalismus eines Kranken ferner als der Wille zur Veränderung, zum Kampf, zur geistigen Anstrengung, zum Schaffen. Das Neue ist ihm untersagt, der Glaube an das Fatum wirkt als schmerzstillende Arznei: „Sich selbst wie ein Fatum nehmen, nicht sich ‚anders‘ wollen – das ist in solchen Zuständen die grosse Vernunft selbst“ (ebd.). Dieser ‚russische Fatalismus‘ ist dennoch nichts anderes als die Klugheit eines Kranken, als der ‚Muth zum Tode‘. ‚Die grosse Vernunft‘ des ‚russischen Fatalismus‘ erschöpft jedoch auch nicht den Begriff des Fatalismus bei Nietzsche: „Meine Vollendung des Fatalismus: 1) durch die ewige Wiederkunft und Präexistenz 2) durch die Elimination des Begriffs ‚Wille‘“ (KSA, NF, 11, 70). Hier werden zwei entscheidende Punkte angesprochen, welche die Verschiebung und Erneuerung des Fatalismusbegriffs hervorbringen sollen. Ersterer ist sein ‚schwierigster Gedanke‘, der der ewigen Wiederkehr des Gleichen, die allerdings nicht als neue Doktrin zu verstehen ist, sondern als höchste Probe: Nur der Fatalismus, der zur mutigen Akzeptanz des Lebens fähig ist und alles Revoltieren, alles Ressentimentgefühl überwunden hat, könnte ihn ertragen.9 Der andere Punkt ist der Begriff des Willens, der als Gegenbegriff zum Fatum steht. Der Wille als Ursache der Handlung, als spontane Quelle der Tat, die verantwortet werden kann, die bestraft und belohnt werden kann, ein freier Wille also, ist laut der Genealogie der Moral der Grund jener Grausamkeit, auf deren Boden die christliche Moral gewachsen ist. Der ‚russische Fatalismus‘ war der Ausgangspunkt, von dem aus Nietzsche den „Kampf mit den Rach- und Nachgefühlen bis in die Lehre vom ‚freien Willen‘ hinein aufgenommen“ hat, woraus „der Kampf mit dem Christenthum nur ein Einzelfall“ ist (KSA, EH, 6, 273). Der Begriff des freien Willens ist es, was das historische Christentum (i. e. die christliche Moral und nicht sein Begründer) hervorgebracht hat. Die uneingeschränkte Verantwortlichkeit des freien Willens als Erfindung der Priester wird zur Grausamkeit des schlechten Gewissens, zu Rache-Gefühl und Ressentiment des asketischen Ideals. Dadurch aber kam es zur „prachtvollen Spannung des Geistes“ in Europa, „wie sie auf Erden noch nicht da war“, so in der Vorrede 9
Dazu: Günter Abel, Die Dynamik der Wille zur Macht und die ewige Wiederkunft, Berlin, New York 1984; zum Zusammenhang zwischen ewiger Wiederkehr und Nihilismus: Kiyoshi Nishigami, Nietzsches Amor fati, 160–198.
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zu Jenseits von Gut und Böse (KSA, JGB, 5, 12f.). Diese Spannung, dieser „gespannte Bogen“ des europäischen Geistes könnte nicht aus dem Fatalismus als Heilsmittel, aus dem Sich-mit-der-Welt-Versöhnen hervorkommen. Der freie Wille ist der Gegenbegriff zum Fatalismus selbst: der Wille, der frei gedacht wird, muss zur Erneuerung, zum Unerwarteten, zum Unvorhersagbaren fähig sein. Es „wäre eine Lust und Kraft der Selbstbestimmung, eine Freiheit des Willens denkbar, bei der ein Geist jedem Glauben, jedem Wunsch nach Gewissheit den Abschied giebt, geübt, wie er ist, auf leichten Seilen und Möglichkeiten sich halten zu können und selbst an Abgründen noch zu tanzen. Ein solcher Geist wäre der freie Geist par excellence“ (KSA, FW, 3, 583). Bei einem ‚freien Geist‘ ist also die Freiheit des Willens denkbar: die ‚Freiheit des Willens‘, das, was Nietzsche so stark bekämpft, der Gegenbegriff zum Fatalismus? Wie ist der Fatumsgedanke, wie ist das ‚Amor fati‘ für den ‚freien Geist‘ möglich, wenn der Wille frei gedacht wird? Entweder handelt es sich um einen krassen Widerspruch oder um einen anderen Begriff des Fatums, der jenseits des Gegensatzes des Zufälligen und Notwendigen, des Neuen und Vorherbestimmten, um einen anderen Begriff der Freiheit, der jenseits des Gegensatzes der Ergebung und Revolte zu entdecken, zu erfinden ist; und auch um einen neuen Begriff des Fatalismus, der zur Veränderung, zum Neuen, zum Schaffen den Weg zeigt.10 So steht es im Nachlass zu Also sprach Zarathustra: „Höchster Fatalismus doch identisch mit dem Zufalle und dem Schöpferischen“ (KSA, NF, 11, 292). Hier wird der Begriff des Fatums nicht als Glaube an die Notwendigkeit, nicht als Gegensatz zum Willen zur Erneuerung verstanden. „Nicht-mehr-wollen und Nicht-mehr-schätzen und Nicht-mehr-schaffen! ach, dass diese grosse Müdigkeit mir stets ferne bleibe!“, sagt Zarathustra (KSA, Za, 4, 111). Sein Fatum schließt den schöpferischen Willen nicht aus, weil es keine Gottheit und Zarathustras Fatalismus kein Glaube ist11 („Was wäre denn zu schaffen, wenn Götter – da wären?“, ebd.). Dieser ‚höchste Fatalismus‘ schließt in sich sein Gegenteil ein12: die unbegrenzte Freiheit, die Möglichkeit des Nicht-Erschlossenen, NichtGefundenen, des Noch-nicht-Erfundenen, des Neuen. Dies ist der ‚beherzte Fatalismus‘, der zur Öffnung der Horizonte und zur Erneuerung, zum Flüssig-Sein des Sinnes, zur Vergänglichkeit der Welt Mut macht; der ‚Fatalismus ohne Revolte‘, weil er nie zurückblickt. Er lässt den Freiheitsgedanken nur für die Zukunft, nicht für die Vergangenheit zu.13 Deswegen wird der Nihilismus erst in ihm und nicht in der fatalistischen Hygiene des Orients und nicht im revoltierenden Willen zur Zerstörung der Werte überwunden.14 10
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Kiyoshi Nishigami betont zu Recht, dass die Freiheit ebenso wie das Fatum für Nietzsche nur abstrakte Begriffe sind, die ‚an sich‘, getrennt voneinander keine Bedeutung haben und immer in Bezug aufeinander gedacht werden müssen (Kiyoshi Nishigami, Nietzsches Amor fati, 240). Das Fatum kann auch keine Transzendenz sein, wie es oft verstanden wird: Kiyoshi Nishigami, Nietzsches Amor fati, 244; Ryôgi Ôkôchi, Nietzsches Amor fati, 91. „Groß ist für Nietzsche nicht einfach das, was andere überragt, sondern das, was fähig ist, das ihm Entgegengesetzte für sich fruchtbar zu machen“ (Werner Stegmaier, Nietzsches Kritik der Toleranz, in: Christoph Enders, Michael Kahlo [Hg.], Toleranz als Ordnungsprinzip? Die moderne Bürgergesellschaft zwischen Offenheit und Selbstaufgabe, Paderborn 2007; auch: Kiyoshi Nishigami, Nietzsches Amor fati, 265f.). Die Unterscheidung ‚Freiheit wovon/Freiheit wozu‘ scheint dafür unzureichend zu sein: Kiyoshi Nishigami, Nietzsches Amor fati, 238–246. Aus der Perspektive buddhistischen Denkens wird dagegen immer eine Seite von Nietzsches Begriff des Fatums betont, die Notwendigkeit als Gegensatz zum Zufälligen und Willkürlichen: Ryôgi
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„Für einen Kriegsmann der Erkenntniß, der immer im Kampf mit häßlichen Wahrheiten liegt, ist der Glaube, daß es gar keine Wahrheit giebt, ein großes Bad und Gliederstrecken. – Der Nihilismus ist unsre Art Müssiggang“ (KSA, NF, 13, 491). Der Nihilismus steht demnach einerseits am Anfang und Ende des europäischen Christentums, seine ganze Bewegung in Europa, die zu seiner Selbstaufhebung führt, indem es an seiner eigenen Wahrhaftigkeit, an seiner eigenen Moral zugrunde geht; für den Philosophen aber ist auch die letztere Form des Nihilismus eine Form des Müßiggangs, der Erholung, ein Ausdruck der Müdigkeit des Denkens, des Verfalls des Willens, die zu überwinden sind, weil sein Ziel nicht in der Entwertung, sondern in der Umwertung aller Werte liegt. Der Fatalismus, in dem diese letzte Versuchung, diese Erschlaffung des Denkens überwunden wird, ist kein Sich-Unterwerfen unter die Notwendigkeit, unter das Fatum als einen neuen Gott, sondern der Verzicht auf das Ressentiment des Nihilismus, der Verzicht auf seine Kunstgriffe: keine Ergebung und keine Revolte. Er bedeutet auch Mut zum Neuen, zum Unbekannten, zur Stärke des Schaffenden – die Freiheit jenseits des Begriffs des Willens, das Fatum jenseits der Notwendigkeit. Dieser Fatalismus des ‚Kriegsmann[es] der Erkenntniß‘ ist Nietzsches Gegenbegriff zum Nihilismus, sein Gegenentwurf gegen die ganze nihilistische Bewegung in Europa – gegen die europäische Religiosität, gegen das Christentum.
‚Typus des Erlösers‘: Das Christliche und das Anti-Christliche bei Tolstoi und Dostojewskij In Nietzsches Auslegung des Christentums wird dieses in Form der europäischen Religion zur nihilistischen Bewegung, die mit dem Begründer des Christentums nicht viel gemeinsam hat, gar das Gegenteil von dessen Predigt verkündet. Der russische Fatalismus wird von ihm als Alternative zur nihilistischen Bewegung in Europa betrachtet, als immer noch vorbehaltene Möglichkeit, dem Christentum in Europa den festen Boden zu entziehen, den ‚Schatten Gottes in Europa‘ zu bekämpfen und die europäische Moral in ihrer Plausibilität zu erschüttern, und folglich als das Anti-Christliche verstanden: „auf griechisch, und nicht nur auf griechisch“, wie Nietzsche es über sich selbst in Bezug auf seinen Antichrist sagt (KSA, EH, 6, 298). Um seinen Begriff des Fatalismus als Überwindung des Christlichen zu verstehen, ist es wichtig, die russische Perspektive der Umdeutung des Christlichen und des Antichristlichen zu bedenken. Dafür sind zwei Autoren am interessantesten, deren Lektüre den Hintergrund von Nietzsches Antichrist bildet. Zu der Zeit, als Der Antichrist geschrieben wurde, entstanden Nietzsches Exzerpte aus zwei großen Werken der russischen Literatur: aus Lew Tolstois Traktat Was ist mein Glaube? und Fjodor Dostojewskijs Roman Die Dämonen (Vgl. KSA, NF, 13, 93ff.; 141ff.). Die Ideen von Tolstoi und Dostojewskij wurden zum wichtigen Anstoß für Nietzsches Ôkôchi, Nietzsches Amor fati, in: Nietzsche-Studien, 1 (1972), 83. Willkür oder Eigenwille ist dennoch für Kirillow in Dostojewskijs Die Dämonen in die Idee des Fatums eingeschlossen: Es ist unumgänglich, die Willkür durch Selbstmord zu beweisen. Der Willkür- und Notwendigkeitsgedanke bildete für Nietzsche keinen Gegensatz, sondern ein kompliziertes Ideengeflecht, worauf er seine Idee des Amor fati bezog.
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Denken.15 Die Berührungen zwischen Nietzsches Auslegung der Diskrepanz zwischen der Lehre des Begründers des Christentums und der Lehre seiner Nachfolger einerseits und Tolstois Predigt des wahren Christentums andererseits sind im Antichtist offenkundig. Es war Tolstois Entdeckung der Verfälschung der Jahrtausende, seine Offenbarung (allerdings ganz rational verstanden) des wahren Sinnes der Predigt Jesu, die mit einem Gebot auszudrücken ist: ‚Widerstehe nicht dem Bösen‘. Der Erlöser hat damit eine Lehre hinterlassen, wie ihm zu folgen sei, wie man leben soll. Für diese Lehre ist er gestorben. ‚Das Reich Gottes ist in euch‘: das sind die wahren Worte der frohen Botschaft. Es ist nicht in einem Jenseits, sondern im Diesseits, in dieser Welt zu erreichen. Schon die Jünger Jesu missverstanden ihn in diesem entscheidenden Punkt, vor allem Paulus. Seitdem predigt die Kirche genau das Gegenteil des Evangeliums: nicht die Lehre Christi, sondern die ‚unverschämte Lüge des persönlichen Auferstehens‘, der persönlichen Unsterblichkeit, der ‚übernatürlichen Hilfe‘ Gottes. Die ganze Geschichte des Christentums wurde zur Verfälschung der frohen Botschaft, wurde zur Verleugnung der Lehre des Erlösers. Alle staatlichen Machtinstitutionen, Gefängnisse, Gerichte, Polizei, dienen der ‚Lehre dieser Welt‘, dem Gegenteil der Lehre Christi: Das Böse wird mit dem Bösen vergolten. Tolstoi prangert diese antichristliche Tätigkeit einer sich selbst für christlich haltenden Gesellschaft gnadenlos an: Sie ist durchaus auf dem Widerstand gegen das Böse, auf Gewalt gebaut. Durch die absichtliche Lüge der Kirche, bereits durch die Jünger Jesu, würde eine Lebenspraktik in falsche Hoffnungen weckenden Fabeln über Wunder, über das Jenseits, über Lohn und Strafe nach dem Tode umgedeutet und das diesseitige Leben verleugnet. Der Glaube an diese törichten Lügen, so Tolstoi, sei unglaubwürdig geworden. Jetzt müsse die Menschheit zur wahren Lehre Christi und damit zur Quelle des Lebens zurückkehren.16 Es ist nicht schwer zu erkennen, wie wichtig für Nietzsche diese Deutung des ‚wahren Christentums‘ war.17 „Das Wort schon ‚Christenthum‘ ist ein Missverständniss –, im Grunde gab es nur Einen Christen, und der starb am Kreuz. Das ‚Evangelium‘ starb am Kreuz.“ (KSA, AC, 6, 211) und „‚[W]iderstehe nicht dem Bösen‘ das tiefste Wort der Evangelien, ihr Schlüssel in gewissem Sinne“ (ebd., 200). „Das ‚Himmelreich‘ ist ein 15
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Zu Nietzsches Dostojewski-Lektüre: Charles Anthony Miller, Nietzsches „discovery“ of Dostoevsky, in: Nietzsche-Studien, 2 (1973); Ders., Nietzsches „Soteriopsychologie“ im Spiegel von Dostoevskijs Auseinandersetzung mit dem europäischen Nihilismus, in: Nietzsche-Studien, 7 (1978); Ders., The Nihilist as Tempter-Redeemer. Dostoevsky’s „Man-God“ in Nietzsche’s Notebooks, in: Nietzsche-Studien, 4 (1975); Renate Müller-Buck, „Der einzige Psychologe, von dem ich etwas zu lernen hatte“: Nietzsche liest Dostojewskij, in: Horst-Jürgen Gerigk (Hg.), Dostoevsky Studies, New Series, 4 (2002). Лев Николаевич Толстой (Lew Tolstoi), В чем моя вера? (Was ist mein Glaube?) in: Ders., Полное собрание сочинений в 90 томах, Bd. 23, Москва 1957. Es ist erstaunlich, wie wenig diese Quelle von Nietzsches ‚Typus Jesus‘ untersucht wurde im Gegensatz zu Dostojewskijs Nietzsche-Lektüre. Eine Ausnahme stellt ein, von sozialistischer Ideologie belasteter Aufsatz von Peter Kessler dar (Tolstoj-Studien des späten Nietzsche, in: Zeitschrift für Slawistik, 23, 1978). Im Kommentar zum Antichrist ist zwar die Quelle der These von Nietzsches „genuin[em] Verständniss“ des ‚Typus des Erlösers‘ und seiner Deutung von Paulus in seiner Tolstoi-Lektüre anerkannt, doch ist sie im Unterschied zu seiner Dostojewskij-Lektüre relativ wenig in Betracht gezogen (Andreas Urs Sommer, Friedrich Nietzsches „Der Antichrist“. Ein philosophischhistorischer Kommentar, Basel 2000, 282–284).
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Zustand des Herzens – nicht Etwas, das ‚über der Erde‘ oder ‚nach dem Tode‘ kommt […] Das ‚Reich Gottes‘ ist nichts, das man erwartet; es hat kein Gestern und kein Übermorgen, es kommt nicht in ‚tausend Jahren‘ – es ist eine Erfahrung an einem Herzen; es ist überall da, es ist nirgends da“ (ebd., 207). Im Nachlass schreibt Nietzsche zwischen den Exzerpten aus Tolstoi und dem eigenen Entwurf zum ‚Typus Jesus‘: „Das Christenthum ist jeden Augenblick noch möglich … Es ist an keines der unverschämten Dogmen gebunden, welche sich mit seinem Namen geschmückt haben: es braucht weder die Lehre vom persönlichen Gott, noch von der Sünde, noch von der Unsterblichkeit, noch von der Erlösung, noch vom Glauben, es hat schlechterdings keine Metaphysik nöthig, noch weniger den Asketismus, noch weniger eine christliche ‚Naturwissenschaft‘ … Wer jetzt sagte ‚ich will nicht Soldat sein‘, ‚ich kümmere mich nicht um die Gerichte‘, ‚die Dienste der Polizei werden von mir nicht in Anspruch genommen‘ – der wäre Christ … ‚ich will nichts thun, was den Frieden in mir selbst stört‘“ (KSA, NF, 13, 162). Es gibt nur diese Welt, sagt Tolstoi seinerseits, diese Welt, wo die innerliche Ruhe, das Reich Gottes, erreichbar sein muss durch die Versöhnung mit Anderen, durch Arbeit, harte Arbeit für Andere. Man muss das eigene Leben ändern, auf jede Gewalt verzichten, auch auf alle Gewaltinstitutionen, Gerichte, Armee, Polizei, den Staat. In Arbeit und Demut wird die innerliche Ruhe erreicht und Frieden für alle Zeiten gestiftet. Es geht nicht um Schuld oder Bereuen der Sünde, nicht um Verantwortlichkeit, sondern um die Not des Lebens, um den einzigen Weg, die Versöhnung mit sich selbst zu erreichen. Der Sinn des Lebens, das Leben nach der Wahrheit ist auf diesem Weg zu finden – in einer ‚Praktik‘, wie man leben, wie man sterben soll: ohne Widerstand, ohne Revolte, ohne das Anders-haben-Wollen. Für Tolstoi ist die Unsterblichkeit in Gott nur als ‚Erlösung von der eigenen Persönlichkeit‘, als das Leben des Volkes möglich. Der Name Gottes kann hier also durch das Volk, das Leben, das Fatum ersetzt werden. Er ist ‚Vater des Lebens‘, kein persönlicher Gott, sondern der, der Erlösung vom Tod als Erlösung von der eigenen Persönlichkeit jedem Menschen schenkt. In seiner Erzählung Drei Tode und Tod von Iwan Iljitsch zeigt Tolstoi, dass das Reich Gottes durch das Aufgeben der Revolte, des Bedauerns, der Gefühle selbst kommt, durch den Verzicht auf das Ressentiment, um Nietzsches Begriff zu verwenden. Das erlösende Aufgeben des Widerstands, das NichtBedauern, Nicht-Bereuen gründet sich auf der Überzeugung, dass der Einzelne dem Fatum nichts entgegenzusetzen hat. In Krieg und Frieden wird gezeigt, dass auch die großen Politiker, Kaiser und Kriegsmänner, nichts zu entscheiden haben und ‚Sklaven der Geschichte‘ sind: „Die Handlungen Napoleons und Alexanders, von denen es anscheinend abhing, ob das Geschehen seinen Lauf nahm oder nicht, waren ebensowenig von ihrem Willen bestimmt wie die Handlungen jedes beliebigen Soldaten, der in den Krieg ging, weil ihn das Los zum Militärdienst bestimmt hatte oder weil er ausgehoben worden war“ und „Man kommt in der Geschichte um den Fatalismus nicht herum“.18 Der Fatalismus ist das Schlüsselwort zu Tolstois Philosophie der Geschichte und zu seinem Verständnis des Christentums, der wahren Lehre Jesu, deren Verfall und Verfälschung durch die Jünger, durch die Kirche, durch die Gesellschaft er leidenschaftlich bekämpft. Das Dem-Bösen-nicht-Widerste18
Lew Tolstoi, Krieg und Frieden, in: Ders., Gesammelte Werke in zwanzig Bänden, übers. von Werner Bergengruen, 8. Auflage, Bd. 2, Berlin 1987, 10.
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hen, der Fatalismus ohne Revolte, ohne Anders-haben-Wollen, ohne Schuldgefühl, ohne Reue für das Vergangene wird als wahres Christentum, als christliche ‚Lebenspraktik‘ bei Nietzsche in die Enträtselung des Typus des Erlösers psychologisch umgedeutet. Tolstois christlicher Fatalismus war doppelt wichtig für den deutschen Philosophen: als Beispiel des russischen ‚Fatalismus ohne Revolte‘ und als Wegweiser für seine Umdeutung der Ursprünge des Christentums. Bei Tolstoi wurde der Fatalismus zum Ursprung des Christlichen, die Freiheit des Willens und die Verantwortung, die Gründe der europäischen Moral und der christlichen Ethik, bestritten und als anti-christliche Lehre verurteilt. Für Tolstoi war dieser Fatalismus das einzige, was das Leben in dieser Welt ermöglicht, er bedeutete für ihn die Überwindung seiner Selbstmordgedanken. Für Nietzsche, der ebenfalls die europäische Moral des freien Willens in ihren Gründen erschüttern will, ist ein solcher Fatalismus der erste Ausdruck der lebensfeindlichen nihilistischen Kräfte, die in der christlichen Moral ihren Sieg feiern. Aber dieser ‚Fatalismus ohne Revolte‘ war nicht die einzige Auslegung des Christlichen, die Nietzsche mit dem Russischen verband. Der andere große Psychologe des Religiösen war für ihn Dostojewskij. Es war in erster Linie der Roman Die Dämonen, der reichlich Material für Nietzsches Deutung des Nihilismus bot, vor allem als ‚Psychologie des Nihilisten‘ (Stawrogin, Werchowenskij) und als ‚Logik des Atheismus‘ (Kirilloff, Schatow). Jede von Dostojewskijs handelnden Personen (außer vielleicht Schatow, dessen Idee von ‚Gott als Attribut der Nationalität‘ für Nietzsche wichtiger als seine Figur war) illustriert in Nietzsches Exzerpt die Etappen der nihilistischen Bewegung, die im Zerstörungsgedanken münden: die Zerstörung der Welt (Werchowenskij); die Selbstzerstörung mit dem Ziel, die Unabhängigkeit und Göttlichkeit des Menschen zu beweisen (Kirilloff); die Selbstzerstörung ohne Ziel und ohne Sinn als letzte Stufe des Nihilismus (Stawrogin). Dostojewskis Romanfiguren demonstrieren auf diese Weise die gesamte Palette des europäischen Nihilismus, des revoltierenden Willens. Doch für das Verständnis seiner Quellen war noch ein Typus wichtig: der Typus des Begründers des Christentums, der ‚Typus Jesus‘. Der Zusammenhang zwischen Nietzsches Darstellung des ‚Typus Jesus‘ im Antichrist und dem Roman Der Idiot von Dostojewskij war bereits oft Gegenstand von Untersuchungen. Die Frage, ob dieser Roman Dostojewskijs Nietzsche überhaupt bekannt war, kann nicht mit Sicherheit beantwortet werden.19 Es ist merkwürdig, dass, falls er den Roman kannte, seine Lektüre keine deutlichere Spur in seinen Nachlassnotizen und Briefen hinterlassen hat, wenngleich es schwer vorstellbar ist, dass Dostojewskij in Der Antichrist als Einziger, der den ‚Typus des Erlösers‘ ‚erraten‘ hat, nur zufällig in unmittelbarer Nähe zu dem Wort ‚Idiot‘ Erwähnung findet. Vielleicht ist diese philologische Frage, die die Forscher nicht lösen können, durch eine systematisch-philosophische zu ersetzen: Ob Dostojewskijs Verständnis des Falls Jesus tatsächlich eine Annäherung an Nietzsches Entdeckung darstellt, insofern, dass man hier von Seelenverwandtschaft oder, wie in der russischen Forschungsliteratur, von direktem Einfluss sprechen darf.20 Mit 19
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Dazu: Charles Anthony Miller, The Nihilist as Tempter-Redeemer, 179f.; Andreas Urs Sommer hält „alle Spekulationen darüber, ob Nietzsche von Dostojewskis Idiot gehört hat“, für „hinfällig“. (Andreas Urs Sommer, Friedrich Nietzsches „Der Antichrist“, 317). Юрий Н. Давыдов (Jurij N. Dawydow), Достоевский глазами Ницше (Предисловие редактора) (Dostojewski aus der Sicht Nietzsches (Vorrede des Redakteurs)), in: Иностранная литература,
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anderen Worten lautet die Frage, ob Dostojewskij den Typus des Erlösers mit Myschkin darstellen wollte, als Idiot also, deren kindliche Unfähigkeit, dem Bösen dieser Welt zu widerstehen, seinen Untergang vorherbestimmt. Ohne näher auf Einzelheiten des Sujets eingehen zu wollen,21 lässt sich feststellen, dass eine gewisse Diskrepanz zwischen der Identifizierung von Myschkin und Jesus einerseits und Dostojewskijs Verständnis des Christentums andererseits nicht zu übersehen ist. Es ist wahr, dass in Der Idiot vieles auf die Evangelien hinweist: vom Motiv der Vergebung der Sünderin (die schweizerische Geschichte mit Marie, die offensichtlich auf sein Verhältnis mit Nastasja Philippowna projiziert wird) bis zum Gemälde von Hans Holbein Grablegung Christi (der Mittelpunkt des Romans, wo das Bild des verwesenden Leibes Jesu als Erschütterung des Glaubens und finstere Prophezeiung von Myschkins Schicksal gedeutet wird); nicht zu vergessen sind zudem Dostojewskijs Nachlassnotizen, wo Myschkin direkt ‚Fürst Christus‘ genannt wird.22 Dennoch, welche Rolle die Züge Jesu und die evangelischen Projektionen im Roman spielen, ist eine schwierige Frage, die mit der Frage nach Dostojewskijs Verständnis von Verantwortung, Schuld und Erlösung von der Schuld, von Vergebung, eng verbunden ist. Die letztere war für ihn, im Unterschied zu Tolstoi, die Hauptfrage des Christlichen und des Anti-Christlichen. Der Begriff des freien Willens und der daraus entstehenden Verantwortung sieht bei Dostojewskij nicht weniger als bei Tolstoi höchst problematisch aus. Dennoch verliert sich der Begriff nicht hinter dem Fatumsgedanken. Ganz im Gegenteil. Es geht um die Verantwortung, aber nicht für die Tat, sondern für das Wollen, für das Wünschen. So trennt sich Raskolnikow durch die Idee selbst, ‚sich Blut erlauben zu können‘, von der Welt der Menschen; es ist die größte Schuld, die man sich vorstellen kann. Die Tat selbst als höchstes Unglück kommt als Strafe für das Wollen, die Verantwortung reicht bis in die Gedanken hinein. Noch deutlicher ist diese Idee im Roman Die Brüder Karamazow. Die Brüder Iwan und Dmitrij Karamazow sind schuld am Mord ihres Vaters. Nicht nur Smerdjakow, der wirkliche Mörder, sondern auch diejenigen, die sich den Mord wünschten. Beide erkennen ihre Mitschuld vor dem Gericht an. Das Gericht kann aber nur ein ungerechtes Gericht sein, wenn es um die Verantwortung für Wünsche, für das Wollen geht. Es kommt zur Übereinstimmung mit Tolstoi, das Gericht ist das Unrecht schlechthin. Dieses Ablehnen des Richtens folgt bei Dostojewskij jedoch nicht aus dem Fatalismusgedanken oder der Verleugnung der Freiheit, sondern umgekehrt aus der Idee der unbegrenzten Verantwortlichkeit, auch für die Gedanken und Wünsche. Und noch mehr. Die unbegrenzte Verantwortung ist nicht auf individuelles Handeln und Wünschen beschränkt. Der Schlüssel zum Verantwortungsgedanken in Die Brüder Karamazow liegt in Aljoschas (der dritte Bruder, welcher selbst an dem Mordwunsch nicht beteiligt war)
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Bd. 4, Москва 1990; Ders., Этика любви и метафизика своеволия (Проблемы нравственной философии) (Ethik der Liebe und Metaphysik des Eigenwillens (Fragen der Moralphilosophie), Москва 1989. Curt Paul Janz warnt vor der Überbewertung dieses Einflusses warnt (Friedrich Nietzsche. Biographie, Bd. 2, München 1978, 507). Zur Analyse des Sujets des Romans Der Idiot vgl.: Ekaterina Poljakova, Поэтика драмы и эстетика театра в романе: „Идиот“ и „Анна Каренина“ (Poetik des Dramas und Ästhetik des Theaters im Roman: „Der Idiot“ und „Anna Karenina“), Москва 2002. Федор Михайлович Достоевский (Fjodor Dostojewski), Полное собрание сочинений в 30 т. (Gesammelte Werke in 30 Bänden), Bd. 9, Ленинград 1974, 246, 249, 253.
„Beherzter Fatalismus“
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Übernahme der Schuld seiner Brüder, als er den Satz von dem todkranken Bruder des Staretz Sossima aufnimmt: „Jeder von uns ist vor jedem in allem schuldig, und ich am meisten.“23 Dieser Satz wird bei Dostojewskij zur Formel des Christlichen. Die unbegrenzte Verantwortung, unabhängig davon, was wir rechtlich schuldig nennen, führt bei Dostojewskij nicht einfach zum Entgegensetzen von Moral und Recht, sondern zur besonderen Deutung des Christlichen, des Religiösen, des Weges zur Erlösung der Welt. Dieser ist in der Übernahme der unbegrenzten Verantwortung für das Leiden der Anderen, für ihre Schuld und Sünde, demnach in der Anerkennung der eigenen Schuld und in der Verantwortung für die Anderen zu finden.24 In den Brüdern Karamazow kommt es zu Dostojewskijs direkter Auslegung des ‚Typus des Erlösers‘: in der Legende von dem Großinquisitor.25 Zwei Wege zum Glück stehen den Menschen offen: Der erste Weg besteht im Verzicht auf den eigenen Willen und im Sich-auf-die-Normen-Verlassen, im Unschuldig-Sein des kindlichen Nichtwissens, im fatalistischen Sich-Ergeben; der zweite Weg in der unbegrenzten Freiheit der Söhne Gottes, die bereit sind, die Schuld der Welt zu tragen. Das kindlich-unschuldige Glück wurde, sagt der Großinquisitor dem in die Welt zurückgekehrten Jesus, gerade durch die christliche Botschaft den Menschen verweigert. Die neuen Wohltäter der Menschheit, die den Menschen Regeln und Normen auferlegen (selbst im Namen der Kirche), nehmen den Menschen diese unheimliche Gabe Christi wieder ab – die unbegrenzte Freiheit, die schwere Bürde der unbegrenzten Verantwortung für alle Menschen, für die ganze Welt. Das Christliche kann also weder mit dem Kunstgriff, das Leben zu ertragen, noch mit dem revoltierenden Willen identifiziert werden. Es bleibt auch der Suche nach dem inneren Frieden und dem Willen zur Erlösung von der eigenen Persönlichkeit fremd. Wenn es noch als ‚beherzte[r] Fatalismus ohne Revolte‘ bezeichnet werden könnte, dann nur als Fatalismus, der die unbegrenzte Freiheit der Verantwortung für die Welt aufrechterhält. Wie im Roman Der Idiot das Christliche zu verstehen ist, zeigt sich aus Dostojewskijs Deutung des Christentums. Myschkin will den Menschen Versöhnung und Vergebung bringen. Er tut es auf sehr merkwürdige Weise, durch die Erklärung, dass sie krank und unschuldig sind. „Sie trifft überhaupt keine Schuld […] Sie sind stolz, […] aber möglicherweise bereits so unglücklich, daß Sie sich für schuldig halten“26, sagt er zu Nastassja Philippowna, zu Rogoschin, zu Keller. Diese Art der Verzeihung bringt aber keine Erleichterung, keine Erlösung. Die Anderen akzeptieren Myschkins Vergebung nicht, das Böse und das Leiden mehren sich, bis es zur Katastrophe, zum Mord, kommt. Das Wort 23 24
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Fjodor Dostojewski, Die Brüder Karamasow, übers. von Werner Creutziger, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 1, Berlin, Weimar 1981, 462. „Was habe ich damit zu tun? Soll ich etwa meines Bruders Dmitri Hüter sein?“, fragt Iwan ironisch in klarer Anspielung auf ‚Kains Antwort‘ auf Gottes Frage (ebd., 370). Doch es ist das, wofür Aljoscha vom Staretz Sossima in die Welt gesandt wird: um „bei den beiden Brüdern zu bleiben“ (ebd., 125), um „die Menschen [zu] umsorgen, als wären sie Kranke“ (ebd., 346). Zum systematischen Vergleich der Legende mit Nietzsches Der Antichrist: Harry Loewen, Freedom and rebellion in Dostoevsky’s „The Grand Inquisitor“ and Nietzsche’s „The Antichrist“, in: John Whiton, Harry Loewen (Hg.), Crisis and Commitment: Studies in German and Russian Literature in Honour of J. W. Dyck, Waterloo/Ontario 1983; auch: Charles Anthony Miller, Nietzsches „discovery“ of Dostoevsky, 254. Fjodor Dostojewski, Der Idiot, übers. von Swetlana Geier, Zürich 1996, 245.
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der Verzeihung hat keine Macht, die Unschuldserklärung keine Überzeugungskraft. Und dieses Wort wäre für Dostojewskij vielleicht gerade das Umgekehrte von der christlichen Botschaft der allumfassenden Verantwortung. Myschkins Versuche, den anderen ihre Unschuld zurückzugeben, seine Bereitschaft, alles Vergehen gegen ihn zu vergessen und eine Entschuldigung für alles zu finden, seine eigene Unschuldigkeit können die Welt nicht erlösen.27 Die Unschuldigkeit der Menschen zu behaupten heißt nach Dostojewskij, ihnen den einzigen Weg zur Erlösung zu versperren. Myschkin ist ein ‚schöner Mensch‘, aber auch ‚Fürst Christus‘; letzteres könnte als Oxymoron verstanden werden, weil der „Fürst dieser Welt“ nicht Christus ist, sondern von ihm „hinausgeworfen werden“ muss (Johannes 12, 31). Er ist der ‚Anti-Christus‘, der Stellvertreter Christi, aber auch sein Gegenteil: Christus ohne göttliche Macht, Jesus als bloßer Lehrer des Nicht-Widerstehens kann dieser Welt nichts geben und wird von ihr überwältigt. Dem unschuldigen Nichtwiderstehen-Wollen, der Bereitschaft, jede Schuld zu rechtfertigen und den Menschen das kindliche Glück des Unschuldig-Seins zu geben, stellt Dostojewskij die unbegrenzte Verantwortlichkeit für die Schuld der Welt, die freie Übernahme der Verantwortung für die Schuld der Anderen entgegen als christliche Botschaft der Erlösung und, in seinen späteren Werken, als Gegenentwurf zum Nihilismus seiner Zeit. Nietzsches Begriff des ‚beherzten Fatalismus‘ kann als Paradoxie verstanden werden. In seiner Vielfältigkeit öffnete der Fatumsgedanke verschiedene Möglichkeiten, die nihilistische Bewegung in Europa und ihre Quelle im Christlichen durch Fatalismus umzudeuten. In den russischen Denkern fand Nietzsche eine neue Auslegung des Fatalismus, in Dostojewskij sogar eine verwandte Seele, einen Alliierten in seinem Kampf gegen das europäische Christentum. Es war seine Suche nach der Möglichkeit eines nicht-nihilistischen Fatalismus jenseits des Gegensatzes des Freien und Vorherbestimmten, der Ergebung und Revolte, jenseits des Christentums, die sein Interesse für die russischen Denker erregte. Tolstoi und Dostojewskij dagegen deuteten gerade das Christentum in dieses nicht-nihilistische Jenseits um. Sie beide wollten nicht das Christentum aus dem Fatumsgedanken, sondern umgekehrt das Fatum aus dem Christlichen heraus verstehen: Tolstoi als Akzeptanz des Lebens und Verzicht auf Widerstand, Dostojewskij als Übernahme der Verantwortung für die Schuld der Menschheit. Die bedeutsamsten russischen Philosophen der Jahrhundertwende, die sich später auf Tolstoi und Dostojewskij als große religiöse und moralische Lehrer und Wegweiser beriefen, wie Nikolaj Berdjajew, Wjatsceslaw Iwanow, Wasilij Rozanow, Lew Schestow, haben ihrerseits Nietzsches ‚Krieg gegen das Christentum‘ in das Ringen um die Erneuerung und Wiedergeburt des religiösen Geistes umgedeutet. Es wäre allerdings eine andere Fragestellung, inwiefern man Jenseits von ‚wahr‘ und ‚falsch‘, von ‚zufällig‘ und ‚notwendig‘, von ‚Fatum‘ und ‚Freiheit‘ über das Gelingen oder Misslingen eines solchen Dialogs urteilen kann.
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Aus den Nachlassnotizen zum Roman: „er vergibt alles, sieht überall Gründe, sieht keine unverzeihliche Sünde und verzeiht alles“ (Федор Михайлович Достоевский (Fjodor Dostojewski), Полное собрание сочинений в 30 т. (Gesammelte Werke in 30 Bänden), Bd. 9, 218).
HERBERT FREY
Nietzsche und die antike griechische Religion
Zwei Jahrtausende beinahe und nicht ein einziger neuer Gott! Sondern immer noch dieser erbarmungswürdige Gott des europäischen Monotonotheismus … und wieviele neue Götter sind noch möglich. Mir selber, in dem der religiöse, das heisst gottbildende Instinkt mitunter wieder lebendig werden will: wie anders, wie verschieden hat sich in mir jedesmal das Göttliche offenbart! … Ich würde nicht zweifeln, dass es viele Arten Götter gibt. (Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 13, 525f.)
Als Friedrich Nietzsche in den 70iger und 80iger Jahren des 19. Jahrhunderts seine Schriften verfasste, die die Kritik der christlichen Religion zum Thema hatten, befand er sich in einem großen Strom zeitgenössischer Religionskritik, die aus den verschiedenen Traditionen der Aufklärung hervorgegangen war und nach dem Zerfall des hegelschen Systems ihren Höhepunkt erreicht hatte. Ludwig Feuerbach, Max Stirner und Karl Marx waren von der unwiderrufbaren Tatsache des Todes Gottes ausgegangen, und ihr Atheismus war genauso radikal, oder noch radikaler als der Nietzsches.1 Gemeinsam war diesen Auffassungen, dass der Mensch als mythen- und götterschaffendes Wesen die verschiedenen Religionen erfand, die für sich aber keinen Wahrheitsanspruch erheben konnten. Für Nietzsche, darin unterschied er sich nicht von der geläufigen Religionskritik des 19. Jahrhunderts, war es selbstverständlich, dass die christliche Religion eine mythische Konstruktion war, die keine Wahrheit beinhaltete und dies war die Ausgangslage seines Denkens. Allerdings näherte er sich der Geschichte der Religionen aus einem anderen Blickwinkel, indem er die Perspektive seiner Betrachtung änderte. Die Erschaffung und Erfindung von Religionen entsprach einer menschlichen Leistung, die sich immer schon jenseits von Wahrheit und Unwahrheit bewegte. Nietzsches Reflexionen über die verschiedenen Religionen war durch die Überlegung geprägt, welchen Wert sie für die Gestaltung des menschlichen Lebens hatten, ob sie lebensbejahend oder lebensverneinend waren, ob sie die aristokratischen Werte einer Elite repräsentierten oder die Instinkte des 1
Dazu das noch immer fundamentale Werk von Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1964. Rudolf Burger hat die Radikalität von Nietzsches Religionskritik in seinem Vortrag Nihilistische Ethik auf dem Nietzsche-Kolloquium in Sils Maria am 29. 09. 2006 vom Standpunkt Max Stirners her in Frage gestellt.
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Herdenmenschen, ob sie den erotischen Trieben der Menschen affirmativ gegenüberstanden oder diese zu unterdrücken suchten. Erst wenn diese Perspektive Nietzsches ernst genommen wird, ist es möglich, den Interpretationshorizont zu rekonstruieren, mit welchem sich Nietzsche der Geschichte der Religionen nähert. Bereits in seinem ersten Basler Jahr hat Nietzsche den Unterschied zwischen dem griechischen Polytheismus und dem Monotheismus, der die Letztverantwortung für den Kosmos einem Gott anlastet, thematisiert: „Eine Theodizee war kein hellenisches Problem, weil die Erschaffung der Welt nicht die Tat der Götter war.“ In diesem Zusammenhang nennt er es die „grosse Weisheit des Hellenismus“, dass „auch die Götter als der Ananke unterwürfig“ aufgefasst worden sind. Ganz im Sinne dessen, was er in seiner Basler Antrittsvorlesung über die Religion der Griechen gesagt hat,2 nennt er in der hier zitierten Nachlassaufzeichnung die „griechische Götterwelt“ einen „Schleier, der das Furchtbarste verhüllt“. Er nennt die Griechen „Künstler des Lebens“, die ihre Götter dazu gehabt hätten, „leben zu können, nicht um sich dem Leben zu entfremden“ (KSA, NF, 7, 77; vgl. KSA, DW, 1, 559ff.). Damit spricht er die grundlegende Unterscheidung zwischen dem, was er als die griechische Religion rekonstruiert hat und dem Christentum an, auf die er in weiterer Folge immer wieder zurückkommen wird. In der Tat zieht sich durch sein gesamtes Werk die Gegenüberstellung der griechischen, polytheistischen Religion der Antike, mit den monotheistischen Religionen, besonders dem Christentum,3 unter dem Blickwinkel des Nutzens und Nachteils der jeweiligen Religionen für das Leben. Wenn für ihn auch das antike Judentum dem Verdikt anheimfiel, so deshalb, weil er es als den Vorläufer des Christentums ansah und der radikale Monotheismus immer zu einer Sakralisierung der Moral führte.4 Nietzsches Sicht der jüdischen Tradition war von den verheerenden Auswirkungen des Monotheismus bestimmt, der anderen Religionen gegenüber keine Toleranz kannte und in seinem totalitären Charakter die gesamte okzidentale Tradition bestimmen sollte.5 2
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Wo er davon gesprochen hatte, dass „die Musen zu den trüben, geplagten böotischen Bauern niederstiegen […] in eine Welt voll düsterer Farben und Bilder, voll von allertiefsten und unheilbarsten Schmerzen“, und „tröstend von den schönen, lichten Göttergestalten eines fernen, blauen, glücklichen Zauberlandes“ erzählten (KGW, HK, 1, 268). Neben der Option für die ästhetische Weltauslegung in der Geburt der Tragödie, der ‚Psychologie‘ des Dionysischen, die Nietzsche in seiner Reflexion auf seinen philosophischen Erstling in Ecce homo deutlich gegen das Christentum setzt (KSA, EH, 6, 310) auch Aph. 114 von Menschliches, Allzumenschliches (KSA, MA-1, 2, 114f.), den Aph. 220 von Vermischte Sprüche (KSA, VM, 2, 473), den Aph. 49 von Jenseits von Gut und Böse (KSA, JGB, 5, 70) und die Apotheose des Dionyischen in Was ich den Alten verdanke in der Götzendämmerung (KSA, GD, 6, 154–160). Zur differenzierten Beurteilung von Nietzsches Stellung zum Judentum: Weaver Santaniello, Nietzsche und die Juden im Hinblick auf Christentum und Nazismus – nach dem Holocaust, in: Jakob Golomb (Hg.), Nietzsche und die jüdische Kultur, Wien 1998; Yirmijáhu Yovel, Nietzsche und die Juden. Die Struktur einer Ambivalenz, in: Ders., Sarah Kofman, Die Verachtung der Juden. Nietzsche, die Juden, der Antisemitismus, Berlin 2002. Die Auswirkungen des totalitären Charakters des Monotheismus hat jüngst der Heidelberger Ägyptologe Jan Assmann in seinen Büchern darzustellen versucht und war damit auf die radikale Kritik christlicher Theologen gestossen: Jan Assmann, Herrschaft and Heil; Politische Theologie in Altägypten, Israel and Europa, Darmstadt 2000; Ders., Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998 und besonders: Ders., Die Mosaische Unterscheidung oder der
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Sowohl die jüdisch-christliche Tradition, wie sie von Nietzsche konstruiert wird, wie auch die Reinvention der griechischen Religion sind Interpretationsleistungen Nietzsches, die im Sinne seines Diktums, es gäbe keine Wahrheiten sondern nur Interpretationen, aufzufassen sind.6 Nur vor dem Hintergrund einer zweitausend Jahre währenden Dominanz der monotheistischen Gottesvorstellung, die mit einer universalistischen Herdenmoral gekoppelt war, konnte die griechische Religion mit ihrer Vielzahl von Göttern, wieder so etwas wie Vorbildfunktion erlangen. Nietzsche hat natürlich genauso wie er seine Vorsokratiker7 erfand, auch seine griechische Religion und deren Eulogie auf das Leben neu interpretiert, da sich die Griechen der Pluralität der Götterwelt als Heilmittel gegen den lustfeindlichen Monotheismus gar nicht bewusst sein konnten.8 Gerade wie Sklaverei erst durch den Verlust vergangener Freiheit ihre gesamte Schärfe erhält, so konnte der griechische Polytheismus erst als das Reich mythischer Gewaltenteilung gepriesen werden, nachdem es verlorengegangen war. Nietzsches Lob ist vom Bewusstsein des Verlustes gekennzeichnet, den der gewaltsame Einbruch des jüdischchristlichen Monotheismus in die Weltgeschichte bedeutet hatte. Aktualisierung von Geschichte ist immer ein Akt der Gegenwart, wie dies der österreichische Philosoph Rudolf Burger formuliert hatte: „Das was gewesen ist, ist nicht, und es existiert als Imago nur dadurch, dass man es jetzt erzählt. Das Vergangene als Geschichte ist immer ein Modus der Gegenwart, es gibt keine vergangene Geschichte, Geschichte ist immer ein gegenwärtiges Phänomen.“9 Dieser Sachverhalt trifft sowohl für Nietzsches Eulogie auf den Polytheismus zu, wie auch für seine Interpretation des okzidentalen Monotheismus. So war seine Wertschätzung der griechischen Religion aus neuzeitlicher Perspektive formuliert, wenn er im Aph. 143 der Fröhlichen Wissenschaft als den größten „Nutzen des Polytheismus“ (KSA, FW, 3, 490) die Möglichkeit für das Individuum, sich sein eigenes Ideal aufzustellen, bezeichnete. In der „Erfindung von Göttern, Heroen und Übermenschen aller Art, sowie von Neben- und Untermenschen, von Zwergen, Centauren, Satyrn, Dämonen und Teufeln“ konnte Nietzsche im Rückblick eine „Vorübung zur Rechtfertigung der Selbstsucht und Selbstherrlichkeit des Einzelnen“ (ebd.) erblicken. Dem stellte er seine
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Preis des Monotheismus, München 2003. Zur Diskussion von Assmanns Thesen: Jürgen Manemann (Hg.), Monotheismus, Münster 2002. Zum Gedanken der Interpretation bei Nietzsche: Johann Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale Theorie der Auslegung im späten Nachlass, Berlin, New York 1982; Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, 2. um ein Vorwort erw. Auflage, Berlin, New York 1998 und die kritische Diskussion dieser Ansätze bei Johann Nepomuk Hofmann, Wahrheit, Perspektive, Interpretation. Nietzsche und die philosophische Hermeneutik, Berlin, New York 1994 und Michael Hofer, Nächstenliebe, Freundschaft, Geselligkeit. Verstehen und Anerkennen bei Abel, Gadamer und Schleiermacher, München 1998, 29–63. In der nachgelassenen Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (KSA, PHG, 1, 799–872). Im Hintergrund unserer Interpretationen steht Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-century Europe, Baltimore 1973, der alle Ausführungen über Geschichte als Metanarrationen versteht. Auch James Porter, Nietzsche and the Philology of the Future, Stanford 2000, und hier besonders das Kapitel After Philology: The Reinvention of Antiquity, stehen im Hintergrund unserer Ausführungen. Rudolf Burger, Kleine Geschichte der Vergangenheit: Eine pyrrhonische Skizze der historischen Vernunft, Graz 2004, 119.
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Sichtweise des Monotheismus entgegen, den er als Glauben „an einen Normalgott, neben dem es nur noch falsche Lügengötter gibt“ kennzeichnete, worin er eine Gefahr für die Menschheit erblickte: „da droht ihr jener vorzeitige Stillstand, welchen, so weit wir sehen können, die meisten anderen Tiergattungen schon längst erreicht haben“ (ebd.). Seine berühmte Formulierung, dass der Mensch das „noch nicht festgestellte Thier“ (KSA, JGB, 5, 81) sei, klingt im Lob des Polytheismus in den Schlussworten dieses Paragraphen an: „Im Polytheismus lag die Freigeisterei und Vielgeisterei des Menschen vorgebildet: die Kraft, sich neue und eigene Augen zu schaffen und immer wieder neue und noch eigenere: so dass es für den Menschen allein unter allen Tieren keine ewigen Horizonte und Perspektiven gibt“ (KSA, FW, 3, 490f.). Diese Ausführungen müssen wohl im Hinblick auf ein kommendes Programm der Umwertung aller Werte, für einen neuen Polytheismus denn als Interpretation der griechischen Religion gelesen werden. Ganz in der Tradition Nietzsches haben in der jüngeren Zeit Hans Blumenberg und Odo Marquard ihr Loblied auf den Polytheismus gesungen, indem sie die in ihm enthaltene Gewaltenteilung als Gegengewicht zu einer absoluten Wahrheit, die den Menschen versklavt, gepriesen haben. Marquards in den letzten Jahren vieldiskutierte Ausführungen zum Zusammenhang von Individualität und Polytheismus10 befinden sich deutlich in der Nachfolge Nietzsches und nehmen auch Motive aus Hans Blumenbergs Arbeit am Mythos auf,11 besonders dessen zentrales Motto ‚nemo contra deum nisi deus ipse‘ – ‚gegen Gott nur ein Gott‘. Schon Blumenberg hatte in seinem Werk Arbeit am Mythos, im Zusammenhang mit dem Polytheismus von einer ‚Balance‘ gesprochen, nämlich dem Pantheon als einem Organ der Gewaltenteilung. Für ihn kann „in der mythischen Polykratie […] der eine Gott gegen den anderen sein“ ohne dass die Vormachtstellung der einen Gottheit die „Vernichtung alles anderen“ impliziere: „Im Polytheismus ist, was gegen einen Gott ist, um dies sein zu können, auch ein Gott, aber nicht das Gegengöttliche“. Von daher bestimmt Blumenberg den metaphysischen Dualismus nicht als Reduktion des Polytheismus, sondern als die aus dem Problem der Theodizee entspringende ‚Selbstzerspaltung‘ des Monotheismus.12 Man sieht, Marquards Lob des Polytheismus steht, wie Blumenbergs diesbezügliche Ausführungen, mit denen es fast deckungsgleich ist, in der Tradition Nietzsches. Erst vor dem Hintergrund des weltableh10
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Etwa die pointierte Formulierung: „Das Individuum entsteht gegen den Monotheismus. Solange […] viele Götter mächtig waren, hatte der einzelne – wo er nicht durch politische Monopolgewalt bedroht war – ohne viel Aufhebens seinen Spielraum dadurch, dass er jedem Gott gegenüber immer gerade durch den Dienst für einen anderen entschuldigt und somit temperiert unerreichbar sein konnte […] ein Minimum an Chaos ist die Bedingung der Möglichkeit der Individualität […] Darum hat nicht der Polytheismus den Einzelnen erfunden: Er brauchte es nicht, weil noch kein Monotheismus da war, der den Einzelnen extrem bedrohte. Der Monotheismus seinerseits aber hat nicht selber den Einzelnen entdeckt, sondern er – freilich gerade er – hat die Entdeckung des Einzelnen nur provoziert, weil zuerst er – der Monotheismus – dem Einzelnen wirklich gefährlich wurde“ (Odo Marquard, Lob des Polytheismus, in: Ders., Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, 108). „Götter, in dem es viele sind, haben ihre Zuständigkeiten untereinander, das System ihrer Stärken und Schwächen. Da sie ursprünglich Gewalten und Mächte sind, sind sie wie Gewalten und Mächte ihrer Natur noch unbegrenzt, sofern nicht andere Gewalten und Mächte sie begrenzen“ (Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt/M. 1979, 597). Ders., ebd. 625f.
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nenden, erosfeindlichen Monotheismus des Christentums und dessen Sakralisierung der Moral konnte das antike griechische Heidentum in neuem Glanz erstrahlen. Nietzsche sah im griechischen, heidnischen Kult einen Ausdruck fröhlicher Dankbarkeit, eine Heiligung des Lebens in allen seinen Äußerungen, in dem das grausame Schicksal, die moira nicht als Motiv der Weltverneinung gedeutet wurde. Dank seines polytheistischen Charakters ist das heidnische Denken imstande, die Irrationalität des Weltverlaufs mit seiner Härte und Dunkelheit als etwas zu begreifen, das ihm untrennbar angehört und sein göttliches Sein mit ausmacht. Gerade in der Fähigkeit, die divergenten Kräfte der Welt zu respektieren, gründete sich jener Wirklichkeitssinn, den die Interpretation Nietzsches an der griechischen Religion so sehr schätzte. Dem griechischen Mythos kam die Aufgabe zu, das Unbekannte, Unbenannte mit Namen zu versehen, in Geschichten anzudeuten und so dem Chaos eine Ordnung aufzuprägen, die es an sich nicht hatte. Die Griechen erdichteten sich ihre Götterwelt, um den undurchschaubaren Weltverlauf zu verdecken und die griechische Heiterkeit bestand darin, die olympischen Götter zu erfinden, um das Unerträgliche erträglich zu machen (vgl. KSA, GT, 1, 35). Die Götter Griechenlands standen nicht jenseits der moira, dem Schicksal; diese Tatsache war es, dass sie von den Menschen als so nahe empfunden werden konnten.13 Über allem stand der Kosmos, jene Welt, die die Griechen trotz aller Unbeständigkeit als Ordnung empfanden und in dem Leid und Vergehen, aber auch Freude und Stolz ihre Rechtfertigung erhielten. Die Welt war Kosmos, in ihm lebte der Grieche, in ihm erfand er seine Götter, die ihm aber untergeordnet, da sie ihn nicht erschaffen hatten und seiner Ananke unterworfen waren. Mit den griechischen Göttern konnte der Mensch leben, weil sie keinen Absolutheitsanspruch erhoben und keine moralischen Forderungen, wie der Gott des Monotheismus, der beanspruchte, das Leben der Menschen zu bestimmen und ihnen eine Moral auferlegte, die sie in Widerspruch zu ihren eigenen Erfahrungen und Bedürfnissen brachte. Die Götter Griechenlands rechtfertigten diese Welt, indem sie in ihr lebten, untertan ihren eigenen Leidenschaften und natürlichen Trieben, die sie mit dem Kosmos verbanden und nicht trennten. Im dritten Abschnitt von Menschliches, Allzumenschliches, mit dem Untertitel Das religiöse Leben hat Nietzsche seine Sicht der griechischen Götter auf die Formel gebracht: „Die Griechen sahen über sich die homerischen Götter nicht als Herren und sich unter ihnen nicht als Knechte, wie die Juden. Sie sahen gleichsam nur das Spiegelbild der gelungensten Exemplare ihrer eigenen Kaste, also ein Ideal, keinen Gegensatz des eigenen Wesens. Man fühlte sich miteinander verwandt, es besteht ein gegenseitiges Interesse, eine Art Symmachie. Der Mensch denkt vornehm von sich, wenn er sich solche Götter gibt und stellt sich in ein Verhältnis, wie das des niedrigen Adels zum höheren 13
Neben den genannten Stellen auch Aph. 111 von Menschliches, Allzumenschliches, in dem die Konzeption der moira als „Dämmern“ der Vorstellung eines natürlichen Kausalzusammenhanges bezeichnet wird (KSA, MA-1, 2, 112). Später bringt Nietzsche die Konzeption der moira mit seiner Lehre des amor fati in Zusammenhang, so, wenn er in Der Wanderer und sein Schatten gegen die „Angst vor dem Fatum“ einen Fatalismus der Stärke mit den Worten anpreist: „Du selber, armer Aengstlicher, bist die unbezwingliche Moira, welche noch über den Göttern thront“ (KSA, WS, 2, 580) oder sich die programmatische Notiz macht, die „antike Weltbetrachtung“ sei wiederzugewinnen (KSA, NF, 8, 509).
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ist“ (KSA, MA, 2, 117). In seiner Interpretation der griechischen Religion ging es ihm um eine Rehabilitation der Sinnlichkeit und des Eros, die er in der zweitausendjährigen Geschichte des Christentums negiert und an den Pranger gestellt sah. „Den Griechen war deshalb das geschlechtliche Symbol das ehrwürdige Symbol an sich, der eigentliche Tiefsinn innerhalb der ganzen antiken Frömmigkeit“ (KSA, GD, 6, 159) und: „Erst das Christenthum […] hat aus der Geschlechtlichkeit etwas Unreines gemacht: es warf Koth auf den Anfang, auf die Voraussetzung unseres Lebens“ (KSA, GD, 6, 160). Es konnte Nietzsche in seiner Sicht der griechischen Religion also nicht um ein wahres Verständnis der Griechen bezüglich ihrer Religiosität gehen, da dieses naive Verhältnis zur Götterwelt für immer verschwunden war, sondern um ein religiöses Verhältnis zur Welt, das einen Gegenmythos zur Moderne darstellen konnte, in dem die Sinnlichkeit der natürlichen Welt akzeptiert, ja, sogar vergöttlicht wurde. – Diese Sinnlichkeit wurde geheiligt, weil sie von den Göttern selbst gelebt wurde. Nicht einmal Zeus ist allmächtig, er hat nur eine ganz bestimmte Stellung inne, von der aus er zwischen den Interessen verschiedener Gottheiten vermittelt und versucht, eine gewisse Stabilität und Ordnung zu erhalten. Aber auch Zeus ist von Leidenschaften geleitet, er agiert sozusagen jenseits von Gut und Böse, er ist ein kinderzeugender Gott, verfolgt von einer eifersüchtigen Gattin, die ebenfalls dem Götterhimmel angehört. Mit seinen zahlreichen Liebesabenteuern, mit seinen Entführungen und Liebschaften rechtfertigten die Griechen ihre eigene Erotik, die nicht durch göttliche, moralische Gebote gefesselt war. So ist Keuschheit in der griechischen Kultur kein prinzipieller Wert. Auch wenn es Priesterinnen und Priester gibt, die sich ihr verpflichten, so ist dies nur ein temporäres Phänomen. Die Liebe zur Welt, trotz all ihrer Schrecken, war ein Bestandteil der griechischen Kultur; das Leben nach dem Tod war weder sicher noch erstrebenswert. Der Hades ist das Reich der Schatten, die auf Erinnerung und Andenken der Hinterbliebenen angewiesen sind, und wo das Gedächtnis der Lebenden verschwindet, da verlieren sich auch die Gestalten der Verstorbenen. Das göttliche Weltregiment hat nicht das Wohlergehen oder die Erlösung des Menschen zum Ziel, sondern den Lauf der Welt selbst. Daraus erklärt sich das Verhältnis der Götter zur Welt. „Das Göttliche ist weder eine rechtfertigende Erklärung, noch Unterbrechung und Aufhebung des natürlichen Weltlaufs: es ist der natürliche Weltlauf selbst.“14 Für die Griechen wurde nicht die Existenz der Götter zum Problem, sondern die Frage, wie man sich zu ihnen verhalten sollte. Die Götter waren der Welt gegenüber nicht transzendent, sie konstituierten das Gewebe ihrer Wirklichkeit. So konzentrierte sich die griechische Religion auf das Problem eines menschenwürdigen Daseins in der Welt. Das Heidentum kannte keine Aussicht auf Erlösung und ewiges Leben. Leben und Licht gab es nach dieser Vorstellung nur in der bestehenden Welt; im Tod vergehen die Seelen im unterweltlichen Nichts. Der harte und einfache Ernst dieser Überlegungen nimmt die Vergänglichkeit des Menschenwesens an, ohne Stütze und Zuflucht in Bildern des jenseitigen Lebens zu suchen. Für den Menschen, der seinen Tod akzeptieren kann, und mit diesem Bewusstsein leben muss, ist diese letzte Grundlosigkeit mit dem wesenhaften Verlauf der Welt identisch, und dieser paradoxe Zusammenhang wurde in der griechischen Religion nicht verdeckt, sondern heroisiert. Das Aushalten der Absurdität des Daseins und die Verweigerung einer Flucht aus dieser Erkenntnis, machte für Nietzsche die Grösse 14
Walter F. Otto, Die Götter Griechenlands, Frankfurt/M. 1983, 168.
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der griechischen Weltsicht aus, weil sie ermöglichte, das Leben in all seiner Intensität anzuerkennen und nicht zu verleugnen. Dieses Denken, das sich permanent seiner Tragik bewusst war, konstituierte für Nietzsche den Grundpfeiler griechischen Weltverhaltens: „Die antike Weltbetrachtung wieder gewinnen! Wirklich die Moira über allem, die Götter Repräsentanten wirklicher Mächte! Antik werden“ (KSA, NF, 8, 509). Dionysischen Pessimismus nannte Nietzsche jene Welthaltung, in der das Leben trotz seines absurden Charakters bejaht und ausgehalten wird. So war der Kosmos die Bezeichnung, mit der die Griechen die Welt konzipierten, eine Ordnung, der gegenüber es kein Jenseits gab. Die Kosmologie der frühen griechischen Denker war schon als solche eine natürliche Theologie und als Kosmotheologie Thema der Philosophie. Das Göttliche war in der griechischen Tradition kein personenhaftes Subjekt außer- und oberhalb dieser Welt, sondern ein Prädikat dieser selbst.15 Die Religion im Sinne der Anerkennung eines transzendenten Gottes, aufgrund eines innerlichen Glaubensbezugs, war den Griechen nicht bekannt. Auch die anderen heidnischen Religionen begriffen ihr Verhältnis zu den Göttern keineswegs als Glaube. Noch im alttestamentarischen Judentum war der Gehorsam ein weitaus wichtigerer Begriff. Ins Zentrum der religiösen Erfahrung tritt der Glaube erst mit dem Christentum, mit der Hoffnung auf Auferstehung, neue Schöpfung und ewiges Leben. Von nun an ist der absolute Sinn der Einsicht unzugänglich und kann von der menschlichen Vernunft nicht begriffen werden. Der christliche Glaube wird von der Überzeugung getragen, dass der einzige Gott ein Gott der Güte ist, der die Welt im Interesse des Menschen geschaffen hat. Dass der Mensch im Zentrum des Heilsplanes Gottes steht, macht eine der Quintessenzen des christlichen Glaubens aus. Der Preis, den die Menschen für ihre Erlösungshoffnungen und Sinnkonstruktionen bezahlen müssen ist allerdings, aus der Sicht der polytheistischen Religionen, hoch. Die Entweltlichung des Göttlichen und die Entgöttlichung des Weltlichen ist ein Charakteristikum monotheistischer Religionen. Gerade die Aussicht auf eine eschatologische Überschreitung der Endlichkeit und auf die zukünftige Befreiung des Menschen von der Macht der Welt, setzte allmählich die Logik des Nihilismus in Gang. In der Welt der heidnischen Götter konnte sich die Nihilismusfrage nicht stellen, weil eine Grundvoraussetzung fehlte, die Sehnsucht nach dem Absoluten und nach individueller Erlösung. Mit der Verlegung der absoluten Sinnhaftigkeit in die Transzendenz, wie sie im Monotheismus vollzogen wurde, kam es zu einer strikten Trennung von Welt und Gott; Gott wurde zum absoluten transzendenten Subjekt erhoben, der Kosmos entgöttlicht und zum Objekt degradiert. Hatte die jüdische Tradition in ihrer Konstruktion von Jahve die Momente eines Nationalgottes mit dem des Schöpfergottes vereinigt, so geschah dies, um den bedrohten jüdischen Stämmen eine Identität zu verleihen, die es ihnen ermöglichte, die katastrophalen geschichtlichen Ereignisse zu überleben und überdies noch als sinnvoll zu begreifen. In der Schaffung jenes transzendenten Gottes, der alleinige Verehrung beanspruchte, sein Volk eifersüchtig überwachte und ihm moralische Gebote gab, die von nun an als heilig gelten sollten, sah Nietzsche in der Frühzeit des Judentums eine schöp15
Dazu Karl Löwith, Die beste aller Welten und das radikal Böse im Menschen, in: Ders., Vorträge und Abhandlungen. Zur Kritik der christlichen Überlieferung, Stuttgart 1966, aber auch Louis Dupré, Passage to Modernity. An Essay in the Hermenentics of Nature and Culture, Yale 1993.
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ferische Kraft, die der Affirmation des Lebens noch unter schwierigsten Bedingungen dienen sollte. Nietzsche war sich der Kosten, die diese Interpretationsleistung dem jüdischen Volk brachten bewusst, aber er sah in dieser Kreation den Versuch, der Übermacht der Geschichte standzuhalten, die das äußerste Leid der Vertreibung und Versklavung erträglich machen sollte. Mit der Erfindung des Christentums durch Paulus,16 sah Nietzsche jedoch den Vorgang gegeben, der die bisherigen obersten, heidnischen Werte entwertete und den Monotheismus mit einer universalistischen Herdenmoral verband, der die Geschichte des Okzidents, nach der Institutionalisierung durch Konstantin und die späteren römischen Kaiser bestimmen sollte. In der Folge der Interpretation des Christentums durch Paulus, kommt es zu jener Entwertung der Welt, die der Nihilismusproblematik erst ihre Virulenz verleihen sollte. Die Lehre von der ‚creatio ex nihilo‘ bedeutete, dass die Welt durch einen allmächtigen, willkürlichen Schöpfungsakt aus dem Nichts erschaffen wurde und eines Tages wieder im Nichts untergehen sollte. Damit wurde das, was in der griechischen Tradition die einzige Realität bedeutete, negiert, so dass sich der Sinn nur jenseits der Welt konstituierte und der Kosmos auf entgöttlicht und zur bloßen Materie degradiert wurde. Oftmals wurde in den bisherigen Nietzscheinterpretationen nicht genug auf die Tatsache hingewiesen, dass bei Nietzsche in der Entgöttlichung des Kosmos, in der Trennung von Welt und einzigem Gott, der eigentliche Beginn des Nihilismus zu suchen ist. In seinem Essay Der Mensch in der Revolte, hat dies Albert Camus auf die einfache Formel gebracht: „Die moralischen Verhaltensweisen, wie sie das Christentum empfiehlt, ist an sich ein Zeichen von Dekadenz. Sie will an die Stelle des Menschen aus Fleisch und Blut den Abglanz eines Menschen setzen. Sie verurteilt die Welt der Leidenschaften […] im Namen einer harmonischen, ganz und gar imaginären Welt. Wenn der Nihilismus gekennzeichnet ist durch die Unfähigkeit zu glauben, so besteht sein bedenklichstes Symptom nicht im Atheismus, sondern in der Unfähigkeit zu glauben was ist, zu sehen, was geschieht und zu leben was sich darbietet. Diese Schwäche liegt jedem Idealismus zugrunde. Die Moral hat keinen Glauben an die Welt.“17 Nietzsche sah in der Erfindung des Gottes des Christentums, der zugleich eine neue moralische Weltinterpretation impliziert, die erste Entwertung aller Werte, die Vernichtung der lebensbejahenden Vorstellungen der griechischen Antike, womit die Geburtsstunde des europäischen Nihilismus geschlagen hatte. Nietzsche war sich immer bewusst, dass die Götter, als Produkte menschlicher Phantasien, nur solange das menschliche Leben beeinflussen konnten, solange sie im menschlichen Kontext eine Rolle spielten, so dass sie auch im Bewusstsein der Menschen sterben konnten. Also bestand für Nietzsche immer Klarheit darüber, dass Götter sterblich waren, wie dies Johann Figl in einem seiner letzten Aufsätze in den Nietzsche-Studien betont hat.18 Oft wird in der christlichen Tradition vergessen, dass die griechischen Götter nicht verschwanden, weil sie keinen Glauben mehr fanden, sondern dass sie durch eine politische Theologie der Macht getötet wurden, als das Christentum zur Staatsreligion des 16 17 18
Zu Nietzsches Sicht von Paulus: Jörg Salaquarda, Dionysos gegen den Gekreuzigten. Nietzsches Verständnis des Apostels Paulus, in: Ders. (Hg.), Nietzsche, Darmstadt 1980, 288–322. Albert Camus, Der Mensch in der Revolte, Hamburg 1969, 57. Johann Figl, Tod Gottes und die Möglichkeit neuer Götter, in: Nietzsche-Studien, 29 (2000).
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Römischen Reiches erhoben wurde. Durch Gewalt wurden die heidnischen Tempel und Heiligtümer zerstört und die Ausübung der antiken Religion verboten. Was keine polytheistische Religion je getan hatte, die Götter der Anderen zu Dämonen zu erklären, das fand nun statt, in dem sich die Götter der Antike zu Fratzen des Satans verwandelten. Dass Religionen oft eng an politische Akte gebunden sind, wird in der Geschichte des Okzidents oft verdrängt. Evident wird aus diesen Ausführungen, dass mit der Entwertung des Diesseits auch eine Entwertung aller menschlichen Regungen einherging, die ihre Lust aus der Welt und dem In-der-Welt-sein bezogen. Dies ist zumindest in meiner Interpretation Nietzsches Auffassung. Stolz und sexuelle Begierde, raffinierte Esssucht, aber auch der Begriff der Freundschaft im griechischen Sinne, fielen dem Verdikt der christlichen Moral zum Opfer. Vertrauen in die eigene Kraft und die Lust des Fleisches wurden nun zu Hauptgegnern der neuen Organisation Kirche. Ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich behaupte, dass der Hauptgegner des institutionalisierten Christentums die menschliche Geschlechtlichkeit qua Sexualität wurde, da sie den Menschen am stärksten an seine Welt band, da sie nur in ihr ihre Erfüllung finden konnte: „Das Christentum gab dem Eros Gift zu trinken, er starb zwar nicht daran, aber entartete zum Laster“ (KSA, JGB, 5, 102). In meiner Interpretation ist dies einer jener Schlüsselsätze, von dem aus man Nietzsches Stellung zum christlichen Monotheismus interpretieren muss. Der Polytheismus der Griechen implizierte eine differenzierte Stellung zur menschlichen Sexualität, da er beinhaltete, dass die menschlichen Triebe nicht auf ein einziges Triebziel, die Monogamie, reduziert werden könne. Bezeichnend für diese Auffassung ist der Ausspruch des Demosthenes: „Wir (Männer) haben Hetären für unser Vergnügen, Pornai für das tägliche Bedürfnis des Körpers und Gattinnen für die Fortpflanzung und die verlässliche Fürsorge für unser häusliches Wohlergehen. Für die wahre Liebe aber haben wir unsere Knaben.“19 Dies sind Affirmationen altgriechischer Provenienz, die Gift für die Kastrationsmoral des christlichen Okzidents sind und doch meine ich, dass dies Nietzsches geheime Botschaft ist. Denn Rehabilitierung der Sinnlichkeit bedeutet Rehabilitierung der Erotik und Sexualität in allen ihren Spielarten, von denen Nietzsche nur träumen, sie aber nicht leben konnte. Dabei sollte gerade nicht vergessen werden, dass die ehebrecherische Göttin Aphrodite nicht nur die Lust der Männer, sondern auch die der Frauen rehabilitierte: „Von der als göttlich empfundenen Kraft der aphrodisischen Sexualität waren sämtliche Lebewesen und alle Frauen unterschiedslos abhängig. Ehefrauen versprachen sich nicht anders als Prostituierte von der Göttin jene erotische Anziehungskraft, die ihre Ehemänner oder Liebhaber an sie binden sollten. So waren es in erster Linie Frauen, die sich an Aphrodite wandten, um ihre Hilfe ansuchten und sich, nach entsprechender Gewährung, bei ihr bedankten.“20 Nietzsche projizierte in die griechische Gesellschaft der Antike eine erotische Freizügigkeit, die diese in dieser Form sicherlich nicht hatte, die in seiner Imagination aber Vorbildfunktion für seine Umwertung aller Werte haben sollte. Nietzsches aktiver Nihilismus, also die Zerstörung der bestehenden christlichen Werte, sollte den Weg freimachen 19 20
Demosthenes, Rede gegen Neaira, zit. nach S. J. Bellinger, Im Himmel wie auf Erden. Sexualität in den Religionen der Welt, München 1993, 121. Ekkehart Rotter, Gernot Rotter, Die Geschichte der Lust – zwischen Himmel und Hölle, Düsseldorf 2002, 54.
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für Werte, wie sie nach seinem Verständnis bereits in der griechischen Antike geherrscht hatten. Es ging unserem Philosophen aber um die Wiederherstellung eines tragischen Weltverständnisses, das imstande war, dem Leid und Schmerz dieser Welt standzuhalten, ohne sich in ein Jenseits zu flüchten. Das heißt nicht, dass die griechische Religion und Gesellschaft wiederholt werden könnte, aber es gab eine Einstellung zur Welt, die diese Daseinshaltung imitieren könnte. Meiner Auffassung nach ist es diese Haltung zum Dasein, die in der Metapher des Dionysos verkörpert ist, eine Gestalt, die nicht nur in Nietzsches Frühwerk von zentraler Bedeutung ist, sondern auch ein Schlüssel zum Verständnis von Nietzsches späteren Schriften. Nietzsches Sichtweise zur Differenz von Polytheismus und Monotheismus, Heidentum und Christentum hat wohl niemand in präziserer Form auf den Begriff gebracht, als Walter F. Otto in seinem Aufsatz Das Weltgefühl des klassischen Heidentums, der kaum noch zitiert wird, weil er in unserer Zeit den Gipfel der political incorrectness ausdrückt. Gerade deshalb sollen seine Sätze zum Abschluss meiner Ausführungen zitiert werden. „Die klassische antike Kultur ist durchaus männlich und durchaus heidnisch. Die neuzeitliche Kultur Europas ist weiblich und christlich. Christlich nicht im Sinne eines kirchlichen Glaubens oder einer persönlichen Frömmigkeit. Davon haben sich viele losgesagt. Nein: christlich im Sinne einer Seelenstimmung, die dem antiken Weltgefühl den Untergang bereitet hat und deren Religion das Christentum geworden ist und werden musste.“21 Einige Sätze später nennt er ganz im Sinne Nietzsches Christentum und Heidentum zwei religiöse Einstellungen, die zwei völlig verschiedenen Menschentypen entsprechen. Die Merkmale des Heidentums sieht er in der Männlichkeit, der aristokratischen Gesinnung, in der „Vornehmheit des Menschen gegen sich“, im Glauben des Menschen „an die ursprüngliche Tüchtigkeit seiner Natur, dass sie der wahren Einsicht, und das heisst, der Natur selbst, folgen wird, während das Schlechte nur eine Narrheit unaufgeklärter oder, schlimmstenfalls minderwertriger Geister ist“. Dem stellt er seine Sicht des Christentums gegenüber, das als Gegenteil zum heidnischen Weltverhältnis und Menschenbild gekennzeichnet sei durch die Ideen der Würdelosigkeit des Menschen, demokratischer Geistigkeit, in der das Individuum auf Kosten der Achtung vor dem Kosmos aufgewertet sei, weil die Welt, von einer Gottheit aus dem Nichts erschaffen, ihr Sein folglich nicht aus sich selbst haben könne. Das ergibt schließlich für das christliche Menschenbild resp. das Selbstverhältnis des Menschen: „Zweifel in sich selbst; Bedürfnis der Selbsterniedrigung und bedingungslose Hingabe an ein leitendes Wesen; Weigerung, eine Wirklichkeit anzuerkennen, deren Plan nicht auf den Menschen gerichtet ist; Verlangen nach einer einzigen, göttlichen Persönlichkeit, in deren Händen die gesamte Natur mit allen ihren Gestaltungen und Kräften als willenloses Werkzeug ruht, und deren höchste Gedanken allein dem Menschen gelten, und zwar jedem, ohne Unterschied, weil die Erfahrung des eigenen Unwertes und des alleinigen Wertes der liebenden Hingabe alle Menschen gleichmacht.“22
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Walter F. Otto, Das Weltgefühl des klassischen Heidentums, in: Ders., Mythos und Welt, Darmstadt 1963, 21. Ders., ebd. 24f.
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„Unwälzbar ist der Stein ‚es war‘: ewig müssen auch alle Strafen sein!“ Nietzsches Auslegung des Monotheismus als Rache am Leben
I. Vorbemerkungen Dieser Text ist in der Überzeugung geschrieben, dass Friedrich Nietzsche nur eine einzige ‚wirkliche‘ Lehre hat, diejenige des ‚Willens zur Macht‘. Metaphysische Grundüberzeugungen gibt es nach diesem Prinzip nicht. Weder der ‚Übermensch‘ noch die ‚Ewige Wiederkehr des Gleichen‘ haben in Nietzsches Augen einen absoluten Wahrheitsanspruch. Von ihnen als Lehren mit einem solchen Anspruch auszugehen, birgt sogar die Gefahr in sich, die Terminologien durcheinander zu bringen und später in ein System zu gelangen, in welchem die Menschen an einer metaphysischen Idee des Übermenschen gemessen werden. Die gesamte Terminologie Nietzsches lässt sich von seinem Verständnis des ‚Willens zur Macht‘ und der ‚Welt als Vergänglichkeit‘ herleiten, aus dem noch frühen Begriff der ‚plastischen Kraft‘, der später in einen Gesamtkontext eingegliedert wird, in welchem die Unterscheidung zwischen Handelndem und Handlung, zwischen Kraft und Kräftigem verneint wird. In diesem Text, der im Rahmen der Thematik Nietzsche und die Religionen verfasst worden ist, möchte ich vor allem darauf eingehen, wie aus Nietzsches Verständnis der ‚Welt als Vergänglichkeit‘ die Entwicklung der Religionen und der Moral ihren natürlichen Verlauf genommen hat und im Monotheismus einen Stillstand erfuhr. Als Verbindungsstück zwischen der Vergänglichkeit und den Religionen als auch der Moral wählte ich den Begriff der Rache, mittels welchem eine präzise Trennlinie gegeben ist zwischen dem, was Nietzsche unter ‚natürlich‘ versteht und dem, was in seinen Augen ‚Widernatur‘ ist. Die abschließende kurze Darstellung der Alternative Zarathustras ist ebenfalls stark an der Befreiung des Menschen von der Rache orientiert und lässt andere, zweifellos wichtige Aspekte, außen vor. Ich beginne damit, als Grundlage den Begriff der ‚Vergänglichkeit‘ und der ‚plastischen Kraft‘, beides Vorläufer des ‚Willens zur Macht‘, herauszuarbeiten, um von ihnen aus die Religionen als auch Nietzsches Menschenbild herzuleiten. Ich habe mich bewusst auf die Religionsentwicklung beschränkt. Die Lehre vom Willen zur Macht ist wesentlich differenzierter als sie innerhalb dieses Kontextes dargestellt werden wird. Ich beschränke mich, vor allem in den ersten Teilen des Textes, auf den Begriff der ‚plastischen Kraft‘ und den Umgang mit der ‚Vergänglichkeit‘, um aus diesen sehr deutlichen
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Begriffen zu einer Genealogie der Moral und der Religionen zu gelangen, welche auf nicht mehr als auf dieser Grundannahme basiert, dass man an der Vergänglichkeit leidet oder sie bejaht.
II. Erkenntnis der Vergänglichkeit Der Mensch ist nach Nietzsche jederzeit ein potenziell leidendes Wesen. Er verfügt über einen ‚historischen Sinn‘, der es ihm sowohl ermöglicht, als auch aufzwingt, sich an vergangene Dinge zu erinnern und sich selbst als ein vergängliches Wesen zu erleben. Bereits in den Unzeitgemäßen Betrachtungen bestimmt er diese Erfahrung der Vergänglichkeit als das Urleiden des Menschen, als eines, welchem er notwendig begegnet, sobald er als Kind jenes Losungswort ‚es war‘ begreift, dass „mit dem Kampf, Leiden und Ueberdruss an den Menschen herankommen, ihn zu erinnern, was sein Dasein im Grunde ist – ein nie zu vollendendes Imperfectum. Bringt endlich der Tod das ersehnte Vergessen, so unterschlägt er doch zugleich dabei die Gegenwart und das Dasein und drückt damit das Siegel auf jene Erkenntniss, dass Dasein nur ein ununterbrochenes Gewesensein ist, ein Ding, das davon lebt, sich selbst zu verneinen und zu verzehren, sich selbst zu widersprechen“ (KSA, HL, 1, 249). Nietzsche benutzt im Frühwerk zur Beschreibung des möglichen Umgangs mit der ‚Vergänglichkeit‘ den Begriff der ‚plastischen Kraft‘, ein individuell unterschiedlich ausgeprägtes Vermögen, durch welches der Mensch in der Lage ist, bereits Geschehenes einem herrschenden Gedanken, somit einem individuellen Gesamtkontext unterzuordnen und zu einem notwendigen Teil seiner Gesamtpersönlichkeit umzugestalten. Mittels dieses Vermögens muss man verstehen, sich „Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben“ (ebd., 251). Verfügt man über eine starke Ausprägung ‚plastischer Kraft‘, so empfindet man keine ‚unwälzbaren Steine‘ in der Vergangenheit, sondern lediglich Wegpunkte und Stufen, über die man hinweg gestiegen ist, um zu dem zu gelangen, was man ist. Den Menschen, die eine hohe ‚plastische Kraft‘ besitzen, können „die wildesten und schauerlichsten Lebensunfälle und selbst Thaten der eigenen Bosheit so wenig anhaben, dass sie es mitten darin oder kurz darauf zu einem leidlichen Wohlbefinden und zu einer Art ruhigen Gewissens bringen“ (ebd.). In seinem Roman Verbrechen und Strafe beschreibt Fjodor Dostojewski eine damit nahezu übereinstimmende Theorie, die er seinem Hauptcharakter Raskolnikoff in den Mund legt. Dieser nutzt als veranschaulichendes Beispiel für ‚plastische Kraft‘ den in Nietzsches Augen spätestgebornen Menschen, den es je gegeben hat, die merkwürdige Synthesis von Unmensch und Übermensch (vgl. KSA, GM, 5, 288), Napoleon: „der wahre Herrscher, dem alles erlaubt ist, zerstört Toulon, veranstaltet ein Gemetzel in Paris, vergisst eine Armee in Ägypten, vergeudet eine halbe Million Menschen im russischen Feldzug und setzt sich in Wilna mit einem Calembour darüber hinweg; und ausgerechnet er wird postum als Gottheit verehrt – also war ihm alles erlaubt.“1 Menschen, mit geringer ‚plastischer Kraft‘ scheitern an sich selbst, ähnlich dem bleichen Verbrecher, der sich fortan nur noch als „seiner That Thäter“ (KSA, Za, 4, 46) be1
Fjodor Dostojewski, Verbrechen und Strafe, Frankfurt/M. 2000, 370.
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trachten und sich aufs tiefste verachten muss, ein Beispiel dafür, inwiefern die ‚Vergänglichkeit‘ über die Person Herr werden kann. Solche Menschen mit schwacher Ausprägung plastischer Kraft erleben die Vergänglichkeit als eine Qual, als deren ohnmächtiger Sklave man sich begreift. „Alles vergeht, also ist alles Wert zu vergehen!“ (ebd., 180). So predigt es der Wahnsinn im Zarathustra und beschreibt die Entstehung von Rachegefühlen durch Verzweiflung über die Vergänglichkeit. Im Zarathustra spricht Nietzsche daher von einer Grundtendenz des Selbst, über sich hinaus zu schaffen und auf ein Ziel hin zu arbeiten, so dass jedes Bruchstück und Rätsel, welches in der Vergangenheit liegt, als Teil des Weges zum selbst gesetzten Ziel eingeordnet werden kann (ebd., 181).
III. Götter erschaffen Diese Zielsetzung war jedoch keineswegs ursprünglich eine individuelle, sondern das Resultat eines langen Prozesses, an dessen Anfang die Völker im Umfeld vieler anderer unabhängiger Völker standen. Nietzsche beschreibt im Aph. 143 der Fröhlichen Wissenschaft wie der Trieb nach individueller Zielsetzung zunächst als ein Irrsinn betrachtet werden musste, ja sogar das Selbstverständnis als Individuum, und sich dieses ausschließlich in der Schöpfung von Göttern äußern konnte. Das Nebeneinander-Existieren der Götter war die erste Form der Verehrung von Individuen. Gleichzeitig boten sie als völkerspezifisches Ideal des Menschen eine Richtlinie unter welcher man stärker zu werden trachtete. Die eigenen Werte wurden als gottgewollt und gefordert betrachtet und mussten an immer neuen Widerständen weiter gestärkt werden. Ein Volk musste und wollte in der Lage sein, das Schwerste auf sich nehmen zu können um seiner „Stärke froh zu werden“ (ebd., 29). Der Gott wurde zum Selbstverständnis des Volkes: „Ein Volk, das noch an sich selbst glaubt, hat auch noch seinen eignen Gott. In ihm verehrt es die Bedingungen, durch die es obenauf ist, seine Tugenden, – es projicirt seine Lust an sich, sein Machtgefühl in ein Wesen, dem man dafür danken kann. Wer reich ist, will abgeben; ein stolzes Volk braucht daher einen Gott, um zu opfern … Religion, innerhalb solcher Voraussetzungen, ist eine Form der Dankbarkeit. Man ist für sich selber dankbar: dazu braucht man einen Gott“ (KSA, AC, 6, 182). Die natürliche Kausalität, dessen Gegenteil Nietzsche im Juden- und Christentum erkennt, ist somit in einem Vorgang zu sehen, in welchem das schöpferische Volk durch bestimmte Instinkte an die Macht gelangt, diese Instinkte als einen Gott anbetet und dadurch die Ideale als eine Form der Gesetzgebung über sich aufhängt. Im Monotheismus verläuft die Kausalität in einer umgekehrten Richtung, welche ich später beschreiben werde. – Obgleich sich jedes Volk mit seinem Gott, seinem Ideal, identifizierte, wurden im Polytheismus andere Götter als ebenso existent anerkannt wie der eigene. Der eigene Gott wurde in den Auseinandersetzungen mit anderen Völkern erprobt. Zu diesem Zwecke konnte der Gott nicht allein ein Gott der, nach heutigem Verständnis, guten Werte sein, sondern musste gleichsam diejenigen Werte, welche zur Machtsteigerung und Überwindung aller Hindernisse dienten, in sich bergen, somit die bösen Werte in seiner Person einschließen. Er war ein Gott, den man bewundert „im Guten wie im Schlimmen“ (ebd., 182). Kam es zur Unterwerfung durch ein anderes Volk, so bestanden für das unterworfene zwei Möglichkeiten. Zum einen konnte man seine Volksidentität aufgeben und sie
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den Werten und dem Gott des anderen Volkes unterordnen, somit seinen eigenen Gott und sein Selbstverständnis fahren lassen. Die zweite Möglichkeit bestand in der Kastration des eigenen Gottes und der Verteufelung des Eroberergottes. In diesem Fall wurde der eigene Gott als ‚Gott der Guten‘ aufrechterhalten, seiner zerstörerischen Seiten beraubt und als Schirmherr der Unterdrückten gesehen. Er verkörperte bestimmte, zum Überleben in Sklaverei notwendige Werte. Hieraus resultiert jedoch ebenfalls der Verlust eines vorher gesehenen Gesamtkontextes, innerhalb welchem man schaffen konnte. Der überlegene Gott des anderen Volkes wurde als böser Gott unter der Optik der Unterdrückten bewertet: „In der That, es gibt keine andre Alternative für Götter: entweder sind sie der Wille zur Macht – und so lange werden sie Volksgötter sein – oder aber die Ohnmacht zur Macht – und dann werden sie nothwendig gut …“ (ebd., 183). Die zwei verschiedenen Formen der Religion sind somit charakterisiert. Zum einen gibt es die Religion des aufsteigenden Lebens, die Instinktreligion, zum anderen auch ihren Gegensatz, die Décadence- oder nihilistische Religion. Während der Polytheismus die Religionsform stolzer und schöpferischer Völker war, stellen die nihilistischen Religionen eine Leidenslinderung für Völker und Menschen geringer schöpferischer Kraft dar. Aus diesen beiden Gottesbegriffen und den von ihnen repräsentierten Wertschätzungen leitet Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse zunächst zwei verschiedene Formen vorherrschender Moralvorstellungen ab, die Herren- bzw. Sklavenmoral (vgl. KSA, JGB, 5, 208ff.) und stellt später in der Streitschrift Zur Genealogie der Moral, die aus diesen Vorstellungen hergeleiteten Prototypen plastischer Kraftausprägung gegenüber. Der Typus großer plastischer Kraft wird als der vornehme Mensch (vgl. KSA, GM, 5, 273) verstanden, welcher aus einem grundsätzlichen Ja zum Leben aus sich heraus Werte schafft und nach diesen zu leben fähig ist, dessen Religion somit eine Form der Dankbarkeit und dessen Moral einen Versuch der Selbsterhöhung darstellt. Der Gegentypus, der Mensch des Ressentiments, erlebt das Leben als Leiden und kann sich daher nicht anhand eigener Werte, sondern nur von außen erfahrener Wertschätzungen selber betrachten. Der Begriff des Ressentiments ist aus der Prämisse hergeleitet, dass Rache selbst „des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ‚es war‘“ sei (KSA, Za, 4, 180). Der Typus des Ressentiments verkörpert somit die Auflehnung gegen die Vergänglichkeit und dadurch gegen das Leben selbst. Alles, was diese Vergänglichkeit rechtfertigt und fördert, wird als ‚böse‘ zusammengefasst. Als eine besondere Ausprägung des Ressentiments begreift Nietzsche den Priester. Dieser wird als wirklicher Feind betrachtet und nicht lediglich als ein Typus der unglücklichen, am Leben leidenden Menschen. Im Priester sieht er die Erkenntnis von Ohnmacht in besonderer Form und den daraus resultierenden Wunsch, sich über andere zu erheben, um Macht zu erlangen. Es wird in Jenseits von Gut und Böse deutlich, dass nach Nietzsches Betrachtung dieser Typus Mensch die Oberhand gewonnen hat, und wir uns derzeit noch in einer Form der ‚Sklaven-Moral‘ befinden: „solche Menschen haben, mit ihrem ‚Gleich vor Gott‘, bisher über dem Schicksale Europa’s gewaltet, bis endlich eine verkleinerte, fast lächerliche Art, ein Heerdenthier, etwas Gutwilliges, Kränkliches und Mittelmässiges, herangezüchtet ist, der heutige Europäer“ (KSA, JGB, 5, 83).
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IV. Monotheismus als Werkzeug des Geistes der Rache Das Judentum, als erste monotheistische Religion, stellt für Nietzsche im Kontrast zu den Volksreligionen eine Entnatürlichung dar. Es sei die Wurzel, aus der wir das Problem des Christentums verstehen können. Er unterteilt die jüdische Religion in zwei verschiedene Zeitabschnitte. Das jüdische Volk in der Zeit des Königtums unterschied sich noch nicht wesentlich von anderen Völkern und Volksreligionen. Es vergötterte die Werte und Instinkte, durch die es obenauf war, personifiziert von seinem Volksgott Jahwe, und stand in einem natürlichen und bejahenden Verhältnis zum Leben. Dieser noch natürliche Gottesbegriff konnte sich jedoch nicht bewähren und scheiterte aufgrund der „Anarchie im Innern, der Assyrer von außen.“ Das Judentum hätte zu diesem Zeitpunkt, wie andere Völker es mit ihren Göttern getan haben, den ihrigen „fahren lassen“ sollen (KSA, AC, 6, 193). Dennoch ist es für Nietzsche dasjenige, was die Juden zum merkwürdigsten und verhängnisvollsten Volk der Weltgeschichte machte, dass sie, „vor die Frage von Sein und Nichtsein gestellt, mit einer vollkommen unheimlichen Bewusstheit das Sein um jeden Preis vorgezogen haben: dieser Preis war die radikale Fälschung aller Natur, aller Natürlichkeit, aller Realität, der ganzen inneren Welt so gut als der äusseren“ (ebd., 191). – Die einzige Möglichkeit der Erhaltung sowohl ihrer Identität als Volk als auch ihrer Vorstellung eines starken Königs, an der sie festhalten wollten, war die ‚Entnatürlichung‘ ihres Gottes. Es wurden nicht mehr die lebensfördernden Werte in ihm verehrt und für die eigene Macht gedankt, sondern er wurde zu ‚einem Werkzeug in den Händen priesterlicher Agitatoren‘, indem er zu einem Gott unter Bedingungen gemacht wurde. Er repräsentierte nicht mehr das Selbstgefühl des Volkes; er wurde von Selbigem abgelöst und zu einem Gott, der fordert, straft und belohnt. Alles Geschehen wurde durch die Priester ausgelegt, „welche alles Glück nunmehr als Lohn, alles Unglück als Strafe für Ungehorsam gegen Gott, für ‚Sünde‘, interpretiren: jene verlogenste Interpretations-Manier einer angeblich ‚sittlichen Weltordnung‘, mit der, ein für alle Mal, der Naturbegriff ‚Ursache‘ und ‚Wirkung‘ auf den Kopf gestellt ist. Wenn man erst, mit Lohn und Strafe, die natürliche Causalität aus der Welt geschafft hat, bedarf man einer widernatürlichen Causalität: der ganze Rest von Unnatur folgt nunmehr. Ein Gott, der fordert – an Stelle eines Gottes, der hilft, der Rath schafft, der im Grunde das Wort für jede glückliche Inspiration des Muths und des Selbstvertrauens … Die Moral, nicht mehr der Ausdruck der Lebens- und Wachsthums-Bedingungen eines Volks, nicht mehr sein unterster Instinkt des Lebens, sondern abstrakt geworden, Gegensatz zum Leben geworden“ (ebd., 194). So begann das monotheistische Judentum, welches die zweite Stufe bildet. Die Priester waren diejenigen, welche durch diese Form der Auslegung alle Macht bei sich bündeln und in jeden Bereich des Lebens eine göttliche Interpretation bringen konnten. Die schlimmste Konsequenz, die sich aus dieser Umdeutung des Weltgeschehens ergab, war die Notwendigkeit der ‚décadence‘ für ihr Fortbestehen. Der Priester musste den Menschen krank machen, er brauchte die ‚décadence‘ als Mittel seiner Macht, somit war es für ihn von Vorteil, möglichst viele Menschen in einen Zustand der Lebensverneinung zu bringen, um seine Macht zu mehren. Der Mensch der Sklaven-Moral, somit seines eigenen Gottes, seines eigenen Selbstbewusstseins beraubt, kann sich, wie beschrieben, nur anhand Anderer bewerten, muss sich selbst als im Vorteil begreifen und nicht als Maß aller Dinge innerhalb eines selbst ge-
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setzten Gesamtkontextes. Ein Glaube an einen von sich selbst losgelösten und fordernden Gott muss daher gleichzeitig eine Loslösung vom eigenen Selbstverständnis darstellen. Das Judentum in dieser ersten Entwicklungsstufe war dennoch ein ungefährliches, in sich selbst geschlossenes System des Verfalls, das niemandem außer ihm selbst etwas anhaben konnte. Das jedoch, was Nietzsche mit der gefährlichen Krankheit bezeichnet, wurde durch eine Person ermöglicht, die seiner Ansicht nach niemals eine Religion im Stile des Christentums im Sinn gehabt hat, durch Jesus von Nazareth. Nietzsche akzeptiert nicht die Beschreibung der Person Jesu, wie sie im Neuen Testament zu finden ist, sondern sieht in ihm einen Typus der Art Buddhas, ebenso darum bemüht, das Leiden am Dasein zu lindern. Er selbst ist nach Nietzsche nicht von diesem Leiden ausgeschlossen, sondern ist von „krampfhafte[r] Reizbarkeit“ für die Leiden der Welt (ebd., 200). Aus diesem Grund predigt er die Abkehr von einer Auflehnung wider das Leben, welche lediglich das Leiden vermehrt. Als Methode der Duldung lässt er die grenzenlose Liebe anstelle des durch Auflehnung entstehenden Rachegefühles treten (vgl. ebd., 205ff.). Das Christentum jedoch, wie es Nietzsche als das Werk des Paulus begreift, eine Bewegung, zu dessen Anführer Jesus ungerechtfertigter Weise gemacht worden ist, stellt einen Angriff auf jegliche verbliebene Form von Hierarchie dar: „Es war ein Aufstand gegen ‚die Guten und Gerechten‘, gegen ‚die Heiligen Israels‘, gegen die Hierarchie der Gesellschaft – nicht gegen deren Verderbniss, sondern gegen die Kaste, das Privilegium, die Ordnung, die Formel; es war der Unglaube an die ‚höheren Menschen‘“ (ebd., 198). Nach dieser Interpretation haben die Priester, bei Nietzsche verkörpert durch Paulus, es geschafft, jegliche Form der ‚décadence‘ zu einer Waffe umzufunktionieren, „stärker als jede Ja-sagende Partei des Lebens“ (ebd., 192f.) und fähig sich an dieser zu rächen. Während die Lehre Jesu gerade die Begriffe Auflehnung, Rache und Schuld abzuschaffen suchte, wurde er posthum zum Revolutionär und Richter verunstaltet. Die Formeln, welche er den Menschen als Möglichkeit zum Ertragen des Lebens ohne Gefühle der Rache in die Hand zu geben versuchte, wurden zur Zerstörung jeglicher Rangordnung und zu einer individualistischen und anarchistischen Lehre eines Aufständischen umfunktioniert. Jesus Antwort auf die Herrschaft anderer war Demut und Liebe selbst gegenüber den Unterdrückern. Er versuchte die Einheit Gottes mit dem Volk wieder herzustellen, ihn als einen liebenden Vater darzustellen. Der Mensch war die Kirche, das ewige Leben war in ihm (vgl. ebd., 200). Dennoch wurde er nach seinem Tod ebenfalls vom Volk abgelöst und zu einem nach-irdischen Richter gemacht, welcher den Menschen nach seinem Leben gemäß der göttlichen Ordnung straft oder belohnt. Der Versuch, die Ablösung des Gottes vom Volke rückgängig zu machen, führte zu einer doppelten Ablösung und weiteren Bedingungen (vgl. ebd., 214). Der Tod Jesu wurde von Paulus benutzt, um die Lehre von der Auferstehung hinzuzufügen, die Lehre der Unsterblichkeit der individuellen Seele, mit Hilfe derer er das Schwergewicht des Lebens selbst ins Nichts verlegen konnte. Das Leben als Vergänglichkeit konnte durch ein seiendes und individuelles Leben im Jenseits verleugnet werden. Alles irdische Leiden verlor anhand der Vorstellung eines noch kommenden, ewigen Daseins sein Schwergewicht, die Abwendung vom Leben auf Erden ergab einen Sinn. Der Gedanke des Gerichts war die Möglichkeit, irdisches Dasein unter der Optik der Gleichheit vor dem göttlichen Gericht zu betrachten. Mittels dieser Setzung wurde der Gott der Guten und Gerechten zu einem Zuchtmittel gemacht, alles Lebende
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gezwungen, sich nach einem Nichts zu richten: „Wir wissen, unser Gewissen weiss es heute –, was überhaupt jene unheimlichen Erfindungen der Priester und der Kirche werth sind, wozu sie dienten, mit denen jener Zustand von Selbstschändung der Menschheit erreicht worden ist, der Ekel vor ihrem Anblick machen kann – die Begriffe ‚Jenseits‘, ‚jüngstes Gericht‘, ‚Unsterblichkeit der Seele‘, die ‚Seele‘ selbst; es sind Folter-Instrumente, es sind Systeme von Grausamkeiten, vermöge deren der Priester Herr wurde, Herr blieb“ (ebd., 210). In welcher Weise diese Prinzipien als Folterinstrumente eingesetzt wurden, wird deutlich, wenn man sich das Zitat ansieht, dass Nietzsche von Paulus selbst nimmt: „Nicht viel Weise nach dem Fleische, nicht viel Gewaltige, nicht viel Edle sind berufen. Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählet, dass er die Weisen zu Schanden mache; und was schwach ist vor der Welt, dass hat Gott erwählet, dass er zu Schanden mache, was stark ist. Und das Unedle vor der Welt und das verachtete hat Gott erwählet, und das da Nichts ist, dass er zu Nichte mache, was Etwas ist. Auf dass sich vor ihm kein Fleisch rühme.“2 Diese Art der systematischen Rache an allem, was dem Leben auf eine positive Art und Weise gegenüberstand, sollte von ‚dem, was da Nichts ist‘ zunichtegemacht werden, wobei man das Nichts in diesem Zitat doppelt auslegen könnte, wie es Nietzsche ohne den direkten Bezug zu geben auch tut: „In Gott das Nichts vergöttlicht, der Wille zum Nichts heilig gesprochen!“ (ebd., 185). Der Wille zur Gleichheit, wie Nietzsche ihn im Zarathustra beschreibt, ist dasjenige, was sich selbst offenbart. „Und ‚Wille zur Gleichheit‘ – das selber soll fürderhin der Name für Tugend werden; und gegen Alles, was Macht hat, wollen wir unser Geschrei erheben!“ (KSA, Za, 4, 129). Dieser Geist der Rache geht aus der Unfähigkeit hervor, das vergängliche Leben seinem Willen unterzuordnen, ihm selbst seinen Stempel aufzudrücken und das Leiden in einen bejahenden Gesamtkontext einzuordnen. Er wird durch den Auferstehungsgedanken noch geschürt, zu einem in sich geschlossenen Zirkel der Unzufriedenheit und Rache transformiert. Der Typus Mensch moralisiert, welcher seine letzte Form der Lebensbejahung durch die Ablösung seines Gottes verloren hat und sich nur noch im Vergleich mit anderen sehen kann, sich nicht mehr als Teil eines Schaffensprozesses begreift. Die Angst vor der Ungleichheit und einer daraus abgeleiteten Erfahrung der Minderwertigkeit seiner selbst, wird zum Hauptgebrauch des Wortes Gerechtigkeit, die damit verbundene Rachelegitimation ihr System. Die Beschreibung dieser permanenten Rache und ihrer Wurzel, der Unfähigkeit die Vergangenheit einzuordnen, wird im Zarathustra gegeben: „Kann es Erlösung geben, wenn es ein ewiges Recht giebt? Ach, unwälzbar ist der Stein ‚Es war‘: ewig müssen auch alle Strafen sein! […] Keine Tat kann vernichtet werden: wie könnte sie durch die Strafe ungethan werden! Dies, dies ist das Ewige an der Strafe ‚Dasein‘, dass das Dasein auch ewig wieder That und Schuld sein muss!“ (ebd., 181). Diese Form von permanenter Rache am Leben ist stark von dem zu unterscheiden, was Nietzsche als eine Form der Befreiung in der Genealogie der Moral beschreibt, mittels welcher der vornehme Mensch Gewürm von sich abschüttelt, bevor es sich in ihm eingräbt (vgl. KSA, GM, 5, 273). Die Rache des Vornehmen ist ein zu gebrauchendes Mittel, welches das Vergessen fördern soll, während die hier beschriebene Form der Rache und das damit verbundene Prinzip der Gerechtigkeit Endzwecke sind, das Leben, 2
Paul. I Cor. I, 20ff (zit. bei Nietzsche: KSA, AC, 6, 223).
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welches man nicht wertzuschätzen fähig ist und innerhalb dessen man nur mittels des Leids anderer seine eigene Position bestimmen kann, so weit als möglich zu entwerten. Nur, wenn die zur Wertschätzung benötigte Spiegelfläche möglichst tief angesetzt ist, kann der moralisierende Mensch des Ressentiments sich selbst als höher stehend betrachten, insofern muss die Rache eine Schwächung aller Ausprägungen von aufsteigendem Leben bedeuten. Der Gedanke an die eigene Verwirklichung macht in diesem Fall dem Gedanken an den eigenen Vorteil Platz, welcher hierdurch erreicht werden soll. Die eigene Wertschätzung wird durch die Eitelkeit ersetzt, mit welcher sich Nietzsche ausführlich beschäftigt. Das, was Zarathustra zu erreichen sucht, ist die Loslösung des Menschen von diesem Prinzip der Rache und Gerechtigkeit, das einen absoluten Wahrheitsanspruch stellt und dadurch ewige Geltung verlangt. Zarathustra beschreibt die Verfehltheit eines Wahrheitsanspruches im Kapitel Vom Biss der Natter: „Aber wie wollte ich gerecht sein von Grund aus! Wie kann ich Jedem das Seine geben! Diess sei mir genug: ich gebe Jedem das Meine“ (KSA, Za, 4, 88).
V. Die Überwindung der Rache im Zarathustra Im abschließenden Teil möchte ich zeigen, wie Nietzsche die Überwindung der Rache und der Auflehnung im Zarathustra zu erzwingen sucht. Für die Auflösung des Zirkels ewiger Rache bedarf es nach Nietzsches Verständnis, nach dem die Rache aus der Unfähigkeit hervorgeht, Vergangenes in einen individuellen Gesamtkontext einzuordnen, einer Interpretationsmöglichkeit für den individuellen Menschen, welche ihn zum alleinigen Wertschätzungs-Kriterium erhebt und gleichzeitig einen Schaffensprozess erzwingt. Diese Interpretation sieht er in der ‚Ewigen Wiederkehr des Gleichen‘ gegeben, mittels welcher sowohl alles Schwergewicht auf die individuelle Entscheidung gelegt ist als auch die Möglichkeit der Wertschätzung des eigenen Lebens lediglich aus einer individuellen Setzung hervorgehen kann. Die Lehre der ‚Ewigen Wiederkehr‘ zwingt den Menschen daher, das Leben aus einzig und allein seiner eigenen Lebensführung heraus zu bewerten. Die Lehre birgt jedoch einige Schwierigkeiten in sich, wenn man sie isoliert von den anderen Lehren Zarathustras zu betrachten versucht. Mit ihr als einziger Lehre wird das Leiden eines des Schaffens Unfähigen nur verstärkt, die Strafe und die Schuld erscheinen ewig wie zuvor. Erst in Verbindung mit der Lehre des Willen zur Macht und einer Starthilfe durch die Lehre vom Übermenschen entfaltet sie ihre Wirkung für den Menschen. Im Folgenden möchte ich zeigen, inwiefern die Lehren der Ewigen Wiederkehr und des Übermenschen in Verknüpfung mit dem Willen zur Macht ihre Wirkung entfalten und zu einem Geschenk für den Menschen werden (vgl. ebd., 13). – Die plastische Kraft wird nach den Unzeitgemäßen Betrachtungen in das Gesamtkonzept des Willen zur Macht eingeordnet, innerhalb welchem sie ihre Gestalt als subjektiv unterschiedlich ausgeprägtes Vermögen verliert und zu einem Werkzeug des unpersönlichen Prinzips verschiedener miteinander konkurrierender Willen zur Macht wird. Im Kontext dieser Formierungen von Machtwillen wird die plastische Kraft als starker Machtwille betrachtet, welcher alles übrige sich unterordnet. Der Leib ist es somit, der entscheidet und nicht irgendein außersinnliches Vermögen, welches eine Handlung vorschreibt. So formuliert Zarathu-
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stra: „Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du ‚Geist‘ nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft“ (ebd., 39). Die individuelle Verantwortung wird durch diese Theorie in Jenseits von Gut und Böse entwertet und durch ein fatalistisches Prinzip ersetzt. Der Mensch muss sich als eine Ausprägung von Machtwillen begreifen und entweder stark genug sein, den in ihm vorherrschenden Willen, gewissermaßen sein Schicksal, zu lieben und auszuleben oder aber an ihm zu verzweifeln: „‚Freiheit des Willens‘ – das ist das Wort für jenen vielfachen Lust-Zustand des Wollenden, der befiehlt und sich zugleich mit dem Ausführenden als Eins setzt, – der als solcher den Triumph über Widerstände mit geniesst, aber bei sich urtheilt, sein Wille selbst sei es, der eigentlich die Widerstände überwinde“ (KSA, JGB, 5, 33). Es gibt innerhalb dieser Vorstellung keine außerindividuelle Verpflichtung, der zu gehorchen wäre, sondern vielmehr ist die eigene Lust, welche dem Ich durch das Selbst angezeigt wird, (vgl. KSA, Za, 4, 40) der Indikator dafür, welche Handlung wirklich gewollt wird. Aus dieser Betrachtung die Vorstellung eines unfreien Willens abzuleiten, ist nach Nietzsche ebenfalls eine ‚falsche Verdinglichung‘, eine aus einem Mangel an Willen hergeleitete Vorstellung, welche auf Eitelkeit oder dem Wunsch der Schuldabwälzung basiert. Man kann nur von „starken und schwachen Willen“ sprechen (KSA, JGB, 5, 36). So man sich die Vorstellung der ‚Ewigen Wiederkehr‘ einverleibt hat, ist man gezwungen, seinen herrschenden Gedanken auszuleben, oder der Ewigkeit mit Zähneknirschen zu begegnen. Diese Lehre jedoch ist erst mit einer Mentalität zu bejahen, die von einem Monotheismus und einer daraus resultierenden Metaphysik gereinigt ist. Man braucht noch ‚Chaos‘ in sich, einen Willen zur Schöpfung von Göttern und Übermenschen: „die Kraft, sich neue und eigene Augen zu schaffen und immer wieder neue und noch eigenere: sodass es für den Menschen allein unter allen Thieren keine ewigen Horizonte und Perspectiven giebt“ (KSA, FW, 3, 491). Einen immer weiter zu schiebenden Horizont bietet Nietzsche im Zarathustra mit dem inhaltsleeren Begriff des Übermenschen, welcher einen ewig währenden Schaffensprozess ermöglicht. „Diess Gespenst, das vor dir herläuft, mein Bruder, […], warum giebst du ihm nicht dein Fleisch und deine Knochen?“ (KSA, Za, 4, 78) Es gibt keinen Stillstand für den ‚Menschen‘ wenn er auf den Über-Mensch hinarbeitet. Der Schaffensprozess auf den Übermenschen verlangt eine ununterbrochene Erhöhung der Art. Diese ist nach Nietzsches Einschätzung eben dadurch zu erreichen, dass man seine Instinkte völlig auslebt. In der Fröhlichen Wissenschaft beschreibt er: „Hänge deinen besten oder deinen schlechtesten Begierden nach und vor Allem: geh’ zu Grunde! – in Beidem bist du wahrscheinlich immer noch irgendwie der Förderer und Wohlthäter der Menschheit“ (ebd., 370). Die Vorstellung einer ‚bösen‘ Handlung ist somit gänzlich entwertet. Wenn jemandem etwas ‚Böses‘ angetan wurde, so soll man nicht mit Gutem vergelten, sondern beweisen, dass einem etwas Gutes getan wurde und mit dem entsprechenden Instinkt reagieren, der dadurch geweckt wurde (vgl. ebd., 87). Dies stellt den einzigen im Zarathustra noch existierenden Rachebegriff dar, keinerlei Vorstellung von Strafe mehr enthaltend. Man solle denjenigen misstrauen, „in welchen der Trieb, zu strafen, mächtig ist!“ (ebd., 129).
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Die hier von Nietzsche vertretene Form der Vergeltung ist eine außermoralische, welche nicht systematisiert werden kann, man kann nur noch ‚jedem das meine‘ geben, wie oben bereits angeschnitten. Sie ist dahingehend konzipiert, dass sie das Leben an sich fördert, in einem Sinne, in welchem nur noch die Art oder das Leben selbst zählt. Es wird verhindert, dass sich die Menschheit mittels der Prinzipien der Gleichheit und Gerechtigkeit auf einen Normalmenschen entwickelt, wie es Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft ausdrückt (vgl. KSA, FW, 3, 491). Mit der Vorstellung einer unpersönlichen Verantwortung, somit einer Auflösung des Begriffes der Schuld, mit einer Reduktion aller Bewertungskriterien auf die Erde als auch in die Wertschätzung des handelnden Individuums, stellt Nietzsche den Menschen in eine außermoralische Verantwortung, das zu werden, was er ist. Die Schwierigkeit, welche diese Möglichkeit in sich birgt, exemplifiziert er an Zarathustras, welcher beinahe an seinem schwersten Gedanken zugrunde geht. Nietzsche bietet ein Gleichnis, welches von der Vergänglichkeit spricht und somit Dasein für alles Vergängliche ist. Er stellt den Menschen vor eine Entscheidung, welche viel Schwierigkeit und Schmerz in sich birgt, den Menschen jedoch von der Rache am Leben befreien soll. In diesem Sinne möchte ich meine Darstellung mit Zarathustras Worten schließen, welche das Gesagte deutlich zusammenfassen: „Gott ist ein Gedanke, der macht alles Gerade krumm und Alles, was steht, drehend. Wie? Die Zeit wäre hinweg, und alles Vergängliche nur Lüge? Diess zu denken ist Wirbel und Schwindel menschlichen Gebeinen und noch dem Magen ein Erbrechen: wahrlich, die drehende Krankheit heisse ich’s, Solches zu muthmaassen. Böse heisse ich’s und menschenfeindlich: all diess Lehren vom Einen und Vollen und Unbewegten und Satten und Unvergänglichen! Alles Unvergängliche – das ist nur ein Gleichniss! Und die Dichter lügen zuviel. – Aber von Zeit und Werden sollen die besten Gleichnisse reden: ein Lob sollen sie sein und eine Rechtfertigung aller Vergänglichkeit! Schaffen – das ist die grosse Erlösung vom Leiden, und des Lebens Leichtwerden. Aber dass der Schaffende sei, dazu selber thut Leid noth und viel Verwandelung. Ja, viel bitteres Sterben muss in eurem Leben sein, ihr Schaffenden! Also seid ihr Fürsprecher und Rechtfertiger aller Vergänglichkeit. Dass der Schaffende selber das Kind sei, das neu geboren werde, dazu muss er auch die Gebärerin sein wollen und der Schmerz der Gebärerin. Wahrlich, durch hundert Seelen gieng ich meinen Weg und durch hundert Wiegen und Geburtswehen. Manchen Abschied nahm ich schon, ich kenne die herzbrechenden letzten Stunden. Aber so will’s mein schaffender Wille, mein Schicksal. Oder, dass ich’s euch redlicher sage: solches Schicksal gerade – will mein Wille. Alles Fühlende leidet an mir und ist in Gefängnissen: aber mein Wollen kommt mir stets als mein Befreier und Freudebringer“ (KSA, Za, 4, 110f.).
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Jesus als ‚Idiot‘ Ein Vergleich zwischen Nietzsches Der Antichrist und Dostojewskijs Der Idiot
Wie der Brief vom 23. Februar 1887 an Overbeck beweist, entdeckte Nietzsche zufällig in einem Buchladen Nizzas L’esprit souterrain, eine Zusammenstellung zweier ins Französische übersetzter Werke von Dostojewskij.1 Zu jener Zeit (Ende 1886–Anfang 1887) war der russische Schriftsteller bereits ziemlich bekannt, aber Nietzsche, „Ungebildeter Mensch, der keine ‚Journale liest‘“ (KGB, III 5, 27), wusste von ihm „auch selbst den Namen nicht“ (ebd.). Dank dieser zufälligen Entdeckung und des „plötzlich redende[n] Instinkt[s]“ der Verwandtschaft (ebd., 41), wurde der Philosoph ein großer Bewunderer Dostojewskijs und seiner Gaben als Psychologe.2 Seit dem guten Eindruck, den L’esprit souterrain auf ihn gemacht hatte, begeisterte er sich für die literarische Produktion des russischen Schriftstellers und wurde ein aufmerksamer Leser seiner Werke. Sicher las der Philosoph Souvenirs de la maison des morts3 (Записки из мёртвого дома), Humiliés et offensés4 (Унижеииые и оскорблённые) und Les possédés5 (Бесы), wovon verschiedene Briefe und der Nachlass zeugen. Die Entscheidung des Philosophen, Dostojewskijs Werke in der französischen Fassung zu lesen, war keine bloße Zufälligkeit (während der Jahre 1887 und 1888 verbrachte Nietzsche viele Monate in Nizza), sondern Frucht einer bewussten Wahl, weil die Franzosen, wie der Philosoph in einer Postkarte vom 27. März 1887 an Gast verriet, „delikater als der gräuliche Jüd Goldschmidt6 (mit seinem Synagogen-Rhythmus)“ übersetzten (ebd., 50). 1
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Fjodor M. Dostoievsky, L’esprit souterrain, Paris 1886. Das Buch, das Nietzsche in den Briefen vom 23. Februar 1887 an Franz Overbeck und 7. März 1887 an Heinrich Köselitz erwähnt, bestand aus einem zweiteiligen Band: eine gekürzte Fassung der Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (Записки из подполя), (zweiter Teil des Bandes, der Lisa heißt) und einer vollständigen Übersetzung der frühen Novelle Die Wirtin (Хозяйка). Dazu: C. A. Miller, Nietzsche’s „Discovery“ of Dostoevsky, in: Nietzsche-Studien, 2 (1973). „Für das Problem, das hier vorliegt, ist das Zeugniss Dostoiewsky’s von Belang – Dostoiewsky’s, des einzigen Psychologen, anbei gesagt, von dem ich Etwas zu lernen hatte“ (KSA, GD, 6, 147). Fjodor M. Dostoievsky, Souvenirs de la maison des morts, Paris 1886. Ders., Humiliés et offensés, Paris 1884. Ders., Les possédés, Paris 1886. Goldschmidt, auf den Nietzsche sich bezieht, war der Übersetzer der Erzählungen von F. M. Dostojewskij (Leipzig 1885), den Köselitz an den Philosophen geschickt hatte (Wolfgang Gesemann,
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Dostojewskijs Einfluss, zusammen mit demjenigen Leo Tolstojs, lässt sich besonders in Der Antichrist erkennen. Die Kritik des christlichen Gottesbegriffs (Aph. 16–19) ist vom Gespräch zwischen Chatoff und Stavroguine, zwei der Dämonen aus Dostojewskijs Les possédés, unbestreitbar beeinflusst7, genauso wie das Argument der Gegensätzlichkeit von Kirche und evangelischer Botschaft (Aph. 36–38) von Tolstojs Ma religion8 (В чём моя вера). Viel problematischer ist der Versuch, zu bestimmen, ob die merkwürdige Ähnlichkeit zwischen Dostojewskijs Idioten, dem Fürsten Myschkin, und der Figur Jesu, wie sie in Der Antichrist beschrieben wurde, das Ergebnis jener oben genannten Verwandtschaft zwischen den beiden Autoren ist, oder ob Nietzsche durch den Roman Der Idiot (Идиот) direkt beeinflusst wurde. Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben viele Interpreten ihre Meinung über dieses Thema geäußert und nicht immer sind sie zu demselben Ergebnis gekommen. Der größte Teil der Thesen stützte sich auf das folgende Nachlassfragment vom Frühjahr 1888, Jesus : Dostoiewsky: „Ich kenne nur Einen Psychologen, der in der Welt gelebt hat, wo das Christenthum möglich ist, wo ein Christus jeden Augenblick entstehen kann…Das ist Dostoiewsky. Er hat Christus errathen: – und instinktiv ist er vor allem behütet geblieben diesen Typus sich mit der Vulgarität Renans vorzustellen…Und in Paris glaubt man, daß Renan an zu viele finesses leidet! … Aber kann man ärger fehlgreifen, als wenn man aus Christus, der ein Idiot [Hervorhebung – P. S.] war, ein Genie macht? Wenn man aus Christus, der den Gegensatz eines heroischen Gefühls darstellt, einen Helden herauslügt?“ (KSA, NF, 13, 409). Die Kennzeichnung Jesu als Idiot wurde auch in der Endfassung von Der Antichrist beibehalten und die Benutzung dieser Kennzeichnung, zusammen mit einer sehr dostojewskijschen Terminologie, führte Charles Andler in seinem Essay aus dem Jahre 1930 Nietzsche et Dostoievsky zu folgendem Entschluss: „Certains détails de terminologie dans ses derniers ouvrages, des allusions fréquentes à des formes d’altruisme dégénéré prouvent qu’il [Nietzsche] a lu l’Idiot.“9 Die gleiche Sicherheit schien Henri de Lubac bei der Lösung derselben Frage zu haben, als er in seinem Werk aus dem Jahre 1945 Le drame de l’humanisme athée behauptete: „L’idiot lui [Nietzsche] suggéra sans doute [Hervorhebung – P. S.] quelques-uns des traits sous lesquels il allait a dépeindre Jésus et le groupe des premiers chrétiens.“10 Die Merkmale (traits), auf die de Lubac sich bezieht, sind ohne Zweifel diejenigen, die Nietzsche im Aph. 31 so scharf zusammenfasst: „Jene seltsame und kranke Welt, in die uns die Evangelien einführen – eine Welt, wie aus einem russischen Romane, in der sich Auswurf der Gesellschaft, Nervenleiden und ‚kindliches‘ Idiotenthum ein Stelldichein zu geben scheinen – muss unter allen Umständen den Typus vergröbert haben […]. Man hätte zu bedauern, dass nicht ein Dostoiewsky in der Nähe dieses interessantesten décadent gelebt hat, ich meine Jemand, der gerade den ergreifenden Reiz einer solchen Mischung von Sublimen,
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Nietzsches Verhältnis zu Dostoevskij auf dem europäischen Hintergrund der 80er Jahre, in: Die Welt der Slaven, Vierteljahresschrift für Slavistik 2, 1961, 133f.). Vgl. Fjodor M. Dostoïevsky, Les possédés, 270ff. Leo Tolstoi, Ma religion, Paris 1885. Charles Andler, Nietzsche et Dostoievsky, in: Mélanges d’histoire littéraire générale et comparée offerts a Fernand Baldensperger, Gèneve 1972 [1930¹], Bd. 1, 3. Henri de Lubac, Le drame de l’humanisme athée, Paris 1945, 290.
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Krankem und Kindlichem zu empfinden wusste“ (KSA, AC, 6, 201f.).11 Die Anspielung des Philosophen auf einen russischen Roman, zusammen mit dem Namen Dostojewskijs einige Zeilen später, könnte Nietzsches Kenntnis von Der Idiot verraten, aber auch in diesem Fall sind nicht alle Interpreten derselben Meinung. In seinem Essay The Nihilist as Tempter-Redeemer: Dostoevsky’s „Man-God“ in Nietzsche’s Notebooks erklärt C. A. Miller, wie der Vergleich zwischen der kranken Welt der Evangelien und derjenigen aus einem russischen Roman, bei gleichzeitiger Betonung von Dostojewskijs besonderer Empfindlichkeit, eine plausible Anspielung auf Kirillows Theorie der ewigen Harmonie sein könnte: „Specifically Dostoevsky’s association of Kirillov’s ‚sensation of eternal harmony‘ with a latent epilepsy“, schreibt Miller, „would demonstrate his understanding of the ‚physio-psychological‘ problem posed by Christ and the first proselytes. As an epileptic Kirillov is not only psychologically, but more essentially ‚physiologically‘ akin both to the disciples with their somatogenic ‚nervous disorders‘ and to the ‚epileptic visionary‘ Jesus himself. Thus understood as a study in the ‚physio-psychology‘ of the ‚evangelical ideal‘, Dostoyevsky’s representation of Kirillov as mystagogue of ‚eternal harmony‘ would confirm Nietzsche’s notion […] that he had ‚divined‘ Christ in terms of the decadent ambience which generated and sustained the type.“12 Millers Auslegung von Kirillow als Mittel zum Verstehen der physio- und psychologischen Problematik des Typus Jesu ist auf jeden Fall sehr interessant, aber erklärt nicht Nietzsches Erwähnung des ‚kindlichen‘ Idiotenthums im Aph. 31, und eigentlich scheint die Anwendung des Epithetons ‚kindlich‘ auf das Idiotentum, viel besser zum Kontext von Der Idiot als zu dem von Die Dämonen zu passen. In Bezug auf die Auslegung des Aph. 31 scheint Wolfgang Gesemanns Schlussfolgerung um einiges überzeugender als diejenige Millers. In seinem Essay Nietzsches Verhältnis zu Dostoevskij, wo er sich auf Ernst Benzs Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums13 bezieht, resümiert Gesemann: „Für Benz ist erwiesen, daß Nietzsche sich hierbei auf den ‚Idioten‘ bezieht. Das scheint sachlich kaum zu widerlegen, zumal sich die Wendung vom ‚kindlichen‘ Idiotenthum nicht in Brandes’ Brief findet. Sprach N[ietzsche] in seinem Brief an B[randes] vom 20. 10. 1888 davon, er ‚rechne irgend ein russisches Buch, vor allem D[ostojewskijs] ‚zu seinem‘ größten Erleichterungen‘, dann hätte immerhin der ‚Idiot‘ darunter sein können, mochte N[ietzsches] Bewertung des Fürsten Myškin nun von B[randes] ausgelöst worden sein oder bereits festgestanden haben.“14 Im letzten Satz bezieht sich Gesemann auf den Brief vom 23. November 1888, den Georg Brandes von Kopenhagen aus an Nietzsche schickte, wo er eine Parallele zwischen Dostojewskijs Helden und den ersten Jüngern Jesu zieht: „Seine Helden sind nicht 11
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„Wie Schade, dass nicht ein Dostoiewsky unter dieser Gesellschaft war: in der That gehört die ganze Geschichte am besten in einen russischen Roman – Krankhaftes, Rührendes, einzelne Züge sublimer Fremdheit, mitten unter Wüstem und Schmutzig-Pöbelhaftem, wie Maria von Magdala“ (KSA, NF, 13, 175). C. A. Miller, The Nihilist as Tempter-Redeemer: Dostoevsky’s „Man-God“ in Nietzsche’s Notebooks, in: Nietzsche-Studien, 4 (1975), 180. Ernst Benz, Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte, 56 (1937). Wolfgang Gesemann, Nietzsches Verhältnis zu Dostoevskij auf dem europäischen Hintergrund der 80er Jahre, in: Die Welt der Slaven, 2 (1961), 143.
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nur Arme und Bedauernswerthe, sondern einfältige Feinfühlende, edle Dirnen, häufig Hallucinirte, begabte Epileptiker, begeisterte Sucher des Martyriums, eben die Typen, die wir bei den Aposteln und Disciplen des ersten christlichen Zeitalters vermuthen müssen“ (KGB, III 6, 363). Gesemann lässt in seiner Vermutung, wonach Nietzsches Bewertung des Fürsten Myschkin von Brandes ausgelöst worden sein könnte, die Stelle in Der Fall Wagner, wo der Philosoph die Moral der christlichen Wertbegriffe der Herren-Moral entgegensetzt, außer acht. Dort fügt Nietzsche den Satz hinzu: „die Evangelien führen uns genau dieselben physiologischen Typen vor, welche die Romane Dostoyewsy’s schildern“ (KSA, WA, 6, 50). Nach der Chronik zu Nietzsches Leben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, wurde Der Fall Wagner während des Turiner Frühjahrs geschrieben und im Sommer desselben Jahres in Druck gegeben15, das heißt zwei Monate vor der Korrespondenz zwischen Nietzsche und Brandes. Außerdem, wie der Philosoph selbst in einem Brief vom 14. Oktober 1888 an Peter Gast schrieb, schickte er ein Exemplar von Der Fall Wagner an Brandes, der es seinerseits an den schwedischen Schriftsteller August Strindberg schickte (vgl. KGB, III 5, 450). In diesem Sinne sollte man einen direkten Einfluss Brandes auf Nietzsches Gleichsetzung der Figuren Dostojewskijs mit den von den Evangelien vorgestellten Typen ausschließen. Wollte man also eine Schlussbilanz der vorherigen Interpretationen ziehen, wäre zu sagen, dass die Meinungen der Interpreten zwischen Millers Vorsicht („His positive response to what he read as l’Esprit souterrain induced him, in turn, to go on to read […] perhaps [Hervorhebung – P. S.] The Idiot“16) und Andreas Urs Sommers Sicherheit („Eine Nachlassnotiz vom Frühjahr 1888 macht alle Spekulationen darüber, ob Nietzsche von Dostojewskijs Idiot gehört hat, hinfällig“17) schwanken. Da es wahrscheinlich unnötig wäre, noch eine andere Perspektive dieser unendlichen Debatte hinzuzufügen (meiner Meinung nach ist der Ausdruck „‚kindliches‘ Idiotenthum“ in Der Antichrist sehr enthüllend!), möchte ich versuchen zu zeigen, inwiefern Collis Bemerkung, wonach das Wort ‚Idiot‘ im Spätwerk Nietzsches ungefähr mit derselben Bedeutung, die es bei Dostojewskijs Der Idiot hat, zutreffend ist.18 Um diese Behauptung zu überprüfen, werde ich dieselbe Methode benutzen, die auch Gianlorenzo Pacini in seinem Essay Nietzsche lettore die grandi russi19 anwendet, indem die Übereinstimmungen zwischen Nietzsches Auslegung von Jesus und der Charakterisierung von Dostojewskijs Helden, dem Fürsten Myschkin, verglichen werden. Physiologisch betrachtet sind Nietzsches Jesus und Dostojewskijs Fürst Myschkin wie Kinder, das heißt, sie sind in der Pubertätsphase stecken geblieben. Im Frühjahr 1888 erkennt der Philosoph als Beweis für einen „Typus gewisser epilepsoider Neurosen“, dass Jesus „die eigentliche Manns-Instinkte“ nie entwickelt habe und „kindhaft im Al15 16 17 18
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Giorgio Colli, Mazzino Montinari, Chronik zu Nietzsches Leben (KSA, 15, 173f.). C. A. Miller, Nietzsche’s „Discovery“ of Dostoevsky, in: Nietzsche-Studien, 2 (1973), 203. Andreas Urs Sommer, Friedrich Nietzsches „Der Antichrist“. Ein philosophisch-historischer Kommentar, Basel 2000, 317. Vgl. Giorgio Collis Endnoten zur italienischen Ausgabe Nietzsches Der Antichrist, Mailand 2000, 108. In Bezug auf Kants Idiotismus (Aph. 11) schreibt Colli: „Questo termine va inteso, in tutti gli scritti di Nietzsche di questo periodo, come all’incirca Dostoevskij intendeva il principe Myškin, protagonista dell’Idiota“. Gianlorenzo Pacini, Nietzsche lettore dei grandi russi, Rom 2001, 36ff.
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ter der Pubertät geblieben ist“ (KSA, NF, 13, 237). Dieser Begriff wird im Aph. 32 des Antichrist bekräftigt, wo Nietzsche von einer „verzögerten und im Organismus unausgebildeten Pubertät als Folgeerscheinung der Degenerescenz“ spricht (KSA, AC, 6, 203). Ebenso ist Dostojewskijs Held physiologisch wie ein Kind und wegen seiner Krankheit Jungfrau.20 Vor der Reise des Fürsten nach Russland offenbart Doktor Schneider, Spezialist für Nervenleiden, der Myschkin in Behandlung hatte, folgende Meinung über den Fall Myschkins: „J’ai acquis l’absolue conviction, me dit-il, que vous êtes vous-même un véritable enfant, j’entends un enfant dans le sens complet du mot. Vous avez d’un adulte la taille et le visage, mais c’est tout. Sous le rapport du développement, de l’âme, du caractère, peut-être même de l’intelligence, vous n’êtes pas un homme fait et vous resterez tel, dussiez-vous vivre jusqu’à soixante ans.“21 Zusammen mit dem Infantilismus ist die Epilepsie die andere physiologische Eigenschaft, die Nietzsches Jesus und Dostojewskijs Fürst Myschkin gemein haben. Im Aph. 51 von Der Antichrist verrät Nietzsche, wie „die ‚höchsten‘ Zustände, welche das Christenthum als Werth aller Werthe über der Menschheit aufgehängt hat“ eigentlich „epileptoide Formen“ sind (ebd., 231). Die „innere Welt“ des religiösen Menschen selbst wird als ähnlich zu der „inneren Welt“ der Überreizten und Erschöpften geschildert (ebd.). Nietzsches Meinung nach sind die epileptischen Zustände die Voraussetzung der Entwicklung von alledem, was der Philosoph als ‚christlich‘ bestimmt: „Düstere und aufregende Vorstellungen sind im Vordergrunde; die höchstbegehrten, mit den höchsten Namen bezeichneten Zustände sind Epilepsoïden; die Diät wird so gewährt, dass sie morbide Erscheinungen begünstigt und die Nerven überreizt“ (ebd., 188). Wenn man noch Zweifel hätte, ob Nietzsche die Epilepsie auch Jesus zuschrieb, dann würde es reichen, das Fragment von November 1887–März 1888 zu lesen: „Franz von Assisi (neurotisch, epileptisch, Visionär, wie Jesus)“ (KSA, NF, 13, 160). Wie Nietzsches Jesus ist auch Fürst Myschkin ein Epileptiker, sowie Dostojewskij seinerseits einer war. Man könnte ohne Zweifel behaupten, dass der Schriftsteller dem Fürsten seine Epilepsie ‚schenkt‘, weil diese Krankheit bei Dostojewskij nicht als Symptom der Dekadenz betrachtet wird (wie bei Nietzsche22), sondern eher als Mittel, um die ‚höchste Synthese des Lebens‘ zu erreichen: „Cela pourtant ne l’empêchait pas d’aboutir à une conclusion des plus paradoxales: ‚Qu’importe que ce soit une maladie, une tension anormale, si le résultat même, tel que, revenu â la santé, je me rappelle et l’analyse, renferme au plus haut degré l’harmonie et la beauté; si, dans cette minute, j’ai une sensation inouïe, insoupçonnée jusqu’alors, de plénitude, de mesure, d’apaisement, de fusion, dans 20
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Vgl. Fjodor M. Dostoïevsky, L’idiot, I, Paris 1887, 15: „Vous ne le savez peut-être pas, mais, par suite de ma maladie congénitale, je n’ai même aucune connaissance de la femme“. Der Grund, der uns treibt, die französische Ausgabe mit der Übersetzung von Victor Dérely zu benutzen, ist zweifach: I) die erste deutsche Ausgabe mit der Übersetzung von August Scholz erschien 1889; II) Nietzsche, wie er in der oben genannten Postkarte vom 27. März 1887 an Gast erklärt (KGB, III 5, 50), möchte lieber Dostojewskijs Werke in der französischen Übersetzung lesen. Falls Nietzsche den Roman Der Idiot gelesen hätte, wäre es folgerichtig zu vermuten, dass er keine andere Ausgabe (damals war auch die englische verfügbar, mit der Übersetzung von Frederick Whishaw) als die französische benutzt hätte. Ders., ebd. 94f. Dazu: Aph. 51 und 54 des Antichrist.
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l’élan d’une prière, avec la plus haute synthèse de la vie?‘“23 Zu diesem Thema ist die Meinung des Fürsten Myschkin klar: für diesen Moment der ‚höchsten Synthese des Lebens‘ könnte man sein ganzes Leben hingeben24, weil es während dieses flüchtigen Augenblicks möglich ist, ein unendliches Glück zu empfinden. Diese Schlusserfolgerung, wie der Fürst selbst anerkennt, ist ganz persönlich und irrational, da der Stumpfsinn, die seelische Verfinsterung und die Idiotie offensichtliche Folgeerscheinungen dieser ‚höchsten Augenblicke‘ sind.25 Also ist die Idiotie der angemessene Preis für die Empfindung einer höchsten Harmonie und Schönheit. Wie bei Dostojewskij gibt es auch bei Nietzsche eine direkte Korrelation zwischen Epilepsie und Idiotie; darüber ist die Meinung des Philosophen sehr klar. Die zwei Begriffe ‚Genie‘ und ‚Held‘, die Ernest Renan in seinem Werk Vie de Jésus26 benutzt, um den Typus Jesus zu erklären, sind die zwei ungehörigsten; im Gegensatz dazu unterstreicht Nietzsche die physiologische Idiotie Jesu: „Aus Jesus einen Helden machen! – Und was für ein Missverständnis ist gar das Wort ‚Genie‘! Unser ganzer Begriff, unser Cultur-Begriff ‚Geist‘ hat in der Welt, in der Jesus lebt, gar keinen Sinn. Mit der Strenge des Physiologen gesprochen, wäre hier ein ganz andres Wort eher noch am Platz; das Wort Idiot“ (KSA, AC, 6, 200). Sommers Meinung nach ist Jesu Idiotie bei Nietzsche „(psycho)physiologisch“ zu verstehen: sie würde Jesu „Weltverhältnis“ beschreiben, das heißt, seine „Unfähigkeit, zwischen den Sphären der Welt, zwischen Verfügbarem und Unverfügbarem, zwischen Immanenz und Transzendenz zu unterscheiden“.27 Nietzsches Jesus ist ein wirklichkeitsfremder Idiot. Er ist unfähig, die äußere Realität zu verstehen. Das Fragment vom Frühjahr 1888 Typus ‚Jesus‘… betitelt, ist ganz explizit: „Jesus ist das Gegenstück eines Genies: er ist ein Idiot. Man fühle seine Unfähigkeit, eine Realität zu verstehn: er bewegt sich im Kreise um fünf, sechs Begriffe, die er früher gehört und allmählich verstanden, d.h. falsch verstanden hat – in ihnen hat er seine Erfahrung, seine Welt, seine Wahrheit, – der Rest ist ihm fremd“ (KSA, NF, 13, 237). Diese Unfähigkeit, die Realität zu verstehen, wird in Aph. 29 des Antichrist als ein wahrer „Instinkt-Hass gegen jede Realität“, der die letzte Logik eines bestimmten physiologischen Habitus ist, gezeichnet, und zwar als „krankhafter Reizbarkeit des Tastsinns, der dann vor jeder Berührung, vor jedem Anfassen eines festen Gegenstandes zurückschaudert“ (KSA, AC, 6, 200). Dieser Instinkt-Hass verursacht eine „Flucht in’s ‚Unfassliche‘, in’s ‚Unbegreifliche‘“, und die äußere Welt wird durch eine ‚innere‘, ‚wahre‘ und ‚ewige‘ Welt ersetzt (ebd.). Dieses ist, Nietzsches Meinung nach, der wahre Sinn von Lukas’ Satz: „Das Reich Gottes ist in euch.“28 Im Gegensatz zu Jesu Idiotismus bei Nietzsche, ist das Verständnis der Idiotie des Fürsten Myschkin bei Dostojewskij um einiges problematischer. Als Myschkin nach Russland zurückkehrt, hat er über vier Jahre im Schweizer Sanatorium von Doktor Schneider 23 24 25 26 27 28
Fjodor M. Dostoievsky, .L’ idiot, 297. „Oui, pour ce moment on donnerait toute une vie!“ (Ebd.) „Il voyait trop bien que la conséquence évidente de ces ‚minutes supérieures‘, c’était l’hébétude, l’obscurcissement des facultés, l’idiotisme“ (ebd., 298). Ernest Renan, Vie de Jésus, Paris 1863. Andreas Urs Sommer, Friedrich Nietzsches „Der Antichrist“. Ein philosophisch-historischer Kommentar, 287f. Lukas 17, 21: ¹ basile…a toà qeoà ™ntÕj Ømîn ™stin.
Jesus als ‚Idiot‘
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wegen seiner Epilepsie zugebracht. Eigentlich haben Schneiders Methoden den Fürsten nicht geheilt, aber ihm sehr geholfen.29 Auf den ersten Eindruck ist Myschkins Idiotie ähnlich jener von Nietzsches Jesu: die häufigen Anfälle von Epilepsie haben den Fürsten fast in einen Idioten verwandelt.30 Seine quasi Idiotie sollte auf einer psycho-physiologischen Ebene betrachtet werden, aber wäre eine solche Auslegung von Myschkins Idiotie nicht viel zu reduktionistisch? Auf jeden Fall ist es notwendig, die Art der Idiotie des Fürsten zu präzisieren. Nach seiner ersten Begegnung mit der Generalin Jelisaweta Jepantschina und ihren drei Töchtern gibt der Fürst eine außergewöhnliche Probe seiner Fähigkeit, in dem er die verschiedenen Physiognomien seiner Gesprächsparterinnen schildert, so dass Aglaja, die jüngste der drei Töchter, ihren Eindruck über den Fürsten so kommentiert: „Il ne me parait pas si niais.“31 Die Naivität, die Arglosigkeit und die Ehrlichkeit des Fürsten scheinen in Widerspruch zu seinem Scharfsinn und seiner dialektischen Fähigkeit zu stehen, und der Leser des Romans fängt an, sich zu fragen, ob Myschkin wirklich ein Idiot sei. Der Schriftsteller selbst scheint den Leser zu diesem Punkt führen zu wollen, wenn er, im ersten Teil des Romans, das Thema der völligen Heilung des Fürsten zweifach behandelt. Als Myschkin von seiner Ankunft nach Russland spricht, enthüllt er dem Leser ein sehr wichtiges Detail: „J’ai pris la résolution d’être poli et sincère avec tout le monde; on ne peut pas me demander plus. Peut-être qu’ici comme en Suisse on me considérera comme un enfant, – eh bien, cela m’est égal. Tous me prennent aussi pour un idiot; j’ai été autrefois si malade qu’alors en effet je ressemblais à un idiot, mais est-ce que j’es suis un maintenant que je comprends moi-même qu’on me juge tel ? J’entre et je pense: ‚Voilà, ils me prennent pour un idiot, mais je suis intelligent et ils ne s’en doutent pas…‘ J’ai souvent cette idée.“32 Die Argumentation des Fürsten ist ganz überzeugend und wirksam: wie kann jemand ein Idiot sein, wenn er bemerkt, dass die Leute ihn für einen Idioten halten? Myschkin weiß bestimmt, was die Leute über ihn denken. Aber ist dieses Bewusstsein nicht schon ein unwiderlegbarer Beweis seiner Intelligenz? Denjenigen Lesern, die Myschkins Argumentation für nicht zufrieden stellend halten, liefert Dostojewskij einen zweiten Beweis der Intelligenz des Fürsten. Als Ganja auf Grund von Aglajas empörter Reaktion auf seinen Brief wütend wird, lässt er seine Wut an dem Fürsten aus und nennt ihn „maudit idiot“.33 Der Kommentar des Erzählers zeigt, wie sehr Ganja sich geirrt hat und behebt jeden möglichen Zweifel über Myschkins Idiotie: „Enhardi par la patience de son interlocuteur, Gania, comme c’est le cas de bien des gens, s’abandonnait de plus en plus à la violence de son caractère. Encore un peu, et il aurait peut-être craché au visage du prince, tant il était furieux. Mais sa fureur même lui ôtait toute clairvoyance; sans cela qu’il appelait un ‚idiot‘ savait parfois comprendre les choses avec autant de promptitude que de finesse et les rapporter d’une façon très-satisfaisante.“34 Der Fürst selbst fühlt sich gesund und hält sich nicht mehr für einen Idioten: „Je 29 30 31 32 33 34
Vgl. Fjodor M. Dostoïevsky, L’idiot: „Grâce aux soins qu’il m’a prodigués, je vais beaucoup mieux, mais je ne suis pas guéri“ (I, 33). „En se répétant, les accès de sa maladie l’avaient rendu presque complétement idiot“ (ebd.). Ders., ebd., I, 100. Ders., ebd., I, 96. Ders., ebd., I, 113. Ders., ebd., I, 114.
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dois vous faire observer, Gabriel Ardalionovitch, dit tout à coup le prince, – qu’autrefois en effet la maladie m’avait amené à une sorte d’idiotisme; mais il y a longtemps que je suis guéri; aussi m’est-il un peu désagréable aujourd’hui de m’entendre traiter ouvertement d’idiot.“35 Nicht nur der Scharfsinn und die Klugheit des Fürsten, sondern auch die Kreisstruktur des Romans selbst (Anfangsidiotie, Heilung, Rückfall in die Idiotie), scheinen anzudeuten, dass Myschkins Idiotie nicht auf einer psycho-physiologische Ebene verstanden werden sollte. Diese psycho-physiologische Idiotie könnte nur diejenige sein, in die der Fürst nach Nastassjas Tod wieder zurückfällt, es wäre dann aber unzulänglich, vor Nastassias Tod von einer solchen Idiotie zu sprechen. Diese Auslegung würde zu einem Paradoxon führen, wonach Dostojewskij seinen Roman Der Idiot betitelt hätte, obwohl er wusste, dass sein Held, der Fürst Myschkin, eigentlich kein Idiot war. Der einzige Weg, der uns erlaubt, dieses Paradoxon aufzulösen, ist zu klären, an welcher Art Idiotie Myschkin leidet, eine Klärung, die uns die erschütternde Tragik der dostojewskijschen Botschaft offenbaren wird. Während des ganzen Ablaufes der Ereignisse, das heißt von seiner Ankunft in Russland bis zu dem Tod Nastassjas ist der Fürst Myschkin Idiot, nicht weil er an einer psycho-physiologischen Idiotie leidet, sondern weil er naiv und arglos wie die Kinder, die er so sehr liebt, ist, und weil er an die sich immer darbietende Erlösungsmöglichkeit des Nächsten glaubt. In diesem Sinn sollte man die folgende Erklärung des Erzählers interpretieren: „Muichkine avait ses idées faites sur cette femme [Nastasia Philippovna]; sans cela, tout en elle à présent lui aurait paru énigmatique et incompréhensible. Mais il croyait de bonne foi la résurrection possible pour elle.“36 Dostojewskijs Idiot, der Fürst Myschkin, ähnelt Nietzsches Jesus, nicht weil seine Idiotie psycho-physiologisch verstanden werden soll (er ist nicht dumm oder unfähig, die Gefühle und die Gedanken der Leute zu verstehen), sondern weil er alle Grenzen aufhebt und weil er einfach „zu gut für diese Welt“ ist.37 Nur in diesem Sinn können wir Collis oben genannter Bemerkung zustimmen, wonach das Wort Idiot in den Spätwerken Nietzsches ungefähr mit derselben Bedeutung, die es in Dostojewskijs Der Idiot erhält, verstanden werden soll.38
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Ders., ebd. Ders. ebd., II, 364. Andreas Urs Sommer, Friedrich Nietzsches „Der Antichrist“. Ein philosophisch-historischer Kommentar, 288. Giorgio Colli, Note, in: F. Nietzsche, L’anticristo, 108.
IV. Aufsätze
KLAUS GOCH
Erweckungsphilologie Martin Pernets seltsame Präsentation eines Nietzsche-Familiendokuments
Das Leben Friedrich Nietzsches, besonders Kindheit und Jugend: immer wieder Gegenstand lebhaften historisch-philologischen Interesses, immer wieder dankbares Sujet für Biographen oder auch Phantasten, die ihre eigenen Weltansichten auf die Geschichte dieses großen Dichters und Denkers projizieren – und im Verlauf einer solchen SelbstVergewisserung keineswegs ständig dem akademischen Ethos einer möglichst sachlichen und genauen Quellen-Erschließung obliegen. Niemals gelingt es dem Biographen, sich aus dem eigenen historischen Rahmen, aus subjektiven Stimmungen und Vorurteilen, aus den Grenzen seiner persönlichen Lebensgeschichte vollständig zu lösen. So mischt sich in die Darstellung des ,Anderen‘ stets auch ein ,Eigenes‘, und deshalb muss sofort hinzugefügt werden, dass jedem biographischen Bemühen per se ein Hauch von Unredlichkeit anhaftet. Dennoch gibt es gewisse Standards und Regeln, die einem biographischen Versuch halbwegs den Status von Wissenschaftlichkeit und annähernd ,objektiver‘ philologischer Seriosität garantieren. Man lernt sie als Proseminarist, um sie später vielleicht zu vergessen, wenn man, im Jargon gesprochen, eine These ,stark‘ machen will und dabei leider einige kleinere oder größere Manipulationen vornehmen muss, sonders dann, wenn der Gegenstand der Forschung sehr umstritten ist und man sich, um akademisches Profil zu gewinnen, gegen andere Entwürfe durchsetzen muss. Mit einigem Recht darf man behaupten, dass die causa Nietzsche für solche Profilierungsversuche besonders gut geeignet ist: Mit diesem Dichterphilosophen kann man sich schöne Stimmungen verschaffen, vortrefflich mit ihm räsonieren oder meditieren, ihn zu einem neuen Christus oder zur Inkarnation des Teuflischen machen, noch immer heftig mit ihm streiten, vor allem hinsichtlich seiner Kritik des ,abendländischen‘ Christentums, die unüberhörbar als Leitmotiv (mal laut und penetrant in der Hauptmelodie, mal nur leise und verdeckt in den Nebenstimmen) sein ganzes philosophisch-dichterisches Werk durchdringt und heute noch den ‚einfachen‘ Christen wie auch den beamteten Glaubensverwaltern recht schrill und dissonant in die Ohren fällt. Man hat sich viel Mühe gegeben, dieses AntiChristentum zu widerlegen, zu relativieren, zu belächeln oder auch religionspädagogisch nutzbringend zu verwerten, gibt es doch immer noch jene glaubensfrohen Kanzelhelden, die ihrer andächtig-verschreckt lauschenden Gemeinde den Fall Nietzsche warnend und drohend als schlimmes Beispiel dafür ins Bewusstsein rücken, wohin die Rebellion wider Glaube und Sitte der Väter zwangsläufig führen muss: zu Gottes Strafgericht mit Syphilis
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und Irresein. Dass jedoch die große Verstörung, die von Nietzsche ausgeht, durch fundamentalistisch-reflexionsverweigernde Konfessionsfreudigkeit keineswegs überwunden und aus der Welt geglaubt werden kann, dieser Erkenntnis verschließen sich allerdings die meisten jener Interpreten nicht, die (wenn auch auf unterschiedlichste Art und Weise) der christlichen Tradition verpflichtet sind und gerade deshalb Nietzsches Christentumskritik verstehen möchten, um sie vielleicht als Folie zu verwenden, auf die sie ihre eigenen Selbstzweifel und Irritationen erkenntnisfördernd oder lebensverändernd projizieren können; von den Extremen her gesehen kann Nietzsches Kritik des Christentums sowohl den Weg frei machen für einen dissidentischen Lebensentwurf wie auch für ein trotziges Festhalten am Glauben mit seinen Dogmatismen und Erweckungsaufschwüngen. Es ist sehr bemerkenswert, dass es immer wieder Theologen sind, die dem Antichristen Nietzsche nachspüren und erfahren möchten, wann und aus welchen Gründen Gott in ihm gestorben ist, wobei sie sicher von der sehr plausiblen Annahme ausgehen, dass der antichristliche Affekt Nietzsches (weil er so radikal, emotional, so obsessiv geäußert wird) seinen Ursprung in sehr frühen, möglicherweise negativen Lebenserfahrungen haben könnte und vielleicht als Ausdruck einer folgenschweren kindlichen Traumatisierung aufgefasst werden muss. Man richtet den Blick auf Nietzsches Kindheit und Jugend, auf positiv oder negativ prägende Leit- und Vorbilder, das erzieherische Umfeld, nicht zuletzt auf die Frage, welche Art von Christentum (welche Ausformungen des Protestantismus) auf das Kind eingewirkt haben mag. Dank der Sammelwut von Mutter und Schwester fehlt es nicht an Lebensdokumenten, Briefen, Tagebüchern, Predigten, Auskünften über die Familie, über nahe und ferne Verwandte, so dass es denkbar wäre, möglichst genau, unter sorgfältiger Sichtung der vorhandenen Quellen, die spezielle ‚Nietzsche-Pfarrhauskultur‘ und die einzelnen ‚Glaubenshaltungen‘ der am pädagogischen Prozess beteiligten Personen kenntlich zu machen, also die christliche Erziehung eines großen Antichristen halbwegs exakt zu rekonstruieren. Allerdings sollten die forschenden Theologen dabei der Versuchung widerstehen, ihre philologischen Bemühungen auf dem Altar der eigenen Glaubensgewissheit zu opfern; zuweilen sollten sie auch die Hilfe derer in Anspruch nehmen, die als Erziehungswissenschaftler oder Sozialisationsforscher ein feineres, wenn auch nicht immer hinreichendes Instrumentarium zur Erforschung von Kindheitsgeschichten und pädagogischen Abläufen entwickelt haben. Es ist der Theologe Martin Pernet, dessen im Jahre 1989 erschienene Arbeit Das Christentum im Leben des jungen Friedrich Nietzsche erstmals wichtige Dokumente zu Nietzsches christlicher Erziehung präsentiert.1 Es sei dahingestellt, ob es ihm in dieser Studie tatsächlich gelingt, das „religiöse Umfeld des jungen Nietzsche vollständig zu beschreiben“ (Klappentext); er gilt seit dieser Veröffentlichung als Experte auf dem Gebiet der Nietzsche-Familienforschung, wobei allerdings mit Nachdruck ergänzt werden muss, dass auch die in den Nietzsche-Studien vorher erschienenen Aufsätze des Theologen Reiner Bohley wichtiges Material zu diesem Nietzsche-biographischen Gebiet enthalten und als Grundlage weiterführenden Forschens mindestens ebenso wichtig und wertvoll sind wie Pernets Untersuchungen.2 Bereits im Januar 1996 war auf einem Einladungsblatt 1 2
Martin Pernet, Das Christentum im Leben des jungen Friedrich Nietzsche, Opladen 1989. Reiner Bohley, Über die Landesschule zur Pforte: Materialien aus der Schulzeit Nietzsches, in: Nietzsche-Studien, Bd. 5, 1976, 298ff.; ders.: Nietzsches Taufe, in: ebd., Bd. . 9, 1980, 383ff.; ders.:
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des Kulturamts der Stadt Naumburg zu lesen, dass Pernet mit der „wiss. Aufarbeitung u. Herausg. des Briefwechsels von Nietzsches Vater, dem Pfarrer zu Röcken, Carl Ludwig Nietzsche und seinem Freund Julius Schenk, Pfarrer in Zeitz“ beschäftigt sei.3 Bislang jedoch ist eine solche kommentierte Edition nicht erschienen, wohl aber im elften Band der Nietzscheforschung ein sehr bemerkenswerter Aufsatz Pernets mit dem Titel: Eine Quelle für Nietzsches christliche Herkunft. Der Briefwechsel seines Vaters mit Emil Julius Schenk4, in dem er offensichtlich die Ergebnisse seiner langjährigen Studien komprimiert und thesenhaft der lesenden Öffentlichkeit zu präsentieren versucht. Man darf nun durchaus behaupten, dass dieser Beitrag eine philologische Glanzleistung sui generis ist: Wider alle bisherigen Forschungsergebnisse nimmt Pernet den Briefwechsel von Nietzsches Vater mit seinem Freund und Amtsbruder Emil Julius Schenk zum Anlass, die Kindheitswelt des Sohnes, Friedrich Nietzsche, in ein wunderschönes, mildes Licht zu tauchen; vermittels einer sehr gezielten, manipulativen Textauswahl konstruiert er eine heile, fast möchte man sagen heilige Nietzsche-Familie. Der Vater (klug, liebevoll und herzensfromm) behütet und bewacht den kleinen Sohn, gestützt auf freundlich-friedliche Angehörige; er ist der wichtigste Garant jener erwecklich getönten Pfarrhaus-Idylle, die Pernet dem geneigten Publikum zu offerieren wagt, womöglich in der Annahme, dass seine Leserschaft ganz ohne Widerspruch dieses angeblich quellen-fundierte PhantasieGemälde dankbar als Wissensbereicherung zur Kenntnis nimmt. Carl Ludwig Nietzsches Briefwechsel mit Emil Julius Schenk mag tatsächlich eine aufschlussreiche Quelle für die Familien-Atmosphäre sein, in der Friedrich Nietzsche seine ersten emotionalen und intellektuellen Prägungen erfährt – allerdings nicht in jener verzerrten Deutung, die Pernet ihr gibt. Eine Korrektur ist unbedingt erforderlich.
1. Der Vater – edel und gut? Es liegt in der Natur der Sache, dass sich Pernet bei der Kommentierung seiner Quelle der Person von Nietzsches Vater mit besonderem Nachdruck annimmt. Aber wie stellt er ihn dar? Als eine Theologen-Figur, auf die kaum ein dunkler Schatten fällt, als einen edlen Menschen, der alle Konflikte glücklich überwunden hat und als vielgeliebter Pfarrer seinen Gemeinde-Schäflein ein vorbildlich-harmonisches Familienleben präsentiert, vor allem auch als einen Prediger, der mit großer Überzeugungskraft (nach anfänglichem Schwanken) die Grundpositionen der Erweckungsbewegung vertritt. Keine Rede ist bei Pernet davon, dass dieser Carl Ludwig Nietzsche in seinen Lebensdokumenten als ein höchst ‚problematischer‘, unglücklicher und zeitweise depressiver Charakter erscheint, dass er als Jugendlicher unter der Skoliose leidet, also einer Rückgratverkrümmung, die ihn zwingt, lange Zeit ein schmerzhaftes Korsett zu tragen, ganz zu schweigen von den chronischen Kopfschmerz-Attacken, so dass man (überspitzt) behaupten kann, dass sei-
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Nietzsches christliche Erziehung, Erster Teil, in: ebd., Bd. 16, 198, 164ff.; ders.: Nietzsches christliche Erziehung, Zweiter Teil, in: ebd., Bd. 18, 1989, 379ff. Einladung zu zwei Vorträgen von Peter Andre Bloch und Martin Pernet, 20. 1. 1996, Kulturamt der Stadt Naumburg. Nietzscheforschung, Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, Bd. 11, hg. von Volker Gerhardt, Renate Reschke, Berlin 2004, 279ff.
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ne Lebensgeschichte immer auch eine Krankengeschichte ist. Keine Rede ist bei Pernet davon, dass Carl Ludwig Nietzsche in seinem Dorfpastorat ständig von Schwäche- und Migräneanfällen heimgesucht wird (die man heute wohl als psychosomatisch bedingt klassifizieren würde), dass er keineswegs ein selbstsicherer, gefestigter, zupackender Landpfarrer ist, sondern ein von inneren Zweifeln zutiefst ergriffener und zermürbter Theologe, der sich seinen seelsorgerlichen Pflichten häufig nicht gewachsen fühlt, und dessen äußerliche Souveränität als das Ergebnis krampfhafter Selbstdisziplinierung, nicht aber, wie Pernet nahe legt, als Ausdruck einer in sich ruhenden, „authentischen“ Persönlichkeit gedeutet werden kann.5 Es ist gerade auch der Briefwechsel mit Schenk, in dem Carl Ludwig Nietzsche seine Ängste und Skrupel artikuliert; schon Mitte November 1841, kurz bevor er die Röckener Pfarrei übernimmt, schreibt er dem Freund: „Mir tönet ins Ohr und Herz, wem viel gegeben ist, von dem wird man viel fordern, und zitternd und zagend, ob ich das vermögen werde, ergreift mich oft solche Bangigkeit, daß ich lieber gar nicht ins Amt möchte […] Hoffentlich wird dieses Gefühl mit dem Amte selbst schwinden, sonst halte ich es kaum aus.“6 Pernet unterschlägt diese bezeichnende, seiner ‚geschönten‘ Darstellung allerdings zuwiderlaufende Passage, wie er überhaupt die konstitutionelle, aber vor allem psychische Labilität Carl Ludwig Nietzsches, wie sie in seinen Briefen an Schenk öfters zu Ausdruck kommt, keine weitere Beachtung zukommen lässt. Die nur dem engen Freund eröffnete, nach Außen sorgfältig verborgene ‚Gesamtdepression‘ hindert Carl Ludwig Nietzsche zunächst aber nicht, sein Röckener Pfarramt vorbildlich zu führen, so dass im Protokoll der großen Kirchen-Visitation von 1846 ein durchaus positives Urteil festgehalten ist; der Pfarrer Nietzsche sei ein „fleißiger, gewissenhafter, geachteter und geliebter Geistlicher, der mit Wärme und Treue das Evangelium verkündet und in seinem Amte wirkt“, mit dem nicht zuletzt auf der besonderen beruflichen Fähigkeit beruhenden Ergebnis, dass in der Röckener Kirchengemeinde ein „erfreulicher Geist der Zucht und Sitte, Mäßigkeit, Ordnungsliebe“ anzutreffen ist. So können denn die Visitatoren zufrieden feststellen: „Trunkenbolde, Diebstähle gibt es hier nicht […] Es geht auch in der Schenke ordentlich und anständig, ohne Ungebührlichkeiten zu.“7 Es ist gewiss ein nicht zu leugnender Tatbestand, dass Carl Ludwig Nietzsche nach der Misswirtschaft seines Vorgängers Friedrich Wilhelm Wetzel die Gemeinde mit großem Erfolg ‚reformiert‘ und das kirchliche Leben zu neuer Blüte bringt; besonders aufreibend ist dabei, wie Pernet zu Recht bemerkt, die Auseinandersetzung mit dem Dorfschullehrer Dathe, der wahrhaftig eine pestis scholae und ein scandalum ecclaesiae ist. Pernet verschweigt jedoch auf eine für seine Darstellung kennzeichnende Weise, dass gerade im ständigen Streit mit diesem unfähigen Pädagogen Carl Ludwig Nietzsches mühsam aufrechterhaltene Fassade des tüchtigen, entschlossenen, belastbaren Pfarrherrn zusammenzubrechen droht. Er unterschlägt jenen Brief an Schenk, in dem von einem 5 6 7
Carl Ludwigs Nietzsches Lebensgeschichte ausführlich bei: Klaus Goch, Nietzsches Vater oder die Katastrophe des deutschen Protestantismus, Berlin 2000. Carl Ludwig Nietzsche, Brief aus Eilenburg an Emil Julius Schenk in Zeitz, 16. 11. 1841, Goetheund Schillerarchiv Weimar (GSA), 100/396. Alle Zitate: Protokoll über die Kirchen-Visitation in der Parochie Röcken, die Interna betr., 19. 9. 1846, Archiv der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen, Magdeburg (AEKM), Rep A Spec. 6, Nr. 3582, 3f.
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ganz merkwürdigen Vorfall die Rede ist: Am Neujahrsmorgen des Jahres 1846 wandert Carl Ludwig Nietzsche, gemeinsam mit dem Lehrer, von seiner Filialgemeinde Bothfeld zum Gottesdienst nach Röcken: „da fällt es diesem unglückseligen Menschen ein, auf diesem Wege von der Dir schon angedeuteten Geschichte mit seiner Frau zu sprechen und mir dabei die ungezogensten und ungerechtesten Vorwürfe zu machen.“8 Carl Ludwig Nietzsches Reaktion auf dieses unangenehme Gespräch ist erschreckend heftig. Zwar kann er in Röcken den Gottesdienst noch eröffnen, doch plötzlich ergreift ihn ein Zittern und ein Schweißausbruch, so dass er kaum noch sprechen kann: „endlich fing ich gar an zu weinen, das brachte natürlich die ganze Gemeinde in Bewegung, man fing sogar mit an zu weinen; darüber alterierte ich mich von Neuem, so daß ich am ganzen Körper zitterte, der Schweiß mir eiskalt von der Stirne trat und ich jeden Augenblick umzufallen fürchtete. Dennoch setzte ich durch, die Liturgie bis zur Predigt zu lesen, danach aber verließ ich gleich die Kirche, den Meinen zum großen, großen Schrecken. Zu Hause war mir bald wieder wohler, und ich ging wieder in die Kirche, um dort noch zu predigen, es geschah dies auch, aber als ich auf die Kanzel kam war ich nicht im Stande frei zu sprechen, und ich mußte die Gemeinde bitten, mir zu gestatten die Predigt vorzulesen.“9 Die folgende Woche muss er im Bett verbringen und ist auch nicht fähig, am nächsten Sonntag zu predigen. Also ein Nervenzusammenbruch (ein ‚Nervenzufall‘, wie Carl Ludwig dieses seltsame Ereignis bezeichnet). Es in der Tat ein starkes Zeichen dafür, dass er stets am Rande der Erschöpfung agiert, zunehmend geschwächt von körperlich-seelischen Irritationen und Missstimmungen. Kein Wort davon bei Pernet, der alles unterschlägt, was seinem schönen, auf philologisch fragwürdige Art erzeugten Pfarrerbild zuwiderläuft. Aus den Familiendokumenten hätte er erfahren können, dass diese Labilität Carl Ludwig Nietzsches den näheren Verwandten durchaus bekannt ist und zu einigen Befürchtungen stärksten Anlass gibt. In dieser Hinsicht aufschlussreich sind die Briefe der Schwester Rosalie, die bis 1844 bei Verwandten in Plauen wohnt und das Leben im Röckener Pfarrhaus aus der Ferne sorgenvoll beobachtet. Bereits im Januar 1842, kurz nach des Bruders Amtsantritt, schreibt sie an ihre Mutter Erdmuthe: „Daß unser Ludwig aber immer sehr viel zu thun haben wird ist gewiß, möge ihn der liebe Gott seine Gesundheit kräftigen und ihm Freudigkeit verleihen […] Diese Woche hat er doch nicht auch schon eine Leichenpredigt gehabt […] das würde ihn gewiß sehr gleich seine Kraft mitgenommen haben.“10 Zwei Monate später gilt ihre Sorge der ersten größeren Amtshandlung, die der Bruder vorzunehmen hat: „Auf den Sonntag als Palmarum hat unser Ludwig wohl auch die Confirmation der Kinder! u. da wolle der liebe Gott ihn besonders segnen zu dieser ersten Confirmation und überhaupt ihn mit Gesundheit zurüsten daß er die schweren Tage gut übersteht! Meine Mutter wie werden sie den lieben Gott […] anflehen um Kraft für Ihren Ludwig; ängstigen Sie sich nur nicht so sehr, daß es nicht etwa Ihrer theuren Gesundheit nachtheilig wird.“11 Unmittelbar anschließend berichtet sie von einem zwar schrecklichen, aber im Hinblick auf die schwache Konstitution Carl Ludwigs halbwegs 8 9 10 11
Carl Ludwig Nietzsche, Brief aus Röcken an Emil Julius Schenk in Zeitz, 21. oder 20. 1. 1846 (GSA 100/396). Ebd. Rosalie Nietzsche, Brief aus Plauen an Erdmuthe Nietzsche in Röcken, 16. 1. 1842 (GSA 100/134). Dies., Brief aus Plauen an Erdmuthe Nietzsche in Röcken, 15. 3. 1842 (GSA 100/134).
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plausiblen Gerede, das im Kreise der Verwandten und Bekannten die Runde macht: „Daß das Gerücht von dem Tode unseres Ludwig nur sein recht langes Leben bedeuten möge, ist natürlich durchaus bemerkenswert, wie oft auch der innigste Wunsch unseres Herzens.“12 Die allbekannte Redensart ‚Totgesagte leben lange‘, auf die Rosalie Nietzsche anspielt, soll sich bei ihrem Bruder allerdings nicht bewahrheiten: die ersten warnenden Anzeichen einer schweren, möglicherweise unheilbaren Krankheit zeigen sich bei ihm früh und können, auf welche Weise auch immer, für die frühen Jahre des Kindes Friedrich Nietzsche durchaus prägend gewesen sein; nicht immer mag, wie Pernet nahelegt, die Gestalt des Vaters als beruhigende, beglückende und tröstende Autorität, sondern auch als Abwehr erzeugende Angstfigur erscheinen.13 Es ist bemerkenswert, dass Pernet bei seiner Präsentation des Briefwechsels die Krankheitsberichte übergeht, auch jenen charakteristischen vom Mai 1846: „Ich bin viel im Freien, auch um meiner Gesundheit willen, denn ich kann das Stubensitzen und Studiren gar nicht recht mehr ertragen, wenn ich arbeite, bin ich krank, daher jeder Sonntag mir ein Krankheitstag ist, ein Zustand, der hoffentlich nicht lange dauert, wie es sich jetzt auch schon zu bessern scheint, obwohl ich gestehe, daß ich schon von den wenigen Zeilen dieses Briefes einen eigenthümlichen Kopfschmerz wieder bekommen habe.“14 Man darf mit einigem Recht behaupten, dass mindestens seit dem Frühjahr 1846 der körperliche und seelische Gesamtzustand Carl Ludwig Nietzsches seine ‚Lebensqualität‘ zunehmend beeinträchtigt, die täglichen Amtsgeschäfte (vor allem das sonst so engagierte Predigen) zur nach Außen verborgenen Qual werden lässt und das Familienleben nachhaltig verdunkelt. Wie Martin Pernet dennoch von einer durchgängig „aufgeräumte[n] und heitere[n] Stimmung“15 im Röckener Pastorat sprechen kann, mag sein innerstes Geheimnis bleiben; mit einer sachkundigen, philologisch gründlich fundierten Interpretation haben seine Phantasie-Produkte nichts, aber auch gar nichts zu tun!16 Sind schon hinter Pernets Darstellung von Carl Ludwig Nietzsches Persönlichkeit, Lebenswandel und Charakterprofil einige kräftige Fragezeichen zu setzen, so mag den halbwegs sachkundigen Interpreten bei der Bestimmung theologisch-philosophischer Grund12 13
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Ebd. Besonders ex- und intensiv hat sich Hermann Josef Schmidt mit dieser für die geistige Entwicklung des Philosophen Friedrich Nietzsche vielleicht folgenschweren Ambivalenz auseinandergesetzt; vgl. Hermann Josef Schmidt, Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche, Kindheit, Teil I/II, Berlin, Aschaffenburg 1991; sowie ders., Nietzsche absconditus, Teil III, Berlin, Aschaffenburg 1991. Es ist durchgängig bemerkbar, dass Martin Pernet die seit 15 Jahren erschienene biographische Nietzsche-Literatur nicht zur Kenntnis genommen hat, was seiner Arbeit einen Hauch von wissenschaftlicher Unseriosität verleiht. Carl Ludwig Nietzsche, Brief aus Röcken an Emil Julius Schenk in Zeitz, 1. 5. 1846 (GSA 100/369). Martin Pernet, Eine Quelle für Nietzsches christliche Herkunft, 281. Es ist sehr bemerkenswert, wenn Pernet auf dem Hintergrund eigener unhaltbarer Expektorationen die von Curt Paul Janz konstatierte „Morbidität“ im Röckener Pfarrhaus als nicht der Realität entsprechend disqualifiziert (ebd., 281, Anm. 4), als ob er, in arroganter und unberechtigter Überheblichkeit, der „Realität“ (was ist das überhaupt in diesem Zusammenhang?) durch einen (himmlischen?) Gnadenakt teilhaftig geworden wäre! Hier sei nochmals hingewiesen auf: Klaus Goch, Nietzsches Vater oder die Katastrophe des deutschen Protestantismus, das Kapitel Röcken, 323ff.
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haltungen und Daseinsdeutungen erst recht eine milde Verzweiflung anwandeln, zumal in diesem Fall allzu deutlich wird, dass fehlende (oder bewusst dogmatisch ausgeblendete) historische Kenntnisse, verknüpft mit naiv-schönrednerischen Psychologismen, zu Verzerrungen und Missdeutungen auf fast skandalös zu nennende Weise führen müssen: Pernet umgeht mit Fleiß jene Probleme, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Existenz und die Amtsführung eines evangelischen Pfarrers substantiell bestimmen und belasten, hat doch zur Zeit Carl Ludwig Nietzsches ein protestantischer Geistlicher nicht nur die ihm verordnete administrative Aufgabe, den Anordnungen der Obrigkeit (in diesem Fall des preußisch-monarchischen Herrschaftssystems), also die Gewalt der Staatsmacht theologisch zu legitimieren, sondern auch die seinem seelsorgerlichen Auftrag beigelegte Verpflichtung, die aus der feudalen Herrschaft zwangsläufig hervorgehenden Nöte und Beschwernisse seiner Gemeindeglieder wahrzunehmen und (vielleicht sogar gegen die Intentionen und konkreten Maßnahmen der politischen Macht) seinen Vorgesetzten zur Kenntnis zu bringen. Bei Pernet liest man nichts von diesen grundlegenden Konflikten, die selbstverständlich auch in dem Briefwechsel zwischen Carl Ludwig Nietzsche und Emil Julius Schenk thematisiert werden, besonders in den unruhigen Jahren vor der großen Revolution von 1848, als der deutsche, vor allem der preußische Protestantismus in eine quälende Legitimationskrise gerät und jeder einzelne Pfarrer zu fast existentiellen Entscheidungen gezwungen ist: Wie weit soll er (als Seelsorger) die aus politisch-materieller Not und Unterdrückung hervorgegangenen revolutionären Bestrebungen tolerieren oder fördern oder soll er sich (als ‚tragendes Element‘ des staatlichen Machtapparats) auf den Boden eines theologisch-politischen Projekts stellen, das die autoritäre Herrschaft des Königs (zuweilen gewaltsam-administrativ) legitimieren und absichern will? Ist er bereit, jene seltsame, in sich widersprüchliche Vermischung eines flachen, pervertierten Pietismus mit der stark ‚ordnungspolitisch‘ akzentuierten lutherischen Orthodoxie zur Grundlage seines beruflichen Handelns zu machen? Er müsste dann (nach einem inneren, angstbestimmten Akt des sacrificium intellectualis) einen christlichen Glauben predigen, der sich von der ‚Infizierung‘ durch die ‚optimistische‘ Anthropologie der Aufklärung wieder ‚gereinigt‘ hat, so dass erneut der unmündige, durch die Erbsünde von Natur aus böse und besserungsunfähige Mensch zum Ausgangspunkt der Verkündigung wird – nicht aber das zwar öfters sündige, jedoch vernunftbegabte Erdenkind, das kraft seines gottgeschenkten Urteils- und Einsichtsvermögens zu Moral und ‚gutem Leben‘ durchaus befähigt ist. Er hätte den Gläubigen die Botschaft zu vermitteln, dass sie allein durch die unverdiente göttliche Gnade aus ihrem irdischen Jammertal erlöst werden können, dass irdisches Elend und materielle Not gottgewollt und sogar als Grundvoraussetzungen und movens göttlichen Gnadenwirkens christlich-theologisch gerechtfertigt sind, jede Rebellion aber gegen gesellschaftliche Disproportionen und soziale Ungleichheiten, gegen Armut und Unterprivilegierung als ein sündhafter Akt der Glaubensvergessenheit unterdrückt werden muss, nicht zuletzt mit Hilfe staatlich-monarchischer Autorität. Verkündet ein Pfarrer zur Zeit des Briefwechsels zwischen Carl Ludwig Nietzsche und Emil Julius Schenk (in der politisch unruhigen, auf gesellschaftliche Veränderung gerichtete Vormärzepoche) auf solche Weise die christliche Lehre, wird er nolens volens Mitarbeiter und Teil eines großangelegten Projekts der Restauration und Gegenaufklärung, das den staatlichen Organen (hier dem preußischen Königtum) als Hilfs- und Unterstützungsideologie zur Absicherung des brüchig gewordenen Herrschaftssystems
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zunehmend dienlich ist und deshalb von der geistlichen Administration und den Kulturbehörden direkt gefördert, zumindest aber wohlwollend begleitet wird. Es ist der preußische Herrscher Friedrich Wilhelm IV., der sich in antiquierter Manier unantastbar als Gottes Stellvertreter begreift und seine Berater ermutigt, jede Kritik am König als Vergehen wider das Höchste und Heiligste, also als Sünde zu kennzeichnen, damit jede Revolte gegen Ungerechtigkeit und soziale Missstände, sei sie pragmatisch auch berechtigt, als Ausgeburt des Antichristen von den Organen des Staates unter dem Anschein christlicher Legitimität niederzuschlagen ist. Man gewinnt nun allerdings den Eindruck, dass Pernet in seiner Brief-Präsentation diese für die deutsche Vormärz-Zeit charakteristische Vermischung von Theologie und Politik nicht recht begreift; er kann (oder will) nicht deutlich machen, dass vor 1848 jede ‚theologische‘ Kampfposition immer auch eine klare politische Parteinahme ist.17 Er scheint geneigt, Carl Ludwig Nietzsche als konservativen, im Grunde friedfertigen Geist zu charakterisieren, obwohl man ihn auch, unter politischem Aspekt (ganz ohne moralische Wertung) durchaus als radikalen, fanatischen Reaktionär bezeichnen könnte. Gerade die Briefe an Schenk zeigen ihn als ziemlich rücksichtslosen, zuweilen von Hass erfüllten Anhänger der königstreuen erwecklichen Orthodoxie, als Feind des angeblich alle Werte relativierenden, die göttliche Weltordnung zerstörenden Aufklärertums. Seine Gegner sieht er versammelt in einer dissidentischen religiösen Bewegung, deren Mitglieder sich Protestantische Freunde nennen, später jedoch als ‚Lichtfreunde‘ bezeichnet werden, weil sie in ihrem Programm die Werte der Aufklärung, des ‚Zeitalters des Lichts‘ vertreten. Sie verkünden in der Tat ein aufklärerisches, ‚rationalistisches‘ Christentum, sie verhalten sich kritisch-ablehnend gegenüber dem Glauben an eine die Gesetze der Natur außer Kraft setzende göttliche Offenbarung, sie sehen in der Gestalt Jesu nicht vornehmlich den weltrichtenden Gottessohn, sondern den vorbildhaften, milden Lehrer der Menschheit, einen ins Kosmische gesteigerten ‚Aufklärungsphilosophen‘; sie suchen deshalb folgerichtig nach einer ‚natürlichen‘ Erklärung der neutestamentlichen jesuanischen Wunder. Bemerkenswert ist aber vor allem, dass dieser Lichtfreunde-Bewegung, die zunehmend die Einheit der preußischen Kirche gefährdet, nicht nur Theologen, sondern maßgeblich auch Vertreter weltlicher Berufe angehören: Handwerker, Gewerbetreibende, untere und mittlere Beamte, insbesondere aber ein nicht unbeträchtlicher Teil der Volksschul-Lehrerschaft, Bevölkerungsgruppen, die sich innerhalb des ökonomischgesellschaftlichen Systems zunehmend unterprivilegiert fühlen und stärkere politische Teilhabe fordern, wobei sie vermuten, dass die erwecklich-orthodoxe Berliner Hofkamarilla die Transformation des preußischen Staates in eine ‚zeitgemäße‘, die Prinzipien der Volkssouveränität integrierende konstitutionelle Monarchie mit allen, auch gewaltsamen Mittel zu verhindern sucht.18 Existentiell und substantiell fühlt sich Carl Ludwig Nietzsche von den Lehren dieser Lichtfreunde abgestoßen, obwohl er selbst als Student der Hallenser Universität dem Rationalismus ergeben war und seine verehrten akademischen Lehrer Wegscheider und Ge17 18
Dazu: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Zweiter Band, Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“, 1815–1845/49, München 1989. Ausführlich zu den „Lichtfreunden“: Klaus Goch, Nietzsches Vater oder die Katastrophe des deutschen Protestantismus, 359ff.
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senius, als geistige Väter der Lichtfreunde-Bewegung gelten können. Aber gerade weil er im Laufe seiner theologischen Entwicklung vom ‚rationalistischen Saulus‘ zum ‚erwecklich-orthodoxen Paulus‘ wurde, ist er nun, in einem Akt der Unterdrückung und inneren Abwehr, von einem besonders heftigen, ‚unvernünftigen‘ Hass auf den vermeintlich destruktiven, alle göttliche und menschliche Ordnung in Frage stellenden „vernunftreligiösen“ Gegner erfüllt.19 So reagiert er äußerst verstört und erregt, als er erfährt, dass ein Gemeindeglied (ein einfacher Röckener Bauer) sein Kind noch ‚konventionell‘ zur Taufe bringen, dann aber einer von den ‚Lichtfreunden‘ gegründeten ‚freien Gemeinde‘ beitreten will. Carl Ludwig Nietzsches Einrede ist vergeblich: „Ich bearbeitete den Mann fast 2 Stunden lang […] Ach, wie viel ungewaschenes Zeug habe ich da über Glaube, Liebe, Kirche, Freiheit hören müssen […] nun, wenn diese freien Gemeinden viele solche ähnlichen Glieder haben, dann tragen sie wahrlich den Tod in sich selber, im besten Fall muß man beten, Vater, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun!“20 Es liegt eine gewisse Überheblichkeit, eine allzu starke, angestrengte geistige (vielleicht auch körperlich schwächende) Energie in diesen Abwehrbewegungen; es scheint, dass Carl Ludwig Nietzsche eigentlich, seinem nicht gefestigten Charakter gemäß, immer noch im Kampf mit seinen früheren ‚jugendlichen‘ theologischen Überzeugungen ist. Gerade im Briefwechsel mit dem vertrauten Freund wird etwas bemerkbar von diesen sonst nach Außen verheimlichten Zweifeln (die glücklicherweise auch dem Präsentator Pernet nicht verborgen bleiben); dort nämlich klagt Carl Ludwig Nietzsche, dass es ihm schwer falle, seine Homiletik ganz der erwecklich-orthodoxen Lehre unterzuordnen. Erst im Gottesdienst, beim Anblick der Gemeinde, verschwinde jede Glaubensnot: „sobald ich ans Predigen komme, vergesse ich alle Zweifel und Bedenken, […] werde ich ruhig, sicher, muthig und auch entschieden, und auf der Kanzel gehöre ich mit voller Wahrheit zu den strengsten, symbolgläubigen, wirklich lutherischen Theologen.“21 In der Studierstuben-Atmosphäre, in der intellektuellen Reflexion, scheint es jedoch kaum möglich, „gegen Alles die Augen zu verschliessen, was auf der entgegengesetzten Seite doch auch Gutes und Wahres ist.“22 Es verwundert nicht, dass Carl Ludwig Nietzsche, um diese innere Unsicherheit zu betäuben, früh die Gemeinschaft mit jenen erwecklich-orthodoxen Amtsbrüdern sucht, die öffentlichkeitswirksam in Vereinen und Gesellschaften ihr reaktionäres Credo verkünden. So kann man ihn durchaus zu den Gründungsmitgliedern des ‚Centralvereins evangelischer Theologen der Provinz Sachsen‘ zählen, der als anti-rationalistischer ‚Kampfbund‘ am 12.Oktober 1842 erstmals zusammentritt, und demonstrativ (oder provokativ) in der einstigen herrnhutischen Kolonie Gnadau (südlich von Magdeburg) als jenem Ort, von dem aus auch die gegnerischen Lichtfreunde ihren Ausgang genommen hatten. Trotz zunehmender körperlicher Schwäche tritt er oft und gern die Reise zu den dort häufig stattfindenden Konferenzen und Kundgebungen an, um im Kreise Gleichgesinnter Geborgenheit und eine Gemeinschaft zu erleben, die ihn in seiner Glaubenshal19 20 21 22
Zu Carl Ludwig Nietzsches theologischer Entwicklung das Kapitel Halle, ebd., 192ff. Carl Ludwig Nietzsche, Brief aus Röcken an Emil Julius Schenk in Zeitz, 13. 1. 1848 (GSA 100/396). Ders., Brief aus Röcken an Emil Julius Schenk in Zeitz, 15. 12. 1845 (GSA 100/396). Ebd.
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tung bestärken und alle Zweifel beseitigen soll. In den Briefen an Schenk kommt sehr deutlich zum Ausdruck, dass es ihm in Gnadau weniger um intellektuelle Erkenntnis und Bereicherung, sondern um ein irrational getöntes, seelisch erhebendes ‚Wir-Gefühl‘ geht; so berichtet er im Mai 1848 dem Freund, er habe sich wieder einmal anlässlich einer Gnadauer Zusammenkunft innerlich zutiefst erhoben empfunden: „mir sind die hellen Thränen von den Wangen geträufelt! Ich war so ergriffen von dem ganzen Tag, daß ich mich fast krank fühlte [er ist] hoch getröstet in der Überzeugung [daß man] im Blick auf die Zeit nicht den Muth verlieren“ braucht.23 Es ist dies eine sehr illusionäre Selbstberuhigung, wenn man die große existentielle Verzweiflung vor Augen hat, in die Carl Ludwig Nietzsche etliche Wochen vorher durch die Revolution in Preußen geraten war. Sie kommt besonders klar zum Ausdruck in einem Brief, der fragmentarisch zuweilen in Nietzsche-Biographien erscheint, wenn von der geistigen Welt des Vaters die Rede ist; leider unterschlägt auch Pernet jene Passagen, die auf die politische Einsichtsfähigkeit und Moralität des äußerst erregt Korrespondierenden ein diffuses, nicht immer schönes Licht werfen: „Mein theurer Freund!/ ich bin Dir sehr dankbar dafür, daß Du mir gleich nach den Zeitzer Unruhen geschrieben hast, denn schon am Mittwoch früh hatte ich Nachricht davon in sehr vergrößertem Maßstabe (unter Anderem sollte halb Zeitz in Flammen stehen), so daß wir um Euch Lieben viel Sorge hatten. Gott sei Dank, daß das Traurige nicht einen solchen Höhegrad erreicht hatte und daß Ihr dabei sammt und sonders unversehrt geblieben seid. Möge der Herr auch ferner über Euch wie über uns seine Augen gnädig und schützend offen halten – denn, mein lieber Schenk, in welch einer ernsten, schrecklichen Zeit leben wir, eine Zeit, die mir noch viel ernster vorkommen muß als Dir, denn Du stimmst doch mit den Ereignißen und Ergebnißen wenigstens überein, wenn Du auch gewiß die Mittel und Wege verachten und bejammern wirst – aber ich kann in allem dem, was nun wird, auch nur Unheil erkennen, und muß das was Du ein ‚Wenden zum Guten‘ nennst, nur als ein Fortschritt zum Bösen bezeichnen. Wie hat es mich in diesen Tagen zu Dir gedrängt, um mich gegen Dich auszusprechen, denn ich bin jetzt fortwährend in der größten Aufregung und traurigsten Zerrissenheit gewesen, wobei ich Deiner beruhigenden und aufklärenden Zusprache sehr bedurft hätte; das Spotten und Aufziehen von wegen meiner ‚politischen Naivität‘ würdest Du gewiß gelaßen haben, wenn Du meine Jammerthränen gesehenhättest, die ich über die neuesten Ereigniße geweint und selbst in der Kirche nicht zurückhalten konnte. Ja, lieber Schenk, ich bitte Dich um Gottes und um unserer Freundschaft willen, ziehe mich nicht auf ob meiner politischen Naivität, denn, was Du so nennst, ist ein kindlicher Glaube, den ich mir nur mit blutendem Herzen entreißen lassen kann, ein Glaube, an den ich mich jetzt festklammere, wo alle Ereigniße derart sind, daß er sehr erschüttert und verringert werden könnte! – Was mich aber so jammert ist nicht sowohl das vergossene Blut, darin erkenne ich mehr nur ein gerechtes Verhängniß Gottes, womit er die Radicalen und Liberalen einmal bestraft hat / [Randnotiz:] daß dabei freilich mancher Unschuldige mit den Schuldigen hat leiden müssen ist leider sehr wahr und bejammernswerth / sondern ich jammere darob, daß unser König todt ist, denn der Friedrich Wilhelm, welcher in den Straßen Berlins, mit der Freiheitsfahne und den Burschenbändern geschmückt, umherreitet, ist nicht mehr der König, welcher einst gesprochen ‚wehe dem, der an meine 23
Ders., Brief aus Röcken an Emil Julius Schenk in Zeitz, 8 .5. 1848 (GSA 100/396).
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Krone rührt‘, das ist nicht der König, dem ich einst in tiefer Ehrfurcht ins Auge geschaut als Einem, der von Gottes Gnaden vor mir stand!“24 Erst die Präsentation solch einer längeren Passage aus dem für die Ermittlung der Persönlichkeitsstruktur Carl Ludwig Nietzsches aufschlussreichen Brief verdeutlicht die Mentalität und innere Haltung, mit der er eine brisante politische Situation wahrnimmt und verarbeitet: Hier spricht kein ein kühler, abwägender, möglicherweise auch kritisch-konservativer Geist, hier ist im Gegenteil jede halbwegs vernünftige, auf rationale Kriterien sich stützende Betrachtungsweise (wie sie bei einem durch ein langes theologisch-akademisches Studium geschulten Verstand eigentlich vorauszusetzen ist), einer aufgeregten, fast penetranten Gefühlsaufwallung gewichen. Carl Ludwig Nietzsche scheint von den Revolutionsvorgängen auf eine derart heftige Art ‚unangemessen‘ persönlich betroffen, dass man den Eindruck gewinnt, einem exaltierten, intellektuell nicht ganz glaubwürdigen Seelen-Theater beizuwohnen. Es gibt keine Hemmung, die Gemeinde im sonntäglichen Gottesdienst mit Tränengüssen zu belästigen, um ihr deutlich zu machen, wie weltuntergangsgleich die Revolution als schlimmes Verhängnis über das Land gekommen ist und nun das Reich des Antichristen heraufdämmert. Es gibt keine Scheu, den König in Berlin für symbolisch tot zu erklären, nur weil diese halb geisteskranke Jammergestalt auf dem preußischen Thron in einem Akt des heuchlerischen (bald wieder zurückgenommenen) Opportunismus dem Drängen der ‚Radikalen‘ und ‚Liberalen‘ nachgegeben hat und sich mit der Idee einer konstitutionellen Monarchie anzufreunden scheint. Und es gibt, durchaus bemerkenswert für einen Geistlichen, nicht das geringste Mitleid mit den Toten der Revolution, sondern nur die kalte Genugtuung darüber, dass ihnen die angeblich göttliche Gerechtigkeit das einzig angemessene Schicksal hat zuteil werden lassen und man bloß über einige zufällig getötete Unschuldige, über unumgängliche Kollatoralschäden zu klagen hat. Was diesem Brief dennoch einen Hauch von Aufrichtigkeit verleiht, ist jene Art von Selbsterkenntnis, die den Verfasser zugeben lässt, dass er, im Gegensatz zu seinem Freunde Schenk, auf eine die Realität vielleicht verzerrende Weise in politicis naiv denkt und fühlt, also gar nicht wirklich in der Lage ist, die Revolution halbwegs sachlich-realistisch zu bewerten.25 Trotz solcher Einsicht scheint er aber unfähig, sich einer differenzierten Betrachtungsweise zu öffnen, und es ist nicht schwer, diesen Carl Ludwig Nietzsche (im Gegensatz zu Pernets Kombinationen) als politisch ‚dumm‘ und ungebildet darzustellen, als auf eine dumpfe, unbelehrbare Weise ‚reaktionär‘, als unfähig-unwillig, sein gesellschaftliches Umfeld und die ‚Zeichen der Zeit‘ halbwegs ‚vernünftig‘ wahrzunehmen und zu analysieren, also als weit entfernt von 24
25
Ders., Brief aus Röcken an Emil Julius Schenk in Zeitz, 27. 3. 1848 (GSA 100/396). Zu den revolutionären Vorgängen des Jahres 1848, besonders zur Haltung der erwecklich-orthodoxen Geistlichkeit in jener Zeit: Klaus Goch, Nietzsches Vater oder die Katastrophe des deutschen Protestantismus, 372ff.; zur besonderen Beziehung zwischen Carl Ludwig Nietzsche und Friedrich Wilhelm IV., vor allem zur folgenreichen Audienz beim König Ende Juli 1841: ebd. 310ff. (Kapitel Ein huldreicher König). Hier besteht ein starker Gegensatz zwischen den Freunden Nietzsche und Schenk. Schenk ist historisch und politisch weit belesener und kompetenter als Carl Ludwig Nietzsche, auch eher ein „Intellektueller“, vgl. seine Personalakte, AEKM, Sch 184. Ausführlich dazu das Kapitel Diskurs mit einem treuen Freund, in: Klaus Goch, Nietzsches Vater oder die Katastrophe des Protestantismus, 293ff.
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einem ruhigen, abwägenden Konservatismus, wie er dem Habitus und der Geisteshaltung eines protestantischen Gemeindepfarrers eher gemäß sein würde. Jenes Bild jedoch, das Pernet seinen Lesern von diesem Carl Ludwig Nietzsche vermitteln will, ‚verklebt‘ alle Ambivalenz, alles ‚Negative, alle charakterliche ‚Schattenseiten‘: es ist allzu eindimensional, platt, allzu ‚positiv‘, harmonisierend, jedes historischen Hintergrundes beraubt, allzu tendenziös in der Absicht, wieder einmal Nietzsches Vater vorzuführen als Hauptfigur in einer nur ganz leicht gestörten evangelischen Pfarrhaus-Idylle, wie sie niemals gelebt worden ist, wie sie nur in der Phantasie jener Interpreten aufrechterhalten wird, die sich von tradierten Schemata nicht trennen können oder wollen, weil sie den unzähligen Dokumenten und Quellen nicht Herr zu werden in der Lage sind, aus frömmlerisch-manipulativen Gründen oder schlicht aus sonstigen intellektuellen Defiziten.
2. Die Erziehung – freundlich und mild? Es wäre keineswegs abwegig, wenn man behaupten würde, dass die Kenntnis eines Briefwechsels, den Nietzsches Vater mit einem lieben Freund geführt hat, nicht unbedingt wichtig und notwendig ist, um Leben und Werk des Sohnes Friedrich Nietzsche besser zu verstehen und biographisch angemessen darzustellen. Dieser Carl Ludwig Nietzsche stirbt sehr früh; er ist in der vita seines ältesten Kindes nur als (allerdings wirkungsmächtige) ‚mystische‘ Figur aus dem Jenseits präsent, nicht aber als unmittelbares Vorbild, als ‚Partner‘ oder auch ‚Gegner‘, an dem sich die eigene Persönlichkeit, die ‚Individualität‘ (vielleicht auch im Konflikt) entwickeln und festigen kann. So mögen die Briefe aus der preußischen Provinz weniger aufschlussreich im Hinblick auf die Gestalt des heranwachsenden Nietzsche sein, sondern eher bemerkenswert hinsichtlich des kulturgeschichtlichen Blicks auf die Denk- und Lebensweise protestantischer Pastoren zu Beginn des industriellen Zeitalters mit seinen technischen Errungenschaften, aber auch sozialen Verwerfungen: bis hin zu jenem kleinen Alltagsabenteuer, von dem Carl Ludwig Nietzsche im Juni 1848 berichtet, dass nämlich das „Mamachen“ (die Mutter Erdmuthe) ihn auf einer „Missionsreise“ begleitet hat und sie „bei dieser Gelegenheit […] zum ersten Mal auf der Eisenbahn gefahren [ist], das war ein großes Ereigniß für uns; es gefiel ihr aber ganz wohl, auch benahm sie sich einige Angstschreie abgerechnet sehr muthig“.26 Dennoch, sofern der Briefwechsel etwas aussagt über die Erziehungsmethoden, über die in Röcken praktizierte Pädagogik, könnte er die nicht ganz problemlose Kindheitsgeschichte Friedrich Nietzsches etwas stärker beleuchten und auf diese Weise einige neue, vielleicht wichtige, auf die frühe Lebenszeit bezogene biographische Sachverhalte deutlicher ins Blickfeld treten lassen. In der Tat gibt es Passagen, die aus dieser Perspektive einigen Erkenntniswert besitzen; dass Pernet sie missdeutet, uminterpretiert und in ihrer Brisanz teilweise überhaupt nicht versteht, muss leider gleich wieder hinzugefügt werden. Das bekannte, von vielen Biographen immer wieder heraufbeschworene Bild vom klugen Kind Fritz Nietzsche, das von der ganzen Familie herzinnig geliebt (sogar bestaunt) wird und im Vater eine schon sehr früh verehrte, angehimmelte Leit26
Carl Ludwig Nietzsche, Brief aus Röcken an Emil Julius Schenk in Zeitz, 27. 6. 1848 (GSA 100/396).
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und Bezugsfigur findet, liegt auch der Darstellung Pernets zugrunde, obwohl dieser als protestantischer Theologe eigentlich wissen sollte, dass in einem evangelischen Pfarrhaus um die Mitte des 19. Jahrhunderts immer noch die alte lutherische, nicht gerade freundlich-gewaltfreie Erziehungslehre die pädagogische Atmosphäre maßgeblich und ganz ‚unidyllisch‘ bestimmt. In diesem familiären Verständigungssystem sind alle Interaktionen zwischen Eltern und Kindern auf das Prinzip Befehl-Gehorsam gegründet; conditio sine qua non ist stets und christlich-theologisch angeblich gerechtfertigt, die absolute Submission des Kindes unter den Willen der Eltern (besonders unter den des Vaters) auch wenn diese, wie der Reformator Marttin Luther unmissverständlich formuliert, „Unrecht tun und Gewalt üben“,27 denn unantastbares Gesetz für das Kind ist „williger Gehorsam, Demut und Unterordnung unter alle, die über uns zu bestimmen haben, ohne jedes Widersprechen, Klagen und Murren, wie es der Apostel Petrus sagt, weil es Gott so gefällt“.28 Diese harte, ‚schwarze‘ Pädagogik kennzeichnet auch die ‚Aufzucht‘ der Kinder im Pfarrhaus zu Röcken; sie erzeugt (nach Außen für die Gemeinde sichtbar und vorbildhaft) disziplinierte, lernwillige, hochangepasste kindliche Wesen; sie bewirkt daneben aber auf lebensprägende Weise den aus einer solchen Erziehung sich ergebenden Konflikt des Kindes zwischen dem ganz individuellen, aus der ureigenen, andersartigen, ‚angeborenen‘ Charakter-Disposition sich möglicherweise auch im Protest entfaltenden Lebensentwurf und dem Wert- und Regelsystem jener Elterngewalt, der man Gehorsam schuldig ist, so dass jede Art von ‚Individuation‘ oder ‚Emanzipation‘ als moralisches Vergehen (und theologisch-christlich gesprochen) als Sünde wider Gott erscheint. Davon ganz unberührt bleibt jene ursprüngliche, ‚animalische‘ Liebe der Eltern, die ihr Kind voraussetzungslos ‚annehmen‘ (sofern sie nicht von einer fürchterlichen Perversion ergriffen sind); von dieser ‚Grundbefindlichkeit‘ abzuheben ist jedoch die im Alltag konkret praktizierte, auf familiären Werten und Normen beruhende Erziehung, also der tägliche Umgang mit den unmündigen Kind, das mehr oder minder angemessen behandelt werden und auf der Basis eines ‚harten‘ Erziehungsmodells durchaus auch Lieblosigkeit, strenge Bestrafung und (temporäre) Ablehnung erfahren kann. Es fällt Pernet nicht schwer, im Briefwechsel zwischen Carl Ludwig Nietzsche und dem Freund Schenk immer wieder Passagen zu finden, die eine unmittelbare, ‚kreatürliche‘ Liebe des Röckener Pfarrers zu seinem kleinen, erstgeborenen Sohn auf zuweilen anrührende Weise dokumentieren; er kann aber auch, um den Regeln einer sachgerechten Philologie halbwegs zu genügen, keineswegs gänzlich verschweigen, dass daneben ein anderer, entgegengesetzter pädagogischer Ton zu vernehmen ist: Besonders interessant und charakteristisch in einem Brief vom 15. Dezember 1846, in dem Carl Ludwig Nietzsche berichtet, dass den kleinen Sohn „manchmal allein noch der Papa zur Raison bringt, sintemalen von diesem die Ruthe nicht fern ist, allein jetzt hilft ein Anderer mächtiger miterziehen, das ist der liebe heilige Christ, welcher auch bei dem kleinen Fritz schon Kopf und Herz ganz eingenommen hat, daß er von nichts anderem sprechen und hören 27
28
Martin Luther, Eine kurze Form der Zehn Gebote, eine kurze Form des Glaubens, eine kurze Form des Vaterunsers, in: Ders., Die reformatorischen Grundschriften in vier Bänden, Bd. 4, hg. von Hans Beintker, München 1983, 56. Ebd.
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will als vom ‚heile Kist‘! – Es ist das etwas gar Liebliches“.29 Fast wäre es eine Beleidigung der Leserschaft, wenn man ihr jetzt eigens erklären würde, dass mit dem hier erscheinenden, heute etwas altertümlichen Wort „Ruthe“ ein Schlaginstrument gemeint ist, des öfteren eingesetzt als ziemlich taugliches Werkzeug zur körperlichen Züchtigung von Kindern. Es liegt sehr nahe zu vermuten, dass das Kind Friedrich Nietzsche nach gewissen ‚Unartigkeiten‘ manchmal geschlagen wurde, eine Praxis, die Pernet allerdings, trotz dieser recht deutlichen Passage, als überhaupt nicht vorhanden bezeichnet, existent nur in der Phantasie einiger inkompetenter Biographen.30 Die ganz besondere Merkwürdigkeit und pädagogische Brisanz des zweiten Teils dieser Briefpassage scheint er überhaupt nicht wahrzunehmen, geschweige denn in seiner verhängnisvollen ‚Dialektik‘ angemessen zu interpretieren. Die Evozierung der Christus-Gestalt ist für ihn auf schönste Weise das Signum für eine sanfte, friedlich-freundliche Erziehungsatmosphäre; er erkennt nicht (oder will nicht erkennen), dass Carl Ludwig Nietzsche das Instrument der körperlichen Züchtigung eng mit dem Jesus-Bild verknüpft: neben dem Schlagstock gibt es, gegeneinander austauschbar, den vermeintlich lieben Heiland (als ‚metaphysische‘ Macht aus dem Jenseits), der die folgsamen Kinder zu Weihnachten mit schönen Gaben beglückt, während die Ungezogenen schmerzhafte Prügel zu gewärtigen haben. Ganz ungeniert, geradezu fröhlich wird Christus als Erziehungsgehilfe missbraucht; die Gestalt des „befreienden“, „erlösenden“, „friedenbringenden“ Heilands verwandelt sich in eine dunkle, bedrohliche Straf-Instanz, der die Aufgabe zukommt, den Eigenwillen und die Persönlichkeit des Kindes zu brechen.31 Vermutlich wäre Pernets sehr bestimmt und selbstsicher gefälltes Urteil über die Erziehungspraktiken im Röckener Pfarrhaus nicht ganz so positiv ausgefallen, wenn er seine Archiv-Studien ausgedehnt und weitere Quellen und Dokumente aus dem Familienkreis näher betrachtet und einer Interpretation gewürdigt hätte. Dann wäre er zweifellos auf einen Briefentwurf gestoßen, der mit dem Schreiben an Schenk auf bemer29 30 31
Carl Ludwig Nietzsche, Brief aus Röcken an Emil Julius Schenk in Zeitz, 15. 12. 1846 (GSA 100/396). Martin Pernet, Eine Quelle für Nietzsches christliche Herkunft, 281. Pernet gibt an, dass Reiner Bohley, der die hier in Rede stehende Briefpassage gleichfalls im Sinne einer ‚harten‘ Pädagogik interpretiert, den zweiten Teil des Textes (den ‚Christus-Satz‘) in seinem wegweisenden Aufsatz zu Nietzsches christlicher Erziehung unterschlagen habe (Martin Pernet, Eine Quelle für Nietzsches christliche Herkunft, 281f.). Eine solche Behauptung ist sachlich falsch ( Reiner Bohley, Nietzsches christliche Erziehung, Erster Teil, 171). Zu hoffen ist, dass Pernets Behauptung lediglich auf eine allzu flüchtige Lektüre des Bohley-Essays zurückzuführen ist. – Im übrigen ist Pernet auf eine unangenehme (um nicht zu sagen ‚unmoralische‘) Weise geneigt, bestimmte Interpretationen, die ihn beunruhigen, unbedenklich zu desavouieren oder zu disqualifizieren: so, wenn er eine vielleicht pointierte, aber nicht unbedingt abwegige Deutung als „kolportagehaft“ bezeichnet, wie sein Urteil lautet über einen parallelen Text bei: Klaus Goch, Franziska Nietzsche, Frankfurt am Main und Leipzig 1994, 136 (Vgl. Martin Pernet, Eine Quelle für Nietzsches christliche Herkunft, 281, Anm. 8). Als ‚Kolportage‘ bezeichnet man das Struktur- und Darstellungselement von wertloser Sensations- und Schundliteratur; Kolporteure sind nach allgemeinem Verständnis Halblügner und Verfälscher, Schriftsteller niederen Ranges mit moralisch zweifelhaften Grundsätzen. Möge die Leserschaft entscheiden, ob Pernets Klassifizierung gerechtfertigt ist. Es versteht sich von selbst, dass der Autor des von Pernet auf solche Weise negativ beurteilten Textes sich hier nicht mit einer überflüssigen Gegen-Polemik aufhält.
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kenswerte Weise korrespondiert; es handelt sich um einen Brief Franziska Nietzsches an Emma Schenk (Ehefrau Emil Julius´), in dem erzählt wird, dass der kleine Friedrich „wohl und munter [ist] aber freilich Tischdecken und anderes dergl. wie Ihr gutes Mariechen [Tochter Schenks] kann er noch nicht höchstens daß er den Strohdeller getragen bringt u. macht uns aber viel Vergnügen besonders jetzt denn er spricht nun doch schon zusammenhängend und hat ein treues Gedächtniß und besonders hat er uns durch heile Kist viel unterhalten und war den Christabend über ausgelassen fröhlich und heiter und erzählte nun immer wieder was er alles bekommen hätte wobei er auch nicht vergaß die Ruthe mit zu nennen wenn er nicht tut und artig gewesen wäre es ist aber auch wirklich ein kleiner looser Bursche.“32 In einem weiteren Briefentwurf berichtet Franziska Nietzsche (nach ihrem Geburtstagsfest): „Als ich in die untere Stube trat kamen mir alle mit herzlichen Glückwünschen entgegen, und Fritzchen mit einem Kränzchen und den Wünschchen welches ihn Rosalchen [Rosalie Nietzsche] eingelernt: ‚Liebe Mutter ich wünsche Dir Glück und mir einen freundlichen Blick.‘ Ihr werdet dabei wohl sagen: Sie muß doch manchmal recht böse aussehen, ach ja, es ist der Fritz zuweilen ein kleiner böser Mensch“.33 Sehr prägnant im Hinblick auf eine ‚harte‘ Erziehung im Röckener Pfarrhaus ist auch folgende Briefnotiz der Mutter: „unser Fritz wird jetzt sehr streng behandelt, und muß oft tüchtig die Ruthe fühlen es ist aber auch ein looser Junge.“34 Noch im Alter bestätigt Franziska Nietzsche in einem Brief an ihren Neffen Adalbert Oehler die von ihrem Ehemann praktizierte körperliche Züchtigung: „Als kleiner Junge wo mein Mann noch lebte, hat er [Friedrich Nietzsche] allerdings die Angewohnheit, sich wenn es nicht nach seinem Willen ging, rücklings hinzuwerfen, was ihm aber der gute Papa handgreiflich abgewöhnt hat.“35 Carl Ludwig Nietzsche als „herzensguter, sensibler, stolzer Erzieher seines Sohnes“.36 Was immer Pernet sich als schöne Eigenschaften wünschen mag: dieser Vater verfolgt auch, gemäß seiner protestantisch-erwecklichen Lebensideologie, eine weniger harmonisch-friedfertige Methode, so dass man Zweifel hegen kann, der heranwachsende Friedrich habe den Vater nur als „liebevollsten Menschen, der ihm je begegnete“ erfahren.37 Man darf mit Sicherheit behaupten, dass auch im Pfarrhaus Röcken der täglichen Erziehungsarbeit eine hochprotestantische, durch die Erweckungsexaltation noch verschärfte pessimistisch-negative Anthropologie zugrunde liegt: Sündhaftigkeit, Ungehorsam, böswillige Gottesvergessenheit sind Grundbefindlichkeiten menschlicher Existenz; in besonderem Maße ist das unmündige, ‚unfertige‘ Kind böse („ein kleiner böser Mensch“), 32 33 34 35 36 37
Franziska Nietzsche, Brief aus Röcken an Emma Schenk in Zeitz (Entwurf), undatiert, vermutlich kurz nach dem Weihnachtsfest 1846 (GSA 100/846). Dies., Brief aus Röcken an Ernestine Nietzsche (Entwurf), undatiert, vermutlich kurz nach ihrem Geburtstag am 2. 2. 1847 (GSA 100/846). Dies., Brief aus Röcken an Unbekannt (Entwurf), undatiert, vermutlich Anfang 1847 (GSA 100/846). Dies., Brief aus Naumburg an Adalbert Oehler, 23./24. 6. 1895 (Privatsammlung Carl-Helmut Jagenberg). Martin Pernet, Eine Quelle für Nietzsches christliche Herkunft, 282. Hermann Josef Schmidt, Nietzsche ex/in nuce, Früheste Schülerphilosophie in ihrer grundlegenden Bedeutung für die Nietzsche-Interpretation, in: Zeitschrift für die Didaktik der Philosophie VI (1984), Heft 3.
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uneinsichtig und schon sündenbeladen, muss also, in der erzieherisch wirkenden Gestalt des irdischen Vaters, zur Unterordnung, zum Sündenbekenntnis gegenüber dem allein Seligkeit verheißenden göttlichen Vaterbild gezwungen werden, auch durch körperliche Züchtigung, die als ein Element zur Förderung der individuellen Heilsgeschichte vor Gott und den Menschen gerechtfertigt scheint, obwohl sie zu dem ursprünglichen jesuanischen Liebesgebot im Widerspruch steht. Es kann hier nicht der Ort sein, alle die Erziehung betreffenden Kommunikationsprozesse in der Nietzsche-Familie einzeln darzustellen: Mit Nachdruck aber muss festgehalten werden, dass jenes Pädagogik-Bild, das Pernet malt, allzu hell, schön, ganz ohne notwendige Schattierung ist, ein das Publikum zu ungenauen Wahrnehmungen verführendes Kitsch-Gemälde, von dem der offensichtlich erwecklich inspirierte Maler zu Unrecht behauptet, dass es der historischen Realität mimetisch entspricht. Ab ins Depot mit einem wertlosen Stilleben?38
3. Die Familie – friedlich und froh? Kaum ist es verwunderlich, dass Pernet auch den Bereich, der das Familienleben im Röckener Pastorat betrifft, mit einem dichten Friedfertigkeitsschleier bedeckt und die Brief-Präsentation derart manipulativ konstruiert, dass wiederum ein falsches Bild entsteht, nun aber (wie sich zeigen wird) mit Mitteln, die hart an die Grenze dessen gehen, was philologisch geboten und erlaubt sein sollte, so dass man versucht ist, seine Darstellungsmethode mit sehr unangenehm klingenden Begriffen zu charakterisieren. Man muss nicht sehr bewandert sein auf dem Feld der Familien-Psychologie, um zu bemerken, dass das im Röckener Pfarrhaus versammelte ‚Personal‘ keinesfalls ‚regelkonform‘ ist und deshalb auch Konflikte und Spannungen auftreten können. Da ist, neben Carl Ludwig Nietzsche die Ehefrau (Franziska), sehr jung und deshalb in den Augen ihres weit älteren Gatten selbst noch eine Art Erziehungsobjekt, so dass sie sich stets in einer Position der Defensive befindet und unter den bedrückenden Zwang gerät, den anderen Familienmitgliedern (auch der Kirchengemeinde) deutlich beweisen zu müssen, dass sie fähig ist, die Aufgaben, die einer protestantischen Pfarrfrau auferlegt sind, erfolgreich zu erfüllen. Da ist eine Mutter (Erdmuthe), nach Außen verbindlich und freundlich, aber stets auf gewisse Distanz bedacht, mit Herrschaftsansprüchen, die sie aus ihrer vermeintlich gehobenen sozialen Herkunft ableitet, Respekt und Ehrerbietung fordernd unter der Maßgabe, dass ihre Wert- und Lebensmaximen die Familienkultur, also auch die pädagogische Arbeit an ihren Großkindern zu bestimmen hätten, so dass sie folgerichtig immer wieder erfolgreich versucht, gemeinsam mit ihrem Sohn die unerfahrene junge Mutter Fran38
Ausführlich und instruktiv zum Gesamtkomplex ‚protestantische Pädagogik‘: Andreas Gestrich, Erziehung im Pfarrhaus. Die sozialgeschichtlichen Grundlagen, in: Martin Greiffenhagen (Hg.), Das evangelische Pfarrhaus – Eine Kultur- und Sozialgeschichte, Stuttgart 1984, 63ff. – Im Zusammenhang mit der Praxis körperlicher Züchtigung ist ein Text sehr aufschlussreich, den der pietistisch geprägte Theologe Christian Skriver in einem pädagogischen Traktat veröffentlicht. Es wird dort von einem Vater berichtet, der immer eine Rute auf dem Tisch liegen hatte; er „macht’s wie unser lieber himmlischer Vater mit seinen Kindern, er bereitet zwar vor ihnen einen Tisch […] und gibt ihnen öfters allerlei Gutes, geistlich und leiblich zu genießen. Doch muß die Ruthe, das liebe Kreuz, auch nicht weit sein, damit wir nicht muthwillig werden, sondern in seiner heiligen Furcht und kindlichen Gehorsam einhergehen“ (Zit. nach Gestrich, ebd., 68).
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ziska bei der Erziehung des kleinen Friedrich als entbehrliche Randfigur erscheinen zu lassen. Da ist eine Schwester (Rosalie), konstitutiv nervös, oft geplagt von neurotischen Krankheitszuständen, theologisch und politisch interessiert und gebildet, rastlos tätig in der Diakonie, den Hilfsvereinen, den Missionsgesellschaften, mit einem fast ‚emanzipatorischen‘ Lebensentwurf, der des öfteren in Konflikt zu geraten scheint mit den vorgegebenen sozialen Beschränkungen und Rollenfixierungen und deshalb auch permanente Unzufriedenheit und ‚Unleidlichkeit‘ erzeugt. Und da ist (gleichsam als Gegenbild) die zweite im Haushalt lebende Schwester (Auguste), die ständig kränklich ist, zurückgezogen lebt und einzig aus der täglichen Hausarbeit eine kleine Zufriedenheit gewinnt. Als Fazit darf festgehalten werden, dass diese seltsame Familien-Konstellation durchaus auch ein aparter, aufschlussreicher Fall sein könnte für alle, die sich systematisch-wissenschaftlich in historischer Perspektive mit dem ‚Patienten‘ Familie befassen. Innerhalb dieser Familen-Struktur scheint es nur recht mühsam zu gelingen, das in der christlichprotestantischen Idealität geforderte harmonisch-musterhafte Familienbild mit Leben zu erfüllen. In den vorhandenen Archiv-Dokumenten werden allerdings die meisten Konflikte nur angedeutet, so dass der interpretierende Historiker ein gehöriges Maß an Vorsicht walten lassen muss, ehe er zu stichhaltigen Aussagen gelangen kann. Sehr deutlich jedoch tritt nun gerade im Briefwechsel zwischen Carl Ludwig Nietzsche und seinem Freunde Schenk ein Problem hervor, so gravierend, dass es brieflich, ohne Verschleierung, klar artikuliert wird, und so im Zusammenhang mit der Geschichte der NietzscheFamilie angemessen dargestellt und bewertet werden kann. Es ist der grundsätzliche und offenbar unaufhebbare Dissens zwischen Carl Ludwig Nietzsche und seinen Schwiegereltern, dem Pfarrer David Ernst Oehler und dessen Ehefrau Wihelmine, geb. Hahn; dieser ‚bodenständige‘ Pastor residiert mit seiner Familie seit 1815 als Pfarrer im kleinen Dorf Pobles inmitten einer elfköpfigen Kinderschar, und es ist in der Umgebung bekannt, dass dort ein heiteres, liberales, nicht immer ‚regelgerechtes‘ Familien-Klima herrscht, zum Unmut mancher ‚strenger‘ (bigotter) Amtsbrüder und des öfteren zum Verdruss der Merseburger Kirchenbehörde. Es nimmt nicht wunder, dass Carl Ludwig Nietzsche, durch die eheliche Verbindung mit der Oehler-Tochter Franziska nolens volens mit dieser unangenehmen Pobleser Familie eng verbunden, von Anfang an eine gewisse (beleidigende) Distanz zu wahren versucht und auf diese Weise langsam ein Konflikt entsteht, der sich vor allem zum Nachteil seiner jungen Ehefrau auswirken muss, da Franziska emotional sehr an ihre Eltern und Geschwister gebunden ist. Der Brief-Präsentator Pernet, sonst immer auf Verschleierung bedacht, kann in diesem Fall nicht umhin, den Konflikt zwischen Pobles und Röcken zur Kenntnis zu nehmen und seiner Leserschaft zu annoncieren. Er versucht aber sofort, ihn kräftig herunterzuspielen und als vorübergehend, nicht weiter bedeutsam zu klassifizieren; aus diesem Grunde zitiert er eine halbwegs milde, versöhnliche Äußerung Carl Ludwig Nietzsches vom 10. Oktober 1843 und leitet daraus die Erkenntnis ab, dass von einem „Zerwürfnis“ eigentlich nicht gesprochen werden könne.39 Er begnügt sich damit, in einer FußnotenBemerkung auf einen in diesem Zusammenhang sehr wichtigen Brief hinzuweisen, der seinen Verschleierungsbemühungen entgegensteht, denn in ihm kommt die ganze Heftigkeit des Familienkonflikts zum Ausdruck, so dass Pernet ihn auf recht plumpe Weise 39
Martin Pernet, Eine Quelle für Nietzsches christliche Erziehung, 281.
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zu ‚verstecken‘ versucht. In seinem Schreiben vom 22. Februar 1844, vier Monate nach dem von Pernet als versöhnlich und streitschlichtend gekennzeichneten Brief, gesteht Carl Ludwig Nietzsche, keineswegs milder und nachsichtiger gestimmt, seinem Freund, dass er die Pobleser Schwiegereltern „je länger ich sie kennenlerne, nur immer weniger achten kann, namentlich ist die Frau Schwiegermutter ein ganz weltliches und gemeines Weib. Es drückt und quält mich oft schrecklich, daß ich mich meiner Schwiegereltern schämen muß, und ich bewundre nur, wie auf solchem Grund und Boden mein Fränzchen erwachsen ist! Leider hat das Missverhältnis mit den Schwiegereltern auch schon manche Stunde der Missstimmung mit meinem Fränzchen herbeigeführt – es thut ihr so weh, daß ich ihre Eltern nicht leiden kann, da sie mir doch nichts thun; das ist wahr, aber es ist eine so verschiedene Lebens- und Glaubensrichtung zwischen mir und ihnen, daß ich bei Gelegenheit einer Expectoration, die ich aber sorgfältig vermeide, einen förmlichen Bruch […] fürchte, wenn ich nicht um Fränzchen willen gern Alles trage und dulde, auch gegen mein Frauchen von diesem Widerwillen und Ekel vor den Ihrigen nur so wenig als möglich merken lasse, um ihr nicht weh zu thun, da sie doch sehr an den Ihrigen hängt – merken aber müßte sie es, da ich mich gegen das gegenseitige Besuchen entschieden ausgesprochen habe! […] dennoch kann ich Dir versichern, daß ich ganz glücklich bin und meine Wahl nicht bereue, sobald ich an mein Fränzchen denke, wenn ich aber freilich ihre Familie ansehe, da wird mir, namentlich wegen der Zukunft angst und bange[…].“40 Wie soll man diese familiäre Kommunikation kennzeichnen, wenn nicht als tiefgreifendes Zerwürfnis? Sind solche Zeilen ein briefliches Freundschafts- und Friedensmanifest? Wird hier nicht von Ekel, gemeinen Weibern und über die Erwägung von Besuchsverboten als Zwangsmaßnahme für die Ehefrau gesprochen? Pernet hat in seiner HarmonieSucht allen Grund, diese aufschlussreiche Passage seinen Lesern vorzuenthalten, allerdings verstößt er damit endgültig gegen jede philologisch-wissenschaftliche Redlichkeit, indem er durch Verschweigen und Chronologie-Manipulationen sein Publikum in eine der Quellen-Lage völlig widersprechende Richtung lenkt, abgesehen davon, dass er im Hinblick auf den theologisch-‚theoretischen‘ Hintergrund jener Familien-Misshelligkeit scheinbar gänzlich hilflos und unberaten ist. Es geht Carl Ludwig Nietzsche in seinem Brief vor allem um Grundsätzliches, nicht nur um mehr oder minder konform laufendes soziales Verhalten und nicht nur um die sprichwörtlich böse Schwiegermutter. Es geht vielmehr um große Differenzen in der Welt- und Lebenshaltung, nicht zuletzt um den intimen familiären Widerschein jener kulturellen und kirchenpolitischen Gegensätze, die den Protestantismus um die Mitte des 19. Jahrhunderts in eine fast selbstzerstörerische Krise stürzen; es geht auf dem Gebiet der Theologie und der christlichen Lebensführung um den reaktionären Kampf gegen die Aufklärung oder aber die Integrierung aufklärerischer Denk-Positionen in das evangelische Glaubenssystem. Unter diesem Aspekt scheint Carl Ludwig Nietzsches negativ grundierter Affekt eher seinem Schwiegervater zu gelten, auch wenn er ihn nicht ausdrücklich erwähnt, dessen Christentum jedoch, in den Augen seines erwecklich bewegten Schwiegersohns, heftigster, kompromißloser Kritik verfallen muss, da es als zu weltlich, oberflächlich-liberal erscheint und deshalb der 40
Carl Ludwig Nietzsche, Brief aus Röcken an Emil Julius Schenk in Zeitz, 22. 2. 1844 (GSA 100/396).
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Pfarrherr zu Pobles als Musterbeispiel eines von der Aufklärung gründlich verdorbenen evangelischen Pastors abgelehnt und verächtlich gemacht werden muss. Es lässt sich der Eindruck nicht von der Hand weisen, dass Pernet bei der Beschreibung dieses Pfarrers in größere Schwierigkeiten gerät, da er bereits in seiner Arbeit über das Christentum im Leben des jungen Friedrich Nietzsche eine sehr fragwürdige Klassifizierung vornimmt, wenn er ihn als „milden Anhänger der lutherisch-pietistischen Bewegung“ charakterisiert41, unter Vernachlässigung von Archiv-Dokumenten, die ihm zugänglich gewesen wären. In einer als Typoskript erhaltenen Vorstudie zu seiner Franziska-Nietzsche-Biographie bemerkt dagegen Adalbert Oehler knapp, aber eindeutig, dass sein Großvater David Ernst Oehler „Mitglied einer Freimaurer-Loge war, dem Rationalismus der damaligen Zeit ergeben“.42 Wird diese Auskunft in der Druckfassung von 1940 verschwiegen (möglicherweise aus politisch-ideologischen Gründen), so ist in seinen handschriftlichen, unveröffentlichten Lebenserinnerungen nochmals vermerkt: „Der Großvater Oehler war kein Pietist, lebte in der Zeit des Rationalismus, war nach damaliger Sitte Mitglied einer Freimaurerloge.“43 Dieser David Ernst Oehler kann in der Tat als das Gegenbild zu seinem melancholisch-pessimistisch gestimmten Schwiegersohn beschrieben werden: er ist weltzugewandt, manchmal sogar rebellisch gegenüber seinem dörflichen Patronatsherren, ist kulturell höchst interessiert und äußerst belesen, besitzt eine außerordentlich umfangreiche Bibliothek, in der nicht nur die Werke der großen Klassiker, sondern auch moderne, teilweise ‚aufrührerische‘ literarische Erzeugnisse zu finden sind. Im übrigen eine wahre ‚Fundgrube‘ für seinen Großsohn Friedrich Nietzsche, dessen ‚Genialität‘ er wohl als einer der ersten erkennt. Gesteigerte (gar heuchlerische) Frömmigkeit scheint er grundsätzlich zu verachten, und so ist denn auch die von ihm geprägte Familien- und Erziehungskultur weitgehend bestimmt von der (theologischen) Überzeugung, dass der schon im Diesseits sich bildende und glücklich vollendende Mensch dem Schöpfungsplan Gottes weit eher entspricht als das angsterfüllte, sündenbewusste, nur auf jenseitige Freude hoffende Individuum. In dem, was man über das Pobleser Pfarrhaus erfahren kann, ist folgerichtig kaum einmal die Rede von evangelisch-christlichen oder gar erwecklich-(pietistisch) angehauchten Andachtsritualen, von Gebeten, Gottesdienstbesuchen oder geistlichen Exerzitien, wohl aber von Lese- und Gesangsstunden, Rezitationen und Theaterspiel, also von jenen Freizeit-Beschäftigungen, die kennzeichnend sind für eine aufklärerisch-gebildete, offene, humanistisch bestimmte Familienkultur.44 „Im 41 42
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Martin Pernet, Das Christentum im Leben des jungen Friedrich Nietzsche, 47. Adalbert Oehler, Die Mutter von Friedrich Nietzsche, Lebensbild einer deutschen Mutter, Typoskript, (GSA 100/1335). Zur interessanten Geschichte der Oehler-Biographie: Klaus Goch, Franziska Nietzsche, 350, Anm. 35. Adalbert Oehler, Erinnerungen meines Lebens, unveröffentlichtes Manuskript, handschriftlich, transkribiert von Carl Helmut Jagenberg (Privatsammlung Jagenberg, jetzt: Lebenserinnerungen, GSA 1336/a–f. Neben den Erinnerungen von Adalbert Oehler ist das Autobiographie-Fragment Franziska Nietzsches in diesem Zusammenhang besonders aufschlussreich: Franziska Nietzsche, Mein Leben (GSA 100/851). Auch: Klaus Goch, Lyrischer Familienkosmos. Bemerkungen zu Nietzsches poetischer Kindheitserfahrung, in: Nietzscheforschung, Bd. 3, hg. von Volker Gerhardt, Renate Reschke, Berlin 1995, 103ff.
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Pfarrhaus zu Pobles/ ist lustiges Leben“, so beginnt ein Gedicht, das der vierzehnjährige Nietzsche im Juli 1859 zum letzten Geburtstag seines Großvaters verfasst.45 Was die außergewöhnliche Sensibilität (oder auch Genialität) des heranwachsenden Friedrich Nietzsche zu erspüren vermag, das bleibt im 21. Jahrhundert dem Theologen Pernet leider verborgen; vielleicht fällt es ihm schwer, sich ‚lustiges Leben‘ in einem evangelischen Pfarrhaus vorzustellen, so dass er in seiner offensichtlich fulminanten Suche nach Erweckung und Erwecklichkeit den unsichtbaren theologisch-‚weltanschaulichen‘ Graben zwischen Pobles und Röcken am liebsten zuschütten möchte und dabei wieder ziemlich manipulativ-unsauber verfährt. Dass es der rationalistische Theologe David Ernst Oehler ist, der mit großer Geduld und Hilfsbereitschaft zur Stelle ist, wenn die Familie des ihm eigentlich nicht sehr sympathischen Schwiegersohnes in Schwierigkeiten gerät, auch und gerade während der schrecklichen Krankheitszeit Carl Ludwig Nietzsches (wie Pernet völlig zu Recht betont), ist nicht Ausdruck irgendeines ‚Pietismus‘, sondern lebendiges Ergebnis einer Welthaltung, in der die Religion vor allem Anleitung zu einer glücklichen irdischen Existenz ist, unter der Maßgabe, auch den Mitmenschen zu einem würdigen, humanen Dasein zu verhelfen. Die Kirche und ihre Prediger haben in dieser ‚aufklärerischen‘ Theologie nicht so sehr die Aufgabe, ein unbegreifliches, Furcht und Zittern erzeugendes Dogma zu verkünden: sie sind vielmehr gehalten, Moralität, Tugend und individuelle Glückseligkeit zu befördern. Es sei Pernet empfohlen, sich mit dieser protestantischen ‚Abart‘ christlichen Glaubens näher zu befreunden und sie mit der dunklen, von Jenseits- und Erlösungsphantasien durchzogenen Sphäre der Erwecklichkeit in ein lebendig-dialektisches Spannungsverhältnis zu bringen; dann mag er auch Gefallen finden an jener schönen, für einen evangelischen Pfarrer bemerkenswerten Maxime des Nicht-Pietisten Oehler, überliefert von seiner Tochter, der Gattin des erweckten Pastors Nietzsche: „er suche sich allabendlich die goldenen Aepfel des Tages zusammen u. hänge sie an seinem Lebensbaum auf u. so bleibe er zufrieden“.46 45 46
KGW I/2, 93ff. Franziska Nietzsche, Mein Leben, 21. Es ist ärgerlich, dass an der von Pernet inszenierten ‚Pietismus-Legende‘ festgehalten wird, trotz gegenläufiger Forschungsergebnisse: So behauptet Carol Diethe (Vergiß die Peitsche. Nietzsche und die Frauen, Hamburg, Wien 2000, 18ff.), das Pfarrhaus zu Pobles sei „pietistisch“ (also ‚erwecklich‘) geprägt gewesen, wobei sie sich wohl auf Pernet stützt. Sehr problematisch wird es, wenn sie diese These auch in dem gleichfalls 2000 erschienenen Nietzsche-Handbuch publizieren darf. In ihrem dort unter den Titel Frauen veröffentlichten Text spricht Diethe nochmals vom Pobleser „Pietismus“, der in Röcken unwillkommen gewesen sei, weil dort „der Rationalismus des Luthertums“ vorgeherrscht habe (Carol Diethe, Frauen, in: Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 2000, 55). Umgekehrt wär’s richtig! Es ist hier nicht abwegig, dem Herausgeber des Handbuchs mit gebührender Submission einige Fragen hinsichtlich der von ihm sicher angestrebten akademischen Gediegenheit und wissenschaftlichen Zuverlässigkeit zu unterbreiten, da beide Eigenschaften per definitionem für ein Handbuch maßgebend sein sollten. Dennoch ist es wiederum gelungen, dass unter treulicher Benutzung des Handbuchs, Studentinnen und Studenten an der Pietismus-Legende weiterstricken. Glückwunsch!? Wie kommt es, dass man bestimmte, durch intensive Archiv-Studien gewonnene und abgesicherte (vielleicht nicht ins gängige Schema passende) Nietzsche-biographische Erkenntnisse nicht wahrnimmt, geschweige denn angemessen, auch kontrovers rezipiert, selbst wenn sie in seriösen Verlagen und Periodika veröffentlicht werden? Ist hier geistige Trägheit am Werk, die eine peinlich lückenhafte Literatur-Kenntnis nach sich zieht? Oder ist das schlicht die allbekannte akademische Malvolenz, die nicht zulassen will, dass Autoren, die dem Universitätsbetrieb nicht nahe
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4. Schlussbemerkung – deutlich und klar! Am Ende noch einige Fragezeichen: Wozu und zu welchem Ende präsentiert Pernet diesen Briefwechsel zwischen Nietzsches Vater und einem Freund (der sicher ein ehrbares, mit Mühsal beladenes Pastoren-Leben geführt hat, als Sujet biographisch-wissenschaftlicher Bemühungen, aber vielleicht doch nicht von hoher Bedeutung sein mag)? Warum wird, beiseite gefragt, dieser höchst anfechtbare Pernet’sche Beitrag offensichtlich ungeprüft in der Nietzscheforschung veröffentlicht? Es ist leicht, das motivierende, erkenntnisleitende Interesse kenntlich zu machen; man könnte meinen, dass es Pernet hauptsächlich darum geht, Nietzsches Kindheits-Pfarrhauswelt (so langweilig, abgeschmackt und sachlich falsch dieses biographische Phantom auch sein mag) noch einmal als kleines, erweckliches Idyll vorzuführen, mit problemlos zu vernachlässigenden Störungen am Rande. Es mag ihm ganz nachdrücklich auch daran gelegen sein, den Pfarrer und Theologen Carl Ludwig Nietzsche in ein strahlendes Licht zu tauchen, fast mit einem Heiligenschein; war er, wie Pernet schreibt, eine „stolze“ Persönlichkeit?47 Nein, er war alles andere als stolz, er war (‚moralisch‘ wertfrei formuliert) ein „schwacher“ Charakter, unsicher, in seiner Schulzeit auf folgenschwere Weise gequält und verspottet48, von seiner Mutter unterdrückt, in seinem Amt nur äußerlich und nur krampfhaft souverän, stets kurz vor dem Zusammenbruch, dazu gehemmt von einer äußerst labilen Physis und Konstitution, dauerhaft gewärtig eines lebenskatastrophalen, endgültigen Versagens, wie es denn auch auf schreckliche Weise eingetreten ist. War er ‚differenziert‘? Nein, er hatte ein ‚einfaches‘ Weltbild, unfähig zum experimentierenden, dialektischen Denken, er musste sich vielmehr aus seelischer Not an eine Sicherheit versprechende religiöse Ideologie binden, ganz abgesehen davon, dass seine ‚Allgemeinbildung‘, im starken Gegensatz zum Vater seiner Ehefrau, hauptsächlich auf das engere theologische Wissensgebiet beschränkt war, auf Traktate und homiletische Kompendien, so dass durchaus von einem schmalen intellektuellen Interesse die Rede sein muss; wobei hinzugefügt werden kann, dass seine politische Haltung und Einsichtsfähigkeit (im Gegensatz zu Freund Schenk) als geradezu ‚dumm‘ (eben undifferenziert) zu kennzeichnen ist. War er ‚musikalisch höchstbegabt‘? Ja, er war musikalisch, nicht mehr und nicht weniger; von exorbitanten Fähigkeiten in der Musik, wie sie in der Nietzsche-Biographik mit einer lächerlichen Insistenz immer wieder unterstellt werden, kann überhaupt nicht die Rede sein, oder ist man schon musikalisch höchstbegabt, wenn man früh mit Fleiß das Klavierspielen erlernt, in dieser Kunst zu einiger Fertigkeit gelangt und die Liturgie sowie das protestantische Kantionale halbwegs ohrenfreundlich zu Gehör bringen kann? Hier und an anderer Stelle kommt Pernets Idolatrie in den Bereich der Verfälschung oder zu einer insofern sehr defekten, mangelhaften Darstellung, als sie offensichtlich die Nietzsche-biographischen Forschungsergebnisse der letzten fünfzehn Jahre nicht zu in-
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stehen, durchaus zu fruchtbaren, interessanten, weiterführenden Forschungsergebnissen gelangen können? Diese und die nächsten Bezeichnungen bei Martin Pernet, Eine Quelle für Nietzsches christliche Herkunft, 294. Zu Carl Ludwig Nietzsches schrecklicher Internatszeit: Klaus Goch, Nietzsches Vater oder die Katastrophe des deutschen Protestantismus, Kapitel Roßleben, 95ff., bes. das Unterkapitel Der Spott, 137ff.
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tegrieren versteht. Es scheint, als hege er in seinem Expertentum den unerschütterlichen Glauben, die Arbeitsergebnisse anderer durchaus vernachlässigen zu können; zuweilen hat man den Eindruck, dass er einem seltsamen Konkurrenz-Gebaren anheim fällt, wenn er bestimmte, ihm unangenehme Biographen zu Kolporteuren und Schundautoren macht, deren Texte jedoch im Stillen für seine eigene Arbeit zu verwerten versteht, ohne der Leserschaft davon Mitteilung zu machen. Darüber könnte man in nachsichtiger Ironie hinweggehen, wenn nicht durch derartige Herstellungsmethoden das Publikum hinters Licht und in die Irre geführt würde. Nicht alle Leserinnen und Leser, so ‚Nietzschekenntnisreich‘ sie sein mögen, können in den hier behandelten Dokumenten ‚zu Hause‘ sein; umso wichtiger ist es, dass sich die sogenannten Spezialisten an die Standards einer wissenschaftlichen Hermeneutik und Philologie halten, in intellektueller Redlichkeit, möglichst frei von irgendeinem, vielleicht auch erwecklich-fromm getönten Ressentiment, abgesehen davon, dass es nicht ‚vornehm‘ ist, anderen Fehlurteile nachzusagen, wenn man solche selbst immer wieder produziert. Man tut dem theologischen Philologen Pernet keineswegs Unrecht, wenn man gerade seine Schlussbemerkungen als buntes, vielleicht zu buntes Kaleidoskop empfindet, das mit dem Hauptteil, der Präsentation des Briefwechsels, kaum in resumierendem Zusammenhang steht. Dieser Mangel wird auch dadurch nicht behoben, dass ganz unvermittelt der große Nietzsche-Kenner Thomas Mann auf der Bildfläche erscheint, wie ‚Ziethen aus dem Busch‘; aber darin doch ganz hilfreich, dass er den Anlass bietet für den einzigen (ihm entlehnten) biographisch weiterführenden Gedanken: Friedrich Nietzsches „leidenschaftliches Ringen um das und mit dem Christentum habe seinen Ursprung ohne Zweifel in seinem Vaterhaus“.49 Wenn dieser Ansatz für das Verständnis Nietzsches, in Sonderheit im Hinblick auf sein Anti-Christentum, wirklich von Bedeutung ist, dann muss es eine besondere Pflicht und Aufgabe für alle Biographien und Biographen sein, diesen ‚Ursprung‘ mit höchster Akribie und allen Mitteln einer ‚sauberen‘ Philologie zu erkunden, zu umkreisen, zu ‚verorten‘, aber nicht, weltanschaulich oder religiös ‚verschmutzte‘ biographische Phantasiegemälde zu erfinden, historische Abläufe zu manipulieren oder lebensgeschichtliche Sachverhalte bewusst im Sinne eines Vorurteils zu verbiegen. Man muss aber leider feststellen, dass Pernet dieses nicht ganz redliche Geschäft (umhüllt vom Mäntelchen der Experten-Aura) recht geschickt, manchmal jedoch durchschaubar plump, in Gang zu setzen versteht. Was nun aber Pernets Präsentation wirklich zum Ärgernis werden lässt, das ist die völlige Abwesenheit einer wie auch immer gearteten geschichtlichen Grundierung oder Perspektive, ohne die das vorgestellte Dokument seiner spezifischen Aura beraubt ist und vor allem kaum einen zureichenden Erkenntniswert aufweisen kann, weder für die Gestalt des Philosophen Friedrich Nietzsche (um die es eigentlich geht) noch für uns Heutige, die wir historische Zusammenhänge begreifen wollen und fast beleidigt sind, wenn man uns einige Brocken preußischer Kirchengeschichte ‚vor die Füße knallt‘, ohne deren Verknüpfung mit der allgemeinen politischen Geschichte des 19. Jahrhunderts auch nur andeutungsweise vorzunehmen. Dieser Mangel ist es auch, der Pernet auf eine für ihn vielleicht erfreuliche Weise davon befreit, die dunklen, ‚unchristlichen‘ Seiten jener hier in Rede stehenden deutschen Epoche deutlich zu machen, in der aufkommende liberale 49
Martin Pernet, Eine Quelle für Nietzsches christliche Herkunft, 293.
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und demokratische Tendenzen zumeist gewaltsam unterdrückt wurden, im Preußen des Pfarrers Nietzsche beispielsweise unter Anleitung der erwecklich-orthodox inspirierten Hof-Kamarilla eines von Gerlach und ähnlicher dunkler Figuren. In sehr erhellendem Lakonismus schildert uns zum Beispiel Nietzsches Mutter in ihrem Tagebuch ein kleines Ereignis, das den ganzen Charme des damaligen preußischen Staatskirchentums aufscheinen lässt: „Tod des Herrn Pastor Hartung, ist im Gefängnis wegen zu Freipredigen, besonders über die Obrigkeit, hat noch Abschied von seiner Gemeinde vorher nehmen wollen, welches man ihm verweigert, er hat versichert, käme er in das Gefängnis, er würde bestimmt nichts essen […] man hat ihn das Essen eintrichtern wollen, aber er hat die Zähne fest zusammengebissen.“50 Exitus! Das ist auch eine praxis pietatis, aber hoffentlich nicht jene, der Pernet so viel Sympathie entgegenbringt, wobei ihn dieses offensichtlich substantielle Wohlwollen unterschlagen lässt, dass es die mit Carl Ludwig Nietzsche im erwecklich-orthodoxen Geist eng verbundenen Kanzelhelden sind, die in den Revolutionstagen des Jahres 1848 durch ihre reaktionären Hetzpredigten zur gewaltsamen Repression aufrufen, indem sie die „Macht der Finsternis“ heraufkommen sehen und den „radikalen Rotten“ Gottes ewiges Strafgericht in Aussicht stellen.51 Es fällt diesen frommen Theologen keineswegs schwer, ihre rührseligen Traktätchen wegzulegen und in den reaktionären Schlachtruf lauthals einzustimmen: „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten.“52 Es ist verständlich, dass Pernet in seiner Erweckungsidolatrie von diesen dunklen Seiten nicht viel wissen will, wie er überhaupt in einem großen Täuschungsmanöver sein Publikum in dem leider sehr verbreiteten Glauben bestärkt, dass die Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts die legitime Bewahrerin und Nachfolgerin des Ursprungspietismus eines Phillip Jakob Spener, August Hermann Francke, eines Friedrich Christoph Oetinger sei. Er will verschleiern, dass beide nicht viel mehr gemeinsam haben als das theologumenon des Supranaturalismus, sonst aber die demütige, letztendlich humanitäre praxis pietatis nichts, gar nichts gemein hat mit der Erweckungsbewegung, die (unter historischem Blickwinkel) eine in ihrem intellektuellen Instrumentarium durchaus inhumane, aggressiv-reaktionäre Ideologie zur Unterstützung abgelebter feudalmonarchischer Herrschaftssysteme formuliert, bereit zum Kampf gegen die in Europa umhergehenden ‚Gespenster‘ des Liberalismus, der Demokratie, der Meinungsfreiheit, der Volkssouveränität. Wo beim Pietisten vielleicht purgatio, illuminatio, schließlich unio mystica im Zentrum seines Denkens stehen und er, wie Francke, an den jungfräulichen Visionen einer ‚Erfurter Liese‘ oder einer ‚Quedlinburger Magdalene‘ sein tiefes geistliches Konventikel-Vergnügen zu finden vermag, da sinnt der Erweckungsfunktionär des 19. Jahrhunderts hauptsächlich darauf, den glaubenswilligen Seelen vermittels theologischer und politischer Drohkulissen einen frommen Gehorsam abzuzwingen. Pernets Verständnis der evangelischen Glaubenskultur ist in der Tat nicht zuletzt wegen ihrer Ahistorizität reichlich beengt, wenn nicht entschieden defekt, so dass er bei der Interpretation histo50 51
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Franzziska Nietzsche, Tagebuch, handschriftlich (GSA 100/850). Gerhard Goeters, Rudolf Mau (Hg.), Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union, Bd. I, Die Anfänge der Union unter landesherrlichem Kirchenregiment (1817–1850), Leipzig 1992, 378 (Erinnerungen des Pfarrrers Carl Büchsel). Das Preußenbuch, enthaltend Gesänge, Lieder und Gedichte, für ächte Preußen, gesammelt und herausgegeben von Ferdinant Kohlheim, p. Königlicher Gymnasial-Oberlehrer, Berlin 1849, 63f.
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risch-theologischer Dokumente zwangsläufig zu Fehlurteilen gelangt, leider auch (wie dargelegt) bei mehr oder minder fragwürdigen Manipulationen seine Zuflucht nehmen muss; ganz unbeachtet soll dabei seine anrührende, fast Mitleid erregende Don-Quichotterie bleiben, die ihn immer wieder nach Anhaltspunkten dafür suchen lässt, dass Friedrich Nietzsche irgendwie und irgendwann einmal mit der Erwecklichkeit in nähere Tuchfühlung geraten ist. Ganz gegen und über Pernet hinaus: Protestantismus, das ist nicht der fromme Aufschwung sündiger Seelen, nicht die Kultivierung einer machtgeschützten Innerlichkeit; Protestantismus: das ist Kritik und Krise, Aufklärung, Freiheit, Verstand und Vernunft, und die unvernünftige Hoffnung auf Gnade, die durch Gefühlsexaltation, durch ‚Religion‘ und ‚Erweckung‘ niemals herbeizuträumen ist. Mag sein, dass es auf solch denkerischem Hintergrund einmal gelingt, Friedrich Nietzsches verwickeltes und innerlich schmerzhaft erfahrenes Anti-Christentum in eine fruchtbare, erkenntnisfördernde Beziehung zu setzen zur Geschichte des Protestantismus, die immer wieder auch die einer großen Perversion und Aberration ist. Pernet hat hierzu einen schwächlichen Beitrag geliefert. Man warte auf Zukünftiges.
JACQUES LE RIDER
Nietzsche et Flaubert
Le nom de Gustave Flaubert apparaît pour la première fois dans la correspondance de Nietzsche en novembre 1872: le chef d’orchestre Hugo von Senger lui a suggéré de tirer de Salammbô un livret d’opéra. Nietzsche trouve cette idée incongrue et juge offensant pour lui-même qu’on puisse supposer qu’il exécute pareil travail de commande. Il écrit à Richard Wagner, de Bâle, le 7–8 novembre 1872: „Au chapitre des curiosités, je vous raconterai que récemment, j’ai été consulté à propos d’un livret d’opéra par un musicien qui en fait souhaitait que je l’écrive moi-même. Je lui ai adressé une sage épître pour lui déconseiller formellement ce projet et lui dire qu’il ferait mieux de composer une bonne cantate, de reprendre la ‚Nuit de Walpurgis‘ de Goethe, mais en faisant mieux que Mendelssohn!“1 À son ami Erwin Rohde, Nietzsche donne plus de détails sur le mode de la plaisanterie (lettre de Bâle, des 20–21 novembre 1872): „Que dis-tu de la demande que m’a faite récemment un honorable tiers, un bon tâcheron musicien: il souhaitait de moi un livret d’opéra (avec de la musique carthaginoise, d’après Salammbô), et de surcroît un texte de cantate destinés à réformer le culte vieux catholique.“2 Dans La Naissance de la tragédie, de 1872, Nietzsche évoque au chapitre 23 „avec effroi“ la France civilisée – on est à l’époque où l’antithèse Kultur allemande/civilisation française ou anglaise est une idée reçue –, juste avant de célébrer la Réforme allemande et le choral luthérien, et d’appeler à la renaissance du mythe allemand sous la conduite de Richard Wagner.
Nietzsche découvre la littérature française contemporaine et Flaubert à partir de 1883–1884 Onze ans plus tard, en novembre 1883, Nietzsche séjourne pour la première fois à Nice. Il y retournera les cinq années suivantes pour l’automne et pour l’hiver, jusqu’en 1888. À partir de l’hiver 1883–1884, il découvre la culture française contemporaine, en particulier 1 2
Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe, éd. par Giorgio Colli et Mazzino Montinari, München, Berlin,1986, (KSB, 4, 91). Ibid., 94.
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l’auteur qui, en 1872, n’était pour lui que l’auteur sujet à caution de Salammbô.3 Dans ce que Nietzsche appelle le principe d’impersonnalité (sans doute une traduction du mot „impassibilité“), il aperçoit une volonté de puissance dissimulée, une violence dominée. „On a considéré comme ‚impersonnel‘ ce qui était l’expression des personnalités les plus puissantes (J. Burckhardt avec un bon instinct devant le palais Pitti): ‚Le brutal!‘ – de même Phidias – une façon de ne pas se complaire dans le détail – C’est que ces messieurs aimeraient beaucoup se cacher et se débarrasser d’eux-mêmes, par ex. Flaubert (Correspondance).“4 Nietzsche a lu Gustave Flaubert, Lettres à George Sand, précédées d’une étude par Guy de Maupassant, Paris, Charpentier, 1884, le seul livre de Flaubert retrouvé dans sa bibliothèque privée.5 Dans le même esprit, Nietzsche estime que ce que cache la volonté d’objectivité „photographique“ n’est autre qu’une volonté de puissance cherchant à se nier elle-même. 25 [164] „Cette façon de ‚vouloir-être-objectif‘, par exemple chez Flaubert, est un malentendu moderne. La grande forme, qui s’interdit tout charme individuel, est l’expression du grand caractère qui a une vision du monde: qui ‚se soucie fort peu du charme individuel‘ – homme de pouvoir. Mais c’est mépris de soi chez les Modernes, ils voudraient comme Schopenhauer ‚se débarrasser d’eux-mêmes‘ dans l’art, fuir dans l’objet, se ‚renier‘ eux-mêmes. Mais il n’y a pas de ‚chose en soi‘, Messieurs! Ce qu’ils obtiennent, c’est de la scientificité ou de la photographie, c’est-à-dire une description sans perspectives, une sort de peinture chinoise, un premier plan uniquement, et surchargé.“6 Nietzsche revient plusieurs fois à cette conclusion: la volonté d’impersonnalité et d’objectivité est un masque du dégoût de soi-même. „Leur prétention à l’impersonnalité est un sentiment de la mesquinerie de leur personne, par exemple Flaubert, fatigué de lui-même en tant que ‚bourgeois‘ [en français dans l’original7].“8 De même: „L’objectivité – comme moyen moderne de se débarrasser de soi, par manque d’estime (comme 3 4
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Cf. le premier chapitre, „Nietzsche francisé“, de Jacques Le Rider, Nietzsche en France, de la fin du XIXe siècle au temps présent, Paris, PUF, 1999. Nietzsche, Fragments posthumes, printemps 1884, 25 [117], in: OPC: Nietzsche, Œuvres philosophiques complètes, éd. Giorgio Colli et Mazzino Montinari [édition française sous la responsabilité de Gilles Deleuze et Maurice de Gandillac], Paris, Gallimard, vol. X, 1982, trad. Jean Launay, 56. Nachgelassene Fragmente, 25 [117] „Man hat für ‚unpersönlich‘ angesehen, was der Ausdruck der mächtigsten Person (J. Burckhardt mit gutem Instinkt vor dem Palazzo Pitti): ‚Gewaltmensch‘ – ebenso Phidias – das Absehen vom Einzel-Reize. – Aber die Herren möchten sich gerne verstecken und loswerden z.B. Flaubert (Briefe)“ (KSA, NF, 11, 44). Giuliano Campioni, Les livres français de la bibliothèque de Nietzsche, Appendice, in: Les lectures françaises de Nietzsche, trad. Christel Lavigne-Mouilleron, Paris, Presses Universitaires de France, 2001, 263. OPC, X, 70; 25 [164] „Das ‚Objektiv-sein-wollen‘ z.B. bei Flaubert ist ein modernes Mißverständniß. Die große Form, die von allem Einzelreiz, ist der Ausdruck der großen Charakters, der die Welt sich zum Bilde schafft: der von allem ‚Einzelreiz weit absieht‘ – Gewalt-Mensch. Es ist Selbst-Verachtung aber bei den Modernen, sie möchten wie Schopenhauer sich in der Kunst ‚los werden‘ – hineinflüchten in’s Objekt, sich selber ‚leugnen‘. Aber es giebt kein ‚Ding an sich‘ – meine Herren! Was sie erreichen, ist Wissenschaftlichkeit oder Photographie d.h. Beschreibung ohne Perspektiven, eine Art chinesischer Malerei, lauter Vordergrund und alles überfüllt“ (KSA, NF, 11, 57). Au XIXe siècle s’est imposé dans l’usage allemand le doublet Bürger qui a le double sens de citoyen et de bourgeois au sens positif de „culture et éducation bourgeoises“ et bourgeois qui a un sens péjoratif. Karl Marx par exemple parle de bourgeois et de bourgeoisie, non de Bürger et de Bürgertum. OPC, X, 75; 25 [181] „Ihr Anspruch auf Unpersönlichkeit ist ein Gefühl, dass ihre Person mesquin ist z.B. Flaubert, selber seiner satt, als ‚bourgeois‘“ (KSA, NF, 11, 63).
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chez Flaubert).“9 Aux yeux de Nietzsche, l’impassibilité flaubertienne a des connotations morales. Il note dans les fragments de l’été–automne 1884: „Contre l’altruisme: c’est une illusion. Le désintéressement [en français dans l’original] dans la morale (Schopenhauer, Comte) Dans la théorie de la connaissance (les ‚objectifs‘ – comme Taine) Dans l’art (la beauté idéale, à laquelle croit Flaubert, par exemple).“10 Ce parallèle avec Taine revient un peu plus loin: „Comme Flaubert me fait rire, avec sa fureur contre le bourgeois [en français dans l’original], quand il se déguise en je ne sais quoi! Et Taine, en Monsieur Graindorge qui veut être absolument homme du monde, connaisseur des femmes, etc.“11 Nietzsche note encore en avril–juin 1885: „La mascarade du bourgeois, par exemple en Salambô (sic) et en saint Antoine.“12 S’il est séduit, chez Flaubert, par l’aversion du „bourgeois“ pour la „blague“ humanitaire et démocratique, par son aspiration à une aristocratie de l’esprit, Nietzsche n’est guère convaincu par la fausse psychologie de ces „messieurs Flaubert“ qui, selon lui, ne connaît que la faiblesse de la volonté, le moi déterminé par le milieu et qui ne parle que de faiblesse quand il s’agit de désir. „La psychologie de ces messieurs Flaubert est in summa fausse: ils ne voient jamais que l’action du monde extérieur et l’ego déjà formé (tout à fait comme Taine?) – ils ne connaissent que les faibles de volonté, où le désir prend la place de la volonté.“13
Une interprétation de Flaubert influencée par Paul Bourget Les Essais de psychologie contemporaine de Paul Bourget furent une source essentielle de Nietzsche pour son analyse de la décadence contemporaine. „Dans les fragments de l’hiver 1883 au printemps 1884, à partir de sa lecture des Essais de Bourget, et en rapport étroit avec la littérature et la critique françaises contemporaines, Nietzsche définit les catégories de son interprétation physiologique de Wagner et de l’art de la décadence, qui trouvent leur expression systématique dans Le Cas Wagner.“14 Bourget venait de publier la première série des Essais de psychologie contemporaine en 1883. Il y brossait le tableau de la psychologie des intellectuels du temps présent qui incarnaient le mal du siècle, cette „maladie morale abominable“ dont parlait Musset au début de La Confession d’un enfant de siècle: Charles Baudelaire, Ernest Renan, Flaubert, Hippolyte Taine, Stendhal. Les mots „dégénérescence“ et „décadence“ abondaient sous sa plume. 9 10
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Ibid., 84; 25 [216] „Objectivität – als modernes Mittel, sich loszuwerden, aus Geringschätzung (wie bei Flaubert)“ (KSA, NF, 11, 709. Ibid., 280–281; 26 [389] „Gegen den Altruismus: derselbe ist eine Illusion. Das désintéressement in der Moral (Schopenhauer Comte) in der Erkenntnißlehre (die ‚Objektiven‘ – wie Taine) in der Kunst (die ideale Schönheit, an welche z.B. Flaubert glaubt)“ (KSA, NF, 11, 253). Ibid., 301; 26 [458] „Was ich lache über Flaubert, mit seiner Wuth über den bourgeois, der sich verkleidet, ich weiß nicht als was ! Und Taine, als M. Graindorge, der durchaus Weltmann, Frauenkenner usw. sein will!“ (KSA, NF, 11, 272). OCP, XI (1982, trad. Michel Haar et Marc de Launay), 156; 34 [23] „Die Maskerade des bourgeois, z.B. als Salambô (sic) und als heiliger Antonius“ (KSA, NF, 11, 428). OCP X, 75–76; 25 [182] „Die Psychologie dieser Herren Flaubert ist in summa falsch: sie sehen immer nur die Außen-Welt wirken und das ego geformt (ganz wie Taine?) – sie kennen nur die Willens-Schwachen, wo désir an Stelle des Willens steht“ (KSA, NF, 11, 63). Giuliano Campioni, op. cit., 236.
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Au départ, selon Bourget, ces intellectuels étaient des romantiques: „L’influence la plus profondément subie par Gustave Flaubert fut celle du romantisme finissant“ (Bourget, Essais, 8215). Habité par la nostalgie de la grandeur de la Révolution et de l’Empire, il fut un frère cadet d’Amaury (le héros de Volupté de Sainte-Beuve), d’Albert (celui de Mademoiselle de Maupin de Théophile Gautier) et de Julien Sorel (87). Non seulement l’idéal romantique „conduit l’homme à se trouver en disproportion avec son milieu, mais il le met en disproportion avec lui-même […] Voilà l’explication de la banqueroute que le romantisme a faite à tous ses fidèles“ (88). „Aucun homme ne fut plus complètement [que Flaubert] en désaccord avec son milieu et avec sa propre chimère“ (89–90). „Madame Bovary, c’est moi“: Bourget prend la célèbre boutade au pied de la lettre et suggère que Flaubert fut le premier atteint de bovarysme. „La seule rencontre de la médiocrité imbécile et satisfaite [le] mettait au supplice“ (89). Ce pessimiste désespéré, à la différence de ses personnages, a su mettre son inclination „romantico-bovaryque“ au service de sa création littéraire, combinant l’analyse implacable du romantisme et le combat contre la bêtise et la trivialité. Flaubert fut „un des plus déterminés nihilistes et un des plus laborieux ouvriers de lettres de notre époque“ (101). Emma Bovary et Frédéric Moreau „sont le produit d’une civilisation fatiguée“ (95). Les personnages de Flaubert: „La disproportion dont ils souffrent provient, toujours et partout, de ce qu’ils se sont façonné une idée par avance sur les sentiments qu’ils éprouveront. […] C’est donc la pensée qui joue ici le rôle d’élément néfaste, d’acide corrosif, et qui condamne l’homme à un malheur assuré; mais la pensée qui précède l’expérience au lieu de s’y assujettir. La créature humaine, telle que Flaubert l’aperçoit et la montre, s’isole de la réalité par un fonctionnement arbitraire et personnel de son intelligence. Le malheur résulte alors du conflit entre cette réalité inéluctable et cette personne isolée“ (97). En somme, le bovarysme, ce serait le manque de réalisme … „Balzac avait déjà écrit, dans la préface générale de La Comédie humaine: ‚Si la pensée est l’élément social, elle est aussi l’élément destructeur …‘ L’auteur de Madame Bovary n’a presque fait que commenter cette phrase profonde“ (98). „Quand nous prodiguons, à mains ouvertes, l’instruction en bas, l’analyse en haut; quand, par la multiplicité des livres et des journaux, nous inondons les esprits d’idées de tous ordres, avons-nous bien calculé l’ébranlement produit dans les âmes par cette exagération de jour en jour plus forcenée de la vie consciente?“ (98). Madame Bovary aurait été la victime d’une „intoxication littéraire“. L’homme moderne, coupé de la nature, victime d’une usure physiologique précoce, a tendance au nervosisme exagéré. „Cette richesse de l’intelligence est la ruine de la volonté, car elle produit le dilettantisme et l’impuissance énervée des êtres trop compréhensifs“ (100). Ces êtres aspirent au nirvana schopenhauerien: „Repos final qui consistera en une inconscience générale des individus au sein de Dieu et dans l’extinction absolue de tout dési“ (101). Les continuateurs de Flaubert parmi les romanciers actuels analysent la maladie de la volonté, le fatalisme accablé. Le nihilisme de Flaubert conduisait au culte de l’art: „Ce nihiliste était un affamé d’absolu. Ne pouvant rencontrer cet absolu, ni hors de lui, […] ni en lui-même […], il le plaça […] dans l’œuvre d’art, et comme il était écri15
Paul Bourget, Essais de psychologie contemporaine. Études littéraires, éd. par André Guyaux, Paris, Gallimard, 1993 (collection Tel).
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vain, cette d’art fut pour lui la Phrase Écrite […]“ (106–107). Paul Bourget ajoutait dans „Les Lettres de Flaubert à Sand“ (Journal des débats, 10 février 1884): „Aucune analyse ne saurait déterminer jusqu’à quel point les maladies morales d’un écrivain peuvent se séparer de son talent sans que ce talent y perde, et le Flaubert guéri […] aurait-il composé ses chefs-d’œuvre?“ (122).
De „Par-delà le bien et le mal“ à „Nietzsche contre Wagner“: le portrait de Flaubert en type de la décadence contemporaine Dans Par-delà le bien et le mal (1886), Nietzsche reprend les formules qu’il a ciselées par touches successives dans son journal philosophique. Il définit Flaubert, au § 218, comme le psychologue de la bêtise bourgeoise qui se torture lui-même, pour faire la vivisection de l’homme de bonne volonté: „Les psychologues français – et où y a-t-il, aujourd’hui, des psychologues ailleurs qu’en France? – n’ont pas encore épuisé le plaisir amer et varié que leur donne la bêtise bourgeoise tout comme si … bref, ils trahissent par là quelque chose. Flaubert, par exemple, le brave bourgeois de Rouen, finit par ne plus rien voir, rien entendre ni goûter d’autre: c’était sa façon de se torturer lui-même avec un raffinement de cruauté“.16 En revanche, le § 254 de Par-delà le bien et le mal, qui fait un tableau de la France contemporaine („Aujourd’hui encore, la France est le siège de la civilisation européenne la plus spirituelle et la plus raffinée“) ne reprend pas les passages consacrés à Flaubert le fragment posthume 38 [5] de juin–juillet 1885: „Même aujourd’hui, c’est en France que l’on trouve la culture européenne la plus fine et la plus intelligente […] L’influence de Flaubert est beaucoup plus bienfaisante, plus nette, plus solide17 dans tous les sens; avec son excès de personnalité qui lui permettait de supporter même la solitude et l’insuccès – chose extraordinaire chez un Français – il gouverne actuellement le royaume de l’esthétique romanesque et du style; il a porté à sa perfection le français sonore et coloré. Il lui manque, il est vrai, comme à Renan et à Sainte-Beuve, la formation philosophique et une connaissance vraie des procédés de la science; mais son profond besoin d’analyse et même de science a réussi à se frayer la voie, en même temps qu’un pessimisme instinctif, singulier sans doute, mais assez vigoureux pour servir de modèle aux romanciers français contemporains. C’est à Flaubert en effet que la jeune école doit son ambition nouvelle d’affecter des attitudes scientifiques et pessimistes.“18 16
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Nietzsche, Œuvres, éd. Jean Lacoste et Jacques Le Rider, Paris, Robert Laffont, Bouquins, 1993, vol. 2, 666–667. „Die Psychologen Frankreichs – und wo giebt es heute sonst noch Psychologen? – haben immer noch ihr bitteres und vielfältiges Vergnügen an der bêtise bourgeoise nicht ausgekostet., gleichsam als wenn … genug, sie verrathen etwas damit. Flaubert zum Beispiel, der brave Bürger von Rouen, sah, hörte und schmeckte zuletzt nichts Anderes mehr: es war seine Art von Selbstquälerei und feinerer Grausamkeit“ (KSA, JGB, 5, 153). Dans les lignes précédentes, Nietzsche a parlé de Sainte-Beuve. OPC, XI, 332 et 334. „Viel wohlthätiger, einseitiger, tüchtiger in jedem Sinne ist der Einfluss Faluberts: mit einem Übergewicht von Charakter, der sogar die Einsamkeit und den Misserfolg vertrug, – etwas außerordentliches unter Franzosen –, regiert er augenblicklich in dem Reiche der RomanÄsthetik und des Stils – er hat das klingende und bunte Französisch auf die Höhe gebracht. Zwar
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Dans les deux dernières années de sa vie intellectuelle, Nietzsche toujours très vivement à Flaubert. Il note dans son journal philosophique de l’été 1886–automne 1887: „Cette transformation typique dont G. F‹laubert› chez les Français et R. W‹agner› chez les Allemands représentent le plus clair exemple: entre 1830 et 1850, la foi romantique dans l’amour et dans l’avenir se transforme en aspiration au néant.“19 Les notes de fin 1886–printemps 1887 abordent sous le titre „Pour la physiologie de l’art. Aux artistes“, les thèmes qui, dans l’esquisse du plan de La Volonté de puissance. Essai de transvaluation de toutes les valeurs, daté de Sils Maria, le dernier dimanche d’août 1888, constitueront le deuxième chapitre: „Sur la physiologie de l’art“ du Livre III: „La lutte des valeurs“. Nietzsche note dans ce fragment posthume de fin 1886–printemps 1887: „Le ‚sens historique‘, l’inspiration tirée des poèmes, des légendes, cette métamorphose typique dont G. Flaubert offre le plus clair exemple chez les Français, R. W‹agner› chez les A‹llemands›; comment la foi romantique dans l’amour et l’avenir se transforme en aspiration au néant, 1830 en 1850.“20 Aux échos de Bourget, s’ajoutent d’autres lectures de Nietzsche, qui relancent son interprétation de Flaubert. Nietzsche avait par exemple été frappé, en lisant Ferdinand Brunetière, Le Roman naturaliste, nouvelle édition, Paris, Calmann-Lévy, 1884, par la formule, à propos de Madame Bovary et de Germinie Lacerteux, d’„étude désintéressée d’un cas pathologique“ et de tentative pour rivaliser dans ces romans avec la „clinique médicale“.21 Le 10 novembre 1887, de Nice, Nietzsche écrit à son ami Heinrich Köselitz (Peter Gast): „Le second volume du ‚Journal des Goncourt‘ vient de paraître: c’est la nouveauté la plus intéressante. Il concerne les années 1862–1865; on y trouve la description la plus vivante des fameux dîners chez Magny, ces dîners qui réunissaient deux fois par mois la bande des esprits parisiens les plus spirituels et les plus sceptique d’alors (Sainte-Beuve, Flaubert, Th. Gautier, Taine, Renan, les Goncourt, Schérer, Gavarni, parfois Tourgueniev, etc.). Pessimisme exaspéré, cynisme, nihilisme, alternant avec une grande gaîté et un bon humour; pour ma part je ferais assez bien partie de ce cercle – je connais ces messieurs par cœur, au point que j’ai déjà assez de leur compagnie. Il faut être plus radical: au fond, il leur manque à tous l’essentiel – ‚la force‘.“22 Le 15 janvier 1888, de Nice, Nietzsche
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fehlt auch ihm wie Renan und Sainte-Beuve die philosophische Zucht, insgleichen eine eigentliche Kenntnis der wissenschaftlichen Prozeduren: aber ein tiefes Bedürfniss zur Analyse und sogar zur Gelehrsamkeit hat sich zusammen mit einem instinktiven Pessimismus bei ihm Bahn bebrochen, wunderlich vielleicht, aber kräftig genug um den gegenwärtigen Romanschriftstellern Frankreichs damit ein Vorbild zu geben. In der That geht auf Flaubert der neue Ehrgeiz der jüngsten Schule zurück, sich in wissenschaftlichen und pessimistischen Attitüden vorzuführen“ (KSA, NF, 11, 600). OPC, XII (trad. Julien Hervier, 1978), 203; 5 [50] „Jene typische Verwandlung, für die unter Franzosen G. F‹laubert› unter Deutschen R. W‹agner› das deutlichste Beispiel abgiebt: zwischen 1830 und 1850 wandelt sich der romantische Glaube an die Liebe und Zukunft in das Verlangen zum Nichts“ (KSA, 12, NF; 201–202). Ibid., 278; 7 [7] „Der ‚historische Sinn‘, die Inspiration durch Dichten, Sagen jene typische Verwandlung, für die unter Franzosen G. Flaubert, unter D‹eutschen› R. W‹agner› das deutlichste Beispiel ist wie der romantische Glaube an die Liebe und die Zukunft in das Verlangen zum Nichts sich umwandelt, 1830 in 1850“ (KSA, NF, 12, 285). Giuliano Campioni, op. cit., 238. KSB, 8, 191f.
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écrit encore à Köselitz: „Je viens de recevoir un ouvrage du Dr Brandes qu’il m’avait annoncé: articles sur Renan, Flaubert, de Goncourt, Tourgueniev, Ibsen, St. Mill, etc. – pleins de finesse, me semble-t-il.“23 Il s’agit du livre de Georg Brandes Moderne Geister. Literarische Bildnisse aus dem 19. Jahrhundert (Esprits modernes. Portraits littéraires du XIXe siècle). Les dernières notes de Nietzsche sur Flaubert sont inspirées par la lecture d’ouvrages consacrés à l’actualité littéraire. Dans le cahier de novembre 1887–mars 1888, il note d’après Lucien Desprez, L’Évolution naturaliste, Paris, Tresse, 188424: „Flaubert ne souffrait ni Mérimée, ni Stendhal: on pouvait le faire enrager dès qu’on citait ‚Monsieur Beyle‘ en sa présence. La différence réside en ceci: Beyle procède de Voltaire, Flaubert de Victor Hugo.25 Les ‚hommes de 1830‘ (– des hommes?) ont pratiqué une divinisation insensée de l’amour: Alfred de Musset, Richard Wagner; également de l’extravagance et du vice … ‚Je suis de 1830, moi! J’ai appris à lire dans Hernani et j’aurais voulu être Lara! J’exècre toutes les lâchetés contemporaines, l’ordinaire de l’existence et l’ignominie des bonheurs faciles.‘26 Flaubert.“27 Nietzsche ajoute un peu plus loin: „Pour ‚le grand dégoût‘: en partie souffrant de celui-ci, en partie l’engendrant eux-mêmes. La littérature nerveusement – catholiquement – érotique. Le pessimisme littéraire en France Flaubert. Zola. Goncourt. Baudelaire.“28 Prenant des notes sur le Journal des Goncourt, Nietzsche écrit dans le même cahier de son journal philosophique: „Dans Salammbô Flaubert se révèle ampoulé, déclamatoire, mélodramatique, amoureux de la couleur épaisse.“29 „Devant un bon paysage je me sens davantage à la campagne qu’en plein champ ou en pleine forêt.“ „Nous sommes trop civilisés, trop vieux, trop amoureux du factice et de l’artificiel pour être amusés par le vert de la terre et par le bleu du ciel. Flaubert de même: horreur sur le Rigi.“30 „Flaubert: de 23 24
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Ibid., 233. „Dans les années 1880, grâce la lecture des œuvres de Brunetière et de Desprez, Nietzsche mûrit sa compréhension du cas Wagner et rattache le musicien au ‚naturalisme‘ et au romantisme français tardif, à la tyrannie de l’effet et des couleurs. Impuissance, faiblesse, mépris de soi, volonté de fuite, emprise du milieu (l’ego préfabriqué), romantisme des natures déçues caractérisent la nature de Wagner, comme celle des nouveaux romanciers parisiens“ (Giuliano Campioni, op. cit., 235). Cf. Jacques Le Rider, Nietzsche et Victor Hugo, in: Romantisme, n° 132, 2006-2, 11–20. En français dans le texte original de Nietzsche. OPC, XIII (trad. Pierre Klossowski et Henri-Alexis Baatsch, 1976), 221; 11 [34] (313) „Flaubert hielt weder Mérimée noch Stendhal aus; man konnte ihn wüthend machen, wenn man ‚Monsieur Beyle‘ in seiner Gegenwart citirte. Der Unterschied liegt darin: Beyle stammt von Voltaire, Flaubert von Victor Hugo. Die ‚Männer von 1830‘ (– Männer?) haben eine unsinnige Vergötterung mit der Liebe getrieben: Alfred de Musset, Richard Wagner; auch mit der Ausschweifung und dem Laster … ‚Je suis de 1830, moi!‘ Flaubert“ (KSA, NF, 13, 199). Ibid., 266; 11 [159] „Zum ‚großen Ekel‘: theils daran leidend, theils selbst erzeugend die nervöskatholisch-erotische Litteratur der Litteratur-Pessimismus Frankreichs / Flaubert. Zola. Goncourt. Baudelaire“ (KSA, NF, 13, 75). Ibid., 301; 11 [296] „In Salammbô kommt Flaubert zum Vorschein, geschwollen, deklamatorisch, melodramatisch, verliebt in die dicke Farbe“ (KSA, NF, 13, 118). Ibid., 303. Le Rigi est un massif des montagnes suisses. 11 [296] „‚Vor einer guten Landschaft fühle ich mich mehr à la campagne als auf freiem Feld und im vollen Walde.‘ Wir sind zu civilisirt, zu alt, zu sehr verliebt in das factice und artificiel, dass wir durch das Grüne der Erde und Blaue des Himmels amüsirt würden. Flaubert insgleichen: horreur auf dem Rigi“ (KSA, NF, 13, 120).
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la forme naît l’idée, suprême formule de l’école, selon Théophile Gautier.“31 „Flaubert: ‚après tout, le travail, c’est encore le meilleur moyen d’escamoter la vie.‘“32 En 1888, Nietzsche rassemble des idées sur Flaubert qu’il reprend dans Le cas Wagner. Au printemps 1888, il note à propos de la sensualité et de la sexualité des artistes: „Beyle et Flaubert, peu suspects en ces matières, ont, de fait, recommandé la chasteté aux artistes, dans l’intérêt de leur art: j’aurais aussi à recommander Renan, qui donne le même conseil, Renan est prêtre …“33 Selon la formule de Giuliano Campioni, „Nietzsche démasque le caractère ascétique de l’idéal scientifique qui signifie la suppression du sensible et que Nietzsche condamne en la personne de Renan ‚prêtre‘, dont la chasteté est une valeur anti-vitale et non l’accumulation d’énergie qui est la propre de la chasteté de l’artiste ‚à la Stendhal‘.“34 Au printemps 1888, Nietzsche observe encore: „Les Goncourt trouvaient Flaubert campagnardisé, trop sain, trop robuste pour eux – ils remarquent que son talent, à leur yeux, devenait grossier … Comme le talent de Heine a dû, pour ceux-là, devenir grossier … D’où la haine … Àpeu près la haine de Novalis contre Goethe –“35 La première partie de cette note est inspirée par la lecture du troisième volume du Journal des Goncourt, qui venait de paraître en 1888. La seconde trouve sa source dans l’ouvrage de V. Hehn, Gedanken über Goethe, publié à Berlin en 1888. En octobre 1888, Nietzsche note encore: „Sur la raison dans la vie. – Une chasteté relative, une sage prudence de principe in eroticis ne serait-ce qu’en pensée, cela peut être un élément de raison dans une vie, même chez des natures entières et richement douées. Ce principe vaut en particulier pour les artistes, c’est un des éléments de leur excellente sagesse de vie. Des voix au-dessus de tout soupçon se sont déjà fait entendre dans ce sens: je citerai Stendhal, Th. Gautier, et aussi Flaubert.“36 Finalement, sous la plume de Nietzsche, Wagner et Flaubert, le grand décadent de Bayreuth et le décadent français se rejoignent dans Le cas Wagner (1888): „Le croiriez-vous, toutes les héroïnes de Wagner, sans exception, aussitôt qu’on les a dépouillées de leur 31 32 33
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Ibid., 304; 11 [296] „Flaubert: de la forme naît l’idée, höchste Formel der Schule, nach Théophile Gautier“ (KSA, NF, 13, 121). Ibid., 305 (en français dans l’original). 11 [296], KSA, NF, 13, 123. OPC, XIV (trad. Jean-Claude Hémery, 1977), 86; 14 [117] „Beyle und Flaubert, zwei Unbedenkliche in solchen Fragen, haben in der That den Künstlern im Interesse ihres Handwerks Keuschheit anempfohlen: ich hätte auch Renan zu nennen der den gleichen Rath giebt, Renan ist Priester“ (KSA, NF, 13, 295). Giuliano Campioni, op. cit., 102. OPC, XIV, 214 (nous avons modifié la traduction). 15 [86] „Die Goncourt fanden Flaubert campagnardisé, zu gesund, zu robust für sie – sie bemerken, dass sich sein Talent für sie vergröberte … Was muss sich für die das Talent Heines vergröbert haben … Daher der Hass … Ungefähr der Hass des Novalis gegen Goethe“ (KSA, NF, 13, 457). Ibid., 342 (nous avons modifié la traduction). 23 [2] „Zur Vernunft des Lebens. – Eine relative Keuschheit, eine grundsätzliche und kluge Vorsicht vor Eroticis selbst in Gedanken, kann zur großen Vernunft des Lebens auch bei reich azusgestatteten und ganzen Naturen gehören. Der Satz gilt in Sonderheit von den Künstlern, er gehört zu deren bester Lebens-Weisheit. Völlig unverdächtige Stimmen sind schon in diesem Sinne laut geworden: ich nenne Stendhal, Th. Gautier, auch Flaubert“ (KSA, NF, 13, 600).
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accoutrement héroïque, ressemblent à s’y méprendre à Madame Bovary! – comme l’on comprend à l’inverse que Flaubert était libre de traduire son héroïne en scandinave ou en carthaginois et de la livrer alors, mythologisée, en façon de livret, à Wagner. Oui, tout compte fait, Wagner ne paraît pas s’être intéressé à d’autres problèmes qu’aux problèmes intéressant aujourd’hui les petits décadents parisiens.“37 Dans Le Crépuscule des idoles (1888–1889), Flaubert est présenté au § 34 des „Maximes et pointes“, comme un des types contemporains du nihilisme: „On ne peut penser et écrire qu’assis38 (G. Flaubert). – Je te tiens là, nihiliste! Rester assis, c’est précisément le péché contre le Saint Esprit. Seules les pensées qui vous viennent en marchant ont de la valeur.“39 Dans Nietzsche contre Wagner (1888–1889), dans le chapitre „Nous autres antipodes“, Nietzsche suggère une antithèse Flaubert – Pascal: „le moi est haïssable“, disent-ils l’un et l’autre. Mais Flaubert le dit dans le sens d’un sacrifice de toute son existence pour son œuvre. C’est aux yeux de Nietzsche le principe de la décadence: le désir d’en finir avec soi-même. „Est-ce la haine de la vie ou bien l’abondance de vie qui est devenue créatrice? En Goethe, par exemple, l’abondance devint créatrice, en Flaubert, la haine: Flaubert, réédition de Pascal, mais sous les traits d’un artiste, ayant comme base ce jugement instinctif“: „Flaubert est toujours haïssable, l’homme n’est rien, l’œuvre est tout …“40 Il se torturait lorsqu’il écrivait, absolument comme Pascal se torturait lorsqu’il pensait – ils ressentaient tous deux d’une façon „non égoïste“ … „Désintéressement“ – voilà le principe de décadence, la volonté d’en finir dans l’art aussi bien que dans la morale.“41 Cette haine de la vie se cache dans la haine de la „saine sensualité“ qu’affichent les apôtre de la chasteté. Au chapitre „Wagner apôtre de la chasteté“ de Nietzsche contre Wagner, Nietzsche écrit: „La haine de la vie a-t-elle victorieuse chez [Wagner] comme chez Flaubert? Car le Parsifal es tune œuvre de rancune, de vengeance, un empoisonnemnt secret de ce qui est la première condition de la vie, une mauvaise œuvre.“42
Nietzsche, un des premiers dans le monde allemand à reconnaître l’importance de Flaubert Nietzsche avait-il lu les œuvres de Flaubert? Le volume des Lettres à George Sand est le seul livre dont on ait la certitude que Nietzsche l’ait eu en main: En fait, Nietzsche ne s’intéresse pas, dans le cas de Flaubert, à la question du roman réaliste contemporain. Au printemps 1884, il s’interroge sur l’impassibilité et l’objectivité revendiquées par le romancier. Mais par la suite, il ne considère plus Flaubert que comme un type moral, esthétique et psychologique de la crise de la civilisation européenne du temps présent, comme un décadent comparable au plus grand des décadents contemporains: Richard Wagner. Nietzsche, à la différence de ses contemporains allemands, a reconnu l’importance de Flaubert. Pour l’écrivain Emil Homberger, Madame Bovary était l’exemple parfait d’un 37 38 39 40 41 42
Nietzsche, Le cas Wagner, § 9, in Œuvres, op. cit., vol. 2, 916. (KSA, WA, 6, 34). En français dans l’original. Friedrich Nietzsche, Le Crépuscule des idoles, ibid., 954. (KSA, GD, 6, 64). Cette phrase est en français dans l’original. Friedrich Nietzsche, Nietzsche contre Wagner, ibid., 1216. (KSA, NW, 6, 426). Ibid., 1219–1220. (KSA, NW, 6, 43).
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Jacques Le Rider
auteur ayant sombré dans le „matérialisme sommaire“, faute de pouvoir „spiritualiser“ la réalité par son idéal.43 Julian Schmidt, dans son Histoire de la littérature française (Geschichte der französischen Literatur), de 1858, portait des jugements critiques sur Stendhal et Honoré de Balzac. Dans la préface à la deuxième édition de cet ouvrage, en 1873, Schmidt était encore plus hostile à la culture française. Il reprochait à Flaubert, comme aux réalistes français en général, leur fascination pour l’anormal, leur cynisme, leur matérialisme et leur sensualité débridée.44 Dans Sur l’imagination du poète (Über die Einbildungskraft des Dichters), de1887, Wilhelm Dilthey évoque plusieurs fois Balzac et mentionne Flaubert, mais sa préférence pour Charles Dickens est évidente. Le tableau chronologique des lectures les plus marquantes de Theodor Fontane, choisies par Hugo Aust45 à la lumière des textes autobiographiques, des essais et de la correspondance, permet de vérifier que le roman français occupe une place relativement modeste dans l’ensemble des références de Fontane en matière de roman contemporain. Jusqu’à 1848, il apprécie surtout Walter Scott, Fenimore Cooper et les récits de Pouchkine. Dans les années 1850 et 1860, il apprécie William Thackeray, Theodor Storm, Nikolaij Gogol, Ivan Tourgueniev, Gustav Freytag, encore et toujours Walter Scott, Henry Fielding et il lit avec ses sentiments mitigés Otto Ludwig. Dans les années 1870, il apprécie Willibald Alexis, Eduard Mörike, Lawrence Sterne, Gottfried Keller, Theodor Storm encore, Tobias George Smollett et il lit avec des réserves Bret Harte (Californian Stories), Gustav Freytag (Les Ancêtres [Die Ahnen]), Friedrich Spielhagen, Tourgueniev (Pays nouveau). Dans les années 1880, il apprécie beaucoup Gloria de Pérez Galdós et il lit avec intérêt, mais d’un œil critique, Tourgueniev (Fumée), Wilhelm Raabe (La Corne de Wanza [Das Horn des Wanza]; Fabian et Sebastian) et Emile Zola (L’Assommoir en 1882; La Fortune de Rougon et La Conquête de Plassans en 1883). Parmi ses dernières découvertes, mentionnons en 1893 August Strindberg (Le plaidoyer d’un fou), dont il perçoit la génialité, mais qui lui fait horreur, et en 1895 Gottfried Keller, Henri le vert, qu’il lit avec admiration. En 1889 et 1894, Fontane répond à des questionnaires sur „les livres qu’il faut lire“, dressant une liste de soixante et onze titres, presque inchangée d’une enquête à l’autre. „Vingt et une de ces références, soit presque 30 %, sont des références étrangères, parmi lesquelles les auteurs anglais sont, de loin, les mieux représentés; à côté de trois écrivains russes et de trois scandinaves, ne figurent que deux auteurs français: Eugène Sue avec deux titres (Les Mystères de Paris et Le Juif errant) et Zola avec trois titres (L’Assommoir, La Faute de l’Abbé Mouret et La Conquête de Plassans).“46 Les grands absents de cette liste sont Stendhal et Flaubert. Norbert Bachleitner47 souligne qu’aucun des 43 44 45 46
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Emil Homberger, Der realistische Roman, in Allgemeine Zeitung, 18, 19 et 20 mars 1870, cité in Theorie des bürgerlichen Realismus, 118. Notons tout de même qu’en 1871, Julian Schmidt avait publié un compte rendu tardif, mais élogieux, de Madame Bovary. Hugo Aust, Theodor Fontane. Ein Studienbuch, Tübingen 1998, 35–38. Yves Chevrel, Theodor Fontane critique du théâtre français, in: Theodor Fontane, un promeneur dans le siècle, sous la dir. de Marc Thuret, Asnières, Publications de l’Institut d’Allemand d’Asnières (Paris III Sorbonne Nouvelle), vol. 26, 1999, 222–223. À la fin de 1887, une enquête avait été menée auprès des écrivains de langue allemande sur le thème: „Quelles œuvres inscrivez-vous sur la liste des cent meilleurs livres?“ Les trente-cinq réponses re-
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trente-cinq écrivains allemands ayant répondu à l’enquête de 1889 ne citait Stendhal ni Flaubert.48 Ces constats permettent de mesurer l’originalité et l’acuité des jugements de Nietzsche qui, pour sa part, a bien perçu l’importance de Flaubert et voue une admiration enthousiaste à Stendhal. Il est vrai que les jugements de Nietzsche n’exercent une influence en Allemagne qu’à partir de la fin des années 1890.49
Jules de Gaultier, disciple de Nietzsche et continuateur de Bourget On peut, à la lumière de ces approches successives de Flaubert dans les textes de Nietzsche de la deuxième moitié des années 1880, affirmer que Jules de Gaultier, dans son étude sur Le Bovarysme (nous nous référons à la deuxième édition de 190250), fut à la fois le disciple de Nietzsche51 et le continuateur de Bourget. Dans les écrits ultérieurs de Jules de
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çues avaient été éditées par Max Scheidewin aux Éditions Pfeilstücker de Berlin en 1889. Dix-neuf auteurs sur les trente-cinq ayant répondu à l’enquête mentionnaient des écrivains étrangers. Parmi ces derniers, Dickens était mentionné par quinze auteurs ayant répondu à l’enquête, Walter Scott par quatorze. Parmi les romanciers français mentionnés, Alphonse Daudet était mentionné par six auteurs ayant répondu à l’enquête, George Sand par cinq, Émile Zola par cinq, Balzac par quatre, Eugène Sue par trois, Victor Hugo par deux. En revanche, personne ne mentionnait ni Stendhal ni Flaubert (Norbert Bachleitner, Quellen zur Rezeption des englischen und französischen Romans in Deutschland und in Österreich im 19. Jahrhundert, Tübingen, Niemeyer, 1990, XV). Dans les essais de critique littéraire de Theodor Fontane, Gustave Flaubert n’apparaît qu’au détour d’un compte rendu (paru dans la Vossische Zeitung du 4 janvier 1885) de l’Histoire de la littérature française (Geschichte der französischen Literatur) publiée en 1882 par Eduard Engel (1851–1938). Theodor Fontane évoque l’analyse du „roman naturaliste“ par Engel et cite ses jugements sur Flaubert et sur Zola. Engel considère Flaubert comme „le plus génial des disciples de Balzac“; il souligne que Flaubert évitait de représenter des personnages „intéressants“, les jugeant trop théâtraux et trop invraisemblables, et qu’il leur préférait „les caractères moyens“ (Durchschnittscharaktere). Engel présente Flaubert comme „un maître du style“ qui était avant tout soucieux „d’éviter toutes les tournures relevant du registre romanesque“; et Fontane ajoute que l’horreur de „la phrase creuse“ est bien ce qui distingue l’écrivain authentique. Puis Engel caractérise Zola qui „donne dans un naturalisme cru, c’est-à-dire dans la reproduction photographique de la laideur de la vie.“ Par haine du romantisme et par pessimisme, il a cédé à des excès qui n’offensent pas seulement la bienséance, mais aussi la vérité artistique, estime Engel, car il ne voit dans le monde que corruption, luxure et vilenie. Engel considère que L’Assommoir est ce que Zola a écrit de meilleur, alors que Nana est, selon lui, son œuvre la plus répugnante. Son „naturalisme photographique“ est aggravé par la tendance aux descriptions interminables (Cf. Eduard Engel, Geschichte der französischen Literatur, in: Theodor Fontane, Sämtliche Werke, éd. par Walter Keitel, IIIe Section (Aufsätze, Kritiken, Erinnerungen), vol. 1 (Aufsätze und Aufzeichnungen, éd. par Jürgen Kolbe), loc. cit., 525–526. Ibid. Jules de Gaultier, Le Bovarysme, suivi d’une étude de Per Buvik, Le principe bovaryque, Paris, Presses de l’Université Paris-Sorbonne, 2006 (abrégé dans la suite des notes „Per Buvik“). Nous ne reviendrons pas sur le rôle de Jules de Gaultier (auteur de De Kant à Nietzsche, 1900; Nietzsche et la réforme philosophique, 1904; Nietzsche, 1926) dans la réception française de Nietzsche, exposé dans Jacques Le Rider, Nietzsche en France, de la fin du XIXe siècle au temps présent, PUF, 1999.
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Gaultier, le bovarysme sera conçu comme un phénomène caractéristique de la civilisation contemporaine. Partant de Paul Bourget, qui écrit dans son essais sur „Gustave Flaubert“: „C’est donc la pensée qui joue ici [chez Flaubert] le rôle d’élément néfaste, d’acide corrosif, et qui condamne l’homme à un malheur assuré; mais la pensée qui précède l’expérience au lieu de s’y assujettir“; „C’est le mal dont [Flaubert] a tant souffert qu’il a incarné en eux [ses personnages] le mal d’avoir connu l’image de la réalité avant la réalité, l’image des sensations et des sentiments avant les sensations et les sentiments“52 – Jules de Gaultier appelle le bovarysme: „l’absence de spontanéité naturelle.“53 Car la nature de l’individu est contredite par l’influence du milieu et de l’éducation. Particulièrement dans la civilisation moderne, „l’individu commence imaginer des connaissances et se met à s’approprier des sentiments étrangers à sa propre sensibilité et, par conséquent, impossibles à ancrer en lui.“54 Envahi par des „âmes étrangères“, l’homme moderne est foncièrement déséquilibré. Son excès cérébralité est un signe de décadence. „Gaultier fait de Flaubert un nietzschéen avant la lettre.“55 Il montre que la critique du romantisme fut le thème favori de Flaubert et définit le romantisme comme „Disproportion entre la violence des désirs et la platitude des réalités.“56 Les romantiques tardifs sont „obsédés par l’imitation de héros inimitables“.57 Inscrit dans cet écart entre l’imaginaire et le réel, le personnage bovaryque est tantôt tragique, tantôt comique, car il est „impuissant à se concevoir tel qu’il est réellement, tout comme il est incapable de concevoir les phénomènes du monde extérieur tels qu’ils sont“.58 Le sujet se crée un réel imaginaire. Ce „pouvoir de se concevoir autre“59 devient pathologique. Toute appréhension de la réalité intérieure ou extérieure est une construction, une fiction; mais dans la cas du bovarysme, l’écart entre réalité et fiction est devenu pathologique. C’est ce qui fait du bovarysme la faillite du romantisme. Cette conception du bovarysme rejoint la perspective du nietzschéisme exposée dans l’essai de 1903 de Jules de Gaultier, La Fiction universelle. Deuxième essai sur le pouvoir d’imaginer. Évoquant la „fiction d’une réalité distincte des représentations successives où elle apparaît“ et la „fiction même de l’identité du moi“60, Jules de Gaultier conclut que „Tout est mythologie, […] nous ne pouvons donner du fait de l’univers que des représentations symboliques, toutes nos explications sont des métaphores.“61 Le pouvoir de se concevoir autre que l’on n’est constitue „l’organe du changement“ et „le moyen du pro52
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Paul Bourget, Gustave Flaubert, in: La Nouvelle Revue, 15 juin 1882, repris dans Essais de psychologie contemporaine. Études littéraires, 1883, cité d’après l’édition d’André Guyaux, Gallimard, Tel, 1993, 97–98. Ibid., 183. Ibid., 184. Ibid., 185. Gaultier, cité in Per Buvik,185. Per Buvik, 186. Ibid., 189–190. Gaultier cité in Per Buvik, 192. Jules de Gaultier, La Fiction universelle. Deuxième essai sur le pouvoir d’imaginer, 1903, 403–404. Cité d’après Per Buvik. Ibid., 412.
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grès“, mais c’est aussi la cause du syndrome bovaryque, „le mode selon lequel [l’homme] se dissocie, s’amoindrit et se ruine.“62 Ainsi Flaubert est nietzschéen aux yeux de Jules de Gaultier parce qu’il a placé la crise du „romantisme bovaryque“ au centre de ses représentations de la civilisation contemporaine. Renouvelant le parcours interprétatif de Nietzsche qui lisait Flaubert à la lumière de Paul Bourget, Jules de Gaultier fait de l’auteur de Madame Bovary un des plus éminents représentants de la décadence contemporaine.
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Ibid., 413.
V. Rezensionen
Nietzsche et l’Europe, hg. von Paolo D’Iorio und Gilbert Merlio, Paris: Editions de la maison des sciences de l’homme 2006 Friedrich Nietzsche gilt, mehr noch als vielleicht Voltaire, als ein europäischer Denker par excellence. Das lässt sich nicht nur an der Tatsache ablesen, dass kaum ein anderer europäischer Philosoph derart ausschließlich nur in Departments of Continental Philosophy gelehrt wird als Nietzsche – freilich heißt der Kontinent, um den es bei Nietzsche zumeist geht, Europa. Dass Nietzsche ein europäischer Philosoph avant la lettre ist, lässt sich bereits vor den Lettern erkennen: an dem Umstand, dass die Ortsbilder, die Reiseziele und die topographischen Koordinaten, die einem bei der Kombination Nietzsche und Europa in den Sinn kommen, derart reichhaltig ausfallen wie bei kaum einem anderen Philosophen: Nietzsche in Nizza, Nietzsche in Turin, Nietzsche in Sils Maria: Fredéric Nietzsche, wie er jenseits des Rheins gerufen wird, war eine durch und durch europäische Figur. Allein die Strecken und Wege, die er zurücklegte, die Orte und Städte, an denen er schrieb, wären ohne den kulturellen Raum Europa (und ohne dessen Eisenbahnverbindungen) unmöglich gewesen. Aus diesem Grund müsste die Grundlage eines jeden Denkens über Nietzsche und Europa eigentlich die europäische Karte seiner Zeit sein, eine Lebenskarte desjenigen Europa, in der man alle Reisen und Aufenthaltsorte Nietzsches einzeichnete, wenn möglich auch inklusive der Gedanken und Gedankenblitze, die ihn nicht nur an Schweizer Bergseen durchzuckten. Die Geburt einer Philosophie aus dem Geist, oder eher den Strecken, eines philosophischen Nomadentums. Allein die Fülle an Koordinaten, die sich unmittelbar an den Namen Nietzsche anschließen, macht deutlich, dass Nietzsche und Europa eigentlich gar keine Kombination bilden. Das eine ist im anderen enthalten wie eine Teilmenge in der anderen. So gibt es nicht einen Philosophen Nietzsche, der sich an Orten eingefunden hätte, die seinem Denken äußerlich geblieben wären; dessen philosophisches Denken war zu einem guten Teil Effekt der Orte und Landschaften, in denen er sich befand. Nicht zufällig war er auch einer der ersten Philosophen, die diese Durchlässigkeit des Denkens für alles Örtliche und Räumliche erkannten und beförderten. Eine Fülle von neuen und unverbrauchten Herangehensweisen an das Phänomen des europäischen Nietzsche wären denkbar: eine kartographische, eine topographische, eine geophilosophische und eine Edition seiner Reisekorrespondenzen (bei der deutlich werden könnte, dass Reise und Nichtreise bei diesem Denker schließlich in eins fallen sollten). Dass man auf diesem ‚Gebiet‘, das man durchaus wörtlich verstehen sollte, jedoch auf philologischem und sogar politischem Weg etwas Neues herausholen könnte, würde man dagegen eher nicht vermuten. Und so ist man denn auch einigermaßen erstaunt zu erfahren, dass genau dies das Projekt des vorliegenden Bandes ist. Dabei sind wenige Dinge von den Nietzsche-Rezeptionen der letzten Dekaden deutlicher herausgearbeitet worden als die Tatsache, dass Nietzsche tatsächlich einigermaßen der Figur des ‚guten Europäers in Cosmopolis‘ entsprach, die er selber entworfen hatte. Seit einigen Jahren ist es glücklicherweise ein fait accompli der Forschung, dass ein Kosmopolitismus wie der Nietzsches die beste Medizin gegen die übelsten Ismen des vergangenen Jahrhunderts darstellt: Nationalismus, Totalitarismus, Rassismus. Mit anderen Worten: Die vom vorliegenden Band intendierte Korrektur des ‚germanischen‘ Nietzsche-Bildes rennt heute
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nicht nur offene Türen ein: Sie könnte als Rückfall in eine Zeit angesehen werden, an die man kaum noch zurückdenken kann. In diesem Sinne stellt der von Paolo D’Iorio und Gilbert Merlio jetzt herausgegebene Band ein Beispiel für einen Forschungstypus dar, dem seine historische Methode eher zum Käfig und nicht zum Gerüst und Dispositiv für neue Aufbauten wird. So angebracht und so notwendig die historische Rekonstruktion auch sein mag, so viele Übersetzungsund Edierungsfehler der vorliegende Band gewissenhaft aufdeckt und so Recht die Herausgeber mit ihrer Einschätzung haben, es gäbe „kein philosophisches Problem ohne Geschichte“ (S. 9), so sollte man, um der Geschichte genüge zu tun, zunächst einmal die Geschichte dieses Diskurses aufklären und der Historizität des Diskurses der historischen Nietzsche-Reparation selbst eingedenken. Schließlich begann die Arbeit an der Korrektur des ‚germanischen‘, wenn nicht des ‚faschistischen‘ Nietzsche-Bildes bereits in der Zeit des Faschismus selbst, und zwar mit den ersten Aufsätzen einiger französischer Nietzsche-Adepten, die es mit dem Wahnsinn Nietzsches aufnahmen und die durch ihre Lektüre und Reparationsbemühung das gebaren, was ein französischer, wenn nicht ein europäischer Nietzsche war. Dabei ist anzunehmen, dass es der Kreis um die Zeitschrift Acéphale (1936–1939) nicht allzu gern gesehen hätte, wie ein von ihm angestiftetes Vokabular, wie etwa das der ‚Dekonstruktion‘, viele Jahrzehnte später in dem vorliegenden Band einfach synonym mit ‚Kritik‘ verwendet werden würde (S. 8). Ein weiteres bekanntes Problem, das mit der Beschränkung aufs rein Historische zusammenhängt, ist das der philosophischen und tagesaktuellen Bescheidung. Tatsächlich ist die Figur des ‚guten Europäers‘ gerade heute eine, die durchaus anfechtbar ist und die auch angefochten wird. Hier könnten unter der Rubrik ‚Nietzsche und Europa‘ dringende Fragen auftauchen: Was hat die Figur des ‚gute Europäers‘ zu den Problemen der Globalisierung zu sagen, und wie steht sie zum Vorwurf der Zurückgebliebenheit Old Europes? Wie lassen sich Person und Philosophie Nietzsches in ein Verhältnis setzen zu den Vorwürfen von Eurozentrismus und Ethnorassismus? Sollten Philosophen überhaupt noch von ‚Italienern‘, ‚Franzosen‘, ‚Deutschen‘ und von all den andern handeln? Und wie muss dieses begriffliche Handeln angesichts einer neuen globalen Herausforderung aussehen? Wie muss das westliche, und das ist immer zugleich das europäische, Selbstbild umgebaut werden, um einen Dialog auch mit den islamischen und anderen Kulturen zu ermöglichen? Diese Komplexe nicht einmal berührt zu haben, ist umso bedauerlicher, als Nietzsche tatsächlich ein Philosoph ist, der bei diesen Fragen weiter führen kann als die gute alte europäische Liberalität. Angesichts der heftigen zeitgenössischen Anfechtungen der Figur des Europäers bleibt der Ertrag einfach nur beschaulich, Nietzsche in die Reihe von anderen guten Europäern eingereiht zu haben wie „Goethe, Beethoven, Schopenhauer, Wagner, Heine“ (S. 9). Gewiss gibt es auch im vorliegenden Band Beiträge, die nicht nur zurück in die philologische Vergangenheit der Nietzsche-Editionen weisen, um deren Unzulänglichkeiten alle guten Europäer wissen. Wenn Ernani Chaves beispielsweise die Nietzsche-Lektüre Walter Benjamins anhand der Vermittlung von Karl Löwiths Buch Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen von 1935 rekonstruiert, so gelingt der Blick auf das Werden eines zweiten guten Europäers, nämlich Walter Benjamin, dessen Rezeption zwischen Deutschland und Frankreich ein ähnliches Schicksal im geteilten Europa erlitt wie die Nietzsches und der ganz ähnlich als ‚französischer Benjamin‘ wieder auferste-
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hen sollte wie es dem französischen Nietzsche erging. Urs Marti schließlich gelingt die feine Differenzierung zwischen den verschiedenen Figuren des Europäers bei Nietzsche: zwischen dem ‚guten‘, dem ‚schlechten‘ und dem ‚häßlichen‘ Europäer, die sich allesamt bei Nietzsche finden. Hier erscheint Nietzsche als ein vorbehaltloser Denker Old Europes zwischen Europhilie und -manie. Durchaus könne Nietzsche als „eurozentristischer“ (S. 180) Denker verstanden werden, bei dem die Entdeckung Europas als Zeichen einer intellektuellen Emanzipation gewertet werden könne (vg. 181). Doch: „Der Europäismus Nietzsches ist zuerst ein Kosmopolitismus“ (S. 182). Dabei zeigt Marti auch, dass der Begriff des Europäischen bei Nietzsche weder ein philosophischer, noch ein politischer Begriff ist; was womöglich das Problem des gesamten Bandes ausmacht: „Dennoch ist das Europa, das in Nietzsches Anspielungen an Form gewinnt, kein Werk einer politischen Einigung, sondern einer kulturellen Synthese“ (S. 183). Knut Ebeling
Enrico Müller, Die Griechen im Denken Nietzsches (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 50), Berlin, New York: Verlag Walter de Gruyter, 2005; Theodor Lindken, Rudolf Rehn, Die Antike in Nietzsches Denken. Eine Bibliographie, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2006 Zwar gilt die Antike spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts kaum noch als nicht zu hinterfragende Orientierung europäischer Kultur; im Zusammenhang mit den gegenwärtigen Neu- und Selbstbestimmungsversuchen Europas erweist sie allerdings auf eine überraschende Weise ihre Unentbehrlichkeit als (Be-)Gründungsfundament seiner Real-, Geistes- und Kulturgeschichte. Die Griechen sind es gewesen, durch die Europa zum Kontinent geworden ist: historisch, politisch und kulturell, nicht durch eine geographische Zufälligkeit.1 Dass den Griechen und Römern eine gewalttätige Selbstbehauptung selbstverständliche Prämisse ihrer kulturellen Identität war, hat die Rezeptionsgeschichte gern mit humanisierenden Gesten verdeckt, marginalisiert oder in künstlerischer Gestalt kathartisch dem ästhetischen Genuss vorbehalten. Ohne eine Besinnung auf die problemintensive Vielschichtigkeit der Antike („eine gefährliche Geschichte voller Risiken, Kampf und Unterdrückung, voller Freiheit [die auf Macht und Überlegenheit über andere beruhte])“2 und darauf, dass eine Annäherung an sie das Bewusstwerden der Dialektik zwischen historischer Fremdheit und genealogischer Ursprünglichkeit sei und diese der Ausgangspunkt ihrer fortgesetzten Bedeutung für ein neues europäisches Selbstverständnis. Darin mit Friedrich Nietzsche ‚unzeitgemäß‘ zu sein, könnte genau dahin führen, wie es Christian Meyer beschrieben hat.3 1
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Vgl. Christian Meyer, Die Antike in der Geschichte Europas, in: Ferne und Nähe der Antike. Beiträge zu den Künsten und Wissenschaften der Moderne, hg. von Walter Jens, Bernd Seidensticker, Berlin, New York 2003, 4. Ders., ebd., 15. Fast programmatisch schließt Meyer seine Ausführungen: „Sobald es aber zu einer solchen Besinnung wieder kommt, werden die Griechen und Römer […] für die Gegenwart gebraucht werden;
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Nietzsche seinerseits hat sich gefragt: „Was ist denn Europa?“ und die Antwort gegeben: „Griechische Cultur aus thrakischen phönizischen Elementen gewachsen, Hellenismus Philhellenismus der Römer, ihr Weltreich christlich, das Christenthum Träger antiker Elemente“ (KSA, NF, 8, 566). Zugleich hat er darauf verwiesen, dass der „Cultur-Begriff ‚Europa‘“ nur jene Völker einschließe, „welche im Griechen-, Römer- Judenund Christenthum ihre gemeinsame Vergangenheit haben“ (KSA, WS, Aph. 215, 2, 650). Was Wunder, dass für den Altphilologen und Philosophen die Antike zu den Themen gehörte, die ihn zeitlebens umgetrieben haben. Enrico Müller, einschlägig als Kenner der Materie bekannt, unternimmt in seiner hier zu besprechenden Studie, die bereits 2004 der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald als Dissertation vorgelegen hat, den im positiven Sinne umfänglichen Versuch, Nietzsches Griechenbild, vielleicht sollte man besser sagen: Nietzsches Griechen, bis in die subtilsten Verästelungen seines Denkens nach- und aufzuspüren. Theodor Lindken und Rudolf Rehn geben mit ihrer Bibliographie zum (fast) gleichen Thema den Überblick über seine Konjunkturen und dokumentieren das perennierende Interesse daran, wie Nietzsche der Moderne (s)eine Antike präsentiert hat, in gewollt antiklassizistischer Gestalt und doch in einem eigentümlich gebrochenen Kontinuum. Müllers Anliegen ist es, „das Griechenbild Nietzsches in seinem Perspektivenreichtum freizulegen“ (7) und es auf seine philosophische Relevanz hin zu untersuchen. Dabei richtet sich sein Blick in zwei Richtungen, die die chronologische wie die sachlich-inhaltliche Zweiteilung der Studie strukturieren: I. Von der Philologie zur Philosophie: Nietzsches Neuerschließung des Griechentums und II. Zur Genealogie des Logos: Nietzsches Kritik der klassischen griechischen Philosophie (ebd.). Der erste Teil ist in die Kapitel „Ästhetische Lust“ und „dionysische Weisheit“: Nietzsches Deutung der attischen Tragödie; Zwischen Kulturgeschichte und Philosophie: Die Fremdheit der Griechen bei Jacob Burckhardt und Nietzsche; „Polyphonie“: Nietzsches Studien zur frühgriechischen Philosophie und Nietzsches philosophische Selbstsituierung: Zur Auseinandersetzung mit Heraklit und Parmenides eingeteilt, der zweite in die Kapitel Politik, Sophistik und Philosophie im Zeitalter der klassischen griechischen Philosophie; Nietzsches Problem: Sokrates und Nietzsches Denken als „umgedrehter Platonismus“. Es geht vor allem um den kulturellen Sichtwechsel Nietzsches auf die griechische Antike. Müller partizipiert an der generell zu beobachtenden kulturwissenschaftlichen Wende im Umgang nicht nur mit dem Altertum, sondern auch mit der Nietzscheschen Philosophie. Seine Darstellung darf dabei zugleich als wesentliche Arbeit dieses überaus produktiven Trends gelten. Mit den Griechen zu denken oder gegen sie anzudenken, darin sieht er mit einigem Recht Nietzsches Verständnis von Philosophie. Um diesem Verständnis auf seine Gründe und in seine Tiefen zu kommen, setzt Müller die ganze Bandbreite methodischer wie inhaltlicher Perspektiven ein: ästhetische, politische, historische, philosophische. Sie alle aber unter der Optik des kulturgeschichts- und kulturwissenschaftlichen Blicks. Weil, so das zutreffende Argument, die „Konkretion und Modernität der Ansätze Nietzsches“ allein so aufzuzeigen seien (8). In der Tat, auf diese Weise gelingt es eindringlich, nicht nur den und daß es dazu kommt, darauf wird man hinarbeiten können, ja müssen; indem man – nach Nietzsche – ‚unzeitgemäß‘ wirkt – ‚das heißt gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zugunsten einer kommenden Zeit‘“ (ebd., 16).
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Paradigmenwechsel vom Klassizismus in die Moderne transparent zu machen, sondern wesentlich den damit verbundenen Abschied von der klassizistischen Emphase gegenüber der griechischen Schönheit und Formvollendung zu begründen und die kritische Reflexion auf „Freilegung dessen“ zu orientieren, „was diesen Formen zugrunde lag und sie ermöglichte“ (9). So entsteht als Resultat ein facettenreiches Panorama der Griechen Nietzsches, das die Antike als das erweist, als was der Philosoph es seiner so faktenund geschichtsgläubigen Philologen-, Historiker- und Philosophenzunft schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts provokativ entgegengestellt und in ihre obsolet gewordenen Annalen eingeschrieben hat: Die Griechen waren in ihrem Handeln und Denken, in und mit ihrer gesamten Kultur eine Kriegs- und Streitkultur, eine Eroberungs- und Abenteurerwelt, mit allen Folgerungen von den schlimmsten Grausamkeiten bis zu den filigransten Kunstfiguren, von den höchsten ethischen Ansprüchen und bis zu den tiefsten Weisheiten über die menschliche Natur. Weil sie das erstere waren, konnten sie das zweite leisten. Diese Erkenntnis mag nun für sich freilich so neu nicht sein, sie klingt schon beim Zeitgenossen Burckhardt in der verpuppten Form der „Fremdheits“-Erkenntnis auf, die die Studenten des Baseler Kulturhistorikers und auch Nietzsche als Zuhörer, mehrfach variiert, in seinen Vorlesungen hören konnten; aber ein wirkliches und wirkendes Profil erhält sie erst in den offensiven Formulierungen Nietzsches, die dann in den großen Kulturkritiken u.a. von Egon Friedell und Walter Benjamin Aufnahme und weiteres Gewicht erhalten. Das beginnende 21. Jahrhundert wiederum weiß sich in einer neuen Notwendigkeit und in der Möglichkeit, einem solchen Griechenbild das ihm inhärente Potential an Geschichtlichkeit abzugewinnen und beizumessen, aus dem seine kritische Aktualität zu erklären ist. Was nichts anderes heißen will, als dass zum einen die Substanz griechischer Kultur paradox ihre Sicherheit im Bewusstsein ihrer beispiellosen Selbstfragilität besitzt und zum anderen es eben dieses lebensweltliche Moment ist, auf das sich zu beziehen, Nietzsche der Moderne wiederholt als Mutprobe und Experimentalkraft für ihre eigene Existenz ausgewiesen hat. Man kann mit Müller dies alles verfolgen: Des Philosophen ‚Entdeckung‘ des Gottes Dionysos, des dionysischen Grundes nicht nur der attischen Tragödie, sondern der gesamten kulturellen Verfasstheit antiker Gesellschaften, dass Tragödie und Politik in gleichem Kontext standen, den untrennbaren Zusammenhang von Kunst, Mythos und Macht, von Ästhetik, Philosophie und Politik: Dionysos in Athen, das war der Ausdruck von Herrschaftskultur, die sich ihres Grundes bewusst war und ihrer Ausdrucksformen sicher. Dionysische Weisheit, apollinischer Schein und euripideisch-sokratische Reflexion bildeten ein widersprüchliches, aufeinander bezogenes und ineinander verwobenes Geflecht agonaler Beziehungen, eine agonale Gespanntheit, an der ihre jeweiligen Machtanteile nacheinander oder zeitgleich die Bühne des Theaters und die der Agora bestimmt haben. Mit einer Rigorosität, einem Pathos und einem Gleichmut in einem, wofür die Nachantike kaum Verständnis aufbringen konnte. Allenfalls Friedrich Hölderlin und Nietzsche. – Konkurrenz- und Machtdenken unter dem Stichwort der ‚Polyphonie‘ tritt unter dem doppelten Vorzeichen von Kolonialisierung und vorsokratischer Philosophie-Entstehung ins Blickfeld. Nietzsches Augenmerk auf Diogenes Laertius, der ihm weniger als authentischer Informant gilt, sondern von dem ausgehend er seine Skizze des vorsokratischen Denkens entwirft, gerät zum Ausgang einer grundlegenden Revision der Bedeutung philosophischen Denkens und seiner Protagonisten vor Sokrates, Platon und Aristoteles. Das
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Ergebnis fällt nicht zugunsten der letzteren aus. Nietzsches geistige ‚Bruderschaft‘ zu Heraklit, seine Sympathie für Anaximander und Anaxagoras sind hinlänglich bekannt. Was Müller daran herausstellt, ist, dass der neue, alles verändernde Blick Nietzsches darauf rekurriert, die vorsokratischen Philosophen hätten das, was die politische Expansion ermöglichte, nicht nur in eine imperiale Geistes-Okkupation übersetzt, sondern einem Wirbel gleich, im Wortsinn ‚kosmisch‘, in eine neue Denk-Ordnung gebracht, eine Kulturleistung der Integration und Transformation, die das ‚Griechische‘ als Resultat einer Fähigkeit bestimmt, fremde Einflüsse eigenen Bedürfnisstrukturen kongenial anzuverwandeln (vgl. 98ff.). Unter der Optik ihrer „Lebensdienlichkeit“ habe vor allem der junge Nietzsche die Philosophie mit der „Reflexion auf kulturelle Phänomene im Horizont des Lebens“ (117) auf ihren Wert für die Kultur befragt. Sein Resultat nach Müller: „Das Denken jener Philosophen war in seiner bis heute erstaunlich anmutenden Originalität Ausdruck und Explikation einer bestimmten, noch nicht da gewesenen Weise zu leben“ (131). Dieses unbedingte Aufeinanderbezogensein von Denken und Leben in der archaischen Kultur ist es, was in den philosophischen Weltentwürfen zum Tragen kommt und deren Wirkmächtigkeit und Eigenständigkeit gegenüber der Klassik begründet. Dass Nietzsche in der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen sich auf eine Auseinandersetzung zwischen Heraklit und Parmenides einlässt, sieht Müller weniger in einer ohnehin nicht mehr originellen Polarität, sondern in seiner generellen und konsequenten Neukonzeptualisierung und geistesgeschichtlichen Kontextualisierung. Im Spektrum eines ästhetisch interpretierten Weltentwurfs und der Geltung intuitiven Philosophierens bei Heraklit und dem ontologischen Seins-Denken des Eleaten, das ihn mit der Ausblendung alles Sinnlichen zum ‚Gegenbild‘ seines eigenen Philosophierens machte, zeigt sich die „die paradoxe Struktur europäischen Philosophierens“: „Als begriffliches Denken verbleibt auch das Philosophieren der Moderne in einem von den Griechen abgesteckten […] Rahmen. Die Genese der Begriffe selbst bleibt […] spezifische Leistung einer nicht mehr zu erschließenden Erfahrung. Die philosophischen Grundunterscheidungen der Griechen waren Entscheidungen. Als Entscheidungen wiederum konnten sie jedoch noch so oder anders getroffen werden. Es ist dieses Wissen um die unwiederholbare Anfänglichkeit eines ersten theoretischen Zugriffs, in denen Nietzsche das Zurückwollen ‚aus den Formeln zu den Formen‘ ansiedelt“ (159). – Mit dem Stichwort ‚Lebenswelt‘ fallen die klassischen Jahrhunderte im antiken Griechenland in die Rubrik einer politischen Geschichte, die die Hervorbringung und Konsolidierung der Kultur verantwortet, deren expansiv-imperialer Gestus in Athen eine politische Dynamik entwickelte, die in einer radikalen Demokratie mündete und durch die totale Politisierung der Kultur ein Bürgerbewusstsein hervorbrachte, an dessen Profilierung die Philosophie maßgeblichen Anteil besaß. Nietzsche nimmt nach Müller dies zum Anlass einer weitgehenden Umwertung: Sein Blick ist alles andere als ein nur geistesgeschichtlich orientierter. „In der Anerkennung der Totalität des Politischen, in der Fähigkeit, dieselbe zum Ausgangspunkt jeder Reflexion auf eine im fünften Jahrhundert auftretende Erscheinung zu machen, steht Nietzsche mit der Ausnahme Jacob Burckhardts weitgehend allein“ (172). Philosophie und Politik ist das Thema, wenn es um Sokrates, die Sophisten, Platon und um die Neuinterpretation geschönter klassizistischer Sehweisen geht: Jede behauptete Klassizität oder die Norm der Kalokagathie, seien nach Nietzsche „nichts idealtypisch Menschliches mehr, sondern anachronistische Produkte der ästhetisierenden Vereinseitigung eines von
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der Totalität des Politischen herrührenden, sich im Medium des Agonalen vollbringenden Lebensstils“ (175). Archaische Poliskultur und vorsokratische Philosophie hielten dem Druck historischer Entwicklung und sozialer Transformationen nicht stand, auch das demokratische Athen blieb in sich gefährdet: Die Widersprüche auszuhalten, ihnen eine Form, eine Sprache, einen sie bestimmenden und zugleich von ihnen bestimmten Logos zu geben, gehört zur Arbeit der Philosophie. Der situative und konzeptionelle Logos der Sophisten resp. der Philosophen leistet sie. Für Nietzsche, der seine Sympathie für die Sophisten klarstellt, entfaltet sich im Streit beider Seiten die Problematik politischer Lebensformen: Im Rückzug der Philosophie aus der Politik wird nach Nietzsche der Preis gezahlt, dem der philosophische Begriff vom Menschen seine eigentliche Geburt verdankt (vgl. 186f.). Bei Platon und Sokrates wird dies exemplarisch. Für Nietzsche avanciert das ‚Problem Sokrates‘ zum hinlänglich bekannten fortgesetzten produktiven Ärgernis. Müller geht es in seiner Lesart, gemäß seines konzeptionellen Ansatzes, nicht nur um das Nietzschesche Für und Wider in Sachen des athenischen Philosophen, nicht um offene oder unterschwellige Vergleichbarkeiten, sondern darum, wie sehr des Philosophen Sokratesbild an seinen eigenen Philosophie-Begriff gebunden ist, dieser alle Kritik an den Athener und seine Persönlichkeit inhaltlich besetzt und strukturiert. Die „demonstrative Individualität ihres Philosophierens“ bezeichne die Nähe beider, „doch der Sokrates Nietzsches verschleiert die Bedingungen seiner Individualität (217f.) durch eine gezielte Gleichschaltung solcher Begriffe wie ‚Tugend‘, ‚Vernunft‘ oder ‚Glück‘. Sokrates‘ Selbstvergleich mit Typhon, dem mythologischen Ungeheuer im Dialog Phaidros, impliziert das ganze Problem des Philosophen; der permanenten Gefährdung seiner Persönlichkeit entgegenzuwirken, ist ihm der Logos der am ehesten geeignete Selbstausdruck und Instrument zugleich. Dass Nietzsche dies erkannt und ausgesprochen hat, darin liegt seine Leistung. Nietzsches Blick gerät nach Müller so zwangsläufig an Platon, dessen Bedeutung er in einer genuin ambivalenten Konstellation zu Sokrates verortet. Seine Interpretation sieht ihn im Kontext der Dialogisierung von Philosophie; Müller stellt sie ins Umfeld der großen Diskurse um Schriftlichkeit und performative Gestaltung. Nietzsches paradoxe Behauptung aus den siebziger Jahren, Platon sei ein sokratisches Kunstwerk, ist ihm Anlass dazu. Auf dieser Grundlage gelingt Nietzsche ein Platon-Bild, das ihn in einer Spannung zwischen An- und Abwesenheit in den Dialogen hält. Aus der Spannung für das, was als eine „deiktische Präsentation eines Einzelnen“ zu bestimmen ist, werden „die Reserven des Individuums Platon jenseits der interindividuellen platonischen Dialogkunst“ sichtbar (231). Müller legt hinter dem antiplatonischen Gestus Nietzsches die verdeckte Affinität frei. So schließt sich der Kreis der Studie: Nietzsche hat die Spannung, die in Platon liegt, als Fundament und als Herausforderung an den europäischen Geist verstanden. Vom Autor der bisher gewürdigten Studie sind in der Bibliographie von Lindken und Rehn vier Titel aufgenommen. Man findet sie, wenn man den Namen Müllers kennt oder zu speziellen Namen, Begriffen und Nietzsches Werken im Index recherchiert. Dies zu erwähnen ist wichtig, weil es Grundlegendes über das Konzept der Titelsammlung aussagt. Sie ist die Erweiterung eines bibliographischen Anhanges zu dem von Daniel W. Conway und Rehn besorgten Sammelband Nietzsche und die antike Philosophie (Trier 1992). Die vorliegende Fassung, auf ca. 1500 Titel erweitert, wurde 2005 abgeschlossen. Die Herausgeber wollen in der bibliographischen Landschaft eine Lücke schließen. Zwar gäbe es
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eine große Zahl an Nietzsche-Bibliographien, aber diese würden sich in der Regel dadurch legitimieren, das ganze Spektrum der Nietzsche-Auseinandersetzung dokumentieren zu wollen. Einschließlich oder trotz der voluminösen fünfbändigen Weimarer Nietzsche-Bibliographie von 20024, gehören Bibliographien zu speziellen Themen noch immer zu den Desiderata. Für ‚Nietzsches Antike‘, wie mit Bezug auf Hubert Cancik gesagt wird, will man diesen Mangel beheben. Ein an sich bemerkenswertes und zu begrüßendes Vorhaben: Es ist international angelegt, unter Einbeziehung sonst marginalisierter Sprachgebiete und doch mit der Schwerpunktsetzung deutschsprachiger, französischer, englischer oder italienischer Rezeptionen, weil von ihnen „in den letzten 30 Jahren […] entscheidende Impulse für die Nietzscheforschung gekommen sind“ (14). Zudem steht außer Zweifel, dass „kaum ein zweites Thema“ Nietzsches Denken „in allen Phasen seiner Entwicklung so nah gewesen ist“ und die Antike die „Entstehung und den Charakter der Philosophie Nietzsches in hohem Maß“ (13f.) bestimmt hat. Dem ist kritiklos zuzustimmen. – Kritik lässt sich allerdings nicht vermeiden, wenn es um die Praktikabilität dieser Bibliographie geht. Zwar ist der alphabetischen Auflistung der Autoren ein Index beigefügt, der den Umgang mit den Inhalten der dokumentierten Arbeiten erleichtern soll, dieser aber kann den Status eines Appendix (trotz sicher anderer Absicht) nicht verhehlen. Zumal man den in den Index aufgenommen Namen und Begriffen, so zahlreich sie sind, eine Zahl weiterer mit guter Begründung zur Seite stellen könnte. So ist es nicht einsichtig, warum Begriffe wie Mythologie oder Sokratismus nicht aufgenommen sind, die keineswegs durch Mythos und Sokrates ausreichend abgedeckt sind. Oder warum zum Beispiel Mimesis, Genius oder Hybris gänzlich fehlen, obwohl sie in der Rezeptionsliteratur Gegenstand der Darstellung und Analyse sind. Hätte man ein nicht autoren-alphabetisches Verfahren gewählt, wäre eine inhaltliche Schwerpunktsetzung transparenter gewesen, und der Benutzer stünde nicht, will er sich über Rezeptionsrichtungen und -wandel informieren, vor der Notwendigkeit einer vorherigen Kenntnis von Namen, Schulen und Zeitabschnitten. Das Argument, Mehrfacheintragungen zu vermeiden, scheint diesbezüglich wenig stichhaltig (vgl. 14). Um die Bibliographie wirklich produktiv zu machen, wäre im Zeitalter elektronischer Verwaltung von Informationen und Wissen zudem an eine digitalisierte Präsentation zu denken, mit der sich effizient arbeiten ließe. Renate Reschke
Volker Ebersbach, Der „Verlust des Mythus“ oder Das Unerlässliche steht in Frage. Nietzsches Tragische Anthropologie, Teil 2, Leipziger Universitätsverlag 2006 In der Nietzscheforschung gibt es eine fast unübersichtliche Fülle an Sekundärliteratur. Den größten Anteil nehmen die zahlreichen Einzeluntersuchungen ein, die sich einem Detail, einer Perspektive oder Facette im Denken Friedrich Nietzsches widmen. Selte4
Weimarer Nietzsche-Bibliographie (WNB), hg. von der Stiftung Weimarer Klassik/Herzogin Anna Amalia Bibliothek, bearb. von Susanne Jung u.a., Stuttgart, Weimar 2000ff.
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ner sind größere Untersuchungen zu finden, die einen Gedankengang konsequent mit oder gegen den Philosophen entwickeln und denen es bisweilen gelingt, im Lichte ihrer Gedankenführung Nietzsche einmal anders erscheinen zu lassen. Ganz selten, sozusagen Glücksfälle, sind Gesamtdeutungen, die eigenständig und im besten Sinne ‚eigensinnig‘ auftreten und aus der Höhe ihres geistigen Reichtums souverän mit Nietzsche umzugehen verstehen. Volker Ebersbachs vorzustellendes Buch lässt sich ohne Übertreibung zu diesen seltenen Glücksfällen zählen. Was hier vorliegt, ist die Leistung eines umfassend gebildeten Denkers, dem es gelingt, Nietzsches Philosophieren im Ganzen als eine ‚tragische Anthropologie‘ kenntlich zu machen und damit ins Innerste des Nietzscheschen Ansatzes vorzustoßen. Vielleicht kann man präziser sogar von der Lebensleistung des Autors sprechen, denn die hier besprochene Untersuchung Ebersbachs, die den 2. Halbband bildet (der 1. Halbband wurde 2002 mit dem Titel „Lauter unsichtbare Gedankenkatastrophen“. Nietzsches Tragische Anthropologie im gleichen Verlag veröffentlicht), ist in jahrzehntelanger Arbeit herangewachsen und gereift. Seit seiner Studentenzeit in den 60er Jahren hat sich Ebersbach eingehend mit Nietzsche beschäftigt, der, um es vorsichtig aus der Unkenntnis der Westsicht zu sagen, in der ehemaligen DDR von offizieller Seite aus betrachtet alles andere als beliebt gewesen ist. Zahlreiche Seiten wurden seit dieser Zeit von Ebersbach mit Notizen, Bemerkungen und Auslegungen zu Nietzsche versehen, die nun, zusammengestellt und in Form gebracht, der Öffentlichkeit vorgelegt sind. Beim Lesen fällt die spärliche Verwendung der Sekundärliteratur ins Auge. Sie ist Ebersbach bekannt und sie wird auch von ihm berücksichtigt, allerdings tritt sie dabei fast vollständig in den Hintergrund. Dafür kommt der Philosoph selbst zu Wort, der frühe ebenso wie der mittlere und späte Nietzsche. Denn, so die Überzeugung Ebersbachs, Nietzsches Denken lässt sich nicht als eine geradlinige, kontinuierliche Höherentwicklung deuten, sondern eher als ein permanentes Streifen derselben Themen auffassen, die, von Anfang an präsent, präzisiert und geschärft werden. Neben Nietzsche wird weiterhin reichhaltig Primärliteratur angeführt, insbesondere Vertreter der klassischen antiken Dichtung und Philosophie. Das ist nicht verwunderlich: Ebersbach, der Klassische Philologie studiert hat und mit einer Arbeit über Petronius promoviert wurde, kann dabei buchstäblich aus dem Vollen schöpfen. Und gerade so Nietzsche nahe kommen. Die Untersuchung versammelt fünf Teile (Das Tragische im „Verlust des Mythus“. Nietzsche und sein „Durchdenken der principiellen Probleme“; „Musik als Muttersprache“: Nietzsche und die „Moderne“; „Denn zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit giebt es keinen nothwendigen Gegensatz“. Friedrich Nietzsche und die Verleumdungen des Erotischen in der Liebe; „Jesus hatte ja die Sünde abgeschafft!“ Nietzsches dionysische Kryptochristologie; „Der grossherzige Kiriloff“ und „Die Logik des Atheismus“. Dostojewskij und Nietzsches dunkelstes Geheimnis), wobei man mit Ebersbach besser von Essays sprechen kann, die von einem Zwischenspiel: Der Wille der Götter – Legitimationsfragen oder Ein geschichtlicher Ort für Nietzsches Tragische Anthropologie und einer Schlussbetrachtung: Der Ikaros der Aufklärung? gerahmt werden. Eingefügt sind zwei Exkurse: der erste ist überschrieben mit Warum ein Mensch keine Nummer ist oder Die absolute Einzigartigkeit von Allem und der zweite Exkurs geht auf die beiden blutigen Erlöser Dionysos und Christus ein.
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Der Leitgedanke, der sich durch die gesamte Untersuchung zieht und der den inneren Zusammenhang zwischen den einzelnen Teilen herstellt, lässt sich mit Hilfe des folgenden zentralen Zitates herausheben: „Nietzsches Anthropologie ist eine Anthropologie des Tragischen und wird durch das Schicksal seines Denkens, durch das Scheitern seines atheistischen Denkens, das er ahnte, das er nicht vermeiden wollte, weil er es nicht vermeiden konnte, eine Tragische Anthropologie“ (402). Und zur Ergänzung: „Hier selbstständig weiterzudenken ist sein Vermächtnis an uns“ (17). In beiden Zitaten zeigt sich die zentrale These Ebersbachs: Der Schlüssel, um ins Zentrum des Nietzscheschen Denkens vorstoßen zu können, liegt in seiner Anthropologie, die sich als eine ‚Anthropologie des Tragischen‘ kennzeichnen lässt. Nach dem ‚Verlust des Mythus‘, gemeint ist der Verlust des lebendigen Glaubens und gegebener Weltdeutungen als ‚selbst nicht mehr in Frage zu stellende Voraussetzung aller Erkennund Erklärbarkeit der Welt‘, gibt es für den Menschen keine ‚Instanz‘ mehr, auf die er noch Bezug nehmen könnte. So bleibt der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen absolut isoliert zurück, ohne dabei die Kluft, die mit diesem Verlust aufgerissen wurde, füllen zu können. Denn der Mensch ist selbst ‚der unsicherste Faktor‘ und die Aufgabe, die Nietzsche als seine eigenste zu erfüllen versucht, besteht genau darin, dieses ‚Tragische der menschlichen Existenz in seiner ganzen Unentrinnbarkeit herauszuarbeiten‘ und es auf unterschiedlichen Wegen zu kompensieren. Die ‚Anthropologie des Tragischen‘ mündet schließlich im Schicksal und der Person Nietzsches in eine ‚Tragische Anthropologie‘, da Nietzsche die genannte Kluft zwischen seinen Verlusterfahrungen und deren Kompensationen nicht wirklich schließen kann. Die Spannung zwischen dem visionär Erschauten und Gedachten seines Philosophierens und dem tatsächlich Erlebten und Gefühlten wird schließlich so groß, dass er sich innerlich buchstäblich im Wahn seiner Selbststilisierung und Selbstvergottung, einer Art „dionysischer Kryptochristologie“ (229), verstrickt und verfängt, aus dem kein Weg mehr hinausführt. So steht für Nietzsche nach dem Verlust des Mythos überall das Unerlässliche in Frage, wobei ‚überall‘ auf den unterschiedlichsten ‚Feldern‘ des Denkens meint: etwa auf dem der Religion, der Ästhetik, der Moral, der Erotik und der Erkenntnistheorie, wie Ebersbach in immer neuen Anläufen in seinem Buch subtil und überzeugend darlegt. Um die Bedeutung und die Relevanz seines Denkens im Kontext der Geistesgeschichte allererst sichtbar werden zu lassen, verortet Ebersbach in seinem Zwischenspiel: Der Wille der Götter Nietzsches Denken in der bisherigen Menschheitsgeschichte, macht also ‚den geschichtlichen Ort für Nietzsches Tragische Anthropologie aus‘. Ebersbach legt dazu eine Genealogie des Glaubens vor, eine Genealogie der Priester und der Religion. Während das Erstaunen allmählich in die Philosophie einmündet, wird die Religion zum Mythos. Schließlich kommt es zum Atheismus der Aufklärung, in dem die Abschaffung des Adels gleichbedeutend mit der Abschaffung Gottes ist, was Nietzsche bekanntlich mit der Formel ‚Gott ist tot‘ umschreibt. Die Konsequenzen, die mit diesem geschichtlichen Faktum einhergehen, sind ungeheuerlich: „Stirbt die Religion, stirbt auch die Moral. Ist aber eine Religion unerlässlich für die Verbindlichkeit, für die Wirksamkeit von Moral, dann steht für den Zusammenhalt einer menschlichen Gemeinschaft das Unerlässliche in Frage“ (15). Nietzsches Denken setzt genau an diesem Punkt der Infragestellung des Unerlässlichen an. Er entlarvt scharfsinnig und psychologisch höchst subtil die Genealogie der Moral als eine Machtgeschichte. Und er fasst den ‚Willen zur Macht‘ als das bestimmende Prinzip,
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den man nach Ebersbach „von seinen Grenzen her definieren kann“, und das heißt vom Tod. Denn „die Ahnung des Todes, das Wissen um den Tod, die Angst vor dem Tod löst vielleicht überhaupt erst den ‚Willen zur Macht‘ aus, dieses Streben nach Wachstum, Ausbreitung, Vorsprung, Vorteil, Überlegenheit, Übergewicht, Vorrang“ (16). Da der Wille zur Macht aber das Zusammenleben der Menschen nicht von sich aus regeln kann, ist für Nietzsche ein „neuer Adel“ erforderlich, der die alten Wertetafeln zerbricht und für neue eintritt. Ist das Unerlässliche in dieser Weise mit Nietzsche so deutlich zum Vorschein getreten, kann man mit Ebersbach die Frage aufwerfen, ob Nietzsche „an dieser Aufgabe zerbrach oder vor ihrer Lösung“ (17) und sich dabei an der Nahtstelle bewegen, in der Nietzsches Anthropologie des Tragischen in eine tragische Anthropologie umschlägt. Wendet man sich von hier dem Essay „Der grossherzige Kiriloff“ und „Die Logik des Atheismus“. Dostojewskij und Nietzsches dunkelstes Geheimnis zu, dann zeigen sich in diesem nicht nur Kongruenzen und Divergenzen im Denken Nietzsches und Fjodor Dostojewskijs, es wird auch ein anderer Blick auf die von Nietzsches vorausgesehenen „Barbaren des 20. Jahrhunderts“ (KSA, NF, 13, 17) möglich. Nietzsche hat die Romane und Erzählungen Fjodor Dostojewskijs als Leser für sich im Januar/ Februar 1887 entdeckt. Dies bezeugen, wie Ebersbach unterstreicht, die Briefe an Heinrich Köselitz und Franz Overbeck. Sie bringen auch den tiefen Eindruck zum Vorschein, den das Lektüreerlebnis bei Nietzsche hinterlassen hat. Die Intensität des Lektüreerlebnisses lässt sich durchaus mit dem vergleichen, was Nietzsche bekanntlich bei Arthur Schopenhauer aber auch bei Stendhal widerfahren ist. Und so ist es nicht verwunderlich, dass er innerhalb von nur zwei Jahren einen großen Teil der Werke Dostojewskijs gelesen hat: „Nachweisen lässt sich die Lektüre der beiden Erzählungen Die Wirtin und Aufzeichnungen aus dem Untergrund, des frühen Romans Die Erniedrigten und Beleidigten und der Aufzeichnungen aus einem Totenhaus. Erschließbar ist die Lektüre der Romane Schuld und Sühne bzw. Raskolnikow und Der Idiot. Bei der Lektüre des Romans Die Dämonen macht sich Nietzsche ausführliche Notizen, die eine lebhafte Symbiose mit seinen eigenen Gedanken eingehen. Für eine Lektüre des Romans Die Brüder Karamasow gibt es, so faszinierend auch dieser Stoff für ihn gewesen sein müsste, keine Anhaltspunkte“ (354f.). Interessant ist nun, wie Ebersbach die Kongruenz zwischen Nietzsche und Raskolnikow, dem Protagonisten in Dostojewskijs Roman Schuld und Sühne (1866) aufspürt. Dabei geht es ihm weniger um den berühmt-berüchtigten Zusammenbruch Nietzsches, der sich ereignet haben soll, als er einen Droschkenkutscher bei der brutalen Misshandlung seines Pferdes gesehen hat. Diese Szenerie entspricht ziemlich genau den Schilderungen, die man, wie Curt Paul Janz erstmalig gezeigt hat, auch in Raskolnikows Traum in Schuld und Sühne findet. Vielmehr geht es Ebersbach um die Differenz, die zwischen dem Erleben und Denken aufscheint, genauer gesagt, um die Differenz zwischen dem Denken und Sagen einer Theorie und dem Ertragen und Einstehen für diese Theorie in der gelebten Wirklichkeit, eine fatale Differenz, die sowohl Nietzsche als auch Raskolnikow letztlich scheitern lassen. Denn der philosophierende Nietzsche trug zwar beispielsweise „die Maske des Mitleidlosen während seiner Turiner Zeit in besonders verfestigter Form“ (361), und konnte dadurch vielleicht sogar viele als „Doktrinär der Mitleidlosigkeit“ täuschen, letztlich wird ihm aber in der Szene mit dem Droschkenpferd diese letzte Maske schonungslos vom Gesicht gerissen.
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Aber nicht nur hier lässt sich der schwer zu fassende Umschlag von Nietzsches ‚Anthropologie des Tragischen‘ in eine tragische Anthropologie aufweisen. Auch in seinem geistig trotzigen Rückzug auf das Image eines ‚Immoralisten‘, ja ‚Verbrechers‘, der, wie es in der Götzendämmerung heißt, der „Typus des starken Menschen unter ungünstigen Bedingungen, ein krank gemachter starker Mensch“ (KSA, GD, 6, 146) ist, kann sich Nietzsche in tiefer innerer Verwandtschaft mit dem Erzähler Dostojewskij selbst zu erfassen versuchen. Während allerdings Dostojewskij seinen Nihilismus durch einen Rückzug ins Christentum zu entkommen versucht, überwindet Nietzsche „seinen Nihilismus durch tragische Welt-Bejahung“: „Aber da liegt Nietzsches Grundproblem, sein Motiv ‚Atheist‘ zu werden und zu bleiben, gleichviel, ob es ihm gelungen ist oder nicht: Ein Zweck ist nicht geeignet, die Existenz Gottes zu beweisen, sondern ein Einwand gegen sie. Um der Moral willen die Notwendigkeit Gottes einzusehen, heißt noch nicht, an ihn glauben zu können. Das ist der Kern in Nietzsches Anthropologie des Tragischen, das ist seine Tragische Anthropologie“ (368). Auf dem Hintergrund dieser Analysen richtet Ebersbach seinen Blick auf Nietzsches Voraussage des Totalitarismus, und zwar des Totalitarismus in beiden Varianten, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat: den russischen Kommunismus und den Nationalsozialismus, und die sich an den beiden Namen Josef W. Stalin und Adolf Hitler festmachen lassen. Einem Denken, in dem, bewusstseinsgeschichtlich betrachtet, sich der Mensch zum Rivalen Gottes gemacht hat, ja, in dem der Mensch schließlich nach der Abschaffung Gottes eine Selbstvergottung vollziehen konnte, „erscheint Stalin wie das Gespenst eines sich selbst vergottenden Nietzsche – mit einer wichtigen Einschränkung: Stalin LEBTE die Selbstvergottung, in der das atheistische Denken ENDET“ (390). Während Nietzsche und Kirillow den Versuch unternahmen, die Stelle Gottes einzunehmen und daran zerbrachen, setzten sich die von Nietzsche vorausgesehenen „Barbaren des 20. Jahrhunderts“ (Hitler und Stalin), „auf Gottes Thron und ließen morden und morden, solange sie konnten“ (391). Versucht man Nietzsche als ‚Vorläufer, Vordenker, Wegbereiter‘ dieser beiden Varianten des Totalitarismus zu erfassen, dann erkennt man, dass dies insbesondere, trotz vielfältiger und grundsätzlicher Divergenzen, mit großer Intensität hinsichtlich Nietzsches und der Nationalsozialisten gemacht wurde. Hier hat man mit großem Aufwand eine geistige Nachbarschaft und innere Konsequenz herauszuarbeiten versucht, wobei die Bemühungen mehr von den ‚falschen Sympathisanten‘ ausgingen, allen voran Nietzsches fälschender Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche in ihrem Nietzsche-Archiv. Spannt man aber den geistigen Faden weniger zwischen Nietzsche und den Nationalsozialisten, sondern eher zwischen Nietzsche, den falschen Sympathisanten und den Nationalsozialisten und blickt man von hier aus auf die Kommunisten, tritt Brisantes, Überraschendes und bisher zu wenig Bedachtes zutage: Denn die „Kommunisten schickten jeden, der sich mit Nietzsche befasste, mit Eifer auf diese falsche Fährte, entweder aus Beschränktheit und Mangel an Wissen, oder weil sie wussten, dass die wirkliche Spur zu ihnen führte“ (391). Was von Ebersbach in dieser Untersuchung vorgelegt wird, bietet eine Fülle an Einsichten, die zur Diskussion einladen. Führt man sich am Schluss dieser Besprechung die These des Autors erneut vor Augen, dass Nietzsches ‚Anthropologie des Tragischen‘ eine ‚Tragische Anthropologie‘ ist und ruft man sich in Erinnerung, dass, wie Ebersbach es formuliert hat, es Nietzsches Vermächtnis ist, selbständig weiterzudenken, dann hat
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Ebersbach in vorzüglicher Weise dieses Vermächtnis eingelöst. An uns liegt es, hieran anzuknüpfen. Karen Joisten
Claudia Rosciglione, Homo Natura. Autoregolazione e caos nel pensiero di Nietzsche, Pisa: ETS 2005. Im Zentrum der Philosophie Friedrich Nietzsches liegt bekanntlich die Aufgabe, den „Grundtext homo natura“ (KSA, JGB, Aph. 230, 5, 169) wieder ans Licht zu bringen. An dieser zugespitzten Betonung der ausnahmslosen Zugehörigkeit des Menschen zur Natur bestätigt sich sein Versuch, ein völlig immanentes Weltbild zu entwerfen, das zugleich als Basis einer ‚naturalisierten‘ Anthropologie gilt.5 Diese fundamentale Gebundenheit macht den Ausgangspunkt der Abhandlung von Claudia Rosciglione aus, die konsequenterweise die anthropologische Dimension der Philosophie Nietzsches seiner Naturphilosophie abzugewinnen versucht. Deswegen signalisiert die im Titel vorkommende Formel ‚homo natura‘, wie übrigens oft bei Nietzsche selbst, eher die Zentralität der Natur, als die des Menschen. Als Leitfaden der Untersuchung dienen die Begriffe ‚Selbstregulierung‘ und ‚Chaos‘, denen die ersten zwei Teile des Buchs gewidmet sind. Im ersten Schritt wird die Problematik der Selbstregulierung betrachtet. Rosciglione geht von Nietzsches eher kritischer Beziehung zum Darwinismus aus. Denn, greift seine Erkenntnistheorie auf die Idee des Kampfs um das Leben zurück, distanziert sich Nietzsche jedoch von Charles Darwin, indem er die Innerlichkeit der Evolutionsprozesse hervorhebt. Anders gesagt: Viel bedeutender als die passive Anpassung an die Umwelt erweist sich für den Werdegang der Spezies der sich intern abspielende Selbstregulierungsvorgang. Diese Vorstellung, die für Nietzsches Begriff des ‚Willens zur Macht‘ entscheidend ist, teilt er mit einer wichtigen Richtung der Biologie. Neben seinem bekannten Verhältnis zu Wilhelm Roux weist Rosciglione insbesondere auf Richard Goldschmidts Begriff von „cellular potency“ hin (46), der unmittelbar an Nietzsches Hauptformel erinnert. Die Selbstregulierung, die als nicht-teleologische sowie nicht-mechanische Grundfunktion des Lebens verstanden wird, bietet also das erste Terrain zur Konturierung des homo natura an. Im zweiten Schritt wird Nietzsches Chaosbegriff rekonstruiert. Diesbezüglich wird die Pointe bereits bei einem Exkurs über seine frühe Interpretation von Anaxagoras deutlich gemacht: Mit dem Chaosbegriff will Nietzsche die autonome, jeder ‚höheren‘ Planund Zielgebung entzogene Selbstgestaltung der Welt zum Ausdruck bringen. Dies wird dann im Aphorismus 109 der Fröhlichen Wissenschaft, den Rosciglione mit Rekurs nicht nur auf einige zentrale Quellen des Denkens Nietzsches (Hermann Helmholtz, Robert J. Mayer, Johann Gustav Vogt, Ruggero Giuseppe Boscovich), sondern auch auf die heutige Komplexitätstheorie kommentiert, explizit und vollständig entwickelt. Die Welt wird also als ein „processo olistico“ (100) dargestellt, der sich durch ständige Organisations- und 5
Der Begriff des Naturalismus wurde im Hinblick auf Nietzsche vor allem von Christoph Cox, Nietzsche. Naturalism and Interpretation, Berkeley, Los Angeles, London 1999, ins Spiel gebracht.
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Deorganisationsvorgänge intern gestaltet. Genau dasselbe Verständnis der Welt drückt nach Rosciglione die Formel der ewigen Wiederkehr aus, die nichts als die immanente und kosmische Selbstorganisation des ganzen Universums bezeichnet. Die Selbstregulierung zeigt sich deshalb als die endogene Grundfunktion nicht nur der organischen Natur, sondern zugleich der Welt als Inbegriff für alle Kräfteverhältnisse. Fern davon, sich gegenseitig auszuschließen, gehören Chaos und Selbstgestaltung daher zusammen: „Il concetto di caos non è dunque in contraddizione con quello del mondo come ciò che si autorganizza, piuttosto il mondo si autorganizza proprio perché è eternamente caos“ (95). Die kosmische Selbstregulierung darf aber nicht mit einer Art Panpsychismus verwechselt werden, denn sie resultiert keinesfalls aus einer totalisierenden, sich von oben her imponierenden Strukturierung. Vielmehr produziert sie sich durch die Wechselwirkung aller Willenskonkretionen, eine Ansicht, die zugleich der konstitutiven Fluidität und Offenheit des kosmischen Prozesses Rechnung trägt. Dessen Unaufhörlichkeit wird dann systematisch durch Nietzsches Leugnung eines Finalzustands abgesichert, die Rosciglione mit Bezug auf die damalige Diskussion über das zweite Prinzip der Thermodynamik rekonstruiert. Das letzte Teil des Buchs macht auf die von Nietzsche stark betonte Kontinuität zwischen Anorganischem und Organischem, die er auf einen basalen Prozess der Kraftauslösung zurückführt, aufmerksam. Sie stellen also verschiedene Konfigurationen des Willens zur Macht dar, die sich vor allem dadurch unterscheiden, dass im Reich des Organischen die Komplexität erheblich zunimmt. Als Konsequenz davon tritt die Perspektivität als Grundmoment sowohl der Erkenntnis als auch der Handlung auf. Der Mensch, an dem sich die Interpretativität im Verkehr mit der Umwelt extrem erweitert, bleibt aber immer noch nichts als ein ‚Stück Natur‘, eine besondere ‚Emergenz‘ im Sinne der heutigen Komplexitätstheorie: „[I]l risultato dell’interazione tra molteplici elementi agenti, che, nel tentativo di un adattamento reciproco, si organizzano e si combinano tra loro in modo tale da trascendere se stessi“ (194). Roscigliones Untersuchung, die sich an Interpreten wie Alwin Mittasch, Wolfgang Müller-Lauter und Günter Abel anschließt, liefert eine schlüssige Rekonstruktion der Naturphilosophie Nietzsches. Insbesondere bestätigen die Parallelen zur Biologie des 20. Jahrhunderts und zur Komplexitätstheorie die Tragweite des Denkens Nietzsches auch im Hinblick auf die heutige Diskussion. Jedoch scheint mir, dass Rosciglione über eine ungelöste Spannung hinwegsieht, die Nietzsches komplementärer Forderung nach einer Naturalisierung des Menschen und einer Entmenschlichung der Natur innewohnt. Denn der Begriff des Willens zur Macht wird nicht nur durch Berücksichtigung der Naturprozesse, sondern auf genauso beträchtliche Weise anthropologisch gewonnen, wie die an typischen Gestalten (etwa Napoleon Bonaparte oder Paulus) entfaltete Phänomenologie der Macht zeigt.6 Sogar, wie Nietzsche selbst bemerkt, um den Gedanken des Willens zur Macht auf die ganze Natur auszudehnen, soll man „sich der Analogie des Menschen zu Ende bedienen“ (KSA, NF, 11, 563). Eine derartige Zuspitzung der anthropologischen Verfasstheit des Willens zur Macht, hält man sich das Ganze vor Augen, bildet zwar eine eher unterdrückte Tendenz im Denken Nietzsches. Die Gefahr aber, den Fehler Arthur Schopenhauers, der sich „die Welt 6
Dazu Volker Gerhardt, Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin, New York, 1996.
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als einen ungeheuren Menschen“ darstellte (KSA, NF, 8, 413), selbst zu begehen, nahm Nietzsche so lebendig wahr, dass er einmal sogar einräumt, dass der „große[ ] Familienzug“ aller Naturphänomene, d.h. der Wille zur Macht, „einem Hirngespinnste zum Verwechseln ähnlich“ zu werden droht (ebd., 644). Wie aber sein Grundgedanke, trotz solcher Schwankungen, dennoch als kohärente Basis einer ‚naturalisierten‘ Philosophie gedeutet werden kann, dies zeigt Rosciglione auf überzeugende Weise. Mattia Riccardi
Uwe Janensch, Goethe und Nietzsche bei Spengler. Eine Untersuchung der strukturellen und konzeptionellen Grundlagen des Spenglerschen Systems, Berlin: Wissenschaftsverlag 2006 In seiner Berliner Dissertation zum Thema Goethe und Nietzsche bei Spengler bemüht sich Uwe Janensch um ein grundlegendes Verständnis der ‚strukturellen und konzeptionellen‘ Prämissen von Oswald Spenglers erfolgreichem Werk Der Untergang des Abendlandes (1923). Ausgehend von einem Diktum Spenglers werden dabei zwei berühmte Ahnen als Gewährsmänner für die ‚Methode‘ ins Zentrum gerückt: „Zum Schlusse drängt es mich, noch einmal die Namen zu nennen, denen ich so gut wie alles verdanke: Goethe und Nietzsche. Von Goethe habe ich die Methode, von Nietzsche die Fragestellungen“7, so Spengler im Vorwort der Ausgabe von 1923. Diese Danksagung ist der Ausgangspunkt für Janenschs Analyse, die sich fortan wesentlich mit den Fragen eines zyklischen Geschichtsbildes und der Adaptation von Johann Wolfgang von Goethes Überlegungen zur ‚Morphologie‘ in Spenglers Geschichtsphilosophie beschäftigt. Offenbar mit großer Sympathie für seinen Gegenstand führt Janensch das Thema seiner Untersuchung ein: „Mit Spengler kommt in diesem Buch ein umstrittener Denker zu Wort, dessen zyklisches Geschichtsmodell vom herrschenden Fortschrittsparadigma grundsätzlich abweicht“ (11). Bereits im ersten Satz des Vorworts offenbart sich so die Crux dieser überwiegend apologetischen Spengler-Lektüre, ist doch das genannte ‚Fortschrittsparadigma‘ stets nur die eine Seite der Moderne gewesen. Immer wieder wurde der moderne Optimismus, wie er sich im populärphilosophischen Schrifttum der Aufklärung ebenso niederschlägt wie im sicher historisch sehr erfolgreichen Geschichtsbild eines Georg Wilhelm Friedrich Hegel, konterkariert durch Ereignisse, die Zweifel am ‚Fortschrittsparadigma‘ aufkommen ließen. In diesem Zusammenhang wäre bereits das vielleicht folgenreichste Ereignis des 18. Jahrhunderts zu nennen: Das Erdbeben von Lissabon. Voltaires Candide und Heinrich von Kleists Erdbeben von Chili, die dieses Ereignis aufgreifen, sind bereits beredte Zeugnisse wider das ‚herrschende Fortschrittsparadigma‘. Ähnlich verhält es sich mit der Diskussion um die der Französischen Revolution folgende terreur der Jakobiner etwa im Umfeld der Weimarer Klassik, das sich gesellschaftlichen Fortschritt bestenfalls noch über das Refugium der Ästhetik erhofft. Das 7
Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1923, IX.
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gesamte 19. Jahrhundert über konterkarieren pessimistische Stimmen das ‚herrschende Fortschrittsparadigma‘: Arthur Schopenhauer, Charles Baudelaire und Friedrich Nietzsche sind hier nur die augenfälligsten Beispiele. Einen weiteren Rückschlag erleidet das genannte Paradigma schließlich mit der Einsicht in die Sinnlosigkeit der vom I. Weltkrieg produzierten Leiden, zu dessen geistesgeschichtlichen Folgen zweifellos auch Spenglers Erfolgstitel zu zählen ist. Wie Janensch im Hauptteil seiner Arbeit (43–290) es unternimmt, Spenglers Inspiration – ‚Goethes Methode‘ und ‚Nietzsches Fragestellungen‘ – in dessen Werk aufzuspüren, ist akurat und hat Methode. Freilich stellt sich sowohl dem Goethefreund wie dem Nietzsche-Leser die Frage, ob es nicht schon eine beschimpfende Ehrung ist, auf der Lektüre dieser Autoren ein ‚System‘ aufzubauen, verbindet beide doch die Skepsis gegen das Systemdenken. Worin besteht die Aktualität Spenglers heute und wozu brauchen wir eine Apologie seiner Lehre im 21. Jahrhundert? Janensch argumentiert mit der Skepsis an Francis Fukuyamas Diagnose des Zeitalters nach dem Kalten Krieg, mit Samuel P. Huntingtons These vom ‚Kampf der Kulturen‘ und mit der wirtschaftlichen Stagnation der Bundesrepublik Deutschland. Er empfiehlt, sich im Hinblick auf Schwächen in den Argumentationen heutiger Kulturtheoretiker erneut auf Spengler einzulassen: „Bei Spengler finden sich keine weitgehend menschengemachten Erklärungen für den Auf- und Niedergang der Kulturkreise wie bei Toynbee, Kennedy, Huntington oder Bassam Tibi. Das zyklische Prinzip und sein kosmischer Hintergrund sind bei Spengler ungleich komplexer und eine ganz eigene Welt für sich. Es erschließt sich nicht durch den äußerlich zu beobachtenden Auf- und Niedergang der Kulturen, sondern durch seine inneren Strukturen, für deren polare Rhythmik Goethe der Schlüssel des Verständnisses ist.“ Die so als „goethisch“ erkannte „polare Rhythmik“ (305) sei mit dem Niedergang des Ost-West-Konflikts nicht an ihr Ende gelangt, sondern offenbare sich nun in neuen, verschärften Polaritäten: „Die überwundene Spaltung der Menschheit in zwei Machtblöcke unter dem atomaren ‚Gleichgewicht des Schreckens‘ scheint ‚nur‘ die erste globale, machtpolitisch bedeutsame Stufe dieses sich steigernden Gegensatzes gewesen zu sein. Nach dem Zerfall der einen Macht, zu deren Zielen der Ausgleich sozialer Unterschiede gehörte, forcierte sich die globale Aufspaltung des Wohlstandes. Immer deutlicher öffnet sich die ‚Schere der Polarität‘ zwischen arm und reich, sowohl bei Individuen als auch bei Nationen. Die sich herausbildenden Spannungen werden vom Ideal des Massenwohlstandes mit unabsehbaren Folgen weiter angeheizt. Hinzu kommen Bevölkerungsexplosion und jugendliches Durchschnittsalter in den Schwellenländern einerseits, Bevölkerungsrückgang und schnelle Überalterung in vielen Industrienationen andererseits. Auch hier verstärken sich die Anspannungen und verlangen in absehbarer Zeit nach einer integrativen Lösung“ (311f.). Des weiteren führt Janensch den Gegensatz zwischen dem „weitgehend säkularen Westen“ und den „fundamentalistisch regierten islamischen Staaten“, sowie „klimatische Verschiebungen als Folgen weltweiter Technisierung“ als Beispiele an (312). Polaritäten, Gegensätze? Sicher! Ob sie wirklich etwas mit Goethe und Nietzsche zu tun haben, darüber lässt sich trefflich streiten. Hans-Gerd von Seggern
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Hans-Gerd von Seggern, Nietzsche und die Weimarer Klassik, Tübingen: Francke Verlag 2005 Dieser Band schließt eine Lücke, die der Autor selbst mit Recht als überraschend beurteilt, d.h. das Fehlen einer Monographie über Friedrich Nietzsches Beziehung zur Weimarer Klassik und zur beständigen Präsenz der Werke von Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller in allen Phasen seines Denkens. Es ist selbstverständlich nicht die einzige Lücke, wenn wir an das ebenso auffallende Fehlen einer systematischen Untersuchung über sein Verhältnis zu Arthur Schopenhauer denken, um ganz zu schweigen über andere dauerhafte Gesprächspartner Nietzsches wie Richard Wagner und Jakob Burckhardt. In allen diesen Fällen handelt es sich um Lücken, die schwer zu schließen sind, denn es geht nicht einfach darum, ‚Quellen‘ aufzuzeigen, die allerdings wichtig für Nietzsches Denken sind, sondern darum, in einem Zusammenhang und in einer Reihe von sehr verschiedenen Kombinationen, Auseinandersetzungen zu rekonstruieren, die ein dauerhafter Bestandteil der Entwicklung seines Denkens sind. Der Autor hat gerade diese letzte, anspruchsvollere (und produktivere) Methode gewählt, und um ein sehr weites Feld zu erforschen, das mit zentralen Begriffen verschiedener Aspekte – ästhetischer, ethischer, erkenntnistheoretischer Art – von Nietzsches Philosophie zu tun hat, ist er essayistisch vorgegangen. So werden acht selbstständige Essays vorgeschlagen, die von Nietzsches Beziehung zur Ästhetik und zum ‚Idealismus‘ Schillers in der Periode der Geburt der Tragödie, über die Diskussion zum Begriff der Katharsis in Bezug auf Jacob Bernays und auf Goethes Polemik gegen die Wirkungsästhetik, über die Ausarbeitung des Mythos von Prometheus von der Geburt der Tragödie bis Also sprach Zarathustra, zur Bedeutung Goethes in einer antiwagnerischen Funktion für die Erarbeitung der Gestalt des freien Geistes (siehe die Kapitel Phaenomenologie des freien Geistes und Nietzsches Zwiegespräch mit Goethe), endlich bis zur Rolle der Ethica von Baruch Spinoza für Nietzsche, auch in diesem Fall mit einer sorgfältigen Untersuchung über die Kombination der Quellen, die von Kuno Fischers Spinoza-Buch, das für Nietzsche ein bedeutender Text gewesen ist, bis zu Goethes Spinoza und zum Gott von Johann Gottfried Herder. Da es natürlich nicht möglich ist, die Reihe der vom Autor erreichten Ergebnisse auch nur im entferntesten zusammenzufassen, begnügen wir uns damit, einige davon anzusprechen, um sowohl die Arbeitsmethode des Autors, die auf einer überzeugenden Kombination der Quellen beruht, als auch die innere Kohärenz der von ihm vorgeschlagenen Sondierungen herauszustellen. Bereits in dem der Rolle von Schillers Ästhetik beim frühen Nietzsche gewidmeten Teil gelingt dem Autor ein entscheidender Schritt nach vorn im Vergleich zu der Arbeit, von der er sozusagen seinen Ausgang nimmt, nämlich dem Aufsatz La filologia e il sublime dionisiaco (1981) des italienischen Germanisten Giuliano Baioni. Hier wird tatsächlich die augenfällige Grenze dieses Aufsatzes überschritten, der den Begriff des Dionysischen in die Tradition des Erhabenen, und insbesondere des von Schiller theoretisierten Tragisch-Erhabenen, einführt, ohne jedoch zu beachten, dass bei Nietzsche die Aufnahme dieser Tradition gänzlich im Horizont der Ästhetik und der Theorie des musikalischen Dramas von Richard Wagner geschieht, von dem die tragenden Kategorien des dionysisch-apollinischen Verhältnisses herrühren. Man könnte sogar von Seggern dazu auffordern, auf diesem Weg noch weiter voranzudrängen. Der
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‚Idealismus‘ des antiken Dramas, seine Distanz von jeder nachahmend-naturalistischen Versuchung, den Nietzsche erwähnt, wenn er vom Chor als ‚lebende Mauer‘ im Hinblick auf die Einführung des Chors in Die Braut von Messina spricht und den von Seggern als ein zentrales Moment der Beziehung zu Schiller bezeichnet, ist ein rein wagnerisches Argument. In Oper und Drama hat Wagner Die Braut von Messina als den kühnsten Versuch beurteilt, das nachahmende Verhältnis in idealistischer Weise zu bekämpfen, das die Kunst mit der zerfallenen und atomisierten Wirklichkeit der modernen Welt hat und das seinen vollendetsten Ausdruck im Roman als moderner Form der Epik findet: Die Wiederbelebung der antiken Tragödie ist eine utopische Reform der gesellschaftlichen Realität durch die Kunst, um die zivilisatorische Zersetzung zur Form einer auf einem Zentrum, dem tragischen Mythos, beruhenden Gemeinschaft zurückzuführen: eine Aufgabe, die Schiller vorausgeahnt hat und die nur das musikalische Drama erfüllen kann. Das große Verdienst dieses Buchs liegt in dem Beweis, dass ein großer Teil von Nietzsches Auseinandersetzungen mit der Weimarer Klassik gerade innerhalb des überaus schwierigen Übergangs von der wagnerisch geprägten Metaphysik des Künstlers zur antiwagnerischen Haltung von Menschliches, Allzumenschliches stattfindet. Als Nietzsche die regressive Utopie einer auf dem griechisch-germanischen Mythos und auf der Verehrung des Genies beruhenden Gemeinschaft verlässt und für eine komplexe und pluralistische Gesellschaftsform plädiert, fällt auch das Primat der Tragödie als Konzentration des Pathos und der nicht intellektualisierten Affekte weg. Der Vorzug des Romans als literarischer Ausdruck des Verlusts des Zentrums in der Neuzeit, den Wagner Goethe vorwirft, wird bei Nietzsche zum positiven Element, zum Ausgangspunkt für die Bewertung des ‚antitragischen‘ Goethe als Genie der Kultur und der Integration zwischen Kunst und Wissenschaft: Goethe wird explizit „gegen Wagner abgespielt“, wie es auf Seite 101 heißt. Johann Peter Eckermanns Gespräche mit Goethe, die Nietzsche außerordentlich liebte, enthalten unter dem Datum des 31. Januar 1827 ein erstaunliches Lob des chinesischen Romans, den Goethe mit seinem Hermann und Dorothea und mit den Romanen von Samuel Richardson vergleicht: Hier ist alles bürgerlich und dem Intellekt zugänglich, beruht auf einem strengen Sinn für Mäßigung, und eben deshalb, schließt Goethe, ist er funktional für die Jahrhunderte alte Erhaltung der chinesischen Einrichtungen. In Menschliches, Allzumenschliches scheint sich die Wertschätzung der Tradition gegenüber dem revolutionären Geist vor allem auf die Kategorie der Mäßigung zu stützen, die Goethe mit Torquato Tasso ins Zentrum der Ethik der Klassik gestellt hatte. Die Mäßigung kommt aber der Konventionalität und der Ablehnung der revolutionären (Rousseauschen) Illusion der Wiederkehr von ‚Einfachheit und Natürlichkeit‘ durch eine Wiederholung des goldenen Zeitalters gleich. Sie ist bei Nietzsche das Hauptthema des berühmten Aph. 221 von Menschliches, Allzumenschliches, worin der späte Goethe, der den Inhalten der Kunst ihre Macht nimmt, ihnen jeglichen Charakter von Unmittelbarkeit und Natürlichkeit abspricht, um sie nur in ihrem formalen Wert gelten zu lassen, indem er sie quasi in die reine Funktion der Erhaltung einer literarischen Überlieferung auflöst und somit als Befürworter einer Kultur der auf dem Ethos der Mäßigung basierenden Tradition auftritt. Der subtilen Analyse, die von Seggern diesem Aphorismus widmet, der tatsächlich einen Höhepunkt der Beziehung Nietzsches zu Goethe im entscheidenden Moment seiner Abkehr von Wagner darstellt, und der bereits die Aufmerksamkeit von Ernst Bertram auf sich gezogen hatte, wollen wir nur, um noch einmal den kombinierten, nie eindeu-
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tigen Charakter der Nietzsches Quellen hervorzuheben, ein kleines Detail hinzufügen. Nietzsches Beobachtung, dass Goethe seine Subjekte und Charaktere jedes originalen, aufregenden und pathologischen Aspekts entkleidet, indem er aus ihnen reine Variationen derjenigen aus der künstlerischen Tradition macht, ist die fast wörtliche Aufnahme eines Passus der Kultur der Renaissance in Italien von Burckhardt über den Orlando furioso: Ariost, schreibt hier Burckhardt, „verfährt ganz wie die damaligen bildenden Künstler und wird unsterblich, indem er von der Originalität in unserem jetzigen Sinne abstrahiert, an einem bekannten Kreise von Gestalten weiterbildet und selbst das schon dagewesene Detail noch einmal benützt, wo es ihm dient“.8 Die Mäßigung, die aus der Treue zur Konvention hervorgeht und dank der eine Herrschaft über die Leidenschaften ausgeübt wird, statt sie in ihrer elementaren Macht zu entfesseln, wie es die Tragödie tut, deren Ursprung Nietzsche jetzt in den großen, aus politischen Gründen von den Tyrannen gestützten Trauerveranstaltungen sieht, ist die geeignete Haltung für eine Kultur, die nicht nur von der wachsenden Unterschiedlichkeit ihrer Bestandteile charakterisiert ist, und die deshalb eine gegenüber den Verschiedenheiten duldsame Form erfordert (was Nietzsche durch den Begriff des ‚großen Stils‘ ausdrücken wird), sondern auch von der zunehmenden Intellektualisierung der Affekte. Die nunmehr von Nietzsche erworbene Überzeugung, dass die Verhaltensweisen und die Lebensformen das Ergebnis von sedimentierten intellektuellen Handlungen sind, impliziert eine kontemplative Umwandlung der Affekte in Erkenntnisse, sowie einen Zuwachs an Macht und an Kontrolle auf dem Gebiet der Leidenschaften, ein Thema, das Nietzsche in einer zweifellos von Spinoza geprägten Tonart behandelt. Es ist also konsequent, wenn uns von Seggern am Ende seines Bandes, von den Thesen Spinozas über die Mäßigung der Affekte durch die Macht der Vernunft und über die Zurückführung der Vernunft selbst auf den mächtigsten Affekt ausgehend, die Nietzsche in das Thema der ‚Leidenschaft der Erkenntnis‘ übersetzen wird, eine vergleichende Analyse über Goethes und Nietzsches Verhältnis zu Spinoza bietet. Was Nietzsche betrifft, geht sie so weit, die Bedeutung der Ethica und ihrer Theorie des conatus für die Idee des ‚Willens zur Macht‘ hervorzuheben. Sandro Barbera
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Jakob Burckhardt, Kultur der Renaissance in Italien, Hamburg 2004, 357.
Personenverzeichnis Kursiv gesetzte Seitenzahlen beziehen sich auf den Fußnotentext
Abel, Günter 174, 185, 266 Adorno, Theodor W. 19, 41 Aeberli, Alexander P. 25 Alexander der Große 102, 178 Alexis, Willibald 246 Anaxagoras 265 Anaximander 258 Anaximenes 258 Andler, Charles 204 Andreas, Willy 74 Ariosto, Ludovico 271 Aristoteles 135, 257 Asadowski, K. M. 171 Äsop 103 Assmann, Jan 184–185 Augustinus 129 Aust, Hugo 246 Averroës 32 Avicenna 32 Baatsch, Henri-Alexis 243 Bach, Johann Sebastian 109–110 Bach, Reinhard 35 Bachleitner, Norbert 246, 247 Baioni, Giuliano 269 Balzac, Honoré de 13–14, 240, 246, 247 Bamford, Rebecca 113 Bates, Donald L. 92 Baudelaire, Charles 19, 239, 243, 268 Baumgarten, Norbert 28
Beech, Dave 112 Beethoven, Ludwig van 16, 93, 96–100, 107–112, 114, 254 Beintker, Hans 225 Benjamin, Walter 20, 94, 254, 257 Benn, Gottfried 19–20 Benne, Christian 69, 75 Benz, Ernst 126, 205 Berdjajew, Nikolaj 182 Bergengruen, Werner 178 Berger, Peter 157, 158 Berlioz, Hector 19, 99 Bernays, Jacob 269 Bernstein, J. M. 103 Berthier, Alexandre 76 Bertram, Ernst 270 Bett, Richard 71 Beyerhaus, Gisbert 35 Bishop, Paul 93, 100, 101, 113 Black, Edwin 83 Bloch, Peter Andre 215 Blumenberg, Hans 45, 186 Bohley, Reiner 214, 226 Borchmeyer, Dieter 91, 101, 116 Boscovich, Ruggero Giuseppe 265 Bourget, Paul 239–241, 247–249 Brahms, Johannes 16 Brandes, Georges 126, 205–206, 243 Brendel, Franz 98 Bret Harte, Francis 246
274 Bridgewater, Patrick 79 Broese, Konstantin 38, 39, 147 Brown, Dan 15 Brunetière, Ferdinand 242, 243 Brusotti, Marco 75, 92, 152, 159, 162, 169 Büchner, Georg 13, 15, 19 Büchsel, Carl 235 Buck, August 28 Bull, Malcolm 112 Bülow, Hans von 110 Burckhardt, Jacob 14, 160, 238, 257, 258, 269, 271 Burger, Rudolf 183, 185 Burnett Tylor, Edward 148, 154, 162–163, 165– 169 Bush, George W. 84 Buvik, Per 247, 248 Cage, John 14 Came, Daniel 112 Campioni, Giuliano 71, 74, 76, 238, 239, 242, 244 Camus, Albert 190 Cancik, Hubert 160, 164, 260 Cancik-Lindemaier, Hildegard 164 Carlyle, Thomas 81 Caro, Adrian del 142 Cervantes, Miguel de 21 Chamberlain, Houston Stewart 86 Chaves, Ernani 254 Chevre, Yves 246 Colli, Giorgio 122, 206, 210, 237, 238 Common, Thomas 79–89 Comte, Auguste 14, 70, 239 Conway, Daniel W. 259 Cooper, James Fenimore 246 Cox, Christoph 265 Crescenzi, Luca 162 Creutziger, Werner 181 D’Annunzio, Gabriele 16 D’Iorio, Paolo 254 D’Ioroi, Paolo 68, 71 Dante Alighieri 46
Personenverzeichnis Daru, Pierre Antoine Noël Bruno 76 Darwin, Charles 265 Dathe, Dorfschullehrer 216–217 Daudet, Alfonse 247 Dawydow, Juri N. 179, 180 Deleuze, Gilles 45, 121–122, 124, 238 Delfosse, Heinrich P. 36 Demokrit 38 Demosthenes 191 Denker, Alfred 119 Dérely, Victor 207 Deschner, Annette 74 Desné, Roland 35 Desprez, Lucien 243 Dickens, Charles 246, 247 Diderot, Denis 137, 143 Diethe, Carol 232 Dietzsch, Steffen 86 Dilthey, Wilhelm 246 Diogenes Laertios 257 Döblin, Alfred 19 Dostojewski, Fjodor 124–126, 171, 176, 177, 179–182, 194, 203–210, 263–264 Dühring, Eugen 149 Dupré, Louis 189 Durkheim, Emil 147 Ebersbach, Volker 261–265 Eckermann, Johann Peter 270 Eichendorff, Joseph von 19 Elbe, Stefan 68, 92 Elder, Mary 80 Eliot, Thomas Stearns 16 Emerson, Ralph Waldo 71, 81 Engel, Eduard 247 Engels, Friedrich 14 Epiktet 38 Epikur 38 Erasmus von Rotterdam 39 Evans Pritchard, Edward 154 Ferrer, Daniel Fidel 119 Feuerbach, Anselm 16 Feuerbach, Ludwig 147, 183
Personenverzeichnis Fielding, Henry 246 Figl, Johann 185, 190 Fink, Eugen 122–123 Fischer, Kuno 269 Flaubert, Gustave 237–249 Fontane, Theodor 246, 247 Fornari, Maria Cristina 71 Förster-Nietzsche, Elisabeth 27, 87, 214, 264 Foucault, Michel 45, 169 Francke, August Hermann 235 Franz von Assisi 207 Frazer, James George 166 Freud, Sigmund 26, 149 Frey, Herbert 119 Freytag, Gustav 246 Friedell, Egon 257 Friedrich II. 74–76 Friedrich Wilhelm I. 74–76 Friedrich Wilhelm IV. 220, 223 Friedrich, Caspar David 16 Friedrich, Hugo 14 Fronterotta, Francesco 71 Gadamer, Hans-Georg 14, 22, 119 Galilei, Galileo 16 Galindo, Martha Zapatha 25, 29 Gandillac, Maurice de 238 Gast, Peter 203, 206 Gaultier, Jules de 247–249 Gauthier, Théophile 242, 244 Gavarni, Paul 242 Geier, Swetlana 181 Gemes, Ken 135 George, Stefan 18 Gerhardt, Volker 92, 114, 148, 216, 231, 266 Gerigk, Horst-Jürgen 177 Gerlach, Hans-Martin 35 Gesemann, Wolfgang 203, 205–206 Gestrich, Andreas 228 Geuss, Raymond 92 Gluck, Christoph Willibald 99 Goch, Klaus 216, 218, 220, 223, 226, 231, 233 Goedeke, Karl 76 Goedert, Georges 68, 92
275 Goeters, Gerhard 235 Goethe, Johann Wolfgang von 16, 17–19, 76–77, 81, 93, 96–97, 101, 102, 104–106, 108, 111, 115, 143, 237, 245, 254, 268, 269–271 Gogol, Nikolai 246 Goldschmidt, Richard 265–266 Goldschmidt, Wilhelm 204 Golomb, Jakob 184 Goncourt, Edmond de 242–244 Goncourt, Jules de 242–244 Grass, Günter 30–31 Gray, John 80 Greiffenhagen, Martin 228 Guern, Michel Le 134 Guyau, Jean-Marie 71 Guyaux, André 240, 248 Haar, Michel 239 Habermas, Jürgen 41 Hassler, Gerda 35 Haussmann, William A. 80 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 14, 41, 139, 184 Hehn, Victor 244 Heidegger, Martin 14, 45, 73, 119–126, 141 Heine, Heinrich 15, 244, 254 Helmholtz, Hermann 265 Hémery, Jean-Claude 244 Heraklit 258 Herder, Johann Gottfried 76, 269 Herold, Norbert 92 Hervier, Julien 242 Hesse, Hermann 26 Himmelmann, Beatrix 71, 148 Hinske, Norbert 35 Hitler, Adolf 27, 30, 49, 264 Hobbes, Thomas 48 Hödl, Gerald 147, 151, 155 Hoeres, Peter 85, 86, 89 Hofer, Michael 185 Höffe, Ottfried 45, 47 Hofmann, Johann Nepomuk 185 Holbein d. J., Hans 180 Hölderlin, Friedrich 257
276 Hollingdale, R. J. 92 Hollinrake, Roger 93 Holthusen, Hans Egon 31 Homberger, Emil 246 Homer 111 Horstmann, Rolf-Peter 92 Hugo, Victor 243, 247 Hultsch, Paul 79, 89 Hume, David 135, 147 Huntington, Samuel P. 268 Huonker, Thomas 83 Hütig, Andreas 147 Ibsen, Henrik 81, 243 Immel, Oliver 147 Iwanow, Wjatsceslaw 182 Jacobi, Heinrich 124–125 Jagenberg, Carl Helmut 231 Janensch, Uwe 267–268 Janz, Curt Paul 218, 263 Jean Paul 125 Jens, Walter 31, 255 Jung, Susanne 260 Kandinsky, Wassily 18, 20 Kant, Immanuel 26, 35, 38, 40, 42, 45, 48, 49, 68, 76, 102, 104, 108, 129 Katte, Hans Hermann von 75 Kehrer, Günter 147 Keller, Gottfried 246 Kennedy, Paul 268 Keßler, Peter 177 Kippenberg, Hans G. 148, 154 Klee, Paul 19 Kleist, Heinrich von 15–16, 267 Klossowski, Pierre 243 Knoblauch, Hubert 147 Knödgen, Marita 79, 82 Kofman, Sarah 184 Kohlheim, Ferdinant 235 Konfuzius 42 Köselitz, Heinrich 203, 242–243, 263 Krell, David Farrell 92
Personenverzeichnis Kreuzer, Siegrfried 155 Krökel, Fritz 92 Kropfinger, Klaus 99 Krug, Gustav 110 Krüger, Oliver 74 Kuhn, Elisabeth 92, 171, 172 Lacoste, Jean 241 Lange, Friedrich Albert 38 Launay, Jean 238 Launay, Marc de 239 Lavigne-Mouilleron, Christel 238 Le Rider, Jacques 238, 241, 243, 247 Leibniz, Gottfried Wilhelm 126 Leiter, Brien 132 Lenin, Wladimir I. 84 Lessing, Gotthold Ephrahim 37, 76, 97 Levy, Oskar 86–89 Lewis, Wyndham 16 Lichtenberg, Georg Christoph 37 Lindken, Theodor 256 Lippmann, Walter 84 Liszt, Franz 16, 98–99, 107 Loewen, Harry 181 Löhneysen, Wolfgang von 99 Löwith, Karl 45, 122, 126, 183, 189, 254 Lubac, Henri de 204 Lubbock, John 148, 162–163, 165 Luckmann, Thomas 157, 158 Ludwig, Otto 246 Luethi, Kurt 155 Lukács, Georg 45 Luther, Martin 48, 225 Mähl, Hans-Joachim 23 Mairet, Philip 83 Manemann , Jürgen 185 Mann, Heinrich 26 Mann, Thomas 15, 26, 234 Marquard, Odo 74, 186 Marti, Urs 73, 255 Martin, Nicholas 92 Marx, Karl 14, 15, 36, 41, 57, 81, 83, 147, 183, 238
Personenverzeichnis Mau, Rudolf 235 Maupassant, Guy de 238 Mayer, Mathias 159 Mayer, Robert J. 265 Mendelssohn, Moses 35 Merlio, Gilbert 68, 254 Meyer, Christian 255 Michaels, Axel 147 Mill, John Stuart 243 Miller, Charles Anthony 177, 179, 181, 205 Mirandola, Pica della 28 Mittasch, Alwin 266 Monet, Claude 18 Montaigne, Michel Eyquem de 133–134, 144 Montefiore, Simon Sebag 30 Montinari, Mazzino 206, 237, 238, 237, 238 Mörike, Eduard 246 Morris, William 81 Motroschilowa, Nelly W. 171 Movers, Franz Karl 164 Mozart, Wolfgang Amadeus 18 Müllenhoff, Karl Viktor 164 Müller, Adam 17 Müller, Enrico 256–259 Müller, Friedrich vom 76 Müller-Buck, Renate 126, 177 Müller-Lauter, Wolfgang 266 Musil, Robert 26 Musset, Alfred de 243 Nadeschdin, N. I. 125 Napoleon Bonaparte 16, 24, 42, 76–77, 178, 194 Nauckhoff, Josefine 92 Neumann, János 126 Newton, Isaac 16 Niebuhr, Barthold Georg 76 Nietzsche, Auguste 229 Nietzsche, Carl Ludwig 215–230, 232–233, 235 Nietzsche, Erdmuthe 217, 224, 228 Nietzsche, Ernestine 227 Nietzsche, Franziska 214, 227–232, 235 Nietzsche, Rosalie 217–218, 227 Ninagawa, Yukio 18 Nishigami, Kiyoshi 172, 174, 175
277 Nolde, Ernst 41 Norman, Judith 92 Novalis 16, 23, 41 Nussbaumer-Benz, Uschi 68, 92 O’Neill, Eugene 26 Oehler, Adalbert 227, 231 Oehler, David Ernst 229, 231–232 Oehler, Wilhelmine 229 Oetinger, Friedrich Christoph 235 Ôkôchi, Ryôgi 175–176 Orsucci, Andrea 71, 123, 148, 160, 161, 162, 164, 167 Ottmann, Henning 38, 47, 73, 74 Otto, Walter F. 188, 192 Overbeck, Franz 203, 263 Pachelbel, Johann 19 Pacini, Gianlorenzo 206 Palmer, Peter 99 Parmenides 258 Pascal, Blaise 133–134, 245 Passow, A. 162 Paulus von Tarsus 48, 50, 177, 190, 198–199, 266 Payne, E. F. J. 99 Pearson, Keith Ansell 71 Pérez Galdós, Benito 246 Peri, Jacopo 107 Pernet, Martin 214–236 Petrarca, Francesco 39 Petzhold, Gertrud von 79 Piper, Annemarie 45, 66 Pippin, Robert B. 132, 136 Pisarew, Dmitri I. 172 Platon 23, 47, 49, 68–69, 72–73, 103, 111, 257– 259 Pöggeler, Otto 119 Poljakova, Ekaterina 171, 180 Popper, Karl R. 49 Porter, James 185 Pound, Ezra 16 Prange, Martine 93, 114, 117 Proust, Marcel 137 Puschkin, Alexander 125, 246
278 Raabe, Wilhelm 246 Ranke, Leopold von 74 Rehn, Rudolf 256, 259 Renan, Ernest 208, 239, 242–243 Reschke, Renate 39, 71, 114, 147, 151, 216, 231 Reza, Yasmin 14 Richardson, John 132 Richardson, Samuel 270 Ridley, Aaron 92 Riedel, Manfred 92 Rimbaud, Arthur 15, 17 Roberts, John 112 Robertson Smith, William 148, 166 Rochefoucauld, François de La 36, 133-134 Rohde, Erwin 237 Rorty, Richard 68 Rosciglione, Claudia 265–267 Rossini, Gioachino 98, 99 Rotter, Ekkehart 191 Rotter, Gernot 191 Rousseau, Jean-Jacques 74, 100, 114, 270 Roux, Wilhelm 265 Rozanow, Wasilij 182 Rudolph, Enno 45 Ruskin, John 81 Sade, Alphonse François, Marquis de 41 Sainte-Beuve, Charles Augustin 241, 242 Salaquarda, Jörg 155, 190 Samuel, Richard 23 Sand, George 247 Santaniello, Weaver 184 Sariönder, Refika 74 Schacht, Richard 131 Schank, Gerd 73 Scheidewin, Max 247 Schenk, Emil Julius 215–216, 218, 220, 221, 223, 226, 229, 230, 233 Schenk, Emma 227 Schenk, Marie 227 Schestow, Lew 182 Schiller, Friedrich 41, 93, 96–97, 101, 104–106, 107, 108, 109, 111, 115, 269–270
Personenverzeichnis Schlegel, August Wilhelm 41 Schlegel, Friedrich 21, 41 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 119 Schmidt, Hermann Josef 218, 227 Schmidt, Jochen 71 Schmidt, Julian 246 Schneiders, Werner 36 Scholz, August 207 Schoemann, Georg Friedrich 161 Schönberg, Arnold 16, 18, 20 Schöning, Matthias 85 Schopenhauer, Arthur 39, 61, 81, 93, 95, 99, 101, 102, 104, 108, 122, 129, 133, 136, 148, 154– 155, 238–239, 254, 263, 266, 268, 269 Schulz, Gerhard 23 Scott, Walter 246, 247 Seggern, Hans-Gerd von 269–271 Seidendorf, Stefan 85 Seidensticker, Bernd 255 Senger, Hugo von 237 Seubert, Harald 92 Shakespeare, William 18, 21, 109 Shaw, George Bernard 81 Simmel, Georg 147–148, 150 Simon, Josef 38 Skriver, Christian 228 Smollett, Tobias George 246 Sokrates 47, 49, 77–78, 102–103, 257–260 Sommer, Andreas Urs 69, 71, 73, 74, 76, 77, 177, 206, 210 Sophie von Sachsen 76 Speirs, Ronald 92 Spener, Phillip Jakob 235 Spengler, Oswald 267–268 Spielhagen, Friedrich 246 Spinoza, Baruch 141, 269, 271 Staël, Anne Louise Germaine de 76 Stalin, Josef W. 30, 264 Stegmaier, Werner 47, 68, 149, 175 Stendhal 239, 244, 246–247, 263 Stephenson, Roger H. 93, 100, 101, 113 Sterne, Laurence 14, 246 Stirner, Max 81, 183 Stocking Jr., George W. 163, 166
Personenverzeichnis Storm, Theodor 246 Strauß, Botho 18 Strauss,k David 112 Strindberg, August 206, 246 Sue, Eugène 246, 247 Taine, Hippolyte 239, 242 Thackeray, William 246 Thatcher, David S. 79, 81, 82, 162 Thoreau, Henry David 81 Thuret, Marc 246 Tibi, Bassam 268 Tille, Alexander 80 Tolstoi, Lew 176–178, 204 Tongeren, Paul J. M. van 71 Toynbee, Arnold J. 268 Turgenjew, Iwan 124, 171, 242–243, 246 Turner, Bryan S. 158 Turner, William 16 Tyrell, Hartmann 148, 152 Vattimo, Gianni 126 Velleman, J. David 132 Vietta, Silvio 14, 17, 19–20, 22, 25 Vinci, Leonardo da 15 Virchow, Rudolf 162 Visser, Herman Lodewijk Alexander 92 Vivarelli, Vivetta 43, 133 Vogt, Johann Gustav 265 Vogt, Wolfgang 35 Volkmann-Schluck, Karl-Heinz 64
279 Voltaire, François Marie Arouet 36–37, 39–40, 42, 243, 253, 267 Volz, Johanna 80 Vries, Hent de 155 Wagner, Richard 16, 18, 26, 48, 91–105, 107–112, 114–116, 237, 239, 242–245, 254, 269–270 Watanabe-O’Kelly, Helen 93 Weber, Max 41, 147–151, 157 Wehler, Hans Ulrich 220 Weiller, Edith 148, 150, 151, 152 Wellershoff, Dieter 26 Wellhausen, Julius 147–148 Wetzel, Friedrich Wilhelm 216 Wheen, Francis 14 Whishaw, Frederick 207 White, Hayden 185 Whiton, John 181 Wieland, Christoph-Martin 37 Williams, Bernard 92, 131 Winckelmann, Johann Joachim 105, 108 Wittgenstein, Ludwig 20–21 Witzler, Ralf 68, 77, 92 Wolf, Friedrich August 76 Yousefi, Hamid Reza 36 Yovel, Yirmijáhu 184 Zavatta, Benedetta 71 Zimmermann, Harro 36 Zola, Émile 243, 246, 247
Autorenverzeichnis
Damir Barbarić Universität Zagreb Institut za filozofiju Ulica grada Vukovara 54 HR – 10000 Zagreb Sandro Barbera Dipartimento di Linguistica Palazzo Venera Università di Pisa Via S. Maria 36 I – 56126 Pisa Marco Brusotti Hohenfriedbergstr. 6 D – 10829 Berlin
Hans-Martin Gerlach Erlenstr. 2a D – 04105 Leipzig Klaus Goch Hübnerstr. 2 D – 10247 Berlin Rüdiger Görner University of London Institute of German Studies 29, Russell Square London WC1B 5DP Great Britain
Niklas Corall Westbahnhofstr. 6 D – 72070 Tübingen
Gerald Hödl Hoffeldstr. 1 A – 2640 Gloggnitz
András Czeglédi Puskás Tivadar u. 37–41 III. em. 38 H – 2040 Budaörs
Karen Joisten Weinbergstr. 46 D – 65428 Rüsselsheim
Knut Ebeling Greifenhagener Str. 53 D – 10437 Berlin
Leila Kais Mollenberg 17 D – 88138 Hergensweiler
Herbert Frey Campeche 419 – PH Colonia Condesa 06140 Mexico D.S. Mexico
Martine Prange Institute for Philosophy Oude Boteringestraat 52 NL – 9712 Groningen
Ekaterina Poljakova Ernst-Moritz-Arndt-Universität Institut für Philosophie Baderstr. 6/7 D – 17487 Greifswald Robert B. Pippin The University of Chicago 1130 East 59th Street, Chicago, Illinois 60637 USA Renate Reschke Schmollerstr. 9 D – 12435 Berlin Mattia Riccardi Lehmbruckstr. 26 D – 10245 Berlin Jacques Le Rider 8, rue de Milan F – 75009 Paris Enno Rudolph Universität Luzern Philosophisches Seminar Postfach 74 55 CH – 6000 Luzern 7 Hans-Gerd von Seggern Ansbacher Straße 72 D – 10777 Berlin
Autorenverzeichnis
282 Andreas Urs Sommer Ernst-Moritz-Arndt-Universität Institut für Philosophie Baderstr. 6–7 D – 17487 Greifswald
Paolo Stellino Sección Departamental Filosofía Moral y Política Fac. Filosofía Av. Blasco Ibanez 30 E – 46010 Valencia
Silvio Vietta Halberstädterstraße 28 D – 31141 Hildesheim