Nietzsche-Interpretationen: III Heidegger und Nietzsche 9783110809152, 9783110167917

Heidegger once wrote that he felt most affinity with Nietzsche, even if he was furthest removed from him in the question

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German Pages 403 [404] Year 2000

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitung
Konsequenzen des Historismus in der Philosophie der Gegenwart (1961)
Das Willenswesen und der Übermensch
Heidegger über Zarathustras „Geist der Rache“
Nihilismus als Geschichte und Entscheidung. Drei Studien zu Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche. (1991-1992)
Erste Studie. Heideggers grundlegende Orientierung in der Auseinandersetzung mit Nietzsche
Zweite Studie. Von Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche unter besonderer Berücksichtigung der „Beiträge zur Philosophie" und seiner Vorlesungen von 1936/37
Dritte Studie. Heidegger und die Überwindung des Nihilismus (1991-1992; erweitert und abgeschlossen 1999)
Über den Nihilismus und die Möglichkeit seiner Überwindung
Nietzsche und Heidegger als nihilistische Denker. Zu Gianni Vattimos ‚postmodernistischer‘ Deutung
Nachweise
Siglen
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Nietzsche-Interpretationen: III Heidegger und Nietzsche
 9783110809152, 9783110167917

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Wolfgang Müller-Lauter Heidegger und Nietzsche

Wolfgang Müller-Lauter

Heidegger und Nietzsche Nietzsche-Interpretationen III

w DE

_G 2000

Walter de Gruyter · Berlin · New York

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Müller-Lauter, Wolfgang: Nietzsche-Interpretationen / Wolfgang Müller-Lauter. New York : de Gruyter 3. Heidegger und Nietzsche. - 2000 ISBN 3-11-016791-3

Berlin ;

© Copyright 2000 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin Druck und Buchbinderische Verarbeitung: Strauss-Offsetdruck GmbH, 69509 Mörlenbach

Vorwort Im vorliegenden Band meiner Nietzsche-Interpretationen sind Abhandlungen zusammengestellt, die im Laufe einer mehr als vier Jahrzehnte andauernden Beschäftigung mit Heidegger und Nietzsche entstanden sind. Zu beiden Philosophen bin ich spät und nur auf Umwegen gekommen. Zeitumstände und persönliche Veranlagung ließen nichts weniger erwarten, als daß einmal die Auseinandersetzung mit diesen beiden Denkern den Schwerpunkt meiner Arbeit bilden würde. Gerade zu Nietzsche, dessen T o d noch kein Vierteljahrhundert zurücklag, als ich in Weimar geboren wurde, fand ich den Zugang besonders spät. Dem Heranwachsenden begegnete er als von den Nationalsozialisten propagandistisch in Anspruch Genommener, der schon darum abstoßend wirkte. 1 Daß er sich dafür als geeignet erwiesen hatte, ließ auch nach dem Krieg keine Neigung zur Beschäftigung mit seinen Gedanken in mir wachsen. Im Osten Deutschlands, wo ich lebte, war Nietzsche als ,Philosoph des Faschismus' verpönt. Zwar entdeckte ich in solcher Verpönung das Spiegelbild jener Einseitigkeit, die schon die propagandistische Nutzung Nietzsches durch die Nationalsozialisten gekennzeichnet hatte. Aber es waren nicht die ideologischen Inanspruchnahmen allein, die mir seinerzeit eine intensivere Beschäftigung mit Nietzsche unvorstellbar erscheinen ließen. Mein Bedürfnis nach begrifflicher Klarheit in philosophischen Fragen, das mich längst zu Kant geführt hatte, war vom Mangel an systematischer Ausarbeitung der Grundbestimmungen bei Nietzsche schon immer enttäuscht worden. Keine günstigen Auspizien also für eine philosophische Lebensarbeit im Zeichen Nietzsches. Daß es dazu gekommen ist, ist nicht allein, aber auch nicht zuletzt auf meine Beschäftigung mit Martin Heideggers Philosophie zurückzuführen. Zu ihr kam es aber ebenfalls nur auf Umwegen, genauer auf den neuen Wegen, die das philosophische Fragen und überhaupt das geistige Leben in Deutschland nach dem Krieg einschlug. Da beanspruchte zunächst Jean Paul Sartres .Philosophie der Freiheit' besonderes Interesse bei den nach Anschluß an das europäische Denken Suchenden. Allerdings war ich im Osten auch von diesem Aufbruch zu neuem Denken weitgehend abgeschnitten. Erst als ich in den fünfziger Jahren an der Freien Universität Berlin Phi1

S. dazu Vf., Über den Umgang mit Nietzsche, in: Sinn und Form, 4 3 / 1 9 9 1 , Heft 5, 8 3 3 - 8 5 1 , hier: 838ff.

VI

Vorwort

losophie studierte, gewann ich einen vollständigen Einblick in Sartres L'etre

et le neant, und von ihm sah ich mich auf Heideggers Sein und Zeit verwiesen, dem das Frühwerk Sartres wesentliche Anregungen verdankt. Dieses Buch entsprach auch meinen Bedürfnissen nach überzeugender systematischer Durchführung mehr als Sartres L'etre et le n0ant. Im wesentlichen eingegrenzt auf Sein und Zeit blieb auch meine Disserta-

tion Möglichkeit und Wirklichkeit bei Martin Heidegger.2 Dem späteren Heidegger (dem Heidegger nach der sogenannten .Kehre') stand ich zwar aufgeschlossen, aber kritisch gegenüber. Sein Verständnis von Seinsgeschichte habe ich im Z e i c h e n der Konsequenzen des Historismus in der Philosophie der G e g e n w a r t b e t r a c h t e t . Heideggers Zurückweisung des historischen Relativismus verstand ich als problematischen Versuch einer Überwindung dieser Konsequenz des Historismus, die ihn über die daseinsanalytische B e t r a c h t u n g in Sein und Z e i t hinauszugehen zwang. Seine seinsgeschichtliche ,Überwindung des Historismus' stellte für mich einen kritischen Ansatzpunkt dar, auf dessen Problematik ich später n o c h in seinen N i e t z s c h e - V o r l e s u n g e n traf. 3 Die genannte Historismus-Abhandlung wird als erste in diesem Band abgedruckt, obwohl Nietzsche in ihr nur als ein Beispiel für Heideggers relativierendes Offenhalten der Einsichten früherer Philosophen herangezogen wird. 4 Die fundamentale Bedeutung der Philosophie Nietzsches für den historischen Relativismus wurde in meiner Abhandlung selbst noch nicht berücksichtigt. N o c h immer schien mir Nietzsche nicht philosophisch seriös genug zu sein. 5 Lediglich als Durchgangsposition für das zeitgenössische Denken schien mir seine Philosophie Bedeutung zu haben. Jaspers N i e t z s c h e - B u c h (von 1 9 3 5 ) und Heideggers Nietzsche-Bände (von 1 9 6 1 ) habe ich in diesem Sinne aufgenommen. Dies galt insbesondere für die Thematik des Nihilismus, der ich mich nach meiner Dissertation zugewandt hatte. Im Wintersemester 1962/63 kündigte ich eine Vorlesung unter dem Titel an: Nietzsche und die Folgen. Zur Problematik des Nihilismus. V o n Nietzsche ausgehend

2 3 4 5

Berlin 1960. Vgl. dazu in diesem Band S. 1 5 9 - 1 6 1 , insbes. Anm. 148. S. dazu insbes. S. 24f. S. zu der genannten Thematik jedoch inzwischen Vf., Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New York 1971, Zweites Kapitel, S. 3 4 - 6 5 . Über das Werden, das Urteilen, das Ja-sagen, in: Über Werden und Wille zur Macht, Nietzsche-Interpretationen I, Berlin/New York 1999, insbes. Erster Teil, S. 1 8 1 - 2 4 7 .

Vorwort

VII

wollte ich zum Nihilismus des 2 0 . Jahrhunderts vordringen. Doch meine Vorbereitung blieb in der Ausarbeitung der Nietzsche-Darstellung stecken, weil mir zum ersten Male die Mehrdeutigkeit und Hintergründigkeit dieser Philosophie aufging. V o r allem darf man, so erkannte ich, Nietzsches Denken nicht an seinen Begriffen festmachen, 6 sondern man muß jede seiner Ausführungen aus dem jeweiligen Kontext - und in Relation zu sachverwandten Kontexten - zu verstehen suchen. 7 Ich mußte den Versuch eines neuen und langwierigen Nietzsche-Studiums in Angriff nehmen, wenn ich dem mit dem Vorlesungstitel gekennzeichneten P r o g r a m m sachgerecht entsprechen wollte. Gleichzeitig trieb ich neben einigen überwiegend systematisch orientierten Arbeiten zur Nihilismus-Problematik 8 meine Untersuchungen zur Geschichte des Nihilismusbegriffs voran, die ich mit einer Vorlesung im Sommersemester 1 9 6 3 begann. 9

6

Bei Heidegger las ich in Nietzsche II, Nietzsche habe „seine aus der Metaphysik des Willens zur Macht entspringende und wesenhaft ihr zugehörige Erkenntnis des Nihilismus nicht in dem geschlossenen Zusammenhang dargestellt, der seinem metaphysischen Geschichtsblick vorschwebte, dessen reine Gestalt wir nicht kennen und auch nie mehr aus den erhaltenen Bruchstücken [seines Nachlasses, erg. v. Vf.] zu erschließen vermögen". (Nietzsche II, 274) Heidegger hat das in einer .Vieldeutigkeit hin und her Schwingende des Namens Nihilismus', das ,Ungestaltete von Nietzsches Lehre vom Nihilismus' in einen ,Stufengang' zu bringen versucht, in dem sich die „Wesensfülle des Nihilismus" bei Nietzsche verfestigt habe, (ebd., 96) Mich haben Heideggers Darstellungen seinerzeit zwar angeregt, jedoch nicht überzeugt. (S. dazu in diesem Band: Nihilismus als Geschichte und Entscheidung, Erstes Studie, Abschnitte 2 und 3 (S. 1 6 5 - 1 7 6 . )

7

Die Begrifflichkeit kann sich bei Nietzsche von Fall zu Fall ändern. Man muß daher eine Vielzahl von Texten bei ihm in ein Verhältnis zueinander bringen, ohne seinem ,Wort' zu trauen. Hier ist zu nennen: Zarathustras Schatten hat lange Beine ... Ein Beitrag zu Wilhelm Weischedels philosophischer Theologie, in: Evangelische Theologie 23, 1963, 1 1 3 - 1 3 1 . Dostoevskijs Ideendialektik, Berlin/New York 1974, hier insbesondere Abschnitt VIII, S. 5 1 - 6 6 . Aus ihnen gingen folgende Publikationen hervor: Nihilismus als Konsequenz des Idealismus. F. H. Jacobis Kritik an der Transzendentalphilosophie und ihre philosophiegeschichtlichen Folgen, in: Denken im Schatten des Nihilismus, FS W. Weischedel, hg. von Alexander Schwan, Darmstadt 1975, 1 1 3 - 1 6 3 ; Der Idealismus als Nihilismus der Erkenntnis, in: Theologia viatorum XIII, Berlin 1977, 1 3 3 - 1 5 3 ; Ober die Standpunkte des Lebens und der Spekulation. Ein Beitrag zur Auseinandersetzung zwischen Fichte und jacobi unter besonderer Berücksichtigung ihrer Briefe, in: Idealismus mit Folgen, Fs für Otto Pöggeler, hg. von Hans-Jürgen

8

'

VIII

Vorwort

Aus meinen Nietzsche-Studien ist 1 9 7 1 mein Buch Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie hervorgegangen. Es ist, wie auch meine späteren Arbeiten über Nietzsche, von einem Verständnis des Willens zur Macht bestimmt, das im Gegensatz zu Heideggers Ansatz die Vielheit von Willen zur Macht als das nach Nietzsche ,Letztgegebene' herausarbeitet. 10 Ich widerspreche damit der Deutung des Willens zur M a c h t als ursprünglicher Einfachheit und metaphysischer Einheit, die auch Heideggers Nietzsche-Auslegung im ganzen bestimmt. 1 1 Es war dann gerade meine Heidegger-Kritik, die bei der ersten Aufnahme meines Buches Beachtung fand; 1 2 auch noch in jüngster Zeit wird eine enge Verbindung meiner Arbeiten über Nietzsche zu Heidegger herausgestellt. 13 Ungeachtet

10

11

12

13

Gawoll und Christoph Jamme, München 1994, S. 4 7 - 6 7 . - Ferner der Artikel Nihilismus, in: Histor. Wörterbuch für Philosophie, Bd. 8, Sp. 8 4 6 - 8 5 3 . Nietzsche hat im Gegensatz zu jedem Ausgang von einem metaphysischen Prinzip (und sei es auch das angebliche Prinzip des .Willens zur Macht') „die,kleinste Welt' als das überall Entscheidende entdeckt" (Nachlaß Frühjahr 1888, 14 [37]; KGW VIII 3, 28). Als faktisch Kleinstes ist die kleinste Welt nicht numerisch Eins, sondern etwas Kompliziertes, das nur eins bedeutet, nicht aber eine ,Einheit' ist, z.B. als Wort (Jenseits von Gut und Böse 19, KGW VI 2, 26). - Siehe dazu Vf., Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in: Über Werden und Wille zur Macht, Nietzsche-Interpretationen I, S. 42f., auch ebd. 54ff.) Heidegger stellt sogar die Aristotelische Lehre von Dynamis, Energeia und Entelecheia in ein Verhältnis zu Nietzsches Auffassung des Willens zur Macht. (S. dazu Vf., Nietzsche, Seine Philosophie der Gegensätze ... a.a.O. [Anm. 5], 3 0 - 3 2 . ) Auch Heideggers Interpretation von Nietzsches Nihilismus-Verständnis wird von seiner metaphysischen Deutung des Willens zur Macht getragen (vgl. dazu oben Anm. 6). S. vor allem Wilhelm Weischedel, Der Wille und die Willen. Zur Auseinandersetzung Wolfgang Müller-Lauters mit Martin Heidegger, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 27/1 (1973), 7 1 - 7 6 , und Peter Köster, Die Problematik wissenschaftlicher Nietzsche-Interpretation, Kritische Überlegungen zu Wolfgang Müller-Lauters Nietzschebuch, in: Nietzsche-Studien 2 (1973), S. 3 1 - 6 0 . - In Fußnoten bin ich am Rande meiner Abhandlung Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht (1974) auf einige Einwände dieser Kritiker eingegangen (s. diese jetzt in: Über Werden und Wille zur Macht, Nietzsche-Interpretationen I, zusammengefaßt auf S. 8 8 - 9 5 ) . So schreibt Richard Schacht in seinem Vorwort zur amerikanischen Übersetzung meines Nietzsche-Buches, dieses „provided a much-needed counterweight" zu „Heidegger's massive and highly idiosyncratic treatment of Nietzsche" (W. Müller-Lauter, Nietzsche. His Philosophy of Contradictions and the Contradiction of His Philosophy, transl. by David J. Parent, Urbana and Chicago 1999, IX).

Vorwort

IX

meiner Kritik an Heidegger habe ich seinen beiden Nietzsche-Bänden von 1961 viele Anregungen zu verdanken; dem aufmerksamen Leser meines Buches von 1971 ist dies auch nicht verborgen geblieben. Stärker als in diesem Buch wird in den Abhandlungen dieses Bandes allerdings die Unhaltbarkeit der vielerorts noch immer virulenten Behauptung, Heideggers Deutung sei eine authentische Nietzsche-Interpretation, deutlich gemacht. Doch ist der Aufweis dessen, was seine ,Zwiesprache' mit Nietzsche verfehlt und was in ihr fehlt, nicht die einzig Aufgabe meiner Arbeiten. Von Nietzsche her gesehen gehört Heideggers Interpretation in die Wirkungsgeschichte von Nietzsches Philosophie. Auch die Kritik an Heideggers Deutung hat in Rechnung zu stellen, daß Nietzsche aus dem Offenen und aus dem Mehrdeutigen seines Denkens mannigfache Möglichkeiten der Anknüpfung zu einer Weiterführung seiner Ansätze freigibt. Heideggers metaphysikgeschichtliche Auslegung wird Nietzsches Philosophieren zweifellos nicht gerecht, gleichwohl gewinnt sie ihm Wesentliches ab, auch dort noch, wo sie sich gänzlich von ihm entfernt. Ich versuche in den Abhandlungen, Heideggers Denken in seinen Interpretationen Nietzsches auch von seinem eigenen Anspruch her zu würdigen. Vielleicht ist er der Nachfahre Nietzsches im Zeitalter einer Herrschaft der .Technik', von der Nietzsche nur eine Vorahnung haben konnte. 14 Aber auch in diesem Falle gehören Nietzsche und Heidegger auf eine Weise zueinander, die es zugleich nötig macht, sie auseinanderzuhalten (worum es mir immer wieder gegangen ist). In der zweiten Abhandlung in diesem Bande: Das Willenswesen und der Übermensch (1980/81), bin ich Heideggers Nietzsche-Deutung - auf der 14

Deshalb erfüllen Heideggers Auseinandersetzungen mit Nietzsche in einem wesentlichen Sinn das, worauf ich mit meinem Programm von 1962/1963 unter dem Titel Nietzsche und die Folgen zielte. Hinsichtlich dieses Programmes verweise ich außer den oben vorgestellten Beiträgen dieses Bandes auf meine Abhandlung „Der Wille zur Macht" als Buch der ,Krisis' philosophischer Nietzsche-Interpretation in: Uber Werden und Wille zur Macht, Nietzsche-Interpretationen I, S. 3 2 9 - 3 7 4 , in der die Einschätzung der Nachlaß-Kompilation vor allem durch Alfred Baeumler, Heidegger, Karl Jaspers, Karl Löwith und Karl Schlechta behandelt wird. - Uber das marxistische Nietzsche-Bild in Deutschland (besonders in der früheren DDR), geprägt durch Georg Lukäcs, habe ich gehandelt in Ständige Herausforderung. Über Mazzino Montinaris Verhältnis zu Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 18 (1989), Gedenkband für Mazzino Montinari, insbes. S. 5 0 - 8 2 . - Zu Lukäcs, und dessen partieller Orientierung an Baeumler, s.a. Über .Nietzsches Folgen' und Nietzsche, in: Nietzscheforschung 4, Berlin 1998, 2 1 - 4 0 , hier 2 6 - 2 8 .

χ

Vorwort

Grundlage der bis dahin von ihm gedruckt vorliegenden Arbeiten 15 - im Zusammenhang nachgegangen. Herausgearbeitet habe ich darin u.a. den Wandel in Heideggers Verständnis des Übermenschen, der vom Typus des Technokraten zu dem des Maschinisten führt, der dem Willenswesen gänzlich unterworfen und ihm eingepaßt ist und schließlich Nietzsches Vorstellung vom .letzten Menschen' entspricht. Nach 1945 rückt Heidegger Also sprach Zarathustra in das Zentrum seines Zugangs zu Nietzsche (während er vordem vor allem dessen späten Nachlaß zur Grundlage seiner Interpretationen gemacht hatte). Nietzsche ist für ihn damit nicht mehr nur ,Vorausdenker 4 der Einförmigkeit von technischer Planung und Vernutzung, sondern auch Voraus-Ahner einer gegenläufigen Tendenz. Freilich bleibt er der Metaphysik verhaftet, die sich in ihm Heidegger zufolge vollendet. Aus dieser Thematik ist 19 81 auch die Arbeit Der Geist der Rache und die ewige Wiederkehr herausgewachsen,16 die in einer Neufassung unter dem Titel Heidegger über Zarathustras,Geist der Rache' (1999) in diesen Band aufgenommen worden ist. ,Das Willenswesen und der Übermensch' und die beiden Fassungen der Abhandlung über den .Geist der Rache' gehören in meinem Arbeitsprogramm eng zusammen. Auf ähnliche Weise gehören auch die vierte und die fünfte Abhandlung dieses Bandes zusammen. Arbeiten, die hier unter der dreiteiligen vierten Abhandlung abgedruckt werden: „Nihilismus als Geschichte und Entscheidung", haben dem fünften Beitrag: Über den Nihilismus und die Möglichkeit seiner Überwindung, 1994 auf einer Tagung über Heidegger und Nietzsche in Meßkirch vorgetragen, 17 zugrunde gelegen. Die bisher noch unveröffentlichten Studien Nihilismus als Geschichte und Entscheidung™ sind

15

16

17

18

Heideggers Nietzsche-Vorlesungen werden - im Unterschied zu den späteren Beiträgen in diesem Band - durchgängig nach den beiden Bänden Nietzsche I und II von 1961 herangezogen. Über Unterschiede zwischen dieser Publikation und der Veröffentlichung der Nietzsche-Vorlesungen in der Heidegger-Gesamtausgabe wird in der Einleitung mehrfach gehandelt; exemplarisch verwiesen sei auf S. 1 8 - 2 2 . - Zum Grundsätzlichen s. S. 30, Anm. 97. Veröffentlicht in Redliches Denken, FS für G . - G . Grau, hg. v. F. W. Korff, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, 9 2 - 1 1 3 . S. die näheren Angaben hierzu in den Hinweisen am Schluß dieses Bandes. Zusätze zu der Abhandlung, die für den Abdruck in diesen Band hinzugefügt worden sind, sind in eckige Klammern gesetzt worden. Die zweite Studie stellt eine überarbeitete Fassung meines Beitrags für die FS für M. Djuric dar (s. dazu die diesbezüglichen Nachweise am Schluß des Bandes).

Vorwort

XI

für die Druckfassung erheblich überarbeitet und erweitert worden, vor allem, aber nicht nur, durch drei Exkurse.19 Den Abschluß des Bandes bildet meine Studie Nietzsche und Heidegger als nihilistische Denker, die anhand von Gianni Vattimos Heidegger- und Nietzsche-Interpretationen in die Auffassungen der Postmoderne führt. Exkurse zu Jacques Derrida und Jean Baudrillard erweitern das in dieser Abhandlung eröffnete Blickfeld auf die beiden Philosophen. Schließlich ist von der Einleitung in diesen Band zu sprechen, die aus einer frühen Fassung20 zu einer eigenständigen Abhandlung ausgearbeitet und als letzte Arbeit des Bandes abgeschlossen worden ist. In ihr werden „die Stationen von Heideggers Weg mit Nietzsche" verfolgt und an einigen Punkten diskutiert. Dadurch überschreitet die Einleitung den Charakter einer Einführung; sie ergänzt in mehrfacher Hinsicht (auch in manchem Detail) das in den nachstehenden Abhandlungen Vorgetragene. Zu danken habe ich wiederum vielen, vor allem den nicht einzeln zu Nennenden, die durch Mitdenken, kontinuierliche Gespräche und Ermutigung zum Gelingen aller drei Bände meiner Nietzsche-Interpretationen beigetragen haben. Ausdrücklich genannt sei Frau Dr. Gertrud Grünkorn vom Verlag Walter de Gruyter, die sich auch dieses Bandes aufgeschlossen angenommen hat. Die redaktionelle Betreuung und den Satz des Buches hat wieder (wie schon bei den ersten beiden Bänden) mit gewohnter Sorgfalt Johannes Neininger übernommen, mit dem ich ja mittlerweise seit Jahrzehnten zusammenarbeite und dem mein Dank auch hier gilt. Er hat auch das Literaturverzeichnis und die beiden Register zu diesem Band erstellt. Frau Inge Siegel danke ich für die komplizierte Abschreibearbeit von zwei Manuskripten auf Diskette. Berlin, den 8. Mai 2000

"

20

Wolfgang Müller-Lauter

Gewisse Wiederholungen zwischen Ausführungen der ersten und der dritten Studie, desgleichen von Ausführungen der ersten und dritten Studie im Verhältnis zum Meßkirch-Vortrag habe ich stehen gelassen, wenn ich mit der Wiederholung jeweils einen Gedanken unter einem anderen Aspekt weiterführen konnte. Vgl. hierzu die Nachweise zur Einleitung am Schluß des Bandes.

Inhalt Vorwort

V

Einleitung. Über die Stationen von Heideggers Weg mit Nietzsche

1

I

1

II

6

III

16

Konsequenzen des Historismus in der Philosophie der Gegenwart

33

1. Der historische Relativismus als Konsequenz des Historismus 2. Wilhelm Dilthey

33 35

3. Ernst Troeltsch 4. Das Existenzial der Geschichtlichkeit in Heideggers Daseinsanalyse

40 43

5. Die konkrete geschichtliche Geworfenheit des Daseins als Wurf des Seins

47

6. Die seinsgeschichtliche Aufhebung des historischen Relativismus

49

7. Seinsgeschichte und Geschichte als Geschehen und Vergehen

58

8. Gegenbewegungen zur Dominanz der geschichtsphilosophischen Problematik in den fünfziger Jahren: Gerhard Krüger und Karl Löwith

62

Das Willenswesen und der Übermensch. Ein Beitrag zu Heideggers Nietzsche-Interpretation 1. Zur Besonderheit von Heideggers Nietzsche-Auslegung. Hermeneutische Vorüberlegungen 2. Vier Aspekte der Nietzsche-Interpretation Heideggers . . . . 3. Das In-sich-bleiben des Willens zur Macht Exkurs 1: Befehl und Entschlossenheit bei Heidegger in den Schriften von 1927-1935

67 67 78 80 81

XIV

Inhalt

4. Die Stellung des Willens zur Macht in der Geschichte der abendländischen Metaphysik

90

5. Heideggers Deutung des Übermenschen als Typus des Technokraten

101

Exkurs 2: Zu Nietzsches affirmativem Gebrauch mechanischer und technischer Bestimmungen in seinem Spätwerk

106

Exkurs 3: Unterschiedliche Charakterisierungen des Übermenschen bei Nietzsche

111

6. Der Wille zum Willen in der Entfesselung des Wesens der Technik

113

7. Zur Wandlung der Deutung des Übermenschen bei Heidegger anfangs der fünfziger Jahre 8. Zu den Hinweisen Heideggers auf die noch verborgene Wahrheit in Nietzsches Philosophie Heidegger über Zarathustras „Geist der Rache" 1. Zu Heideggers metaphysischer Nietzsche-Deutung 2. Wollen und Vorstellen als metaphysische Wesensbestimmungen des Geistes der Rache 3. Über die Zukünftigkeit von Nietzsches Denken in Heideggers Verständnis 4. Zu Heideggers Distanznahme zu Nietzsches Philosophie . .

116 125 135 135 138 141 143

5. Der Widerwille gegen das Es war des Vergangenen und gegen das Werden als Vergehen

145

6. Zu Heideggers Heranziehung von Nr. 617 der Kompilation „Der Wille zur Macht" (= der Nachlaßaufzeichnung KGW VIII 1, 7[54])

148

7. Zarathustras angeblicher Rachegeist in einer nachgelassenen Aufzeichnung Nietzsches

151

8. Zarathustra als Fürsprecher des Dionysos

153

9. Zum Gegen-satz von Nietzsches dionysischer Philosophie .

155

Inhalt

XV

Nihilismus als Geschichte und Entscheidung. Drei Studien zu Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche

159

Erste Studie. Heideggers grundlegende andersetzung mit Nietzsche

159

Orientierung

in der Ausein-

1. Überblick 2. Heideggers Darstellung von Nietzsches .Formen des Nihilismus'

159 165

3. Nihilismus und decadence

172

4. Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsches Physiologismus und Biologismus

176

5. Nietzsche und Heraklit

181

Exkurs. Zum besonderen Charakter von Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche

193

Zweite Studie. Von Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche unter besonderer Berücksichtigung der „Beiträge zur Philosophie" und seiner Vorlesungen von 1936/37

199

1. Nietzsche als Ubergang

199

2. Nietzsche als Entscheidung

203

3. Der zeitgenössische Nihilismus als Thema in den ,Beiträgen zur Philosophie'

206

4. Über den Anfang einer anderen Geschichte bei Nietzsche und bei Heidegger

209

5. Mensch und Entscheidung

213

6. Entscheidung und Gleichgültigkeit 7. Das Verhältnis von Leben und Wahrheit bei Nietzsche in Heideggers .Beiträgen'

217 219

Exkurs 1: Der Nihilismus als Metaphysik der unbedingten Subjektivität

225

Exkurs 2: Zu Ernst Behlers Kritik an Heideggers Nietzsche-Verständnis in den „Beiträgen"

227

Dritte Studie. Heidegger und die Überwindung des Nihilismus 1. Nihilismus als Metaphysik

....

231 231

Inhalt

XVI

2. Wille zur Macht als Wille zum Willen

235

3. Descartes und das Wesen des Willens 4 . Die Herrschaft des Willens zum Willen in der Gegenwart

237 ..

5. Heideggers Versuch einer Verwindung von Metaphysik und Nihilismus

244 246

6. Zur Dialektik in Heideggers Denkschritten

252

7. Von der Rede vom Sein zur Rede vom Geheimnis

258

Über den Nihilismus und die Möglichkeit seiner Uberwindung

...

267

1

267

2

268

3

270

4

271

5

272

6

275

7

277

8

280

9

287

10

290

11

292

12

293

13

295

Nietzsche und Heidegger als nihilistische Denker. Zu Gianni Vattimos .postmodernistischer' Deutung 1. Einleitung und Hinführung zum speziellen Thema

301 301

1.1. Zur ,Wiederkehr' Nietzsches in Frankreich und Italien nach 1 9 6 0 . Vattimos Auffassung des Verhältnisses von Nietzsche und Heidegger

301

1.2. Über Nietzsche und Heidegger in der poststrukturalistischen Diskussion

303

2. Nietzsche und Heidegger als Nihilisten

309

3. Hermeneutische Probleme bei der Destruktion des Subjekts

319

4. Philosophie der Hermeneutik und Nihilismus

326

Inhalt

XVII

Exkurs 1: Ergänzende Hinweise auf Derridas Rede von der differance

340

Exkurs 2: Der .Nihilismus der Neutralisierung' durch Beschleunigung und Schwund nach Jean Baudrillard

344

Nachweise

349

Siglen

351

Literaturverzeichnis

353

Personenregister

363

Sachregister

367

Einleitung Über die Stationen von Heideggers Weg mit Nietzsche (1994, 2000)

I. Heideggers Denken bewegt sich in einer eigentümlichen Nähe zu Nietzsches Philosophie auch dort noch, wo es sich von dieser distanziert. Wird von solcher Nähe ausgegangen, so kann schon der frühe Heidegger als ein Nachfolger Nietzsches erscheinen1 oder zumindest als von dessen hintergründiger, aber tiefgehender ,Wirkung' bestimmt angesehen werden 2 . Heidegger selbst hat 1972 in einem Rückblick „auf die erregenden Jahre zwischen 1910 und 1 9 1 4 " die Lektüre der erweiterten Ausgabe des Willens zur Macht an die erste Stelle der ihn damals bewegenden Schriften gestellt.3 Ob er hierbei das Vergangene aus späterer Sicht überbewertet, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen.4 Dagegen spricht die Mitteilung von Heinrich

1

S. dazu Mihailo Djuric, Nietzsche und Heidegger, Synthesis philosophica

327-340. 2

4,2/1987,

So z.B. Norbert Kapferer, Entschlossener Wille zur Gegen-Macht. Heideggers frühe

Nietzsche-Rezeption 1916-1936, in: Streitbare Philosophie, FS für Margherita von Brentano, hg. von Gabriele Althaus und Irmingard Staeuble, Berlin 1988, 193-215. ' 4

Vorwort zur ersten Ausgabe der .Frühen Schriften', HGA 1, 56. In dieser frühen Nietzsche-Aufnahme muß noch die Ablehnung überwogen haben. In der Zeit seines Theologiestudiums, in den Jahren 1910/1911, rückten jedenfalls der „neue Wertbegriff", die „Persönlichkeitswertung" und das Künstlertum in die veröffentlichte Kritik des jungen Heidegger. „Interessante Menschen", wie er sie bei Oscar Wilde, Paul Verlaine, Maxim Gorkij - und in Nietzsches Ubermenschen dargestellt findet, werden in seinem Essay über Johannes Jörgensen als Fehlentwicklungen gekennzeichnet. Ihnen wird der „Ernst" von dessen christlicher Bekehrung entgegengesetzt. (Per mortem ad vitam. Gedanken über Jörgensens,Lebenslüge' und ,Lebenswahrheit', in Der Akademiker II, Nr. 5., März 1910; HGW 16, 3 - 6 . S. auch Heideggers Rezension in der gleichen Zeitschrift Nr. 7, Mai 1910:

Förster, Fr. W., Autorität und Freiheit, HGW 16, 7f.) S. dazu Hugo Ott, Martin

2

Einleitung

Ochsner, Heidegger habe in seiner Zeit als Privatdozent ein Bild von Nietzsche in seinem Zimmer gehabt.5 Es bleibt aber schwierig, über die Bedeutung, die Nietzsche in den Jahren des ersten Weltkriegs und danach für Heidegger gewann, Tragfähiges zu ermitteln. Heinrich Rickert, Emil Lask, Edmund Husserl und Wilhelm Dilthey sind seine philosophischen Lehrer oder Gewährsmänner. Gelegentlich kann man Anspielungen Heideggers auf Nietzsche als Stachel gegen das transzendental-logische und phänomenologische Methodenbewußtsein lesen, das seine frühe Philosophie leitet. Aber man darf auch nicht zu viel in solche Bezugnahmen Heideggers auf Nietzsche hineindeuten. Man wird sie wohl als Zeugnisse eines Bewegtseins von dessen Denken aufzufassen haben. So stellt Heidegger in der Einleitung zu seiner Habilitationsschrift die Spannung zwischen der Philosophie, die als Wissenschaft einen Kulturwert repräsentiert, und ihrer „Funktion als Lebenswert" heraus. Er zitiert Nietzsches „bekannte Formel [...] vom ,Trieb, der philosophiert'", um darzulegen, daß die Philosophie aus der „Tiefe und Lebensfülle" der „lebendigen Persönlichkeit" schöpft. Solches „Bestimmtsein aller Philosophie vom Subjekt her" wird anschließend freilich in die Allgemeinheit von Problemen an sich übergeleitet (den methodischen Ansprüchen gemäß, die Heidegger damals bestimmten). Die Voraussetzung dafür ist die Annahme der „Konstanz der Menschennatur", infolge welcher „die philosophischen Probleme sich in der Geschichte wiederholen". Unter .Ausschaltung' der Zeit als historischer Kategorie treten demgemäß die „verwandten Problemlösungen [...], zentripedal auf das Problem an sich gerichtet, zusammen".6 Im erst vor der Heidegger.

Unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt/New York 1 9 8 6 , 62ff.

5

Heinrich Ochsner, Das Mass des Verborgenenen. Aufsätze, Aufzeichnungen, Vorträge und Briefe, Hannover 1 9 8 1 , 2 1 6 . - Ochsner bringt die damalige Nietzsche-Zuwendung Heideggers in engen Zusammenhang mit dessen Rückgang zu den Vorsokratikern, „deren wesentliches Denken noch vor dem Aufkommen des vorstellenden Theoretisierens des Denkens liegt." Bei Nietzsche sei, so habe Heidegger gesagt, „ein ursprünglicheres Denken durchgebrochen, wenn auch in wilden und neuzeitlichen Formen. Aber weil so etwas bei Nietzsche durchbrach, hat Nietzsche auch die Wichtigkeit einer Neuinterpretation der Vorsokratiker erkannt." (Ebd.) Zum späteren Wandel der Einschätzung Heideggers von Nietzsches Verständnis der Vorsokratiker s. in diesem Band: Nihilismus als Geschichte und Entscheidung, Erste Studie, S. 159f., Anm. 2.

6

Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, 1 9 1 5 / 1 9 1 6 , HGA 1 , 1 9 5 f . - Mit der Rede vom philosophierenden Trieb bezieht sich Heidegger offenkundig auf Jenseits von Gut und Böse 6.

3

Einleitung

Drucklegung geschriebenen Schlußkapitel der Habilitationsschrift drängt Heidegger aber schon über diese letztlich an Konstanten orientierte Sichtweise hinaus. Eine „Philosophie des lebendigen Geistes", die er als eine künftige Aufgabe hier andeutet, habe sich mit Hegel, und d.h. „mit dem an Fülle wie Tiefe, Erlebnisreichtum und Begriffsbildung gewaltigsten System einer historischen Weltanschauung" auseinanderzusetzen, „als welches es alle vorausgegangenen fundamentalen philosophischen Problemmotive in sich aufgehoben hat". 7 Doch ist es nicht Hegel (und schon gar nicht Nietzsche), sondern Dilthey, der Heideggers sich anschließende Erörterung des Verhältnisses von Leben und Geschichte zunächst leitet. Mit ihr verbindet sich seine Wendung gegen den Neukantianismus. Auch die frühere Beschäftigung mit dem Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft8 vertieft sich zunehmend durch das Studium Diltheys9, - wie auch in der kritischen Auseinandersetzung mit ihm.10 Noch in Sein und Zeit, wo er - mit der Ausarbeitung der existenzialen Interpretation der Geschichtlichkeit - Dilthey zurückläßt, stellt er dessen bedeutende Verdienste heraus.11 Hier bezieht er sich auch auf die drei Arten der 7

HGA 1, 410f. - Zur Problematik des Schlußkapitels, insbesondere auch der Bezugnahme auf Fr. Schlegel und Hegel, vgl. Dieter Thomä, Die Zeit des Selbst und

die Zeit danach. Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers Frankfurt a. M. 1990, 6 0 - 7 8 .

1910-1976,

8

Der Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft,

'

Zu Heideggers Rezeption Diltheys sowie seiner Auseinandersetzung mit anderen zeitgenössischen Philosophen insbesondere in den zwanziger Jahren s. die Vorträge auf dem Symposion „Faktizität und Geschichtlichkeit" am 13./14.6. und 16./17.9. 1985 in Bochum von Hans-Georg Gadamer, Carl Friedrich Gethmann, Friedrich Hogemann, Christoph Jamme, Theodore Kisiel, Otto Pöggeler und Frithjof Rodi

1915/1916, HGA 1, 4 1 3 - 4 3 3 .

im Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften,

Band 4 (1986/1987), Pöggeler und Rodi. 10

Für Dilthey sei besonders verwiesen auf die Vorträge von

Vgl. dazu schon die Vorlesung Einleitung in die Phänomenologie

der Religion vom

WS 1920/21, HGA 6 0 , 3 7 - 5 4 . Die Vieldeutigkeit des Lebensbegriffs in der .Lebensphilosophie' z.B. von Dilthey, Simmel und Spengler (50) ruft Heideggers radikale Frage nach der ,Bekümmerung des faktischen Daseins' in seiner „menschlich-geschichtliche[n] Wirklichkeit" hervor. Der Sinn des Historischen „in der faktischen Lebenserfahrung" wird dann zum Thema. ( 5 2 - 5 4 ) Der Weg über Dilthey hinaus zu Sein und Zeit ist damit beschritten.

"

Sein und Zeit, HGA 2, 5 2 4 - 5 3 3 . - Gianni Vattimo hat dargetan, daß Heidegger Diltheys Schrift Das Wesen der Philosophie (1907) mehr verdanke, als er selbst eingeräumt habe. Dilthey stellt in ihr Nietzsche mit anderen Schriftstellern zusam-

4

Einleitung

Historie, von denen Nietzsche in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung gehandelt hat. Auf dem W e g e über die Geschichtlichkeit des Daseins führt er sie auf die ,,horizontale[n] Einheit" der ekstatischen Zeitlichkeit zurück. Wenn er schreibt, der Anfang der Betrachtung lasse „vermuten", daß Nietzsche „mehr verstand, als er kundgab", so kann man in diesem Satz schon die Figur der später zum Auslegungsprinzip erhobenen Unterscheidung zwischen Gesagtem und dem dahinter ungesagt Gebliebenen finden. M a n sollte daraus aber nicht auf eine schon intensive Nietzsche-Rezeption Heideggers schließen. 12 Wie ambivalent Heideggers Verhältnis zu Nietzsche noch 1 9 2 9 / 1 9 3 0 ist, zeigt seine Würdigung von dessen Denken in der Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik aus dem Wintersemester. In der Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Kulturphilosophen Oswald Spengler, Ludwig Klages, M a x Scheler und Leopold Ziegler heißt es, daß deren Deutungen auf Nietzsche zurückgehen, ohne dessen Philosophie gerecht zu werden. Diese ruhe „ihrerseits freilich auf fragwürdigen Fundamenten, von denen sich zeigt, daß ihnen in der Tat eine recht vulgäre und metaphysisch höchst fragwürdige .Psychologie' zugrunde liegt". Nietzsche k ö n n e „sich das leisten. Und doch ist das kein Freibrief." 1 3 Mit jenen Kulturphilosophen

12

13

men als Lebensphilosophen und Dichter in einem dar. Vattimo ist daran gelegen, Heidegger in eine größere Nähe zu Nietzsche zu rücken, als dessen Deutung Nietzsches als des Vollenders der Metaphysik es nahelegt. Sei doch Heidegger selbst an der Zwiesprache von Dichten und Denken gelegen. (Nietzsche. Eine Einführung. Aus dem Italien, übers, v. Klaus Laermann, Stuttgart/Weimar 1992, 1 - 3 ) - Wenn Heidegger später, wie in seinen Vorlesungen über Heraklit, eine Beziehung zwischen Nietzsche und Dilthey als Lebensphilosophen herstellt, so geschieht dies freilich in beide herabsetzender Weise (s. dazu in diesem Band S. 277, Anm. 32). Sein und Zeit, a.a.O. [Anm. 11], 523. - Zur hermeneutischen Problematik dieser Ausführung Heideggers sei verwiesen auf: Johann Figl, Nietzsche und die philosophische Hermeneutik, Nietzsche-Studien 10/11 (1981/1982), 4 0 8 - 4 3 0 , hier: 4 1 7 - 4 1 9 . S. dazu auch die Diskussionsbeiträge zu diesem Vortrag, ebd. 4 3 1 - 4 3 7 . HGA 29/30, 1 0 3 - 1 1 1 , hier: 111. - Indem Heidegger den Grundgegensatz der Kulturphilosophen auf den Antagonismus zwischen Dionysischem und Apollinischem bei Nietzsche zurückführt, spricht er von dessen „tiefstefr] Ausdeutung des Griechentums" (ebd. 110). Schon 1934/1935 freilich stellt er die Wiederentdekkung des geschichtlichen Daseins der Griechen unter den genannten Titeln hinter die „Reinheit und Einfachheit" von Hölderlins diesbezüglicher Erfahrung. Nietzsche habe diese Einfachheit nicht erreicht, weil er „durch all jenes Fatale" hindurchmußte, „was mit den Namen Schopenhauer, Darwin, Wagner, Gründerjahre angezeigt ist" (HGA 39, 425). Im Wintersemester 1937/1938 wird Hölderlin als

Einleitung

5

setzt sich Heidegger auseinander, weil er in den „Erschütterungen, Krisen, Katastrophen" und N ö t e n die wesenhafte „Bedrängnis unseres heutigen Daseins" aufweisen will. Unter die Nöte zählt er in der Zeit der Wirtschaftskrise: „das heutige soziale Elend, die politische Wirrnis, die Ohnmacht der Wissenschaft, die Aushöhlung der Kunst, die Bodenlosigkeit der Philosophie, die Unkraft der Religion". Gegen solche N ö t e im einzelnen anzugehen, „die zappelnde N o t w e h r " gegen sie, „läßt gerade eine Not im Ganzen nicht aufkommen".u Die aktuellen N ö t e bleiben für Heidegger bloßer Vordergrund. Er hat in der Vorlesung von 1 9 3 7 / 1 9 3 8 über Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte,Probleme' der .Logik' die wesentliche Not-losigkeit als gänzliche „Fraglosigkeit" herausgestellt. 15 Im Ausbleiben der wesenhaften Bedrängnis kündigt sich das von ihm fortan immer erneut bedachte Ausbleiben der Wahrheit des Seins an. In der Not der Notlosigkeit bleibt die wahrhafte N o t außerhalb der Sicht. D o c h muß diese N o t ins H ö c h s t e steigen, um „das Da-sein und seine Gründung" zu ernötigen, heißt es in den Beiträgen zur Philosophie.16

der „über Nietzsche Hinwegreichende" und „Zukünftigere" angesehen; von letzterem heißt es nun, daß er „die anfängliche Frage der Griechen" nicht „ursprünglich zu erkennen und zu entfalten" vermochte. Auch hier gilt für Heidegger, daß Nietzsches Unzulänglichkeit daher rühre, daß er „unter der Botmäßigkeit seines denkerisch verworrenen und vor allem grobschlächtigen und stillosen Zeitalters" geblieben sei. (Grundfragen der Philosophie, HGA 45, 134f.) - Der Hinweis auf die Oberflächlichkeit der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts dient Heidegger auch später noch dazu, Nietzsches metaphysisches .Steckenbleiben' zu erklären. 14

HGA 29/30, 243ff. - Heideggers Sicherheben über das bürgerliche „Streben nach Auskommen, Sicherheit oder gar Behaglichkeit" von einer Position aus, „die in Schärfe, Härte, Bedrängnis und Gefahr" ein Existenzideal sucht, führte ihn nicht nur in die Nähe entsprechender Tendenzen im Nationalsozialismus, wie Winfried Franzen ausgeführt hat (Die Sehnsucht nach Härte und Schwere. Uber ein zum NS-Engagement disponierendes Motiv in Heideggers Vorlesung ,Die Grundbegriffe der Metaphysik' von 1929/1930, in: Heidegger und die praktische Philosophie, hg. von Annemarie Gethmann-Siefert und Otto Pöggeler, Frankfurt a. M. 1988, 7 8 - 9 2 ) . Es ist schon ein häufig bei Nietzsche anzutreffendes Motiv.

15

HGA 45, 13. - Vgl. ebd. Anhang, 206ff. HGA 65, 46. - Diese Not wird hier als „jenes Umtreibende" herausgestellt, „was erst die Entscheidung und Scheidung des Menschen als eines Seienden vom Seienden und inmitten seiner und wieder zu ihm zurück ernötigt" (ebd.).

16

6

Einleitung IL

Vom Winter 1 9 2 9 / 1 9 3 0 an gewinnt Nietzsche zunehmend Bedeutung für Heidegger. Das besagt nicht, daß sein Nietzsche-Verständnis von da an sogleich eine eindeutig bestimmbare Richtung eingeschlagen hätte. Im Rückblick auf Das Rektorat 1933/34 berichtet er darüber, wie ihn Ernst Jüngers Schriften Die totale Mobilmachung ( 1 9 3 0 ) und Der Arbeiter ( 1 9 3 2 ) mit einem „wesentliche[n] Verständnis der Metaphysik Nietzsches" konfrontiert hätten. Auf die „Wirklichkeit des Willens zur Macht", die ihm damals vor Augen stand, habe er sich in seiner Rektoratsrede von 1933 mit der Heranziehung von Nietzsches Satz: Gott ist tot bezogen. Habe es doch „Grund und wesentliche Not genug" gegeben, „um in ursprünglicher Besinnung auf eine Überwindung der Metaphysik des Willens zur Macht hinauszudenken". 17

17

Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Das Rektorat 1933/34, Frankfurt a. M. 1985, 24f. - Die Anstöße, die Heidegger durch Jünger erfährt, bleiben auch nach 1945 virulent. Zu Heidegger und Ernst Jünger sei verwiesen auf Otto Pöggeler, Heideggers politisches Selbstverständnis, in: Heidegger und die praktische Philosophie, a.a.O. [Anm. 14], 17-63, hier: 28ff., 39,49,52ff. - Ein Beleg dafür, daß Heidegger 1933 noch positiv vom „schöpferischen Verständnis Nietzsches" durch Jünger ausgeht, findet sich in seiner Immatrikulationsrede vom 25. 11. 1933. Die „Gestalt des Arbeiters", von der Jünger „auf Grund der Erfahrung der Materialschlacht im Weltkrieg" gesprochen habe, werde auch den ,neuen Studenten' prägen, von dem es „vielleicht [...] an jeder Hochschule ein halbes Dutzend [sind], vielleicht noch weniger und im Ganzen nicht einmal jene Sieben, mit denen der Führer einst sein Werk begann, der Führer, der heute schon weit über das Jahr 1933 und über uns alle hinaus ist und die Staaten der Erde in eine neue Bewegung setzt". (Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges (1910-1976), HGA 16, 205f.) - In den dreißiger Jahren ist Heidegger noch mit anderen Philosophen im Gespräch über Nietzsche, so mit Karl Jaspers und mit Alfred Baeumler. Schon 1936, in der ersten seiner Nietzsche-Vorlesungen, distanziert er sich von beiden, weil sie die Wiederkunftslehre nicht philosophisch ernst nehmen (vgl. Nietzsche. Der Wille zur Macht als Kunst, HGA 43, 24-27). Heidegger selbst hat aber Nietzsches Wiederkunftslehre noch im Frühjahr 1936 keine wesentliche Bedeutung zugesprochen. Noch im Vortrag Europa und die deutsche Philosophie, gehalten am 8.4.1936 in Rom, hatte er davon gesprochen, daß Nietzsches „gewaltiger Versuch, Seyn und Werden gleich wesentlich in eins zu denken", „in die Sackgasse der Lehre von der ewigen Wiederkunft" geraten sei. Gerade dort, wo es Nietzsche um „eine Wiedererweckung der vorsokratischen Philosophie" gehe, bleibe er „in der Mißdeutung des 19. Jahrhunderts stecken".

Einleitung

7

M a n w i r d freilich diese spätere Selbstinterpretation H e i d e g g e r s mit Skepsis anzusehen haben. So ist die Stellung zu N i e t z s c h e s ,Willen zur M a c h t ' in der Rektoratsrede

durchaus nicht v o n jener kritischen Distanz

gekennzeichnet, die der Rückblick

nahezulegen sucht. Dies zeigt schon der

häufige affirmative Gebrauch der W ö r t e r Wille und Macht in ihr. 1 8 So bringt er in der W e n d u n g Wille zu .. das in Sein und Zeit herausgearbeitete Existenzial der Entschlossenheit

in eine enge und positive Verbindung mit

Nietzsches Verständnis des W o l l e n s . 1 ' M a n darf Heideggers Rektoratsrede jedenfalls nicht nur aus der Perspektive seines Rückblicks von 1 9 4 5 lesen,

18

19

(Europa und die Philosophie. Schriftenreihe der Martin-Heidegger-Gesellschaft, Band 2, 1993, 40, 39) S. dazu in diesem Band: Das Willenswesen und der Ubermensch. Exkurs 1: Befehl und Entschlossenheit bei Heidegger von 1927-1935, S. 81f. - Man macht es sich allerdings zu einfach, wenn man wie Kapferer (a.a.O. [Anm. 2], 205f.) den „Nietzsche-Bezug in der Rektoratsrede von 1933" als „eine Nietzsche-Verwertung zu propagandistischen Zwecken" ansieht. Es ist bei Heidegger, auch in der Phase seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus, mehr und anderes im Spiel, wenn er sich auf Nietzsche bezieht. In der Rede ist dieser für ihn vor allem „der leidenschaftlich den Gott suchende letzte deutsche Philosoph". Dessen Verkündigung des Todes Gottes weist auf die „Verlassenheit des heutigen Menschen inmitten des Seienden" hin. (Die Selbstbehauptung, a.a.O. [Anm. 17], 13). Vgl. in diesem Band Das Willenswesen und der Übermensch, Exkurs 1, a.a.O. [Anm. 18], S. 83f. - S. auch Jacques Derrida in De l'esprit. Heidegger et la question, Paris 1987, deutsch: Vom Geist. Heidegger und die Frage, Frankfurt a. M. 1992, hier: 4 5 - 5 7 . Kritisch hierzu - und mehr noch zu P. Lacoue-Labarthes Ausführungen, Nietzsche sei der „,hero' of Heidegger's political adventure" - hat Keith Ansell-Pearson in differenzierender Weise Stellung genommen (Geist and Reich: Time, history and Germany in Nietzsche and Heidegger, in: The fate of the New Nietzsche, hrsg. K. Ansell-Pearson, H. Caygill, Aldershot/Brookfield/Hong Kong/Singapore/Sidney 1993, 7 9 - 1 0 6 ) . - Kapferer führt aus, die „Behauptung" sei „nicht so abwegig, daß schon dem .Eigentlichkeitswillen' von ,Sein und Zeit' Nietzsches ,Wille zur Macht' zugrunde liegt" (a.a.O. [Anm. 6], 206). Diese Umkehrung scheint mir nicht weniger spekulativ zu sein als die These von Djuric, das Existenzial der Wiederholung sei aus dem Verständnis von Nietzsches „Grundgedanken" der ewigen Wiederkehr gewonnen worden (a.a.O. [Anm. 2], 332ff.). - In der jüngeren Diskussion finden sich derartige Annäherungen von Nietzsche und Heidegger nicht selten. So sieht auch Gilles Deleuze bei seiner Darlegung des Verhältnisses von .Wiederholung' bei Heidegger und Nietzsches ,Wiederkunft" in Heidegger einen „Nietzscheaner" (Difference et ripitition, Paris 1958, 250f.).

8

Einleitung

der nicht nur hinsichtlich der .Gedanken', sondern auch hinsichtlich der .Tatsachen' fragwürdig ist.20 In seinem Gespräch mit dem Spiegel21 hat Heidegger zum Ausdruck gebracht, daß seine Nietzsche-Vorlesungen von 1936 an zugleich eine „Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus" dargestellt hätten. Meine Ausführungen in Das Willenswesen und der Übermensch in diesem Band machen einige Aspekte dieser Auseinandersetzung sichtbar; sonst wird das sich wandelnde Verhältnis von Heidegger zum Nationalsozialismus in diesem Band nicht ausdrücklich zum Thema erhoben. Es ließe sich ohnehin nicht in der Begrenzung auf seine Nietzsche-Deutungen zureichend darstellen. Denn die kritischen Aspekte, an deren Hervorhebung Heidegger mit dem Hinweis auf diese Deutungen nach dem Krieg besonders gelegen ist, reichen nicht aus, um jenes Verhältnis deutlich genug ins Licht zu heben. Im folgenden sei darauf in der durch eine Einleitung gebotenen Kürze eingegangen. Heidegger stellt spätestens seit 1938 den Nationalsozialismus deutlich erkennbar in einen seinsgeschichtlichen, metaphysikkritischen Horizont, wobei seine Kritik an jenem zugleich globale Wissenschafts- und Technikkritik ist.22 Der neuzeitliche Nihilismus wird dabei unter den Begriff des Willens zum Willen gestellt, der seinen äußersten philosophischen Ausdruck

20

Vor allem sind die durch Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt/New York 1988, recherchierten Fakten und Zusammenhänge zu berücksichtigen. Im ganzen fragwürdig ist das Buch von Victor Farias, Heidegger et le nazisme, Lagrasse 1987, unter dem Titel Heidegger und der Nationalsozialismus, übersetzt von K. Laermann, Frankfurt a. M. 1989, wenn es auch neue Quellen beibringt und erörtert. In seinen Deutungen geht Farias sehr oft fehl. Hierzu sei verwiesen auf: Hugo Ott, Wege und Abwege. Zu Viktor Farias' Kritischer Heidegger-Studie, in: Antwort. Martin Heidegger im Gespräch, hg. v. Günther Neske und Emil Kettering, Pfullingen 1 9 8 8 , 1 4 4 - 1 5 1 , und Hans-Georg Gadamer, Oberflächlichkeit und Unkenntnis. Zur Veröffentlichung von Victor Farias, in Antwort, ebd. 1 5 2 - 1 5 6 . Anm. 22 meiner 1981 geschriebenen Abhandlung (s. in diesem Band S. 76f., Anm. 39) ist unter der Voraussetzung des damaligen Kenntnis- und Diskussionsstandes zu lesen; sie bedarf der Revision, die aber hier nicht vorzunehmen ist. - Der Orientierung über den Diskussionsstand kann das Schema von „acht Grundpositionen" dienen, das Thomä, a.a.O. [Anm. 7], 4 7 4 - 487, vorgelegt hat.

21

Hamburg 1976, Nr. 23, S. 204. S. dazu Silvio Vietta, Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik, Tübingen 1989, insbes. 19ff.

11

9

Einleitung

in Nietzsches Lehre vom Willen zur M a c h t gefunden haben soll. 23 Der Nationalsozialismus wird dabei als eine geschichtliche Gestalt des Willens zum Willen unter anderen aufgefaßt, seine Besonderheit wird dadurch nivelliert. Unter anderen hat Alexander Schwan darauf hingewiesen, daß Heidegger zufolge „alle politischen Weltanschauungen und Bewegungen" im gegenwärtigen Zeitalter „auf wesenhaft gleiche Art und Weise nur die Einheit und Gleichförmigkeit" unseres Zeitalters reproduzieren, auch wenn sie „kraft ihrer perspektivisch auf Herrschaft über das Ganze zielenden Intentionen einen notwendigen Kampf und Krieg gegeneinander" führen. O b es sich dabei um „christliche Weltanschauung, Sozialismus, Marxismus, Nationalismus, Rassismus, Biologismus, Soziologismus, Positivismus, Materialismus, Amerikanismus, Liberalismus oder ,Demokratismus' handelt", so wirken sie doch alle „an der Berechnung, Planung und Züchtung des Seienden und des Menschen aus dem Herrschaftsinteresse des Willens zum Willen mit, wie immer sie auch programmatisch und praktisch in ihrem eigenen Selbstverständnis zu solcher Berechnung, Planung und Züchtung stehen mögen, also auch dann, wenn sie diese dezidiert ablehnen". 2 4 Aus der Gleichförmigkeit im Wesen des Willens zum Willen ergibt sich, so sagt Heidegger 1 9 4 9 , daß inzwischen „die Feldbestellung in das gleiche Be-stellen übergegangen" ist, „das die Luft auf Stickstoff, den Boden auf Kohle und Erze stellt, das Erz auf Uran, das Uran auf Atomenergie, diese auf bestellbare Zerstörung. Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben. 2 5 Solche Verwahr-losung, die im Wesen des G e - S t e l l s als des Wesens der Technik vor sich geht, ist die „Verweigerung von Welt". Heidegger setzt ihr von 1 9 4 9 an „das noch verborgene Spiegel-Spiel im Geviert von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen" als dem Welten von Welt entgegen. „Die Welt ist die Wahrheit des Wesens von Sein", die sich allerdings

23

S. dazu in diesem Band insbes.: Das Willenswesen und der Übermensch, 6, S. 1 1 3 - 1 1 6 . Nihilismus als Geschichte

und Entscheidung,

Abschnitt

Dritte Studie, Ab-

schnitt 2, S. 2 3 5 - 2 3 7 ; Dritte Studie, Abschnitt 4, S. 2 4 4 - 2 4 6 . 24

Zeitkritik und Politik in Heideggers Spätphilosophie,

in: Heidegger und die prakti-

sche Philosophie, a.a.O. [Anm. 14], 9 3 - 1 0 7 , hier: 95f. 25

Einblick in das, was ist, Bremer Vorträge 1 9 4 9 , Das Ge-Stell,

HGA 7 9 , 2 7 .

10

Einleitung

noch verweigert.26 Deshalb ist der Mensch noch nicht der Sterbliche. Denn nur, wenn er den Tod in seinem Wesen vermag, kann er „sterben". Dies aber vermag er „nur und erst, wenn das Seyn selber aus der Wahrheit seines Wesens das Wesen des Menschen in das Wesen des Seyns vereignet. [...] Massenhafte Nöte zahlloser, grausig ungestorbene Tode überall - und gleichwohl ist das Wesen des Todes dem Menschen verstellt." Gleichermaßen ist dem Menschen unserer Zeit bei aller Bedrängnis durch „zahl- und maßlose Leiden" das „Wesen des Schmerzes" nicht „vereignet", das „Wesen der Armut" bei aller „Verelendung" verborgen.27 Für unseren Zusammenhang ist wesentlich, daß Heidegger den Nationalsozialismus von 1938 an im Zeichen des Willens zum Willen agieren sieht, freilich nicht nur ihn.28 Was Nietzsche angeht (worauf es hier allein ankommen kann), so hat Heidegger in der Rektoratsrede den Willen zur Macht durchaus nicht schon als .berechnenden' Willen zum Willen verstanden, wie es sein oben genannter Hinweis im Rückblick auf diese Rede nahelegt. Wenn Heidegger hier schreibt, er sah „damals in der zur Macht gekommenen Bewegung die Möglichkeit zu einer inneren Sammlung und Erneuerung des Volkes und einen Weg, zu seiner geschichtlich-abendländischen Bestimmung zu finden", so hat er sich damit damals ja gerade auf Nietzsche bezogen.29 In der Rede heißt es, wir müßten „Ernst machen" mit der von Nietzsche aufgezeigten „Verlassenheit des heutigen Menschen inmitten des Seienden". Dazu gehöre, daß wir „das Wesen der Wissenschaft im Sinne des fragenden, ungedeckten Standhaltens inmitten der Ungewißheit des Seienden im Ganzen" wollen, daß der daraus resultierende „Wesenswille unserem Volke seine

26

27 28

29

Einblick in das, was ist, Die Gefahr, HGA 79, 47ff. - Zum Geviert vgl. Bauen, Wohnen, Denken und Das Ding (1951), in Vortrüge und Auf Sätze, Pfullingen 1954, 1 4 5 - 1 6 2 und 1 6 3 - 1 8 1 . Die Gefahr, HGA 79, 56f. S. hierzu insbes. die in den Jahren 1936 bis 1946 entstandenen Aufzeichnungen Überwindung der Metaphysik, insbes. Abschnitt XXVI, in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, 9 1 - 9 7 . - Zu den Deutungsmöglichkeiten von Heideggers vieldiskutiertem Schweigen über seine zeitweilige Unterstützung Hitlers sowie über die nationalsozialistischen Todeslager und den Holocaust sei hier, ohne sie zu diskutieren, nur verwiesen auf George Steiner, Martin Heidegger. Eine Einführung, München/Wien 1989, 34ff. Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, Das Rektorat 1933/34, [Anm. 17], 23, vgl. dazu 25.

a.a.O.

Einleitung

11

Welt der innersten und äußersten Gefahr, d.h. seine wahrhaft geistige Welt" schaffe. 30 Nietzsche wird damit für eine Kritik am zeitgenössischen Betrieb der Wissenschaften in Anspruch genommen, gegen die er mit der ,zur Macht gekommenen Bewegung' nach Heideggers damaliger Auffassung zusammenstehen können soll.

30

Ebd. 13, 14. - Bei Heideggers Bezugnahmen auf das deutsche Volk (stärker noch als in der Rede in seinen Äußerungen in der Rektoratszeit wie auch später) ist bei aller politischen Bedeutung darauf zu achten, daß sein Volksbegriff nicht biologisch, sondern geschichtlich bestimmt ist. Im Sinne des hohen Anspruchs, den Heidegger mit seinem Verständnis von Volk verbindet, gilt: „Die Wahrheit des Volkes ist die jeweilige Offenbarkeit des Seins im Ganzen, dergemäß die tragenden und fügenden und führenden Mächte ihre Ränge empfangen und ihre Einstimmigkeit erwirken. Die Wahrheit eines Volkes ist jene Offenbarkeit des Seins, aus der heraus das Volk weiß, was es geschichtlich will, indem es sich will, es selbst sein will. Die Grundstimmung, und das heißt die Wahrheit des Daseins eines Volkes, wird ursprünglich gestiftet durch den Dichter. Das so enthüllte Seyn des Seienden aber wird als Seyn begriffen und gefügt und damit erst eröffnet durch den Denker, und das so begriffene Seyn wird in den letzten und ersten Ernst des Seienden , d.h. in die be-stimmte geschichtliche Wahrheit gestellt dadurch, daß das Volk zu sich selbst als Volk gebracht wird. Das geschieht durch die Schaffung des seinem Wesen zu-bestimmten Staates durch den Staatsschöpfer. Dieses ganze Geschehen aber hat seine eigenen Zeiten und demnach seine eigene Zeitenfolge. Die Mächte der Dichtung, des Denkens, des Staatsschaffens [...] können auf lange Zeit unerkannt und ohne Brücke nebeneinander und doch füreinander wirken, je nach der verschiedenen Machtentfaltung des Dichtens, Denkens und staatlichen Handelns und in je verschieden großem Umkreis der Öffentlichkeit. Diese drei schöpferischen Gewalten des geschichtlichen Daseins erwirken Jenes, dem allein wir Größe zumessen können." {Hölderlins Hymnen ,Germanien' und,Der Rhein', HGA 39,144) - Pöggeler weist darauf hin, daß Heidegger, wenn er von .geschichtlicher Gemeinschaft* als von ,Volk' spricht, sich an Herder und am deutschen Idealismus orientiert: Heideggers Begegnung mit Hölderlin, (in: Man and World 10 (1977), 13-61, hier: 28). Nachdem sich in den Beiträgen zur Philosophie (1936-1938) kritische Gesichtspunkte in bezug auf das zeitgenössische Verständnis des Volkes geltend machen (s. dazu in diesem Band: Nihilismus als Geschichte und Entscheidung, Zweite Studie, Abschnitt 3, S. 207f.), rückt in Heideggers Vorlesungen von 1941 bis 1944 der Rang des deutschen Volkes wieder in den Vordergrund, der in bezug auf den Rang der deutschen Sprache noch im Spiegel-Gespräch von 1966 zur Geltung gebracht wird. (S. hierzu in diesem Band: Nihilismus als Geschichte und Entscheidung, Erste Studie, S. 190-1193, insbes. Anm. 133 und 134.)

12

Einleitung

Heideggers Äußerungen zu Nietzsche in den Jahren 1934 und 1935 sind ambivalent. Hölderlin rückt ihm gegenüber von da an in den Vordergrund, und dies nicht nur, was das Verständnis der Griechen angeht. 31 Gleichwohl ist zu beachten, daß Heidegger in seiner ersten Hölderlin-Vorlesung 1934/35 den Dichter gelegentlich noch mit Nietzsches Augen liest, wie Christoph Jamme im Anschluß an Otto Pöggeler gezeigt hat. Aus den „Zeiten des Schaffenden...", d.h. der Zeit Gottes in dem Gedicht „Der Mutter Erde" wird bei Heidegger „die Zeit der Schaffenden - hochaufwogendes Gebirg, die Gipfel der Berge, die einsam hineinstehen in den Äther, und das heißt in den Bereich des Göttlichen." 32 Jamme konstatiert: „Aus Gott sind unversehens die großen Schaffenden aus Nietzsches Zarathustra geworden [...]. Heidegger will mit Nietzsche die gottschaffende Kraft im Menschen wiedererwecken, die mit dem Untergang der Antike und dem Entstehen des Christentums abgestorben ist."? 33 Kurz vor der herangezogenen Hölderlin-Auslegung spricht Heidegger von der „Zeit der Dichter, Denker und Staatsschöpfer, d.h. derer, die eigentlich das geschichtliche Dasein eines Volkes gründen und begründen"; er nennt sie die „ursprüngliche, geschichtliche Zeit der Völker". Zu den „eigentlich Schaffenden" gehören also auch die Staatsschöpfer. 34 Es ist von da aus kein weiter Schritt zur Ausführung Heideggers in der Schelling-Vorlesung vom Sommer 1935, in der es heißt, „daß die beiden Männer, die in Europa von der politischen Gestaltung der Nation bzw. des Volkes her - und zwar in je verschiedener Weise - Gegenbewegungen [sc. zum Nihilismus, Vf.] eingeleitet haben, daß sowohl Mussolini wie Hitler von Nietzsche wiederum in verschiedener Hinsicht wesentlich bestimmt sind und dieses, ohne daß dabei der eigentliche metaphysischer Bereich des Nietzscheschen Denkens unmittelbar zur Geltung käme." 35 Dies ist auch

31 32 33

34 35

Vgl. dazu Anm. 13. Hölderlins Hymnen ,Germanien' und ,Der Rhein', HGA 39, 52. Christoph Jamme, ,Dem Dichter vor-denken', Aspekte von Heideggers,Zwiesprache' mit Hölderlin im Kontext seiner Kunstphilosophie, Zeitschrift für philos. Forschung 38 (1984), 1 9 1 - 2 1 8 , hier: 198. Jamme erinnert an das Motto, das Heidegger seiner ersten Nietzsche-Vorlesung von 1936 vorangestellt hat: „.Zwei Jahrtausende beinahe und nicht ein einziger neuer Gott!" Der Antichrist 1888" [Nietzsche l, 11; HGA 43, 1). HGA 39, 51. - S. hierzu und zum folgenden auch Anm. 30. Schelling, Das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), HGA 42, 40f.

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nicht deren Aufgabe: dazu bedarf es der Denker im vorgenannten Sinn.36 Man kann hierin finden, daß Heidegger sich selbst noch ins Spiel zu bringen sucht.37 Der Nihilismus, der nach Nietzsches Diagnose in allen Bereichen der Kultur zutage tritt, bedarf der schöpferischen Gegenbewegung, die dieser auf seine Weise nur eingeleitet hat.38 Daß Nietzsche von den .höchsten Begriffen', zu denen er ,das Sein' zählt, als dem „letzten Rauch der verdunsteten Realität" spricht und von der .naiven Uberredungskraft', die „der Irrthum vom Sein" bisher gehabt habe39, stellt eine besondere Herausforderung an Heideggers Seinsdenken dar. Schon in der Vorlesung Einführung in die Metaphysik vom Sommer 1935 erscheint Nietzsche wie in den Nietzsche-Vorlesungen als „letztes Opfer einer langen Irre und Versäumnis, aber als dieses Opfer das unerkannte Zeugnis für eine neue Notwendigkeit".40 Ambivalent ist in den genannten Jahren auch Heideggers Stellung zum Nationalsozialismus. Inwieweit seine Ausführung in der herangezogenen Vorlesung gegen das, was „heute [...] als Philosophie des Nationalsozialismus herumgeboten wird, aber mit der inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung (nämlich mit der Begegnung der planetarisch bestimmten Technik und des neuzeitlichen Menschen) nicht das Geringste zu tun hat", 41 wirklich schon aus einer eindeutigen Gegnerschaft zum Nationalsozialismus heraus gesprochen worden ist, wie Heidegger behauptet hat, ist fraglich. Pöggeler teilt hierzu mit, was den Text angeht: „Für die Vorlesung vom Sommer 1935 hatte Heidegger in einer berühmten Formulierung 36

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Eine Distanzierung Heideggers von Mussolini und Hitler kann ich deshalb hier nicht erkennen. Daß Heidegger „den Führer führen wollte", wie es Willi Hochkeppel von Karl Jaspers gehört hat, erhält in dem dargestellten Zusammenhang bei aller Übertreibung durchaus Sinn (Otto Pöggeler, Neue Wege mit Heidegger, Freiburg/München 1992, 204, Anm. 140). Ebd., 39f. Ein in Klammern gesetzter Absatz (S. 40) relativiert Nietzsches Auslegung auf dessen „innerste Verhaftung [...] an das 19. Jahrhundert". Ob er von Heidegger vorgetragen oder erst später eingefügt wurde, läßt sich nicht erkennen. Götzen-Dämmerung, Die .Vernunft' in der Philosophie 4, 5, KGW VI 3, 70, 72. HGA 40, 39f. - Wird diese Ausführung Nietzsches hier nur in Form von Fragen vorgetragen, so hat Heidegger die Auseinandersetzung mit ihr sehr scharf in seiner Heraklit-Vorlesung vom SS 1943 vorgenommen, s. dazu in diesem Band Nihilismus als Geschichte und Entscheidung, Erste Studie, Abschnitt 1.1.2., S. 161ff. HGA 40, 208.

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geschrieben, was als Philosophie des Nationalsozialismus herumgeboten werde, das habe ,nicht das Geringste zu tun' mit der .inneren Wahrheit und Größe des N.S.' Der Drucktext sagt statt ,N.S.' dann ,Bewegung' und bringt die Erläuterung (die auch in den Korrekturfahnen noch nicht gegeben war): .nämlich mit der Begegnung der planetarisch bestimmten Technik und des neuzeitlichen Menschen'." 4 2 Pöggeler berichtet weiter von einer „mündlichen und schriftlichen Mitteilung Walter Bröckers, der sich „mit Gewißheit" daran erinnern will, „daß Heidegger im mündlichen Vortrag nicht .des N.S.' gesagt habe und nicht .dieser Bewegung', sondern ,der Bewegung'. .Und mit .die Bewegung' bezeichneten die Nazis selbst und nur sie den NS. Darum war mir Heideggers ,der' unvergeßlich." 43 Habermas schreibt hierzu: „Wenn das zutrifft, kann 1 9 3 5 die Identifikation noch nicht sehr gebrochen sein." 44 Das war sie wohl auch noch nicht, was Heideggers Verhältnis zu den revolutionären Impulsen der Bewegung betrifft, die er in Hitler verkörpert sah. 45 Die .Begegnung mit der global bestimm-

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Otto Pöggeler, Heideggers politisches Selbstverständnis, in Heidegger und die praktische Philosophie, a.a.O. [Anm. 13], 38. Pöggeler, ebd., S. 19, Anm. 11. - Daß Heideggers Rede von .der Bewegung' sich jedoch von der Rede der Nationalsozialisten unterschied, zeigt noch sein Brief an den Vorsitzenden des Bereinigungsausschusses nach 1945, vgl. dazu Anm. 45. Heidegger - Werk und Weltanschauung, in Victor Farias, Heidegger und der Nationalsozialismus, a.a.O. [Anm. 20], 25. Heidegger war 1933, 1934 und vielleicht zeitweise noch 1935 von der Hoffnung bewegt, Hitler werde die .revolutionäre Bewegung' gegen die nationalsozialistische Partei durchsetzen und weiterführen. Vgl. dazu das Schreiben Heideggers an den Vorsitzenden des politischen Bereinigungsausschusses Prof. v. Dietze vom 15.12. 1945: „Ich stand schon 1933/34 in [...] Opposition gegen die n.s. Weltanschauungslehre, war aber des Glaubens, dass die Bewegung in andere Bahnen gelenkt werden könne und hielt diesen Versuch vereinbar mit den sozialen und allgemein politischen Tendenzen der Bewegung. Ich glaubte, Hitler werde, nachdem er 1933 in der Verantwortung für das ganze Volk stand, über die Partei und ihre Doktrin hinauswachsen und alles würde sich auf den Boden einer Erneuerung und Sammlung zu einer abendländischen Verantwortung zusammenfinden." (zit. nach (Hg.) Bernd Martin, Heidegger und das dritte Reich, Darmstadt 1989, 207-212, hier: 210) Gerhart Schmidt schreibt zutreffend: „Heidegger war gar kein Nationalsozialist, sondern Hitlerist. Er hatte sich verrannt, vielleicht weil er die erklärten Ziele Hitlers nicht genug kannte, eher wohl deswegen, weil er sie für bloßes Spielmaterial hielt. Für ihn war der Nationalsozialismus [...] gleichbedeutend mit der Auflösung der institutionellen Gängelung des Menschen. Für ihn war (und

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ten Technik', besagt jedenfalls nicht, daß ,die Bewegung' dem Technischen verfallen ist, wie Heidegger es später sehen wird. Noch 1 9 3 5 verbindet er Hoffnungen mit der .Bewegung'. Im Spiegel-Interview hat Heidegger deshalb auch zu der .erklärenden Klammer' ausgeführt, das „entsprach genau meiner damaligen Auffassung der Technik und noch nicht der späteren Auslegung des Wesens der Technik als Ge-Stell". 4 6 Nach der Vorlesung liegt Europa „in der großen Zange zwischen Rußland auf der einen und Amerika auf der anderen Seite", die „beide, metaphysisch gesehen, dasselbe" sind: „dieselbe trostlose Raserei der entfesselten Technik und der bodenlosen Organisation des Normalmenschen". 47 Wenn „mit dem Schicksal Europas [...] das Schicksal der Erde entschieden wird, wobei für Europa selbst unser geschichtliches Dasein sich als die Mitte erweist", 48 dann konnte damals nach Heidegger durchaus ,die Bewegung' noch für die Rettung einstehen. 49

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blieb) er nicht bloß eine Partei, sondern eine .Bewegung', und das bedeutete für den Philosophen die Auflösung des Festen, den Aufbruch zu neuen Ufern, die Chance zu geschichtlicher Größe." (Heideggers philosophische Politik, in: Bernd Martin, Heidegger und das dritte Reich, ebd., 5 1 - 6 3 , hier: 57.) - Erst allmählich sah Heidegger in den dreißiger Jahren ein, daß „jene, denen er vertraut hatte, genau das tun, was Heidegger nie akzeptierte: sie organisieren den Kampf um die Weltherrschaft mittels der Technik, verschärfen ihre Rassenideologie zu den Judenpogromen von 1938." (O. Pöggeler, Von Nietzsche zu Hitler?, in: Annäherungen an Martin Heidegger, FS für Hugo Ott, hg. v. Hermann Schäfer, Frankfurt/New York 1996, 81-101, hier: 98) Der Spiegel, a.a.O. [Antn. 21], 204. HGA 40, 40f. Ebd. 45. Von hier aus kann noch einmal zum Text in der Klammer zurückgegangen werden. Pöggeler bemerkt, daß Heidegger in ihr „in einer ungewohnt positiven Weise vom neuzeitlichen Menschen gesprochen haben" müßte, „wenn dessen Begegnung mit der Technik die .innere' Wahrheit des N.S. soll ausmachen können". (Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen 2 1993, 341) Das .Innere' ist für Heidegger hier noch das, was (im Unterschied zum .Äußeren' mancher Erscheinungsformen des Nationalsozialismus, die durchaus mit dem Amerikanismus und dem Kommunismus zusammenfallen können) den neuzeitlichen Menschen verwandeln können soll, wie dies in Bezug auf das Verständnis der Wissenschaften schon die Rektoratsrede versucht hat, die insofern im Dienst der .Bewegung' stand.

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III. Offensichtlich hat Heidegger den totalitär und technizistisch bestimmten Herrschaftscharakter des Nationalsozialismus50 erst 1937/1938 voll erkannt und dessen verhängnisvolle Folgen gesehen. An Karl Jaspers hat Heidegger am 8.4.1950 geschrieben, daß er in den genannten Jahren „auf dem Tiefpunkt" gewesen sei; „wir sahen den Krieg kommen..."51 - Wahrscheinlich 1938 niedergeschrieben ist eine Beilage zu Wunsch und Wille, vermutlich dem persönlichen Testament Heideggers. In ihm hält er das von ihm bis dahin .Versuchte', um dessen .Bewahrung' willen, fest. Über Nietzsche hat Heidegger bis dahin, im WS 1936/37 und im SS 1937, zwei Vorlesungen gehalten, von denen er in der Beilage sagt, Heideggers „Fragen nach der Wahrheit des Seyns im Unterschied zur Frage nach dem Wesen des Seienden" könne sich „nur in der Auseinandersetzung mit der bisherigen Geschichte und in der neuen Eröffnung dieser vollziehen. Die Auseinandersetzung erreicht ihren Abschluß in den Nietzschevorlesungen."52 Daß Heidegger hier von .Abschluß' spricht, muß aus der Situation heraus gedeutet werden, in der er sich verstand; schlug sich seine Krise 1938 doch auch gesundheitlich nieder. Sie stand nach Pöggelers Einschätzung aber auch in direktem Zusammenhang mit seinem damaligen Verhältnis zu Nietzsche. Deshalb sei, wie mir Pöggeler weiter mitgeteilt hat, Frau Heidegger auch 1961 gegen die Edition des Nietzschebuches gewesen; sie habe gefürchtet, „die alten Proi0 51

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Verwiesen sei noch einmal auf die Arbeit von Vietta, vgl. Anm. 22. Martin Heidegger/Karl Jaspers, Briefwechsel 1920-1965, Frankfurt a. M., München, Zürich 1990, 201. - Vietta teilt eine Tagebuchaufzeichnung des Pädagogen Heribert Heinrichs mit, die dieser nach einer gemeinsamen Wanderung mit Heidegger am 14.10. 1959 niedergeschrieben hat. In dieser heißt es u.a.: Heidegger habe davon gesprochen, „die Kümmernisse auszuloten", die ihn in der Rückschau auf das Jahr 1933 bewegten, „sei niemand anders möglich als ihm selbst. Sodann sagte Μ. H., die meisten Deutschen hätten den Räuber und Verbrecher des Jahrhunderts, Adolf Hitler, erst mit der Katastrophe von Stalingrad und dem Desaster des Luftkrieges durchschauen gelernt. Er selbst habe, wenn er seine Antworten unabdingbar vor den Gewissensrichter stelle, seit 1938 das totale Verhängnis erkannt und sein Verhältnis zum Nationalsozialismus radikal revidiert." (Vietta, Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik, a.a.O. [Anm. 22], 26f. Beilage zu Wunsch und Wille (Über die Bewahrung des Versuchten), in: Besinnung, HGA 66, 420.

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bleme" könnten wieder aufbrechen. „Indirekt aus dem Munde von Frau Heidegger" wurde „Heideggers Satz berichtet: .Nietzsche hat mich kaputtgemacht"4.53 Hierzu haben sich auch Hans-Georg Gadamer und Friedrich Wilhelm von Herrmann geäußert. Gadamer findet in diesem Satz, den Heidegger „in seinen letzten Lebensmonaten" immer wieder zu seinem Sohn gesagt habe, Heideggers Erkenntnis des eigenen „Nicht-Durchkommens" im .Übergang' zum ,neuen Denken' ausgedrückt; „was Nietzsche versucht hat, hat auch er nicht gekonnt...".54 Man müßte den Satz dann vor allem auf Heideggers Abbruch der Arbeit an der Schrift Vom Ereignis, Beiträge zur Philosophie beziehen. Wieso diese durch Nietzsche so wesentlich tangiert worden ist, müßte erst noch belegt werden. Jene Formulierung ist von einer Eindeutigkeit, für die auch Herrmanns Erklärung, Heidegger habe sich in der Ausarbeitung seiner Nietzsche-Vorlesungen geistig überanstrengt,55 nur schwer überzeugen kann. Freilich ist die besondere Herausforderung zu sehen, die Nietzsche in den Jahren der Vorlesungen für ihn darstellte. Seit Ende 1935 war Heidegger Mitglied des Wissenschaftlichen Ausschusses für die Herausgabe der Historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke und Briefe geworden, die vom Weimarer Nietzsche-Archiv veranstaltet wurde. Er hatte die Vorarbeiten zur Neuausgabe des .Willens zur Macht' übernommen.56 Die Zusammenarbeit mit dem Archiv erwies sich in vielfältiger Hinsicht als problematisch. Wie ihn die übernommene Aufgabe belastet hat, tritt auch gerade 1938 zutage: Er sagt einen Vortrag vor dem Wissenschaftlichen Ausschuß ab, weil er mit dem, was diese Aufgabe von ihm verlange, noch nicht weit genug gekommen sei. Da die neue

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Briefe an mich vom 4. Februar 1 9 9 4 und vom 2 4 . Februar 1 9 9 5 . (Pöggelers Briefe werden mit seinem Einverständnis herangezogen und zitiert.) Vgl. dazu auch Otto Pöggeler, Heidegger und Nietzsche. Auf einen falschen Weg gebracht?, in: Aletheia, Neues kritisches Journal der Philosophie, Theologie, Geschichte und Politik, Heft 9, Berlin 1 9 9 6 , 2 2 - 2 3 , hier: 22f. Heidegger und Nietzsche. Zu ,Nietzsche hat mich kaputtgemacht!' in Aletheia, a.a.O. [Anm. 5 3 ] . 19.

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Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Heidegger und Nietzsche. Der andere ebd. 2 0 - 2 1 , hier: 2 1 .

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S. hierzu und zum folg. Marion Heinz, Theodore Kisiel, Heideggers Beziehungen zum Nietzsche-Archiv im Dritten Reich, in: Annäherungen an Martin Heidegger, FS für Hugo Ott, hg. von Hermann Schäfer, Frankfurt a. M . / N e w York 1 9 9 6 , 103-136.

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Ausgabe „das Zukünftigste" von Nietzsches Ringen sichtbar machen soll,57 hängt ihre Vorbereitung von Heideggers eigener philosophischer Durchdringung von Nietzsches Werk ab. 1939 nennt er die Neugestaltung des ,Willens zur Macht' „eine geschichtliche und geistige Aufgabe der Deutschen, der gegenüber alle technisch-naturwissenschaftlichen .Probleme' z.B. nur als Spielereien bezeichnet werden müssen".58 Die Verantwortung, die Heidegger mit ihr unter mißlichen Umständen übernommen hat, könnte eine extreme Belastung für ihn dargestellt haben. Manches spricht für Pöggelers Deutung, Heidegger sei 1938 bewußt geworden, daß er sich von 1929 an von Nietzsche habe zu Hitler führen lassen.59 Von Nietzsche habe Heidegger seine Vorstellung, daß die Philosophie neben der schöpferischen Politik und Kunst zu den geschichtsbestimmenden Mächten gehören müsse, aufgenommen und „1933 diesen seinen Nietzscheanismus" jenen angedichtet, „die damals ihren angeblichen Aufbruch in der Tat mit Nietzsche und unter den Philosophen nur mit diesem Philosophen verbanden", bevor er erkannte, daß es dem Nationalsozialismus allein um „die Mobilisierung aller Energien im Kampf um die Weltherrschaft" ging.60 Nun sind es offenkundig zwei verschiedene Sachen, welchen Gebrauch die Nationalsozialisten von ihrer Herrschaft machten und welche Hoffnungen Heidegger im Ausgang von Nietzsche mit ihr verbunden hatte. Daß jene auf ihre Weise Nietzsches Philosophie des Willens zur Macht folgten, stellte dann eine Einsicht dar, die Heideggers Deutung dieser Philosophie in der Tat modifizieren mußte. Für seine Auffassung macht Pöggeler geltend, daß Heidegger in seinen späteren Nietzsche-Vorlesungen „etwa das Gegenteil" von dem behauptet habe, was er in der ersten von 1936/37 vorgetragen hatte. „Damals suchte er von Nietzsche her

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Brief von Heidegger an Richard Leutheusser v. 12.11.1938, zit. nach Heinz/Kisiel, a.a.O. [Anm. 56], 113f. Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis, HGA 47,19. - Zu Heideggers Vorhaben s. auch Vf., Der Wille zur Macht als Buch der Krisis philosophischer Nietzsche-Interpretation, in: Werden und Wille zur Macht, Nietzsche-Interpretationen I, 3 2 9 - 3 7 4 , hier: 347f. Otto Pöggeler, Von Nietzsche zu Hitler?, Heideggers politische Optionen, a.a.O. [Anm. 45]. Vgl. derselbe, Nietzsche, Hölderlin und Heidegger, in: Martin Heidegger - Faszination und Erschrecken, hg. von Peter Kemper, Frankfurt/New York 1990, 178-195, hier: 182-188; Ders., Neue Wege mit Heidegger, Freiburg/München 1992, 228ff. Heidegger in seiner Zeit, München 1999, 141f.

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sehr wohl so etwas wie eine ,neue Mythologie'". 61 Pöggeler untermauert dies durch den Hinweis auf Passagen der Vorlesung von 1936/37, „die Heidegger 1961 bei der Edition seiner Nietzsche-Arbeiten stillschweigend gestrichen hat", wodurch „verdeckt" wurde, „daß Nietzsche Heidegger zuerst zum Nationalsozialismus hinführte, ehe er dann das Medium wurde, in dem Heidegger seine Kritik am Nationalsozialismus durchführte". 62 Es handelt sich hierbei vor allem um die in der Gesamtausgabe Band 43 auf den Seiten 191 bis 193 abgedruckten Passagen.63 Hier finden wir zunächst eine Ausführung zu Nietzsches Wort ,Gott ist tot', derzufolge Nietzsche dieses Wort aus einem „Wissen" heraus dachte, „daß ein geschichtliches Dasein ohne den Gott und ohne die Götter nicht möglich ist". „Der Satz ,Gott ist tot'" sei „keine Verneinung, sondern das innerste Ja zum Kommenden^..] Und das soll Atheismus sein! Nietzsche war außer Hölderlin der einzige gläubige Mensch, der im 19. Jahrhundert lebte."64 Hier sucht Heidegger Nietzsche von Hölderlin her zu sehen. Dabei gerät er kurz in den Zusammenhang einer .Mythologie'; dieser Versuch wird jedoch aufgegeben, kaum daß er gemacht ist. In Nietzsche I verweist Heidegger dort, wo er die Stelle aus seiner Vorlesung weggelassen hat, auf seine Abhandlung Nietzsches Wort ,Gott ist tot' in den Holzwegen.65 In dieser Abhandlung, die sich

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Heidegger und Nietzsche, a.a.O. [Anm. 53], 22. Nietzsche, Hölderlin und Heidegger, in: Martin Heidegger - Faszination und Erschrecken, a.a.O. [Anm. 591, 178-195, hier: 187. - Daß die Nationalsozialisten andere Wege gingen, als es Heideggers in seinem frühen Nietzscheanismus erhofft hatte, macht es freilich fraglich, daß dieser Nietzsche zum Sündenbock für seinen zeitweilig gemeinsamen Weg mit den Nationalsozialismus gemacht haben könnte. Sein Satz ,Nietzsche hat mich kaputtgemacht' könnte in diesem Zusammenhang eher besagen, welche Not es ihm bereitet hat, von 1938 an den faktischen Nationalsozialismus als Konsequenz von Nietzsches Wille-zur-Macht-Philosophie verstanden zu haben.

Pöggeler referiert ihren Inhalt auf S. 185f. seiner unter Anm. 62 genannten und hier herangezogenen Abhandlung. Vgl. dazu und zum folgenden auch Pöggeler, Neue Wege mit Heidegger, Freiburg/ München 1992, 470f. 64 HGA 43, 191, 192. - Heidegger geht damit weit über die Aussage in der Rektoratsrede hinaus, Nietzsche sei „der leidenschaftlich den Gott suchende letzte deutsche Philosoph" gewesen (Die Selbstbehauptung, a.a.O. [Anm. 17], 13). Damit, daß er sich an der gestrichenen Stelle auf die Rede bezieht (HGA 43, 193), macht er deren Zusammenhang mit seiner Ausführung in der Vorlesung von 1936/37 deutlich. " HGA 5, 109-267.

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ihrerseits auf die Nietzsche-Vorlesungen beruft, 66 steht dieses Wort allein für Nietzsches geschichtliche Erfahrung, daß das Übersinnliche seinen Anspruch auf Wahrheit verliert, wie dies auch sonst in den Vorlesungen geschieht, übrigens auch in der Vorlesung von 193 6/3 7.67 Man kann also sagen, Heidegger habe hier eine Deutung in den Nietzsche-Bänden eliminiert, die er schon in den Vorlesungen fallen gelassen hat. - Jedenfalls ist nicht zu sehen, wie diese Deutung damit zu tun haben soll, daß Nietzsche ihn zu Hitler geführt habe. Anders scheint es um die von Heidegger gestrichene Passage aus der Vorlesung von 1936/37 zu stehen, die mit dem Satz beginnt: „Europa will sich immer noch an die .Demokratie' klammern und will nicht sehen lernen, daß diese sein geschichtlicher Tod sein würde." Heidegger zieht hierzu sehr massive Äußerungen Nietzsches heran, in denen die Demokratie beschrieben wird als „eine Abart des Nihilismus, d.h. der Entwertung der obersten Werte derart, daß sie eben nur noch .Werte' und keine gestaltgebenden Kräfte mehr sind".68 Verbindet man solche Sätze mit Nietzsches Rede von großer Politik, so scheint Heidegger hier tatsächlich in die Nähe nationalsozialistischer Vorstellungen zu geraten. Doch lesen wir bei Heidegger 1936/37, bei Nietzsche wolle die große Politik keinen „ausbeuterischen machtpolitischen Imperialismus". „Im Wesen einer schaffenden Zielsetzung und deren Vorbereitung", die er damit verbinde, liege, „daß sie als geschichtliche nur in der Einheit des vollen geschichtlichen Daseins des Menschen in der Gestalt des einzelnen Volkes zum Handeln und zum Bestand kommt. Aber dies bedeutet nicht Absonderung von den anderen Völkern, sowenig wie Unterdrückung der anderen." Zielsetzung sei „in sich freilich Auseinandersetzung, Eröffnung des Kampfes. Der echte Kampf ist jener, in dem die Kämpfenden wechselweise sich überhöhen und die Macht zu dieser

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Vgl. die Nachweise in den Holzwegen, HGA 5, 375f. Vgl. schon HGA 43,197f. - Zu Nietzsches Umkehrung des Piatonismus und Heideggers Einschätzung derselben s. in diesem Band Nihilismus als Geschichte und Entscheidung, Erste Studie, S. 162f. HGA 43, 193. - Nicolas Tertulian hat Heideggers Fortlassen dieser Passagen als Heideggers „uneingestandene Konzession an die neue sozio-historische Gegebenheit" gedeutet. (Seinsgeschichte als Legitimation der Politik, in: Martin Heidegger - Faszination und Erschrecken, a.a.O. [Anm. 59], 5 2 - 6 5 , hier: 59) - Es sind also durchaus andere plausible Erklärungen von Heideggers Verfahren möglich als das Verdecken der Spur seines von Pöggeler behaupteteten Weges von Nietzsche zu Hitler.

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Überhöhung aus sich entfalten." 6 9 Auch in dieser Darstellung von großer Politik im Sinne Nietzsches ist keine N ä h e zum Nationalsozialismus zu finden. Pöggeler hat freilich recht, wenn er „den nationalsozialistischen Gedanken, daß die neue Herrenrasse erst durch Zucht und Eliminierung aufzubauen sei, in Nietzsches Biologismus vorgeprägt" findet. 70 Nur war das nicht Heideggers Nietzsche gewesen, auf den er sich in der Zeit der Annäherung zu Hitler bezogen hatte. Später hat er sich mit Nietzsches Biologismus auch kritisch auseinandergesetzt. 7 1 Freilich kann ihm das Verhäng

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HGA 4 3 , 1 9 5 . - Die herangezogene Passage über große Politik, die er mit einer Ausführung Nietzsches über den großen Stil verbindet, hat Heidegger nicht gestrichen: sie findet sich in Nietzsche I, 185f. Nietzsche, Hölderlin und Heidegger, a.a.O. [Anm. 57], 187. S. dazu Nihilismus als Geschichte und Entscheidung, Erste Studie, Abschnitt 4, in diesem Band S. 1 7 6 - 1 8 1 . - Gegen biologistische Auffassungen hat sich Heidegger allerdings schon in seiner Hölderlin-Vorlesung von 1934/35 unmißverständlich im Zusammenhang mit seiner Zurückweisung damaliger .landläufiger Vorstellungen von Dichtung' ausgesprochen. So wendet er sich gegen Kolbenheyers Rede zurück, Dichtung sei „,eine biologisch notwendige Funktion des Volkes'". Es brauche „nicht viel Verstand, um zu merken: das gilt auch von der Verdauung, auch sie ist eine biologisch notwendige Funktion eines Volkes, zumal eines gesunden". Dichtung als „Ausdruckserscheinung" aufgefaßt, verfehlt deren Wesen, das gilt sowohl für individualistische Auffassungen als auch für kollektivistische. Wenn Spengler „die Dichtung als Ausdruck der jeweiligen Kulturseele faßt" oder „Rosenberg als Ausdruck einer Rassenseele oder als Ausdruck einer Volkssseele", in all solchen oder den „noch durcheinander gemischten Auffassungen von Dichtung": immer wird dabei der „Begriff der Dichtung schon durch den Ansatz in einen Bereich gebracht, wo die leiseste Möglichkeit einer Wesensauffassung hoffnungslos dahin ist. Das alles ist so trostlos flach, daß wir nur mit Widerwillen davon reden." (Hölderlins Hymnen ,Germanien' und ,Der Rhein', HGA 39, 26, 27) Solche Flachheit habe ihre „wesentlichen Gründe in der Seinsart des Menschen des 19. Jahrhunderts". - Auch die zeitgenössische „Mißdeutung" des Werkes Nietzsches rühre daher, zumal dieser durch „eigene Kraft und Kunst der kritischen Zergliederung von Kulturerscheinungen solchem Denken Vorschub leistete und es scheinbar bestätigte". (Ebd. 28) Wie eng der schon von Nietzsche „nichtbewältigtefn] Biologismus" in das 20. Jahrhundert hineinwirkt, macht Heidegger 1942 an Rilke deutlich. Wenn dieser am Beginn seiner achten Duineser Elegie schreibe: „Mit allen Augen sieht die Kreatur das Offene", so sei „der Grund" dieses „tief unwahren Wortes" derselbe, der „die Metaphysik Nietzsches" trägt. Wichtig ist Heidegger dabei vor allem, daß sein eigener Begriff des .Offenen', der auf die αλήθεια zeigt, mit Rilkes Verständnis des ,Offenen' höchstens insoweit vergleichbar sei, als er „das völlige Gegenteil zu diesem denkt". Dies ist gegen das seinerzeit häufige Zusammenwerfen seines Denkens

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nisvolle dieses Aspekts der Philosophie Nietzsches 1938 in besonderem Maße bewußt geworden sein. Das Bewußtsein von seiner früheren Nietzsche-Aufnahme kann ihn aber nicht einfach deshalb ,kaputt gemacht' haben, weil er sie mit seinen Illusionen über Hitler verbunden hatte.72 Nicht erst im Spiegel-Interview von 1976, sondern schon 1946 hat Heidegger ausgeführt, er sei seit 1936 durch seine Nietzsche-Vorlesungen und Vorträge „in die Auseinandersetzung und in den geistigen Widerstand" gegen den Nationalsozialismus gegangen. Zwar dürfe Nietzsche „niemals mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt werden, das verbiete - vom Grundsätzlichen abgesehen - schon Nietzsches Stellung gegen den Antisemitismus und sein positives Verhältnis zu Rußland. Aber auf einem höheren Niveau ist die Auseinandersetzung mit Nietzsches Metaphysik die Auseinandersetzung mit dem Nihilismus, als dessen politische Erscheinungsform sich der Faschismus immer deutlicher herausstellte."73 Wie deutlich dieser sich für Heidegger in den Nietzsche-Vorlesungen von 1936 und 1936/37 als nihilistisch erwies, also noch vor der Krise von 1938, darüber läßt sich streiten. Schon sie werden allerdings getragen von seiner Auseinandersetzung mit Nietzsches Metaphysik, die sich seit der Vorlesung von 1939 verschärft.74 Zu beachten ist freilich die Zäsur, die das Jahr 1938 darstellt. In der noch unveröffentlichten Vorlesung über Nietzsches II. Unzeitgemäße Betrachtung vom Wintersemester 1938/39 hat Heidegger offenbar auf eigene frühere Auffassungen zurückgegriffen; vielleicht haben sich seine Ausführungen zum frühen Nietzsche als dem Kritiker des Historismus in einer gewissen Nähe zum Kreis um Stefan George bewegt. Er hat die Vorlesung in die beiden Nietzsche-Bände von 1961 nicht aufgenommen mit der Begründung, in ihr sei es nicht um die Aus-einander-setzung mit dem ,Metaphysiker' Nietzsche gegangen, die er von 1936 an vollzogen hat.75

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mit Rilkes Dichtung gesagt. (Hölderlins Hymne, Der Ister', H G A 5 3 , 1 1 3 , Anm. 2) Seine frühere Sichtweise steht zudem derjenigen zumindest nicht entgegen, die sich in seiner späteren Nietzsche-Interpretation von 1953 findet (vgl. dazu Das Willenswesen und der Übermensch in diesem Band, Abschnitt 8, S. 1 2 5 - 1 3 2 ) . Brief an das Rektorat der Universität Freiburg, zit. nach Otto Pöggeler, Nietzsche, Hölderlin und Heidegger, a.a.O. [Anm. 62], hier: 180. Vgl. zum inneren Zusammenhang von Heideggers Nietzsche-Vorlesungen seine Aufzeichnungen, die im Anhang von HGA 43 unter C. (ebd. 2 8 4 - 2 8 8 ) und D. (ebd. 2 8 8 - 2 9 0 ) vom Herausgeber abgedruckt worden sind. Dies hat mir Otto Pöggeler, der Heidegger dabei half, das Nietzsche-Werk von 1961 herauszugeben, in den schon erwähnten Briefen vom 4.2. und 4.11. 94 mit-

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Jedenfalls ist diese Auseinandersetzung das eigentliche Thema Heideggers; alle politisch relevanten Zusammenhänge sind ihm unterzuordnen, auch wenn er diese später zeitweise zu seiner eigenen Rechtfertigung in den Vordergrund gestellt hat. Seine ursprünglichere Frage nach dem Wesen der Wahrheit des Seins bleibt in den Nietzsche-Vorlesungen allerdings unentfaltet. In einer der „Anmerkungen zu den Nietzsche-Vorlesungen" von 1936/37 bis 1940 notiert Heidegger: „Uberall ist wissentlich die entscheidende Frage der seynsgeschichtlichen Überwindung der Metaphysik im Hintergrund gehalten". 76 Von ihr hat Heidegger von 1936 bis 1938 in seinen gleichzeitigen Niederschriften unter dem Titel Vom Ereignis gehandelt, die unter der Überschrift Beiträge zur Philosophie erst 1989 veröffentlicht worden sind.77 Die Aus-einander-setzung mit Nietzsche in diesem Buch ist vielschichtig. Sie reicht von der Bezugnahme auf Nietzsches Nihilismus-Verständnis in der Kritik nationalsozialistischer Selbstdarstellung 78 bis zur Polemik gegenüber Nietzsches Wahrheitsverständnis.79 Von herausragender Bedeutung ist Nietzsches Philosophie für Heidegger hier und von nun an, weil Heidegger allein im Blick auf sie die Frage zu erörtern vermag, ob das Ende der Metaphysik als das Ende des ersten Anfangs, das diese Philosophie darstellt, die Möglichkeit des Übergangs zu einem anderen Anfang signalisiert, welcher dem Sein als Sein Rechnung tragen könnte. Heidegger hat von 1936 bis 1953 (also weit über die Nietzsche-Vorlesungen hinaus) Nietzsche immer wieder ausdrücklich daraufhin befragt, ob dessen Denken einen geteilt. Ich verdanke ihm neben vielem weiteren auch andere wichtige Hinweise zu Heideggers Nietzsche-Verhältnis in den Jahren bis 1939. Mit seiner Erlaubnis zitiere ich einige Sätze aus den genannten Briefen: „Heidegger selbst erzählte mir, eine Vorlesung von Rickert habe ihn verführt, Nietzsche vom wertphilosophischen Ansatz aus zu sehen. Doch weist Heidegger in der Religionsphänomenologie von 1920/21 auch die Anwendung des Ressentimentgedankens auf den Apostel Paulus zurück. Aber dann rückte Nietzsche in den Vordergrund, und zwar wohl endgültig in der Vorlesung vom Winter 1929/30 im Zusammenhang mit dem Nietzscheanismus der Zeit. Heidegger besteht darauf, daß die damalige Unterscheidung von Leben und Geist und auch Schelers Spätphilosophie besser von Nietzsche entwikkelt wurde. Das ist wohl sein Einstieg in Nietzsche gewesen!" 76 77

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HGA 43, 288f., vgl. auch 286. Vgl. dazu in diesem Band Nihilismus als Geschichte und Entscheidung, Studie, S. 199-230. S. dazu ebd., Zweite Studie, S. 170-172. Vgl. dazu ebd. S. 183-189, s. auch den Exkurs 2, ebd. 191-194.

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solchen Übergang in sich berge. Seine Einschätzungen fallen im Laufe der Jahre unterschiedlich aus. Zu Beginn seiner Aus-einander-setzung erscheint Nietzsche als Vorbereiter des zweiten Anfangs (den des Denkens des Seins) nur insofern, als er den ersten Anfang der langen Geschichte der Metaphysik abschließt und lediglich indirekt auf jenen hinzuweisen gestattet. Wird doch im Ubergang, wie ihn Heidegger versteht, nicht das Ende des ersten Anfangs in den zweiten Anfang hinübergeleitet. Jenes Ende ist endgültig, heißt es in Heideggers Nietzsche-Vorlesung von 1936/37. Daher stehen wir vor einer „Kluft" und der „Not des Umschwunges"; allein der „Seinssprung" führt vom Ende in den freilich schon „in Gang gesetzten" Ubergang zum anderen Anfang. 80 In den Beiträgen zur Philosophie ,wagt' Heidegger die Auseinandersetzung mit Nietzsche als mit „dem Nächsten" - , von dem er erkennt, „daß er der Seinsfrage am fernsten steht". 81 Der Nächste ist Nietzsche für Heidegger dabei nicht aus historischen Gründen, sondern weil er den genannten Ubergang auf seine Weise zumindest vorbereitet hat. Seine Deutung mutet Nietzsche ein Doppeltes zu: Er muß sich einmal als Vollender der Metaphysik einem Denken zuordnen lassen, das er schon selbst überwunden zu haben beansprucht. Zum zweiten muß er als Vollender der Metaphysik zugleich als der Vorbereiter eines Ubergangs auftreten, der in eine neue, ihm selbst gänzlich fremde Sphäre hineinführt. Die Schroffheit dieser Zumutung Heideggers gegenüber Nietzsches Denken zeigt sich, wenn er den Übergang zum anderen Denken als Vollzug einer Scheidung beschreibt. Wenn Heidegger schreibt, der Übergang scheide „die Heraufkunft des Seyns von allem Vorkommen und Vernehmen des Seienden", so läßt er damit alle Metaphysik, die allein auf Seiendes bezogen ist, in ihrem Wahrheitsanspruch zurück. Wenn es weiter heißt, darin sei das Geschiedene „so entschieden geschieden, daß überhaupt kein gemeinsamer Bezirk der Unterscheidung obwalten kann", so scheint sogar die Möglichkeit der geschichtlichen Zwiesprache der Denker infrage gestellt zu werden. 82 Bei Nietzsche ist es vor allem mit dem Sein nichts, wie Heidegger in seinen Nietzsche-Vorlesungen immer wieder ausgeführt hat. Insofern jener die radikale Entwertung aller Werte, in welcher sich der Nihilismus voll-

80 81 82

Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst, HGA 43, 278, 283. HGA 6 5 , 1 7 6 . Beiträge zur Philosophie, HGA 65, 176f.

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enden soll, in einer Neusetzung der obersten Werte überwinden wolle, erhebe er das Wertdenken zum Prinzip. Heidegger ist darum bemüht darzulegen, wie in Nietzsches Metaphysik des Willens zur Macht der Wert alles Seiende in seinem Sein bestimmt, wodurch das Sein selbst zu einem Wert herabsinke. Damit werde es um die Würde seines Wesens gebracht und jeder Weg zur Erfahrung des Seins selbst abgeschnitten.83 Wo Nietzsche das Wort Sein verwendet, wie in der Rede vom Willen zur Macht als dem ,,innerste[n] Wesen des Seins", 84 da spricht er Heidegger zufolge im Sinne metaphysischer Tradition vom Seienden im Ganzen und stellt den „Grundcharakter des Seienden" fest.85 Doch je entschiedener er Nietzsches Philosophie auf solche Weise begrifflich festlegt, um so mehr entgeht ihm die Besonderheit der Destruktion der Metaphysik, die in ihr vollzogen wird. Wenn er 1944 die zitierte Rede vom innersten Wesen des Seins erneut erörtert, so denkt er, wie schon in seinen Vorlesungen, den Willen zur Macht als essentia. Andererseits stößt er aber nun auf Nietzsches Kennzeichnung des Willens zur Macht als des letzten Faktums, die eine Auslegung im Sinne von existentia (als von der ersten Bestimmung zu unterscheidende Veritas facti) nahelegt. Das Tatsächliche, das er in Nietzsches Wort .Faktum' angezeigt findet, versagt sich der Vereinbarkeit mit der Bestimmung des Wesens. Wir müssen, so lautet Heideggers Folgerung hier, am ,Verworrenen' der von ihm „angeführten Art des Nietzscheschen Sagens

83

Nietzsches Wort, Gott ist tot', in: Holzwege, HGA 5 , 2 5 7 f f . - Zur Ursprünglichkeit des Seins gegenüber dem Wert vgl. bes. in der Vorlesung von 1 9 4 0 , Nietzsche: Der europäische Nihilismus, HGA 4 8 , 4 5 , 152. Zu Heideggers Kritik an der Wertphilosophie und der Wertphänomenologie des 19. und 2 0 . Jahrhunderts, ebd. 105f. Diese werden 1 9 4 0 noch als „ganz entgegen dem Denken Nietzsches" charakterisiert (HGA 4 8 , 1 0 5 ) , in die 1 9 6 1 veröffentlichte Fassung der Vorlesung (Nietzsche II, 98) ist diese Formulierung nicht übernommen worden. Möglicherweise wollte Heidegger die durch die positive Abhebung und Entgegensetzung Nietzsches zur späteren Wertphilosophie entstehende metaphysikgeschichtliche Diskontinuität abschwächen. Auch an anderen Stellen ist 1 9 4 0 Nietzsches Denken durch die Kennzeichnung „echt und entschieden philosophisch, d.h. metaphysisch", noch deutlich anders akzentuiert als in der späteren Edition (HGA 4 8 , 4 5 , vgl. Nietzsche II, 5 5 ) .

M

W M 6 9 3 ; Nachlaß Frühjahr 1 8 8 8 , 14 [80]; K G W VIII 3, 5 2 .

85

Nietzsches Wort,Gott ist tot', HGA 5, 2 3 6 . - Vgl. auch Heideggers unangemessen nivellierende Ausführung, „Wille zur Macht, Werden, Leben und Sein im weitesten Sinne bedeuten in Nietzsches Sprache das Selbe" (ebd. 2 3 0 ) .

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einen Anstoß nehmen, der nicht groß genug sein kann".86 Er berücksichtigt dabei nicht, daß Nietzsches Kritik die Begriffe der Metaphysik auf eine Weise negiert, die ihm auch nach deren Destruktion ihren neuen und teilweise nichtterminologischen Gebrauch gestattet, ohne daß er deshalb die seinem Denken eigene Strenge preisgeben müßte. Von den vierziger Jahren an hat Heidegger den Abstand zwischen Nietzsches Philosophie und seinem Denken gegenüber den Beiträgen vergrößert.87 Zeitweilig treffen wir bei ihm auf eine Einstellung, derzufolge sich bei Nietzsche die Geschichte der Metaphysik auf eine Weise ,vollendet', die sie in einem unbedingten (d.h. .aktiven' und .klassischen') Nihilismus verenden läßt. Erscheint das Ende der Metaphysik bei Nietzsche in den früheren Vorlesungen als notwendiger Schritt, in dem das in der vorangegangenen neuzeitlichen Philosophie denkend Ergriffene in gewisser Weise noch überboten wird, so stellt Heidegger im Blick auf den Anfang der Metaphysik Nietzsches Abfall von diesem heraus. So schreibt er 1943, zwischen dem Ende bei Nietzsche und dem großen abendländischen Beginn bei Heraklit klaffe ein Abgrund. Jener Nihilismus Nietzsches lehre nicht etwa, daß alles nur ein .Nichts', sondern daß der Mensch alles sei. Dieser rücke bei Nietzsche mit dem Anspruch ins Zentrum, daß „alles, was ist, sofern es ist, das .Erzeugnis' und deshalb das .Eigentum' des Menschen [...] als der höchsten Gestalt des Willens zur Macht" sei.88

u

Einleitung in die Philosophie. Denken und Dichten (Überlegungen zur Vorlesung), HGA 50. 1 2 8 - 1 3 3 . Nietzsche spricht vom Willen zur Macht als dem letzten „Factum" im Nachlaß 1885, KGW VII3; 40 [61], 393; Heidegger zitiert die Stelle nach der Großoktavausgabe X V I 4 1 5 . - S. hierzu in diesem Band Über den Nihilismus und die Möglichkeit seiner Überwindung, Abschnitt 8. S. 2 8 4 - 2 8 6 .

87

Dies gilt ganz abgesehen davon, daß in den Nietzsche-Vorlesungen Heideggers ein in der Perspektivik ständig schwankendes Suchen nach dem Gegenüber seines Gesprächs zwischen Denkenden erkennbar ist. Nietzsche bleibt in den mannigfachen Ansätzen Heideggers allerdings der Vollender der Metaphysik. Der Anfang des abendländischen Denkens. Heraklit, 1943; HGA 55. 68. 66ff. S. hierzu und zum folgenden in diesem Band Nihilismus als Geschichte und Entscheidung, Erste Studie, S. 188ff. Vgl. dazu aber auch Exkurs 1, S. 226, An. 100. 1973 hat Heidegger eben den oben gekennzeichneten Nihilismus bei Marx gefunden, insofern nach diesem, in der Aufnahme und Weiterführung von Feuerbachs Religionskritik, „der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist". Damit werde „letztlich begründet und bestätigt, daß das Sein als Sein nichts (nihil) mehr für den Menschen ist". Wenn Heidegger sagt, mit Marx sei „die Position des äußersten Nihilismus erreicht", so rückt er Marx nicht an Nietzsches Stelle.

88

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Wenn Nietzsche aber vom .Leben' als vom ,Sein' spreche, so zeigt dies nach Heidegger gleichwohl, daß er „radikal genug" sei, um ein äußerstes „Zugeständnis an das Sein einzugestehen". Dies geschehe, wenn er den höchsten Willen zur Macht darin finde, dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen,89 Nietzsches Weg wird durch diese Deutung Heideggers (hier und auch sonst) von der ihm eigenen Radikalität abgelenkt. Indem er als seinsvergessener Denker domestiziert wird, kommt Nietzsches eigene Metaphysikkritik nicht zureichend ins Spiel. Dies geschieht auch dann nicht, wenn Heidegger seine Deutung Nietzsches in den frühen fünfziger Jahren modifiziert. Dessen Stellung als Vollender der Metaphysik bleibt dabei zwar uneingeschränkt erhalten. 90 Doch erhält er im Gegensatz zu der schroffen Kritik von 1943 und 1944 einen größeren Weitblick zugesprochen, der ihn für die Rolle des .übergänglichen

Metaphysisch-seinsgeschichtlich gesehen denken beide dasselbe. Wenn bei Nietzsche wie bei Marx „der Mensch die Sache" ist, „um die es geht", so ist „im vorhinein" eine Entscheidung getroffen worden, über deren .Recht' nur geantwortet werden kann, „indem man auf die Geschichte der Metaphysik zurückgeht": (Vier Seminare, Frankfurt a. M. 1977,131, 132) Diese Geschichte läßt sich von Nietzsche her durchsichtig machen, wie Heidegger gezeigt zu haben beansprucht. Was freilich das Gegenwärtige und Künftige der Entfaltung des nihilistischen Willenswesen angeht, auf das hin Heidegger Nietzsches Philosophie des Willens zur Macht immer wieder auszieht, so werden die beiden einzigen Wirklichkeiten dieses Zeitalters, welche die „Gesellschaft" bestimmen (welcher Begriff „nur ein anderer Name oder ein Spiegel oder eine Erweiterung der Subjektivität ist"), „wirtschaftlichein] Entwicklung und die „Rüstung", die diese verlangt, vom Marxismus besser „gewußt", besser gewußt auch als von Amerika, das diese Wirklichkeiten in besonderem Maße repräsentiert. (Ebd. 97, 90; vgl. hierzu Schwan, Zeitkritik und Politik, a.a.O. [Anm. 24], 99f.) 89

90

HGA 55, 105. Heidegger zieht damit einmal mehr den Zentralsatz seiner Nietzsche-Deutung aus der Kompilation Der Wille zur Macht heran (Aph. 617; Nachlaß 1886/87, KGW VIII 1, 7 [54], 320f.). Zu den damit zusammenhängenden Mißverständnissen Heideggers vgl. Vf., „Der Wille zur Macht" als Buch der ,Krisis' philosophischer Nietzsche-Interpretation, in: Nietzsche-Interpretationen I, S. 351ff. - S. hierzu auch in diesem Band Nihilismus als Geschichte und Entscheidung, Erste Studie, S. 186f. S. dazu Was heißt Denken? (Vorlesung im Wintersemester 1951/52), Tübingen 1954 und Wer ist Nietzsches Zarathustra?, (Vortrag, gehalten 1953 in Bremen), in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 101-126. S.: Heidegger überZarathustras .Geist der Rache', in diesem Band S. 135-158.

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Denkers' auf neue Weise geeignet macht.91 Die Veröffentlichung der beiden Nietzsche-Bände 1961 hat diese Wandlung von Heideggers Nietzsche-Deutung aber zunächst in den Hintergrund gedrängt.

IV. Die Debatte um Heidegger und Nietzsche erhielt die ersten großen, noch immer wirksamen Anstöße durch die Veröffentlichung von Vorlesungen und Abhandlungen Heideggers in zwei Bänden unter dem Titel Nietzsche, die den Namen des Denkers „als Titel für die Sache seines Denkens" in Anspruch nahmen und in denen Heidegger seinen Lesern einen Blick auf seinen eigenen Denkweg in der Zeit von 1930 bis 1945 verschaffen wollte.92 Otto Pöggeler, der Heidegger 1959/60 bei der Herstellung seiner beiden Nietzsche-Bände half, hat (u.a.) in Briefen an mich den Unterschied zwischen der damaligen und der gegenwärtigen Deutungssituation beschrieben. Seinerzeit sei es darum gegangen, nach einem „Resultat" von Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche zu fragen, „das wenigstens für Heideggers Denkweg wichtig war". Inzwischen müsse man, auch über die von mir " 92

Vgl. dazu Das Willenswesen und der Übermensch. Ein Beitrag zu Heideggers Nietzsche-Interpretationen, in diesem Band S. 128-132. Man kann Nietzsches Denken durch dessen (gewaltsame) Einordnung in die überlieferte Metaphysik gebändigt sehen. Auf seine Weise hat Derrida dagegen Einspruch eingelegt. Er hat im Ausgang vom ersten Satz des Vorworts von Heideggers Nietzsche (I, 10) beschrieben, was es bedeutet, daß hier „.Nietzsche* - der Name des Denkers" ist, der „als Titel für die Sache seines Denkens" steht. „Im selben Moment, wo er die Einzigkeit seines [sc. Nietzsches] Denkens behauptet, tut er alles für den Nachweis, daß es das mächtigste (und demnach allgemeinste) Schema der Metaphysik wiederholt." (Guter Wille zur Macht II, in: Text und Interpretation, hg. v. Philippe Forget, München 1 9 8 4 , 6 2 - 7 4 , hier: 70) - Heidegger hat sich mit solcher Fixierung Nietzsches in der Tat gegen den Versuch immunisiert, seine Auslegung zu .kritisieren'. So antwortet er Heinz Wenzel, der ihm mein Nietzsche-Buch von 1971 samt einem Diskussionsbeitrag von Wilhelm Weischedel zugesandt hatte, u. a., solange die Kritik keine grundsätzliche und zugleich positive Auseinandersetzung mit seinen Schriften zur Bestimmung der Metaphysik vorlege, von wo aus seine Darstellung Nietzsches geleitet werde, „bewege sie sich auf einer unzureichenden Ebene". (Brief v. 19. 7. 1973, s. in: Das Willenswesen und der Übermensch. Ein Beitrag zu Heideggers Nietzsche-Interpretationen, in diesem Band S. 74, Anm 35.).

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erörterten Wandlungen hinaus, „noch weiter differenzieren, nämlich zeigen, wie Heidegger Jahr für Jahr seinen Ansatz ändert". Ich stimme mit Pöggeler jedenfalls darin überein, daß „unter den heutigen Bedingungen eine andere und neue Auseinandersetzung mit Heideggers Nietzsche-Auseinandersetzung" nötig geworden ist.93 Diese erscheint um so notwendiger, als die Edition der beiden Nietzsche-Bände durch ihre buchmäßige Geschlossenheit sehr vereinfachende Sichtweisen auf Heideggers Denkweg nach sich gezogen hat. So hat Hannah Arendt die Kehre Heideggers „as a concrete autobiographical event precisely between volume I and volume II" dieses Werkes angesetzt.94 Nicht nur ist Arendts biographisches Verständnis der ,Kehre' Heideggers unhaltbar.95 Man kann, selbst wenn man nur grob sprechen will („to put it bluntly"), nicht sagen, „the first volume explicates Nietzsche by going along with him, while the second is written in a subdued but unmistakable polemical tone". 96 Zwar sind die Momente der .Darstellung' von Nietzsches Philosophie in Heideggers ersten Vorlesungen stärker ausgeprägt. Aber auch diese sind schon vom grundsätzlichen hermeneutischen Vorblick und Vorgriff auf Nietzsche als Vollender der abendländischen Metaphysik bestimmt. Durch den Aufweis von Modifikationen in Heideggers Auffassung, wie er nach dem gesonderten Erscheinen der Nietzsche-Vorlesungen in der Gesamtausgabe möglich geworden ist, kann aber 93

So in Pöggelers Brief an mich vom 4.2.1994. - In meinen beiden 1980 geschriebenen und 1981 publizierten Abhandlungen über das Willenswesen und der Übermensch und über den Geist der Rache und die ewige Wiederkehr habe ich Phasen von Heideggers Nietzsche-Interpretation (noch auf der Grundlage der beiden Nietzsche-Bände von 1961) voneinander abgehoben. Die Vielfalt seiner Bezugnahmen erschöpft sich darin jedoch nicht. Die in diesen Arbeiten vorgenommenen Einteilungen haben heuristische Funktion. Mit ihnen habe ich nicht beabsichtigt, Heideggers Zugang zu Nietzsche auf ein „4-Phasen-Modell" gewissermaßen festzuschreiben, wie Norbert Kapferer gemeint hat (Entschlossener Wille zur Gegen-Macht. Heideggers frühe Nietzsche-Rezeption 1916-1936, a.a.O. [Anm. 2], 205).

94

The Life of the Mind, New York 1977/1978, Vol. Two (Willing), 172f. Heidegger hat im Ausgang von der Unabgeschlossenheit von Sein und Zeit darauf hingewiesen, daß die Kehre (reversal) als Ergänzung (fulfillment) verstanden werden müsse. Sie gehöre zum Sachverhalt selbst, der mit dem Titel .Sein und Zeit' zugleich den von ,Zeit und Sein' heraufgeführt habe. (William J. Richardson, Heidegger. Through Phenomenology to Thought. Preface by Martin Heidegger, The Hague 1963, XVIII-XXI.) Die biographische Deutung seiner Denkbewegung greift zu kurz.

95

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Arendt, a.a.O. [Anm. 94].

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die grundlegende Kontinuität seiner Auslegung Nietzsches nicht bestritten werden.97 Wenn auch die erste Nietzsche-Vorlesung das Wesen des Willens im Sinne Nietzsches als Entschlossenheit zu fassen sucht,98 so ist doch daraus weder zu folgern, Heidegger sehe sein eigenes Fragen noch in der Nähe Nietzsches (wie in den frühen dreißiger Jahren), noch auch, seine Interpretation bewege sich auch hier in den Bahnen von Sein und Zeit, die erst seine späteren Nietzsche-Vorlesungen verlassen hätten. Zu den Vereinfachungen von Arendt gehört auch, daß sie in Heideggers angeblich „strictly phenomenological analyses of the Will in volume I of his Nietzsche" einen engen Anschluß an seine früheren Analysen des Selbst in Sein und Z#it zu finden meint. Solche Rückkehr zum Begriff des Selbst bringt sie in Zusammenhang mit dem „change of mood" des zweiten Bandes.99 Doch das führt zu einer anthropologischen Verengung, die Heideggers Intentionen schon der ersten Nietzsche-Vorlesungen nicht gerecht wird. Arendts Interpretation100 hat Nachfolger gefunden. So hat David Krell in seinem übrigens sehr verdienstvollen Buch Intimations of Mortality: Time, Truth, and Finitude in Heidegger's Thinking ofBeingm Unterschiede zwischen den frühen und den späteren Nietzsche-Vorlesungen Heideggers herauszustellen versucht. Aber wenn er ausführt, Heidegger sehe Nietzsches Willen zur Macht in den ersten Vorlesungen „as nothing less than an ecstatic being-beyond-oneself in the manner of human existentiality or finite trans97

Damit wird die Notwendigkeit eines genauen Vergleichs der beiden Nietzsche-Bände Heideggers mit den Vorlesungen nicht bestritten. Sie trat schon angesichts der Tilgung von Vorlesungstexten in den Bänden heraus (vgl. oben S. 18ff.) Vietta bemerkt hierzu: „Insgesamt gilt für für die Philologie der Heideggerschen Nietzsche-Auslegung, daß sie sowohl die Bände von 1961 als auch die Neuausgabe der Nietzsche-Vorlesungen im Rahmen der Gesamtausgabe heranziehen muß, da solche Tilgungen ihrerseits semantisch relevant sind, der späte Heidegger auch Formulierungen merklich geglättet und entschärft hat. Die deutlich existentiell betroffenere, affektivere Sprache ist die der Originalvorlesungen der Jahre 1936— 1940. Dies genau zu untersuchen, wäre Aufgabe einer philologisch-philosophischen Analyse der Heideggerschen Nietzsche-Vorlesungen." (Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik, a.a.O. [Anm. 22], S. 54, Anm. 94.)

" "

Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst, HGA 43, 60f. Arendt, a.a.O. [Anm.94], 176ff. Sie stützt sich ihrerseits auf J. L. Mehtas The Philosophy of Martin Heidegger (New York 1971). University Park: Pennsylvania State University Press, 1986.

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cendence", so rückt er dessen Deutung, wie vor ihm Arendt, in allzu große Nähe zu Sein und Zeit.*02 „Will to Power" ist auch in Heideggers erster Nietzsche-Vorlesung nicht einfach, wie Krell meint, „as perpetual self-overcoming [...] another word for epimeleia, Sorge, ,care'". 1 0 3 Heidegger bewegt

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Zwar führt Heidegger 1936 aus, daß er „Nietzsches Willen zur Macht, d.h. seine Frage nach dem Sein des Seienden, in die Blickbahn der Frage nach ,Sein und Zeit'" bringe, doch hält er nur an dieser Frage fest. Führe doch „das Buch [...] gerade nur bis an die Schwelle der Frage [...], noch gar nicht in sie selbst". (Nietzsche I, 28f.; HGA 43, 22f.) - In einer Niederschrift zu seiner ersten Nietzsche-Vorlesung begreift Heidegger deren „Absicht" als „sehr vorläufig und begrenzt". Es geht ihm darum, wie Nietzsche „die Seinsfrage stellt und beantwortet", welche sich gegenüber Sein undZeit „gewandelt" hat (HGA 43,280). Heidegger hatte sein Fragen seinerzeit schon weit über das hinaus getrieben, was er in seinen Vorlesungen bekannt macht. In einer Notiz vom Mai 1937 heißt es, seine beiden ersten Vorlesungen legten „das Gewicht auf die Darstellung Nietzsches, um durch sein Werk hindurch die zuletzt erreichte Stellung der abendländischen Metaphysik [...] sichtbar zu machen". Die Leitfrage ,Was ist das Seiende?' werde ihrem Gefüge nach „mehr erzählend beschrieben als wirklich fragend entwickelt". (HGA 43, 284f.)

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Krell, 131. - Auch die wichtige Untersuchung von James J. Winchester, Nietzsche's aesthetic turn. Reading Nietzsche after Heidegger, Deleuze, Derrida, New York 1991, 37ff., führt diese Rezeption weiter. Winchester schreibt u.a., „Nietzsche's description of the will to power in the Nietzsche Lectures from 1936 to 1937 stands at the crossroads between his analysis of Dasein and his musings (lamentations?) on the failure of language to invoke Beeing" (ebd. 175, Anm. 9). Die Zäsur, die Winchester in der Nachfolge von Arendt und Krell vornimmt, führt ihn auch dazu, meine Interpretation, „that Heidegger saw the will to power as singular", für seine „first lectures" zurückzuweisen. Lediglich „in the subsequent lectures I do think that Heidegger tends more to the interpretation that Müller-Lauter suggests" (ebd., 176, Anm. 21). Nun entfaltet Winchester in weitgehender Übereinstimmung mit meinen Arbeiten (seine wichtige Frage an mich, inwieweit ich „a systematic philosophy of will to power" konstruiere, muß hier beiseite bleiben) Nietzsches Gedanken der Pluralität von Machtwillen. Dabei beruft er sich zu Recht auch auf Jenseits von Gut und Böse 19 (z.B. 45 f.). Sehen wir zu, wie Heidegger hingegen schon in seiner Beschreibung des Wollens in der ersten Nietzsche-Vorlesung verfährt: „Was Nietzsche hier aber als eine Mehrheit von Gefühlen aufzählt, erst das und dann das und dann noch das, ist nur eine Mehrheit dessen, was in der Einheit dieses Gefühls sich aufschließt. Das Entscheidende dieses Gefühls liegt gerade darin, daß es in seiner ursprünglichen Einfachheit [!] jenes zusammengehörige Mehrere in einem Schlag eröffnet und trägt." Zu Nietzsches Gedanken vom „Gesellschaftsbau vieler Seelen", der Einheiten erst

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sich schon in den ersten Nietzsche-Vorlesungen nicht mehr im Horizont von Sein und Zeit·, die neue ,Nähe', die er zu Nietzsche gewinnt, ist zugleich seinsgeschichtliche Ferne. Daran ändert sich auch in d e n späten Veröffentlichungen Heideggers nichts. Auch w e n n Heidegger den Begriff des Seins zugunsten der Rede v o m Ereignis fallen läßt, so bleibt N i e t z s c h e d o c h , zuletzt mehr beiläufig herangezogen, für ihn der Vollender der Metaphysik.

sekundär fingiert, findet Heidegger von Anfang an keinen angemessenen Zugang. Es ist bezeichnend, daß er um des von ihm interpolierten .ursprünglich Einfachen Nietzsches' willen dessen eigenen Gedankengang in die „Psychologie, Physiologie und Erkenntnistheorie seiner Zeit" abdrängt. Das „schöpferische Denken" Nietzsches habe keine andere Möglichkeit gefunden, „das von ihm Gesehene und Erfahrene anderen zu Gesicht" zu bringen. (HGA 43,62f.) Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche bleibt auf Aspekte beschränkt, die für seine Konstruktion von Metaphysikgeschichte ergiebig sind.

Konsequenzen des Historismus in der Philosophie der Gegenwart (1961)

1. Der historische Relativismus als Konsequenz des Historismus Um das Ausmaß der in diesem Titel angezeigten Problematik für die Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert verständlich zu machen, muß die Wandlung des Geschichtsdenkens in den Blick gerückt werden, die sich allmählich vorbereitet, in der Goethezeit „nur ein Gefühl, eine Empfindung des genialen Menschen, noch kein das ganze Weltbild schon umgestaltendes Prinzip"1 - im Zeitalter der Romantik vollzieht, eine Bewegung, die Friedrich Meinecke als „eine der größten geistigen Revolutionen" beschreibt, „die das abendländische Denken erlebt hat"2. Eigentlich handelt es sich nicht um einen Wandel des Geschichtsdenkens, sondern um seine volle Erweckung. Denn nun erst wird das Vergangene, das geschichtlich Geschehene, in seiner Vielfalt und Besonderheit ernst genommen. Nun erst wird versucht, es in seiner Eigentümlichkeit zu verstehen, als von gleichem Range wie die Gegenwart, während die Neuzeit bis dahin das Vergangene als geringwertigere Durchgangsstation zur erhabeneren eigenen Zeit begriffen hatte. Der Historismus, unter welchem Namen Meinecke die ganze, von der Aufklärung in mannigfachen Erscheinungen sich bis in unsere Zeit erstreckende Bewegung des Geschichtsdenkens gestellt hat, gründet sich in der Hauptsache auf zweierlei: auf den „Sinn für Individualität und (den Sinn für) Entwicklung in der Geschichte". Der Historismus findet individuelle, für sich gültige Gestalten in der Geschichte und zugleich deren ständiges Verfließen, Ineinanderübergehen, das „Sich-Wandeln aller menschlichen Gebilde"3. Auf den Reichtum der Entdeckungen, der sich der neuen Sichtweise vor allem in den Geisteswissenschaften und der Rechtswissenschaft erschloß, kann hier nicht

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Friedrich Meinecke, Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte, Leipzig"1939, 9. Die Entstehung des Historismus, I. Bd, München 2 1946, 1 - S. a. Vom geschichtlichen Sinn, a.a.O. [Anm. 1], 48. Meinecke, Vom geschichtlichen Sinn, a.a.O. [Anm. 1], 48.

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eingegangen werden 4 , ebensowenig auf die Bedeutung dieses historischen Denkens für die liberale Theologie. Der Historismus ist über all dies hinaus zur „geistigen Macht" geworden, die „nicht nur mit unsichtbarer Hand die gesamte geisteswissenschaftliche Arbeit organisiert, sondern auch das alltägliche Leben durchdringt" 5 . Im folgenden soll allein von bestimmten Konsequenzen des sich seit der Jahrhundertwende immer radikaler verstehenden Historismus die Rede sein, von Konsequenzen, die dazu geführt haben, daß das Wort „Historismus", dessen Gebrauch in vielfältig schillernden Bedeutungen rasch zunahm 6 , einen so negativen Klang in unseren Ohren erhalten hat: den eines bodenlosen historischen Relativismus, für den es keine feststehenden Werte mehr gebe und der zur Bewältigung der konkreten Lebensaufgaben nicht tauge. Der Relativismus ist die dem Historismus innewohnende Konsequenz. Denn dieser wird aus sich selbst heraus dazu getrieben, den Gedanken, daß das geschichtlich Gewordene wieder zerfließe, mit zunehmender Entschiedenheit auf die eigene Zeit selbst anzuwenden. Und er muß die „grundsätzliche Historisierung alles unseren Denkens über den Menschen, seine Kultur und seine Werte" vollziehen 7 . Kein Phänomen des Geistes bleibt ausgeschlossen: „Es gibt nichts Festes und in sich Abgeschlossenes mehr." 8 Wenn Leopold von Ranke sich für die historische These, daß der Wert jeder Epoche „in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst" beruhe, auf die Gerechtigkeit der Gottheit bezieht 9 , so erhebt sich in der Zeit nach Nietzsche die Frage, ob denn nicht auch der Gedanke des gerechten Gottes in den Strom geschichtlichen Verfließens hineingehöre. Nun wird der Relativismus zum Alptraum des Geschichtsbewußtseins. „Was eine Befreiung und Erhebung gewesen war" - die Entdeckung der Vielfalt und in sich ruhenden Eigenart geschichtlicher Gegebenheiten - ist somit, wie Ernst Troeltsch schreibt, „eine Last und eine

S. dazu: Erich Rothacker, Zur Geschichte und Theorie der historischen Schule, in: Mensch und Geschichte, Bonn 2 1950. 5 Karl Mannheim, Historismus, in: Archiv f. Sozialwiss. u. Sozialpolitik, 1924, 1. * Zur Mehrdeutigkeit des Historismus-Begriffes s. Karl Heussi, Die Krisis des Historismus, Tübingen 1932, 6 - 1 5 ; zu seinem ersten Auftreten daselbst S. 3, sowie Meinecke, Die Entstehung des Historismus, I. Bd., a.a.O. [Anm. 2], lf. 7 Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, Ges. Schriften, 3. Bd., Tübingen 1922, 102. 8 Meinecke, Vom geschichtlichen Sinn, a.a.O. [Anm. 1], 9f. 9 Uber die Epochen der neueren Geschichte, Vorträge, dem Könige Maximilian II. von Bayern gehalten, hrsg. v. A. Dove, 1888 (Nachdruck Darmstadt 1945), 5. 4

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Verwirrung" geworden 10 . Bevor wir im folgenden näher auf die Konsequenzen des historischen Relativismus eingehen - wobei wir uns auf die Denker beschränken, in denen sie einen besonders markanten Ausdruck finden: auf Dilthey, Troeltsch und Heidegger - , wollen wir uns über die Bedeutung des Wortes „relativ" Klarheit verschaffen. In ihm drückt sich zunächst bloß ein Bezogensein aus, eine Relation. Relativismus im Bereich des Historischen kann demzufolge bedeuten: „die Lehre von den historischen Relationen, also den historischen Beziehungen oder historischen Zusammenhängen". „So verstanden bedeutet beispielsweise der Satz, der .Neuplatonismus' sei relativ, nichts anderes, als daß die historische Größe ,Neuplatonismus' zu anderen historischen Größen in Relationen, in Beziehungen steht." Wenn nun bedacht wird, daß „die Zahl der möglichen historischen Relationen [...] unübersehbar" ist, so taucht „ein ungeheuer großes, unüberblickbares Netz mit millionenfachen Maschen, die wieder untereinander in kaum zu entwirrender Weise verstrickt sind und die sich beständig verändern, [...] vor uns auf"11. Doch ein solcher Begriff des Relativismus enthält die eigentliche Schwierigkeit noch unausgefaltet in sich. Sie tritt zutage, wenn bedacht wird, daß die Geschichtsbetrachtung selbst nicht über dem riesigen Netz der Relationen schwebt, sondern sich innerhalb des sich beständig verändernden Netzes von verschiedenen und wechselnden Standorten aus vollzieht. Diese Standortabhängigkeit des Geschichtsbetrachters führt nun vor einen Relativismus in einem zweiten, jetzt erst bedrohlichen Sinne, und dies in doppelter Hinsicht: A) Jeder Blick von einem Standort aus ist einseitig; durch andere Standorte bedingte Aussagen haben ein gleiches, „relatives" Recht, auch wenn sie Widersprechendes bekundet. B) Die eingenommenen Standorte sind dem Flusse geschichtlichen Vergehens unterworfen, die Wahrheit des von ihnen her Erkannten und Ausgesagten vergeht mit ihnen. Vom historischen Relativismus in dieser verschärften Bedeutung soll im folgenden die Rede sein.

2. Wilhelm

Dilthey

Den ersten bedeutsamen Versuch einer Aufbereitung der Problematik des radikalisierten Historismus hat Wilhelm Dilthey unternommen. Er schreibt: 10 11

Der Historismus und seine Probleme, a.a.O. [Anm. 2], 10. Heussi, a.a.O. [Anm. 6], 68f.

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„Dieses unermeßliche, unfaßliche, unergründliche Universum spiegelt sich mannigfach in religiösen Sehern, in Dichtern und Philosophen. Sie stehen alle unter der Macht des Ortes und der Stunde." 12 „Vor dem Blick, der die Erde und alle Vergangenheit umspannt, schwindet die absolute Gültigkeit irgendeiner einzelnen Form von Leben, Verfassung, Religion oder Philosophie." 13 „Jede Weltanschauung ist historisch bedingt, sonach begrenzt, relativ. Eine furchtbare Anarchie des Denkens scheint daraus hervorzugehen." 14 Diese Anarchie kann zunächst im Versuch einer dem Historischen angemessenen Begriffsbildung bekämpft werden. Dazu „müssen die vorhandenen Begriffe vielfach so umgebildet werden, daß das Veränderliche, das Dynamische in ihnen ausgedrückt wird" 15 . Doch Dilthey geht darüber hinaus, wenn er feststellt, daß der Historiker vor jeder Betrachtung der geschichtlichen Welt „in sie verwebt" ist. „Es ist nicht möglich, diese Beziehungen abzusondern": „Wir sind zuerst geschichtliche Wesen, ehe wir Betrachter der Geschichte sind, und nur weil wir jene sind, werden wir zu diesen." 16 Doch wir sind für Dilthey nicht nur „zuerst" geschichtliche Wesen, sondern auch unaufhebbar und total. Menschsein vollzieht sich in einander ablösenden Gestalten. „Der Typus Mensch zerschmilzt im Prozeß der Geschichte." 17 Es gibt kein Sein des Menschen, das nicht in diesem Prozeß aufginge. „Was der Mensch ist, sagt ihm nur seine Geschichte." 1 8 Der Begriff, mit dem Dilthey diesen Prozeß ursprünglich faßt, ist der des Lebens. 19 „Aus Leben aller Art in den verschiedensten Verhältnissen besteht die Geschichte. Geschichte ist nur das Leben, aufgefaßt unter dem Gesichtspunkt des Ganzen der Menschheit, das einen Zusammenhang bildet." 20 Einzig eine „Analysis des Lebens" 21 kann daher eine Antwort auf die Frage nach der

Ges. Schriften, 1921 ff., VIII, 222. - Im folgenden werden lediglich Band- und Seitenzahl dieser Ausgabe angegeben. 13 VII, 155. H VIII, 222. 15 VII, 281. 16 VII, 277f. 17 VIII, 6. 18 VIII, 224. " Zur Entfaltung des Lebensbegriffes in der Historischen Schule s. Erich Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Tübingen 1920, 62ff. 20 VII, 256; s.a. 234. 21 VII, 276. 12

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aller faktischen Geschichtsbetrachtung zugrunde liegenden Geschichtlichkeit zu geben versuchen. Hier ist jedoch zu fragen: In welchem Maße fügt sich das Leben einer solchen Analyse? Es ist unablässig vorwärtstreibende, die Existenz der einzelnen Menschen fortlaufend hinter sich zurücklassende Bewegung 22 . Als solche ist es nicht nur grenzenlos, ohne Anfang und Ende 23 , sondern auch unergründlich. Jeder Versuch, die Vielfalt seines Strömens, die „Mehrseitigkeit des Lebens" 24 , zusammenzudenken, verstrickt sich in Widersprüche. Was bleibt der Philosophie in Anbetracht solcher „Insuffizienz gegenüber der ganzen Wirklichkeit" 25 lebendigen Geschehens? Nicht nur, daß Weltanschauung und Metaphysik 26 das Leben selbst nicht zu begreifen vermögen, all ihr Bemühen ist als ein selbst geschichtliches nichts anderes als partieller und vergehender Ausdruck des unerschöpflichen Wandels. Vergeblich wenden sie sich auf ihren ihnen entgleitenden Ursprung zurück. So scheint eine nicht nur furchtbare, sondern zugleich völlig fruchtlose Anarchie des Denkens vor unserem Auge zu erstehen. Doch Dilthey ist angesichts dessen von Verzweiflung so weit entfernt wie von Resignation. „Der Philosophie" könne, so sagt er, „Geschichte, ihr Gegner bisher, zu ihrem Arzte werden" 27 . Denn wenn auch jede der Weltanschauungen „einseitig" ist, so drückt andererseits „jede derselben in unseren Denkgrenzen eine Seite des Universums aus". Und hierin ist jede wahr 28 . In dem Bewußtsein, daß die eigene Weltanschauung - wie jede andere, auch die ihr widerstreitende - dem unteilbaren und unfaßbaren Leben als eine partielle Äußerung entspringt, soll der Mensch „nun ganz frei da" stehen: befreit von jeder dogmatischen Verabsolutierung. „Getrost mögen wir in jeder dieser Weltanschauungen einen Teil der Wahrheit verehren. Und wenn der Lauf unseres Lebens uns nur einzelne Seiten des unergründlichen Zusammenhanges nahebringt - wenn die Wahrheit der Weltanschauung, die diese Seite 22

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Daß bei Dilthey „.Leben' nicht gleichbedeutend mit dem besonderen Leben des einzelnen Menschen ist", hat Otto Friedrich Bollnow ausführlich dargelegt (Dilthey, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 2 1955, 44ff.). S. Georg Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie, Stuttgart 2 1931, 170. VIII, 69. VIII, 155. „Wenn die Weltanschauung [...] zu einem begrifflichen Zusammenhang erhoben, wenn diese wissenschaftlich begründet wird, so entsteht die Metaphysik" (VIII, 94). VIII, 10. VIII, 222.

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ausspricht, uns lebendig ergreift, dann mögen wir uns dem ruhig überlassen: die Wahrheit ist in ihnen allen gegenwärtig." 2 9 Dilthey beläßt damit nicht nur den Bildungen des Geistes in ihrem geschichtlichen Nacheinander ihr Eigenrecht, wie es zur guten Tradition der historischen Schule gehört. Auch das Nebeneinander selbst sachlich unvereinbarer Standpunkte wird toleriert, ja als Ausdruck des unerschöpflichen Reichtums des Lebens begrüßt. Doch wenn selbst dem miteinander Unvereinbaren das gleiche M a ß an Wahrheit zugesprochen wird, geraten wir in Aporien. Jeder Standpunkt ist doch in sich schon die Bestreitung des ihm entgegengesetzten. In solcher Gegensätzlichkeit konkretisiert er sich allererst. Hebt aber nun nicht die von Dilthey postulierte Gleichgültigkeit alles Gedachten den Sinn jeder denkenden Auseinandersetzung auf? M u ß ein solcher radikaler Relativismus nicht alle Gedanken, alle geschichtlichen Gebilde gegenseitig in Unverbindlichkeit belassen? 30

29 30

VIII, 223. [Nur hingewiesen werden kann hier auf die andere Einschätzung der Problematik des historischen Relativismus durch Hans-Georg Gadamer in Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960. Das Buch kam im Jahr vor der Niederschrift meiner Abhandlung heraus. Für diese erschien es mir wegen der mangelnden Radikalität der Auseinandersetzung mit den historistischen Konsequenzen nicht von Bedeutung. Das besagt natürlich nicht, daß Gadamers im Anschluß an Husserl und Heidegger vollzogener Rückgang auf die Lebenswelt nicht zu einer eigenen Auseinandersetzung mit dem historischen Relativismus, auf einer zweiten (modifizierten) Diskursebene, führen könnte. Aber um sie ging es mir in meinem Vortrag nicht, sondern vor allem um Heideggers Aufnahme der Relativismus-Problematik auf dem Wege über Dilthey und Troeltsch.- In jener Auseinandersetzung würde ich in bezug auf Heidegger aber doch wohl wie Gianni Vattimo in Gadamers Buch von 1960 mit dem Relativismus-Problem „alle .nihilistischen' Bedeutungen der Heideggerschen Ontologie außer Kraft gesetzt" finden und bei Gadamer „für die Hermeneutik (zumindest) die Gefahr" heraufbeschworen sehen, „eine Geschichtsphilosophie im wesentlichen humanistischen und letztlich neukantianischen Zuschnitts zu werden". (Das Ende der Moderne, Stuttgart 1 9 9 0 , 1 2 2 ) Bei dieser Andeutung zum Allgemeinen der Thematik bei Gadamer muß es hier bleiben. Aber exemplarisch sei hier doch noch auf dessen Zurückweisung der These eingegangen, Dilthey verfalle dem historischen Relativismus. In seinen Darlegungen geht Gadamer von Dilthys Umbildung des Hegeischen Begriffs des objektiven Geistes aus. Er löse ihn aus der Vernunftkonstruktion dialektischer Selbstentfaltung des Absoluten heraus und erweitere jenen Begriff zugleich auf Kunst, Religion und Philosophie hin. An die Stelle von Hegels absoluten Geist trete das historische

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Bewußtsein, in welchem das Leben sich selbst erfaßt. (Wahrheit und Methode, ebd. 2 1 4 - 2 1 7 ) Diltheys philosophische Selbstbesinnung gewinne in der Herausarbeitung des Zusammenhangs „von Leben und Wissen" als „ursprüngliche Gegebenheit" eine Weite, die „gegen alle Einwände unangreifbar" mache, die philosophisch insbesondere „gegen den historischen .Relativismus' gerichtet werden können". Weil Dilthey noch die Philosophie als Objektivation des Lebens auffasse, bleibe, wie Gadamer schreibt, seine „Philosophie der Philosophie" auf einem Weg, der nicht zu einem abschließenden systematischen .Resultat' führe, das „aus der Einheit eines spekulativen Prinzips die allein mögliche Philosophie" zu begründen beanspruchen könnte. Gegen das philosophische Denken, das sich in einem Gedankensystem fixiert hat, mag die Reflexion angehen können. Wenn es aber im Endlichen .unterwegs' und damit unfixierbar bleibt, unterliegt es nach Gadamer „gar nicht dem Einwand, sich des Relativismus schuldig zu machen". (Ebd. 223) Nun hat sich Dilthey aber mit dem Einwand des historischen Relativismus immer wieder auseinandergesetzt; er hat, wie auch Gadamer einräumt, sogar „unermüdlich" mit ihm gerungen. Daß er eine „wirkliche Antwort" darauf nicht vorgelegt hat, liegt Gadamer zufolge daran, daß das Relativismus-Problem „gar nicht seine wirkliche Frage gewesen ist". Gadamer verweist in diesem Zusammenhang auf Diltheys „Zweideutigkeit", die in „einer inneren Uneinheitlichkeit" von dessen Denken wurzele. Dieses sei zum einen von einem aufklärerischen „Intellektualismus" bestimmt, zum anderen von seiner Lebensphilosophie. Ersterem habe Dilthey mit seinem „Ausgangspunkt von der Immanenz des Wissens im Leben gerade den Boden entziehen" wollen. Weil er aber seinen lebensphilosophischen Ansatz nicht konsequent gegen die idealistische Reflexionsphilosophie festgehalten habe, habe er im Relativismus-Einwand nicht den zurückgelassenen Intellektualismus erkannt. (Ebd. 223f.; vgl. ebd. 224-227). Diltheys drängendes Fragen nach einer Uberwindung des historischen Relativismus scheint mir von Gadamer nicht ernst genug genommen zu sein, wenn er es allein an Methodischem festmacht. Daß „das Leben selbst Besinnung angelegt" sei, ihm daher „.ein' Streben nach Festigkeit'" eigne, führt Dilthey dazu, das Feste in der sittlich-praktischen Tätigkeit zu suchen, die „den Menschen von Partikularität und Vergänglichkeit" befreie. (Dilthey, Ges. Schriften VII, 547; Gadamer ebd. 222) Daß er damit noch nicht den Relativitäten enthoben ist, hätte Gadamer - nach den geschichtlichen Erfahrungen, die er selbst mit den großen .sittlichen' „Gemeinschaften", in denen er gelebt hat, noch deutlicher sein müssen, als dies Dilthey vor Augen stehen konnte. Zu beachten ist ohnehin, daß „das Bedürfnis nach etwas Festem [...] bei Dilthey den Charakter eines ausgesprochenen Schutzbedürfnisses gegenüber den furchtbaren Realitäten des Lebens" hat (Ebd. 226). In der denkenden Besinnung kommt zum von Gegensätzen bestimmtem Ausdruck, was in Lebenssituationen nach klärenden Entscheidungen drängt. Diltheys gescheiterte Bemühungen um Uberwindung der Relativität sind in ihrer Wurzel auch hiervon bestimmt.]

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3. Ernst Troeltsch Der Versuch, das hier nur noch in einem unfaßbaren Ursprung Zusammenhängende als das jeweilig und immer wieder neu vom Menschen zu Einende zu begreifen, kennzeichnet das Geschichtsdenken Ernst Troeltschs. Das Mannigfaltige des Überlieferten soll in der Weise „gegenwärtiger Kultursynthese" zusammengenommen und so „Geschichte durch Geschichte" überwunden werden31. Zwar lassen sich vergangene Epochen nur aus sich selbst heraus angemessen verstehen, an dieser Entdeckung modernen Geschichtsdenkens hält auch Troeltsch fest: „Wollen wir solche fremden Totalitäten geschichtlichen Geschehens beurteilen, so kann und darf das nur eine sogenannte immanente Kritik sein, die sich an ihrem eigenen Wesen und Ideal ihrer selbst mißt." 32 Aber „in zweiter Linie" bleibt „die Aufgabe, diesen fremden Geist mit dem des eigenen Zusammenhangs zu vergleichen und so auch an ihm zu messen. Fassen wir ihn ja doch zumeist überhaupt nur durch die Wahrnehmung von Gegensatz und Ähnlichkeit zu unserem eigenen Leben erst in seiner Eigentümlichkeit auf." Das Individuelle vergangener Gestaltungen kann letztlich doch nur von einem je gegenwärtigen Standort aus erfaßt werden. „Dann aber beurteilen wir in Wahrheit die fremde Welt nicht nur an ihrem eigenen, sondern auch an unserem Maßstabe." 33 Wie eine solche „doppelte Beurteilung" in der gegenwärtigen Kultursynthese zur Einheit gelangen, wie die mit Hilfe immanenter Kritik zu erzielende „möglichste Objektivität" in „die aneignende und Stellung nehmende, umschmelzende und einschmelzende Subjektivität" 34 Troeltsch zufolge aufgenommen werden soll, ist hier im einzelnen nicht zu erörtern. Wesentlich für die relativistische Problematik ist vor allem, daß Troeltsch zugesteht, daß jeder historische „Maßstab und die ihm entsprechende Konstruktion der Reihen und Gegensätze [...] bei verschiedenen Denkern stets verschieden sein" werde. „Die endgültige Entscheidung zwischen ihnen" bleibe „eine[r] sehr persönliche Einstellung in den Sinn des Werdens, den der Urteilende eben damit zu ergreifen glaubt. Darüber hinaus gibt es in Wahrheit keine höhere, außersubjektive Instanz." Bei aller Verschiedenheit der Maßstäbe und Konstruktionen ist aber doch allen geschichtlichen Maßstabset-

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Troeltsch, a.a.O., 772. A.a.O., 171. A.a.O., 172. A.a.O., 177.

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zungen, wie Troeltsch meint, die Annahme eines Sinnes des Werdens gemeinsam. Sie führt Troeltsch zu einem „an der Grenze aller "Wissenschaft liegenden Gedanken, [...] der [...] - ausgesprochen oder nicht ausgesprochen - erst den Abschluß und letzten Hintergrund aller Historie bildet": zu dem Gedanken, „daß die Bewegung historisch-individueller Wirklichkeiten doch in einer letzten Einheit ruht", die sich freilich, infolge „ihrer eigenen Bewegtheit", „jedem eigenen Begriff entzieht" 35 . Die Stiftung einer Einheit in der jeweils „im Moment zu formenden" Kultursynthese hat ihre Wurzel in der Einheit einer übergreifenden Bewegung, „dem Gesamtflusse des Lebens" 36 , der „in die unbekannte endlose Zukunft hineintreibt" 37 . So finden wir hier das Urprinzip der Geschichte wieder, das wir schon bei Dilthey kennengelernt haben: den unfaßbaren, grenzenlos strömenden, lebendigen Prozeß. Freilich mit dem wesentlichen Unterschied, daß er von Troeltsch als in sich sinnhaftes Geschehen aufgefaßt wird. Dieser Sinn ist nicht aufweisbar - jeder Aufweis kann selbst nur relative, standortbedingte Gültigkeit haben - , um seiner inne zu werden, bedarf es „eines metaphysischen Glaubens, der [...] hoch über die empirischen Feststellungen und Charakteristiken emporträgt und an eine im tiefsten Grunde des Geschehens herausgeholt und herausgeschaut werden kann". Dieser Glaube erfährt die sinnhafte Kontinuität des Geschichtsganges als „Ausdruck und Offenbarung des göttlichen Lebensgrundes", er ermöglicht „die Ergreifung des aus der jeweiligen Lage erwachsenden Kulturideals als eines Repräsentanten des unverkennbaren Absoluten" 38 . Die radikale Vergeschichtlichung Gottes im Glauben an ihn als „das Absolute, das selber nur in der Einheit seiner Lebensfülle für sich selber existiert"39, gebietet der Anarchie des Denkens Einhalt. Erst von diesem Absoluten her erhält die jeweils neu zu stiftende gegenwärtige Kultursynthese ihre Bedeutung, wäre sie doch sonst nichts anderes als ein selbst immer wieder gleichgültig Verschwindendes. Nun jedoch kann Troeltsch sagen, daß sie sich „auf einen uns unbekannten Gesamtsinn der Welt hin" 40 vollzieht 41 .

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A.a.O., 173. „Einheit und Sinn des Ganzen läßt sich nur ahnen und fühlen, nicht wissenschaftlich ausdrücken und konstruieren", schreibt Troeltsch einmal (a.a.O., 183). A.a.O., 183. A.a.O., 178. A.a.O., 175. A.a.O., 184. A.a.O., 175. Der Glaube an das Absolute im Sinne Troeltschs bleibt „Wagnis" (a.a.O., 181, 185). Demzufolge ist die „gewissenhaft erwogene, freie Synthese aller lebendigen

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Troeltschs Versuch, den Relativismus im Glauben an eine in sich sinnhafte göttliche Gesamtbewegung zu überwinden, ist keine tiefgreifende Wirkung beschieden gewesen42. Philosophisches Fragen kann sich bei der dargelegten Geschichtskonzeption nicht beruhigen. Ihm muß sich dieser Glaube als unangemessene Ausflucht vor den Schwierigkeiten des Geschichtsproblems darstellen. Kann man dem Historismus „die Kraft" zutrauen, „die Wunden, die er durch die Relativierung der Werte geschlagen hat, zu heilen"? So fragt Meinecke. Und er antwortet mit Ja: „vorausgesetzt, daß er (sc. der Historismus) Menschen findet, die diesen -ismus in echtes Leben umsetzen" 43 . Das ist Troeltsch so wenig wie vor ihm Dilthey gelungen. Doch Dilthey hat den Mangel seines Geschichtsdenkens an echter Lebendigkeit trotz aller Lebensphilosophie gelegentlich schon gespürt. Im Gedenken an seinen Freund, den Grafen Paul Yorck von Wartenburg, von dessen im lutherischen Christentum wurzelnder Geschichtsphilosophie der Briefwechsel mit Dilthey zeugt 44 , schreibt er einmal: „Ist mein eigener historischer Gesichtspunkt nicht unfruchtbarer Skeptizismus, wenn ich ihn an einem solchen Leben messe? Wir müssen diese Welt leiden und besiegen, wir müssen auf sie handeln: wie siegreich tut das mein Freund: wo ist in meiner Weltanschauung eine gleiche Kraft?" 45 .

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Kulturkräfte" nur im „Sprung" möglich, der des Glaubens bedarf, „daß er zum Ziele trägt" (179). In eigenartiger Weise verbinden sich hier Hegelische und Kierkegaardische Denkansätze. Nur eine Phase - freilich die bedeutsamste und am klarsten herausgearbeitete von Troeltschs Versuchen zur Auseinandersetzung mit dem Historismus konnte hier erörtert werden. Das ganze Werk Troeltschs einbeziehende Analysen finden sich bei Fritz-Joachim von Rintelen, Der Versuch einer Uberwindung des Historismus, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwiss. u. Geistesgesch., Bd. VIII, Heft 2, 1930. Die Entstehung des Historismus, I. Bd., a.a.O. [Anm. 2], 5. Briefwechsel zwischen Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg, hrsg. v. S. von der Schulenburg, Halle a. d. S. 1923. - Zu Yorck s. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen ®1957, 3 9 9 - 4 0 4 ; Fritz Kaufmann, Die Philosophie des Grafen Paul Yorck von Wartenburg, Halle 1928. V. CXII.

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4. Das Existenzial der Geschichtlichkeit in Heideggers Daseinsanalyse Daß der Mensch in der Welt leiden und handeln müsse, - unter diesem Zeichen stehen die Analysen Martin Heideggers zur Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins in „Sein und Zeit". Es geht ihm darum, „den Geist des Grafen Yorck zu pflegen, um dem Werke Diltheys zu dienen" 46 . Man hat in Heideggers Analysen sogar die „Perfektion und zugleich Selbstwiderlegung" des „philosophischen Historismus Diltheys" gesehen 47 . In der Tat setzt sich Heideggers Geschichtsdenken in besonderem Maße unserer Zeit der historischen Problematik aus. Von Anfang an geht es ihm um die Bewältigung der Einwände des historischen Relativismus. In welchem Maße sie ihm gelingt oder nicht gelingt, bedarf einer ausführlichen Erörterung. Zunächst ist der Punkt zu finden, an dem Heidegger grundsätzlich über das von Dilthey Erarbeitete hinausdrängt. Dieser Punkt ist die Behauptung der Unbegreifbarkeit des Lebens. Wie unbefriedigend sie ist, zeigte sich schon im Blick auf Troeltschs Weiterführung der Diltheyschen Problematik. Zwar entzieht sich auch noch bei Troeltsch die lebendige Bewegung der Geschichte jeder begrifflichen Fixierung, aber ihr wird doch außer der Einheit schon Sinn zugesprochen48. Damit verstärkte sich aber ihre Frag-würdigkeit. Es ist, wie nun Heidegger sagt, der „grundsätzliche Mangel" der „Lebensphilosophie", „daß .Leben' selbst nicht [...] ontologisch zum Problem wird"49. Er versucht diesen Mangel zu beseitigen, indem er den Lebensbegriff auf sein existenziales Fundament zurückführt: „Leben ist [...] wesenhaft nur zugänglich im Dasein" 50 , unter welchem Begriff er ausschließlich das Sein des Menschen faßt. Das Dasein, in phänomenologischer Analyse zugänglich gemacht, tritt an die Stelle des unerforschlichen Lebens im Sinne Diltheys und Troeltschs. Das bedeutet in Hinblick auf die Geschichtsproblematik: Die Basis für die Geschichtlichkeit bildet bei Heidegger nicht mehr das unendliche 46 47

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Sein und Zeit, a.a.O. [Anm. 44], 404. Kurt Rossmann, Deutsche Geschichtsphilosophie von Lessing bis Jaspers, Einleitung, Bremen, 2. Aufl. o. J., XCII. Die Schwierigkeit, von dem begrifflich unerreichbaren göttlichen Lebensgrund gleichwohl in Begriffen sprechen zu müssen, hat Troeltsch wohl empfunden. Er muß zugestehen, daß die sich jeder Begrifflichkeit entziehende Bewegung der Geschichte „daher mit den Worten .Einheit' und .All' sehr unzureichend bezeichnet wird" (a.a.O., 173). Sein und Zeit, a.a.O. [Anm. 44], 46. A.a.O., 50.

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Verfließen, sondern die endliche, zeitlich begrenzte Existenz des faktischen Menschen. Heidegger begreift das Dasein in seiner Endlichkeit, d. h. als „Erstreckung [...] zwischen Geburt und Tod". Und zwar nicht so, daß es erst „eine irgendwie vorhandene [...] Strecke ,des Lebens'" ausfüllt 51 , „daß es, je nur im Jetzt .wirklich', die Jetztfolge seiner ,Zeit' gleichsam durchhüpft" 52 , wie Heidegger das .vulgäre' Zeitbewußtsein polemisch charakterisiert 53 , sondern so, „daß im vorhinein sein eigenes Sein als Erstreckung konstituiert ist" 5 4 . Recht verstanden ist das Dasein Ausspannung von Geburt zu Tod: „Beide .Enden' und ihr .Zwischen' sind, solange das Dasein ist." Es vermag seine Geburt so wenig als ein endgültig Vergangenes hinter sich zurücklassen, wie sein Tod ein Ereignis ist, das irgendwann einmal eintreten wird, das Existieren „jetzt" aber nicht betrifft. Daß zur Erstreckung des Daseins der Tod als ihr Ende gehört, besagt, daß sich der Mensch ständig zu ihm verhält, selbst dann, wenn er nicht an ihn denkt. In dem, was er in Wahrheit ist, versteht der Mensch sich nur, wenn er die Ausspannung zum Tode, die er im Grunde immer ist, im ausdrücklichen Sinne auf sich nimmt: indem er zum Tode „vorläuft". Solches eigentliche Sein zum Tode ist nun, wie Heidegger ausführt, „der verborgene Grund der Geschichtlichkeit des Daseins" 55 . Wie ist das zu verstehen? Indem das Dasein sich im Verstehen seiner selbst ausspannt, trifft es auf den Tod als auf die äußerste Zukunft seines Existierens. Doch dieses Äußerste bietet ihm keinen Halt, das Dasein muß sich vielmehr am Tode „zerschellend auf sein faktisches Da zurückwerfen lassen" 5 *. Die Ausspannung nach vorn bringt in eins zum „Anfang" des Existierens zurück, zu dem, was das Dasein faktisch gewesen ist57, und erschließt damit die volle Erstreckung des Daseins. Von seiner endlichen Zukunft herkommend ist das Dasein „Sein

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A.a.O., 3 7 4 .

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A.a.O., 3 7 3 .

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Dazu s. im folgenden S. 6 3 , Anm. 150.

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Sein und Zeit, a.a.O. [Anm. 44], 3 7 4 .

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A.a.O., 3 8 6 .

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