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German Pages 462 Year 2018
Katja Schmidt Lüge, Hochstapelei und Bildung
Pädagogik
Katja Schmidt arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Erwachsenenbildung an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Sie beschäftigt sich seit ihrem Studium der Germanistik und der Erziehungswissenschaft mit den mehrdeutigen sprachlichen Handlungen des sich bildenden Subjektes. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Bildungstheorie, Qualitative Biographie- und Bildungsforschung sowie historische Erwachsenenbildungsforschung.
Katja Schmidt
Lüge, Hochstapelei und Bildung Bildungstheoretische Annäherungen und biographische Rekonstruktionen
Die vorliegende Arbeit wurde 2016 unter dem Titel »Lügen bildet?! Hochstapler und ihre Bildungsprozesse in biographischen Erzählungen« als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades einer Doktorin der Philosophie (Dr. phil.) an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der HelmutSchmidt-Universität/Universität der Bundeswehr angenommen. Tag der Disputation: 23. März 2017
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Inhalt
Einleitung | 9 1.1 Hochstapeln – über die Relevanz eines Phänomens in der Gegenwart für die Erwachsenenbildung | 10 1.2 Hochstapeln – über die Relevanz eines Phänomens in der Vergangenheit für die Erwachsenenbildung | 16 1.3 Fragestellungen, Problemaufriss und interdisziplinäre Bezüge | 24 1.4 Aufbau und inhaltliches Vorgehen | 37 1
Lügen, Täuschen und Bildung | 41 2.1 Descartes zweifelt und von Foerster straft die Wahrheit Lügen – Lüge, Täuschung und Erkenntnis von Wirklichkeit | 44 2.2 Augustinus setzt den Maßstab, Rousseau blickt ins Innere und Nietzsche stellt die Welt auf den Kopf – philosophische Betrachtungen zur Lüge | 52 2.3 Lügner und Hochstapler sonnen sich im ästhetischen Schein – interdisziplinäre Auseinandersetzungen mit der Lüge | 69 2.4 Zwischen-Fazit: Bildung und Lüge | 77 2
Hochstapler: Zeitgeister, Spiegelbilder und Grenzgänger | 79 3.1 Zeitgeister: Entstehung und Facetten des Hochstaplers in der Moderne | 80 3.2 Spiegelbilder: Hochstapler zwischen individueller Selbstbehauptung und gesellschaftlicher Selbstpräsentation | 86 3.3 Grenzgänger: Hochstapler zwischen Authentizität, Identität und Anerkennung | 98 3.4 Zwischen-Fazit: Hochstaplerische Bildungsgeschichten | 115 3
Biographie und (Erwachsenen-)Bildung | 119 4.1 Wandlungen: Bedeutung von Biographie | 120 4.2 Konvergenz: Bildungsbegriff und Biographie | 128 4.3 Zwischen-Fazit: da capo al fine | 168 4
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Biographie, Bildung und Rekonstruktion von (gebrochenen) Bildungsgestalten | 175
5.1 Bildungs- und biographietheoretische Zuspitzung | 176 5.2 Historisch-pragmalinguistische Anknüpfung: das Interferenzkonzept von Presch | 189 5.3 Verknüpfung: Interferenz und (gebrochene) Bildungsgestalten | 203
5.4 Biographietheoretische Anknüpfung: Lebenswelten und biographische Bewegungen nach Schulze | 207 5.5 Verknüpfung: Biographische Rekonstruktionen gebrochener Bildungsgestalten | 213 Hochstaplerische Bildungsprozesse | 217 6.1 Georges Manolescu: der Bildungsprozess eines hochstapelnden Meisterdiebs | 226 6.2 Ignatz Straßnoff: der Bildungsprozess eines hochstapelnden Lebenskünstlers | 277 6.3 Harry Domela: der Bildungsprozess eines gesellschaftskritischen Hochstaplers | 330 6.4 Zwischen-Fazit: Lügen, Täuschen, Hochstapeln und gebrochene Bildungsgestalten | 396 6
Resümee und Ausblick | 413 7.1 Am Anfang anfangen | 413 7.2 Am Gegenstand lernen und weiterdenken | 417 7.3 Am Ende „das Nicht-Zweifeln anfangen“ | 431 7
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Literatur | 433
Dank
Es gab Momente der Erhellung, der Überschreitung des einst Gedachten, aber auch der Entgrenzung von allem. Immer da war eine tiefe Dankbarkeit dafür, dass ich mit mir nicht allein sein musste und dass ich von Menschen umgeben bin, die mich mit ihrem Wissen, ihrer Großzügigkeit, ihrer Aufrichtigkeit, ihrer Kritik und ihrer Zuneigung begleiten. Und so bedanke ich mich bei Gunther Presch, der mich während meines Studiums lehrte, wie Konflikte in sprachliche Handlungen einwandern, und der für mich, ohne es zu wissen, den Grundstein dafür legte, sich den Mehrdeutigkeiten des Besonderen im Alltäglichen zuzuwenden. Das das, was lange währt, endlich gut wird, verdanke ich Christine Zeuner, die mein Toben zwischen Lüge, Wahrheit und Hochstaplern zugewandt begleitete und stets daran glaubte, dass auch das etwas mit Bildung zu tun hat. Sie öffnete meinen Horizont für kritisch-theoretisches Bildungsdenken und unterstütze mich mit ihrer stets wohlwollenden Kritik. Dafür danke ich ihr sehr! Karin Büchter danke ich auf das Herzlichste für die wertvollen Hinweise, das Zweitgutachten und das gemeinsame Vergnügen an theoretischen Vergewisserungen und disziplinären Überschreitungen. Zugeneigt sind mir, seit ich wissenschaftlich denken lernte, Katja Petersen, Alice Passfeld und Nina Twardawa. Ihnen danke ich von ganzem Herzen für geteiltes Freud-und-Leid, Diskussionen, Aufrichtigkeit und liebevollen Zuspruch. Stets an meiner Seite sind sie auch diesen Weg mit mir gegangen! Bei Gabriele Molzberger bedanke ich mich für lange Telefonate, die mir halfen, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, und die Licht ins dunkle Denken brachten. Korrektur gelesen haben auch Carina Augsten, Sarah Friedrichs, Luise Sanders und Friederike Solak. Herzlichen Dank! Ohne Ilka Hollmann, Christine Pille und Claudia Rottensteiner wäre es nicht möglich gewesen, die Arbeit zu Ende zu schreiben: Stets wusste ich meine liebste Stella Nova gut bei ihnen aufgehoben. Nicht nur dafür Dankeschön! Für ihre liebevolle Anteilnahme und ihre Zugewandtheit danke ich außerdem Kerstin Görtz, Brigitte Mehrmann und Wilfried Viethaus! Mit John Hughes kreise ich um einen neuen Stern und eine blühende Lilie. Ihr Strahlen und ihre Liebe erhellen mein Leben. Dankbar bin ich auch für die Liebe, Geduld, Anteilnahme und Großzügigkeit meiner Eltern, Brigitte und Wolfgang Schmidt: Ihnen ist diese Arbeit gewidmet.
Einleitung
Weil die Menschen aus Bequemlichkeit die Illusionen der Wahrheiten bevorzugen – um sinngemäß den umtriebigen Nietzsche zurate zu ziehen, dessen „Einstellung zur Wahrheit [...] eine durchaus dämonische, eine zitternde atemheiße, nervengejagte, neugierige Lust voller Leiden“1 ist – tummeln sich in unserer Gesellschaft die Hochstaplerinnen und Hochstapler. Gerne bewegen sie sich in der Medizin, in der Wissenschaft, im Finanzwesen oder in der Politik. Sie gelangen häufig mit gefälschten Zeugnissen und Lebensläufen oder anderen Insignien der vorgeblichen Brillanz auf einem Fachgebiet in hohe berufliche Positionen. Die Entdeckung ihrer Lügen und ihre Entlarvung führen zu gesellschaftlichem Aufsehen. Skandalöse Zustände in den betroffenen Institutionen werden gewittert und die unverhohlene Schadenfreude der Ehrlichen, aber Neidischen kommt auf. Und so wäre es naheliegend, hier all die Gutenbergs, Hinzes oder Postels aufzuführen oder zu fragen, ob Herr Trump nicht (wenigstens) hochstaplerische Qualitäten besitzt, um auf die Aktualität der Thematik „Hochstapelei“ mit ihren Lügen und Täuschungen im Dunstkreis des Handelns von Hochstapelnden für die Erwachsenenbildung aufmerksam zu machen. Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass sich diese Arbeit den hochstaplerischen Bildungsprozessen längst verstorbener Vertreter jener Zunft widmet. Doch dieser aktuelle Zugang würde bedeuten, jenen eine Bühne zu bieten, die vielleicht gar keine Hochstapelnde sind, sondern eher Betrügende, die hinterlistig sind, die andere manipulieren wollen und die, was wohl das Entscheidende ist, auch andere Handlungsoptionen gehabt hätten, die nicht der Lüge und der Täuschung bedurften. Sind dies wahrhaftige Hochstapler?
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Stefan Zweig: Der Kampf mit dem Dämon. Hölderlin. Kleist. Nietzsche, Frankfurt am Main: Fischer 2007, S. 261.
10 | Lüge, Hochstapelei und Bildung
1.1 HOCHSTAPELN – ÜBER DIE RELEVANZ EINES PHÄNOMENS IN DER GEGENWART FÜR DIE ERWACHSENENBILDUNG Offensichtlicher werden die gesellschaftliche Dramatik des Hochstapelns, das (Ver-) Zehren an der Wahrheit, die darin verstrickte Abhängigkeit des Subjektes und ihre Bedeutung für die Erwachsenenbildung, wenn man sich zum Beispiel die berufliche Karriere von Cornelia E. anschaut. Dieser widmet sich die Süddeutsche Zeitung in einem Artikel aus dem Jahr 2010.2 Hier erfahren die Lesenden, dass Cornelia E. mehrere Jahre als Ärztin in einem Universitätskrankenhaus arbeitet. Ihre Arbeit zeichnet sich durch „gute[] Präsentation, gute[s] Fachwissen“ aus; „sie war ruhig und klar“, so ihr Vorgesetzter.3 Von dritter Seite wird ihr fehlerfreie Arbeit, „großes Engagement und gute medizinische Fachkenntnis“ bestätigt.4 Allerdings hat Cornelia E. ein Problem: Sie verfügt nicht über einen zertifizierten Abschluss ihres Medizinstudiums und hat Urkunden gefälscht, um als Ärztin arbeiten zu können. Die Fälschungen fliegen auf, Cornelia E. hat sich dafür vor Gericht zu verantworten und wird verurteilt. Während der Gerichtsverhandlungen werden ihre beruflichen Fähigkeiten als Ärztin nicht in Zweifel gezogen. Im Universitätskrankenhaus gehen Schreiben von Patienten ein, die sie laut ihrem Vorgesetzten „für ihre Tätigkeit und ihre Menschlichkeit gelobt haben.“5 Im Artikel wird auch beschrieben, wie es dazu kommt, dass Cornelia E. sich zur Hochstaplerin wandelt: Sie fällt dreimal durchs Physikum. Damit ist ihr Studium offiziell beendet. Dennoch will sie unbedingte Ärztin werden und setzt deshalb ungehindert ihr Studium fort. Am Ende ihres Studiums fühlt Cornelia E. „[d]ie Sehnsucht, ‚ausführen zu können, was ich lernte‘“.6 Da fällt ihr Entschluss, Zeugnisse und die Zulassung der Gesundheitsbehörde zu fälschen. Diese Fälschungen ermöglichen eine Anstellung und bis zur Entlarvung ihrer Lügen und Täuschungen die Arbeit als erfolgreiche Ärztin. Bemerkenswerter noch als die Tatsache, dass sich im Fall von Cornelia E. zeigt, dass zertifizierte Prüfungsabschlüsse ausschlaggebender für eine fachliche Qualifizierung zu sein scheinen, als die Fachkenntnisse und Kompetenzen, die sich die „falsche Kinderärztin im Laufe ihrer Tätigkeit angeeignet hat“, ist der folgende Kommentar zu diesem Fall vonseiten der Süddeutschen Zeitung: „E. war keine klassische
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„Falsche Kinderärztin verurteilt“, in: Süddeutsche Zeitung, SZ.de vom 17. Mai 2010, www.sueddeutsche.de/panorama/hamburg-falsche-kinderaerztin-verurteilt-1.499146 vom 19. Oktober 2016.
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Ebd.
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Einleitung | 11
Hochstaplerin. Sie wollte ja nicht jemand sein, der sie nicht war. Sie war eine gute Ärztin, nur zu früh aussortiert vom System.“ 7 Diese Aussage ist zum einen interessant, weil sie zwischen klassischen und nichtklassischen Hochstapelnden differenziert und Fragen aufwirft: Wenn es nicht-klassische Hochstapelnde auszeichnet, nicht jemand sein zu wollen, der man nicht ist, charakterisiert dann klassische Hochstapelnde, dass sie jemand sein wollen, der sie nicht sind? Oder, dass sie jemand sein wollen, der sie sind? In einer ersten Annäherung kann gedacht werden, dass Hochstapler in der Lage sind, sich den Schein zu eigen zu machen, um ihr Selbst-Sein zu leben. Denkbar ist, dass sie sich ein Selbst-Bild im gesellschaftlichen Schein geben, das im Widerspruch zu gesellschaftlich normativen Authentizitätsvorstellungen steht. Dass Hochstapelnde dabei lügen, betrügen, moralische Grenzen und manchmal auch Gesetze verletzten, steht außer Frage. Zum anderen ist die Einschätzung der Süddeutschen Zeitung interessant, weil der Kommentar Bezüge herstellt, die auf die gesellschaftlich bedingte Notlage von Cornelia E verweisen, welche zu ihrer Hochstapelei führt. Diese soll sie ebenfalls, so lese ich den Artikel, von den klassischen Hochstapelnden unterscheiden: Cornelia E. wollte sie selbst sein, in einem „System“, in dem die (Be-)Schein(-igung) von Wissen, Kenntnissen und Fähigkeiten mehr zählt, als das (Vorhanden-)Sein dergleichen im Arbeitsalltag. Cornelia E. musste den Schein wahren, indem sie Urkunden fälschte, um als Ärztin tätig sein zu können. Um die allgegenwärtige Relevanz von Lügen, Täuschen und Hochstapeln für die Bildung von Erwachsenen exemplarisch aufzuzeigen, möchte ich noch auf ein anderes Phänomen verweisen, das innerhalb der semantischen Gewandtheit von Hochstapeln eine Besonderheit darstellt: das „Hochstaplersyndrom“. Entdeckt wird das Hochstaplersyndrom in den späten 1970er Jahren. Es sind Clance und Imes, die in einer Studie mit dem Titel „The Impostor Phenomenon in High Achieving Woman: Dynamics and Therapeutic Intervention“ feststellen, dass Frauen mit akademischen Abschlüssen, wissenschaftlichem Renommee und großer Anerkennung unter Kollegen das Gefühl entwickeln können, ihr beruflicher Erfolg sei nicht den eigenen Fähigkeiten, Kenntnissen und Leistungen geschuldet, sie seien der Anerkennung nicht würdig.8 Sie haben unbegründete Angst, jeden Moment in ihrem beruflichen Leben als Ungebildete entlarvt zu werden. „Im Gegensatz jedoch zu realen Hochstaplern, die ihre akademischen Grade tatsächlich erschwindelt, vorgetäuscht oder käuflich erworben haben oder die auf Datenmanipulation oder
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Clance, Pauline Rose/Imes, Suzanne: „The Impostor Phenomenon in High Achieving Woman: Dynamics and Therapeutic Intervention“, in: Psychotherapy Theory, Research and Practice 15 (1978), S. 241-247.
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Ideenraub basieren, haben Wissenschaftler/innen mit einem Hochstaplersyndrom zwar ein Gefühl von Hochstapelei. Ihre Erfolge sind aber durch zahlreiche Qualifizierungen, Publikationen, Zertifikate, Auswahlverfahren, die Führungsposition, die sie innehaben, nachgewiesen, anerkannt und formal juristisch korrekt. Dieses mangelnde Selbstwertgefühl ist teils damit gekoppelt, beruflichen Erfolg eher dem Zufall und Glück zuzuschreiben als dem eigenen Intellekt und der eigenen Spitzenleistung.“9
Die am Hochstaplersyndrom Leidenden stellen die Welt der Hochstapelei auf den Kopf: Sie erfüllen die Erwartungen der Gesellschaft hinsichtlich ihrer beruflichen, wissenschaftlichen Qualifizierung über die Maße und können dies mit Zeugnissen und Zertifikaten. Dennoch haben sie Angst davor, dass jemand hinter ihre Fassade blickt und zu dem Schluss kommt, dass all ihr Wissen, all ihre akademische Bildung nur Schein ist. Wie bei ‚klassischen‘ Hochstapelnden ist auch für die am Hochstaplersyndrom Leidenden zu fragen, in welcher gesellschaftlichen Verwobenheit das Subjekt seine Bildungsprozesse vollzieht: Warum kommen Menschen zu dem Schluss, dass es möglich und notwendig ist, gemeinhin angenommene Nachweise von Bildungs- und Lernprozessen zum Beispiel in Form von Zertifikaten oder Zeugnissen vorzutäuschen? Warum haben Menschen Angst davor, dass sie trotz ihrer akademischen Abschlüsse nicht dem gesellschaftlichen Erwartungshorizont von ‚Gebildeten‘ entsprechen könnten? Wer legt fest, was erfolgreiche Bildungsprozesse eigentlich sind, wenn Menschen vortäuschen können, gebildet zu sein? Oder befürchten, dass ihre Bildung nicht anerkannt wird, nicht genügt, ihnen vorgetäuschte Bildung unterstellt wird? Und welches Menschenbild, welche individuellen und gesellschaftlichen Erwartungshaltungen verbergen sich dahinter? Welcher gesellschaftliche Erwartungshorizont an Bildung, an Lüge und Wahrhaftigkeit, an Hochstapelei verbirgt sich dahinter? Im Gegensatz zu vom Hochstaplersyndrom Betroffenen machen sich Hochstapler die Welt des Scheins zunutze, jedoch nicht ausschließlich, um in der Welt mehr zu gelten, als sie sind. Sie können sich in einer Welt des Scheins – wenn auch nur episodenhaft – mit ihrem Sein verwirklichen. „Täuschung als eine Verwechslung von Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit zu definieren, greift zu kurz. Täuschung ist weder Schein noch Sein. Täuschung ist Schein in der Form des Seins.“ 10, so Kern in der Zusammenfassung seiner Dissertation, die sich mit der „Kunst der Täuschung“ von
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Klinkhammer, Monika/Saul-Soprum, Gunta: Das ‚Hochstaplersyndrom‘ in der Wissenschaft, http://wissenschaftskarriere-coach.de/media/Veroeffentlichungen_KlinkhammerS oprun.pdf vom 19. Oktober 2016.
10 Kern, Stefan Helge: Die Kunst der Täuschung. Hochstapler, Lügner und Betrüger im deutschsprachigen Roman seit 1945 am Beispiel der Romane Felix Krull, Mein Name sei Gantenbein und Jakob der Lügner, Hannover: Universität Hannover 2004, o.S.
Einleitung | 13
Hochstaplern, Lügnern und Betrügern in deutschsprachigen Romanen beschäftigt. Mit einer so verstandenen Definition von Täuschung begeben sich Hochstapler in eine Verstrickung von Sein und Schein, die sich in den ambivalenten Verhältnissen von Wirklichkeit konstituiert. Hochstapler vollziehen einen Bruch mit der Wirklichkeit, indem sie sich ihrer mittels Lügen und Täuschungen bemächtigen. Sie können mittels Lügen und Täuschungen ihr sozial verortetes Sein unterbrechen, weil sie sich des ebenfalls auf gesellschaftlichen Machtverhältnissen gegründeten Scheins bedienen. Ein Phänomen, auf das sich mit Pongratz angesichts seiner im Jahr 2005 für die Erwachsenenbildung konstatierten Herausforderungen vergleichen lässt, welche an Aktualität meines Erachtens nichts verloren hat: „Hier zeigt sich Bildung als das, was sie sein kann: als Bruch mit der herrschenden Realität. Der kürzeste Name für Bildung lautet demnach: Unterbrechung.“11 Ein Interesse dieser Arbeit ist es, zu untersuchen, ob und wie sich gelebte Widersprüche, Unterbrechungen und die Bemächtigung des gesellschaftlichen Scheins mittels Lügen, Täuschen und Hochstapeln in Bildungsprozessen niederschlagen, welche Reflexionsprozesse vom Subjekt vor und nach der Unterbrechung eingegangen werden. Ausgegangen wird davon, dass Auswege aus Krisenzuständen und Widersprüchlichkeiten des Daseins jenseits moralisch gepflasterter Straßen gefunden werden können. „Bildung ist immer Selbstdenken, Selbstaneignung, Selbstbestimmung“, definiert Pongratz außerdem. Diese Arbeit fragt in seinem Sinne, wie und was Hochstapler selbst denken, wie und was sie sich selbst aneignen und selbst bestimmen. 12 Diesen Fragen ist außerdem eine Relevanz für die Erwachsenenbildung inhärent, die Pongratz als eines ihrer Anliegen deklariert, nämlich selbstreflexiv die Moderne zu kritisieren und „den Reflexionshorizont der Aufklärung zu überschreiten, indem es die aufklärerischen Intentionen beim Wort nimmt.“13 Die Aufgabe der Erwachsenenbildung sei es, so Pongratz weiter, eine „Überschreitungsperspektive“ einzunehmen: „Die Überschreitungsperspektive sucht sich dem Neuen, Fremden, Unerhörten und Ungesagten zu öffnen, das aus den Brüchen im Erosionsprozess der Moderne hervorspringt. Sie eröffnet auf diese Weise eine transzendierende Reflexionsbewegung, die nicht mehr einsinnig der Fluchtlinie des Aufklärungsprozesses verhaftet bleibt, sondern die Aufklärung selbst unter aufgeklärte Kritik nimmt.“14
11 Pongratz, Ludwig A.: Kritische Erwachsenenbildung. Analysen und Anstöße, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 10. 12 Pongratz, Ludwig A.: Zeitgeistsurfer. Beiträge zur Kritik der Erwachsenenbildung, Weinheim: Beltz 2003, S. 21. 13 Ebd., S. 38. 14 Ebd., S. 39.
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Aus den Brüchen der Moderne, so wird diese Arbeit zeigen, springen die Hochstapelnden hervor. Sie spiegeln mit ihrem Handeln die modernen Erosionsprozesse und können gleichzeitig nur in diesen existieren. Einsinnig der Fluchtlinie der Aufklärung zu folgen und ihre Bedeutung für die Bildung von Erwachsenen zu erschließen, würde bedeuten, sich am Schadenscharakter von Lüge, Täuschung und Hochstapelei für das Individuum sowie die Gesellschaft abzuarbeiten. Zu überlegen, wie man präventiv gegen das Lügen vorgehen kann oder welche Interventionsmöglichkeiten sich im pädagogischen Handeln bieten. Denn: „In der Pädagogik“, so Lallis in ihrer „[p]ädagogische[n] Untersuchung zur wissentlichen Täuschung“, „zeigt sich [...], dass sich die Bewertung, die Lüge sei schädlich, am hartnäckigsten hält.“ 15 Die Schädlichkeit der Lüge als Sünde des Menschen gegen Gott formiert sich in ihrer deutlichsten Ausprägung mit Augustinus und wird in der Aufklärung von Kant in gesellschaftlichen Zusammenhängen weitergedacht. Kant plädiert gegen „ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“16 und schafft u.a. damit ein folgenreiches „System“, was sich anschaulich mit Zweigs Worten wiedergegeben lässt: „Immanuel Kant lebt mit der Erkenntnis wie mit einem ehelich angetrauten Weibe, beschläft sie vierzig Jahre lang im gleichen geistigen Bette und zeugt mit ihr ein ganzes deutsches Geschlecht philosophischer Systeme, von denen Nachkommen noch heute in unserer bürgerlichen Welt wohnen. Seine Beziehung zur Wahrheit ist absolut monogam und ebenso all seiner intellektuellen Söhne: Schelling, Fichte, Hegel und Schopenhauer. Was sie zur Philosophie treibt, ist ein durchaus undämonischer höherer Ordnungswille, ein guter deutscher, fachlicher und sachlicher Wille zur Disziplinierung des Geistes, zu einer ordnungshaften Architektonik des Daseins. Sie haben die Liebe zur Wahrheit, eine ehrliche, dauerhafte, durchaus beständige Liebe: aber in dieser Liebe fehlt vollkommen die Erotik, die flackernde Gier des Zehrens und sich selber Verzehrens [...] Darum bleibt ewig etwas Hausbackenes, etwas Haushälterisches in ihrer Beziehung zur Wahrheit, und tatsächlich hat jeder von ihnen über Braut und Bett sich ein eigenes Haus erbaut: sein gesichertes System.“ 17
Für die Erwachsenenbildung und die Erziehungswissenschaft hat dieses gesicherte System bis heute dauerhafte Folgen, die sich besonders im Umgang mit der Lüge im pädagogischen Handeln zeigen. Darauf verweist Lallis, die einen „Begründungsnot-
15 Lallis, Eleanor: Lügen und Belogenwerden. Pädagogische Untersuchung zur wissentlichen Täuschung, Augsburg: Alonzo 2009, S. 167. 16 Kant, Immanuel: „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“, in: Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Unveränderter, photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnen Ausgabe von Kants gesammelten Werken, Band 8, Berlin: Walter de Gryter & Co. 1968, S. 423-430. 17 S. Zweig: Der Kampf mit dem Dämon, S. 261.
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stand“ innerhalb der Pädagogik konstatiert, der sich aus dem Festhalten an Augustinus’ Ansichten und Kants Ausführungen zur Lüge sowie den dennoch offensichtlich stattfindenden Lügen im Alltagshandeln der Menschen, also auch in pädagogischen Kontexten, speist.18 Es ist Nietzsche, der die Aufmerksamkeit darauf richtet, dass der Mensch im außermoralischen Sinne sowohl nicht mit als auch nicht ohne die Lüge existieren kann. In dieser unaufhebbaren Verknüpfung zeigt sich in Dietzschs Nietzsche-Interpretation ein menschlicher „Überlebenskampf“: „Die Lüge ist also eine mentale Form des Überlebenskampfs; sie ist im Grunde genommen nur eine intelligent gewordene Form der Macht und Gewalt. Man schlägt dem Anderen nicht auf die Nase, man führt ihn an der Nase herum.“19 Die Lüge wird so zu einer Handlung des Menschen in seinen sozialen Verhältnissen. Ihr wohnt, nach Dietzsch, „eine performative Kraft zur Erzeugung von Gegen-Welten“ inne.20 Nicht nur die Wissenschaft, sondern auch der einzelne Mensch kann Aufklärung „unter aufgeklärte Kritik“ nehmen, wie Taylor in seiner Auseinandersetzung mit der „Theorie des kommunikativen Handelns“ von Habermas nahelegt: „Als Handelnder kann ich mich immer fragen, warum ich eigentlich nach einer bestimmten Norm (rational) verfahren soll? Warum soll dies eine Norm sein, der ich mich nicht verweigern kann?“21 Sowohl Taylor als auch Habermas sehen die Antwort auf diese Fragen – wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen – im vernünftigen Gebrauch der Sprache. Diese soll sich nach Habermas in Anlehnung an Weber an den drei „Rationalitätsdimensionen“ „faktische Wahrheit“, „normative Richtigkeit“ und „persönliche Authentizität“ orientieren.22 Diese Dimensionen des rationalen Sprachgebrauchs werden von Hochstaplern gebrochen und überschritten. Sie verfügen in ihrer Rolle als Hochstapler scheinbar nicht über „persönliche Authentizität“, halten sich nicht an die „faktische Wahrheit“ und „normative Richtigkeit“, indem sie täuschen. Sie ‚missbrauchen‘ (scheinbar) die Sprache, weil sie lügen. Dennoch üben sie gesellschaftliche Faszination aus und werden paradoxerweise zum Garanten der Widerspiegelung authentischer gesellschaftlicher Verhältnisse: Ihre Hochstaplerrollen werden zum Anknüpfungspunkt für gesellschaftliche Kritik auserkoren.
18 E. Lallis: Lügen und Belogenwerden, S. 167. 19 Dietzsch, Steffen: Kleine Kulturgeschichte der Lüge, Leipzig: Reclam 1998, S. 83. 20 Ebd., S. 84. Vgl. und siehe ausführlicher E. Lallis: Lügen und Belogenwerden, S. 91ff. 21 Taylor, Charles: „Sprache und Gesellschaft“, in: Axel Honneth/Hans Joas (Hg.), Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns“, 3., erweiterte und aktualisierte Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 4156, hier S. 45. 22 Vgl. ebd.
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1.2 HOCHSTAPELN – ÜBER DIE RELEVANZ EINES PHÄNOMENS IN DER VERGANGENHEIT FÜR DIE ERWACHSENENBILDUNG In dieser Arbeit werden die lügnerischen sowie täuschenden Handlungen und moralischen Überschreitungen der Hochstapler Georges Manolescu, Ignatz Straßnoff und Harry Domela, ihre ‚Gegen-Welten‘ und ihr ‚In-der-Welt-Sein‘ nachgezeichnet. Die Analyse ihrer biographischen Erzählungen hinsichtlich ihrer Bildungsprozesse – eingebettet in die methodischen und theoretischen Überlegungen der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung – soll der Erwachsenenbildung und der Erziehungswissenschaft Zugänge zum Zusammenhang von Bildung, Lüge, Täuschung und Hochstapelei ermöglichen. Dass ich mich diesen Hochstaplern und ihren Bildungsgeschichten widme, hat folgende Gründe: Zum einen lässt sich ihre biographische Phase der Hochstapelei vollständig erfassen und innerhalb ihrer Gesamtbiographie einordnen, d.h. bekannt sind sowohl die Umstände, die zum Entschluss des Hochstapelns führen, das Leben als Hochstapler und auch die Folgen der Hochstapelei für ihr weiteres Leben bis zu ihrem Tod. Zum anderen birgt der historische Gegenstand diese Möglichkeit in sich: „Man lernt die gesellschaftlichen Zusammenhänge des eigenen Lebens besser verstehen, wenn man sich in die des Lebens von Menschen anderer Gesellschaften vertieft. [...] [Das] kann den Zugang zum Verständnis der Zusammenhänge von Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen und Werthaltungen erleichtern.“23
Wie die heutigen Hochstapler haben Manolescu, Straßnoff und Domela zu ihren Lebzeiten die Gesellschaft gleichzeitig fasziniert, irritiert und inspiriert. So auch den Rechtsanwalt Fuchs in den 1930er Jahren zu seinem Artikel „Der Hochstapler“ im Kriminalmagazin: „Die Lüge ist so alt wie das Menschengeschlecht! [...] Die meisten Lügen beruhen auf dem Bedürfnis der Menschen, vor der Welt mehr zu gelten, als sie in Wirklichkeit sind“, mit dieser Einschätzung beginnt Fuchs seinen Artikel und sinniert weiter, „denn schon immer regiert der Schein das Leben, und das Getue wurde meist höher gewertet als das Tun. In dieser Welt des Scheins, gleichsam als ihre Karikatur, mußte der Hochstapler entstehen.“24 Georges Manolescu, Ignatz Straßnoff und Harry Domela sind Zeitgenossen von Rechtsanwalt Fuchs. Sie veröffentlichen ihre lebensgeschichtlichen Erzählungen in-
23 Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, 8. Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 115. 24 Fuchs, Herbert: „Der Hochstapler“, in: Das Kriminal-Magazin 2 (1930/31), S. 89-90, hier S. 89.
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nerhalb des Zeitraums vom Übergang der Kaiserzeit hin zur Weimarer Republik. In dieser Zeit, von Peukert als Klassische Moderne tituliert25, boomt das öffentliche Interesse am Hochstapler: Auf dem Buch- und Pressemarkt finden sich Biographien, Romane, Zeitungsartikel und erste psychologische Untersuchungen, deren Autoren erzählen oder analysieren, warum und wie hochgestapelt wird. ‚Reale‘ Hochstapler wie zum Beispiel Wilhelm Voigt, der „tödlich beleidigt [war], als man ihm erklärte, es sei ihm begegnenden Offizieren aufgefallen, daß er in der Offiziersuniform keine gute Figur gemacht habe“, die „Hochstaplerin Mathilde Walter, die unter allerlei hochtönenden ‚Pseudonymen‘ umfangreiche Schwindeleien beging und sich dabei meist auf die Wirkung ihres ‚sex appeals‘ verließ“, der „falsche Indianerprinz Tavanna Ray, genannt ‚Weißer Elch‘, der uneheliche Sohn eines amerikanischen Landarbeiters, [der] im Ornat eines Indianerhäuptlings in Italien sogar vom Papst empfangen“ wurde, „Ludwig, Freiherr von Egloffstein“, dem „sich im Weltkriege alle Berliner Ministerzimmer [öffneten], wenn er als bulgarischer General im Schmucke des Pour le mérite erschien“ oder „Martha Kupfer“, die als „Frau eine größere Verstellungsgabe besitzt als der Mann“, wecken das öffentliche Interesse. 26 Sie täuschen in ihrem sozialen Umfeld Rollen, Kompetenzen, Qualifikationen und Status quo vor, machen sich in hochstaplerischer Absicht, die gesellschaftlich etablierten Erwartungen an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht und an in diesen verankerten Rollen zunutze, um ihre Mitmenschen zu betrügen. Harry Domela stapelt bis zu seiner Verhaftung am 7. Januar 1927 hoch: Als Enkel des exilierten Kaisers, Wilhelm von Preußen, residiert er in einem Erfurter Hotel, besichtigt Kraftwerke und stattet den Rathäusern in Gotha und Dessau einen ‚offiziellen‘ Besuch ab. Als Abkomme der Hohenzollerndynastie nimmt er Theaterbesuche wahr, wo ‚sein‘ Volk ihm huldigt, und trägt sich in die Goldenen Bücher verschiedener Städte ein. Nach seiner Festnahme wird er in einem von der Öffentlichkeit aufmerksam verfolgten Gerichtsverfahren zu einer Gefängnisstrafe von sieben Monaten verurteilt. Im Gefängnis schreibt er nach eigenen Angaben seine Biographie „Der falsche Prinz“, die 1927 im Berliner Malik Verlag erscheint. 27 Sie wird ein Verkaufsschlager und mit Harry Domela in der Hauptrolle verfilmt. Der Hochstapler von einst wandelt sich zum Autor, Schauspieler, Kinobesitzer und Sol-
25 Peukert, Detlev J. K.: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987. 26 Fuchs, Herbert: „Außenseiter der Gesellschaft“, in: Das Kriminal-Magazin 2 (1930/31), S. 1047-1048. 27 Domela, Harry: Der falsche Prinz. Leben und Abenteuer von Harry Domela. Im Gefängnis von ihm selbst geschrieben Januar bis Juli 1927, Berlin: Malik 1927. Ich verwende folgende Ausgabe: Domela, Harry: Der falsche Prinz. Abenteuer und Leben von Harry Domela, herausgegeben von Stephan Porombka, Berlin: Bostelmann & Siebenhaar 2000.
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daten im Spanischen Bürgerkrieg. Sein späteres Leben verbringt er als Staatenloser in Südamerika, wo er zurückgezogen lebt, aus Angst, seine Vergangenheit könnte ihn einholen. Ignatz Straßnoff stapelt „aus Passion“ hoch und gibt seine hochstaplerischen Rollen, die ihn überwiegend als Husarenoffizier Geldquellen erschließen lassen, auf, weil es ihn nicht mehr „lockt [...], den Beruf eines Hochstaplers auszuüben, wo fast jeder zweite Mann einer ist.“28 Er blickt in seinen Memoiren mit größerem Zeitabstand als Domela auf sein Leben zurück. Sein Leben als Hochstapler hat er zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner Biographie im Jahr 1926 nach eigenen Angaben zehn bis fünfzehn Jahre hinter sich gelassen. Sie trägt den Titel „Ich, der Hochstapler“ und fasst seine Erlebnisse als Betrüger und Heiratsschwindler zusammen. Der Hochstapler von einst will sich zum „Haus- und Hofphotographen“ oder zum „Schreiber“ wandeln und verdient in den 1930er Jahren als Schauspieler in seinem Heimatland Ungarn sein Geld.29 Georges Manolescu stapelt nach seiner Verhaftung hoch: Er verfasst in kürzester Zeit zwei Biographien, die seinen Weltruhm als Hochstapler begründen werden. In der ersten Biographie krönt er sich zum „Fürst der Diebe“, um sich im Anschluss daran als „gescheitert“ zu präsentieren und „aus dem Seelenleben eines Verbrechers“ zu berichten. Seine Biographien erscheinen im Jahr 1905 im Verlag Paul Langenscheidt.30 Auch sie werden zu Bestsellern und spiegeln das rege öffentliche Interesse an seiner Person wieder. Dieses gründet sich insbesondere auf seinen aufsehenerregenden Prozess, in dem ihm attestiert wird, psychisch krank zu sein. Manolescu jedoch beharrt darauf, dass auch der Wahnsinn hochgestapelt sei. Nur kurze Zeit ist ihm der Ruhm als Bestsellerautor vergönnt: Nur drei Jahre nach dem Erscheinen seiner Biographie verstirbt er. Manolescu, Straßnoff und Domela weisen sich in ihren Biographien als gebildet aus: Sie favorisieren humanistische Bildungsideale, geben sich der Selbstbildung in Theatern, Museen oder auf Reisen hin, betonen ihre literarischen Interessen oder sehen in ihren Hochstapeleien eine angemessene Reaktion auf gesellschaftliche Zustände und Veränderungen. Manolescu, Straßnoff und Domela ordnen in ihren Biographien ihre verschiedenen Hochstaplerrollen, die sie im Laufe ihres Lebens eingenommen haben und begründen, wie sie zu Hochstapelnden wurden. Sie geben ihrer subjektiv notwendigen Wandlung zum Hochstapler Kohärenz und Konsistenz in le-
28 Straßnoff, Ignatz: Ich, der Hochstapler, Berlin: Die Schmiede 1926. Ich verwende folgende Ausgabe: Straßnoff, Ignatz: Ich, der Hochstapler, Berlin: Hunia 1949, S. 10. 29 Ebd., S. 189. 30 Manolescu, Georges: Ein Fürst der Diebe. Memoiren. Mit Bildnis des Verfassers und Anhang, Berlin: Paul Langenscheidt 1905; Manolescu, Georges (Fürst Lahovary): Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers, Berlin: Paul Langenscheidt 1905.
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bensgeschichtlichen Zusammenhängen. Retrospektiv reflektierend erklären die Hochstapler ihre Lügen und Täuschungen als Reaktionen auf als konfliktreich und krisenhaft empfundene Lebenssituationen. In ihren Biographien lassen sich Reflexionen über Welt- und Selbstverhältnisse finden, die diese als Gegenstand erziehungswissenschaftlicher und erwachsenenbildnerischer Biographieforschung interessant werden lassen. Vom Standpunkt der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung definiert Marotzki Bildung als den „reflexiven Modus des Menschlichen In-der-Welt-Seins.“31 Diesen Bildungsprozessen, deren „ Selbstvergewisserung und Orientierung in gesellschaftlichen Verhältnissen“, widmet sich diese Arbeit und betrachtet die Hochstapler in ihrem In-derWelt-Sein, über das sie in ihren Biographien Auskunft geben.32 Rechtsanwalt Fuchs beschäftigt sich in seinem Artikel auch mit den Motiven der Hochstapler: „Der wahre Hochstapler begnügt sich aber nicht damit von einer besseren Welt des Scheins nur zu träumen, vielmehr versucht er mit seinem ausgeprägten Triebe, im Sinne seiner Phantasie, aktiv zu werden, diese Träume auf Kosten seiner Mitwelt zu verwirklichen.“33 Doch Hochstapler agieren nicht nur auf Kosten ihrer Mitwelt im Sinne ihrer Phantasie, sondern sie faszinieren diese auch, weil sie mit ihren Lügen und Täuschungen der Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Ihre Täuschungsmanöver und Lügengeschichten werden als (unterhaltsame) Gesellschaftskritik verstanden, ihre Handlungen als Reaktionen auf gesellschaftliche Zustände interpretiert. Die Hochstapler „mit ihrer Tendenz zur ‚pseudologica phantastica‘“, so Porombka, „gelten [...] seit der Jahrhundertwende [...] als Ausdruck des irritierten Verhältnisses zu einer Wirklichkeit, die sich durch gesellschaftliche, technologische und mediale Umbrüche radikal verändert.“ 34 „Der Hochstapler wird zum Erfolgsmodell des Lebens- und Überlebenskünstler in der modernen Gesellschaft. [...] Der Hochstapler steht nicht mehr für den Rückfall, sondern für den Fortschritt. Er ist nicht primitiv, sondern gewitzt. Anstatt an der Modernisierung der Gesellschaft
31 Marotzki, Winfried: „Bildungstheorie und Allgemeine Biographieforschung“, in: Krüger/ Marotzki, Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung (2006), S. 59-70, hier S. 61. 32 Ebd. 33 H. Fuchs: Außenseiter der Gesellschaft, S. 1048. 34 Porombka, Stephan: „Nachwort. Pseudologica phantastica. Harry Domela – die Legende ohne Ende“, in: Harry Domela, Der falsche Prinz. Abenteuer und Leben von Harry Domela, herausgegeben von Stephan Porombka, Berlin: Bostelmann & Siebenhaar 2000, S. 249-263, hier S. 259.
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zugrundezugehen, erkennt er die Spielregeln seiner Zeit und variiert sie – jenseits von Gut und Böse – für seine Ziele und Zwecke.“35
Die kriminelle Energie, die Pseudologica phantastica oder die pathologischen Lügen, die bei einigen Hochstaplern sicherlich auch eine Rolle spielen, geraten unter diesem Fokus auch in meiner Arbeit in den Hintergrund. Porombka zeigt exemplarisch eine gesellschaftskritische Interpretationsfolie der Hochstapelei auf, die sich u.a. in der Einschätzung Tucholskys über Harry Domelas Wirken finden lässt. Tucholsky charakterisiert den Hochstapler Domela als „Spion“, der „in ein gesellschaftlich höheres Lager“ eindringt.36 Domelas Leben bedeutet für ihn „eine Hochstaplerkomödie großen Stils. Und hier wird die Sache eminent politisch. [...] Dieses Buch ist ein einwandfreier Beweis jener These, die hier seit Jahren verfochten wird: In Deutschland hat sich in der herrschenden Klasse so gut wie nichts geändert.“37 Lexikonartikel verweisen auf die Bedeutung von Bildung für den Hochstapler. Besonders das Spiel der Hochstapler, die zumeist aus bürgerlichen Verhältnissen stammen, mit den vermeintlich gebildeten Schichten wird darin als bemerkenswert erachtet. „Hochstapler nennt man Gauner, die durch feines Auftreten sich den Anschein vornehmer Leute zu geben wissen und meist auch nur in den Kreisen der gebildeten Gesellschaft ihr Wesen treiben. Daß erst seit 1850 gebrauchte Wort (früher hatte man dafür die Ausdrücke Gaudieb und Industrieritter) gehört ursprünglich der Gaunersprache an und kommt als Stabuler (soviel wie Brotsammler, Bettler) schon im 16. Jahrhundert vor. Neuerdings wird das Wort abgeleitet von Stapfe (Fußstapfe) und den davon gebildeten Worten Stapfen, Stappen, Staffen (gehen, wandern). So hießen früher Studenten, die in den Ferien Fußwanderungen machten und in den Pfarrhöfen um Mittagmahl und Nachtlager vorsprachen.“ 38
Auch Manolescu, Straßnoff und Domela unternehmen zahlreiche Reisen und betreten die Kreise der gebildeten Gesellschaft. In ihren biographischen Erzählungen präsentieren sie als in dieser Arbeit zu Wort kommende Stellvertreter ihrer Zunft Reflexionen über ihr Leben als Hochstapler. Sie veranschaulichen ihr Spiel mit den facettenreichen gesellschaftlichen Erwartungen an bestimmte Rollen, trotzen gesellschaftlichen Konventionen und Moralvorstellungen und nutzen diese gleichzeitig, um mit Lügen und Täuschen in der Gesellschaft Fuß fassen zu können. Ihre hochstapleri-
35 Ebd., S. 260. 36 Tucholsky, Kurt: „Mit Rute und Peitsche durch Preußen-Deutschland“, in: Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke in 10 Bänden, Band 5 (1927), herausgegeben von Marry Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1985, S. 284-289. 37 Ebd., S. 285-287. 38 Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9, Leipzig 1907, S. 400, Herv. i.O.
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schen Handlungen fußen auf einem gesellschaftlichen Erwartungshorizont, der auch Aspekte ‚wahrhaftiger‘ Bildung und Erziehung zur Wahrhaftigkeit beinhaltet. Bildung als Markenzeichen des Bürgertums soll gesellschaftliche Partizipation und Einordnung ermöglichen, das Individuum zu einem moralisch guten, Vernunft und Verstand nutzenden Menschen werden lassen, der sich in wahrhaftiger Absicht mit dem Wahren der Welt auseinandersetzt. Die Hochstapler wie Manolescu, Straßnoff und Domela widersprechen diesen aufklärerischen und humanistischen Bildungsidealen mit ihren Täuschungen und Lügen, befürworten sie jedoch gleichzeitig in ihren biographischen Erzählungen – auch um ihre Taten zu rechtfertigen und einen Legitimationshintergrund für ihre Geständnisse zu haben. Im reflexiven Zusammenspiel von Selbstbildungs- und Läuterungsprozessen versuchen die Hochstapelnden, den moralischen Anstrich der Wahrhaftigkeit mittels ihrer Biographien zurückzuerlangen. Bereits die zeitgenössische Rezeption der Hochstaplerbiographien zeigt ein öffentliches Interesse an dem Überschreiten aufgeklärter Demarkationen, indem sie die (kriminellen) Außenseiter in den Blick nimmt. Claßen, die sich u.a. ebenfalls mit den Biographien von Manolescu, Straßnoff und Domela beschäftigt, konstatiert für die Jahre zwischen 1900 und 1930 ein „vielschichtige[s] Spektrum von Verbrechensdarstellungen“, die in der Einzigartigkeit ihrer bearbeiteten Fälle auch Gemeinsamkeiten aufweisen: „Obwohl jeder spektakuläre Kriminalfall eine spezifische Brisanz in bezug auf seine öffentliche ‚Präsentation‘ und Publikumswirksamkeit entwickelt, werden bei einigen hier behandelten Falldarstellungen gemeinsame Strukturen und parallele Komponenten deutlich. Ohne Zweifel erweist sich der Diskussionsgegenstand ‚Kriminalität‘ in der politisch und wirtschaftlich sehr unruhigen Epoche als ‚Zündstoff‘ für gesellschaftliche Auseinandersetzungen.“39
In diesem Zeitraum werden auch die Hochstapler „Sinnbilder des Krisenzustandes der Gesellschaft“.40 Sie veranschaulichen ihre Vereinzelung in einer „unduldsamen Umwelt“, wie Claßen für eine Vielzahl der Veröffentlichungen von Kriminellen feststellt: „Dementsprechend erscheinen in ihren Darstellungen selbst Gewaltverbrecher als ‚normale‘, zwangsläufige Produkte der sie umgebenden Gesellschaft, als ‚Psychopathen unter Psychopathen‘. Die literarische Reihe besitzt eine auffallende Affinität zu den Autobiographien und Ver-
39 Claßen, Isabella: Darstellung von Kriminalität in der deutschen Literatur, Presse und Wissenschaft 1900-1930, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 1988, S. 321. 40 Ebd., S. 323.
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brechensdarstellungen von Kriminellen, die ebenfalls aus der Außenseiter-Perspektive heraus massive Justiz- und Gesellschaftskritik üben.“41
Manolescu, Straßnoff und Domela, so werden die Ergebnisse der Analyse ihrer Biographien auch zeigen, verstehen sich selbst aus unterschiedlichen Motiven heraus als Außenseiter der Gesellschaft, die nach sozialer Zugehörigkeit streben, vielfältige Umbruchsituationen erleben und immer wieder zurückgeworfen auf sich selbst leben (wollen). „Gerade dann, wenn überlieferte Weltbilder in Frage gestellt werden, wenn tradierte Normen ihre Selbstverständlichkeit einbüßen, wenn der einzelne auf sich selbst zurückgeworfen wird, wenn neue Umgangsformen mit der Wirklichkeit gefunden werden müssen, erscheint Erwachsenenbildung als etwas besonders Dringliches“, schreibt Tietgens und eröffnet mit dieser gesellschaftlichen Bedeutung von Erwachsenenbildung eine Perspektive, Hochstapler und ihre Bildungsprozesse zu betrachten und für die Erwachsenenbildung als relevant erscheinen zu lassen. 42 Bereits die sich in der Kaiserzeit und Weimarer Zeit weiter etablierende Erwachsenenbildung nimmt sich den neuen Umgangsformen der Wirklichkeit an. Sie markiert in ihren verschiedenen Ausrichtungen die Notwendigkeit von Bildung, aus der auch die Hochstapler eine Tugend in ihren Biographien machen werden: Bildung als Schlüssel, der die Tür zur gesellschaftlichen Teilhabe öffnet, gesellschaftlichen Fortschritt und sozialen Aufstieg ermöglicht.43 Hochstapler jedoch schaffen sich mittels Täuschungen und Lügen eine eigene Wirklichkeit, die im Schein ihrem Sein entspricht, und zeigen in ihren biographischen Erzählungen auch, dass sich Bildung in Teilen des adelstreuen Bürgertums und der Aristokratie als des Kaisers neue Kleider erweisen kann. Neben diesen gesellschaftskritischen Aspekten legen Manolescu, Straßnoff und Domela in ihren Biographien dar, wie sie zu der Erkenntnis kommen, dass sich Wirklichkeit über Lüge und Täuschen ändern lässt. Dies korrespondiert mit folgender Schlussfolgerung von Kern: „Ihre Einsicht in die Veränderbarkeit der Welt nutzen diese Schelme, um sich zu befreien: von gesellschaftlichen Konventionen, von der Macht des Faktischen, von der Hoffnungslosigkeit
41 Ebd., S. 323-324. 42 Tietgens, Hans: Einleitung in die Erwachsenenbildung, 2. Auflage, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991, S. 5. 43 Vgl. zum Beispiel Olbrich, Josef: Geschichte der Erwachsenenbildung in Deutschland, Opladen: Leske + Budrich 2001; Zeuner, Christine: „Erwachsenenbildung. Begründungen und Dimensionen – ein Überblick aus historischer Perspektive“, in: Christine Zeuner (Hg.), Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online. Fachgebiet: Erwachsenenbildung, Weinheim/München: Beltz Juventa 2009, S. 1-37.
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und vom Fluch der Vergangenheit. Zugleich zeigen sie auf die Grenzen des Erfindens. Sie untersuchen die Grenze von Möglichkeit und Wirklichkeit.“44
Auch Henningsen, einer der wenigen, die sich aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive mit der Lüge auseinandersetzen, beschäftigt sich mit den Möglichkeiten, Wirklichkeit zu erfassen, zu verändern, und verbindet die Lüge mit der Freiheit des Subjekts: „Die Nicht-Feststellbarkeit des Menschen, der keine ‚Natur‘ hat, die Ambivalenz und uferlose Interpretierbarkeit der Kommunikationsphänomene, die Undurchschaubarkeit des komplizierten sozialen Systems, in dem Fäden aus Lüge und Wahrheit ununterscheidbar miteinander verwoben sind, die Nicht-Erzwingbarkeit normgerechten Verhaltens – alles das scheint pädagogischem Bemühen den Boden wegzureißen. Wenn alles fließt, wie sollte dann Bildung möglich sein?“45
Henningsen legt in seiner Antwort auf die Frage dar, dass eine durch den Historismus durchgegangene Aufklärung nicht mehr die konsequente aufklärerische Position vertreten könne, wonach nichts Festes, weder Korsettstangen der Moral noch Maßstäbe der Wahrheit dem Bewusstsein von außen als Stütze einoperiert werden könne und ein Subjekt, das über ein Gewissen verfügt, vorausgesetzt werden dürfe. „Dennoch gibt es einen quasi-archimedischen Punkt: Er ist weder ‚drinnen‘ noch ‚draußen‘, und er ist auch nicht unzerstörbar und vorgegeben. Ich meine den erworbenen Zusammenhang des Wissens, die sprachlich geschlossene Erfahrung [...]: das, was ich selbst erlitten habe, selbst gesehen und betastet habe, selbst erlitten habe. [...] Damit habe ich einen Punkt, auf den ich alles andere beziehe, von dem ich Maßstäbe ableite, auf den hin ich integriere.“46
Dieser archimedische Punkt, der auf die Ambivalenz menschlicher Existenz zwischen Subjekt und Objekt, zwischen drinnen und draußen, zwischen Selbst- und Fremdbildern, individuellen Absichten und gesellschaftlichen Erwartungen verweist, beinhaltet die Möglichkeiten, diese Erfahrungen sprachlich zu gestalten und anderen intersubjektiv mitzuteilen. Er kann einen Ort haben: die Biographie des Menschen.
44 S.H. Kern: Die Kunst der Täuschung, o.S. 45 Henningsen, Jürgen: Lüge und Freiheit. Ein Plädoyer zur politischen Bildung, WuppertalBarmen: Jugenddienst-Verlag 1966, S. 46. 46 Ebd., S. 46-47.
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1.3 FRAGESTELLUNGEN, PROBLEMAUFRISS UND INTERDISZIPLINÄRE BEZÜGE Erwachsenenbildung sowie erziehungswissenschaftliche Biographieforschung nehmen sich diesem Dreh- und Angelpunkt sprachlich ge- und erschlossener Erfahrungen an. Ihre Aufgabe ist es auch, die ambivalenten Verstrickungen des Biographischen, der Wirklichkeit und des Subjektes aufzuspüren, Brüche in Biographien als Anlass zu nehmen, zu fragen, wie diese Brüche zustande kommen und welche Perspektiven Menschen entwickeln, um damit umzugehen. Dabei hat sie auch zu berücksichtigen, dass Biographien von dem Menschen erzählen, der sie erlebt, der sich in der Biographie entwirft und diesen Entwurf in den Kontext oft als widersprüchlich empfundener gesellschaftlicher Zustände stellt. Erwachsenenbildnerische und erziehungswissenschaftliche Biographieforschung sollten auch die Eigenwilligkeit der Biographen in den Blick nehmen: „Biografische Bildungsprozesse verlaufen auf eigenwillige Weise, sie ermöglichen unerwartete Erfahrungen und überraschende Transformationen, die oft vom lernenden Subjekt selbst nicht vorhergesehen waren oder erst im Nachhinein reflektiert werden, aber dennoch eine eigene ‚Richtung‘ verfolgen.“47
Fragestellungen und Problemaufriss Können also der von Henningsen angesprochene quasi-archimedische Punkt, die sprachliche geschlossene Erfahrung, oder die von Alheit und Dausien angemerkte eigenwillige Weise dazu führen, Täuschungen und Lügen als Mittel einzusetzen, um persönliche Freiheit oder überraschende Transformationen zu schaffen? Wird eine eigene Form der Selbstverwirklichung geschaffen, dessen Realisierung – bei all ihrer Unsozialität, ihrer kriminellen Energie und ihrer moralischen Fragwürdigkeit – auch über Lügen, Täuschen und Hochstapeln gesucht wird? Wenn, wie Pongratz es formuliert, Bildung das Moment der Unterbrechung in sich trägt, so ist zu fragen, was in Bildungsprozessen dieses auslöst, welche herrschende Realität ihm vorausgeht und welche Folgen die Unterbrechung für das Subjekt hat. Wenn Hochstapler mit ihren Lügen und Täuschungen eine Unterbrechung der herrschenden Realität vornehmen, denen die Erkenntnis von dieser und ihren Auswirkungen auf ihr Leben vorausgeht, welche gesellschaftlichen Folgen haben sie mit ihrem von gängigen Moralvorstellungen abweichenden Handeln zu tragen? Kann
47 Alheit, Peter/Dausien, Bettina: „Bildungsprozesse über die Lebensspanne. Zur Politik und Theorie lebenslangen Lernens“, in: Tippelt/Schmidt, Handbuch Bildungsforschung (2010), S. 713-734, hier S. 728.
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man von Bildungsprozessen sprechen, wenn diese in sich die Dimensionen des Lügens und Täuschens tragen? Und überhaupt: Was hat das denn mit (Erwachsenen-) Bildung zu tun? Dies sind die erkenntnisleitenden Fragestellungen, mit denen ich an die Biographien der Hochstapler herangetreten bin. Sie korrespondieren mit meinem Interesse an mehrdeutigen, brüchigen Bildungsprozessen, die sich mit der adjektivischen Kategorie „erfolgreich“ nur schwer in Einklang bringen lassen. Insbesondere den Ambivalenzen, dem Nicht-Identischen, dem Überschreiten von Perspektiven, den Zwischen- und Suchbewegungen sowie den krisenhaften Situationen von Bildungsprozessen von Erwachsenen und ihrer (narrativen) Darstellung und Reflexion in Biographien widmet sich diese Arbeit. All diese Facetten scheinen sich in der gesellschaftlichen Figur des Hochstaplers wiederzufinden. Zu fragen ist deshalb, ob und wie Bildungsprozesse erfasst werden können, in denen Individuen aufgrund reflexiver Auseinandersetzung mit ihrem Selbst- und Weltverhältnis eine Wandlung zum Hochstapler eingehen. Kann man von einer für Bildungsprozesse relevanten Wandlung sprechen, wenn diese in sich die Dimension des Hochstapelns trägt, um ein anderes WeltSelbst-Verhältnis eingehen zu können? Einen ersten Hinweis darauf, dass Hochstapelei etwas mit Bildung zu tun haben könnte, fand ich beim Lesen der Dissertation von Kern, der unter Bezugnahme auf die lexikalische Definition des Hochstaplers der Brüder Grimm hinsichtlich Thomas Manns „Felix Krull“ überlegt: „Diese Definition, die Hochstapelei nicht am Reichtum, sondern an der Bildung festmacht, weist auf einen weiteren Kontrast im Charakter des Erzählers Krull hin: Das Hochstapeln setzt eine soziale Hierarchie voraus und ist grundsätzlich eine gesellschaftliche Tätigkeit, so daß die frühere Hochstapelei im Gegensatz zur jetzigen Zurückgezogenheit des Bekenners steht. Der Mann hat offenbar eine Entwicklung durchlebt.“48
Um den Entwicklungen und Bildungsprozessen der Hochstapler auf die Spur zu kommen, rekurriert die Arbeit auch auf den Zusammenhang von Bildung und Biographie und dessen Relevanz für den erwachsenenbildnerischen Diskurs (vgl. Kapitel 4.2.1). Besonders die Arbeiten von Pongratz beschreiben das dieser Arbeit zugrunde liegende (kritische) Bildungsverständnis. Eine vertiefte Auseinandersetzung erfolgt mit den Überlegungen von Marotzki, Koller und Alheit als Vertreter der erziehungswissenschaftlichen bzw. der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung (vgl. Kapitel 4.2.2, 4.2.3, 4.2.4), die sich mit ambivalenten, mehrdeutigen und brüchigen Bildungsprozessen am Beispiel eines Hochstaplers, eines künstlichen Lebewesens
48 S.H. Kern: Die Kunst der Täuschung, S. 99. Siehe: Mann, Thomas: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, 50. Auflage, Frankfurt am Main: Fischer 2008.
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und eines Schriftstellers beschäftigen, dessen Bildungsprozess im biographischen Erzählen verhaftet bleibt.49 Marotzki, Koller und Alheit machen in diesen Analysen außerdem auf Aspekte aufmerksam, die für die Interpretationen der Biographien sowohl gewinnbringend Charakter haben als auch ein bildungs- und biographietheoretisches Weiterdenken ermöglichen. Gemeinsam ist ihren Ansätzen, dass Bildungsprozesse als reflexive Verortung des Menschen in Selbst-Weltverhältnissen aufgefasst werden, die in Biographisierungsprozessen ihren Ausdruck finden. Diese lassen sich von Forschenden rekonstruieren und im Hinblick auf Bildungsprozesse analysieren. Hauptaugenmerk der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung während der Analyse von biographisch verorteten Bildungsprozessen sind vollständige, erfolgreiche Wandlungen von Selbst-Weltverhältnissen, die sich aus der Reflexion über das eigene Leben in der Welt ergeben und die sich in Biographisierungsprozessen in Form von Welt- und Selbstreferenzen sprachlich aufspüren lassen. Bildung wird verstanden als ein „abgeschlossener Vorgang der Ersetzung eines etablierten durch ein neues Welt- und Selbstverhältnis.“50 Problematisch wird eine solche Definition dann, so zeigt es sowohl das theoretische Grundgerüst dieser Arbeit zum Zusammendenken von Lüge, Täuschung, Hochstapelei, Biographie und Bildung als auch die Auswertung der biographischen Erzählungen der Hochstapler, wenn • erlebte Krisenzustände so massiv sind, dass es keine Möglichkeit gibt, eine vom
Subjekt angestrebte vollständige Wandlung des Welt- und Selbstverhältnisses auf individueller oder gesellschaftlicher Ebene zu realisieren, oder • Wandlungen eingegangen werden – und hier springt der Hochstapler in die Bresche – die im Schein oder zwischen Sein und Schein gefunden werden, in denen sich Authentizität und gesellschaftliche Identitätserwartungen vermischen oder miteinander konkurrieren; • Wandlungen davon getragen werden, dass Geschichten über Menschen bekannt sind oder verschwinden, dass sie gesellschaftliche Widersprüchlichkeiten aufheben und gleichzeitig in sich binden. Mittel der Realisierung von diesen Wandlungen sind dann Lüge, Täuschung oder Hochstapeln.
49 Alheit, Peter: „Biographie und ‚modernisierte Moderne‘. Überlegungen zum vorgeblichen ‚Zerfall‘ des Sozialen“, in: Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung 1 (2000), S. 151-165; W. Marotzki: Bildungstheorie und Allgemeine Biographieforschung, S. 59-70; Koller, Hans-Christoph: „Negativität und Bildung. Eine bildungstheoretisch inspirierte Lektüre von Kafkas ‚Brief an den Vater‘“, in: Dietrich Benner (Hg.), Erziehung – Bildung – Negativität (= Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 49), Weinheim u.a.: Beltz 2005, S. 136-149. 50 Koller, Hans-Christoph: Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Stuttgart: Kohlhammer 2012, S. 169, Herv. i.O.
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Diese Dimensionen werden von Koller, Marotzki und Alheit zwar angedacht, aber vor allem vor dem Hintergrund reflektiert, ob derartige Wandlungen und Zustände überhaupt Resultate von Bildungsprozessen sind oder als nicht erfolgreiche Bildungsprozesse zu interpretieren sind. Um Wandlungen von Selbst- und Weltverhältnissen in Bildungsprozessen sichtbar machen zu können, offeriert die bildungstheoretisch orientierte Biographieforschung die Möglichkeit, sie als Bildungsgestalten zu rekonstruieren.51 Bildungsprozesse zeichnen sich dann unter Einnahme ihrer Perspektive und kongruent zu den Wandlungen dadurch aus, dass eine Bildungsgestalt in eine andere transformiert wird. Sie zeigen sich in einem biographischen Verlauf als Abfolge von Wandlungen oder als Gebrauch von Welt- und Selbstreferenzen innerhalb der biographischen Erzählung. Vorläufig kann „Bildungsgestalt“ an dieser Stelle folgendermaßen definiert werden: „Die biografischen Erzählungen und Argumentationen sind als individuelle Selbstreflexionen auf den Prozess der eigenen Entwicklung und als Selbstdarstellung der früheren und gegenwärtigen Standpunkte zu verstehen. Sie sind zu einem gegebenen Zeitpunkt Momentaufnahmen einer Reflexion auf die Kontinuitäten und Diskontinuitäten des eigenen Lebens. Die Äußerungen des Individuums können als eine ‚Bildungsgestalt‘ rekonstruiert werden, d.h. als ein Zusammenhang vieler Vorstellungen und Urteile, Intentionen und Handlungen. Mit ‚Bildungsgestalt‘ ist dabei ein ‚Verhältnis von Mensch und Welt‘ gemeint, das einen in sich differenzierten Zusammenhang von einer historischen Lage der Welt und einer subjektiven Verfasstheit und Stellung zu den objektiven Bedingungen, zu andern und sich darstellt – als Ergebnis einer Geschichte der Auseinandersetzung dieses Menschen mit den Gegebenheiten, Zwängen und Anforderungen seiner Umwelt zu einem bestimmten Zeitpunkt und als Grundlage einer weiterer [sic!] Auseinandersetzung und möglichen Entwicklung.“52
Die Diskussion von ausgewählten Ansätzen der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung in dieser Arbeit zeigt, dass unterschiedliche Annahmen zwischen dem Resultat einer Bildungsgestalt im Sinne einer im Biographisierungsprozess diachron zu verortenden Wandlung und dem synchronen Gebrauch der Bildungsgestalt im Hinblick auf die Prämisse eines abgeschlossenen Vorgangs von Wandlungsprozessen in gesellschaftlichen Welt- und individuellen Selbstverhältnissen bestehen.
51 Vgl. Marotzki, Winfried: „Morphologie eines Bildungsprozesses. Eine mikrologische Studie“, in: Dieter Nittel/Winfried Marotzki (Hg.), Berufslaufbahn und biographische Lernstrategien. Eine Fallstudie über Pädagogen in der Privatwirtschaft, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 1997, S. 83-117, hier S. 84. 52 Wigger, Lothar: „Über Ehre und Erfolg im ‚Katz-und-Maus-Spiel‘. Versuch einer holistischen Interpretation der Bildungsgestalt eines jungen Erwachsenen“, in: Koller/Wulftange, Lebensgeschichte als Bildungsprozesse? (2014), S. 47-78, hier S. 52.
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Diese Komplexität erweist sich als problematisch für die Rekonstruktion der Bildungsprozesse von Hochstaplern, weil sie sich insbesondere dadurch auszeichnen, dass ‚Wirklichkeit‘ überschritten wird. Es werden Wandlungen eingegangen, die sowohl normativ gesetzte Grenzen außer Acht lassen als auch Folgewirkungen für die weitere Entwicklung des Subjektes haben. Um diesen spezifischen Komponenten der Biographisierungs- und Bildungsprozesse von Hochstaplern auf die Spur zu kommen und um ihren Bildungsprozessen eine Gestalt zu geben, erweitere ich das Konzept der Bildungsgestalten um den Aspekt ihrer Gebrochenheit zwischen den Welten, den Selbst- und Weltverhältnissen, dem Schein und dem Sein, der Lüge und der Wahrhaftigkeit. Theoretische Anknüpfungspunkte finde ich im historisch-pragmalinguistischen Interferenzkonzept von Presch. Dieser verdeutlicht, dass (sprachliche) Handlungen die Folgen von sich widersprechenden Interessen, Erwartungen und Konflikten sein können. 53 Um diese Verstrickung von Konflikten und Interferenzen zu erfassen, ist es notwendig, sowohl die Vor- und Nachgeschichten von Handlungen als auch das Handeln selbst zu betrachten. Sprachliche Handlungen, zu denen auch Biographien und ihnen inhärente Biographisierungsprozesse zu zählen sind, werden von Menschen in den Gesellschaften, in denen sie leben, hervorgebracht und verweisen gleichzeitig auf diese. Sie vollziehen sich vor einem gesellschaftlichen Erwartungshorizont, der nicht nur auf die Gegenwart oder die Zukunft ausgerichtet ist, sondern der eine Geschichte hat und durch diese Geschichte entsteht. Diese Geschichte kann bestimmt sein von nicht auflösbaren Konflikten, von Interferenzen, welche die Handlungsfähigkeit des Subjektes zu einem bestimmten Zeitpunkt in seinem Leben gefährden und dies bei gleichzeitigem existentiellen Handlungsbedarf. Diese theoretischen Voraussetzungen haben in zweierlei Hinsicht Konsequenzen für die Analyse der Biographie der Hochstapler. Erstens rückt ein Biographisierungsprozess in den Blickwinkel, der aufgrund von unterschiedlichen, möglicherweise interferierenden, Konflikten vollzogen wird. Denkbar ist dann, dass diese Interferenzen sich in der Biographie als sprachliche Gestaltung des Biographisierungsprozesses zeigen. Zweitens kann die Phase der Hochstapelei als Handeln des biographischen Subjektes als Ergebnis interferierender Interessen, Erwartungen und Konflikten gedacht und rekonstruktiv erfasst werden. So können Bildungsgestalten rekonstruiert werden, die diese Interferenzen binden. Nicht auflösbare gesellschaftliche Widersprüchlichkeiten, die vom Subjekt erfahren werden können, können zum Beispiel Anerkennungs- und Missachtungsund/oder Macht- und Ohnmachtsverhältnisse sein, denen das Subjekt mittels Lügen, Täuschen und Hochstapeln entgehen kann. In dieser Arbeit entwickle ich die hier nur
53 Presch, Gunter: Namen in Konfliktfeldern. Wie Widersprüche in Eigennamen einwandern, Tübingen: Narr 2002.
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kurz skizzierten Prämissen von gebrochenen Bildungsgestalten weiter und begründe sie ausführlich (vgl. Kapitel 5). Voranstellen möchte ich diese Definition von gebrochener Bildungsgestalt, die sich aus den Erkenntnisinteressen sowie Fragestellungen dieser Arbeit ergibt und Folgen für diese hat: Immer dann, wenn in biographischen Erzählungen ein Selbst-Weltverhältnis sichtbar wird, in dem am Selbstbild festgehalten wird und gleichzeitig Weltverhältnisse über den Weg der Täuschung, Hochstapelei und Lüge verändert werden, spreche ich von einer gebrochenen Bildungsgestalt. Diese gebrochene Bildungsgestalt bindet und transformiert zugleich das von interferierenden Konflikten, Interessen und Erwartungen geprägte Selbst-Weltverhältnis. Sie ist eine Kompromissbildung zwischen den negationsresistenten Krisen und dem daraus resultierendem Handlungsbedarf des Subjektes, um in seinen Selbst- und Weltverhältnissen bestehen zu können. Ausgangspunkt ist auch, dass diese Krisen eine vollständige Wandlung des SelbstWeltverhältnisses auf gesellschaftlicher Ebene nicht zulassen. Möglich ist aber, zu lügen, zu täuschen und hochzustapeln, um mit einem der Bruch der Wirklichkeit handlungsfähig zu bleiben. Diesem Zusammenhang geht die reflexive Auseinandersetzung des Subjektes mit der Welt voraus. Gleichzeitig zeigt sich die Gebrochenheit dieser Bildungsgestalt in ihrem Gebrauch im Biographisierungsprozess: Sie wird genutzt, um ihr eine Bedeutung zuzusprechen, die sie in ihr Gegenteil verkehrt und gleichzeitig an ihr festhält, weil der Biographisierungsprozess selbst von Interferenzen bestimmt wird. Gedacht werden muss dann ein interferierendes Zusammenspiel von diachronen und synchronen Ebenen im sprachlich-biographischem Handeln. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Feststellung in der Süddeutschen Zeitung, dass Cornelia E. keine klassische Hochstaplerin sei, weil sie nicht jemand sein wollte, der sie nicht war. Schon in diesem Beispiel zeigt sich die Umdeutung einer Bildungsgestalt, die sich vielleicht in einem narrativen Interview mit Cornelia E. herausarbeiten ließe: Die gesellschaftliche, in geschichtlichen Zusammenhängen erwachsene Bedeutung von Hochstaplern wird in ihr Gegenteil verkehrt: Irgendwie ist Cornelia E. eine Hochstaplerin, wenn auch nicht im klassischen Sinne, aber doch wenigstens ein bisschen. Anhand eines im Laufe dieser Arbeit entstehenden theoretischen Grundgerüstes und mittels der Analyse der Biographien soll untersucht werden, ob sich in den biographischen Erzählungen der Hochstapler gebrochene Bildungsgestalten markieren lassen. Lassen sich diese auffinden, kann ein Problembereich in der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung beleuchtet und zum bildungstheoretischen Weiterdenken über die hochstaplerischen Welten hinaus in anderen Bildungswelten angeregt werden. Diese Arbeit trägt dazu bei, den bildungstheoretischen Blickwinkel auf Wandlung von Selbst-Weltverhältnissen zu erweitern, indem sie zeigt, dass auch Wandlungen, die zwischen dem Authentischen und dem Fiktiven der Wirklichkeit zirkulieren, das Ergebnis einer reflexiven Auseinandersetzung des Subjektes mit sich selbst in und zwischen den Welten sein kann.
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Der Fokus liegt dabei nicht darauf, die Biographien als Quellen historischer Bildungsforschung zu klassifizieren, sondern mit ihrer Interpretation zu einer Erweiterung der theoretischen und interpretativen Perspektiven auf Biographisierungs- und Bildungsprozesse beizutragen. Sie nimmt Lügen, Täuschung und Hochstapelei als mögliche Formen zur Bewältigung von Krisen in den Blick, die dann angewendet werden, wenn das Individuum in die Lage kommt, widersprüchliche Meinungen, Auffassungen, Einschätzungen oder Absichten verdecken zu müssen. Die Lüge erscheint dann als ein „probates Mittel, die Konflikte, die sich aus der Komplexität der Gesellschaft ergeben, zu übertünchen“.54 In diesem Sinne lässt sich Hochstapelei nicht nur als Überschreitung gesellschaftlicher Wirklichkeit, sondern auch als eine Form selbstreflexiver Verarbeitung von Wirklichkeit und damit als bildungsrelevant erachten. Interdisziplinäre Bezüge Damit setzt sich diese Studie mit den in der Erwachsenenbildung und der Erziehungswissenschaft bisher unzureichend bearbeiteten Phänomenen Hochstapelei, Lüge und Täuschung auseinander. Sie will den theoretischen und methodologischen Horizont der Erwachsenenbildung in der Auseinandersetzung mit den Bildungsprozessen von Hochstaplern erweitern. Zu dieser Erweiterung tragen auch die notwendigen interdisziplinären Bezüge bei, die mit erziehungswissenschaftlichen, erwachsenenbildnerischen, biographie- und bildungstheoretischen Überlegungen Lügen, Täuschung und Hochstapelei verknüpft. Lügen und Täuschungen gehören zum Handlungsrepertoire des Hochstaplers. Aufgrund ihrer Universalität und alltägliche Erfahrbarkeit kommt es zu diversen Problemen, die sich vor allem auf ihre Identifizierbarkeit und Definitionsmöglichkeiten beziehen. Die Erwachsenenbildung im Besonderen und die Erziehungswissenschaft im Allgemeinen stellen kaum Bezüge zur Hochstapelei her. Eine Ausnahme bildet Alheit, der am Beispiel des Hochstaplers Arnaud du Tilh u.a. den Wandel biographischer Formate illustriert. 55 Mit Lüge und Täuschung beschäftigt sich die Erziehungswissenschaft oft mit dem Fokus auf Kinder und Jugendliche unter dem Aspekt pädagogischer Praxis. Veröffentlichungen jüngeren Datums
54 Mecke, Jochen: „Lüge und Literatur. Perspektivenwechsel und Wechselperspektive“, in: Müller/Nissing, Die Lüge. Ein Alltagsphänomen aus wissenschaftlicher Sicht (2007), S. 57-86, hier S. 82. 55 P. Alheit: Biographie und ‚modernisierte Moderne‘; Alheit, Peter: „Wechselnde Muster der Selbstpräsentation: Zum Wandel autobiographischer ‚Formate‘ in der Moderne“, in: Heide von Felden (Hg.), Perspektiven erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung, Wiesbaden: Springer VS 2008, S. 29-46.
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dazu liegen beispielsweise von Lembke und Leipner vor, die sich mit der „Lüge der digitalen Bildung“ beschäftigen, oder von Chiapparini, die sich der „zulässigen Unehrlichkeit aus der Perspektive von Jugendlichen widmet.56 Erziehungswissenschaftliche Veröffentlichungen liegen dazu vor, wie Kinder lernen sollen Lügen zu erkennen. Ein Beispiel dafür ist der Text von Nickel-Bacon „Lüge oder Fiktion. Käpt’n Blaubärs Seemannsgarn und die Tradition der Schwindelgeschichten.“57 Lügen gelten auch als kindliche Verhaltensauffälligkeit, worauf beispielsweise Utz hinweist. 58 Bezüge zur Erwachsenenbildung lassen sich damit nur sehr eingeschränkt herstellen. Für diese Arbeit relevant waren dagegen diese Veröffentlichungen: Mit Lüge und Täuschung beschäftigt sich die Arbeit von Lallis, die darin chronologisch ausgewählte Aspekte der Lügendebatte in ihrem historischen Verlauf nachzeichnet und auf die Bedeutung der Lüge in pädagogischer Interaktion abzielt. 59 Ladenthin diskutiert in seinem Aufsatz die Lüge als eine „unvereinbare Kategorie der Erziehungswissenschaft“, wohin gegen der bereits oben zitierte Henningsen den Zusammenhang von Lüge und Freiheit hinsichtlich der Unbestimmbarkeit des Subjekts und der schillernden Wirklichkeit denkt.60 Grell nähert sich dem Zusammenhang von Bildung und Lüge über die Abgrenzung zur Wahrhaftigkeit. 61 In dieser Arbeit geht es weniger um die Bedeutung und Identifizierung von Lügen in der pädagogischen Praxis, sondern es geht darum, zu untersuchen, welche Bedeutung ihr für und in Bildungsprozessen zukommt. Aufgrund dessen zeigten sich die Veröffentlichungen von Lallis, Ladenthin, Henningsen und Grell als besonders gewinnbringend, da sie Aspekte von Lüge und Bildung aufzeigen, welche nicht ausschließlich auf ihre unmoralische Perspektive und Identifizierung ausgerichtet sind. Aufgrund der beschränkten Auswahl an explizit erziehungswissenschaftlicher Literatur zum Themenfeld kann eine Auseinandersetzung mit Lügen, Täuschungen und Hochstapeleien für und in Bildungspro-
56 Lempke, Gerald/Leipner, Ingo: Die Lüge der digitalen Bildung. Warum unsere Kinder das Lernen verlernen, München: Redline 2015; Chiapparini, Emanuela: „Zulässige Unehrlichkeit aus der Perspektive von Jugendlichen. Sozialwissenschaftliche Reflexionen zur Tugend Ehrlichkeit im Schulkontext“, in: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 34 (2014), S. 355-372. 57 Nickel-Bacon, Irmgard: „Lüge oder Fiktion. Käpt’n Blaubärs Seemannsgarn und die Tradition der Schwindelgeschichten“, in: Praxis Deutsch 30 (2003), S. 19-23. 58 Utz, Klaus: „Was Sie über Lügen, Stehlen, Weglaufen, Zündeln wissen sollten. Kindliche Botschaften“, in: Kindergarten heute 27 (1997), S. 30-333. 59 E. Lallis: Lügen und Belogenwerden. 60 Ladenthin, Volker: Bildung und Lüge, in: Müller/Nissing, Die Lüge. Ein Alltagsphänomen aus wissenschaftlicher Sicht (2007), S. 103-128; J. Henningsen: Lüge und Freiheit. 61 Grell, Frithjof: „Über die Wahrhaftigkeit“, in: Walter Eykmann/Sabine Seichter (Hg.), Pädagogische Tugenden, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 31-46.
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zessen nur über interdisziplinäre Bezüge erfolgen. Einen Forschungsstand über die vielfältigen disziplinären Debatten über die Lüge zeichnet das Kapitel 2.3 nach. Auch den jeweils unterschiedlichen disziplinären Fokussierungen auf den Hochstapler widmet sich gesondertes Kapitel, in dem auf die relevante Literatur eingegangen wird (vgl. Kapitel 3). Hervorheben möchte ich die literaturwissenschaftliche Arbeit von Kern, die mich in vielerlei Hinsicht inspiriert hat. Er geht in seiner Arbeit „Die Kunst der Täuschung“ sowohl auf das Überschreiten von Wirklichkeiten von Hochstaplern, Lügnern und Betrügern als auch durch die lügenden Erzählern und das täuschende Erzählen ein.62 Ebenfalls relevant waren die Veröffentlichungen von Porombka, der zum Beispiel in seiner „Geschichte der Hochstapelei“, wesentliche Aspekte der Hochstaplerfigur in ihrer sozial- und kulturhistorischen Entwicklung sowie Bedeutung nachzeichnet und dies mit Beispielen aus der Welt der Hochstapler illustriert. Erwähnt sei auch der von Schwanebeck erarbeitete Stand der „Hochstapler im Spiegel der Forschung“, der einen Überblick über die verschiedenen Wissenschaften gibt, die sich mit diesem Phänomen auseinandersetzen. Er rekurriert auf Arbeiten aus der Psychologie, Rechtswissenschaft und Soziologie sowie der Literaturwissenschaft und setzt einen an den Masculinity Studies orientierten Schwerpunkt in der Auseinandersetzung mit dem Hochstapler.63 Eine erziehungswissenschaftliche Perspektive auf den Hochstapler, so wird auch anhand Schwanebecks dargelegten Forschungsstandes deutlich, scheint bisher noch nicht erarbeitet worden zu sein. Schwanebeck ist außerdem Herausgeber der Aufsatzsammlung „Über Hochstapelei“, in der sich Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen anhand verschiedener Beispiele dem Hochstapeln als Form kultureller Praxis nähern. 64 Wichtige Hinweise und Interpretationen zu den Hochstaplern Georges Manolescu, Ignatz Straßnoff und Harry Domela finden sich bei Claßen, die sich aus Sicht der Literaturwissenschaft mit der „Darstellung von Kriminalität in der deutschen Presse und Wissenschaft“ im Zeitraum 1900-1930 beschäftigt, in der Arbeit von Porombka und in den Veröffentlichungen von Wulffen.65 Kirsten widmet sich ausführ-
62 S.H. Kern: Die Kunst der Täuschung. 63 Schwanebeck, Wieland: Der flexible Mr. Ripley. Männlichkeit und Hochstapelei in Literatur und Film, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2014. 64 Schwanebeck, Wieland (Hg.): Über Hochstapelei. Perspektiven auf eine kulturelle Praxis, Berlin: Neofelis 2014. 65 Vgl. I. Claßen: Darstellung von Kriminalität; S. Porombka: Nachwort; Porombka, Stephan: Felix Krulls Erben. Die Geschichte der Hochstapelei im 20. Jahrhundert, Göttingen: Blumenkamp 2008; Wulffen, Erich: Georges Manolescu und seine Memoiren. Kriminalpsychologische Studie, Berlin: Paul Langenscheidt 1907; Wulffen, Erich: Der Mann mit den sieben Masken. Roman, Leipzig: C. Reißner 1922; Wulffen, Erich: Die Psychologie des Hochstaplers, Leipzig: Dürr & Weber1923.
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lich dem Leben von Harry Domela; Rahn stellt Manolescu in den Mittelpunkt seines Aufsatzes und sucht Bezugspunkte zu Wulffens Arbeiten.66 Da Biographien auch als Orte von Identitätsprozessen betrachtet werden können, welche eng mit Bildungsprozessen verbunden sind, und sich Hochstapler vor, nach und während ihrer Hochstapeleien insbesondere hinsichtlich ihrer Identität mit Problemen gesellschaftlicher Anerkennung konfrontiert sehen, wurde auch identitäts- und anerkennungstheoretische Literatur auf Hinweise zum Hochstapler, Lügen und Täuschung gesichtet. Als Anknüpfungspunkt bot sich der Zusammenhang von Authentizität und Identität an, weil die Hochstapler dieses idealisierte Wechselverhältnis zu durchbrechen scheinen. Um sich mit diesem Phänomen auseinandersetzen zu können, bezieht diese Arbeit Überlegungen von Tietenberg, die sich damit in Bezug auf den Dandy beschäftigt, sowie beispielsweise Arbeiten von Taylor und Keupp mit ein.67 Die Schwierigkeiten oder gar Unmöglichkeit des Individuums, mit sich selbst identisch zu sein und gleichzeitig den gesellschaftlichen Erwartungen und Normen zu entsprechen, wird beispielsweise von Habermas in Anlehnung an Goffmans Konzept der „Schein-Normalität“ mit dem Terminus „phantom uniqueness“, „Fiktive Einzigartigkeit“ beschrieben.68 Explizit zum Zusammenhang von Anerkennung und Hochstapelei finden sich Überlegungen bei Pannen.69 Aber auch Honneth und Micus-Loos lieferten mit ihren Veröffentlichungen wichtige Hinweise, um die Auswirkungen von Anerkennung und
66 Vgl. Kirsten, Jens: „Nennen Sie mich einfach Prinz“. Das Lebensabenteuer des Harry Domela, Weimar: Stadtmuseum 2010; Rahn, Thomas: „Der Lügner als Autor, der Autor als Lügner. Georges Manolescus Memoiren und die Psychologie des Hochstaplers“, in: Eggert/Golec, Lügen und ihre Widersacher (2004), S. 55-71. 67 Tietenberg, Anne Kristin: Der Dandy als Grenzgänger der Moderne. Selbststilisierung in Literatur und Popkultur, Berlin: LIT 2013; Keupp, Heiner: Vom Ringen um Identität in der spätmodernen Gesellschaft. Eröffnungsvortrag am 18. April im Rahmen der 60. Lindauer Psychotherapiewochen 2010, http://www.lptw.de/archiv/vortrag/2010/keupp_h.pdf vom 26. August 2015; Taylor, Charles: „Die Politik der Anerkennung“, in: Charles Taylor (Hg.), Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 11-68. 68 Der Terminus findet sich in unveröffentlichten Notizen von Habermas zu seinem Seminar „Role Theora and the Problem of Identity“ (1967) an der New School of Research in New York. Vgl. Krappmann, Lothar: Soziologische Dimensionen von Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen, 8. Auflage, Stuttgart: Klett-Cotta 1993, S. 208. 69 Pannen, Thorsten: „Anmerkungen aus dem Zettelkasten eines angestellten Hochstaplers nebst Theorie zum Verschwinden der Hochstapelei im entwickelten Digitalismus“, in: Kultur & Gespenster Nr. 8 „Hochstapler“ I/II (2009), S. 103-111.
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Missachtung in Bezug auf den Hochstapler erfassen zu können. 70 Am Beispiel des Hochstaplers lassen sich Schwierigkeiten von Identitätsarbeit feststellen, die sich im Spannungsfeld von Identität als anthropologischer Notwendigkeit, gesellschaftlicher Bedingtheit und geforderter Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit zeigt und die Frage nach der Authentizität einer hochstaplerischen, missachteten oder anerkannten (vorgetäuschten) Identität stellt. Dass sich Wirklichkeit als relevanter Bezugspunkt hochstaplerischen, lügenden und täuschenden Handels herausstellt, ist auch den Arbeiten von Goffman zu verdanken. Seine Veröffentlichungen „Rahmen-Analyse“, „Wir alle spielen Theater“ und „Stigma“ machen auf die Bühnen und Hinterbühnen, Rahmen und -ausbrüche sowie -manipulationen aufmerksam und zeigen die Bedeutung der Täuschung im Zusammenhang von Stigmata auf.71 Um diesen Aspekt zu bearbeiten, setzt sich diese Arbeit mit der historischen Entwicklung des Hochstaplers in gesellschaftlichen Verhältnissen auseinander und zeigt, dass die Figur des Hochstaplers ihre Blütezeit gegen Ende des Kaiserreiches und während der Weimarer Republik hat. Aufschlussreich dazu waren die Veröffentlichungen von Porombka, Pannen und Sloterdijk.72 Wichtige Hinweise zu den Elementen hochstaplerischen Handelns finden sich bei Klein und Veelen, wobei letztere sich den Hochstaplern aus einer soziologischen Perspektive unter dem Fokus auf Goffman und Bourdieu annimmt.73 Der Blick in die Sekundärliteratur zeigt, dass es sich bei der Hochstapelei um eine zeitlich begrenzte biographische Episode handelt. Dass jemand ein Hochstapler ist,
70 Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, 7. Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012; Micus-Loos, Christiane: „Anerkennung des Anderen als Herausforderung in Bildungsprozessen“, in: Zeitschrift für Pädagogik 58 (2012), S. 302-320. 71 Goffman, Erving: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977; Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München: Piper 2014; Goffman, Erving: Stigma. Über die Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2014. 72 S. Porombka: Felix Krulls Erben; Porombka, Stephan: „Über die Notwendigkeit, die Hochstapelei auf höchstem Niveau flach zu legen (Epilog)“, in: Wieland Schwanebeck (Hg.), Über Hochstapelei. Perspektiven auf eine kulturelle Praxis, Berlin: Neofelis 2014, S. 205221; T. Pannen: Anmerkungen aus dem Zettelkasten; Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft, Band 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983. 73 Klein, Inga: „‚Fake it ’til you make it‘. Narrative und Praktiken des Ökonomischen in der Hochstapelei“, in: Inga Klein/Sonja Windmüller (Hg.), Kultur der Ökonomie. Zur Materialität und Performanz des Wirtschaftlichen, Bielefeld: transcript 2014, S. 111-130; Veelen, Sonja: Hochstapler. Wie sie uns täuschen. Eine soziologische Analyse, Marburg: Tectum 2012.
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erfährt man erst nach dessen Entlarvung. Daher konzentriert sich die vorliegende Studie auf „thematisch bestimmte[ ] autobiographische[ ] Erzählstücke[ ]“ 74 und fokussiert auf einzelne Lebenserfahrungen, die allerdings in ihrem prozessualen biographischen Gesamtzusammenhang betrachtet werden können. Schulze kommt zu der Einschätzung, dass bisher kaum ausgearbeitet sei, wie man einzelne Lebenserfahrungen innerhalb eines autobiographischen Prozesses interpretiere. Mit der Fokussierung auf eine spezifische biographische Phase wird versucht, einem weiteren Forschungsdesiderat innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung zu begegnen: Hochstapelei kann als eine lebensgeschichtliche Phase erfasst werden, die gerahmt ist von interferierenden Interessen, Erwartungen und Konflikten vor der Wandlung zum Hochstapler. Diesen folgt die Wandlung zum und das Leben als Hochstapler. Die Folgeprobleme entstehen im Nachgang der Entlarvung als Hochstapler und wandern in den Biographisierungsprozess ein. In diesem zeigt sich außerdem die reflexive Auseinandersetzung der entlarvten Hochstapler mit dieser Phase ihres Lebens. Diese Zusammenhänge lassen sich rekonstruieren und im Hinblick auf Bildungsprozesse interpretieren. Hochstapelei, Lügen und Täuschung können sich vielgestaltig zeigen: als Lebensweise oder als Form der Selbstinszenierung, als Motivgeflecht in biographischen oder literarischen Erzählungen, als Form der Krisenbewältigung oder als relevant für die Identitätsarbeit des Subjektes. Um einen lügen-, täuschenden- und hochstaplerisch-theoretischen Referenzrahmen zu schaffen, auf den sich die Ergebnisse der Analyse zurückbeziehen lassen, werden literatur- und erziehungswissenschaftliche, soziologische und historische, psychologische, sprachwissenschaftliche und philosophische sowie bildungs- und biographietheoretische Erkenntnisse dargestellt und miteinander verknüpft. Dies ist auch dem Umstand geschuldet, dass sich Erwachsenenbildung bisher noch nicht mit den Bildungsprozessen von Hochstaplern auseinandergesetzt hat. Diese könnten auch für die historische Erwachsenenbildungsforschung konstitutiv gemacht werden – eine Perspektive auf die Biographien, die in dieser Arbeit nur am Rande in Erscheinung tritt. Im Fokus stehen vielmehr die Biographisierungs- und Bildungsprozesse, welche die Hochstapler in ihren Biographien darlegen. Historische Rückbezüge werden in erster Linie in der gesellschaftlichen und individuellen Konstitution des Hochstaplers gesucht. Mit den hochstaplerischen Lebensgeschichten geraten Bildungsprozesse in den Fokus, in denen biographische Subjekte mit der Mehrdeutigkeit von Wirklichkeiten spielen und damit verbundenen Konflikten ausgesetzt sind. Diese Aspekte werden unter Rückgriff auf erwachsenenbildnerische Überlegungen zum Zusammenhang
74 Schulze, Theodor: „Interpretation von autobiographischen Texten“, in: Barbara Friebertshäuser/Annedore Prengel (Hg.), Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft, Weinheim/München: Juventa 1997, S. 323-340, hier S. 331.
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von Bildung und Biographie sowie auf Ansätze der erziehungswissenschaftlichen und bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung diskutiert und mit historisch-pragmalinguistischen Aspekten über die Bedeutung von Interferenzen verknüpft. Ausgegangen wird davon, dass die Wandlung des Individuums zum Hochstapler aufgrund interferierender Konflikte erfolgt. Mit der Hochstapelei werden die Grenzen von (moralischen, subjektiven und gesellschaftlichen) Konventionen überschritten und gleichzeitig an die Selbst- und Weltverhältnisse des Subjektes gebunden. Diese Grenzüberschreitungen führen zu Folgeproblemen, die über das biographische Erzählen thematisiert werden oder Auswirkungen auf dieses haben. Da die rezipierten Konzepte aus der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung nur eine eingeschränkte Analyse der Bildungsprozesse von Hochstaplern (aufgrund ihrer spezifischen gesellschaftlichen Figuration und ihren täuschenden und lügenden Handlungen) möglich schien, wurde neben der Integration des historischpragmalinguistischen Interferenzkonzeptes nach weiteren konzeptionellen, methodologischen Anschlussmöglichkeiten gesucht. Als ergiebig erwies sich das Konzept von Theodor Schulze, der mittels der Aufeinanderbezogenheit von Lebenswelten und biographischen Bewegungen, für die Offenheit von Interpretationen biographisch reflektierter und sich herstellender Bildungsprozesse plädiert.75 Seine Analysekategorien von Lebenswelten und biographische Bewegung, die eng miteinander verknüpft sind, sich sogar überlagern und auch miteinander interferieren können, werden hinzugezogen, um die Bedeutung von Täuschen, Lügen und Hochstapeln innerhalb der Biographien der Hochstapler herauszuarbeiten. Diese Arbeit widmet sich zum einem den Phänomenen Lüge, Täuschung und Hochstapelei und diskutiert ihre Bedeutung für die Konstitution des Subjektes, seine Bildung, seine Erkenntnisse von und sein Handeln in der Welt. Zum anderen will sie exemplarisch anhand der biographischen Erzählungen der Hochstapler Folgendes zeigen: • Welt- und Selbstreferenzen, Welt- und Selbstverhältnisse in Biographisierungs-
und Bildungsprozessen des Subjektes erfolgen unter historischen Bedingungen, werden von sozialen Interaktionen bestimmt und begleitet. Die ihnen inhärenten Interferenzen lassen sich bestimmen und haben Folgen für die Rekonstruktion von Bildungsgestalten.
75 Schulze, Theodor: „Lebenswelt und biographische Bewegungen – Überlegungen zu zwei Schlüsselkategorien der Biographieforschung“, in: Margret Dörr/Cornelia Füssenhäuser/Heidrun Schulze (Hg.), Biografie und Lebenswelt. Perspektiven einer Kritischen Sozialen Arbeit, Wiesbaden: Springer VS 2015, S. 105-122.
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• Lügen, Täuschen und Hochstapeln sind als Handlungen zu verstehen, die aufgrund
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von Reflexionen des Subjektes erfolgen. Sie sind das Ergebnis von Aneignung, Selbstbestimmung und Selbstdenken des Menschen in der Welt. Lügen, Täuschen und Hochstapeln können als Möglichkeit in Betracht gezogen werden, um negationsresistenten Problemen zu entgehen, damit das Subjekt bei einem akuten Handlungsbedarf in Krisenzuständen wieder Handlungsfähigkeit erlangt. In Bildungsprozessen lassen sich gebrochene Bildungsgestalten markieren. Diese erweisen sich als bildungsbedeutsam, obwohl das Subjekt am Selbstbild festhält und seine Wandlung an den Weltverhältnissen ausrichtet. Bildungsgestalten werden in Biographisierungsprozessen gebraucht, um sich im biographischen Erzählen Orientierung und Struktur zu verschaffen. Sie sind dann gebrochen, wenn ihnen eine Bedeutung zugesprochen wird, die sie in ihr Gegenteil verkehrt und gleichzeitig an ihnen festgehalten wird. Sie können dann dies bedeuten und das Gegenteil. Biographisierungsprozesse werden nicht nur durch einen prozessualen Verlauf bestimmt, sondern können auch auf eine bestimmte singuläre biographische Phase fokussieren. Als Form sprachlichen Handelns sind sie außerdem eingebettet in Vor- und Nachgeschichten in gesellschaftlichen und historischen Bezügen, die ebenfalls von Interferenzen bestimmt werden können.
1.4 AUFBAU UND INHALTLICHES VORGEHEN Zunächst setze ich nach dieser Einleitung einen theoretischen Referenzrahmen für die wesentlichen Begriffe und Themenfelder dieser Arbeit. Das zweite Kapitel widmet sich der Lüge und sucht Verbindungslinien zur Bildung des Subjektes und zum erziehungswissenschaftlichen Diskurs über die Lüge. Um sich dem Phänomen der Lüge anzunähern, werden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – lügentheoretische und -philosophische Positionen vorgestellt, welche besonders die Ambivalenzen der Lüge im Verhältnis zwischen Mensch und Gesellschaft nachzeichnen. Diskutiert werden zunächst mögliche Zusammenhänge von Lüge, Täuschung und Erkenntnis von Wirklichkeit (Kapitel 2.1), um sich dann ausgewählten philosophischen Betrachtungen zur Lüge zu widmen (Kapitel 2.2). Die daran anschließenden Ausführungen zeigen, dass Lügen auch mit Klugheit verbunden wird (Kapitel 2.2.1), dass sowohl zur Wahrhaftigkeit als auch zur Lüge erzogen werden kann (Kapitel 2.2.2) und dass unter Rekurs auf Nietzsche eine Lust an der Lüge in der bequemen Gesellschaft bestehen kann (Kapitel 2.2.3). Das Kapitel 2.3 zeichnet Dimensionen des aktuellen Lügendiskurses nach und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Lüge in der Erziehungswissenschaft und in der Erwachsenenbildung trotz ihrer wissenschaftlichen Aktualität kaum beachtet wird. Über diese Darstellung wird auch eine Definition von
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Lüge erschlossen, die auf die gesellschaftliche Verwobenheit des Menschen zielt und moralische Perspektiven überschreitet. Dies geschieht nicht, um die Hochstapler mit ihren Taten zu glorifizieren, sondern deshalb, um die Lüge als alltägliches Phänomen menschlichen Handelns erfassen zu können. Eine mögliche Bedeutung der Lüge, die nicht ausschließlich auf moralischen Aspekten aufbaut, wird in ihrem ästhetischen Schein gefunden, der Anknüpfungspunkte für den Zusammenhang von Lügen und Bildung der Hochstapler bietet. Darüber wird in einem Zwischen-Fazit nachgedacht (Kapitel 2.4). Den Hochstaplern als Zeitgeistern, Spiegelbildern und Grenzgängern begegnet das dritte Kapitel. In diesem wird zunächst erarbeitet, dass sich der Hochstapler als spezielle historische Figur in der Moderne konstituiert (Kapitel 3.1) und so einen Zeitgeist widerspiegelt, der sich auch in den untersuchten Hochstaplerbiographien zeigt. Den Hochstaplern als Spiegelbilder gesellschaftlicher Zustände, die sich auf die Konstitution des Subjektes auswirken, wird in Kapitel 3.2 nachgegangen. Hier zeigen sich die Merkmale und Fähigkeiten von Hochstaplern zwischen individueller Selbstbehauptung und gesellschaftlicher Selbstpräsentation. In den zugehörigen Unterkapiteln wird erstens die Figur des Hochstaplers im Hinblick auf die historische, gesellschaftliche Entwicklung des Verhältnisses von Schein und Sein betrachtet (Kapitel 3.2.1). Damit wird ein weiterer Aspekt eingeführt, der eine historische Kontextualisierung der Hochstaplerbiographien zulässt. Zweitens wird zum einen in soziologischer Perspektive, die in erster Linie auf Goffmans Ausführungen zur Täuschung, als weiteres Mittel der Hochstapler, abzielt, gezeigt, dass Täuschung die Möglichkeit für den Menschen bietet, sich im Alltagsleben zurechtzufinden. Zum andern finden weitere Elemente hochstaplerischen Handelns ihre Beachtung (Kapitel 3.2.2). Kapitel 3.3 definiert den Hochstapler als Grenzgänger zwischen Authentizität, Identität und Anerkennung und fokussiert damit auf wesentliche Begriffe, die auch für biographische Bildungsprozesse von Relevanz sind. Unter dem Aspekt der Authentizität wird erarbeitet, wie der Hochstapler auf der einen Seite Authentizität untergräbt, indem er sich ihr verweigert, sie übersteigert und sich den Mitteln der Täuschung bedient. Auf der anderen Seite kann das (hochstapelnde) Subjekt sich jedoch als authentisch erfahren, wenn es moralische, symbolische oder reale gesellschaftliche und individuelle Rahmen sprengt (Kapitel 3.3.1). Das folgende Unterkapitel (3.3.2) widmet sich dem Zusammenhang von Hochstapelei und Identität und diskutiert die Möglichkeit der Täuschung auf personaler Identitätsebene sowie die Bedeutsamkeit einer Identität zum Schein. Es stellt sich außerdem der Diskussion, ob Hochstapler überhaupt über Identität verfügen. Aufmerksam gemacht wird auf die Paradoxie der Hochstapelnden, dass sie in ihrer personalen hochstaplerischen Identität sowohl Authentizität suggerieren als auch tatsächlich einfließen lassen können. Auf den Zusammenhang von Anerkennung und Hochstapelei geht das Kapitel 3.3.3 ein. Anschließend ziehe ich unter Kapitel 3.4 ein weiteres Zwischen-Fazit und verweise auf die Mehrdeutigkeit und das Dazwischen-Sein des (hochstaplerischen) Subjektes: Die
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Figur des Hochstaplers zeigt exemplarisch, dass die Verortung des Subjektes zwischen Schein und Sein, zwischen Fiktionalität und Authentizität, zwischen Rollen und Identitäten, zwischen Emanzipation, Individualität und Vergesellschaftung mit einer Überschreitungsperspektive verbunden ist, die auch für die Analyse von Bildungsprozessen gedacht werden sollte. Das vierte Kapitel trägt die Überschrift „Biographie und (Erwachsenen-)Bildung“ und verdeutlicht ihre konfliktreichen, mehrdeutigen, widersprüchlichen Verflechtungen, die sie in ihrer individuellen und gesellschaftlichen Bedeutung für das Subjekt hat. Dazu trägt Kapitel 4.1 inhaltlich bei: Es legt nahe, wie und ob Biographien es ermöglichen, die ambivalenten Wandlungen des Subjektes zu sich selbst und zur Welt zu erfahren. Auch um am Begriff der Bildung aus Sicht der Erwachsenenbildung festzuhalten und die dieser Arbeit zugrunde liegende Auffassung von Bildung darzulegen, rückt in Kapitel 4.2 die Konvergenz von Bildung und Biographie in den Mittelpunkt. Zunächst wird ihre Relevanz für die Erwachsenenbildung aufgezeigt und verdeutlicht, dass es innerhalb dieser Disziplin verschiedene Vertreter wie Tietgens, Faulstich und Pongratz gibt, die das Nicht-Identische, das Überschreiten von Perspektiven, die Zwischen- und Suchbewegungen sowie die krisenhaften Situationen von Bildungsprozessen für Erwachsene in ihren (erwachsenen-)bildungstheoretischen Ansätzen mitdenken (Kapitel 4.2.1). Um den Zusammenhang von Bildung und Biographie auf theoretischer und analytischer Ebene zu illustrieren, stelle ich in den Kapiteln 4.2.2, 4.2.3 und 4.2.4 die bereits erwähnten Beispiele von Marotzki, Koller und Alheit dar und diskutiere sie kritisch. Rückgebunden an deren bildungsund biographietheoretische Standpunkte zeigen diese, dass es zu Problemen bei der Erfassung von Wandlungen in Selbst- und Weltverhältnissen kommen kann, wenn sich die Analyseperspektive zu sehr auf eine diachrone oder synchrone Ebene innerhalb von Biographisierungsprozessen beschränkt. Sie können nicht erfassen, dass Wandlungen im Konflikt verhaftet bleiben, sich im Außen nicht durchsetzen können und dennoch zu anderen Verhältnissen von Selbst und Welt führen. Die kritische Diskussion zeigt, dass eine theoretische und methodische Erweiterung vorgenommen werden muss, um die Relevanz von Lügen, Täuschen und Hochstapeln für Bildungsprozesse aufzeigen zu können (Kapitel 4.3). Deshalb begründe ich im fünften Kapitel meine Idee der gebrochenen Bildungsgestalt und verdeutliche ihre Relevanz für die Rekonstruktion von Biographisierungs- und Bildungsprozessen. In einem ersten Schritt nehme ich eine bildungs- und biographietheoretische Zuspitzung vor (Kapitel 5.1) und erarbeite die Bedeutung des In-und-zwischen-den-Welten-Seins für reflexive Bildungsprozesse (Kapitel 5.1.1). Anknüpfend daran verdeutliche ich, was innerhalb der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung und in der Erwachsenenbildung unter Bildungsgestalten verstanden wird. Ich zeige Probleme in diesem Verständnis auf, die Konsequenzen für die Erfassung von Bildungsprozessen haben (Kapitel 5.1.2). Aus dieser Kritik heraus stelle ich meine theoretischen Überlegungen zu gebrochenen Bildungsgestal-
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ten vor und suche in Kapitel 5.2 einen Anknüpfungspunkt im historisch-pragmalinguistischen Interferenzkonzept von Presch. In diesem Kapitel zeige ich unter 5.2.1 und 5.2.2 die Bedeutung von Geschichte und Interferenz für sprachliche Handlungen am Beispiel von gebrochenen Namen (5.2.3) aus Sicht von Presch auf. Dabei stelle ich Bezüge zur bildungs- und biographietheoretischen Diskussion her, die ich unter Kapitel 5.2.4 zusammenfasse. In Kapitel 5.3 integriere ich das Interferenzkonzept von Presch in meine Überlegungen zu den gebrochenen Bildungsgestalten und zeige den Zusammenhang von Interferenz und Bildung auf. Um gebrochene Bildungsgestalten rekonstruieren zu können, nutze ich als weiteren Anknüpfungspunkt Schulzes Komponenten der Lebenswelten und der biographischen Bewegungen, die darüber hinaus ermöglichen, eine singuläre biographische Phase wie die Hochstapelei hinsichtlich ihrer Bedeutung für Bildungsprozesse erschließen zu können (Kapitel 5.4, 5.4.1, 5.4.2). Damit schließe ich mich dem Gedanken von Schulze an, dass für die Interpretation von Biographien Kategorien genutzt werden sollten, die sowohl den Menschen als auch seine Biographie würdigen und der Einzigartigkeit des zu untersuchenden Falles gerecht werden. Unter Kapitel 5.5 erfolgt die zusammenfassende Darlegung der Komponenten zu Rekonstruktion von gebrochenen Bildungsgestalten in Biographisierungsprozessen. Diese bildet auch den Interpretationsrahmen, der zusammen mit den in den theoretischen Kapiteln erarbeiteten Klärungen, Überlegungen und Ergebnissen im sechsten Kapitel zu den rekonstruktiven Interpretationen der Biographien von Georges Manolescu (Kapitel 6.1), Ignatz Straßnoff (Kapitel 6.2) und Harry Domela (Kapitel 6.3) führt. Zuvor begründe ich die Auswahl der Biographien und lege mein methodisches Vorgehen für die Rekonstruktion dar, das sich an den Komponenten des theoretischen Grundgerüstes orientiert. Dabei wird auf eine Offenheit der Interpretation der ‚hochstaplerischen Bildungsprozesse‘ abgezielt. Dies geschieht auch, weil eine Untersuchung, welche auf die Bildungs- und Biographisierungsprozesse sowie Bildungsgestalten von Hochstaplern fokussiert, der Gefahr ausgesetzt ist, eigenen Hochstapeleien und denen der Biographen zu erliegen. Deshalb passe ich mich dem oszillierenden Charakter der Hochstapler an und verweise darauf, dass sich nicht alle Nuancen des theoretischen Teils in den Biographien zeigen werden. Aneignung, Widerspruch und Flexibilität – neben Lüge und Täuschung – Grundpfeiler hochstaplerischer Existenz sind auch für die Analyse der Biographien zielführend. Ich schließe diese Arbeit mit einem Resümee und gebe Ausblicke auf weitere hochstaplerische Auseinandersetzungen und ihre Bedeutung für die Erwachsenenbildung, die mit dem Ertrag dieser Studie erfolgen könnten (Kapitel 7).
2
Lügen, Täuschen und Bildung
Die Diskussion um Lügen, Täuschen und Hochstapeln wird in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen geführt: Theologen, Philosophen, Psychologen, Soziologen, Linguisten, Literaturwissenschaftler, Philologen und Rechtswissenschaftler nähern sich diesen Phänomenen mit fachspezifischen Fragestellungen.1 Die Erziehungswissenschaft hingegen scheint sich schwerzutun mit der Lüge und ihren Begleitern. Sie beteiligt sich kaum am gegenwärtigen interdisziplinären Diskurs. 2 Zu bevorzugen scheint sie größtenteils die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Wahrheit, der zum einen immer noch als Bildungsinhalt und -ziel deklariert wird und zum anderen als Abgrenzung zur Lüge dient. 3 Mit dem ontologischen Wahrheitsanspruch von der Übereinstimmung von Idee und Wirklichkeit und dem anthropologisch verankerten Wahrhaftigkeitsbedürfnis des Menschen hält sich – spätestens seit der Aufklärung – ein Trend in Teilen der Erziehungswissenschaft, Erziehung und Bildung unter das Diktum der Wahrheit oder Wahrhaftigkeit zu stellen. So schreibt beispielsweise Henz noch in den 1970er Jahren: „Bildung als erzieherische Grundfunktion ist die Förderung des Logos im Menschen. Logos ist Geist, Wort, Wahrheit. Im gängigen Sprachgebrauch wird Bildung vor allem identifiziert mit Geistesbildung, d.h. mit Ausbildung des sprachbetonten Geistes. Wort ist Ausdruck geistiger Inhalte und Mitteilungen solcher Inhalte zwischen Personen. Im Wort wird Wahrheit, d.h. sach-
1
Siehe z.B.: Eggert, Hartmut/Golec, Janusz (Hg.): Lügen und ihre Widersacher, Würzburg: Königshausen und Neumann 2004; Hettlage, Robert (Hg.): Verleugnen, Vertuschen, Verdrehen. Leben in der Lügengesellschaft, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2003; Klosinski, Gunther (Hg.): Tarnen. Täuschen. Lügen. Zwischen Lust und Last, Tübingen: Narr 2011; Mayer, Mathias (Hg.): Kulturen der Lüge, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2003.
2
Eine Ausnahme bildet die Dissertation von Lallis, welche in chronologischer Reihenfolge den Lügendiskurs nachzeichnet und unter systemischen Gesichtspunkten für die Pädagogik erarbeitet. Ihr Schwerpunkt liegt dabei auf Kindern und Jugendlichen. Vgl. E. Lallis: Lügen und Belogenwerden, S. 1.
3
Vgl. dazu die kritische Einschätzung von F. Grell: Über die Wahrhaftigkeit, S. 33.
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gemäße Erkenntnis, kristallisiert, integriert, greifbar gemacht, fixiert. Logos ist Geist und Wahrheit. Geist ist primär erkennbar an der Wortklarheit und Übereinstimmung des Gesprochenen mit dem Sein. Hier zeigt sich, daß der Geist der klare integrierende Spiegel des Seins genannt werden kann. Geist ist wesenhaft in Verbindung mit Wahrheit, obwohl seine Ausrichtung auch auf die anderen Werte geht. Logos-Geist ist Wahrheitsgeist, ist Geist unbedingten Wollens der Übereinstimmung des Denkens und Sprechens mit der Wirklichkeit.“4
Der Wandel, den die Erziehungswissenschaft im Laufe der Zeit einschlägt, kann als Abkehr vom Verbot der Lüge hin zu einem kompetenten Umgang mit der Lüge beschrieben werden. Dies betrifft in erster Linie die erzieherische Praxis, welche die Lüge nicht mehr ausschließlich sanktioniert, sondern nach Gründen für die Lüge fragt (vgl. Kapitel 2.2.2 und 2.2.3). Dabei werden alle am Erziehungs- und Bildungsprozess Beteiligten berücksichtigt und gesellschaftliche Zustände eingeschlossen. Die Lüge wird dann als subjektive Reaktion auf soziale Umstände gewertet und mit individuellen Zielsetzungen verbunden, die nicht kompatibel sind mit erzieherischen Absichten und gesellschaftlichen Konventionen. Von diesem Standpunkt aus zeigt der moralische Zeigefinger meistens auf das Individuum: Von ihm wird verlangt, wahrhaftig zu handeln und sich von der Lüge abzuwenden. Grundlage dafür bilden gesellschaftlich verankerte Moralvorstellungen, die in die reflexive Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst und der Welt eingebunden werden sollen. Doch ist nicht auch die Lüge eine Handlung, in der bisherige Erfahrungen und Reflexionen des Subjektes mit sich und der Welt kumulieren? Unter moralischen Prämissen wird davon ausgegangen, dass sich das Individuum mit einer Lüge ins gesellschaftliche Abseits stellt, indem es die Sprache und gesellschaftliche Konventionen missbraucht, Vertrauen zerstört und sich moralisch befleckt (vgl. Kapitel 2.1). Auf diese Weise kann die Lüge allerdings selten in ihrer Ambivalenz, in dem ihr innewohnenden kreativen Potential und ihrer Mehrdeutigkeit auf der Handlungsebene des Subjektes im Kontext seiner Bildungsbemühungen betrachtet werden.
4
Henz, Hubert: Lehrbuch der systematischen Pädagogik, 3., neubearbeitete Auflage, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien: Herder 1971, S. 44-45, Herv. i.O. Zur Unterscheidung zwischen „Wahrheit“ und „Wahrhaftigkeit“ siehe z.B.: Müller, Jörn: „Zwischen Korrespondenz, Kohärenz und Konsens. Zum Pluralismus der philosophischen Wahrheitstheorien“, in: Hanns-Gregor Nissing (Hg.), Was ist Wahrheit? Zur Kontroverse um die Diktatur des Relativismus, München: Pneuma 2011, S. 56-79, hier S. 59. Zur Vertiefung des Wahrhaftigkeitsproblems in der Aufklärung siehe beispielsweise: Annen, Martin: Das Problem der Wahrhaftigkeit in der Philosophie der deutschen Aufklärung. Ein Beitrag zur Ethik und zum Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Würzburg: Königshausen & Neumann 1997.
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Die Betonung der Wahrhaftigkeit und die moralische Verurteilung der Lüge, aber auch die radikal-konstruktivistische Ablehnung von wahrhaftigen oder erlogenen Wirklichkeiten außerhalb des Subjektes und existentiellen Lügen in erzieherischen und bildnerischen Kontexten als zielführend für Bildungsprozesse lassen außer Acht, dass es auch immer ein Dazwischen des Subjektes gibt: ein Dazwischen zwischen Macht und Ohnmacht, gesellschaftlicher Erwartung und individuellem Bedürfnis, moralischer und außermoralischer Handlung. Lügen, Täuschen und Hochstapeln (vgl. auch Kapitel 3) sind ein Dazwischen: Sie sind Reaktion und Aktion, handlungsabschließend und handlungseröffnend, Anlass und Ergebnis eines Reflexionsprozesses. Sie sind mehrdeutige, ambivalente Phänomene, welche durchaus moralisch verwerfliche Züge haben, aber manchmal von individueller Notwendigkeit sind. Als Handlungen haben sie eine Geschichte, die vom Subjekt erzählt und reflektiert werden kann. Der Hochstapler ist ein besonderes Phänomen: Er täuscht seine Rolle vor, kann lügen, aber auch die Wahrheit sagen. Betrachtet man die Wahrheit im Kontext der von ihm gespielten Rolle, dann entspricht das Gesagte seiner Rolle, dem gängigen Klischee, der gängigen Vorstellung von Wahrheit als Übereinstimmung von Idee und Wirklichkeit. Bei seiner Entlarvung jedoch erweist sich die Interpretation seiner hochstaplerischen Handlungen als Trugschluss (vgl. Kapitel 3 und Kapitel 6). Die Ambivalenz der Phänomene „Lügen“ und „Täuschen“ schlägt sich in den unterschiedlichen Definitionen, Herangehensweisen und Wertungen nieder. Die Bandbreite reicht von absoluter Verurteilung bis hin zur evolutionsbiologischen Notwendigkeit (siehe Kapitel 2.3). In dieser Arbeit geht es nicht darum, die Lüge und das Täuschen aus ihrer moralischen Verwerflichkeit zu befreien, und auch nicht darum, ihnen ein Lob zu singen.5 Vielmehr geht es darum, ihre Gegebenheit als Anlass zu nehmen, ihre Bedeutung in biographischen Narrationen zu analysieren, ihre Relevanz in Bildungsprozesse aufzuzeigen und Wandlungen des Subjektes zu betrachten. Manchmal zeigt sich in der Lüge die Wahrheit. Dabei wird, sofern vorhanden, der Bezug zur erziehungswissenschaftlichen Lügendiskussion gesucht. Ich widme mich ausgewählten Aspekten, eine Nachzeichnung der Entwicklung der pädagogischen Diskussionen um die Lüge in verschiedenen Epochen wurde beispielsweise von Lallis geleistet und kann dort differenziert nachgelesen werden. 6
5
Wie zum Beispiel aus biologischer, evolutionärer Perspektive von Sommer, Volker: Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch, 2. Auflage, München: Beck 1993. Sommer lehnt seinen Titel an und bezieht sich auf: Erasmus, Desiderius: Das Lob der Torheit, übersetzt von Alfred Hartmann, 6. Auflage, Basel: Birkhäuser Verlag 1966. Siehe auch: Sommer, Volker: Lob der Lüge. Wie in der Evaluation der Zweck die Mittel heiligt, Stuttgart: Hirzel 2016.
6
E. Lallis: Lügen und Belogenwerden.
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Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit werden die Positionen dargestellt, welche insbesondere die ambivalenten Verstrickungen der Lüge zwischen Mensch und Gesellschaft aufzeigen. Damit folge ich Ladenthin, der aus erziehungswissenschaftlicher Sicht dazu auffordert: „Nicht also, was Lüge ist, sondern wie über Lüge gesprochen wurde und wird, wie man mit ihr in Theorien oder Diskursen umging und umgeht, wie man mit ihr umgehen könnte, wäre Gegenstand einer pädagogischen Reflexion über die Lüge ....“7
2.1 DESCARTES ZWEIFELT UND VON FOERSTER STRAFT DIE WAHRHEIT LÜGEN – LÜGE, TÄUSCHUNG UND ERKENNTNIS VON WIRKLICHKEIT Bildung als Prozess der Auseinandersetzung des Subjektes mit und in der ‚Wirklichkeit‘ in den Dimensionen von Lüge und Täuschung am Beispiel von Hochstaplerautobiographien verlangt zum einen eine Auseinandersetzung damit, wie sich in der Figur des Hochstaplers Wirklichkeit manifestiert, und was in diesem Zusammenhang ‚Wirklichkeit‘ ist, wie sich ‚Wirklichkeit‘ erschließt und welchen Rahmenbedingungen und Charakteristika ‚Wirklichkeit‘ unterliegt. Zum anderen gilt es, Lügen und Täuschen in ihren philosophischen, sprachlichen und gesellschaftlichen Bedeutungen zu erfassen. Die Spannbreite von Welten und Wirklichkeiten umfasst innerhalb des bildungstheoretischen Diskurses die radikalkonstruktivistische Negierung einer außerhalb des Subjektes gedachten Wirklichkeit und der humboldtschen Weltvorstellung als gegebene „unabhängige Selbstständigkeit“, die „dem Eigensinn unseres Willens die Gesetze der Natur und die Beschlüsse des Schicksals entgegenstellt“. 8 Nach wie vor ist der bildungsphilosophische und bildungstheoretische Diskurs von der Ablehnung, Bejahung oder Weiterentwicklung der erkenntniskritischen Haltung der Aufklärung geprägt, die in der Nachfolge Kants dazu übergeht, wahre Aussagen über die Welt am Maßstab der Vernunft zu prüfen und an politische, gesellschaftliche und ökonomische Dimensionen rückzubinden.9
7
V. Ladenthin: Bildung und Lüge, S. 107.
8
Humboldt, Wilhelm von: „Theorie der Bildung des Menschen“, in: Wilhelm von Humboldt, Werke in fünf Bänden, Band 1: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, herausgegeben von Andreas Flitner und Klaus Giel, Stuttgart: J.G. Cotta’sche Buchhandlung 1980, S. 234-240, hier S. 237.
9
Vgl. beispielsweise Pongratz, Ludwig A.: „Vom ‚linguistic turn‘ zum ‚critical turn‘. Ein Schlaglicht auf pädagogische Theoriekonjunkturen“, in: Christoph Leser et al. (Hg.), Zueignung. Pädagogik und Widerspruch, Opladen: Budrich 2014, S. 53-64.
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Die Moderne verzweifelt an den Selbstwidersprüchen der Aufklärung. Sie sucht Lösungen in ihrer Dialektik oder bringt die postmoderne Haltung des Referenzverlustes hervor. Bei Lyotard verliert die „Idee der Wirklichkeit ... ihre Existenzberechtigung“.10 Der Begriff von Welt ist im (bildungs-)philosophischen Diskurs eng gekoppelt an die Begriffe „Wahrheit“ und „Wahrhaftigkeit“, welche die Auseinandersetzung des Subjektes mit und in der Wirklichkeit bestimmen oder beeinflussen. Wahrheit und Wahrhaftigkeit werden in einem engen Zusammenhang mit der Erkenntnis von Wirklichkeit gesehen. Sie gelten als normative, wenn auch unterschiedlich definierte (Erkenntnis-)Prinzipien, wandeln sich zu moralischen Prämissen für individuelles und gesellschaftliches Handeln – Lüge und Täuschung sind zumeist ihre moralischen Gegenspieler. Doch auch sie führen zur Erkenntnis. Am Beginn der modernen Subjekttheorie steht der zweifelnde Descartes, der, indem er nach Kerns Interpretation die Möglichkeit in Betracht zieht, dass Erkenntnis Täuschung produzieren könne11, mittels Täuschungen zur Gewissheit gelangt. In seinen „Meditationes de prima philosophia“ (1641) setzt sich Descartes wie viele seiner Zeitgenossen mit der Erkennbarkeit von Welt und Möglichkeiten ihrer Erforschung auseinander. Insbesondere die naturwissenschaftliche Forschung rüttelt an vielen bis dato gültigen Wahrheiten, die sich als Aber- oder Irrglaube und als Täuschungen herausstellen. Sie bezweifelt die traditionellen kirchlichen und wissenschaftlichen Lehren von der Beschaffenheit der Wirklichkeit und beginnt, ihre Ordnung infrage zu stellen: „Alle Dinge hatten ihren Ort in der schönen Ordnung, dem Kosmos. Manches strebte mit Leichtigkeit nach oben wie der Rauch, anderes wurde durch sein Gewicht auf die Erde gezogen wie die Steine. Die experimentelle Naturwissenschaft der Neuzeit bricht mit dieser lebensweltlichen Evidenz. Sie argumentiert gegen den Augenschein.“ 12
Die Argumentation gegen den Augenschein, die mit Galileos Blick in den Himmel durch ein Fernrohr beginnt, das Geltende als das Scheinbare zu enttarnen, führt zu neuen Sichtweisen auf die Welt.13 Zweifel daran, ob die Wirklichkeit täuscht, bringen – als Motor von Forschung – neue Erkenntnisse hervor.14 Kern illustriert dies anhand Descartes Beschäftigung mit der Optik, konkret an geschliffenen Linsen und an einem Fernrohr: Die Betrachtung eines Wassertropfens unter dem Mikroskop erschließt eine neue, mit bloßem Auge nicht sichtbare Welt; der Blick in den nächtli-
10 L.A. Pongratz: Vom ‚linguistic turn‘ zum ‚critical turn‘, S. 56. 11 S.H. Kern: Die Kunst der Täuschung, S. 16. 12 Meyer-Drawe, Käte: Diskurse des Lernens, München: Fink 2008, S. 14. 13 Ebd., S. 12-13. 14 Siehe beispielsweise: Vierhaus, Rudolf: Wissenschaft im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1985.
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chen Himmel durch ein Teleskop lässt bisher unbekannte Sterne sichtbar werden; dennoch kann sich wissenschaftliche Erkenntnis mittels Denken und rein sinnlicher Wahrnehmung als begrenzt erweisen und das Sichtbare kann den Betrachter vor dem Unsichtbaren täuschen.15 Deshalb verlangt „der Fortschritt der Erkenntnis“16 nicht nur „einen Bruch mit der vertrauten Sicht der Dinge“17, sondern Erkenntnis erfordert zunächst auch Zweifel an dieser Betrachtung, welche die Möglichkeit der Täuschung impliziert. Im Bewusstsein über die Möglichkeit einer allumfassenden Täuschung beginnt Descartes seine Meditationen – auch indem er seine eigenen Wahrnehmungen (Körper, Traum, Wachzustand) und die Wissenschaften, „welche von der Betrachtung der zusammengesetzten Dinge ausgehen“18 bezweifelt: „Alles nämlich, was ich bisher am ehesten für wahr gehalten habe, verdanke ich den Sinnen oder der Vermittlung der Sinne. Nun aber bin ich habe dahintergekommen, daß diese uns bisweilen täuschen, und es ist ein Gebot der Klugheit, denen niemals ganz zu trauen, die uns auch nur einmal getäuscht haben. ... Meinetwegen: wir träumen. Mögen wirklich alle jene Einzelheiten nicht wahr sein, daß wir die Augen öffnen, den Kopf bewegen, die Hände ausstrecken; … Denn ich mag wachen oder schlafen, so sind doch stets 2 + 3 = 5, das Quadrat hat nie mehr als vier Seiten, und es scheint unmöglich, daß so augenscheinliche Wahrheiten in den Verdacht der Falschheit geraten können.“19
Descartes’ Zweifel und die Relevanz der Täuschung führen ihn, um sich nicht selbst als Wahnsinnigen zu sehen, zur Hypothese des „böse[en] Geist[es]“, der gegen ihn, in Opposition zum „allgütige[n] Gott“, „all seinen Fleiß“ aufbringt, um ihn allumfassend sowohl in seiner körperlichen Existenz als auch in seiner Welt zu täuschen.20 Um den Manipulationen des bösen Geistes zu entgehen, will Descartes alles, was ihm bisher als wahr gilt, bezweifeln. Descartes bezweifelt die Wahrheiten, die an die Entsprechung von Gegenstand und Denken gekoppelt sind. Die Notwendigkeit des radikalen Zweifels, um der Macht und List „jene[s] Betrüger[s]“21 zu entgehen, ruft bei Descartes die Frage hervor, ob ein Ich da sei:
15 S.H. Kern: Die Kunst der Täuschung, S. 17. 16 K. Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, S. 14. 17 Ebd. 18 Descartes, René: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1959, S. 37. 19 Ebd., S. 32-37. 20 Ebd., S. 39. 21 Ebd., S.41.
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„Aber es gibt einen, ich weiß nicht welchen, allmächtigen und höchst verschlagenen Betrüger, der mich geflissentlich stets täuscht. – Nun, wenn er mich täuscht, so ist es also unzweifelhaft, daß ich bin. Er täusche mich, soviel er kann, niemals wird er doch fertigbringen, daß ich nichts bin, solange ich denke, daß ich etwas sei. Und so komme ich, nachdem ich nun alles mehr als genug hin und her erwogen habe, schließlich zu der Feststellung, daß dieser Satz: Ich bin, ich existiere‘, sooft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist.“22
Erkenntnis geht vom Subjekt aus und nicht wie den Erkenntnistraditionen der Antike folgend von der Wirklichkeit. Wie Kern veranschaulicht, definiert Descartes den Maßstab für das Verhältnis von Denken, Subjekt und Wirklichkeit neu: Da der Zweifel vom Subjekt gedacht werden kann, ist die Existenz des Subjektes nicht anzuzweifeln. Nicht mehr Gott – an dessen Existenz Descartes nicht zweifelt – ist als Idee die „Bedingung der Möglichkeit einer Entsprechung von Denken und Gegenstand der Garant für die Möglichkeit der Wahrheit von Urteilen“.23 Es ist der boshafte, täuschende Geist, der listige Betrüger, der ihn zu seinem berühmtesten Satz führen wird: „ego cogito, ergo sum“.24 Nicht die Wirklichkeit der Welt als gottgegebene Aussicht auf die Entsprechung von Denken und Gegenstand ist für Descartes die zentrale Bezugskategorie für Erkenntnis, sondern das Denken, welches die Gewissheit durch sich selbst erlangt.25 Der Zweifel, hervorgerufen durch Täuschung, führt zur Selbstvergewisserung des Subjektes im Denken.26 Meyer-Drawe bezieht die Bedeutung der Erfahrungen von Zweifeln sowie Brüchen auf das Lernen und schlussfolgert: „Lernen ist nicht nur Erkennen. Es hat viele Facetten, welche den Menschen als leibliches Wesen betreffen. Etwas in Zweifel ziehen, um den Grad an Gewissheit der Erkenntnis zu steigern, ist etwas anderes, als in eine Ausweglosigkeit zu geraten, weil alles Gewohnte versagt. Lernen beginnt in dieser Hinsicht dort und dann, wo und wenn das Vertraute seinen Dienst versagt und das Neue noch nicht zur Verfügung steht; ‚denn die alte Welt ist sozusagen aufgegeben und eine neue existiert noch nicht‘ .... Der Weg führt nicht vom Schatten ins Licht, sondern endet zunächst in einem Zwielicht, auf einer Schwelle zwischen nicht mehr und noch nicht.“27
22 Ebd., S. 43-45. 23 S.H. Kern: Die Kunst der Täuschung, S. 17. 24 Descartes, René: Die Prinzipien der Philosophie. Lateinisch – Deutsch, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2005, S. 14, Herv. i.O. 25 Vgl. S.H. Kern: Die Kunst der Täuschung, S. 18. 26 Zur Interpretation Descartes’ aus moraltheologischer Sicht siehe beispielsweise: Kuschel, Karl-Josef: „‚Er täusche mich so viel er kann ...‘ (René Descartes). Zum Risikocharakter des Grund- und Gottvertrauens“, in: Klosinski, Tarnen. Täuschen. Lügen (2011), S. 45-55. 27 K. Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, S. 15, Herv. i.O
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Die Vergewisserung des Selbst, die Möglichkeit zu erkennen, zu lernen, sich zu bilden, kann seinen Ursprung im Zweifel oder in der Überzeugung haben, von den Dingen und Menschen in der Welt getäuscht zu werden. Durch das Bezweifeln der als wahr erachteten Wirklichkeit erhält das Subjekt (nach Descartes) die Möglichkeit, sich einer vorgetäuschten Welt zu widersetzen, selbsttätig einen Bruch zu vollziehen, indem es sich selbst denkt. Der Zweifel „steht in unserer neuzeitlichen Überlieferung für den freien Entschluss, nur das als wahr anzuerkennen, was in sich vollständig klar und von allem anderen präzis unterschieden werden kann. Zweifelhaft kann dagegen die Situation selbst werden .... In einer Art Übereinstimmung gerät das Geläufige in ein Zwielicht. Es büßt seine Verlässlichkeit ein, wie das zigfach wiederholte Wort, das durch und durch fremd wird.“28 Das Zwielicht des Geläufigen, von Descartes verdeutlicht in den Dimensionen Traum und reale Welt, wird bei Leibniz am Maßstab der Kohärenz unter den Gesichtspunkten von Vernunft und Erfahrung gemessen. 29 Kant argumentiert in diese Richtung und lenkt ebenfalls den Blick in den Himmel: „Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiermit eben so, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ. In der Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen. Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müßte, so sehe ich nicht ein, wie man a priori von ihr etwas wissen könne; richtet sich aber der Gegenstand (als Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen.“30
28 K. Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, S. 14-15. 29 Vgl. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand IV, 2, § 14. Philosophische Schriften III/2, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1985. 30 Kant, Immanuel: „Kritik der reinen Vernunft. 2. Auflage 1787“, in: Kants Werke. AkademieTextausgabe. Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften, Band 3, Berlin: Walter de Gryter & Co., S. 11-12, Herv. i.O.
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Nach Kern gebe es zwar für Kant eine gegebene Welt außerhalb des Denkens, eine Wirklichkeit, die eindeutig und nach Gesetzen verfasst, die jeder Erkenntnis vorausgesetzt sei, ob das Denken diese Wirklichkeit adäquat erfassen kann, habe Kant jedoch bezweifelt.31 Kern konstatiert eine zwiespältige Wirklichkeit in der idealistischen Erkenntnistheorie. Sie sei deshalb zwiespältig, weil sie auf eine Welt außerhalb Bezug nehme, diese aber gleichzeitig aus dem Denken heraus konstruiere: „Was undenkbar ist, kann nicht gedacht werden. Erkenntnis ist dann aber nicht Abbildung, sondern Konstruktion von Wirklichkeit.“32 Die Konstruktion von Wirklichkeit durch das Subjekt nimmt der radikale Konstruktivismus auf, verändert dieses Verhältnis jedoch in einem entscheidenden Punkt: Das Subjekt konstruiert seine Wirklichkeit, um sich selbst zu erzeugen und zu erhalten: die Autopoiesis wird zum Erklärungsmodell der Erkenntnis erkoren.33 Damit kann es für (radikale) Konstruktivisten keine Wahrheit, keine Lüge, keine Täuschung geben. Diese erkenntnisleitenden Kategorien über die Beschaffenheit vorn Wirklichkeit und der Zweifel an ihr spielen aus ihrer Perspektive keine Rolle. Dennoch zweifeln auch sie – zumindest an der wahren Erkenntnis. „Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“ – so lautet der Titel eines Buches von Heinz von Foerster und Bernhard Pörksen, in dem die beiden Wissenschaftler unter anderem über Wahrheit und Lüge diskutieren.34 Ausgehend von der konstruktivistischen Verlagerung des Erkenntnisprozesses von Wirklichkeit in das Subjekt regt Pörksen mit den folgenden Annahmen die Diskussion an: „Diese radikalen Überlegungen, die jeden Akt der Erkenntnis untrennbar mit dem Erkennenden verflechten, bringen einen Begriff fundamental in Mißkredit, der im Zentrum der verschiedensten wissenschaftlichen, religiösen oder ganz alltäglichen Wahrnehmungsanstrengungen steht: Es ist der Begriff der Wahrheit, dessen Verständnis eine beobachterunabhängige Welt voraussetzt. Gängig ist es insbesondere, Wahrheit als eine adaequatio intellectus et rei zu begreifen, als eine Übereinstimmung zwischen dem erkennenden Geist und der Sache.“ 35
Von Foerster erwidert: „... Der Begriff der Wahrheit ist, wenn man es genau nimmt, ein Chamäleon der Philosophiegeschichte mit einer – je nach Benutzer – immer etwas anderen Färbung. Bei Descartes hat das
31 Vgl. S.H. Kern: Die Kunst der Täuschung, S. 19. 32 Ebd. 33 Vgl. ebd., S. 20. 34 Foerster, Heinz von/Pörksen, Bernhard: Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 8. Auflage, Heidelberg: Carl Auer 2008. 35 Ebd., S. 29, Herv. i.O.
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Wort Flecken, bei Kant Streifen, bei Schopenhauer Punkte. … Mein Ziel ist es vielmehr, den Begriff der Wahrheit selbst zum Verschwinden zu bringen, weil sich seine Verwendung auf eine entsetzliche Weise auswirkt. Er erzeugt die Lüge, er trennt die Menschen in jene, die recht haben, und jene, die – so heißt es – im Unrecht sind. Wahrheit ist, so habe ich einmal gesagt, die Erfindung eines Lügners.“36
Pörksen fragt: „Wie ist das zu verstehen?“37 Und von Foerster antwortet: „Damit ist gemeint, daß sich Wahrheit und Lüge gegenseitig bedingen: Wer von Wahrheit spricht, macht den anderen direkt oder indirekt zu einem Lügner. Diese beiden Begriffe gehören zu einer Kategorie des Denkens, aus der ich gerne heraustreten würde, um eine ganz neue Sicht und Einsicht zu ermöglichen.“38
Nach einer ausführlichen Diskussion der Folgen des Wahrheitsbegriffes für Gesellschaften und Menschen schlussfolgert der Kybernetiker von Foerster: „... Es gibt nicht irgendeine absolute Wahrheit, die einen zwingt, die Dinge so und nicht anders zu sehen, so und nicht anders zu handeln.“39 Von Glasersfeld hingegen kritisiert Wahrheit nicht in dieser Vehemenz, wie Ottermann in seinem Review-Essay zum Buch von Pörksen und von Foerster verdeutlicht. Von Glasersfeld will „das Wort ‚wahr‘ nicht aus dem Vokabular der Konstruktivisten streichen .... Dort aber hat es eine einfache, praktische Definition: Eine Aussage ist wahr, wenn sie die Beschreibung einer erfahrenen Situation ohne gröbere Entstellung wiedergibt. Wenn andere zustimmen, dass die Beschreibung auch auf ihre Erfahrung passt, darf sie als ‚intersubjektiv‘ bezeichnet werden – aber das ist nicht, was Realisten (und die meisten Lehrer der Wissenschaft) unter der Bezeichnung ‚objektiv‘ verstehen.“40 Wahrheit als intersubjektiv geteilte Erfahrung von Aussagen über Situationen – auch von Glasersfeld führt im Zusammenhang mit der Erkenntnismöglichkeit von Wirklichkeit den Begriff „wahr“ mit sich und hält somit die Möglichkeit von zumindest „falsch“ oder auch „gelogen“ aufrecht.
36 Ebd. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 29-30. 39 Ebd., S. 38. 40 Ernst von Glasersfeld: Stellungnahme eines Konstruktivisten zur Wissenschaft. In: Theo Hug (Hg.), Wie kommt die Wissenschaft zu Wissen? (CD-ROM 1), Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2001, zitiert in: Ottermann, Rolf: „Review Essay: Konstruktivismus ist die Erfindung eines Kritikers“, in: Forum Qualitative Sozialforschung 6 (2005), http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/42/88 vom 26. August 2015, S. 22.
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Henningsen, der sich mit „Lüge und Freiheit“ aus Sicht der politischen Bildung beschäftigt, geht einen anderen Weg. Er unternimmt das Unterfangen, aufzuzeigen, wie sich aus Lügen die Wirklichkeit erschließen lässt. „Menschliche Wirklichkeit“ ist, so schreibt Henningsen, „die qualligste, sphinxhafteste, sprödeste Materie. Man kann sie interpretieren und kann sie verändern. ... ‚Lüge‘ sei ein Einstieg, um etwas zu erfahren.“41 Um das Verhältnis zwischen Erkennen und Wirklichkeit in der Verstrickung der Lüge zu erfassen, führt Henningsen Proteus, den weissagenden Meeresgott als Beispiel an und zitiert aus Homers Odyssee: „...; doch dieser vergaß der betrieglichen Kunst nicht. Erstlich ward er ein Leu mit fürchterlich wallender Mähne, Drauf ein Pardel, ein bläulicher Drach’, und ein zürnender Eber, Floß dann als Wasser dahin und rauscht’ als Baum in den Wolken. Aber wir hielten ihn fest mit unerschrockener Seele.“42
Henningsen interpretiert in Bezug auf „Wirklichkeit“: „Proteus: das sei die schillernde Wirklichkeit, unzuverlässig, wie das Wasser, sich ständig verwandelnd und entgleitend, wenn man sie festzuhalten suche. Proteus: das sei ein Gleichnis für die Schwierigkeit feststellenden Erkennens, daß das zur Erkennende immer erst bändigen müsse, da dieses trügerisch sich durch dauernde Verwandlungen dem Zugriff zu entziehen suche.“43
Das Bändigen des zu Erkennenden setzt sich bei Henningsen in den Vorstellungen vom Subjekt fort: Die Lüge eröffnet dem Menschen die Freiheit, sich ins Verhältnis zur Wirklichkeit zu begeben und sich gesellschaftlichen Zwängen zu widersetzen: „Ein Mensch kann lügen. Im Lügen-Können manifestiert sich das Subjekt. Und das Verzweifelte ist, daß ich nicht feststellen kann, ob das Subjekt solches ‚Können‘ realisiert hat oder nicht. Ein Subjekt kann ich als Subjekt nicht erkennen.“44 Henningsen betont, dass die Fähigkeit des Menschen, sich zu verstellen, dazu führt, „daß er unbestimmt ist, proteusartig schillernd“.45 Menschliche Wirklichkeit sei von außen nicht exakt feststellbar, sondern auf Vermittlung und Interpretation angewiesen. 46 Die Unbestimmtheit des Menschen bedeutet zugleich seine Freiheit, Wandlungen in
41 J. Henningsen: Lüge und Freiheit, S. 9-11. 42 Homer: Odyssee, übersetzt und herausgegeben von Johann Heinrich Voß, Leipzig: Immanuel Müller 1843, S. 63, zitiert in J. Henningsen: Lüge und Freiheit, S. 12. 43 J. Henningsen: Lüge und Freiheit, S. 12. 44 Ebd., S. 25, Herv. i.O. 45 Ebd., S. 31. 46 Ebd.
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der Gesellschaft einzugehen und sich Wirklichkeit und Welt zu erschließen. Täuschung und Lüge sind dann – sieht man ab von ihrem normativ gesetzten moralischen Impetus – Mittel zur (Nicht-)Teilnahme und Auslöser von Erkenntnisprozessen. „Der Mensch kann nein sagen, kann lügen und sich dem Zugriff entziehen – wenn auch nicht immer de facto, so doch potentiell: nicht praktisch, aber ‚theoretisch‘.“47 Täuschung, Zweifel und Lüge sind Bestandteile von Wirklichkeit und gleichzeitig geht ihnen die Erkenntnis von Welt voraus. Sie bieten dem Menschen die Möglichkeit, die Welt zu verändern, über die Welt zu verfügen, sich als Subjekt in dieser zu konstituieren und sich auch dem anderen zu entziehen: „Sowohl das Verändern der Welt als auch das Lügen setzen Kreativität voraus, das Überschreiten des Gegebenen. Beide Fähigkeiten sind das Resultat der bewußten Verfügung über die Welt.“48 Das Überschreiten des Gegebenen und die bewusste Verfügung über die Welt mit dem Ziel, die Welt und damit auch das eigene Leben zu gestalten, sind wesentliche Bestandteile von Bildungsprozessen (vgl. Kapitel 4). Die Kreativität, die vom Menschen dabei gefordert wird, wird jedoch auch an moralischen Maßstäben gemessen und unterliegt ihren Reglementierungen. Dies zeigen die philosophischen Diskussionen über die Lüge, in die das folgende Kapitel Einblicke gibt.
2.2 AUGUSTINUS SETZT DEN MASSSTAB, ROUSSEAU BLICKT INS INNERE UND NIETZSCHE STELLT DIE WELT AUF DEN KOPF – PHILOSOPHISCHE BETRACHTUNGEN ZUR LÜGE Täuschung als „Verwirrung über Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit“ 49 und Lüge „als Täuschung mit sprachlichen Mitteln“50 gelten zum Beispiel in den (bildungs-) theoretischen Überlegungen von Ladenthin als „kategoriale Unvereinbarkeit“ 51, wenn sie nur aus der Perspektive des Lügners betrachtet und bewertet werden. Nicht das Lügen an sich sei erstes Thema der pädagogischen Reflexionen, „sondern der Umgang mit der Lüge in den allgemeinbildenden Diskursen der Wissenschaften von der Sprache, der Literatur, der Natur der Gesellschaft, der Geschichte.“52 Ein Blick in die Geschichte der Diskurse in den von Ladenthin aufgezählten Wissenschaften zeigt eine Verschiebung in der Bewertung der Lüge, die zwischen den Extremen Lob
47 Ebd. 48 S.H. Kern: Die Kunst der Täuschung, S. 48. 49 Ebd., S. 21. 50 Ebd. 51 V. Ladenthin: Bildung und Lüge, S. 103. 52 Ebd., S. 108.
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und Verdammung schwankt und von den jeweiligen gesellschaftlichen Umständen abhängig ist, in denen die Diskurse geführt wurden. Einen besonderen, epochalen Einschnitt im Lügendiskurs stellt die Aufklärung da, die – ihrem ambivalenten Charakter entsprechend – ausgehend von der moralischen Bewertung der Lüge Wahrhaftigkeit, Verstand, Moral und Tugend zu Prämissen des Bildungsprozesses des Subjektes ernennt. Auch Grell verweist auf die Bedeutung der Aufklärung für die „auffallende Affinität der Pädagogik zur Tugend der Wahrhaftigkeit“ 53 und sieht einen engen inhaltlichen und zeitlichen Zusammenhang zwischen der Etablierung der Pädagogik und der Etablierung der Wahrhaftigkeit als Tugend in der Öffentlichkeit. 2.2.1 Klugheit und Lüge Wie der Diskurs der Pädagogik finden auch Teile des Diskurses über die Lüge während der Aufklärung in der Literatur statt.54 In Gedichten, Erzählungen und Schauspielen klagen die bürgerlichen Dichter wie Lessing den Adel an, dem sie Lüge und Betrug vorwerfen.55 Die ‚Verstellungskünste‘ des Adels werden zuvor noch zum Beispiel von Machiavelli im 16. Jahrhundert positiv hervorgehoben. „Gleichwohl zeigt die Erfahrung, daß diejenigen Fürsten Großes vollbracht haben, die auf ihr gegebenes Wort wenig Wert gelegt und sich darauf verstanden haben, mit List die Menschen zu hintergehen“56, schreibt Machiavelli und sieht den Wert der „Fürstenlüge“57 in ihrer Funktion der Machterhaltung. In der höfischen Kultur des 17. Jahrhunderts, beispielsweise in Spanien, Italien oder Frankreich, sind „Täuschung und Lüge bei Hofe eine schiere (Über-)Lebensnotwendigkeit.“58 So existieren verschiedene Kataloge, in
53 F. Grell: Über die Wahrhaftigkeit, S. 39. 54 Siehe dazu beispielsweise: Baasner, Rainer: Einführung in die Literatur der Aufklärung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006; Petersen, Katja: „Denn keine grössere Quaal kann es wohl geben, als eine gänzliche Leerheit der Seele“. Karl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als Bildungsmedium Erwachsener im späten 18. Jahrhundert, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2013. 55 Zum Beispiel: Lessing, Gotthold Ephraim: „Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen“, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke in drei Bänden. Band 1: Fabeln, Gedichte, Dramen, herausgegeben von Herbert G. Göpfert, München/Wien: Hanser 1982, S. 515592; Schiller, Friedrich: Kabale und Liebe, Stuttgart: Reclam 2014. 56 Machiavelli, Nicolò: Il principe/Der Fürst. Italienisch-Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Philipp Rippel, Stuttgart: Reclam 2004, S. 18. 57 F. Grell: Über die Wahrhaftigkeit, S. 37. 58 J. Mecke: Lüge und Literatur, S. 61.
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denen sich zulässige Formen der Lüge wie zum Beispiel die „Notstandslüge“, die „Anstandslüge“, die „Trostlüge“ oder die „vornehme Verhehlung“59 finden lassen.60 „Der Mensch muss sich an die Gewalt und der sic! Betrug der Welt anpassen, in die er hineingeboren wird und der er sich nur durch extreme Flucht entziehen könnte. Die Wahrheit ist schön, wunderschön sogar, nie darf man von ihr abweichen. Aber wie die Dinge nun einmal liegen, muss man ihr jene Tugend der Vorsicht zur Seite stellen, die Verhehlung zuweilen notwendig macht.“61
Im Zuge der Aufklärung wird nach Möglichkeiten der Abgrenzung zwischen Bürger und Adeligem gesucht. Es sind eben jene Verstellungskünste, die dem Adel zum moralischen und auch politischen Verhängnis werden. Die Lügen der Adeligen und ihre höfische Scheinwelt werden angeklagt. Diese Anklage führt dazu, dass in Abgrenzung zum Adeligen Wahrhaftigkeit zur Tugend und zum Wesen des Bürgers erklärt wird. Ladenthin charakterisiert diesen Vorgang als „ein kulturelles Einzelgefecht beim fundamentalen Kampf des Bürgertums gegen den Adel“ 62, das mit publizistisch-literarischen Mitteln geführt wird. Doch das Einzelgefecht hat weitreichende Folgen für die moralische Bewertung der Lüge und verstärkt die Forderung nach menschlicher Wahrhaftigkeit: Sie liegt in der Natur des Menschen, sie ist die „Idee der Sprache“63 und die Sprache ist die Natur. Damit stilisiert der „(publizistisch-literarische) Kampf gegen die Lüge“64 dieselbe zur „Eigenheit der verdorbenen (feudalen) Kultur“65, welche den Bezug zur Natur verloren hat. „Die Lüge ist die höfische Entfremdung vom Natürlichen, Ursprünglichem.“66 Doch nicht nur die ‚Lügenkultur‘ des Adels wollen einige aufgeklärte Autoren bekämpfen, auch Lug und Trug im bürgerlichen Alltagsleben wirken auf manche Zeitgenossen bedrohlich. Die Angst vieler Aufklärer vor den menschlichen Trieben, Gefühlen, dem Fiktiven und der Phantasie führt zu einer Betonung der Vernunft, der Wahrhaftigkeit und ihres gesellschaftlichen Nutzens sowie zu einem Abschied
59 F. Grell: Über die Wahrhaftigkeit, S. 37. 60 Vgl. dazu: Bettetini, Maria: Eine kleine Geschichte der Lüge. Von Odysseus bis Pinocchio, Berlin: Wagenbach 2003, S. 23. 61 F. Grell: Über die Wahrhaftigkeit, S. 37. Siehe zur Notwendigkeit von Täuschung, Lüge und Verstellung am Hofe auch: N. Elias: Die höfische Gesellschaft. 62 V. Ladenthin: Bildung und Lüge, S. 103. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 Ebd. 66 Ebd.
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von Täuschung, Lüge und List als Ausdruck von Klugheit, als Form des Wissens, der Metis – wie es sich noch in der antiken Mythologie zeigt. 67 In der nicht-christlichen Literatur der Antike ist es beispielsweise der listenreiche Odysseus, der seine Gegner mithilfe von Täuschung und Lüge besiegt. Seine moralische Integrität wird von Homer nicht infrage gestellt. Seine Fähigkeit, zu lügen und zu täuschen, verdankt er seiner Klugheit. „Bei Homer ist die Lüge noch unproblematisch. Odysseus, der Listenreiche, wird von den Göttern und Menschen gelobt, wenn ihm eine recht faustdicke Lüge gelungen ist. Es zeugt von Ingenium, die Kunst der Lüge zu beherrschen. Die Götter selber verschmähen Lug und Trug nicht und machen den Menschen diese Kunst vor. Homers Epen, die alle diese Lügen bewahren, sind eine Schule des Lügens.“68
Ein Lob auf diese Schule des Lügens, in der Odysseus „als notorischer Lügner zum zentralen Helden“69 avanciert, erfolgt aus göttlichem Mund: Athene, die Göttin der Weisheit, lobt seine List, seine Verschlagen- und Gerissenheit sowie seine Fähigkeit zur Verstellung.70 Auch Platon, der die lügenden Dichter aus dem Staat verbannen will, rechtfertigt die Lüge „als nützliche Arznei …, auch wenn es nur dem Herrscher erlaubt ist, sie zu verabreichen, während die Bürger dem Herrscher gegenüber zur Wahrheit verpflichtet sind“.71 In seinem „Kleineren Hippias“ lässt „der Philosoph der Wahrheit“72 Hippias und Sokrates über Lüge und Wahrheit diskutieren: Sie debattieren darüber, ob Homers Ilias oder dessen Odyssee mehr Wert sei. Hippias bevorzugt die Ilias und den wahrhaftigen Achilles. Der lügenhafte Odysseus hingegen schmälere den Wert der Dichtung. Sokrates jedoch stellt sich auf die Seite des Odysseus und fragt Hippias im Anschluss an dessen Vortrag: „Erklärst Du also die Lügenhaften für Leute, die unfähig sind, etwas zu tun wie die Kranken, oder für solche, die fähig
67 Anzumerken ist, dass es im Altgriechischen keinen eigenen Begriff für Lüge gibt. Das altgriechische „pseudos“ hat eine semantische Spannbreite von „Täuschung“ über „Unwissenheit“ bis hin zu „Unwahrheit“ und „Irrtum“. Vgl. Baruzzi, Arno: Philosophie der Lüge, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996, S. 151. 68 Weinrich, Harald: Linguistik der Lüge, 7., unveränderte Auflage, München: Beck 2006, S. 70. 69 Ueding, Gert (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 10: Nachträge A-Z, Berlin/Boston: de Gruyter 2012, S. 595. 70 Vgl. Homer: Odyssee, 13. Gesang, V. 290-299. 71 J. Mecke: Lüge und Literatur, S. 61. 72 Liessmann, Konrad Paul: „Der Wille zum Schein. Über Wahrheit und Lüge“, in: Konrad Paul Liessmann (Hg.), Der Wille zum Schein. Über Wahrheit und Lüge, Wien: Zsolnay 2005, S. 7-33, hier S. 12.
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sind, etwas zu tun?“ Hippias antwortet: „Was mich anlangt, so halte ich sie für fähig, und zwar im hohen Maße wie zu mancherlei anderem so besonders dazu, die Menschen zu täuschen.“73 Die Fähigkeit, die Menschen zu täuschen, setzt, so Sokrates im weiteren Gesprächsverlauf, Klugheit und Wissen voraus.74 Sokrates verweist darauf, dass Täuschung Klugheit erfordert: Lügner können aufgrund ihres Wissens, ihrer List und ihrer Umsicht andere erfolgreich täuschen. Der kluge Mensch kann zwischen Wahrheit und Lüge wählen. Die Aufrichtigen aber lügen mangels Klugheit nicht, sie haben keine andere Wahl. Im Gegensatz dazu stehen die Lügner: Ihr Wissen um die Wahrheit und ihre Klugheit ermöglichen eine Selbstbestimmung zwischen Lüge und Wahrheit. Die antiken Helden und Philosophen zeigen, „daß offensichtlich die intellektuelle Fähigkeit zu lügen in eins fällt mit dem praktischen Vermögen zu handeln, zu beherrschen, zu verändern.“75 Lässt sich ein tendenziell eher positives Urteil über die Lüge in den nicht-christlichen Quellen der Antike identifizieren, so findet sich das negative Pendant in den christlichen Texten der Antike wieder: Ende des 4. und Anfang der 20er Jahre des 5. Jahrhunderts tritt Augustinus auf die Bühne der Diskussion um die Lüge. Er wird zum Vorbild für die aufgeklärten Gegner der Lüge und deklariert die Lüge zur großen Frage der Ethik und zum „Gottesmord“.76 „Lügen ist Vernichtung Gottes und des Menschen zugleich,“77 fasst Baruzzi als Quintessenz von Augustinus Schriften „De mendacio“ („Die Lüge“, 395) und „Contra mendacium“ („Gegen die Lüge“, 420)78 zusammen. Gibt es in der christlichen Literatur der Antike durchaus Autoren, die Lügen in manchen Fällen zuließen, bezieht Augustinus eindeutig Stellung gegen die Lüge.79 Er entwickelt eine Definition der Lüge, die noch heute Ausgangspunkt theo-
73 Platon: Der Kleinere Hippias. Sämtliche Dialoge, Band 3, herausgegeben von Otto Apelt, Hamburg: Meiner 1988, S. 25-26. 74 Zum Lügen in der Antike siehe ausführlicher beispielsweise: E. Lallis: Lügen und Belogenwerden, S. 7-30; A. Baruzzi: Philosophie der Lüge, S. 129-160. 75 S. Dietzsch: Kleine Kulturgeschichte, S. 120. 76 A. Baruzzi: Philosophie der Lüge, S. 46. 77 Ebd. 78 Augustinus, Aurelius: Die Lüge und Gegen die Lüge, übertragen und erläutert von Paul Keseling, Würzburg: Augustinus-Verlag 1986. 79 Flierl nennt Origines, Klemens von Alexandrien, Gregor von Nyssa und Johannes Chrysostumus. Vgl. Flierl, Alexander: Die (Un-)Moral der Alltagslüge?! Wahrheit und Lüge im Alltagsethos aus Sicht der katholischen Moraltheologie, Münster: LIT 2005, S. 81. Siehe beispielsweise auch weiterführend: Müller, Gregor: Die Wahrhaftigkeitspflicht und die Problematik der Lüge. Ein Längsschnitt durch die Moraltheologie und Ethik unter besonderer Berücksichtigung der Tugendlehre des Thomas von Aquin und der modernen Lösungsversuche, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien: Herder 1962.
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retischer Überlegungen zur Lüge ist: „Unter Lüge versteht man ja doch eine unwahre Bezeichnung mit der Absicht zu täuschen“80, definiert der ehemalige Rhetor am kaiserlichen Hof in Mailand. Augustinus nähert sich der Lüge vom Standpunkt der subjektiven Absicht und geht vom individuellen Wissen darüber aus, bewusst Falsches zu sagen, um andere zu täuschen. Die dem Menschen von Gott gegeben Sprache wird durch die Lüge missbraucht: „Die Sprache ist doch sicherlich geschaffen, nicht damit die Menschen sich durch sie gegenseitig täuschen, sondern damit man durch sie seine Gedanken dem anderen zur Kenntnis bringt. Die Sprache zur Täuschung zu benützen, nicht zu dem Zweck zu dem sie geschaffen worden ist, ist folglich Sünde.“81
Augustinus entwirft eine Opposition von Lüge und Wahrhaftigkeit, letztere verstanden als innere Überzeugung von Gesagtem und Gemeinten: „Deshalb muß man zusehen, was Lüge ist. Nicht jeder, der die Unwahrheit sagt, lügt ja, wenn er glaubt oder meint, es sei wahr, was er sagt.“82 Die Wahrhaftigkeit und die Lüge verankert Augustinus in der inneren Überzeugung des Menschen. Die Lüge wird damit nicht im Verhältnis zur Wirklichkeit betrachtet, sondern bezogen auf den Menschen und sein Selbstverhältnis. „Jeder nun, der das ausspricht, was er entweder glaubt oder meint und so im Herzen trägt, lügt nicht, mag es auch unwahr sein. Man darf ja, soll die Aussage zuverlässig sein, nur das aussprechen, was man im Herzen trägt und so in sich hat, wie man es ausspricht.“83 Wahrhaftigkeit meint also, dass die Zuverlässigkeit einer Aussage der inneren Überzeugung des Sprechenden entspringt. Somit lügt derjenige, „der etwas anderes, als was er im Herzen trägt, durch Worte oder beliebige sonstige Zeichen zum Ausdruck bringt.“84 Liessmann konstatiert angesichts der Verlagerung des Problems von Wahrheit und Lüge auf die Wahrhaftigkeit der Lüge ein „verwirrendes Feld des Verhältnisses von Wahrheit und Lüge“:85 „Denn wenn Wahrhaftigkeit als Übereinstimmung des nach Außen Gesagten mit dem im Inneren Geglaubten gegeben ist, ergeben sich in Bezug zumindest auf Tatsachenwahrheiten folgen-
80 A. Augustinus: Die Lüge und Gegen die Lüge, S. 102. 81 Ebd., S. 28. 82 Ebd., S. 2. 83 Ebd. Vgl. Liessmann, Konrad Paul: „Lüge als Akt der Kommunikation“, in: Walter Hörnberg/Daniela Hahn/Timon B. Schaffer (Hg.), Kommunikation und Verständigung. Theorie – Empirie – Praxis. Festschrift für Roland Burkart, 2., überarbeitete Auflage, Wiesbaden: Springer VS 2012, S. 119-131, hier S. 124. 84 A. Augustinus: Die Lüge und Gegen die Lüge, S. 3. 85 K.P. Liessmann: Lüge als Akt der Kommunikation, S. 127.
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de Möglichkeiten: Man kann lügen und dabei die Unwahrheit sagen; man kann aber auch lügen und dabei unwissentlich doch die Wahrheit sagen; man kann wahrhaftig sein und dabei doch eine Unwahrheit sagen; und man kann wahrhaftig sein und dabei auch die Wahrheit sagen. Ob das, was jemand gesagt hat, in einem faktischen Sinn stimmt oder nicht stimmt, kann so letztlich kein Kriterium dafür sein, ob jemand gelogen hat oder nicht gelogen hat.“ 86
Die Verwirrungen durch die vielfältigen Möglichkeiten des Glaubens an die subjektive Wahrheit können nicht gelöst werden. Nur das Subjekt selbst kann sich wahrhaftig verhalten und so sein Verhältnis zu Gott bestimmen. Doch zurück zur Aufklärung: Je länger sie andauert, desto vehementer wird die Lüge verdammt, wird sie zum Ausdruck minderwertigen moralischen Verhaltens. Lügen und Täuschungen repräsentieren das Triebhafte, die Phantasie, dass NichtFassbare – all dies, was die meisten aufgeklärten Philosophen ängstigt und sie dazu treibt, die Vernunft in das Zentrum nützlichen Verhaltens zu stellen. Die Welt wird erhellt durch Vernunft und Verstand, nicht mittels Phantasie oder Täuschung. Die Erhellung der Welt umfasst auch die Veränderung gesellschaftlicher Strukturen: Das Bürgertum entwickelt in Abgrenzung zum Adel ein Selbstverständnis, welches von Prämissen gespeist wird, die auch den Zusammenhalt im Sinne von Gemeinsamkeit garantieren sollen. Zu diesen Prämissen zählt auch das Wahrhaftigkeitsgebot, das mit dem Beginn der Individualisierung neu definiert wird. Das Gebot zur Wahrhaftigkeit „stellt gegenüber seinen klassischen Varianten insofern eine neue ‚Erfindung‘ ... dar, als sich die soziale sic! und politischen Tugenden des Bürgers zum Inbegriff einer subjektiven Haltung des Menschen wandeln, die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt der tendenziell isoliert gedachten, lediglich durch Vertrag gebundenen Individuen gleichwohl eine konstitutive Funktion zukommt: denn dort, wo soziale Zwänge als verpflichtende Regulative des individuellen Verhaltens weitgehend fehlen, schien die für das Zusammenleben unentbehrliche Sicherheit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit individuellen Verhaltens nur noch unter der einen Voraussetzung gewährleistet werden zu können, dass sich alle Gesellschaftsmitglieder zur unbedingten Wahrhaftigkeit, d.h. zur restlosen Offenlegung ihrer verborgenen Motive und Absichten verpflichten.“87 Der Lüge hingegen wird mehr und mehr ihre gesellschaftliche Nützlichkeit abgesprochen – selbst die List darf nicht mehr als kluger Schachzug gesehen werden. Dennoch wird gelogen in der Aufklärung. So lügt beispielsweise der Baron von Münchhausen in seinen „Wunderbare[n] Reisen zu Wasser und zu Lande“ und hält
86 Ebd. 87 F. Grell: Über die Wahrhaftigkeit, S. 40. Grell verweist auf Williams, Bernard: Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003.
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der immer phantastischer werdenden Reiseliteratur der Aufklärung den Spiegel vor.88 „Die ‚Lüge‘ lebt hier vom Gestus des authentischen Erlebnisses und der aufklärerischen Ratio im Kontrast zum Unwahrscheinlichen und Phantastischen als Kritik an Wissenschaftsgläubigkeit und Vernunftgehörigkeit.“89 Kant, der sich explizit auf Augustinus bezieht, wird die Lüge „als Widerspiel der Wahrhaftigkeit“90 in der Aufklärung endgültig ablehnen. Zuvor gibt es moderate philosophische Vermittlungsversuche zum Beispiel bei Pufendorf und Grotius zwischen moralischer Vorstellung und gesellschaftlicher Vernunft-Praxis. Diese praktischen Philosophen pflegen einen weniger strengen Umgang mit der Lüge: „Die praktisch ausgerichtete Philosophie des 18. Jahrhunderts, die sich als Weltweisheit verstand, jedem zugänglich und ein Wegweiser im ‚gemeinen Leben‘ zu sein glaubte, hebt die Strenge des Lügenbegriffs auf, indem sie zwischen mendacium und falsiloquium differenziert.“91 Pufendorf beispielsweise rechtfertigt die Falschrednerei (falsiloquium) mit ihrem gesellschaftlichen Nutzen: „Dannhero ist der jenige vom Laster der Lügen durchaus freyzusprechen, und noch darzu, wegen seiner Klugheit, zu loben, welcher durch erdichtetet Reden die Unschuld beschirmet, den Erzörnten besänfftiget, den Betrübten aufrichtet, oder sonst einen Nutzen schaffet, welcher durch blosse und nackte Wahrheit nicht erreichet werden mögen.“92
88 Bürger, Gottfried August: Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande. Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen, wie er dieselben bei der Flasche im Zirkel seiner Freunde selbst zu erzählen pflegte, Leipzig: Insel Verlag 1923. Die erzählten Geschichten des Barons von Münchhausen wurden erstmals 1781-1787 von Raspe und Bürger verschriftlicht und nach dem Erzählmuster der Reiseberichte erweitert. 89 Eggert, Hartmut/Kocher, Ursula: „Überlegungen zur Aktualität der ‚Lügenforschung‘ und zu einer historischen Ästhetik der Lüge“, in: Eggert/Golec, Lügen und ihre Widersacher (2004), S. 11-23, hier S. 17. 90 Kant, Immanuel: „Die Metaphysik der Sitten“, in: Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Unveränderter, photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnen Ausgabe von Kants gesammelten Werken, Band 6, Berlin: Walter de Gryter & Co. 1968, S. 429. 91 Grzesiuk, Ewa: „‚Ich reime, dächt’ ich, doch noch ziemlich zusammen, was zusammengehört‘. Intriganten und Intrigen in Lessings Emilia Galotti“, in: Eggert/Golec, Lügen und ihre Widersacher (2004), S. 72-83, hier S. 73, Herv. i.O. 92 Pufendorf, Samuel: Acht Bücher vom Natur- und Völcker-Rechte. Anderer Theil. 4. Buch, Frankfurt am Main 1711, § XVI, S. 780. Zitiert nach E. Grzesiuk: Intriganten und Intrigen, S. 73-74.
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Die Popularität dieser Differenzierung zeigt sich in der Definition von Lüge in den einschlägigen Enzyklopädien der damaligen Zeit – zum Beispiel folgender Auszug aus Zedlers Universallexikon, in dem der moralische Wert der Lüge (paradoxerweise) an der Vernunft gemessen wird: „Eine vernünfftige Lüge ist diejeniege, da wir ohne Verletzung eines anderen, ohne Absicht jemanden zu beleidigen, unseres Nutzens wegen anders reden, als wir es meynen. Denn wo keine Obligation ist, einem anderen eine Wahrheit zu entdecken; man hat aber gleichwohl Schaden aus der Entdeckung zu befürchten, so ist es gar unvernünfftig. Dieses nennen andere Falsiloquium, eine falsche Rede, welche das Wort Lüge im engeren Verstand brauchen; sie sind aber in der Sache selbst nicht unterschieden. Wollte man durch das Wort Lüge, oder Mendacium, eine jede falsche Rede verstehen und alle Arten derselben ohne Unterschied verwerffen, … so geschähe der Sache zu viel. Denn die oben angegebene Regel, hat ihren richtigen Grund in der Vernunft ....“93
Diese Definition verweist auf einen neuen Aspekt in der Lügendebatte: Eine Lüge ist dann keine Lüge, wenn der Belogene kein Recht auf die Wahrheit hat. Die Rechtsphilosophen Grotius, Pufendorf und Thomasius rücken die Frage nach dem Recht auf Wahrheit in den Mittelpunkt ihrer Diskussion: „Von einer wirklichen Lüge kann dieser Argumentation zur Folge nur dann gesprochen werden, wenn der Belogene auch tatsächlich das Recht hatte, die Wahrheit zu erfahren.“ 94 Das vorhandene oder nicht vorhandene Recht auf Wahrheit des Einzelnen mildert die „Radikalität des Lügenbegriffs“95 und wird in der Frühaufklärung von Grotius, Pufendorf und Thomasius in unterschiedlichen Schattierungen begründet. Eine Milderung nimmt beispielsweise Grotius vor, indem er zum einen in bestimmten Fällen Lügen als zulässig erachtet und zum anderen die Täuschung eines anderen durch die Kunst der Verstellung aus dem Lügenbegriff streicht.96 Um dies zu begründen, nutzt Grotius die übergeordnete Kategorie des Betruges, dem er Verstellung und Lüge zuordnet. Grzesiuk schlussfolgert: „Täuschungsmanöver im Handeln gehören also nicht in die Kategorie der Lüge, sondern in die jener Handlungen, die am Kriterium des Nutzens des Einzelnen oder einer Gruppe gemessen und gerechtfertigt werden.“97
93 Zedler, Johann Heinrich (Hg.): Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Halle/Leipzig: Verlegts Johann Heinrich Zedler 1731-1754, Sp. 1074. 94 K.P. Liessmann: Lüge als Akt der Kommunikation, S. 128. 95 E. Grzesiuk: Intriganten und Intrigen, S. 76. 96 Vgl. ebd., S. 75. 97 Ebd.
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Mit dieser Unterscheidung zwischen Verstellung und Lüge habe, so Grzesiuk, die Philosophie der Frühaufklärung einen längst durch die höfische Praxis umgesetzten Zustand legitimiert:98 Die überlebensnotwendige höfische Praxis der Verstellung, die beispielsweise in den Klugheitslehren von Machiavelli dargestellt wird, und die Aufdeckung der Verstellung durch Menschenbeobachtung. Grzesiuk verweist in diesem Kontext auf eine Schrift von Thomasius an den preußischen Kurfürsten Friedrich III., in der er eine neue Wissenschaft ankündige, die sich zur Aufgabe gemacht habe, „das Verborgene des Herzens anderer Menschen auch wider ihren Willen aus der täglichen Conversation zu erkennen“.99 Menschenbeobachtung in der täglichen Conversation führt demnach zu einer Kenntnis vom Menschen und der Aufdeckung täuschender Verstellung. Die Kenntnis vom Menschen ist eng gekoppelt an die Erkenntnis des Selbst, „denn weil die Erkäntnüß anderer Menschen ohne die Erkänntnuß sein selbst nicht wohl erlernet werden kann/ als müssen nothwendig die allerersten Grund-Lehren der Politischen Wissenschaft/ und die man seine Affecten erkennen lassen müsse/ aus der Sitten-Lehre hergeleitet werden.“100 Grzesiuk merkt an: „Die Kenntnis des eigenen Verhaltens und die Kenntnis der Simulations- und Dissimulationstechniken anderer führte zur Herausbildung einer spezifisch höfischen Rationalität, die darauf hinauslief, angesichts höherer Zwecke, etwa die Einpassung in die Gesellschaft und der Durchsetzung eigener Absichten, die eigenen Affekte zu unterdrücken.“ 101
Gegen diese höfische Rationalität stellt sich im Verlauf der Aufklärung Kant, der sein Plädoyer für die „unbedingte Einhaltung des Wahrhaftigkeitsgebots“ insbesondere in seinem Aufsatz „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ (1797) hält.102 In diesem Aufsatz, der eine Antwort auf die Veröffentlichung „Über politische Reaktion“ des französischen Philosophen Benjamin Constant aus dem Jahr 1797 darstellt, unterscheidet Kant zunächst zwischen dem Recht auf Wahrheit und dem
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Ebd.
99
Thomasius, Christian: „Die neue Erfindung einer wohlgegründeten und für das gemeine Wesen höchstnöthigen Wissenschaft. Das Verborgene des Herzens anderer Menschen auch wider ihren Willen aus der täglichen Conversation zu erkennen (1691)“, in: Christian Thomasius, Kleine Teutsche Schriften (= Ausgewählte Werke, Band 22), Hildesheim u.a.: Olms 1994, S. 449-490, zitiert in E. Grzesiuk: Intriganten und Intrigen, S. 77.
100 C. Thomasius: Die neue Erfindung, S. 481-482, zitiert in E. Grzesiuk: Intriganten und Intrigen, S. 77-78. 101 E. Grzesiuk: Intriganten und Intrigen, S. 78. 102 I. Kant: Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen.
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Recht auf Wahrhaftigkeit.103 Das Recht auf Wahrheit ist für Kant Unsinn, da objektive Wahrheit nicht willensabhängig gegeben ist: „Denn objectiv auf eine Wahrheit ein Recht haben, würde so viel sagen als: es komme wie überhaupt beim Mein und Dein auf seinen Willen an, ob ein gegebener Satz wahr oder falsch sein solle; welches dann eine seltsame Logik abgeben würde.“104 Der Mensch habe aber ein Recht auf Wahrhaftigkeit, „auf die subjective Wahrheit in seiner Person“.105 Für Kant gibt es „Wahrhaftigkeit in Aussagen, die man nicht umgehen kann“106 und die dazu führen, dass der Mensch in Bezug auf diese Aussagen wahrhaftig sein muss. Es ist „die formale Pflicht des Menschen gegen jeden“.107 Kant entzieht in seiner Pflicht zur Wahrhaftigkeit in Bezug auf andere der Lüge in definitorischer Hinsicht ihren Schadenscharakter, da dieser von ihm nicht als entscheidend erachtet wird. Die Lüge, von ihm definiert „als vorsätzlich unwahre Declaration gegen einen andern Menschen“, „schadet jederzeit einem anderen, wenn gleich nicht einem andern Menschen, doch der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht.“108 Alle Aussagen, die der Mensch trifft, folgen dem unbedingten Vernunftgebot und sind an die Verantwortung des Menschen für sein Handeln in der Gesellschaft gekoppelt. Dies gilt auch für die „gutmüthige Lüge“109, die anderen helfen soll – auch dann, wenn man denjenigen, der seinen Freund ermorden will, belügt: „Hast du nämlich einen eben jetzt mit Mordsucht Umgehenden durch eine Lüge an der That verhindert, so bist du für alle Folgen, die daraus entspringen möchten, auf rechtliche Art verantwortlich. Bist du aber Strenge bei der Wahrheit geblieben, so kann dir die öffentliche Gerechtigkeit nichts anhaben; die unvorhergesehene Folge mag sein, welche sie wolle. Es ist doch möglich, daß, nachdem du dem Mörder, auf die Frage, ob der von ihm Angefeindete zu Hause sei, ehrlicherweise mit ja geantwortet hast, dieser doch unbemerkt ausgegangen ist und so dem Mörder nicht in den Wurf gekommen, die That also nicht geschehen wäre; hast du aber gelogen, und gesagt, er sei nicht zu Hause, und er ist auch wirklich (obzwar dir unbewußt) ausgegangen, wo denn der Mörder ihm im Weggehen begegnete und seine That an ihm verübte: so kannst du mit Recht als Urheber des Todes desselben angeklagt werden. Denn hättest du die Wahrheit,
103 Constant, Benjamin: „Über politische Reaktion“, in: Benjamin Constant, Gesammelte Werke in vier Bänden, Band 3: Politische Schriften, herausgegeben von Axel Blaeschke und Lothar Gall, Berlin: Propyläen Verlag 1972, S. 119-202. 104 I. Kant: Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, S. 426. 105 Ebd. 106 Ebd. 107 Ebd. 108 Ebd. 109 Ebd.
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so gut du sie wußtest, gesagt: so wäre vielleicht der Mörder über dem Nachsuchen seines Feindes im Hause von herbeigelaufenen Nachbarn ergriffen und die That verhindert worden. Wer also lügt, so gutmüthig er dabei auch gesinnt sein mag, muß die Folgen davon, selbst vor dem bürgerlichen Gerichtshofe, verantworten und dafür büßen, so unvorhergesehen sie auch immer sein mögen: weil Wahrhaftigkeit eine Pflicht ist, die als die Basis aller auf Vertrag zu gründenden Pflichten angesehen werden muß, deren Gesetz, wenn man ihr auch nur die geringste Ausnahme einräumt, schwankend und unnütz gemacht wird. Es ist also ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Convenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot: in allen Erklärungen wahrhaft (ehrlich) zu sein.“110
„Die Folgen einer Handlung, so könnte man Kant vereinfachen, sind nicht prospektiv zu erschließen, sie sind unvorhersehbar und deshalb kann und soll man nicht mit ihnen rechnen“, fasst Kern zusammen und interpretiert zuspitzend, „Wir können schließen, daß man im Hause Kant besser kein Asyl suchen sollte.“111 Kants „strengste Pflicht der Wahrhaftigkeit in Aussagen“112 dient der Achtung des Rechtes und der Gemeinschaft. Sie ist nicht von Situationen abhängig: Lügen ist ein unmoralisches Verhalten, auch wenn man aus Liebe zum Menschen lügt. Die Lüge widerspricht dem vernünftigen Anspruch an die Wahrhaftigkeit. „Die Schärfe der Verurteilung der Lüge bei Kant beruht dabei auf dem konstituierenden Charakter der Vernunft für den Status des Menschen als Person, als Inhaber von Würde und Gegenstand von Achtung. Dieses Personsein ist letztlich daran gekoppelt, dass die Vernunft sich als Vernunft zum Ausdruck bringt, dass also zwischen Gedachtem und Gesagtem keine Diskrepanz herrschen darf.“113
Kant ist sich bereits in der „Metaphysik der Sitten“ (1785) sicher: „Die größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst ... ist das Widerspiel der Wahrhaftigkeit: die Lüge .... Daß eine jede vorsetzliche Unwahrheit in Äußerung seiner Gedanken diesen harten Namen ... nicht ablehnen könne, ist für sich selbst klar. ... Die Lüge ist die Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde. Ein Mensch, der selbst nicht glaubt, was er einem Anderen ... sagt, hat einen noch geringeren Werth, als wenn er blos Sache wäre ....“114
110 Ebd., S. 427, Herv. i.O. 111 S.H. Kern: Die Kunst der Täuschung, S. 22-23. 112 I. Kant: Über ein vermeintes Recht aus Menschliebe zu lügen, S. 428. 113 K.P. Liessmann: Lüge als Akt der Kommunikation, S. 127-128. 114 I. Kant: Die Metaphysik der Sitten, S. 429.
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2.2.2 Erziehung zur Wahrhaftigkeit – Erziehung zur Lüge Auch wenn in der Aufklärung Kritik an den vernünftigen Tugenden geübt und das Leiden an diesen thematisiert wird, setzt sich doch die Tugend der Wahrhaftigkeit durch bis in die heutige Zeit. Der Erziehung kommt für Kant die Aufgabe anheim, zur Wahrhaftigkeit zu erziehen. Dies sieht Grell insbesondere in ihrer gesellschaftlichen Rolle begründet: „Denn vor allem der neuen, auf die Zukunft der Gesellschaft gerichteten Pädagogik sollte die Aufgabe zufallen, diese ganz und gar neue Eigenschaft, der bürgerlichen Tugend der Wahrhaftigkeit und die damit einhergehende Verpflichtung zu wechselseitiger Transparenz, Aufrichtigkeit und Offenheit im Interesse des sozialen Zusammenhalts der zunehmend isolierten Subjekte in den Köpfen und Herzen der nachwachsenden Generationen zu verankern.“ 115
Negativ bewertet Henningsen Kants unbedingte Pflicht zur Wahrhaftigkeit: „Was bleibt, ist der fade Eindruck, daß der große Kant se invito mit der unbedingten Forderung der Wahrhaftigkeit in Aussagen den Menschen zu einem berechenbaren (Verträge!), erwartungsgemäß funktionierenden Gegenstand macht, und ihn des eigentlich Menschlichen, der Möglichkeit zu lügen, der Möglichkeit zum Sündenfall, des mephistophelischen Moments, entkleidet. Die Sünde ist das Salz in der Suppe der Freiheit.“ 116
Die Frage, wie sich die Erziehung zur Lüge verhält, stellt sich auch Jean-Jacques Rousseau und beantwortet sie in seinen „Bekenntnissen“117 (1782) und in seinem „Emile“118 (1762). Er sinniert darin über die Ambivalenz der Lüge und beschwört gleichzeitig die Wahrhaftigkeit der Welt. In seinem Bemühen, Wege zu finden, die das Innere des Menschen zusammenhalten, betrachtet Rousseau, „der Apostel der Wahrhaftigkeit“119 den Menschen als vergesellschaftetes Wesen, das in einer nichtnatürlichen Gesellschaft bestehen muss. So gerate der Mensch „aus seinem instinktsicheren, unreflektierten Selbstsein heraus“120 und in die Unwahrheit hinein.
115 F. Grell: Über die Wahrhaftigkeit, S. 41. 116 J. Henningsen: Lüge und Freiheit, S. 41. 117 Rousseau, Jean-Jacques: Die Bekenntnisse, Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler 1996. 118 Rousseau, Jean-Jacques: Emile oder Über die Erziehung, Stuttgart: Reclam 1963. 119 Vgl. Trilling, Lionel: Sincerity and Authenticity, Cambridge: Harvard University Press 1972, S. 93. 120 Safranski, Rüdiger: Wieviel Wahrheit braucht der Mensch? Über das Denkbare und das Lebbare, Frankfurt am Main: Fischer 1993, S. 16.
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Lallis, die anhand Rousseaus Bekenntnissen dessen Ansichten zur Lüge aufarbeitet, zeichnet den Weg, den Rousseau aus der Unwahrheit hinaus wählt, nach: Dieser Weg sei eine „Rückkehr zur Selbstfindung“ und führe von der lügenhaften äußeren Welt hin zu einer die Wahrheit enthaltenen inneren Welt. 121 Artikuliert nun der Mensch dieses innere Selbst, ohne auf die gesellschaftlichen Konventionen Rücksicht zu nehmen, ist er wahrhaftig. Diese Wahrhaftigkeit ist jedoch Rousseau nach keineswegs ein dauerhafter Zustand, sondern lediglich eine Momentaufnahme des unsteten Selbst, das sich durch „Mannigfaltigkeit“ auszeichnet und schon in sich ein ambivalentes und vielleicht auch täuschendes Moment enthält – besteht doch zwischen „mir“ und „ich“ keinerlei Übereinstimmung oder Ähnlichkeit: „Nichts ist mir so unähnlich wie ich selbst, darum wäre es müßig, mich anders definieren zu wollen, als durch diese einzige Mannigfaltigkeit .... Bisweilen bin ich ein harter und grausamer Misanthrop, dann wieder falle ich in Verzückung ob der Reize der Gesellschaft und der Wonnen der Liebe. Bald bin ich voll Ernst und frommer Andacht ... doch alsbald werde ich zum Wüstling .... Mit einem Wort, ein Proteus, ein Chamäleon, eine Frau sind weniger wechselwendige Wesen als ich. Das sollte den Neugierigen von vornherein alle Hoffnung nehmen, eines Tages meinen Charakter zu erkennen, denn stets werden sie mich in einer besonderen Form antreffen, die nur im selbigen Augenblick meine ist.“122
Lallis folgt der Interpretation Safranskis und verweist darauf, dass eben in diesem partikulären Selbstsein die Wahrheit in ihrer „nicht fixierbaren, nicht substantiierbaren Spontaneität“ liegt.123 Der Mensch müsse diese Spontaneität leben, um das „Lügengewebe der Gesellschaft“ zu zerreißen und „eine winzige Insel der Wahrheit zu schaffen.“124 Eine Fokussierung des Menschen auf die eigenen Erfahrungen und nicht die Orientierung an gesellschaftlich auferlegten Konventionen und erzieherischen Maßnahmen ermöglichen Wahrhaftigkeit und befreien nach Rousseau von der Notwendigkeit zu lügen.125 Wie Lallis zutreffend anmerkt, betrachtet Rousseau die Wahrhaftigkeit wie Kant aus der subjektiven Perspektive. Allerdings ist anzumerken, dass nach Rousseau der Mensch nicht mittels Erziehung vom Lügen abgebracht werden kann.
121 E. Lallis: Lügen und Belogenwerden, S. 82, Herv. i.O. 122 J.-J. Rousseau: Die Bekenntnisse, S. 129. 123 R. Safranski: Wieviel Wahrheit braucht der Mensch?, S. 19; vgl. E. Lallis: Lügen und Belogenwerden, S. 82. 124 R. Safranski: Wieviel Wahrheit braucht der Mensch?, S. 19. 125 Vgl. E. Lallis: Lügen und Belogenwerden, S. 83.
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Für Kant ist eine Erziehung zur „Wahrhaftigkeit“126 möglich, sie kann von außen auf den Menschen einwirken. Bei Rousseau wird Wahrhaftigkeit vom Inneren heraus gedacht. Eine kantsche Erziehung des Menschen zur Wahrhaftigkeit hingen, „muss nicht nur an der Unmöglichkeit scheitern, die Lebenswelt ... so lückenlos zu organisieren, dass eine vollständige Kontrolle seiner äußeren Lebensumwelt und seines psychischen Innenlebens möglich wird. Die Intention negiert zugleich, was das Wesen des Menschen ausmacht, nämlich die prinzipielle Offenheit im Gebrauch jener Fähigkeiten, die er im Laufe seiner Entwicklung erwirbt und die in der Summe das ergeben, was man so leichthin das Leben eines Menschen nennt.“ 127 Neben den „Bekenntnisse[n]“ ist es der „Emile“, in dem Rousseau auf die Lügenproblematik und dessen Ambivalenz eingeht. Hier veranschaulicht er, dass ein ‚In-die-Unwahrheit-geraten‘ sich auch im erzieherischen Geschehen vollzieht: „Hieraus folgt, daß die Lügen der Kinder alle das Werk der Lehrer sind und daß man nichts anderes tut, als sie das Lügen lehren, wenn man ihnen die Wahrheit beibringen will. Im Eifer, sie zu erziehen, zu lenken, und zu unterweisen, findet man nie genug Mittel, um das zu erreichen. Durch unhaltbare Maximen und unvernünftige Vorschriften sucht man weiteren Einfluß auf ihren Geist zu gewinnen und ist zufriedener, wenn sie ihre Lektionen wissen und lügen, als wenn sie unwissend und ehrlich bleiben.“128
Die Lüge gilt bei Rousseau nicht als „Ausdruck mangelnder Moralität, sondern als Produkt falscher gesellschaftlicher Verhältnisse .... Lügen sind Ergebnis und notwendige Folge der Konvention, d.h. genauer: unbegründeter Herrschaftsansprüche. Nicht die Konvention an sich ..., sondern nur die durch illegitime Herrschaft begründete Konvention führt zur Lüge. Nicht nur der feudalistische Hof des Absolutismus, sondern jede illegitime Herrschaft über andere ist also das Ziel der Rousseau’schen Kritik. Damit wird Lüge nicht zum moralischen Makel einer Schicht, sondern zum Indikator des strukturell Falschen.“129 Grell plädiert anhand seiner Ausführungen über Rousseau aus Sicht der Allgemeinen Erziehungswissenschaft: „Demnach bestünde die Erziehung zur Wahrhaftigkeit nicht in einer bedingungslosen Verpflichtung zur Wahrheit, sondern in der Ausbildung jenes Maßes an Einfühlungsvermögen und Urteilskraft, über das auch Rousseaus Émile am Ende seiner Erziehung verfügen soll, das es
126 Kant, Immanuel: „Vorlesung über ‚Pädagogik‘“, in: Immanuel Kant: Ausgewählte Schriften zur Pädagogik und ihrer Begründung, besorgt von Hans-Hermann Groothoff, Paderborn: Schöningh 1963, S. 7-59, hier S. 46. 127 F. Grell: Über die Wahrhaftigkeit, S. 41. 128 J.-J. Rousseau: Emile, S. 230. 129 V. Ladenthin: Bildung und Lüge, S. 117.
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ermöglicht, zu entscheiden, wann eine Lüge gerechtfertigt, angebracht oder sogar geboten ist – und wann nicht, aber auch, wann ich einer Aussage trauen darf, kann oder muss – und in welcher Situation, bei welcher Gelegenheit und bei welcher Person ich das besser nur mit gebotener Vorsicht oder gar nicht tun sollte.“130
2.2.3 Die Lust an der Lüge Nietzsche setzt sich mit „Wahrheit und Lüge“, wie es im Titel seines Essays anklingt, im „außermoralischen Sinne“ (1873) auseinander.131 Er stellt darin eingangs die Frage, was der Mensch eigentlich wirklich von sich selbst wisse und woher der Trieb zur Wahrheit komme, angesichts der Bequemlichkeit des Menschen, der in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens ruhe. Verbannt ist der Mensch, in ein „gauklerisches Bewusstsein“ eingeschlossen.132 Er besitzt für Nietzsche keinen Schlüssel, der die Tür aus diesem Zustand öffnet. Der vermeintliche Ausweg, sich mittels der Sprache die Welt zu erschließen, wird von Nietzsche in Abrede gestellt. Den Wahrheitsgehalt der Sprache schätzt Nietzsche pessimistisch ein. Nur das „‚Ding an sich‘“133 ist reine Wahrheit und befindet sich außerhalb einer der Sprache zugänglichen Welt. Die sprachliche Bezeichnung der Dinge, „der Begriff“, „entsteht durch Geleichsetzen des Nichtgleichen.“134. Diese Unmöglichkeit führt dazu, dass „Wahrheiten […] Illusionen [sind], von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind […]“.135 Die gesellschaftliche Verpflichtung zur Wahrheit besteht darin, die Metaphern, die ja über das Wesen der Dinge täuschen, gesellschaftlichen Konventionen gemäß zu nutzen. Somit erweist sich für Nietzsche die Wahrheit als Illusion, da sie der Bezeichnung der Dinge nicht innewohnt. Damit wird auch Erkenntnis zu einem ambivalenten Vorgang, der zwar überlebensnotwendig ist, aber zugleich auf Täuschung und beruht und Täuschung weitergibt: „Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden, und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen.“136 Wenn alles außerhalb des nicht erreichbaren Naturzustandes der Dinge
130 F. Grell: Über die Wahrhaftigkeit, S. 45, Herv. i.O. 131 Nietzsche, Friedrich: Über Lüge und Wahrheit im außermoralischen Sinne (1873), in: Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, München: Goldmann 1964, S. 373386. 132 Ebd., S. 376. 133 Ebd., S. 378. 134 Ebd., S. 378. 135 Ebd., S. 379. 136 Ebd., S. 278.
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Täuschung ist, das sich gesellschaftlich tradiert zu Wahrheiten manifestiert, „was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.“137 Wahrheit ist ein Gefühl des Menschen, zu dem er kommt, weil er „die usuellen Metaphern“ gebraucht und vergessen hat, dass diese dazu dienen, aus gesellschaftlicher Verpflichtung heraus „herdenweise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen“.138 Das Gefühl der Wahrheit resultiert aus dem Gebrauch der Lüge, die dem menschlichen Bedürfnis nach Wahrheit dient. „Die Welt steht Kopf“ 139, weil Nietzsche nicht die Lüge, sondern die Täuschung über die Wahrheit in den Mittelpunkt rückt. Die Illusion der Wahrheit und das Bedürfnis, an dieser festzuhalten, korrespondieren für Nietzsche nicht mit Gottesfürchtigkeit, sondern mit den unbequemen Anforderungen, die mit der Lüge verbunden sind. Menschen lügen „gewiss nicht, weil ein Gott das Lügen verboten hat. Sondern ... weil es bequemer ist; denn die Lüge erfordert Erfindung, Verstellung und Gedächtnis. (Weshalb Swift sagt: wer eine Lüge berichtet, merkt selten, die schwere Last, die er übernimmt; er muss nämlich, um eine Lüge zu behaupten, zwanzig andere erfinden).“140 Der Wille zur Wahrheit wird von Nietzsche mit dem Gefühl des Schmerzes, der Wille zur Lüge mit Lust verbunden. Lügen bereitet Lustempfinden, das Imaginäre, das Fiktive ist gekoppelt an „die Freiheit, der Wirklichkeit eine eigene Fassung zu geben oder sie überhaupt erst zu erfinden“141. Nietzsche widerspricht damit deutlich dem größten Teil der aufgeklärten Philosophen, indem er die Bedeutung des Fiktiven, des Scheins, des Lügens für die Existenz betont. „Die Wahrheit, wenn sie denn erkennbar wäre, müsste nach Nietzsche zumindest deshalb abgewehrt werden, weil sie uns nur als schmerzhaftes factum brutum entgegentreten könnte, auf das wir immer schon mit dem Entwurf imaginärer Welten reagieren wollen und reagieren müssen.“142 Die schmerzhafte Wahrheit kann erfahren werden. Sie führt dazu, dass Fiktives erschaffen wird, um
137 Ebd., S. 379. 138 Ebd. 139 S.H. Kern: Die Kunst der Täuschung, S. 15. 140 Nietzsche, Friedrich: Zweites Hauptstück. Zur Geschichte der moralischen Empfindungen (1878). § 54, in: Friedrich Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band. München: Goldmann 1960, S. 59-108, hier S. 76. 141 K.P. Liessmann: Lüge als Akt der Kommunikation, S. 120. 142 Ebd.
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dem Schmerz zu entrinnen. Gleichzeitig ist damit die Möglichkeit eröffnet, denjenigen, welche die Wahrheit nicht sehen wollen und im Schein leben, den sie für wahr halten, eine scheinbare Wirklichkeit zu erschaffen, sie zu belügen und zu täuschen.
2.3 LÜGNER UND HOCHSTAPLER SONNEN SICH IM ÄSTHETISCHEN SCHEIN – INTERDISZIPLINÄRE AUSEINANDERSETZUNGEN MIT DER LÜGE Betrachtet man die seit der Antike existierende Auseinandersetzung über die Lüge in ihrer Entwicklung, ist auffällig, dass – im Gegensatz zu früheren Abhandlungen, die auf den universellen Gehalt der Lüge, ihre gesellschaftliche und individuelle Bedeutung häufig mit dem moralischen Zeigefinger verweisen 143 – seit dem 20. Jahrhundert vermehrt versucht wird, die Lüge in ihrem moralischen Wert neu zu bestimmen 144 oder auch beispielsweise hinsichtlich ihres überlebensnotwendigen Potentials 145 zu untersuchen. Diese neueren Perspektiven werden vor allem mit der Annahme begründet, dass innerhalb der Gesellschaft eine zunehmende Normalität und eine Akzeptanz der Lüge konstatiert werden, weshalb Forschende eine allgegenwärtige Präsenz des Lügens im Alltag feststellen.146 Untersucht wird zunehmend die Bedeutung der Lüge als sozial- und individuell stabilisierende Dimension im menschlichen Zusammenleben.147 Das Interesse an der Lüge gilt nun eher ihren Folgen und ihrer gesellschaftlichen und individuellen Funktion zum Beispiel im Hinblick auf politische und/oder globale Entwicklungen.148
143 Vgl. Nissing, Hanns-Gregor: „Die Lüge – Ein Alltagsphänomen aus wissenschaftlicher Sicht“, in: Müller/Nissing, Die Lüge. Ein Alltagsphänomen aus wissenschaftlicher Sicht (2007), S. 7-26, hier S. 10. 144 Siehe beispielsweise Dietz, Simone: Die Kunst des Lügens. Eine sprachliche Fähigkeit und ihr moralischer Wert, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2003. 145 Siehe beispielsweise V. Sommer: Lob der Lüge. 146 Vgl. E. Lallis: Lügen und Belogenwerden, S. 96. 147 Vgl. beispielsweise Senger, Harro von: Die Kunst der List. Strategeme durchschauen und anwenden, München: Beck 2004. 148 Siehe beispielsweise: Prisching, Manfred: „Moral als Lüge. Über Moralisierung in der Politik“, in: Hettlage, Verleugnen, Vertuschen, Verdrehen (2003), S. 231-250; Reinhard, Wolfgang: Unsere Lügengesellschaft. (Warum wir nicht bei der Wahrheit bleiben), Hamburg: Murmann 2006; Sarcinelli, Ulrich: „Publizität und Diskretion: Verhandeln, verschleiern, vermarkten“, in: Hettlage, Verleugnen, Vertuschen, Verdrehen (2003), S. 215230; Schütz, Astrid/Gröschke, Daniela/Hertel, Janine: „Aufdeckung und Zudeckung. Skandale zwischen Wahrheitsfindung und Vertuschungsinteressen“, in: Hettlage, Ver-
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Lallis verweist darauf, dass die Lüge nun nicht mehr in erster Linie Bestandteil philosophischer Untersuchungen ist, sondern sich überwiegend in den Sozial- und Naturwissenschaften (Psychologie, Soziologie und Biologie) mit der Lüge beschäftigt wird.149 Auch Nissing konstatiert einen Perspektivwechsel in der Lügenforschung und entwickelt eine Typologie der gegenwärtigen (interdisziplinären) Diskussionen über die Lüge. Diese veranschaulicht, dass der derzeitige Diskurs über die Lüge die oben angedeutete Perspektivverschiebung mit sich gebracht hat. So beobachtet Nissing (zu Recht), dass die Definition und Bewertung der Lüge unter hauptsächlich moralischen Aspekten einer „mehrdimensionalen Betrachtung gewichen“ ist. 150 Dies sei insbesondere dem disziplinär erweiterten Diskurs geschuldet, der andere Schwerpunkte mit sich bringe. Seien es zunächst vor allem theologische und philosophische Gesichtspunkte, kämen seit 1997 insbesondere psychologische, soziologische und ästhetische Aspekte innerhalb der Lügenforschung verstärkt zum Tragen. Diese Veränderung ist für Nissing drei gesellschaftlich bedingten Faktoren geschuldet, die im Folgenden erläutert werden. 1. „Eine grundlegende Skepsis gegenüber allen kategorischen und prinzipiellen Moralvorstellungen, seien sie nun religiös, weltanschaulich oder ethisch begründet.“ 151 In Auseinandersetzung mit den Schriften von Tarr Krüger, Bok, Bettetini, Dietzsch, Nyberg, Stiegnitz, Dietz und Golemann reflektiert Nissing die skeptische Einstellung gegenüber dem Zusammenhang von Lüge und Moral152 und kommt zu dem Schluss:
leugnen, Vertuschen, Verdrehen (2003), S. 251-271; Westerbarkey, Joachim: „Maskierung und Beeinflussung. Die gesellschaftlichen Eliten und die Verschleierung der Macht“, in: Hettlage, Verleugnen, Vertuschen, Verdrehen (2003), S. 199-214. 149 Vgl. E. Lallis: Lügen und Belogenwerden, S. 96. 150 H.-G. Nissing: Die Lüge, S. 10. 151 Ebd. 152 Die Veröffentlichungen der genannten Autorinnen und Autoren lauten: Tarr Krüger, Irmtraud: Von der Unmöglichkeit, ohne Lügen zu leben, Zürich: Kreuz-Verlag 1997; Bok, Sissela: Lügen. Vom alltäglichen Zwang zur Unaufrichtigkeit, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1980; M. Bettetini: Eine kleine Geschichte der Lüge; S. Dietzsch: Kleine Kulturgeschichte; Nyberg, David: Lob der Halbwahrheit. Warum wir so manches verschweigen, Hamburg: Junius 1994. Stiegnitz, Peter: Die Lüge – das Salz des Lebens. Ein Essay, Wien: Edition Va Bene 1997; S. Dietz: Die Kunst des Lügens; Golemann, Daniel: Lebenslügen und einfache Wahrheiten. Warum wir uns selbst täuschen, Weinheim: Beltz 1997.
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„Die Wahrheit zu sagen, wird ‚keineswegs mehr (als) der einzige und höchste Wert in unserem Leben‘ ... und als Richtmaß verstanden – vielmehr werden Wahrheit und Wahrhaftigkeit dem Lebenssinn unterstellt und somit Nützlichkeitserwägungen unterworfen: Wahrheit und Lüge … können nach Bedarf ‚gebraucht‘ werden.“153
Die Behandlung der Lüge unter Nützlichkeitsaspekten und ohne moralische Bewertung werde vor allem von der Psychologie und der Evaluationsbiologie vorgenommen.154 Letztere platziert Nissing die Lüge in den Kontext der Evaluation des tierischen und menschlichen Verhaltens und kommt zu der Einschätzung, dass es sich, „beim pathetischen Eintreten für die Wahrheit, wie sie insbesondere durch Theologie, Philosophie und Pädagogik repräsentiert wird, [...] um nicht mehr als fromme Selbsttäuschung [handle], die es zu entlarven gelte“. 155 Kritisch merkt Nissing zu dieser Einschätzung der Bedeutung der Lüge an, dass die Betrachtung von Lüge und Täuschung mit dem Fokus auf Utilitarismus und Eigennutz verkennt, dass der Mensch nicht nur aus Eigennutz handelt, sondern dass das Wesen des Menschen auch in den Kategorien Freiheit, Vernunft, Selbstbestimmung und Gemeinschaft gedacht werden muss. Nicht nur das bloße, sondern – in Anlehnung an Aristoteles – auch das gute Leben sei ein Ziel des Menschen.156 2. „Eine umfassende Erfahrung von Unwahrhaftigkeit und Lüge in unseren sozialen Bezügen und Institutionen.“ 157 Diese führe zu einer „Allgegenwart von Täuschung und Lüge“158 und zu weniger Vertrauen in die zentralen gesellschaftlichen Bereiche wie Recht, Medizin, Wissenschaft und Politik. Diese Entwicklung wird exemplarisch von Tarr Krüger wie folgt bewertet: „Unsere soziale Welt kommt nicht ohne Simulation, Lug und Trug aus, sie funktioniert scheinbar nur auf einem undurchschaubaren und unentwirrbaren Gewebe aus Unlauterkeit, wo das ‚So-tun-als-ob‘ zum universalen Verhaltensmuster
153 H.-G. Nissing: Die Lüge, S. 11. Nissing bezieht sich im Zitat auf S. Dietz: Die Kunst des Lügens, S. 9. 154 Zur kritischen Auseinandersetzung mit der evaluationsbiologischen Begründung von Lüge und Täuschung bei Sommer siehe beispielsweise: Schockenhoff, Eberhard: Zur Lüge verdammt? Politik, Medien, Medizin, Justiz und die Ethik der Wahrheit, Freiburg im Breisgau: Herder 2000; Baruzzi setzt sich in seinem Buch differenziert mit der menschlichen Lüge und dem Täuschungsverhalten von Tieren auseinander, siehe A. Baruzzi: Philosophie der Lüge, S. 1ff. 155 H.-G. Nissing: Die Lüge, S. 12. 156 Vgl. ebd. 157 Ebd. 158 Ebd., S. 13.
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geworden ist.“159 Der Perspektivwechsel – die Lüge nicht mehr als moralisch minderwertig zu verurteilen, sondern als alltagsweltlich allgegenwärtig und notwendig zu erachten – wird gestützt durch vielfältige Studien insbesondere aus dem angloamerikanischen Raum zur Lügenhäufigkeit im Alltagsleben. 160 Allerdings führt die konstatierte Normalität der Lüge im Alltag keineswegs zu einer moralischen Befürwortung der Lüge, sondern ruft weiterhin moralische Entrüstung hervor. 161 Das ambivalente Dilemma der Lüge – ihre alltägliche Verwendung und ihre moralische Verurteilung – kann also mittels psychologischer Untersuchungen nicht aufgehoben werden. Ob man dazu eine Position einnimmt, ist jedoch eine eigene Entscheidung. Insbesondere die sozialpsychologischen Untersuchungen arbeiten mit einem sehr weit gefassten Lügenbegriff, mit dem zumeist anhand der Ergebnisse Kategorien von Lügenarten ausdifferenziert werden. Sie veranschaulichen, „dass Lügen in der Gesellschaft wesentlich verbreiteter sind und mit einer höheren Akzeptanz rechnen können, als ihre radikale Verurteilung durch den öffentlichen Diskurs glauben macht.“162 Allerdings solle daraus keine Akzeptanz oder Befürwortung der Lüge erfolgen, so Mecke, der aus literaturwissenschaftlicher Sicht darauf hinweist: „Überdies steht die tatsächliche oder nur vermutete Häufigkeit von Lügen in Politik und Alltag in einem auffälligen Kontrast zu einem dazu umgekehrt proportional hohen Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit.“163 3. „Eine Neubewertung des Wahrheits- und Wirklichkeitsverhältnisses des Menschen und ein [sic!] Ästhetisierung des Scheins.“ 164 Unter dieser Kategorie beschreibt Nissing die sich beispielsweise im Zuge des Poststrukturalismus und des radikalen Konstruktivismus manifestierende Tendenz, die Wirklichkeit unabhängig von Wahrheitsaspekten und metaphysischen Annahmen zu
159 I. Tarr Krüger: Von der Unmöglichkeit, ohne Lügen zu leben, S. 9. 160 Exemplarisch: Feldman, Robert S./Forrest, James A./Happ, Benjamin R.: „Self-presentation and verbal deception: do self-presenters lie more?“, in: Journal of Basic and Applied Social Psychology 24 (2002), S. 163-170; Peterson, Candida: „Deception in intimate relationship“, in: International Journal of Psychology 31 (1996), S. 279-288; DePaulo, Bella M./Kashy, Deborah A./Kirkendol, Susan E./Wyer, Melissa M./Epstein, Jennifer A.: „Lying in everyday life“, in: Journal of Personality and Social Psychology 70 (1996), S. 979-995. 161 Vgl. z.B.: DePaulo, Bella M.: „The many faces of lies“, in: Arthur G. Miller (Hg.), The Social Psychology of Good and Evil, New York: Guilford Publications 2004, S. 303-326. 162 J. Mecke: Lüge und Literatur, S. 58. 163 Ebd. 164 H.-G. Nissing: Die Lüge, S. 15.
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betrachten und vielmehr ihre Undurchdringbarkeit zu betonen. Der Mensch schafft sich seine eigene Wirklichkeit, eine „Enttarnung von Verblendungszusammenhängen“ mithilfe der Wahrheit kommt nicht mehr infrage. 165 Als konkretes Beispiel dienen Nissing virtuell erschaffene Welten und deren Bedeutung für „Künstlichkeit unserer Lebensverhältnisse“, was sowohl zu einer „Ästhetisierung des Scheins“ als auch zu einer „Ununterscheidbarkeit von Wirklichkeit und Fiktion“ geführt habe.166 Autoren wie Dietzsch, welcher die Kreation von Wirklichkeiten als Ausdruck menschlicher Autonomie und Spontaneität bewertet167, oder Alkofer, der unter anderem nach der „wahrheitsüberlegenen kreativen Potenz der Lüge“ 168 fragt, veranschaulichen für Nissing exemplarisch eine Neubewertung des menschlichen Verhältnisses zur Wahrheit und zur Lüge. Die von Nissing angesprochene Ästhetisierung des Scheins, die von ihm als radikal-konstruktivistisches und postmodernes Phänomen negativ bewertet wird, erweist sich bei genauerer Betrachtung keineswegs lediglich als Vermischung von Wirklichkeit und Fiktion. Die Lüge in ihrer Ästhetik lässt sich eben nicht auf postmoderne Kategorien oder konstruktivistische Parameter reduzieren, sondern vereint mit ihrem Gebrauch gesellschaftliche Widersprüchlichkeiten. So lassen sich die Lüge und – in ihrer Begleitung – die Wahrhaftigkeit meiner Ansicht nach in den Gedanken von Pongratz einfügen: „... ‚Vernunft‘, und ‚Anderes der Vernunft‘, ‚Allgemeines‘ und Besonderes‘, ‚kritische Reflexion‘ und ‚Mythos‘, ‚Identität‘ und ‚Pluralität‘, ‚Subjektivität‘ und ‚Entsubjektivierung‘ – alle diese Begrifflichkeiten tragen eine inwendige Zerrissenheit in sich. Keiner entgeht den gesellschaftlichen Widersprüchen, die unsere Gegenwart durchziehen.“169
Die Ästhetik des Scheins zeigt gerade die Ambivalenz von Lüge und Täuschung auf. Täuschung und Lüge sind weder Wirklichkeit noch lediglich Fiktion. Über den Weg der ästhetischen Relevanz der Lüge ist es möglich, zu zeigen, dass nicht die Resultate von Täuschung – wie die Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität, Lüge und Wahrheit, Schein und Sein, moralisches und unmoralisches Handeln –, sondern die Mehrdeutigkeit von Handlungen in den Blick genommen werden sollten. Das wahrhaftig Wirkliche in den Menschen und in dessen Erfahrung zu verlagern, ist schon
165 Ebd. 166 Ebd. 167 Vgl. S. Dietzsch: Kleine Kulturgeschichte, S. 153. 168 Alkofer, Andreas-P.: „‚Erklär’ mir die Lüge, verklär’ sie nicht ...‘. Die ‚Quellen der Moralität‘ und die Lüge. Ein ethisch-theologischer Zwischenruf“, in: Mayer, Kulturen der Lüge (2003), S. 35-68, hier S. 36. 169 L.A. Pongratz: Zeitgeistsurfer, S. 30.
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seit Kant nicht neu und keineswegs ausschließlich, wie Nissing moniert, postmodernes oder konstruktivistisches Denken. Eben eine weitergehende Bewertung des Scheins, die sich eng an der historisch kontextualisierten Entwicklung von Subjektvorstellungen (vgl. insbesondere Kapitel 3.3.1 und 4.1) und – wie Alheit und Brandt in Ansätzen zeigen – auch an der Entwicklung biographischer Reflexivität orientiert, führt dazu, dass Lüge und Täuschung nicht mehr nur als die Negierung von Wahrheit, von Welterkenntnis oder als Verwirrung über Wirklichkeit betrachtet werden müssen.170 Die Ästhetisierung des Scheins in den Wahrheits- und Wirklichkeitsverhältnissen des Menschen lässt die Lüge in ihrer Ambivalenz erkennbar werden. Ich stimme Meckes Überlegungen zur „Lüge im Licht der Ästhetik“ 171 zu, die auf der Beobachtung fußen, dass der Mensch im Alltag dazu gezwungen ist, sich zu entscheiden und zu handeln. Dies kann dazu führen, dass das Individuum in die Lage kommen kann, widersprüchliche Meinungen, Auffassungen, Einschätzungen oder Absichten verdecken zu müssen. Die Lüge erscheint dann als ein „probates Mittel, die Konflikte, die sich aus der Komplexität der Gesellschaft ergeben, zu übertünchen“.172 Mecke bietet außerdem eine Definition der Lüge an, die auch für die Figur des Hochstaplers geeignet zu sein scheint (vgl. dazu auch folgendes Kapitel): Lüge ist zum einen der von den geltenden Konventionen abweichende Gebrauch von Begriffen und Sprache und außerdem das Phänomen, „dass gerade derjenige lügt, der sich konventioneller Ausdrucksformen bedient und damit seinen Rezipienten mit Gemeinplätzen abspeist, statt ihm den authentischen Ausdruck eines Gedankens oder eines Gefühls zu präsentieren.“173 Aus der Perspektive einer „historischen Ästhetik der Lüge“ schlussfolgern Eggert und Kocher: „Die Lüge lebt aus dem Spannungsverhältnis des Anscheins des Authentischen und der Realität des Fiktiven, ja Phantastischen.“174 Wie Mecke unterstreichen sie den sozialen Handlungscharakter des Lügens, dem ein Element des Erfundenen eingeschrieben sei. Lügner wollen den Zweifel vermeiden, ein Argwohn gegenüber der Aussage soll möglichst nicht aufkommen. Eggert und Kocher bewerten Lügen als „labile Konstruktionen, die in ihre Bestandteile zerfallen, wenn ein tragendes Element herausgenommen wird.“175 Sie erkennen, dass der Lüge ein „Formprinzip“ inhärent ist, dem sich der Lügner bedient: „Formgeschichtlich bedient sich der Lügner der etablierten Formen und setzt sie für seine Zwecke ein; er ‚über-
170 Alheit, Peter/Brandt, Morton: Autobiographie und ästhetische Erfahrung. Entdeckung und Wandel des Selbst in der Moderne, Frankfurt am Main/New York: Campus 2006. 171 J. Mecke: Lüge und Literatur, S. 74. 172 Ebd., S. 82. 173 Ebd., S. 76. 174 H. Eggert/U. Kocher: Überlegungen zur Aktualität der ‚Lügenforschung‘, S. 15. 175 Ebd.
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formt‘ die zeitgenössisch präsenten Formen.“176 Nicht die Konstruktion der Lüge, sondern das Handlungsgeschehen bestimmt die Entlarvung des Lügners. Eggert und Kocher verstehen die Lüge als soziale Handlung, die nach außen von der Fähigkeit des Lügners abhängig ist, seine Lüge so zu formulieren, dass sie in sich schlüssig erscheint, also keine Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Lügners hervorruft. Damit die labile Konstruktion nicht zerstört wird, muss sich der Lügner gesellschaftlich tradierter und manifestierter Gestaltungsprinzipien bedienen, um die gesellschaftlich geprägten Erwartungshaltungen seiner Zuhörer zu erfüllen. Er unterliegt dem „Zwang zur Erfüllung konventioneller, vertrauter Muster“.177 Über die Einbettung der Lüge in einen sozialen Handlungskontext gelingt es ihm, den Wahrheitsund Lügengehalt von Aussagen kontextuell zu verankern. Demnach erschließt sich der Wahrheitsgehalt einer Aussage nicht aus der Aussage selbst, sondern der Hörer kann sich erst durch die Kontextualisierung des Gehörten ein Bild davon machen, ob er belogen wurde oder nicht. Damit weist die Lüge nicht nur auf die sprachphilosophisch konstatierten Verluste von Wahrheit und Wahrhaftigkeit sowie den Missbrauch der Sprache, sondern auch auf die Innerlichkeit des Lügners und seine gesellschaftliche Verhaftung: Der Lügner kann nicht nur bewusst lügen, sondern auch unwillentlich zur Lüge getrieben werden.178 Sowohl Mecke als auch Eggert und Koch knüpfen an das grundsätzliche Dilemma der Lüge zwischen Ästhetik und Moral an und diskutieren, wie dieser Konflikt vom handelnden Individuum erfahren und umgesetzt wird. Die ethische Dimension der Lüge gerät dadurch (scheinbar) ins Abseits. Allerdings ist auch für eine ästhetische Betrachtung der Lüge relevant, dass die moralischen Parameter der Lüge mitgedacht werden, da sich mittels ästhetischer Inszenierungen Lügen, Manipulation, Unterdrückung errichten lassen – wie zum Beispiel in faschistischen Inszenierungs-
176 Ebd. 177 Ebd. 178 Vgl. dazu die linguistischen Ausführungen von: Falkenberg, Gabriel: Lügen. Grundzüge einer Theorie sprachlicher Täuschung, Tübingen: Niemeyer 1982; Kripke, Saul: „Outline of a theory of truth“, in: The Journal of Philosophy 72 (1975), S. 690-716; Piwonka, Matthias: lingua obscura. Pragmatisch-linguistische Explikationen der Lüge, o.J., www.uni-regensburg.de/Fakultaeten/phil_Fak_IV/Kultur_der_Luege/kollegiaten/piwonka.htm vom 26. August 2015; Szczek, Joanna: „Lügt man im Deutschen, wenn man höflich absagt? – Zur Analyse der Absageschreiben auf Bewerbungen im Lichte einer Theorie der Lüge“, in: Forum Artis Rhetoricae 4 (2012), S. 64-81; H. Weinrich: Linguistik der Lüge; Wittgenstein, Ludwig: Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophocus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003.
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strategien.179 Die ästhetische Erfahrung und Handlung der Lüge liegt vor allem in der ihr innewohnenden Möglichkeit, ‚Authentisches‘ zu simulieren. Lügende versuchen im Erzählen – und das ist das eigentlich Ästhetische –, ihre angestrebte, zunächst fiktive Vorstellung von sich selbst zu realisieren. Damit zeigen sie, „dass im Erzählen nicht reale Wirklichkeit wiedergegeben wird, sondern „Neuschöpfung“.180 Inhärent ist der Simulierung von Wirklichkeit durch Lüge und Täuschung auch deren Entlarvung, die sich dahin gehend auswirkt, dass die Wirklichkeit die Lüge begründet und gleichzeitig durch sie bloßgestellt wird. Das vermeintlich Authentische wird so in seiner Brüchigkeit erfahrbar. Dies zeigt sich beispielsweise beim Hochstapler in der Fiktionalisierung von Teilen der Lebensgeschichte, die u.a. der öffentlichen Legitimation der Person dienen soll (vgl. Kapitel 3.2 und 3.3), sich aber letztendlich als Scheinauthentizität erweist. Die Täuschung über das Authentische wird vom Hochstapler quasi rückwirkend bekannt. Voraus geht in den meisten Fällen seine Entlarvung, diese „reißt einen Zwischenraum auf: das ‚Jetzt der Erkennbarkeit“ – wie Pongratz bezüglich Benjamins ästhetischen Überlegungen über Passagen anmerkt.181 Das Konglomerat von Ästhetik und Moral zeigt sich auch in den Autobiographien der Hochstapler, die sich durch eine Gleichzeitigkeit des ‚wahrhaftigen‘ (bekennenden) Erzählens aus dem Leben und literarischer Fiktionalisierung auszeichnet. Der Hochstapler lügt auch, indem er fingiert: Er wählt spezifische Elemente gesellschaftlicher Wirklichkeit aus und fügt diese in neue Zusammenhänge ein. Er realisiert das Vorgestellte, indem er es in eine bestimmte Gestalt überführt, und gibt so der Lüge einen ästhetischen Impetus. „Die Lüge des Hochstaplers funktioniert nur im Rahmen einer Gesellschaft, die selbst durch eine Lügenstruktur geprägt ist. Die Aufdeckung der Lüge, ihre Veröffentlichung, entlarvt vor allem die Voraussetzung der Lüge.“ 182
179 Siehe dazu beispielsweise: Herrmann, Ulrich/Nassen, Ulrich: „Die ästhetische Inszenierung von Herrschaft und Beherrschung im nationalsozialistischen Deutschland. Über die ästhetischen und ästhetik-politischen Strategien nationalsozialistischer Herrschaftspraxis, deren mentalitäre Voraussetzungen und Konsequenzen“, in: Ulrich Herrmann/Ulrich Nassen (Hg.), Formative Ästhetik im Nationalsozialismus, Intentionen, Medien und Praxisformen totalitärer ästhetischer Herrschaft und Beherrschung (= Zeitschrift für Pädagogik, 31. Beiheft), Weinheim/Basel: Beltz 1994, S. 9-12. 180 S.H. Kern: Die Kunst der Täuschung, S. 67. 181 L.A. Pongratz: Zeitgeistsurfer, S. 84. 182 T. Rahn: Der Lügner als Autor, S. 56.
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2.4 ZWISCHEN-FAZIT: BILDUNG UND LÜGE Bildung soll ein Bindeglied zwischen dem Menschen und der Gesellschaft sein – vielleicht auch deshalb wird mit ihr der Anspruch an Wahrheit und Wahrhaftigkeit verknüpft, an die wahre Erkenntnis von den Dingen und die wahrhaftige, aufrichtige Beziehung der Menschen untereinander. Hier springt die Figur des Hochstaplers in die Bresche und markiert (ex negativo) die Ambivalenz und Mehrdeutigkeit menschlichen Lebens zwischen individuellem und gesellschaftlichem Sein, welche auch Bildungsprozessen inhärent ist (siehe dazu folgendes Kapitel). Exemplarisch sei auf Henz verwiesen, der in seinem Lehrbuch der systematischen Pädagogik in den 1970er Jahren unter der Überschrift „Erziehung zur Wahrhaftigkeit“ zwischen „ontologischer Wahrheit“ und „ethischer Wahrheit oder Wahrhaftigkeit“183 unterscheidet, wobei Letztere von besonderer Relevanz für die Erziehungswissenschaft sei: „Der wahre Ausdruck gibt Zeugnis von der wirklichen Meinung, Überzeugung und Gesinnung. Nicht nur Rede als Ausdruck ist gemeint, sondern jede Art von Ausdruck durch Mienen, Gesten, Schweigen, Verhalten. Der unwahre Ausdruck ist Lüge; das wissentliche Reden der Unwahrheit ist eine Sinnverletzung des Ausdrucks und der Rede, eine Täuschung des anderen, wobei das natürliche Zutrauen des sittlich Unverdorbenen mißbraucht wird. Durch Unwahrhaftigkeit wird das zwischenmenschliche Vertrauen, werden Treue und Glauben in der Gemeinschaft zerstört. Der Lügner ist moralisch nicht mehr vollwertig; sein Wert als Zeuge ist erschüttert. Permanent lügt der Heuchler. Durch dauernde Verstellung sucht er eine nicht vorhandene Gesinnung vorzutäuschen. Eine mildernde Beurteilung erfährt die Notlüge, mit der sich einer aus einer echten Not zu helfen weiß.“184
Ist die Lüge tatsächlich eine unvereinbare Kategorie der Erziehungswissenschaft? Lügen haben universellen Charakter. Zugeordnet zum Täuschungsrepertoire des Hochstaplers ergeben sich vielfältige Probleme, die sich insbesondere auf ihre Identifizierbarkeit und Definitionsmöglichkeiten erstrecken. Angesichts des eher geringen Interesses der Erziehungswissenschaft im Allgemeinen und der Erwachsenenbildung im Besonderen an Lüge und Täuschung kann die erziehungswissenschaftlich ausgerichtete Fragestellung dieser Arbeit nur interdisziplinär beantwortet werden. In dieser Arbeit geht es weniger darum, Möglichkeiten zur Identifizierung und Wirkung von Lügen in pädagogischer Praxis aufzuzeigen, sondern sie im Kontext sich in biographischer Reflexion zeigender Bildungsprozesse zu analysieren. Die Lüge stellt insofern ein besonderes Phänomen in Bildungsprozessen von Hochstaplern dar, weil
183 H. Henz: Lehrbuch der systematischen Pädagogik, S. 340. 184 Ebd.
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sie in sich das ambivalente Potential von Bildung sprachlich widerzuspiegeln scheint: Sie stabilisiert und destabilisiert den Menschen, sie zeigt die Verankerung des Menschen in Macht und Ohnmacht bei gleichzeitigem Handlungsbedarf. Sie erscheint als Ausweg aus gesellschaftlichen Anforderungen und Bedürfnissen, kann als Reaktion auf krisenhafte Zustände angewandt werden, hat verschiedene zeitliche Momente in sich, spiegelt die konfliktreiche von Zweifeln begleitete Dynamik des Individuums zwischen Innerlichkeit und gesellschaftlichen Bedingungen wider (vgl. Kapitel 6). Der Zweifel, das Krisenhafte als Motor von Bildungsprozessen kann in der Lüge seinen Ausdruck finden. Als sprachliche Momentaufnahme von (ästhetischer) Erfahrung verweist sie auf die vorangegangene Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Welt, kann Handeln ermöglichen und blockieren. Die Lüge des Hochstaplers in ihrer Ästhetik zu fassen, korrespondiert mit Pongratz „Ausflug in die ästhetische Theorie“185 und lässt sich an dessen Überlegungen anschließen: „Kritische Bildung lebt aus der Kraft zur Unterscheidung, aus der Fähigkeit, Differenzen und Risse sichtbar zu machen, aus dem Vermögen, an Phänomenen mehr wahrzunehmen, als die pure Identität von Begriff und Sache. Kritische Bildung folgt auf diese Weise einer öffnenden Suchbewegung; sie intendiert ‚ein Empfindlichwerden der Reflexion und eine reflexive Empfindlichkeit‘ ..., für die sich im konstruktivistischen Paradigma keine Entsprechung findet.“186
Das folgende Kapitel nimmt sich den Hochstapelnden an und zeigt, wie sie sich in den bildungsrelevanten Dimensionen von Subjektentwicklung, Identität, Gesellschaft und Anerkennung den Schein des Authentischen zu eigen macht.
185 L.A. Pongratz: Zeitgeistsurfer, S. 86. 186 Ebd.; Pongratz zitiert Euler, Peter: „Gesellschaftlicher Wandel oder historische Zäsur? Die ‚Kritik der Kritik‘ als Voraussetzung von Pädagogik und Bildungstheorie“, in: Josef Rützel (Hg.), Bildung nach dem Zeitalter der großen Industrie (= Jahrbuch für Pädagogik 1998), Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 1998, S. 217-238, hier S. 222.
3
Hochstapler: Zeitgeister, Spiegelbilder und Grenzgänger
Die folgenden Zugänge zum Hochstapler legen den Schwerpunkt der Betrachtung nicht auf die moralisch und rechtlich sanktionierten betrügerischen Handlungen, zumal die Hochstapelei selbst keinen rechtlichen Tatbestand darstellt, sondern rückt den Umgang des Hochstaplers mit der Wirklichkeit, der Gesellschaft und sich selbst in den Mittelpunkt.1 Dieses Vorgehen ermöglicht es, den Hochstapler als Subjekt im Spannungsfeld gesellschaftlicher und individueller Anforderungen zu erfassen (vgl. Kapitel 3.2). Darüber hinaus konstituiert sich mit der Figur des Hochstaplers ein Subjekt, das sich zwischen Sein und Schein entwickelt (vgl. Kapitel 3.2.1), sich auf ein Spiel mit der Wirklichkeit einlässt (vgl. Kapitel 3.2.2) und seine Identität mit den Fragen von Authentizität und Anerkennung konfrontiert sieht (vgl. Kapitel 3.3). Seine Auseinandersetzung mit der Welt, den anderen und sich selbst – also mögliche Bildungsprozesse, die Bestandteil der empirischen Analyse sind (vgl. Kapitel 6), werden von diesen Parametern, die sich in der Ambivalenz der Wirklichkeit, des Widerspruchs und der Überschreitung zeigen, begleitet und unterstützt (vgl. Kapitel 3.4). Zunächst jedoch zeigt der Hochstapler seine Verschiedenartigkeit in seiner historischen Kontextualisierung (Kapitel 3.1).
1
Zum Zusammenhang von Hochstapelei und Recht siehe beispielsweise: Haag, Detlev: Betrügerische Hochstapelei und Schwindel. Tat, Täter und Opfer, Freiburg im Breisgau: Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg im Breisgau 1977; Siegel, Stefan T.: Der Hochstapler und seine Tat. Phänomenologische und typologische Untersuchungen, Freiburg im Breisgau: Universität Freiburg 1975.
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3.1 ZEITGEISTER: ENTSTEHUNG UND FACETTEN DES HOCHSTAPLERS IN DER MODERNE Im Jahr 1927 kehrt Walter Serner dem dadaistischen Kreis und der künstlerischen Avantgarde den Rücken und setzt dem Hochstapler ein Manifest: Im „Handbrevier für Hochstapler“ gibt er Anweisungen für ‚erfolgreiche‘ Hochstapelei und zeigt mit dieser „Letzten Lockerung“ sowohl das Groteske von Gesellschaft als auch von Hochstapeln auf.2 Die Veröffentlichung von Serners Handbrevier fällt in die Weimarer Zeit. Eine Epoche, in der sich die Figur des Hochstaplers – folgt man der motivgeschichtlichen, literaturwissenschaftlichen und sozialphilosophischen Forschung – in der Gesellschaft etabliert hat. Unter Bezugnahme auf Lethen charakterisiert Brittnacher „den Hochstapler als Phänotypus einer Übergangszeit“. 3 Pannen sieht im Hochstapler ein „Phänomen der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft und ihrer ureigenen Distinktionsmechanismen“.4 Auch Sloterdijks philosophisch orientierte Analyse der Weimarer Republik unter dem Aspekt einer „Kritik der zynischen Vernunft“ ernennt den Hochstapler „zum Zeittypus par excellence“.5 Bis sich diese hochstaplerischen Zeitgenossen (zumindest) begrifflich in der Gesellschaft etablieren können und sowohl zu ihren Lebzeiten als auch nachträglich zum Sinnbild gesellschaftlicher Zustände erklärt werden, ist der „Hochstappler ... zunächst ein Bettler, der sich als in Not geratener vornehmer Mann ausgibt und dadurch Mitleid zu erregen sucht“.6 Die „Stappler“ – ein Wort aus dem Rotwelschen, der „Gaunersprache“, wie sie zum Beispiel die Brüder Grimm bezeichnen –, die „betteln, von Ort zu Ort gehen“, werden im 19. Jahrhundert „unter dem polizeilichen namen hochstappler“ geführt und erfahren eine Bedeutungsverschiebung: „unter ... hochstappler versteht man einen menschen, der entweder wirklich der gebildeten gesellschaft angehörend oder unter der behauptung ihr anzugehören, wiederum nur die mitglieder dieser gesellschaft unter allerhand vorspiegelungen in contribution setzt.“7
2
Serner, Walter: Letzte Lockerung. Ein Handbrevier für Hochstapler und solche die es werden wollen, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1981.
3
Brittnacher, Hans Richard: „Betrug auf hohen Touren. Walter Serners Poetik sozialer Mobilität“, in: Hans Richard Brittnacher/Magnus Klaue (Hg.), Unterwegs: Poetik des Vagabundentums im 20. Jahrhundert, Köln u.a.: Böhlau 2008, S. 71-88, hier S. 78.
4
T. Pannen: Anmerkungen aus dem Zettelkasten, S. 104.
5
P. Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, S. 850, Herv. i.O.
6
Kluge. Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Sprache, bearbeitet von Elmar Seebold, 24., durchgesehene und erweiterte Auflage, Berlin/New York: de Gruyter 2002, S. 416.
7
Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, 16 Bände in 32 Teilbänden, Leipzig: Hirzel 1854-1961, hier Band 10, Sp. 1633-1634. Online-Version vom 25. Mai 2018.
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Auch Meyers Konversationslexikon verortet das Treiben des ehemals vornehmen Bettlers in die gebildete Gesellschaft: Die Hochstapler sind eine „Art Gauner, die durch feines Auftreten sich den Anschein vornehmer Leute zu geben wissen und meist auch nur in den Kreisen der gebildeten Gesellschaft ihr Wesen treiben.“ 8 Der Blick in die historischen Lexika zeigt, dass der Hochstapler erst Mitte des 19. Jahrhunderts in den enzyklopädischen Kanon aufgenommen wird. 9 Erste Merkmale des Hochstaplers werden Bill zufolge zunächst im Begriff des „Industrieritters“ zusammengeführt, der neben dem hochstapelnden Bettler einen weiteren Vorläufer des Hochstaplers darstellt und in Europa während der Gründerzeit aufkommt.10 Der Industrieritter „vereinigte die gegensätzlichen sozialen Typen der Karikatur eines adeligen Ritters als eines Angehörigen der müßigen Oberschicht mit dem des geschäftstüchtigen und kapitalistisch orientierten Verbrechers und stellte eine Melange zwischen pseudoindustriösem und pseudoaristokratischem Geist dar.“11 Im Gegensatz zum vornehmen Bettler interessiert sich der Industrieritter weder für den Eintritt in das adelige Establishment noch für die (industrielle) Arbeit. Sein Hauptaugenmerk gilt der monetären Verbesserung seiner Situation, Arbeit allerdings erscheint ihm dafür zu mühselig. Er gilt als „sozialer Parasit“ mit fragwürdigen Geschäftspraktiken und übernimmt aus den adeligen Kreisen die „Vornehmheit und die Abneigung gegen gewöhnliche Arbeit“.12 Seinen arbeitsscheuen Lebensstil verübelt ihm die Gesellschaft, ist dieser doch nur der „echten müßigen Klasse des Adels“13 vorbehalten. Industrieritter gelten als unmoralisch und werden mit dem euphemistisch anmutenden Begriff ins gesellschaftliche Außen gestellt. Bill verweist darauf, dass das Potential der Industrieritter selten positiv gewürdigt wird. Eine Ausnahme bilde Klencke, der 1858 im Industrieritter das Symbol für einen neuen Zeitgeist sieht: „Wie kann man einen Gauner einen Industrieritter nennen? Eine Beschimpfung unseres heutigen Zeitgeistes, die Industrieritter sind die wahren Ritter der Zeit und vom Geiste – sie werden in fünfzig Jahren die Herren der Rittergüter sein ... sie werden die Aristokraten als solche verdrängen und die Ritter von Sporn und Schwert in Ritter vom Schilde umwandeln, aber vom Aushängeschilde der Firma. Was sind unsere Ritter? Es sind jene Fixsterne, die so weit in grau-
8
Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Leipzig/Wien 1885-1892, S. 594.
9
Vgl. T. Pannen: Anmerkungen aus dem Zettelkasten, S. 104.
10 Bill, Claus Heinrich: Industrieritter: Vorstellung eines Betrügers der Gründerzeit, http:// www.gaunerkartei.de/industrieritter.html vom 26. August 2015. 11 Ebd. 12 Ebd. 13 Ebd.
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er Ferne liegen, daß, wie die Astronomen sagen, ihr Licht noch gesehen wird, während sie selbst schon vor zwanzig Jahren aufgehört haben zu existiren sic!.“14
Mit dem Ende des Kaiserreiches endet auch die Karriere der Industrieritter. Bereits um die Jahrhundertwende seien einige seiner Merkmale in die Figur des Hochstaplers überführt worden, so Bill. Damit einher gehen eine semantische Wandlung und eine gesellschaftliche Neubewertung des Hochstaplers: Zur unmoralischen Bewertung gesellt sich die heimliche oder offene Bewunderung und damit (indirekt) eine gesellschaftliche ‚Nützlichkeit‘, die sich für Bill aus der Abgrenzung zum Industrieritter ergibt: „Denn anders als der vorgeblich nur seinen egoistischen Instinkten folgende Industrieritter hielt der Hochstapler der Gesellschaft einen Spiegel vor. ... Wo der Industrieritter Heimtücke und List ‚im Kleinen‘ benutzte, erlaubte man dem Hochstapler dieselben Eigenschaften ‚im Großen‘ anzuwenden, ohne sie tragisch zu nehmen. Industrieritter wurden daher als gewöhnliche catilinarische Existenzen und Betrüger, Hochstapler aber, wie der Schuhmacher Wilhelm Voigt (1848-1922) als ‚Hauptmann von Köpenick‘, als humorige volkspädagogisch wertvolle Schulbeispiele gesellschaftlicher Schwächen besehen.“15
Seine Blütephase in Deutschland erlebt der Hochstapler am Anfang des 20. Jahrhunderts, in der Ära des Wilhelminismus und deren „Parvenu-Atmosphäre“, die Pannen zusammenfassend auf die Koalition aus Lust an der Inszenierung, ökonomischem Erfolg und bürgerlichem Selbstbewusstsein zurückführt.16 Es ist eine Epoche des „diffusen Übergangs von der traditionellen Herkunftselite aristokratischer Provenienz hin zur bürgerlichen Leistungselite mit moralischer Grundierung“. 17 Doch die Diffusion in Form sozialen Aufstiegs ist nicht allen möglich. Hochstapelei jedoch kann dem sozial Aufstiegswilligen, aber gesellschaftlich Verhinderten, den Weg im sozialen Wandel bereiten – wenigstens vorübergehend. Dieser Wunsch nach Aufstieg spiele für den Hochstapler eine große Rolle und sei im Wort „hochstapeln“ etymologisch verankert, so Bauer und Reinke.18
14 Klencke, Hermann: Die Ritter der Industrie. Ein anonymer Roman, Band II, Leipzig: Christian Ernst Kollmann 1858, S. 279-280. 15 C.H. Bill: Industrieritter, o.S. 16 T. Pannen: Anmerkungen aus dem Zettelkasten, S. 105. Vgl. auch S. Porombka: Über die Notwendigkeit, S. 212ff. 17 T. Pannen: Anmerkungen aus dem Zettelkasten, S. 105. 18 Bauer, Lydia/Reinke, Kristin: „Vorwort“, in: Bauer/Reinke, Hochstapler und Spieler (2014), S. 1-11, hier S. 2. Bauer und Reinke beziehen sich auf die Dissertation von D. Haag: Betrügerische Hochstapelei, S. 5-6.
Hochstapler: Zeitgeister, Spiegelbilder und Grenzgänger | 83
In dieser Zeit und in der nachfolgenden Weimarer Republik werden die „großen Hochstapler-Romane“19 publiziert oder beziehen sich auf diese. Als bekanntestes Beispiel dafür gilt Thomas Manns „Felix Krull“, der seine Hochstapeleien in der wilhelminischen Gesellschaft vollführt, deren Inszenierungs- und Verstellungskünste er für sich zu nutzen weiß.20 In den Hochstaplerromanen zeigt sich eine „eigentümlich um die Ecke gedachte Moral“21, die darin besteht, dass es gerade seine „literarischen Phantasien“22 sind, die es dem Hochstapler ermöglichen, „durch ungesetzliches Vorgehen die ‚gesetzlich geschützten Verbrecher‘ bloßzustellen.“23 Immer wieder berichten die verschiedenen Medien über entlarvte Hochstapler. Auch die zeitgenössischen Psychologen und Soziologen beginnen, sich mit dem Phänomen der Hochstapelei auseinanderzusetzen.24 Die Popularität der Hochstapler und ihrer Geschichten „werden der neuen sozialen Unübersichtlichkeit gerecht, die an die Stelle der klaren sozialen Vertikalität der Vorkriegsgesellschaft getreten ist.“25 Die „Vielschichtigkeit der Hochstaplerfigur“26 zeigt sich nicht nur in der etymologischen und semantischen
19 T. Pannen: Anmerkungen aus dem Zettelkasten, S. 105. Beispiele für Hochstaplerromane sind: Kestens, Hermann: Der ausschweifende Mensch. Das Leben eines Tölpels, Berlin: Kiepenheuer 1929; Neumann, Robert: Hochstaplernovelle (= Blinde Passagiere, Band 1), Stuttgart: Engelhorn 1930; Neumann, Robert: Karriere (= Blinde Passagiere, Band 2), Stuttgart: Engelhorn 1931; Roth, Joseph: „Flucht ohne Ende. Ein Bericht, (1927)“, in: Joseph Roth, Werke, Band 4: Romane und Erzählungen 1916-1929, herausgegeben von Fritz Hacker, Frankfurt am Main/Wien: Büchergilde Gutenberg 1994, S. 389-496 Serner, Walter: Die Tigerin. Eine absonderliche Geschichte, Berlin: Gottschalk 1925; Zuckmayer, Carl: Der Hauptmann von Köpenick, Frankfurt am Main: Fischer 1992. 20 T. Mann: Felix Krull. 21 H.R. Brittnacher: Betrug auf hohen Touren, S. 78. 22 Ebd. 23 Lethen, Helmut: „Der Habitus der Sachlichkeit in der Weimarer Republik“, in: Bernhard Weyergraf (Hg.), Literatur der Weimarer Republik 1918-1933 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Band 8), München: Hanser 1995, S. 371-445, hier S. 424. 24 Zum Beispiel: Delbrück, Anton: Die pathologische Lüge und die psychisch abnormen Schwindler. Eine Untersuchung über den allmählichen Übergang eines normalen psychologischen Vorgangs in ein pathologisches Symptom, Stuttgart: Enke 1891; Kisch, Egon Erwin: „Falsche Prinzen“, in: Egon Erwin Kisch, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Mein Leben für die Zeitung (1926-1947), Journalistische Texte 2, herausgegeben von Bodo Uhse und Gisela Kisch, Berlin: Aufbau 1983, S. 44-47; Kurth, Josef: Über Hochstapler im Kriege, Bonn: Kutzleb 1919; K. Tucholsky: Mit Rute und Peitsche durch PreußenDeutschland. 25 H.R. Brittnacher: Betrug auf hohen Touren, S. 78. 26 L. Bauer/K. Reinke: Vorwort, S. 2.
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Entwicklung des Begriffes, ihrer medialen und literarischen Aufbereitung, sondern auch in ihren diversen unter der Figur des Hochstaplers subsumierten Rollen, Zielen und Taten. Bauer und Reinke machen aus literaturgeschichtlicher Perspektive darauf aufmerksam, dass sich „Betrüger ..., Fälscher, Heiratsschwindler, Heuchler, Lügner, Scharlatan, Schelm ..., Schwerstkriminelle“ die Hochstapelei zunutze machen und sich vor allem hinsichtlich ihrer Rücksichtslosigkeit den Betrogenen gegenüber auszeichnen.27 Dass sich die bevorzugten Rollen der Hochstapler im Laufe der Zeit ebenso ändern wie die gesellschaftlichen Bereiche, die als Bühnen von hochstapelnden Täuschern bevorzugt werden, veranschaulicht auch die Veröffentlichung von Porombka.28 So zählt beispielsweise in der Vergangenheit „der von der russischen Revolution ins Exil getriebene russische Adelige“29 zu den beliebtesten Rollen. In der Gegenwart ist es – auch wenn das Tragen eines Adelstitels heute noch zu den bevorzugten hochstaplerischen Requisiten gehört – nicht mehr der adelige Kreis, zu dem Zugang gefunden werden soll: Besonders viele Hochstapler tummeln sich mit oder ohne Adelstitel in ökonomischen, politischen oder universitären Feldern.30 Auch die Virtualisierung des Lebens führt zu einer erhöhten Anzahl von Scheinexistenzen, deren hochstaplerischer Charakter sich in Inter(net)aktionen zeigen kann. 31 Hochstapler sind Kinder ihrer jeweiligen Zeit. Sie bedienen sich während ihrer Täuschungsmanöver aus einem Potpourri an rollenspezifischen Requisiten, befolgen in der hochstaplerischen Figur den jeweiligen Verhaltenskodex und spielen mit den Normen- und Wertvorstellungen in den gesellschaftlichen Bereichen, in denen sie den Schein ihrer Existenz realisieren, sich „für den Zeitgeist stets neu erfinden und ihn spiegeln.“32 Sie faszinieren und entsetzen sowohl ihre Zeitgenossen als auch spä-
27 Ebd. 28 S. Porombka: Felix Krulls Erben. 29 H.R. Brittnacher: Betrug auf hohen Touren, S. 95. Vgl. Ihrig, Wilfried: Literarische Avantgarde und Dandysmus, Frankfurt am Main: Athenäum 1988, S. 95 30 Siehe dazu: I. Klein: „Fake it ’til you make it“; Kramer, Bernd: Der schnellste Weg zum Doktortitel. Warum selbst schreiben, wenn’s auch anders geht? München: Riemann 2014; Saehrendt, Christian/Kittel, Steen T.: Alles Bluff! Wie wir zu Hochstaplern werden, ohne es zu wollen. Oder vielleicht doch? München: Libri 2011, S. 219-278; Sloterdijk, Peter: „Doktor Wenn und Doktor Aber: Die Figur des Hochstaplers gehört ins Zentrum der modernen Kultur“, in: Der Spiegel 49 vom 5. Dezember 2011. 31 Siehe beispielsweise: Zillman, Doreen/Schmitz, Andreas/Blossfeld, Hans-Peter: „Lügen haben kurze Beine. Zum Zusammenhang unwahrer Selbstdarstellung und partnerschaftlicher Chancen im Online-Dating“, in: Zeitschrift für Familienforschung 23 (2011), S. 291-318. 32 Schwanebeck, Wieland: „Die vielen Leben des Georges Duroy: Maupassants Bel-Ami und die Adaptabilität des Hochstaplers“, in: Bauer/Reinke, Hochstapler und Spieler (2014), http://web.fu-berlin.de/phin/beiheft8/b8t03.pdf vom 26. August 2015, S. 28-52, hier S. 35.
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tere Gesellschaften, weil sich ihre Lebensgestaltung den gesellschaftlichen Erwartungen entzieht, sie sich über sie hinwegsetzen. „Der Hochstapler erinnert noch ... an den heroischen Einzelnen des 19. Jahrhunderts, ist in seiner Gesichtslosigkeit aber auch der Protagonist der anonymen Massengesellschaft der 20er Jahre.“ 33 Mit ihrer gespielten Rolle stellen sie in unsicheren Zeiten sogar die Authentizität des Selbst infrage und sind doch gleichzeitig ganz authentisch. „Sie sind bewegt von ‚eigenartigen‘ inneren Motiven, vergleichbar dem Spieler ... und werden zu großen Teilen selbst unfreiwillige Opfer ihrer eigenen Talente, unter denen Gewandtheit, Sprachbegabung, Charme, Verführungsgabe, Situationsgespür, Geistesgegenwart und Phantasie auffallen. ... Mit ihrem Verhalten löschen sie, höchst erfolgreich, die alltäglichen ontologischen Grenzen zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen aus. Sie sind Erfinder im existentiellen Bereich.“34
Sloterdijks Untersuchung der „Hochstapler-Republik“35 zeichnet die Bedeutung des Hochstaplers in einem konkreten historischen Kontext nach und kann so wesentliche Merkmale der Figur des Hochstaplers konstatieren. Schwanebeck plädiert wie Pannen und Porombka dafür, den Hochstapler in seinen jeweiligen historischen Kontexten zu betrachten, geht aber nicht soweit, ihn – tritt er denn heutzutage in Erscheinung – als ein „Retro-Phänomen“ zu charakterisieren.36 Für ihn stellt Hochstapelei unter Bezug auf Veelen ein „historisches Phänomen dar ..., das immer da möglich wird, wo Ordnungssysteme und Institutionen staatlicher Kontrolle am Werk sind, in denen eine hohe Diskrepanz ‚zwischen dem Realen und dem Nominellen‘ durch symbolische Handlungen überspielt wird ....“37 Doch es sind nicht nur symbolische Handlungen, die Diskrepanzen überspielen und sich in nachträglicher Interpretation als Reflexion gesellschaftlicher Zustände erweisen. Sowohl Porombka als auch Pannen verweisen darauf, dass in den Geschichten über Hochstapler immer auch „die ‚großen Fragen‘ nach gesellschaftli-
33 H.R. Brittnacher: Betrug auf hohen Touren, S. 78. 34 P. Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, S. 856. 35 Ebd., S. 849. 36 S. Porombka: Über die Notwendigkeit, S. 220. Für Porombka erweist sich der Hochstapler als eine historische Figur, da sich heutzutage das Verhältnis von Sein und Schein wieder geändert hat. Dies zeigt sich für Porombka insbesondere daran, dass sich ‚historische‘ Hochstapler für die Gestaltung ihrer Gegenwart der Regeln aus der Vergangenheit bedienen, während in der gegenwärtigen Gesellschaft die Antizipation der Zukunft im Vordergrund stehe. 37 W. Schwanebeck: Der flexible Mr. Ripley, S. 13. Vgl. S. Veelen: Hochstapler, S. 169.
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chem Sein und Schein“38 berührt werden. Hochstapler veranschaulichen, dass es „um viel grundsätzlichere kulturelle Problemkonstellationen geht“ und verhandeln über das „Beziehungsgefüge zwischen Schein und Sein“.39 Die im Zuge der Moderne immer weiter voranschreitende Individualisierung führt auch zu veränderten Vorstellungen von Individualität, deren Problematik in der Figur des Hochstaplers aufzugehen scheint: „Deren die Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts, KS Traum von der Individualität verleiht der Hochstapler in seinem gefährlichen sozialen Balanceakt die Züge eines Alptraumes. Aus der Lebenswelt der Vorkriegszeit ausgebrochen, sucht er in einer verzweifelten und oft vergeblichen Anstrengung sich den rasenden Verhältnissen der Zeit zu synchronisieren ....“40
Mit eben diesem Beziehungsgefüge und den alptraumhaften Zuständen des Individuums spielt auch Walter Serner in seinem Handbrevier für Hochstapler und treibt darin u.a. die Redensart „mundus vult decipi“ auf die Spitze und schlussfolgert: „Die Welt will betrogen sein, gewiß. SIE WIRD ABER SOGAR ERNSTLICH BÖSE, WENN DU ES NICHT TUST.“41
3.2 SPIEGELBILDER: HOCHSTAPLER ZWISCHEN INDIVIDUELLER SELBSTBEHAUPTUNG UND GESELLSCHAFTLICHER SELBSTPRÄSENTATION Ob die Welt tatsächlich betrogen werden will oder nicht, das Phänomen der Hochstapelei in seiner historisch kontextualisierten Vielfalt zeigt, dass der Glaube an die Welt, wie sie zu sein hat, manchmal Berge versetzen kann und dem Hochstapler ein leichtes Spiel macht: Er bedient sich täuschend echt der Vorstellungen, Erwartungen und Wissensbestände von Menschen und repräsentiert die Einsicht, dass die Gewissheiten ins Wanken geraten sind. „Es gibt keine Gewissheit, nur die Unablässigkeit von Deutung, die das hermeneutische Grundvertrauen auf einen letztinstanzlichen Sinn hinter sich gelassen hat zugunsten der einen Gewissheit, dass alle Gewissheiten auf dem Spiel stehen.“42 Das trotz dieser Entwicklung vorhandene Festhalten-Wollen an einer wirklichen Gewissheit öffnet dem Hochstapler den Zutritt zur Welt und lässt ihn in seiner täuschenden Rolle Teil der Gesellschaft werden. Er präsentiert und be-
38 T. Pannen: Anmerkungen aus dem Zettelkasten, S. 105. 39 S. Porombka: Über die Notwendigkeit, S. 207. 40 H.R. Brittnacher: Betrug auf hohen Touren, S. 78. 41 Serner 1981, S. 162, Nr. 591, Herv. i.O. 42 H.R. Brittnacher: Betrug auf hohen Touren, S. 84-85.
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hauptet sein Selbst. Dabei entzieht sich der Hochstapler seinem gesellschaftlich verorteten Sein. Er macht sich den äußerlichen Schein zunutze, der sich in der Wirklichkeit konstituiert. 3.2.1 Zwischen Sein und Schein Die Entwicklung der gesellschaftlichen Figur des Hochstaplers wird von Porombka in einem engen Zusammenhang mit der historischen Entwicklung der Bedeutung des Verhältnisses von Schein und Sein gesehen.43 Ihm zufolge wird in der Figur des Hochstaplers und in den Geschichten über ihn diese historische Evolution sinnbildlich und symbolisch gefangen und wahrnehmbar. Gekoppelt an das Aufkommen der Hochstapelei in der sich industrialisierenden Gesellschaft unter den Prämissen eines voranschreitenden Kapitalismus beobachtet Porombka einen Wandel der anthropologischen Bezugsgrößen „Schein“ und „Sein“. Sind vorangegangene Epochen u.a. davon gekennzeichnet, dass zunehmend an dem Sein als Bezugsgröße zur äußeren Welt gezweifelt wird, da dieses sich bei näherer Betrachtung als Schein (vgl. Kapitel 2.1) erweist, legt die kapitalistische Gesellschaft nach Porombka erneut den Fokus auf das Sein. Infolge der Neuordnung der sozialen Sicherungssysteme und sich ändernder Herrschafts- und Machkonstellationen komme es dazu, dass nicht mehr beispielsweise die Herkunft (also der äußere Schein) als entscheidender Faktor gesellschaftlicher Partizipation erachtet werden, sondern die Fähigkeiten des Menschen, die er in und aus seinem Sein herausbildet. Dieser Vorgang sei risikoreich, heikel und schwer umsetzbar. Normativ mit diesem Wandel hin zum Sein konfrontiert, müssten die Menschen sich die Frage stellen, was sie mit ihren eigenen Möglichkeiten machen wollen. Sozialer Wandel und Individualisierung werfen den Menschen zunehmend zurück auf sich selbst, sorgen für Verunsicherung. Dieser Entwicklung begegnen die Menschen u.a. mit der Suche nach Vorbildern, neuen Lebensweisen oder Dingen, die das Sein fassbar machen. 44 So werde der monetäre Status, wie Porombka in seiner Analyse feststellt, zum Garanten des Seins. Die Kapitalisierung bringt „enorme Blüten, Schrägheiten, Absurditäten, Erfolge, riesige Blasen und auch immer wieder Krisen und Katastrophen“ und infolge dessen „Wahrnehmungsprobleme und Anpassungsprobleme“ hervor. 45 Porombka stimmt Sloterdijk zu, der die Bedeutung des Hochstaplers in der Weimarer Republik auch darin sieht, dass er „auch im Sinn der kollektiven Selbstvergewisserung zu einer unentbehrlichen Figur wurde, zum Zeitmodell und zur mythi-
43 Vgl. zu den folgenden Ausführungen: S. Porombka: Über die Notwendigkeit, S. 207-213. 44 Porombka verweist in diesem Zusammenhang auf den Selfmade Man, vgl. ebd., S. 210. 45 Ebd., S. 211.
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schen Schablone.“46 Auch Lethen kommt zu dem Schluss: „In der exzentrischen Gestalt des Hochstaplers wird sichtbar, wie fragil die Strategien der Distinktion in einer Gesellschaft sind, in der das Geld als großer Nivellierer herrscht und der Markt vor allem die Biegsamkeit der Haltung honoriert.“47 Porombka schlussfolgert, dass die Hochstapelei und die Geschichten über sie „die Verschiebung und Neufassung einer kulturellen Problemkonstellation thematisiert. Sie ziehen ihre Konturen nach, weisen auf Veränderungen hin und schlagen gleichzeitig probehalber neue, zumindest andere Lösungsfiguren vor.“48 Die Hochstapler veranschaulichen das Paradoxon, dass ebenfalls in der Moderne das Sein immer mehr durch den Schein bestimmt wird – auch wenn gesellschaftliche Postulate anders lauten. Der Hochstapler legt der Gesellschaft mit seinem Handeln eine Bilanz vor und entlarvt ihre „Hohlform“49, die sich auch in deren Festhalten am (scheinhaften) Sein zeigt. Der Hochstapler nimmt „[a]n der Kante, der Bruchstelle, an diesem Übergang, an dem zwei gegensätzliche Formen der Verknüpfung von Sein und Schein aneinander stoßen und die eine Form keine Orientierung und die andere die Orientierung noch nicht garantieren kann, ... einfach alle hoch.“50 Der Hochstapler gibt sich souverän. Er weiß mit der neuen gesellschaftlichen Komplexität umzugehen. Nach Porombka ist er der ‚bessere Spieler‘, weil er sich loslöst von der „Verlässlichkeit des Seins“51 und den Schein für sich zu nutzen weiß. In Krisen- und Umbruchszeiten setzt der Hochstapler mit seinen Zügen und mit seinem Schein seine Gegenüber schachmatt. Die paradoxe Verbindung von Sein und Schein, die in der Figur des Hochstaplers eine Symbiose eingeht und in dieser die dialektischen Verhältnisse gesellschaftlicher Zustände katalysiert, streift auch den Aspekt, wie sich das Individuum in diesem Kontext legitimiert, welche Formen der Präsentation des Selbst es wählt und wie sich Legitimation und Selbstpräsentation auf die Konstitution des Subjektes auswirken. Rahn macht in diesem Zusammenhang auf eine veränderte gesellschaftliche Ästhetik aufmerksam, die „nicht mehr – wie das alte Zeremoniell – ein Verfahren der Transzendierung von guter und unveränderlicher Ordnung, sondern eine Marktästhetik ist, die auf der fließenden Ordnung der Konkurrenz beruht. Die Person investiert sich als Ware, dessen Wert nicht objektiviert wird, sondern durch eine mediale Scheinevidenz erhöht werden muß.“52
46 P. Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, S. 852. 47 Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte – Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 151. 48 S. Porombka: Über die Notwendigkeit, S. 211. 49 Ebd., S. 212. 50 Ebd., S. 212-213, Herv. i.O. 51 Ebd. 2014, S. 213. 52 T. Rahn: Der Lügner als Autor, S. 61.
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Hochstapelei ist für Pannen eng gebunden an die Behauptung des Individuellen und des Selbst in der Wirklichkeit und ihren Weltbezügen. 53 Die Dimensionen der Selbstbehauptung bewegten sich – normativ gesetzt – in den Kategorien des vermeintlich Authentischen, also dem, was als Wirklichkeit anerkannt werde. Der Hochstapler verstoße mit seiner Selbstbehauptung und -präsentation gegen den Wirklichkeitskonsens der Wahrhaftigkeit. Dies lässt die Fragen aufkommen, wie und warum der Hochstapler verstößt, wer bestimmt, was Wirklichkeit ist, und wie Verstöße gegen die Wirklichkeit geahndet werden.54 Am Beispiel von Felix Krull verdeutlicht Pannen, dass Hochstapelei „den ästhetischen Schein gegen die Legitimität einer ökonomisch-moralischen Wirklichkeit“55 setzen kann. Den Betrügereien, Übertreibungen und Lügen von Felix Krull wohnt für Pannen eine Ästhetik inne, deren Wahrhaftigkeit sie über die Wirklichkeit stelle: „Über der Wirklichkeit steht die Wahrheit des ästhetischen Scheins, die Schönheit, die zu erkennen und zu leben nur wenigen gegeben ist. Es bedarf der moralischen Gesellschaft, um den Hochstapler als Grenzverletzer zu erfahren – und es ist die moralische Gesellschaft, die in ihrer eindimensionalen Referenzialität der Kritik zugeführt wird. Doch nur durch sie wird der Hochstapler überhaupt erkennbar.“56
Krulls Ich entsteht nicht durch die Wirklichkeit, sondern durch die Täuschung der Wirklichkeit und die Ästhetik des Scheinbaren. Er schafft sein Ich, indem er sein Selbst in der Ästhetik des Scheins behauptet und der gesellschaftlichen Wirklichkeit einen Haken schlägt. Stellvertretend zeigt sich an Felix Krull, dass sich das Subjekt als wenig zuverlässige Konstante in den modernen Zeiten erweist, in denen die „Komplikationen des Daseins“ für Sloterdijk dazu führen, dass „die Figur des Hochstaplers ... nicht nur empirisch, sondern auch rechtens und prinzipiell ins Zentrum der modernen Kultur“57 gehört. „Tatsächlich liefert die Figur des Hochstaplers den Steckbrief zu jenem Subjekt, nach dem die modernen sic! Philosophie von Descartes’ Tagen an fahndet, um ihm im Guten wie im Bösen die größten Lasten aufzubürden. Kein anderer als er, der Hochstapler, ist das Subjekt, das sich selbst begründet und doch auf vorgängigen Stiftungen ruht; das originell sein soll und im Her-
53 Vgl. T. Pannen: Anmerkungen aus dem Zettelkasten, S. 105. 54 Vgl. ebd. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 Peter Sloterdijk: Der Heilige und der Hochstapler. Von der Krise der Wiederholung in der Moderne, 2012, http://www.swr.de/-/id=9761112/property=download/nid=659852/1ihuox j/swr2-essay-20120625.pdf vom 27. August 2015, S. 13.
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kommen verankert bleibt; das sich selbst wählt und sich zugleich an Engagements bindet; das alles selbst tun will und es im Ernstfall nie gewesen ist; das sich zur Revolution aufschwingt und sich zugleich in die Durchschnittlichkeit bettet; das immer ganz bei sich sein möchte und sich doch ständig in den Medien sieht. Was immer man über das Subjekt der Moderne sagen mag, es läuft auf den Hochstapler hinaus. In seiner Figur sind das Verdächtige und das Seriöse zu einer kaum noch auflösbaren Komplikation zusammengedrängt. Seit dem Eintritt ins Zeitalter der synthetischen Seriosität gehört der Hochstapelei ein wesentlicher Teil der Bühne.“ 58
3.2.2 Das Spiel mit der Wirklichkeit Auch aus soziologischer Perspektive steht Wirklichkeit nicht still, sie verändert sich, kann geändert werden. So bedient sich beispielsweise Goffman ebenfalls der Bühnen-Metapher und vergleicht einen Teil der Welt mit einer Bühne, auf der alle Akteure – manchmal auch im Alltag – Theater spielen. Er konstatiert anhand von Alltagsphänomenen, dass Wirklichkeit „ein vorläufiges gemeinsam hergestelltes Phänomen“59 ist. Potentielle Bestandteile dieser gemeinsam hergestellten Wirklichkeit sind für Goffman Täuschungen. In seinen Werken „Wir alle spielen Theater“, „Stigma“ und „Rahmen-Analyse“ zeigt er anhand diverser Beispiele und deren Erläuterung, dass Wirklichkeit auch etwas anderes sein kann, als das, was sie zu sein scheint. 60 Eine vollständige Erfassung von Realität ist nach Goffman selten möglich, da der Einzelne in der Regel nicht allumfassend informiert ist. Hilfreich sind „Ersatzinformationen – Hinweise, Andeutungen, ausdrucksvolle Gesten, Statussymbole usw. – als Mittel der Vorhersage.“61 „Kurz, da die Realität mit der es der Einzelne zu tun hat, im Augenblick nicht offensichtlich ist, muß er sich statt dessen auf den Anschein verlassen; und paradoxerweise muß er sich desto mehr auf diesen konzentrieren, je mehr er um die Realität besorgt ist, die der Wahrnehmung nicht zugänglich ist.“62
Der Anschein und der Eindruck dienen dem „Beobachter“ als „Ersatz für die Realität“.63 Deshalb, so Goffman, kann der Handelnde den „Beobachter“ manipulieren,
58 Ebd. 59 Hettlage, Robert: „Der entspannte Umgang der Gesellschaft mit der Lüge“, in: Mayer, Kulturen der Lüge (2003), S. 69-98, hier S. 74. 60 Siehe: E. Goffman: Wir alle spielen Theater; E. Goffman: Stigma; E. Goffman: RahmenAnalyse. 61 E. Goffman: Wir alle spielen Theater, S. 228. 62 Ebd. 63 Ebd., S. 229.
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„weil ein Zeichen für die Existenz eines Dings, das nicht selbst dies Ding ist, in dessen Abwesenheit benützt werden kann. Die Tatsache, daß es für den Beobachter notwendig ist, sich auf die Darstellung von Dingen zu verlassen, schafft die Möglichkeit der falschen Darstellung.“64 Die Verzahnung von Anschein und Realität, die sich sowohl auf die Darstellung als auch auf die Beobachtung bezieht, wird von Goffman auch an moralische, normativ gesetzte Erwartungen gekoppelt. Dies führt zu einer „grundlegenden Dialektik“65, welche Konsequenzen für das Selbst des Einzelnen hat: „In ihrer Eigenschaft als Darsteller ist dem Einzelnen daran gelegen, den Eindruck aufrechtzuerhalten, sie erfüllten die zahlreichen Maßstäbe, nach denen man sie und ihre Produkte beurteilt. Weil diese Maßstäbe so zahlreich und allgegenwärtig sind, leben die einzelnen Darsteller mehr als wir glauben in einer moralischen Welt. Aber als Darsteller sind die Einzelnen nicht mit der moralischen Aufgabe der Erfüllung dieser Maßstäbe beschäftigt, sondern mit der amoralischen Aufgabe, einen überzeugenden Eindruck zu vermitteln, daß die Maßstäbe erfüllt werden. Unsere Handlungen haben es also weitgehend mit moralischen Fragen zu tun, aber als Darsteller sind wir nicht moralisch an ihnen interessiert. Als Darsteller verkaufen wir nur die Moral.“66
Aufgrund der Aufsplittung in „Modulationen“ und „Täuschungsmanöver“ stellt sich Wirklichkeit für Goffman als komplexes, brüchiges Geschehen dar, weil Definitionen und Transformationen von Rahmen lediglich ein vorläufiges Ergebnis darstellen.67 Die Rahmen, die der Vergewisserung über Wirklichkeit dienen, zeichnen sich insbesondere in dem interaktiven Transformationsprozess als mehrdeutig aus. 68 Lediglich ein konsensual gefundener Kompromiss kann zur Klärung von ‚wirklichen‘ Situationen gefunden werden. Wirklichkeit wird Goffman zufolge auf Basis und innerhalb von Interaktionen interpretiert – die Gegenwart bietet keine Gewissheit darüber, ob in Interaktionen getäuscht oder aufrichtig gehandelt bzw. transformiert wird. Somit schafft erst die Rekonstruktion der Ereignisse Klarheit darüber, ob der konsensualen Definition der Situation eine Modulation oder eine Täuschung vorausgegangen ist. Über den Anschein verknüpft der Hochstapler auf seiner Bühne absichtsvoll die Erwartungen des Publikums an seine zu spielende Rolle. Sein Vorspielen erweist sich jedoch bei Entlarvung als Lüge und Täuschung. Zunächst jedoch profitiert er von der „Hinterbühne“69, wie Goffman sie nennt, zu der das Publikum keinen Zutritt hat und die seine Täuschungsabsicht nicht erkennen lässt. Der Hochstapler allein weiß über
64 Ebd. 65 Ebd. 66 Ebd., S. 229-230. 67 E. Goffman: Stigma, S. 176. 68 Ebd., S. 176ff. 69 E. Goffman: Wir alle spielen Theater, S. 104.
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die Motive und Abläufe auf der Hinterbühne Bescheid. Es ist „der zu einer Vorstellung gehörige Ort, an dem der durch die Darstellung hervorgerufene Eindruck bewußt und selbstverständlich widerlegt wird“, „hier kann sich der Darsteller entspannen; er kann die Maske fallen lassen, vom Text abweichen und aus der Rolle fallen.“70 Auf der „Vorderbühne“71 vollführt er seine Handlungen und seine Absichten, um zu seinen durchaus divergierenden, abhängig von kulturhistorischen bedingten gesellschaftlichen und individuellen Kontexten changierenden Zielen zu gelangen.72 Die Inszenierungen der Hochstapler zeigen, dass Selbstdarstellungen gegenüber anderen – neben der Idealisierung des Selbst – täuschen können. Täuschungen sind in Goffmans mikrosoziologischen Analysen allgegenwärtig und das Ergebnis von Transformationen der Situationsrahmung. Bei Goffman resultieren Täuschungen aus der Transformation eines primären Rahmens in einen sekundären Rahmen und sind damit Bestandteil von Situationsdefinitionen. Anlass für Täuschungen, die bei Goffman an der Seite der Modulationen stehen, sind Rahmenirrtümer und Rahmenbrüche, welche die Normalität der Situation infrage stellen. Es kommt zu Verschiebungen, um die Normalität des Alltäglichen wiederherzustellen. Täuschungen sind für Goffman also alltägliche Begleiter im Wechselspiel der Interaktionen zwischen dem Ich und den Anderen. Sie ermöglichen für ihn die Sicherheit der menschlichen Existenz in einer stetig neu zu schaffenden Wirklichkeit, die in Interaktionen begründet wird. Täuschungen beinhalten für Goffman das bewusste Verbergen oder Fälschen von Informationen, was dazu führt, dass die anderen, die Situation so definieren, wie es sich der Täuschende wünscht.73 Die von Goffman konstatierte Notwendigkeit der Täuschung für die Bewältigung des Lebens hat für Hettlage „eine enge Verbindung zur Lüge“74. „Deswegen muss Goffman großen Wert auf die Darstellungsnatur des Selbst legen. Jeder muß gewisse Ressourcen einsetzen und Techniken beherrschen, um eine ‚narrative Identität‘ zu platzieren.“75 Hochstapler brechen aus dem primären Rahmen aus und spielen gleichzeitig den anderen vor, noch in diesem Rahmen zu sein. Sie betreiben ein doppeltes Spiel mit den Modulationen: Nur auf der Hinterbühne zeigen sich die Modulationen als Täuschungen. Die Fassade auf der Vorderbühne verhindert, dass das Publikum den Ausbruch bemerkt. Der Hochstapler wiegt sein Publikum in Sicherheit, indem er seine wahren Handlungsabsichten mittels Täuschungen verbirgt. So überschreitet er die Grenze zwischen Illusion und Realität mittels der Ästhetik des Scheins.
70 Ebd., S. 104-105. 71 Ebd., S. 100. 72 Vgl. ebd., S. 100ff. 73 Vgl. E. Goffman: Rahmen-Analyse, S. 98ff. 74 R. Hettlage: Der entspannte Umgang der Gesellschaft mit der Lüge, S. 87. 75 Ebd., S. 88.
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Doch bei Goffman wird der Hochstapler „streng“76 verurteilt. Nur die Benachteiligten, die sich für „unwahre Darstellungen“ entschieden haben, dürfen bei ihm mit Nachsicht rechnen – vorausgesetzt sie haben keinen mit „Ehrfurcht respektierten Stand“77 brüskiert. Nachsichtig zeigt er sich auch gegenüber denjenigen, die vorgeben, „zu einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht zu gehören“, wenn sie keine „falsche Individualität“ vortäuschen.78 In Goffmans Abwiegen zwischen weniger streng und streng zu verurteilenden unwahren Darstellungen zeigt sich der auch im philosophischen Kontext existente Zwiespalt zwischen der alltäglichen Verwendung von Lüge und Täuschung und ihrer moralischen, wenn auch unterschiedlich nuancierten Verurteilung.79 Auch Goffman spricht dem unwahren Darsteller einen Missbrauch von Sprache, Symbolen und Dingen zu, unterscheidet aber zwischen der Ebene der Darstellung und der Ebene der Moral. Dies führt dazu, dass er Gemeinsamkeiten zwischen „falschen“ und „gewöhnlichen Darstellungen“ findet.80 Diese Gemeinsamkeiten zeigen sich zum einen darin, „daß ... in beiden Fällen der Darsteller die gleiche Sorgfalt aufwenden muß, um den einmal geschaffenen Eindruck aufrechtzuerhalten.“81 Zum anderen schlussfolgert er: „Ob ein aufrichtiger Darsteller die Wahrheit oder ein unaufrichtiger Darsteller die Unwahrheit mitteilen will, beide müssen dafür sorgen, ihrer Art, sich darzustellen, den richtigen Ausdruck zu verleihen, aus ihrer Darstellung Ausdruckweisen auszuschließen, durch die der hervorgerufene Eindruck entwertet werden könnte, und sie müssen darauf achtgeben, daß das Publikum ihren Darstellungen unbeabsichtigte Bedeutung unterlegt.“ 82
Und so gilt möglicherweise auch für Goffman: „Die Lüge ist die Waffe der Unterlegenen, die der Mensch auf demselben Wege erzeugt, wie der Tintenfisch die dunkle Flüssigkeit, welche ihn dem Verfolger entzieht.“83
76 E. Goffman: Wir alle spielen Theater, S. 56. 77 Ebd. 78 Ebd. 79 Vgl. dazu Kapitel 4 und E. Goffman: Wir alle spielen Theater, S. 58: „Die Schattierungen zwischen Wahrheit und Lüge und die Schwierigkeiten, die daraus erwachsen, sind offiziell bekannt.“ 80 Ebd., S. 62. 81 Ebd. 82 Ebd. 83 Marcuse, Ludwig: „Du sollst nicht lügen“, in: Ludwig Marcuse, Das Märchen von der Sicherheit, herausgegeben von Harold von Hofe, Zürich: Diogenes 1981, S. 111-171, hier S. 132.
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Die Lüge als Mittel zur Freiheit, sich einer Wirklichkeit zu entziehen und sogar eine andere Rolle in der Gesellschaft zu spielen, deren Hauptmerkmal das Vorspielen täuschend echter Tatsachen ist, weist daraufhin, dass gerade das Sich-Entziehen aus angestammten Rollen und die Einrichtung in neuen Rollen in gesellschaftlicher Wirklichkeit auch in der Täuschung gelingen kann. Hochstapler „haben Einsicht in die Veränderbarkeit der Welt“, sie wählen Lüge und Täuschung, „um sich zu befreien: von gesellschaftlichen Konventionen, von der Macht des Faktischen, von der Hoffnungslosigkeit und dem Fluch der Vergangenheit.“84 Auch Hettlage verweist aus soziologischer Perspektive auf den Aspekt von Freiheit und Lüge: „Die Lüge ‚befreit‘ gewissermaßen von einem eng gezogenen Netz einer Wirklichkeitsdefinition. Sie ist also der Versuch, ein Netz von selbst gesponnenen Bedeutungen auszuwerfen, um andere darin – in ironischer oder gutwilliger, in spielerischer oder schädigender, in egoistischer und korrupter Weise – einzufangen.“85
Der Hochstapler wirft dieses Netz selbst gesponnener Bedeutungen aus und verbindet es mit Rollenspielen. Das Spiel mit den Rollen und der Versuch, den gesellschaftlichen Konventionen zu entrinnen, weist Parallelen zu Bachtins Untersuchung zur „Karnevalisierung der Gesellschaft“ auf, der darin dem Tragen von Masken auch den Aspekt der Freiheit zuordnet. Bachtin macht mit seiner Analyse darauf aufmerksam, dass die Maskerade während des Karnevals die Möglichkeit bietet, in eine „reale Lebensform auf Zeit“86 zu schlüpfen. „... die Maske ist verknüpft mit der Freude an Wechsel und Umgestaltung, mit der heiteren Relativität, auch mit heiterer Verneinung von Konformität, Eindeutigkeit und der stumpfsinnigen Identität mit sich selbst. Die Maske steht für Übergänge, Metamorphosen, Verstöße gegen natürliche Grenzen, für das Verspotten, für den Gebrauch von Spitznamen. Sie verkörpert das spielerische Lebensprinzip, und beruht auf jener spezifischen Wechselbeziehung zwischen Realität und Bild, die auch für die ältesten rituell-szenischen Formen gilt.“87
Das Sein des Selbst wird damit zu einer temporal manifestierten Realität des Scheins. Ähnliches lässt sich auch für die Hochstapelei konstatieren und gilt es weiter zu untersuchen.
84 S.H. Kern: Die Kunst der Täuschung in der Zusammenfassung seiner Dissertation, o.S. 85 R. Hettlage: Der entspannte Umgang der Gesellschaft mit der Lüge, S. 73. 86 Bachtin, Michael: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 55. 87 Ebd., S. 90.
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Im Erfinden ihres dargestellten Selbst spielen Hochstapler mit dem Schein ihrer Rolle, die doch zugleich ihr Sein in persona bestimmt; als Täuscher bauen sie sich eine neue Wirklichkeit (auf Zeit) auf. Dabei müssen sie jedoch paradoxerweise in ihren Handlungen mit anderen auf in der Welt Vertrautes setzen. Ihr Handeln und Verhalten muss „logischen Normen“88 folgen und „bekannte Tatsachen eines Gebietes“89 platzieren. Im Moment der Täuschung verknüpfen Hochstapler also Wahres und Falsches. So schaffen sie eine Illusion, eine ästhetische Erfahrung der Wirklichkeit für sich und die anderen. Den Schein zu (be)wahren erfordert Kreativität, die darin besteht, in Distanz zur Realität zu gehen, auf die die Hochstapler angewiesen sind.90 „Die Lüge erfordert immer zwei Vorstellungsreihen: eine, die der Lügner für die wahre hält, und eine davon abweichende, die er im Bewusstsein des Belogenen erzeugen will.“91 Während der Verknüpfung von Angewiesensein und Distanzierung bedient sich der Hochstapler nicht nur an Symbolen und Rollenerwartungen, sondern er bringt sich selbst in eine mächtige Position: „Wichtige Mittel dieser Täuschungskünstler sind Erzählungen und die Deutungsmacht für Zeichen: Täuschung heißt, die Herrschaft über Interpretationen zu nehmen.“92 Auch Hopmann verweist auf das Spiel mit den Zeichen der Wirklichkeit während der Hochstapelei. Hochstapler bemühen sich, „die Insignien einer wirklichen Erscheinung zu finden, mit denen einer möglichen Existenz zu einer scheinbaren Wirklichkeit verholfen werden kann.“ 93 Sein „hochstaplerisches Overstatement“94 bekräftigt sich nach Brittnacher „in der betrugswilligen Mehrheit seine Authentizität.“95 Klein konstatiert folgende Elemente hochstaplerischen Handelns: • „rollengrechtes Auftreten“, • „Elemente der Überzeichnung, Verzerrung und Über-Inszenierung als legitime
Formen der Inszenierung“,
88 R. Hettlage: Der entspannte Umgang der Gesellschaft mit der Lüge, S. 73. 89 Ebd. 90 Vgl. ebd. Hettlage bezeichnet dies als „Kontingenzbewußtsein“. 91 Simmel, Georg: „Zur Psychologie und Soziologie der Lüge“, in: Georg Simmel, Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900. Georg Simmel-Gesamtausgabe, Band 5, herausgegeben von Hans-Jürgen Dahme und David P. Frisby, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 406419, hier S. 409. 92 S.H. Kern: Die Kunst der Täuschung, in der Zusammenfassung seiner Dissertation, o.S. 93 Hopmann, Stefan: „Über Hochstapler und andere Pädagogen“, in: Neue Sammlung. Vierteljahres-Zeitschrift für Erziehung und Gesellschaft 33 (1993), S. 421-436, hier S. 424. 94 W. Ihrig: Literarische Avantgarde und Dandysmus, S. 96. 95 H.R. Brittnacher: Betrug auf hohen Touren, S. 82.
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• „Formen, die zugleich als Brechung mit wie Bestärkung von normativen Erwar-
tungen fungieren“, • „notwendiges Sozialverhalten, um zu beeindrucken und zu überzeugen“. 96
Den Hochstapelnden gelingt es, im Erzählen ihre Täuschungen zu realisieren. Dabei bedienen sie sich der Begrifflichkeiten und Äußerlichkeiten, die dem Publikum ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht signalisieren. Sie können außerdem auf Referenzen von dritter Seite verweisen und bestimmte Statussymbole einsetzen. „Hochstapeln ist – so zeigt der Blick auf Rollen und Requisiten – nicht nur als narrative Praktik (etwa zu lügen) zu verstehen, sondern ebenso als spezifische Materialisierung, die Körpertechniken und Wissensbestände einbezieht.“97 Hochstapler nutzen das kommunikative Spiel mit den Bedeutungen, die innerhalb von allen an den Interaktionen Beteiligten gemeinsam hergestellt werden. Wahrheit kleidet sich dann als „das, worüber zwischen Handelnden Übereinkunft besteht – und sei es auch eine Lüge“.98 Der Lüge kann also willentlich Glauben geschenkt werden, oder es kann eine Übereinkunft darüber geben, dass die Lüge und die Lügner nicht entlarvt werden.99 Der sozial abweichende Charakter der Lüge und der Täuschung von der normativ festgesetzten Moral kann dann als Bestandteil sozialer Realität ernst genommen werden. Der Hochstapler, will er nicht als Betrüger enden, wandert auf dem Grat zwischen dem ästhetischen Schein seiner Rolle und dem gesellschaftlich moralisch verurteilten Part seiner Existenz. Dabei steht nicht der Betrug an und in der Gesellschaft für den Hochstapler im Vordergrund, sondern die eigenen Fähigkeiten, die sich in Lüge und Täuschung als ästhetische Erscheinung fern ab moralischer Verpflichtung subsumieren und „nach seinen eigenen Bedingungen in einer von den Gesetzen der Wirklichkeit unabhängigen Welt des schönen Scheins zu leben“100 – wie es Oehm am Beispiel von Felix Krull zusammenfasst. Diese Fokussierung auf die eigenen Fähigkeiten und den Gestaltungswillen für das eigene Leben unterscheidet den Hochstapler vom Betrüger, der mittels illegitimer Mittel nur auf den eigenen finanziellen Vorteil aus ist und erheblichen monetären Schaden bei seinen Opfern anrichtet. Die Dimensionen ‚wahrer‘ Hochstapelei gehen über Betrug hinaus. Ihre Ästhetik und Kunstfertigkeit besteht darin, die Grenzen von wahr und falsch zu verknüpfen und ihre Wahrhaftig-
96
I. Klein: „Fake it ’til you make it“, S. 114-115.
97
Ebd., S. 116.
98
R. Hettlage: Der entspannte Umgang der Gesellschaft mit der Lüge, S. 74.
99
Siehe beispielsweise: Stiegnitz, Peter: Die großen Lügen der kleinen Politiker? Wien: Edition Va Bene 2004.
100 Oehm, Heidemarie: „Hochstapelei und Kunst in Thomas Manns Roman Felix Krull“, in: Eggert/Golec, Lügen und ihre Widersacher (2004), S. 43-54, hier S. 51.
Hochstapler: Zeitgeister, Spiegelbilder und Grenzgänger | 97
keit vor sich selbst und anderen zu verbergen. Die angenommene Rolle wird mit Perfektion gespielt, das vermeintlich Objektive der Wirklichkeit verschwindet. Die Entlarvung der Hochstapler gibt diese erst als solche zu erkennen. Sie ist meistens nicht an das Spiel der Rolle geknüpft, daran, dass die Verhaltensweisen, Handlungen oder die Kleidung nicht mit der hochstaplerischen Rolle übereinstimmen, sondern häufiger sind es externe Faktoren, die den Hochstapler ins Straucheln bringen (zum Beispiel Urkundenfälschung etc.). Darüber hinaus zeigt die Entlarvung eines Hochstaplers, dass „die Entdeckung einer Täuschung die vorangegangene Täuschung [beweist] und daß man sich jederzeit täuschen kann. Und sie sollte deshalb den Zweifel nähren, wie man sich überhaupt sicher sein kann, daß man sich nicht gerade in der Enttarnung einer Täuschung täuscht.“101 Schwanebeck stellt anhand diverser Hochstaplerfälle und einer in der Sekundärliteratur geführten Diskussion um die epochenspezifischen Dimensionen der Hochstapelei die Vermutung auf, „dass es sich bei der Hochstapelei um eine zeitlose kulturelle Praxis, wenn nicht gar um eine anthropologische Grundkonstante bzw. Notwendigkeit handelt“, und fragt, ob die Überführten nur eine gesellschaftlich gemeinhin akzeptierte Praxis reflektierten. 102 „Du magst noch so stark sein, wenn Deine Erfahrung minimal ist, kannst Du schneller und furchtbarer zugrunde gehen als ein regulärer Dummkopf“103, schreibt Serner und macht damit indirekt darauf aufmerksam, dass zur Hochstapelei auch die Möglichkeit der Entlarvung gehört. Fallen die Hochstapler aus dem Rahmen, wird die Fassade zu ihren Hinterbühnen niedergerissen oder „eine falsche Fassade“ 104 ersichtlich, beginnt für einige von ihnen – neben der zu meist anstehenden gerichtlichen Aufarbeitung und Verurteilung ihrer betrügerischen Handlungen – eine (auto-)biographische Reflexion ihres Lebens. Diese dient der Rechtfertigung ihres hochstaplerischen Handelns, der Anerkennung ihres Daseins, da sie spätestens mit ihrer Entlarvung zu den diskreditierbaren Personen gehören, und der narrativen Konstruktion von Identität – ob dabei erneut hochstaplerisch getäuscht wird, können sie nur selbst wissen.
101 S.H. Kern: Die Kunst der Täuschung, S. 27. 102 W. Schwanebeck: Über Hochstapelei, S. 14. 103 W. Serner: Letzte Lockerung, Nr. 26. 104 E. Goffman: Wir alle spielen Theater, S. 51.
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3.3 GRENZGÄNGER: HOCHSTAPLER ZWISCHEN AUTHENTIZITÄT, IDENTITÄT UND ANERKENNUNG Der Blick zurück in die Geschichte der Hochstapelei zeigt, dass die hochstaplerische Existenz, wie sie sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer stärker etabliert und zum gesellschaftlichen Topos avanciert, dem ökonomischen, kapitalisierten Ideal des Seins widerspricht und konsequent auf die Inszenierung des Selbst setzt. Den eigentlich gesellschaftlich Wenigen kommt eine enorme gesellschaftliche, mediale und wissenschaftliche Aufmerksamkeit zu. Diese Aufmerksamkeit ist vor allem zwei Gründen geschuldet: Zum einen wird der Hochstapler zum Repräsentanten des sich im grundlegenden Wandel befindlichen Subjektes erkoren. Zum anderen ist es die Situierung des Hochstaplers zwischen den „scheinbar Arrivierten und den endgültig Deklassierten“.105 Diese Zwischenstellung am Rande der Gesellschaft führt zu der Beobachtung, dass das Subjekt mit der Figur des Hochstaplers in der Lage ist, (gesellschaftlich gesetzte) Grenzen zu überschreiten. Mit diesen Überschreitungen des Konventionellen kann es sein Selbst nach außen präsentieren und mithilfe dieser Erfahrungen des Überschreitens versuchen, seine Einzigartigkeit zu konstruieren. Der Weg zur Hochstapelei ist geprägt von der Erfahrung gesellschaftlich gesetzter Grenzen und der (zufälligen oder bewussten) Entscheidung, diesen Grenzen ein Schnippchen zu schlagen. Der Hochstapler versinnbildlicht ein Subjekt, das außerdem die Bekanntschaft damit macht, dass diese Grenzen nicht nur überschritten werden, sondern in ein anderes äußeres Bild vom Selbst transformiert werden können. Der Hochstapler sprengt moralische, konventionelle, rechtliche Rahmen. Die Erlebnisse während der Grenzüberschreitungen interpretiert er in seinen biographischen Entwurf sowohl im Hinblick auf seine gegenwärtigen und zukünftigen Handlungsabsichten als auch in Bezug auf die narrative Aufbereitung seiner Geschichte. Seine Vielgestaltigkeit ermöglicht ihm, sich als etwas von sich selbst Verschiedenes wahrzunehmen und sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen aufzuhalten. Der Hochstapler verdeutlicht: Das Subjekt steht unter Zugzwang in den modernen Zeiten. Es soll sich entwickeln, sich bilden und dies in spätmodernen Zeiten ein Leben lang. Das Subjekt ist nicht nur unterworfen, sondern erfährt sich als das Unvollendete, das – als Reminiszenz an die Aufklärung – an den Maßstäben der Vernunft und Wahrhaftigkeit gemessen wird. Beständigkeit besteht darin, dass das Geworden-Sein lediglich ein zeitlich limitierter Zustand zu sein scheint und dass das Individuum kontinuierlich an seiner Subjektentwicklung, an seiner Bildung, an seiner Identität arbeiten soll. Entgrenzt in der Individualisierung soll sich die Entwicklung des Subjektes jedoch in angemessenen Bahnen vollziehen, sich an der Norm orientieren und nicht aus ihr herausbrechen. Da
105 H.R. Brittnacher: Betrug auf hohen Touren, S. 78.
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sich der Hochstapler jedoch eben diesen normativen Rahmungen entzieht, auch indem er sie paradoxerweise bedient, werden seine Subjekthaftigkeit und seine Identität an der Kategorie Authentizität gemessen und aufgrund seiner Täuschungsmanöver und Lügen oftmals infrage gestellt. 3.3.1 Authentizität und Hochstapelei Wie Tietenberg am Beispiel der Figur des Dandys erarbeitet, fällt der Authentizitätsbegriff – betrachtet man seine historische Entwicklung – in die beginnende Moderne und damit in die Blütezeit der Hochstapelei.106 Tietenberg zeigt anhand verschiedener dandyistischer Selbstdarstellungen auf, dass diese mithilfe von „Suggestion und Demontage von Authentizitätsvorstellungen“107 experimentieren. Damit rückt sie die „strategische Leistung“108 des Subjektes in den Fokus (authentischer) Selbstdarstellungen. Ähnlich wie der Dandy untergräbt auch der Hochstapler das Ziel von Authentizität, indem er sich ihr verweigert, sie übersteigert und sich den Mitteln der Täuschung bedient. Die Formen seines Entwurfes von sich selbst und die Arbeit an seiner Identität manifestieren sich im Spannungsfeld von Zustimmung zu gesellschaftlichen Konventionen und Rebellion gegen diese.109 Dieses Spannungsfeld, in dem sowohl Subjekt-, Biographisierungs-, Bildungs- als auch Identitätsprozesse zu verorten sind, sind von dem Verlust gesellschaftlich garantierter Kohärenz und Kontinuität gekennzeichnet. Tietenberg verweist darauf, dass Authentizität und Identität häufig als „komplementäre Kategorien“110 verwendet werden. In diesem Zusammenhang werde der Rollenpluralismus des Dandys – der sich meines Erachtens auch beim Hochstapler findet – häufig negativ bewertet. Es lässt sich ein Spannungsfeld zwischen „mehreren divergierenden Identitäten oder zwischen Selbst, Selbstbild und Projektionen von außen“111 erkennen. Angesichts der Inszenierung von Rollen vermutet Tietenberg, dass dem Inszenieren „etwas“ vorausgehen muss: „Etwas also, das einen höheren Grad an ‚Wirklichkeit‘ oder ‚Wahrheit‘ aufweist, als die Inszenierung selbst – ein ‚Reales (Empirisches)‘, ein ‚Vorausliegendes‘, etwas, das sich von dem unterscheidet, das in der Inszenierung dargeboten wird, das nicht zur ‚Erscheinung‘ gebracht wird, nicht ‚Schein‘ ist.“112
106 A.K. Tietenberg: Der Dandy als Grenzgänger. Zum Zusammenhang von Authentizität und Identität siehe darin insbesondere S. 70-82. 107 Ebd., S. 79-80. 108 Ebd., S. 80. 109 Vgl. ebd. 110 Ebd., S. 70. 111 Ebd., S. 70-71, Herv. i.O. 112 Ebd., S. 71.
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Vielleicht könne das Vorausliegende, so Tietenberg, das Subjekt sein, das jene Inszenierungsprozesse strategisch plane und in Gang setze, um seinem Streben nach Souveränität Geltung zu verschaffen und sich von seinen Beschränkungen als „‚subjectum‘, einem ‚Unterstellten‘, ‚Unterworfenen‘, ‚Untertanen‘“ zu emanzipieren.113 Diese Inszenierungsprozesse sind davon gekennzeichnet, „dass mit der Suggestion und Demontage von Authentizitätsvorstellungen experimentiert“114 wird. Wie dem Dandy ist auch dem Hochstapler daran gelegen, seine persönlichen Vorstellungen von sich selbst zu realisieren. Matzke macht darauf aufmerksam, dass es spezifische Darstellungsvarianten des Selbst gibt, die „gar nicht nach einer authentischen Darstellung der eigenen Person suchen. Selbstdarstellung präsentiert sich hier als ein Spiel mit den Identitäten, mit Multiplizierung und Inszenierung von Selbstbildern und stellt damit die Kategorie der Identität selbst infrage. Es geht nicht mehr um die authentische Darstellung eines Selbstverhältnisses, sondern um ein Spiel mit Darstellungsformen. Die Frage nach der Instanz, die Glaubwürdigkeit, Echtheit oder Aufrichtigkeit verbürgt, wird in einem solchen Zusammenhang belanglos und Authentizität wird zu einem reinen Darstellungsproblem.“115 In der Darstellung seines Selbst geht es dem Hochstapler nicht um die Repräsentation seines authentischen Selbstverhältnisses, dieses rückt – so ist zu vermuten – erst während der biographischen Reflexion und im Erzählen seiner Taten ins Zentrum des Interesses, sondern in der Figur des Hochstaplers werden grundsätzliche Schwierigkeiten des Individuums sichtbar: „Das ‚moderne Individuum‘, ideelles Leitbild und faktischer Träger der sozioökonomischen Modernisierungsprozesse, wird mit dem konfrontiert, was es einerseits normativ sein soll: autonom, gegenüber wechselnden Zeiten und Anforderungen überdauernd und mit sich selbst identisch, was sich aber andererseits aufgrund seiner faktischen Abhängigkeit, der unsicher gewordenen Lebensverlaufsmuster und der Veränderungen in den lebensweltlichen Nahwelten ... nicht sein kann.“116
Das Paradoxon des Mit-sich-selbst-identisch-Seins, wie Soefner es beschreibt, lässt sich mit der Feststellung Grubers verbinden, wonach das Individuum seit Beginn der Moderne vor der Frage stehe: „Woran erweist sich seine Realität, seine Echtheit, sei-
113 Ebd. Tietenberg bezieht sich hier auf: Straub, Jürgen: „Identität“, in: Friedrich Jaeger und Burkhard Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Band 1, Grundbegriffe und Schlüsselbegriffe, Stuttgart/Weimar: Metzler 2004, S. 277-303, hier S. 277. 114 A.K. Tietenberg: Der Dandy als Grenzgänger, S. 80. 115 Matzke, Annemarie: Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern. Formen szenischer Selbstinszenierung im zeitgenössischen Theater, Hildesheim/Zürich/New York: Olms 2005, S. 39. 116 Soeffner, Hans-Georg: „Einführung“, in: Erika Fischer-Lichte (Hg.), Theatralik und die Krisen der Repräsentation, Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, S. 165-176, hier S. 170.
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ne Authentizität?“117 Gruber stellt aus literaturwissenschaftlicher Perspektive das Phänomen fest, „dass die Konjunktur der Grenzerfahrung mit dem Echtheitswert des Individuums in einem direkten Zusammenhang steht, der allerdings keiner wechselseitig-symmetrischen Bedingtheit ist: Während die Grenzerfahrung das Individuum immer ‚authentischer‘ erscheinen lässt, als es ohne diese war, ist umgekehrt das Motiv des authentischen Seins keineswegs zwangsläufig an sie gebunden; häufig sind es gerade die begrenztesten Individuen, die sich zur Literarisierung als ‚echt‘ anbieten.“118 Authentizität setzt nach Gruber die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge voraus. Sie führt den Begriff der „Lebenslüge“ ein, setzt diesen in Bezug zu den Grenzerfahrungen des Subjektes in der Moderne und schlussfolgert: „‚Grenzerfahrung‘ und ‚Lebenslüge‘ können als aufeinander gerichtete Konzepte fungieren, da erstere als Sprengkörper der ‚uneigentlichen‘ Existenz aufgefasst wird.“119 Motivgeschichtlich konstatiert sie, dass das Authentische in erster Linie denjenigen zugestanden wird, die begrenzt leben und in dieser Begrenztheit verhaftet bleiben. Als authentisch gelten „zunächst nur verwurzelte Subjekte ..., die entweder der Vergangenheit angehören oder in ungleichzeitiger Gleichzeitigkeit außerhalb der Moderne leben. Dies bedeutet für das Subjekt der Moderne, dass es auf die authentische Entwicklung setzen muss, authentisch zu werden.“120 Dies sei jedoch unmöglich, da die Vorstellung vom Authentischen geprägt ist von der Prämisse des „ungebrochenen Seins“.121 In der Gesellschaft der Moderne und in spät- bzw. postmodernen Zeiten lässt sich nach Gruber die Authentizität des Seins und damit auch seine Einzigartigkeit insbesondere dadurch erfahren, dass das Subjekt „an seine symbolischen ... oder realen Grenzen geht und diese temporär (!) überschreitet.“122 Mit der Erfahrung der Grenzüberschreitung ist auch die Erfahrung des Ausgeschlossenseins aus der Gesellschaft verbunden. Eben diese Erfahrung führt für Gruber zu einem Gefühl von Einzigartigkeit und Authentizität. Verbunden damit ist jedoch nicht nur die Überschreitung gesellschaftlicher und symbolischer Grenzen, sondern auch „sich von sich selbst loszusagen“: „Die vollkommene und ständige Anstrengung, an sich selbst festzuhalten, ist ihrer Natur nach eine ständige Anstrengung, sich von sich selbst loszusagen; man befreit sich von sich gerade durch den Akt, durch den man sich selbst zum Objekt
117 Gruber, Bettina: „Vom Umbau des Subjekts. Variationen des klassischen Subjektkonzeptes in der Literatur der Moderne“, in: Dorothea Lauterbach/Uwe Spörl/Uli Wunderlich (Hg.), Grenzsituationen. Wahrnehmung, Bedeutung und Gestaltung in der neueren Literatur, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, S. 25-46, hier S. 42, Herv. i.O. 118 Ebd., Herv. i.O. 119 Ebd., S. 43. 120 Ebd. 121 Ebd. 122 Ebd., S. 44.
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macht.“123 Das Selbst verdoppelt sich in ein äußeres und ein inneres. – In der Figur des Hochstaplers, so sei vermutet, manifestiert sich die Doppelstruktur von Sein und Erscheinung. Indem Hochstapler Grenzen überschreiten und verletzen, torpedieren sie die bildungsbürgerlich manifestierte Vorstellung von der Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums. Statt ihr authentisches Selbst zu präsentieren – soweit dies überhaupt möglich ist – spielen sie mit diversen Rollen und äußeren Erwartungen, folgen ihren inneren Trieben und materiellen Bedürfnissen. Das Spiel mit den Beglaubigungsinstanzen authentischer Identität lässt sich zum Beispiel anhand der Verbindung von Identität und Namen illustrieren. Damit beginnt das folgende Kapitel, das sich mit dem Zusammenhang von Identität und Hochstapelei auseinandersetzt. 3.3.2 Identität und Hochstapelei Dr. med. Heilig, Ferdinand Lohse, Albin Wadenbach – Karl May weiß sich in seinen hochstaplerischen Rollen zu benennen: Hochstapelnde geben sich Namen, wenn sie in ihre neue Rolle schlüpfen. Die Namen signalisieren (in einem Alltagsverständnis) die Authentizität von personaler Identität. Werden Hochstapler entlarvt, wird ihnen die Authentizität ihrer (personalen) Identität abgesprochen. Ihr Spiel mit Identitätsmerkmalen und -symbolen wird negativ bewertet. Sie werden Stigmatisierte. Ihr Stigma ist, getäuscht, gelogen und betrogen zu haben. Dies hat zur Folge, dass ihnen paradoxerweise im Moment der Wahrheit über ihre Identität die Authentizität ihres Seins, ihres Selbstbildes in Abrede gestellt wird. Der Schein ihrer vorherigen verschiedenen Rollen führt dazu, dass im Moment ihrer Enttarnung die Authentizität ihres Seins infrage gestellt wird. Namen gelten als äußeres Symbol für Identitätsfestlegungen. Sie entstammen der Symbolwelt der Gesellschaft und entstehen durch diese. Über den Namenwechsel wird es den Hochstapelnden möglich, sich ihren gewünschten Platz in der Gesellschaft zu erwerben. Sie bedienen sich eines Symbols, welches das Individuum sowohl für sich selbst als auch für andere erreichbar macht. Der Name wird gleichsam zum hochstaplerischen Reflex der angenommenen Rolle. Als „Identitätsaufhänger“124 signalisiert er nach Goffman seine personale Identität. Der Hochstapler kann sich sozial akzeptabel benennen und seine Geschichte in diesen Namen einbringen. Goffmans Ansicht nach implizieren Namen die Vorstellung von der Einzigartigkeit des Individuums und werden in erster Linie genutzt, um eine gesellschaftliche Identifizierung zu ermöglichen. Die Einzigartigkeit einer Person auf gesellschaftlicher Ebene macht Goffman zufolge ein Komplex lebensgeschichtlicher Fakten aus. Diese Fakten können auch auf andere zutreffen, ihre Kombination jedoch ist einzigartig.
123 Satre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1987, S. 114. 124 E. Goffman: Stigma, S. 73f.
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Goffman verweist auf das gesellschaftliche Bedürfnis nach Identifizierung und Differenzierung von Personen. Seiner Einschätzung nach dienen Namen dazu, die einzigartige Lebensgeschichte an einem Individuum festmachen zu können. „Persönliche Identität hat folglich mit der Annahme zu tun, daß das Individuum von allen anderen differenziert werden kann und daß rings um diese Mittel der Differenzierung eine einzige kontinuierliche Liste sozialer Fakten festgemacht werden kann, herumgewickelt wie Zuckerwatte, was dann die klebrige Substanz ergibt, an der nicht andere biographische Fakten festgemacht werden können.“125
Aufgrund der gesellschaftlich anerkannten Funktion des Namens als Identitätsaufhänger könne nach Goffman mittels des Namens auf gesellschaftlicher Ebene auch eine Identität suggeriert werden, die einem erfundenen biographischen Informationskomplex entspreche. Daraus schlussfolgert Goffman: Ein Name ist demnach eine sehr übliche, aber keineswegs verlässliche Art, Identität zu bestimmen.“126 Darum bezieht er die Überlegung ein, dass ein Individuum Zeugnisse seiner persönlichen Identität anführen muss, um seine personale Identität zu dokumentieren. Deshalb bedienen sich meines Erachtens die Hochstapler neben dem Namenwechsel, der zumeist an den angestrebten Status gekoppelt ist, auch unterschiedlicher (gefälschter) Dokumente oder verbriefter Zeugen. „Wo ein Individuum ungenügende Zeugnisse hat, um seine gewünschte Stellung zu erhalten, kann man sehen, wie es stattdessen den Gebrauch mündlicher Bezeugungen versucht.“127 Hochstapelnde spielen mit der gesellschaftlichen Erwartung, „dass der einmal gegebene Name fester Bestandteil der Lebensgeschichte ist“.“128Aus Sicht der Onomastik wird oft davon ausgegangen, dass der Namenwechsel – ob selbst- oder fremdbestimmt – für die Gesellschaft eine neue Identität dokumentieren soll. Der Namenwechsel, so Debus, hat eine Signalfunktion und soll die angestrebte Wesensänderung sprachlich dokumentieren: „Auf jeden Fall ist damit der Eintritt in eine neue Daseinsform namentlich angezeigt, die programmatischen Charakter trägt. Der Umbenannte strebt fortan danach, dem neuen Anspruch gerecht zu werden. Der neue Name stiftet die neue Identität, nomen wird zu omen.“129
125 Ebd., S. 74. 126 Ebd., S. 77. 127 Ebd., S. 80. 128 Debus, Friedrich: „Identitätsstiftende Funktion von Personennamen“, in: Nina Janich/Christiane Thim-Mabrey (Hg.), Sprachidentität – Identität durch Sprache, Tübingen: Narr 2003, S. 77-90, hier S. 80. 129 Ebd.
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Für Bering soll der neue Name helfen, soziale Akzeptanz sowie Integration zu erlangen und fungiert als eine Art Statussymbol gesellschaftlicher Zugehörigkeit, womit eine Trennung des Individuums von seiner alten Rolle verbunden ist. Eben damit spielt der Hochstapler. Und obwohl der Namenwechsel bei ihm zumindest auf personaler Identitätsebene Täuschung zum Ziel hat, – oftmals gepaart mit akademischen oder adeligen Titeln – erweist sich dieser auch als ein Bruch in der Identitätsarbeit und in der Biographie des hochstapelnden Individuums. 130 Die Möglichkeit der Täuschung auf personaler Identitätsebene führt dazu, dass Identitätstheoretiker wie Goffman und Keupp auf authentische Aspekte für die Identität131 oder „authentische Identitätskonstruktionen“132 hinweisen, oder Taylor zwischen unauthentischer und authentischer Identität unterscheidet.133 Die Schwierigkeiten oder gar Unmöglichkeit des Individuums, mit sich selbst identisch zu sein und gleichzeitig den gesellschaftlichen Erwartungen und Normen zu entsprechen, wird beispielsweise von Habermas in Anlehnung an Goffmans Konzept der „Schein-Normalität“ mit dem Terminus phantom uniqueness, „Fiktive Einzigartigkeit“ beschrieben: Das Individuum gibt mit seinem Handeln vor, den Erwartungen zu entsprechen.134 Auch Habermas problematisiert in der Auseinandersetzung mit Goffmans Identitätsbegriff die Einzigartigkeit des Individuums in seiner personalen Identität. Bei Goffmans Überlegungen fehle ein Begriff, der den Als-ob-Charakter der Einmaligkeit und Kontinuität ausdrückt. Um diese Lücke zu füllen, schlägt Habermas die Umschreibung „Fiktive Einzigartigkeit“ vor. Allerdings weicht Habermas damit von Goffman ab, da er „Schein-Normalität“ an die Ich-Identität anschließt. Nach Goffman stellt „Schein-Normalität“ eine Präsentationsform des stigmatisierten Individuums im Umgang mit Nicht-Stigmatisierten dar. Ich-Identität konstituiert sich in der Balance zwischen sozialer und persönlicher Identität.135 Auch Krappmann orientiert sich an Goffmans „Schein-Normalität“136 und Habermas’ „Fiktiver Einzigartigkeit“ und kombiniert diese Aspekte in seinem Konzept der Identitätsbalance. Grundlage bildet die Problematik, dass das Individuum nicht in der Lage ist, der zugeschriebenen sozialen und persönlichen Identität je ganz gerecht
130 Vgl. Bering, Dietz: Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag, Stuttgart: Klett-Cotta 1987. 131 Siehe beispielsweise E. Goffman: Rahmen-Analyse, S. 315. 132 Siehe beispielsweise H. Keupp: Vom Ringen um Identität, S. 2. 133 Vgl. C. Taylor: Die Politik der Anerkennung, S. 25. 134 Der Terminus findet sich in unveröffentlichten Notizen von Habermas zu seinem Seminar „Role Theory and the Problem of Identity“ (1967) an der New School of Research in New York. Vgl. L. Krappmann: Soziologische Dimensionen von Identität, S. 208. 135 E. Goffman: Stigma, S. 132ff. 136 Ebd., S. 152.
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zu werden. Den Erwartungen der anderen im Hinblick auf seine soziale Identität könne es nur so weit entsprechen, dass es versuche, eine Schein-Normalität herzustellen. Es sei aber auch nicht möglich, voll der persönlichen Identität zu entsprechen, da ein Zurückziehen auf die eigene Einzigartigkeit, keinerlei Interaktion mehr zulasse. Das Individuum ist darauf angewiesen, Schein-Einzigartigkeit herzustellen, eine „Als-ob-Haltung“137, welche das Resultat struktureller Erfordernisse darstellt, das wiederum das Ergebnis von Interaktionen ist. Krappmann schlussfolgert: „Es wird also zugleich gefordert, so zu sein wie alle und so zu sein wie niemand. Auf beiden Dimensionen muß das Individuum balancieren, weil es, um Interaktionen nicht zu gefährden, weder der einen noch der anderen Aufforderung noch beiden voll nachgeben kann, noch sie gänzlich verweigern kann.“138
Schein-Normalität ermöglicht auf gesellschaftlicher Ebene mit den relevanten Anderen zu handeln und bestehen zu können. Die „Fiktive Einzigartigkeit“ bedeutet für das Individuum sowohl eine Distanzierung von den Anderen als auch sich als verschieden von den Anderen zu begreifen. Das Herstellen und die Bewahrung von IchIdentität basieren dann auch auf der Fähigkeit sowohl zur Balance als auch zum Schein: in „Als-ob-Haltungen“, die es dem Individuum erlauben, in „jeder Handlung, die es ausführt ... sich zugleich auch zu distanzieren; jede Norm, die es befolgt, kann es auch in Frage stellen.“139 Autonomie und Selbstbestimmung mittels Kohärenz und Kontinuität als Ziele von Identität werden dann auch von diesem ‚So-tunals-ob‘ bestimmt. Habermas schreibt: „Die Ich-Identität des Erwachsenen bewährt sich in der Fähigkeit, aus den zerbrochenen oder überwundenen Identitäten neue Identitäten aufzubauen und mit den alten so zu integrieren, daß sich das Geflecht der eigenen Interaktionen zur Einheit einer zugleich unverwechselbaren und zurechenbaren Lebensgeschichte organisiert. Eine solche Ich-Identität ermöglicht gleichzeitig Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung ....“140
137 Helsper, Werner: Selbstkrise und Individuationsprozeß, Opladen: Westdeutscher Verlag 1989, S. 73. 138 L. Krappmann: Soziologische Dimensionen von Identität, S. 78-79. 139 W. Helsper: Selbstkrise und Individuationsprozeß, S. 73. 140 Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 150, Herv. i.O.
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Helsper verweist darauf, dass die von Habermas konstatierte „Unabhängigkeit und Einzigartigkeit des Subjekts ... den Charakter einer scheinhaften Fiktion“141 hat. Er zitiert als Beleg folgende Passage aus Habermas: „Nur wer seine Lebensgeschichte übernimmt, kann in ihr die Verwirklichung seiner selbst anschauen. Eine Biographie verantwortlich zu übernehmen heißt, sich darüber klar zu werden, wer man sein will, und aus diesem Horizont die Spuren der eigenen Interaktion so zu betrachten, als seien sie Sedimente der Handlungen eines zurechnungsfähigen Urhebers, eines Subjektes also, das auf dem Boden eines reflektierten Selbstverständnisses gehandelt hat.“ 142
Die Notwendigkeit zum Schein-Normalen, eben auch um Autonomie und Fiktive Einzigartigkeit zu erlangen, besteht auch darin, sich von sich selbst zu distanzieren, sich in der Fiktion als zurechnungsfähiger Urheber zu betrachten und so zu einem Verständnis von sich selbst zu gelangen. Dabei sieht sich das Subjekt mit der Notlage konfrontiert, permanent an seiner Identität arbeiten zu müssen. Es steht unter dem Zwang der Kohärenz- und Kontinuitätserzeugung, weil es von gesellschaftlichen Umständen (mit-)bestimmt wird. Dies lässt sich mitunter nur in der Schein-Normalität und damit im Fiktiven herstellen, um die Ich-Identität bewahren zu können. Gesellschaftliche oder persönliche Krisen, aber auch das Verhaftetsein in alltäglichen Routinen, welche der Erfahrung der Einzigartigkeit des Seins entgegenstehen, können zu Grenzüberschreitungen, Transformationen, Widerstand oder Ausbruchsversuchen führen. „Oft aber teilen wir mit den Gefangenen das Gefühl, daß unsere Identität nur dann befriedigend und vollkommen ist, wenn wir uns von der Realität, wie wir sie erleben, distanzieren. Die bloße Fähigkeit, zwischen unserer Erfahrung der Welt (der beherrschenden Realität) und unserem Identitätsgefühl zu unterscheiden, ist eine wesentliche Quelle des Unglücks, denn dies ist ein Eingeständnis, dass die Welt nicht unser eigen ist. Es besagt, daß wir Identitätsarbeit gegen die oder trotz der institutionellen Bedingungen der Gesellschaft leisten müssen. Da sind ein Lebensplan, Laufbahn-Zeitpläne, Rolle, Status, Verantwortungen und bevorzugte Identitäten – doch all dies sind wir nicht wirklich. Je dichter die beherrschende Realität, desto mehr Elemente, von denen wir uns distanzieren müssen; je höher unsere Identitätshilfen entwickelt sind, ... desto erfinderischer muß unsere Identitätsarbeit sein. Denn so viele andere sind an dieser Arbeit beteiligt, daß sie kollektive Formen annimmt, die wiederum Bestandteil der Realität werden, statt jenen Stoff zu liefern, der uns Distanzierung von dieser Realität erlaubte.“143
141 W. Helsper: Selbstkrise und Individuationsprozeß, S. 73. 142 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, S. 151, Hervorhebungen im Original. 143 Cohen, Stanley/Taylor, Laurie: Ausbruchsversuche. Identität und Widerstand in modernen Lebenswelten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 25.
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Hochstapler scheinen erfinderisch in ihrer Identitätsarbeit zu sein. Doch verfügen sie über Identität, wenn sie doch der Kategorie der Authentizität entgegenwirken? Lohauß beispielsweise verweist darauf, dass Authentizität von Identität nur erreicht werden kann, wenn die innere Natur des Individuums mit der Alltagspraxis übereinstimme. Die Verwirklichung von persönlicher Autonomie, Wahlfreiheit und Authentizität wird von Lohauß als Basis für das Erleben von Kontinuität und Konsistenz der Existenz gedacht. Sie erzeugen ein Gefühl für die Ich-Identität, die jedoch bei Differenzen zwischen den Zielen des Individuums und der alltäglichen Praxis gefährdet sein kann.144 „Der Alltag und die spezifische Weise, in der er gestaltet wird, bilden die materielle Form der Lebenserzählung und der Selbstvergewisserung, die zur Ich-Identität beiträgt. Ohne diese Verbindung zwischen innerer Natur und Alltag wäre man nicht ‚authentisch‘. Die Bildung der IchIdentität würde leiden, eine Diskrepanz zwischen Werten und Vorstellungen vom Guten im Leben und der eigenen Praxis oder auch der sozialen Lage, in der man sich befindet, würde auftreten. ... Genau dies ist natürlich auch das große Problem modernen Lebens: Wenn die Lebensführung durch die Umstände bestimmt wird und von den eigenen Wertprioritäten abweicht, fühlt man sich nicht authentisch, an der inneren Erfüllung gehindert und unglücklich. Man lebt ein falsches Leben, ob das nun in erster Linie durch eine ‚falsche‘ Arbeit, den ‚falschen‘ Partner oder die ‚falsche‘ soziale Lage hervorgerufen wird.“145
Ist es also so, dass Hochstaplern Identität abgesprochen werden muss, weil ihre Authentizität aufgrund ihrer persönlichen Diskrepanzerfahrungen nicht vorhanden ist? Ihre Selbstwerdung im Moment der Hochstapelei den moralischen Ansprüchen von Wahrhaftigkeit nicht genügt? Oder ist es nicht auch möglich, dass Hochstapelnde durch ihre abgenommenen, vorgetäuschten Rollen für sich selbst und ihre Identität Authentizität schaffen? Erstreckt sich dann die Authentizität von Identität nur auf das Spiel mit den Rollen, solange dieses im Außen unentdeckt bleibt, oder weist sie darüber hinaus auf einen lebenslangen authentischen Identitätsprozess? Dieses Dilemma problematisiert auch Hettlage, der unter Bezugnahme auf Goffmans Konzept von Identität zusammenfasst, „dass derjenige, der unverzichtbare ‚echte‘ Identitätsarbeit leistet, dieselben Techniken und Ressourcen verwendet wie derjenige, der die anderen nur manipulieren will. Tatsächlich ist die Grenzlinie kaum spürbar, wo Identitätsarbeit zur lügenhaften Fassadenarbeit degeneriert. Denn wir präsentieren eine unverwechselbare Fassade im Rahmen alltäglicher Inszenierungen,
144 Vgl. Lohauß, Peter: Moderne Identität und Gesellschaft. Theorien und Konzepte, Opladen: Leske + Budrich 1995, S. 216. 145 Ebd., S. 199.
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die u.U. eine persönliche Schwäche, eine Eigenart, ein Neben- oder Hintergedanke, ein Mißfallen oder Dissens, sein können.“146 Insbesondere die (ältere) psychologische Forschung zum Thema Hochstapelei weist auf die Schwierigkeiten des Hochstaplers hin, seinen biographischen Erzählungen Kontinuität und Kohärenz zu verleihen und damit seine Identität in diesen Dimensionen zu entwickeln.147 Schwanebeck nimmt Bezug auf Deutsch, die sich aus Sicht der Psychoanalyse den Hochstaplern nähert und in ihrer Veröffentlichung „The Imposter“ zu der Einschätzung kommt, dass der Hochstapler „will assume the identities of other men not because they themselves lack the ability for achievement, but because they have to hide under a strange name to materialize a more or less realityadapted fantasy. It seems to me that the ego of the imposter, as expressed in his own true name, is devaluated, guilt-laden.“148 Deutsch geht also von der Annahme aus, dass es möglich ist, die Identität eines anderen anzunehmen, um der eigenen Vorstellung vom Ich gerecht zu werden, die sich mit dem nach außen dargestellten Selbst nur schwierig vereinbaren lässt. Schwanebeck interpretiert: „Der Hochstapler erwartet von der Welt, dass sie ihm gemäß seinem überhöhten Bild von sich selbst eine privilegierte Behandlung zuteilwerden lässt, und dürstet nach Aufmerksamkeit. Zugleich lebt er paradoxerweise in umso größerer Angst vor Enttarnung, je ehrlicher sein aktueller Lebenslauf ausfällt – schließlich gerät die Differenz zwischen Ich-Ideal und Selbst derartig groß, dass sie, wie Deutsch anmerkt, allenfalls von Heiligen und Genies überbrückt werden könnte.“149
Aus Sicht von Deutsch und anderen Psychologen, die sich mit der Hochstapelei beschäftigen, ist es also möglich, dass Hochstapler zunächst in gespielten Rollen aufgehen, selbst an diese glauben oder in dem Dilemma verbleiben, keine Übereinkunft mehr zwischen dem Ich und dem Selbst treffen zu können – beide Perspektiven füh-
146 R. Hettlage: Der entspannte Umgang der Gesellschaft mit der Lüge, S. 89. 147 Beispiele finden sich bei: Abraham, Karl: „Die Geschichte eines Hochstaplers im Lichte psychoanalytischer Erkenntnis (1925)“, in: Karl Abraham, Gesammelte Schriften in zwei Bänden, Band 2, Frankfurt am Main: Fischer 1982, S. 146-160; Aschaffenburg, Gustav: „Zur Psychologie des Hochstaplers“, in: März. Halbmonatsschrift für deutsche Kultur 1 (1907), S. 544-550; E. Wulffen: Die Psychologie des Hochstaplers. Vgl. W. Schwanebeck: Der flexible Mr. Ripley, S. 45ff. 148 Deutsch, Helene: „The Impostor. Contribution to ego psychology of a type of psychopath“, in: The Psychoanalytic Quarterly 24 (1955), S. 483-505, zitiert in W. Schwanebeck: Der flexible Mr. Ripley, S. 47. 149 W. Schwanebeck: Der flexible Mr. Ripley, S. 47-48.
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ren in der Regel zu psychischen Störungen.150 Neben der Bedeutung der Hochstapelei als Symptom für eine psychologische Störung ist jedoch auch die Möglichkeit denkbar, dass es sich bei der Hochstapelei um eine bewusste, nicht triebgesteuerte oder krankhafte Entscheidung handelt, um gesellschaftlichen und individuellen Erwartungen sowohl zu ent- als auch zu widersprechen. Die Paradoxie der Hochstapelnden besteht darin, dass sie in ihrer personalen Identität Authentizität suggerieren und bei Enttarnung und anschließender biographischer Aufarbeitung ihr ‚wahres Ich‘ präsentieren. Sie demontieren in zeitlicher Abfolge Vorstellungen von Authentizität und ‚wahrer‘ Wirklichkeit. Wird ihnen abgesprochen, über ‚authentische‘ Identität zu verfügen, stellen die Hochstapler und ihre erzählten Geschichten lediglich Katalysatoren für die Bewusstmachung gesellschaftlicher misslicher Zustände dar. Mit ihren Lügen und Täuschungen, ihrem Spiel mit den gesellschaftlichen Rollen führen sie Aspekte von Widerstand und Verweigerung bei gleichzeitiger Adaption gesellschaftlicher Erwartungen zusammen. Die Auflehnung gegen die Gesellschaft mündet in der authentischen Täuschung. Damit ist es auch möglich, Phasen von Hochstapelei in die eigene Identitätsarbeit zu integrieren und über den Weg von Reflexionen Antworten auf die Frage zu finden, wie man wurde, was man ist. Die moralische Dimension von Identität – ihre Echtheit und Wahrhaftigkeit im Konglomerat von Authentizität – berührt die Frage nach dem sozial Akzeptablen von Autonomie und Emanzipation. Der moralische Bemessungsgrad von Identitätskonstruktionen, der zum Beispiel von Goffman oder Keupp gestreift wird, erstreckt sich meiner Ansicht nach in erster Linie auf Formen von personaler Identität. Diese spielt jedoch für die „gesamte“ Identität auch eine Rolle und beeinflusst mit Sicherheit auch das „Identitätsgefühl“ – also das Gefühl zum eigenen Selbst.151 Die von Keupp angesprochene Authentizität während der Identitätsarbeit bezieht sich auf das Innere des Individuums und wird von ihm dem Identitätsgefühl zugeordnet.152 Was bedeutet es, authentisch mit sich zu sein? Kann es nicht auch sein, dass „Hochstapler“ eine „Teilidentität“ sein kann, mit der sich der Hochstapelnde dann in seinem „Patchwork“ der Identitäten auseinander-
150 Diese werden zum Beispiel unter dem Begriff „Pseudologica phantastica“ (Delbrück 1891) zusammengefasst. Weitere Literatur: Gediman, Helen K.: „Imposture, inauthenticity, and feeling fraudulent“, in: Journal of the American Psychoanalytic Association 33 (1985), S. 911-935; Filnkössl, Monika: „‚Der Fall Robert Schneider‘. Recherche über einen Hochstapler am Rande der Psychoanalyse“, in: SAP-Zeitung 14 (2009), http://www.psychoanalyse-salzburg.com/sap_zeitung/pdf/Filnkoessl.pdf vom 26. August 2015. 151 Keupp, Heiner: Identitätskonstruktion, Magdeburg 2003, www.ipp-muenchen.de/texte/ identitaetskonstruktion.pdf vom 21. September 2015, S. 12. 152 Ebd., S. 10.
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setzen muss? Finden sich Spuren von Identität auf rekonstruktiver Ebene in den narrativen Reflexionen und damit den narrativen Konstruktionen von Identität? Insbesondere die Entlarvung führt bei den Hochstapelnden aus unterschiedlichen Motiven zu der autobiographischen Verarbeitung der Ereignisse und damit zu einer reflexiven Auseinandersetzung. Ebenso denkbar ist auch die Konstruktion einer HochstaplerIdentität in Form von Autobiographien, die den Anschein ‚authentischer‘ Identitätsarbeit erwecken wollen. Auslöser sind also – wie auch in den meisten Fällen für Bildungsprozesse angenommen – Krisen- und Konfliktsituationen. Der Hochstapler lebt sein Leben in der von ihm konstruierten Rolle – auf jeden Fall bis zu seiner Entdeckung. Sie wird Teil seiner Identität. Diese „Teilidentität“ hat, folgt man beispielsweise dem Identitätskonzept von Keupp et al., Auswirkungen auf weitere Identitätsprozesse.153 Im Moment seines hochstaplerischen Handelns können Wahrheit und Lüge von seinen Mitmenschen nicht unterschieden werden. Eben darin besteht die hochstaplerische Authentizität: im Dazwischen. „Der Hochstapler ist zwei in einem. Er selbst und der andere. Das eine Individuum, das eine Bewusstsein, der eine Körper faltet sich auf. Und diese Auffaltung, diese Entblätterung, diese Entzweiung ist objektiv nicht erfahrbar.“154 Der Hochstapler richtet sich in einem Leben ein, das ohne Lüge und Täuschung nicht möglich oder nur schwer erreichbar gewesen wäre. Neben dem Spiel mit den Identitäten geht es den Hochstapelnden auch um Formen von Anerkennung (vgl. Kapitel 3.3.3). Der Hochstapler spielt mit der ScheinNormalität, seiner fiktiven Einzigartigkeit. Er schafft sich möglicherweise gleichzeitig eine Teilidentität. Während der selbstreflexiven, narrativen Betrachtung des Patchworks seiner (Teil)-Identitäten arbeitet der Hochstapler an seiner Identität. In der Figur des Hochstaplers zeigt sich die Problematik des Zwischen-den-IdentitätenSeins, die Zerrissenheit des modernen Subjektes, den Schein wahren zu müssen, um im Sein bestehen zu können. Diese Dualität führt zu einer weiteren Dimension, die sich im Phänomen des Hochstaplers zeigt: die Bedeutung von Anerkennung für die (hochstaplerische) Subjektkonstitution. 3.3.3 Anerkennung und Hochstapelei Unter Bezugnahme auf die Errungenschaften der Postmoderne verweist Pannen auf die Bemühungen des Individuums, die Welt mittels Kommunikation und Repräsentation des Selbst zu ordnen. Im Mittelpunkt dabei steht „eine Erzählung vom Ich“,
153 Vgl. Keupp, Heiner et al.: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999. 154 Kiesow, Rainer Maria: „Lug und Trug. Die Kunst der Hochstapelei“, in: Spiegel Online vom 15. Januar 2010, http://www.spiegel.de/unispiegel/wunderbar/lug-und-trug-diekunst-der-hochstapelei-a-667970.html vom 21. September 2015.
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die dazu dient, sich verlässlich und kontinuierlich in der Welt zu verständigen, sich einzuordnen, sich zu legitimieren und zu manifestieren.155 Diese Erzählung trägt die Präsentation des Individuums vor anderen. Sie ist Realitätsbeschreibung und das Ergebnis reflexiver Auseinandersetzungen mit der dem Ich zur Verfügung stehenden Welt. Pannen macht darauf aufmerksam: „Die Wahrhaftigkeit und eben Glaubwürdigkeit dieser kommunikativen Repräsentation ist Voraussetzung auch für die Anerkennung durch andere.“156 Diese Voraussetzungen des Kampfes um Anerkennung sind für Pannen in der Figur des Hochstaplers verankert. Die Fähigkeit des Hochstaplers, sich selbst glaubwürdig und wahrhaftig zu präsentieren, ermögliche Anerkennung und sich seiner selbst durch andere bewusst zu werden. Pannen bezieht sich auf den anerkennungstheoretischen Ansatz von Kojève, der das Prinzip der Anerkennung als konstitutives Moment zur Bildung eines Selbstbewusstseins beschreibe. 157 Pannen schlussfolgert: „Idealiter basiert diese Dialektik der Anerkennung auf den je eigenen Erkenntnissen von Wirklichkeit, d.h. von Welt und Selbstwirklichkeit.“158 Mit dem Herr-Knecht-Beispiel, das Hegel heranzieht, um seine philosophischen Vorstellungen von Anerkennung zu illustrieren, verdeutlicht Pannen, dass Kenntnis und Beherrschung von Wirklichkeit einen wesentlichen Bestandteil von Anerkennungsprozessen bilden. Sie seien entscheidende Vorteile im Kampf um Anerkennung, da nicht die gesellschaftlich höhere Position, sondern auch der hierarchisch weiter unten stehende Knecht – wenn er denn von der Wirklichkeit weiß – den Kampf um Anerkennung zu seinem Vorteil entscheiden könne.159 Um die Figur des Hochstaplers in anerkennungstheoretischen Dimensionen zu betrachten, rekurriert Pannen auf Hegel, der diskursgeschichtlich betrachtet, eine „entscheidende Weichenstellung“160 vornimmt, und stellt damit die Dialektik der Anerkennung in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Ein zentraler Aspekt bei Hegel ist der Gedanke, dass das (Selbst-)Bewusstsein geprägt ist von dem Verhältnis mit
155 T. Pannen: Anmerkungen aus dem Zettelkasten, S. 108. 156 Ebd. 157 Siehe: Kojève, Alexandre: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes. Anhang: Hegel, Marx und das Christentum, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975. 158 T. Pannen: Anmerkungen aus dem Zettelkasten, S. 108. 159 Ebd. 160 Balzer, Nicole/Ricken, Norbert: „Anerkennung als pädagogisches Problem. Markierungen im erziehungswissenschaftlichen Diskurs“, in: Alfred Schäfer/Christiane Thompson (Hg.), Anerkennung, Paderborn u.a.: Schöningh 2010, S. 35-87, S. 44. Zur Aufarbeitung der Anerkennungskategorie in der Erziehungswissenschaft siehe beispielsweise: Balzer, Nicole: Spuren der Anerkennung. Studien zu einer sozial- und erziehungswissenschaftlichen Kategorie, Wiesbaden: Springer VS 2014.
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anderen, in dem sich der Kampf um Anerkennung realisiert. Selbstbewusstsein ist „nur als ein Anerkanntes“161 zu verstehen. Das Bewusstsein seiner selbst ist also von den anderen anhängig. „Sie anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend“, schreibt Hegel und ermöglicht dem Individuum den Eintritt in die Paradoxie, dass die Unabhängigkeit des Selbst und dessen Anerkennung sich erst in der Abhängigkeit vom anderen ergeben.162 Eine Voraussetzung dafür ist das Erlangen von Kenntnis über Welt mittels reflexiver Auseinandersetzung. Diese entscheidende Komponente im Anerkennungsprozess verweist auf einen Bildungsbegriff, der davon ausgeht, dass Herrschaft und damit verbundene Unterdrückung der Nicht-Herrschenden aufgehoben werden kann. „Die Welthaltigkeit von Anerkennung, KS wird damit auch in einen Kampf gegen die rein symbolische Repräsentation der Herrschaft geschickt.“ 163 Der Hochstapler kann sich „in der Verschränkung von Wirklichkeitsbezug, Anerkennung und gegenseitiger Erwartung als kommunikatives Phänomen herauskristallisier[en]“ und „erweitert die Anerkennungsdialektik um die bewusste Täuschung über die Welthaltigkeit seines Ichs auf der Grundlage erfahrener Weltlosigkeit.“ 164 Nach Pannen will der Hochstapler Anerkennung erlangen, indem er lügt und betrügt. Es sei ein Kampf um Anerkennung ohne ein Selbst, in der Hoffnung, ein neues Selbst vor anderen finden zu können.165 Diese Einschätzung Pannens greift meiner Ansicht nach zu kurz. Denkbar ist auch, dass die Hochstapelei einen Kompromiss darstellt, um für sein Selbst Anerkennung zu erfahren. Sie ist das Ergebnis von Vorgeschichten verweigerter Anerkennung. Aufgrund dessen sich das Individuum einen anderen Weg in Form eines gesellschaftlich moralisch verurteilten Phänomens sucht. Pannen ist pessimistischer, was das Selbst des Hochstaplers anbelangt, und sieht als Ergebnis eine „Suspendierung des eigenen Selbst im Strudel der Erwartungen“. 166 Als Wanderer zwischen den Welten geht es den Hochstaplern während ihrer Hochstapelei und in ihren „Rechtfertigungsgeschichten“167 nicht nur darum, ihr täu-
161 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Werke Band 3, Frankfurt am Main 1970, S. 145. 162 Ebd., S. 147. 163 T. Pannen: Anmerkungen aus dem Zettelkasten, S. 108. 164 Ebd. 165 Ebd. 166 Ebd. 167 Lehmann, Albrecht: „Rechtfertigungsgeschichten“, in: Rolf Wilhelm Brednich/Hermann Bausinger (Hg.), Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung Band 11, Berlin: de Gruyter 2004, Sp. 402-406. Vgl. auch I. Klein: „Fake it ’til you make it“, S. 120.
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schendes Handeln zu legitimieren, sondern auch darum, diesem Handeln und die Gründe, die dazu führten, Anerkennung zu verschaffen. In Hochstaplerbiographien ist das Motiv der Anerkennung (sei es als „Kampf um Anerkennung“ während der Hochstapelei oder als nachträgliche Anerkennung der eigenen Geschichte) zu finden (vgl. Kapitel 6). Dabei werden sowohl Aspekte von Macht und Anerkennung, von Identität und Anerkennung als auch von Bildung und Anerkennung thematisiert. Die Hochstapler formulieren die Auswirkungen des Wechselspiels von Anerkennung und Nicht-Anerkennung in Interaktion mit anderen und sich selbst in unterschiedlichen Facetten. Sie erfahren die Widersprüchlichkeiten gesellschaftlicher Konventionen und normativ gesetzten Anerkennungs- und Missachtungsformen (vgl. Kapitel 6). Diese Widersprüchlichkeiten führen zu Krisen des Subjektes, zum (vermeintlichen) Leiden an und in der Gesellschaft. Sie werden in ihrer Paradoxie zur Basis von Selbst- und Weltreflexionen. Die Hochstapler nehmen einiges in Kauf, um Anerkennung in der Gesellschaft zu erfahren: die moralische und rechtliche Verurteilung ihrer Taten, die Absprache von Identität und ihre Stigmatisierung. Anerkennung zu erlangen, basiert zunächst auf listenreichen Täuschungsmanövern, in denen kulturelle Vorstellungen und Rollen in Szene gesetzt werden. Erst das Scheitern des Hochstaplers lässt die Täuschungen und Lügen erkennen. So stellt beispielsweise Klein fest, dass Hochstapler berühmt werden durch ihr „Scheitern und der sich daran anschließende Selbstvermarktung über Autobiographien, filmische und literarische Bearbeitungen“.168 Viele Hochstapler beginnen, nach ihrer Entlarvung zu schreiben. Einige ihrer Autobiographien oder Erinnerungen werden zu Bestsellern. Ihre autobiographischen Bekenntnisse lassen sich in das literaturtheoretische Genre der „Rechtfertigungsgeschichte“ einordnen und werfen damit spezifische Probleme bei der Rezeption auf (siehe Kapitel 6). Grob zusammengefasst handelt es sich dabei um „spezifische Formen des biographischen Erzählens“, das sich da zeigt, wo „Spannungen zwischen gesellschaftlichen Normen und subjektiver Normverletzung auftreten.“ 169 Die reflexive Positionierung des hochstaplerischen Subjektes in diesem Spannungsfeld erschließt eine zweite Phase des Ringens um Anerkennung, die sich in der biographischen, retrospektiven Rechtfertigung finden lässt (siehe Kapitel 6). Wenn die Hochstapelei auffliegt, scheint ein Weg gesellschaftlicher Anerkennung über das Bekenntnis und die Rechtfertigung der Taten möglich zu sein: Die Narration der Lebensgeschichte wird auch als Weg gewählt, um Anerkennung zu erlangen. Die Biographien sind ein doppeltes Spiel der Hochstapler: Sie vergegenwärtigen Vergangenes und sind zugleich auf Anerkennung aus. Sie legitimieren, konstruieren, klagen an, offenbaren, bekennen. So werden sie zum Schauplatz, auf dem
168 I. Klein: „Fake it ’til you make it“, S. 112. 169 Ebd., S. 120.
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der Hochstapler sich und die anderen im historischen Kontext entblößt. Sie veranschaulichen ein alltagsweltliches Verständnis von Anerkennung, das sich als ein „anthropologisches Grundbedürfnis“170 darstellt, welches als erstrebenswert gilt. Die Narrationen vieler Hochstapler zeigen, dass „Nicht-Anerkennung ... Leiden verursacht.“171 Diese Nicht-Anerkennung, die als Krise empfunden werden kann, nehmen Hochstapler als Anlass, ihr Selbst zu verändern. In den Hochstaplerbiographien finden sind alltagsweltliche Beschreibungen von Anerkennungs- und Nichtanerkennungsverhältnissen. Sie werden (mal laut, mal leise) als Kämpfe zwischen Personen, gesellschaftlichen Zuständen und als innerpersönliche Konflikte beschrieben (siehe Kapitel 6), deren Lösung möglicherweise auch in der Hochstapelei gesucht werden. Lüge, Täuschung und Hochstapelei können Transformationen von Erlebnissen in Anerkennungsverhältnissen sein. Wie die für diese Arbeit analysierten Biographien zeigen, scheint Anerkennung schon in den gesellschaftlichen Umbruchsjahren des Kaiserreiches und der Weimarer Republik ein Thema gewesen zu sein und ist somit nicht nur ein „Schlüsselbegriff unserer Zeit“. 172 In Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs ergeben sich immer wieder Diskussionen über Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und individueller Lebensführung. Insbesondere die erlebte Differenz zwischen normativen Postulaten und individuellen Ansprüchen kann dazu führen, dass das „Streben nach Anerkennung als wesentliche Orientierung sozialen Handelns“173 und als „ethische Kategorie“174 gilt.
170 C. Micus-Loos: Anerkennung des Anderen, S. 303. 171 C. Taylor: Die Politik der Anerkennung, S. 21. 172 Fraser, Nancy/Honneth, Axel: Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 7. 173 Nothdurft, Werner: „Anerkennung“, in: Jürgen Straub/Arne Weidemann/Doris Weidemann (Hg.), Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Grundbegriffe – Theorien – Anwendungsfelder, Stuttgart/Weimar: Metzler 2007, S. 110-121, hier S. 110. 174 N. Fraser/A. Honneth: Umverteilung oder Anerkennung?, S. 9; siehe auch: Honneth, Axel: „Anerkennung und moralische Verpflichtung“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 51 (1997), S. 25-41; A. Honneth: Kampf um Anerkennung.
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3.4 ZWISCHEN-FAZIT: HOCHSTAPLERISCHE BILDUNGSGESCHICHTEN Grenzüberschreitungen und -erfahrungen sind Bestandteile von Bildungsgeschichten, seien sie autobiographischer oder belletristischer Art. In ihnen präsentiert sich ein Subjekt mit verschiedenen Masken zwischen einer von ihm narrativ evozierten und einer gesellschaftlich-historischen Welt. Während der Maskerade stehen nicht nur die Erfahrungen in diesen Welten und die Schwierigkeiten, zwischen diesen Welten zu wechseln, im Fokus, sondern das Tragen von Masken birgt eine Besonderheit: „Sie ist Täuschung, sofern sie die Person verbirgt, sie ist Entscheidung, sofern sie durch Bilder des Verbergens die Person in ihrer Mannigfaltigkeit ihrer Aspekte enthüllt. Sie ermöglicht den ek-statischen sic! Zustand der Person: gleichzeitig bei sich und außer sich zu sein. Das macht sie dann auch zum Paradigma der Fiktionalität, die sich hier anderwärts als Täuschung entblößt, doch nur um zu bekunden, dass durch sie alles Täuschen gleichzeitig ein Entdecken ist.“ 175
Alles Täuschen ist gleichzeitig ein Entdecken von Mehrdeutigkeiten, von Dazwischen-Sein. Die Figur des Hochstaplers zeigt, dass die Verortung des Subjektes zwischen Schein und Sein, zwischen Fiktionalität und Authentizität, zwischen Rollen und Identitäten, zwischen Emanzipation und Vergesellschaftung mit einer Überschreitungsperspektive verbunden ist. Im Augenblick der Täuschung überwinden die Hochstapler gesellschaftlich gesetzte Grenzen und werden doch nach ihrer Entlarvung in diese zurückgeworfen. Täuschung dient ihnen als Mittel, um – wenigstens für einen kurzen Zeitraum – sich „Freiheit zu erkämpfen“: Hochstapler „wissen, daß nicht nur die Tatsachen Wirklichkeit sind, sondern auch die Lügen, an deren Wahrheit geglaubt wird.“176 Den Hochstaplern wird zugesprochen, mit ihren Erzählungen den Schein der Gesellschaft zu enthüllen. Damit wird paradoxerweise das menschliche Bedürfnis nach Wahrheit, Gewissheit und Authentizität an der Figur des Hochstaplers abgearbeitet: „Die Lüge des Hochstaplers dient mithin der Wahrheit; das Lügen mündet – das ist die dialektische Pointe – in eine Kritik der Lüge.“177 Biographien sowie Erzählungen von und über Hochstapelnde werden zu Orten stilisiert, in denen über gesellschaftliche Zustände und deren Auswirkungen auf das Individuum verhandelt wird. Dazu zählen auch Bildung und die Möglichkeiten, diese zu erfahren und in die Wirklichkeit transformieren zu können. „Hochstapler vereinigen ... in ihrer Person zwei gesell-
175 Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 140. 176 S.H. Kern: Die Kunst der Täuschung, S. 14. 177 T. Rahn: Der Lügner als Autor, S. 56.
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schaftliche Sphären: Sie haben ihre Wurzeln in einfachen Verhältnissen, sie verkörpern aber Reichtum, Bildung, Status.“178 Vielleicht zeigt sich so, dass Bildung und ihr Verhältnis zur Welt nicht nur ein identisches ist, sondern auch den Schein beinhaltet. Im Täuschen, im Lügen und im Erzählen ihrer Geschichte versuchen Hochstapler zum einen, ihre Vorstellungen von sich selbst zu verwirklichen. Zum anderen zeigen sich in diesen Dimensionen die Schwierigkeiten von ‚Identitätsarbeit‘: ihre anthropologische Notwendigkeit, ihre gesellschaftliche Verfasstheit, die damit verbundenen Wandlungsfähigkeiten und Anpassungserfordernisse unter der Prämisse der Authentizität. In der Figur des Hochstaplers zeigt sich, dass im Vortäuschen personaler Identität gelebt werden kann, wie und wer man sein möchte. Der Hochstapler macht nicht nur Erfahrungen mit dem Ästhetischen, sondern macht seine Vorstellungen von seinem In-der-Welt-Sein zur Wirklichkeit und damit zur ästhetischen Erfahrung für andere. Seine Identität stellt sich im Erzählen, Lügen und Täuschen und in Interaktionen mit anderen her. Er reflektiert nicht nur über das Mögliche, sondern bricht mit dem Erfahrungsmuster der Divergenz von Sein und Schein. In der Moderne tritt die Entwicklung des Subjektes in den Dimensionen von Schein, Sein und Identität in ein neues Verhältnis. Als Momente und Folgen des gesellschaftlichen Wandels wird die Verflechtung von Individualität und Identität neu beleuchtet und gestaltet sich als problematisch. Dies betrifft auch die Beziehung zwischen Identität und Anerkennung: In der Vormoderne, so Taylor, sei das Verhältnis von Identität und Anerkennung noch zu unproblematisch, um eigens thematisiert zu werden. Die Verflüchtigung traditioneller gesellschaftlicher Strukturen und deren Neuausrichtung seien verbunden mit einer Entkoppelung von Anerkennung an den sozialen Status eines Individuums.179 Nicht mehr die gesellschaftliche Stellung und/oder die Herkunft dienen dazu, anerkannt zu werden, sondern Anerkennung muss erst erlangt werden. Sie wird zu einer knappen Ressource 180; nun kann das „Streben nach Anerkennung scheitern.“181 Die sozial vorbestimmte Identität und die damit sozial legitimierte Anerkennung sind auf dem Rückzug und bereiten den Boden für eine individuell zu erarbeitende Identität, die sich am Ideal der Authentizität zu messen hat. Taylor schlussfolgert daraus, dass das „entscheidende Merkmal der innerlich abgeleiteten, persönlichen und originellen Identität darin besteht, daß diese sich nicht jener apriorischen Anerkennung erfreut.“ 182 Wie Identität muss auch „An-
178 S.H. Kern: Die Kunst der Täuschung, S. 67. 179 Taylor, Charles: Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 57-58. 180 Vgl. Sennett, Richard: Respekt im Zeitalter der Ungleichheit, Berlin: Berlin Verlag 2002. 181 C. Taylor: Das Unbehagen an der Moderne, S. 58. 182 Ebd.
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erkennung als Austauschprozess“183 errungen und inszeniert werden. Hochstapler lassen sich nicht darauf reduzieren, jemand zu sein, „der vortäuscht, eine im sozialen Raum höher gelegene Position (= mehr Kapitalvolumen und hoher Anteil ökonomisches Kapital) zu haben, als er tatsächlich aufgrund seines vorhandenen und reproduzierbaren Kapitalvolumens und dessen Zusammensetzung hat.“ 184 Sie versuchen auch im Erzählen – und das ist das eigentlich Ästhetische – ihre angestrebte, zunächst fiktive Vorstellung von sich selbst zu realisieren. Damit zeigen sie, dass im Erzählen nicht reale Wirklichkeit wiedergegeben wird, sondern „Neuschöpfung“185. In dieser Neuschöpfung, die sich als Widerspruch zum Bestehenden, zur Moral und zu gesellschaftlichen Konventionen gestalten kann, kann sich das Individuum emanzipieren und in seiner Individualität zeigen. Die Überschreitung des Gegebenen kann sich der „sittlichen Wahrheit“ entziehen, indem sie den Weg der „Ungewißheit“ einschlägt: „Wo auch immer die sittliche Wahrheit gesucht wird, die den Inhalt unseres gemeinsamen Lebens ausmachen soll, offenbart sie sich in der Form der Ungewißheit. ... Wo auch immer wir Entscheidungen treffen, tun wir es innerhalb der Grenzen unserer Subjektivität und müssen damit auch der Schuld begegnen, die auf uns zurückkommt, aber dies ist die einzige Form der Entscheidung, die für uns möglich ist.“186
In der Figur des Hochstaplers manifestieren sich die Ambivalenzen der Wirklichkeit, seine Geschichte ist das Widersprechende. Sie repräsentiert „die Betonung der Differenz mit dem sich selbst als Möglichkeit der Überschreitung“ 187 und verweist auf den Zusammenhang von Überschreitung und Verstrickung aus bildungstheoretischer Perspektive:
183 Ebd. 184 S. Veelen: Hochstapler, S. 27. 185 S.H. Kern: Die Kunst der Täuschung, S. 67. 186 Heydorn, Heinz-Joachim: Verfassungsfeier (1953), in: Heinz-Joachim Heydorn, Werke, Studienausgabe, Band 7: Politische Schriften 1946-1974, herausgegeben von Irmgard Heydorn, Hartmut Kappner, Gernot Koneffke und Edgar Weick, Wetzlar: Büchse 2004, S. 153-164, hier S. 158-159. 187 Bünger, Carsten: Emanzipation im Widerspruch. Notizen zur Dialektik von Überschreitung und Verstrickung, in: Carsten Bünger/Peter Euler/Andreas Gruschka/Ludwig A. Pongratz (Hg.), Heydorn lesen! Herausforderungen kritischer Bildungstheorie, Paderborn: Schöningh, 2009, S. 171-190. Hier wurde die Online-Version verwendet: http://www.c-buenger.de/downloads/texte/CB_Emanzipation-im-Widerspruch-bei-Heydorn.pdf vom 26. August 2015, S. 12.
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„Wenn Bildungsprozesse das zu ihrem Gegenstand erheben, was sie selbst einengt, kann Bildung über ihre Funktion hinausweisen, die ‚Erfahrung verhinderter Erfahrung‘ ... ermöglichen. ... Damit ist zugleich deutlich, dass Bildung selbst nicht die gesellschaftliche Transformation ist, die sie ermöglicht; die Formulierung von Widersprüchen verweist auf das widersprechende Subjekt ....“188
Die nächsten Kapitel widmen sich dieser Erfahrung verhinderter Erfahrung und ihren Auswirkungen auf Bildungsprozesse in biographischen Erzählungen.
188 Ebd., S. 14-15. Bünger bezieht sich u.a. auf Kappner, Hans-Hartmut: Die Bildungstheorie Adornos als Theorie der Erfahrung von Kultur und Kunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 20.
4
Biographie und (Erwachsenen-)Bildung
Wenn der Zweck die Mittel heiligt, dann auch die Hochstapelnden, öffnen sie doch – wie die vorausgehenden Kapitel gezeigt haben – durch ihre Lügen, Täuschungen und Inszenierungen die Tür zumindest einen Spaltbreit und geben einen Einblick in die häufig verdeckte Komplexität der Wirklichkeit und des sich in ihr entwickelnden Subjektes. Angesichts des Zusammenhangs von Lüge, Subjekt, Wirklichkeit und Bildung konstatiert Henningsen für die Erziehungswissenschaft: „Die Nicht-Feststellbarkeit des Menschen, der keine ‚Natur‘ hat, die Ambivalenz und uferlose Interpretierbarkeit der Kommunikationsphänomene, die Undurchschaubarkeit des komplizierten sozialen Systems, in dem Fäden aus Lüge und Wahrheit ununterscheidbar miteinander verwoben sind, die Nicht-Erzwingbarkeit normgerechten Verhaltens – alles das scheint pädagogischen Bemühungen den Boden wegzureißen. Wenn alles fließt, wie sollte dann Bildung möglich sein?“1
Dieses Kapitel widmet sich dieser Ambivalenz, dieser uferlosen Interpretierbarkeit, dieser Undurchschaubarkeit und dieser Nicht-Erzwingbarkeit von Bildung und verknüpft diese mit dem Phänomen der Interferenz in individuellen sowie sozialen Handlungen sowie Bildungsprozessen, die sich nur erklären lassen, wenn man sie in ihrem Geworden-Sein betrachtet (siehe ausführlicher Kapitel 5). Eine Form dieses Werdens findet sich in der narrativen Konstruktion der Lebensgeschichte, in (Auto-) Biographien, die es ermöglichen, die Ambivalenz des Subjektes in seinen vielfältigen Handlungsgeschichten zu erahnen (Kapitel 4.1). Das Verhaftetsein des Subjektes in den Lauf der Welt öffnet den Blick auf die Überlegungen zum Zusammenhang von Biographie, Bildung und widersprüchlichen, ambivalenten sowie brüchigen Bildungsprozessen (Kapitel 4.2, 4.3).
1
J. Henningsen: Lüge und Freiheit, S. 46.
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4.1 WANDLUNGEN: BEDEUTUNG VON BIOGRAPHIE Biographien und Autobiographien unterliegen als literarische Gattungen geschichtlichen Wandlungen: Funktionen, Ziele, Schreibstile sowie Ansprüche und Erwartungen an die Autoren changieren seit dem Beginn des Aufschreibens von Lebensgeschichten in der Antike. Bis zu ihrer heutigen modernen Form, die sich Ende des 18. Jahrhunderts durchsetzt, durchläuft das Genre „Biographie“ vielfältige Wandlungsprozesse, die insbesondere von unterschiedlichen Zielsetzungen gekennzeichnet sind.2 Bemerkenswert ist, dass die Ziele – ähnlich wie bei der Bewertung und Funktionalisierung der Lüge (vgl. Kapitel 2) und des Hochstaplers (vgl. Kapitel 3.1) – an die jeweiligen historischen Entwicklungen gekoppelt sind. So sei beispielsweise die These, dass die relativ junge Idee der modernen Biographie an die europäische Moderne gebunden ist, gut belegt, so Alheit und Brandt, die den „Wandel autobiographischer Formate“ untersuchen.3 Sie stellen drei biographische Formate mit jeweils divergierenden Zielsetzungen fest: 1.
2.
Das „vormoderne Format“, dessen Ziel die Legitimation und Stabilisierung gesellschaftlicher Verhältnisse ist: Nicht subjektive Entwicklungsprozesse sollen aufgezeigt werden, sondern die individualisierte Lebensgeschichte – präsentiert in Herrscherbiographien, Helden- oder Wundererzählungen und verfasst von dritter Seite – wird genutzt, um kirchliche oder weltliche Machtverhältnisse zu festigen. Alheit und Brandt finden in diesem Format einen „‚äußerlichen Modus‘ der Selbstpräsentation“4, welcher sich sprachlich zum Beispiel in der Verwendung von Stereotypen zeigt. Dieses Format existiert in Europa bis in das 18. Jahrhundert hinein.5 Das „frühmoderne Format“ zeichnet sich durch einen „‚halb äußerlichen‘“ Selbstpräsentationsmodus aus.6 Es finden sich beschränkte Formen von Reflexion, die mit der gesellschaftlichen Inszenierung der Lebensgeschichte kombiniert werden. Im Gegensatz zum vormodernen Format präsentiert sich „die vor-
2
Holdenried, Michaela: Autobiographie, Stuttgart: Reclam 2000, S. 19.
3
Vgl. P. Alheit/M. Brandt: Autobiographie und ästhetische Erfahrung, S. 11. Alheit und Brandt beziehen sich zum Beispiel auf: Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung, Stuttgart 1977.
4
P. Alheit/M. Brandt: Autobiographie und ästhetische Erfahrung, S. 16, Herv. i.O.
5
Siehe ebd.
6
Ebd., S. 16-17, Herv. i.O.
Biographie und (Erwachsenen-)Bildung | 121
3.
gestellte Person“ selbst.7 Nach Alheit und Brandt zeigt sich die Motivation zum Verfassen einer Biographie als „Suche nach neuen Orientierungen“.8 Das „‚klassisch moderne Format‘“ entsteht in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts und „ist gekennzeichnet durch jene Idee der persönlichen Entwicklung, die auch dem deutschen Bildungsbegriff seine spezifische Färbung gegeben hat“.9 Das autobiographische Format unterliegt einem „inneren Modus“10, der auf die Individualität und Einzigartigkeit der Lebensgeschichte abzielt. Die zuvor dominierenden äußerlichen und halb äußerlichen Modi, die auf die äußeren Umstände der Biographie abzielen, werden in den inneren Modus integriert: Die äußeren Gegebenheiten der Welt werden durch das biographische Subjekt in seine lebensgeschichtliche Entwicklung eingebunden; ihnen wird durch den individuellen Bezug auf das Leben subjektive Bedeutung verliehen. Alheit und Brandt sehen in diesem dritten Format die Möglichkeit zur „Biographizität“ gegeben. Darunter verstehen sie eine „kreative innere Vermittlungsinstanz“ ..., eine Art persönliche Semantik [...], mit der das moderne Individuum neue Erfahrungen aufschließt und sie zu seinen je eigenen macht – eine Basiskompetenz, die das Gefühl einer bestimmten Form der Identität vermittelt, obgleich sich der moderne Mensch ununterbrochen verändert und seine individuelle Einzigartigkeit immer wieder bedroht ist.“11
Zusammenfassend beschreiben Alheit und Brandt ihre grobe Unterteilung des Wandels literarischer Formate wie folgt: „Während das vormoderne und selbst das frühmoderne Format den sozialen ‚Bios‘ noch gleichsam ‚von außen‘ beschreiben, die Verschriftlichung, das ‚graphein‘, also einen didaktischen Effekt hat […] – während also in diesen beiden Formaten in einer Art ‚literalisierter‘ Rhetorik oder Moral Muster sinnvollen Lebens vorgeführt werden, ist im modernen Format der Autobiographie nicht das ‚zu lebende Leben‘, sondern das ‚sinnhaft gelebte Leben‘ Voraussetzung der Literalisierung.“12
Sie kommen zu dem Schluss, dass die Art und Weise der biographischen Reflexion eng an den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess gekoppelt ist. Diese Einschätzungen teilen sie mit anderen biographietheoretischen Autoren, die sich aus den un-
7
Ebd., S. 16.
8
Ebd., S. 17. Dieses Format wird von Alheit und Brandt nicht explizit in einen Zeitraum eingeordnet.
9
Ebd., Herv. i.O.
10 Ebd. 11 Ebd., S. 18. 12 Ebd., Herv. i.O.
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terschiedlichsten Perspektiven dem Phänomen (Auto-)Biographie nähern.13 So fasst beispielsweise Spits aus literaturwissenschaftlicher Sicht die geschichtliche Entwicklung zur Theorie der Autobiographie zusammen: „Überblickt man die Theorie des letzten Jahrhunderts, so lässt sich als übergreifendes Merkmal in der Geschichte der Gattung der Abschied von bestimmten Vorstellungen begreifen, die lange Zeit als kanonisch galten: von der Autobiographie als bekenntnishafte Bildungs- und Entwicklungsgeschichte, als Schlüssel zum Verständnis der Persönlichkeit, als gelungene Selbstdarstellung, die den Lebenslauf sinnvoll in übergreifende Zusammenhänge einordnet und das Leben als geschlossene Einheit präsentiert. ... Die Autobiographie wird zunehmend als Problematisierung vorher gültiger Positionen betrachtet, als selbstreferentieller Umgang mit sich selbst, als ‚Prototyp‘ zeitgenössischer Erfahrung.“14
Ein gemeinsamer Gedanke in den theoretischen Überlegungen zur Biographie ist, dass in (Auto-)Biographien reflexive Zusammenhänge eines „gelebten Lebens“15 dargestellt werden. Erfahrung und Erlebnis werden aufeinander bezogen und sollen der Herstellung von Kohärenz dienen. Aus dieser Kohärenz der Geschichten des Lebens lassen sich Sinn, Deutungen und Interpretationen von Welt ableiten, die sowohl die Biographen als auch die Lesenden dem beschriebenen Leben entnehmen können. Diese Bedeutung der Biographie geht auch bei Skeptikern am Biographischen wie zum Beispiel Bourdieu, der sich mit der „biographischen Illusion“ beschäftigt, nicht verloren: „Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß hinter der autobiographischen Erzählung immer zumindest teilweise ein Interesse an der Sinngebung steht, am Erklären, am Auffinden einer zugleich retrospektiven und prospektiven Logik, einer Konsistenz und Konstanz, um derentwillen intelligible Relationen wie die von Wirkung und Ursache zwischen aufeinanderfol-
13 Vgl. beispielsweise: Garraty, John A.: The Nature of Biography, New York: Alfred A. Knopf 1957; M. Holdenried: Autobiographie; Lejeune, Philipp: Der autobiographische Pakt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994; Neumann, Bernd: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankfurt am Main: Athenäum 1970; Niggl, Günter: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989; Scheuer, Helmut: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Stuttgart: Metzler 1979. 14 Spits, Jerker: Fakt und Fiktion. Die Autobiographie im Spannungsfeld zwischen Theorie und Rezeption, Leiden: Universität Leiden 2008, S. 19. 15 T. Schulze: Interpretation von autobiographischen Texten, S. 323.
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genden Zuständen hergestellt werden, die damit zu Etappen einer notwendigen Entwicklung erhoben sind.“16
Für Bourdieu erweist sich die Sinngebung jedoch als ideologische Illusion, ist damit doch die „Neigung“ verbunden, „sich zum Ideologen des eigenen Lebens zu machen, indem man in Abhängigkeit von einer Globalintention bestimmte signifikante Ereignisse auswählt und Verknüpfungen zwischen ihnen herstellt, die geeignet scheinen, ihr Eintreten zu begründen und ihre Kohärenz zu gewährleisten, solche etwa, wie sie implizit geschaffen werden, wenn man Ereignisse als Ursachen, oder, häufiger noch, als Zwecke setzt“.17 Der illusionäre Charakter der Lebensgeschichte wird auch in der Belletristik beschrieben, so zum Beispiel von Max Frisch in seinem Roman „Mein Name sei Gantenbein“. Darin hört sich in einer Szene ein betrunkener Protagonist die Lebensgeschichte eines Barmanns an. Der Barmann unterstreicht den Wahrheitsgehalt seiner Geschichte, indem er sagt: „So war das!“ Daraufhin sinniert der Protagonist: „Ich trinke und beneide ihn – nicht um seine russische Gefangenschaft, aber um sein zweifelloses Verhältnis zu seiner Geschichte... […] ‚Jede Geschichte ist eine Erfindung‘, sage ich nach einer Weile, ohne deswegen an den Schrecknissen seiner russischen Gefangenschaft zu zweifeln, grundsätzlich: ‚jedes Ich, das sich ausspricht, ist eine Rolle –‘. […] ‚Unsere Gier nach Geschichten‘, sage ich […] ‚vielleicht sind’s zwei oder drei Erfahrungen, was einer hat‘, sage ich, ‚zwei oder drei Erfahrungen, wenn’s hochkommt, das ist’s, was einer hat, wenn er von sich erzählt, überhaupt, wenn er erzählt: Erlebnismuster – aber keine Geschichte‘, sage ich, ‚keine Geschichte.‘ […] ‚Man kann sich selbst nicht sehen, das ist’s, Geschichten gibt es nur von außen‘, sage ich, ‚daher unsere Gier nach Geschichten!‘ […] ‚Ich habe keine.‘ [...] ‚Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält‘, sage ich, ‚oder eine ganze Reihe von Geschichten‘ ....“18
Sicherlich wohnt auch den Ausführungen des Protagonisten in Frischs Roman eine gewisse Skepsis und eine dekonstruktive Haltung gegenüber dem Sinn einer Lebensgeschichte inne, ist doch das Erfinden nicht nur als Gegenteil von Faktizität zu sehen. Frisch geht es in erster Linie nicht um die Illusion oder die Ideologie, die zur Erfindung von Lebensgeschichte führen kann, sondern darum, dass überhaupt für das Ich die Möglichkeit existiert, sich im lebensgeschichtlichen Erzählen zu erfinden. Es ist gerade die Rollenvielfalt, die sich in den verschiedenen Geschichten herstellen lässt
16 Bourdieu, Pierre: „Die biographische Illusion“, in: Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main am Main: Suhrkamp 1998, S. 75-82, S. 76. 17 Ebd., Herv. i.O. 18 Frisch, Max: Mein Name sei Gantenbein, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S. 44-45.
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und mit denen sich das Ich so immer neu erfinden kann. Für das Ich ist es auch kein Untergang, dass dieses Erfinden das Selbst täuschen kann. Gefährlich ist es, kein Ich über Geschichten erfinden zu können. Dies veranschaulicht der Protagonist am Beispiel eines Milchmanns, der in die Psychiatrie eingewiesen wird: „Sein Ich hatte sich verbraucht, das kann’s geben und ein anderes fiel ihm nicht ein“.19 Gefahren bestehen auch, wenn sich die äußeren Umstände so ändern, dass sie nicht mehr zu der Geschichte vom Ich passen, wie das Beispiel des Pechvogels zeigt, der in der Lotterie gewinnt und dann seine mit dem Geldgewinn gefüllte Brieftasche verliert: „‚Ich glaube, es war ihm lieber so‘, sage ich, ‚andernfalls hätte er sich ein anderes Ich erfinden müssen, der Gute, er könnte sich nicht mehr als Pechvogel sehen. Ein anderes Ich, das ist kostspieliger als der Verlust einer vollen Brieftasche, versteht sich, er müßte die ganze Geschichte seines Lebens aufgeben, alle Vorkommnisse noch einmal erleben, und zwar anders, da sie nicht mehr zu seinem Ich passen –‘“20
Frisch nimmt in seinem Roman eine wichtige Differenzierung für Biographien vor: Nicht das Leben ist die Geschichte, sondern das Ich, das biographische Subjekt, ist Dreh- und Angelpunkt der Geschichte (seines Lebens). Auch wenn in Biographien auf äußere Ereignisse Bezug genommen wird, Erlebnisse und Erfahrungen kontextualisiert werden, so ist es nicht das Außen, das biographisches Erzählen bestimmt, sondern die Konstitution von Sinn, Ich oder Identität. Doch im Gegensatz zu den Lebensgeschichten, die von den erzählenden Personen aus der Vergangenheit dem Ich-Erzähler im Roman vergegenwärtigt werden, erzählt dieser „seine Geschichte als gegenwärtige Erfindung“21 und kommt zu dem Schluss: „(Manchmal scheint auch mir, daß jedes Buch, so es sich nicht befaßt mit der Verhinderung des Kriegs, mit der Schaffung einer besseren Gesellschaft und so weiter, sinnlos ist, müßig, unverantwortlich, langweilig, nicht wert, daß man es liest, unstatthaft. Es ist nicht die Zeit für Ich-Geschichten. Und doch vollzieht sich das menschliche Leben oder verfehlt sich am einzelnen Ich, nirgends sonst.)“22
Obwohl „keine Zeit für Ich-Geschichten“ ist, erfindet der Ich-Erzähler seine Geschichte, auch indem er sich in erzählten Erfahrungen anderer spiegelt und seine Geschichte ins Verhältnis zu anderen Büchern und zur Gesellschaft setzt. Dabei merkt
19 Ebd., S. 46. 20 Ebd., S. 47. 21 S.H. Kern: Die Kunst der Täuschung, S. 147. 22 M. Frisch: Mein Name sei Gantenbein, S. 62.
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er, dass auch „Erfindungen biographischen Regeln folgen“23. Kern schlussfolgert: „Dieser Einstellung liegt die alte Unterstellung zugrunde, daß die Leiden des Einzelnen exemplarisch seien für alle anderen, daß also auch die Welt gezeigt würde, wenn das Ich sich erzähle.“24 Dies führt weg von einem Alltagsverständnis von Biographie, worauf zum Beispiel Schulze verweist und im Kontrast dazu das biographische Subjekt vorstellt: „Mit dem Wort ‚Biographie‘ meinen wir zunächst einen Text, in dem die Geschichte eines einzelnen menschlichen Lebens erzählt oder beschrieben wird, dann aber auch das Leben selbst, das in diesem Text als eine Geschichte erzählt oder beschrieben wird. Und beides setzt ein Drittes voraus: ein ‚biographisches Subjekt‘, das Träger oder ‚Held‘ dieser Lebensgeschichte ist und das in einer Autobiographie zugleich zu ihrem Erzähler wird.“25
Neben der Bedeutsamkeit des biographischen Subjektes, die sich auch in der Entwicklung biographischer Formate widerspiegelt (s. o.), sehen auch Schulze und Baacke in der Biographie die Bedeutung der Erfindung als konstitutiv an. Dies ist ein entscheidender Unterschied zum alltagssprachlichen Verständnis von Biographie: „Geschichten“ bedeuten „konkrete Handlungszusammenhänge […] für Erlebnisse und Erfahrungen, die man sich erinnernd erzählt oder dichtend erfindet.“26 Die Faktizität und die Wahrheit der Ereignisse rücken in den Hintergrund. Im Vordergrund steht die subjektive Auslegung von Ich, Welt und Identität – verbunden mit bewusster täuschender Absicht kann sich so ein biographisches Ich als Hochstapler erweisen und unbewusst einer Selbsttäuschung erliegen. Die von Tippelt und Tenorth vorgenommene Unterscheidung zwischen einer subjektiven und einer objektiven Seite der Biographie, wobei die subjektive Seite eine individuelle Lebensgeschichte und die objektive Seite belegbare Lebensereignisse meint (wie zum Beispiel in einem Lebenslauf oder durch Belege mittels Daten von historischen Ereignissen), hat dann für die Herstellung von Sinn und (biographischem) Ich eher eine untergeordnete Bedeutung.27 Biographien sind das Ergebnis subjektiver Reflexionen, die sich auf die Vergangenheit beziehen. Bei allen Illusionen, Erfindungen, Ideologien und Täuschungen die
23 S.H. Kern: Die Kunst der Täuschung, S. 147. 24 Ebd., S. 148. 25 T. Schulze: Interpretation von autobiographischen Texten, S. 323. 26 Baacke, Dieter/Schulze, Theodor: „Vorwort zur Neuausgabe“, in: Dieter Baacke/Theodor Schulze, Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens, Weinheim/München: Juventa 1993, S. 7-10, hier S. 8. 27 Tenorth, Heinz-Elmar/Tippelt, Rudolf (Hg.): Lexikon Pädagogik, Weinheim/Basel: Beltz 2006, S. 119.
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Geschichten mit sich bringen, erzählt in ihnen ein biographisches Subjekt die Geschichte seines Lebens, seines Ichs, spielt verschiedene Rollen und macht sein Inder-Welt-Sein für andere öffentlich. Biographien zeigen die Reflexionen von Subjekten über ihr Ich im Spannungsfeld von Sein und Welt. Im biographischen Erzählen werden Lebenserfahrungen aufgeschichtet, die als Ausgangspunkt subjektive Erlebnisse haben. Lebenserfahrungen bilden für Schulze subjektive Erkenntnisse von Welt ab, die sich erst in einer Art retrospektiver Arbeit ergeben: „In dem Augenblick, in dem das Subjekt mit der Welt zusammenstößt, ist es ganz auf die Welt, auf den Gegenstand oder das Gegenüber, auf das Ereignis und auf seine Reaktion, seine Entscheidung, seine Handlung gerichtet. Erst in der nachträglichen Besinnung kommt ihm zu Bewußtsein, was geschehen ist, wird der Inhalt einer Erfahrung erkennbar. Dabei ist die Erinnerung selber ein produktiver Teil der Erfahrung. […] Das bedeutet: Nur über die Rekonstruktion von Erinnerungen lassen sich Lebenserfahrungen erfassen.“ 28
Das Subjekt wählt eigenständig Erlebnisse aus und gibt ihnen Bedeutung. Es selektiert aus seinem Erlebnisspielraum, erinnert sich nicht an alles und fügt dies in der biographischen Reflexion zu Erfahrungen zusammen. Die Artikulation der Reflexion erfolgt „in einer narrativen und zugleich symbolisierenden Form der sprachlichen Äußerung“.29 „Es ist das Ich, das erzählt, aber auch das Ich, das erlebt hat, was es erzählt. Es ist das Ich, das sich erinnert und das seine Erinnerungen reflektiert. Es ist das Ich, das lebt und das sich zu seinem Leben verhält, entwerfend und erinnernd, das etwas von seinem Leben erwartet und sich in ihm zurechtfinden und zu behaupten sucht.“ 30
Im biographischen Erzählen tritt das Subjekt in ein Verhältnis zu sich selbst, es entwirft ein „autobiographisches Ich“.31 Dieses Ich „ist kein autonomes, unabhängiges, isoliertes und selbstherrliches Individuum, und in einer autobiographischen Erzäh-
28 T. Schulze: Interpretation von autobiographischen Texten, S. 325. 29 Ebd. 30 Schulze, Theodor: „Allgemeine Erziehungswissenschaft und erziehungswissenschaftliche Biographieforschung“, in: Lothar Wigger (Hg.), Forschungsfelder der Allgemeinen Erziehungswissenschaft (= Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Beiheft 1), Opladen: Leske + Budrich 2002, S. 129-146, hier S. 138. 31 Schulze, Theodor: „Von Fall zu Fall. Über das Verhältnis von Allgemeinem, Besonderem und Individuellem“, in: Jutta Ecarius/Burkhard Schäffer (Hg.), Typenbildung und Theoriegenerierung. Aktuelle methodische Herausforderungen an die Biographie- und Bildungsforschung, Opladen/Farmington Hills: Budrich 2010, S. 29-46, hier S. 34.
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lung geht es auch nicht allein oder vorwiegend um das Selbst, um Selbstvergewisserung und Selbstdarstellung, um Persönlichkeitsfindung und Identitätsfindung“.32 Es geht auch um das Verhältnis zu anderen Menschen, zur Gesellschaft und die Verhältnisse zur Welt, in denen sich das Individuum bewegt, die es erlebt und die es reflektiert. Fuchs, der diese Verhältnisse in Anlehnung an Schulze als Selbst-, Fremd-, und Weltverhältnisse klassifiziert, schlussfolgert: „Lebensgeschichtliches Erzählen [vollzieht sich, KS] gewissermaßen als eine ‚Interaktion‘ in drei Dimensionen: Nämlich der Beziehung der Menschen zu sich selbst (Selbstverhältnis), zu anderen Menschen (Fremdverhältnis) und zur Welt (Weltverhältnis). […] Lebensgeschichtliches Erzählen ist, obgleich auf das eigene Subjekt bezogen, nicht bloß eine Angelegenheit, in der ausschließlich Selbstverhältnisse zum Besten gegeben werden. […] lebensgeschichtliche Äußerungen [geben, KS] Aufschluss über individuelle Vorgänge, Zustände und Prozesse, […], die […] immer in Beziehung auf das Außen einer sozialen Welt stehen.“33
Mit dem Begriff der Interaktion macht Fuchs meiner Ansicht nach darauf aufmerksam, dass Interaktion in der biographischen Reflexion nicht nur die Erfahrung mit dem Selbst bedeutet, sondern auch die Interaktion mit anderen und mit der Welt. Diese Trias strukturiert biographische Reflexionen und weist zugleich über diese hinaus: So können Biographien Lebenserfahrungen und Ereignisse thematisieren, die Bedeutung für andere erlangen. Bedeutungen, die über das biographische Subjekt hinausgehen. Die Biographie tritt dann selbst in Interaktion mit der Welt und ermöglicht bei aller Illusion doch die Konfrontation mit der „Nicht-Identität“34 im Anderen und das „Geltendmachen des Nicht-Identischen“35.
32 T. Schulze: Von Fall zu Fall, S. 34. 33 Fuchs, Thorsten: Bildung und Biographie. Eine Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung, Bielefeld: transcript 2011, S. 200, Herv. i.O. 34 Siehe dazu beispielsweise: Paetow, Björn-Peter: Nicht-Identität als Bezugspunkt von Bildungsprozessen. Eine interkulturelle Studie zum (Mahayana-)Buddhismus aus erziehungswissenschaftlicher Sicht, Bielefeld: Universität Bielefeld 2004. 35 Koller, Hans-Christoph: Bildung und Widerstreit: Zur Struktur biographischer Bildungsprozesse in der (Post-)Moderne, München: Fink 1999, S. 95ff.
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4.2 KONVERGENZ: BILDUNGSBEGRIFF UND BIOGRAPHIE Wie Alheit und Brandt in der Definition des modernen Formats der Biographie andeuten, wird eine enge, historisch gewachsene Verbindung zwischen Biographie und Bildung gesehen. Diese erweist sich als anthropologische Notwendigkeit und insbesondere in als unsicher empfundenen Zeiten als eine anthropologische Konstante: Die Fähigkeit, über das eigene Leben zu reflektieren und zu erzählen, ermöglicht den Entwurf vom Sinn des eigenen Lebens. Dabei werden Handlungen, Einstellungen und Gefühle an innere Entwicklungen und äußere Umstände gekoppelt. Biographischen Narrationen geht ein Moment der Besinnung voraus, der Vergangenes mit Gegenwärtigem verbindet und auch auf das Leben in der Zukunft weist. Der Mensch wird zum Gestalter und Erfinder seines Lebens im Moment des biographischen Erzählens und Reflektierens. Diesen Vorgang beschreibt beispielsweise Rahel Varnhagen: „Unsere Sprache ist unser gelebtes Leben; ich habe mir meines selbst erfunden, ich konnte also weniger Gebrauch, als viele andere, von den einmal fertigen Phrasen machen, darum sind meine oft holprig und in allerlei Art fehlerhaft, aber immer echt.“36 Rahel Varnhagen berichtet in ihrem Brief an Georg Wilhelm Bokelmann über die Erfindung des gelebten Lebens, die Erfindung der eigenen Biographie. Der Moment des Erfindens wird von ihr nicht als biographische Illusion verstanden, sondern als Notwendigkeit, den Sinn des Seins in der Welt durch und über die Sprache zu bestimmen. Rahel Varnhagen beschreibt den Prozess der Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben in der Sprache als ein Ringen, will man nicht auf „fertige Phrasen“ setzen, sondern auf „fehlerhafte“ und „holprige“ sprachliche Authentizität. „Unsere Sprache ist unser gelebtes Leben“ – dieser Satz zeigt exemplarisch die wechselseitige, mehrdeutige Konstitutionsbedingung des Biographischen in der reflexiven Auseinandersetzung des Menschen mit sich und seiner Welt. Sprache wird bei Varnhagen nicht lediglich als etwas Gegebenes gesehen, sondern als etwas, das gestaltet, das ohne das handelnde Subjekt nicht gedacht werden kann. Varnhagen beschreibt einen Prozess, der im modernen fachsprachlichen Vokabular der biographisch-orientierten Erziehungswissenschaft als Biographisierung bezeichnet wird: Die Reflexion der eigenen Lebensgeschichte, der Entwurf eines Selbstbildnisses, die Platzvergabe des eigenen Selbst im sozialen Umfeld, in der Gesellschaft und in der Historie.
36 Varnhagen, Rahel: Brief an Georg Wilhelm Bokelmann vom 2. Juli 1801, in: Rahel Varnhagen. Ein Lebensbild aus ihren Briefen, ausgewählt und eingeleitet von Curt Moreck, München: Georg Hirth’s Verlag, S. 46-49, hier S. 49.
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Über das Erzählen seiner Lebensgeschichte wird der Mensch zum sprachlich-reflexiven Konstrukteur seiner Biographie. 37 „Was wir einmal waren, wie wir uns entwickelten und zu dem wurden, was wir sind, erfahren wir daraus, wie wir handelten, welche Lebenspläne wir einst fassten, wie wir in einem Beruf wirksam waren. … Kurz, es ist der Vorgang des Verstehens, durch den das Leben über sich selbst in seinen Tiefen aufgeklärt wird, und andererseits verstehen wir uns selbst und andere nur, indem wir unser erlebtes Leben hineintragen in jede Art von Ausdruck eigenen und fremden Lebens.“38
So beschreibt Dilthey den biographie-inhärenten Zusammenhang seiner Prämissen „Erleben, Ausdruck und Verstehen“ und erhebt diese reflexiven Parameter zum Gegenstand der Geisteswissenschaften.39 Diese Idee wird beispielsweise von Marotzki aufgenommen, der unter Bezugnahme auf Dilthey Bildung als einen „reflexiven Modus des menschlichen In-der-Welt-Seins“40 definiert und einen direkten Zusammenhang zwischen Biographie, biographischem Erzählen und Bildung herstellt. Marotzki sieht wie Dilthey die Entwicklung von Sinn und Bedeutung als konstitutiv für das menschliche Leben an. Sinn und Bedeutung kann dem Leben über den Weg der „Biographisierung“ verliehen werden: „Sinn wird für Wilhelm Dilthey mit Hilfe des Mechanismus der Zusammenhangsbildung hervorgebracht. Die Zusammenhangsbildung ist eine Gesamtordnungsleistung, durch die Beziehungen zwischen Teilen und einem Ganzen beständig hergestellt und in neuen biographischen Situationen überprüft bzw. modifiziert werden. Diese Form der bedeutungsordnenden, sinnherstellenden Leistung des Subjektes wird Biographisierung genannt.“41
37 Siehe dazu ausführlicher: Alheit, Peter/Dausien, Bettina: „Biographieforschung in der Erwachsenenbildung“, in: Krüger/Marotzki, Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung (2006), S. 431-457; Fischer Wolfram/Kohli, Martin: „Biographieforschung“, in: Wolfgang Voges (Hg.), Methoden der Biographie- und Lebenslaufforschung, Opladen: Leske + Budrich 1987, S. 25-49; Marotzki, Winfried: „Bildungsprozesse in lebensgeschichtlichen Horizonten“, in: Hoerning, Biographieforschung und Erwachsenenbildung (1991), S. 182-205; Schulze, Theodor: „Biographieforschung in der Erziehungswissenschaft – Gegenstandsbereich und Bedeutung“, in: Krüger/Marotzki, Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung (2006), S. 35-58. 38 Dilthey, Wilhelm: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Band 7, 6. Auflage, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1973, S. 87. 39 Vgl. ebd. 40 W. Marotzki: Bildungstheorie und Allgemeine Biographieforschung, S. 61. 41 Ebd., S. 62-63, Herv. i.O.
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4.2.1 Kontinuität: Zur Relevanz von Bildung und Biographie in der erwachsenenbildnerischen Diskussion Dem biographischen Subjekt, seiner Sprache, und Lebensgeschichte, seinen Lern-, Bildungs- und Biographisierungsprozessen widmet die Erwachsenenbildung verstärkt seit den 1980er Jahren ihre Aufmerksamkeit. So setzt sich zum Beispiel Tietgens in seiner „zentrale[n], umfassendste[n] und theoretisch ambitionierteste[n] Studie“42 „Erwachsenenbildung als Suchbewegung“ von 1986 mit der Bedeutung der Biographie auseinander.43 Spätestens mit dieser Veröffentlichung sei die Biographieforschung eine der relevanten Forschungszweige zum Lehren und Lernen und damit zur Bildung Erwachsener, so Kade und Nolda im Jahr 2015.44 Tietgens „Annäherungen an eine Wissenschaft von Erwachsenenbildung“ setzen sich mit dem Zusammenhang von Angeboten der Erwachsenenbildung und der Relevanz der Biographie auseinander. Tietgens diagnostiziert, dass Suchbewegungen, die auf Erwachsenenbildung gerichtet sind, „eine Vorgeschichte“ vorausgeht, die im biographischen Kontext – Tietgens bezeichnet dies als „lebensgeschichtliche Entwicklung“ – verortet werden kann.45 Damit berücksichtigt er in seinem Ansatz der Suchbewegung, dass Handlungen eine individuelle Vorgeschichte haben, welche sich auf gegenwärtiges Handeln und zukünftige Handlungsabsichten auswirken. Das Suchen wird dann zu einer „Bewegung auf Bildung“ 46, wenn der Mensch „an sich selbst in der Auseinandersetzung mit einer unabgeschlossenen Welt“ 47 arbeitet und Lernen im „lebensgeschichtlichen Relevanzsystem“48 stattfindet.
42 Kade, Jochen: „Erwachsenenbildung als (biographische) Suchbewegung“, in: Wiltrud Gieseke/Joachim Ludwig (Hg.), Hans Tietgens. Ein Leben für die Erwachsenenbildung. Theoretiker und Gestalter in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dokumentation des Kolloquiums am 23.10.2009 an der Humboldt-Universität zu Berlin (= Erwachsenenpädagogischer Report, Band 16), Berlin: Abteilung Erwachsenenbildung/Weiterbildung der Humboldt-Universität zu Berlin 2011, S. 119-124, hier S. 119. 43 Tietgens, Hans: Erwachsenenbildung als Suchbewegung. Annäherung an eine Wissenschaft von der Erwachsenenbildung, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 1986. Siehe auch: Tietgens, Hans: „Ein Blick der Erwachsenenbildung auf die Biographieforschung“, in: Hoerning, Biographieforschung und Erwachsenenbildung (1991), S. 206-223. 44 Kade, Jochen/Nolda, Sigrid: „Lernen und Bildung im Kontext von Biografie und Lebenslauf“, in: Zeitschrift für Weiterbildungsforschung – Report 38 (2015), S. 3-5, hier S. 1. 45 H. Tietgens: Erwachsenenbildung als Suchbewegung, S. 101, Herv. i.O. 46 Ebd., S. 14. 47 Ebd., Herv. i.O. 48 Ebd., S. 9, Herv. i.O. Vgl. J. Kade: Erwachsenenbildung als (biographische) Suchbewegung, S. 96.
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Bildungsprozesse „vollziehen sich ... im Suchen und Finden eines zwar gesellschaftlich eingebundenen und einengenden, aber individuellen Weges“49, schreibt Tietgens und bindet seinen Bildungsbegriff sowohl an die „soziale Selbstverpflichtung“50 des Erwachsenen als auch an die „Balance individueller und sozialer Identität“51. Bildung ist für Tietgens das Werkzeug „der Reflexivität und Identität“ im Prozess der Selbstvergewisserung und der Selbstverantwortung anderen gegenüber: „Wenn Bildung im hier entwickelten Rahmenkonzept als Arbeit des Menschen an sich selbst und als Sich-Einlassen auf den anderen ... umschrieben ist, so bedeutet dies immer auch Arbeit an Widersprüchlichem, das nicht aufzulösen ist, für das nur Formen des Umgangs gefunden werden können, die eine relative Vereinbarkeit des Kooperationsfeldes ermöglichen.“ 52
Im Prozess von Selbstvergewisserung und Identitätsentwicklung konstatiert Tietgens ein Phänomen, das er als „Zwischenbewegungen“53 bezeichnet, welches er im begrifflichen Konstrukt von Identität bemerkt. Diese Zwischenbewegungen sind notwendig, da Bildung und Identität im Kontext reflexiver Suchbewegungen nicht von einer zielführenden Bewegung oder Deutungen der Welt von außen, sondern „lebensgeschichtlich geprägt“54 sind. Insbesondere Erwachsene erfahren im Bildungsprozess, dass es eine Mehrdeutigkeit von Perspektiven auf die Welt und das eigene Selbst gibt. Die Auseinandersetzung mit dieser Mehrdeutigkeit, die vom Erwachsenen als Verunsicherung empfunden werden kann, findet in der Rückbindung an das „lebensgeschichtliche Relevanzsystem“ und an „Erwartungen“ 55 statt. Dabei wird von Tietgens auch die Möglichkeit des Misslingens mitgedacht: „Insofern Selbstverantwortlichkeit und Reflexivität die zentrierenden Kennzeichen von Erwachsenheit und von Bildung sind, ist die Möglichkeit des Misslingens impliziert. Dabei vollziehen sich das Suchen und das Finden in unterschiedlichen Formen menschlicher Betätigung und Besorgnis. Es ist ein vielschichtiger, dynamischer Prozess, der Veränderungen mit sich bringt, die teils angezielt werden, teils aber auch mitgängig sind und Hemmungen und Widerstände mit sich bringen.“56
49 H. Tietgens: Erwachsenenbildung als Suchbewegung, S. 91, Herv. i.O. 50 Ebd., S. 90. 51 Ebd., S. 92, Herv. i.O. 52 Ebd., S. 95, Herv. i.O. 53 Ebd., Herv. i.O. 54 Ebd. 55 Ebd., S. 89. 56 Ebd., S. 96, Herv. i.O.
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Kade fasst die Relevanz des Biographischen aus der Sicht von Tietgens für die Erwachsenenbildung zusammen: „In der ‚Erwachsenenbildungsrealität‘ – so das Credo von Hans Tietgens in den ‚Suchbewegungen‘ – steht das ‚Subjekt eines verunsicherten Handelns im Mittelpunkt. Oder sollte dies jedenfalls. Es kann in seinen Lernbewegungen nur aus seinem biographischen Zusammenhang verstanden werden. Auf ihr [sic!] ist alle Didaktik zu beziehen‘ ....“57
Tietgens betont die Bedeutung des Biographischen sowohl für Erwachsenenbildungsangebote als auch für die individuellen Bildungsprozesse. Er stellt einen Bildungsbegriff in den Mittelpunkt, der nicht zweckgebunden und zweckerfüllend ist, sondern an humanistischen Parametern wie „Individuum“58, Selbstverantwortlichkeit“59 und „sozialer Verpflichtung“60 bei gleichzeitiger sozialer und biographischer „Verengung“61 festhält. Damit bindet er Bildung als einen individuellen Prozess in soziale und gesellschaftliche Kontexte ein. Interessant an seinen Ausführungen zum Zusammenhang von Biographie und Erwachsenenbildung ist, dass er mit den Umschreibungen „Suchbewegung“ und „Zwischenbewegung“ sowohl auf den Orientierungs-, Irritations- und Misslingenscharakter von Bildungsprozessen als auch die Vielfalt von Deutungsprozessen von Welt und damit (auf jeden Fall indirekt) auf Aspekte von Mehrdeutigkeit in Biographisierungs- und Bildungsprozessen verweist. Während Tietgens bei der Bearbeitung der Dimensionen von Biographie und Erwachsenenbildung noch eindeutig zwischen Lernen und Bildung unterscheidet und die Relevanz des Bildungsbegriffs (auch für das Selbstverständnis der Erwachsenenbildung als Wissenschaft) hervorhebt, ist diese eindeutige Positionierung in neueren biographischen und bildungstheoretischen Studien in der Erwachsenenbildung nicht mehr erkennbar. Zu dieser Einschätzung kommt auch beispielsweise Maier-Gutheil, die in ihrem Aufsatz „Befunde empirischer Forschung und Perspektiven der Theorieentwicklung“ für „Lern- und Bildungsprozesse im Lebenslauf“ darlegt. Sie konstatiert: „Betrachtet man die vorliegenden Ausführungen zu den Lern- und Bildungsprozessen Erwachsener, drängt sich die Frage danach auf, ob es eine Differenz zwischen dem Lernen Erwachsener und Bildung gibt und inwiefern sie näher zu bestimmen wäre. Empirisch spielt diese Frage in den genannten Studien keine (explizite) Rolle. Mit dieser Zuspitzung wird eine Diskussion angespro-
57 J. Kade: Erwachsenenbildung als (biographische) Suchbewegung, S. 122-123. 58 H. Tietgens: Erwachsenenbildung als Suchbewegung, S. 95. 59 Ebd., S. 96. 60 Ebd., S. 90. 61 Ebd., S. 9.
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chen, die eher weniger, beziehungsweise fast gar nicht in der Erwachsenenbildung, dafür umso intensiver und beständiger in der allgemeinen Erziehungswissenschaft geführt wird […].“62
Hinweise darauf, warum es zu dieser fehlenden Auseinandersetzung in der Erwachsenenbildung gekommen ist und welche Folgen diese Nicht-Problematisierung der Unterscheidung zwischen Lern- und Bildungsprozessen in der Untersuchung von Biographien haben könnte, finden sich zum Beispiel in einem Aufsatz von Faulstich mit dem provokanten Titel „Verteidigung von ‚Bildung‘ gegen die Gebildeten unter ihren Verächtern“.63 Darin diagnostiziert Faulstich in historischer Rückschau für die Erwachsenenbildung einen Verlust „theoretischer Klarheit“ und eine „unaufhaltsame Destruktion moralischer Gewissheiten“.64 Diese Diagnose schlägt sich auch nieder in einer „Unübersichtlichkeit von Intentionen, Themen und Methoden der Erwachsenenbildung“.65 Ausschlaggebend für Faulstichs Einschätzung ist auch der Umgang der Erwachsenenbildung mit ihren „Leitbegriffen“66 „Bildung“, „Qualifikation“ und „Kompetenz“, der sich als Wechselspiel der Begrifflichkeiten gestalte und wenig zielführend gewesen sei. Keiner der Begriffe habe gehalten, was er versprochen habe, so Faulstich. Die leitbegriffliche Verortung der Erwachsenenbildung entpuppt sich nach Faulstich als eine „Diskussion der Erwachsenenbildungswissenschaft um eine Leerstelle wie um einen Brunnen, aus dem der Begriff Bildung immer wieder auftaucht.“67 Zum Füllen einer Leerstelle gesellen sich nach Einschätzung Faulstichs immer wieder Abgesänge auf den Bildungsbegriff und Versuche, ihn durch andere
62 Maier-Gutheil, Cornelia: „Lern- und Bildungsprozesse im Lebenslauf – Befunde empirischer Forschung und Perspektiven der Theorieentwicklung“, in: Zeitschrift für Weiterbildungsforschung – Report 38 (2015), S. 7-22, hier S. 13. Als explizit auf den Bildungsbegriff fokussierte Studien nennt sie für die Allgemeine Erziehungswissenschaft: Felden, Heide von: Bildung und Geschlecht zwischen Moderne und Postmoderne. Zur Verknüpfung von Bildungs-, Biographie- und Genderforschung, Opladen: Leske + Budrich 2003; T. Fuchs: Bildung und Biographie; H.-C. Koller: Bildung und Widerstreit; Marotzki, Winfried: Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie. Biographietheoretische Auslegung von Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesellschaften, Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1990; Nohl, Arnd-Michael: Bildung und Spontaneität. Phasen biographischer Wandlungsprozesse in drei Lebensaltern. Empirische Rekonstruktion und pragmatistische Reflexion, Opladen: Budrich 2006. 63 Faulstich, Peter: „Verteidigung von ‚Bildung‘ gegen die Gebildeten unter ihren Verächtern“, in: Report. Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung 49 (2002), S. 15-25. 64 Ebd., S. 15. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Ebd.
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Begriffe zu ersetzen. Insbesondere die Konstruktivismusdebatte in den 1990er Jahren setzt dem Bildungsbegriff dennoch kein Ende – trotz adjektivischer Zuschreibungen wie „veraltet“ oder „ausgezehrt“.68 Die gesellschaftlichen Trends wie Individualisierung, Globalisierung, Neoliberalismus und die damit verbundenen Beschränkungen des Individuums sind für Faulstich eine „übermächtige Realität“, welche „Bildung als bloßes Postulat“, als eine „leere Hülse“ erscheinen lassen.69 Dennoch hält Faulstich ein Plädoyer für die Bildung, das auf die „historische Tradition des Begriffs Bildung“ und auf die „systematische Struktur im Verhältnis von Identität und Sozialität“ zurückgreift. 70 Faulstich schlägt folgende Definition von Bildung vor: „Bildung kann gefasst werden als immer wieder neue Aneignung von Kultur durch die einzelnen Menschen und ist eingebunden in die Kontinuität ihrer Biographien. Im Verlauf des Lebens entfaltet sich Persönlichkeit und gleichzeitig mit der individuellen Entfaltung von Identität erfolgt gesellschaftliche Verortung.“71
Bildung ziele in erster Linie auf „Selbstentfaltung“ und auf „Mündigkeit“ ab, die den Menschen für Faulstich unter Verweis auf Heydorn befähigt, „seiner selbst habhaft (zu) werden“72. Die Bezugnahme auf Heydorn ermöglicht Faulstich seinen Bildungsbegriff in einem dialektischen Verhältnis des Individuums mit sich und mit seiner Wirklichkeit, gekennzeichnet durch Herrschaft und Macht, zu verorten. Diese Dialektik führe zu einer Aktualität des Bildungsbegriffs, die nach wie vor darin bestehe, dass der Mensch mittels Bildung an Gesellschaft partizipieren und diese ändern kann. Gleichzeitig kann der Mensch selbstbestimmt leben. Bildung bedeute nach Heydorn auch Folgendes: „... Bildung intendiert, KS die Überwindung aller Verhältnisse, welche Menschen unterdrücken, entmündigen und verstümmeln. Ausgangspunkt des Nachdenkens ist die Möglichkeit einer Entfaltung der Menschen, nicht ihre Verwertbarkeit, ihre Qualifikation oder die Produktion oder gar der Profit.“73
68 Vgl. ebd., S. 15-16. 69 Ebd., S. 16. 70 Ebd. 71 Ebd. 72 Heydorn, Heinz-Joachim: Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1970, S. 7. 73 P. Faulstich: Verteidigung von „Bildung“, S. 16.
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Die Ausführungen Faulstichs veranschaulichen neben der Diffusität der erwachsenenbildnerischen Diskussion über den Bildungsbegriff auch exemplarisch die Dimensionen, die sich im Bildungsbegriff – sicherlich verschieden hinsichtlich ihres theoretischen Referenzrahmens – treffen. Zum einen wird Bildung als ein Vorgang begriffen, Faulstich wählt zum Beispiel die Begriffe „Aneignung“ und „Nachdenken“.74 Zum zweiten ist Bildung auf einen Inhalt ausgerichtet – Faulstich bestimmt diesen als „Kultur“75. Zum dritten werden mit Bildung Zielsetzungen verbunden – in Faulstichs Aufsatz sind es u.a. die Überwindung schlechter Verhältnisse, die Entfaltung sowie die Identität des Menschen und seine gesellschaftliche Verortung. Diese Grundparameter des Bildungsbegriffs „Vorgang“, Inhalt“ und „Ziele“ werden in der (erwachsenen-)bildungstheoretischen Diskussion semantisch und inhaltlich unterschiedlich gefüllt. Sie strukturieren auf der einen Seite die Diskussion um den Bildungsbegriff und ermöglichen auf der anderen Seite eine Vielfalt an Zuschreibungen und Zielsetzungen, die zum Beispiel Lederer in seinem Aufsatz „Der Bildungsbegriff und seine Bedeutungen – der Versuch einer Kompilation“ zusammenfasst.76 Dabei berücksichtigt er auch erwachsenenbildnerische Definitionen von Bildung und kommt zu dem Schluss: „Bildung kann über vielerlei Bedeutungen verfügen, verbindliche Definitionsversuche scheinen zum Scheitern verurteilt. […] Es nützt nämlich nichts, so das hier vorgetragene Plädoyer, Bildung einfach zu einem Unwort zu erklären, denn weder mit einem Verzicht auf den Begriff noch durch die Verwendung von Ersatzbegriffen lösten sich die genannten Fragen und Probleme einfach in Rauch auf. […] Vielmehr gilt, dass trotz oder sogar gerade wegen seiner Vieldeutigkeit der Bildungsbegriff aus pädagogischer Sicht durch keinen anderen Fachbegriff adäquat zu ersetzen ist.“77
Wie in der Auseinandersetzung um die Bedeutung von Lüge (vgl. Kapitel 2), Hochstapeln (vgl. Kapitel 3) und Biographie (vgl. Kapitel 4.1) ist auch die Diskussion um Definitionen und Notwendigkeiten von Bildung an zeitgeschichtliche Trends gekoppelt.78 Ein Blick zurück in die Begriffsgeschichte lässt verschiedene, zielgebundene
74 Ebd. 75 Ebd. 76 Lederer, Bernd: Der Bildungsbegriff und seine Bedeutungen. Der Versuch einer Kompilation, o.J., http://www. uibk.ac.at/iezw/mitarbeiterinnen/univ.-ass./bernd-lederer/derbildun gsbegriffundseinebedeutungen.pdf vom 9. April 2015. 77 Ebd., S. 6ff, Herv. i.O. 78 Vgl. C. Zeuner: Erwachsenenbildung. Begründungen und Dimensionen.
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semantische Spielräume von Bildung in der Gegenwart erkennen, die sich ergänzen, widersprechen oder bedingen79: • „Bildung als Selbstdenken, Selbstbestimmung, als Selbstaneignung“80 (damit ver-
bunden ist die Idee der Entwicklung eines autonomen, widerständigen Individuums, dessen Bildungsprozess auch im Dunkeln bleiben kann; • „Bildung im Sinne der Formung, Beeinflussung und Gestaltung“81 durch andere, die Wissen und Fähigkeiten im institutionalisierten Rahmen vermitteln; • Bildung als Aneignung eines (hoch-)kulturellen, historisch gewachsenen Wissenskanons.82 Meueler beschäftigt sich mit dem der Bildung aufgrund ihrer semantischen Mehrdimensionalität inhärenten Widerspruch. Er löst ihn, indem er Subjektentwicklung als weiteren (wesentlichen) Bestandteil von Bildung erachtet, welche in diesem Widerspruch zustande kommt und in historische Kontexte und die Lebenssituation des Subjektes eingebettet ist: • „Bildung zum Subjekt erfolgt dann, wenn es zum Wachstum all jener Kräfte, Fä-
higkeiten und Fertigkeiten, zur Zunahme von Kenntnissen, Einsichten und Einstellungen kommt, die die bloße Funktionalität übersteigen.“83 Der Widerspruch setzt sich für Meueler im Subjektbegriff fort und wird gleichzeitig durch die im Widerspruch gebundene ‚Wechselwirkung‘ aufgehoben. Dies zeigt exemplarisch die folgende Umschreibung des Subjektes bei Meueler: „Subjekte sind zum Guten wie zum Schlechten bereit. Sie scheinen immer unterworfen, aber auch zuweilen frei sein zu können […]. Es scheint so zu sein, dass die einzelnen immer fremd-
79 Lederer, Bernd: „Was ist Bildung nicht? Über Ähnliches, aber nicht Gleiches“, in: Bernd Lederer (Hg.), „Bildung“: was sie war, ist, sein sollte. Zur Bestimmung eines strittigen Begriffs. Fortführung der Diskussion, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2013, S. 11-55; Stojanov, Krassimir: Bildung und Anerkennung. Soziale Voraussetzungen von Selbst-Erkennung und Welt-Erschließung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006, S. 21-30. 80 Meueler, Erhard: Die Türen des Käfigs. Subjektorientierte Erwachsenenbildung, völlig überarbeitete und aktualisierte Neuauflage, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2009, S. 148, Herv. i.O. 81 Ebd., Herv. i.O. 82 Vgl. K. Stojanov: Bildung und Anerkennung, S. 66. 83 E. Meueler: Die Türen des Käfigs, S. 149, Herv. i.O.
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bestimmt, aber auch zuweilen selbstbestimmt handeln, immer unbewusst, aber auch zuweilen bewusst oder sogar selbstbewusst. Schließlich verfügen sie über eine Fähigkeit, die nur der menschlichen Gattung zu eigen ist, sich nämlich zu sich selbst verhalten zu können, Bewusstsein von dem zu haben, was sie sagen und was sie tun. ‚Sie können Sprache und Strukturen reflektieren, sie können ‚alte Spielregeln‘ willentlich verletzen und neue erfinden‘ (Rüb, 1989), wenn auch diese Reflexionen und Erfindungen ihre unbestreitbaren objektiven Ausgangs- und Rahmenbedingungen und unbewusste Anteile haben.“84
Das spezifisch Irritierende am Bildungsbegriff, das ihn zum ambivalenten Leitbegriff in der Erwachsenenbildung und in der Erziehungswissenschaft werden lässt, ist die wechselseitige Ausrichtung einerseits am Bildungssubjekt sowie an seinen subjektiven Bildungsprozessen und anderseits an dem gesellschaftlich gesetzten Anspruch tradierte, kulturell entstandene Wissensbestände zu vermitteln. 85 Gleichzeitig soll das Subjekt gegen diese (herrschaftsorientierten) Vermittlungsansprüche rebellieren oder sie zumindest kritisch hinterfragen, um sich mittels Bildung als ein autonom handelndes Subjekt zu begreifen. Diesen spannungsreichen Prozessen begegnen die verschiedenen bildungstheoretischen Ansätze auf unterschiedliche Art und Weise. Am deutlichsten wird die facettenreiche Auslegung von Bildung beispielsweise bei der Gegenüberstellung geisteswissenschaftlicher und konstruktivistischer bildungstheoretischer Ansätze: So geht die klassische geisteswissenschaftliche Pädagogik von einer Homogenitätsannahme zwischen der Entwicklung des Subjektes und der Aneignung kultureller Wissensbestände aus. Konstruktivistische Ansätze fokussieren hingegen auf die autopoietische Leistung des Subjektes im Bildungsprozess und negieren in ihrer radikalsten Ausprägung einen pädagogisch vermittelbaren (homogenen) Zugang zu Wissen und Welt. Wie beispielsweise Pongratz in seiner Auseinandersetzung mit der Konstruktivismusdebatte in der Erwachsenenbildung zeigt, spielen zeitdiagnostische Trends in der Moderne auch eine Rolle bei der jeweiligen Auffassung zur Bedeutung von Bildung.86
84 Ebd., S. 76. Meueler bezieht sich auf Matthias Rüb: Totgesagte leben länger. Zwei Aufsatzsammlungen zum „Tod des Subjekts“. In: die tageszeitung vom 9. Januar 1989. 85 Stojanov, Krassimir: „Philosophie und Bildungsforschung: Normative Konzepte in qualitativ-empirischen Bildungsstudien“, in: Ludwig A. Pongratz/Michael Wimmer/Wolfgang Nieke (Hg.), Bildungsphilosophie und Bildungsforschung, Bielefeld 2006: Janus, S. 6685, hier S. 74. 86 L.A. Pongratz: Zeitgeistsurfer, S. 87-116. Siehe auch zum Beispiel: Zeuner, Bodo: „Politische Erwachsenenbildung jenseits der Emanzipation? Bemerkungen zum Konstruktivismus-Streit“, in: Bardo Heger/Klaus-Peter Hufer (Hg.), Autonomie und Kritikfähigkeit. Gesellschaftliche Veränderungen durch Aufklärung, Schwalbach am Taunus: Wochenschau Verlag 1998, S. 65-77.
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Besonders deutlich wird dies an der Abkehr von geisteswissenschaftlichen Ansätzen, deren Dominanz in den späten 1960er Jahren zu schwinden beginnt und der gesellschaftlich-kritische Ansätze folgen. Diese wiederum werden mit einer diagnostizierten fortschreitenden Pluralisierung und Individualisierung als veraltet stigmatisiert. Dies hat zur Folge, dass – insbesondere in der Erwachsenenbildung – konstruktivistisch-philosophische Ansätze Einzug in die Bildungsdebatte halten. Wie Lederer in seiner Kompilation zusammenträgt, hat sich keine dieser Richtungen aus dem erziehungswissenschaftlichen Diskurs verabschiedet.87 Stojanov konstatiert als kleinsten gemeinsamen Nenner, dass „gerade das fortgesetzte Festhalten an die Vorstellung eines übergreifenden kulturellen Kanons und der Versuch, die pluralisierten Wirklichkeitsdeutungsmuster der Akteure in diesen Kanon hineinzupressen, […] Subjektentwicklung beeinträchtigen können“88 – und damit auch den Diskurs um den Bildungsbegriff. Die Reduzierung der Auseinandersetzung des Subjektes mit seiner Umwelt auf einen lediglichen Selbsterhaltungstrieb, wie ihn konstruktivistische Ansätze vornehmen, hat zur Folge, dass der Moment der Wahl bei der Deutung von Wirklichkeit verloren geht. Pongratz, der in diesem Zusammenhang auf Adorno und Autoren ästhetischer Bildung verweist, sieht aber gerade darin einen wesentlichen Bestandteil von Bildung: „Die Erfahrung des Nichtidentischen, die mehr sein will als Feststellung oder Entwurf, enthält zuvorderst ein mimetisches Moment. Ihr Wahrheitskriterium ist nicht die adaequatio rei ad intellectum, sondern Affinität, zärtliche Mimesis, Hingabe an die Dinge. Ihr Verfahren ähnelt der ästhetischen Anschauung: Der Erfahrende riskiert die Selbstpreisgabe an eine fremde Sache, die dadurch erst seine eigene wird. Dieser Gedanke des ‚Loslassens‘ widerstreitet implizit dem evolutions- und systemtheoretischen Dogma der Selbsterhaltung. Autopoietische Systeme hingegen haben keine Wahl: ihnen bleibt einzig die Rolle des Demiurgen. Bildende Erfahrung aber weiß um ihre Nähe zu anderen Formen schöpferischer Gestaltung: besonders zur ästhetischen Produktion.“89
Entgegen den „Zeitgeistsurfern“ hebt Pongratz die Bedeutung kritischer Erwachsenenbildung auch für das Aufspüren von „Widersprüchen“ und „blinden Flecken“ 90 hervor, rekurriert auf Walter Benjamin und beschreibt die ästhetischen Dimensionen von Bildung in „Passagen“:
87 Vgl. B. Lederer: Der Bildungsbegriff und seine Bedeutungen. 88 K. Stojanov: Philosophie und Bildungsforschung, S. 75. 89 L.A. Pongratz: Zeitgeistsurfer, S. 82. 90 Ebd., S. 7.
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„Bildung gewinnt ihre aktuelle Gestalt als ‚Bildung in Passagen‘. [...] In diesem Sinn erweist sich die Passage als Übergangskonstellation zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Bewusstem und Unbewusstem, zwischen gesellschaftlicher Allgemeinheit und individueller Besonderheit. Passagen, Zwischentexte, Übergänge werden zum Sinnbild eines kritischen Bildungsverständnisses, das sich als ‚Überschreitung‘ manifestiert: Es konzentriert seine ganze Aufmerksamkeit immer wieder darauf, das Seiende als Text seines Werdens zu dechiffrieren.“91
Diese Überlegungen erweisen sich meiner Ansicht nach als anschlussfähig für den Zusammenhang von (Erwachsenen-)Bildung und Biographie: Auch Biographien sind Texte des Seienden und sollen Optionen für das Werdende geben, sie versprachlichen den Übergang zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Bewusstem und Unbewusstem, zwischen gesellschaftlicher Allgemeinheit und individueller Besonderheit. Sie sind Ort und Passage von mehrdeutigen, nicht-identischen Bildungsprozessen, die neben der kritischen Auseinandersetzung mit der Welt auch eine ästhetische Dimension haben. Wie es zu Beginn dieses Kapitels Rahel Varnhagen beschreibt, ist die Versprachlichung des Lebens auch immer die Konfrontation mit dem Nicht-Identischen, will man sich nicht den Stereotypen ergeben, sondern sein Leben erfinden. Das Erfinden des Lebens impliziert einen subjektiven Zugang zur Welt, allerdings, und darauf verweist kritische Bildungstheorie, nicht ohne gesellschaftliche Parameter und einen kritischen Umgang mit diesen. Die „Überschreitung“92 von Perspektiven wird in der biographisch-orientierten Erziehungswissenschaft im Phänomen der „Bildungsgestalten“93, „Transformationen“94 oder „Wandlungsprozesse“95 gefasst: Diese konstituieren sich in der biographischen Reflexion, schlagen sich in der biographischen Erzählung nieder und lassen so von einer außenstehenden Perspektive die Möglichkeit zu, Bildungsprozesse zu untersuchen, deren Ergebnisse sich auch auf theoretische Überlegungen rückbeziehen lassen. Diese Dimensionen kann meines Erachtens nur ein Begriff wie Bildung berücksichtigen, auch wenn er irritiert oder als „Container-Wort“96 stigmatisiert wird.
91 Ebd., S. 85. 92 Ebd., S. 5. 93 W. Marotzki: Morphologie eines Bildungsprozesses, S. 85. 94 Zum Beispiel: Friedrichs, Werner/Sanders, Olaf: Bildung/Transformation. Kulturelle und gesellschaftliche Umbrüche aus bildungstheoretischer Perspektive, Bielefeld: transcript 2002. 95 Zum Beispiel: A.-M. Nohl: Bildung und Spontaneität. 96 Lenzen, Dieter: „Lösen die Begriffe Selbstorganisation, Autopoiesis und Emergenz den Bildungsbegriff ab? Niklas Luhmann zum 70. Geburtstag“, in: Zeitschrift für Pädagogik 43 (1997), S. 949-968, hier S. 949.
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Mich interessieren insbesondere die Ambivalenzen, das Nicht-Identische, das Überschreiten von Perspektiven, die Zwischen- und Suchbewegungen sowie die krisenhaften Situationen von Bildungsprozessen und ihre (narrative) Darstellung und Reflexion in Biographien, da sich diese Zuschreibungen alle auch in der Rolle des Hochstaplers vereinen. Zu fragen ist deshalb, ob und wie Bildungsprozesse erfasst werden können, in denen Individuen aufgrund reflexiver Auseinandersetzung mit ihrem Selbst- und Weltverhältnis eine Wandlung zum Hochstapler eingehen. Kann man von einer für Bildungsprozesse relevanten Wandlung sprechen, wenn diese in sich die Dimensionen des Lügens und Täuschens trägt, um ein anderes Welt-Selbst-Verhältnis eingehen zu können? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, werden im Folgenden Ansätze und Beispiele von erziehungswissenschaftlichen Biographieforschern vorgestellt, die sich zum einen mit widersprüchlichen, ambivalenten und brüchigen Bildungsprozessen beschäftigen und zum anderen ihre theoretischen Ansätze anhand von Beispielen verdeutlichen, die Parallelen zum Hochstapler aufweisen bzw. explizit auf diesen eingehen. Ich beginne mit Marotzki, der sich mit der von Frankenstein geschaffenen Kreatur einem Lebewesen widmet, das sich bei der Konstitution seiner Biographie und Identität vielfältigen Problemen gegenübersieht (vgl. Kapitel 4.2.2). Im Anschluss daran stelle ich Kollers Interpretation von Kafkas „Brief an den Vater“ vor, der damit darauf aufmerksam macht, dass sich Transformationen von Welt- und Selbst-Verhältnissen möglicherweise auch dann zeigen können, wenn sich der Konflikt, welcher einer Reflexion des Selbst-Weltverhältnisses auslöst, als nicht lösbar für das Individuum erweist (vgl. Kapitel 4.2.3). In Kapitel 4.2.4 beschäftige ich mit Alheits Beispiel des Hochstaplers Arnaud du Tilh, welches dieser nutzt, um seine Ausführungen zu Biographie, Bildung und Biographizität zu illustrieren. Indem ich nach der Darstellung der jeweiligen Beispiele und der Eckpunkte der verschiedenen bildungstheoretischen Ansätze von Marotzki, Koller und Alheit eine kritische Reflexion vornehme, kann ich Probleme bei der Erfassung und Rekonstruktion von Bildungsprozessen aufzeigen, die ich in Kapitel 5 als Ausgangspunkte aufgreife, um auf das Phänomen von Interferenz und gebrochenen Bildungsgestalten in Bildungs- und Biographisierungsprozessen aufmerksam zu machen. Mit dieser Auswahl an theoretischen Ansätzen und illustrativen Beispielen fokussiere ich auf den Gegenstand dieser Arbeit – Lügen, Täuschen, Hochstapeln und ihre Bedeutung für Bildungs- und Biographisierungsprozesse – und stelle mich der Frage nach dem Zusammenhang von Theorie und Empirie von einem spezifischen, am Forschungsgegenstand orientierten Blickwinkel aus. Ausführliche Darstellungen zu dieser Problematik des bildungstheoretischen Diskurses innerhalb der Biographiefor-
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schung finden sich zum Beispiel bei Alheit und Dausien, Cloer, Fuchs, Koller, Nohl, Marotzki oder von Rosenberg.97 4.2.2 Kollisionen: Frankensteins Kreatur – Marotzkis Beispiel für die Auswirkungen von mangelnder Synchronizität und mangelnder Diachronizität in Bildungsprozessen In seinem Aufsatz „Bildungstheorie und Allgemeine Biographieforschung“ fragt Marotzki, ob sich das Leben einer diachronen und einer synchronen Ordnung füge und diskutiert die von ihm ausgemachten und ebenso benannten Reflexionsformate von Bildungsprozessen am Beispiel der Verfilmung des Romans „Frankenstein, or the modern Prometheus“ von Mary Shelley. 98 Ausgangspunkt für Marotzkis Interpretation der Reflexionsprozesse der von Viktor Frankenstein geschaffenen Kreatur ist folgende These: „Sie [die Kreatur, KS] hat jedoch keine individuelle und/oder kollektive Geschichte und demzufolge keine Identität. Diese Kreatur ringt sowohl um Erinnerung (diachroner Aspekt) als auch um Anerkennung durch einen Partner (synchroner Aspekt), somit um Lebenssinn, […].“99
Diese Annahme untersucht Marotzki am Beispiel dieser Szene aus dem Spielfilm: „K: ‚Du hast mir Kraft und Gefühle gegeben, aber ich weiß nicht, wie man damit umgeht. ...‘ V.F.: ‚Etwas kämpft in meiner Seele, was ich nicht verstehe.‘
97 Vgl. P. Alheit/B. Dausien: Biographieforschung in der Erwachsenenbildung; Ernst Cloer: Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung und Allgemeine Erziehungswissenschaft. In: Forschungsfelder der Allgemeinen Erziehungswissenschaft, hrsg. L. Wigger, Opladen 2002, S. 123-127; T. Fuchs: Bildung und Biographie; H.-C. Koller: Bildung anders denken; A.-M. Nohl: Bildung und Spontaneität; Rosenberg, Florian von: Bildung und Habitustransformation. Empirische Rekonstruktionen und bildungstheoretische Reflexionen, Bielefeld: transcript 2011. Zusammenfassende Darstellungen finden sich beispielsweise bei Cloer, Ernst: „Pädagogisches Wissen in biographischen Ansätzen der Historischen Sozialisations- und Bildungsforschung“, in: Krüger/Marotzki, Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung (2006), S. 171-204; Nittel, Dieter: „Biographietheoretische Ansätze in der Erwachsenenbildung“, in: Rudolf Tippelt/Aiga von Hippel (Hg.), Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung, 5. Auflage, Wiesbaden: Springer VS 2011, S. 103-115. 98 W. Marotzki: Bildungstheorie und Allgemeine Biographieforschung, S. 67. 99 Ebd.
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K:
‚Was ist mit meiner Seele? Habe ich eine? Um diesen letztgenannten Teil hast Du Dich nicht gekümmert. Wer waren die Menschen, aus denen Du mich zusammengefügt hast? Gute Menschen? Böse Menschen?‘
V.F.: ‚Materialien, nichts weiter‘ K:
‚Du irrst! (Wendet sich nach rechts und nimmt eine Flöte, die er Viktor hinhält) Weißt Du, daß ich darauf spielen kann? In welchem Teil von mir wohnt dieses Wissen? In diesen Händen? In diesem Hirn? In diesem Herzen? Und Lesen und Sprechen; das sind doch nicht erlernte Dinge als vielmehr erinnerte.‘
V.F.: ‚Spuren von Erinnerungen im Gehirn vielleicht‘ K.:
‚Hast Du jemals die Konsequenzen Deiner Handlungen bedacht? Du hast mir das Leben gegeben, doch dann wolltest Du mich sterben lassen. (3 Sek.) Wer bin ich?‘
V.F.: ‚Du... (3 Sek.) Ich weiß es nicht!‘ K:
‚Und Du hältst mich für böse.‘
V.F: ‚Was kann ich tun?‘ K:
‚Es gibt etwas, das ich haben möchte: einen Freund.‘
V.F.: ‚Einen Freund?‘ K:
‚Einen Gefährten, ein Weib für mich, jemanden wie mich, damit sie mich nicht haßt.‘
V.F.: ‚Wie Dich? Oh Gott, Du weißt nicht, was Du da verlangst!‘ K:
‚Ich weiß, daß ich um des Mitgefühls eines einzigen Lebewesens Frieden mit allen anderen schließen werde. Ich habe Liebe in mir, von der Du keine Vorstellung hast und Wucht, wie sie Deinesgleichen nicht fassen würde.‘“100
Anerkennungsverweigerung (synchrones Reflexionsformat) und Erinnerungssuche (diachrones Reflexionsformat) führen nach Marotzki dazu, dass das „biographische Projekt“ der Kreatur „auf doppelte Weise gefährdet“ ist: Die Kreatur kann sich den Sinn ihres Lebens weder über die eigene Erinnerung noch über gesellschaftlich anerkannte biographische Zuschreibungen erschließen.101 Kontinuität und Kohärenz als wichtige Aspekte von Identitäts- und Biographisierungsprozessen können seiner Ansicht nach von der Kreatur während der Reflexion ihrer Lebensgeschichte nicht hergestellt werden. Es fehlen sowohl eigene Erinnerungen, die erklären können, wie sie wurde, was sie ist, als auch gesellschaftliche Verortungsmöglichkeiten wie zum Beispiel Familie oder Freunde, die zur Konstruktion der Lebensgeschichte beitragen. Die Fragen, die die Kreatur an ihren ‚Schöpfer‘ stellt, werden nicht beantwortet. Die Kreatur zählt für Marotzki zu den „künstlich vom Menschen erschaffenen Lebewesen“, die alle das „zentrale Problem mangelnder Diachronizität und/oder Synchronizität systematisch aufweisen“102. Beispielhaft zeige die von Frankenstein geschaffene
100 Ebd., S. 67-68. 101 Ebd., S. 68. 102 Ebd.
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Kreatur, „dass die Grundstruktur von Diachronizität und Synchronizität als Reflexionsmodi nicht ins Leere gehen dürfen, wenn Identität und damit eine Biographie konstituiert werden soll.“103 Eckpunkte des bildungstheoretischen Ansatzes von Marotzki Diachronizität und Synchronizität als Reflexionsmodi sind wesentliche Dimensionen in Marotzkis bildungstheoretischem Ansatz:104 „Bildungstheorie beschäftigt sich mit der zentralen reflexiven Verortung des Menschen in der Welt, und zwar in einem zweifachen Sinne: zum einen hinsichtlich der Bezüge, die er zu sich selbst entwickelt (Selbstreferenz) und zum anderen hinsichtlich der Bezüge, die er auf die Welt entwickelt (Weltreferenz). Bildung ist aus dieser Perspektive der Name für den reflexiven Modus des menschlichen In-der-Welt-Seins.“105
Die diachronen und synchronen Reflexionsmodi, die ineinandergreifen, werden vom Menschen während der Herstellung von Welt- und Selbstreferenzen vollzogen. Das diachrone Reflexionsformat ermöglicht die „Initiierung historischer Sinnbildungsprozesse“106, die sich sowohl auf erinnerte individuelle als auch kollektive Geschichten beziehen. Die eigene Geschichte und die kollektive Geschichte, gekoppelt an gesellschaftliche Strukturen und historische Entwicklungen, in denen sich der Mensch verorten kann, haben für den Menschen eine existentielle Bedeutung: „Der Mensch ist das, was er in Form seiner eigenen Geschichte für sein Leben hält. In Form von Geschichten entwerfen wir unsere Vergangenheit und unsere Zukunft stets neu. Ich und die Geschichte, die ich für mein Leben halte, sind nicht zu trennen. Identität ist eine geschichtenförmige Konstruktion, die als Selbsterzählung einer Person präsentiert wird.“107
Können Menschen im diachronen Reflexionsformat keine Kohärenz aufgrund mangelnder Erinnerung herstellen, „können sie die entscheidenden Fragen Woher komme ich? Wohin gehe ich? nicht für sich beantworten. Sie sind dann existentiell entwur-
103 Ebd. 104 Der von Marotzki festgestellte Mangel an Diachronizität und Synchronizität bei der reflexiven Auseinandersetzung der Kreatur mit seinem Selbst findet ihre ausführliche theoretische Grundlegung in seiner Habilitationsschrift; siehe W. Marotzki: Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie. 105 W. Marotzki: Bildungstheorie und Allgemeine Biographieforschung, S. 61. 106 Ebd., S. 65. 107 Ebd.
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zelt.“108 Auch das synchrone Reflexionsformat hat nach Marotzki eine existentielle Bedeutung und meint in erster Linie, dass sich die Reflexion des eigenen Lebens nicht ohne andere vollziehen kann. Kern des synchronen Reflexionsformats sei der Kampf um Anerkennung109, der in der Gegenwart stattfinde. Es ist also nicht nur die geschichtliche Rückschau, die Bildungsprozesse strukturiert, sondern auch der reflexive Blick des Subjektes auf seine gegenwärtige Situation, die geprägt ist vom Leben und Handeln mit anderen. Diese anderen können Fragen an die eigene Existenz beantworten und dieser Anerkennung verleihen: „Bildung, in diesem Sinne verstanden, wäre dann das Antworten auf die Infragestellung meiner selbst durch den Anderen, die Ausbildung einer ‚responsiblen Vernunft‘ (von Wolzogen 1997). Das ist der Kern des synchronen Reflexionsformats: ... Menschen brauchen nicht nur eine Geschichte, die sie fort- und umschreiben können, sie brauchen auch Anerkennung im Hier und Jetzt.“110
Mittels Reflexion stellt der Mensch Referenzen zu sich selbst und zur Welt her. Welt und Selbst werden von Marotzki nicht als unabhängige Kategorien gedacht, sondern werden vom Menschen perspektivisch gebunden, wahrgenommen, gedeutet und hergestellt. Für die Aufrechterhaltung oder Veränderung von Welt braucht er die anderen und die soziale Interaktion. Der Mensch erlangt durch die Anerkennung der anderen Selbstvergewisserung und kann sich in den gesellschaftlichen Gegebenheiten orientieren. Um Selbst- und Weltreferenzen herzustellen und aufrechterhalten zu können, bedarf es bei der Hinterfragung des eigenen Selbst die Antwort der anderen. Eines der entscheidenden Momente in Marotzkis Bildungsbegriff – die Reflexion – ist Bedingung und zugleich Ziel von Bildung. Doch auch wenn es der Anderen bedarf, um durch das Fremde das Eigene zu erfahren und Anerkennung zu erlangen, bleibt die Herstellung von Sinn bei Marotzki an die individuelle Leistung des Subjektes gebunden: „Das Subjekt verleiht seinen Wahrnehmungen Bedeutung im Prozess der immer schon ablaufenden Interpretation“.111 Ausgangspunkt seiner Überlegungen hinsichtlich der verschiedenen ineinandergreifenden Reflexions- und Referenzformate in der Veröffentlichung aus dem Jahr 2006 ist der „klassische Bildungsbegriff“, dem er ei-
108 Ebd., S. 66, Herv. i.O. 109 Marotzki spielt in diesem Kontext an auf A. Honneth: Kampf um Anerkennung. 110 W. Marotzki: Bildungstheorie und Allgemeine Biographieforschung, S. 66. Marotzki bezieht sich auf Wolzogen, Christoph von: „‚Mitvernunft‘ oder ungeladener Gast? Der Andere als widerständiges Problem der Bildungstheorie“, in: Lutz Koch/Winfried Marotzki/Alfred Schäfer (Hg.), Die Zukunft des Bildungsgedankens, Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1997, S. 83-100. 111 W. Marotzki: Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie, S. 38.
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nen – in der Aufklärung verorteten – „funktionalen oder utilitaristischen Erziehungsbegriff“ gegenüberstellt.112 Dieser Erziehungsbegriff dient der „gesellschaftlichen Ortszuweisung“113, von wo aus der Mensch seinen Dienst an und in der Gesellschaft leisten kann. Marotzki verdeutlicht, dass dieser funktionale Einsatz von Erziehung nicht auf Reflexion und Vernunft fußt. Unter Bezugnahme auf Durkheim verweist Marotzki auf dessen – im Zuge der Moderne immer häufiger auftauchendes – konstatiertes Phänomen der Anomie, welche das „Auseinanderfallen von individuellen Handlungen und gesellschaftlicher Bindungen“114 begrifflich fasst. Durkheim stellt in seiner Studie „Der Selbstmord“ von 1897 fest, dass Situationen als anomisch empfunden werden, wenn ein Wirrwarr an sozialen und moralischen Normen innerhalb einer Gesellschaft herrscht, die eigentlich als Orientierung dienen und der Integration in die Gesellschaft förderlich sein sollen. Dies führt dazu, dass individuelle Handlungen und gesellschaftliche Bindungen auseinander divergieren.115 Marotzki schlussfolgert daraus, dass die Herstellung von Sinn dem Menschen misslingt, wenn er nicht auf konsistente Ordnungen zurückgreifen kann und ihm aufgrund des anomischen Zustands die eigene Kraft fehlt. Die pädagogische Dimension in Durkheims Erklärungsansatz sieht Marotzki darin, „zu fragen, wie angesichts anomischer Zustände Orientierung für den einzelnen möglich sei.“116 Dies sei die entscheidende Frage, um die sich die erziehungswissenschaftliche Theoriebildung, empirische Analyse und pädagogisches Handeln drehen. Erziehung ist deshalb nach Marotzki funktional, weil sie selbst eingebunden ist in gesellschaftliche Zustände. Sie erzieht zur Verortung, Nützlichkeit, Brauchbarkeit und Funktionieren in Milieus, Gemeinschaften und Gesellschaften. Eine Flucht des Einzelnen aus diesen gesellschaftlichen Gemengelagen ist kaum möglich; Erziehung kann den Menschen nicht aus den anomischen Zuständen führen, sie selbst kann – radikalisiert gedacht – als anomischer Zustand erfahren werden. Im Gegensatz zur Erziehung setze Bildung, so Marotzki, „konsequent auf Reflexivität“.117 Im Mittelpunkt steht der reflexive Bezug des Menschen zu den Sozial- und Seinsformen. Orientierung in anomischen Situationen wird für ihn über Reflexionen möglich. Erziehung und Bildung werden von Marotzki unterschiedliche Möglichkeiten bei der Konstitution von Welt und Selbst zugeordnet: Der funktionale Erziehungsbegriff versteht Welt und Selbst als gegebene Kategorien, zu denen hin erzogen wird.
112 W. Marotzki: Bildungstheorie und Allgemeine Biographieforschung, S. 60. 113 Ebd. 114 Ebd., S. 61. 115 Vgl. Durkheim, Emile: Der Selbstmord, 13. Auflage, Frankfurt am Main. Suhrkamp 1983. 116 W. Marotzki: Bildungstheorie und Allgemeine Biographieforschung, S. 61. 117 Ebd.
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Über den „reflexiven Modus des In-der-Welt-Seins“ werden Welt und Selbst „erst hergestellt und über soziale Interaktionen aufrechterhalten oder verändert“.118 „Selbstvergewisserung“ und „Orientierung in gesellschaftlichen Verhältnissen“ entspringen für Marotzki der „Kraft der Reflexion“, die eine zweifache Verortung des Menschen in der Welt ermöglicht: „zu sich selbst“ und „auf die Welt“.119 Die individuelle Verortung in der Welt und im Selbst wird bei Frankensteins Kreatur zur Erfahrung eines anomischen Zustandes, aus dem nach Marotzkis bildungstheoretischen Überlegungen auch das reflexive Infragestellen des eigenen Daseins nicht hinausführt. Die Kreatur kann für sich keinen Sinn, keine Selbstvergewisserung herstellen, weil sie keine Antworten in der Erinnerung und in der sozialen Interaktion finden kann. Ist es deshalb aber auch für sie unmöglich, Transformationen aus der Reflexion des Welt- und Selbstverhältnisses zu vollziehen oder Wandlungsprozesse einzugehen? Transformation und Wandlungen sind für Marotzki Ziele von Bildungsprozessen, sie können allein durch Lernen nicht erreicht werden. Ein Extrem der Transformation ist gegeben, wenn „der einzelne gleichsam eine Welt gegen eine andere“ austausche.120 Mittels der Biographisierung (Aufarbeitung und Reinterpretation von Vergangenheit) gelangt das Subjekt zu der Erkenntnis, dass plausible Strukturen in der Vergangenheit eine Umorientierung erforderlich machen, die auch das eigene Selbst betreffen können. Aufgrund der Reflexion ist es dem Individuum möglich, Wandlungsprozesse einzugehen, die auf Änderungen gerichtet sind. Den Begriff der Wandlung übernimmt Marotzki von Schütze und schlussfolgert, dass sich die Deutungsstrukturen der Selbstauslegung, der Auslegung gesellschaftlicher Wirklichkeiten und der biographischen Entwürfe verändern.121 Diese drei Dimensionen bilden eine dialektische Einheit. Reflexion des Beispiels vor dem Hintergrund des bildungstheoretischen Ansatzes von Marotzki Vor dem Hintergrund seines bildungstheoretischen Ansatzes spricht Marotzki der von Frankenstein geschaffenen Kreatur ab, eine Identität zu haben, da sie weder über
118 Ebd. 119 Ebd. 120 W. Marotzki: Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie, S. 119; in Anlehnung an Berger, Peter/Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main: S. Fischer 1969. 121 Schütze, Fritz: „Prozeßstrukturen des Lebenslaufs“, in: Joachim Matthes/Arno Pfeiffenberger/Manfred Stosberg (Hg.), Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive. Kolloquium am Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum der Universität ErlangenNürnberg, 2., unveränderte Auflage, Nürnberg: Nürnberger Forschungsvereinigung 1981, S. 67-156.
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eine individuelle noch über eine kollektive Geschichte verfüge. Sie ringe daher um Erinnerung, Anerkennung und um Lebenssinn. Dennoch unternimmt die Kreatur den Versuch, über den Weg der Biographisierung ihrem Leben einen Sinn zu geben und sich in der Welt zu verorten. Während der Filmszene reflektiert sie sich und ihr Inder-Welt-Sein. Der von Marotzki konstatierte Mangel an Synchronizität und Diachronizität wird als Konflikt thematisiert und wandert damit sowohl in den Identitätsals auch in den Bildungsprozess mit ein. Zurückgeworfen auf sich selbst verortet sie sich narrativ und reflexiv in diesem Konflikt bzw. in diesem von Marotzki konstatierten Mangel. Im Moment des Erzählens konstruiert sich die Kreatur eine Identität, die von der Widersprüchlichkeit ihres Daseins bestimmt wird. Sie sucht nach Lösungen für diesen Konflikt. Deshalb würde ich eher davon sprechen, dass während der Sinn- und Identitätssuche die Intentionen bei der Zuschreibung von individuellen und kollektiven Geschichten kollidieren. Diese gestalten sich auf der synchronen Ebene als Anerkennungsverweigerung contra Anerkennungsbedürfnis. Ganz im Sinne eines reflexiven Modus des In-der-Welt-Seins stellt sich die Kreatur die Fragen: „Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wer bin ich?“122 Sie sucht auf diachroner Ebene nach Erklärungen für ihr Dasein und Handeln und fragt zum Beispiel, ob sie eine Seele hat, woher ihre Fähigkeit kommt, Flöte spielen zu können etc. Ihr Konflikt besteht auf diachroner Ebene darin, dass sie ihre Handlungen, Gefühle, Wissen und Fähigkeiten erkennt, sie aber nicht durch das Fremde der anderen in sich selbst verorten kann. Ihre Erinnerungen, wie es dazu kommen konnte, sind nicht an Ereignisse oder Personen angebunden, sind nicht erklärbar. Allerdings füllt sich ihr Erinnerungsspeicher im Laufe der Zeit ihrer Existenz: Die Frage, warum ich wurde, was ich bin, hat als einzigen Zufluchtspunkt für Antworten aus der nicht erinnerten Vergangenheit ihren Erschaffer, der sich jedoch den Antworten verweigert. Ähnlich wie ein adoptiertes Kind, das nach seinen leiblichen Eltern fragt, sucht die Kreatur nach den Menschen, aus denen sie zusammengefügt ist. Eine Antwort kann Frankenstein ihr nicht geben, für ihn sind es bloß Materialien, nichts weiter. Frankenstein verweigert auf die Frage der Kreatur – Wer bin ich? – die Antwort: „Ich weiß es nicht.“ Das Verhältnis zwischen Frankenstein und der Kreatur wird auch durch die unterschiedliche Zuschreibung von individuellen Merkmalen bestimmt. So hält Frankenstein seine Kreatur für böse, sie beschreibt sich aber selbst voller Liebe. Diese von der Kreatur hergestellte Selbstreferenz auf synchroner Ebene steht im Konflikt zur Weltreferenz: Die Kreatur bemerkt, dass ihr Identitätsgefühl der Liebe keine Anerkennung findet. Sie schlägt selbst eine Lösung des Konfliktes vor, indem sie Frankenstein dazu auffordert, ihr eine Partnerin zu schaffen, die so ist, wie sie selbst, „damit sie mich nicht haßt.“123
122 W. Marotzki: Bildungstheorie und Allgemeine Biographieforschung, S. 65, Herv. i.O. 123 Ebd., S. 68.
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Abschließend sei die Frage gestellt, ob das biographische Projekt der Kreatur wirklich ins Leere läuft, oder ob es nicht vielmehr von Widersprüchen und Konflikten bestimmt wird, welche sowohl zu Identitäts- und als auch zu gesellschaftlichen Anerkennungskonflikten führen. Diese wandern in die Lebensgeschichte der Kreatur ein und werden über die Reflexion an sie selbst gebunden. Somit ist nicht mangelnde Diachronizität und/oder Synchronizität das zentrale Problem, sondern die unterschiedlichen Intentionen und Wissensbestände bei der Zuschreibung von Geschichten, Fähigkeiten und Gefühlen. Die Referenzherstellungen des Subjektes – so zeigt das Beispiel – auf die Welt und auf sich selbst gelingen nicht problemlos, sondern sind von Widersprüchlichkeiten geprägt. Diese machen sich in der unterschiedlichen Zuschreibung von Merkmalen und Geschichten bemerkbar. Sie ist für das Subjekt problematisch, aber zugleich handlungseröffnend: Die Kreatur sucht für sich Lösungen, um aus der Vergegenwärtigung der Selbsthinterfragung sich selbst verorten zu können. Somit setzen sich gesellschaftliche Widersprüche in den Identitätsprozessen von Subjekten fort, führen jedoch meiner Ansicht nach nicht zu einem Nicht-Vorhandensein von Identität. 4.2.3 Schwankungen: Kafkas Brief an seinen Vater – Kollers Beispiel für den oszillierenden Charakter von Bildungsprozessen In dem von Benner herausgegeben Band „Erziehung – Bildung – Negativität“ untersucht Koller „Kafkas Brief an den Vater“ hinsichtlich der Frage, „ob und inwiefern im Blick auf diesen Brief von Bildung die Rede sein kann, d.h. wie in diesem Brief ein bestimmtes Welt- und Selbstverhältnis artikuliert und (möglicherweise) transformiert wird“.124 Kafka verfasst den über 100 Seiten langen, von Koller analysierten Brief im Jahr 1919 zunächst mit der Absicht, ihn seinem Vater zukommen zu lassen, nimmt allerdings im Laufe der Zeit davon Abstand, sodass der Brief seinen ursprünglichen Adressaten nie erreicht. Der Brief wird Anfang der 1950er Jahre von Brod veröffentlicht und gilt heute als eines der wichtigsten und zugleich ambivalentesten autobiographischen Texte von Kafka. Kafka beschreibt in dem Brief sein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater, das bestimmt ist von seiner eigen empfunden Schwäche und der psychischen und physischen Dominanz des Vaters. 125 Innerhalb der Erziehungswissenschaft gibt es vielfältige Interpretationen zu diesem Brief, Koller benennt zum Beispiel die Analysen von Mollenhauer, Oelkers oder
124 H.-C. Koller: Negativität und Bildung, S. 139. 125 Kafka, Franz: Brief an den Vater. Herausgegeben von Joachim Unseld, Frankfurt am Main: Fischer 1994.
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Rieger-Ladich.126 Von diesen möchte er sich abgrenzen, indem er Kafkas Brief nicht als autobiographischen Text heranzieht, in dem Erziehungs- und Bildungsprozesse der Vergangenheit bearbeitet werden, sondern indem er den Brief hinsichtlich der „Bildungsprozesse auf der Ebene des Erzähl- oder Schreibvorgangs selber“ betrachtet.127 Mit diesem Perspektivwechsel geht einher, dass Koller mit seiner Interpretation auf das biographische Subjekt, den Erzähler und dessen Erzählen fokussiert und nicht auf den Autor Franz Kafka. Die Wahl des Briefes begründet Koller damit, dass „in seinem Zentrum ein Konflikt steht, der sich ... als Bildungsproblem verstehen lässt“.128 Dieser Konflikt wird vom Erzähler als schwieriges Verhältnis zu seinem Vater beschrieben und von Koller unter Bezugnahme auf Kokemohrs und Marotzkis bildungstheoretische Ansätze als „Anlass oder Herausforderung für eine Transformation jenes Verhältnisses, in dem das schreibende Ich zur Welt und zu sich selber steht“, aufgefasst.129 Bevor Koller Bildungsprozesse quasi im Medium des Schreibens analysiert, geht er zunächst auf die verschiedenen Aspekte des im Brief thematisierten Vater-SohnVerhältnisses ein und erläutert sie mithilfe von Ausschnitten aus dem Brief. Zu den
126 Mollenhauer Klaus: Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und Erziehung, 3. Auflage, Weinheim/München: Juventa 1991, S. 9ff; Oelkers, Jürgen: „Kindheit als Glück und Geißel: Fontanes und Kafkas Erinnerungen im Vergleich“, in: Jürgen Oelkers (Hg.), Die Herausforderungen der Wirklichkeit durch das Subjekt. Literarische Reflexionen in pädagogischer Absicht, Weinheim/München: Juventa 1985, S. 21-53; Oelkers, Jürgen: „Väter und Söhne. Über Anklage, Mißverständnis und fehlenden Adressaten in der Erziehung“, in: Neue Sammlung 38 (1998), S. 533-553; Rieger-Ladich, Markus: „‚Schizoide Disposition‘ oder ‚gespaltener Habitus‘? Eine pädagogische Lektüre von Franz Kafkas Brief an den Vater“, in: Georg Mein/Markus Rieger-Ladich (Hg.), Soziale Räume und kulturelle Praktiken. Über den strategischen Gebrauch von Medien, Bielefeld: transcript 2004, S. 101-122. 127 H.-C. Koller: Negativität und Bildung, S. 140. 128 Ebd., Herv. i.O. 129 H.-C. Koller: Negativität und Bildung, S. 140. Siehe zur Bezugnahme zum Beispiel: Kokemohr, Rainer: „Bildung als Begegnung? Logische und kommunikationstheoretische Aspekte der Bildungstheorie Erich Wenigers und ihre Bedeutung für biographische Bildungsprozesse in der Gegenwart“, in: Otto Hansmann/Winfried Marotzki (Hg.), Diskurs Bildungstheorie. Rekonstruktion der Bildungstheorie unter Bedingungen der gegenwärtigen Gesellschaft, Band 2, Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1989, S. 327-373; Kokemohr Rainer: „Zur Bildungsfunktion rhetorischer Figuren. Sprachgebrauch und Verstehen als didaktisches Problem“, in: Hartmut Entrich/Lothar Staeck (Hg.), Sprache und Verstehen im Biologieunterricht, Alsbach: Leuchtturm-Verlag 1992, S. 16-30; W. Marotzki: Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie.
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Aspekten zählen: Furcht vor dem Vater, Milderung von Vorwürfen, Ablösungsversuche vom Vater.130 Diese Eckpunkte der Beziehung des Erzählers zu seinem Vater werden von Koller als scheinbare „Herausforderung zur Transformation des eigenen Welt-Selbstverhältnisses“ interpretiert.131 Scheinbar deshalb, weil sich nach Koller Schwierigkeiten ergeben, festzulegen, auf welche Welt-Selbst-Verhältnisse das Bildungsproblem treffe – im Sinne von Marotzki und Kokemohr auf interpretativer Ebene –, da sich zwischen dem Problem, seiner Vergegenwärtigung und den damit verbundenen Erwartungen „keine klare Trennlinie ziehen“ lässt.132 „Anders formuliert: das Welt- und das Selbstverhältnis ist selbst ganz von diesem Problem durchzogen, ja man könnte sogar sagen: das Welt- und Selbstverhältnis, der Erwartungshorizont ist selber das Problem, das nach einer Veränderung verlangt.“133 Dieses kommt, wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt, bei Marotzki nicht in den Blickwinkel bei der Betrachtung von Wandlungen, die sich mittels Bildung vollziehen können. Koller unterstützt seine These durch die auf der Erzählebene ausgemachte „Grundfigur einer dichotomen Gegenüberstellung von allmächtigem Vater und nichtigem Ich“134, die von entscheidender Bedeutung für Welt- und Selbstverhältnis ist: „Dieses Welt- und Selbstverhältnis ist für das Ich daher nicht nur unerträglich, also negationsbedürftig, sondern zugleich auch unentrinnbar, also negationsresistent“.135 Dies zeige sich insbesondere an den Ablösungsversuchen, die der Erzähler beschreibt: Sie erweisen sich als nicht geeignet, „weil sie selbst durch das Verhältnis zum Vater belastet sind.“136 Koller konstatiert eine „paradoxe Grundstruktur des Welt- und Selbstverhältnisses“137, die in sprachlicher Dichotomie vom Erzähler verbalisiert und von Koller mit dem folgenden Ausschnitt aus dem Brief belegt wird: „Hier beim Heiratsversuch trifft in meinen Beziehungen zu Dir zweierlei scheinbar Entgegengesetztes so stark wie nirgends sonst zusammen. Die Heirat ist gewiss die Bürgschaft für die schärfste Selbstbefreiung und Unabhängigkeit. Ich hätte eine Familie, das Höchste, was man meiner Meinung nach erreichen kann, also auch das Höchste, was Du erreicht hast, ich wäre Dir ebenbürtig, alle alte und ewig neue Schande und Tyrannei wäre bloss noch Geschichte. Das wäre allerdings märchenhaft, aber darin liegt eben schon das Fragwürdige. Es ist zu viel, so viel kann nicht erreicht werden. [...] Wenn ich in dem besonderen Unglücksverhältnis, in wel-
130 Vgl. H.-C. Koller: Negativität und Bildung, S. 140. 131 Ebd., S. 141. 132 Ebd. 133 Ebd. 134 Ebd., S. 142. 135 Ebd., Herv. i.O. 136 Ebd. 137 Ebd., S. 143.
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chem ich zu Dir stehe, selbstständig werden will, muss ich etwas tun, was möglichst gar keine Beziehung zu Dir hat; das Heiraten ist zwar das Grösste und gibt die ehrenvollste Selbständigkeit, aber es ist gleichzeitig in engster Beziehung zu Dir. Hier hinauskommen zu wollen, hat deshalb etwas von Wahnsinn und jeder Versuch wird fast damit gestraft. [...] So wie wir aber sind, ist mir das Heiraten dadurch verschlossen, dass es gerade Dein eigenstes Gebiet ist. Manchmal stelle ich mir die Erdkarte ausgespannt und Dich quer über sie hin ausgestreckt vor. Und es ist mir dann, als kämen für mein Leben nur die Gegenden in Betracht, die Du entweder nicht bedeckst oder die nicht in Deiner Reichweite liegen. Und das sind entsprechend der Vorstellung, die ich von Deiner Grösse habe, nicht viele und nicht sehr trostreiche Gegenden und besonders die Ehe ist nicht darunter.“138
Koller bemerkt anhand dieses Briefausschnittes eine „Negationsresistenz des Welt- und Selbstverhältnisses“139, was mit den theoretischen Ansätzen von Marotzki und Kokemohr die Konsequenz hätte, dass Bildungsprozesse in Form von Transformation dieses Selbst- und Weltverhältnisses nicht möglich bzw. nicht erkennbar wären. Trotz dieser paradoxen Ausgangslage unternimmt Koller jedoch den Versuch, Bildungsprozesse sichtbar zu machen. Ausgangspunkt dafür sind die von ihm zuvor konstatierten Fluchtversuche, die der Erzähler (Koller nennt ihn trotz seiner vorherigen Überlegungen weiterhin Kafka) unternimmt, um sich von seinem Vater zu lösen: „Hier war ich tatsächlich ein Stück selbständig von Dir weggekommen, wenn es auch ein wenig an den Wurm erinnerte, der, hinten von einem Fuss niedergetreten, sich mit dem Vorderteil losreisst und zur Seite schleppt. Einigermassen in Sicherheit war ich, es gab ein Aufatmen; die Abneigung, die Du natürlich gleich auch gegen mein Schreiben hattest, war mir hier ausnahmsweise willkommen. Meine Eitelkeit, mein Ehrgeiz litten zwar unter Deiner für uns berühmt gewordenen Begrüssung meiner Bücher: ‚Leg’s auf den Nachttisch!‘ […], aber im Grunde war mir dabei doch wohl, nicht nur aus aufbegehrender Bosheit, nicht nur aus Freude über eine neue Bestätigung meiner Auffassung unseres Verhältnisses, sondern ganz ursprünglich, weil jene Formel mir klang wie etwa: ‚Jetzt bist du frei!‘ Natürlich war es eine Täuschung, ich war nicht oder allergünstigsten Falles noch nicht frei. Mein Schreiben handelte von Dir, ich klagte dort ja nur, was ich an Deiner Brust nicht klagen konnte. Es war ein absichtlich in die Länge gezogener Abschied von Dir, nur dass er zwar von Dir erzwungen war, aber in der von mir bestimmten Richtung verlief.“140
138 F. Kafka: Brief an den Vater, S. 175f., zitiert in H.-C. Koller: Negativität und Bildung, S. 143. 139 H.-C. Koller: Negativität und Bildung, S. 144. 140 F. Kafka: Brief an den Vater, S. 160, zitiert in H.-C. Koller: Negativität und Bildung, S. 144.
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Koller schlussfolgert, dass das Schreiben den erfolgreichsten Fluchtversuch Kafkas darstelle, da mittels des Schreibens eine Bearbeitung des konfliktreichen Verhältnisses zum Vater erfolgt: „Diese Bearbeitung erlaubt es zwar nicht, das Verhältnis zum Vater außer Kraft zu setzen, aber doch, es in einem anderen Lichte zu betrachten, es in eine andere sprachliche Form zu bringen, es zu modalisieren“. 141 Die sprachliche Modalisierung des Welt-Selbst-Verhältnisses findet sich in dem Brief für Koller in drei Formen: erstens „die bloße Tatsache der schriftlichen Aufzeichnung“, zweitens „die Übertreibung“ als Form der Bearbeitung und drittens die „Metaphorisierung“.142 Insbesondere anhand der Metaphorisierung veranschaulicht Koller, dass es dem Erzähler gelingt, dem Vater-Sohn-Verhältnis einen „neuen Raum möglicher Bedeutungen“ zu geben.143 „Dieser Raum zeichnet sich auf dreierlei Weise aus: durch Übertreibung und Maßlosigkeit, durch potenzielle Mehrdeutigkeit sowie durch die Einführung einer fiktiven Dimension in die Betrachtungsweise.“144 Koller nimmt die Mehrdeutigkeit von sprachlichen Äußerungen in den Blick und schafft mit der Fiktion einen zusätzlichen Raum, in dem Transformationen stattfinden können. Damit ist Transformation nicht an vollzogenes Handeln mit anderen oder neue Konstruktionen von Sinn gebunden, sondern kann ohne realisierte Wandlungen und nur in Interaktion mit sich selbst stattfinden. Koller bezeichnet dies als „So-tun-als-ob“145, was sich besonders im metaphorisierten Sprachgebrauch oder mit dem Erfinden des fiktiven Gespräches zwischen Vater und Sohn am Ende des Briefes zeige. Er resümiert, dass sich die „eingangs skizzierte Auffassung von Bildung als Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen infolge ‚negativer‘ Erfahrung in zweierlei Hinsicht als begrenzt erwiesen hat“.146 Diese Begrenzung rühre daher, dass bei aller Reflexion des Welt-Selbst-Verhältnisses kein Ausweg daraus möglich sei, weil sich das bestimmende Problem als negationsresistent erweise, d.h. egal, welche Transformationsversuche unternommen werden, eine vollständige Wandlung kann nicht erfolgen. Die reflexive Auseinandersetzung führt das Individuum immer wieder zum ursächlichen Problem zurück, deshalb, „so wäre dieser Befund vorsichtig zu verallgemeinern, können Bildungsprozesse, KS also gerade dadurch erschwert oder verhindert werden, dass ein Welt- und Selbstverhältnis sich als negationsresistent erweist und noch in der Begegnung mit neuen Problemen zirkelartig nur seine eigene Bestätigung findet“.147
141 H.-C. Koller: Negativität und Bildung, S. 145. 142 Ebd., S. 145-146, Herv. i.O. 143 Ebd., S. 146. 144 Ebd. 145 Ebd. 146 Ebd., S. 147. 147 Ebd.
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Koller schlussfolgert weiter, dass Bildung, wie der Brief an den Vater zeige, „nicht unbedingt in einer Transformation bestehen muss, bei welcher das Neue in logischer Hinsicht eine absolute Negation des Alten ausmacht. [...] Bildungsprozesse [können] auch „die Gestalt einer oszillierenden Bewegung annehmen, deren Ausgang offen bleibt. ... Vielleicht hat Bildung, folgt man der sich im Brief an den Vater abzeichnenden Spur, gerade etwas mit dieser Art von Offenheit zu tun.“148 Eckpunkte des bildungstheoretischen Ansatzes von Koller Bei der Betrachtung von Bildung konzentriert Koller sich auf Prozesse, „in denen neue Sätze, Satzfamilien und Diskursarten hervorgebracht werden, die den Widerstreit offen halten, indem sie einem bislang unartikulierbaren ‚Etwas‘ zum Ausdruck verhelfen“.149 Insbesondere die Integration Lyotards postmoderner Auffassung von Sprache in seinen bildungstheoretischen Ansatz führt dazu, dass Koller Bildung in erster Linie als „einen sprachlichen Vorgang“ versteht, der losgelöst von einem spezifischen (außersprachlichen) Subjekt gedacht werden kann – „und zwar unabhängig davon, wer in diesen Sätzen als Sender in Erscheinung tritt“.150 In seiner „Theorie transformatorischer Bildungsprozesse“ nimmt er diesen Gedanken auf und koppelt ihn an den Begriff der Transformation, den er als „Veränderungsvorgang“ charakterisiert:151 „Denn Bildung … kann ebenfalls als ein Prozess der Erfahrung beschrieben werden, aus dem ein Subjekt ‚verändert hervorgeht‘ – mit dem Unterschied, dass dieser Veränderungsvorgang nicht nur das Denken, sondern das gesamte Verhältnis des Subjektes zu Welt, zu anderen und zu sich selber betrifft.“152
In Anlehnung an Kokemohr sei Bildung ein „Prozess der Transformationen grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses angesichts der Konfrontation mit neuen Problemlagen“.153 Insbesondere die Berücksichtigung des Ansatzes von Lyo-
148 Ebd., S. 148, Herv. i.O. 149 Koller, Hans-Christoph: „Bildung in der (Post-)Moderne. Bildungstheoretische Überlegungen im Anschluss an Lyotards Philosophie des Widerstreits“, in: Pedagogisch Tijdschrift 25 (2000), S. 293-317, hier S. 311. 150 Ebd., S. 311. 151 H.-C. Koller: Bildung anders denken, S. 9. 152 Ebd. 153 Ebd., S. 17; Kokemohr, Rainer: „Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Anspruch des Fremden. Eine theoretische Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie“, in: HansChristoph Koller/Winfried Marotzki/Olaf Sanders (Hg.), Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Bielefeld: transcript 2007, S. 13-68.
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tard führt bei Koller dazu, dass Bildung nicht mehr im Bewusstsein des Subjektes gedacht werden kann, sondern von der Sprache aus. Die durch Sprache hervorgebrachten – widerstreitenden – Sätze und Diskurse rücken in den Mittelpunkt bei der Rekonstruktion von Bildungsprozessen. „Aus dem Satz: Ich zweifle, folgt nicht, daß ich bin, es folgt vielmehr, daß es einen Satz gab“154, schreibt Lyotard und verabschiedet sich so mit diesem diskursiven Sprachspiel von Descartes Subjekt, das über den Zweifel seine Gewissheit findet: „Nicht das denkende oder reflexive Ich (je) hält der Prüfung des allumfassenden Zweifels stand […], sondern der Satz und die Zeit“. 155 Diese Aussage spitzt Koller für seinen bildungstheoretischen Ansatz zu, indem er davon ausgeht, dass außerhalb von Sätzen keine Instanz vorausgesetzt werden kann.156 Sprache kann ohne das Subjekt bestehen, das Subjekt aber nicht ohne Sprache. Es entsteht durch die Sprache, wird quasi mitproduziert. Deshalb beruht seine Analyse von Bildungsprozessen auf der Rekonstruktion von Diskursarten, Sprachspielen und letztlich dem einzigen „Faktum des Sich-Ereignen von Sätzen“.157 Die im Bildungsgeschehen angelegten Transformationsprozesse manifestieren sich bei Koller im sprachspielerischen Erfinden neuer Sätze und Diskurse. Das Subjekt kann sich aufgrund der widerstreitenden Diskurse, der vielfältigen Sprachspiele, der Heterogenität von Erkenntnis im Prinzip nicht als Ich denken. Sprache kann nicht der Wahrheitsfindung oder der Selbstvergewisserung dienen. Es sei denn, man begreift diese in ihrer Uneinholbarkeit. Pongratz merkt kritisch an: „Allein schon der Gedanke einer radikalen Heterogenität des Subjektes erscheint aus praktischen Gründen unhaltbar: Ein radikal plurales Subjekt hätte nicht nur keine Identität, sondern es verfügte auch nicht über ein Mindestmaß an Kohärenz.“158 Kollers Interesse gilt dementsprechend nicht der Kohärenz und Konsistenz, sondern der Ambivalenz von Bildungsprozessen im Rahmen sich widerstreitender Diskursarten. Durch die Bezugnahme auf Lyotard und auch auf Adorno ist ihm daran gelegen, Bildung in ihrer gesellschaftlichen Brüchigkeit zu betrachten. Die Ambivalenz und prinzipielle Offenheit von Bildung gelte es genau so anzuerkennen wie die sich im Widerstreit befindenden Diskurse. Der Widerstreit der Diskurse soll nicht durch Macht und Herrschaft entschieden werden, sondern der Ausgang soll offen gehalten werden. Dies geschieht, indem die widerstreitenden Diskurse einen oder mehrere neue Diskurse hervorbringen. Im Moment des Widerstreits entsteht das „Nicht-Sagbare“,159 das sich dann in einem neuen Diskurs ausdrücken kann. So schlichten nicht Machtverhältnisse
154 Lyotard, Jean-Francois: Der Widerstreit, München: Fink 1989, S. 108, Herv. i.O. 155 Ebd., S. 108. 156 Vgl. H.-C. Koller: Bildung und Widerstreit, S 35. 157 F. von Rosenberg: Bildung und Habitustransformation, S. 36. 158 L.A. Pongratz: Vom ‚linguistic turn‘ zum ‚critical turn‘, S. 56. 159 H.-C. Koller: Bildung und Widerstreit, S. 150.
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widerstreitende Diskurse, sondern der Widerstreit wird in diskursiven Verkettungen auf Satzebene offen gehalten. Ein weiterer Grundgedanke bei Lyotard ist, dass der Widerstreit und das in ihm zum Ausdruck kommende Unrecht durch Sprache bezeugt werden: „Dem Widerstreit gerecht zu werden bedeutet: neue Empfänger, neue Sender, neue Bedeutungen (significations), neue Referenten einsetzen, damit das Unrecht Ausdruck finden kann und der Kläger kein Opfer mehr ist. Dies erfordert neue Formations- und Verkettungsregeln für die Sätze.“160 Lyotard bietet also keine Lösung des Widerstreits an, sondern einen anderen Umgang, worauf u.a. Fuchs verweist: „Zum einen nämlich dadurch, dass ein bereits artikulierter Widerstreit offen gehalten und Ungerechtigkeit verhindert wird; zum andern dadurch, dass ein latenter Widerstreit vor stillschweigender Tilgung bewahrt wird. Den sic! Gedanken ... beinhaltet somit eine ethische Dimension, welche zum Ausdruck bringt, dass mit ‚abweichenden‘ Sprachspielen gleichwohl noch gerecht und förderlich umzugehen ist.“161
Weitere theoretische Bezugspunkte bilden für Koller die Schriften von Humboldt und von Adorno, welche „nicht zur Bildungstheorie im engeren Sinne zu rechnen sind“.162 Koller setzt sich intensiv mit den sprachwissenschaftlichen bzw. sprachphilosophischen Schriften Humboldts und mit Adornos Dialektik der Aufklärung und der Negativen Dialektik auseinander. Bei Humboldt interessieren ihn besonders dessen Ausführungen zur Bedeutung der Sprache für das bildende Wechselverhältnis zwischen dem Menschen und der Welt und zu sich selbst. Diese Wirkung der Sprache ist bei Humboldt eng gekoppelt an das Erlernen von verschiedenen Sprachen, da mit dem (Fremd-)Sprachenerwerb auch Ansichten und Einsichten über Welt möglich sind. Koller interpretiert Humboldts sprachphilosophische Äußerungen insbesondere im Hinblick auf den Aspekt der Individualisierung, der dem Spracherwerb bei Humboldt inhärent sei: „Dadurch, daß Sprache in demselben Akt, indem sie Verständigung überhaupt ermöglicht, zugleich die Sprechenden individualisiert, ist das Verstehen zwischen ihnen von vornherein begrenzt und relativiert. In dieser Perspektive kann es kein umfassendes Verstehen, keine völlige Übereinstimmung geben, sondern nur eine Verständigung, der die Differenz immer schon eingeschrieben ist.“163
160 J.-F. Lyotard: Der Widerstreit, S. 32, Herv. i.O. 161 T. Fuchs: Bildung und Biographie, S. 117. 162 H.-C. Koller: Bildung und Widerstreit, S. 16f. 163 Ebd., S. 89.
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Mit der Inanspruchnahme des Differenzbegriffs will Koller Humboldts Auffassung von Verständigung an Lyotard anschlussfähig zu machen. Doch es lohnt sich, einen näheren Blick auf Humboldts Ausführungen zu werfen: Welt gestaltet sich bei Humboldt als etwas Allgemeines, per se Vorhandenes, wenn auch Unbestimmbares, auf die sich alle Einzelsprachen richten. Diese Einzelsprachen als „convergirende Strahlen“ sind jedoch nicht in der Lage alle Teile der Welt mit ihren Strahlen zu beleuchten.164 Aus diesem Bild ergibt sich für Koller die Nähe zur Kategorie des Unsagbaren bei Lyotard. Allerdings favorisiert Humboldt die Beschäftigung mit alten Sprachen, die im aktuellen Sprachgebrauch nicht alltäglich verwendet werden, wie zum Beispiel Latein oder Altgriechisch. Mittels dieser Sprachen ist es ihm zufolge möglich, die Grenzen der gegenwärtigen Weltbegegnung in ihrer kulturellen Prägung zu überschreiten und neue Ansichten von Welt hervorzubringen. Das Individuum solle nach Humboldt möglichst viele Begegnungen mit der Welt suchen, um so eine optimale Entfaltung der Kräfte zu erlangen. Sprache dient also der Entwicklung des menschlichen Geistes und übernimmt eine wichtige Rolle für die Gestaltung von Welt- und Selbstreferenzen. Aber Humboldt interessiert nicht der Gebrauch der Sprache, ihre Mehrdeutigkeit oder sich widerstreitende sprachliche Handlungen. Deshalb ist Stojanov zuzustimmen, der kritisch zusammenfasst: „Es gibt letztlich bei Humboldt zwar eine Pluralität von Einzelsprachen, nicht jedoch eine Pluralität der sprachlichen Struktur als solcher, was eine Voraussetzung dafür wäre, diese Struktur als soziale Entität aufzufassen – wie dies heute etwa bei den sprachpragmatischen Konzepten der Fall ist.“165
Der Bildungsbegriff Humboldts bleibe „für das Prinzip der soziokulturellen Pluralität letztlich strukturell verschlossen.“166 Mit Lyotard interpretiert Koller den Universalisierungscharakter und an kulturelle Objektivationen gebundene Auffassung von Sprache und Bildung um, indem er den Moment individualisierter Differenzerfahrung durch Sprachen und deren Erwerb herausstellt und ihn an das Hervorbringen und Artikulieren neuer Ansichten von Welt koppelt. Die von Humboldt im Sinne des deutschen Idealismus angestrebte ‚Höherentwicklung‘ wird von Koller zugunsten sprach- und diskursanalytischer Parameter im Sinne Loytards aufgegeben. Koller geht es um die Frage „wie eine den Bedingungen der (Post-)Moderne angemessene
164 Wilhelm von Humboldt: Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung (1820). In: Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften, Band 4, herausgegeben von Albert Leitzmann, photomechanischer Nachdruck, Berlin: Walter de Gryter & Co 1968, S. 1- 34, hier S. 19. 165 K. Stojanov: Bildung und Anerkennung, S. 53. 166 Ebd., S. 54.
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Fassung des Bildungsbegriffs diese Momente von Humboldts und Adornos Bildungsdenken aufgreifen, miteinander verbinden und weiterentwickeln könnte.“ 167 Deshalb plädiert er dafür, die diskursanalytischen Überlegungen und sein Widerstreitmodell bei einer modernen Fassung des Bildungsbegriffs zu berücksichtigen. Reflexion des Beispiels vor dem Hintergrund des bildungstheoretischen Ansatzes von Koller Koller wählt mit dem Brief Kafkas an seinen Vater wie Marotzki ein Beispiel, das von der Ausweglosigkeit bestimmter Lebensumstände des Reflektierenden bestimmt wird. Im Falle des Erzählers in dem Brief ist es das unauflösbare Verhältnis zwischen Vater und Sohn sowie das Verhalten des Vaters, welche alles überschatten und redundant sind. Indem sich Koller auf die Erzählebene konzentriert, veranschaulicht er, dass im Erzählen selbst ein Ausweg gesucht werden kann. Dieser besteht neben der Darstellung der Problematik auch im Erfinden sprachlicher Ausdrücke, in denen Erfahrungen und Ereignisse verarbeitet und auf eine neue Ebene transformiert werden können. Damit erfüllt der „Brief an den Vater“ in der Krisen- und Konfliktsituation einen doppelten Zweck: Im Erzählen und im Schreiben finden gleichzeitig sowohl eine Darstellung des Selbst(-Konfliktes) als auch ein Versuch statt, aus dem Konflikt auszubrechen. Die Lösung des Konfliktes bleibt in der Person selbst verhaftet. Das Erzählen und das Schreiben sind dann zu verstehen als die existentielle Grundlage, in denen und aus denen heraus der Erzähler handeln kann. Dem Erzähler geht es nicht darum, über das Schreiben die Wirklichkeit zu verändern, da diese sich als negationsresistent erweist, sondern er kann über Momente des Versprachlichens Wirklichkeit schaffen. Dies verdeutlicht Koller am Beispiel von Metaphern und Übertreibungen, die alle ein fiktives Moment beinhalten. Über die sprachliche Fiktionalisierung des Problems wird ein Ausweg ge- und erfunden, der als Transformation, Wandlung und damit als Ziel von Bildungsprozessen gedacht werden kann. Im Gegensatz zu Marotzki zeigt Koller mit seinem Beispiel, dass die Krise selbst zwar Anlass für Bildungsprozesse sein kann, aber Bildung nicht immer mit dem Ziel verbunden sein muss, diese Krise mit den anderen und in realiter zu überwinden. Vielmehr kann die Krise im Bildungsprozess selbst verhaftet bleiben und Ausdrücke finden, die nicht in die Realität umgesetzt werden müssen. Sie können auf fiktionaler Ebene mit Wandlungen spielen und so Transformation aufzeigen. Koller konzentriert sich bei der Interpretation des Briefes an den Vater auf den Erzähler und dessen Erzählvorgang im Moment des Schreibens. Damit nimmt er Abstand von einer diachron-orientierten Analyseperspektive, die – wie bei Marotzki – die individuelle und kollektive Geschichte des Subjektes berücksichtigt. Die erinnerten Erfahrungen und die daran angeschlossenen Reflexionsprozesse des Erzählers
167 H.-C. Koller: Bildung und Widerstreit, S. 146.
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führen zu einer fiktiven Auseinandersetzung mit dem Vater auf erzählerischer (synchroner) Ebene. Durch die Fokussierung auf das Erzählen wird das möglich, was Marotzki der von Frankenstein geschaffenen Kreatur abspricht oder zumindest als gefährdet einstuft: Die Vergewisserung des Selbst im Erzählen, die keiner Ab- oder Anerkennung durch die Anderen bedarf, welche die Krise auslösten. Der Bildungsprozess des Erzählers im Brief an den Vater erweist sich als offen und mehrdeutig. Koller kann aufzeigen, dass biographische Reflexionen und Transformationsbemühungen in sprachliche Ausdrücke einfließen und in diesen gebunden werden können. So kann er mit seinem theoretischen Referenzrahmen Heterogenität, Offenheit und Pluralität von und in Bildungsprozessen in den Blick nehmen. Dabei konzentriert er sich im Bildungsprozess auf Änderungen des Selbstverhältnisses. Ambivalenz, Widerstreit und Mehrdeutigkeit bleiben bei Koller in der Verkettung von Sätzen und Diskursen verhaftet. Konsequent gedacht könnte er die Vorgeschichte dieser Sprachspiele gar nicht vom Bildungssubjekt aus betrachten, da bei ihm das Ich erst in der Sprache konstruiert wird. Somit ist (zumindest aus pragmalinguistischer Sicht) lediglich eine Analyse von Bildungsprozessen auf synchroner Ebene möglich. 4.2.4 Täuschungen: Arnaud du Tilh – Alheits Beispiel für biographische Verstrickungen in transitorischen Bildungsprozessen Im Gegensatz zu Marotzki und Koller wählt Alheit ein Beispiel, das nicht von Künstlichkeit und Fiktion geprägt ist, sondern das Erfinden im Biographischen und von Biographie mittels historischer Quellen veranschaulicht.168 Anhand von Arnaud du Tilh, der im 16. Jahrhundert in die Rolle des als vermisst geltenden Martin Guerre schlüpft, beleuchtet er zum einen den Bedeutungswandel von Biographien. Zum anderen diagnostiziert er das Phänomen der „biographischen Reflexivität“, welches in der Moderne entsteht und „einen neuen Modus individueller Verarbeitung der sozialen Welt“ darstellt.169 Alheit bezieht sich bei der Darstellung des „Kriminalfalls
168 Alheit verwendet dieses Beispiel häufig, vgl. zum Beispiel: P. Alheit: Wechselnde Muster der Selbstpräsentation, S. 30-33; Alheit, Peter/Dausien, Bettina: „Biographie – ein ‚modernes Deutungsmuster‘? Sozialstrukturelle Berechnung einer Wissensform der Moderne“, in: Michael Meuser/Reinhold Sackmann (Hg.), Analyse sozialer Deutungsmuster: Beiträge zur empirischen Wissenssoziologie, Pfaffenweiler: Centaurus 1992, S. 161182, hier S. 164-165. 169 P. Alheit: Biographie und ‚modernisierte Moderne‘, S. 151.
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aus dem späten 16. Jahrhundert“170 auf die Veröffentlichung von Davis, die den Fall aus verschiedenen Perspektiven analysiert. 171 Zum Fall: Der ‚wahre‘ Martin Guerre heiratet im Alter von elf Jahren die etwa gleichaltrige Bertrande und verlässt seine Frau und das Dorf, in dem sie leben, etwa ein Jahr nach der Geburt ihres Sohnes. Die Ursache für den Weggang soll ein Streit mit dem Vater gewesen sein. Einige Jahre vergehen. Da taucht Arnaud du Tilh auf und nimmt die Rolle des Martin Guerre an. Nach anfänglichen Irritationen gelingt es ihm, seine Familie und die Dorfgemeinschaft davon zu überzeugen, dass er Martin Guerre ist. Er verfügt über immenses biographisches Detailwissen über Guerre und – was entscheidend ist – Bertrande lässt keine Zweifel zu, dass es sich tatsächlich um ihren Mann handelt. Nach ungefähr acht Jahren kommt es zu Konflikten zwischen Martin alias Arnaud und seinem ‚Bruder‘ Pierre. Diese führen dazu, dass Pierre sich an seine anfänglichen Zweifel an der Aufrichtigkeit von Guerre alias du Tilh erinnert. Er ist sich sicher, dass es sich bei Arnaud um einen Lügner und Hochstapler handelt, und bringt ihn vor Gericht. Auch während der Gerichtsverhandlungen besteht Bertrande darauf, dass es sich bei Arnaud um Martin, ihren Ehemann handelt. Erst als der ‚wahre‘ Martin Guerre zurückkehrt, ändert sie ihre Aussage. Arnaud du Tilh wird nach einem aufsehenerregenden Prozess zum Tod verurteilt und hingerichtet. Für Alheit ist besonders „die offensichtliche soziale Duldung des Täuschers“ interessant, die „wider besseren Wissens geschieht“.172 Die Akzeptanz der Täuschung liege unter Bezugnahme auf Davis daran, dass Arnaud im Laufe der Jahre immer mehr in die Rolle des Martin hineinwachse.173 Dieses Hineinwachsen besteht erstens darin, dass er die verschiedenen Rollen des Martin Guerre gut spielt und sich gemäß seinem Status in der Familie und Dorfgemeinschaft verhält. Zweitens kann er die Eigenschaften von Martin mit seinen kombinieren, dass nicht an seiner Identität gezweifelt wird.174 Daraus schlussfolgert Alheit: „‚Biographie‘ erscheint hier also zunächst nicht als einzigartiger Lebensverlauf eines Individuums, sondern als lose Verknüpfung ständischer Funktionen, bestimmter sozialer Rollen und eines plakativen Erscheinungsbildes. ‚Biographie‘ muß gleichsam noch als vormoderner Erfahrungsmodus interpretiert werden.“175
170 Ebd., S. 153. 171 Davis, Natalie Zemon: The Return of Martin Guerre, Cambridge u.a.: Harvard University Press 1983. 172 P. Alheit: Biographie und ‚modernisierte Moderne‘, S. 153. 173 N. Z. Davis: The Return of Martin Guerre, S. 43. 174 Vgl. ebd., S. 51-72. 175 P. Alheit: Biographie und ‚modernisierte Moderne‘, S. 153.
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Dass jedoch der Fall Tilh-Guerre über diesen vormodernen Erfahrungsmodus hinausgeht und Ansätze von biographischer Reflexivität veranschaulicht, zeigt sich für Alheit in dem Gerichtsprozess, über dessen Verlauf und Inhalt zahlreiche Akten berichten. Du Tilh wird aufgrund von Indizien verurteilt, die sich auf „eine penible Rekonstruktion der Biographie des (vermeintlichen) Guerre“176 stützen. Während des Prozesses verteidigt du Tilh seine Identität als Martin Guerre so gut, dass er fast freigesprochen wird. Der Freispruch erfolgt nicht, weil der ‚wahre‘ Martin Guerre vor Gericht erscheint. Diese ‚Leistung‘ du Tilhs, sich eine Identität zu schaffen, die den Erwartungen der anderen entspricht und gleichzeitig seine eigenen individuellen Eigenschaften integriert, wird von Alheit dahin gehend interpretiert, dass Arnaud du Tilh über ein modernes Verständnis von Identität verfügt: „Die Konstruktion einer ‚Identität-Für-Sich‘, jene Leistung, die dem modernen Individuum in immer kürzer werdenden Abständen abverlangt wird, hat du Tilh auf bemerkenswerte Weise vollzogen. Im modernen Verständnis wäre er der wirkliche Martin Guerre.“177 Die Konstatierung einer „IdentitätFür-Sich“ macht Alheit auch an den zeitgenössischen Reaktionen fest. Die „Ungeheuerlichkeit“, die Identität eines anderen zu übernehmen und diese über mehrere Jahre zu leben, zeigt für ihn, dass im 16. Jahrhundert „die Vorstellung persönlicher Identität und Integrität bereits zu einer Normalerfahrung geworden ist ...“178 Anhand dieses Beispiels legt Alheit nahe, dass Biographien nicht nur einem von außen festgelegten, chronologischen Ablauf folgen, sondern „eine soziale Wissensform“ darstellen.179 Auch aufgrund dessen können Menschen einen „biographischen Sinn“ rekonstruieren, der „eben nicht in erster Linie durch die Komplexität lebensgeschichtlicher Ereignisse, sondern durch bestimmte Strategien der Selektivität gewährleistet wird.“180 Diese gründen sich aus dem sozial geteilten Wissen um die Bedeutung von Biographie in strukturellen, sozialen Kontexten. Alheit betont, dass biographische Rekonstruktionsprozesse strategisch und selektiv je nach Kontext gestaltet werden. Was und wie aus dem eigenen Leben erzählt wird, richtet sich nach dem Gegenüber, nach der Situation, nach dem institutionalisierten Zusammenhang. Er konstatiert, dass es „institutionalisierte soziale Deutungsmuster der Biographie und des Lebenslaufs“181 gibt, derer sich der Mensch – wie oben im Beispiel Arnaud du Tilh – bedienen kann und aufgrund derer er gezwungen wird, seine Biographie und Identität für andere plausibel zu machen. Diesen Vorgang
176 Ebd. 177 Ebd., S. 153-154. 178 Ebd., S. 154. 179 Ebd. 180 Ebd. 181 Ebd., S. 155.
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bezeichnet Alheit als „biographische Reflexivität“, die sich in Biographien als „Wahrnehmung der Sozialwelt“ niederschlägt182: „‚Reflexivität‘ übrigens nicht nur deshalb, weil das Individuum sich auf sich selbst zu beziehen lernt, sondern weil dieser Selbstbezug gerade durch soziale Instanzen provoziert wird. Es geht offenbar nicht nur um die bei Elias oder Foucault herausgearbeitete Einsicht, daß die Moderne beträchtliche Teile der äußeren Welt in die innere Welt verlagert und das Individuum – paradox genug – zu freiwilliger Selbstkontrolle nötigt. Der springende Punkt ist, daß das Individuum durch immer neue Instanzen gezwungen wird, seine Selbstkonsistenz in der Zeit, eine Biographie im heutigen Sinn, eben jene „Identität-Für-Sich“, zu entwickeln. Das ist es, was den schillernden Fall Arnaud du Tilh – historisch betrachtet – so erstaunlich und so interessant macht.“183
Alheit will an der historischen Figur Martin Guerre verdeutlichen, dass der im Zuge der Individualisierung aufkommende Zwang zu einer Entwicklung einer „IdentitätFür-sich“ ein von außen, von der Gesellschaft herangetragenes Phänomen ist. Dieser Wandel lasse sich auch anhand der Entwicklung biographischer Formate belegen. Sie geben in historischer Rückschau Aufschluss darüber, dass das Wissen um die Bedeutung von Biographie und Identität vom Individuum (bewusst und unbewusst) geteilt wird und Veränderungen unterliegt. So gilt für die moderne (Auto-)Biographie nach Alheit, dass der Fokus nicht mehr auf einem „traditionellen Sinnuniversum“ (zum Beispiel Stand oder Religion), sondern auf der „Idee einer in ihrer Entwicklung und Einzigartigkeit unverwechselbaren Persönlichkeit“ liegt.184 Das „Sinnuniversum“ wird nun in die „persönliche Entwicklung“ integriert und „durch die Individualität des Selbst bestimmt“.185 In diesem Format entsteht „Biographizität“, die „persönliche Semantik ..., mit der wir neue Erfahrungen aufschließen und sie zu unseren je eigenen machen, eine Basiskompetenz, die uns das Gefühl einer bestimmten Form von Identität vermittelt, obgleich wir uns ununterbrochen verändern und unsere individuelle Einzigartigkeit immer wieder bedroht ist“.186 Eckpunkte des bildungstheoretischen Ansatzes bei Alheit Auch Alheit beteiligt sich an der theoretischen Diskussion um Bildungsprozesse innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung. Er fordert dazu auf, am Begriff der Bildung festzuhalten, ihren Prozess als transitorisch zu fassen und
182 Ebd. 183 Ebd. 184 P. Alheit: Wechselnde Muster der Selbstpräsentation, S. 33. 185 Ebd. 186 Ebd.
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darin sein Konzept der „Biographizität“ einzubeziehen.187 Dies sieht er unter anderem deshalb als erforderlich an, weil dieses bildungstheoretische Konzept einen Perspektivwechsel auf das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft vollziehe. Nicht die Trennung von Subjekt und Gesellschaft – wie sie im Zuge der Rezeption der Individualisierungsthese erfolgt sei –, sondern die Verbindung von Subjekt und Gesellschaft zeigt sich für Alheit im Format der Biographie. Biographien sind für ihn „ganz konkret Gesellschaftlichkeit und Subjektivität in einem“.188 Biographisierung, Biographizität und damit auch Bildung werden von ihm nicht ausschließlich als interner Vorgang im Subjekt begriffen, sondern vielmehr als „Kommunikation mit strukturellen Bedingungen“.189 In Biographien rekonstruiert der Mensch sich selbst unter den strukturellen Verhältnissen, in denen er lebt, verbunden mit dem Ziel, Wandlungsprozesse auf struktureller Ebene zu erkennen und zu gestalten. Alheit betont in seinem Konzept nicht das Leiden des Menschen an gesellschaftlichen Verhältnissen, die ihn vereinzeln lassen oder seine Autonomie infrage stellen, sondern das Vermögen des Menschen, aktiv mit gesellschaftlichen Um- und Zuständen zu leben und umzugehen. „Trotz aller Krisen der Moderne bewegen sich die meisten von uns keineswegs panisch durch den Alltag. Und das liegt offensichtlich nicht daran, dass die statistische Lebenserwartung – allen nuklearen, genetischen und ökologischen Katastrophen zum Trotz – jedenfalls in westlichen Gesellschaften stetig ansteigt, sondern an sehr viel intimeren Dispositionen. In der Regel haben wir ja durchaus das Gefühl, ‚Organisatoren‘ unseres Lebenslaufs zu sein. Selbst wenn die Dinge anders verlaufen, als wir uns gewünscht oder vorgestellt hatten, nehmen wir Korrekturen unserer Lebensplanung gewöhnlich unter dem Eindruck persönlicher Autonomie vor.“ 190
Alheit schränkt die Bedeutung der Individualisierung für den Einzelnen ein und fordert zum Beispiel gemeinsam mit Dausien dazu auf, den Begriff „Biographisierung“ stärker in die Diskussion um zeitdiagnostische Trends mit einzubeziehen. Biographi-
187 Vgl. Alheit, Peter: „‚Biographizität‘ als Schlüsselqualifikation. Plädoyer für transitorische Bildungsprozesse“, in: Arbeitsgemeinschaft Betriebliche Weiterbildung e.V. und Quem (Hg.), Weiterlernen – neu gedacht. Erfahrungen und Erkenntnisse, Quem-report 78, Berlin: Quem 2003, S. 7-22. 188 Alheit, Peter: „Strukturelle Hintergründe kollektiver ‚Verlaufskurven‘ der deutschen Wiedervereinigung“, in: Mitteilungen aus der Kulturwissenschaftlichen Forschung (MKF) 17 (1994), S. 9-37, hier S. 10. 189 Alheit, Peter: „Leben lernen?“ Bildungspolitische und bildungstheoretische Perspektiven biographischer Ansätze (= Werkstattbericht des Forschungsschwerpunktes „Arbeit und Bildung“, Band 16), Bremen: Universität Bremen 1992, S. 48. 190 P. Alheit: „Biographizität“ als Schlüsselqualifikation, S. 10.
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sierung setzt für sie „den Akzent deutlicher auf die Integrations- und Identitätsleistung der Subjekte im lebensgeschichtlichen Prozess“.191 In seiner konzeptuellen Auslegung von Biographizität fokussiert Alheit auf das Wechselspiel zwischen Subjekt und gesellschaftlichen Kontexten bzw. Strukturen. So kann er „die Dimension der ‚Sozialität‘ bzw. ‚Gesellschaftlichkeit‘ biographischer Erfahrungen“ stärker betonen.192 Wie der in historischer Rückschau festgestellte Wandel der biographischen Formate illustriert, verschiebt sich das Interesse an der Biographie weg von dem Verlauf der Normalbiographie hin zu einer biographischen Reflexivität, die auf die Muster dieses Verlaufs und weitere gesellschaftliche Strukturen rekurriert (vgl. Kapitel 4.1). Um zu verdeutlichen, dass Biographizität nicht nur auf einen inneren Vorgang abzielt, führt Alheit an, dass Biographizität nur dann berührt werde, wenn konkrete Menschen sich derart auf ihre Lebenswelt beziehen, dass ihre selbstreflexiven Aktivitäten gestaltend auf soziale Kontexte zurückwirken. Mit Biographizität ist also eine doppelte Strategie verbunden: Sie dient dazu „Anstöße von außen auf eigensinnige Weise zur Selbstentfaltung nutzen“ 193 und enthält gleichzeitig gestaltende Elemente, die sich auf gesellschaftliche Strukturen auswirken. „Biographizität bedeutet, dass wir unser Leben in den Kontexten, in denen wir es verbringen (müssen), immer wieder neu auslegen können und dass wir diese Kontexte ihrerseits als ‚bildbar‘ und gestaltbar erfahren. Wir haben in unserer Biographie nicht alle denkbaren Chancen, aber im Rahmen der uns strukturell gesetzten Grenzen stehen uns beträchtliche Möglichkeitsräume offen.“194
Diese strukturell gesetzten Grenzen haben Einfluss auf die „Handlungs- und Planungsautonomie“ des Menschen innerhalb der „biographischen ‚Prozessstrukturen‘“.195 Sie sind nachhaltig geprägt von institutionalisierten Ablaufmustern, wie sie zum Beispiel in der Familie, der Schule, dem Beruf oder in Resozialisierungsmaßnahmen existieren. Aufgrund dieser engen Kopplung an eine institutionelle Ebene sei der Rahmen, in dem sich unsere individuelle Biographie entfalten könne, durchaus
191 P. Alheit/B. Dausien: Biographieforschung in der Erwachsenenbildung, S. 441. 192 Dausien, Bettina: „‚Biographisches Lernen‘ und ‚Biographizität‘. Überlegungen zu einer pädagogischen Idee und Praxis der Erwachsenenbildung“, in: Hessische Blätter für Volksbildung 61 (2011), S. 110-125, hier S. 111, Herv. i.O. 193 Alheit, Peter: „Identität oder ‚Biographizität‘? Beiträge der neueren sozial- und erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung zu einem Konzept der Identitätsentwicklung“, in: Birgit Griese (Hg.), Subjekt – Identität – Person? Reflexionen zur Biographieforschung, Wiesbaden: Springer VS 2010, S. 219-249, hier S. 240. 194 P. Alheit: „Biographizität“ als Schlüsselqualifikation, S. 16. 195 Ebd., S. 10.
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nicht beliebig.196 Dennoch besteht nach Alheit für den Menschen das „Gefühl eigener Planungsautonomie“, weil er (intuitiv) über die strukturell-gesellschaftliche Gebundenheit biographischer Prozesse weiß und diese verarbeiten kann.197 So kann es zu einer immer wieder neuen Auslegung des Lebens kommen. Das Wissen um die externen Einflussgrößen bedeutet für Alheit eine Entlastung und wird als Hintergrundwissen bewertet. Dies „muss die dominante Präsenz biographischer Handlungsautonomie nicht notwendig gefährden“.198 Bedrohlicher sind – und hier ist auch Alheit ganz bei Schütze – Prozessstrukturen mit ‚Verlaufskurvencharakter‘“, in denen die „intentionale Handlungsfähigkeit“199 abhandenkommt und so das Gefühl des Kontrollverlusts bezüglich des eigenen Lebens entsteht. Ähnliche Irritationen würden auch „Wandlungsprozesse“200 rufen, die vom Menschen nicht klar verortet werden können. Alheit konstatiert zusammenfassend hervor: „Wichtig ist der Befund, dass unser Grundgefühl, relativ selbständig über unsere Biographie verfügen zu können, offenbar nicht mit der Tatsache in Konflikt geraten muss, dass der größere Teil unserer biographischen Aktivitäten entweder weitgehend festgelegt ist oder von verschiedenen Prozessoren erst angestoßen wird.“201
In seinem Konzept betont Alheit, dass sich dieses Grundgefühl der Autonomie im eigenen Auslegen, Planen und Handeln nicht auf einem intentionalen Schema gründet, sondern auf einer „Art verstecktem ‚Sinn‘“.202 Das Nicht-Intentionale sei entscheidender als das Aktiv-Gewollte. Hintergrundwissen und Grundgefühl können ihm zufolge bei biographischen Krisen helfen, die Probleme an bisherige Erfahrungen rückzubinden, um zu prüfen, ob diese sich als anschlussfähig erweisen. Wie die biographischen Prozessstrukturen sind nach Alheit auch die Erfahrungen keine „zufällig aufgeschichtete[n] Erlebnisse“, sondern „strukturierter als bisher angenommen“.203 Sie haben eine „konkrete Gestalt“, die kein „Gefängnis“ sei, sondern in ihrer Begrenzung „weich und flexibel“.204 „Sie haben längst nicht mehr den Charakter zufällig aufgeschichteter Erlebnisse, die wir im Laufe unserer Biographie gemacht haben, sondern eine je konkrete Gestalt. Wir können sie als ‚Lebenskonstruktionen‘
196 Vgl. ebd., S. 33. 197 Vgl. ebd., S. 11-12. 198 Ebd., S. 12. 199 Ebd. 200 F. Schütze: Prozeßstrukturen des Lebenslaufs, S. 103. 201 P. Alheit: „Biographizität“ als Schlüsselqualifikation, S. 13, Herv. i.O. 202 Ebd. 203 Ebd., S. 13. 204 Ebd., Herv. i.O.
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bezeichnen, als keineswegs strategisch, aber doch intuitiv verfügbare Rahmenbedingungen gerade unseres Lebens.“205 Biographische Konstruktion und damit Lebenskonstruktion werden nach Alheit zwischen den „Polen“ „Struktur und „Subjektivität“ dynamisch gestaltet. 206 In diesem Vorgang sieht er eine „bildungstheoretische Brisanz“, die sich in der Bedeutung von „außerindividuellen Erosionspotentialen“ und der „komplexen Überlebenstechniken der Subjektivität“ zeige.207 Um seine Idee von transitorischen Bildungsprozessen und deren strukturelle Determination auf theoretischer Ebene zu festigen, greift er auf Bourdieus Habituskonzept und auf den Terminus des ungelebten Lebens von Weizsäckers zurück. So kann er feststellen, dass es „ein beträchtliches Potential an ungelebtem Leben“ in Biographien gibt.208 Der Mensch weiß intuitiv um dieses Potential. Dieses intuitive Wissen sei Teil unseres praktischen Bewusstseins und reflexiv nicht einfach zugänglich. Dennoch sieht Alheit darin „in einem doppelten Sinn eine ganz zentrale Ressource für Bildungsprozesse“.209 Dieser doppelte Sinn legt den Fokus nicht auf die internen Veränderungsvorgänge. Beim „Übergang in eine neue Qualität des Selbst- und Weltbezugs“210 kommt es sowohl zu Veränderungen beim Subjekt als auch im strukturellen Kontext. Diese Zusammenhänge zeichnen für Alheit transitorische Bildungsprozesse aus: In ihnen werden neue Informationen nicht auf existierende Strukturen bezogen, sondern diese werden „bereits als Elemente neuer kontextueller Bedingungen“ gedeutet; Wissen wird nicht nur eingebaut, sondern das „Wissensgebäude“ wird verändert.211 Diese Fähigkeit benötigt einen sozialen Akteur. „Wissen kann nur als biographisches Wissen wirklich transitorisch sein“.212 Die Transition zeigt sich darin, dass Bildung sowohl Veränderungen hinsichtlich der persönlichen Entwicklung des Individuums
205 Alheit, Peter: „Was die Erwachsenenbildung von der Biographie- und Lebenslaufforschung lernen kann“, in: Werner Lenz (Hg.), Modernisierung der Erwachsenenbildung, Wien u.a.: Böhlau 1994, S. 28-56, hier S. 45. 206 P. Alheit: „Biographizität“ als Schlüsselqualifikation, S. 14. Alheit bezieht sich mit dem Begriff „Lebenskonstruktionen“ auf Budde, Heinz: „Rekonstruktion von Lebenskonstruktionen – eine Antwort auf die Frage, was die Biographieforschung bringt“, in: Kohli/Robert, Biographie und soziale Wirklichkeit (1984), S. 7-28. 207 P. Alheit: „Biographizität“ als Schlüsselqualifikation, S. 14, Herv. i.O. 208 Ebd., S. 15. Alheit bezieht sich beispielsweise auf Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987; Weizsäcker, Viktor von: Pathosophie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1956. 209 P. Alheit: „Biographizität“ als Schlüsselqualifikation, S. 15. 210 Ebd., S. 16. 211 Ebd. 212 Ebd., S. 16.
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als auch hinsichtlich der Gestaltung gesellschaftlicher Strukturen bewirkt. Bildung wird zur „Formation sozialer Verhältnisse“ und ist „individuelle Identitätsarbeit“. 213 Reflexion des Beispiels vor dem Hintergrund des bildungstheoretischen Ansatzes von Alheit Alheit will mit dem Fall „du Tilh – Guerre“ auf mehrere Dimensionen aufmerksam machen. Zum einem dient er ihm als Beispiel, um den Wandel biographischer Formate zu belegen und zu illustrieren. Der Fall „du Tilh – Guerre“ nimmt dabei eine Schnittstelle zwischen dem vormodernen und dem modernen Format von Biographien ein. Durch die Einbettung und Analyse biographischer Ereignisse in ihrem sozialen und historischen Kontext zeigt Alheit zum einen, dass Biographien nicht nur eine Leistung des Subjektes in seiner reflexiven Auseinandersetzung mit Erfahrungen und Erlebnissen sind, sondern dass Biographien selbst sozialen Deutungsmustern und Strukturen unterliegen und von den Subjekten und den anderen in diesen gedacht, reflektiert und angewendet werden können. Zum anderen weist er darauf hin, dass biographische Reflexionen der Konstruktion von Identität dienen und dass diese Identitätsreflexionen sowie die biographischen Erzählungen darüber auch von den Erwartungen der Gesellschaft geleitet werden. Darüber hinaus führt Alheit vor Augen, dass Krisen keineswegs nur zu Orientierungslosigkeit führen, sondern vom Individuum in Form biographischer Reflexivität im Konzept der Biographizität verarbeitet werden können. Im Fall von Arnaud du Tilh besteht dies darin, so verstehe ich Alheit, dass du Tilh eine Entwicklung vornimmt, indem er das „traditionelle Sinnuniversum“ in seine persönliche Entwicklung integriert und „durch die Individualität des Selbst bestimmt“. 214 Damit verfügt du Tilh über „Biographizität“. Du Tilh realisiert in der Rolle des Martin Guerre einen Teil seines „ungelebten Lebens“215, d.h. ein zunächst intuitives Wissen darüber, dass es Lebenskonstruktionen gibt, die sich aufgrund gesellschaftlicher Umstände noch nicht realisieren lassen. Dieses intuitive Wissen um potentielle Änderungsmöglichkeiten ermöglicht Formen der Selbstreferenz in einen offenen Prozess, der darin besteht, dass man sich anderen gegenüber verhalten kann, ohne das ungelebte Leben aufgeben zu müssen. Arnaud du Tilh entscheidet sich als Träger seiner Biographie, dieses Leben zu realisieren. Wie bei Marotzki braucht das Individuum für die Realisierung von Transformationen die Anderen. Allerdings sollen diese nicht die Lebensgeschichte und mögliche Wandlungen anerkennen, sondern die Transformation muss die anderen sozialen Ak-
213 P. Alheit/B. Dausien: Bildungsprozesse über die Lebensspanne, S. 728-729. 214 P. Alheit: „Biographizität“ als Schlüsselqualifikation, S. 33. 215 P. Alheit: „Leben lernen?“, S. 76.
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teure beteiligen, um „andere soziale Realitäten“216 zu schaffen. Die Transformation kann für Alheit somit nicht wie für Koller auf Ebene der Sprache oder in einer Art inneren Monolog angesiedelt werden, sondern sie benötigt auch das Außen in Form von sozialen Akteuren und hat Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Kontext und damit verbundene Strukturen. Fiktion und Erfindung des Selbst als Ausdruck von Transformation ist damit für Alheit im Rahmen von Bildungsprozessen so lange nicht denkbar, bis sie der Schaffung anderer sozialer Umstände dient. Für Alheit ist die „selbstbestimmte Entdeckung der ‚Anschlußfähigkeit‘ individueller biographischer Handlungspotentiale an die strukturellen Rahmenbedingungen“ entscheidend.217 Biographizität als Bestandteil von Bildungsprozessen dient nicht allein der sozialen Integration, sondern auch der Integration des Systems, in dem der Mensch lebt. Sie ermöglicht dem Menschen in individualisierten Gesellschaften, handlungsfähig zu bleiben und zu werden. Im Gegensatz zu Marotzki und Koller, für die der Fokus bei Wandlungsprozessen auf Veränderungen des Selbstverhältnisses liegt, wird bei Alheit sowohl die Veränderung von Welt als auch die existentielle Verwobenheit von Individuum und gesellschaftlichen Strukturen bei transitorischen Bildungsprozessen mitgedacht. Deshalb stellen auch die Reaktionen des Gerichtes, der Dorfgemeinschaft und der Familie eine zentrale Dimension in seinen Überlegungen zum Fall „Arnaud du Tilh“ dar. Alheit rückt strukturelle Rahmenbedingungen und Wandlungsprozesse in den Mittelpunkt, die sich neben dem subjektiven Erleben in Biographien niederschlagen und diese gleichzeitig determinieren. Im Unterschied zu den Beispielen von Marotzki und Koller, in denen sich Bildungsprozesse durch ein Ringen um Identität, Anerkennungskämpfe und negationsresistente Probleme auszeichnen, schildert Alheit einen Fall, der dominiert wird von gesellschaftlichen Strukturen, die sich sowohl auf die Biographie auswirken als auch in die biographische Reflexion einfließen. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Erwartungen an die Biographie gestaltet Arnaud du Tilh seine derart, dass durch sie ihm und den anderen eine neue soziale Wirklichkeit entsteht. Die Empörung der Gesellschaft über den Hochstapler wertet Alheit als Bewusstsein darüber, dass du Tilh mit seiner Hochstapelei die Identität eines anderen konterkariert. Damit sei eine gesellschaftliche Vorstellung darüber vorhanden, dass Identität und Biographie einzigartige Merkmale aufweisen, die nicht nur die gesellschaftliche Rolle und andere institutionalisierte Formen betrifft. Alheit geht jedoch nicht darauf ein, dass die Gesellschaft vielleicht auch über die mittels biographischer Reflexivität von du Tilh getroffene Entscheidung, zu täuschen und zu lügen, empört sein könnte. Ist nicht viel-
216 P. Alheit Was die Erwachsenenbildung von der Biographie- und Lebenslaufforschung lernen kann, S. 50. 217 Ebd., Herv. i.O.
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leicht das der Grund der Empörung: die Bloßstellung gesellschaftlicher Erwartungen über den Weg der Täuschung? Alheit zeigt, dass Vorgeschichten und konfliktreiche Identitätsfestlegungen und -zuschreibungen in Biographisierungsprozesse und die Bedeutung von Biographie einfließen können. Dabei wird jedoch nicht thematisiert, dass die Lösung und damit die Transformation, die du Tilh vornimmt, mit der Täuschung der Gesellschaft verbunden sind. Damit erweist sich die vergesellschaftete Realität von du Tilh als genauso negationsresistent wie die des Erzählers in Kafkas Brief an den Vater: Sie bleibt bestehen, aber es wird von den biographischen Protagonisten nach einem vorübergehenden Ausweg gesucht. Ein Wandlungsprozess des Selbst- und Weltverhältnisses wird eingegangen, der sich letztendlich als Fiktion erweist und bei du Tilh sein Überleben nicht sichert. Die Schaffung einer neuen sozialen Realität erweist sich dann als eine temporäre Momentaufnahme von Handlungen aufgrund widerstreitender Kräfte, die in der Hochstapelei des Arnaud du Tilh nur scheinbar aufgelöst werden. Auf dieses temporäre Phänomen macht Alheit nicht aufmerksam. In seiner Rolle als Hochstapler spielt du Tilh mit den gesellschaftlichen Identitätszumutungen, der sozialen Etabliertheit seiner bisherigen Biographie und entzieht sich diesen gleichzeitig. Nur er allein verfügt zunächst über das biographische Wissen nicht der zu sein, der er zu sein vorgibt. Er besitzt damit Gestaltungsmöglichkeiten, die zwar mit strukturellen Erwartungen spielen, die aber aufgrund ihres fiktionalen Charakters, nicht als ‚strukturierende Figur‘ gedacht werden können. Du Tilh verhält sich eigensinnig und begegnet mit diesem Eigensinn den gesellschaftlichen Umständen, in denen er lebt, er verhält sich widerspenstig und lehnt sich auf gegen die eigene Biographie, die ihm seinen bisherigen Platz in der Gesellschaft zugesprochen hat. Letztendlich aber kann dieser Eigensinn, entstanden durch biographische Reflexivität, seine Vergesellschaftlichung nicht aufheben, sein Gestaltungspotential liegt in der Täuschung als temporäres Ergebnis der Reflexion seines Selbst- und Weltverhältnisses.
4.3 ZWISCHEN-FAZIT: DA CAPO AL FINE Ausgangspunkt bildungstheoretischer Diskussionen in Deutschland war und ist Humboldt und sein in der Tradition des Deutschen Idealismus stehender Bildungsbegriff. Humboldt charakterisiert ihn als die Herstellung eines „allgemeinsten, regesten und freiesten“ wechselseitigen Verhältnisses zwischen Ich und Welt.218 Marotzki beispielsweise verweist auf die Bedeutung des Humboldt’schen Bildungsbegriffs und
218 W. v. Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen, S. 235-236.
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fertigt die Skizze eines „klassische[n] Muster[s]“ für die bildungstheoretisch inspirierte Biographieforschung an.219 Derartig inspiriert von Humboldts Fokus auf das wechselseitige Verhältnis von Ich und Welt konzentrieren sich auch Marotzki und Koller in ähnlicher Weise auf das Subjekt und dessen Wechselwirkung zwischen Ich und Welt. Sie befassen sich unter Bezugnahme auf verschiedene Theorien mit dem prozessualen Charakter von Bildung. So betrachtet Koller den Bildungsprozess als Hervorbringen neuer Sätze und Diskursarten und Marotzki die Herstellung von Selbst- und Weltreferenzen. Diese alltäglichen Handlungen des Subjektes – angesiedelt im Bereich der Biographisierung – werden als Suchbewegungen und Wandlungsprozesse des Individuums beschrieben und für die Analyse von Bildungsprozessen konzeptualisiert. Ein Unterschied zwischen beiden Ansätzen besteht darin, „ob ein sich konstituierendes Subjekt als der zentrale Fokus bei der Beschreibung des Bildungsprozesses notwendigerweise gesetzt werden muss, oder nicht.“220 Alheit hingegen will – auch ausgehend vom Individuum als Träger seiner Biographie – in seinem Konzept der Biographizität – gesellschaftliche Kontexte stärker einbringen. Er legt dar, dass gesellschaftliche Strukturen in die Biographie und in die biographische Reflexivität einwandern können. Die unterschiedliche Akzentuierung der Gesellschaft hat einen gemeinsamen Ausgangspunkt: die Individualisierung als gesellschaftliche Entwicklung der (Post-)Moderne. Die unterschiedliche Interpretation dieses Trends hat Auswirkungen auf das jeweilige Verständnis von Subjekt und die Subjektkonstitution in den vorgestellten bildungstheoretischen Überlegungen. Alheit, der sich gegen die Orientierungslosigkeit, Vereinzelung und Verunsicherung des Subjektes stellvertretend zu Wehr setzt und die ‚Herr-im-eigenen-Haus-Dimension‘ bevorzugt, scheut nicht davor, konstruktivistisch inspirierte Begriffe wie den der Autopoiesis in den Raum zu stellen, um die Überlebensfähigkeit des Individuums zu unterstreichen. Ein wenig mutet dies grotesk an, da gerade seine Beispielfigur lügt und täuscht. Handlungen, die (radikal-)konstruktivistisch nicht gedacht werden können (vgl. Kapitel 2.1). Von Rosenberg, der sich intensiv mit den verschiedenen Ansätzen bildungstheoretisch orientierter Biographieforschung auseinandersetzt, erarbeitet einen zentralen Unterschied hinsichtlich Aneignung von Welt und Gesellschaft in den Ansätzen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung. Die Differenz zwischen den Überlegungen von Marotzki und Alheit liegt für Rosenberg im Folgenden: „Während bei Marotzki die subjektive Aneignung von Gesellschaft im
219 Marotzki, Winfried: „Qualitative Bildungsforschung – Methodologie und Methodik erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung“, in: Ludwig A. Pongratz/Michael Wimmer/Wolfgang Nieke (Hg.), Bildungsphilosophie und Bildungsforschung, Bielefeld: transcript 2006, S. 125-137, hier S. 126. 220 K. Stojanov: Philosophie und Bildungsforschung, S. 75-76.
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Vordergrund steht, wird in habitustheoretischen Ansätzen die kollektiv geteilte Aneignung von Gesellschaft betont.“221 Ein weiterer Unterschied, der mit der Bedeutung des Subjektes eng verbunden ist, besteht in der Frage, welche Rolle die Sprache für den Bildungsprozess und das Subjekt spielt. Marotzki spricht von einem „Streitpunkt“ innerhalb der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung, der darin besteht, „ob Bildung […] in der Sprache stattfindet und sich nicht nur in ihr ausdrückt“.222 Diese Problematik wird von Rosenberg unter der Umschreibung „Vorgängigkeit der Sprache“ subsumiert, die sich in unterschiedlichen Akzentuierungen in den bildungstheoretischen Rahmen von Kokemohr, Marotzki und Koller feststellen lässt.223 Trotz aller Unterschiede, die sich insbesondere im Verhältnis zwischen Subjektauffassung und Sprache zeigen, lässt sich für Marotzki feststellen: „Die Ausbildung von Selbst- und Weltreferenzen, das kann allerdings festgehalten werden, kann auch als Ausgestaltung und Entwicklung von Reflexionsmustern gelesen werden. Der Grad der Reflexivität ist in Humboldts Sicht sehr stark an die Entwicklung der Sprache gebunden: ‚Der Mensch lebt mit den Gegenständen ... so, wie die Sprache sie ihm zuführt.‘ (Humboldt 1830-1835, 434).“224
Die biographisch orientierten Bildungsansätze haben als weiteren gemeinsamen Nenner, dass sie eine Schnittstelle zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung einnehmen wollen und ihre theoretischen Überlegungen immer auch mit der qualitativen Analyse von Bildungsprozessen in Biographien verbunden werden. Fuchs macht darauf aufmerksam, dass für das Verhältnis von Biographie und Bildung im erziehungswissenschaftlichen Diskurs zwei Fragen dominant sind: „Was ist ‚Bildung‘, und welche Bedeutung kommt ihr unter den vorherrschenden gesellschaftlichen Bedingungen zu?“ sowie „Wie ist Bildung möglich?“225 Wie Wiggert stellt Fuchs in seiner
221 F. von Rosenberg: Bildung und Habitustransformation, S. 54. 222 W. Marotzki: Qualitative Bildungsforschung, S. 128. 223 F. von Rosenberg: Bildung und Habitustransformation, S. 53. 224 Marotzki 2006, S. 128. Marotzki bezieht sich auf Humboldt, Wilhelm von: „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechtes“, in: Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden, Band 3: Schriften zur Sprachphilosophie, hrsg. v. A. Flitner und K. Giel, Stuttgart 1980, S. 368-756. 225 T. Fuchs: Bildung und Biographie, S. 11. „Wie ist Bildung möglich?“ ist der Titel der Veröffentlichungen von: Miller-Kipp, Gisela: Wie ist Bildung möglich? Die Biologie des Geistes unter pädagogischem Aspekt, Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1992; Tenorth, Heinz-Elmar: „‚Wie ist Bildung möglich?‘ Einige Antworten – und die Perspektive
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Arbeit fest, dass die „Empirisierung“ des Bildungsdiskurses dazu geführt habe, dass vielen Ansätzen, die sich in der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung verorten, eine unzureichende Bestimmung von Bildung zugrunde liege, da Bildung „in biographischen Zusammenhängen weder sinnvoll auf die Auseinandersetzung mit dem Selbstverhältnis einzuschränken ist, noch schlicht und ergreifend als eine Wandlung ... verstanden werden kann.“226 Diesen Kritikpunkt, der von Alheit in ähnlicher Weise gesehen wird, nimmt Fuchs als Anlass, sich dafür stark zu machen, auch Fremdverhältnisse in einen Begriff von Bildung einzubeziehen und definiert Bildung „i.S. einer reflektierend-problematisierenden Auseinandersetzung mit den Lebensbezügen“, die davon bestimmt wird, dass Selbst-, Fremd- und Weltbezüge „auf Gründe und Bedingungen hin befragt“ werden.227 Ähnliches will auch Stojanov, der anhand des Zusammenhangs von Bildung und Anerkennung veranschaulicht, dass Bildungsprozesse in alltägliche, sozialplurale Verhältnisse eingebettet sind und nicht – wie noch bei Humboldt „etwa in der Bewegung des Zu-sich-Kommens eines absoluten Geistes“.228 Bildung bei Stojanov ist ein sozial situiertes intersubjektives Geschehen. Damit vereint auch sein bildungstheoretischer Ansatz die zuvor vorgestellten Dimensionen „Selbst-Entwicklung“ und „Welt-Erschließung“. Er stellt eine intersubjektive Struktur fest: Es gebe Selbstbeziehungsakte des Einzelnen, die sowohl durch die Erfahrung der subjektiven Anerkennung initiiert werden als auch zugleich eine Selbstartikulation, eine Selbst-Vergegenständlichung, ein Selbst-Hineinprojizieren in die Welt erfordern und zugleich induzieren.229 Alle drei biographischen Subjekte, die von Marotzki, Koller und Alheit in ihren Veröffentlichungen vorgestellt werden, setzen sich zu sich selbst und zu anderen in Beziehung. Sie artikulieren sich selbst, projizieren sich selbst und fragen ihre Gegenüber, wie sie in die Welt projiziert wurden. Sie suchen nach Anerkennung in ihren vielfältigsten Formen, sehen sich der Welt ausgesetzt oder nehmen die Welt selbst in die Hand, um sich aus ihrer misslichen vergesellschafteten Situation zu befreien. Frankensteins Kreatur sieht die Lösung im Widerstreit der Identitätsfestlegungen in einem ‚gleichwertigen Gegenüber‘, Kafka wandelt sich in der Fiktion und Arnaud du Tilh Gestaltung von Welt erfolgt in Form von Lügen und Täuschung bei gleichzeitigem Streben nach eigener Authentizität. In ihren Biographien finden sich interferierende Kräfte, die sich in Handlungsfeldern zeigen (vgl. folgendes Kapitel).
der Erziehungswissenschaft“, in: Zeitschrift für Pädagogik 49 (2003), S. 422-430; Wigger, Lothar (Hg.): Wie ist Bildung möglich? Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2009. 226 T. Fuchs: Bildung und Biographie, S. 375. 227 Ebd., S. 383. 228 K. Stojanov: Bildung und Anerkennung, S. 54. 229 Ebd., S. 64ff.
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In den in dieser Arbeit rezipierten bildungstheoretischen Ansätzen wurde als Gemeinsamkeit festgestellt, dass insbesondere in Krisen und Konfliktsituationen Bildungsprozesse angestoßen werden können, die zu einer Problematisierung bisheriger Dimensionen von Selbst und Welt führen. Fuchs verwendet für dieses Phänomen die Bezeichnung „Entzweiung der Selbst-Welt-Relation“230. Diese Entzweiung führt zum Beispiel bei Tietgens zu Suchbewegungen und mündet im Idealfall in der Herstellung von neuen Selbst- und Weltverhältnissen, die sich in biographischen Erzählungen als Transformationen oder Wandlungen, Bildungsfiguren oder -gestalten niederschlagen und aus der Krise führen. Im Mittelpunkt der Ansätze steht das Individuum, das als Träger seiner Biographie in Erzählungen Bildungsprozesse darlegt, die aus biographischer Perspektive analysiert und bildungstheoretisch bestimmt werden können. Gemeinsam sind den Ansätzen ebenfalls – wenn auch in unterschiedlicher Theorierezeption – die zentrale Bedeutung der Sprache des sich bildenden Subjektes und die Bedeutung der Sprache für die Bezugnahme auf das subjektive Selbst und eine wie auch immer geartete Welt. Unterschiedlich wird die Bedeutung von Weltund/oder Fremdverhältnissen thematisiert. Festgestellt wurde, dass insbesondere die Ansätze von Marotzki und Koller auf die biographischen Bildungsprozesse im Hinblick auf die Selbstverhältnisse fokussieren. Alheit, Fuchs und Stojanov differenzieren stärker und betonen den Aspekt der Sozialität (Alheit), Fremdverhältnisse (Fuchs) und den Aspekt der Intersubjektivität (Stojanov). Die bildungstheoretische Diskussion verdeutlicht, dass Bildung sowohl individuelle als auch soziale Bedeutung zugesprochen wird. Diese Verflechtung ist konfliktreich, mehrdeutig, widersprüchlich und dialektisch. Insbesondere die Reflexion der ausgewählten Beispiele hat gezeigt, dass es zu Problemen bei der Erfassung von Bildungsprozessen kommen kann, wenn dieser die Annahme vorausgeht, dass Ergebnisse von Bildungsprozessen sich als abgeschlossene Wandlung von Selbst- und Welt-Verhältnissen zeigen und rekonstruieren lassen müssen. Wandlungen zum Schein, wie sie die Hochstapler eingehen, können so nicht als Resultat von Bildungsprozessen erfasst werden. Diese Form der Wandlung impliziert auch die Möglichkeit, dass am Selbstverhältnis festgehalten wird, die Weltverhältnisse aber geändert werden sollen, damit der Mensch in der Welt bestehen kann. In den Mittelpunkt rücken für die Analyse von Bildungsprozessen dann auch Wandlungen, in denen sich negationsresistente Selbst-Weltverhältnisse niederschlagen, denen eine Bildungsrelevanz nicht abgesprochen werden kann. Diesen Wandlungen zum Schein geht möglicherweise die Erkenntnis des Subjektes voraus, dass angestrebte Transformationen von Selbst- und Weltverhältnissen sich auf gesellschaftlicher Ebene nicht durchsetzen können, aber dennoch Handlungsbedarf besteht. Denkbar ist dann die Möglichkeit,
230 T. Fuchs: Bildung und Biographie, S. 182.
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dass Wandlungen eingegangen werden, die einen (scheinbaren) Kompromiss zwischen den widerstreitenden, interferierenden Kräften darstellen. Für die Erforschung von Bildungsprozessen in den biographischen Erzählungen von Hochstaplern bedeutet dies, dass ein Interpretationsrahmen gefunden werden muss, mittels dessen sowohl die Komplexität dieser Möglichkeiten als auch die Bildungsrelevanz von Weltverhältnissen stärker herausgearbeitet werden kann. Im folgenden Kapitel werden nun Perspektiven vorgestellt, die zu einer Lösung der dargelegten Problembereiche beitragen. Um die Bildungs- und Biographisierungsprozesse der Hochstapler erfassen zu können, rekurriere ich auf die Analysedimension der „Bildungsgestalt“, die insbesondere innerhalb der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung Verwendung findet. Rekonstruiert werden Bildungsgestalten dort anhand des biographischen Verlaufs, der sich dementsprechend als Chronologie verschiedener, voneinander differenzierbarer Bildungsgestalten verstehen lässt. Eine Bildungsgestalt ist dann aus Sicht der in den vorherigen dargelegten Ausführungen von Vertretern der bildungsorientierten Biographieforschung erfassbar, wenn auf diachroner Ebene oder synchroner Ebene des Biographisierungsprozesses eine vollständige Wandlung von Selbst- und Weltverhältnissen feststellbar ist. Um die Besonderheiten von Lüge, Täuschung und Hochstapelei im Hinblick auf Bildungsprozesse erfassen zu können, scheint mir diese analytische Fokussierung nicht ausreichend zu sein. Dies begründe ich im folgenden Kapitel ausführlich und stelle daran anschließend meine Überlegungen zu einer „gebrochenen Bildungsgestalt“ vor, die ich damit für die in Kapitel 6 vorgenommene Interpretation der Bildungsprozesse in den Biographien von Georges Manolescu, Ignatz Straßnoff und Harry Domela theoretisch verankere und interpretativ nutzbar mache.
5
Biographie, Bildung und Rekonstruktion von (gebrochenen) Bildungsgestalten
Lügen, Täuschen und Hochstapeln geht die bewusste Aneignung und Verfügung über Welt voraus (vgl. Kapitel 2 und 3). Hochstapler oszillieren zwischen individuellen und sozialen Gegensätzen, Widersprüchlichkeiten, Ambivalenzen sowie Konflikten. Sie heben diese in Momenten von geglückter Hochstapelei auf. Diese in der Figur des Hochstaplers gebundene Janusköpfigkeit von Subjekt und Gesellschaft zeigt sich auch in der Bedeutung von Bildung: Sie erweist sich als gesellschaftliches Ein- und Ausgrenzungsmittel, ermöglicht aber auch in ihrer Subjektbezogenheit die Auflösung sowie das Überschreiten von gesellschaftlichen Konventionen und Grenzen (vgl. Kapitel 4). Der Weg hin zur Hochstapelei, zur Täuschung und zur Lüge ist das Ergebnis einer reflexiven Auseinandersetzung des Subjektes in seinen Selbst- und Weltverhältnissen, welche auch von Interaktionen mit anderen bestimmt werden. Er wird in den Biographien der Hochstapler nachgezeichnet. Gleichzeitig ist mit der biographischen Offenlegung die Phase der Hochstapelei endgültig beendet und stellt die Hochstapler von einst vor weitere Herausforderungen (vgl. Kapitel 6). Um die biographischen Reflexionen der Hochstapler hinsichtlich ihrer Bildungsprozesse analysieren zu können, erfolgt in diesem Kapitel unter 5.1 eine Zuspitzung und Erweiterung der bisherigen bildungs- sowie biographietheoretischen Diskussion im Hinblick auf die Interpretation von Bildungsprozessen in biographischen Erzählungen. In diesem Zusammenhang lege ich meine Überlegungen zur Begründung und Erfassung von gebrochenen Bildungsgestalten dar, um die Bedeutung von Hochstapelei, Lüge und Täuschung für Bildungsprozesse in biographischen Erzählungen von Hochstaplern analysieren zu können (Kapitel 5.1.2). Dieses dient der vertiefenden Interpretation biographisch verankerter Bildungsprozesse von Hochstaplern in Kapitel 6. Deshalb mache ich zunächst in Kapitel 5.1.1 unter Anknüpfung an meine vorhergehenden theoretischen Überlegungen darauf aufmerksam, dass Bildungsprozesse ausgelöst und geprägt sein können von sich überlagernden Konflikten, von Interferenzen in Selbst- sowie Weltverhältnissen. Es können Wandlungen eingegangen werden, die diese Dimensionen in sich aufnehmen und sich als gebrochene Bildungsgestalten beschreiben lassen. Ich zeige auf, dass die in Kapitel 4.2 vorgestellten Ansätze der erzie-
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hungswissenschaftlichen Biographieforschung die im zweiten und dritten Kapitel dieser Arbeit beschrieben spezifischen Besonderheiten von Lüge, Täuschung und Hochstapelei für die Bildungsprozesse von Hochstaplern allein nicht genügen, um diese analysieren und erfassen zu können. Damit markiere ich gleichzeitig einen bisher nicht ausreichend gelösten Problembereich innerhalb der erziehungs- und erwachsenenbildnerischen Biographieforschung und arbeite einen Lösungsvorschlag aus, der Konsequenzen für die Rekonstruktion von biographischen Bildungsprozessen der Hochstapler in Kapitel 6 hat (Kapitel 5.1.2). Um den in Kapitel 5.1 skizzierten Problembereich weiter aufzulösen und die theoretische Zuspitzung hinsichtlich der gebrochenen Bildungsgestalten sowohl theoretisch als auch methodologisch fundieren zu können, widme ich mich in Kapitel 5.2 dem historisch-pragmalinguistischen Konzept von Presch, der eine Perspektive sowohl auf die Bedeutung von Vorgeschichten als auch Interferenzen für (sprachliches) Handeln aufzeigt. Preschs Interferenzkonzept verknüpfe ich mit meinen Überlegungen zu den gebrochenen Bildungsgestalten und integriere diese in die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung (Kapitel 5.2.1). Daran anschließend setze ich mich mit dem von Schulze erarbeiteten Zusammenspiel von biographischen Lebenswelten und Bewegungen auseinander (Kapitel 5.3). Dieser zweite Anknüpfungspunkt zeigt eine Alternative für die rekonstruktive Interpretation von Biographien und den ihnen inhärenten Bildungsprozessen auf. Schulzes biographietheoretischer Ansatz bietet die Möglichkeit, auch singuläre biographische Phasen untersuchen zu können, der nicht – wie zum Beispiel bei Marotzki und Koller – abhängig von einem prozessualen biographischen Verlauf ist. Mit seinem Ansatz ist es möglich, die Wandlung zum Hochstapler, die Reflexionen über diese Wandlung zum Hochstapler und die (hochstaplerischen) Lebenswelten in den jeweiligen subjektiven biographischen Begründungen zu erfassen. Abschließend fasse ich die Komponenten für die Rekonstruktion von Bildungsgestalten in hochstaplerischen Biographien zusammen und zeige in einer Zusammenstellung die Dimensionen für die Rekonstruktion von gebrochenen Bildungsgestalten auf (Kapitel 5.4).
5.1 BILDUNGS- UND BIOGRAPHIETHEORETISCHE ZUSPITZUNG In den vorangegangenen theoretischen Überlegungen wurde den Fragen nachgegangen, wie sich die individuelle Aneignung von Welt als Prozess der Konstitution des Subjektes gestaltet und welche Auswirkungen sich daraus für seinen Bildungsprozess ergeben. Dazu wurden zum einen verschiedene Ansätze der bildungstheoretisch orientierten bzw. erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung sowie erwachsenenbildnerische Überlegungen zum Bildungsbegriff vorgestellt, diskutiert und im
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Zusammenhang von Bildung und Biographie betrachtet (vgl. Kapitel 4.2). Es wurde zum anderen am Beispiel der Lüge, der Täuschung und der Hochstapelei erarbeitet, dass es ein grundlegendes individuelles sowie gesellschaftlich determiniertes Bestimmungsverhältnis des Menschen zwischen Sein und Schein gibt, welches Auswirkungen auf die Entwicklung des Subjektes, dessen Identität, Authentizität und Anerkennungsverhältnisse hat (vgl. Kapitel 3). Die damit verbundenen Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen individueller und gesellschaftlicher Existenz können in der Figur des Hochstaplers vielfältig gebunden werden (vgl. Kapitel 3). Um diese Mehrdeutigkeiten von Daseinsbestimmungen für die Bedeutung von Bildung erfassen zu können, nimmt dieses Kapitel eine Zuspitzung der bildungstheoretischen Überlegungen erziehungswissenschaftlicher und erwachsenenbildnerischer Biographieforschung vor (Kapitel 5.1.1) und definiert gebrochenen Bildungsgestalten (5.2.2). 5.1.1 Über die Wandlung von Selbst- und Weltverhältnissen: Bildung als der reflexive Modus des In-und-Zwischen-den-Welten-Seins Die Bildungsgeschichte eines Individuums zeichnet sich durch einen prozessualen Charakter aus. Verstanden als parallele Referenzherstellung des Individuums mit Welt und Selbst und in Interaktion mit anderen geht es nicht um das Erreichen eines bestimmten Bildungsstatus, sondern um einen „Verarbeitungsmodus von Welt- und Selbsterfahrungen, wo auf neue Problemerfahrungen in schon erworbenen Orientierungen nicht mehr angemessen geantwortet werden kann“.1 Marotzki argumentiert in ähnlicher Weise und zielt auf das „Reflexionsvermögen“ des Menschen, sein Bild von sich selbst in ein Verhältnis zur Welt zu setzen: „Bildung bezieht sich darauf, wie jemand sich selbst (Selbstbild) im Verhältnis zur Welt (Weltbezug) sieht.“ 2 Dieses Verhältnis, das sich in Welt- und Selbstreferenzen niederschlägt, „ist die Signatur von Bildung.“3 Problemerfahrungen, Krisen oder Konflikte führen dazu, dass das Subjekt sein bisheriges Welt- und Selbstverhältnis infrage stellt und nach Lösungen sucht, die sich in einem veränderten Selbst- und Weltverhältnis niederschlagen und so neue Handlungsmöglichkeiten offerieren. Diese Lösungen können in „anderen Welten“ gefunden werden, da der Mensch ein „Weltenwanderer“ ist, so Marotzki in
1
Kokemohr, Rainer: „Bildung in interkultureller Kooperation“, in: Sönke Abeldt et al. (Hg.), „... was es bedeutet, verletzbarer Mensch zu sein“. Erziehungswissenschaft im Gespräch mit Theologie, Philosophie und Gesellschaftstheorie, Mainz: Matthias-GrünewaldVerlag 2000, S. 421-436, hier S. 421.
2
W. Marotzki: Morphologie eines Bildungsprozesses, S. 83-84.
3
Ebd., S. 84.
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seiner Zuspitzung des phänomenologischen Ansatzes von Schütz für die Biographieforschung: „Vielleicht ist gerade für den Menschen konstitutiv, daß sie Weltenwanderer sind, daß sie sich in verschiedenen Welten aufhalten können, um dann in ihre Alltagswelt zurückkehren zu können. Denn das ist notwendig und stellt das sensible Kriterium für Gemeinschaftsfähigkeit dar: Die Welt des Alltags ist der unhintergehbare Bezugsrahmen solcher Wanderungen. Das Wandern in andere Welten ist eine Abkehr vom täglichen Leben im Vertrauen darauf, daß ich wiederkehren werde. Daß in diesen anderen Welten auch eine andere Logik gilt, wird in der Welt des Traumes deutlich: Ich kann nicht in der Welt des Alltags entwerfen, was und wie ich träumen werde.“4
Wandern, suchen, bewegen, konstruieren, erzählen, dazwischen-sein, zurückkehren – Tätigkeiten und Eigenschaften, mit denen Hochstapler sich ihre jeweiligen Welten erschließen, ohne jedoch in diesen als ‚Mitglied‘ stets anerkannt zu sein. Sie spielen als Weltenwanderer mit dem unhintergehbaren Bezugsrahmen von Lebenswelten und dem Wissen der anderen über diesen, in deren Gemeinschaft eigentlich kein Platz für sie vorgesehen ist. Die Rückkehr in ihre Alltagswelt ist kein erstrebenswertes Ziel, sondern das Gegenteil ist der Fall: ihr gilt es, zu entfliehen. Auch für sie gilt in ihrer Welt eine andere Logik, die darin besteht, ihre fiktive, erhoffte oder erwünschte Rolle in die Realität zu transformieren. In ihren Biographien zeigen die Hochstapler Wanderungen in den Welten der anderen und in ihre eigenen. Sie erlauben der Biographieforschung mit ihren Narrationen, Zugang zu ihnen und ihren Reflexionen in den vielfältigen Welten zu finden (vgl. Kapitel 4.1, 4.2). „Die Palette möglicher Welten reicht von der Alltagswelt über die Welt der Wissenschaft bis hin zur Traum- und Phantasiewelt, die Wahnwelt der Psychose, die Welt des Rausches halluzinogener Drogen wie LSD; schließlich gehört auch – so würden wir heute hinzufügen – die virtual reality, in der sich mancher Computerfreak bewegt, dazu. Jede dieser Welten bildet einen eigenen Sinnhorizont und ist auf ihre Weise real. In jedem Wirklichkeitsbereich gibt es Sinnmuster, die untereinander aber nicht kompatibel sein müssen. Wir haben jedoch die Fähigkeit, zwischen ihnen zu wechseln.“5
Die Widersprüchlichkeiten von Weltenwanderungen, wie sie sich bei den Hochstaplern zeigen, weisen auf ein Phänomen, das in Marotzkis Überlegungen zu den Weltenwanderungen kaum Berücksichtigung findet: Die Kollision von Welten und von Möglichkeiten an diesen Welten teilzuhaben; das subjektive Wandern-Wollen und das gesellschaftliche Nicht-Ziehen-Lassen, das nicht im Ausbleiben von Handlungen
4
W. Marotzki: Bildungsprozesse in lebensgeschichtlichen Horizonten, S. 197.
5
Ebd., S. 196-197.
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oder Dissoziation mündet, sondern handlungseröffnende Momente nach der Reflexion der Sinnhorizonte von Welt für das Selbst initiiert: Die Sinnhorizonte können sich überlagern, miteinander interferieren. Ein Wechsel von einer Welt in die andere findet dann unter erschwerten Bedingungen statt, weil ein anderer Sinnhorizont nicht in Sicht ist, die bevorzugte Welt nicht betreten werden kann und dennoch Handlungsnotwendigkeit besteht. Dies kann dazu führen, dass der Mensch sein Verhältnis zu sich selbst in der Welt infrage stellt, es reflektiert, um Wandlungen eingehen zu können. Dabei kann er sich nicht lösbaren Widersprüchen und Konflikten gegenübersehen, die, wie in dieser Arbeit gezeigt wird, in seine Handlungen und Wandlungen – als Ergebnis reflexiver Auseinandersetzung mit seinen Selbst- und Weltverhältnissen – einwandern und in ihnen gebunden werden können. Das von Marotzki im obigen Zitat angeführte Bild des Horizonts wird auch von Koller verwendet, dessen bereits erwähnte Untersuchung zu Kafkas „Brief an den Vater“ ihn zu der Feststellung kommen lässt: Kafka „bricht ein etabliertes Welt- und Selbstverständnis auf, ohne dass sich bereits ein anderer neuer Horizont klar und deutlich abzeichnen würde“.6 Bildungsprozesse „können auch die Gestalt einer oszillierenden Bewegung annehmen, deren Ausgang offen bleibt“.7 Koller untersucht die sprachlichen Grundfiguren in Kafkas Brief und stellt heraus, dass die Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen auch in „einer fiktiven Dimension“ zu finden ist: „Die Eröffnung einer fiktiven Dimension schließlich, die mit dieser Mehrdeutigkeit (gemeint ist die sprachliche Grundfigur der Metapher, KS) verbunden ist, das ist, was man im eigentlichen Sinne als Modalisierung bezeichnen könnte. Die metaphorische Redeweise lässt sich verstehen als ein So-tun-als-ob: Ein metaphorischer Ausdruck entspricht ja nicht einfach einer konstativen Aussage im Indikativ (du bist oder warst ein Gott für mich), sondern eher einer hypothetischen Aussage im Potentialis: Es war so oder man könnte es so betrachten, als ob du ein Gott für mich gewesen wärst.“8
Koller macht darauf aufmerksam, dass sich in der sprachlichen Grundfigur der Metapher eine Ebene der Fiktion, des Scheins eröffnet, welche in ihrer Mehrdeutigkeit eine Wandlung als Folge von Bildungsprozessen anbieten kann. Die Transformation verbleibt auf individueller Ebene (Selbstverhältnis), sucht sich aber in der sprachlichen Mehrdeutigkeit von Welt einen Anknüpfungspunkt, mit dem Wandlung vollzogen werden kann. Damit wandert ex negativo und mit Verlassen des Koller‘schen theoretischen Referenzrahmens auch das Wissen um die Mehrdeutigkeit sprachlichen Handelns in die Bildungs- und Lebensgeschichte des Erzählers von Kafkas Brief an
6
H.-C. Koller: Negativität und Bildung, S. 148.
7
Ebd.
8
Ebd., S. 146, Herv. i.O.
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seinen Vater ein. An anderer Stelle merkt Koller zur empirischen Erforschung von Bildungsprozessen an: „Abschließend soll eine besondere Schwierigkeit der bislang unternommenen Versuche der empirischen Erforschung transformatorischer Bildungsprozesse erörtert werden, die darin besteht, dass es bisher eher selten gelungen ist, erfolgreich vollzogene Transformationen des Welt-Selbstverhältnisses zu rekonstruieren. Im Mittelpunkt der bisherigen empirischen Studien zu Bildungsprozessen standen vielmehr eher Phänomene, die als Bildungsproblem oder Bildungspotential gefasst werden können. ... Selbst dort, wo es möglich war, grundlegende Veränderungen von Welt- und Selbstverhältnissen empirisch aufzuzeigen, beschränkte sich der Nachweis auf den Vergleich bestimmter Konfigurationen des Welt- und Selbstverhältnisses vor und nach der Transformation, während das Transformationsgeschehen selbst (also die Frage, wie sich die Veränderung vollzog) im Dunkeln bleibt.“ 9
Mögliche Erklärungen dafür sieht Koller in einem zu hohen theoretischen Anspruch an Bildungsprozesse und in der Notwendigkeit, besser geeignete methodische Verfahren zu entwickeln, und: „Vielleicht, so lautet die Erklärung, besteht ja Bildung weniger in dem abgeschlossenen Vorgang der Ersetzung eines etablierten durch ein neues Welt- und Selbstverhältnis als vielmehr in einem unabschließbaren Prozess der Infragestellung oder Verflüssigung bestehender Ordnungen und eines Anderswerdens mit offenem Ausgang.“ 10
Wie die Beispiele von Marotzki, Koller und Alheit gezeigt haben (vgl. Kapitel 4.2.1, 4.2.2, 4.2.3), kann es in Bildungs- und Biographisierungsprozessen u.a. zu vier Phänomenen kommen: • Die Krise, die als Auslöser von Bildungsprozessen gilt, bleibt – unabhängig davon,
wie das Subjekt sich dreht und wendet – bestehen, ist nach Koller negationsresistent. • Selbst- oder Weltverhältnisse lassen eine angestrebte Wandlung nicht zu. • Außerdem können in Bildungs- und Biographisierungsprozessen unterschiedliche Interessen und diachrone sowie synchrone Reflexionsebenen miteinander in Konflikt geraten. • Dennoch werden Lösungen gesucht, gefunden und umgesetzt: Kafka schreibt den Brief an den Vater und lässt seine Transformation in der Fiktion real werden – allerdings bleibt der Konflikt zumindest auf sozialer Ebene weiter be-
9
H.-C. Koller: Bildung anders denken, S. 168.
10 Ebd., S. 168-169.
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stehen. Die Kreatur Frankensteins sehnt sich nach Anerkennung und hofft, sie in und mit einer anderen zu finden, die auf die gleiche Art geschaffen wurden, wie sie selbst. Ihr Wunsch nach Anerkennung kollidiert mit den Interessen ihres Schöpfers, der weder die Individualität noch die Sozialität seiner Schöpfung anerkennt. Auch bei Arnaud du Tilh – der Hochstapler unter den Beispielen – sind es verschiedene individuelle Probleme und gesellschaftliche Konfliktsituationen, die sich überlagern und der Transformation in die Rolle des Hochstaplers Zeit und Raum geben. Alle drei Protagonisten reflektieren ihr Selbst- und Weltverhältnis und versuchen, dieses zu ändern. Die Transformationen, Wandlungen oder Bildungsgestalten, die sie in ihren Biographisierungs- und Bildungsprozessen eingehen, haben einen fiktiven, mehrdeutigen oder diffusen Charakter. Gemeinsam ist den vorgestellten Ansätzen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung, dass von einer reflexiven Verortung des Menschen in Selbstund Weltverhältnissen ausgegangen wird, die sich in Biographisierungsprozessen niederschlagen. Diese reflexive Verortung ermöglicht ein Verhältnis, dass sich zusammenfassend als „differenzierter Zusammenhang von einer historischen Lage der Welt und einer subjektiven Verfasstheit und Stellung zu den objektiven Bedingungen, zu anderen und zu sich selbst“11 beschreiben lässt. Problematisch wird die Erfassung von reflexiven Verortungen meines Erachtens, wenn zum einen Diskontinuitätserfahrungen nicht aufgehoben werden können oder wenn zum anderen Wandlungen von Selbst- und Weltbezügen aufgrund biographischer Reflexionen im Fiktiven, in der Täuschung, in der Lüge, in der Hochstapelei gesucht werden. Diese Schwierigkeiten bei der Erfassung derartiger Bildungsprozesse resultieren aus den theoretischen Vorannahmen der dargestellten Ansätze: Sie gehen während der Erforschung von Bildungsprozessen davon aus, dass Bildung einen „abgeschlossenen Vorgang der Ersetzung eines etablierten durch ein neues Weltund Selbstverhältnis“12 darstellt. Die Abgeschlossenheit zeigt sich in biographischen Erzählungen entweder als Resultat in einer Bildungsgestalt oder als Prozess der Transformationen von einer Bildungsgestalt in eine andere und ist für andere sichtbar und fassbar.13 ‚Erfolgreiche‘ Bildungsprozesse unterliegen damit der Prämisse der Abgeschlossenheit von Wandlungs- und Transformationsprozessen, die sich in klassifizierbaren sprachlichen Figuren oder Bildungsgestalten zeigen. 14 Sowohl Koller als auch Marotzki bleiben hinsichtlich des Wandlungspotentials von Selbst- und Weltverhältnissen, die sich als Bildungsgestalten identifizieren las-
11 L. Wigger: Über Ehre und Erfolg im ‚Katz-und-Maus-Spiel‘, S. 52. 12 H.-C. Koller: Bildung anders denken, S. 169. 13 Vgl. L. Wigger: Über Ehre und Erfolg im ‚Katz-und-Maus-Spiel‘, S. 50-52. 14 Vgl. ausführlicher dazu beispielsweise die Arbeiten von F. von Rosenberg: Bildung und Habitustransformation und T. Fuchs: Bildung und Biographie.
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sen, mit der Humboldt‘schen Idee von Objektivationen und Welt verbunden. Eine Alternative dazu bietet Stojanov an, der Bildung als parallelen Prozess der SelbstEntwicklung sowie Welterschließung definiert und als deren „Medium“, in Anschluss an Dewey, „alternativ die Sphäre der alltäglichen pluralen und interaktiv strukturierten sozialen Erfahrungen des Einzelnen anvisier[t].“15 Welt sei dann zu verstehen als eine dynamische Umwelt, die im Rahmen von Kommunikationen sozial hergestellt und durch die ständige Erweiterung dieser pluralistisch verfassten Kommunikation permanent erneuert werde. Mit dieser Auffassung von Welt rückt auch der Gedanke der Intersubjektivität in den Fokus bildungstheoretischer Überlegungen. Dieser kann sich auch hinsichtlich der Brüchigkeit von Bildungsgestalten in ihrem intersubjektiven Zusammenspiel in gesellschaftlichen und individuellen Zusammenhängen zeigen. Neuere Denkanstöße für den bildungstheoretischen und -philosophischen Diskurs dazu hat Stojanov unterbreitet. Er bezieht sich auf den späten Habermas, der dieses Paradigma gestärkt hat, welches innerhalb der Erziehungswissenschaft zum Beispiel von Masschelein aufgenommen wurde.16 Stojanov fragt nun, wie Bildungsprozesse nach den Ansätzen von Habermas und Apel hervorgebracht werden können. Ihm zufolge definiert Habermas Intersubjektivität nach dem Modell des verständigungsorientierten Handelns, welches vergesellschaftet und individuiert. In diesem Handeln konstituiere sich das Ich, indem es die Rolle des Sprechers übernimmt, der eine eigene Perspektive zur Welt und zu sich selbst zugleich für sich selbst und für einen Hörer hervorbringe. Dabei erhebe es Ansprüche auf Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit. Es signalisiere zumindest indirekt, diesen Ansprüchen auch aus Sicht des Hörers zu genügen. So solle Einverständnis über den thematischen Sachverhalt erreicht werden.17 Stojanov sieht darin eine „kognitivistische Verengung“, da Habermas Intersubjektivität auf kommunikative Vernunft/Rationalität reduziere. Um dieser Verengung zu entgehen, bevorzugt Stojanov für seinen Bildungsbegriff die Definition von Honneth für Intersubjektivität. Bei Honneth unterliegt Intersubjektivität nicht den Regeln kommunikativer Rationalität, sondern den Identitätsansprüchen von Einzelnen. Werden die Regeln von Kommunikation verletzt, entstehen soziale Pathologien, die sich nicht wie bei Habermas „hinter dem Rü-
15 K. Stojanov: Bildung und Anerkennung, S. 35. Stojanov bezieht sich auf Dewey, John: Democracy and Education. An Introduction to the Philosophy of Education, New York: Macmillan 1916, S. 12ff. 16 Vgl. Masschelein, Jan: Kommunikatives Handeln und pädagogisches Handeln. Die Bedeutung der Habermasschen kommunikativen Wende für die Pädagogik, Weinheim u.a.: Deutscher Studien Verlag 1991. 17 Vgl. K. Stojanov: Bildung und Anerkennung, S. 61. Habermas, Jürgen:“ Entgegnung“, in: Axel Honneth/Hans Joas (Hg.), Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns“, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 327-405.
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cken der Akteure ereignen“, sondern diese Pathologien werden unmittelbar von den Menschen erfahren und zwar als Entwicklungsblockaden für ihre Selbstbeziehungsformen bzw. als Bedrohung für ihre Identität.“18. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen definiert Stojanov Bildung als ein intersubjektives Geschehen. Der Bildungsprozess ereigne sich in alltäglichen Interaktionserfahrungen und nicht als Erschließung eines objektiven Geistes. So gelingt ihm der Anschluss an die Anerkennungstheorie: Intersubjektivität wird nicht primär auf verständigungsorientierte Sprechleistungen bezogen, sondern auf einen ganzheitlichen Selbst-Entwicklungsprozess mit seinen körperlichen, emotionalen und auch kognitiven Dimensionen. Stojanov sagt: „Somit erscheint der strukturbildende Gedanke des anerkennungstheoretischen Paradigmas sehr nahe an dem zu sein, was im gegenwärtigen erziehungswissenschaftlichen Diskurs allgemein mit ‚Bildung‘ im engeren Sinne gemeint ist: nämlich parallele Transformation von Selbstund Weltbezügen.“19
Allerdings vernachlässigt Stojanov in seinem Konzept die von Honneth angesprochenen sozialen Pathologien als Felder des Kampfes um Anerkennung, wenn er das Fazit zieht: „[...] Bildungsprozesse, verstanden als Parallelvorgänge von Selbst-Entwicklung und Welterschließung, [setzen] kontinuierliche Erfahrungen mit drei Formen intersubjektiver Anerkennung voraus, nämlich Empathie, moralischer Respekt und soziale Wertschätzung. Dabei ist für Bildungsprozesse jene spezifische Version der sozialen Wertschätzung besonders und unmittelbar relevant, die [...] als ‚kulturell-biographische Anerkennung‘ bezeichnet wird, und eine Synthese der Formen der Empathie und des moralischen Respekts darstellt.“ 20
Somit fokussiert Stojanov ähnlich wie Marotzki und Koller unter seiner anerkennungstheoretisch begründeten Intersubjektivitätsperspektive trotz der Dimension der Parallelität der Entwicklungen von Selbst und Erschließung von Welt auf einen abgeschlossenen, weil bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Offen bleibt die Frage, ob die Verweigerung von Anerkennung in der Intersubjektivität auch bedeutet, dass keine Bildungsprozesse stattfinden können. Wie jedoch die theoretischen Aus-
18 K. Stojanov: Bildung und Anerkennung, S. 64. Stojanov bezieht sich hier auf: Honneth, Axel, „Die soziale Dynamik von Missachtung. Zur Ortsbestimmung einer kritischen Gesellschaftstheorie“, in: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 22 (1994), S. 78-93, hier S. 85ff. 19 K. Stojanov: Bildung und Anerkennung, S. 108. 20 Ebd., S. 223.
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führungen zur Figur des Hochstaplers gezeigt haben, können gerade verweigerte Anerkennungsformen zu einer Wandlung im Schein führen, um Anerkennung in der Intersubjektivität zu erlangen. Biographien von Hochstaplern zeigen, dass auch Wandlungen zum Schein eingegangen werden können, die nicht als abgeschlossen gelten, sondern zwischen den Welten im Handeln mit anderen stattfinden. Auch sie zielen darauf ab, einer Krise zu entkommen und zum Beispiel Anerkennung zu erlangen. Ihnen geht der Wunsch nach einer Wandlung von Selbst- und Weltverhältnissen nach den Prinzipien der Wahrhaftigkeit voraus, deren Realisierung zum Beispiel aufgrund nicht lösbarer, gesellschaftlicher Konflikte, die dem Individuum auch intersubjektiv begegnen, scheitert. Denkbar in intersubjektiven Sphären sind dann Selbstverhältnisse, die durch den Wunsch nach Anerkennung, aber auch durch deren Missachtung initiiert werden und ein „Selbst-Hineinprojizieren“ in die Welt erfordern, das mittels Lüge, Täuschung und Hochstapelei umgesetzt wird. Die Bedeutung des Weltverhältnisses und die Prämisse von abgeschlossenen Wandlungsvorgängen erscheinen dann unter einem anderen Licht. 5.1.2 Über die diachrone Entwicklung und den synchronen Gebrauch von Bildungsgestalten In reflexiver Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt ordnet der Mensch in Form von Bildungs- und Biographisierungsprozessen seine Selbst- und Weltverhältnisse. Er lässt sie entstehen, hält sie aufrecht oder verändert diese. Er gibt ihnen eine bildungsrelevante Gestalt. Diese Gestalt, die innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung auch als Bildungsgestalt bezeichnet wird, lässt sich in biographischen Erzählungen rekonstruieren. In und mit ihr ordnet der Mensch seine Weltund Selbstverhältnisse, stellt Welt- und Selbstreferenzen her und veranschaulicht deren Aufrechterhaltung oder Wandlungen, die er eingeht. Indem er sie in Biographisierungsprozessen verortet und narrativ gestaltet, lassen sie sich als Gestaltwerdung von Bildungsprozessen aufspüren. Diese Dimensionen bilden für Marotzki den „bildungstheoretischen Referenzrahmen“ für die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung, die sich „für den Aufbau, die Aufrechterhaltung und die Veränderung der Welt- und Selbstreferenzen von Menschen [interessiert].“21 „Bildungsprozesse müssen auch empirisch beschrieben werden können“, fordert Marotzki bereits im Jahr 1997 und sieht „[e]ine Möglichkeit [...] darin, sie als Bildungsgestalten zu beschreiben.“22 Seitdem werden „Bildungsgestalten“ unter empirischen und methodologischen Gesichtspunkten genutzt, um Bildungsprozesse zu rekonstruieren und zu klassifizieren. Bildungsprozesse zeichnen sich von Marotzkis
21 W. Marotzki: Bildungstheorie und Allgemeine Biographieforschung, S. 60. 22 W. Marotzki: Morphologie eines Bildungsprozesses, S. 84.
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Blickwinkel dadurch aus, dass eine Bildungsgestalt in eine andere transformiert wird. Diese Transformation lässt sich in biographischen Erzählungen rekonstruieren. 23 Für sie gibt es unterschiedliche definitorische Akzentuierungen: Unter den Aspekten von Zeit und Lernereignissen in biographischen Erzählungen von Erwachsenen beschreiben Kade und Hof Bildungsgestalten als „theoretisches Konzept, mit dem die biographischen Strukturen des Lernens im zeitlichen Verlauf des Lebens Erwachsener analysiert werden sollen.“24 Sie verstehen Bildungsgestalt als „Formung des individuellen Subjekts ..., die diese von Lernprozessen abhängig begreift.“25 In Abgrenzung zur Lernpsychologie Erwachsener machen Kade und Hof darauf aufmerksam, dass Bildungsgestalten nicht in der „Persönlichkeitsstruktur“ verankert, sondern ein „relationales Konzept“ und eine „spezifische Form der individuumsbezogenen Strukturierung der sozialen Realität des lebenslangen Lernens“ sind.26 Sie konstatieren „individuelle Bildungsgestalten“, die in ihrem Verhältnis zu „gesellschaftlichen Erwartungen, institutionellen Gelegenheiten, sozialen Kontexten und individuellen Ressourcen“ zu betrachten sind.27 Bildungsgestalten lassen sich Kade und Hof zur Folge in gesellschaftstheoretischen, erziehungswissenschaftlichen und kulturtheoretischen Dimensionen beschreiben.28 Marotzki definiert Bildungsgestalten als „Koordinatensysteme für die existentielle Verankerung des Menschen. Sie bilden ein biographisches Ordnungs- und Orientierungssystem“29 und lassen sich anhand des Auffindens von Wandlungen bzw. Transformationen von Selbst- und Weltverhältnissen in autobiographischen Texten identifizieren. Wigger fasst die Bedeutung von „Bildungsgestalt“ in der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung zusammen:
23 Ebd., S. 85. 24 Kade, Jochen/Hof, Christiane: „Biographie und Lebenslauf. Über ein biographie-theoretisches Projekt zum lebenslangen Lernen auf der Grundlage wiederholter Erhebungen“, in: Heide von Felden (Hg.), Perspektiven erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 159-176, hier S. 166. 25 Ebd., S. 166. 26 Ebd. 27 Ebd., S. 166-167. 28 Vgl. Ebd., S. 167. Siehe auch: Hof, Christiane/Kade, Jochen/Fischer, Monika: „Serielle Bildungsbiographien. Auf dem Weg zu einem qualitativen Bildungspanel zum Lebenslangen Lernen“, in: Zeitschrift für Pädagogik 56 (2010), S. 328-339; Hof, Christiane/Kade, Jochen/Peterhoff, Daniela: „Verzeitlichte Bildungsgestalten. Subjektbildung im Kontext des Lebenslangen Lernens“, in: Report. Zeitschrift für Weiterbildungsforschung 31 (2008), S. 9-22. 29 W. Marotzki: Morphologie eines Bildungsprozesses, S. 85-86. Siehe auch: W. Marotzki: Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie, S. 313.
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„Die biografischen Erzählungen und Argumentationen sind als individuelle Selbstreflexionen auf den Prozess der eigenen Entwicklung und als Selbstdarstellung der früheren und gegenwärtigen Standpunkte zu verstehen. Sie sind zu einem gegebenen Zeitpunkt Momentaufnahmen einer Reflexion auf die Kontinuitäten und Diskontinuitäten des eigenen Lebens. Die Äußerungen des Individuums können als eine ‚Bildungsgestalt‘ rekonstruiert werden, d.h. als ein Zusammenhang vieler Vorstellungen und Urteile, Intentionen und Handlungen. Mit ‚Bildungsgestalt‘ ist dabei ein ‚Verhältnis von Mensch und Welt‘ gemeint, das einen in sich differenzierten Zusammenhang von einer historischen Lage der Welt und einer subjektiven Verfasstheit und Stellung zu den objektiven Bedingungen, zu andern und sich darstellt – als Ergebnis einer Geschichte der Auseinandersetzung dieses Menschen mit den Gegebenheiten, Zwängen und Anforderungen seiner Umwelt zu einem bestimmten Zeitpunkt und als Grundlage einer weiterer [sic!] Auseinandersetzung und möglichen Entwicklung.“ 30
Es lassen sich meines Erachtens – wie die angeführten Definitionen exemplarisch verdeutlichen – je nach theoretischem Gerüst und Forschungsinteresse zwei unterschiedliche Fokussierungen bei der Rekonstruktion von Bildungsgestalten in biographischen Erzählungen feststellen, die auch durchaus ineinandergreifen können. Zum einen werden Bildungsgestalten als Resultate von Bildungsprozessen begriffen, die sich anhand (auto-)biographischen Materials rekonstruieren lassen. Die Rekonstruktion der Bildungsgestalten erfolgt dann auf einer diachronen Ebene, indem auf den biographischen Verlauf fokussiert wird, welcher als Und-dann-und-dann-Geschichte, also als Abfolge aufeinanderfolgender Ereignisse und Bildungsgestalten, angesehen wird. Diese geht der Frage nach, „ob und wie Resultate von Bildungsprozessen als Bildungsgestalt formuliert werden können.“31 Zum anderen werden autobiographische Erzählungen auf die Verwendung von Bildungsgestalten hin untersucht. Die Rekonstruktion der Bildungsgestalten erfolgt dann auf einer synchronen Ebene, da der Gebrauch von Bildungsgestalten in neuen sprachlichen Zusammenhängen untersucht wird. Diese Ebene beantwortet die Frage „ob und wie sich Bildungsprozesse als Transformationen von Bildungsgestalten identifizieren lassen.“32 Diese theoretische Vorannahme führt zum Beispiel bei Marotzki dazu, dass er die synchrone und diachrone Ebene zwar identifiziert, aber als reflexive Formate des Subjektes klassifiziert: Er spricht von synchronen und diachronen Reflexionsformaten innerhalb biographischer Erfahrungszusammenhänge. Die Reflexionsformate sind die „Grundkoordinaten von Biographisierungsprozessen, die bildungstheoretisch auf die Herstellung und Aufrechterhaltung von Selbst- und Weltreferenz bezo-
30 L. Wigger: Über Ehre und Erfolg im ‚Katz-und-Maus-Spiel‘, S. 52. 31 Ebd., S. 51. 32 Ebd.
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gen werden können.“33 Liegt nun ein Mangel in einem der Reflexionsformate vor, laufen Biographisierungs-, Identitäts- und Bildungsprozesse für Marotzki ins Leere. Eine grundlegende Wandlung, Aufrechterhaltung oder Verortung kann nicht eingegangen werden. Die Konstitution des Subjektes und seine Identität sind in Gefahr. Bildungsgestalten in Form eines abgeschlossenen Vorgangs des Hervorbringens neuer Selbst- und Weltverhältnisse scheinen dann nicht möglich zu sein (vgl. Kapitel 4.2.2). Koller hingegen räumt, wie Wigger anmerkt, „selbstkritisch“ ein, dass es Probleme bei der empirischen Analyse von transformatorischen Bildungsprozessen geben kann, wenn diese als „abgeschlossener Vorgang der Ersetzung eines etablierten durch ein neues Welt- und Selbstverhältnis“ betrachtet werden.34 Von Koller wird als Konsequenz in Betracht gezogen, dass Wandlungen sich auch in fiktionalisierten Bildungsgestalten zeigen könnten, die darauf verweisen, dass Wandlungen und Bildungsprozesse einen offenen Charakter haben können (vgl. Kapitel 4.2.3). Ich komme zu der Einschätzung, dass es innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung eine Leerstelle gibt, wenn eine Bildungsgestalt sowohl das Resultat von Welt- und Selbstreferenzen ist als auch gleichzeitig gebraucht wird, um an Welt- und Selbstverhältnissen festzuhalten. Dieses Problem ergibt sich, weil an einem abgeschlossenen Vorgang von Wandlungs- bzw. Transformationsprozessen festgehalten wird, der in erster Linie auf das Selbstverhältnis fokussiert. Dies wirkt sich auf die Rekonstruktion von Bildungsgestalten in biographischen Erzählungen und damit auf die Analyse von Bildungsprozessen aus. Die Annahme von Bildungsgestalten als chronologische Abfolge im biographischen Verlauf, als abgeschlossener Vorgang von einem Selbst-Weltverhältnis in ein anderes, erweist sich besonders dann als problematisch, wenn an Selbstbildern festgehalten wird, die Gesellschaft keine Realisierung der Wandlung zulässt, deshalb ‚Wirklichkeit‘ überschritten wird und Wandlungen eingegangen werden, die normativ gesetzte Grenzen der Gesellschaft außer Acht lassen, so wie es die Hochstapler tun. Diese Problematik kann mit den vorgestellten und diskutierten Konzepten erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung im Hinblick auf Lüge, Täuschung, Hochstapelei und die Besonderheiten von Biographisierungsprozessen von Hochstaplern allein nicht gelöst werden. Die Problematik der Erfassung von Bildungsgestalten besteht darin, dass sie sich als fluide, mehrdeutige sprachliche Gebilde in Welt- und Selbstverhältnissen der Protagonisten in den Quellen zeigen. Sie sind keine starren Figuren innerhalb eines Biographisierungsprozesses, sondern können Zwischenstellungen einnehmen und mehrdeutig sein.
33 W. Marotzki: Bildungstheorie und Allgemeine Biographieforschung, S. 67. 34 H.-C. Koller: Bildung anders denken, S. 169. Vgl. L. Wigger: Über Ehre und Erfolg im ‚Katz-und-Maus-Spiel‘, S. 51.
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Die Verdichtung und Überlagerung von verschiedenen, widersprüchlichen, ambivalenten Phänomenen in der Figur des Hochstaplers – wie zum Beispiel „Schein und Sein“, „Authentizität und Identität“, „Vergesellschaftlichung und Individualität“ – führt mich zu der Überlegung, ob Offenheit von Wandlungen und entstehende Leere aufgrund von Mangel an diachronen und/oder synchronen Reflexionsformaten bzw. diachroner und synchroner Analyseebene nicht in die Bildungsgestalt selbst einwandern, ob dieser Konflikt in ihr gebunden werden kann, damit das Subjekt sich auch in konfliktreichen Situationen in sich selbst und in gesellschaftlichen Zusammenhängen konstituieren kann. Ist dies der Fall, spreche ich von gebrochenen Bildungsgestalten, welche ich im folgenden Kapitel mittels des historisch-pragmalinguistischen Konzeptes von Presch weiter theoretisch fundiere (vgl. Kapitel 5.2 und 5.3). Ich schlage diese Definition für gebrochene Bildungsgestalten vor: Immer dann, wenn am Selbstbild festgehalten wird und gleichzeitig Weltverhältnisse über den Weg der Täuschung, Lüge und Hochstapelei geändert werden, spreche ich von gebrochenen Bildungsgestalten. Diese gebrochenen Bildungsgestalten fassen außerdem das von interferierenden Konflikten geprägte Selbst-Weltverhältnis, das zu einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb der Lebensgeschichte eines Menschen nur über einen Scheinkompromiss gelöst werden kann, um handlungsfähig zu bleiben. Über diese auf diachroner Ebene zu verortende Entwicklung, die in der Wandlung zum Hochstapler mündet, berichten die Hochstapler rückblickend in ihren Biographien. Damit gebrauchen sie ihre gebrochene Bildungsgestalt für ihre Biographisierungsprozesse gleichzeitig auf synchroner Ebene, um ihr eine weitere Bedeutung für ihren Selbstbildungsprozess zuzusprechen, die sie auch in ihr Gegenteil verkehrt. Dies ist auch zu verstehen als Reaktion auf die Probleme, denen sie nach der Entlarvung als Hochstapler gegenüberstehen. Denkbar ist somit, dass nicht nur die Bildungsgestalten, sondern der Biographisierungsprozess selbst mehrdeutig ist. So zeigt sich zum Beispiel in der Biographie von Domela, dass sein Selbst-Weltverhältnis von der Interferenz von Fremd- und Selbstbestimmtheit bestimmt wird. Diese Interferenz, die als Konflikt wahrgenommen wird, lässt sich nicht lösen, weil das gesellschaftliche Außen angestrebte Wandlungen nicht zulässt. Deshalb integriert er das unaufhebbare Selbst- und Weltverhältnis in eine Rolle, die diese Interferenz aufheben kann: Er wandelt sich zum Hochstapler (siehe Kapitel 6.3). Sein Beispiel zeigt, dass die Möglichkeit in Betracht gezogen werden muss, dass in Biographisierungs- und Bildungsprozessen, die sich ausdrücken in (sprachlicher) Referenzherstellung zur Welt, zum Selbst und in Interaktion mit anderen, Biographisierungsprozesse und darin enthaltene Bildungsgestalten entstehen, die das Resultat von sich überlagernden Konflikten, Interessen oder Erwartungen, von Interferenzen in Welt- und/oder Selbstverhältnissen und von nicht änderbaren Selbst- oder Weltverhältnissen sind. Überlegungen aus sprachwissenschaftlicher Sicht finden sich dazu bei Presch, der ein Interferenzkonzept entwickelt, das er in seinen historisch-pragmalinguistischen
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Ansatz integriert.35 Er macht darauf aufmerksam, dass (sprachliche) Handlungen und damit auch Welt- und Selbstreferenzen insbesondere dann mehrdeutig angelegt sind, wenn verschiedene Handlungsfelder und -interessen im Widerspruch zueinander stehen. In den folgenden Ausführungen möchte ich meine bildungs- und biographietheoretischen Ausgangspunkte mit handlungstheoretischen Überlegungen verbinden, indem ich sie auf historisch-pragmatische Überlegungen und das Interferenzkonzept von Presch beziehe. Diese Verknüpfung ermöglicht zum einen die Entwicklung eines Interpretationsrahmens, um (sprachliche) Handlungen in Konfliktsituationen, die das Resultat des reflexiven Modus des In-und-zwischen-den-Welten-Seins sind, als (gebrochene) Bildungsgestalt erfassen zu können. Zum anderen trägt sie dazu bei, bildungs- und biographietheoretische Überlegungen in den gesellschaftlichen und subjektiven Dimensionen Sinn, Reflexion, (sprachliches) Handeln, Interaktion und (Inter-)Subjektivität zu betrachten, die manchmal von einem „Ineinandergreifen von Konsens und Konflikt“36 gekennzeichnet sein können und in (gebrochenen) Bildungsgestalten münden.
5.2 HISTORISCH-PRAGMALINGUISTISCHE ANKNÜPFUNG: DAS INTERFERENZKONZEPT VON PRESCH Presch positioniert sich innerhalb des sprachwissenschaftlichen Diskurses in der historischen Pragmalinguistik. Als essentiell für seine theoretische und methodologische Position sieht er an, „daß – anders als in den hauptströmungen der pragmalinguistik – die historisch-genetische erklärungsebene in pragmalinguistische theorie und empirie integriert werden muß“.37
35 G. Presch: Namen in Konfliktfeldern. Siehe auch G. Presch: Zur Begründung einer historischen Pragmalinguistik. 36 Ebd., S. 100. 37 Presch, Gunter: „widersprüche zwischen textfunktionen als ein ausgangspunkt sozialgeschichtlicher pragmalinguistik“, in: Dietrich Busse (Hg.), Diachrone Semantik und Pragmatik. Untersuchungen zur Erklärung und Beschreibung des Sprachwandels, Tübingen: Niemeyer 1991, S. 83-100, hier S. 83.
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5.2.1 Die Bedeutung von Geschichte für sprachliche Handlungen Damit schließt sich Presch einer Konzeption von Geschichte an, die der Auffassung Rechnung trägt, dass Geschichte sich mit der narrativen Rekonstruktion von Ereignisabläufen in ihren temporalen und räumlichen Strukturen beschäftigt. 38 Die in diesen Erzählungen enthaltende Logik kann nicht auf eine theoretische Richtung reduziert werden. Begriffen werden kann sie aus dieser Perspektive nur auf der Basis des „Wissens um einen historischen ... Sinnzusammenhang“.39 Die Bedeutung von Geschichten für die Geschichte führt bei vielen Vertretern des Neohistorismus und der analytischen Philosophie zu der Annahme: „Geschichte sei überhaupt nur in der Form von Erzählungen, also in Geschichten zu Geschichte, begreifbar zu machen“. 40 Als Pionier für die Bedeutung der Geschichten gilt Danto, der darauf aufmerksam macht, dass, um ein Ereignis vollständig erfassen zu können, nicht allein die chronologische Klärung ausreicht, sondern auch die Wirkung des Ereignisses, seine Folgen analysiert werden müssen.41 Danto zufolge müssen die Wirkungszusammenhänge in den Geschichten rekonstruiert werden. „Merkmal sog. historisch-genetischer Erklärung, um die es sich der Struktur nach bei Erzählungen handelt, ist gegenüber den kausal-genetischen oder DN-Erklärungen (deduktiv-nomologischen Erklärungen) der Natur- und Sozialwissenschaft die Tatsache, dass in historisch-genetischen Erklärungen nicht direkt von Ursachen auf Wirkungen geschlossen werden kann. Historisch-genetische Erklärungen haben immer eine Fülle intervenierender Faktoren zu berücksichtigen, deren (meist recht singuläre) Konstellation den Zusammenhang zwischen historischen Ursachen und Folgen plausibel macht.“42
Ruloff gibt dazu ein Beispiel von Lübbe: „Eine napoleonische Landstrasse [sic!] im flachsten Westfalen verläuft wie erwartet zunächst schnurgerade, macht dann jedoch ohne ersichtlichen Grund auf freier Strecke einen Bogen, um schließlich in der ursprünglichen Richtung weiterzulaufen.“43 Er erläutert, dass die Anomalie (der singu-
38 Vgl. Ruloff, Dieter: Historische Sozialforschung. Einführung und Überblick, Stuttgart: Teubner 1985, S. 30. 39 Ebd., S. 31. 40 Ebd. 41 Danto, Arthur C.: Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. 42 D. Ruloff: Historische Sozialforschung, S. 34. 43 Ebd. Das Beispiel findet sich in Lübbe, Hermann: „Der kulturelle und wissenschaftstheoretische Ort der Geschichtswissenschaft“, in: Roland Simon-Schaefer/Walther C. Zimmerli
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läre Sachverhalt: Biegung der Straße) nur durch die Rekonstruktion ihrer Entstehungsgeschichte erklärbar sei, auch weil sich verschiedene Prozesse auf nicht-synchroner Ebene überlagern können. Für das Phänomen der Straßenbiegung bedeutet dies, dass mehrere Dimensionen aufeinandertreffen: Ausgangspunkt ist, dass die napoleonischen Straßenbauambitionen auf die Interessen eines Grundherrn treffen, der auf der zu bebauenden Strecke ein Gebäude stehen hat. Der Grundherr verfügt aber über hervorragende Beziehungen zum Kassler Hof und kann so bewirken, dass die Straße um sein Gebäude gebaut wird.44 „Napoleonischer Strassenbau sic! sowie topographische und politische Gegebenheiten erzeugten in ihrem Zusammenwirken einen singulären Sachverhalt, der für sich weder aus der Logik napoleonischer Bautätigkeit noch der bekannten Folgen politischen Einflusses allein erklärbar ist.“ 45 So wird ein Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Interessen gefunden, der sich nur durch die Verbindung verschiedener Geschichten erklären lässt. Auch Ricoeur, der sich auf Vertreter narrativ-genetischer Erklärungsansätze wie Danto und White bezieht, verbindet implizit Geschichte und Narrationen und verweist auf heterogene Aspekte in der Geschichtsschreibung, die sie für Ricoeur zur „Quasi-Intrige“46 werden lässt: „Beide, Erzählung und historische Erkenntnis, komponieren zeitliche Konfigurationen, die die Unstimmigkeit und die Übereinstimmung einander gegenüberstellen.“47 Diese Heterogenität und Verknüpfungen stehen auch im Fokus von Preschs Konzept. Er schlussfolgert vom historisch-genetischen Erklärungsansatz für die Pragmalinguistik: „Dies bedeutet, dass die theoriebildung zum gegenstandsbereich der pragmalinguistik so angelegt werden muß, daß in ihren zentralen konzepten ... der systematisch-theoretische ort bestimmbar ist, von dem aus der übergang zu historisch-genetischen erklärungen erfolgen kann.“48 Presch verweist darauf, dass Widersprüche, Konflikte und Krisen in Geschichten und Vorgeschichten sprachliches Handeln immer mitbestimmen und strukturieren. Dies kann auf unterschiedlichen Handlungsebenen erfolgen: in „sprachlichen Teilhandlungen“, in „Ganztexten“ und „ineinander verzahnten Textfolgen“.49 Sprachli-
(Hg.), Wissenschaftstheorie in den Geisteswissenschaften, Hamburg: Hoffmann und Campe 1975, S. 134-140, hier S. 134-135. 44 Vgl. H. Lübbe: Der kulturelle und wissenschaftstheoretische Ort der Geschichtswissenschaft, S. 134-135. 45 D. Ruloff: Historische Sozialforschung, S. 34. 46 Ricoeur, Paul: Zufall und Vernunft in der Geschichte, Tübingen: Konkursbuchverlag 1986, S. 35. 47 Ebd. Siehe auch: Meyer, Ursula I.: Paul Ricoeur. Die Grundzüge seiner Philosophie, Aachen: ein-Fach-Verlag 1991. 48 G. Presch: widersprüche zwischen textfunktionen, S. 83. 49 G. Presch: Namen in Konfliktfeldern, S. 100.
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che Teilhandlungen sind zum Beispiel Referenzfixierungsakte bei der Namengebung und Verwendung, Lügen oder Täuschung. Ganztexte oder ineinander verzahnte Texte können zum Beispiel Biographien, Briefe oder auch wie bei einigen von Preschs Untersuchungen Arbeitszeugnisse sein. Sie werden von Menschen in gesellschaftlichen Handlungsfeldern produziert, verweisen auf diese und können nach Presch sowohl von Konflikt als auch von Konsens bestimmt werden. 50 Übertragen auf Biographien bedeutet dies, dass sich in ihnen möglicherweise von Konflikten geprägte Handlungsfelder und die Vorgeschichten dieser Konflikte finden lassen. Übertragen auf Biographisierungsprozesse bedeutet dies: Das biographische Subjekt gestaltet diesen Zusammenhang narrativ und lässt ihn von den erzählten und erzählenden Personen erläutern und kommentieren.51 Die narrative Gestaltung lässt sich als Welt- und Selbstreferenzen und somit als sprachliche Teilhandlung in Biographien fassen. In Geschichten und meines Erachtens auch in biographischen Erzählungen finden sich „handlungsmuster“, die sowohl an gesellschaftliche als auch an individuelle (widersprüchliche) Interessen gebunden sind.52 Nach Presch ist diesen Mustern eine „funktionsheterogenität“ inhärent, weil sie Widersprüche aufnehmen können oder durch sie entstanden sind. Ihre historisch begründete und vergegenwärtigte Mehrdeutigkeit ist auf die Zukunft ausgerichtet. Diese Annahmen führen bei Presch dazu, dass Handlungen (auch zum Beispiel in Form von Texten oder Biographisierungsprozessen) „mehrfachinterpretierbar“ und „mehrfachadressierbar“ sind.53 Presch grenzt sich bei der Bedeutungszuschreibung von Mehrfachadressierbarkeit und Mehrfachinterpretierbarkeit von ethnomethodologischen Ansätzen zur Indexikalität von Zeichen, Texten und Handlungen ab.54 Diese verstehen unter indexikalisch, dass es sprachliche Äußerungen gibt, deren Sinn vom Hörenden nicht erfasst werden kann, wenn er nichts über die Biographie und die Absichten des Sprechers, über die aktuellen und vorausgegangenen Umstän-
50 Presch, Gunter: „Verdeckte Beurteilungen in qualifizierten Arbeitszeugnissen. Beschreibung, Erklärung, Änderungsvorschläge“, in: Franz Januschek (Hg.), Politische Sprachwissenschaft. Zur Analyse von Sprache als kultureller Praxis, Opladen: Westdeutscher Verlag 1985, S. 307-360; Presch, Gunter: „Ein Vorschlag zur Erklärung von Problemen bei der Interpretation und Produktion mehrfach interpretierbarer Texte: Widerstreitende Textfunktionen, Mehrfachadressiertheit und die Verschiedenartigkeit von Wissensbeständen“, in: Rainer Kokemohr/Winfried Marotzki (Hg.), Interaktionsanalyse in pädagogischer Absicht, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 1985, S. 71-114. 51 G. Presch: Namen in Konfliktfeldern, S. 99. 52 Zum Beispiel: ebd., S. 124. 53 Ebd. 54 Vgl. ebd., S. 126.
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de der sprachlichen Handlung weiß.55 Presch kritisiert am ethnomethodologischen Indexikalitätsbegriff, dass dessen angestrebtes Ziel, indexikalische Ausdrücke zu objektivieren, nicht erreicht werden könne. Er konzentriert sich vielmehr darauf, aufzuzeigen, dass Mehrdeutigkeit „dem handelnden in der nachgeschichte der handlung“ ermöglicht, „in einen strategischen interpretationskampf einzutreten ... und sich auf diese weise einen interpretativen notausgang offen zu halten“.56 Wie Alheit geht Presch von kollektiven sowie individuellen Wissensbeständen und deren historischen Entwicklungen aus, die sich im Gebrauch von Sprache (Presch) oder in Biographisierungsprozessen (Alheit) zeigen. Dies hat Konsequenzen für die Herstellung von Referenzen zu sich selbst, der Welt und anderen, da diese durch kollektive Wissensbestände dann immer mitbestimmt werden. Dies betrifft Presch zufolge auch „Widersprüche aus Geschichten und Vorgeschichten“57 und führen zu einer pragmalinguistischen Definition von Referenzherstellungen: „Referenzherstellungen sind, sofern sie problemlos gelingen, sprachliche Teilhandlungen, die in übergreifende sprachliche Handlungen eingebettet sind.“58 5.2.2 Die Bedeutung von Interferenz für sprachliche Handlungen Unter Bezugnahme auf interaktionslogische Überlegungen konstatiert Presch in verschiedenen sprachlichen Handlungen und Textsorten kritische Handlungsmomente, die sich durch gegensätzliche Interessen der Handelnden auszeichnen. 59 Diese Interessengegensätze seien von Relevanz für die Handlung und fänden ihren Ursprung in der Vorgeschichte der Handlung. Die Gegensätze seien außerdem im Moment der
55 Vgl. Garfinkel, Harold/Sachs, Harvey: „Zum Phänomen der Indexikalität, Anhang zu: H. Garfinkel: Das Alltagswissen über soziale und innerhalb sozialer Strukturen“, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit (1973), S. 210-214. An dieser Auffassung von Indexikalität orientieren sich die Analysen von Kokemohr. Siehe beispielsweise: Kokemohr, Rainer: „Indexikalität und Verweisräume in Bildungsprozessen“, in: Koller/Wulftange, Lebensgeschichte als Bildungsprozess? (2014), S. 19-46. 56 G. Presch: Namen in Konfliktfeldern, S. 126. 57 Ebd., S. 100. 58 Ebd. 59 Presch nimmt Bezug auf: Matthes, Joachim/Schütze, Fritz: „Zur Einführung: Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit“, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit (1973), S. 11-53; Garfinkel, Harold: „Das Alltagswissen über und innerhalb sozialer Strukturen“, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit (1973), S. 189-262.
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Handlung nicht miteinander vermittelbar und gefährden das gemeinsame Handeln. Die Gegensätze führen nach Presch zu einem Konflikt, in dem in den kritischen Handlungsmomenten gleichzeitig Handlungsbedarf besteht. Um den Konflikt zu lösen, beschreibt Presch vier Strategien, die während einer Handlung gewechselt oder parallel zueinander angewendet werden können: • Interaktionsabbruch: Der Kontakt zwischen den Handelnden wird aufgegeben. So
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kann den Interessengegensätzen und dem Handlungsdruck sein Fundament entzogen werden. Die Folge ist, dass eine mögliche Handlung nicht stattfindet; Aussitzen: Der Handlungszwang wird auf einen späteren Zeitpunkt vertagt mit der Absicht, dass der Konflikt an Relevanz verliert oder sich verändert. Eventuell kann der Interessenkonflikt auf andere Art und Weise in Angriff genommen und gelöst werden. Die Folge ist, dass eine mögliche Handlung zunächst nicht stattfindet; antagonistisches Entscheiden durch Macht: Das Entscheiden durch Macht ermöglicht die Handlungsfähigkeit einer Partei/eines Handelnden auf Kosten der anderen Partei/der anderen Handelnden. Die Folge ist, dass die Handlung widerstrebende Interessen ignoriert; Kuhhandel: Unter Einbezug verschiedener konfliktgeprägter Handlungsfelder werden zwei oder mehrere Handlungen ausgeführt, die jeweils die widerstreitenden Interessen berücksichtigen; Scheinkompromiss: Eine vorläufige Handlungsfähigkeit wird durch eine Scheinlösung hergestellt.60
Innerhalb von Hochstaplergeschichten nimmt die Strategie des Scheinkompromisses, wie die theoretischen Vorüberlegungen und die Ergebnisse der Interpretationen zeigen (vgl. Kapitel 6), einen entscheidenden Stellenwert ein. Deshalb soll diese Strategie ausführlicher erläutert werden. Während des Scheinkompromisses findet Folgendes statt: „Keine der miteinander kollidierenden Kräfte kann sich voll durchsetzen: sie interferieren miteinander, sie überlagern sich. Die nicht lösbaren Widersprüche wandern in die Handlung ein und werden in ihr gebunden. Sie wird selbst widersprüchlich oder mehrdeutig oder vage. ... Mit einem Scheinkompromiß werden zwar die Handlungshemmungen überwunden, er ist insofern also handlungsöffnend; zugleich werden aber Folgeprobleme aufgeworfen: es entstehen Interpretationsprobleme und möglicherweise Interpretationskämpfe. Diese zugleich nützliche wie problematische Janusköpfigkeit läßt sich am besten als ‚funktionale Widersprüchlichkeit‘ charakterisieren.“61
60 Vgl. G. Presch: Namen in Konfliktfeldern, S. 89. 61 Ebd., S. 88-89, Herv. i.O.
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Um zu verdeutlichen, was Presch unter interferierenden Kräften und Interferenz versteht, greift er auf eine „argumentative grundfigur“ 62 Freuds zurück. Presch betont, dass es ihm nicht um die psychoanalytische Begründung seiner Theorie geht, sondern darum, dass die von ihm festgestellte argumentative Grundfigur, „über den gegenstandsbereich Freuds hinaus von zentraler theoretischer bedeutung ist“. 63 Ausgangspunkt seiner Freud-Rezeption ist die übergreifende Feststellung: „Zentral für interferenzkonzepte überhaupt ist, daß (mindestens) zwei kräfte aufeinander einwirken, daß sie ein anderes muster erzeugen, als nur eine wirkende kraft es hervorbringen würde, und daß das durch interferenz erzeugte muster als fehlerhaft, verwirrt und inkonsistent gedeutet werden kann“.64
Bei Freud seien diese „verwirrten und verwirrenden muster fehlleistungen des alltagslebens, ‚die ungereimtheiten, absurditäten des trauminhaltes‘ ... und neurotische symptome ....“65 Diese Erscheinungen sind gekennzeichnet von „verwirrtheit, irritation, absurdität“.66 Erklärt werden können sie – so die Interpretation Preschs von Freuds Überlegungen –, wenn man in Betracht zieht, dass sie das Resultat von aufeinander einwirkenden Kräften sind, von denen keine die Oberhand gewinnt. 67 Freud beschreibt dieses Phänomen mit den Begriffen „Mischbildungen“ 68 und „Kompromissbildungen (Kontaminationen)“69 und diagnostiziert es bei Fehlleistungen, Träumen und Neurosen.70 Beispielsweise resultieren Fehlleistungen bei Freud aus „konkurrierenden Tendenzen“ und stellen eine „Interferenz ... zweier verschiedener Redeabsichten“71 dar. Sie kommen zustande, weil „zwei verschiedene Redeabsich-
62 Presch, Gunter: „Widerstreitende Textfunktionen, Mehrfachadressiertheit und Mehrfachinterpretierbarkeit als theoretische Konzepte der linguistischen Pragmatik“, in: Wilfried Kürschner et al. (Hg.), Sprachtheorie, Pragmatik, Interdisziplinäres, Tübingen: Niemeyer 1985c, S. 133-140, hier S. 137. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 126. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Ebd. 68 Freud, Sigmund: „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und Neue Folge“, in: Sigmund Freud, Studienausgabe, Band 1, Frankfurt am Main: S. Fischer 1982, S. 65. 69 Freud, Sigmund: Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum, Frankfurt am Main: S. Fischer 1954, S. 232. 70 Presch gibt weitere Beispiele zu Träumen und Neurosen. Siehe dazu ausführlicher beispielsweise G. Presch: Namen in Konfliktfeldern, S. 127-130. 71 S. Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens, S. 66.
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ten“72, „zwei verschiedene Intentionen“73 gegeneinander wirken. Als Beispiel dafür führt Freud die Rede eines Präsidenten an, der die Sitzung des Abgeordnetenhauses mit dem Satz eröffnet: „Meine Herren, ich konstatiere die Anwesenheit von ... Mitgliedern und erkläre somit die Sitzung für geschlossen.“ Freud interpretiert: „Der Präsident, der sich zum Gegenteil verspricht – es ist klar, er will die Sitzung eröffnen, aber ebenso klar, er möchte sie auch schließen.“74 Um die Definition und Merkmale von Interferenz weiter zu verdeutlichen, wählt Presch bezüglich Freuds Überlegungen zum Zusammenhang von Interferenz und Traum in seinen schriftlichen Ausführungen zu seinem Konzept zum Beispiel auch folgende Textstelle aus der „Psychopathologie des Alltagslebens“75: „Die Ungereimtheiten, Absurditäten und Irrtümer des Trauminhaltes, denen zufolge der Traum kaum als Produkt psychischer Leistung anerkannt wird, entstehen auf dieselbe Weise, freilich mit freierer Benutzung der vorhandenen Mittel, wie die gemeinsamen Fehler unseres Alltagslebens: hier wie dort löst sich der Anschein inkorrekter Funktion durch die eigentümliche Interferenz zweier oder mehrerer korrekter Leistungen.“76
Ein weiteres Zitat, in dem sich für Presch die argumentative Grundfigur Freuds entfaltet, beschäftigt sich mit „Neurosen“: „Indessen haben wir schon oft in der Psychoanalyse erfahren, daß Gegensätze keinen Widerspruch bedeuten. Wir könnten unsere Behauptung dahin erweitern, die Symptome beabsichtigen entweder eine sexuelle Befriedigung oder eine Abwehr derselben, und zwar wiegt bei der Hysterie der positive wunscherfüllende, bei der Zwangsneurose der negative, asketische Charakter im ganzen vor, wenn die Symptome sowohl der Sexualbefriedigung als auch ihrem Gegensatz dienen können, so hat die Zweiseitigkeit oder Polarität eine ausgezeichnete Begründung in einem Stück ihres Mechanismus, welches wir nicht erwähnen konnten, sie sind nämlich, wie wir hören Kompromißergebnisse, aus der Interferenz zweier gegensätzlicher Strebungen hervorgegangen, und vertreten ebenso wohl das verdrängte wie das verdrängende, das bei ihrer Entstehung mitgewirkt hat. Die Vertretung kann dann nicht mehr zugunsten der einen oder der anderen Seite geraten, nur selten fällt ein Einfluß völlig aus. Bei der Hysterie wird zumeist das Zusammentreffen beider Absichten in dem nämlichen Symptom erreicht. Bei der
72 Ebd., S. 65. 73 Ebd., S. 81. 74 S. Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und Neue Folge, S. 57. 75 Siehe beispielsweise auch: G. Presch: widersprüche zwischen textfunktionen, S. 83-100. Ich beziehe mich auf den Wiederabdruck des Aufsatzes in G. Presch: Namen in Konfliktfeldern, S. 126-130. 76 S. Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens, S. 232, Herv. i.O.
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Zwangsneurose fallen beide Anteile oft auseinander; das Symptom wird dann zweiseitig, es besteht aus zwei Aktionen, einer nach der anderen, die einander aufheben.“ 77
Was interessiert Presch nun an diesen Zitaten? Was ist die argumentative Grundfigur? Von Interesse sind für Presch: „Ungereimtheiten, Absurditäten und Irrtümer“. Sie werden von ihm interpretiert als „Bizarrheit der erreichten Lösungen“ und sind Ausdruck eines „tieferliegenden Problems“. • Das von Freud beschriebene Phänomen, dass mindestens zwei Kräfte im Konflikt
sind und sich keine dieser Kräfte vollständig durchsetzen kann. Dann sei nach Presch eine inhaltliche Vermittlung nicht möglich und es werde die Ebene der Konfliktlösung gewechselt. • Auf der neuen Ebene der Konfliktlösung kommt es zu einem Vermittlungsergebnis. • Dieses Vermittlungsergebnis, das darin bestehen kann, dass sich die interferierenden Kräfte in einem Symptom ausdrücken, reduziert das Konfliktpotenzial, wirft aber gleichzeitig Folgeprobleme auf.78 Diese Grundfigur überträgt Presch auf sein pragmalinguistisches Interferenzkonzept: Wesentliches Moment von Interferenzkonzepten sei, dass die aufeinander einwirkenden Kräfte ein anderes Muster erzeugen, als nur eine wirkende Kraft hervorbringen könne. Diese bizarren Muster lassen sich aufklären, „wenn man sie als ergebnis des aufeinanderwirkens von kräften interpretiert, von denen sich keine voll durchsetzen kann, so entstehen ‚mischbildungen‘ ..., ‚kompromißbildungen‘“79, die aufgrund ihrer Vorgeschichte mehrdeutig sein können. Die Ablösung der Argumentationsfigur Freuds vom Gegenstandsbereich der Psychoanalyse und ihr Übertrag auf historisch-pragmalinguistische Zusammenhänge führe dazu, dass nicht mehr „intrapsychische kräfte und ihr widersprüchliches zusammenwirken – die ökonomie der einzelseele also – sondern gesellschaftlich bestimmte interaktionsbedingungen und ihre mögliche widersprüchlichkeit“80 im Mittelpunkt stehen. Diese Übertragung der Freud‘schen Grundfigur führt zu folgender Definition von Scheinkompromiss: „Scheinkompromisse sind bei aller Bizarrheit zu verstehen als vorläufiges Ergebnis eines im Moment nicht lösbaren Konfliktes. Sie schließen alte Formen der Auseinandersetzung vorläu-
77 S. Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und Neue Folge, S. 298. 78 Vgl. G. Presch: Namen in Konfliktfeldern, S. 131-132. Siehe auch G. Presch: Ein Vorschlag zur Erklärung von Problemen, S. 89. 79 G. Presch: Namen in Konfliktfeldern, S. 126. 80 Ebd., S. 130.
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fig ab, bringen eher schlecht als recht eine Vermittlung der widerstreitenden Interessen zustande und eröffnen zugleich eine neue Stufe der Auseinandersetzung bei weiterbestehender Gegensätzlichkeit der Interessen. Sie sind Teilmomente eines langen Prozesses interessengebundener Auseinandersetzung.“81
Für Presch ist es möglich, dass das Wissen um den scheinbaren Kompromiss der Handlung von den Konfliktparteien geteilt wird. Die scheinhaftigen Handlungen zeichnen sich dann sowohl durch Konsens als auch durch Konflikt aus. „Wo dieses Wissen strategisch vorenthalten werden kann, wird der Konflikt einseitig unter dem Anschein des Konsenses ausgetragen.“82 Es handelt sich dann um „antagonistisches Handeln durch List“.83 5.2.3 Die Anwendung des historisch-pragmalinguistischen Interferenzkonzeptes am Beispiel von gebrochenen Namen Anhand einer Untersuchung von „Namen in Konfliktfeldern“ veranschaulicht Presch exemplarisch sein methodisches Vorgehen und seinen theoretischen Standpunkt. Ausgehend von einem alltagssprachlichen Namensverständnis stellt Presch eine Bifunktionalität von Namen fest. Sie heben einen Gegenstand sprachlich hervor, identifizieren ihn, und individualisieren ihn, weil er von sozialer Wichtigkeit ist. 84 Dies erfolgt, indem dem Referenten „im sozialen Verkehr einzigartige (nur auf ihn zutreffende) Merkmale/Merkmalskomplexe zugeschrieben, und ... einzigartige Geschichten zugeschrieben“85 werden. Diese Geschichten weisen nach Presch eine temporale Struktur auf, sie können als Prozess erzählt werden. „Eigenschaften können als Ergebnis einer Geschichte gefasst werden, eine bestimmte Geschichte zu haben, kann auch als Eigenschaft interpretiert werden.“86 Merkmale seien Eigenschaften, die als Zustände gefasst werden könnten. Eigenschaften und Geschichten können sich überlagern oder sich bedingen. Diese Bedeutung des Namens ist vorausgesetzt, wird aber erst im gesellschaftlichen Sprachverkehr hergestellt.87 Entscheidend an Preschs Namendefinition ist, dass er absieht von einer festgelegten Namenbedeutung, sondern
81 G. Presch: Ein Vorschlag zur Erklärung von Problemen, S. 89. 82 Ebd. 83 Ebd., Herv. i.O. 84 Vgl. G. Presch: Namen in Konfliktfeldern, S. 79. 85 Ebd. 86 Ebd., S. 83. 87 Vgl. zu den folgenden Ausführungen auch: Schmidt, Katja: Zwischen den Namen. Namen und Identität in biographischen Erzählungen zur Nachkriegszeit. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Hamburg 2006, S. 27ff.
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betont, dass die mit dem Namen verbundenen Geschichten innerhalb eines sozialen Umfeldes geteilt und geändert werden können. Über diesen Weg gelingt Presch die Einbeziehung des geschichtlichen Aspektes, der sich als Historie und Interaktionsgeschichte darstellt und somit gesellschaftlichen Aushandlungen und Handlungen unterliegt. Die Bedeutung des Namens ist nach Presch nicht festgelegt, sondern kann sich im Gebrauch des Namens ändern. Im Falle eines „Namenbruchs“ ändert sich die Bedeutung eines Namens plötzlich, bei einer „Namenverschiebung“ geschieht dies in einem Prozess.88 Letzteres kann daran liegen, dass neue Merkmale, die von sozialer Relevanz sind, hinzugefügt werden, einstige, zugeschriebene Merkmale verschwinden oder unwichtig werden. Das Gleiche gilt auch für Geschichten, die vergessen werden können, an sozialer Relevanz verlieren oder neu hinzukommen. 89 Er weist zum Beispiel anhand des Ortsnamens „Steinrod“ nach, dass im Vorfeld des Referenzfixierungsaktes relevante Widersprüche und Konflikte sich „nicht nur in den Bedingungen der Namenwahl niederschlagen können, sondern im gewählten Namen selbst.“90 Dies sind dann für Presch „gebrochene Namen.“ Im Fall des Ortsnamens „Steinrod“ beschreibt Presch zunächst die Vorgeschichte des Referenzfixierungsaktes. Diese ist von dem Konflikt geprägt, dass die Orte Blumenrod und Spittelstein zusammengelegt werden sollten und beide Gemeinden zunächst nicht bereit waren, ihren Namen aufzugeben. Es kam zu dem Kompromiss, dass der Name der zusammengelegten Orte „Steinrod“ lautete. Diese „Mischbildung aus vorher unselbständig verwendeten Namenteilen91“ schaffte auf der einen Seite die bestehenden Namen ab, erhielt aber auf der anderen Seite alte Bestandteile der Namen. „So kann jede der Gemeinden ihre Identität wahren, aber nur ein bißchen.“92 Ein weiteres Beispiel für „gebrochene Namen“ findet Presch in der Novelle „Tonio Kröger“ von Thomas Mann (1903), in der „gebrochene Namen als Gestaltungsmittel eingesetzt“ 93 werden und der Name des Protagonisten wie folgt beschrieben wird: „Aber ‚Tonio‘ war etwas Ausländisches und Besonderes. Ja es war in allen Stücken etwas Besonderes mit ihm, ob er wollte oder nicht, er war allein und ausgeschlossen von den Ordentlichen und Gewöhnlichen, obgleich er kein Zigeuner im grünen Wagen war, sondern der Sohn Konsul Krögers, aus der Familie der Kröger ...“94
88 Vgl. G. Presch: Namen in Konfliktfeldern, S. 81. 89 Vgl. ebd. 90 Ebd., S. 5. 91 Ebd., S. 6-7. 92 Ebd., S. 90. 93 Ebd., S. 94. 94 Thomas Mann: „Tonio Kröger“. In: T. Mann: Gesammelte Werke, Band 8, Frankfurt am Main 1974, S. 279.
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Tonio selbst merkt an, dass er „Heinrich oder Wilhelm heißen“ möchte und thematisiert gegen Ende der Novelle gegenüber seiner Freundin Liseweta Iwanowa einen Identitätskonflikt, „der symbolisch im gebrochenen Namen gebunden ist“ 95: „Mein Vater, wissen Sie, war ein nordisches Temperament: betrachtsam, gründlich, korrekt aus Puritanismus und zur Wehmut geneigt; meine Mutter von unbestimmt exotischem Blut, schön, sinnlich, naiv, zugleich fahrlässig und leidenschaftlich und von einer impulsiven Liederlichkeit. Ganz ohne Zweifel war dies eine Mischung, die außerordentliche Möglichkeiten – und außerordentliche Gefahren in sich schloß. Was herauskam, war dies: ein Bürger, der sich in die Kunst verirrte, ein Bohemien mit Heimweh nach der guten Kinderstube, ein Künstler mit schlechtem Gewissen. [...] Denn mein bürgerliches Gewissen ist es ja, was mich in allem Künstlertum, aller Außerordentlichkeit und allem Genie etwas tief Zweideutiges, tief Anrüchiges, tief Zweifelhaftes erblicken läßt, was mich mit dieser verliebten Schwäche für das Simple, Treuherzige und Angenehm-Normale, das Ungeniale und Anständige erfüllt. Ich stehe zwischen zwei Welten, bin in keiner daheim und habe es infolgedessen ein wenig schwer. Ihr Künstler nennt mich einen Bürger, und die Bürger sind versucht, mich zu verhaften ... ich weiß nicht, was von beiden mich bitterer kränkt.“96
Die Untersuchung von Presch zeigt, dass vor und nach Referenzfixierungsakten – also der Festlegung eines Namens für eine Person oder einen Ort – unterschiedliche Identitätsfestlegungen in Widerspruch zueinander geraten können, die sich auf die Namenwahl sowie den Namengebrauch auswirken und im Namen selbst sichtbar werden. Die so entstandenen Namen können die widersprüchlichen Identitätsfestlegungen symbolisch aufheben. Doch sie wirken im Gebrauch des Namens fort, solange „sie zum Wissen derer gehören, die mit diesem Namen Referenz herstellen“.97 Die Bedeutung des Namens kann dann ambivalent sein: Namen können dies bedeuten und das Gegenteil. Sie werden von Presch als gebrochene Namen klassifiziert. Seinen untersuchten Beispielen ist gemeinsam, dass es vor und nach Referenzfixierungsakten zu Identitätszuschreibungen kommt, die von Personen oder Parteien vorgenommen werden und zueinander im Widerspruch stehen. Auch der Name selbst kann als Widerspruch zu den zugeschriebenen Merkmalen des Referenten empfunden werden. Nach Presch kann ein Widerspruch auch innerhalb einer Person liegen. Dies bezeichnet er als eine „gespaltene Intention“98, die aber nicht nur psychisch aufzufassen ist, da die gesellschaftlichen Widersprüche Auswirkungen auf das Subjekt haben. Ein Konflikt kann auch zwischen Parteien und Personen liegen, es handelt
95 G. Presch: Namen in Konfliktfeldern, S. 94. 96 T. Mann: Tonio Kröger, S. 337. 97 G. Presch: Namen in Konfliktfeldern, S. 100. 98 Ebd., S. 89.
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sich dann um „konkurrierende Intentionen“.99 Zwischen den Intentionen kann es fließende Übergänge geben. Presch zeigt auf, dass (sprachliches) Handeln und die Herstellung von Referenzen zur Welt und zu sich selbst von (Vor-)Geschichten mit bestimmt werden. Anhand seiner Beispiele der gebrochenen Namen verdeutlicht er, dass Referenzen Teilhandlungen sind, die in übergreifende Handlungen eingebettet sind. Mittels seiner Untersuchung von gebrochenen Namen, ihrer Bedeutung und ihrem Gebrauch stellt Presch fest, dass in Handlungen wie zum Beispiel in Referenzherstellungen Konsens und Konflikt ineinandergreifen können. Nicht der Idealfall, also homogene Handlungsbedingungen, sondern die Heterogenität von Handlungsbedingungen in ihren historischen Entwicklungszusammenhängen können so berücksichtigt werden. Entscheidend an Preschs Integration seiner namenstheoretischen Überlegungen in sein historisch-pragmalinguistisches Interferenzkonzept ist, dass es so möglich wird, nicht von einer zu einem bestimmten Zeitpunkt festgelegten Bedeutung von (sprachlichen) Handlungen auszugehen (diachrone Ebene), sondern davon, dass die mit den Handlungen verbundenen Geschichten innerhalb eines sozialen Umfeldes geteilt, geändert oder auch verschwinden können (synchrone Ebene). Betrachtet man zum Beispiel erneut den von Alheit rezipierten Fall Arnaud du Tilh unter dem Aspekt sozial geteilter Biographisierungsprozesse und Identitätskonstruktionen, die sich auch auf narratives, soziales und individuelles Handeln gründen, so fällt auf, dass es Arnaud du Tilh gelingt, in die Rolle des Martin Guerre zu schlüpfen und diese zu leben, weil er Eigenschaften, Merkmale und Geschichten von diesem kennt und vorspielen kann. Diese Merkmale, Eigenschaften und Geschichten werden von der Dorfgemeinschaft geteilt und sind symbolisch im Namen „Martin Guerre“ gebunden, der als (vorgetäuschter) „Identitätsaufhänger“ 100 erfolgreich verwendet werden kann. Arnaud du Tilh gelingt es sogar, schlechte Eigenschaften von Guerre verschwinden zu lassen und eigene Merkmalkomplexe in die angenommene, vorgetäuschte Identität zu integrieren. Zum einen hält er auf diese Weise an seinem Selbstbild fest, ändert aber das Verhältnis der Welt ihm gegenüber. Auf diese Weise verleiht er der angenommenen Identität eines anderen eine neue Bedeutung, die sich aus ursprünglich unterschiedlichen Identitätsfestlegungen und -merkmalen zusammensetzt. Seiner Hochstapelei wird in dem Moment ein Ende gesetzt, als die zunächst sozial akzeptierten Zuschreibungen von Identitätsmerkmalen infrage gestellt werden. Die von du Tilh unter dem Namen Martin Guerre geschaffene biographische Geschichte, die sowohl eigene Eigenschaften als auch fremde Identitätsmerkmale bindet, erweist sich als Täuschung. Somit kann sich der Gebrauch von Biographisierungsprozessen und Identitäten im Laufe der Zeit ändern und sie können sich als
99
Ebd.
100 E. Goffman: Stigma, S. 73.
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mehrdeutig erweisen. Es zeigt sich auf interpretativer Ebene das Phänomen der gebrochenen Bildungsgestalt. Denkbar ist also die Möglichkeit, dass Vorgeschichten von Handlungen bestehen, die widersprüchlich sind und/oder in der Handlung selbst eingebunden sind bzw. die Handlung selbst als widersprüchlich angesehen wird. Dieser prozessuale Wandel oder der Bruch von Bedeutungen in bestimmten Handlungsfeldern führt dazu, dass Vorgeschichten von (sprachlichen) Handlungen untersucht werden können. Dabei ist es notwendig, den Ort der interferierenden Kräfte und den Ort des Konfliktes in den jeweiligen Handlungsfeldern zu bestimmen. Presch zeigt auf, dass sprachliches Handeln von Geschichten und Vorgeschichten mitbestimmt wird. Hinsichtlich der Herstellung von Referenz, verstanden als sprachliche Teilhandlung des Menschen in seinen Welt- und Selbstverhältnissen, verdeutlicht er, dass diese als Teilhandlung in übergreifende Handlungen eingebettet ist. So kann zum Beispiel auch gedacht werden, dass Biographien als Resultat von narrativ dargelegten Biographisierungsprozessen in übergreifenden Handlungskontexten entstehen können und durch diese bedingt werden. Parallelen dazu finden sich meines Erachtens bei Alheits und Brandts Klassifizierung von biographischen Formaten (vgl. Kapitel 4.1). Anhand diverser Beispiele (Namen, Zeugnisse) stellt Presch fest, dass im sprachlichen Handeln Konsens und Konflikt ineinandergreifen. Er weist nach, dass vor sprachlichen, individuellen und sozialen Handlungen unterschiedliche Identitätsfestlegungen und die damit verbundenen Geschichten in Widerspruch zueinander geraten können. Diese wirken sich auf die sprachliche Handlung aus und können in dieser Handlung selbst sichtbar werden. Die Handlung kann dann die zum Beispiel widersprüchlichen Identitätsfestlegungen aufheben.101 Entscheidend an diesen Überlegungen für Hochstapler und ihre Bildungs- und Biographisierungsprozesse ist nun, dass ihre Welt- und Selbstreferenzen und mögliche daraus resultierende Handlungen und Wandlungen, die sich in den Biographien als Bildungsgestalten zeigen, das Ergebnis von widersprüchlichen Intentionen, Interessen und Machtverhältnissen sind. Sie sind dann nicht als In-dem-Relation zu verstehen, sondern als Ergebnis heterogener Handlungsbedingungen in ihren geschichtlichen bzw. biographischen Entwicklungen.
101 Vgl. K. Schmidt: Zwischen den Namen, S. 31.
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5.3 VERKNÜPFUNG: INTERFERENZ UND (GEBROCHENE) BILDUNGSGESTALTEN Wie die Kapitel zu den theoretischen Grundlagen dieser Arbeit auch gezeigt haben, können gesellschaftliche Möglichkeiten und individuelle Absichten zur Gestaltung des Lebens in einem Konflikt zueinander stehen. Als Diskrepanzerlebnis erfahren, können diese Konflikte und Widersprüchlichkeiten für das Subjekt ein Anlass für einen Bildungsprozess sein, mit dem Ziel, sich in diesem ambivalenten und von möglichen Konfliktüberlagerungen geprägten Spannungsfeld zu positionieren und Wandlungen einzugehen. Dabei kann es zu der Erkenntnis kommen, dass angestrebte Wandlungen trotz reflexiver Selbstbildungsprozesse in den Weltverhältnissen nicht realisiert werden können (vgl. Kapitel 6). Möglich ist allerdings, die Realisierung des Selbst mittels der Lüge, der Täuschung oder Hochstapelei in und zwischen den Welten, um die angestrebte Wandlung in den Selbst- und Weltverhältnissen authentisch eingehen zu können. Denkbar sind somit Wandlungen, die zwischen dem Authentischen und Fiktivem der Wirklichkeit zirkulieren und aufgrund reflexiver, biographisch verortbarer und gesellschaftlich verankerter Auseinandersetzung des Subjekts mit sich selbst und der Welt zustande kommen. Diese Wandlungen können auch in einem In-und-Zwischenden-Welten-Sein gesucht und gefunden werden. So wird versucht, widerstreitende Interessen und Möglichkeiten hinsichtlich individueller Lebensvorstellung sowie gesellschaftlich verankerter Lebensgestaltung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des eigenen Selbstbildes auszubalancieren. Dieses In-und-zwischen-den-Welten-Sein kann sich in der Freiheit zur Lüge, zur Täuschung oder Hochstapelei zeigen, um aus der Perspektive des vergesellschafteten Subjektes Handlungsfähigkeit und Selbstbild für das eigene Leben zu bewahren. Manchmal scheint es für das Individuum also notwendig zu sein, die Grenzen des (moralisch) Konventionellen zu überschreiten. Allerdings ziehen Lügen, Täuschen und Hochstapelei weitere Probleme – wie zum Beispiel die Entlarvung von Lügnern und Hochstaplern sichtbar macht – nach sich. Diese können zum Beispiel darin bestehen, dass das Hochstapeln ihnen im weiteren Lebensverlauf als Stigma anhaftet und damit wiederum ihre Handlungsfähigkeit, ihr Weltverhältnis und ihr Selbstbild gefährden (vgl. Kapitel 6). Über diese komplexen Prozesse und Verhältnisse erzählen die Hochstapler in ihren Biographien, die im folgenden Kapitel analysiert werden sollen. Greifbar werden sie aus der Perspektive erziehungswissenschaftlicher und erwachsenenbildnerischer Perspektive, in dem man sie im Hinblick auf gebrochene Bildungsgestalten untersucht. Hier sehe ich den entscheidenden Anknüpfungspunkt für eine Integration des historisch-pragmalinguistischen Konzepts von Presch für die Erforschung von Bildungsprozessen in Biographien. Seine Argumentationsfiguren lassen sich vom Gegenstandsbereich der Pragmalinguistik lösen und auf die Komplexität von Biogra-
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phisierungs- und Bildungsprozessen und deren Erforschung übertragen. Sie lassen zu, dass • nicht mehr nur die Welt- und Selbstreferenzen in Biographisierung und Bildungs-
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prozessen des Subjektes in den Blick rücken, sondern auch gesellschaftlich und historisch kontextualisierte Interaktionsbedingungen und ihr mögliches Konfliktpotential, das zum Entstehen der Biographie beigetragen und den Biographisierungsprozess beeinflusst hat; (sprachliche) Handlungen wie Lügen, Täuschen und Hochstapeln sich als das Resultat eines von interferierenden Konflikten geprägten Selbst-Weltverhältnisses identifizieren lassen, welchen das Moment des Scheinkompromisses anhaftet; sich auch Bildungsgestalten als bildungsbedeutsam erweisen, die am Selbstbild des Subjektes festhalten und auf eine Änderung des Weltverhältnisses ausgerichtet sind; Bildungsgestalten auch mehrdeutig gebraucht werden können, um ihnen in Biographien eine andere Bedeutung zuzusprechen, die sie in ihr Gegenteil verkehrt und gleichzeitig an ihnen festhält und die Biographisierung von einzelnen biographischen Phasen nicht nur als prozesshafter, chronologischer Verlauf abgeschlossener Wandlungen von Selbst- und Verhältnisse im Hinblick auf Bildungsprozesse betrachtet werden kann, sondern als Bestandteile eines Biographisierungsprozesses, der von Vor- und Nachgeschichten gerahmt ist, welche von Interferenzen bestimmt sein können und so Auswirkungen auf die narrative Artikulation von Selbst- und Weltverhältnisse in Form von Selbstund Weltreferenzen haben.
Zu den nichtauflösbaren Widersprüchlichkeiten und interferierenden Konflikten können zum Beispiel Anerkennungs- und Missachtungs- sowie Macht- und Ohnmachtsverhältnisse, die dialektische Verknüpfung von Sein und Schein oder auch individuell und sozial divergierende Identitätsfestlegungen zählen, die vom Subjekt auf Handlungsebene nur mittels eines Scheinkompromisses überwunden werden können. Diese führen zu Folgeproblemen, die auch Einfluss auf die Biographisierungsprozesse haben. Die Hochstapler stehen beispielsweise vor der Herausforderung, ihre von der Moral abweichenden Handlungen zu rechtfertigen, sich zu ihnen zu bekennen und zu erklären, warum sie so gehandelt haben. Die folgende Tabelle zeigt eine Übersicht zu Übertragungsmöglichkeiten des historisch-pragmalinguistischen Interferenzkonzeptes auf (hochstaplerische) Bildungs- und Biographisierungsprozesse:
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Tabelle 1: Interferenz und Bildung Historisch-pragmalinguistisches Interferenzkonzept
Übertragung des Interferenzkonzeptes auf (hochstaplerische) Bildungs- und Biographisierungsprozesse
Berücksichtigung der Vorgeschichten von (sprachlichen) Handlungen
Berücksichtigung der Vorgeschichten für die Wandlung zum Hochstapler (auf diachroner Ebene) Berücksichtigung der Vorgeschichten für die Bildungs- und Biographisierungsprozesse der Hochstapler (auf synchroner Ebene)
Für die Vorgeschichten von Handlungen sind die Möglichkeiten von Gegensätzen oder Konflikten anzunehmen, die handlungsrelevant, zum im Moment der Handlung nicht vermittelbar sind, ein (gemeinsames) Handeln bei gleichzeitig bestehendem Handlungsbedarf gefährden. Es stehen mindestens zwei Kräfte im Konflikt, von denen sich keine voll durchsetzen kann: Interferenz.
Dialektik der Bildungs- und Biographisierungsprozesse aufgrund semantischer, gesellschaftlicher, subjektiver und funktionaler interferierender Erwartungen an das Individuum
Da eine inhaltliche Vermittlung nicht möglich ist, wird die Ebene der Konfliktlösung gewechselt und mehr schlecht und recht ein erst mal funktionierender Scheinkompromiss zustande gebracht.
Wandlung zum Hochstapler (diachrone Ebene)
Das Vermittlungsergebnis vermindert zum einen das momentane Konfliktpotenzial
Sowohl die Wandlung zum Hochstapler als auch die biographische Aufarbeitung dieser singulären biographischen Phase ermöglichen gesellschaftliche Interaktion, Partizipation, Anerkennung, Identität, individuelle Selbstbestimmung und Selbstbehauptung.
und wirft zum anderen Folgeprobleme auf.
Folgen sind erneute inter- bzw. intrasubjektive Wandlungs-, Anerkennungs- oder Identitätskämpfe.
Interferenzen in Selbst- und Weltverhältnissen sowie Selbst- und Weltreferenzen
Welt- und Selbstreferenzen in Biographien (synchrone Ebene)
Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Presch 2002, S. 130
Die Hochstaplerbiographien werden gefasst als narrative Erzählungen im Prozess des Lebens; sie sind Orte subjektiver Selbstreflexion über individuelle Entwicklungsprozesse und der Selbstdarstellung in historischen Bezügen. Außerdem sind biographische Erzählungen „zu einem gegebenen Zeitpunkt Momentaufnahmen einer Reflexi-
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on auf die Kontinuitäten und Diskontinuitäten des eigenen Lebens“. 102 Sind Interferenzen Auslöser und Begleiter reflexiver Bildungsprozesse können sie – so lautet eine der wesentlichen Thesen dieser Arbeit – sowohl im Resultat als auch im Prozess der Biographisierung und der Bildung gebunden werden. Ich gehe davon aus, dass Lügen, Täuschen und Hochstapeln aufgrund der reflexiven Auseinandersetzung des Subjektes in seinen Selbst- und Weltverhältnissen erfolgen. Die Reflexionen der von Interferenzen bestimmten Selbst- und Weltverhältnisse lassen sich als gebrochene Bildungsgestalten in den Biographien der Hochstapler erfassen. Um gebrochene Bildungsgestalten rekonstruieren zu können, müssen widersprüchliche Handlungsbedingungen, ihre Interferenzen in konfliktreichen Situationen, vor und innerhalb des Biographisierungsprozesses identifiziert werden. Es müssen außerdem die verschiedenen Lösungsstrategien des Subjektes für das von Interferenzen bestimmte Selbst-Weltverhältnis aus den Quellen herausgearbeitet werden. Angenommen wird, dass das Handeln der Hochstapler in interferierenden Konstellationen erfolgt, welche auch die sich gegenseitig bedingenden diachronen und synchronen Reflexionsebenen in Biographien betreffen. Die Biographien sind auch dahin gehend zu untersuchen, ob sie dafür genutzt werden, der Wandlung zum Hochstapler eine andere Bedeutung zu geben. Rekonstruieren lässt sich dann, dass die Wandlung von Welt- und Selbstverhältnissen nicht von einer Bildungsgestalt in die nächste erfolgt, sondern die Bildungsgestalt gebraucht wird, um ihre eine andere Bedeutung zu geben. Diese nachträglich an sie herangetragene Bedeutung wird im Zusammenspiel von synchroner und diachroner Reflexionsebene realisiert und hält an der Bildungsgestalt fest. Diese Arbeit trägt dazu bei, die konstatierte Leerstelle innerhalb der erziehungswissenschaftlichen und erwachsenenbildnerischen Biographieforschung zu füllen, indem sie aufzeigt, dass Bildungsprozesse sich auch in Wandlungen zum Schein zeigen können. Diese lassen sich als gebrochene Bildungsgestalten in den biographischen Erzählungen der Hochstapler rekonstruieren. Um den damit verbundenen Mehrdeutigkeiten von Welt- und Selbstverhältnissen sowie Welt- und Selbstreferenzen gerecht zu werden, stelle ich im folgenden Kapitel Schulzes Analyseparameter für Biographien „biographische Lebenswelten“ und „biographische Bewegungen“ vor.
102 L. Wigger: Über Ehre und Erfolg im ‚Katz-und-Maus-Spiel‘, S. 52.
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5.4 BIOGRAPHIETHEORETISCHE ANKNÜPFUNG: LEBENSWELTEN UND BIOGRAPHISCHE BEWEGUNGEN NACH SCHULZE Das Interesse der Erziehungswissenschaft im Allgemeinen und der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung im Besonderen zeigt sich darin, dass in Biographien und Biographisierungsprozessen ein Subjekt, seine Sicht auf, sein Verständnis sowie seine Erkenntnis von und Verortung in der Welt erkennbar werden kann. Die Bildung des Individuums in biographischen Kontexten zeigt sich dann in der spezifischen reflexiven und narrativen Konstitution des biographischen Subjektes im Spannungsfeld von individueller Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Eingebundenheit. Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht bilden Biographien Orte, in denen sich Bildungsprozesse mittels unterschiedlicher methodischer Verfahren rekonstruieren lassen.103 Zur Analyse von Biographien merkt Schulze kritisch an: „Ich denke: wir machen da etwas falsch in der Biographieforschung. Wir beschäftigen uns mit den Biographien einzelner Menschen, lassen uns ihre Lebensgeschichte erzählen. Das ist eigentlich mit das Interessanteste, Aufregendste, Vielgestaltigste und Bunteste, was man sich denken kann. Aber wenn ich biographische Untersuchungen lese – sorgfältig vorbereitet und durchgeführt, methodisch angelegt und gesichert, theoretisch eingebunden, im wissenschaftlichen Diskurs vernetzt – finde ich die Menschen und ihre Lebensgeschichten nicht wieder. Sie sind bis zur Unkenntlichkeit durchbuchstabiert, in zitierte Sätze und Kernaussagen zerstückelt, trianguliert und in Typen aufgelöst. Und wenn dann doch einzelne Personen erkennbar bleiben, haben sie ihre Farbe verloren und wirken ausgebleicht, ausgedünnt, schemenhaft wie Strichmännchen.“104
Um die Einzigartigkeit eines Menschen und seiner Biographie zu würdigen, fordert Schulze dazu auf, Kategorien für die Analyse zu nutzen, die der Vielgestaltigkeit des Lebens gerecht werden. Er plädiert dafür, innerhalb der Biographieforschung auf den Einzelfall zu fokussieren: Es geht ihm nicht um ein „vorherrschendes Schema oder Muster“, nicht um eine „Bündelung von Problemlösungen“ und nicht um eine „Typisierung von Menschen, Verhaltensweisen, Subjektfigurationen und Prozessstrukturen“, sondern um den „Vergleich von Fall zu Fall“, um „die exemplarische Erzählung von Geschichten und ihrer weiterführenden Interpretation in der Erschließung
103 Eine Übersicht bietet beispielsweise Marotzki, Winfried: „Forschungsmethoden der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung“, in. Heinz-Hermann Krüger/Winfried Marotzki (Hg.), Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung, Wiesbaden: Springer VS 1996, S. 55-89. 104 T. Schulze: Lebenswelt und biographische Bewegungen, S. 107.
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übergreifender Zusammenhänge.“105 Die Analyse von Bildungsprozessen sollte nicht der Kategorie des Erfolges erliegen, was eine Unterscheidung zwischen Gebildeten und Ungebildeten impliziert, die als vermessene Haltung der Forschenden angesehen werden kann, sondern hat sich am Subjekt in seinen individuellen und gesellschaftlichen Möglichkeiten zu orientieren. Diese Ansicht vertritt auch Schulze, indem er sich dafür ausspricht, Bildung hinsichtlich ihres Differenzgehaltes für jede Biographie neu zu definieren: „Aber anhand des autobiographischen Materials wird man prüfen können, was jeweils mit ‚Bildung‘ gemeint ist und wieweit das Gemeinte trägt. Wenn man daran festhält, dass der Begriff der ‚Bildung‘ eine Differenz einschließt – die Differenz zwischen ‚gebildet‘ und ‚ungebildet‘ – und damit einen Anspruch, und wenn man zugleich davon ausgeht, dass er auf alle Menschen zutrifft, dann kann sich diese Differenz nur auf etwas beziehen, was jeder Biographie inhärent ist. Das ist die Differenz zwischen der wirklichen und der möglichen Biographie, zwischen dem gelebten und dem ungelebten Leben, zwischen einer Normalbiographie und den möglichen Abweichungen. Diese Differenz aber muss für jedes Zeitalter, für jede Kultur, für jede soziale Gruppe und für jeden einzelnen Menschen jeweils neu bestimmt werden.“ 106
Im Versuch einer Typisierung des Menschen zu entgehen und dennoch die Interpretation der einzelnen Biographie in Bezug auf Bildungsprozesse und für übergreifende Zusammenhänge weiter zu erschließen, knüpfen die folgenden Überlegungen u.a. an Schulzes Kategorien der „Lebenswelt“ und der „biographischen Bewegung“ an, um in hermeneutischer Absicht auf den Einzelfall Hochstaplerautobiographien auf Bildungsprozesse zu untersuchen. 5.4.1 Biographische Lebenswelten Wie das Unterkapitel „bildungstheoretische Zuspitzung“ gezeigt hat, ist eine Fokussierung auf eine vollständige Wandlung von Selbst- und Weltverhältnissen im Hinblick auf die Biographisierungs- und Bildungsprozesse der Hochstapler nicht ausreichend zielführend – auch weil es im Fall von Lüge, Täuschung und Hochstapelei um eine singuläre biographische Phase und Handlungen handelt, die von einer Vor- und Nachgeschichte bestimmt werden. Daher wird nicht auf eine Analyse des gesamten biographischen Verlaufs und dessen Prozessstrukturen abgezielt, welche jedoch die Vertreter der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung vornehmen, sondern auf ein die Biographie bestimmendes Ereignis, das zugleich den Anlass für das
105 Ebd., S. 108. 106 T. Schulze: Allgemeine Erziehungswissenschaft und erziehungswissenschaftliche Biographieforschung, S.141.
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Verfassen der Biographie darstellt. Dieses Ereignis wird als ein Geworden-Sein in biographischen Begründungszusammenhängen beschrieben (diachrone Ebene) und auf synchroner Ebene mit einer Bedeutung für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft versehen. Schulze richtet in seinen Analysen von lebensgeschichtlichen Erzählungen seinen Blick auf biographisch relevante Erfahrungen, Ereignisse und die „tragenden Elemente im Biographieverlauf“: „Die meisten Untersuchungen beschäftigen sich mit dem gesamten Biographieverlauf eines einzelnen Menschen oder mit der Zusammenfassung, Gruppierung oder Kontrastierung mehrerer Biographieverläufe. Meine Aufmerksamkeit gilt bevorzugt den Elementen innerhalb eines Biographieverlaufs. Also: was sind die tragenden Elemente im Biographieverlauf? In welchen elementaren Einheiten artikuliert sich der biographische Prozess?“107
Mit dieser analytischen Ausrichtung fokussiert Schulze auf Elemente innerhalb von biographischen Erzählungen, in denen über Erfahrungen und Ereignisse verdichtend reflektiert wird. Zu diesen Elementen zählen auch die „Lebenswelten“, die sich als wichtige „Orte der biographischen Bewegung“ in biographischen Erzählungen markieren lassen.108 Lebenswelt meint bei Schulze weder „eine objektiv vorgegebene und allgemein geltende empirische, soziale und kommunikative Ausgangsbasis für die Produktion von Wissen, sozialer Orientierung und moralischer Verständigung“, noch den „Inbegriff der subjektiven Weltsicht eines einzelnen Menschen.“ 109 In Abgrenzung zur Phänomenologie, Sozialphilosophie und Kommunikationstheorie sind Lebenswelten für Schulze der „Ort, an dem die Biographie ‚arbeitet‘, sich gestaltet und verändert“.110 Sie sind anhand des biographischen Materials jedes Mal neu zu bestimmen, trotz dessen, dass sie „immer auch objektiv“111 gegeben sind. Aufgrund der Einzigartigkeit und Vielfalt lebensgeschichtlicher Erzählungen werden die jeweiligen thematisierten Lebenswelten inhaltlich immer anders bestimmt: Sie verfügen über eine „spezifische Gestalt“112 und „einen ganz unterschiedlichen Charakter“ 113, sind nicht ein singuläres, allen zugängliches Phänomen, sondern in ihrer Vielzahl und individuellen Bedeutsamkeit zu betrachten. Lebenswelten verfügen demnach über ei-
107 Schulze, Theodor: „Ereignis und Erfahrung. Vorschläge zur Analyse biographischer Topoi“, in: Günther Bittner (Hg.), Ich bin mein Erinnern. Über autobiographisches und kollektives Gedächtnis, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 97-114, hier S. 97. 108 T. Schulze: Lebenswelt und biographische Bewegungen, S. 111. 109 Ebd. 110 Ebd., S. 114. 111 Ebd., S. 112. 112 Ebd. 113 Ebd., S. 113.
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ne „Zweiseitigkeit“: Sie sind sowohl ein „Vorgang, der sich im Inneren des Menschen ereignet“ als auch „eine reale Gegebenheit, die außerhalb der einzelnen, an ihr beteiligten Individuen existiert, ein objektives, auch von außen beobachtbares soziales Gebilde“, in dem der Mensch auch anderen Menschen begegnet.114 Lebenswelten „sind sowohl Tätigkeitsfelder wie Lebensräume“. 115 „Aber sie sind mehr. Sie haben einen anderen Charakter als Institutionen. Sie sind nicht nur ausgestattet mit Rollenträgern und Funktionen und gesteuert durch Programme und Codes. Sie sind belebt von Menschen, von freundlichen, befremdlichen oder widerwärtigen Personen, verbunden in einem Gefüge wichtiger Tätigkeiten und Verrichtungen, angefüllt mit Gegenständen, Inhalten, Aufgaben und Bedeutungen, eingelagert in eine sinnlich erfahrbare Umwelt, besetzt mit Gefühlen und Erwartungen, geordnet und zusammengehalten in einem Netz von Regeln und Imperativen, artikuliert in einer eigenen Sprache und bedacht mit einem eigenen Sinn.“ 116
Lebenswelt umfasst für Schulze nicht nur einen „begrenzten Raum in einer Umwelt“ und eine „bestimmte Lebensweise, von einem Verbund verschiedenartiger realer Tätigkeiten“, sondern auch „ganz andere Lebenswelten – mentale, symbolische, fiktive, virtuelle oder religiöse.“117 Für die Biographieforschung gehe es dabei nicht um den Inhalt des Vorgestellten, des Symbolischen, sondern „um den Umgang mit ihnen und die Umstände ihrer Aneignung, um die Aktivitäten, Personen, Gegenstände und Räume, die mit ihnen verbunden sind, und um ihren Sinn.“118 Entscheidend bei Schulzes Begriff der Lebenswelt ist meines Erachtens, dass dieser nicht auf Einheitlichkeit beruht, sondern „Lebenswelt“ mehrdeutig und -zahlig fasst. So ist es zum einen möglich, Lebenswelten in ihrer Chronologie zu betrachten, als Ablauf von Welten, die der Mensch betritt und wieder verlässt. Zum anderen kann sich die Biographie eines Menschen auch dadurch auszeichnen, dass Lebenswelten „nebeneinander, [...], ineinander und übereinander“ existieren: „Oft treten wir in eine für uns neue Lebenswelt ein, ohne die bereits bekannte ganz zu verlassen. Wir leben dann in mehreren Lebenswelten nebeneinander – im Wechsel oder auch in einer engen Verbindung: Elternhaus und Schule, Beruf und Familie, Alltag und Urlaub, Realwelt und Traumwelt. Aber die biographisch bedeutsamen Lebenswelten erscheinen nicht nur nacheinander und nebeneinander, sondern auch ineinander und übereinander: Die Wohnung ist in einem Haus, das Haus liegt an einer Straße, die Straße in einem Dorf oder Viertel, das Viertel
114 Ebd., S. 114. 115 Ebd., S. 111. 116 Ebd. 117 Ebd., S. 112. 118 Ebd.
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in einer Stadt, die Stadt in einer Landschaft, und die Landschaft gehört zu einem Land. Lebensgeschichtlich bedeutsame Ereignisse und Erinnerungen haften bald an dem einen oder anderen – einer Tasse, einer Tapete, einer Treppe, einem Tor, einem Gartenweg, einem Kaufladen, einem See, den schneebedeckten Bergen im Hintergrund oder an Fahnen, die bei besonderen Gelegenheiten wehen. So bilden die biographisch relevanten Lebenswelten nicht nur eine Folge in der Zeit, sondern auch ein Gefüge der Erinnerung. Die erinnerten Eindrücke und Erfahrungen durchdringen sich im autobiographischen Gedächtnis, und doch bleiben die erfahrenen Lebenswelten als jeweils besondere unterschieden.“119
Folgt man Schulzes Gedankengang, dann sind Lebenswelten nicht zu betrachten als homogene Strukturen, die sich in einem biographischen Prozessverlauf ausmachen lassen, sondern als Orte der Gestaltung von Biographie, die sich durch ihre Heterogenität auszeichnen. Lebenswelten verlaufen in einer Biographie nicht chronologisch, sondern sie können nebeneinander stehen, sie können sich überlagern, sich entfernen oder wieder auftauchen. Sie sind vielfältig, offen und nicht immer vollständig zu erfassen. 5.4.2 Biographische Bewegungen In der biographischen Bewegung von der einen Lebenswelt in die andere erlebt der Mensch sich selbst und „erfährt auch etwas über die Probleme und Kräfteverhältnisse in einer Lebenswelt, über ihre Wandelbarkeit und Bewegung“. 120 Es finden sich also in Biographien objektive Bewegungen in Lebenswelten und subjektive biographische Bewegungen aufgrund von Lebenswelten. „Lebenswelt“ und „biographische Bewegung“ dienen dazu, „die in autobiographischen Erzählungen versteckten Zusammenhänge zwischen den individuellen biographischen Bewegungen und den kollektiven Bewegungen der Lebensräume und dem soziokulturellen Wandel der Menschheit insgesamt aufzudecken und aufzuzeigen.“121 Die Erarbeitung der Lebenswelten in Biographien stellt für Schulze den ersten Schritt „zur Erschließung der konkreten, lebensgeschichtlich bedeutsamen Wirklichkeit dar, um daran anschließend den „Prozesscharakter“122 einer Biographie zu untersuchen. Schulze konstatiert innerhalb der Biographieforschung zwei dominierende Modelle, welche biographische Prozesse analysieren. Diese bezeichnet er als das soziologische und das narrative Modell.123 Insbesondere die kritische Auseinanderset-
119 T. Schulze: Lebenswelt und biographische Bewegungen, S. 113-114. 120 Ebd., S. 115. 121 Ebd., S. 107. 122 Ebd., S. 108. 123 Vgl. ebd., S. 115-117.
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zung mit dem „narrativen Modell“ und die darin verstetigte Bezugnahme auf Schütze führen bei Schulze zu der Begründung eines „biographischen Modells“ 124, um den Lebenslauf des Menschen in seiner Vielfältigkeit erfassen zu können: Schulze fasst die Haltungen des Erzählenden zusammen, die dieser gegenüber den biographischen Ereignissen aus Sicht von Schütze u.a. einnimmt.125 Diese Haltungen gegenüber dem Erzählten ergeben – wie Schulze zusammenfasst – vier dominante, jedoch durchaus in einem wechselseitigen Verhältnis stehende „Prozessstrukturen des Lebensablaufs“: • die „Struktur des biographischen Handlungsschemas“: Die narrative Darstellung
des Lebens orientiert sich an absichtsvollen, geplanten Handlungen • „Struktur des institutionellen Ablaufmusters“: Die narrative Darstellung orientiert
sich an institutionellen Bildungswegen oder gesellschaftlich vorgezeichneten (beruflichen) Laufbahnen. • „Struktur der Verlaufskurve“: Die narrative Darstellung zeichnet sich aus durch die Verbalisierung anomischer Zustände, denen das Individuum ausgesetzt ist. • „Struktur der Wandlungsprozesse“: Die narrative Darstellung beschreibt tief greifende Wandlungen in Form von Neu- und Umorientierungen.126 Schulze merkt zu Recht kritisch an, dass diese dem gesamten biographischen Prozess nicht gerecht wird, „insofern jeweils eine der Haltungen oder Einstellungen im Verlauf einer längeren Erzählsequenz dominiert, erscheinen sie einander auszuschließen.“127 Im Gegensatz dazu geht Schulze davon aus, „dass diese Prozessstrukturen, wenn man sie nicht auf die jeweils vorherrschende Erzählweise im narrativen Interview bezieht, sondern auf den real sich vollziehenden biographischen Prozess, zugleich nebeneinander bestehen und einander ergänzen. Gemeinsam repräsentieren sie die grundlegenden Aspekte des biographischen Prozesses. Sie verketten und verbinden sich, durchdringen, begrenzen und bestimmen einander und treten in unterschiedlicher Weise in Erscheinung – sowohl in jeder einzelnen Phase wie auch im Gesamt-
124 Ebd., S. 117. 125 Siehe beispielsweise Schütze, Fritz: Kognitive Figuren des autobiographischen Stehgreiferzählens, in: Kohli/Günther, Biographie und soziale Wirklichkeit (1984), S. 78-117. Vgl. zu den folgenden Ausführungen auch T. Schulze: Lebenswelt und biographische Bewegungen, S. 116ff. oder T. Schulze: Allgemeine Erziehungswissenschaft und erziehungswissenschaftliche Biographieforschung, S. 140. 126 T. Schulze: Allgemeine Erziehungswissenschaft und erziehungswissenschaftliche Biographieforschung, S. 140. 127 T. Schulze: Lebenswelt und biographische Bewegungen, S. 116.
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verlauf einer Biographie.“128 Diese Verkettungen und Verbindungen, die Durchdringung, Bestimmung und Begrenzung des biographischen Prozesses zeigt sich in den Lebenswelten und den Bewegungen, die das biographische Subjekt in und zwischen diesen vornimmt. Aufgabe der Biographieforschung ist es nach Schulze, nach dem Wie der biographischen Bewegungen zu fragen, nach der „inhaltlichen Ausfüllung“129 der Reise in und zwischen den Lebenswelten: „Biographische Bewegungen sind längerfristig und nachhaltig. Sie hinterlassen Spuren im Gedächtnis und ziehen unbedachte Folgen nach sich, führen zu neuen Herausforderungen und Problemen. Viele der biographischen Bewegungen erfordern eine produktive Umstellung und Erweiterung. Sie sind in ihrem Wesen Lernprozesse. Sie vermehren nicht nur die bereits vorhandenen Fähigkeiten und Kenntnisse und erweitern nicht nur den Horizont der Ansichten und Aussichten. Sie führen auch zu neuen Orientierungen und Einstellungen, erwecken neue Interessen und Hoffnungen. Aber es kann sein, dass sie an die Grenzen der eigenen Möglichkeiten, Kräfte und Fähigkeiten führen und uns die Endlichkeit, Unvorhersehbarkeit und Bedürftigkeit des individuellen menschlichen Lebens verdeutlichen.“ 130
Da es sich – wie die theoretischen Ausführungen gezeigt haben – bei der Hochstapelei um eine zeitlich begrenzte biographische Episode handelt und die Figur des Hochstaplers ihre spezifische Eigenschaften auch abhängig von historischen Kontexten entwickelt, konzentriert sich die Analyse der Bildungsgestalten in den Autobiographien auf „bestimmte[ ] autobiographische[ ] Erzählstücke[ ]“.131 Im Mittelpunkt der Analyse steht „die Analyse von einzelnen Lebenserfahrungen, die allerdings in ihrem biographischen Verlauf betrachtet werden können.
5.5 VERKNÜPFUNG: BIOGRAPHISCHE REKONSTRUKTIONEN GEBROCHENER BILDUNGSGESTALTEN Sowohl die von Schulze dargelegten Interpretationsdimensionen „biographische Lebenswelten“ und „biographische Bewegung“ als auch Preschs historisch-pragmalinguistisches Interferenzkonzept bieten Anknüpfungspunkte dafür, wie man Selbstund Weltreferenzen sowie Interferenzen, die sich auf biographischen Bewegungen in und zwischen Lebenswelten gründen, genauer in den Blick nehmen kann.
128 Ebd. 129 Ebd., S. 118. 130 Ebd., S. 118-119. 131 T. Schulze: Interpretation von autobiographischen Texten, S. 332.
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Lebenserfahrungen in Lebenswelten können nach Schulze in einem „Diskrepanzerlebnis“ biographisch geschildert und über das Erzählen zugespitzt werden.132 Dieses markiert eine „Bruchstelle oder einen Entwicklungsschritt, eine Veränderung in der Umwelt oder einen Sprung im Selbstverständnis, eine Differenzlinie in Raum und in der Zeit.“133 In biographischer Rückschau ordnet das biographische Subjekt dieses Diskrepanzerlebnis in seine Lebensgeschichte ein. Dabei werden die Vorgeschichte und die Folgen des Ereignisses reflexiv vergegenwärtig und mit zukünftiger Bedeutung versehen. „Es gibt ein Diesseits und ein Jenseits, ein Davor und ein Danach,“ schreibt Schulze.134 Bisher sei kaum ausgearbeitet, wie man einzelne Lebenserfahrungen innerhalb eines autobiographischen Prozesses interpretiere, so Schulze. Anregungen dazu ließen sich zum Beispiel bei Freud finden, der auf die Vorgänge der Verdichtung, Verschiebung, der szenisch-bildhaften Darstellung und Symbolisierung eingehe.135 Diese Anmerkung verstehe ich als einen weiteren Hinweis darauf, in der Analyse von Bildungsprozessen in Biographien auch den Aspekt der Interferenz zu berücksichtigen, und zu zeigen, dass es neben Verdichtung und Verschiebung auch zum Phänomen der Überlagerung kommen kann. Dieses kann sich in einzelnen Lebenserfahrungen ausdrücken. Die Einbeziehung der Ansätze von Schulze und Presch ermöglichen es, sowohl die gesamte Biographie als auch einzelne biographische Ereignisse in den Blick zu nehmen. Die Wandlungsaspekte sind damit nicht auf den gesamten Lebenslauf ausgerichtet. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang die Annahme, dass in den Lebenswelten Interferenzen zu finden sind, die in biographischen Erzählungen in Form von Selbst- und Weltreferenzen bzw. biographischen Bewegungen thematisiert werden. Diese zeichnen eine Vorgeschichte nach, die möglicherweise konfliktreich und ambivalent ist. Der Handlungsbedarf des Subjektes führt aufgrund reflexiver Auseinandersetzung zu sogenannten Kompromissbildungen, gebrochenen Bildungsgestalten, die handlungsabschließend, handlungsverzögernd oder handlungseröffnend sein können. Dabei steht die Aktivität des Individuums im Vordergrund, das sich in seinem vergesellschafteten Zustand zum Beispiel zwischen Sein und Schein entwickelt, positioniert, reflektiert und handelt. So lassen sich für die folgende Analyse der biographischen Erzählungen der Hochstapler auch Bildungsgestalten in den Blick nehmen, die nicht auf einem abgeschlossenen Vorgang beruhen, sondern scheinbare Wandlungen, ihre Geschichte und ihre Verbundenheit in Selbstund Weltverhältnissen zeigen.
132 Ebd. 133 Ebd. 134 Ebd. 135 Ebd.
Biographie, Bildung und Rekonstruktion von (gebrochenen) Bildungsgestalten | 215
Die folgende Abbildung veranschaulicht, dass die biographischen Bewegungen des Subjektes sich in unterschiedlichen, jedoch sich gegenseitig bedingenden Referenzdimensionen (Selbstreferenz, Weltreferenz und Interferenzen in Selbst- und Weltreferenzen) zeigen kann und außerdem Bezug nimmt zu sich selbst, zur Welt und zu anderen in den Lebenswelten. Diese Welt- und Selbstbezüge können auch von Interferenzen in unterschiedlichen Varianten geprägt sein. Die Abbildung ermöglicht auch die visualisierte Verknüpfung des generierten Theoriezusammenhangs und dient als Interpretationsrahmen für die im nächsten Kapitel vorgenommene Untersuchung der Bildungsprozesse der Hochstapler. Tabelle 2: Übersicht über die Komponenten zur Rekonstruktion von (gebrochenen) Bildungsgestalten in Biographisierungsprozessen
Weltreferenzen
Interferenzen in Selbst- und Weltreferenzen
Referenzdimensionen
Selbstreferenzen
biographische Bewegungen des Subjektes Welt
Interferenzen aufgrund unterschiedlicher Interessen und Partizipationsmöglichkeiten
Selbstbild
Fremdbild
Interferenzen aufgrund unterschiedlicher Identitätsfestlegungen
Selbstverhältnis
Weltverhältnis
Interferenzen in negationsresistenten Welt- oder Selbstverhältnissen
Quelle: eigene Darstellung
Lebenswelten
Mensch
6
Hochstaplerische Bildungsprozesse
„Meistens sind die Hochstapler Leute, die in ihrer Jugend eine bessere Bildung genossen oder doch Gelegenheit gehabt haben, sich den Schein einer Bildung anzulernen. Nebenbei gesagt, haben sie Hang zu gutem Leben und zur Trägheit, der sie an regelmäßiger Arbeit hindert. [...] Kurz, er weiß die Schwächen der Menschen, sich durch wohlklingende Namen, durch tadellose Kleidung, gewandtes, sicheres Auftreten und glänzendes Äußere blenden zu lassen, tüchtig auszunützen. Er weiß, daß die Unklugen nie alle werden und lebt so auf ihre Kosten – bis er einmal erwischt wird.“1
Zu dieser Einschätzung der Hochstapler kommt der Kriminalrat Dr. Gebhardt in der zweiten Ausgabe des Kriminal-Magazins im Jahr 1929 und weist u.a. auf die Bedeutung von Bildung für die Hochstapler hin. Sein Artikel steht exemplarisch für das große öffentliche Interesse am Hochstapler im Besonderen und Verbrechen im Allgemeinen, das sich zwischen den Jahren 1900 und 1930 in der Presse und in der Literatur widerspiegelt.2 Diese Jahre fallen in einen Zeitraum, währenddessen Deutschland den „soziokulturellen Durchbruch der Moderne“ erlebt. Es konstituiert sich die Figur des Hochstaplers als spezifische Erscheinung der „Klassischen Moderne“, welche die von Ambivalenzen geprägten gesellschaftlichen Entwicklungen zu binden zu scheint (vgl. Kapitel 3.2).3 Vielfältig sind die Umbruchserfahrungen, mit denen die Menschen angesichts einer zunehmenden Industrialisierung und Ökonomisierung in den weitreichenden kulturellen und gesellschaftlichen Wandlungen konfrontiert werden. Lebens- und Arbeitswelt werden immer technisierter und mechanisierter, die Wissenschaften differenzierter, neue Formen von Öffentlichkeit und Konsum entstehen.4 Die Menschen ‚fliehen‘ vom Land in die Städte, schließen sich sozialen Bewe-
1
Gebhardt, o.VN.: „Hochstapler“, in: Das Kriminal-Magazin 9 (1929), S. 73-80., hier S. 7374.
2
Vgl. I. Claßen: Darstellung von Kriminalität.
3
D.J.K. Peukert: Die Weimarer Republik, S. 11f.
4
Vgl. Marx, Peter: Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierungen um 1900, Tübingen u.a.: Francke 2008, S. 47.
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gungen an, entwickeln ein Krisenbewusstsein für gesellschaftliche Zustände, suchen nach Sinn, neuen Deutungsmöglichkeiten und Formen gesellschaftlicher Zugehörigkeit, auch weil die alten Ordnungssysteme nicht mehr greifen. 5 Gestellt wird in diesem umfassenden gesellschaftlichen Wandel die sogenannte soziale Frage, die zu einem vermehrten Interesse an den Außenseitern der Gesellschaft führt, zu denen auch die Hochstapler gehören: „Die wachsende Einsicht in die Machtverhältnisse einer ungleich privilegierteren Klassengesellschaft, in der Militär, Adel und Unternehmer die Spitze bilden, während Staatsfeinde an den Rand der Gesellschaft – zu Huren, Vagabunden, Triebtätern, Verrückten und Betrügern – geschoben werden, führt letztlich zu einer intensiven Auseinandersetzung mit diesen Außenseitergruppen.“6
Kriterien für die Auswahl der Biographien Dieses öffentliche Interesse machen sich auch Georges Manolescu, Ignatz Straßnoff und Harry Domela zunutze und schreiben ihre Biographien, die nach ihrem Erscheinen die Bestsellerlisten anführen werden. Gemeinsam ist ihnen, dass sie mehr oder weniger überzeugend versuchen, ihre hochstaplerischen Taten als Reaktionen auf soziale und gesellschaftspolitische Gründe zurückzuführen. Widerhall findet ihr wohl kalkuliertes Vorgehen in linkspolitischen Kreisen: „In Verbund mit den linksgerichteten Oppositionsparteien im Kaiserreich versuchen viele unpolitische Verbrecher auf politische Ursachen ihrer Lebensumstände aufmerksam zu machen und öffentliches Mitgefühl zu erheischen. Verschiedene Kritiker der gesellschaftlichen Verhältnisse treffen aufeinander aus divergierenden Motiven. Literatur und Medien dienen als Verständigungsbasis zwischen politischen und künstlerischen Subkulturen. [...]; die Einzelnen werden aber auch ‚Zeichen‘ für bestimmte Zustände, die politisch bekämpft werden sollen.“7
Die Veröffentlichungen der Biographien von Hochstaplern in der „Klassischen Moderne“ ist ein Auswahlkriterium für ihre Verwendung in dieser Arbeit, weil sich der Hochstapler in dieser Zeit mit seinen speziellen Facetten hervorbringt und tätig ist. Angesichts des historischen Kontextes kann von gemeinsamen, vergleichbaren Aspekten ausgegangen werden. Alle drei Hochstapler präsentieren zur Begründung ihrer Taten
5
Zur sozialen Frage und Prozesse der Klassenbildung siehe beispielsweise: Kocka, Jürgen: Lohnarbeit und Klassenbildung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in Deutschland 18001875, Berlin: Dietz 1983. Ein spannendes Buch über die „Bildungsbürger als ‚Arbeiterfreunde‘“ liegt vor Wietschorke, Jens: Arbeiterfreunde. Soziale Mission im dunklen Berlin 1911-1933, Frankfurt am Main/New York: Campus 2013, S. 9.
6
I. Claßen: Darstellung von Kriminalität, S. 99.
7
Ebd.
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Krisen- und Umbruchserfahrungen in der gesellschaftlichen Ordnung und den Verlust von Deutungshoheit über das eigene Leben. Sie entfliehen der kleinbürgerlichen Enge ihrer Herkunft oder werden aus ihr vertrieben. Sie bereisen Stadt und Land und präsentieren sich als gesellschaftliche Außenseiter, die die bürgerliche (Schein-)Moral ablehnen und sich den Autoritäten widersetzen. Mal sich selbst überhöhend, mal trotzig, mal rebellisch stilisieren sie sich zu freiheitsliebenden Menschen jenseits aufgeklärter bürgerlicher Vernunftprämissen, lehnen sich (wie zum Beispiel Straßnoff und Manolescu) gegen die Erziehung ihres Elternhauses auf oder begehren als an den sozialen Rand Getriebene (wie Domela) gegen die gesellschaftlichen Zustände auf. Gemeinsam ist ihnen auch, dass sie vorgeben, sich von den als einschränkend empfundenen sozialen Normen und Moralvorstellungen lösen zu wollen, und diese doch brauchen, um sowohl hochstaplerisch handeln als auch dieses Handeln vor sich selbst und im biographischen Nachgang vor anderen rechtfertigen zu können. Manolescu, Straßnoff und Domela werden wegen ihrer Taten verurteilt, verbüßen Gefängnisstrafen und nutzen das „öffentliche Interesse an Erlebnisberichten und Erfahrungsreportagen“ zu ihren Lebzeiten, um „ihr persönliches Schicksal darzustellen und zu veröffentlichen.“ 8 Ihre Biographien werden auch deshalb ausgewählt, weil ihnen mit ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung, „durch die Umkehrung der gesellschaftlich etablierten Moral ein Ausbruch aus dem kriminellen Milieu gelingt.“ 9 Werfen wir noch einmal einen Blick auf den Artikel des Kriminalrats Dr. Gebhardt im Kriminal-Magazin, in dem er zahlreiche Hochstapler und ihr Vorgehen zusammenfasst und abschließend schreibt: „Aus den wenigen Fällen schon, die der Raum zuläßt, kann der Leser sich einigermaßen vorstellen, was in der Welt alles zusammengeschwindelt – und geglaubt wird. Die Kunstfertigkeit des Hochstaplers und der Hochstaplerin im Lügen – sie sind Meister der Lüge – wird von keinem anderen Verbrechertypus erreicht. Ihre Leistungen nötigen fast immer Staunen ab, für die Opfer, aber hat man nur ein schadenfrohes Lächeln. Der Schein ist das Wesen unserer Zeit, so führte der Staatsanwalt im Prozeß gegen die Hochstaplerin, die falsche Gräfin Sarnheim, in seinem Schlußantrage aus – und das gilt allgemein. Das war von jeher der Fall und gilt auch heute noch. Hat jemand den Schein für sich [...] und mag er auch falsch sein, dann hat er gewonnenes Spiel, dann fliegen ihm die Herzen zu, dann stehen ihm die Geldbörsen offen. Weil das so ist und so war, darum werden die Hochstapler nicht alle. – Seien wir auf der Hut, damit wir nicht zu deren Opfern, sondern nur zu den Zuschauern gehören.“ 10
8
Ebd.
9
Ebd.
10 Gebhardt: Hochstapler, S. 79-80.
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Die Kunstfertigkeit der Lüge, der Schein der Zeit, die zufliegenden Herzen und die offenen Geldbörsen sind zentrale Aspekte, die Georges Manolescu, Ignatz Straßnoff und Harry Domela in ihren Biographien ansprechen. Außerdem erzählen ihre „Hochstaplergeschichten“ vom täuschenden „Spielen mit Rollen“, „über das kulturelle und individuelle Risiko der Auflösung von Identität“, vom „rasenden Aufstieg“ in der Gesellschaft, der eine hierarchische Struktur voraussetzt und von „Scheinwelten“.11 Sie berichten darüber, „dass der Umgang mit neuen Situationen nicht mehr mit den alten Mitteln, aber jenseits davon eigentlich nur mit destruktiven oder produktiven Betrugsformen probeweise erlernt werden kann“, dass „Titel- und Namensucht“ Folgen haben können, darüber „wie heikel es ist, wenn man sich nicht mehr über die Tradition, die Herkunft und die tiefe Verwurzelung im Sein legitimiert, sondern freischwebend agiert“.12 Hochstaplergeschichten beschäftigen sich mit dem „Umschalten der Kultur von Vergangenheitsorientierung auf Gegenwartsorientierung [...], also von den ersten Versuchen, mit dem, was gerade eben jetzt passiert, gerade eben jetzt situativ umzugehen und dabei zu scheitern oder zu bestehen.“13 Diese Merkmale klassifiziert Porombka für die (biographischen) Erzählungen von und über Hochstapler, die er als spezifische Erscheinung der „Klassischen Moderne“ identifiziert. Die Biographien von Georges Manolescu, Ignatz Straßnoff und Harry Domela, die in den folgenden Kapiteln auf Biographisierungs- und Bildungsprozesse untersucht werden, ranken sich um die von Porombka aufgestellten Kriterien für Geschichten von und über Hochstapler: In ihnen ringen biographische Subjekte mit ihrer Identität, ihren Bildern von sich selbst und ihrem Verhältnis zur Welt. Die Biographien zeichnen ein gesellschaftliches Panorama der gesellschaftlichen Schichten und ihres ambivalenten Verhältnisses zum Schein und Sein in den hochstaplerischen Phasen ihrer Autoren. Sie nehmen mehr oder weniger stark Bezug auf die gesellschaftlichen Umbrüche, in denen nicht nur Hochstapler zu bestehen haben. Die Ambivalenzen der Moderne und die in ihr agierenden Menschen sind es, die den mehr oder weniger kurzweiligen Erfolg der hochstaplerischen Täuschungsmanöver, Lügen, Rollenspiele und Maskeraden erst ermöglichen. Die Biographisierungsprozesse von Georges Manolescu, Ignatz Straßnoff und Harry Domela, die in ihren Biographien eine narrative Gestalt annehmen, lassen sich als selbstreflexive Bildungsprozesse verstehen, weil sich in ihnen ein biographisches Subjekt seinen biographisch wirksam werdenden Konflikten stellt und darlegt, wie es diese Konflikte erkennt, be- und verarbeitet. Die Reflexionen über sein Verhältnis zur Welt, seine Handlungen in den Lebenswelten erfolgen in einem „inner[en] Mo-
11 S. Porombka: Über die Notwendigkeit, S. 214. 12 Ebd., S. 215. 13 Ebd.
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dus“14, der sich auch in den Biographien von Manolescu, Straßnoff und Domela finden lässt. Dieser innere Modus war auch ein Kriterium für die Auswahl der Hochstapler und ihrer Biographien, der sich in deren „Format“ widerspiegelt. Sie folgen dem von Alheit und Brandt ausgemachten „klassisch[en] Format“15, das ein biographisches Subjekt in seinen individuellen Entwicklungsprozessen zeigt, in denen es mittels Biographizität die Bedingungen der sozialen Welt integriert (vgl. Kapitel 4.1). Neben den Integrationsleistungen und inneren Modi orientieren sich die Biographen an den öffentlichen Erwartungen an Hochstaplergeschichten. So kann durchaus die Möglichkeit ins Auge gefasst werden, dass dieser Erwartungshorizont den inneren Modus bestimmen, überlappen oder in einem Konflikt zu diesem stehen kann. Die biographische Verarbeitung trägt außerdem den Charakter ästhetischer literarischer Erfahrung in sich und für andere. Geständnisse, Rechtfertigungen und Bekenntnisse können nicht nur einem inneren Bedürfnis entspringen. Sie geschehen nicht in einem macht- und herrschaftsfreien Raum: „Spätestens seit dem Mittelalter haben die abendländischen Gesellschaften das Geständnis unter die Hauptrituale eingereiht, von denen man sich die Produktion der Wahrheit verspricht [...] – all dies hat dazu beigetragen, dem Geständnis eine zentrale Rolle in der Ordnung der zivilen und religiösen Mächte zuzuweisen. Die Entwicklung des Wortes ‚Geständnis‘ und der von ihm bezeichneten Rechtsfunktionen ist in sich schon charakteristisch: vom Geständnis als Garantie von Stand, Identität und Wert, die jemandem von einem anderen beigemessen werden, ist man zum Geständnis als Anerkennen bestimmter Handlungen und Gedanken als der eigenen übergegangen. Lange Zeit hat sich das Individuum durch seine Beziehung zu anderen und durch Bezeugung seiner Bindung an andere [...] ausgewiesen; später hat man es durch den Diskurs ausgewiesen, den es über sich selbst halten konnte oder mußte. Das Geständnis der Wahrheit hat sich ins Herz der Verfahren eingeschrieben, durch die die Macht die Individualisierung betreibt. [...] Die Wirkungen des Geständnisses sind breit gestreut: in der Justiz, in der Medizin, in der Pädagogik, in den Familien- wie in den Liebesbeziehungen, im Alltagsleben wie in den feierlichen Riten gesteht man seine Sünden, gesteht man seine Gedanken und Begehren, gesteht man seine Vergangenheit und seine Träume, gesteht man seine Kindheit, gesteht man seine Krankheiten und Leiden; mit größter Genauigkeit bemüht man sich zu sagen, was zu sagen am schwersten ist; man gesteht in der Öffentlichkeit und im Privaten, seinen Eltern, seinen Erziehern, seinem Arzt und denen, die man liebt; man macht sich selbst mit Lust und Schmerz Geständnisse, die vor niemand anders möglich wären, und daraus macht man dann Bücher.“ 16
14 P. Alheit/M. Brandt: Autobiographie und ästhetische Erfahrung, S. 17. 15 Ebd., Herv. i.O. 16 Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit. Erster Band: Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 76.
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Neben diesen Besonderheiten und Gemeinsamkeiten, die zur Auswahl der Biographien geführt hat, ist darauf hinzuweisen, dass die Biographien als exemplarische Fallgeschichten angesehen werden, die an die Intentionen der Hochstapler, ihre Auslegung von Welt und sich selbst zu präsentieren, gekoppelt sind. Eine Kontextualisierung der biographischen Erzählungen erfolgt über den Einbezug ihrer Entstehungsgeschichte, der auch quellenkritische Anmerkungen einschließt, sowie über das erarbeitete, theoretische Grundgerüst. Dieser ergibt den Rahmen zur rekonstruktiven Interpretation von (gebrochenen) Bildungsgestalten in Biographisierungs- und Bildungsprozessen. Vorgehen bei der Rekonstruktion Ausgegangen wird davon, dass in den Biographien auf diachroner und synchroner Ebene Diskrepanzerlebnisse thematisiert werden, die Folgen für die biographische Entwicklung des Subjektes haben. Diese Diskrepanzerlebnisse, die das Selbst-Weltverhältnis des biographischen Subjektes durchdringen und Anlass für einen reflexiven Selbstbildungsprozess bieten, können von nicht aufhebbaren Konflikten in den Lebenswelten bestimmt werden. Sie führen zu einem Zustand der Krise, aus dem sich das Subjekt lösen muss, will es seine Handlungsfähigkeit in den Lebenswelten bewahren. Nicht aufhebbare Konflikte können sich zum Beispiel aus unterschiedlichen Identitätsfestlegungen ergeben, die folgenreich für die Partizipationsmöglichkeiten des Subjektes an den gesellschaftlichen Verhältnissen und damit für seine Selbstverwirklichung sind. Der Ort des Konfliktes kann sowohl zwischen Personen(gruppen) in den Lebenswelten als auch innerhalb einer Person zu finden sein. Der Übergang zwischen den Konfliktorten kann fließend sein. Dann setzen sich die gesellschaftlichen Konflikte in die Subjekte und deren Bildungsprozesse hinein fort. Um mit diesen Konflikten umgehen zu können, kann eine Wandlung aufgrund von Reflexionen über das von Konflikten durchzogene Selbst-Weltverhältnis eingegangen werden, die genau diese Problematik in sich aufnimmt, ohne sie auf Dauer lösen zu können. Erreicht wird eine vorläufige Handlungsfähigkeit des Subjektes in den Weltverhältnissen, die sowohl Selbstverwirklichung als auch das Festhalten am eigenen Selbstbild ermöglichen. Diese Wandlung wirft allerdings Folgeprobleme auf und kann erneut das Selbst-Weltverhältnis gefährden. In den Biographien zeigt sich die Wandlung des biographischen Subjektes zum Hochstapler. Auch auf Konsequenzen, welche die Wandlung zum Hochstapler hat, wird im Biographisierungsprozess verwiesen. Der Biographisierungsprozess in seiner wechselseitigen Verquickung von diachronen und synchronen Dimensionen ist in dreifacher Hinsicht aufschlussreich für die Bildungsprozesse der Hochstapler: Im Sinne eines Geworden-Seins kann erstens die Wandlung zum Hochstapler als Ergebnis einer reflexiven Auseinandersetzung des Subjektes mit seinen Selbst- und Weltverhältnissen auf diachroner Ebene in Lebenswelten, die in der Vergangenheit bedeutsam waren, erfasst werden. Zweitens gibt er Aufschluss darüber, wie sich das Verhältnis des Subjektes zu dieser Wandlung zum Hochstapler in seinem Jetzt-Sein auf synchroner Ebene,
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also als entlarvter Hochstapler, gestaltet. Drittens kann die synchrone Ebene (fassbar in der biographischen Bewegung) ebenfalls von Folgeproblemen aufgrund der Entlarvung als Hochstapler bestimmt sein. Diese können der gesellschaftlichen Außenseiterstellung als verurteilter Hochstapler, den gesellschaftlichen Erwartungen und den individuellen Ambitionen an die Biographie geschuldet sein. Sowohl auf diachroner als auch auf synchroner Ebene des Biographisierungsprozesses können widersprüchliche, miteinander kollidierende und/oder interferierende Erwartungen, Interessen als Konflikte wirksam werden. Also können Konflikte nicht nur zum Auslöser von Bildungs- und Biographisierungsprozessen werden, sondern selbst von diesen durchzogen sein. Folgen können dann Wandlungen sein, die diese Konflikte aufnehmen und scheinbar lösen. Diese spezifischen Wandlungen im Selbst-Weltverhältnis lassen sich dann im Biographisierungsprozess als gebrochene Bildungsgestalten markieren. Damit müssen Bildungsprozesse, die von negationsresistenten Problemen oder von einem Mangel an Diachronizität und Synchronizität bestimmt werden, nicht, wie Marotzki und Koller als Vertreter der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung es annehmen, ins Leere laufen oder auf einer fiktiven Ebene realisiert werden. Sondern sie können zu einer Wandlung führen, die von Interferenzen bestimmt wird, gleichzeitig Ausdruck dieser Interferenzen ist und Handlungsfähigkeit, Bildung sowie Identität ermöglicht. Diese Bildungsgestalten zeichnen sich dann dadurch aus, dass sie auf diachroner Ebene entstehen und auf synchroner Ebene gebraucht werden, um ihnen eine andere Bedeutung zu geben, die im Widerspruch zu der alten Bedeutung steht. Bildungsgestalten können dann dies bedeuten und das Gegenteil. Sie sind gebrochen. Um diese Bildungsprozesse und ihre gebrochenen Bildungsgestalten zu erfassen, gehe ich wie folgt vor: Als erstes skizziere ich ein Biographisches Kurzportrait, das auch lebensgeschichtliche Informationen über das Leben der Hochstapler vor und nach ihren Hochstapeleien aufbereitet, die in den Biographien nicht genannt werden. Daran anschließend wird die Entstehungsgeschichte der Biographie und ihre Relevanz für den Biographisierungsprozess der Vertreter der hochstaplerischen Zunft auch unter quellenkritischen Aspekten dargestellt. Die Einbeziehung der Entstehungsgeschichte wird der Tatsache gerecht, dass das Schreiben der Biographie erst nach der singulären biographischen Phase des Lebens als Hochstaplers erfolgt, die sich als Abfolge von Wandlung zum Hochstapler – Leben als Hochstapler – Entlarvung als Hochstapler – Verurteilung und Inhaftierung wegen krimineller Taten charakterisieren lässt, erfolgt. Damit vollzieht sich der Prozess der Biographisierung vor einem individuellen und gesellschaftlichen Erwartungshorizont. Deshalb ist es notwendig, nicht nur auf der Ebene der Biographie nach möglichen interferierenden Konflikten, Interessen und Erwartungen zu suchen, die zu einer Wandlung zum und Leben als Hochstapler führen, sondern auch die Entstehungsgeschichte des Biographisierungsprozesses in den Blick zu nehmen. Hier kann untersucht werden, ob auch der Biographisierungsprozess, verstanden als narrative Gestaltung biographisch ver-
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orteter Reflexionsprozesse, aufgrund von Konflikten erfolgt. Zu fragen ist dann, ob und wie diese sich in der Biographie niederschlagen. Nach dieser vorgenommenen externen Kontextualisierung, die Einfluss auf die synchrone Ebene des Biographisierungsprozesses haben kann, begebe ich mich auf die Ebene der biographischen Erzählung selbst. Es erfolgt zunächst die Rekonstruktion des Biographisierungsprozesses, der sich auf die singuläre Phase der Hochstapelei im Zusammenspiel von Lebenswelten und biographischen Bewegungen konzentriert. Innerhalb dieser Rekonstruktion setze ich vier Schwerpunkte, die sich im Biographisierungsprozess selbst gegenseitig bedingen und fließend ineinander übergehen. Eine Trennung dieser Schwerpunkte erfolgt allein unter systematischen Aspekten: Den ersten Schwerpunkt bildet die Untersuchung und Interpretation von Konflikten in den Lebenswelten vor der Wandlung zum Hochstapler. Hier stelle ich die für die Wandlung zum Hochstapler relevanten Lebenswelten und die ihnen inhärenten Konfliktpotentiale für das biographische Subjekt dar. Im Anschluss daran rekonstruiere ich als zweiten Schwerpunkt die Wandlung zum Hochstapler und stelle heraus, warum und wie sich biographische Subjekte unter welchen Bedingungen zum Hochstapler wandeln und ob diese Wandlung als Reaktion auf die Konflikte in den Lebenswelten zu verstehen ist. Darauf folgend analysiere ich die nach der Wandlung neu entstehende hochstaplerische Lebenswelt und zeige unter diesem dritten Schwerpunkt auf, wie sich die Hochstapler in dieser Welt präsentieren. Sowohl die Erarbeitung der Bedeutung der Konfliktgeschichte für die Wandlung zum Hochstapler, die Interpretation der Phase der Wandlung zum Hochstapler als auch die Interpretation der Lebensphase als Hochstapler erfolgen in erster Linie auf der Basis der diachronen Ebene in der Biographie. Diese Rekonstruktionsperspektive widmet sich der erzählten Zeit. Die Betrachtung der synchronen Ebene der Biographisierungsprozesse, also Reflexionen vom Standpunkt der Erzählzeit aus, erfolgt im vierten Analyseschwerpunkt Rekonstruktion der biographischen Bewegung in und zu den Lebenswelten. Hier wird untersucht, wie sich das biographische Subjekt in und zwischen den Lebenswelten bewegt und wie sich diese Bewegungen als Formen von Welt- und Selbstreferenzen fassen lassen. Außerdem wird erarbeitet, welche reflexiven Schlussfolgerungen das biographische Subjekt daraus für sein Selbst- und Weltverhältnis zieht. Abschließend werden diese Analyseperspektiven des Biographisierungsprozesses zusammengeführt und im Hinblick auf ihre Bedeutung für die reflexiven Bildungsprozesse der Hochstapler betrachtet. Dabei soll unter der zusammenfassenden Dimension Rekonstruktion der gebrochenen Bildungsgestalt im Biographisierungsund Bildungsprozess reflektiert werden, ob die Wandlung zum Hochstapler und das Leben als Hochstapler das Resultat einer reflexiven Auseinandersetzung des biographischen Subjektes in seinen Selbst- und Weltverhältnissen in und zwischen den Lebenswelten ist. Dieses Ergebnis kann dann als Bildungsgestalt sichtbar gemacht werden. Unter diesem Analyseaspekt wird außerdem untersucht, ob es sich bei der ein-
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gegangenen Wandlung zum Hochstapler um eine gebrochene Bildungsgestalt handelt. Dies ist dann der Fall, wenn die reflexiv eingegangenen Bildungsprozesse nicht in einer vollständigen Wandlung des Selbst-Weltverhältnisses münden, sondern wenn die Auslöser für den Bildungsprozess selbst in die Bildungsgestalt einwandern, in dieser gebunden werden. So können sich neue Handlungsmöglichkeiten des Subjektes in veränderten Weltverhältnissen ergeben, auch wenn es am eigenen Selbstbild festhalten will. Gebrochene Bildungsgestalten zeigen sich auch dann, wenn die Wandlung zum Hochstapler und das Leben als Hochstapler einen temporär bestimmbaren Zwischenzustand in Bildungs- und Biographisierungsprozessen darstellen, der Folgewirkungen hat, durch die das Handeln des Subjektes in den Lebenswelten erneut gefährdet ist. Außerdem zeichnen sie sich durch Mehrdeutigkeit aus, die ihnen im Laufe des Biographisierungsprozesses zugeschrieben wird. Sie entstehen auf diachroner Ebene und werden auf synchroner Ebene gebraucht. In diesem reflexiven Wechselspiel bildet sich das biographische Subjekt. Im Sinne einer offenen rekonstruktiven Interpretation ist dieses Vorgehen nicht als strikte Abfolge zu verstehen, sondern kann von Fall zu Fall in anderen Nuancen angewendet werden. Die vorangegangenen Überlegungen bilden das Grundgerüst sowohl für die theoretische Ausrichtung als auch für die Interpretation der Hochstaplerautobiographien. Während der Untersuchung gehe ich theoriegeleitet vor und verfolge die Analyse unter dem Gesichtspunkt der Offenheit der Interpretation mit dem Ziel, sowohl die zuvor dargelegten theoretischen Überlegungen mittels der Quellen zu befragen als auch weitere Aspekte aufzuspüren. Die Reihenfolge, in der die Ergebnisse der Analyse der Hochstaplerbiographien präsentiert werden, richtet sich nach dem Erscheinungsdatum der jeweiligen Biographie. Zunächst widme ich mich Georges Manolescu, dem Meisterdieb, der sich in seiner Biographie zum Hochstapler wandelt (Kapitel 5.1). Danach untersuche ich den Biographisierungs- und Bildungsprozess von Ignatz Straßnoff, der sich als Lebenskünstler zum Hochstapler aus Veranlagung berufen fühlt (Kapitel 5.2). Die Biographie des „falschen Prinzen“, Harry Domela, der sich vom Hochstapler zum Gesellschaftskritiker mausert, ist die dritte Fallgeschichte, die auf die Bedeutung von (gebrochenen) Bildungsgestalten für Biographisierungs- und Bildungsprozesse hin untersucht wird (Kapitel 5.3).
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6.1 GEORGES MANOLESCU: DER BILDUNGSPROZESS EINES HOCHSTAPELNDEN MEISTERDIEBS Georges Manolescu macht sich das öffentliche Interesse seiner Zeit am Hochstapler zunutze: Er täuscht und lügt sich zum Hochstapler und erschafft so eine Identität zum Schein, die selbst auf dem Schein beruht. Von seiner Wandlung zum Hochstapler berichtet er in zwei, kurz aufeinander veröffentlichten Biographien im Jahr 1905. Zunächst beschreibt er sein abenteuerliches Leben als „Fürst der Diebe“, um im Anschluss daran bekennend und selbstreflexiv als „[g]escheitert aus dem Seelenleben eines Verbrechers“ zu berichten.17 Nach dem Erscheinen seiner Biographie gilt er als „[d]er erste Star der Branche“18 und als König aller Hochstapler. Diese Krönung erfolgt durch Manolescu selbst und große Teile der Gesellschaft folgen willig dem hochstaplerischen Monarchen: „Nein, in dieser Welt muß man kein wilder Abenteurer mehr sein. Wenn man genug Begabung, das richtige Training und die notwendige Disziplin mitbringt, reicht es aus, einen guten Anzug zu tragen. Und die richtige Maske. Hinzu kommt nur noch das richtige Label, mit dem das eigene maskenhafte Tun und Treiben werbewirksam zu bezeichnen ist: Hochstapelei. Der Rest geht dann, folgt man der Autobiographie des Hochstaplers Georges Manolescu, beinahe von allein.“19
Insbesondere in seiner zweiten Biographie „Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers“ beschreitet Manolescu den Königsweg des Hochstaplers und lässt die Lesenden an der mit dieser biographischen Reise verbundenen Wandlung vom „Fürsten der Diebe“ zum König der Hochstapler teilhaben. Mit Erfolg: Manolescu genießt mediales Interesse und wird als Hochstapler hofiert. Der Biographisierungsprozess, den Manolescu in seiner zweiten Biographie vornimmt, steht im Mittelpunkt der folgenden Kapitel. Da in der untersuchten Biographie die Lebensumstände vor und nach der Wandlung zum sowie des Lebens als Hochstapler von Manolescu nur am Rande dargestellt werden, stelle ich ihn zunächst in einem biographischen Kurzportrait vor. Anschließend widme ich mich der Entstehungsgeschichte der Biographie von Manolescu, die ebenso wie das Kurzportrait wichtig ist, um die biographische Phase der Hochstapelei und Manolescus Erzählen darüber kontextualisieren zu können. Im Anschluss daran begebe ich mich auf die Ebene des Biographisierungsprozesses und rekonstruiere die dominierenden Konflikte in den biographischen Lebenswelten, die Manolescus Welt- und Selbstverhält-
17 G. Manolescu: Ein Fürst der Diebe; G. Manolescu: Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers. 18 S. Porombka: Felix Krulls Erben, S. 19. 19 Ebd., S. 33, Herv. i.O.
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nis ins Wanken bringen. Im Anschluss daran analysiere ich die Wandlung Manolescus zum Hochstapler vor dem Hintergrund ihrer konfliktreichen Vorgeschichte und danach die Bedeutung der Lebenswelt des Hochstaplers für Manolescus biographische Entwicklung. Der biographischen Bewegung widme ich mich darauf folgend und rekonstruiere abschließend die gebrochene Bildungsgestalt „Hochstapler“ und ihre Bedeutung für die reflexiven Selbstbildungsprozesse des Georges Manolescu. 6.1.1 „Gescheitert – aus dem Seelenleben eines Verbrechers“ – Manolescus Leben und die Entstehungsgeschichte der Biographie Biographisches Kurzportrait „Herzog von Otranto“, „Marchese de Passano“, „Prinz von Padua“, „Fürst Lahovary“ – Georges Manolescu bevorzugt Adelstitel, um sich in hochstaplerischer Absicht als „Fürst der Diebe“ und „Meisterdieb“ einen Namen zu machen.20 Geboren wird der durch sich selbst geadelte Dieb und Betrüger am 20. Mai 1871 in der rumänischen Stadt Ploësci als Sohn eines Rittermeisters der Kavallerie. 21 Seine Mutter stirbt, als er zwei Jahre alt ist. Er versucht sich erfolglos an verschiedenen Schulen und ist „spätestens seit seinem achten Lebensjahr auf die Gaunerkarriere abonniert.“ 22 Der Versuch, ihn als 15-Jährigen auf einer Seekadettenschule in Galatz erziehen zu lassen, scheitert: Manolescu flieht vor den harten Strafen der Schule und erreicht „als blinder Passagier“ Konstantinopel.23 Dort begeht der mittellose „Abenteurer“24 wahrscheinlich einen seiner ersten Diebstähle. Die daraus erzielte Beute reicht jedoch nicht aus, um sich über Wasser zu halten. Mittellos wird Manolescu von der rumänischen Gesandtschaft in sein Heimatland zurückgeschickt. Zurück in Rumänien träumt er von Paris und damit den „Traum so vieler junger Leute dort in Halbasien“.25 Manolescu will diesen Traum in die Realität umsetzen und macht sich auf die Reise in die französische Hauptstadt. Er gelangt jedoch lediglich bis nach Athen, wo ihm wie zuvor in Konstantinopel das Geld ausgeht. Deshalb bittet er die rumänische Gesandtschaft, ihm die Rückreise in seine Heimat zu finanzieren. Diese lehnt sein Gesuch ab, worauf der gestrandete Verzweifelte sich vor den Augen des Sekretärs „eine Kugel in die Brust“ schießt.26 Als „hoffnungslos Verwundeter“ kommt er in ein Krankenhaus, wo
20 Vgl. I. Claßen: Darstellung von Kriminalität, S. 100. 21 G. Manolescu: Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers, S. 5. 22 S. Porombka: Felix Krulls Erben, S. 19. 23 G. Manolescu: Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers, S. 5. 24 S. Porombka: Felix Krulls Erben, S. 19. 25 G. Manolescu: Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers, S. 5. 26 Ebd.
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sich angeblich die „Königin von Griechenland“ höchstpersönlich um ihn kümmert und nach seiner Genesung dafür sorgt, dass er zurück nach Rumänien reisen kann. 27 Nach kurzer Zeit macht er sich wieder auf nach Paris; „Auf der Reise stiehlt er, er wird bestohlen, er fährt mit dem Schiff, dem Zug, dem Schiff, stiehlt wieder, wird wieder bestohlen und kommt mit letzter Kraft in seiner Traumstadt an.“28 In der von ihm gelobten Stadt beginnt Manolescu ein Jurastudium. Da die von seiner Familie zur Verfügung gestellten finanziellen Mittel nicht für einen luxuriösen Lebensstandard ausreichen, strebt er eine reiche Heirat an. Da diese sich nicht ohne Weiteres realisieren lässt, läuft Manolescu nun auf der „Bahn des Verbrechens“ und wird am „11. Juni 1890 wegen siebenunddreißig Diebstählen im Gesamtwerte von 540 000 Frank zu vier Jahren Gefängnis verurteilt.“ 29 Auch nach der Verbüßung dieser Strafe verlässt ihn sein krimineller Tatendrang nicht: Nach anfänglichen Kaufhausbetrügereien entwickelt er sich zum in der Neuen und Alten Welt agierenden Juwelen- und Hoteldieb. In Monte Carlo, Halifax, London und Nizza verspielt Manolescu seine Beute und stattet daraufhin sein Vermögen mit weiteren Diebstählen wieder reich aus. Außerdem „hilft ihm die eine oder andere Gönnerin weiter.“30 Immer wieder wird er verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt. Als er im September 1897 heiratet, nimmt er sich vor, seinem kriminellen Leben zu entsagen. Und kann dieses Vorhaben elf Monate umsetzen: „Doch als seine Frau ein Kind zur Welt bringt, fällt er in alte Brutalitäten zurück. Auch beginnt er wieder zu spielen. Schließlich geht ihm das Geld aus, und unter dem Vorwand, in Kairo die Stelle eines Hoteldirektors anzutreten, verläßt er die Familie.“ 31 „Schwankend“ vor „Heimweh“ macht er auf seinem Weg nach Ägypten Halt in Luzern und begeht erneut einen Hoteldiebstahl.32 Auf der Flucht vor der Schweizer Polizei gelangt er nach Deutschland, wo er schließlich in Frankfurt am Main verhaftet wird. Aus Angst vor einer langen Gefängnisstrafe täuscht Manolescu mit Erfolg vor, wahnsinnig zu sein: Dem zunächst als „gemeingefährlich“ eingestuften „Schwerverbrecher“ wird sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz ‚Wahnsinn‘ attestiert.33 Dies führt dazu, dass er im Februar 1900 lediglich zu sechs Monaten Gefängnis und zehn Jahren Landesverweisung verurteilt wird. Manolescu wird auch nach diesem Gefängnisaufenthalt rückfällig und verdingt sich – nach einem kurzen Intermezzo in Amerika – wieder als Dieb in europäischen
27 Ebd., S. 5-6. 28 S. Porombka: Felix Krulls Erben, S. 20. 29 G. Manolescu: Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers, S. 6. 30 S. Porombka: Felix Krulls Erben, S. 21. 31 Ebd. 32 G. Manolescu: Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers, S. 7. 33 S. Porombka: Felix Krulls Erben, S. 22.
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Hotels. Erneut wird er verhaftet, diesmal in Genua. Die italienischen Behörden liefern ihn nach Deutschland aus, wo er in Berlin vor Gericht gestellt wird. „Wieder simulierte er Wahnsinn, wurde am 1. Oktober 1901 bis 11. November dieses Jahres in der Charité beobachtet und am 28. Mai 1902 als geisteskrank der Irrenanstalt Herzberge überwiesen.“34 Aus Herzberge gelingt ihm im Jahr 1903 die Flucht. Dies bedeutet jedoch nicht das Ende seiner kriminellen Karriere: In Wien wird er erneut verhaftet und als „geisteskranke[r] Kriminelle[r]“ nach Rumänien abgeschoben.35 Von Rumänien aus reist er nach Amerika, kommt nach Europa zurück und lernt eine Französin kennen, mit der er sich im Jahr 1905 verlobt. Sein Gesundheitszustand verschlechtert sich rapide, mehrfach muss er operiert werden. Infolge der letzten Operation stirbt Manolescu am 2. Januar 1908.36 Die Entstehungsgeschichte der Biographie Drei Jahre vor seinem Tod im Jahr 1905 werden seine beiden Biographien im Berliner Verlag Dr. P. Langenscheidt veröffentlicht. Die erste – „Der Fürst der Diebe“ – wird 1905 zum Verkaufsschlager: „Die Abenteuer des unter verschiedenen Adelstiteln auftretenden Georges Manolescu verkaufen sich besser als die Werke bekannter zeitgenössischer Autoren; bereits innerhalb eines halben Jahres ist die erste Auflage völlig vergriffen.“37 Im „Fürst der Diebe“ präsentiert sich Manolescu sowohl als Abenteurer, „Frauenheld und Weltenbummler“ 38, als vielseitig talentiert und gut aussehend, aber auch als kaltblütig und willensstark. „Auf den ersten 100 Seiten“, so Porombka zutreffend, „stiehlt und prügelt sich Manolescu durch’s Leben. Die Bezeichnung ‚Hochstapler‘ wird dafür gar nicht gebraucht. Fast die Hälfte der Memoiren muß man gelesen haben, bis sie geradezu beiläufig ins Spiel gebracht wird.“ 39 Anders verhält es sich in der zweiten Biographie „Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers“, die ebenfalls zum Bestseller wird und in der sich Manolescu bereits in den ersten vier Kapiteln als Hochstapler bezeichnet, um dann in den folgenden Ausführungen zurück zu seinen meisterdiebischen Taten zu kommen und auf diese seine Erzählung zu fokussieren. Paul Langenscheidt, der Verleger von Manolescu, rechtfertigt in seinem Vorwort die zweite Biographie:
34 G. Manolescu: Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers, S. 9. 35 S. Porombka: Felix Krulls Erben, S. 22. 36 Vgl. ebd. 37 I. Claßen: Darstellung von Kriminalität, S. 99. 38 Ebd. 39 S. Porombka: Felix Krulls Erben, S. 29-30.
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„Aber trotz dieses Erfolges verhehlten wir uns nicht, daß den Memoiren zu einem wahrhaft ‚menschlichen Dokument‘, zu einer ‚einzig dastehenden psychologischen Studie‘ doch noch ein ungemein wichtiges Moment fehlte. Denn der erste Band berichtet zwar, was geschah, nicht aber, warum das alles geschah, – nicht, wie verzweifelt Gut und Böse in des Knaben Brust um seine Seele rang, – nicht, was das Herz des Jünglings durchschauerte, wenn unersättliche Gier nach mühelos erworbenen Schätzen ihn wieder und wieder aus den Höhen des Lebens in die Abgründe des Elends schleuderte [...], – nicht, wie er heute als gereifter Mann auf seine wildbewegte Vergangenheit, auf einst Empfundenes und hoffentlich Überwundenes, auf eine vielleicht dunkle Zukunft blickt.“40
Neben dieser proklamierten Fokussierung auf die selbstreflexive Ausrichtung der Biographie spielen wohl auch andere Interessen eine Rolle für diese Publikation. Sowohl Claßen als auch Porombka verweisen auf die strategischen Überlegungen und finanziellen Absichten sowohl von Manolescu als auch vonseiten des Verlegers, die mit der Veröffentlichung des zweiten Bandes verbunden sind.41 „Letztlich handelt es sich um rein finanzielle Abwägungen, die Manolescu zu einer weiteren Selbstdarstellung veranlassen. Auf die erfolgreiche Hilfeleistung durch den Verleger Paul Langenscheidt muß an dieser Stelle hingewiesen werden. Immerhin bietet er dem Hochstapler als erster die Möglichkeit, auf legale Weise seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Da eine neue Straffälligkeit Manolescus nach 1904 nicht bekannt ist, muß davon ausgegangen werden, daß eine Besserung des notorischen Betrügers tatsächlich durch den Prozeß der Selbstdarstellung wesentlich vorangetrieben worden ist. Abgesehen von den Eigeninteressen des Verlages kann der Vertrag mit dem ‚König der Diebe‘ durchaus als eine Art moderne Bewährungshilfe gelten, die bei dem Autobiographen einen Bewußtwerdungsprozeß in Gang setzt.“42
Diese von Claßen vorgenommene eindeutige Identifizierung der Motivation zum Verfassen der zweiten Autobiographie als „rein finanzielle Abwägungen“ lässt sich mit den Ausführungen von Porombka nicht in ihrer Absolutheit ausmachen. Dieser merkt als Intention den Hang Manolescus zur Selbstdarstellung an, die sich schon vor den biographischen Bänden gezeigt habe. Manolescu habe sich für eine Berühmtheit gehalten, das stehe außer Frage, so Porombka, „[a]uch die Rolle des großen Schriftstellers meinte er gut ausfüllen zu können.“43 Zur Berühmtheit Manolescus in Deutschland kommt es insbesondere aufgrund seines Auftretens während der Gerichtsverhandlungen in Berlin
40 G. Manolescu: Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers, S. 1-2, Herv. i.O. 41 Vgl. I. Claßen: Darstellung von Kriminalität, S. 102-103; S. Porombka: Felix Krulls Erben, S. 30. 42 I. Claßen: Darstellung von Kriminalität, S. 103. 43 S. Porombka: Felix Krulls Erben, S. 28.
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im Jahr 1902. Dieses führt zu einer öffentlichen Diskussion darüber, ob Manolescu tatsächlich ein psychisch Erkrankter sei oder erfolgreich den Wahnsinnigen simuliert habe. Er selbst kokettiert mit dem gesellschaftlichen Stigma des Wahnsinnigen, das er damit gleichzeitig abwenden will – passt doch die Simulation des Wahnsinns besser zu seinen von ihm selbst beanspruchten hochstaplerischen Qualitäten. „Vor den Veröffentlichungen erregen widersprüchliche Berichte der Tagespresse über Manolescu größte Spannung und Neugierde durch die Frage, ob der Hochstapler nun ein berechnender Krimineller oder ein Geisteskranker sei. Manolescu selber treibt die Ungewissheit in seinen Memoiren dramatisch auf die Spitze, indem er sich gegenüber den juristischen und medizinischen Experten als ‚Verrückter‘ ausgibt, gegenüber dem Lesepublikum aber seine Normalität belegt.“44
Bereits im Vorwort der ersten Biographie wird die Frage nach dem psychischen Gesundheitszustand vom Verleger aufgegriffen: „War Manolescu geisteskrank? Er selbst sagt ‚nein‘. Die bedeutendsten Berliner Gerichtsärzte sagen ‚ja‘. Die Wiener Mediziner sagen einstimmig ‚nein‘. Die Luzerner Psychiater sagen ebenso einstimmig ‚ja‘. Der Verteidiger Dr. Schwindt sagt ‚nein‘. Der Untersuchungsrichter Dr. Maßmann sagt ‚ja‘. Eine maßgebende Information aus Frankfurt a. M. sagt ‚nein‘. Der hervorragende Nervenarzt, Professor Dr. Koeppen-Berlin, sagt wieder ‚ja‘. Der Rechtsbeistand der geschiedenen Gattin des Autors sagt endlich wieder ‚nein‘. Die alte Hamletfrage: War er geisteskrank? Oder stellte er sich geisteskrank? Oder war er doch geisteskrank und übertrieb zugleich seinen Wahnsinn durch Simulation? liegt also hier in neuer, fesselnder Form vor.“ 45
Auch in der zweiten Biographie wird auf den Aspekt der Geisteskrankheit hingewiesen. Dieses Mal stellt Langenscheidt sich hilfreich an Manolescus Seite, indem er dessen Geisteszustand im Hinblick auf Manolescus Fähigkeit, eine Biographie verfassen zu können, beurteilt: „Aber – so mußten wir uns fragen – war denn nun Manolescu, den die einen unter den bedeutendsten Psychiatern ebenso entschieden für geisteskrank, die anderen ebenso bestimmt für völlig gesund erachteten, – war dieser Mann auch wirklich berufen, die seiner harrende Aufgabe zu lösen, besaß er tatsächlich Befähigung, Selbsterkenntnis und Mut genug, um sein ehemaliges und jetziges Seelenleben wahrheitsgetreu und rücksichtslos bis in die letzten Fasern zu zergliedern?“46
44 I. Claßen: Darstellung von Kriminalität, S. 100-101. 45 G. Manolescu: Ein Fürst der Diebe, S. 2-3. 46 G. Manolescu: Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers, S. 2.
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Langenscheidt bürgt für die Wahrheitstreue und das Vermögen zur Selbsterkenntnis seines Autors, welche gegen eine psychische Erkrankung sprechen. Höchstpersönlich habe er sich vom Gesundheitszustand Manolescus überzeugt. Er konstatiert ihm anhand von gemeinsamen Treffen „hervorragende Intelligenz“, „absolute Objektivität“, „nie versagende Gedächtniskraft“ und die Gabe, „seine Gedanken und Empfindungen zu einer geschlossenen Weltanschauung“ darlegen zu können.47 Diese Aspekte werden zu einem Gradmesser für die Aufrichtigkeit, mit der Manolescu seine Biographie angeblich verfasst hat. Außerdem stellen sie ein Gegenpendant zum diagnostizierten Wahnsinn da, dem sich Manolescu mithilfe seines Biographisierungsprozesses zu entziehen sucht. Dies versucht er außerdem über die Wandlung zum Hochstapler zu erreichen, die es ihm gleichzeitig ermöglicht, seine fürstliche Stellung als Dieb, Betrüger, Abenteurer und Simulant zu festigen.48 Damit reagiert er auch auf die Ereignisse während der Gerichtsverhandlungen, da ihm dort die in der Verbrecherhierarchie exklusive Stellung des Hochstaplers abgesprochen wird. So entthront zum Beispiel der Untersuchungsrichter Dr. Maßmann Manolescu als Verbrecherkönig in einem Bericht, der als Anhang der ersten Biographie beigefügt ist: „Er war ein Durchschnitts-Hochstapler, d.h. er besaß alle äußeren Eigentümlichkeiten dieser interessanten Gruppe von Menschen; er hatte gewandte Formen, ein sicheres und gefälliges Benehmen, er verband äußere Höflichkeit mit einer gegebenenfalls zur Brutalität gesteigerten Rücksichtslosigkeit. Aber zur Meisterschaft hat es Manolescu keineswegs gebracht. War er auch von der Natur aus äußerlich vorteilhaft ausgestattet, hatte er auch alle Eigenschaften eines ‚Lebemannes‘ – mit allen den angenehmen Zügen eines solchen, der Kameradschaftlichkeit, Gutherzigkeit, Leichtlebigkeit und Freigebigkeit gegen die Kumpane –, so war doch die Phantasie, das Wichtigste für den Hochstapler, bei ihm zu wenig entwickelt. Der Hochstapler muß lügen können, lügen, daß es erstaunlich ist. Er muß die Lügen aus der Luft greifen, aus den Fingern saugen, er muß lügen, ohne sich zu besinnen, vor allem, er muß so lügen, daß alle Welt ihm und er sich selbst glaubt, ja er muß lügen, selbst wenn es nicht nötig ist, aus reiner Lust am Lügen oder um in der Übung zu bleiben. [...] Wenn der Hochstapler so lügen will, daß ihm geglaubt wird, so gehört dazu auch ein ungewöhnlich gutes Gedächtnis und schauspielerisches Talent. Daß Manolescu nun das gute Gedächtnis fehlte, kann ich nicht behaupten, das schauspielerische Talent aber war unbedeutend. [...] Ich zweifle daher wirklich, ob Manolescu verdient, unter die feineren Hochstapler eingereiht zu werden. Weil er als rumänischer Fürst auftrat?“49
47 Ebd., S. 2-3. 48 Zu Manolescus Strategien zur Vortäuschung des Wahnsinns siehe ausführlicher T. Rahn: Der Lügner als Autor, S. 61ff. 49 Auszug aus dem Bericht des Untersuchungsrichters Dr. Maßmann, in: Georges Manolescu: Ein Fürst der Diebe, S. 264-265.
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Insbesondere vor und während des Verfassens der zweiten Biographie, die beabsichtigt, sich auf das ‚Warum-das-Alles-geschah‘ zu konzentrieren, sehen sich sowohl Manolescu als auch der Verleger mit gesellschaftlichen Identitätszuschreibungen konfrontiert, die in unterschiedlicher Art und Weise mit dem von Manolescu bevorzugten Selbstbild des Fürsten der Diebe und des Königs der Hochstapler in Konflikt zu sein scheinen. Sie stehen also vor der Aufgabe, seine Verbrechen so zu kontextualisieren, dass sie sich sowohl mit diesen Identitätszuschreibungen und den dazugehörigen Geschichten auseinandersetzen als auch die subjektiven Identitätsmerkmale und Eigenschaften von Manolescu hervorheben. Die Selbstbehauptung in den divergierenden Identitäten wird zum Bestandteil der Entwicklungs- und Selbstbildungsprozesse, die Manolescu in seiner zweiten Biographie darlegen will. Indem er seine Lebensgeschichte im gesellschaftlichen und subjektiven Geworden-Sein reflektiert, kann er eine Selbstvergewisserung suggerieren, die in der Wandlung zum Hochstapler ihren biographischen Ausdruck findet. Er subsumiert die Identitätsdifferenzen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene der Figur des Hochstaplers, der sich durch sein Vermögen auszeichnet, unterschiedliche personale Identitäten vortäuschen zu können, die jedoch das Selbstbild und die Ich-Identität der hochstapelnden Person nicht zerstören müssen (vgl. Kapitel 3.3). Die von Manolescu gewählte Figur des Hochstaplers stößt außerdem auf ein breites gesellschaftliches Interesse, das, wie Porombka konstatiert, sich auch in „einer kulturellen Verwandlung“ widerspiegelt: „Denn man hat es hier mit einer kulturellen Verwandlung zu tun, die sich so zum ersten Mal um 1900 vollzogen hat. Bei dieser Verwandlung muß der Abenteurer sterben, um den Hochstapler das Licht der Welt erblicken zu lassen. Der grobe Kerl, der sich mit aller Härte gegen die Anfechtungen der Natur und der Zivilisation durchsetzen muß, hat ausgedient. Der neue Star, das ist der feinnervige Betrüger, der von Natur aus zivilisiert ist und die Gesellschaft mit List und Tücke an der Nase herumzuführen weiß.“50
Diese Verwandlung vollziehe sich mit Manolescus Lebensgeschichte, so Porombka, aufgrund von zwei Gründen: Erstens sei Manolescu in Berlin als diebischer Hochstapler vor Gericht gestellt worden und habe sich dort als Geisteskranker ausgegeben, „ohne daß man es ihm in der Öffentlichkeit so richtig abnehmen will.“51 Zweitens wirke Manolescu als Autor selbst tatkräftig an der Entstehung der Hochstaplerlegende mit: „Er erzählt seine Geschichte gleich doppelt, in zwei verschiedenen Büchern, die beide kurz hintereinander im selben Verlag erscheinen. Deshalb hat er die Möglichkeit, sich durch die
50 S. Porombka: Felix Krulls Erben, S. 23. 51 Ebd., S. 23-24.
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Variation der Memoiren vom groben Abenteurer in einen gewitzten Hochstapler umzuschreiben, der sich als blendendes Genie weit über die geblendete Gesellschaft erhebt.“52
Die angestrebte biographische Aufrichtigkeit und die Rolle des Hochstaplers werden bereits in der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit der Biographie bezweifelt. Insbesondere der Staatsanwalt Wulffen widmet sich ausführlich dem Leben Manolescus, vergleicht dessen Erzählungen mit Polizeiakten und kann so belegen, dass Manolescu in seinen biographischen Erzählungen häufig übertreibt und lügt, insbesondere was seine Beute, das von ihm propagierte luxuriöse Leben und seine Fähigkeiten als Dieb und Hochstapler anbelangt. Wulffen, der bei Manolescu einen „maniakalische(n) Entartungswahnsinn“ diagnostiziert, kann belegen, „daß ein Großteil der abenteuerlichen Anekdoten erfunden ist.“53 „Er [Wulffen, KS] vergleicht die Autobiographie mit Gerichtsakten und internationalen Polizeiinformationen. Dabei schrumpft der Fürst der Diebe zu einem kleinen Gauner zusammen. Es erweist sich, daß ein Großteil der abenteuerlichen Anekdoten erfunden ist. Es erweist sich aber vor allem, daß Manolescu hinsichtlich seines luxuriösen Auftretens und der Gewinnsummen stark übertrieben hat. In Berlin etwa will er als Fürst Lahovary einen ganzen Trakt in einem Luxushotel bewohnt haben. Vor seine Suite habe ein Diener in Livree gestanden. Die Stadt habe er in einer eigenen Equipage befahren. – Die Akten jedoch belegen, daß er ohne jede Bedienung in einem billigen Hotel abgestiegen war und nicht einmal die Miete zahlen konnte.“54
Rahn, der sich detailliert mit Wulffens Auseinandersetzung über Manolescu beschäftigt, schlussfolgert bezüglich der Aufrichtigkeit in den biographischen Erzählungen Manolescus: „Die Hochstaplerautobiographie ist demnach selbst eine Hochstapelei, der Autor nur ein simulierter Hochstapler.“55 Die Hochstapelei wird von Manolescu – folgt man den Ausführungen Wulffens – mit dem biographischen Erzählen vollbracht, mit dessen Hilfe er übertreibt, lügt und eine Wandlung zum Hochstapler im Schein der Biographie eingehen kann. Das biographische Erzählen ersetzt bei Manolescu die hochstaplerischen Taten. Claßen verweist darauf, dass Wulffen, „die Autobiographie als ‚kriminelle Energie‘ [wertet] [...] und behauptet, Manolescu habe erst in seiner Rolle als Autobiograph die völlige Perfektion seiner Betrugs- und Hoch-
52 Ebd., S. 24. 53 T. Rahn: Der Lügner als Autor, S. 65. Rahn zitiert hier E. Wulffen: Georges Manolescu und seine Memoiren, S. 89. Zur Bearbeitung des Falls Manolescu durch Wulffens siehe auch: E. Wulffen: Die Psychologie des Hochstaplers, S. 44-50. 54 T. Rahn: Der Lügner als Autor, S. 65-66. 55 Ebd., S. 65.
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staplerkunst erreicht und sich zum ‚gewerbsmäßigen verbrecherischen Literaten‘ entwickelt.“56 Die Entstehungsgeschichte der Autobiographie „Gescheitert“ zeichnet sich durch verschiedene Interessenlagen und widersprüchliche Identitätszuschreibungen aus, die sich überlagern und miteinander interferieren. Diese haben Auswirkungen auf den Biographisierungsprozess. Wie die Entstehungsgeschichte zum zweiten Band der Memoiren zeigt, steht Manolescu vor dessen Verfassen vor der Herausforderung, sich von den Selbstbildern in seiner ersten Biographie als Abenteurer, Simulant, Wahnsinniger und Krimineller zu lösen. Unentrinnbar für ihn ist die daraus resultierende gesellschaftliche Außenseiterstellung, die er aufgrund seiner kriminellen Vergangenheit einnimmt. Diese Außenseiterstellung garantiert zum einen die exklusive, von ihm proklamierte Stellung als „Fürst der Diebe“, bringt jedoch zum anderen mit sich, dass das auf Exklusivität und Gloria aufbauende Selbstbild aufgrund der gesellschaftlichen Identitätsfestlegungen ins Wanken gerät. Insbesondere die Identitätsfestlegung, ein psychisch Erkrankter zu sein, kränkt ihn in seiner (Verbrecher-)Ehre. Mit der zweiten Biographie will er signalisieren, dass er nicht dem Wahnsinn verfallen ist, sondern sich (selbstreflexiv) seinen Taten stellen und sie biographisch begründen sowie einordnen kann. Um den im Vorwort der Biographie angesprochenen Fokus auf die Darstellung des ‚Wie-und-warum-er-wurde-was-er-ist‘ gerecht zu werden, muss er das Verhältnis, in dem er zur Welt und zu sich selbst steht, in ein anderes transformieren. Manolescu hat also ein Problem: Er kann sein Selbstbild nur mit der und gleichzeitig gegen die Gesellschaft definieren, weil der Gesellschaft bereits die biographischen Geschichten über ihn bekannt sind, die ihn – auch aufgrund von Vorurteilen – zu einem Diskreditierbaren haben werden lassen.57 Seine Biographie wird zum neuralgischen Ort für sein zukünftiges Dasein. Darauf spielt er im Nachwort zu seiner Biographie an: „[...] ich sehe mit ernsten Augen in die Zukunft. Denn wenn ich mich auch bemüht habe, in diesem Buche den frivolen Ton meiner einstigen Anschauungen festzuhalten, der allein mein ganzes Verhalten und Empfinden in den verschiedenen Epochen meines Lebens erklärt, – mit mir am Arbeitstisch saß finster die graue Sorge und wies mit dürrem Finger drohend in das Dunkel der Zukunft ... [...] Und ich frage mich Tag und Nacht mit klopfendem Herzen: Was soll ich tun, wenn die Vorurteile der Welt mir das tägliche Brot verweigern?“58
Manolescu antizipiert in diesem Zitat die zu erwartenden Stereotypisierungen und reflektiert diese in Bezug auf seine gegenwärtige und zukünftige gesellschaftliche
56 I. Claßen: Darstellung von Kriminalität, S. 103. 57 Siehe dazu ausführlicher E. Goffman: Stigma, insbesondere S. 56ff. 58 G. Manolescu: Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers, S. 271-272, Herv. i.O.
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Situation. Um vor diesem Erwartungshorizont handlungsfähig zu bleiben und seine Ich-Identität wahren zu können, entwickelt er mit dem Schreiben seiner Biographie, um es mit den Worten von Goffman zu sagen, ein „Management nicht offenbarter diskreditierender Informationen über sich selbst, das unmittelbar mit Täuschen zu tun hat.“59 Manolescu steht vor der Herausforderung, „Informationskontrolle“ über seine „persönliche Identität“ zu erlangen.60 Goffman verweist in diesem Zusammenhang auf folgende Schwierigkeiten: „Das entscheidende Problem ist es nicht, mit der Spannung, die während sozialer Kontakte erzeugt wird, fertig zu werden, sondern eher dies, die Information über ihren Fehler zu steuern. Eröffnen oder nicht eröffnen; sagen oder nicht sagen; rauslassen oder nicht rauslassen; lügen oder nicht lügen; und in jedem Fall, wem, wie, wann und wo.“ 61
Die Vorgeschichte des Biographisierungsprozesses zeichnet sich durch ein Weltverhältnis aus, das von Manolescu als krisenhaft empfunden wird und Auswirkungen auf sein Selbstverhältnis sowie seine Handlungsfähigkeit hat. Lösen kann er dieses Problem, indem er eine Wandlung eingeht, welche die unterschiedlichen individuellen und sozialen Erwartungen bündeln kann: Er wandelt sich zum Hochstapler und übernimmt damit eine Rolle, die dafür prädestiniert ist, unterschiedliche personale Identitäten in sich aufzunehmen. Er treibt ein doppeltes Spiel mit den Wissensbeständen der Gesellschaft über seine Biographie und dem gesellschaftlichen Erwartungshorizont darüber, was Hochstapler ausmacht. Über die Biographisierung, also über das Herstellen von Welt- und Selbstreferenzen im biographischen Erzählen, eröffnet sich ihm ein Weg, sein Selbstbild bestehen zu lassen und die Informationskontrolle über sein Selbst in der Welt zurückzuerlangen. Um wieder Herr über das ‚Wem-wie-wann-und-wo‘ zu werden, lässt er – so meine Interpretation – ein biographisches Subjekt in seiner Biographie aufleben, mit dessen Hilfe er einen Biographisierungs- und Bildungsprozess zwischen Sein und Schein initiieren kann. Dieses biographische Subjekt muss die verschiedenen Intentionen, Stereotypisierungen, Stigmatisierungen und Identitätsfestlegungen, die mit ihm und den Memoiren verbunden werden, selbstreflexiv erfassen, in sich bündeln und sich gleichzeitig diesen stellen – auch damit Manolescu nach seiner Entlarvung als Hochstapler gesellschaftlich handlungsfähig bleiben kann. Diese mit dem Biographisierungsprozess verbundenen Intentionen betreffen zum einen die Selbstdarstellung und das Interesse Manolescus daran, die Deutungshoheit über das Bild von sich selbst in der Öffentlichkeit zurückzuerlangen. Zum anderen sind damit finanzielle
59 E. Goffman: Stigma, S. 57. 60 Ebd., S. 56. 61 Ebd.
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Überlegungen verbunden. Eine Möglichkeit, diesen vielfältigen Erwartungen an die eigene Biographie gerecht zu werden, besteht für Manolescu (und seinen Verleger) darin, das gesellschaftliche Interesse der damaligen Zeit an der ‚Verbrecherliteratur‘ im Allgemeinen und am Hochstapler im Besonderen (vgl. Kapitel 3.1) zu nutzen. Er bedient sich auch der mit diesem Genre verbundenen gesellschaftlichen Erwartung, die darin besteht, ein sich zu seinen Taten bekennendes biographisches Subjekt vorzufinden, das vor den Augen der Lesenden seine Wandlung zum und sein Leben als Hochstapler rückblickend reflektiert, Reue zeigt und Verantwortung für sein moralisches Fehlverhalten übernimmt. Damit wendet Manolescu eine List an, die darin besteht, seine Form der biographischen Reflexivität sowohl strategisch auszurichten und sich der von Alheit konstatierten gesellschaftlich etablierten Deutungsmuster von Biographie zu bedienen als auch – und das gleichzeitig – eine ‚IdentitätFür-Sich‘ zu entwickeln, die sich zwischen Sein und Sein konstituiert (vgl. auch Kapitel 4.2.4). Seine listigen Biographisierungsstrategien werden nun anhand der Rekonstruktion des Biographisierungsprozess nachgezeichnet. 6.1.2 Rekonstruktion des Biographisierungsprozesses Konflikte in den Lebenswelten vor der Wandlung zum Hochstapler Manolescu gibt sich als differenzierter Beobachter seines gesellschaftlichen Umfelds und seiner eigenen Entwicklung. Auf diese Weise kann Manolescu in seiner Biographie Lebenswelten, ihre Handlungsfelder, gesellschaftliche und individuelle Bedingungen, Konflikte und Lösungsmöglichkeiten entwerfen, in denen ein biographisches Subjekt und dessen Selbst-Weltverhältnis verortet werden. Rekonstruieren lassen sich drei, für die Wandlung zum Hochstapler wesentliche Lebenswelten, die für das biographische Subjekt zu Konflikten führen, die sich gegenseitig bedingen, überlagern sowie miteinander verknüpft und ausschlaggebend für die Wandlung zum Hochstapler sind: 1. Die Lebenswelt der Privilegierten als Ausdruck des Glücks, der Sorglosigkeit und Ziel der Selbstverwirklichung: In diese Welt will das biographische Subjekt gelangen, es wird aber daran gehindert; eine Konfliktthematisierung ist zum Beispiel: „Denn es kommt im Leben nur auf eins an, ‚Glück zu haben‘. Neben diesem Talent spielen alle äußeren und inneren Vorzüge eine verschwindende Rolle.“62 2. Die Lebenswelt der Innerlichkeit als reflexiver Rückzugsort aufgrund der gesellschaftlichen Ausgrenzung: Das biographische Subjekt gibt vor, an seiner Vergesellschaftung zu leiden, und wägt seine Handlungsoptionen ab; eine Konfliktthematisierung ist zum Beispiel: „Im tiefsten Herzen war ich mir jedoch völlig darü-
62 G. Manolescu: Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers, S. 76.
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ber klar, daß ich im Begriff stand, mich der Ehrlosigkeit und dem Verbrechen in die Arme zu werfen; [...].“63 3. Die Lebenswelt des Verbrechens als Reaktion auf die gesellschaftliche Ausgrenzung und die individuellen Selbstverwirklichungsbestrebungen: In dieser Lebenswelt bieten sich dem biographischen Subjekt Handlungsmöglichkeiten, um die Konflikte in den Lebenswelten eins und zwei lösen zu können. Der Konflikt in dieser Lebenswelt besteht darin, noch nicht über die ausreichenden Fähigkeiten zu verfügen, um die Selbstverwirklichungsbestrebungen zu realisieren; eine Konfliktthematisierung ist zum Beispiel: „Aber vom Lehrling zum Gesellen und Meister ist ein weiter Weg, und von den Versuchsstudien vor dem Spiegel in meiner Stube bis zur vollendeten Darstellung meiner Rolle in der Öffentlichkeit galt es noch manche harte Nuß zu knacken.“64 Diese Lebenswelten, ihre Konfliktpotentiale, Handlungsoptionen und Auswirkungen auf das biographische Subjekt sollen nun anhand der biographischen Begründungszusammenhänge, die Manolescu in seiner lebensgeschichtlichen Erzählung vornimmt, untersucht werden. Dabei folge ich dem listigen Biographen Manolescu und benenne das biographische Subjekt mit seinem Namen. Lebenswelt: die Privilegierten Die Vorgeschichte zur Wandlung zum Hochstapler beginnt mit dem Kapitel „JugendIllusionen“, in dem Manolescu über seine Ankunft in Paris im Juni 1888 und die sich daran anschließenden Ereignisse und Erfahrungen berichtet. In diesem Kapitel lässt sich die erste Lebenswelt herausarbeiten, welche für die gesamte Biographie von Relevanz ist: Die Erfahrungen in der Lebenswelt der Privilegierten führt zu der Thematisierung eines ersten Konfliktes im Selbst-Weltverhältnis. Dieses lässt sich zusammenfassend als Desillusionierung der Selbstverwirklichungsbestrebungen aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse charakterisieren. Konflikt: Selbstverwirklichung zwischen Illusionen und Desillusionierung An den Beginn seiner Biographie stellt Manolescu seine Ankunft in Paris im Juni 1888. Er berichtet darüber, dass er als Siebzehnjähriger in die französische Hauptstadt gekommen sei, um sich einen Kindheitstraum zu erfüllen und dort „mit der ernstlichen Absicht, [...] Jura zu studieren.“65 Während seines Studiums macht er die Bekanntschaft mit Studenten aus wohlhabenden Familien, die ihm einen Lebensstil vorleben, der sich an der Pariser Oberschicht orientiert. Sich in Paris zu amüsieren,
63 Ebd., S. 21. 64 Ebd., S. 43. 65 Ebd., S. 13.
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erfordert finanzielle Mittel, über die Manolescu nicht verfügt. So macht er die Erfahrung, dass ihm „das flimmernde, lockende Gold ...“66 fehlt, um in die Kreise der Wohlhabenden und Reichen zu gelangen. Er fühlt sich „einsam und allein“ und führt im Gegensatz zu seinen „reichen, lebenslustigen Kommilitonen“ ein Leben in Bescheidenheit.67 Desillusioniert stellt Manolescu fest, dass nicht Charaktereigenschaften, Talente und Fähigkeiten ausschlaggebend für Partizipationsmöglichkeiten in der Pariser Gesellschaft sind, sondern dass die familiäre Herkunft des Einzelnen über die Offerten für die Lebensgestaltung entscheidet. Sie offeriert die Option, in die vermögenden Kreise aufzusteigen, auch wenn die finanziellen Mittel nicht ausreichen. Diese Erkenntnis verdeutlicht Manolescu am Beispiel eines „französischen Grafen[s]“, dem es gelingt, in eine gesellschaftlich gut situierte und finanziell abgesicherte Position zu kommen, indem er eine vermögende Frau heiratet.68 Entscheidend für die Heirat ist die adelige Herkunft des Grafen und nicht dessen Charaktereigenschaften sowie intellektuellen Fähigkeiten. Manolescu vergleicht sich mit dem Grafen: Im Gegensatz zu diesem, der „den Ehrenpreis der Stupidität“69 trage, sei er doch „jung, intelligent, aus gutem Hause und von sympathischem Äußeren“. 70 Warum also, so habe er sich in Paris gefragt, soll er sich „mit den elenden Brocken des Lebens begnügen“71, der Graf aber könne sich mit dem Geld seiner Frau „alle irdischen Freuden“72 erkaufen und bekomme gesellschaftliche Ehrerbietung entgegengebracht. Manolescu schlussfolgert, dass dies ein „eklatante[s] Beispiel dafür [ist], wie willkürlich das Schicksal seine Gaben unter die Menschen austeilt“. Es verursacht bei ihm eine vorerst innerliche „Auflehnung gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt“.73 Diese Erkenntnis weckt außerdem den „Stachel des Ehrgeizes“, „unreife Wünsche und unsägliche Illusionen“ in ihm, „die immer mehr Gewalt“ über ihn bekommen.74 Auch Manolescu will „Luxus, […] Feste und Ausschweifungen“ und seine „Sehnsucht nach ähnlichen Genüssen“ stillen.75 „Um jeden Preis“ will er „reich sein“.76 Da seine Familie nicht über den notwendigen Reichtum verfügt, sieht er in einer „glänzende[n] Heirat“ zunächst die einzige Möglichkeit, in die Lebenswelt der
66 Ebd. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Ebd. 70 Ebd., S. 14. 71 Ebd. 72 Ebd., S. 15. 73 Ebd., S. 14. 74 Ebd. 75 Ebd., S. 15. 76 Ebd.
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Privilegierten zu gelangen.77 Die Auswirkungen einer solchen Heirat führt sich Manolescu auf einer fiktiven Ebene vor Augen: Er gibt sich Illusionen hin und stellt sich vor, wie er das Vermögen seiner „steinreichen Gattin“ ausgibt, „Pferde, Wagen, Güter, Villen und Landsitze“ besitzt.78 Und wie er als Philanthrop seinen Wohlstand an die Bedürftigen weitergibt, um sich „unvergänglichen Ruhm in [seinem] Vaterlande zu erwerben.“79 In seinen Tagträumen ist er ein „Grandseigneur“, dem sein Vaterland aus Dankbarkeit ein Denkmal setzt.80 Die desillusionierenden gesellschaftlichen Ausgrenzungserfahrungen werden versucht, in tagträumerischen Illusionen zu kompensieren. Im Zusammenspiel von ausgerufenen Desillusionen und daraus resultierenden Illusionen kreiert Manolescu ein Spannungsfeld, in dem er sein Selbstbild und seine Selbstverwirklichungsbestrebungen rechtfertigen kann. Im Gegensatz zu seinen reichen Kommilitonen, die lediglich auf ihr Vergnügen aus sind, charakterisiert Manolescu sich in seinen Tagträumen als Reicher, der neben seinem Leben in Luxus auch die Gesellschaft an seinem Reichtum teilhaben lassen will. Doch in der Realität steht Manolescu vor einem nicht zu ändernden Problem: Er verfügt nicht über einen adeligen Titel, der ihn für vermögende Frauen als Ehemann attraktiv machen würde. „‚Mein armer Georges,‘ sagte ich dann wieder zu mir selbst, ‚vergiß nicht, daß du eben nicht adelig bist. Und da du auch nicht reich bist, mußt du dich einfach mit dem begnügen, was dein ist, und geduldig auf die Freuden dieser Erde verzichten, bis du dir selbst eine soziale Stellung und Reichtum errungen hast.‘“81
Dieser für ihn nicht lösbare Konflikt, der sich im Zusammenspiel von Illusionen und Desillusionen verstetigt, führt in der folgenden biographischen Entwicklung zu einem Zustand der inneren Selbstreflexion, der sich als weitere Lebenswelt rekonstruieren lässt. Lebenswelt: die Innerlichkeit In dieser Lebenswelt wägt Manolescu in Form von innerlichen Selbstthematisierungen Lösungsmöglichkeiten für den Konflikt in der Lebenswelt der Privilegierten ab, die sich im Spannungsfeld des moralisch gesellschaftlich Akzeptablen und Inakzeptablen bewegen. In ihr zeigt sich ein weiter Konflikt, den Manolescu als „Zwischen Gut und Böse“ beschreibt. Die gesellschaftlichen Konflikterfahrungen der Ausgren-
77 Ebd. 78 Ebd. 79 Ebd., S. 16. 80 Ebd. 81 Ebd., S. 15.
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zung, die zu einer Krise der eigenen Selbstverwirklichungsbestrebungen führen, setzen sich damit in das Innere des biographischen Subjektes fort. Konflikt: Selbstverwirklichung zwischen Gut und Böse Gesellschaftlich gemachte Desillusionen und individuell evozierte Illusionen über die Verwirklichung seines Selbst in der Welt werden darin von ihm in einem Reflexionsprozess auf die „Vernunftgründe“ bezogen, die zu einem „Zustande des Hoffens, Grübelns und Verzweifelns“ führen.82 Die Orientierung an diesen Vernunftgründen, die sich auf den Maßstab des gesellschaftlich Guten beziehen, führt dazu, dass Manolescu lediglich zu der Erkenntnis darüber kommen wird, dass er weiß, was er nicht tun möchte und was sich nicht realisieren lässt, um in die Lebenswelt der Privilegierten zu gelangen: • Er möchte keine Schulden machen, aus „Rücksicht auf die bescheidenen Verhält-
nisse meiner Familie“; • er wird niemanden finden, der ihm Kleidung finanziert oder Geld vorschießt und • er wird keinen Komplizen finden, den er am finanziellen Ertrag seiner angestrebten
Heirat beteiligten könnte.83 Der Konflikt bleibt also weiter bestehen, wenn Manolescu sein Handeln an den Maßstäben der eigenen Vernunft ausrichtet und gleichzeitig seinen Plan, eine wohlhabende Frau zu heiraten, um in die Lebenswelt der Privilegierten zu gelangen, nicht aufgeben will. „Verzweifelt“, fragt er sich „zu jeder Stunde des Tages und selbst des Nachts in seinen Träumen“: „Aber was dann tun? Was tun?“ Handlungsmöglichkeiten bieten kriminelle Pläne, die er jedoch zunächst verwirft, „weil hinter ihnen Ehrlosigkeit und Verbrechen standen.“84 Seine eben von diesen Merkmalen gekennzeichnete Lebensweise vor der Zeit in Paris bagatellisiert er als „Schülerstreiche“, die auch andere hätten begehen können, „ohne darum gleich unterzugehn.“ 85 Sein Selbstverhältnis wird bestimmt von einer als bedrohlich empfundenen Ausweglosigkeit des Weltverhältnisses: „Schlaflos“, „halbentkleidet“, „in finsteren Sinnen verloren“, „der dunklen Zukunft ins Auge“ sehend ahnt er, dass er an einem Wendepunkt in seinem Leben steht, der ihn in die Welt des Verbrechens führen wird. Er weiß, dass „nunmehr die Würfel meines ganzen Lebens fallen mußten.“86
82 Ebd., S. 19. 83 Ebd., S. 19-20. 84 Ebd., S. 20. 85 Ebd. 86 Ebd.
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Ehe die Würfel fallen und die Lebenswelt des Verbrechens endgültig betreten wird, erfolgt eine Phase der inneren Rechtfertigung für die kommenden kriminellen Taten, die zum einen auf die Begründung und zum anderen auf die moralische Beurteilung des eigenen Handelns in der Lebenswelt des Verbrechens abzielt. Manolescu präsentiert sich als moralisch urteilender Mensch, der seine Handlungsoptionen anhand von „solchen und anderen weniger stichhaltigen Gründen“ abwägt: Soll er sich für die „künftigen Freuden und Vergnügungen“ oder für die „Unbescholtenheit“ und das „reine Gewissen“ entscheiden?87 Die Lösung dieses inneren Konfliktes gelingt ihm, indem er sich vor sich selbst entschuldigt und in Gedanken plant, diejenigen mit seinem Reichtum aus der anvisierten Mitgift einer möglichen Zukünftigen entschädigen zu wollen, „über deren Schultern – oder vielmehr Börsen – hinweg ich zu meinem Ziel emporgestiegen war.“88 Antizipierend auf die kommenden „Unredlichkeiten“ in seinem Leben verurteilt er die damit verbundenen kriminellen Handlungen, „ehe mich das Gesetz verurteilen sollte.“89 Am Ende des auf die Zukunft ausgerichteten Reflexionsprozesses, als erneut zwei Kommilitonen eine gute Partie machen, „erstickte der letzte Rest von Gewissen.“90 Manolescu ist sich jetzt völlig klar darüber, sich „der Ehrlosigkeit und dem Verbrechen in die Arme zu werfen.“91 Bevor er sich endgültig dazu entschließt, seine „Schiffe hinter [sich] zu verbrennen“, denkt er an „den fleckenlosen Namen Manolescu, den [seine] Familie durch Generationen in Armut, aber in Ehren getragen hatte.“92 Die Gedanken an die Familie führen dazu, dass sich sein Herz zusammenschnürt. Diese Reaktion empfindet er als „seltsam“: „Ich, der ich schon zu jener Zeit eine rücksichtslose Willenskraft besaß und mich nicht besinnen konnte jemals in meinem Leben geweint zu haben, der ich damals, im September 1887 zu Athen, als ich mir eine Revolverkugel in die Brust jagte und lange zwischen Tod und Leben schwebte, nicht eine Träne vergossen hatte, – ich weinte jetzt bittere, heiße Zähren bei dem Gedanken, daß meine künftigen Verfehlungen den Namen meiner Familie entehren und beschmutzen und Schande auf meine ehrenhaften Verwandten bringen würden.“ 93
Rückblickend auf seine damaligen Abwägungen ist er vom Standpunkt der Erzählzeit verwirrt darüber, dass er gar nicht an die eigenen „moralischen und physischen Qua-
87 Ebd., S. 21. 88 Ebd. 89 Ebd., S. 25. 90 Ebd., S. 22. 91 Ebd., S. 21. 92 Ebd. 93 Ebd., S. 22.
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len“ gedacht habe, die er während seiner „Laufbahn“ habe aushalten müssen. Mit diesem Wechsel der Erzählperspektive rückt Manolescu zeitlich ab vom sinnierenden jungen Menschen und etabliert sich auf synchroner Ebene seines Biographisierungsprozesses als reuiger Bekenner: „Blicke ich heute auf diese Zeit zurück, so weiß ich, daß mein Streben nichtig und mein Handeln falsch war.“ 94Aber zu seiner Entschuldigung kann er „nicht verhehlen“ gleichzeitig auch „ das Opfer einer Strömung“ in der Gesellschaft gewesen zu sein, welche „in den letzten Jahrzehnten immer mehr die Herzen der Jugend vergiftet“, weil sie die Hoffnung setze, „durch eine reiche Heirat dem unerbittlichen Kampf mit dem Leben auszuweichen und mühelos die Früchte zu pflücken, die nur der ehrlichen Arbeit gebühren.“95 Die moralische Selbstverurteilung, die bereits in den Jugendjahren stattfindet, wird im Erwachsenenalter mit Gesellschaftskritik verbunden, die das kriminelle Handeln nicht nur als Selbstverwirklichungsbestrebung darstellt, sondern auch als, damals noch unbewusste, Reaktion auf das gesellschaftlich etablierte Handlungsmuster der „reiche[n] Heirat“. Am Ende des Reflexionsprozesses ist die Wahl zwischen Gut und Böse entschieden: Manolescu betritt die Lebenswelt des Verbrechens, um seinen Plan einer reichen Heirat und damit seine angestrebte Selbstverwirklichung zu realisieren. Für ihn zeigt sich keine andere Form der Konfliktlösung, da ihm aus seiner Sicht die Gesellschaft nur über die finanziellen Verdienste als Verbrecher eine Option bietet, in die Lebenswelt der Privilegierten zu gelangen. Die Desillusionierung der Selbstverwirklichungsbestrebungen aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse, die zunächst zu einem inneren Zustand zwischen Gut und Böse führt, führt zu einer Änderung des Verhältnisses zu Welt, weil Manolescu an seinem Selbstverhältnis festhalten will. Lebenswelt: das Verbrechen Bewusst entscheidet Manolescu sich für den Weg eines „Diebes“, um sich Geld für eine Heirat und den Zutritt zu den reichen Kreisen zu verschaffen.96 Der erste Schritt besteht für ihn in der Wahl der Art des Diebstahls. Diese misst er daran, ob sie „am wenigsten verächtlich […] und gleichzeitig doch etwas“ einbringt.97 Anregungen findet er in seinem sozialen Umfeld: Er beobachtet, dass es möglich ist, Waren in Kaufhäusern gegen Geld umzutauschen. Manolescu beschließt, sich über den Warenumtausch eine Einnahmequelle zu erschließen. Jedoch mit einem entscheidenden Unterschied gegenüber den ‚normalen‘ Umtauschkunden: Er tauscht Waren in Kaufhäusern gegen Geld um, die er zuvor gestohlen hat.
94 Ebd., S. 20. 95 Ebd., S. 21. 96 Ebd., S. 25. 97 Ebd.
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Exakt kann er das Datum seines ersten Diebstahls beziffern: Es ist der „4. November 1888“, ein Tag, der ihm „für immer unauslöschlich vor den Augen“ steht. 98 Dieser erste Diebstahl, der ihm zufolge von Gewissenskonflikten begleitet wird, gelingt – auch, weil er überzeugend den Kaufhausangestellten belügen kann. Das „erste Geld“ seines Diebstahls wird von ihm interpretiert als „Handgeld in meinem neuen Berufe.“99 Manolescu begeht weitere Umtauschbetrüge, merkt jedoch, das er mit diesem „Spitzbubenberuf“ zu wenig ‚verdient‘, um in die Lebenswelt der Privilegierten zu gelangen.100 Er beschließt, sich „einer weniger umständlichen und einträglicheren Branche zuzuwenden.“101 Diese sieht er im Diamantenhandel, in dem er sich als Dieb sowohl einen Namen machen als auch höhere Einkünfte erzielen möchte. Doch die Realisierung der verbesserten Verdienstmöglichkeiten verlangt von ihm das Erlernen von besonderen Fähigkeiten und die intensive Auseinandersetzung mit der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang verbindet er seine vorherigen gesellschaftlichen Erlebnisse mit seinem Bild von sich selbst. Als Reaktion auf seine gesellschaftlichen Ausgrenzungserfahrungen verfolgt er nun die Absicht, der Gesellschaft einen „Feldzug“ liefern zu wollen. Deshalb entwirft er einen Plan, der die Gesellschaft mit ihren eigenen Waffen schlagen soll, indem er seine Eigenschaften wie „Intelligenz, Mut und Entschlossenheit“, die in der Lebenswelt der Privilegierten nicht anerkannt werden, auf die sozial verurteilte Welt des Verbrechens überträgt. Diese Erkenntnis kommt über ihn, weil er die Gesellschaft mit seinem „Verstand“ analysiert: „Mein Verstand sagte mir, daß in der heutigen Welt, wo in Politik, Handel, Industrie und Wissenschaften Intelligenz, Mut und Entschlossenheit so oft zum Ziele führten, diese Eigenschaften ebensosehr auf dem Gebiet des Verbrechens von Wert sein und zum Erfolg verhelfen müßten.“102 Er stellt ein Charakteristikum dieser Welt fest, welches auf das Überleben des Stärkeren und auf die Konkurrenz in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen abzielt.103 Diese „soziologische These“104, die einen wesentlichen Anteil für das Weltbild von Manolescu hat, lässt sich für Manolescu auf die Eigenschaften des Kriminellen übertragen: „Ich sagte mir ferner, [...] daß ebenso, wie der Politiker durch einen anderen intelligenten, verschlagenen, skrupellosen Politiker gestürzt wird, – wie der Kaufmann durch einen anderen
98
Ebd., S. 26.
99
Ebd., S. 30.
100 Ebd., S. 32. 101 Ebd. 102 Ebd., S. 35. 103 Vgl. T. Rahn: Der Lügner als Autor, S. 58. 104 Ebd.
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überholt wird, der auch nur Kaufmann ist, aber unternehmender und schneidiger, – daß ebenso der gerissene, entschlossene und helle Spitzbube, dem nichts mehr heilig ist, noch viel leichter und sicherer auf seinem Gebiete sie alle, den Kaufmann, Politiker oder sonst wen, übers Ohr hauen könnte.“105
In einer selbstreflexiven Konklusion führt er diese Aspekte zusammen und entscheidet sich dafür, ein Verbrecher sein zu wollen, der es mittels „geistiger Fähigkeiten“ und nicht mittels „roher Gewalt“ „in der Verbrecherlaufbahn“ weit bringen will. Während er sich „in der Welt“ umsieht, findet er auch Vorbilder „diesseits und jenseits des Ozeans, [...] die durch Schwindeleien und Betrügereien aller Art mit Hilfe ihres elastischen Gewissens und ihrer geschickt angewendeten Begabung sich ein hübsches Sümmchen beiseite gelegt und vortrefflich für ihr ehrwürdiges Alter gesorgt hatten.“106 Das „elastische Gewissen“ und die „geschickt angewendete Begabung“ anderer Verbrecher bestätigen das Selbstbild von Manolescu, der sich diese Eigenschaften immer wieder selbst zuschreibt. „Schwindeleien und Betrügereien“ offerieren Handlungsmöglichkeiten sowohl für die Präsentation dieses Selbstbildes nach außen als auch um das angestrebte Ziel des Reichtums zu erreichen. Manolescu kehrt außerdem die Gründe für die Ausgrenzung in ihr Gegenteil um, indem er versucht, sie für sich selbst zu nutzen. Zu dieser Schlussfolgerung kommt er aufgrund seiner eigenen biographischen Erfahrungen und seiner Analysefähigkeit bezüglich der gesellschaftlichen Umstände. So kann er mittels „Schwindeleien und Betrügereien“ Handlungsfähigkeit erlangen, indem er an seinem Selbstbild festhält und gleichzeitig mit den Weltverhältnissen umzugehen weiß. Dies fasst Rahn in seiner Interpretation von Manolescus Biographie zusammen: „In einer Gesellschaft, die den Erfolg nicht von Talenten, sondern von der sozialen Herkunft abhängig macht, muß der talentierte Außenseiter die exklusiven Zeichen der Oberschicht okkupieren, um zu seinem Recht zu gelangen.“107 Für Manolescu gilt es, diese exklusiven Zeichen zu erkennen und auf das eigene Handeln zu übertragen. Sie sind es, nach denen die Gesellschaft über einen Menschen urteilt. Sie müssen von ihm so gut nach außen präsentiert werden, dass sie von den inneren Zuständen des Menschen, der sie nutzt, ablenken. In dieser „Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“ sieht Rahn bei seiner Interpretation von Manolescus Ausführungen Anzeichen für die Darstellung einer „Anthropologie des Scheins“, welche gesellschaftskonstitutiv wirkt und Lüge und Täuschung zu wirkungsmächtigen Prinzipien erhebt.108 Voraussetzung dafür ist die Annahme, dass das Äußere und das Innere einer Person nicht übereinstimmen müssen und dass der äußere Schein die
105 G. Manolescu: Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers, S. 35. 106 Ebd., S. 36. 107 T. Rahn: Der Lügner als Autor, S. 59. 108 Ebd.
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bestimmende Komponente für gesellschaftliche Anerkennung und Verortung ist. Der Schein ist außerdem in der Lage, die wahre Person zu verbergen und die wahrhaftigen Absichten zu überlagern.109 Konflikt: Selbstverwirklichung zwischen Schein und Sein Seine gesellschaftlichen Beobachtungen und die daraus gezogenen Rückschlüsse auf seine Lebenssituation eröffnen ihm eine Perspektive, wie er die nicht lösbaren Konflikte, die ihm eine Integration in die Lebenswelt der Privilegierten unmöglich machen, doch noch lösen kann. Dazu will er sich des Ausgrenzungsmechanismus von Schein und Sein, der ihm von der Gesellschaft vorgelebt wird und der Auswirkungen auf seine eigenen Selbstverwirklichungsbestrebungen hat, bedienen. Dieses Vorgehen will er außerdem mit seinen Talenten und Fähigkeiten kombinieren. Als „planender Geist“ und „Willensmensch“110 möchte Manolescu mittels des Vorhabens, zu schwindeln und zu betrügen, seine eigenen Weltverhältnisse, seinen Schein und sein Sein auf gesellschaftlicher Ebene in ihr Gegenteil verkehren. Doch noch hat Manolescu nach eigenen Angaben nicht gelernt, seinen äußeren Schein so zu gestalten, dass er in der Gesellschaft des Scheins bestehen kann. Er fasst den Beschluss, ein Hochstapler zu werden, weil dieser die höchste Form des Verbrechens personifiziert. Und so gilt es für ihn, die Hochstapelei in all ihren Facetten auszubilden. Die Wandlung zum Hochstapler Rückblickend sei Manolescu schon damals „klar“ gewesen, dass man sich die denkbar größte Geschicklichkeit für diese Aufgabe aneignen müsse. Deshalb entwirft er eine Art Kriterienkatalog für eine „Hochstaplerkarriere“, in dem sich Fähigkeiten und Charaktereigenschaften finden lassen.111 Dieses ‚Curriculum‘ gelte es in einer selbst auferlegten Lehrzeit zu erlernen und bis zur „Vollendung“ zu perfektionieren, nur so kann er den „Kampf mit der Gesellschaft“ aufnehmen.112 „Ich sagte mir weiter, daß ich in meinem gefährlichen Beruf vor allem die höchste Schlauheit, Selbstbeherrschung und unbeugsame Willenskraft, eine völlige Unbeweglichkeit und eiserne Ruhe des Gesichts, dieses Spiegels der menschlichen Seele und der Gefühle, besitzen mußte, wollte ich auf Erfolg rechnen. Ein Verbrecher muß beständig eine Rolle spielen, eine Maske tragen, die sich absolut von seiner Person unterscheidet; er muß Eigenschaften heucheln und Eindrücke erwecken, die ganz im Gegensatz zu seinem wahren Wesen stehn.“ 113
109 Vgl. ebd., S. 59ff. 110 Ebd., S. 58. 111 G. Manolescu: Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers, S. 36. 112 Ebd. 113 Ebd.
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Manolescu widmet sich ausführlich der Darstellung seiner „Lehrzeit“, die er „durchmachen“ musste, bis er sich als „internationaler Hochstapler“ etabliert.114 Hochstapelei und Verbrechen werden von ihm in der Lehrzeit als „diese Kunst“ bezeichnet.115 Manolescu vervollkommnet nach seinen Angaben während seiner Ausbildungsphase diese Kunst – nicht nur weil er sie erlernen kann, sondern weil er sie aus sich selbst hervorbringt. Er ist aufgrund seines Talentes, seiner Willensstärke und seiner Intelligenz dafür hervorragend geeignet, diese Kunst zu beherrschen. Manolescu stilisiert sich mit dieser Ausrichtung seiner Lehrzeit zu einem Künstler, dessen Genius in seiner Seele verborgen liegt. Aufgrund seiner Genialität wird er die Hochstapelei nach dem Ende seiner Lehrzeit bis „zur Vollendung“ ausführen können. 116 Bis zur vollendeten hochstaplerischen Tat lässt sich Manolescus Lehrzeit als Phase eines autodidaktischen Lernprozesses charakterisieren, in der er sich zum Hochstapler wandelt. Er schildert ausführlich, wie er sich das Beherrschen von Körper und Emotionen aneignet und sich die verschiedensten Masken einprägt. Aufgrund seiner Genialität braucht er dabei keine menschliche Unterstützung, es hilft ihm seine „Phantasie“.117 „Zu diesem Zwecke rückte ich [...] einen Sessel vor den Spiegelschrank und stellte mir mit Hilfe meiner Phantasie vor, wie beispielsweise der Ausdruck meines Gesichtes sein müßte, wenn ich ein Warenhaus betrat, um irgend einen Gegenstand zu entwenden. Ich gab meinen Zügen nun den geeigneten Ausdruck, verbesserte ihn beständig nach bestem Ermessen, gab ihn wieder auf und wiederholte den gedachten Diebstahl hundertmal, bis jeder Zug der Maske, die ich für diesen bestimmten Zweck brauchte, sich untrüglich in mein Gehirn eingeprägt hatte.“ 118
Das Wissen über das Wesen der Hochstapelei und die geeigneten Lernmethoden kommen fast ausschließlich aus ihm selbst heraus – wie ein Künstler ein Werk hervorbringt, schafft sich Manolescu seine Hochstaplerfigur. 119 Einen Lehrmeister braucht er dennoch und findet ihn in einem Spiegel, den er rhetorisch personifizierend, „leidenschaftlich in mein Herz“ schließt.120 Diese Leidenschaft rührt für ihn daher, dass es dieser Spiegel ist, der ihm zu Wissen und „Erkenntnis“ verhilft.121
114 Ebd., S. 37. 115 Ebd. 116 Ebd., S. 36. 117 Ebd., S. 38. 118 Ebd. 119 Vgl. dazu auch T. Rahn: Der Lügner als Autor, S. 71. 120 G. Manolescu: Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers, S. 38. 121 Ebd.
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Der Spiegel als Lehrmeister Die rhetorische Personifikation des Spiegels führt zugleich zu ihrer Verwendung als Metapher, die sich auf verschiedene Art und Weise interpretieren lässt: Anklänge finden sich zu ihrer Verwendung im 18. und 19. Jahrhundert als sprachliches Bild für die Seele eines Künstlers, in dem sich die Welt abbildet und ein Kunstwerk geschaffen wird. Der Subjektivismus verwendet das metaphorische Spiegelbild, um das sich selbst betrachtende und erkennende Ich symbolisch verankern zu können: Das Ich wird sich über den Blick in den Spiegel seiner selbst bewusst, indem es sich betrachtet und erkennt. Das Ich kann sich als beobachtendes Subjekt selbst im Spiegel objektivieren und erkennen.122 Das diese Erkenntnis mittels des Spiegels täuschen kann und brüchig ist, erkennt beispielsweise im 18. Jahrhundert Novalis, der schreibt: „Das analytische Ich wechselt wieder mit sich selbst – wie das Ich schlechthin – in der Anschauung – Es wechselt Bild und Seyn. Das Bild ist immer das Verkehrte vom Seyn. Was rechts an der Person ist, ist links im Bilde.“123 Der Spiegel lehrt Manolescu, sich selbst zwischen Sein und Schein zu entdecken: Das Bild im Spiegel ist eine Täuschung, die in die Wirklichkeit übertragen wird, sich vom Spiegel löst und das Verkehrte vom Sein real werden lässt. Spiegelbildlich bricht Manolescu mit der Einheit von personaler und sozialer Identität. Er schafft sich zusätzlich auf personaler Ebene „Identitätsaufhänger“124 wie zum Beispiel statusadäquate Gesten, Mimiken, Kleidung oder Namen, die seine ‚wahre‘ personale Identität verbergen, ohne dass er aufhört, er selbst zu sein. Der Spiegel ist ein korrigierender Lehrer, der Manolescus Wandlung zum Hochstapler unterstützt. Im Spiegelbild kann Manolescu sich korrigieren, seine Maskerade vollenden, sodass die Gesellschaft nicht mehr zwischen Original und Kopie der Rolle, zwischen Wahrhaftigkeit und Lüge unterscheiden kann. Indem Manolescu sich spiegelt, kann er sich maskieren und demaskieren. Der leere Spiegel wird zum Symbol des Wirklichen, weil er hilft, die Täuschung in individuellen, aber gesellschaftlich kontextualisierten Selbst-Projektionen hervorzubringen. Manolescu spaltet und überlagert sich im Spiegel: Er schaut in den Spiegel hinein und spiegelt sich im Erwartungshorizont der anderen. So kann er sein Selbstbild als
122 Vgl. dazu zum Beispiel: Konersmann, Ralf: Spiegel und Bild. Zur Metaphorik neuzeitlicher Subjektivität, Würzburg: Königshausen & Neumanns 1988; Langen, August: „Zur Geschichte des Spiegelsymbols in der deutschen Dichtung“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 28 (1940), S. 269-280. 123 Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Zweiter Band: Das philosophische Werk I, herausgegeben von Richard Samuel, Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1981, S. 142. 124 E. Goffman: Stigma, S. 73-74.
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Hochstapler aufbauen und perfektionieren. Er antizipiert Erwartungen und Urteile und formt dementsprechend seine Masken, in der er sich der Welt zeigt. 125 Die Maskerade des Selbst In seiner Lehrzeit gibt Manolescu an, zu lernen, eine „Maske“ 126 gemäß der „unzählige[n] Rollen, Bestellungen und charakteristische[n] Gesichtszüge[n] in den verschiedenen Lagen“127 zu tragen. Mit diesen „‚Studien‘“ habe er lange Nachmittage verbracht. Er amüsiert sich darüber, dass seine Kommilitonen glauben, dass er seinem Studium nachgegangen und nun „strebsam fleißig und sparsam“ geworden sei, während er sein Selbst-Studium allein dazu nutzt, „zum Dieb zu werden.“128 „Aber vom Lehrling zum Gesellen und Meister ist ein weiter Weg, und von den Versuchsstudien vor dem Siegel meiner Stube bis zur vollendeten Darstellung meiner Rolle in der Öffentlichkeit galt es noch manche harte Nuß zu knacken.“129 Als eine besonders harte Nuss erweist sich „unglücklicherweise“, sein „Gesicht in die verschiedenen Masken zu verändern“, weil „der natürliche Ausdruck meines Antlitzes und meiner [...] sprechenden Augen, die für jedermann, mit dem ich redete, ein treuer Spiegel meines Inneren waren und all meine Gedanken vernieten.“130 Dieses Problem versucht Manolescu, mittels Autosuggestion und Selbstidentifikation zu lösen: „Es handelte sich vor allem darum, selbst die Blutwelle, die mir ins Gesicht stieg, zurückzudrängen und immer, immer mehr Herr meines Ausdrucks zu sein, durchaus und allen Zwischenfällen gegenüber unbefangen und ruhig zu erscheinen, und, während ich die Rolle eines Käufers spielte, mir vollständig selbst zu suggerieren, daß ich wirklich als harmloser, ehrenhafter Kunde das Geschäft betreten hatte. Es galt endlich, wenn ich später beanspruchte, daß man mir das Geld für meinen ‚heimlich gekauften‘ Gegenstand zurückerstatte, daß ich diesen Gegenstand nicht gestohlen, sondern gekauft und voll bezahlt hatte. Mit einem Wort, ich mußte mich gänzlich mit meiner Rolle identifizieren und völlig vergessen, daß ich nur eine Rolle spielte. Denn nur so durfte ich hoffen, auch andere zu überzeugen.“ 131
Die Entdeckung des Selbst im Spiegel führt zur Maskerade des Selbst. Dieser Vorgang wird von Manolescu als Erkenntnis stiftend erachtet. Im Spiegel kann er beob-
125 Siehe dazu auch: Strauss, Anselm: Spiegel und Masken. Die Suche nach Identität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. 126 G. Manolescu: Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers, S. 38. 127 Ebd., S. 39. 128 Ebd. 129 Ebd., S. 43. 130 Ebd. 131 Ebd., S. 44.
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achten, wie sein wahres Empfinden unsichtbar wird, was bleibt, ist der äußere Schein als Sein. Dieser äußere Schein wird von Manolescu, dessen Sein der Spiegel und die Gesellschaft wahrhaftig belegen, in sein Spiel mit den Masken übertragen. Er zeichnet nach, wie es ihm gelingt, eine Maske zu tragen, die ganz allein aus seinem wahren Gesichtsausdruck entsteht. Diese Maskierung richtet sich nach dem „Zweck“ und erfordert eine Verinnerlichung der Zwecke. 132 Sie erfolgt über Wiederholung antizipierter sozialer Erwartungen an ihn und den dazugehörigen Handlungen von ihm: Manolescu wiederholt „den gedachten Diebstahl“, trainiert passend dazu seine Mimik und Gestik, bis sie sich „untrüglich in mein Gehirn eingeprägt hatte.“ 133 Lug und Trug, Schein und Sein werden so zu zuverlässigen Konstanten eines Hochstaplers. Die Erprobung der neuen Fähigkeiten und Erkenntnisse Bevor er seine neu erworbenen hochstaplerischen Fähigkeiten in die Tat umsetzt, will er sie in einem ‚Experiment‘ erproben. Dieses Experiment besteht jedoch bei genauerer Betrachtung nicht darin in eine andere Rolle zu schlüpfen, sondern als Manolescu einen Diebstahl zu begehen. Sein Opfer ist sein Nachbar, ein rumänischer Landsmann, dem er während eines Besuches zwei Ringe entwendet. Der Nachbar bemerkt den Verlust, kommt am nächsten Tag in Manolescus Wohnung und verdächtigt ihn des Diebstahls. Diese Verdächtigung hält Manolescus für „den Moment [...], die Probe aufs Exempel zu machen und die absolute Ruhe zu zeigen, die ich erwerben und mir für meine ganze zukünftige Hochstaplerkarriere bewahren wollte.“134 „Immer wieder fand ich neue Einwände, gab ihm schlagende Antworten auf seine Vorwürfe und Klagen und hielt ihn beständig mit kaltem Blute im Schach. Die Szene verlief genau so, wie ich es gewünscht hatte, – als eine Schulung für den künftigen Kampf, den ich derselben Gesellschaft liefern wollte, der dieser junge Mann vor mir angehörte.“ 135
Schließlich schenkt sein Nachbar seinen Unschuldsbeteuerungen Glauben. Dies wertet Manolescu als Erfolg, und da es sich ja lediglich um ein Experiment handeln soll, sorgt er dafür, dass der rumänische Landsmann seine Ringe zurückbekommt. Manolescu hält mit diesem Experiment seine „Lehre für beendet“ und wechselt sein Tätigkeitsfeld als Dieb.136 Nach den Warenhäusern wendet er sich jetzt den „Pariser Gold-
132 Ebd., S. 38. 133 Ebd. 134 Ebd., S. 46. 135 Ebd., S. 48. 136 Ebd., S. 50.
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warengeschäften“137 zu und beginnt, sich in seinen „neuen, noch aristokratischeren Beruf“138 einzuarbeiten. Das Festhalten am Selbstbild und die Wandlung der Wirklichkeit Die Lehrzeit zum Hochstapler greift die Konflikte in den Lebenswelten auf und zeichnet eine Wandlung von Manolescu nach, die darauf fokussiert ist, am Selbstbild und Selbstverwirklichungsbestrebungen festzuhalten, indem die Weltverhältnisse mittels Lügen, Täuschen und Hochstapelei geändert werden sollen. Während der Wandlung Manolescus zum Hochstapler repräsentiert der Spiegel den Schnittpunkt weltlichen Schein und individuellen Seins, den er in seinen „unzählige[n] Rollen“ vielfältig repräsentieren kann.139 Er verleiht damit seinen Rollen eine universelle Gültigkeit in der Wirklichkeit. Proteusartig lernt Manolescu die lebensweltliche Wirklichkeit in ihrer Rollenvielfalt in sich aufnehmen, ohne diese Rollen zu sein. Er will in entsprechenden Masken auftreten und in allen Bereichen seine Opfer finden. Mit dem Spiegel als Lehrmeister lernt er, alles verkörpern zu können, ohne darin aufzugehen. Schein und Sein interferieren: Sie erzeugen das Bild und die Handlungsoptionen des Hochstaplers. So wird der angestrebte Beruf zur Berufung, die sich in Masken ausführen lässt. Manolescu nimmt die Umgangsformen der Gesellschaft an, um mit ihr in Kontakt treten zu können. Indem er sich spiegelt, wird er zugleich zum spiegelbildlichen, trügerischen gesellschaftlichen Sein der gesellschaftlichen Verhaltensformen, die er damit in ihrer Scheinhaftigkeit entlarvt. Während er sich zum Hochstapler bildet, verdeutlicht er zugleich seine Erkenntnisse: Er macht sich die Welt inklusive ihrer Moral und Untugend zueigen. Vorgegeben wird der Bildungsweg durch die Verknüpfung von Illusionen und Desillusionen, Täuschungen und Wahrhaftigkeit, die in der gesellschaftlichen Wirklichkeit sich im Schein überlagern. Manolescus Körper wird in diesem Wandlungsprozess vor dem Spiegel zum Spiegelbild der Gesellschaft und zu dessen Reflex. Er muss sich von sich selbst entfremden, um sich selbst und die Gesellschaft zu überwinden – auch indem er sich zum Künstler-Genie erhöht. Manolescu betritt nun in seiner biographischen Erzählung die Lebenswelt des Hochstaplers und zeichnet darin seine hochstaplerischen Taten und die Bedeutung der Hochstapelei für seine biographische Entwicklung nach. Sie soll im Folgenden rekonstruiert werden.
137 Ebd., S. 51. 138 Ebd., S. 57. 139 Ebd., S. 39.
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Die Lebenswelt als Hochstapler In dieser Lebenswelt tritt ein biographisches Subjekt auf, das die Bedeutung des gesellschaftlichen Scheins und dessen Auswirkung auf seine gesellschaftliche Position erkannt hat. Es hat eine Lösung für die Konflikte in den zuvor bereisten Lebenswelten gefunden. Das biographische Subjekt bindet diese Erkenntnis an die Rolle des Hochstaplers und wird so zum Souverän, das sowohl die Welt des Verbrechens als auch die Welt der anderen beherrschen kann; Konfliktlösungsthematisierung zum Beispiel: „Ist es da übertrieben, wenn ich behaupte, daß fast überall nur der Schein gilt, nicht das Wesen, nur die blendende Hülle und nicht der Kern? Und ist das nicht ein mildernder Umstand für den, der die Welt nach allen Regeln der Kunst betrügt; – die Welt, die seit Ewigkeit betrogen sein will, die förmlich vor Sehnsucht danach schreit, sich betrogen zu sehn?“140
Weiteren Aufschluss dazu gibt auch die biographische Bewegung, mittels derer sich Manolescu zu den von ihm geschaffenen Lebenswelten verhält. Nach der durch Manolescu selbst bescheinigten äußerst erfolgreichen Wandlung zum Hochstapler werden die sich der Ausbildung anschließenden lebensgeschichtlichen Ereignisse mit den Kapitelüberschriften „Meisterdieb“ sowie „Hehler und Stehler“ betitelt.141 Damit scheint Manolescu bereits auf der erzählerischen Ebene die Wandlung zum Hochstapler in das bevorzugte Selbstbild des Meisterdiebes einordnen zu wollen. Er bricht mit der transformierten Rolle, indem er sich vom zuvor reflektierten Selbst-Weltverhältnis entfernt und die ‚alten‘ personalen Identitäten in die vollzogene Wandlung zum Hochstapler integriert, ihr sogar eine über den Hochstapler hinausgehende Relevanz für das eigene Selbstbild zuschreibt. Mit dieser Vorgehensweise knüpft er an seine erste verfasste Biographie an, in der er sich bereits zum „Fürst[en] der Diebe“ erklärt. Der Hochstapler ist ein Meisterdieb Manolescu legt nun zunächst insbesondere dar, wie er mittels Lug und Trug in den Besitz von Edelsteinen, Diamanten und Schmuckstücke gelangen und während der Diebstähle einige Merkmale des Hochstaplers anwenden kann. Dabei stellt er die Kombination seines ‚wirklichen Aussehens‘ und seiner vorgetäuschten Rolle, die Leichtgläubigkeit der Bestohlenen und die gesellschaftliche Orientierung am (äußeren) Schein einer Person als wesentliche Garanten für seinen Erfolg heraus – so beispielsweise bei einem seiner ersten Opfer, „einem gewissen Fontana, der zu jener Zeit im Palais Royal wohnte“:142
140 Ebd., S. 115. 141 Ebd., S. 65ff. 142 Ebd., S. 68.
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„Dieser Fontana hatte ein Juwelier-Detailgeschäft und handelte gleichzeitig en gros mit Edelsteinen. Der Prokurist empfing mich. Mein unschuldiges Aussehen eines blutjungen, lebenslustigen Mannes und die kühle Ruhe des Grandseigneurs, die ich zeigte, ließen ihm, noch ehe ich ein Wort sprach, klar erkennen, daß er einen Primakunden vor sich hatte, – einen Grünspecht, den nach allen Regeln der Kunst hochzunehmen Pflicht und Vergnügen jedes gewiegten Geschäftsmannes ist.“143
Detailreich schildert er das Vorgehen bei seinen Diebstählen, gibt sich als Kenner des Diamantenhandels („Ich war damals noch jung und noch nicht in Edelsteinen so versiert, wie ich es heute bin.“144), der Hehler- sowie der Verbrecherszene145 aus und kommt allmählich zu Wohlstand: „Schon am nächsten Tag überließ ich Charles B ... die Diamanten für dreitausend zweihundert Frank und die Perle für achtzehnhundert Frank. Ich hatte also an einem Tage fünftausend Frank ‚gemacht‘. Wie man sieht, ließ sich das Geschäft ganz gut an; meine Brieftasche begann sich zu füllen und mir allmählich Wohlleben und Luxus zu gestatten. Mehr und mehr glaubte ich mich meinem Ideale, der reichen Heirat, zu nähern, – ein Ziel, das ich dennoch niemals erreichen sollte.“146
Wie auch während seiner Lehrzeit spickt er seine Ausführungen mit Lebensweisheiten, die er anhand seiner umfassenden Beobachtungsgabe machen kann. Diese lassen sich als Ausdruck von Reflexionen des eigenen Selbst-Weltverhältnisses verstehen. So heißt es beispielsweise an dieser Textstelle weiter: „Denn es kommt im Leben nur auf eins an, ‚Glück zu haben‘. Neben diesem Talent spielen alle äußeren und inneren Vorzüge eine verschwindende Rolle.“147 Seine Kunst des Diebstahls ist nach seinen Angaben so genial, dass er „der Reihe nach so ziemlich alle großen Juweliere der Rue de la Paix und des Palais Royal und fast sämtliche Diamantenhändler von Paris“ bestiehlt.148 Da es seiner Einschätzung nach zu weit führen würde, über „alle Szenen, Ereignisse und Zwischenfälle [...] zu berichten“, beschränkt er sich auf die Darstellung seiner „Meisterprüfung“149, die darin besteht, dass er, als er kurz vor dem Abschluss eines Diebstahls steht, eben eines solchen verdächtigt wird, ganz Herr der
143 Ebd., S. 69. 144 Ebd., S. 91. 145 Siehe dazu das Kapitel „Hehler und Stehler“, ebd., S. 86ff. 146 Ebd., S. 75-76. 147 Ebd., S. 76. 148 Ebd. 149 Ebd., S. 81.
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Lage ist und sich mittels einer List aus der unangenehmen Situation befreit. 150 Als Meister der Diebe versucht er sich auch auszuweisen, indem er ausgewählte ‚Einnahmen‘, die er mit seinen Diamantendiebstählen erzielt hat, auflistet, „um dem Leser ein Bild zu geben.“151 „Ende des Jahres 1894“ verlässt Manolescu Paris und geht nach „Nordamerika, nachdem mir der Boden in Frankreich etwas zu heiß geworden war.“152 Schon während der Überfahrt raubt er Passagiere aus und setzt dann seinen Beutezüge in Kanada und weiteren Ländern fort:153 „Wie ich bereits an anderer Stelle [hier „Der Fürst der Diebe“, KS] erzählte, hatte ich außerdem das Glück, einem reichen Amerikaner 17 000 Dollar abzunehmen, reiste dann über Chicago nach San Francisco, wobei ich auf der Fahrt Schmucksachen im Werte von 72 000 Dollars stahl, von hier nach Honolulu und Yokohama und kehrte über Amerika nach Europa zurück.“154
Bereits vor seinen Reisen um die Welt hat er sich mittels seines über die Diebstähle gewonnen Reichtums Eintritt „in der großen Welt“ von Paris verschafft.155 Er residiert allein in einem Haus mit zwölf Zimmern, umgeben von zahlreichen „Bediensteten“ und führt ein „Leben im großen Stile“.156 Neben dem Luxus führt das Leben in der großen Welt zu der Einsicht, dass Manolescu in ihr erfolgreich existieren kann, weil er ihre zentralen Charakteristika – Schein, Täuschung und der Wille zum Belogenwerden – erkennt: „Man sollte doch meinen, daß solche alten, gewiegten Kaufleute ihre hauptsächlichste geschäftliche Erfahrung: Je pompöser die Aufmachung, desto wertloser der Inhalt, – je lärmender die Reklame, desto bedenklicher die Ware – auch auf die Menschen übertragen, denen sie ihr Vertrauen schenken. Man sollte glauben, daß sie sich bewußt sind, wie schwer, ja wie unmöglich heute die Aristokratin von der eleganten Halbweltsdame, der Millionär vom Hochstapler zu unterscheiden ist. Aber ich weiß aus langer Beobachtung das Gegenteil. Vom stolzen Kaufmann bis zum biederen Droschkenkutscher, vom hochmütigen Kavalier bis zum flinken Liftboy, – sie alle fliegen wie die Mücken ins Licht und lassen sich durch jeden Humbug blenden, betölpeln, bestehlen, während sie sich wunder wie lebensklug und weise vorkommen, wenn sie
150 Vgl. ebd., S. 76-81. 151 Ebd., S. 98. 152 Ebd., S. 99. 153 Ebd., S. 100ff. 154 Ebd., S. 105. 155 Ebd., S. 107. 156 Ebd., S. 110.
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alle anständigen, ehrenhaften Menschen so lange als Halunken betrachten, bis diese ihnen das Gegenteil bewiesen haben...“157
Der Hochstapler ist ein Frauenheld Seine Fähigkeit, die große Welt zu betrügen, weil diese betrogen werden will, führt nach seinen Angaben auch zu Erfolg bei den Frauen, denen er sich in zwei Kapiteln seiner Biographie ausführlicher widmet. Eine Quintessenz, die er aus dem Umgang mit Frauen gelernt hat, ist, dass diese über trügerische Herzen verfügen, denen er es zu verdanken hat, dass er sich zum Verbrecher entwickelte und wegen seiner Verbrechen verurteilt wurde. Diese Aspekte haben dazu geführt, dass er seinen „Enthusiasmus für das zarte Geschlecht wesentlich modifiziert“ hat.158 In der Lebenswelt des hochstapelnden Meisterdiebes wird auch über Gerichtsverhandlungen, Urteile und (drohende) Gefängnisstrafen berichtet. Manolescu blickt unter der gleichnamigen Überschrift auf seine „erste Verhaftung“ am 17. April 1890 und im Zuge derer auf seine Verurteilung und Inhaftierung zurück. 159 In seinen weiteren Ausführungen nutzt er die erste Inhaftierung als Ausgangspunkt für eine generelle Kritik am Gefängniswesen. Manolescu beschreibt seine Sicht der Dinge über die Situation in den verschiedenen europäischen Gefängnissen, in denen er seine Strafen abgesessen hat, und gibt sich als Experte aus, der seine eigenen Erfahrungen in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext stellen kann. 160 Trotz der in diesem Zusammenhang formulierten Zweifel am Sinn und an der Umsetzung von Inhaftierungen evozieren seine Gefängnisstrafen eine „innere Stimme der Reue“, die ihn dazu bringt, „die Freuden und Leiden meiner Existenz abzuwägen.“ 161 „Immer mehr begann ich in den langen Monaten meiner Haft meine ‚Profession‘ zu verabscheuen, – nicht etwa weil ich moralisch mich zu meinem Vorteil veränderte, sondern weil die beständige Komödie und Lüge, in der mein Leben sich bisher bewegt hatte, mich immer stärker abstieß, die schwere Strafe, die ich für meine Taten verbüßte, immer drückender auf mir lastete.“162
Neben dieser inneren Stimme der Reue gesellt sich jedoch der eigene Anspruch, „kein Feigling“ sein zu wollen. Nicht feige sein zu wollen, ist letztendlich das Argument in seinen Abwägungen über die eigene Zukunft, die dazu führt, dass Manolescu sich für „das Böse“ entscheidet:
157 Ebd., S. 115. 158 Ebd., S. 142. 159 Ebd., S. 145ff. 160 Vgl. ebd., S. 157ff. 161 Ebd., S. 166. 162 Ebd.
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„Wie die Kinder beim Spiel ihre Finger gegenseitig verschränken und den Gegner durch den Druck ihrer Hände niederzuzwingen suchen, so rang Gut und Böse in mir, – und immer wieder siegte das Böse, klang es von den Wänden höhnend an mein Ohr: ‚Kein Feigling!‘ zwang mich die Furcht, mich selbst verachten zu müssen, in mein geächtetes Leben zurück ...“163
Der Hochstapler ist ein Spieler Das geächtete Leben wird auch als Spieler in Monte Carlo geführt, wo Manolescu glaubt „ein Rezept gefunden“ zu haben, „ohne Anstrengung und Zeitverlust Tausende von Frank zu gewinnen, wie man sich Pflaumen vom Baume pflückt.“164 Doch das Rezept stellt sich als eher ungenießbar heraus: Manolescu verliert große Mengen an Geld und muss erneut Diebstähle begehen, um seine Spielschulden begleichen zu können. Diese lebensgeschichtlichen Episoden zieht er heran, um sich weiter als Meisterdieb in Szene zu setzen: „Nachdem ich einige Jahre meinen gefährlichen Beruf ausgeübt hatte, war ich schließlich so weit gekommen, jeden Diebstahl ohne die geringste äußere und innere Erregung zu begehn.“ 165 Er sucht sich ein neues Betätigungsfeld und spezialisiert sich auf Hoteldiebstähle, weshalb er „beständig auf Reisen sein“ muss.166 Ausführlich schildert er seine „Spezialität der Hoteldiebstähle“ in ihrer „derartigen Vollendung“167 in den verschiedenen europäischen Hotels und zieht einen Vergleich für den Nutzen der Diebstähle heran, der an den Tanz um das Goldene Kalb erinnert: „Nein, heißa, tanze, du blinkendes Gold, reiß mich heraus aus der elenden arbeitenden, sorgenden Menge, erhelle mir mit deinem Glanz den Weg zu den Höhen des Lebens, blende die sehnenden Augen des jungen, blühenden Weibes, das freudig seine Millionen für meine Liebe tauscht, das erschauernd meiner harrt, um mich zu ihrem Herrn, zum Herrn der Erde zu machen …“168
Nur knapp entgeht er einer Verhaftung, passiert die Grenze zur Schweiz und fährt nach Italien. Dort begegnet er seiner „gräflichen Gattin“, die er am 17. Oktober 1898 heiratet.169 In dieser Phase seines Lebens bricht er mit dem Vorhaben, „daß mit dem Tage meiner Heirat mein Hochstaplerleben begraben und vergessen sein mußte.“170 Zwar stellt er sich seiner Frau mit seinem „richtigen Namen“ vor, täuscht jedoch vor,
163 Ebd., S. 169. 164 Ebd., S. 175. 165 Ebd., S. 191. 166 Ebd. 167 Ebd., S. 196. 168 Ebd., S. 197. 169 Ebd., S. 212. 170 Ebd.
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den Titel eines „Dr. jur.“ zu tragen und „über eine jährliche Rente von 20 000 Frank“ zu verfügen.171 Vor der Hochzeit führt er „heftige innere Kämpfe“172 aus, ob er eine Heirat eingehen soll oder nicht – verfügen doch weder er noch seine Frau über Einkünfte, die seinem angestrebten Lebensstil entsprechen. Da er sie jedoch liebt, kann er sich nur für die Ehe mit ihr entscheiden. Rückblickend gibt er sich reuig und wendet sich an die Lesenden und (indirekt) an seine Frau, – die er unter dem Vorwand, Hoteldirektor in der Schweiz werden zu wollen, kurz nach der Geburt der gemeinsamen Tochter, nach insgesamt „elf Monate[n]“173 verlässt – auch um seine Taten zu rechtfertigen: „Und trotzdem – Ihr braucht es mir nicht erst zu sagen! – war es die böseste Tat meines Lebens. Aber wenn meinem einstigen Weibe diese Blätter zur Hand kommen – und ich weiß, sie wird sie lesen! –, dann möge sie sich der glücklichen Tage dort an der sonnigen Riviera, am schimmernden Bodensee erinnern, dann möge sie deß gedenken, daß auch mein Leben in Trümmern ging, die Sehnsucht, sie und mein einzig geliebtes Töchterchen wiederzusehen, noch immer in meinem Herzen lebt, – und daß ich heimatlos, friedlos, ein Gescheiterter mit dem Leben ringe, während meine Gedanken über Berg und Tal zu ihnen wandern ..“ 174
Während seiner Ehe habe sein Gesicht die Maske des rumänischen Aristokraten getragen, für den er sich ausgegeben habe. Dieser sei ein junger, makelloser Mann gewesen, dem das Herz gelacht habe, so oft er seinem geliebten Weibe in die seligen Augen geblickt habe.175 Der Hochstapler ist ein Simulant des Wahnsinns Nach der Trennung von der Familie wird Manolescu in Frankfurt am Main am 4. Oktober 1899 verhaftet und in einem „Polizei-Gefangenenhaus“ untergebracht.176 Wegen der Gedanken an seine Familie und der Angst davor, dass ihn „sieben bis zehn Jahre Zuchthaus erwarten“, setzt er den „Plan“ um, „leichte Verrücktheit zu simulieren“, die von den Behörden als „Geistesverwirrung“ gedeutet werden könnte.177 So hofft er, nach seiner Auslieferung an die Schweiz dem Gefängnis entgehen zu können. Manolescu spielt nach eigenen Angaben erfolgreich den geistig Verwirrten und wird zu einer Ge-
171 Ebd. 172 Ebd. 173 Ebd., S. 215. 174 Ebd., S. 213. 175 Ebd., S. 215. 176 Ebd., S. 221. 177 Ebd., S. 221-222.
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fängnisstrafe von „nur sechs Monate[n]“ verurteilt.178 Seinen ‚Erfolg‘ in der Rolle des Geistesverwirrten führt er auf die erlangten Fähigkeiten als Hochstapler und seine Willensstärke zurück. Erneut befindet er sich im Kampf gegen die Gesellschaft, in dem die Täuschung, die „Simulation“179 zur Strategie des Siegers wird: „‚Also wir beide, du Richter, du Arzt, du Gefangenen- und Krankenwärter, du Verteidiger und Zuhörer! Ich will dich zwingen, mich für verrückt zu halten, und du, der du viel weniger Energie und Ausdauer hast als ich, du mußt – verstehst du wohl, du mußt! – dich unbedingt überzeugen lassen, daß ich, der Mann, der hier vor dir steht, von den Furien des Wahnsinns gehetzt bin! Ich wußte, es war ein Duell der menschlichen Willenskraft, aus dem ich mit Aufbietung meiner ganzen Energie als Sieger hervorgehen wollte.“ 180
Aus der Haft entlassen begeht er weitere Diebstähle und kommt als „‚Fürst‘“ nach Deutschland, wo er „im Monat Oktober 1900“ erfährt, dass seine Frau die „Scheidungsklage“ eingereicht hat.181 Nach einem Zwischenaufenthalt in Frankreich reist er nach Berlin, wo er im „feudalen Kaiserhof“ logiert und dort wie auch im „Hotel Bristol“ Diebstähle begeht.182 Es verschlägt ihn anschließend nach Genua. Dort wird er „auf Antrag des deutschen Konsuls [...] verhaftet“.183 Vor seiner Auslieferung nach Deutschland verbringt er „vierundeinhalb Monate“ im Gefängnis von Genua und beginnt „gründlich über [s]eine Lage nachzudenken.“184 Aufgrund seines ersten Erfolges als Wahnsinniger, der sich in der milden Gefängnisstrafe widerspiegelt, beschließt er erneut, „hartnäckig und überzeugend Wahnsinn zu simulieren“: „Ich begann dies moralische Duell im Juni 1901 und beendete es nach etwas zwölf Monaten am 28. Mai 1902.“185 Zueigen macht er sich im „Duell“ seine Erfahrungen, die er bei seiner ersten Vortäuschung eines ‚Geisteskranken‘ gemacht hat und die – wie auch seine übrigen Täuschungen, Lügen und Masken – auf Beobachtung, Nachahmung und Autosuggestion beruhen: „Wie hatte ich mich also zu verhalten? Ich sagte mir, daß ich auch dieses Mal mein inneres Denken und äußeres Aussehen völlig identifizieren, mir jede nötige Bewegung meines Gesichts genau einprägen und endlich währen der Viertelstunde unter den Augen der Richter und Irren-
178 Ebd., S. 225. 179 Ebd., S. 219. 180 Ebd., S. 225. 181 Ebd., S. 229. 182 Ebd., S. 230. 183 Ebd., S. 233. 184 Ebd. 185 Ebd., S. 234.
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ärzte aus tiefster Seele selbst überzeugt sein müsse, daß mein Gehirn gestört und Manolescu tatsächlich verrückt sei. Die einfache Folge würde und müßte dann sein, daß diese Richter und Ärzte auf meinen Zügen die zweifellosen Zeichen des Wahnsinns erkennen würden, der – meinem Gesicht und Wesen nach zu urteilen – wirklich dort hinter meiner Stirn tobte, und keine Menschenmacht die Wahrheit aus meinem Gehirn zu zerren imstande wäre.“ 186
Manolescus Triumph im vorgetäuschten Wahnsinn ist eingeschränkt: Er wird zwar freigesprochen, jedoch in das „Irrenhaus“ Herzberge eingeliefert, aus dem ihm „in der Nacht vom 9. zum 10. Juni 1903“ die Flucht gelingt. Nach dieser Flucht sieht sich Manolescu dem Stigma des Geisteskranken ausgesetzt. Dieses Stigma will er mit seiner Biographie abwenden, da es doch auch nicht seinem Titel „Fürst der Diebe“ und „Meisterdieb“ entspricht. In einem nach außen gerichteten inneren Monolog spielt er auf diese Problematik bereits während seiner ersten Simulation an: „[...]; ich sagte mir jedoch immer wieder: ‚Warum soll es bei festem Willen nicht gehn? Dieser Homo sapiens da vor dir ist doch auch nur ein Mensch, der ißt, trinkt und schläft und, wenn er sich erkältet, niest, und ich will und muß ihn zu dem Glauben zwingen, daß ich tatsächlich heillos verrückt bin. Was ist denn überhaupt Geisteskrankheit, und woran erkennt man sie? Ist sie nicht eine sichtbare Störung des geistigen Gleichgewichts, ein Versagen der Hemmungsvorstellungen einer zügellosen Phantasie gegenüber, und ihre äußeren Zeichen unzusammenhängende, wirre Reden, sinnlose unmotivierte Bewegungen und exaltierte oder alberne Blicke? Ich bin freilich kein Mediziner. Ich bitte also die Ärzte, die diese Definition für total falsch erachten, mich darum nicht für verrückt zu erklären, und die, welche sie zutreffend finden, nicht daraus zu folgern, daß ich komplett wahnsinnig sein müsse, um als Laie das Wesen der Krankheit so wundervoll schildern zu können. Nun wohl – angenommen, daß ich recht hatte – , warum sollte ich, der ich meine Züge solange zu beherrschen gewußt hatte, nicht auch die Maske des Wahnsinns auf mein Gesicht drücken? Der andere Mensch dort vor mir konnte mir doch nur in das Antlitz und in die Augen blicken, aber nie und nimmer durch die Schädeldecke in mein Hirn hinein.“187
Der Hochstapler ist ein listiger Biographisierungsstratege In der Lebenswelt des Hochstaplers präsentiert sich ein biographisches Subjekt, das die Bedeutung des gesellschaftlichen Scheins und dessen Auswirkung auf seine gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten erkannt hat. In der Rolle des Hochstaplers wird er zum Souverän, der sowohl die Lebenswelt des Verbrechens als auch die Lebenswelten der anderen zum Beispiel der Reichen beherrschen kann. Manolescu schafft mit der Darstellung der Ereignisse eine Lebenswelt des Hochstaplers, die von
186 Ebd., S. 224-225. 187 Ebd., S. 223-224.
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seinem Selbstbild als renommierter, internationaler Meisterdieb dominiert wird. Die erlernten hochstaplerischen Eigenschaften und Fähigkeiten helfen ihm, sich als aktiv agierender Souverän in der Welt zu platzieren. Dabei nimmt er in der Lebenswelt des Hochstaplers weitere Identitätsfestlegungen vor, die er mit seiner Identität des Hochstaplers verknüpft. Manolescu präsentiert sich in der Lebenswelt des Hochstaplers als Meisterdieb, Spieler, Frauenheld und als Simulant des Wahnsinns. Gleichzeitig kann er so an die Konflikte innerhalb der Entstehungsgeschichte der Biographie anknüpfen und sein Selbstbild als „Fürst der Diebe“ wahren. Seine vorgenommene Identitätsfestlegung als Hochstapler erweist sich vor dem Hintergrund der ersten Biographie als Neuerung und als listige Biographisierungsstrategie, die mittels der diachronen Darstellung von Ereignissen und Konflikten in den Lebenswelten realisiert wird. So kann sich der Meisterdieb, der Abenteurer, Heiratsschwindler und Betrüger als Hochstapler in Szene setzen, sein Selbstbild präsentieren und seine Taten als Reaktion auf und Erkenntnis von gesellschaftlichen Verhältnissen plausibel machen. Weiteren Aufschluss dazu gibt die biographische Bewegung, mittels derer sich Manolescu zu den Lebenswelten in seiner Biographie verhält. Sie erfolgt vom zeitlichen Standpunkt nach den biographischen Ereignissen und stellt eine Reflexionsebene dar, die sich in Form von Welt- und Selbstreferenzen sprachlich gestaltet. Rekonstruktion der biographischen Bewegungen In den von Manolescu vorgenommenen Welt- und Selbstreferenzen setzt sich das hochstaplerische Spiel mit dem gesellschaftlichen Sein und Schein fort. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass er die Hochstapelei zu einem Beruf erklärt, den man innerhalb einer Lehrzeit erlernen kann. Er referiert damit auf einen gesellschaftlich etablierten Referenzrahmen von Beruf, deutet diesen jedoch um, indem er die moralische Verwerflichkeit seines verbrecherischen, hochstaplerischen Handels mit gesellschaftlichen Normen ver- und gleichzeitig unterbindet. In seinen Selbstreferenzen bescheinigt er sich das Vorhandensein von gesellschaftlichen Tugendvorstellungen an ein Arbeits- und Berufsleben, zum Beispiel Fleiß, Willensstärke und Strebsamkeit. Die Übertragung dieser Selbstreferenz eines eigenen beruflichen Ethos auf die Weltreferenz erweist sich jedoch in dem Moment als Umdeutung der Weltverhältnisse, indem sich der Beruf als Betrug an der Gesellschaft ausweist und sich Manolescu als Verbrecher zu erkennen gibt. Manolescu lässt ein biographisches Subjekt entstehen, das immer wieder nach seinen Vorstellungen in den Kampf gegen die Gesellschaft zieht. Währenddessen stellt er auf synchroner Erzählebene Referenzen her, die sprachlich mit der Opposition des Guten gegen das Böse spielen. So ist er beispielsweise das Opfer, das von der Gesellschaft vergiftet werde. Oder er muss als Außenseiter und Ausgegrenzter einen Feldzug gegen die Gesellschaft beginnen, will er als gescheiterter aber im Grunde guter Mensch nicht an den gesellschaftlichen Verhältnissen zugrunde gehen. Mit dieser Biographisierungsstrategie zielt Manolescu vom Standpunkt der Erzähl-
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zeit darauf ab, sein Verhältnis zu Welt nach seiner Entlarvung als Hochstapler zu ändern. Da Manolescu ja eigentlich als verurteilter Krimineller das Böse verkörpert, bleiben ihm dazu eigentlich nur diese Möglichkeiten: Entweder wandelt er sich zum reuigen Bekenner, was den gesellschaftlichen Erwartungen an seine Biographie entspricht, oder er deutet das Verhältnis um, indem er die Gesellschaft zum Bösen und sich selbst – wenn nicht zum Guten, dann immerhin – zum Opfer erklärt. Manolescu geht jedoch noch einen Schritt weiter: Er vollzieht in seinem Biographisierungsprozess im Zusammenspiel von biographischer Bewegung und den Ereignissen in den Lebenswelten eine Wandlung zum Hochstapler, die in sich sowohl das gesellschaftliche wie das individuelle Böse vereinigt und gleichzeitig der Welt den Spiegel vorhält. Mit seiner biographischen Bewegung bekennt er sich über die Darstellung der Ereignisse in den Lebenswelten zu seinen Verbrechen, die auf Lug und Trug fußen, und führt gleichzeitig Biographisierung vor, die sich – betrachtet man die Entstehungsgeschichte der Biographie – als eine Täuschung erweist. Wirklich wird die Wandlung zum Hochstapler erst durch den listigen Biographisierungsprozess von Manolescu, der sich anhand der biographischen Bewegung verdeutlichen lässt. Weil er sich der Deutungsmuster und Wissensbestände der Gesellschaft über Biographien und Hochstapler bedienen kann, erreicht er, dass die (fingierte) Wandlung zum Hochstapler nachbiographische Realität wird. Die Biographie selbst ist eine Hochstapelei und ein erneuter auf Lüge und Täuschung basierender Schachzug von Manolescu gegen die Gesellschaft und für den Erhalt seiner Selbstverwirklichungsbestrebungen. Auf diesen Zusammenhang verweist auch Wulffen, der die biographisch dargestellten Erlebnisse mit den tatsächlichen Ereignissen, die Manolescus Lebensgeschichte ausmachen, vergleicht. „In seinen Memoiren wird er nachträglich zum literarischen Hochstapler. Die Niederschrift wird für ihn zur Tat, er begeht beim Niederschreiben noch einmal alle diese Verbrechen und begeht zugleich diejenigen mit, die in Wirklichkeit zu verüben er keine Gelegenheit fand oder keine Geschicklichkeit besaß, die aber begangen zu haben ihn unendlich glücklich gemacht hätte. Er hat mit seinen Memoiren nicht nur das deutsche Leserpublikum, sondern halb Europa und Amerika, die die Übersetzungen lasen, fasziniert und getäuscht. Die Presse erklärte seine Memoiren für die Beichte eines Genies.“188
Biographische Bewegung als Strategie Möglich wird die inszenierte Wandlung, weil Manolescus biographische Erzählung mit den gesellschaftlichen Erwartungen an das biographische Erzählen übereinstimmt. Dies zeigt sich in den folgenden Strategien seines Erzählens, die innerhalb
188 E. Wulffen: Die Psychologie des Hochstaplers, S. 48.
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der biographischen Bewegung als Welt- und Selbstreferenzen zu den Lebenswelten verstanden werden können: Strategie der Selbstreferenz: Herstellung von Autonomie Manolescu etabliert einen Ich-Erzähler, der die subjektive Wahrnehmung der gesellschaftlichen Verhältnisse bezeugt, an die er zugleich gebunden ist. Dieser Ich-Erzähler ist außerdem in der Lage zwischen den Erzählzeiten zu wechseln. Mal reflektiert er vom Standpunkt der erzählten Zeit (diachrone Ebene) oder der Erzählzeit (synchrone Ebene). Er kann den biographischen Ereignissen voraus- oder auf sie zurückgreifen und Bezüge unter ihnen herstellen. Auf diese Weise kann er Souveränität über die Deutung und den Verlauf der eigenen Lebensgeschichte zurückerlangen, seine Informationen über seine Biographie in der Gesellschaft kontrollieren. Strategie der Weltreferenz: autonome Neudeutung von Welt Außerdem setzt Manolescu auch sprachliche Mittel ein, die ihm eine Übertreibung der Wirklichkeit und damit eine Konstruktion von Weltreferenzen ermöglichen, die autonom mit den biographischen Ereignissen umgeht und ihnen autonom, aber im gesellschaftlichen Bannkreis sprachliche Neudeutungen zukommen lässt. Dies zeigt sich zum Beispiel im euphemistischen Vergleich der Hochstapelei als Beruf. Auch die vom Ich-Erzähler verwendeten Metaphern spiegeln zum einen die „fiktive Dimension in der Betrachtungsweise“ wider und beziehen sich dann auf die Ebene der Selbstreflexion.189 Zum anderen können sie auch eingesetzt werden, um bei den Lesenden die Wirklichkeit in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. So zum Beispiel die häufig verwendete Kriegsmetaphorik, mittels derer Manolescu sein Selbstund Weltverhältnis in den Lebenswelten reflektiert und zugleich versucht, sich gegenüber den Lesenden als Einzelkämpfer zu präsentieren, der aufgrund der Ungerechtigkeit der Gesellschaft gegen sie kämpfen muss, um sich aus seinem unverschuldeten Leid zu befreien. Gleiches gilt auch für die Masken-Metapher. Weihe merkt zur „Paradoxie“ der Maske an: „Die Maske erfüllt ihre Funktion erst, wenn sie auf ein Gesicht aufgesetzt worden ist. Sobald sie aufgesetzt ist, lässt sich die Maske als Paradox beschreiben: Sie zeigt, indem sie verbirgt. Das Gesicht trägt die Maske; erst wenn sie dieses verdeckt, kann sie sich zeigen. [...] Die Maske steht für das Bewusstsein des Trägers, anders zu sein, als er dem Betrachter erscheint. Der Mensch kann sich seine eigene Maske aufsetzen, seine eigene Rolle konstruieren. Er verwirklicht sich gerade in dieser Möglichkeit der Verdopplung durch ein Bild von sich darin äußert sich sein Personsein.“190
189 H.-C. Koller: Negativität und Bildung, S. 146. 190 Weihe, Richard: Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form, München: Fink 2004, S. 14, Herv. i.O.
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Metaphern sind, wie auch Manolescus Wandlung zum Hochstapler ein „So-tun-als-ob“ und ermöglichen eine „eigenständige Bearbeitung von Welt-Selbst-Verhältnissen“, welche auch in der Übertreibung und Vortäuschung biographischer Begebenheiten bestehen kann.191 Dies zeigt sich beispielsweise auch in den Wechseln zwischen Präsens und Präteritum, die sich dahin gehend interpretieren lassen, dass er sowohl „Herr über die Zeit“ und gleichzeitig der Verfasser „der Chronologie seines Lebens“ ist.192 Die folgende Textstelle zeigt beispielhaft, wie Manolescu im Erzählen die Zeit beherrscht und seine Reflexionen mit allgemeingültigen Sätzen (s. o.) bekräftigt: „Ein französisches Sprichwort behauptet: ‚Jede Arbeit verdient ihren Lohn.‘ Ich beeilte mich daher, nachdem mir das Studium der sachgemäßen Behandlung von Edelsteinen so viel Mühe gemacht hatte, die Konsequenzen dieses Weisheitsspruches zu ziehen.“193 Strategie der Selbstreferenz: Bekenntnis Der Ich-Erzähler wird genutzt, um ein sich zu seinen Taten bekennendes biographisches Subjekt erscheinen zu lassen: Korrespondierend zum Titel seiner Biographie „Gescheitert“ zeichnet der bekennende Hochstapler zunächst die „Illusionen seiner Jugend“ nach. Diese Illusionen lassen keinen Zweifel, Manolescu ist ein Hochstapler, auch deshalb, weil er Hochstapeln als „gesellschaftliche Tätigkeit“ ausweist und ihre Voraussetzung – „eine soziale Hierarchie“ identifiziert.194 Illusionen erliegt man – so auch der Bekenner, der so vorgibt, sich von den Gedanken seiner Jugend verabschiedet zu haben und sie doch gleichzeitig wieder aufleben lässt, indem er über sie berichtet. Diese Ambivalenz bemerkt auch der Ich-Erzähler und nimmt sich beispielsweise als Lehrmeister zurück, um gleichzeitig weiter das Wesen einer erfolgreichen Lehrzeit darzulegen: „Ich werde freilich nicht sagen, wie der Ausdruck des Gesichts in solcher Lage sein muß, denn ich will nicht in den Verdacht kommen, Dieben und Hochstaplern hier Unterricht zu geben.“195 Versus: „Alle stierten mich entsetzt an; aber sie sahen nichts als einen ruhigen, eleganten jungen Mann, der sie mit kühler Verachtung ironisch anlächelte. Seit meiner Lehrzeit war ich ja schon tagtäglich auf einen solchen Zwischenfall gefaßt gewesen und verlor infolgedessen meine Selbstbeherrschung und die Maske völliger Sicherheit nicht.“196
191 H.-C. Koller: Negativität und Bildung, S. 146. 192 S.H. Kern: Die Kunst der Täuschung, S. 112. 193 G. Manolescu: Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers, S. 67. 194 S.H. Kern: Die Kunst der Täuschung, S. 99. 195 G. Manolescu: Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers, S. 38. 196 Ebd., S. 78.
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Mittels rückblickenden Sinnierens über seine moralischen Fehler versucht er sich von der jugendlichen Gedankenwelt zu distanzieren und gibt vor, eine Entwicklung durchlebt zu haben. Strategie der Welt- und Selbstreferenzen: Authentizität Manolescu suggeriert sein wahrhaftiges Erinnern über die auktoriale Erzählweise, mittels derer er zum Beispiel Gesprächsszenen und eigene Gedanken in der Vergangenheit wörtlich wiedergeben kann. Die Authentizität der Erlebnisse wird auch dadurch hervorgebracht, dass die Gesellschaft, in der er als Hochstapler wirkte, in ihren vielfältigen Facetten beschrieben wird. „Während der letzten Jahre hatte ich begonnen die Augen zu öffnen und die Welt um mich herum, auf den Rennbahnen, in den Theatern und Salons scharf und nüchtern zu betrachten. Immer mehr erkannte ich, daß selbst in dieser Republik, in der doch eigentlich alle sozialen Gegensätze ausgeglichen sein müßten, die Gesellschaft vor Reichtum, Rang und Titeln kriecht und blindlings das anbetet, was glänzt und besticht. [...] Genau so lagen die Verhältnisse auch bei mir. Ganz im Anfang, als ich in meiner Verbrecherlaufbahn kaum erst flügge war und noch nicht Geld genug zusammengegaunert hatte, um die Leute zu blenden und ihnen den nötigen Sand in die Augen zu streuen, wurde mir das Stehlen unendlich schwer gemacht.“ 197
Belege werden über die immer wiederkehrende exakte Datierung von Ereignissen (zum Beispiel: „4. November 1888“198 26; „5. Mai 1889“199 67; erster Juwelendiebstahl, „17. April 1890“200 erste Verhaftung etc.) angeboten, die eine Widerlegung seiner Erzählung als unangemessen ausgeben. Das exakte Erinnerungsvermögen ergibt sich auch aus den Charaktereigenschaften, die sich Manolescu selbst zuteilt – immer wieder zieht er seine (außergewöhnliche) Intelligenz und feine Beobachtungsgabe heran. Die Wahrhaftigkeit der Reflexionen soll beispielsweise durch die Einbindung in vorgeblich allgemeingültige Thesen suggeriert werden. So schreibt der selbstauserkorene Frauenheld, weil er von einer Frau an die Polizei verraten wurde: „Wenn man die großen Kriminalprozesse aller Zeiten verfolgt, wird man immer wieder auf die Indiskretion oder den Verrat eines Weibes stoßen, und mancher Unglückliche, der einer Frau vertraute, hat seinen Fehler mit lebenslänglichem Bagno oder mit seinem Kopf büßen müssen. Hätte ich diese Charakterschwäche besessen, so hätte ich dank den holden Frauen – obwohl ich
197 Ebd., S. 112-113. 198 Ebd., S. 26. 199 Ebd., S. 67. 200 Ebd., S. 147.
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nie ein Verbrechen begangen habe – nicht acht, sondern vielleicht dreihundertfünfzig Jahre sitzen müssen; denn die Frau, die ‚dicht halten‘ kann, die soll erst noch geboren werden!“201
Durch die Einordnung seiner individuellen Lebensgeschichte in einen allgemein gültigen Erwartungs- und Geltungshorizont kann er zum einen Distanz zum Erlebten verdeutlichen und zum anderen eine reflexive Entwicklung behaupten. Die vorgebliche Authentizität der Erzählung und damit die Wandlung zum Hochstapler werden auch erreicht durch den „Bezug auf soziale, lebensweltlich spezifizierte Anforderungen und eigene individuelle Selbstverwirklichungsentwürfe“.202 Manolescu thematisiert Konflikte im Wechselspiel der Darstellung eines Ich in der erzählten Zeit und in einer zeitlich nachgeordneten biographischen Reflexion. Der Anschein der Authentizität wird auch über die Datierung von Handlungen, die Einordnung in historische Ereignisse und die Hinzuziehung von anderen, deren Identität namentlich legitimiert wird, bekräftigt. So zum Beispiel in dieser Textstelle: „Am 5. Mai 1889 – ich entsinne mich noch genau des Datums –, als eben die Weltausstellung eröffnet war und aus allen vier Enden der Welt die Fremden nach Paris strömten, hielt ich den Moment für günstig, um in der Edelsteinbranche meine ersten ‚Abschlüsse‘ zu machen. An diesem Tage gegen vier Uhr nachmittags holte mich meine Viktoria [seine Kutsche, KS] vom Café Anglais auf dem Boulevard des Italiens ab, nachdem ich mit dem Marquis O ..., dem Präsidenten der Compagnie des Ballons Captifs, auf der Weltausstellung gefrühstückt und vor dem Café bei einem Likör gesessen hatte.“203
Authentizität bekräftigende Funktion übernimmt auch die sich wiederholende Bezugnahme auf seine erste Biographie.204 Mit diesen stilistischen Mitteln verleiht Manolescu seiner Erzählung eine übersituative Legitimation und Kausalität. Er vergegenwärtigt innerhalb der gesamten Biographie zunächst vergangene Ereignisse und verweist auf zukünftige Geschehnisse in der Erzählung. So bricht er die chronologische Reihung der Ereignisse auf und kann das biographische Subjekt zugleich innerhalb als auch außerhalb der biographischen Ereignisse verorten. Strategie der Welt- und Selbstreferenz: Intertextualität Eine weitere handlungsübergreifende Form der Selbstdistanzierung und -präsentation übernehmen intertextuelle Verweise als Form der reflexiven Darstellung von Selbstund Weltverhältnissen: Rahn und Claßen weisen in ihren Interpretationen auf die
201 Ebd., S. 142-143, Herv. i.O. 202 H. Keupp et al.: Identitätskonstruktionen S. 215-216. 203 G. Manolescu: Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers, S. 67. 204 Zum Beispiel ebd., S. 105.
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Bedeutung des von Manolescu im ersten Band seiner Memoiren auf einer Bahnfahrt rezipierten Schelmenroman „Gil Blas“ von Alain-René Lesage hin.205 Dieser Roman, so Rahn, „fungiert als Markierung eines legitimatorischen Programms: Es besteht ein intertextuelles Verhältnis zwischen Romantext und quasi-literarischer Lebensinszenierung; Manolescu ist nach eigenem Verständnis ein Pikaro, d.h. ein approbierter Typus der Weltliteratur, der vom Leser in der Regel positiv und identifikatorisch besetzt wird.“206 In „Gescheitert“ vergleicht sich Manolescu, während er seine Beute betrachtet, in einer zusammenhängenden Textstelle mit Hamlet und Narziss: „Ich hatte mein Depositenkonto auf dem Crédit Lyonnais, aber sehr häufig schüttete ich das blinkende Gold, ehe ich es dort einzahlte, auf den Tisch vor mir aus. Ich wühlte lange mit beiden Händen in den klirrenden Münzen, um dann den Kopf in die Hand zu stützen und angesichts meiner Schätze wie Hamlet mit dem Totenkopf und Narziß mit seinem Pagoden zu philosophieren.“207
Gleich dem Mythos vom hübschen Narziss, der vergeblich versucht sein eigenes Spiegelbild zu erfassen, betrachtet sich Manolescu in seinem „Gold“. Auch Narziss scheitert und gerät in einen Wahn angesichts der „trügenden Quelle“. „Arglos begehrt er sich selbst, erregt und findet Gefallen, Wird verlangend verlangt, entbrennt zugleich und entzündet. Küsse gab er, wie oft! Vergebens der trügenden Quelle, [...] Der da bin Ich! Mein eigens Bild ist’s! In Liebe Brenn’ ich zu mir, errege und leide die Flammen!“208
Manolescu spielt mit dem Narziss-Vergleich auf die Auswirkungen des Trugbilds auf das Selbst an und verweist indirekt auf seine später gespielte Rolle des an Wahnsinn Erkrankten, deren Funktion ebenfalls in der Selbsterhaltung zu bestehen scheint. Auch die zweite von Manolescu benannte Figur, Hamlet, spielt den Wahnsinnigen, um sich – vergleichbar mit Manolescus proklamierten Kampf gegen die Gesellschaft – zu rächen. Eine der Leidtragenden ist – wie auch bei Manolescu – eine Frau: Ophelia, die vom vermeintlich wahnsinnigen Hamlet zurückgewiesen wird. Auch Hamlet muss sich der Prüfung seines Wahnsinns unterziehen und auch er berührt die Frage
205 Vgl. T. Rahn: Der Lügner als Autor, S. 70; I. Claßen: Darstellung von Kriminalität, S. 112-113. 206 T. Rahn: Der Lügner als Autor, S. 70. 207 G. Manolescu: Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers, S. 110. 208 Naso, Publios Ovidius: Metamorphosen. In deutsche Hexameter übertragen und mit dem Text herausgegeben von Erich Rösch, München: Heimeran 1952, S. 109-111.
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des „Sein oder nicht Sein[s]“, die Manolescu auf eigenwillige Art und Weise in der Täuschung zu lösen sucht. Damit erhebt er sowohl seine Begierde nach Gold als auch seine Formen der Täuschung zu wesentlichen Faktoren seiner (Schein-)Existenz. In der biographischen Bewegung als strategischer Biographisierungsprozess zeigt sich, dass Manolescu sein Verhältnis zu den Lebenswelten mittels Welt- und Selbstreferenzen so gestaltet, dass es den Erwartungen seiner Lesenden an „institutionalisierte Deutungsmuster der Biographie“209 entspricht. Dabei bedient er sich verschiedener Strategien, um seine Welt- und Selbstreferenzen so zu gestalten, dass sie nicht nur als Ausdruck eines internen Vorgangs des Subjektes begriffen werden können, sondern auf die strukturelle Verwobenheit des Subjektes verweisen. Manolescu lässt sein Subjekt biographische Bewegungen ausführen, die erkennen lassen, dass dieses über Biographizität verfügt, weil es über seine biographische Entwicklung in Form von Welt- und Selbstreferenzen reflektieren kann. So kann er auf den ersten Blick mit der strategischen Ausrichtung seiner Biographie Kontinuität und Kohärenz für seine Lebensgeschichte herstellen. Doch bei genauerer Betrachtung erweist sich diese Strategie als listiges Ablenkungsmanöver, dass von Manolescu eingesetzt wird, um sich – im Gegensatz zum Titel seiner Biographie – nicht als gescheiterter Bekenner darzustellen, sondern eine „Identität-Für-Sich“ zu konstruieren, die nicht darauf aufbaut, wie er wurde, was er ist, sondern wer er für sich selbst und andere sein möchte. Biographische Bewegung als Täuschung Die biographische Bewegung zeigt auch, dass Manolescu sich nicht nur eines gesellschaftlichen Erwartungshorizontes bedient, sondern mit diesem spielt, um seinen nicht-gescheiterten Entwurf von sich selbst in der Biographie zu realisieren. Strategisch bedient er sich vor diesem Erwartungshorizont eines aufrichtigen Bekenners, dessen Wahrhaftigkeit sich auch an der möglichst detailreichen Schilderung der Lebensumstände in den Lebenswelten messen lässt. Doch dieser „Bekenntnisgestus“ erweist sich, wie Rahn erarbeitet, als ein „Ablenkungsmanöver“: Abgelenkt wird von einem Scheitern Manolescus als Mensch im Sinne bürgerlicher Moralvorstellungen und Werte, „ als Verbrecher jedoch [...] ist er eigenmächtig und selbstbestimmt“.210 Das Scheitern wird so zum Erfolg umgedeutet und Manolescu wandelt sich zum „Souverän, der es mit der ganzen Welt aufnehmen kann.“211 Ziel der biographischen Bewegung in den Lebenswelten ist demnach nicht nur eine Ordnung der biographischen Ereignisse, verbunden mit einer Abschließung und Distanzierung von der Vergangenheit, sondern die Vergangenheit wird mit einer Bedeutung für die Gegenwart versehen, die deutlich von dem vom Verleger geforderten Bekenntnis abweicht. Be-
209 P. Alheit: Biographie und ‚modernisierte Moderne‘, S. 155. 210 T. Rahn: Der Lügner als Autor, S. 58. 211 Ebd.
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kenntnis beinhaltende Passagen kommen eher halbherzig daher, werden meistens sofort zurückgenommen und treten zurück zugunsten eines „positiven Selbstbild[es]“ von Manolescu.212 Wie im Titel der Biographie angekündigt will Manolescu aus dem „Seelenleben eines Verbrechers“ berichten. Zu diesem Zweck gibt er öffentlich seine Taten zu und weist sie – wie ebenfalls der Titel ankündigt – als „[g]escheitert“ aus. Doch dieses Scheitern wird genutzt, um einen Nicht-Gescheiterten im Erzählen hervorzubringen. Dies wird nicht nur möglich über Ablenkungsmanöver, sondern auch mittels Lügen und Täuschen über die eigene Vergangenheit. Auch sie zeigen, dass Manolescu die von ihm geschaffene biographische Wirklichkeit zu beherrschen weiß. Dies zeigt sich beispielsweise in folgender Selbstreferenz, die nicht nur auf die Phase der Hochstapelei begrenzt ist, sondern konstitutiv für die gesamte biographische Erzählung: „Denn ich beherrschte bereits die höchste gesellschaftliche Kunst, die vor allen anderen Eigenschaften den Erfolg verbürgt, – ich verstand zu blenden.“213 Es ist nicht eine gescheiterte Existenz, die im Bekenntnis seine Verzweiflung über ihre Handlungen zum Ausdruck bringt und in Selbst- und Weltverhältnissen reflektiert, sondern es ist ein biographisches Subjekt, das sich im biographischen Erzählen entwickelt und voller Überzeugung von sich selbst präsentiert. Mittels der Welt- und Selbstreferenzen entwirft Manolescu sich im biographischen Erzählen selbst. Wie Kern für die literarische Figur Felix Krull, dessen Vorbild auch Manolescu sein soll,214 feststellt, geht es auch bei Manolescus Entwurf nicht darum, „wer er ist, sondern wie er sich selber sich zu Bewußtsein bringt“.215 Die Selbstbewusstwerdung erfolgt auf diachroner Erzählebene im Vergleich des ihn umgebenden gesellschaftlichen Umfeldes und ist auf synchroner Ebene auf die Selbstpräsentation in der Gesellschaft ausgerichtet, die ihn nach seiner Entlarvung als Hochstapler mit Identitätsfestlegungen konfrontiert, die nicht Manolescus Bild von sich selbst entsprechen. Deshalb vollzieht er Reflexionsbewegungen, die den Anschein von gesellschaftlich erwarteter Reue erwecken, aber mit dieser Reue brechen, weil sie zugunsten der eigenen Genialität in den Hintergrund rückt. Die auf den gesellschaftlichen Erwartungshorizont ausgerichteten Weltreferenzen werden mittels der Selbstreferenzen gebrochen. Diese Verbindung von Welt- und Selbstreferenzen zeigt zum Beispiel mittels in der Bedeutung des Spiegels als Lehrmeister. Porombka merkt zum „Spiegelstadium“ an: „A Star is born. Vor dem Spiegel erblickt der Hochstapler das Licht dieser Welt. Ich ist ein anderer, und der andere bin ich – das ist die Erfolgslosung, mit der er in das Spiegelstadium
212 Ebd. 213 G. Manolescu: Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers, S. 112, Herv. i.O. 214 Vgl. beispielsweise I. Claßen: Darstellung von Kriminalität, S. 98-114. 215 S.H. Kern: Die Kunst der Täuschung, S. 96.
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seiner Existenz eintritt, um es nie wieder zu verlassen. Hier hat er sich unter Kontrolle, wenn er sich mit den Augen eines Fremden erkennen und in einen Fremden verwandeln kann. Das private Selbst tritt zurück, das öffentliche Selbst tritt in den Vordergrund und löscht jedes Moment von Privatleben aus. Hinter den eingeübten Masken ist nichts und darf nichts sein.“216
Im selbst erklärten Kampf gegen die Gesellschaft bringt Manolescu über die biographische Erzählung eine eigene Wirklichkeit hervor. Dies zeigt sich in der biographischen Bewegung als Täuschung dahin gehend, dass der Ich-Erzähler auf synchroner Ebene und das Ich in den diachronen Lebenswelten miteinander interferieren und so das biographische Subjekt hervorbringen, das in sich die verschiedenen Täuschungsebenen vereinigt, indem es sich zum Hochstapler wandelt: Das Ich der erzählten Zeit täuscht und lügt in den Momenten seiner hochstaplerischen und betrügerischen Handlungen. Der Ich-Erzähler täuscht als bekennender Hochstapler, dessen Bekenntnis sich nicht als Reue erweist, sondern als Bekenntnis der eigenen Genialität gewertet werden kann. Das biographische Subjekt entwickelt sich zum Hochstapler, den es so nie gegeben hat - wie die Entstehungsgeschichte der Biographie unterstreicht. „Die Abweichung des äußeren Scheins von der ‚Substanz‘ bleibt verborgen; die Wahrheit der Person wird überblendet. Wenn mithin ein Krisenmoment der Evidenz als Grundlage der sozialen Interaktion und Wertzuweisung dient, muss die Verhaltenskunst als Kunst der Lüge entworfen werden.“217
Innerhalb dieser Entwicklung interferieren Formen der Reue und der moralischen Läuterung mit der subjektiv konstatierten Hochstaplergenialität. Sie prägen die biographische Bewegung in und zu den Lebenswelten. Dieser in sich ambivalente Entwicklungsprozess, der insbesondere in den ersten Kapiteln dargelegt wird und mit dem Experiment als Meisterstück endet, schlägt sich dann darin nieder, dass Manolescu zurückkehrt zu seiner eigentlichen ‚Karriere‘ als „Meisterdieb“, die er bereits in seiner ersten Biographie dargelegt hat. Merkmale der moralischen Läuterung finden sich kaum, vielmehr zeigt sich Manolescu stolz über seine Taten, er spielt sie nicht herunter oder kritisiert sie unter moralischen Gesichtspunkten. Souverän will er keine Zweifel an seinen lebensgeschichtlichen Erinnerungen aufkommen lassen. Betrachtet man Manolescus lebensgeschichtliche Äußerungen unter dem Aspekt sozial geteilter Biographisierungsprozesse und Identitätskonstruktionen, die sich auch auf narratives Handeln gründen, so fällt auf, dass es Manolescu gelingt, in die Rolle des Hochstaplers im Erzählen zu schlüpfen und diese biographisch auszugestalten. Er kann dies begründen, weil er Eigenschaften und Merkmale eines Hoch-
216 S. Porombka: Felix Krulls Erben, S. 32, Herv. i.O. 217 T. Rahn: Der Lügner als Autor, S. 59, Herv. i.O.
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staplers kennt und auf biographischer Handlungsebene sowohl in der erzählten Zeit als auch in der Erzählzeit vortäuschen kann. Zunutze macht er sich, dass das Wissen über die Eigenschaften und Merkmale von Hochstaplern von der Gesellschaft geteilt werden. Er ist darum bemüht, schlechte Eigenschaften verschwinden zu lassen und eigene Merkmalskomplexe wie zum Beispiel reuige Bekenntnisse und Läuterungsbestrebungen in seine Biographie zu integrieren. Es kommt zu einem Bruch im Biographisierungsprozess und in den biographischen Bewegungen, zu den anderen und zu sich selbst, die teilweise auf Täuschungen basieren. Vor der Herstellung von Weltund Selbstreferenzen können unterschiedliche Identitätsfestlegungen und die damit verbundenen Geschichten in Konflikt zueinander geraten. Im Fall von Manolescu wirken sich diese auf den Biographisierungsprozess aus und werden in der biographischen Bewegung sichtbar. Somit ist abschließend festzuhalten, dass die biographische Bewegung selbst von interferierenden Kräften durchzogen ist, die sich sowohl auf den unterschiedlichen Intentionen für das Verfassen der Biographie als auch auf der beanspruchten Souveränität des Erzählers über seine Lebensgeschichte gründen. Diese Überlagerungen werden nicht aufgelöst, sondern setzen sich in den biographischen Bewegungen des Subjektes fort, welches als Hochstapler die Lesenden zu blenden weiß. 6.1.3 Rekonstruktion der gebrochenen Bildungsgestalt Die biographische Wandlung Manolescus zum Hochstapler und seine Existenz in der hochstaplerischen Lebenswelt erhält seine bildsame Bedeutung im Kontext der Entstehungsgeschichte der Biographie und in ihrer nachgeschichtlichen Wirkung. Wie die Entstehungsgeschichte der Biographie gezeigt hat, steht Manolescu vor dem Verfassen seiner Biographie vor dem Problem, dass er mit personalen Identitätsfestlegungen konfrontiert wird, wie zum Beispiel zwischen Wahnsinnigem oder Simulanten, zwischen Kleinkriminellen oder genialem Betrüger, zwischen Frauenheld oder Heiratsschwindler. Sich selbst sieht Manolescu als Meisterdieb, als Fürst der Diebe, als genialen Verbrecher, als Frauenheld oder Spieler und als erfolgreichen Simulanten des Wahnsinns changieren. Sie haben Einfluss auf das Selbst-Weltverhältnis von Manolescu und sind eng gekoppelt an die gesellschaftlich manifestierten Vorstellungen von Authentizität der Identität und wahrhaftiger Aufrichtigkeit des Menschen in seinen biographischen Erzählungen. Nach seiner Entlarvung, Verhaftung und während seiner Verurteilung schreibt Manolescu seine Biographie, die zu verstehen ist als die Nachgeschichte seiner kriminellen Handlungen. Mit dieser tritt er in einen „strategischen Interpretationskampf“218 um sein Selbstbild in den Weltverhältnissen ein – auch um die sich wider-
218 G. Presch: Namen in Konfliktfeldern, S. 126.
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sprechenden Identitätsfestlegungen bewältigen und sich Partizipationsmöglichkeiten in der Gesellschaft eröffnen zu können. Mit seiner biographischen Erzählung beantwortet Manolescu die gesellschaftlich diskutierte Frage über den Schein oder das Sein seiner personalen Identität, indem er wahrhaftige und erlogene biographische Begebenheiten, Erfahrungen und Erinnerungen miteinander verknüpft und so den biographischen Schein zu seinem Selbst-Sein in der Welt umwandelt. Dieses SelbstWeltverhältnis in der Entstehungsgeschichte der Biographie lässt sich als konfliktbeladen in den Dimensionen von Fremdbestimmtheit in der moralischen gesellschaftlichen Wirklichkeit versus Selbstbestimmung in der gesellschaftlichen Wirklichkeit begrifflich fassen. Es hat Einfluss auf die biographische Erzählung und lässt sich in dieser als Bildungsgestalten rekonstruieren, da es dort als Orientierungsrahmen dient, in dem das biographische Subjekt seine Handlungen und Reflexionen verortet. Dies belegt die Rekonstruktion der Lebenswelten und der biographischen Bewegung. Diese Bildungsgestalten unterliegen jedoch nicht einem chronologischen biographischen Verlauf im Sinne einer Wandlung von einer Bildungsgestalt in die nächste, sondern die Wandlung des ihnen zugrunde liegenden problematischen Selbst-Weltverhältnisses wird an dem Schnittpunkt der beiden Bildungsgestalten, an dem sie interferieren, gesucht und mit der Wandlung zum Hochstapler gefunden. Dies veranschaulicht folgende Grafik:
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Tabelle 3: Komponenten der gebrochenen Bildungsgestalt bei Georges Manolescu „[...] ich sehe mit ernsten Augen in die Zukunft. Denn wenn ich mich auch bemüht habe, in diesem Buche den frivolen Ton meiner einstigen Anschauungen festzuhalten, der allein mein ganzes Verhalten und Empfinden in den verschiedenen Epochen meines Lebens erklärt, – mit mir am Arbeitstisch saß finster die graue Sorge und wies mit dürrem Finger drohend in das Dunkel der Zukunft ... [...] Und ich frage mich Tag und Nacht mit klopfendem Herzen: Was soll ich tun, wenn die Vorurteile der Welt mir das tägliche Brot verweigern?“ Weltreferenzen
Interferenzen
Autonomie Bekenntnis
autonome Neudeutung von Welt
Authentizität
Authentizität
Intertextualität
Intertextualität
„Ich sagte mir ferner, [...] daß ebenso, wie der Politiker durch einen anderen intelligenten, verschlagenen, skrupellosen Politiker gestürzt wird, – wie der Kaufmann durch einen anderen überholt wird, der auch nur Kaufmann ist, aber unternehmender und schneidiger, – daß ebenso der gerissene, entschlossene und helle Spitzbube, dem nichts mehr heilig ist, noch viel leichter und sicherer auf seinem Gebiete sie alle, den Kaufmann, Politiker oder sonst wen, übers Ohr hauen könnte.“
Referenzdimensionen
Selbstreferenzen
biographische Bewegungen als List und Täuschung Welt
Interferenz
die Lebenswelt der Innerlichkeit
die Lebenswelt der Privilegierten
die Lebenswelt des Verbrechens
Selbstbild
Fremdbild
Interferenz
die Entdeckung des Selbst zwischen Sein und Schein
die Maskerade des Selbst
Der Hochstapler ist • ein Meisterdieb
Lebenswelten
Mensch
• ein Frauenheld • ein Spieler • ein Simulant des Wahnsinns
Selbstverhältnis
Weltverhältnis
Interferenz
Wie wird man ein erfolgreicher Verbrecher?
die Desillusionierung der Selbstverwirklichungsbestrebungen aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse
Selbstverwirklichung zwischen Gut und Böse
„Denn ich beherrschte bereits die höchste gesellschaftliche Kunst, die vor allen anderen Eigenschaften den Erfolg verbürgt, – ich verstand zu blenden.“
Quelle: eigene Darstellung
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Manolescu schafft mit seiner biographischen Erzählung eine ästhetische Erfahrung seiner Betrügereien, Täuschungen und Lügen. Diese lässt sich als Gegenpart zur gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihren ökonomischen und moralischen Vorstellungen verstehen. Zum anderen ermöglicht sie eine Form der Selbstbestimmung, die nicht durch die Wirklichkeit, sondern durch die Täuschung der Wirklichkeit entsteht. Gebunden wird diese Entwicklung, der eine reflexive Auseinandersetzung mit den Selbst- und Weltverhältnissen vor dem Verfassen der Biographie vorausgeht, an die Wandlung zum und die biographisch verortete Existenz als Hochstapler. Bildungsprozesse als reflexive Auseinandersetzung mit den Selbst-Weltverhältnissen und als Anlass für die Wandlung zum Hochstapler lassen sich innerhalb der Biographie explizit machen. So zum Beispiel in seiner Lehrzeit, in der sich Manolescu mit der Bedeutung von Schein und Sein für sein Selbst- und Weltverhältnis auseinandersetzt. Bei Manolescu wird der Spiegel zur ästhetischen Erfahrung weltlichen Schein und Seins, die in einen Lernprozess eingebunden wird, an dessen Ende er in seinen unzähligen Rollen vielfältig repräsentieren kann. Er lernt, seinen Rollen eine universelle Gültigkeit in der Wirklichkeit zu verschaffen und gleichzeitig mit diesen Rollen die ihn beeinträchtigenden Weltverhältnisse zu ändern. Proteusartig kann er die Wirklichkeit in ihrer Rollenvielfalt in sich aufnehmen, ohne die Rollen zu sein. Er tritt in entsprechenden Masken auf, findet in allen Bereichen der Gesellschaft seine Opfer. Mit dem Spiegel als Lehrmeister lernt er, alles verkörpern zu können, ohne darin aufzugehen, ohne sein Selbstbild aufgeben zu müssen. Über die Auseinandersetzung mit den Dimensionen Schein und Sein veranschaulicht Manolescu deren interferierenden Charakter, der vom Hochstapler aufgehoben werden kann. Über diesen Selbstbildungsprozess findet er einen Weg sein Selbst zu behaupten und Handlungsfähigkeit zu erlangen. Diese Handlungsfähigkeit wird zum einen in der Lebenswelt des Hochstaplers unter Beweis gestellt. Zu anderen zeigt sie sich nach der Veröffentlichung der Biographie dahin gehend, dass sich Manolescu so neue Verdienstmöglichkeiten bieten: Er verfasst Artikel oder spielt die Hauptrolle in einem Film über seine Biographie.219 In seinen biographischen Reflexionen verdeutlicht Manolescu, dass er die Umgangsformen der Gesellschaft annimmt, um mit ihr in Kontakt treten zu können. Indem er sich spiegelt, wird er zugleich zum spiegelbildlichen, trügerischen gesellschaftlichen Sein der gesellschaftlichen Verhaltensformen, die er damit in ihrer Scheinhaftigkeit entlarvt. Während er sich zum Hochstapler bildet, verdeutlicht er zugleich seine Erkenntnisse: Er macht sich die Welt inklusive ihrer Moral und Untugend zu eigen.
219 Der Stummfilm, der in Deutschland im Jahr 1929 erscheint, trägt den Titel „Manolescu“ und entstand unter der Regie von Viktor Turjansky.
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Rekonstruieren lässt sich bei Manolescu ein Bildungsprozess, der sich auszeichnet durch die reflexive Verknüpfung eines Selbst-Weltverhältnisses an die biographische Erzählung, das von Selbst-Illusionen und Welt-Desillusionen, Welt-Täuschungen und Selbst-Wahrhaftigkeit geprägt ist. Um diese Weltverhältnisse zu überwinden und gleichzeitig an seinem Selbstbild festzuhalten, lernt er, sich auf der Ebene des Scheins von sich selbst zu entfremden und auf der Ebene des Seins sich selbst zu erhalten. Die Wandlung zum Hochstapler steht am Ende dieses Selbstbildungsprozesses. Und auch wenn sie sich, konfrontiert mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit außerhalb der Biographie, als Lüge und Täuschung erweist, wird sie von Manolescu weiter gebraucht, um in der Gesellschaft handlungsfähig zu bleiben. Dass Manolescu über die biographisch eingegangene Wandlung zum Hochstapler an seinem Selbstbild festhalten und auf die seinem Selbstverhältnis widersprechenden Identitätsfestlegungen reagieren kann, verdeutlicht zum Beispiel seine Reflexion über die Auswirkungen der vorgetäuschten ‚Verrücktheit‘ auf seine Lebenssituation und seine Fähigkeiten. „Mein Gedankengang, den also keine Sachkenntnis trübte, war lediglich folgender: Ich habe in hundert verzweifelten Fällen meines Lebens meine Gesichtszüge völlig in der Gewalt gehabt und nach Belieben verändern können. Ich habe unzählige Male den unschuldig-harmlosen Jüngling, den bramsigen Parvenu, den märchenhaft reichen Baron, Prinzen und Fürsten, den Geistlichen und in San Fransisco selbst den Geheimpolizisten gespielt. Warum also, sagte ich mir, sollst du nicht auch einmal versuchen, den Verrückten zu spielen? [...] Die Ärzte haben mich für verrückt erklärt. Und doch hat mich das gesamte psychiatrische Kollegium von Wien hinter den obigen Ärzten her – nach täglich zweimaliger Beobachtung durch vier Monate hindurch – für vollständig gesund erachtet. Und doch habe ich mehr als irgend ein anderer während meines langen Verbrecherlebens unablässig Willenskraft, Überlegung, Geistesklarheit und Initiative gebraucht und bewiesen, ohne die ich zwanzig Jahre hindurch nicht einen einzigen Tag auf freien Füßen geblieben wäre. Und doch habe ich mit Tausenden von gebildeten Menschen verkehrt und verkehre auch heut in Mailand wieder mit der besten Gesellschaft, die auch nicht im Traume auf den Gedanken kommt, mich für nicht normal zu halten.“ 220
Manolescu schafft sich mit seiner biographischen Erzählung die Grundlage für die Auslegung seiner Lebensgeschichte im Sinne seines Selbstbildes und will, dass die von ihm selbst vorgenommene Deutung seines Lebens innerhalb der Gesellschaft geteilt wird. Zu diesem Zweck ändert er biographische Begebenheiten, lässt Aspekte verschwinden und täuscht eine Wandlung zum Hochstapler auf biographischer Ebene vor. Im biographischen Hochstapler-Dasein konstruiert Manolescu eine Lebenswelt, in der er sein Selbstbild festigen kann und sein Weltverhältnis ändern kann, indem er
220 G. Manolescu: Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers, S. 261-263, Herv. i.O.
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in eine Rolle schlüpft, die ihn an der Gesellschaft partizipieren lässt, die ihn mit seinem authentischen Schein zuvor ausgegrenzt und stigmatisiert hat. Sowohl in seiner biographischen Erzählung als auch in seiner Rolle als biographischer Hochstapler findet Manolescu Ankerpunkte, an denen er sein Welt- und Selbstbild entwickeln und festigen kann. Sie ermöglichen den Aufbau von Orientierung in den Weltverhältnissen und den Aufbau von Wirklichkeitsvorstellungen. Dieses Weltbild ist geprägt von dem interferierenden Zusammenspiel von Sein und Schein, von der Welt die betrogen werden will und von dem Überlegen desjenigen, der die Scheinhaftigkeit der Welt zu nutzen weiß, um an dieser teilnehmen zu können. Diese Erkenntnis führt dazu, dass Lügen und Täuschen genutzt werden, um die eigene Selbstbestimmheit ausleben zu können. Dies gilt sowohl auf der Ebene der Biographie als auch in konkreten gesellschaftlichen Handlungssituationen. Die sich im Hochstapler bindenden Sinnhorizonte von Schein und Sein oder Täuschung und Authentizität festigen das Selbstbild und die Selbstbestimmtheit Manolescus, ohne dass eine vollständige Wandlung des Selbst-Weltverhältnisses eingegangen werden muss. Manolescus kann über die biographische Illusion, ein Hochstapler zu sein, sein Verhältnis zur Welt ändern, sich selbst in dieser verorten. Dies zeigte sich darin, dass Manolescu seine Entwicklung zum Hochstapler begründet, indem er seine Selbstverhältnisse in Relation zu den Weltverhältnissen setzt. Damit kreiert er die Geburt des Hochstaplers als Folge von gesellschaftlichen Einflüssen auf seine Lebensumstände und seine eigenen Anlagen. Immer wieder beschreibt er sich als gut aussehend, als intelligent, fleißig, gebildet, willensstark. Diese Anlagen führen dazu, dass er – auch mittels Autosuggestion – vorgibt in seinen Rollen mit seinem Selbst aufzugehen. Die gespielten Rollen stimmen mit seinem Äußeren überein, sie wirken nicht aufgesetzt, weil sie seinem Selbstbild entsprechen können. Seine empfundene Genialität wird über jedes hochstaplerische Erlebnis bestätigt, ungeachtet der Verhaftungen, Gerichtsverhandlungen und Gefängnisstrafen. In seinen Masken bestätigt sich seine Identität. Die Maskerade ist seine Kunst, für die er auch Techniken der Schauspielerei beherrschen muss. Zur Schein-Identität wird sie paradoxerweise in der gesellschaftlich akzeptierten, aber moralisch verurteilten Rolle des Hochstaplers. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich unter der Bezugnahme auf die Entstehungsgeschichte der Biographie, die Biographie selbst und die Nachgeschichte der Biographie eine Bildungsgestalt rekonstruieren lässt, die sich sowohl aus den Selbst-Weltverhältnissen in den Lebenswelten als auch aus den Selbst-Weltreferenzen der biographischen Bewegung ergibt, die sich als eine gebrochene Bildungsgestalt fassen lässt. Diese gebrochene Bildungsgestalt lässt sich unter dem Begriff „Hochstapler“ begrifflich fassen. Betrachtet als singuläre biographische Phase stellt sie das Ergebnis eines reflexiven Selbstbildungsprozesses dar, der angestoßen wird durch interferierende Konflikte bezüglich der Bestimmung von personaler Identität und gesellschaftlicher Partizipation. Die Wandlung Manolescus zum Hochstapler hat zur Folge, dass eine neue Auseinandersetzung mit seiner Person erfolgt, die ihn wie-
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der in das ersehnte Rampenlicht der Öffentlichkeit rückt. Weiter wird darüber diskutiert, ob Manolescu ein Hochstapler ist oder nicht. Mit den Worten von Ricoeur könnte man von einer „Quasi-Intrige“ als Funktion des Biographiesierungsprozesses von Manolescu sprechen, da er seine lebensgeschichtliche Erzählung mit der historisch gewachsenen und gesellschaftlich etablierten Erkenntnis über die Merkmale eines Hochstaplers zu einer Täuschung verbindet.221 „Beide, Erzählung und historische Erkenntnis komponieren zeitliche Konfigurationen, die die Unstimmigkeit und die Übereinstimmung einander gegenüberstellen.“222 Die Wandlung zum Hochstapler lässt sich als gebrochene Bildungsgestalt interpretieren, da Erkenntnisse und damit verbundenen Wandlungen bzw. Transformationen von Selbst und Welt zunächst im biographischen Subjekt und Erzählen verhaftet bleiben, da sich die in der Biographie dargestellte Wirklichkeit als brüchig erweist – stimmt sie doch in Teilen mit der Wahrheit über Manolescu gesellschaftliches Leben nicht immer überein. Was bleibt ist die Realisierung der Wandlung im biographischen Erzählen und im Vortäuschen einer wahren Lebensgeschichte. Die ‚authentische‘ biographische Reflexion über die täuschenden und wahrhaftigen Wandlungsprozesse, an deren Ende der Hochstapler steht, der eigentlich ein Fürst der Diebe ist, erfolgt von Manolescu nachträglich in seinem Biographisierungsprozess. Eine biographische Illusion, die ihn dennoch als Hochstapler in die Geschichte eingehen lässt, weil sich viele Lesenden täuschen lassen. Damit glückt Manolescu letztendlich doch eine Wandlung, die mit einer Identität zu Schein verbunden wird und aus dem NichtIdentischen sowie Identischen hervorgeht. Anhand der Interpretation unter Berücksichtigung des theoretischen Bezugsrahmens der Biographie konnte so eine gebrochene Bildungsgestalt rekonstruiert werden, die nach dem Erscheinen der Biographie in eine nachgeschichtliche Realität übertragen wird.
221 P. Ricoeur: Zufall und Vernunft in der Geschichte, S. 35. 222 Ebd., S. 36.
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6.2 IGNATZ STRASSNOFF: DER BILDUNGSPROZESS EINES HOCHSTAPELNDEN LEBENSKÜNSTLERS „Ignatz Straßnoff – länger als zwei Jahrzehnte war der Name ein Begriff. Ein Hochstapler von großzügigem Format, hielt Ignatz Straßnoff während der ganzen Zeit die Gerichte der Alten und Neuen Welt in Atem. Was er vollbrachte, waren nicht Hochstapeleien schlechtweg, von denen besonders heute zwölf auf ein Dutzend gehen, sondern in jedem Falle wirkliche Bravourstücke eines Meisters. Das kam daher, daß Straßnoff Hochstapler aus innerer Sendung war.“223
Zu dieser Einschätzung der hochstaplerischen Qualität von Ignatz Straßnoff kommt ein Artikel im Uhu von 1925/26. Seine Biographie soll im Folgenden auf Biographisierungs- und Bildungsprozesse sowie die Bedeutung von Lügen, Täuschungen und Hochstapeleien für gebrochene Bildungsgestalten untersucht werden. 6.2.1 „Ich, der Hochstapler“ – Straßnoffs Leben und die Entstehungsgeschichte der Biographie Biographisches Kurzportrait „Der Ungar Ignatz Straßnoff war der berüchtigtste Hochstapler von Europa in der Vorkriegszeit“ – mit dieser superlativen zeitgenössischen Bewertung beginnt der Artikel „Er. Der Hochstapler Ignatz Strassnoff“ in der Zeitschrift „Kriminal-Magazin“ aus dem Jahr 1931.224 Berühmt und berüchtigt wird Ignatz Straßnoff, der vermutlich am 24. April 1868 im ungarischen Mátészalka geboren wird und wahrscheinlich im Alter von 65 Jahren am 9. Juli 1933 in Debrecen stirbt,225 in seiner Hochstaplerrolle als Husarenoffizier, in die er nach Wulffen 1892 zum ersten Mal in Budapest schlüpft.226 Nach Claßen begeht er seinen „ersten Diebstahl im Alter von 18 Jahren“; „danach lebt er ausschließlich von Diebereien, Betrug, Veruntreuung, Fälschung und vor allem Namensschwindel.“227 Zu Gefängnisstrafen wird er am häufigsten wegen Betrugs verurteilt. Diese halten ihn jedoch nicht davon ab, kurz nach seinen Entlas-
223 Als ich Hochstapler war. Erinnerungen von I. Straßnoff. In: Uhu 3 (1925/26), S. 53-57, hier S. 53. 224 Er. Der Hochstapler Ignatz Strassnoff. Aus einem Interview mit ihm von Jacobi Hevesi, in: Das Kriminal-Magazin 33 (1931), S. 2057-2059, hier S. 2057. 225 Die einzige Angabe zu seinen Lebensdaten habe ich auf der ungarischen Wikipedia gefunden: https://hu.wikipedia.org/wiki/Strasznof_Ign%C3%A1c [Zugriff: 17. November 2016]. Das Jahr der Geburt stimmt mit den biographischen Daten von Claßen und Wulffen über seinen ersten Diebstahl überein. 226 E. Wulffen: Die Psychologie des Hochstaplers, S. 39. 227 I. Claßen: Darstellung von Kriminalität, S. 114.
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sungen immer wieder als Hochstapler in Erscheinung zu treten.228 Unter dem Namen „Ludwig Benen de Erdöbenga, kgl. Rat in Talga“ reist er mit dem Zug „zwischen Wien und Budapest“ und zieht „zwei Fürsten“ beim Kartenspiel ihr Geld aus den Taschen.229 „In Offiziersuniform“ versucht er sich erfolgreich als „Heiratsschwindler“ in „Baden bei Wien“ und tritt in dieser Zeit als russischer Militärattaché auf. 230 Straßnoff reist weiter in die USA und nach England, wo er „jahrelang ähnliche Betrügereien“ begeht.231 Zurück in seinem Heimatland Ungarn gibt er den „Ministerialrat Bertessn“ und betrügt den Bischof von Neutra „um mehrere tausend Kronen“.232 Er betätigt sich anschließend über einen längeren Zeitraum hochstaplerisch im Milieu der katholischen Geistlichkeit. Wulffen, seiner Zeit Staatsanwalt und Experte für Hochstapler auf literarischem, psychologischem und juristischem Gebiet, kategorisiert Straßnoff als „Hochstapler vom Typus der Komödianten“, der „[i]n der Hauptsache wahrscheinlich triebartiger Temperamentshochstapler“ ist.233 Merkmale dieses ‚Hochstaplertypus‘ sind nach Wulffen: „Er ist auf viele Möglichkeiten und Unmöglichkeiten gefaßt. Er gibt sich, wie der Dichter, den Eindrücken, die die Dinge auf ihn machen, hin, läßt sich durch sie in Stimmung setzen und vermag sie dadurch wieder seinerseits zu meistern. Daneben fehlt eine gewisse Berechnung nicht. Kam Straßnoff in Verhältnisse, die er hätte kennen sollen [...], so ließ er sich nicht ausfragen, er ließ sich erzählen und erzählte dann wieder, was er eben gehört hatte, so daß man glaubte, er sei mit den Verhältnissen voll vertraut.“234
Wulffen stellt bezüglich der Entwicklung Straßnoffs zum Hochstapler einen Zusammenhang zwischen Straßnoffs Lebensumständen und -vorstellungen in seiner Jugend sowie Kindheit her.235 Seine Schrift „Die Psychologie des Hochstaplers“ ist eine der wenigen vorhandenen Quellen, die Hinweise auf die familiären und beruflichen Hintergründe sowie Charaktereigenschaften von Straßnoff gibt. Wulffen zufolge ist Ignatz Straßnoff „der Sohn eines armen Privatbeamten, dem die Schuldisziplin auf dem Gymnasium nicht behagte“.236 „Berührungen mit der Bühne“ hat er, weil er „aus den
228 Vgl. E. Wulffen: Die Psychologie des Hochstaplers, S. 40. 229 Ebd., S. 39-40. 230 Ebd. 231 Ebd. 232 Ebd. 233 Ebd., S. 41. 234 Ebd. 235 Vgl. ebd., S. 40. 236 Ebd.
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Garderoben des Nationaltheaters wertvolle Gegenstände stahl“. 237 Der künftige Hochstapler habe seine Karriere als Dieb begonnen, so Wulffen. 238 In seiner Studie charakterisiert Wulffen ihn: „Dieser Straßnoff besaß eine instinktive Sicherheit, die ihm alle sich bietenden Gelegenheiten [...] ausbeuten ließ. Dabei weniger Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit, als vielmehr eine gefühlsmäßige Sicherheit mit beinahe medialer Kraft, einem Nachtwandler vergleichbar, der im Traumzustande die gefährlichsten Höhenwege beschreitet.“ 239
Auch in der „Kurze[n] Vorrede“ der Biographie finden sich Hinweise auf die Bedeutung des Theatermilieus für den Lebensweg des nach Wulffen instinktsicheren, intuitiven und traumwandlerischen Hochstaplers Straßnoff: Leo Lania, der Herausgeber der Lebensgeschichte von Straßnoff, interpretiert das Hochstapeln Straßnoffs als familienbedingte Veranlagung, die Straßnoff mit in die Wiege gegeben wurde: Er hat wie „die ganze Familie [...] Komödiantenblut in den Adern und der Bruder ist heute noch Theaterdirektor in Südungarn [...].“240 Um dies zu belegen, zitiert Lania in der Vorrede Straßnoff, der auf die motivierende Bedeutung der Schauspielerei für das spätere Agieren als Hochstapler verweist: „‚[A]ber wie wenig kann das einen jungen Mann von Geist und Ambition befriedigen, bloß diese paar Stunden des Abends auf den Brettern zu stehen. Mich befriedigte es nicht. Da gibt man Herzoge und Fürsten und Barone, das Publikum ist hingerissen, welch genialer Schauspieler! Warum nicht einen Schritt weiter ins wirkliche Leben hinaus tun und im Ernst das vorstellen, was man auf der Bühne bloß zu sein vorgibt.‘“241
Lania beschreibt in der Vorrede auch die Kindheit von Straßnoff: Er sei in bescheidenen, wenn auch nicht gerade ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Die Mutter sei krank, immer leidend gewesen und habe Straßnoff stets seinen Willen gelassen. Neben der Mutter kümmert sich ab einem nicht datierten Zeitpunkt auch eine Pflegemutter um Straßnoff. Diese sei eine ehemalige Zirkusreiterin und spätere Majorsfrau gewesen und habe Ignatz Straßnoff „verzärtelt“. 242 Da er sich gegenüber Autoritäten insbesondere während seiner Schulzeit aufzulehnen beginnt, wird er vermut-
237 Ebd. 238 Ebd. 239 Ebd., S. 43. 240 Lania, Leo: „Kurze Vorrede“, in: Ignatz Straßnoff: Ich, der Hochstapler, Berlin: Lehmann 1949, S. 7-11, hier S. 7. 241 Ebd. 242 Ebd., S. 8.
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lich von seinem Vater in einem „durch seine Strenge bekannte[n] Konvikt“ untergebracht.243 Aus diesem wird er nach drei Jahren verwiesen, da der Direktor um den Ruf seiner Schule fürchtet: „Der Junge [...] sei auch eine Gefahr für die anderen Zöglinge, die er ganz rebellisch gemacht habe.“244 Als einen Wendepunkt in Straßnoffs Leben wertet Lania den Tod des Vaters und den Tod der „überaus geliebte[n] Pflegemutter“.245 Mit diesem Verlust sei Straßnoff ernster geworden, habe mit Eifer studiert und sich talentiert im Erlernen von Fremdsprachen gezeigt. Mit 18 Jahren findet er im ungarischen Handelsministerium eine Anstellung als „Diurnist“246. „[E]ine erfolgreiche Laufbahn“ scheint in Aussicht, seine Vorgesetzten seien voller Lob gewesen und Straßnoff habe sich durch Fleiß und Tüchtigkeit ausgezeichnet.247 Doch trotz dieser positiven Prognose seitens seiner Vorgesetzten schlägt Straßnoff seine kriminelle Karriere ein. Ursachen dafür sind nach seinen und Lanias Auslegungen Straßnoffs angebliche Naivität und Unwissenheit, die sich mit seiner vorgeblichen Hilfsbereitschaft verquicken und am Ende dazu führen, dass er zu „vierzehn Tagen Arrest verurteilt“ 248 wird. Die Auswirkungen sind für Straßnoffs weiteren Lebensweg kennzeichnend: „Entlassung aus dem Handelsministerium war die nächste Folge. Familienzwist, aussichtslose Bemühungen um eine Anstellung, tägliche Besuche im Versatzamt“. 249 Außerdem werden Kontakte zum kriminellen Milieu sowie ‚Weibergeschichten‘ und finanzielle Probleme zu Konstanten in Straßnoffs Leben.250 Deshalb erfolgen weitere kriminelle Taten, die eine weitere Haftstrafe für dreieinhalb Jahre als Konsequenz dieser Lebensführung nach sich zieht. Der Gefängnisaufenthalt bedeutet für Lania den Abschluss der „kriminellen Laufbahn“ von Straßnoff. Ihm folgt die Phase der diversen Hochstapeleien, die Lania lebensgeschichtlich als „‚politische‘“ Laufbahn einordnet.251 Diese liegt zum Zeitpunkt der Herausgabe der Biographie „zwanzig, [...] fünfzehn Jahre[]“ zurück.252 In der Vorrede seiner biographischen Erzählung prognostiziert sich der Hochstapler von einst eine Zukunft als Schriftsteller, dem seine kriminelle Karriere sowohl für das literarische Schaffen als auch finanziell zugute kommen soll: „‚Schließlich endet man damit, daß man mit alten Gaunereien auf ehrliche Weise
243 Ebd. 244 Ebd. 245 Ebd. 246 Ebd. 247 Ebd. 248 Ebd., S. 9. 249 Ebd. 250 Ebd. 251 Ebd., S. 10. 252 Ebd.
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Geld verdient“.253 Straßnoff – „unter die Schriftsteller gegangen“ – „reist jetzt nicht mehr ‚beruflich‘, sondern nur noch geschäftlich durch Europa.“254 Über Straßnoffs Leben nach der Veröffentlichung seiner Biographie finden sich Hinweise im Kriminal-Magazin aus dem Jahr 1931. In diesem sind Ausschnitte aus einem Interview abgedruckt, das der „Reporter einer Theaterzeitung“ mit Straßnoff geführt hat, nachdem er diesen in Mátészalka „aufgestöbert hat“. 255 Diesem Artikel zufolge verdingt sich Straßnoff gegen Ende seines Lebens nicht als Schriftsteller – wobei unklar ist, ob er überhaupt neben seiner Biographie etwas anderes veröffentlicht hat – und auch nicht, wie auf der letzten Seite seiner Autobiographie proklamiert, als „Photograph“256, sondern als Schauspieler in einem kleinen Theater seiner Heimatstadt.257 Straßnoff führt „ein ehrbares und zurückgezogenes Dasein“, liest man in dem Artikel.258 Zum Zeitpunkt des Interviews spielt er „die Rolle des Pahlen in Alfred Neumanns historischem Drama „Der Patriot“. Unbescheiden gibt Straßnoff an, dass ihm diese Rolle liege. Er halte von Pahlen für den größten Hochstapler der Weltgeschichte und fühle sich als Schauspieler in dessen Haut außerordentlich wohl.259 Gefragt nach seinem „interessantesten Fall in [seiner] Praxis“260 schließt sich mit Straßnoffs Antwort auf diese Frage der Kreis zu der von Lania als „politisch“ interpretierten Laufbahn als Hochstapler: „[...] am interessantesten war doch meine politische Mission in Zagreb, welche ich im Auftrag eines hochgestellten ungarischen Politikers zum Zwecke unternahm, das falsche Spiel des damaligen Führers der kroatischen Partei, Josef Frank, zu enthüllen. Ich verlieh mir damals den Namen des Hofrats Freiherrn Berger vom Waldeneck und war längere Zeit Gast der Honorationen von Zagreb. Meine Mission gelang, ich machte den Parteiführer Frank politisch unmöglich und kam bei dieser Gelegenheit auch gleich dem Erzbischof von Zagreb auf die Schliche. Er mußte sich mein Schweigen mit einer ganz beträchtlichen Summe und außerdem mit der Gründung eines
253 Ebd., S. 11. 254 Ebd. 255 Er. Der Hochstapler Ignatz Straßnoff, S. 2058. 256 I. Straßnoff: Ich, der Hochstapler, S. 190. 257 Vgl. Er. Der Hochstapler Ignatz Straßnoff, S. 2058. 258 Ebd. 259 Ebd. Straßnoff gibt an, eine der Hauptrollen in der von Neumann 1927 zur Bühnenfassung bearbeiteten historischen Novelle „Der Patriot“ von Alfred Neumann (erschienen 1925) gespielt zu haben. Der Kriegsgouverneur von Pahlen ist darin eine zentrale Figur einer Offiziersverschwörung gegen den Zaren Paul I. im Jahr 1801, ein Hochstapler ist er m.E. nach nicht gewesen. Vgl. Neumann, Alfred: Der Patriot, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1925. 260 Er. Der Hochstapler Ignatz Straßnoff, S. 2059.
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Armenhauses mit achtzig Betten erkaufen. Leider war ich bei der Eröffnung des Armenhauses nicht zugegen, da ich damals schon im Gefängnis von Mitrowitza saß.“261
Der Reporter beschreibt Straßnoff als „charmante Persönlichkeit“ mit „guten Manieren“, aber auch mit einer „unverfrorenen Kaltblütigkeit“; seine Opfer habe er sich stets unter den Größten des Landes, vornehmlich unter den hohen kirchlichen und staatlichen Funktionären gesucht.262 Straßnoff und der Journalist des Zeitungsartikels stilisieren den entlarvten Hochstapler zum „Beschützer der vom Leben Depossedierten“.263 Er habe nur deshalb so oft hohe Beiträge herausgeschwindelt, um das leicht erworbene Vermögen wohltätigen Stiftungen zukommen zu lassen. „Geld,“ so die Einschätzung des Reporters, ist eben kein Gegenstand von Wert für einen Hochstapler.“264 Liest man jedoch Straßnoffs Biographie, lassen sich weder die „wohltätigen Stiftungen“ noch die Rolle des uneigennützigen Helfers verifizieren. Auch andere Quellen, die diese guten Taten von Straßnoff bestätigen, konnte ich nicht finden. Die Entstehungsgeschichte der Biographie Die vielfältigen Beschreibungen und Bewertungen von Straßnoffs Taten, seinen Charaktereigenschaften und seiner Lebensgeschichte führen dazu, die Lebensbeschreibungen dieses Hochstaplers, die erstmals 1926 unter dem Titel „Ich, der Hochstapler“ in Berlin erscheinen, kritisch hinterfragen zu müssen. Quellenkritische Anmerkungen zur Biographie finden sich bei Claßen. Sie verweist darauf, dass die Motivation Straßnoffs nicht die Existenz eines Schriftstellerdaseins gewesen sein kann, sondern dass es ihm in erster Linie um Geld und um die Vermarktung seiner Biographie gegangen sei.265 Eine Bestätigung für ein überwiegend finanzielles Interesse findet sich auch in den abschließenden Worten der Biographie: Dort spielt der Beruf des Schriftstellers keine Rolle mehr, sondern Straßnoff beschreibt sein Vorhaben, als „bescheidener Photograph“ arbeiten zu wollen.266 Dies führt ihn zu der Überlegung: „Und woher das Geld nehmen für das anzukaufende Atelier? – Ja mein Gott, wozu sitze ich denn da jahrelang, um meine Erlebnisse, meine Generalbeichte niederzuschreiben? Ich bin fest überzeugt, daß mich in dem Bestreben, mir das Geld zum Aufbau einer neuen Existenz zu verdienen, nicht nur die freundlichen Leser durch Verbreitung dieses Buches unterstützen werden, sondern daß auch alle die Herren Bischöfe, bei denen ich noch nicht meine Aufwartung
261 Ebd. 262 Ebd., S. 2057. 263 Ebd., S. 2058. Siehe auch L. Lania: Kurze Vorrede, S. 10-11. 264 Er. Der Hochstapler Ignatz Straßnoff, S. 2058. 265 I. Claßen: Darstellung von Kriminalität, S. 127. 266 I. Straßnoff: Ich, der Hochstapler, S. 190.
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gemacht habe, durch massenhaften Ankauf dieses Werkes und seine kostenlose Verteilung an alle Pfarrer und Seelsorger ihres Bistums mir helfen werden [...].“267
Diese widersprüchliche Argumentation für das Verfassen der Autobiographie, die sich in einem Spannungsfeld zwischen ‚Generalbeichte‘, Aufbau einer neuen Existenz, öffentlichem Interesse und „Abenteuer“268 bewegt, korrespondiert mit der Einschätzung von Claßen, dass weder die Idee noch die Ausführung der Schrift von Straßnoff in eigener Regie entwickelt worden seien: „Die Vermutung liegt nahe, daß es sich bei Strassnoffs Werk um eine weitere ‚Hochstapelei‘ handelt.“269 Dies führt sie auch darauf zurück, dass vor Erscheinen der Lebensgeschichte bereits einige andere Werke veröffentlicht wurden, welche die Lebensgeschichte von Straßnoff zusammenfassen und/oder literarisch bearbeiten. Claßen nennt als Beispiele die Veröffentlichungen von Wulffen „Die Psychologie des Hochstaplers“ und „Der Mann mit den sieben Masken“, den „Pitaval der Gegenwart. Almanach interessanter Straffälle“ und die Publikation von Friedmann „Ilonka. Kriminalroman“.270 Sie stellt die Vermutung auf, dass Straßnoff Kenntnisse über diese Publikationen gehabt haben muss und diese „ihn erst auf die Idee“ gebracht haben, seine Memoiren zu veröffentlichen.271 Interessant ist auch, dass die gesellschaftskritischen, politischen und bekennenden Intentionen für das Verfassen der Biographie auf ihrer Inhaltsebene eher eine untergeordnete Rolle spielen. Straßnoffs Interesse an der Veröffentlichung seiner Biographie scheint in erster Linie ein finanzielles gewesen zu sein. Während Lania sich im Vor- und Nachwort darum bemüht, die hochstaplerischen Taten unter sozialkritischen Aspekten zu analysieren und als Reaktion auf die gesellschaftlichen Umstände und damit auch als Gesellschaftskritik zu werten. 272 Die Veröffentlichung der Biographie im Berliner Verlag „Die Schmiede“ führt bei Claßen zu der Vermutung, dass „die Autobiographie sogar durch die Initiative Rudolf Leonhards zustandegekommen“ ist. 273 Dieser habe den Fall Straßnoff als li-
267 Ebd. 268 L. Lania: Kurze Vorrede, S. 10. 269 I. Claßen: Darstellung von Kriminalität, S. 127. 270 Vgl. ebd., S. 127-128. Frank, Reinhard von/Roscher, Gustav/Schmidt, Heinrich (Hg.): Der Pitaval der Gegenwart. Almanach interessanter Straffälle, Band 1, Tübingen: Mohr 1908, S. 71-86; Friedmann, Fritz: Ilonka. Kriminalroman, Berlin: Continent 1906; E. Wulffen: Der Mann mit den sieben Masken; E. Wulffen: Die Psychologie des Hochstaplers. 271 I. Claßen: Darstellung von Kriminalität, S. 127. 272 Vgl. L. Lania: Kurze Vorrede, S. 9. 273 I. Claßen: Darstellung von Kriminalität, S. 127.
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terarische Thematik für die Reihe „Außenseiter der Gesellschaft“ geplant. 274 Als jedoch diese Serie eingestellt worden sei, habe sich Lania in Absprache mit Straßnoff dazu entschlossen, „den Band in Form von Memoiren zu veröffentlichen.“ 275 Nach Claßen wird die Biographie ein weiteres Mal im Jahr 1930 in Wien in der Serie „Das Faltblatt“ publiziert.276 Auf die anscheinend ähnlich wie bei Manolescu in hochstaplerischer Manier verfasste „Generalbeichte“ von Straßnoff spielt auch Hugo Ball an. Als Zeitgenosse von Straßnoff verweist er exemplarisch auf dessen Autobiographie und verwendet sie als Beispiel in seinem Aufsatz „Der Künstler und die Zeitkrankheit“ verwendet: „Fragt man die Künstler, woran sie leiden, so kann man immer wieder dasselbe hören. Sie haben keine Beziehung mehr zur Wirklichkeit. Das Band, das sie in früheren Zeiten mit der Gesellschaft einigte, ist zerrissen. Es ist keine Tragfähigkeit, kein Anknüpfungspunkt mehr vorhanden. Es finden sich, soweit überhaupt von einer distinguierenden Umgebung die Rede sein kann, kaum zwei Menschen mehr, die noch dasselbe glauben und lieben. An wen soll beispielsweise der Romancier sich wenden, wenn er sich nicht eingestehen will, dass seine ganze Kunstgattung dem Untergang verfallen ist? Wen soll er darstellen, ohne sofort in eine Mythologie zu geraten? Und auch die Selbstdarstellung: Wem soll sie bekennen, wenn sie sich überhaupt an die Öffentlichkeit wendet? Tasso konnte bekennen; es gab noch eine Instanz für Manieren und Sitten. Schon Rousseaus Bekenntnis schließt Bübereien in sich, die er plausibel zu machen versucht und weiten demokratischen Kreisen plausibel zu machen vermochte. Das Selbstbekenntnis einer proletarischen Zeit wird voraussichtlich dasjenige des Hochstaplers Ignaz [sic!] Straßnoff sein.“277
274 Leonhard, Rudolf (Hg.): Außenseiter der Gesellschaft. Die Verbrechen der Gegenwart, 14 Bände, Berlin. Die Schmiede 1924-1926. 275 I. Claßen: Darstellung von Kriminalität, S. 127. 276 Ebd., S. 128. 277 Ball, Hugo: „Der Künstler und die Zeitkrankheit (1926)“, in: Hugo Ball, Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Burkhard Schlichting, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 102-149, hier S. 108.
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6.2.2 Rekonstruktion des Biographisierungsprozesses Konflikte in den Lebenswelten vor der Wandlung zum Hochstapler In der Biographie von Straßnoff werden vor der Wandlung zum Hochstapler zwei Lebenswelten sichtbar, die vom Protagonisten auch im weiteren Verlauf seiner Biographie betreten und verlassen werden. Sie orientieren sich im Wesentlichen an Handlungsfeldern eines bürgerlichen Subjektes278, das sich in Opposition dazu zu einem anti-bürgerlichen Subjekt entwickelt. Zu den für diesen Prozess relevanten Lebenswelten zählen: 1.
2.
die Lebenswelt der bürgerlichen Arbeit und Privatsphäre (Familie, Freundschaften, Beziehungen zu Frauen, Geselligkeit, Beruf): Diese benötigt das biographische Subjekt, um in Abgrenzung sein Bild von sich selbst und seine Lebensvorstellungen festigen zu können. Hier sieht es sich Konflikten ausgesetzt, und formuliert dies z.B, in folgender Selbstreferenz: „Manchmal war ich ganz verzweifelt, ich fühlte mich wie in eine Tretmühle gepreßt, ich war nervös, in einer ewigen gereizten Stimmung, schnappte nach Luft, nach Freiheit.“ 279 die Lebenswelt der gesellschaftlich Entgrenzten (Kriminelle, Lebenskünstler und Lebenskünstlerinnen): Diese betritt das biographische Subjekt, um sein Selbstbild unter Gleichgesinnten stabilisieren zu können. Insbesondere die Lebenskünstler entsprechen der Vorstellung für seinen Lebensstil. Diese Lebenswelt bietet Möglichkeiten zur Lösung von interferierenden Konflikten in der Lebenswelt der bürgerlichen Privatsphäre und Arbeit, siehe z.B. folgende SelbstWeltreferenz des biographischen Subjektes: „Wir [...] lebten ausschließlich uns selbst, unserer [sic!] Liebe, ohne daß wir uns wieder hinausgesehnt hätten, in die bunte und große Welt, in die Kreise, welche uns beiden bereits so viel Leid angetan hatten.280
Diese beiden Lebenswelten stehen in einem wechselseitigen Verhältnis und bilden ein Spannungsfeld, in dem sich die biographische Entwicklung von Straßnoff vor der Wandlung zum Hochstapler vollzieht. Die ambivalenten Verstrickungen des biographischen Subjektes in diesen Lebenswelten, die sich auf diachroner Handlungsebene
278 Siehe dazu: Reckwitz, Andreas: „Die Gleichförmigkeit und die Bewegtheit des bürgerlichen Subjekts: Moderne Subjektivität im Konflikt von bürgerlicher und avantgardistischer Codierung“, in: Gabriele Klein (Hg.), Bewegung. Sozial- und Kulturwissenschaftliche Konzepte, Bielefeld: transcript 2004, S. 155-184. 279 I. Straßnoff: Ich, der Hochstapler, S. 12. 280 Ebd., S. 14.
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und synchroner Erzählebene im Biographisierungsprozess zeigen, werden in den folgenden Ausführungen analysiert. Lebenswelt: die bürgerliche Arbeit und Privatsphäre Die Lebenswelt der bürgerlichen Arbeit und Privatsphäre wird von Straßnoff gleich auf den ersten Seiten seiner biographischen Erzählung betreten. Die bürgerliche Privatsphäre wird von der ambivalenten Beziehung zur Familie bestimmt: Diese Lebenswelt zeichnet sich aus durch klar vorgegebene moralische Vorstellungen ihrer Vertreterinnen und Vertreter aus, die Straßnoffs Lebensweise sowie sein späteres Handeln als Hochstapler und Betrüger verurteilen. Dies fasst Straßnoff beispielsweise in folgender Passage nach zusammen: „Als ich bei meiner Mutter ohne vorherige Ankündigung eintrat, war sie natürlich sehr überrascht und erfreut, denn wir hatten uns schon mehrere Jahre nicht gesehen. Eine Mutter kennt eben keinen Verbrecher, sie sieht in ihm nur den Sohn, ihr Kind, welches sie geliebt hat und immer noch liebt. Ich entwickelte ihr meine Pläne, erzählte, daß ich des unsteten und arbeitslosen Lebens müde sei, daß ich arbeiten und mich von nun an auf ehrliche Weise erhalten wolle. Wenn meine Mutter mir das auch alles glaubte, so machte mein Entschluß auf meine Brüder doch einen mehr als zweifelhaften Eindruck. Der eine meiner Brüder war zu dieser Zeit bereits ein selbständiger Kaufmann, wegen seiner Ehrlichkeit und Solidität in allen Kreisen hochgeachtet, während der andere, der jüngere, es bereits zu einem angesehenen Theaterdirektor einer großen Provinzbühne gebracht hatte und dank seines Fleißes und seiner Sparsamkeit über ein beträchtliches Kapital verfügte.“281
Straßnoff formuliert auf der einen Seite immer wieder das Begehren, sich von der Familie (Mutter und Brüder) zu lösen und auf eigenen Füßen zu stehen. Auf der anderen Seite nimmt er gerne ihre finanzielle Unterstützung in Anspruch und kehrt zu ihnen zurück. Und so reichen die Protagonisten in dieser Lebenswelt Straßnoff immer wieder die Hand. Sie tragen Sorge um ihn und helfen ihm mehrmals, wieder auf die Beine zu kommen. Seine Brüder vermitteln ihm Arbeit, finanzieren ihm eine Überfahrt in die USA, wo Straßnoff die Chance auf einen Neuanfang in seinem Leben sieht. Wie auch die Mutter geben sie ihm immer die Chance, seine Bemühungen um moralische Läuterung zu realisieren. Die Liebe der Mutter wird, wie beispielsweise im obigen Zitat, als stabile Konstante im Leben beschrieben. Zugleich werden der Familie auch die Erwartungen zugeordnet, die Straßnoff letztendlich in seinem persönlichen Freiheitsbedürfnis einengen. Sie symbolisieren die gesellschaftlichen Erwartungen an die Entwicklung des biographischen Subjektes zu einem vernünftigen, moralisch angepassten, ehrlichen, arbeitsamen Menschen.
281 Ebd., S. 84-85.
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Dieser Lebenswelt ist Straßnoff einerseits passiv ausgesetzt, weil er auf sie angewiesen ist. Andererseits übernimmt er aktiv vorgeschlagene Veränderungen vor allem hinsichtlich beruflicher Tätigkeiten und rebelliert mit seinen Handlungen, die nicht den Erwartungen dieser Lebenswelt entsprechen, gegen die Familie. Diese fordert eine Mäßigung des freiheitlichen Verhaltens und Handelns und versucht den Bewegungsmöglichkeiten von Straßnoff in den gesellschaftlichen Bahnen eine konventionelle Struktur zu verleihen. Mehrfach beschreibt Straßnoff seine Versuche, sich aus dem familiären Kreis zu lösen, um dann letztendlich doch zu ihr zurückzukehren. Die Rückkehr und der Verbleib in der familiären Lebenswelt führen meistens zu einem Gefühl des Eingeengtseins und der alltäglichen Lebensmonotonie. Dies führt zu einem ersten Konflikt, der sich auf das Selbst-Weltverhältnis auswirkt. Konflikt: gesellschaftliche Freiheitsbedingungen und individuelle Freiheitsbestrebungen Den aus den interferierenden Interessen resultierenden Konflikt beschreibt Straßnoff gleich auf den ersten Seiten seiner Biographie: Nach einer Haftentlassung kehrt er nach Budapest, an den Wohnort seiner Mutter und seines Bruders zurück. Straßnoff lebt bei seiner Mutter und arbeitet auf „Vermittlung“ seines Bruders in einer „Zeitungsredaktion“.282 Er gibt an, in dieser Zeit sehr zurückgezogen, mit „bescheidenen Ansprüchen“ gelebt zu haben und formuliert die Absicht, sein Leben so gestalten zu wollen, dass es den Erwartungen seiner Familie entspricht.283 Seine „ganze Zerstreuung“ vom Alltag besteht für ihn in den Besuchen eines „Kaffeehaus[es]“ und des „Theater[s]“.284 Rücksichtsvoll gegenüber seiner Mutter, die sich „nicht niederlegte, bevor ich nach Hause kam“, kehrt er unmittelbar nach Ende der Theatervorstellungen nach Hause.285 Diese Lebensweise empfindet er als „regelmäßig“ „monoton“ und „drückend“.286 Sie führt zu einem inneren Konflikt: Auf der einen Seite will Straßnoff „nicht zurück in den Schlamm, in den Morast“. Auf der anderen Seite jedoch steht die diesem Wunsch dienliche Lebensweise im Gegensatz zu seinem Lebensgefühl, das auf die „Freiheit“ fokussiert.287 Der scheinbar nicht aufzuhebende Konflikt ruft physische und psychische Reaktionen hervor, die in folgender Selbstreflexion deutlich werden: „Das regelmäßige, monotone Leben, das sich nur zwischen der Wohnung und dem Amte abspielte, empfand ich von Tag zu Tag drückender. Manchmal war ich ganz verzweifelt, ich fühlte
282 Ebd., S. 12. 283 Ebd. 284 Ebd. 285 Ebd. 286 Ebd. 287 Ebd.
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mich wie in eine Tretmühle gepreßt, ich war nervös, in einer ewigen gereizten Stimmung, schnappte nach Luft, nach Freiheit. Trotzdem hielt ich mich noch immer tapfer, ich wollte nicht zurück in den Schlamm, in den Morast, aus welchem ich mich eben erst um einen solch hohen Preis befreit hatte.“288
Straßnoff thematisiert einen für ihn zu diesem Zeitpunkt nicht aufhebbaren Konflikt, in dem sich gesellschaftliche Freiheitsbedingungen und individuelle Freiheitsbestrebungen überlagern. Gezeigt wird damit ein biographisches Subjekt in seiner gesellschaftlichen Eingebundenheit, das sich selbst nur mittels Tapferkeit bewahren kann, widerstrebt ihm doch diese Art zu leben. Da sich der Konflikt zunächst als nicht lösbar erweist, muss er bis zur Wandlung zum Hochstapler ausgesessen werden. Das Empfinden von Monotonie aufgrund von interferierenden Freiheitskonzepten setzt sich auch in den Beziehungen zu den (bürgerlichen) Frauen fort, denen Straßnoff die Ehe verspricht, um dieses Versprechen bei den kleinsten Anzeichen von Einengung und Langeweile wieder zu brechen. Allen Frauen gegenüber wahrt er zunächst die gesellschaftliche Form der offiziellen Legitimation von Liebesbeziehungen: Er verlobt sich mit ihnen. Den bürgerlichen Frauen werden die antibürgerlichen Frauen gegenübergestellt, die sich im schauspielerischen Milieu bewegen. Diese werden durch Selma und Dora personalisiert, zu denen er im Gegensatz zu den anderen Frauen eine emotionale Bindung aufbaut, die vom Gefühl der Liebe geprägt ist. Dennoch zeichnen sich auch diese tendenziell eher aufrichtigen Liebesbeziehungen dadurch aus, dass Straßnoff diese Beziehungen zeitweise verlässt, um an andern Orten zu wirken. Allerdings kehrt er immer wieder zu Dora und Selma zurück, die ihn nach Straßnoffs Angaben so annehmen, wie er ist, ohne nach seiner Vergangenheit zu fragen: „Als hätten wir uns erst gestern abend gesehen, als wäre seit unserer letzten Begegnung gar nichts Besonderes vorgefallen, begrüßte mich meine Freundin mit naiv-aufrichtiger Freude, und ohne die Vergangenheit auch nur mit einem Worte zu erwähnen, bot sie mir ihren Arm, und gemütlich plaudernd wanderten wir ihrer Wohnung zu.“289
Konflikt: Integration und Abgrenzung In der Lebenswelt der bürgerlichen Arbeit interferieren die Integrations- und Abgrenzungsmechanismen, die Straßnoff braucht, um ein Bild von sich selbst zu bestätigen: Immer wieder versucht er, den Erwartungen seiner Familie zu entsprechen und sich beruflich in akzeptierten Bahnen zu rehabilitieren. Ein Arbeitsethos von Fleiß und Tüchtigkeit wird dabei von ihm an die bürgerlichen Moralvorstellungen und den Wunsch nach Läuterung gekoppelt. „Da mein Vorsatz, meinen Unterhalt hier unbe-
288 Ebd., Herv. i.O. 289 Ebd., S. 13.
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dingt auf ehrlichem Wege durch meiner Hände Fleiß zu verdienen, ernst war, wurde ich sehr mißgestimmt.“290 Allerdings werden Arbeit und Beruf gleichzeitig auch als Abgrenzungsaspekte von der bürgerlichen und familiären Welt genutzt. Sie stehen stellvertretend für eine Monotonie des Alltagslebens und Selbstdisziplinierung, die Straßnoffs Bild von sich selbst widersprechen. „Im Beruf ist – gegen den ungeordneten und unberechenbaren, im bürgerlichen Sinne exzessiven ‚Abenteuerkapitalismus – die Alltäglichkeit kontinuierlicher Disziplin zu wahren, ein Arbeitsethos, das die Regelmäßigkeit und zugleich berechenbare Eingeschränktheit körperlicher und mentaler Bewegungen sichert.“291
Mehrmals spricht sich Straßnoff sowohl für als auch gegen diesen von Reckwitz festgestellten Arbeitsethos des bürgerlichen Subjektes aus. Ihn langweilen die Berechenbarkeit und die Sicherheit, die eine längerfristige Anstellung bietet. Er bricht mit der bürgerlichen Vorstellung von einer Existenzsicherung mittels kontinuierlicher beruflicher Tätigkeit, da er immer wieder diversen beruflichen Tätigkeiten nachgeht. Arbeit macht ihm dann, wenn auch für jeweilige kurze Zeiträume Freude, wenn er sie mit seinen Talenten und Aspekten der Geselligkeit verbinden kann. Nach seinen eigenen Angaben liegt es nicht an seinen fehlenden Fähigkeiten und Fertigkeiten, die zu einer Aufgabe von beruflichen Tätigkeiten führen – in den meisten bürgerlichen Berufstätigkeiten klettert er ja angeblich sofort die Karriereleiter hoch –, sondern entweder holt ihn seine kriminelle Vergangenheit ein oder seine Beziehung zu Frauen führt dazu, dass er die Orte seiner Tätigkeit verlassen muss. In der Lebenswelt der bürgerlichen Arbeit interferieren auch unterschiedliche Interessen Straßnoffs, denen er sich nur schwer entziehen kann: Arbeit ist für ihn notwendig, um sich seinen Lebensstil finanzieren zu können, allerdings steht dies seiner favorisierten Lebensweise entgegen, die auf ein Leben jenseits der bürgerlichen Beschränkungen fokussiert ist. So muss sich Straßnoff aus persönlichem Interesse in die Lebenswelt der bürgerlichen Arbeit wenigstens zeitweilig integrieren, um sich von der bürgerlichen Lebenswelt insgesamt abgrenzen zu können. Doch dann tritt Selma, die anscheinend mit dazu beigetragen hat, dass Straßnoff im Schlamm und im Morast gelandet ist, seine frühere Geliebte, zurück in sein Leben. Dies bedeutet für Straßnoff die Rückkehr in die Lebenswelt der Entgrenzten, in die Welt, der er eigentlich abgeschworen hat, weil die Teilhabe an ihr im Gefängnis endete und sie nicht den Erwartungen seiner Familie entspricht.
290 Ebd., S. 49. 291 A. Reckwitz: Die Gleichförmigkeit und die Bewegtheit des bürgerlichen Subjekts, S. 167.
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Lebenswelt: die Entgrenzten Die Lebenswelt der Entgrenzten zeichnet sich dadurch aus, dass sich ihre Protagonisten und Protagonistinnen nicht an die konventionell bürgerliche Lebensweise halten. Sie werden entweder im schauspielerischen oder im kriminellen Milieu verortet. Exemplarisch sei auf Wilhelm verwiesen, der wie Straßnoff hochstapelt und betrügt, um sein Leben zu finanzieren. Diese Lebenswelt ist auch eine Welt, in die Straßnoff zunächst ein- und ausbricht, um sich letztendlich in dieser zu verorten (vgl. Kapitel Lebenswelt des Hochstaplers). Die Verortung erfolgt nicht im Kriminellenmilieu, zu dem er sich nicht zugehörig fühlt und gegenüber dem er sich abgrenzt, sondern im Milieu der Lebenskünstler, die sich selbst aus ihrer Opposition gegenüber der bürgerlichen Privatsphäre und Lebenswelt der bürgerlichen Arbeit definieren. Die Bedeutung der Lebenswelt der Entgrenzten zeigt sich beispielhaft weiter in der Episode von Selmas Rückkehr. Selma schickt Straßnoff einen Brief und bringt ihn damit in Versuchung, die Strategie des Aussitzens aufgrund des Konfliktes in der bürgerlichen Lebenswelt zu verwerfen und die Monotonie des Alltags zu verlassen. Straßnoff beschreibt sich als innerlich schwankend: Er überlegt, ob er den Brief lesen soll. Und während er darüber nachdenkt, wird der Brief wie von dritter Hand geöffnet: „plötzlich lag der Brief offen in meiner Hand“.292 Antithetisch werden die Folgen dieser Handlung beschrieben: „Der Kampf mit dem Bösen, der Sturm der Leidenschaften entbrannte bei Erhalt des Billets von neuem und ich sog den mir von früher so gut bekannten Fliederduft wieder mit vollen Zügen ein.“ 293 Straßnoff liest den Brief und die „liebe[n] einschmeichelnde[n] Worte“ Selmas sind „so verführerisch“, dass er „alle guten Vorsätze meiner Mutter, mich selbst und die ganze Welt“ und auch „die ausgestandenen Leiden und Qualen“ vergisst.294 Selmas Worte führen zu körperlichen und gefühlsmäßigen Reaktionen, die konträr zu den Empfindungen des bis dahin gelebten Alltags stehen: Ihm wird vor seinen „Augen ganz dunkel“, „das Zettelchen entfesselte in mir die alte Leidenschaft, Hitzewellen jagten durch meinen Körper, ich meinte, vor Ungeduld vergehen zu müssen [...].“295 Straßnoff trifft sich mit Selma, ihre gemeinsame Vergangenheit, die wohl zu seiner ersten Gefängnisstrafe geführt hat, spielt keine Rolle mehr, und gemeinsam begeben sie sich nach einem Theaterbesuch in Selmas Wohnung. Dort angekommen, meldet sich „das Gewissen [...] noch einmal sehr energisch.“296 Er macht sich „wegen meiner Schwäche Vorwürfe“ und hofft „im geheimen, […] mich auf irgendeine Art
292 I. Straßnoff: Ich, der Hochstapler, S. 12. 293 Ebd. 294 Ebd., S. 13. 295 Ebd. 296 Ebd.
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aus der Schlinge zu ziehen.“297 Doch es bietet sich ihm dazu keine Gelegenheit, „die beleidigte Unschuld zu spielen“ und sich zu entfernen. Als Begründung für die Wiederaufnahme der Beziehung zu Selma führt Straßnoff einen Aspekt an, dem er über das singuläre biographische Ereignis hinaus eine Bedeutung für sein Leben gibt: Er will sich nicht „der Gefahr der Lächerlichkeit“ preisgeben: „und in meinem ganzen Leben habe ich stets lieber die größten und längsten Qualen ausgestanden – als lächerlich zu erscheinen.“298 Straßnoff beginnt eine Affäre mit dem „einst so hell leuchtenden Operettenstern“ Selma, welche ihm ihre Liebe erklärt und beteuert, nun ein anständiges, bescheidenes Leben führen zu wollen.299 Sie sei des ausgelassenen, wüsten Lebens müde und satt. Selma sind Straßnoffs Lebensbedingungen und -umstände bekannt, sein „geringes Einkommen“, seine „bescheidene Stellung“ und sein „schlechtes Verhältnis zu [seinem] Bruder“.300 Wichtig für Selma sind nach Angaben des Erzählers lediglich die „Liebe“ und der Wunsch, Straßnoff „ständig um [sich] zu sehen“.301 Straßnoff und Selma leben „ausschließlich [sich] selbst.“302 Diesen Rückzug in das Private und Intime wird in Opposition zur äußeren Welt gestellt: „[...] wir [...] lebten ausschließlich uns selbst, unserer [sic!] Liebe, ohne daß wir uns wieder hinausgesehnt hätten, in die bunte und große Welt, in die Kreise, welche uns beiden bereits so viel Leid angetan hatten.“303 Konfliktlösung: die instabile Lebenswelt der Entgrenzten Die Beziehung zu Selma führt dazu, dass Straßnoff nun abends länger von zu Hause fernbleibt und seine Mutter, aus Sorge, ihr Sohn sei wieder in die alte schlechte Gesellschaft geraten, unruhig wird. Um sein „ruhiges Glück“ nicht zu stören, hält Straßnoff zunächst die Beziehung geheim, „duldete [...] lieber die fortwährenden Vorwürfe und Schikanen“.304 Sein Bruder erfährt schließlich von dem Verhältnis und stellt ihn und Selma zur Rede. In einem Gespräch kann Selma – „von Beruf eine Schauspielerin“ – jedoch den Bruder davon überzeugen, ihr „stilles und bescheidenes Glück nicht zu stören“.305
297 Ebd. 298 Ebd. 299 Ebd., S. 14. 300 Ebd., S. 13-14. 301 Ebd., S. 14. 302 Ebd. 303 Ebd. Es finden sich in der Autobiographie keine spezifischen Angaben darüber, um welche Kreise es sich handelt. 304 Ebd. 305 Ebd., S. 15.
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Rückblickend bewertet Straßnoff diese als „die köstlichsten, herrlichsten Tage meines ganzen stürmischen und an Ereignissen so überaus reichen Lebens.“306 Er beschreibt sich als glücklich und zufrieden und empfindet „das seelische Gleichgewicht“.307 Diese emotionale Befindlichkeit führt auch zu mehr Zufriedenheit während der Arbeit: Straßnoff arbeitet „mit Lust“, tut „alles gerne und ohne Murren“, findet „wieder für meinen Beruf Interesse.“308 Er entwickelt „neben Fleiß und Energie auch alle meine geistigen Fähigkeiten“.309 Diese positive Entwicklung wird auch von seinem Chef, „Besitzer einer großen, verbreiteten ungarischen Tageszeitung und politisch engagiert in der „Unabhängigkeitspartei“, bemerkt, der ihn anerkennt, gut behandelt und ihm „Vertrauen“ schenkt.310 Straßnoffs Chef kandidiert bei „den ausgeschriebenen Abgeordnetenwahlen“ und sein Mitarbeiter Straßnoff bringt sich in den Wahlkampf ein, wo er seine „Fähigkeiten und Talente zur vollen Geltung bringen“ kann.311 Seine Tätigkeit als Wahlkampfhelfer führt zu dieser Selbstthematisierung: „Ich kam tage-, ja wochenlang nicht zur Ruhe. Heute wurden Soireen veranstaltet, morgen Bankette abgehalten, ich drang in alle Kreise ein, ertanzte hier bei töchtergesegneten Müttern die Unterstützung, erflirtete dort diese durch Mutter und Tochter, ich tat, versprach, verliebte mich in alles, um die Herren Wähler in unser oppositionelles Lager herüberzubringen. Ich war bei allen Zechgelagen das belebende Element, ich war – mit einem Worte – wieder ich selbst!“312
In dieser beschriebenen ‚Reinkarnation‘ des Selbst-Seins bietet sich zeitweise eine Auflösung der zuvor thematisierten Konflikte in der bürgerlichen Lebenswelt: Straßnoff kann auf legalem Wege und unter dem Gesichtspunkt des moralisch Guten seinen Hang zum Nachtleben, zu Frauen, zu Unabhängigkeit im politischen Umfeld ausleben. Die ihm zuvor zusetzende Monotonie des Alltags kann zugunsten der bevorzugten Rastlosigkeit aufgegeben werden. Lebenswelten: die Inszenierung eines Subjektes im Widerspruch In den Lebenswelten vor der Wandlung zum Hochstapler zeigt sich die Inszenierung Straßnoffs als ein biographisches Subjekt im Widerspruch. Dieser Widerspruch manifestiert sich sowohl auf diachroner Handlungsebene in den Lebenswelten als auch auf synchroner Ebene der Erzählzeit über die Lebenswelten. Auf diachroner Hand-
306 Ebd. 307 Ebd. 308 Ebd. 309 Ebd. 310 Ebd., S. 15-16. 311 Ebd. 312 Ebd., S. 16.
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lungsebene widerspricht das biographische Subjekt der konventionellen Lebensführung in der bürgerlichen Lebenswelt. Dieses Widersprechen verdeutlichen auch Straßnoffs Reflexionen über seine Emotionen in diesen Konfliktsituationen, die sich zu einem Selbstbild zusammenfügen lassen, das auf Abgrenzung gegenüber der bürgerlichen Lebenswelt angewiesen ist und sie an den Parametern von Freiheit, SelbstSein, Unabhängigkeit, Rastlosigkeit und Anerkennung orientiert. Eine Lebensführung in der bürgerlichen Lebenswelt, die diesem Selbstbild entgegensteht, wird als monoton und als unfrei empfunden. Allerdings zeigt sich auch ein widersprüchliches Subjekt: Vorgegeben wird eine Selbstaufopferung für andere, sei es für Selma, den Chef oder für die Mutter. Doch zeigen die chronologisch angeführten Selbstreferenzen, dass diese Aufopferungsbereitschaft letztendlich nicht nur dem Wohl der anderen dient, sondern in erster Linie der Legitimation des Selbst-Seins im Einklang mit einem Selbstgefühl, welches die eigene Lebensweise als Nächstes hat. Über diese Strategie der inszenierten Opferbereitschaft legitimiert das biographische Subjekt seine Lebensweise und sein Identitätsgefühl. In den hergestellten Bezügen zur Welt und zum Selbst beschreibt Straßnoff vor der ersten Hochstapelei, wie einander widersprechende Interessenserwartungen mit dem Selbst-Sein in Konflikt geraten. Sie können in dem Moment gelöst werden, in dem die Familienmitglieder als Vertretende der bürgerlichen Lebenswelt, das ein Ausleben des Selbstbildes in der Lebenswelt der Entgrenzten akzeptiert, weil Straßnoff beruflichen Erfolg ausweisen kann. Doch bereits vor der Wandlung zum Hochstapler deutet sich an, dass für Straßnoff im Mittelpunkt nicht der Dienst an der bürgerlichen Lebenswelt und ihrem Arbeitsethos, sondern der Dienst an der eigenen bevorzugten Lebensweise und dem Selbstbild steht, die eine Verortung des Selbst in der Lebenswelt der Entgrenzten mit sich bringt. Die rekonstruierten Lebenswelten legen dar, dass Straßnoff in seiner Biographie eine in sich widersprüchliche Gesellschaft skizziert, deren interferierenden Interessen sich in das biographische Subjekt hinein fortsetzen. Dies zeigt sich auch in der Wandlung zum Hochstapler, die nun analysiert wird. Die Wandlung zum Hochstapler Die zunächst empfundene Reinkarnation des Selbst-Seins, die Straßnoff über die Verbindung der Lebenswelt der bürgerlichen Arbeit und Privatsphäre sowie deren Akzeptanz seines Eingebundenseins in die Lebenswelt der Entgrenzten erweist sich, wenn man der Darstellung der biographischen Ereignisse auf diachroner Ebene folgt, als brüchiger Zustand. Es gerät bereits am Tag der Abgeordnetenwahl ins Wanken: Zunächst verfügt die Unabhängigkeitspartei von Straßnoffs Chef über einen Vorsprung, doch der Gegenpartei gelingt es, weitere Wähler zu mobilisieren und einen Vorsprung zu holen. Die „Niederlage“ droht, da es der Unabhängigkeitspartei nicht
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gelingt, weitere Stimmberechtigte zu rekrutieren.313 „[B]laß vor Wut und Scham“ durchfährt Straßnoff ein Geistesblitz: Er erinnert sich an die Werftarbeiter, die vom Wertbesitzer an der Stimmabgabe gehindert werden, und überlegt sich in seiner „finstere[n] Verzweiflung“ eine List, um den Arbeitern die Stimmabgabe für die Unabhängigkeitspartei zu ermöglichen.314 Dabei schlüpft er in seine erste vorgetäuschte Rolle: Er ruft den leitenden Direktor der Schiffswerft an und gibt sich am Telefon als Ministerialrat Y des Handelsministeriums aus, der im Auftrag des Handelsministers mitteilt, dass dieser seinen Sekretär Herrn V. vorbeischicken werde. Straßnoff begibt sich zur Werft und mimt den Sekretär, der den Direktor dazu veranlasst, seine Arbeiter wählen zu lassen, damit „die Opposition den Umstand, daß die Wähler für heute nicht freigegeben wurden, agitatorisch ausnutze, und da doch, wie gesagt, eine Änderung des Wahlergebnisses ohnehin nicht mehr zu befürchten sei, [...], den Arbeitern freizugeben und zu veranlassen, daß sie für die Opposition stimmen.“315 Straßnoff erhält daraufhin die Erlaubnis sich an die Arbeiter zu wenden und bringt mit seiner Rede die Arbeiter dazu, im Wahllokal für den Kandidaten der Unabhängigkeitspartei zu stimmen. Mit dieser List und Hochstapelei gelingt es, den Wahlsieg zu erringen: „Da ging es natürlich fabelhaft lustig zu. Man ahnt auch hier etwas, man glaubt auch hier, daß etwas ganz Besonderes geschehen sein mußte, aber man hat noch nicht Zeit, nachzugrübeln und nachzuforschen, der unerwartete Sieg nach der sicheren Niederlage macht jedes kühle Denken unmöglich, man begnügt sich mit der einfachen Tatsache, daß der Sieg auf vollkommen gesetzliche und erlaubte Weise erkämpft worden ist. Und wie ein Cäsar durfte ich die Trinksprüche anhören, die man mir zu Ehren darbrachte.“316
Bemerkenswert ist, dass sich während der Wahlkampfepisode die Prioritätensetzung in den Selbstthematisierungen verschiebt: Zunächst steht der Chef von Straßnoff im Mittelpunkt, dem er um jeden Preis helfen will und für den er sogar bereit ist sich „in die Fluten“ zu werfen „– wenn ich auch im stillen gehofft hätte, irgendein Passant oder ein Wachmann werde mich schon wieder ans Land ziehen.“317 Doch am Ende des Kapitels wird nicht darüber berichtet, dass der Chef für seinen Erfolg gefeiert wird, sondern Straßnoff schließt den Kreis zu sich selbst und inszeniert sich als „Cäsar“, als der Gewinner des Wahlkampfs, der mit seinem Selbst im Einklang von den anderen gefeiert wird.318
313 Ebd., S. 17. 314 Ebd. 315 Ebd., S. 18-19. 316 Ebd., S. 20. 317 Ebd., S. 16. 318 Ebd., S. 20.
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Während der Wandlung zum Hochstapler rekurriert Straßnoff auf seine schon bei Selma angewendete Strategie der Opferbereitschaft, um sein täuschendes, lügendes und hochstaplerisches Handeln zu legitimieren. Doch die nach dem Erfolg inszenierte Feier des eigenen Selbst zeigt, dass die Wandlung zum Hochstapler aufgrund des dominierenden Bestrebens nach Selbstverwirklichung in den subjektiven Freiheitsvorstellungen eines Entgrenzten erfolgt. Straßnoff will nicht zurück in eine Lebensführung, die dem eigentlichen Bild von und zu sich selbst entgegensteht. Die Lebenswelt als Hochstapler Diese Lebenswelt entsteht nach der Wandlung zum Hochstapler. Bei Straßnoff stellt sie einen Ort da, in dem sich unterschiedliche Möglichkeiten zeigen, mittels der Hochstapelei sein Leben zu gestalten Hochstapelei als Konfliktlösung Nach seinem Debut als Ministerialsekretär, der ersten Hochstaplerrolle, schlüpft Straßnoff in die Rolle eines „Oberleutnants“.319 Die Entwicklung dahin wird in einen Zusammenhang mit dem Tod seiner geliebten Selma und der Verbüßung einer Haftstrafe als Folge einer „Selbstanzeige“320 gestellt: Selma, die ein Kind von ihm erwartet, erkrankt und stirbt an den Folgen einer Lungenentzündung. Der Tod Selmas führt herbei, dass Straßnoff nach dem Sinn seines Lebens fragt: „Was ich wohl noch in diesem Leben zu verlieren habe? dachte ich, und wozu ich eigentlich noch am Leben geblieben bin.“321 In sich „hineinhorchend“ geht er durch die Stadt und findet sich „auf einmal vor einem Polizeibeamten“ wieder.322 „Ohne einen Gedanken, planlos, mit leerem Gehirne und blutendem Herzen“ gesteht er seine Hochstapelei am Wahltag und verschiedene andere Betrügereien, die er zur Finanzierung des gemeinsamen Lebens mit Selma begangen hat. Er wird verhaftet, kommt ins Gefängnis und ihm wird „etwas leichter ums Herz“: „denn ich hatte mein Gewissen durch ein Bekenntnis erleichtert und, was die Hauptsache war, mich störte niemand, ich wähnte mich meiner Selma um so viel näher, denn nun waren wir beide begraben, sie unter den Toten, ich unter den Lebenden.“323 Der Tod Selmas wird als einschneidendes Erlebnis, das zu einer Lebenskrise führt, dargestellt: Er habe sich für nichts mehr auf der Welt interessiert, „habe tagelang gesessen oder gelegen, ohne auch nur ein Wort zu sprechen“.324 Alles erscheint bedeutungslos: „Wie im Traume erinnere ich mich der
319 Ebd., S. 27. 320 Ebd., S. 24. 321 Ebd. 322 Ebd. 323 Ebd. 324 Ebd.
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Schlußverhandlung, in der ich wegen Diebstahl oder der liebe Gott mag wissen, weshalb, zu drei Jahren verurteilt wurde.“325 „Ohne Pläne für die Zukunft, ohne jede Hoffnung“ kehrt er nach seiner Haftentlassung zu seiner Mutter nach Budapest zurück, die ihn aufgrund ihrer „nicht so guten Verhältnisse“ nicht „aushalten“ kann, und begibt sich auf Arbeitssuche.326 Dabei rechnet er nicht mit der Unterstützung seines Bruders. Die Suche nach Arbeit erscheint aussichtslos, aber er will „nicht nachgeben, schon um meinem Bruder zu zeigen, daß ich auch ohne seine Hilfe eine Stellung erhalten könnte.“327 Wie in seiner Erzählweise üblich (vgl. Kapitel 6.2.2.4), überträgt er die inneren Befindlichkeiten auf körperliche Reaktionen, die zu diesem Vergleich führt: „noch nicht einmal die leiseste Hoffnung“ habend sind seine Füße „von dem vielen Herumlaufen schon ganz wund“.328 Hochstapelei zur Verwirklichung des Selbstbildes Wieder kommen ihm der Zufall und seine Spontaneität zur Hilfe: In einer Zeitungsannonce, die ihm auffällt, wird eine „Husarenoffiziersuniform“ zum Verkauf angeboten.329 Straßnoff entwickelt den Plan, die Uniform zu kaufen und sie an einen Freund, der im Theater arbeitet, zu verkaufen. Er ersteht die Uniform und kehrt zurück in die Wohnung seiner Mutter. Dort angekommen ist er ganz allein, ohne Mutter und Bruder und fragt er sich: „Herrgott! Wie würde ich mich eigentlich als Husarenoberleutnant ausnehmen?“330 Die Antwort hat er gleich parat: „Prächtig in der Tat! ... Die Uniform sitzt wie angegossen. Niemand würde daran zweifeln, daß ich sie mir in dem ersten Salon Budapests habe anfertigen lassen.“331 In einer rhetorischen Selbstbefragung zieht er Bilanz und fragt sich, warum er nach so langen traurigen Tagen nicht einmal einige fröhliche Stunden genießen solle: „Ja, das wollen wir tun! ... Ein Zeitungsblatt ist schnell zur Hand ... Faschingschronik ... da wären wir also ... Maskenball ... nicht weit von meiner Wohnung […].“332 Diese Selbstreflexion vor dieser Hochstapelei, die nicht vorgeblich im Dienste anderer erfolgt, sondern explizit dem eigenen Vergnügen dient, ist meiner Ansicht insofern bemerkenswert, dass sie vom Standpunkt der 3. Person Plural formuliert wird, der über die Funktion des „wir“ als stellvertretende Rede hinausgeht, wenn man ihren Gebrauch im zuvor dargelegten biographischen Kontext betrachtet. Die für sein Selbst-
325 Ebd. 326 Ebd., S. 25. 327 Ebd. 328 Ebd. 329 Ebd., S. 26. 330 Ebd. 331 Ebd. 332 Ebd.
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verhältnis zentralen Aspekte des individualistischen Selbstbildes und der freiheitlichen Selbstverwirklichung, die mit der bürgerlichen, konventionellen Lebensweise brechen und sich, wie die Analyse der Lebenswelten vor der Wandlung zum Hochstapler ergeben hat, nur in Opposition dazu entwickeln kann, werden im Moment des Beschlusses, hochzustapeln, narrativ in ein Verhältnis von ich und wir gestellt. Zur Bedeutung des narrativ artikulierten, reflexiven Vergleiches von „Ich“ und „Wir“ für das Selbstbild im Sinne eines „Selbstverständnis“ merkt Leeten an: „In ‚wir‘-Sätzen kann der Sprecher ein ganz eigenes Selbstverständnis aussprechen. Dass dieses Selbstverständnis allgemein ist, heißt nicht, dass es durch die Gemeinschaft in das Individuum hineingebracht wird. Das Individuum kann sich der Gemeinschaft selbst zuordnen, indem es anfängt, auf bestimmte Weise ‚wir‘ zu sagen – nämlich so, dass es für die allgemeine Bestimmung selbst einsteht.“333
Leeten verweist darauf, dass sich der Gebrauch von Sprache und damit auch von dem Wörtchen „Wir“ als ein Ort erweisen kann, in dem sich die Individualität verankern kann und „das Ich auf vielerlei Weise spricht und versteht“.334 Diese Vielfalt der sprachlichen Ich-Thematisierung findet sich auch in dem „Wir“ wieder, welches die Möglichkeit eröffnet „einem immer wieder wechselnden, sich verschiebenden, gebrochenen Wir“ anzugehören.335 Die Bedeutung des Hochstapelns in dieser biographischen Episode in Straßnoffs Biographie kann als Selbstverwirklichung des eigenen Selbstbildes unter Einbezug der anderen interpretiert werden, ohne dass diese anderen selbst zu Wort kommen. Dieses „‚Wir in mir‘“336 veranschaulicht selbstreferentiell und weltreferentiell das Selbstbild Straßnoffs, das zur Verwirklichung die anderen zwar braucht, diese jedoch nicht in der bürgerlichen Lebenswelt der Privatsphäre und des Berufes findet, sondern sich in Opposition dazu, eigene Lebenswelten, die des Hochstaplers und die der Entgrenzten, erschließt. „Ohne das Wir wäre das Ich so einsam, dass es sich selbst nicht auf besondere Weise begreifen könnte. Es wäre nicht in der Lage, ein eigenes Selbstverständnis zu formulieren. Nicht zuletzt deswegen ist der Umstand, dass sich ein Individuum von sich selbst her mit Gemeinschaften identifizieren kann, ins philosophische Bewusstsein zu heben. [...] Sagen wir es so: Der stellvertretende Gebrauch von ‚wir‘ beschreibt keine bestehende Gemeinschaft, sondern kann die
333 Leeten, Lars: „Wen meine ich, wenn ich ‚wir‘ sage? Elemente der Ersten Person Plural“, in: Christoph Asmuth/Patrick Grüneberg (Hg.), Subjekt und Gehirn, Mensch und Natur, Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 125-137, hier S. 134. 334 Ebd., S. 135. 335 Ebd. 336 Ebd.
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Perspektive auf eine mögliche Gemeinschaft eröffnen. Wer direkt und ohne Rückversicherung etwas über uns sagt, kann von sich her einen Ausblick auf eine Gemeinschaftsform geben, mit der er sich identifiziert. In diesem Sinne ist er Repräsentant einer Gruppe. Aber wo ich ein Wissen über mich formuliere, kann es dem anderen gegenüber kein Wissen über ihn sein. Es handelt sich eher um den Versuch, eine Gemeinschaft mit der anderen Person herzustellen: Der Andere sieht sich zu einer Stellungnahme herausgefordert, wie ‚wir' handeln, denken oder uns verstehen wollen.“337
Die Einbeziehung der Hochstaplerrolle „Oberleutnant“ in das eigene Selbstverständnis zeigt sich sprachlich auch in dem sich anschließenden Wechsel in die dritte Person Singular: Straßnoff berichtet von sich selbst: „Eine Viertelstunde darauf macht schon ein Oberleutnant sorgsam Toilette, verläßt auf den Fußspitzen mit Tschako, Lackstiefeln und Sporen die Wohnung und stürmt, nein fliegt dem Tanzlokal entgegen.“338 Hochstapelei aus der Lust am Vergnügen Beflügelt von seiner vorgetäuschten Rolle empfängt Straßnoff die „Liebeswürdigkeiten“ der anwesenden Offiziere im Tanzlokal.339 Die Hochstapelei ist erfolgreich und als Oberleutnant vergisst Straßnoff nach kurzer Zeit („keine zehn Minuten“), „daß er den ganzen Tag hungrig und durstig sich die Füße wundgelaufen hat, um eine bescheidene Anstellung als Schreiber oder kleiner Beamter zu finden, er hat vergessen, daß der Mann, der da in der Husarenuniform steckt, ein mehrmals vorbestraftes Individuum ist. In diesen hellerleuchteten, prächtigen Sälen [...], da denkt der neue Kamerad nur des Augenblicks der Freude, des Genusses, er überläßt sich willig der Führung der liebenswürdigen Kameraden, da ist der neue Offizier wieder der Alte, der Fröhliche, der Sorglose, der Übermütige, er wächst über sich selbst hinaus, und das übrige besorgt der in Strömen fließende Champagner.“340 In dieser Selbstthematisierung verbindet Straßnoff die hochgestapelte Rolle mit den Konflikten in den Lebenswelten und deren Auswirkungen auf sein Weltverhältnis vor seiner Wandlung zum Hochstapler. Er macht die Erfahrung, dass Hochstapeln dazu führen kann, sein Selbstbild in der Gesellschaft zu verwirklichen, indem er vortäuscht, Teil der bürgerlichen Lebenswelt zu sein. Die Täuschung kann gelingen, weil niemandem seine bisherige Lebensgeschichte bekannt ist. Im Moment der Hochstapelei werden so die Fesseln der bürgerlichen Lebenswelt paradoxerweise mittels der in dieser Lebenswelt anerkannten Rolle des Oberleutnants abgelegt. Hochstapeln eröffnet gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten, die dem Selbstbild von Straßnoff entsprechen,
337 Ebd., S. 135-136, Herv. i.O. 338 I. Straßnoff: Ich, der Hochstapler, S. 27. 339 Ebd. 340 Ebd.
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ohne dass er dieses aufgeben muss oder für dieses von der bürgerlichen Gesellschaft kritisiert wird. Außerdem können Charaktereigenschaften, die sich zuvor nicht ausleben ließen, wieder hervorgebracht werden: Straßnoff ist wieder der „Alte“, er ist fröhlich, sorglos und übermütig. Hochstapelei bindet also die interferierenden individuellen und gesellschaftlichen Interessen bezüglich der Selbstverwirklichungsmöglichkeiten Straßnoffs. Diese Verknüpfung der unterschiedlichen Ebenen über den Weg der Hochstapelei manifestiert sich sprachlich in der Gleichzeitigkeit von „Ich“ (Selbst-Sein in der Welt), „Er“ (Dasein in der Welt) und „Wir“ (Teil-von Welt-Sein). Hochstapelei für einen selbstadäquaten Lebensstil Straßnoff macht die Erfahrung, dass ihm in der vorgetäuschten Rolle des Oberleutnants auch materielle Zuwendungen gemacht werden, die ihm einen Lebensstil ermöglichen, der ihn weiter von der bürgerlichen Lebenswelt seiner Familie entfernt. Diese Entwicklung wird perspektivisch in einer Beobachtung von außen in der dritten Person Singular wiedergegeben. Straßnoff reflektiert sich selbst in seiner hochgestapelten Rolle und stellt dabei Bezüge zu seiner biographischen Vergangenheit und zu seinen zukünftigen Lebensvorstellungen her: „Es ist heller Tag, als der Herr Oberleutnant mit gespickter Brieftasche, in welcher es nicht nur von Hunderternoten wimmelt, sondern in die sich auch einige Tausender verirrt haben, den Ort seiner ersten Schlacht, welche er so glänzend gewonnen hat, verläßt. Aber nicht mehr nach der bescheidenen Wohnung in der X.-Straße wandert er, nein, seit einigen Stunden sind ihm diese engen, die kleinlichen Verhältnisse zur Qual geworden: er fühlt sich als etwas Besseres, als höheres Wesen, hat er doch Fortuna in einer Stunde in sein Joch gezwungen; so mietet er jetzt eine elegant eingerichtete Garçonwohnung und richtet sich noch am selben Tag als reicher Kavalier ein.“341
Straßnoff richtet sich in seiner Rolle als Oberleutnant ein, residiert „herrschaftlich, vornehm“ und ‚leiht‘ sich von seinen neuen Freunden Geld, um den als angemessen empfundenen Lebensstil finanzieren zu können. Hat er sich zunächst nur abends und in der Nacht als Husarenoffizier präsentiert, beginnt er nun auch tagsüber als solcher zu agieren und begeht diverse Betrügereien. Hochstapelei aus Hilfsbereitschaft Das Agieren als Hochstapler am Tage erfolgt nach seinen Angaben aufgrund seiner Hilfsbereitschaft anderen gegenüber. In diesem Fall ist es ein guter Freund, der seine Wettschulden nicht mehr zurückzahlen kann. Straßnoff schreibt: „Zwar verfügte ich nicht über einen so hohen Betrag, aber, weiß der liebe Himmel, ich habe nie in mei-
341 Ebd., S. 28.
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nem Leben, wenn ich um eine Hilfe oder Unterstützung angegangen wurde, nein sagen können.“342 Das erste Opfer des hilfsbereiten Hochstaplers ist der Fürstprimas von Budapest, dem er als Oberleutnant P. gegenübertritt. Straßnoff beschreibt sein Hochstapeln als spontanes, der eigenen Intuition folgendes Handeln, von einem regelrecht durchdachten Plan sei keine Rede gewesen.343 Aufgrund der „Sanftmut“ und „edler Menschenliebe“, die der Fürstprimas ausstrahlt, gerät er „aus der Fassung“ und muss seine körperlichen Reaktionen, wenn er „in dieser Schlacht“ nicht untergehen will, in den Griff bekommen.344 „Mein Herz pocht stürmisch, Kälte durchrieselt meinen Rücken, dann schießt mir das Blut zum Kopf hinauf, mir wird auf einmal furchtbar heiß. Das erstemal im Leben fühle ich eine gefährliche Schwäche in solcher Lage; auf einen ähnlichen Gegner bin ich noch nie gestoßen. Doch da zuckt auch schon der Gedanke durch mein Gehirn, daß ich nicht schwach werden darf, daß jetzt nicht Zeit für Gefühlsduseleien ist, daß hier gehandelt werden muß, oder ich bin in fünf Minuten verhaftet.“345
Straßnoff gelingt es, mehr als den Betrag, den sein Freund benötigt, zu erschwindeln und macht die Erfahrung, dass er mittels „dieses Husarenstückchen“346 seinen Lebensstil längerfristig finanzieren kann: „Von nun an würde ich keine materiellen Sorgen mehr haben. Wenn ich wieder Geld brauchte, hüllte ich mich nur in meinen Zaubermantel, machte in voller Uniform irgendwem meine Aufwartung, und ich hatte Geld in Hülle und Fülle.“347 Im weiteren Verlauf seiner Biographie beschreibt er seine Vorgehensweise bei seinen verschiedenen Betrugsdelikten, die er als Husarenoffizier unternimmt, und wird dabei immer routinierter. Die Hochstapelei wird zum Beruf. Hochstapelei als Beruf Straßnoff ist kontinuierlich als Hochstapler tätig. Diese ‚Tätigkeit‘ beschreibt und charakterisiert er mit arbeitsweltlichen Begriffen und gibt so einer unmoralischen Tätigkeit den Anschein eines bürgerlichen Arbeitsethos. Er gibt sich als „ernster, vorsichtiger Geschäftsmann“348, macht eine „diplomatische Karriere“349, will „kein be-
342 Ebd., S. 29. 343 Vgl. ebd., S. 33. 344 Ebd., S. 32. 345 Ebd., S. 33. 346 Ebd., S. 34. 347 Ebd. 348 Ebd., S. 70. 349 Ebd., S. 77.
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schäftigungsloses Leben“350 führen, „nur noch ein, zwei Geschäfte besuchen“351 oder kann „nur dann arbeiten, wenn mir das Wasser an den Hals reichte“.352 Damit inszeniert er sich in der Lebenswelt des Hochstaplers als jemand, der sich an ökonomischen Bedingungen orientiert und vorgibt, Entscheidungen für seine Aufenthaltsorte an seine jeweilige Berufstätigkeit zu koppeln. „Abkommen konnte ich jetzt von meiner Arbeit auf einige Tage sehr leicht, und so ließ ich durch den Theaterdiener eine funkelnagelneue Husarenrittmeisteruniform aus der Garderobe in meine Wohnung schaffen, packte sie in meinen Koffer und löste mir die Fahrkarte nach Budapest.“353 Mit dieser Beweglichkeit grenzt er sich auch zu der Lebenswelt der Privilegierten ab, die erst in der Lebenswelt des Hochstaplers von Bedeutung ist und in der Biographie vom Klerus, Militär und vom Adel repräsentiert wird. Sie lassen sich täuschen und erliegen seiner Hochstapelei. Außerdem werden sie von Straßnoff auch als unmoralisch und profitorientiert beschrieben. Sie kümmern sich seinen Ausführungen zufolge nicht um die inneren Befindlichkeiten der sie umgebenden Menschen, sondern sind an Äußerlichkeiten, die sich in Form von Statussymbolen zeigen, interessiert. Diese Charakteristika dienen Straßnoff dazu, seine Hochstapelei und Betrügereien zu rechtfertigen: Insbesondere ihr Reichtum wird von ihm genutzt, um sich in einer Art Robin-Hood-Manier zu inszenieren. Er nimmt den Reichen, um die Bedürftigen zu unterstützen. Zu den Privilegierten zählen auch die reichen Bürgerfamilien, in denen Straßnoff zumeist als Heiratsschwindler agiert und sich so Geld und andere finanzielle Privilegien erschleicht. Trotz seiner „Kaltblütigkeit“354 und ‚beruflichen Professionalität‘ fliegt er als Hochstapler auf, wird verhaftet und zu „einunddreiviertel Jahren Kerker verurteilt.“ 355 „Nun war es mit meiner glorreichen Karriere zu Ende. Jetzt hieß es Farbe bekennen, länger konnte das schöne Luftgebilde, der schöne Traum, ich wäre der tapfere Offizier, nicht aufrechterhalten werden ... Also, adieu, schöne Uniform. Adieu, du schönes, herrliches Leben! Adieu, du Zaubermantel ... Wie herrliche Tage, wie gottvolle Nächte, welche kostbaren Genüsse hast du mir verschafft, aber ... wie bald, ach wie rasch wirst du mit dem rohen und groben Helinatuche irgendeiner Strafanstalt vertauscht werden. Wie bald werde ich mit Wehmut an dich aus irgendeiner Einzelzelle zurückdenken. Die Komödie war zu Ende.“356
350 Ebd., S. 84. 351 Ebd., S. 46. 352 Ebd., S. 123. 353 Ebd., S. 96. 354 Ebd., S. 39. 355 Ebd. 356 Ebd., S. 43-44.
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Hochstapelei und ihre (un)möglichen Folgen in den Lebenswelten Nach seiner Entlassung kehrt er diesmal nicht zu seiner Familie zurück, denn „ich schämte mich zu sehr und wußte auch, daß mein Bruder mir jede moralische und materielle Unterstützung verweigern würde.“ 357 Er beschließt, nach „Amerika“ zu reisen, „wo man mich noch nicht kannte.“358 Dort will er „auf ehrliche Weise eine neue Existenz [...] gründen.“359 Allerdings fehlt ihm für die Reise das nötige Geld, eine berufliche Anstellung beschreibt er als aussichtslos. Er wird erneut straffällig und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. „[M]it leeren Händen, leerem Herzen und leerem Gehirnkasten, ohne Pläne, ohne einen Kreuzer Geld“ wendet er sich nach der Verbüßung dieser Strafe letztendlich doch an seine Mutter sowie seinen Bruder und bittet diese erfolgreich, ihm die Überfahrt nach „Amerika“ zu finanzieren.360 Ignatz Straßnoff besteigt in Hamburg ein Schiff, das ihn nach Amerika bringt. Folge 1: über die Unmöglichkeit, der Vergangenheit als Hochstapler zu entfliehen Auf dem Schiff findet er „Anschluß an eine vornehme russische Familie“. 361 Als er seekrank wird, nehmen sich seiner „sowohl Mutter wie Tochter der Odessaer Familie mit warmem Interesse an.“362 Bereits nach fünf Tagen, von New York „noch ziemlich weit entfernt“, hat er „alle Chancen [...] dort als frischgebackener Bräutigam Fräulein Rachels zu landen.“363 Der Vater von Fräulein Rachel bietet Straßnoff eine Stellung in einer Brauerei an, die dieser in New York gründen will. Straßnoff lehnt dies jedoch ab, will er doch selbstständig seinen „Unterhalt [...] unbedingt auf ehrlichem Wege durch meiner Hände Fleiß [...] verdienen“.364 Dabei hilft ihm nach eigenen Angaben – angekommen in New York – wieder der Zufall: er trifft auf den Freund seines Bruders, „der hier als Direktor eines großen Theaters lebte und dem es glänzend ging.“ 365 Diesem Freund berichtet er über sein „ganzes Vorleben, verheimlichte ihm nichts und erklärte ihm zum Schluß, daß ich nun hier ein neues, ehrliches Leben beginnen wolle.“366 Der Freund beschließt, Straßnoff zu helfen, gibt ihm Geld, mietet für ihn eine Unterkunft und verschafft ihm eine Anstellung bei einem Fotografen, wo er „in
357 Ebd., S. 45. 358 Ebd. 359 Ebd. 360 Ebd., S. 47. 361 Ebd. 362 Ebd., S. 48. 363 Ebd. 364 Ebd., S. 49. 365 Ebd., S. 50. 366 Ebd.
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ganz kurzer Zeit [...] der erste Arbeiter des Ateliers“ wird.367 Straßnoff geht auch bei der Familie des Freundes seines Bruders ein und aus. Er ist „alle Sorgen los“ und wird „wieder der fröhliche, lose Vogel“, der seine „alten Triumphe als amüsanter Gesellschafter“ feiert.368 Auch beruflich beschreibt er sich als sehr erfolgreich: Aufgrund seiner „leichten Auffassungsgabe“ wird er „in nicht ganz zwei Monaten nicht nur ein perfekter Photograph [...], sondern leitet „eines der fünf Ateliers“.369 „Dadurch besserte sich auch meine materielle Lage wesentlich;“ und außerdem verlobt er sich mit „Fräulein Rachel“, der Tochter des russischen Brauereibesitzers. 370 Allerdings zieht sich die „Brautzeit [...] etwas in die Länge“, da er noch „auf das Eintreffen meiner Papiere aus Europa warten mußte.“371 In der Zwischenzeit macht sich Straßnoff als Fotograf mit finanzieller Hilfe seines Schwiegervaters selbstständig und führt ein Atelier unter seinem richtigen Namen. Doch die ehrliche Arbeit unter seinem wahren Namen führt zu einer weiteren Wendung in seiner Biographie: Die ‚wahre“ Identität lockt die ‚Unehrlichen‘ an: „Mein Name wirkte Wunder ... Ach! hätte ich nur diesmal, wie schon so oft in meinem Leben, einen falschen Namen benützt! Aber eben darin liegt die Tragik meines Lebens, daß ich mich unter meinem wahren Namen nicht vom Flecke zu rühren vermag, während ich unter falschem Namen noch immer glänzend durchgekommen bin.“372
Straßnoff ordnet in dieser Textpassage dem wahren oder dem falschen Namen jeweils unterschiedliche Lebensabschnitte zu und thematisiert mit dieser Referenzherstellung die Auswirkungen seiner Namen auf seine Lebensweise. Anlass dafür ist, dass sein Atelier nun vom „Budapester Kehricht von Lumpen, Vagabunden und Tagedieben, die vor der Arbeit aus der alten Welt geflüchtet waren und hier noch weniger ans Arbeiten dachten,“ aufgesucht wird.373 Darunter ist auch sein „Freund“ Wilhelm, der ihn um Geld erpresst, mit der Drohung, seine Vorgeschichte auffliegen zu lassen.374 Wilhelm, der in New York einen „geflüchteten ungarischen Baron“ spielt, hat ein Verhältnis mit Dora, die von Wilhelm „die Einlösung des Versprechens, zur ungarischen Baronin gemacht zu werden, immer dringender forderte.“375 Dabei soll ihm
367 Ebd., S. 51. 368 Ebd. 369 Ebd. 370 Ebd. 371 Ebd., S. 53. 372 Ebd., S. 54. 373 Ebd. 374 Ebd., S. 55. 375 Ebd.
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Straßnoff behilflich sein. Straßnoff beschreibt die Auswirkungen dieser Erpressung auf sein Gemüt: „Meine Ruhe, mein stilles Glück, mein seelisches Gleichgewicht waren nun zum Teufel. Ich wußte nur zu gut, daß ich nur das erste ‚Darlehn“ zu verweigern brauchte, und ich war bloßgestellt, ruiniert.“376 Straßnoff kann seiner Vergangenheit nicht entfliehen und beschließt aus Angst vor einem Skandal vor seiner Hochzeit, Wilhelms Forderungen zu erfüllen. Folge 2: über die Möglichkeit, als Hochstapler der Vergangenheit zu entfliehen Die Unmöglichkeit seiner Vergangenheit als Hochstapler und Betrüger zu entfliehen, führt zu einer Krise Straßnoffs. Er beschreibt sich als „willenloses Werkzeug“377 und fühlt sich von allen ihn umgebenden Personen eingeengt. Dies ruft erneut seinen Drang nach persönlicher Freiheit hervor. Wie in der Lebenswelt der bürgerlichen Privatsphäre und der bürgerlichen Arbeit führen auch die Ausbruchsversuche aus der Lebenswelt des Hochstaplers dazu, dass er sich in seinen äußeren Lebensumständen gefangen fühlt. Um seinen aufkommenden Freiheitsdrang zu rechtfertigen, gibt er an, von seinem zukünftigen Schwiegervater und seiner Verlobten so sehr unter Druck gesetzt worden zu sein, dass „sofort [sein] stärkste[r] Widerstand“378 aufkommt und er „große Lust empfand, alles stehen und liegen zu lassen und wegzurennen, so weit mich nur meine Füße tragen würden.“379 Straßnoff beginnt über seine Zukunft nachzudenken: „Je mehr ich über mein zukünftiges Schicksal grübelte, um so schrecklicher, um so unerträglicher erschien es mir.“380 Wilhelm und Dora haben in der Zwischenzeit beschlossen, New York zu verlassen und nach Europa abzureisen. Straßnoff, schwankt „zwischen Bleiben und Gehen“.381 Wilhelm will bei Straßnoff eine Entscheidung herbeiführen und droht erneut damit, seine Vergangenheit seiner Braut gegenüber zu enthüllen. Da verliert Straßnoff „den letzten Halt“, verkauft sein Atelier und die drei nehmen das nächste Schiff nach Europa.382 Nun beginnen die Reisen des Hochstaplers Straßnoffs, die der Professionalisierung hochstaplerischen Handelns dienen. Die Berufung zum Hochstapler wird beispielsweise in Bezug zu seinen Reisen gesetzt, während derer er Weltgewandtheit lernt, die Verhaltensnormen der verschiedenen gesellschaftlichen Schichten verinnerlicht und sich als Hochstapler zunehmend verbessert. Straßnoff professionalisiert zunehmend sein Spiel mit den sozialen Rollen und bleibt gleichzei-
376 Ebd. 377 Ebd., S. 56. 378 Ebd., S. 57. 379 Ebd. 380 Ebd., S. 58. 381 Ebd. 382 Ebd.
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tig immer er selbst. Diese Professionalisierung verdeutlicht er daran, dass er insbesondere über seine körperlichen Reaktionen in den Momenten der Täuschung immer mehr die Kontrolle gewinnt. So zum Beispiel in der Episode, in der er den Namen „Ministerialrat von V ...Y“ annimmt, ohne zu wissen, dass es sich dabei um den Neffen eines Geistlichen handelt, den er täuschen will. Als dieser Straßnoff als seinen Neffen anredet, schildert Straßnoff Folgendes: „Tableu! Mir wurde heiß wie noch nie in meinem Leben. Ich, daß heißt der Ministerialrat, in dessen Namen ich hier auftrete, ein Neffe des Bischofs! Ich hatte wohl mit allen Möglichkeiten gerechnet, aber mit diesem Umstande nicht! [...] Aber zum Nachdenken war hier keine Zeit, da mußte rasch, unverzüglich gehandelt werden, denn schon nach den ersten Worten bemerkte ich einen nichts Gutes kündenden Zug im Gesichte des Greises, schon sah er mir mit einem besonderen Blicke in die Augen, die sowohl Überraschung wie auch Zweifel auszudrücken schienen. [...] Wie ein Blitz durchzuckte mein Gehirn der Gedanke: Hier gab es nur eine einzige Möglichkeit durchzukommen und diese hieß: Suggestion. Und schon hatte ich mich in der Gewalt, nicht ein Muskel regte sich in meinem Gesichte, ich hielt den Blick des Bischofs nicht nur ruhig aus, sondern faßte ihn meinerseits scharf ins Auge, zog die Stirn in Falten, und in einem Tone der Überraschung und des Befremdens sagte ich: ‚Ja, was schaust du mich denn so fremd, so verwundert an, lieber Onkel?‘“383
Die Reisen dienen auch der Flucht aus als unangenehm empfunden Situationen und werden mit ihren Motiven der An- und Abreise dazu genutzt, der Erzählung Struktur sowie einen chronologischen Ablauf zu geben. Darüber hinaus lassen sich die Reisen außerdem als Widerspruch zu den bestehenden gesellschaftlichen Konventionen und Moralvorstellungen charakterisieren. Mittels dieser Reisen und den Erfahrungen an den verschiedenen Orten kann er sich weiter von seiner ursprünglichen bürgerlichen Herkunftslebenswelt emanzipieren und sich in seiner Individualität zeigen. Seine Differenz- und Überschreitungsbestrebungen, die der eigenen Selbstverwirklichung dienen, werden in der biographischen Erzählung als Prozess dargestellt, der sich an den verschiedenen bereisten Orten wiederholt. So kann er verdeutlichen, welche Umstände ihn einengen und welche ihn in seiner Entwicklung unterstützen. Während dieser „Bildungsreise“ lassen sich sowohl widersprüchliche gesellschaftliche Zustände als auch ein hochstapelndes widersprechendes Subjekt finden.
383 Ebd., S. 104-105.
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Folge 3: über die Möglichkeit, als Hochstapler, moralische Grenzen zu überschreiten und betrügerische Absichten zu verfolgen Auf dem Schiff macht Straßnoff unter dem Namen „Graf L.“384 die Bekanntschaft „eines Prager Fräuleins, der hübschen Tochter eines reichen Tuchfabrikanten“.385 Die beiden beabsichtigen, sich zu verloben, und verbringen, nach der Ankunft des Schiffes in Europa, einige Zeit in Hamburg. Auch Dora und Wilhelm nehmen als „Ehepaar Straßnoff“ Logis in Hamburg.386 Straßnoff will „seine Braut nach Hause schicken, da die Fortführung der Komödie für mich keinen Zweck mehr hatte“.387 Er verlässt seine Braut mit Doras und Wilhelms Hilfe unter der Vortäuschung falscher Tatsachen und hinterlässt ihr lediglich einen „Abschiedsbrief“, begleicht die Hotelrechnungen und nimmt sich ein Zimmer in einem anderen Hotel.388 Das Prager Fräulein ist „vernünftig genug, den ihr erteilten Rat zu befolgen und den nächsten nach Prag abfahrenden Zug zu benutzen.“389 Straßnoff begibt sich zum ‚Ehepaar Straßnoff‘ alias Wilhelm und Dora, „um das fernere Reiseziel zu besprechen.“390 Wilhelm plädiert für Berlin als Ziel, Straßnoff hingegen möchte in Hamburg bleiben und „irgendeine passende Beschäftigung finden“.391 Während der Unterredung erfährt er, dass Dora längst darüber Bescheid weiß, dass weder Straßnoff noch Wilhelm adeliger Herkunft sind. Wilhelm erläutert, dass Dora Straßnoff trotz ihres Wissens um seine wahre Identität weiterhin als „Oberleutnant“ anspricht, um dessen „Empfindlichkeit zu schonen.“392 Dora wisse auch, dass sie und Wilhelm nicht heiraten werden: „‚Sie weiß ganz gut, wie es um unsere Heirat bestellt ist, und ist von Herzen froh, nicht eine so zärtlich geliebte Braut zu sein, wie deine liebe Freundin aus Prag. Dora ist von dieser Wendung gar nicht überrascht, denn sie ist viel zu klug, als daß sie das alles nicht schon drüben bemerkt hätte, und wenn sie bis heute geschwiegen hat, so nur deshalb, weil sie in die alte Welt, in der sie sich besser auskennt, zurückgebracht werden wollte. Sie ist übrigens dieses abenteuerliche Leben voll Gefahren nicht nur seit jeher gewöhnt, sie hat es auch lieber, als irgendwo abseits von der Landstraße in einem Kastell junge Hühnchen und Gänse zu züchten und dem Herrn Dorfabt und
384 Ebd., S. 61. 385 Ebd., S. 60. 386 Ebd., S. 61. 387 Ebd. 388 Ebd. 389 Ebd. 390 Ebd. 391 Ebd., S. 62. 392 Ebd.
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dem Herrn Schulmeister jeden Abend zu der Tarockpartie den Tee zu kredenzen. Ein Prachtmädel, das sage ich dir, lieber Freund! Die hat noch eine glänzende Zukunft vor sich!‘“393
Diese Offenbarung über Dora nimmt Straßnoff als Anlass, seine Papiere zurückzufordern, da er seinen „‚ehrlichen‘ Namen zu solchen Dingen nicht mißbrauchen lasse.“394 Straßnoff bleibt in Hamburg und nimmt sich als Graf ein Zimmer bei der Baronin M. am Jungfernstieg. Dort wird er „in die Lage gedrängt“, sich mit der Tochter der Baronin, Baronesse Melanie, zu verloben oder sich „schön langsam aus dem Staube zu machen.“395 Straßnoff aber will nicht heiraten, „nicht einmal zum Spaße“, sondern „nur gut und flott leben, den großen Herren spielen.“396 Er erschleicht sich unter Lügen einen Geldbetrag von der Baronin und begibt sich zu Dora und Wilhelm nach Berlin. Dort stellt ihn Wilhelm als „Graf N.“ einem ungarischen Finanzmann vor und weiht ihn in seine Pläne ein, „die darin bestanden, die Kosten unseres Aufenthaltes durch den alten Herrn bezahlen zu lassen.“397 Straßnoff gelingt es, den Bankier um mehrere tausend Mark zu betrügen. Er verlässt Berlin und reist in Absprache mit Dora und Wilhelm nach Brüssel. Die Reise nach Brüssel habe er unter allerlei philosophischen Gedanken und Betrachtungen verbracht. Straßnoff teilt Dora und Wilhelm mit, dass er sich nun in „gar keine gefahrvollen Experimente stürzen wolle, denn Geld sei genügend vorhanden und ich hätte vorläufig nur den einzigen Wunsch, mein Leben zu genießen.“398 Nach einiger Zeit teilen Dora und Wilhelm Straßnoff mit, dass sie nach London abreisen wollen, da sie „das beschäftigungslose Leben hier derart langweile“.399 Straßnoff beschließt, die beiden zu begleiten. In London trennen sich zunächst die Wege der drei, bis sie „eines Abends durch Zufall wieder“ zusammentreffen.400 Dora teilt ihm mit, dass sie Wilhelm verlassen will. Sie sieht in Straßnoff ihren „einzige[n] aufrichtige[n] Freund“, da er „das Lügengewebe Wilhelms zerstörte“, und bitte ihn, ihr „beizustehen“.401 Straßnoff teilt Wilhelm mit, dass Dora die Trennung möchte. Straßnoff bleibt in London und nimmt seine „frühere Lebensweise des Vergnügens und des Genusses wieder auf.“402 Dora
393 Ebd., S. 62-63. 394 Ebd., S. 63. 395 Ebd., S. 64. 396 Ebd. 397 Ebd., S. 67-68. 398 Ebd., S. 73. 399 Ebd. 400 Ebd., S. 74. 401 Ebd., S. 75. 402 Ebd., S. 76.
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überredet ihn, mit nach Paris zu kommen. Straßnoff gibt seine „diplomatische Karriere“ auf, nicht ohne zuvor sich weitere Geldbeiträge zu erschwindeln.403 In Paris beginnt für Straßnoff eine Phase der Selbstbildung und er verbringt seine „ganze Zeit mit der Betrachtung dieser Sehenswürdigkeiten und Schätze“.404 Dora beginnt sich zu langweilen, weshalb das Paar nach Trouville übersiedelt. Dort langweilt sich wiederum Straßnoff und begründet dies damit, dass er sich in ein Leben, das seinem Geist keine Beschäftigung biete, nicht fügen könne. Das Paar unternimmt eine kurze Reise nach Ostende und Scheveningen, um „mit Beginn der Saison“ wieder nach Paris zurückzukehren.405 Straßnoff gibt an, seine „alte Beschäftigung“ wieder aufzunehmen, und besucht erneut Museen und Sehenswürdigkeiten. Die weitere Erzählung wird inhaltlich von der Beziehung zu Dora bestimmt, die immer mehr zu seiner Komplizin und Geliebten avanciert. Gemeinsam mit Dora erpresst er den Erzbischof von Paris, der Dora „die Beichte und die Absolution durchaus nicht in der Kirche oder der Hauskapelle, sondern in seinem Schlafzimmer erteilen“ wollte.406 Dora, zunächst Straßnoff zufolge schockiert von dem Verhalten des Erzbischofs, willigt dem Vorschlag Straßnoffs, den Erzbischof um „Schweigegeld“ anzuhalten, ein.407 Als ungarischer Graf trifft sich Straßnoff gemeinsam mit Dora und dem Erzbischof in dessen „Privatkabinett“.408 Straßnoff spielt die Erpressung als „Tätigkeit“ herunter, die ihm „ein neues und weites Feld“409 eröffnet: „ich entdeckte da eine wahre Goldgrube, und die reichsten Diamantenminen Transvaals hätte ich hierfür nicht in Tausch genommen.“410 Er übersiedelt mit Dora nach Wien und führt dort ein „wirklich kostspieliges Leben [...], das Geld kam und ging durch meine Hände, als wäre ich irgendein staatlicher Generalpächter gewesen. Braucht ich Geld, so genügte es, zu dieser oder jener Exzellenz oder Eminenz zu fahren, und meine Börse füllte sich wieder mit neuen Noten.“411 Trotz dieser finanziell guten Zeit habe er sich jedoch nicht glücklich gefühlt, er sei missmutig, mürrisch und gelangweilt gewesen. Diesen Zustand begründet er damit, dass er nicht für ein müßiges, beschäftigungsloses Leben geschaffen sei: „ich wollte, ja ich mußte arbeiten, wenn ich nicht geistig verkommen wollte.“412 Da er
403 Ebd., S. 77. 404 Ebd., S. 78. 405 Ebd., S. 79. 406 Ebd., S. 81. 407 Ebd. 408 Ebd., S. 82. 409 Ebd., S. 83. 410 Ebd. 411 Ebd., S. 84. 412 Ebd.
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in Wien keine Beschäftigung findet, bricht er seine Zelte in Wien ab, verlässt Dora und reist zurück nach Budapest. Die Grenzüberschreitungen, die Straßnoff während seiner Reisen unternimmt, dienen in erster Linie der Finanzierung eines Lebensstils, der auf Vergnügen und auf ein Leben im Luxus ausgerichtet ist. Doch am Ende werden auch die Reisen und das luxuriöse Leben als langweilig empfunden, weil Straßnoff sich noch nicht vom bürgerlichen Arbeitsethos gelöst hat. Erneut strebt er eine Rückkehr in die Lebenswelt der bürgerlichen Arbeit an. Doch auch dieser Rückkehrversuch scheitert an seiner Vergangenheit und dem Wissen der anderen darüber. Straßnoff trägt nun das Stigma des Hochstaplers mit sich. Folge 4: über die Möglichkeit, die Hochstapelei als Stigma zu tragen Zu Hause angekommen freut sich seine Mutter, ihn wiederzusehen. Straßnoff berichtet ihr von Zukunftsplänen und davon, „daß ich des unsteten und arbeitslosen Lebens müde sei, daß ich arbeiten und mich von nun an auf ehrliche Weise erhalten wolle.“413 Im Gegensatz zu seiner Mutter, die an seine guten Vorhaben glaubt, sind seine Brüder nicht von seinen ehrenhaften Absichten überzeugt. Doch es gelingt ihm, seine Brüder davon zu überzeugen, dass er „des öden und wirkungslosen Lebens müde sei, [sich] alt genug fühle, [sein] Brot auch auf ehrliche Weise zu verdienen, wenn man [ihm] nur die Gelegenheit dazu böte.“414 Die Brüder beschließen ihn, für „sechs Monate“ aufs Land zu einem Onkel, der auf einem „stillen Dorf“ „Gutspächter“ ist, zu schicken.415 Anschließend soll er bei seinem jüngeren Bruder an dessen Theater als „Sekretär“ arbeiten.416 Mit dieser Vorgehensweise wollen die Brüder Straßnoff angeblich auf die Probe stellen. Diese empfindet Straßnoff als „tatsächlich sehr hart“.417 Zu dieser Einschätzung kommt er, weil er sein bisheriges Leben mit dem auf dem Dorf vergleicht: „Für einen Menschen, der in Budapest erzogen, in New York, Berlin, Paris, London, Brüssel und Wien gelebt hat und noch dazu so gelebt hat wie ich, war es keine Kleinigkeit, plötzlich in die ungarische Pußta verbannt zu sein.“418 Doch er passt sich in das „monotone und öde Dorfleben“ ein.419 Straßnoff vergleicht diese Zeit mit einem „Exil“, in dem er „das Metier des Spiritusbrenners“ erlernt und mit den „Dorfschönen kleine Abenteuer“ erlebt.420 Es ist für ihn eine Zeit
413 Ebd. 414 Ebd., S. 85. 415 Ebd. 416 Ebd. 417 Ebd. 418 Ebd. 419 Ebd. 420 Ebd.
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der „fürchterlichste[n] Langeweile“, die er lernt „mit einer wahren Engelsgeduld [zu] ertragen“.421 Nach diesem als eher trostlos empfundenen Lebensabschnitt tritt er bei seinem Bruder die Stellung als Sekretär an und fühlt sich „wieder glücklich“, weil der Kontakt zu Schauspielern immer sein Ideal gewesen sei: „Hier lebte ich wieder auf, ich war ganz in meinem Element und arbeitete mit Feuereifer.“422 Wie in seinen anderen beruflichen Tätigkeitsbereichen auch ist er so „fleißig und gewissenhaft“, dass er beginnt, Karriere zu machen.423 Er übernimmt die „ganze Administration des Theaters“.424 Er sorgt für einen „bisher noch nie gekannten Überschuß“ in der Theaterkasse und erfährt „die größte Genugtuung“ in seinem Leben: Sein Ansehen steigt „nicht nur vor der Künstlerschar, sondern auch vor der Außenwelt.“425 Straßnoff verknüpft seine konventionelle Lebensweise, er beschreibt diese als sehr zurückgezogen und solide, mit dem Erfolg gesellschaftlicher Achtung. Allerdings betrifft der eher angepasste Lebensstil nicht seine Beziehung zu Frauen: „Ich hatte, als ich mein neues Amt übernahm, keinen Eid zum Zölibate abgelegt, sondern hatte nur versprochen, ehrlich und rechtschaffen zu arbeiten; es darf also niemand überraschen, daß auch mir so etwas zustoßen konnte, was dem Pariser Erzbischof bei der Beichte Doras passiert war.“426 Er beginnt eine Affäre mit Dora, in seinen Augen „das liebenswürdigste Geschöpf, die schönste und lieblichste Soubrette, die es nur überhaupt geben konnte, und ich hätte mit meinen dreißig Jahren aus Stein oder Holz sein müssen, wenn ich ihren verführerischen Reizen, ihrer bezaubernden Schönheit hätte widerstehen sollen.“427 Lange, aber vergeblich, habe er gegen die auflodernde Leidenschaft angekämpft. Seine Gefühle werden von Dora erwidert und das Paar verlobt sich „eines Tages in aller Form.“428 Wie zuvor in der Erzählung wird die Phase einer stabilen Liebesbeziehung mit dem beruflichen Erfolg verknüpft. Straßnoff gibt an, dass es ihm gemeinsam mit seinem Bruder gelingt, in Preßburg das Theater zu übernehmen. Dabei zeigt er nach eigenen Angaben Verhandlungsgeschick und kann durch seine Persönlichkeit überzeugen: „Da war wieder einmal ein Feld für mich, wo ich durch mein Auftreten, durch meine ‚Beziehungen‘ zu den höchsten Kreisen, mit Versprechungen und sonstigen Köder die Wortführer
421 Ebd. 422 Ebd., S. 86. 423 Ebd. 424 Ebd. 425 Ebd. 426 Ebd. 427 Ebd. 428 Ebd., S. 87.
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der Gegenseite für unsere Sache zu gewinnen verstand, und man staunte überall, daß diese eingefleischten Germanen und Magyrenfresser auf einmal der ungarischen Kunst Tür und Tor öffneten.“429
Dora, als Schauspielerin ebenfalls im Preßburger Theater beschäftigt, erobert „die Herzen nicht nur ihres Publikums, sondern sie fand sehr bald viele aufrichtige und sich sehr verliebt gebärdende Verehrer.“430 Diese Verehrer sehen in Straßnoff ihren Rivalen und bringen aus Eifersucht, wie Straßnoff es beschreibt, sein „Vorleben“ ans Tageslicht.431 Straßnoff beschreibt die Zeit in Preßburg rückblickend als eine glückliche Lebensphase, die jedoch vorübergeht, weil ihn seine kriminelle Vergangenheit einholt: „Wenn ich heute an diese glücklichen Zeiten meines Lebens zurückdenke, empfinde ich noch immer ein tiefes Weh, einen schneidenden Schmerz, und bittere Tränen könnte ich weinen über die Vergänglichkeit des irdischen Glückes.“ 432 Den Gang der Ereignisse vorwegnehmend beschreibt er zunächst seine Situation in einem übergeordneten lebensgeschichtlichen Kontext, dem er sich selbst passiv ausgesetzt sieht: „Denn, ach! wie bald sollte ich die traurige Wahrnehmung machen, daß gegen mich sich alle Mächte des Himmels und der Hölle immer wieder verschworen.“433 „Das Unglück“ kommt über ihn, weil seine Schwägerin, selbst Schauspielerin und „Soubrette“, in Dora eine „gefährliche Rivalin“ sieht und damit beginnt, sich selbst „die besseren Rollen zuteilen“ zu lassen.434 Dora drängt Straßnoff jedoch dazu, auch ihr gute Rollen zu verschaffen, was zu Konflikten innerhalb der Familie führt. Hinzu kommt, dass Straßnoff von seiner Schwägerin des Scheckbetruges bezichtigt wird. Einen Betrug, den Straßnoff nach eigenen Angaben nicht begangen hat. Er beteuert seinem Bruder gegenüber seine Unschuld, der ihm auch geglaubt hätte, „aber die Schwägerin hatte alles Interesse, mich unmöglich zu machen, denn so glaubte sie, über meine Braut sehr leicht und einfach triumphieren zu können; deshalb lag sie meinem Bruder in den Ohren und behauptete immer wieder, daß ich den Rest des Geldes für mich verwendet hätte.“435 Straßnoff erkennt für sich, daß es keinen Ausweg aus den Anschuldigungen gibt, weil seine kriminelle Vergangenheit längst zum Stigma geworden ist, das in immer wieder diskreditierbar werden lassen wird. Er verlässt, „ohne von irgend jemandem
429 Ebd., S. 87-88. 430 Ebd., S. 88. 431 Ebd. 432 Ebd., S. 89-90. 433 Ebd., S. 90. 434 Ebd. 435 Ebd., S. 93.
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Abschied zu nehmen, den Ort [seines] erfolgreichen Wirkens.“436 Als weiteren Grund für die Abreise führt er an, dass er nicht die Zerrüttung der Ehe des Bruders gewollt habe. Folge 5: über die Möglichkeit, sich selbst als Hochstapler anzuerkennen Als er am Bahnhof steht, weiß er nicht, wohin er gehen soll. In seinen wiedergegeben gedanklichen Überlegungen dazu stellt er die mondänen Städte seiner bisherigen Reisen den Kleinstädten, in denen er gelebt hat, gegenüber und verbindet sie mit seinem an persönlicher Freiheit orientierten Lebensgefühl: „Sollte ich Budapest, Wien, Berlin, Paris oder London als nächstes Ziel wählen oder aber auf eine weite, weite Auslandsreise gehen? ... Jedenfalls, – nie wieder in diese kleinliche Welt, in diese engen und beengenden Kreise zurück!“437 Wieder gehorcht er dem Zufall, der ihn nach Wien bringt, wo er „einen letzten Versuch machen [will], [sich] ins Lager der anständigen Leute hinüberzuschmuggeln, um irgendwo eine Beschäftigung oder Anstellung zu finden, und mit ehrlicher Arbeit mein Brot zu verdienen.“438 Wie immer, wenn er nicht von seiner Familie unterstützt wird, verläuft die Suche ergebnislos ab, was ihn vom Standpunkt der Erzählzeit nicht wundert: „[…] wer hätte mich denn auch anstellen sollen? Ich hatte weder Zeugnisse, noch Empfehlungen, und so verging ein Tag nach dem anderen mit aussichtslosem Herumlaufen. Dabei hätte ich mich mit der bescheidensten Anstellung begnügt, denn ich brannte vor Begierde, meinem Bruder zu beweisen, daß er mir schon wieder ein großes Unrecht zugefügt hatte, daß er meinen guten Willen, ehrlich zu bleiben, nicht anerkannte, daß er mich unschuldig verdächtigte und daß ich nun in der fremden Welt, bei fremden Menschen mir aus eigener Kraft eine geachtete Position erobern würde.“439
Doch er findet keine Anstellung und seine finanzielle Situation verschlechtert sich zusehends. Als er „ganz verzweifelt über [sein] ewiges Pech“ ist, kommt es zu einem Wiedersehen mit Dora, die ihn „nicht weiter nach seiner Beschäftigung fragt“, sondern mit ihm zusammen in ein Hotelzimmer geht. 440 Dort angekommen hält sie ihm einen „Vortrag“, mittels dessen Straßnoff wieder er selbst wird.441 Dieser Vortrag nimmt eine Schlüsselstelle in der biographischen Erzählung ein, da er zum einen den Lebensstil und die Lebensweise zusammenfasst, für die Straßnoff und Dora sich ent-
436 Ebd. 437 Ebd., S. 100. 438 Ebd. 439 Ebd., S. 100-101. 440 Ebd., S. 101. 441 Ebd.
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scheiden bzw. entschieden haben. Zum anderen führt er dazu, dass Straßnoff sich für eine Lebenswelt entscheidet und im weiteren Verlauf der Erzählung, es zu keinen weiteren Bemühungen mehr kommt, in die bürgerliche Lebenswelt zurückkehren zu wollen. Doras Worte werden von Straßnoff wie folgt wiedergegeben: „Siehst du, lieber Freund, ich habe es ganz bestimmt gewußt, daß wir uns eines schönen Tages wiederfinden werden, denn du hast eben nicht das Zeug in dir zu einem Philister, zu einem griesgrämigen Kleinbürger oder Kaufmann oder Beamten, ebenso wie ich mir nie einbilden werde, daß ich irgendwann eine gute Hausfrau, eine treue Gattin oder eine zärtliche, liebende Mutter werden könnte. Wir können es zwar versuchen, uns aus unseren Verhältnissen, in die wir hineingeboren wurden, hinauszuretten, wir können in jenem Lager der wohlanständigen Bürgerlichkeit kürzere oder längere Zeit auch aushalten, aber eines schönen Tages erwachen wir wie aus einem Traume und finden uns wieder dort, wohin uns das Schicksal vermöge unserer Veranlagung, unserer ganzen seelischen und physischen Konstitution gestellt hat. Du kannst es daher, so oft du nur willst, versuchen, ein ehrlicher Mensch unter anderen ehrlichen Menschen zu werden, du kannst dich dort für längere oder kürzere Zeit auch ansiedeln, aber vergiß nicht, lieber Freund, magst du dein Schuhzeug wo immer und um welch großen Preis immer anfertigen lassen, den Pferdefuß des einmal Eingesperrtgewesenen wirst du auf die Dauer nicht verbergen können; einmal wird ein neugieriges Auge daran haften bleiben, und aus Vorwitz, Neid, Mißgunst, Rache oder kindlicher Naivität wird dein Makel in die große Welt hinausposaunt werden: dann – na, lieber Freund, dann wirst du wieder zu deiner Dora, sei es der jetzigen oder einer anderen, deine Zuflucht nehmen und den einmal eingeschlagenen Weg gemeinsam mit ihr fortsetzen.“442
In den Worten Doras spiegelt sich Straßnoffs bisheriger Lebensweg wieder, der von den Bemühungen gekennzeichnet ist, doch immer wieder den Weg zurück in das Lager der wohlanständigen Bürgerlichkeit zu finden. Der Vortrag enthält außerdem zwei Aspekte, die auf den bisherigen biographischen Verlauf abzielen: Zum einen ist es die individuelle Veranlagung, die seelische und physische Konstitution, die zu einem Willen führen, außerhalb der Bürgerlichkeit zu leben, um der eigenen Entfaltung willen. Zum anderen zeigt sich darin auch, dass Straßnoff nicht seiner bisherigen Lebensgeschichte entrinnen kann, die ihn immer wieder einholen kann. Damit ist eine bürgerliche Existenz ausgeschlossen. Hochstapelei als Bruch mit der bürgerlichen Lebenswelt und als Selbstverwirklichung Die Rekonstruktion der Lebenswelt des Hochstaplers hat gezeigt, dass sich die Hochstapeleien Straßnoffs an gesellschaftlichen Normen orientieren und diese gleichzeitig
442 Ebd., S. 101-102.
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aufbrechen. Nach der Entlarvung der ersten Aktivitäten als Hochstapler bekommt Straßnoff die Folgen seiner grenzverletzenden Handlungen zu spüren. Straßnoffs Bemühungen, doch noch eine konventionelle bürgerliche und tugendhafte Lebensweise zu führen, scheitern zum einen, weil ihn seine Vergangenheit als Hochstapler immer wieder einholt. Zum anderen wird ihm mithilfe von Doras Ansprache bewusst, dass ein Scheitern in der bürgerlichen Lebenswelt aufgrund seiner Veranlagung und seiner gesellschaftlichen Stigmatisierung als einen „einmal Eingesperrtgewesenen“ vorprogrammiert ist. Diese Veranlagung sei ihm in die Wiege gelegt, und weil er gegen dieses mit der Geburt auferlegte Schicksal nichts ausrichten könne, bleibt ihm nur übrig, dieses Schicksal für sein Leben zu akzeptieren. Im Gegensatz zu Manolescu und Domela, die für ihre Wandlungen zum Hochstapler die Gesellschaft in die Verantwortung nehmen, bleibt Straßnoff in der Reflexion seines Lebens als Hochstapler auf sein Einzelschicksal fokussiert. Dieser Individualismus begründet seine Hochstapelei, die der Finanzierung eines Lebensstils dient, der von den gesellschaftlichen Konventionen abweicht und sich in der Lebenswelt des Hochstaplers als Grenzüberschreitungen von der Norm und der Moral zeigt. Letztendlich, so zeigt die Rekonstruktion der Lebenswelt des Hochstaplers, kann er nur mit der bürgerlichen Lebenswelt brechen, um seine egozentrierte Selbstverwirklichung zu vollziehen. Diese Entscheidung gegen die Bürgerlichkeit und für die Entgrenzung führt zu der Selbstreferenz: „[I]ch wurde wieder – ich selbst.“443 In den weiteren biographischen Ausführungen zeigt sich dieses Selbst-Sein dahin gehend, dass nun auch die hochstaplerischen Taten von Straßnoff in vollen Zügen genossen und nicht mehr mit Phasen der inneren Selbstreflexion verbunden werden, weil sie den Lebensstil abseits der Bürgerlichkeit finanzieren. Ist genug Geld vorhanden, agiert er nicht als Hochstapler, sondern genießt als Bohemien sein Leben: „Doch wollte ich vorläufig nichts Neues unternehmen, denn mit Geld war ich noch für längere Zeit versehen und für die fernere Zukunft habe ich mir nie Sorgen gemacht. Ich überließ mich also ganz dem Leben und der Freude, dem Vergnügen und dem Genusse.“444 Straßnoff ist, wie es sich im Titel seiner Biographie bereits ankündigt, nun endgültig: „Ich, der Hochstapler“. Rekonstruktion der biographischen Bewegungen Allen Lebenswelten ist gemeinsam, dass sie auf der Handlungsebene der erzählten Zeit von der Flüchtigkeit des Verweilens in ihnen aufgrund der Rastlosigkeit des Protagonisten geprägt sind. Im Gegensatz dazu lassen sich jedoch für die biographischen Bewegungen Komponenten feststellen, die eine stabilisierende Funktion insbesondere für das Selbst- aber auch für das Weltverhältnis Straßnoffs übernehmen.
443 Ebd., S. 102. 444 Ebd., S. 120.
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Biographische Bewegung als innerer Modus des Subjektes Zunächst ist es das Format der Erzählung selbst, das als Biographie eine typische, bürgerliche Reflexionsart darstellt, um über das eigene Leben zu berichten. Straßnoff folgt überwiegend der Chronologie der biographischen Ereignisse und vollzieht so eine gesellschaftlich anerkannte Form der biographischen Bewegung, indem er die Narration seiner Lebensgeschichte an die Erwartungen an eine Biographie, speziell an eine Hochstapler-Biographie anpasst: Er berichtet über die Gründe, die ihn zum Hochstapler werden lassen, beschreibt die Wandlung zum Hochstapler, das Leben als Hochstapler und die Folgen der Hochstapeleien nach ihren Entlarvungen. In seiner Biographie legt er die Umstände seiner Taten offen, zeigt, wie es ihm gelingt hochstaplerisch zu agieren und wie seine Hochstapeleien, Täuschung, Lügen und Betrügereien entlarvt werden. Straßnoff etabliert in seiner biographischen Erzählung ein biographisches Subjekt, dessen Entwicklung nachvollzogen werden kann. Diese Entwicklungen erfolgen auch, indem die Gegebenheiten in den Lebenswelten im biographischen Subjekt gebunden werden. Dabei stellt es einen individuellen Bezug seines Lebens zu diesen Lebenswelten her und verleiht ihnen eine subjektive Bedeutung. Dieser „innere Modus“, der nach Alheit und Brandt bestimmend ist für Biographizität, rückt die Einzigartigkeit und die Individualität von Straßnoff in den Mittelpunkt seiner biographischen Erzählung (vgl. Kapitel 4.1). Der individuelle Einbezug des gesellschaftlichen Kontextes für Entwicklungsprozesse zeigt sich beispielsweise darin, dass das biographische Subjekt lebensgeschichtliche Phasen thematisiert, in denen es sich den bürgerlichen Konventionen anpassen will und so signalisiert, nach moralischer Läuterung im Sinne normativer Erwartungen zu streben. Der innere Modus wird im Erzählen durch den Ich-Erzähler signalisiert. Diese durchgehende Erzählperspektive erweist sich für die Darstellung der Ereignisse als stabile Konstante. In auktorialer Erzählweise werden lebensgeschichtliche Ereignisse wie die Hochstapelei als Episoden zusammengefasst und kommentiert. So können Welt- und Selbstreferenzen vom biographischen Subjekt hergestellt werden, die sich nicht nur mit der Wiedergabe eigener, sondern auch fremder Rede hergestellt werden können. Mittels der auktorialen Erzählweise sind auch Zeitensprünge auf reflexiver Ebene möglich, die biographischen Ereignissen eine über die erzählte Zeit hinausweisende Relevanz verleihen. So verleiht Straßnoff zum Beispiel dem Tod Selmas eine über das Ereignis selbst hinausgehende Bedeutung für sein weiteres Leben: „Aber heute noch, nach so vielen Jahren, nachdem die Jugend und alle die leichtsinnigen Streiche unwiderruflich dahin sind, auch heute fühle ich mein Herz krampfhaft sich zusammenziehen und meine Augen naß werden, wenn ich an diese Epoche meines Lebens zurückdenke. Ich
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habe unter diesem Schlage furchtbar gelitten. Wie ein kleiner Knabe habe ich geweint, als ich meine Selma auf ewig von mir geschieden sah.“445
Die Selbst-Hervorbringung und -Stabilisierung des biographischen Subjekts wird durch den Ich-Erzähler ebenfalls gewährleistet, indem er Handlungen des biographischen Subjektes und anderer Personen kommentiert, mit Bedeutungen versieht und so Reflexionen von Welt- und Selbstverhältnissen sowohl in der Erzählzeit als auch in der erzählten Zeit suggeriert. Biographische Bewegung als stabilisierende Mobilität Die biographische Bewegung ist außerdem gekennzeichnet von Momenten der An- und Abreise, des Betretens und Verlassens von Lebenswelten. Darin versinnbildlicht sich ein Welt- und Selbstverhältnis des Beides-Wollen, das sich unter dem Aspekt „Mobilität und Stabilität“ fassen lässt: Die konstante Mobilität des biographischen Subjekts drückt gleichzeitig eine Stabilität des Lebensgefühls und der Lebensweise aus. Diese Verquickung von Stabilität und Mobilität zeigt sich insbesondere in den dargestellten zwiespältigen Selbst- und Weltverhältnissen, die das biographische Subjekt auf Handlungsebene eingeht und die meistens dem Muster widersprechender, aber aufeinander bezogener Intentionen folgen. So will sich Straßnoff nicht materiellen Anforderungen unterwerfen, benötigt aber gleichzeitig Geld, um seinen angestrebten Lebensstil finanzieren zu können; er bevorzugt es, viele Frauenbekanntschaften zu schließen, führt aber gleichzeitig mit Dora eine relativ konstante Liebesbeziehung. Biographische Bewegung als Ringen um moralische Integrität Bis zu Doras Monolog ist als biographische Bewegung auch das Ringen um moralische Integrität ein stabiles Motiv der Welt- und Selbstreferenzen, mittels dessen sich Straßnoff zunächst als Schwankender zwischen den Welten inszeniert. Die Moralvorstellungen, mit denen Straßnoff vorgibt zu kämpfen und denen er bis zu Doras Ansprache folgen will, werden im Laufe der Erzählung als Vorwand und Legitimation für Handlungen genutzt. Diese Weltreferenzen auf moralische Normen stehen im Gegensatz zu den Selbstreferenzen, die auf moralische Grenzüberschreitungen ausgerichtet sind. Straßnoff benötigt zur Grenzüberschreitung jedoch den gesellschaftlichen Moralhorizont, ohne den eine Überschreitung nicht möglich wäre. Überschreitungsmöglichkeiten bietet die Hochstapelei, während derer die Verletzung der Moral nur ihm bewusst ist und er das Bekannte, sein stabiles Selbstbild und Weltbild, in einer vorgetäuschten Rolle verbinden kann. So resümiert Straßnoff angesichts einer erfolgreichen Hochstapelei bei einer „greisen Eminenz“446:
445 Ebd., S. 23. 446 Ebd., S. 104.
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„Die Dinge lagen hier so, daß ich den Herrn spielen konnte, und diese Situation habe ich auch weidlich ausgenützt. Nachdem ich es mir bequem gemacht hatte, rauchte ich eine Havanna – schon eine Bischofsmarke – an und überlegte den weiteren Aktionsplan, da meine Pläne, mit denen ich von Wien gekommen war, nun abgeändert werden mußten. Inzwischen brachte man mir mein Souper. Nach den überstandenen Aufregungen, nach der ermüdenden Reise und in dem zufriedenen Behagen, das ich bei dem jetzigen Stande der Angelegenheit empfand, hatte ich tatsächlich gehörigen Appetit, und ich griff auch tüchtig zu, als wäre ich zu Hause. Beinahe begann ich schon selbst zu glauben, daß ich der leibliche Neffe des Neutraer Bischofs war und noch ein aktiver Ministerialrat obendrein. Es hieß jetzt nur, die Situation weidlich auszunützen und vor allem auf der Hut zu sein, um nicht aus der Rolle zu fallen; Familienangelegenheiten durften jedenfalls so wenig wie möglich zur Sprache kommen.“447
Im Gegensatz zu Manolescu, dessen Selbstbild in der Hochstaplerrolle aufgeht, weil er sie durch sich selbst hervorbringt, glaubt Straßnoff nur „beinahe [...] der leibliche Neffe“ zu sein. Hochzustapeln dient zwar auch ihm der Festigung seines Selbstbildes, allerdings eher zur Finanzierung des Lebens als Lebenskünstler, als Bohemien. Das Ringen mit der Moral erweist sich als kontinuierlich eingesetzter roter Faden in den Welt- und Selbstreferenzen, der insofern Auswirkungen auf die angestrebte Realisierung des Selbstverhältnisses gemäß dem Selbstbild hat, als dass es mittels hochstaplerischer Grenzüberschreitungen letztendlich seine eigenen moralischen Vorstellungen entwickelt und nach diesen lebt. Diesem Selbstbild entspricht eine „Lebensweise des Vergnügens und des Genusses“448, ein Leben „frei, ohne Maske“449. Er überlässt sich fern der bürgerlichen Herkunftsfamilie „ganz dem Leben und der Freude, dem Vergnügen und dem Genusse“450 und kann sich „in ein Leben, das meinem Geist keine Beschäftigung bot, nicht fügen.“451 Das erzählerische Vorgehen von Straßnoff, also die Art und Weise, wie der Erzähler narrativ Referenzen zu den einzelnen Lebenswelten, den Ereignissen in der Vergangenheit seines Lebens sowie zu sich selbst herstellt und gestaltet, folgt unter der Komponente „ringen um moralische Integrität“ der Prämisse einer „Stabilitätsnarration“, in der „das Individuum im Wesentlichen durch den Gang der Ereignisse in seiner evaluativen Position unverändert“ bleibt.452 Die Konstanz der „evaluativen
447 Ebd., S. 107-108. 448 Ebd., S. 77. 449 Ebd., S. 69. 450 Ebd., S. 120. 451 Ebd., S. 78. 452 H. Keupp et al.: Identitätskonstruktionen, S. 210. Keupp et al. beziehen sich auf sich auf Gergen, Kenneth J./Gergen, Mary M.: „Narrative and self as relationship“, in: Leonard
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Position“, also seines Selbstbildes, zeigt sich auch darin, dass die biographische Bewegung immer wieder zurück zu Straßnoffs ausgeprägtem Individualismus und den damit verbundenen Willen, von der Norm abzuweichen, zurückkehrt. Biographische Bewegung als Individualismus Dieser Individualismus zeichnet sich durch subjektive Selbstverwirklichungsvorstellungen aus, die zum einen moralische Grenzen überschreiten und zum anderen die moralischen Grenzen benötigen, um sich mittels Abgrenzung von diesen zu definieren. Deshalb zeigt sich in der biographischen Bewegung ein Subjekt, das auf Handlungsebene impulsiv, instinktiv und spontan handelt, und sich damit konträr zu den meisten Personen in den Lebenswelten verhält. Die Mutter zum Beispiel ist in der Erzählung an die Heimatstadt Budapest gebunden, die geistlichen Eminenzen sind in ihren Residenzen verortet usw. Sie handeln für das biographische Subjekt vorhersehbar. Die Spontaneität in der erzählten Zeit verbindet sich auf Erzählebene mit stabilisierenden Aspekten, mittels derer Reflexionsbewegungen zwischen dem einstigen Erleben und dem nachzeitigen Erzählen verdeutlicht werden können. Dazu zählen beispielsweise sich konstant wiederholende Selbstreferenzen, die auf einen Zusammenhang zwischen emotionalen Empfindungen und körperlichen Reaktionen abzielen. So beschreibt er seinen Zustand während einer Hochstapelei bei einem Bischof: „Mein Herz pocht stürmisch, Kälte durchrieselt meinen Rücken, dann schießt mir das Blut zum Kopf hinauf, mir wird auf einmal furchtbar heiß. Das erstemal im Leben fühle ich eine gefährliche Schwäche in solcher Lage; auf einen ähnlichen Gegner bin ich noch nie gestoßen. Doch da zuckt auch schon der Gedanke durch mein Gehirn, daß ich nicht schwach werden darf, daß jetzt nicht die Zeit für Gefühlsduseleien ist, daß hier gehandelt werden muß, oder ich bin in fünf Minuten verhaftet.“453
Straßnoffs biographische Bewegung des Individualismus speist sich auch aus Weltund Selbstreferenzen, die gekennzeichnet sind von Oppositionen und Gegenabsichten, die sowohl das biographische Subjekt als auch die handlungsstützenden Personen in ihrem Handeln und ihren Einstellungen kennzeichnen. Dies zeigt sich zum Beispiel im Aufbau sozialer Bindungen: Straßnoff verlobt sich im Laufe seiner Lebensgeschichte mehrmals mit bürgerlichen Frauen und stellt jedoch, als seine Verlobte Rachel zutreffend eine Affäre seinerseits mit Dora vermutet, verwundert fest: „Es ist doch merkwürdig, daß selbst guterzogene junge Damen einen so feinen In-
Berkowitz (Hg.), Advances in Experimental Social Psychology, New York: Academic Press 1988, S. 17-56. 453 I. Straßnoff: Ich, der Hochstapler, S. 33.
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stinkt besitzen, daß sie sofort Lunte riechen, wenn nicht alles klappt.“454 Die guterzogene Rachel wittert „Verrat, Untreue und Gott weiß noch alles.“455 Ihre Reaktionen werden von Straßnoff genutzt, um seine Entlobung zu rechtfertigen, da sie bei ihm „Druck“ und „Widerstand“ erzeugen.456 Dabei verschweigt er, was auf Handlungsebene offensichtlich wird: Seine Verlobungen mit „jungen Damen“ dienen stets der Verbesserung der eigenen finanziellen Situation und gesellschaftlichen Stellung, stets zeigt sich die Gegenabsicht zur Treue und Ehe in Form von der Bevorzugung freierer Liebesbeziehungen. Biographische Bewegung als handlungsstabilisierende Rollenbesetzung In der Biographie von Straßnoff werden eine „Ideologie von sich selbst“ und ein Identitätsgefühl beschrieben, die sich aus einem narrativen Aushandlungsprozess ergeben. Dieser ist Teil der biographischen Bewegung und zeichnet sich dadurch aus, dass er seine Legitimation über die gegenseitige Versicherung der Bedeutungen von Ereignissen mit anderen erhält. Der Erzähler integriert und reflektiert die Handlungen anderer bezüglich seines eignen Handelns. Um die Kausalität und Stabilität seiner lebensgeschichtlichen Erzählung zu untermauern, verweist er immer wieder auf Personen, deren Interaktionen er schildert und die „bereit sind, die Darstellung der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mitzutragen.“457 Eine dieser Personen ist Dora in der Lebenswelt der Entgrenzten oder seine Schwägerin in der familiären Lebenswelt. Diese „handlungsstützende Rollenbesetzung“458 wird erweitert durch die von Straßnoff beschriebenen Lebenswelten, in denen über Personen berichtet wird, die sich durch gemeinsames biographisches Erleben, Charaktereigenschaften oder Einstellungen auszeichnen. So legitimiert er beispielsweise seine Rolle als bekannter Hochstapler in einer Episode mit folgender Weltreferenz, die er auf die wörtliche Rede eines getäuschten Fabrikanten stützt: „,Entschuldigen Sie vielmals‘, redet er mich an, ‚ich glaube bereits einmal die Ehre gehabt zu haben, oder wäre es nur eine Täuschung ...?‘ ‚Nein, geehrtester Herr, Sie täuschen sich in der Tat nicht‘, erwiderte ich, das Zeitungsblatt aus der Hand legend und ihn fest anblickend. ‚Sie haben tatsächlich einmal bereits die Ehre gehabt, allerdings trug ich bei dieser Gelegenheit eine Uniform. Es handelte sich um ein kleines, saubereres Geschäftchen, bei welchem damals Sie den kürzeren gezogen haben.‘ [...] ‚Und nun, Herr Hoflieferant, wenn Sie wollen, holen Sie die Polizei, ich bin ganz ruhig, wie Sie sehen, werde gar nicht den Versuch machen, zu entfliehen, denn ich will doch
454 Ebd., S. 56. 455 Ebd., S. 57. 456 Ebd. 457 H. Keupp et al.: Identitätskonstruktionen, S. 213. 458 Ebd.
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einmal selbst auf eigene Kosten und Gefahr einem Schauspiel beiwohnen, wie sich so grundehrliche, von Sitte und Moral triefende, mit Orden ausgezeichnete Hoflieferanten bei einer Gerichtsverhandlung ausnehmen, die enthüllen würde, wie Sie den Staat zu betrügen versucht haben.‘ [...] und ich war noch nicht ganz fertig mit meiner Predigt, da packte er mich bei den Händen und bat mich in einem flehentlichen Tone, um Gottes willen doch nicht so laut zu sprechen, er wolle ja nichts von mir haben, was rede ich denn da eigentlich von der Polizei. ‚Ich beschwöre Sie, Herr ... Herr...‘ ‚Sagen Sie es nur ganz frei heraus, Herr Hochstapler ...‘“459
Die handlungsstabilisierende Rollenbesetzung wird auch dazu eingesetzt, um zu zeigen, dass das biographische Subjekt, sich nicht nur aus eigenem Antrieb moralisch verwerflich verhält, sondern sich auch aus guten moralischen Absichten fehl verhält. Dies zeigt sich zum Beispiel während der Schwangerschaft Selmas, die dazu führt, dass sie entlassen wird. Straßnoff erfährt vor Selma von der bevorstehenden Entlassung, verschweigt sie ihr gegenüber und sorgt dafür, dass sie weiter ein Gehalt, bezahlt aus seiner Tasche, erhält. Ein Freund von ihm, der als Kassierer am Theater arbeitet, übersendet das Gehalt in einem Umschlag des Theaters an Selma. „Auf diese Weise gelang die Täuschung vollkommen, und wenn auch Selma öfter der Befürchtung Ausdruck gab, daß sie eines Tages fristlos entlassen werden dürfte, beruhigte ich sie immer, was mir dadurch gelang, daß ihre Gage ihr pünktlich an jedem Ersten zugestellt wurde. Mein Gehalt wurde zwar [...] erheblich erhöht, war aber noch lange nicht hinreichend, um die Gage Selmas zu decken. Da ich aber von meinem Chef, [...], sozusagen als Privatsekretär verwendet wurde, hatte ich nicht nur die ganze Korrespondenz, sondern auch seine Geldangelegenheiten zu erledigen und half mir damit, daß ich vor jedem Ersten mit den Schecks, welche ich für meinen Chef ausschrieb, auch für mich immer einen ausstellte, um auf diese Weise die Gage Selmas decken zu können.“460
Biographische Bewegung als Grenzüberschreitung Die biographische Bewegung zeigt insgesamt, dass Straßnoff seine Hochstapeleien offen legt und sich dabei der Erwartungen, Vorstellungen und Interessen der ihn umgebenden Gesellschaft bedient. So kann er sich in dieser Gesellschaft platzieren und gleichzeitig zeigen, wie und warum er gesellschaftliche Grenzen überschreitet. Insbesondere die Rastlosigkeit seines Erlebnisdranges, seine Gegenabsichten und Oppositionen, die seine biographische Bewegung u.a. bestimmen, begründen, warum er seine bürgerliche Herkunftsrolle überschreiten und sich als hochstaplerischer Lebenskünstler inszenieren will. Straßnoff verbindet in der Art und Weise, wie er sich in und zu den Lebenswelten bewegt, Phasen der Mobilität mit Phasen des Verwei-
459 I. Straßnoff: Ich, der Hochstapler, S. 40-41. 460 Ebd., S. 22-23.
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lens. In dieser paradoxen Dialektik von Dynamik und Verweilen markiert er seine Differenz insbesondere zu der Lebenswelt der Familie und der Lebenswelt der Privilegierten, kann sich in Beziehung zu anderen setzen und seinen Individualismus unterstreichen. Damit wird ein biographisches Subjekt gezeigt, das gegen bürgerliche Moralvorstellungen opponiert, indem es sich aus seiner Andersartigkeit heraus über diese Opposition definiert. Die Anpassungsversuche an die Moralvorstellungen zum Beispiel der Familienmitglieder sind zunächst eine Form der biographischen Bewegung, sich zu den Lebenswelten in Bezug zu setzten. In den dazu reflektierten Selbstverhältnissen werden Versuche der Disziplinierung, der Selbstkontrolle und der gesellschaftlichen Nützlichkeit thematisiert. Die sich anschließenden Selbstbeobachtungen, die auf das Innere des biographischen Subjektes fokussieren, führen jedoch dazu, diese als von außen bestimmten Selbstsetzungen zugunsten der Akzeptanz der eigenen Andersartigkeit aufzugeben. 6.2.3 Rekonstruktion der gebrochenen Bildungsgestalt Straßnoff gibt an, seine Memoiren im Gefängnis geschrieben zu haben – in einem Zustand, den er für sich nicht als erstrebenswert erachtet, befindet er sich doch in Einsamkeit, fern von Vergnügen, Luxus und Geselligkeit. Und obwohl seine Hochstapeleien zum Zeitpunkt der Niederschrift mehr als ein Jahrzehnt zurückliegen, reflektiert er über seine Taten nicht distanziert, sondern lässt die Ereignisse mittels seiner auktorialen Erzählweise wieder lebendig werden. Sein ‚Bekenntnis‘ dient der individualistischen Selbstdarstellung als Lebenskünstler und als ehrbaren Hochstapler. Dieses Selbstbild eines Lebenskünstlers und Hochstaplers aus Berufung wird „im Modus individueller Verarbeitung der sozialen Welt entwickelt“.461 Straßnoff verfügt über biographische Reflexivität und kann seiner Entwicklung zum Lebenskünstler und Hochstapler Kontinuität und Kohärenz im Erzählen verleihen. Er unternimmt als Hochstapler zahlreiche Reisen, während derer Selbstbildung und Selbstdarstellung von Straßnoff im Vordergrund stehen: Wie auf einer ‚Kavalierstour“ besucht er die Sehenswürdigkeiten von Städten und verarbeitete die Erlebnisse während der verschiedenen Reisestationen in einem autobiographischen Bericht. Er berichtet über Begegnungen mit Menschen, Erlebnisse in den verschiedenen bereisten Städten und schildert in diesem Zusammenhang, was ihn bewegt, verärgert oder erfreut. Die Hochstapelei erhält bildungsrelevante Bedeutung, weil sie auch mit der Darstellung von Fähigkeiten, Wissen und Persönlichkeitsmerkmale verbunden wird. Dazu folgendes Beispiel: „Im großen, festlich dekorierten Speisesaal wurden mir die Herren durch meinen Onkel der Reihe nach vorgestellt; ich reichte jedem mit gnädiger Herablassung die Hand, hatte für jeden
461 P. Alheit: Biographie und ‚modernisierte Moderne‘, S. 151.
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eine langweilige, banale Frage – denn je langweiliger und dümmer, um so vornehmer – und das übrige taten die an meinem Fracke befestigten Orden. Bei Tisch war die Stimmung anfangs sehr gedrückt, denn die Herren fanden nicht recht den passenden Gesprächsstoff und der Faden der Unterhaltung drohte mehr als einmal gänzlich abzureißen. Als der Braten und das Wild serviert wurden, da taten mir die Herren schon wirklich leid und ich begann ein Gespräch über die aktuelle ungarische Politik. Dazu kamen noch die guten, feurigen Weine, und in fünf Minuten war die Gesellschaft wie verwandelt. Daß es an ehrenden Toasten, in denen alle meine Verdienste um König und Vaterland in dem hellsten Lichte gezeigt wurden, nicht fehlte, versteht sich wohl von selbst.“462
Straßnoff ist ein Hochstapler, der mit Lust an der Lüge seine Mitmenschen täuscht. Die Lust an der Lüge zeigt sich in der Auskostung der Hochstapelei, der diejenigen zum Opfer fallen, die, gemessen an normativen Moralvorstellungen, die moralisch Guten sind. Straßnoff inszeniert sie in seiner biographischen Erzählung als Bestandteil eines Spiels mit der Wirklichkeit, die er zu beherrschen sucht. Die Wirklichkeit jenseits der Hochstapelei in den bürgerlichen Lebenswelten erweist sich als Sackgasse eines biographischen Subjektes, das sich in der Bürgerlichkeit nicht einrichten will. Die Hochstapeleien ermöglichen ihm, individuelle Charaktereigenschaften, Talente und Lebenseinstellungen in sein gesellschaftliches Handeln zu integrieren und alltagsweltliche Einschränkungen zu suspendieren. Diese Einschränkungen betreffen zum einen monetäre Aspekte und zum anderen unterschiedliche Interessenslagen sowie Erwartungshorizonte, die ihn sowohl in seinem Inneren als auch in seinem sozialen Handeln beeinflussen. Das biographische Subjekt setzt sich in Bezug zu den einzelnen Lebenswelten, wählt aus deren Bezugsystemen aus, wertet und reflektiert diese in Bezug auf seine lebensgeschichtlichen Erfahrungen. Dies gilt auch für die Auseinandersetzung mit seinen Lügen, Täuschungen und Hochstapeleien, die sich am moralisch geprägten bürgerlichen Lügenkanon (vgl. Kapitel 2.2) orientiert und dazu führt, dass es seine Lügen als Notlügen interpretiert, die dem Wohl von Hilfebedürftigen dienen oder ihm selbst aus finanziellen Engpässen helfen. In seinen Reflexionen zeigt sich, dass es der moralischen Gesellschaft, repräsentiert beispielsweise durch seine Mutter und seinen Bruder, bedarf, um sich als Hochstapler als Grenzverletzender und -überschreitender zu erfahren. Gemäß eines adeligen Kavaliers, den er in diversen Rollen vorgibt zu sein, lügt er aus „(Überlebens-)Notwendigkeit“.463 Als Husarenoffizier stilisiert er seine Hochstapeleien zur Kriegslist: Als Ergebnis seines Wissens über gesellschaftlich tradierte und manifestierte Gestaltungsprinzipien kann er die gesellschaftlich geprägten Erwartungshaltungen und konventionelle vertraute Muster sei-
462 I. Straßnoff: Ich, der Hochstapler, S. 112. 463 J. Mecke: Lüge und Literatur, S. 61.
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ner Gegenüber erfüllen (vgl. Kapitel 2.2.4). Lügen, Täuschung und Hochstapelei werden in der Biographie außerdem im Zusammenhang mit neuen Erfahrungen reflektiert und können als das Ergebnis von selbstreflexiven Auseinandersetzungen des biographischen Subjektes mit seinen Welt- und Selbstverhältnissen interpretiert werden. Die Folgen der Hochstapelei werden zum Auslöser für weitere Reflexionen über die Weltverhältnisse in den Lebenswelten und damit über die Möglichkeiten des biographischen Subjektes, sich mit seinem Selbstbild in der Welt zu verorten. In seiner Rolle als Hochstapler kann er sich für kurze Zeit dem Zugriff der Erwartungen an ihn von anderen entziehen und doch Teil der Gesellschaft sein. Seine Lüge, seine Hochstapeleien und seine biographischen Bewegungen zeigen eine Betonung des Individuellen und des Selbst in der Wirklichkeit und in seinen Weltbezügen. Das Selbstverhältnis orientiert sich an einem subjektiv gewollten Stil der eigenen, an individuellen Freiheitsparametern ausgerichteten Lebensweise in den Weltverhältnissen, was eine starke ökonomische Orientierung zur Folge hat, um den angestrebten Lebensstil finanzieren zu können. Die finanzielle Existenzsicherung erfolgt im „Beruf eines Hochstaplers“.464 Mit dieser paradoxen Welt- und Selbstreferenz verweist Straßnoff auf ein grundlegendes Selbst- und Weltverhältnis, das in der Hochstapelei gebunden wird: Die ökonomisch-moralische Wirklichkeit wird konterkariert und gleichzeitig wird sie notwendig, wenn es um die Umsetzung eigener Ambitionen geht. Die Entwicklung zum Hochstapler ist Bestandteil eines Biographisierungsprozesses, in dem Straßnoff in reflexiver Auseinandersetzung mit sich selbst in den Lebenswelten sein Selbst- und Weltverhältnis ordnet und narrativ gestaltet. Diesem Selbstund Weltverhältnis gibt er eine bildungsrelevante Gestalt, das sich als Bildungsgestalt rekonstruieren lässt. Über die Rekonstruktion dieser Bildungsgestalt lassen sich Selbst- und Weltverhältnisse, Welt- und Selbstreferenzen sowie deren Aufrechterhaltungen oder Wandlungen feststellen. Die Bedeutsamkeit der Bildungsgestalt „Hochstapler“ für den Bildungsprozess von Straßnoff zeigt sich dahin gehend, dass die Hochstapelei in das Sinnsystem des biographischen Werdens und Gewordenseins übertragen und gleichzeitig genutzt wird, um ein Selbstbild zu bestätigen sowie zu inszenieren. Diese Wandlung wird als Entwicklungsprozess reflektiert: Am Anfang dieses Prozesses steht ein suchendes Subjekt, das zwischen den Lebenswelten der Bürgerlichen und der Entgrenzten schwankt und wiederholt Zwischenbewegungen unternimmt, um sich zu ändern, sich den gesellschaftlichen Normen anzupassen, allerdings immer unter Beibehaltung seines Selbstbildes. Nach den Zwischen- und Suchbewegungen zwischen Grenzüberschreitungen als Hochstapler und Renormalisierungsversuchen in der bürgerlichen Lebenswelt findet eine Akzeptanz der gesellschaftlichen Außenseiterstellung statt und die Hochstapelei wird
464 I. Straßnoff: Ich, der Hochstapler, S. 10-11.
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vollständig in das Selbstbild integriert und als Berufung aus Veranlagung akzeptiert werden. Im Falle des Biographisierungsprozesses von Straßnoff zeigt sich, dass er kontinuierlich an seinem Selbstbild festhält. Da dieses Selbstbild in der Lebenswelt der Bürgerlichen keine Anerkennung findet und ihn in eine Außenseiterrolle drängt – so ist er beispielsweise das schwarze Schaf in der Familie – gerät sein Selbst-Weltverhältnis in die Krise. Unbedingt will er an seinem Selbstbild festhalten, auch wenn dieses die normativ gesetzten moralischen Grenzen seiner bürgerlichen Herkunftswelt überschreitet. Deutlich trat der die Krise verursachende Konflikt in seinen individuellen Freiheitsbestrebungen, die ein wesentlicher Teil seines Selbstbildes sind, hervor. Sie lassen sich vor dem gesellschaftlichen Erwartungshorizont der bürgerlichen Lebenswelt nur eingeschränkt realisieren. Diese Erfahrung führt zu einer als krisenhaft empfundenen Lebensphase – auch weil sich die individuellen Freiheitsbestrebungen und der damit verbundene Wunsch zur Lebensgestaltung sich nur dann realisieren lassen, wenn Straßnoff die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung stehen. Straßnoff hat also ein (bildungsrelevantes) Problem: Er kann sein eigenes Selbstbild aufgeben und sich den gesellschaftlichen Erwartungen an ihn fügen. Oder er kann an seinem Selbstbild festhalten, in dem Wissen, dass sein weiteres Handeln damit gefährdet ist, bei gleichzeitig bestehendem Handlungsbedarf. Straßnoff findet seine Wandlung der Selbst- und Weltverhältnisse in der Rolle des Hochstaplers. Diese Wandlung vollzieht er aufgrund eines Konfliktes in seinem Welt- und Selbstverhältnis, der sich in der Unauflöslichkeit von Vergesellschaftung und Individualität zeigt. Die Übersicht auf der folgenden Seite fasst die wesentlichen Komponenten der gebrochenen Bildungsgestalt im Biographisierungs- und Bildungsprozess von Straßnoff zusammen:
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Tabelle 4: Komponenten der gebrochenen Bildungsgestalt bei Ignatz Straßnoff „Passé! Nein, heute lockt es nicht mehr, den Beruf eines Hochstaplers auszuüben, wo fast jeder zweite Mann einer ist. Bin ich jetzt wirklich der einzige Anständige unter all diesen Karrieristen, Lügnern, Schwindlern und Verbrechern […]? Wie unanständig diese kleinen Gauner sind! Ich war nie unanständig. [...] Wie ich auch nie allein wegen des Geldes wegen Hochstapeleien beging. [...] Straßnoff ist vor allem ein Kavalier gewesen.“
Individualismus
Weltreferenzen stabilisierende Mobilität handlungsstabilisierende Rollenbesetzung
Interferenzen in Selbst- und Weltreferenzen „Mein Name wirkte Wunder ... Ach! hätte ich nur diesmal, wie schon so oft in meinem Leben, einen falschen Namen benützt! Aber eben darin liegt die Tragik meines Lebens, daß ich mich unter meinem wahren Namen nicht vom Flecke zu rühren vermag, während ich unter falschem Namen noch immer glänzend durchgekommen bin.“
Referenzdimensionen
Selbstreferenzen Ringen um moralische Integrität
biographische Bewegungen als der innere Modus des Subjektes Welt Lebenswelt der bürgerlichen Arbeit und Privatsphäre
Interferenz Interferierende Interessen bezüglich gesellschaftliche Freiheitsbedingungen und individuelle Freiheitsbestrebungen
Selbstbild Hochstapelei zur Verwirklichung des Selbstbildes
Fremdbild Hochstapelei aus Lust am Vergnügen
Interferenz
Selbstverhältnis Die Lebenswelt der Entgrenzten als Ort instabiler Lösungsmöglichkeiten der Konflikte in der bürgerlichen Lebenswelt
Weltverhältnis Hochstapelei zur Realisierung eines adäquaten Lebensstils, Hochstapelei aus Hilfsbereitschaft
Interferenz Hochstapeln als Beruf, über die Möglichkeit, sich als Hochstapler aus eigener Veranlagung anzuerkennen
Integration und Abgrenzung
Lebenswelten
Mensch Lebenswelt der Entgrenzten
Über die Unmöglichkeit, der Vergangenheit als Hochstapler zu entfliehen, moralische Grenzen zu überschreiten, betrügerische und Heiratsabsichten zu verfolgen. Über die Möglichkeit, die Hochstapelei als Stigma zu tragen
„Wir können es zwar versuchen, uns aus unseren Verhältnissen, in die wir hineingeboren wurden, hinauszuretten, […], aber eines schönen Tages erwachen wir wie aus einem Traume und finden uns wieder dort, wohin uns das Schicksal vermöge unserer Veranlagung, […] gestellt hat. Du kannst es […], versuchen, ein ehrlicher Mensch unter anderen ehrlichen Menschen zu werden, […]; aber [...] dann […} wirst du wieder zu deiner Dora, [...], deine Zuflucht nehmen und den einmal eingeschlagenen Weg […] fortsetzen.“
Quelle: eigene Darstellung
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Straßnoff entscheidet sich, an seinem Selbstbild festzuhalten, auch weil er es als Veranlagung und als Fügung des Schicksals interpretiert. Um an seinem Selbstbild festhalten zu können, beginnt er zu lügen, zu täuschen und wandelt sich zum Hochstapler. Diese Bildungsgestalt lässt sich als gebrochen charakterisieren, weil sie das von Konflikten geprägte Selbst-Weltverhältnis, in dem individuelle Selbstverwirklichungsbestrebungen und gesellschaftliche Realisierungsmöglichkeiten interferieren, aufnimmt und neue Handlungsmöglichkeiten für Straßnoff bietet, um an seinem Selbstbild festhalten zu können. Über das Hochstapeln können sich mittels der Täuschung die Weltverhältnisse zu eigen gemacht werden. Straßnoff kann so seinen Konflikt über zwei Strategien bearbeiten. Zum einen bringt er sich als Hochstapler in eine mächtige Position: Er allein weiß, dass er hochstapelt und seine Handlungsfähigkeit auf Kosten anderer erreicht, die Opfer seiner Lügen und Täuschungen werden. Über das Vorspielen einer gesellschaftlich anerkannten Rolle kann er die seiner Selbstverwirklichung widerstrebenden gesellschaftlichen Erwartungshorizonte ignorieren. Diese mächtige Position währt jedoch nur so lange, bis seine Lügen, Täuschungen und Hochstapeleien auffliegen. Zum anderen bringt er sich als Hochstapler bezüglich seines Selbst-Weltverhältnisses in einen Zwischenzustand, der den Konflikt reduziert. Dieser Zwischenzustand, der sich zum Beispiel in der Verdrehung von Schein und Sein im Moment des Hochstapelns zeigt, wirft jedoch ebenfalls bei Entlarvung Folgeprobleme auf. Die Rekonstruktion des Biographisierungsprozesses hat verdeutlicht, dass Straßnoff die Erfahrung macht, dass die gesellschaftlichen Möglichkeiten und seine individuellen Absichten zur Gestaltung seines Lebens im Konflikt zueinander stehen. Dieser Konflikt wird als Diskrepanzerlebnis erfahren und kann als Anlass für seinen Bildungsprozess gewertet werden. Die Konflikte, die vor der Wandlung zum Hochstapler und auch in der hochstaplerischen Lebenswelt aufgrund ambivalenter Interessenserwartungen zustande kommen, treten nicht nur in Interaktion mit anderen Menschen zutage, sondern interferieren im Inneren des der Gesellschaft widersprechenden Subjektes. Die Lösung der sich überlagernden Konflikte besteht darin, sie gegen die Lebenswelt der Bürgerlichen und der Privilegierten einzusetzen, ohne dass diese dieses Vorgehen bemerken. Damit setzen sich die interferierenden Konflikte nicht nur in das Subjekt hinein fort, sondern sie werden auch gebraucht, um das Selbstbild zu legitimieren. Dieser Aspekt der gebrochenen Bildungsgestalt zeigt sich beispielsweise vor der Wandlung zum Hochstapler darin, dass sich das biographische Subjekt als gewollt Entgrenzter darstellt, aber diese Vorstellung von sich selbst gleichzeitig mit dem Wunsch nach sozialer Anerkennung und Bindung verbindet. Talentiert, redegewandt und gebildet sucht sich das biographische Subjekt einen Platz in der Gesellschaft. An dieser Stelle im Biographisierungsprozess springt die gebrochene Bildungsgestalt in die Bresche: Es zeigt sich eine Wandlung im Weltverhältnis, weil das biographische Subjekt als Hochstapler sich mit seinen hochstaplerischen Handlungen im konventionellen Erwartungshorizont handelt, aber zugleich sein Anders-Sein-
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Wollen realisieren kann, weil es mit der Täuschung und der Lüge einen Widerspruch gegen das Konventionelle realisieren kann, ohne dass die Gesellschaft ihm widerspricht. Die gebrochene Bildungsgestalt lässt einen Bildungsprozess kennzeichnen, der auch darin besteht, dass das biographische Subjekt jenes ambivalente und konfliktreiche Spannungsfeld über das Hochstapeln temporär überwindet. In seiner Rolle als Hochstapler geht er eine Wandlung ein, die zwischen dem authentischen Selbstbild und dem vorgetäuschten Fremdbild zirkuliert. Diese Wandlung lässt sich als gebrochene Bildungsgestalt verstehen, da so widerstreitende Interessen und Möglichkeiten hinsichtlich der individuellen Lebensvorstellung sowie gesellschaftlich verankerter Lebensgestaltung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des eigenen Selbstbildes in Balance gehalten werden können. Die Brüchigkeit der Bildungsgestalt zeigt sich bei Straßnoff auch dahin gehend, dass sie seine Handlungsfähigkeit nach seiner Entlarvung zunächst weiter einschränkt, da ihm das Hochstapeln nun als Stigma angeheftet wird. Diese Stigmatisierung führt zu einer erneuten Krise des Selbst- und Weltverhältnisses und zu einer in Fragestellung des eigenen Selbstbildes, welches sich im Biographisierungsprozess zeigte. Trotz dieser Folgeprobleme hält Straßnoff an der Bildungsgestalt des Hochstaplers fest und auch hier zeigt sich ihre Gebrochenheit: Straßnoffs Selbst- und Weltverhältnis ist noch immer das eines Hochstaplers, obwohl er längst nicht mehr außerhalb seiner Biographie als solcher in Erscheinung tritt. Gründe dafür finden sich zum einen in der Entstehungsgeschichte der Biographie: Ein Hochstapler zu sein, kann auch nach Entlarvung und Verurteilung lukrativ sein und zur Sicherung des Einkommens beitragen. Auch auf der Ebene der Biographie wird die Hochstapelei als sichere Einkommensquelle beschrieben. Zum anderen hält er an seiner Rolle als Hochstapler fest, weil sie ihm nach wie vor seine Einzigartigkeit und seinen Individualismus bestätigt. Diese Bestätigung erfolgt in nachgeschichtlicher Betrachtung seiner singulären biographischen Phase nicht mehr über die Abgrenzung zur bürgerlichen Lebenswelt, sondern in Abgrenzung zu anderen Hochstaplern: Vorbei ist die Existenz als Hochstapler nur, weil sie ihm nicht mehr seine Einzigartigkeit bestätigen kann – wie er im Vorwort zu erkennen gibt: „Passé! Nein, heute lockt es nicht mehr, den Beruf eines Hochstaplers auszuüben, wo fast jeder zweite Mann einer ist. Bin ich jetzt wirklich der einzige Anständige unter all diesen Karrieristen, Lügnern, Schwindlern und Verbrechern, die die Cafés und öffentlichen Lokale, Ämter und Bureaus bevölkern? Oft scheint es mir wirklich so. Wie unanständig diese kleinen Gauner sind! Ich war nie unanständig. [...] Wie ich auch nie allein des Geldes wegen Hochstapeleien beging. Ich war Hochstapler aus Passion [...]. Straßnoff ist vor allem nur immer ein Kavalier gewesen.“465
465 I. Straßnoff: Ich, der Hochstapler, S. 10-11.
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Wie Manolescu steht Straßnoff vor seinem Biographisierungsprozess vor der Entscheidung, den Erwartungen von Teilen der Gesellschaft an einen bekennenden Hochstapler zu ent- oder zu widersprechen. Straßnoff folgt den Erwartungen, indem er begründet, warum er zum Hochstapler wurde und gibt klar zu erkennen, das Hochstapeln eine von der allgemeinen Moral abweichende Handlung ist. Allerdings zeigt er keine Reue. So lässt sich eine Integration der gebrochenen Bildungsgestalt Hochstapler in sein Bild von sich selbst auch über das singuläre biographische Ereignis hinausgehend feststellen. Dadurch wird der gebrochenen Bildungsgestalt eine über die biographischen Handlungen als Hochstapler eine mehrdeutige Bedeutung zugeschrieben, die sich bereits auf der Ebene der Welt- und Selbstreferenzen zeigt: Hier grenzt er sich mit seinem hochstaplerischen Handeln von der bürgerlichen Gesellschaft ab, nutzt jedoch deren Semantik, um die Hochstapelei zum Beruf zu erklären. Somit wird die gebrochene Bildungsgestalt gebraucht, um Differenzerfahrungen neu auszulegen, indem sie mit einem bürgerlichen Arbeitsethos verbunden wird. Wie die Ausführungen zur biographischen Bewegung gezeigt haben, verbindet sich darin eine Chronologie des Geworden-Seins mit einem Immer-schon-so-Sein und Immer-so-bleiben-Wollen, die als Selbst-Weltverhältnis zirkulär um das biographische Subjekt kreisen. Im Mittelpunkt steht ein Selbstbild, das sich vor allem auf einen Individualismus als gewollte und gefühlte Lebensweise konzentriert. Sein Individualismus gründet auf dem Überschreiten moralischer Grenzen und braucht diese Überschreitungsperspektiven zur Selbstvergewisserung. Diese Überschreitungen als Ausdruck für das Selbst-Weltverhältnis manifestieren sich ebenfalls in der gebrochenen Bildungsgestalt, da es als Hochstapler sowohl an den gesellschaftlichen Erwartungen auf der Ebene des Scheins entsprechen kann als auch sein Sein damit verbinden kann. Das biographische Subjekt verzweifelt nicht an den Interferenzen in den Lebenswelten. Zu lügen und zu täuschen beginnt Straßnoff, wenn er seine Lebensgestaltung in Gefahr sieht. Damit wird der Schein zum Garanten seines Daseins. Das biographische Subjekt durchläuft einen moralischen Entwicklungsprozess, an dessen Ende es weder seine hochstaplerischen Taten bereut oder aufgrund widriger Lebensumstände rechtfertigt, sondern dessen Selbsterkenntnis und reflexive Bildungsprozesse sich im Wesentlichen um die Aspekte der eigenen Selbstverwirklichung in Momenten der Täuschung und Hochstapelei drehen. Straßnoff distanziert sich auf reflexiver Ebene kaum von sich selbst, sondern bestätigt sich selbst. So etabliert er ein biographisches Subjekt, das „sein eigenes ‚Fundament‘ der Moral dekonstruier[t] und an die Stelle des moralischen Subjektes ein selbst- und weltkonstruierendes Subjekt“ setzt.466 Dieses trotzt der Gesellschaft und erhebt sich programmatisch zum Außenseiter. Es entflieht dem als einengend empfundenen familiären Umfeld in die große weite Welt und in die großen Städte, um sich selbst sein zu können. Durch die Grenz-
466 A. Reckwitz. Die Gleichförmigkeit und die Bewegtheit des bürgerlichen Subjekts, S. 169.
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überschreitungen und ein Leben abseits der gesellschaftlichen Grenzen zeigt sich das Lebensgefühl eines Lebenskünstlers, eines Bohemiens und damit ein „Freiheitsdrang, der den Mut findet, gesellschaftliche Bindungen zu durchbrechen und sich die Lebensformen zu schaffen, die der eigenen inneren Entwicklung die geringsten Widerstände entgegensetzen.“467 In der Biographie von Straßnoff lässt sich ein Bildungsprozess des biographischen Subjektes feststellen, bei dem eine Wandlung eingegangen wird, um sich einer angestammten Lebenswelt entziehen und gleichzeitig das Selbstbild erhalten zu können. Es geht zum Schein gesellschaftliche Interessen und Erwartungen ein, um sein Sein in der Welt zu legitimieren. So konstruiert er sich über das Hochstapeln ein Weltverhältnis, in dem er sich seiner selbst bestätigt. Darin zeigt sich die gebrochene Bildungsgestalt. Die Konflikte, denen sich das Subjekt in den Weltverhältnissen ausgesetzt sieht, setzen sich in das Subjekt hinein fort. Eine Auflösung dieser Konflikte und eine damit verbundene Wandlung können nur gelingen, indem die Orte der Interferenz aufeinanderbezogen werden und in Handlungen münden, die diese Interferenzen binden und damit auch nach außen zum Beispiel in der Rolle des Hochstaplers repräsentiert werden. Diese von Straßnoff vollzogene Wandlung zeigt sich in der gebrochenen Bildungsgestalt des Hochstaplers. Sie gibt einem Bildungsprozess Gestalt, der darauf ausgelegt ist, das Selbstbild zu erhalten und über den Weg von Lügen und Täuschung ein Weltverhältnis zu schaffen, das verbesserte Partizipationsmöglichkeiten in der Gesellschaft ermöglicht. Anhand der Rekonstruktion des Biographisierungsprozesses von Straßnoff wurde deutlich, wie die Konflikte in einen Bildungsprozess einwandern können, die in einer gebrochenen Bildungsgestalt – als Ergebnis des reflexiven Modus des In-und-zwischen-den-Welten-Seins – zum Ausdruck kommen. Diese Bildungsgestalt wird auf der diachronen Ebene des Biographisierungsprozesses genutzt, um Konflikte in den Selbst- und Weltverhältnissen abzuschließen. Sie bindet über ihre Elemente der Lüge und Täuschung widerstreitende Interessen und Erwartungen. Auf synchroner Ebene der Erzählzeit bedeutet die gebrochene Bildungsgestalt eine erneute Reflexion über die biographische Vergangenheit, die davon bestimmt wird, dass die zuvor über die Bildungsgestalt abgewendeten Konflikte weiter bestehen. Sein auf Individualismus gründendes Selbstbild sieht Straßnoff vor dem Schreiben seiner Biographie infrage gestellt, ist doch nun „jeder zweite Mann“ ein Hochstapler. Gleichzeitiges festhalten und Umdeuten der Bildungsgestalt gelingt ihm dadurch, dass er seine Rolle als Hochstapler mit (persönlichen) Eigenschaften ausstattet, die dieser rudimentär entgegenstehen. Als Hochstapler war er „nie unanständig“ und ist er der „einzige Anständige unter all diesen Karrieristen, Lügnern, Schwindlern und Verbrechern, die die Cafés und öffentlichen Lokale, Ämter und Bureaus bevölkern“.468
467 Mühsam, Erich: Unpolitische Erinnerungen, Berlin: Aufbau 2003, S. 19. 468 I. Straßnoff: Ich, der Hochstapler, S. 10-11.
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6.3 HARRY DOMELA: DER BILDUNGSPROZESS EINES GESELLSCHAFTSKRITISCHEN HOCHSTAPLERS Im Folgenden wird die Biographie von Harry Domela „Der falsche Prinz“ ausgewertet. Ziel ist es, zu zeigen, dass Interferenzen in Selbst-Weltverhältnissen nicht dazu führen müssen, dass Wandlungen in Bildungsprozessen unmöglich sind oder im Bildungsprozess selbst verhaftet bleiben, sondern dass mittels Lügen, Täuschen und Hochstapelei andere Weltverhältnisse geschaffen werden können. Diesen Handlungsoptionen des Subjektes geht die Erkenntnis von Welt voraus. Sie können auch Einfluss auf das Selbstverhältnis haben. Innerhalb des Biographisierungsprozesses von Harry Domela über seine singuläre lebensgeschichtliche Phase lässt sich diese Wandlung als gebrochene Bildungsgestalt herausarbeiten, der nachgeschichtlich eine weitere Bedeutung zugesprochen wird, welche die Bedeutung des Hochstaplers in ihr Gegenteil verkehrt und gleichzeitig an ihr festhält. 6.3.1 „Der falsche Prinz“ – Domelas Leben und die Entstehungsgeschichte der Biographie Biographisches Kurzportrait Harry Domela wird 1904 oder 1905 in Grusche (Lettland) geboren. Sein Vater, von Beruf Müller, verstirbt kurz nach seiner Geburt. Seine Kindheit verlebt er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in der kurländischen Stadt Bauske. Während des Ersten Weltkrieges kommt es zur Trennung von seiner Familie. Er tritt 1918 der baltischen Landeswehr bei und führt nach Kriegsende ein Leben als Wanderarbeiter, Obdachloser und Reichswehrsoldat. Außerdem arbeitet er beispielsweise in Erfurt in einer Maschinenfabrik (1922) oder als Hausbursche bei einem Schriftsteller in Berlin (1923). Umtriebig reist er durch ganz Deutschland, immer auf der Suche nach Arbeit und einem Ort, an dem er sich länger aufhalten kann. Auf seinen Reisen kommt er in Kontakt mit den verschiedenen Gesellschaftsschichten: Mal hält er sich im Spielermilieu in Hamburg auf, mal hält er sich der Burschenschaft der Saxo-Borussen auf. Sein größter Coup gelingt ihm November 1926, als er als Baron Korff im Erfurter Hof ein Zimmer bezieht und dort mit Prinz Wilhelm von Hohenzollern verwechselt wird. Domela nimmt die ihm zugeschriebene Rolle an und tritt in der Öffentlichkeit als Kronprinz auf. Im Januar 1927 flüchtet er aus Angst vor seiner Entlarvung über Bonn, Bad Godesberg und Bad Honnef nach Koblenz und will der Fremdenlegion beitreten. Dieses Vorhaben kann er jedoch nicht umsetzen, da er am 8. Januar 1927 verhaftet wird. Bereits seine Verhaftung sorgt für ein reges Medieninteresse: „Die rechtsorientierte Presse versuchte den Fall Domela als eine unbedeutende Hochstapleraffäre abzutun. Die bürgerlichen und die linksstehenden Organe gaben der Oberschicht und dem
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adelsergebenen Bürgertum, die von einem einstigen Freikorpsangehörigen, einem einfachen Wehrmachtsfreiwilligen, einem Land- und Fabrikarbeiter, einem arbeitslosen und vorbestraften Vagabunden düpiert worden waren, die wohlverdiente Zensur. Wie war es möglich, daß so viele Angehörige des Mittelstandes und der Industrie, der Finanz, des Adels und der Hocharistokratie einem so simplen jungen Provinzler auf den Leim gingen! Welche Bescheinigung der hilflosen Servilität, der untertänigsten Unterwerfung!“ 469
Georg Bernhard, Chefredakteur der Vossischen Zeitung, vergleicht schon vor dem Erscheinen der Biographie, Domelas Lebensgeschichte mit einem „herrliche[n] Roman in mindestens zweihundert Fortsetzungsheften“, in dem „diesmal das Leben selbst der Autor“ ist. In seinem Artikel, platziert auf der ersten Seite der Zeitung, bescheinigt er Domela, „der Republik einen Dienst erwiesen“ zu haben: „Denn neben der Gaunerkomödie, die Domela aufgeführt hat, steht die Gesellschafts- und Staatstragödie, [...]. In der Republik sind die Standesgrenzen aufgehoben, und auch die früheren Prinzen haben keinerlei Anspruch auf irgendeine Bevorzugung. Wie kommt also der Oberbürgermeister von Gotha dazu, dem vermeintlichen Prinzen, bloß weil er ein Prinz ist, die Besichtigung der städtischen Einrichtungen freizustellen und ihn herumzuführen, so wie es in der Kaiserzeit mit Angehörigen des königlichen Hauses üblich war? [...] Aber in der Republik kann man sich solche Dinge ungestraft leisten. Und daß das wieder einmal deutlich illustriert worden ist, scheint das Wichtige am Fall des Gauners Domela.“ 470
Im Juli 1927 kommt es zum Prozess in Köln, währenddessen das medizinische Gutachten von Dr. Dickhöfer verlesen wird: „Er attestiert ihm zwar Unstetigkeit und Abenteuerlust, doch nicht minder Liebenswürdigkeit und menschlichen Anstand. Der Arzt meinte, Domela sei ein Opfer seiner Jugend und der traurigen Verhältnisse, in die er hineinwuchs. Zweifellos freue er sich über die große Publizität, die seiner Person zuteil werde, und sei jungenhaft stolz auf seine Taten.“ 471
Das Plädoyer der Verteidigung geht u.a. auf die besonderen Umstände von Domelas Täuschungen ein:
469 Arnau, Frank: Talente auf Abwegen. Alexandre Stavisky. Ivar Kreuger. Serge Rubinstein. Harry Domela, Berlin/Frankfurt am Main/Wien: Deutscher Bücherbund 1964, S. 238. 470 Bernhard, Georg: „Der Geist der Republik“, in: Vossische Zeitung. Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen vom 9. Januar 1927, Herv. i.O. 471 F. Arnau: Talente auf Abwegen, S. 239.
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„Der Verteidiger fährt fort: Gewiß hat der Angeklagte den Prinzen gespielt, aber er hat nichts dazu getan, nichts zur Erregung des Irrtums beigetragen. Er hat lediglich mit sich tun lassen. Eine Vermögensschädigung liegt auch nicht vor, weil die Gesamtwirkungen berücksichtigt werden müssen, der Schaden immer gegen den Nutzen abgewogen werden muß. Und da ist der Nutzen zumindest viel viel größer denn die herausgegebenen 220 Mark. Er hat nichts getäuscht, sondern er hat lediglich eine Täuschung ausgenutzt.“472
Harry Domela wird zu sieben Monaten Gefängnis wegen „Rückfallbetruges“ 473 verurteilt. Die Zeit seiner Untersuchungshaft, in der er seit seiner Verhaftung sitzt, wird angerechnet. Domela wird am 21. Juli 1927 aus dem Gefängnis entlassen. Kurz nach seiner Entlassung erscheinen seine Lebenserinnerungen, die insbesondere bei Schriftstellern, die sich dem linkspolitischen Spektrum zuordnen lassen, auf Resonanz stoßen. Scheinbar aufgenommen in diese schriftstellerischen Kreise veröffentlicht Domela einige Artikel in Zeitschriften und versucht sich als Journalist474, doch: „Von Ossietzky, Tucholsky, Kisch, Kästner, das ganze linke journalistische Spektrum feierte Domela für seinen Prinzenauftritt – als er jedoch seine geistigen Fähigkeiten anbot, reduzierten auch sie ihn auf seine Prinzenrolle. ... Trotz dieses Zuspruchs und intensivem eigenem Bemühen gelang es Domela nicht, eine journalistische Beschäftigung zu finden. Die Gesellschaft von links und rechts sah Domela als Kuriosum.“475
Als das öffentliche Interesse an seiner Person abflacht, tritt er in der Rolle des Prinzen in deutschen Kleinstädten und in Österreich auf. 1929 erwirbt er ein Kino in Berlin, in dem täglich die Verfilmung seiner Biographie mit ihm in der Hauptrolle gezeigt wird. Nach nur drei Monaten muss er das Kino schließen. 476 1933 verlässt Domela aus Angst vor den Nationalsozialisten Deutschland. Neben seiner Homosexualität ist es sein Engagement für die KPD und seine Verbindungen zu den „linken Kräften der Republik“, welche ihn vonseiten der National-
472 Auszug aus dem Plädoyer der Verteidigung vom 12. Juli 1927, in: „Der falsche Prinz“ in Dokumenten der zwanziger Jahre, Anhang zu H. Domela: Der falsche Prinz, S. 269. 473 F. Arnau: Talente auf Abwegen, S. 239. 474 Domela, Harry: „Domela erzählt Neues“, in: Die Weltbühne 24 (1928), S. 892-893; Domela, Harry: „Einen Monat Kinobesitzer“, in: Querschnitt 9 (1929), S. 771-772; Domela, Harry: „Berliner Bilder. Bericht und Zeichnungen von Harry Domela“, in: Die Büchergilde 7 (1931), S. 213-216. 475 J. Kirsten: „Nennen Sie mich einfach Prinz“, S. 48-50. 476 Vgl. ebd., S. 51.
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sozialisten Verfolgung erwarten lässt.477 Einer seiner Freunde, der niederländische Schriftsteller Harry Wilde, sieht in finanziellen Problemen einen weiteren Grund für die Flucht ins Ausland. Domela kämpft gemeinsam mit seinem Freund Jef Last im Spanischen Bürgerkrieg. Rückblickend schreibt dieser der nach der Beförderung Domelas zum Unteroffizier: „Ein Auto kam aus der Richtung Madrid angefahren. Es hielt an und die Tür öffnete such. Ein Offizier stieg aus. Nein, der Offizier stieg aus. Es war die Imagination des Offizieres schlechthin, die Verkörperung militärischer Eleganz und Schneidigkeit. Die Uniform auf den Leib geschneidert, stieg der Offizier Harry Domela aus. In diesem Augenblick begriff ich die Prinzengeschichte besser, als mir alle Erzählungen zu vermitteln vermocht hatten. Wenn man mir gesagt hätte, daß der Sohn des Kronprinzen aus dem Auto gestiegen sei – ich hätte keinen Augenblick daran gezweifelt.“478
Nach dem Zusammenbruch der Volksfront wird Domela verhaftet und in verschiedenen Lagern interniert. Nach der Entlassung aus dem Lager Gurs und sich anschließenden Aufenthalten in verschiedenen Ländern reist Domela schließlich nach Südamerika. In Venezuela arbeitet er für eine Coca-Cola-Fabrik, wird unter einem anderen Namen Lehrer an einer Kunstakademie und verdient sein Geld als „Kunsterziehungs- und Zeichenlehrer“ an der Universität von Maracaibo.479 Harry Domela vermeidet den Kontakt zu anderen Exilanten und hat wahrscheinlich bis zu seinem Tod, dessen Datum nicht bekannt ist, Angst davor, dass jemand seine wahre Identität entdeckt und ihn als „falschen Prinzen“ identifiziert. Sein Leben in inkognito ist auch dadurch motiviert, dass er seit seiner Kindheit über keinen Pass verfügt; Domela ist ein Staatenloser. Rückblickend schreibt er dazu an seinen Freund Jef Last: „Obwohl man mir wiederholt die venezolanische Staatsbürgerschaft angetragen hat, habe ich immer wieder, wenn auch schweren Herzens, ablehnen müssen. Der wunde Punkt meiner Existenz ist nach wie vor meine Staatenlosigkeit und die daraus resultierende Unmöglichkeit, mir
477 Ebd., S. 53. Dazu auch Kirsten: „Schon Domela hatte in seinem Buch darauf angespielt, daß ihn die Obdachlosen mit dem Namen ‚Prinz‘ anredeten. Seine ganze Ausstrahlung, die eine natürliche Vornehmheit zum Ausdruck brachte, mag ebenso eine Rolle dabei gespielt haben wie seine Homosexualität, daß er diesen Kosenamen gern annahm. […] In der falsche Prinz verschweigt Domela seine Homosexualität, da diese in der Weimarer Republik nach dem § 175 strafbar war.“ J. Kirsten: „Nennen Sie mich einfach Prinz“, S. 45. 478 Jef Last zitiert in ebd., S. 58. 479 Ebd., S. 71.
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die Papiere und Unterlagen zu beschaffen, die man überall in der Welt benötigt, um in Ruhe und Frieden leben zu können, auch hier in Venezuela.“480
Die Entstehungsgeschichte der Biographie Harry Domela geht in seiner populärsten Rolle als Prinz Wilhelm von Preußen in die Geschichte der Hochstapler ein. Seine Autobiographie „Der falsche Prinz. Leben und Abenteuer von Harry Domela“ schreibt er während seiner Haftzeit 1927.481 Das Buch wird im gleichen Jahr in sechs Auflagen (insgesamt verkaufen sich 122.000 Exemplare innerhalb eines Jahres) im Malik-Verlag in Berlin veröffentlicht und in mehrere Sprachen übersetzt.482 Uneinigkeit besteht in der Sekundärliteratur darüber, inwieweit die Biographie von Domela tatsächlich selbst verfasst wird. Claßen moniert die Angabe Domelas, er habe sich mit der Niederschrift des Buches die Monate der Untersuchungshaft verkürzt,483 und sieht darin eine gewaltige Übertreibung: Sie geht davon aus, dass Domela in dieser Zeit seine lebensgeschichtlichen Daten lediglich „chronologisch geordnet, jedoch noch nicht literarisch ausformuliert“ hat.484 Die Formulierungen seien in einer ersten Fassung von Domelas Anwalt von der Heyden übernommen worden, der einen Vertrag mit dem Malik Verlag ausgehandelt habe. Aus dem Gefängnis entlassen sei Domela zum Verlag gegangen und habe sich darüber beschwert, dass „das von seinem Pflichtverteidiger verfasste Manuskript nicht seinen Vorstellungen entspreche.“485 Der Malik Verlag prozessiert daraufhin erfolgreich gegen von der Heyden und veröffentlicht eine neue Biographie. Dies stellt Claßen als das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen Herzfelde und Domela dar, während derer Herzfelde „dem Hochstapler [kurzerhand] unter die Arme [greift]“.486 Dieses Unterdie-Arme-greifen führt bei Claßen zu folgender Feststellung: „Sicherlich hat Wieland Herzfelde wesentlich zur literarischen und stilistischen Qualität der Lebenserinnerungen beigetragen und den Bildungsgrad des Hochstaplers indirekt angehoben. Es stellt sich die Frage, ob das kulturelle Interesse und die Belesenheit, die Domela in dem Buch an den Tag legt, nicht vom Co-Autor Herzfelde stammen.“487
480 Domela zitiert in ebd., S. 72. 481 Ich beziehe mich auf die von Stephan Porombka herausgegebene Ausgabe: Der falsche Prinz. Leben und Abenteuer von Harry Domela, Berlin: Bostelmann & Siebenhaar 2000. 482 Vgl. J. Kirsten: „Nennen Sie mich einfach Prinz“, S. 5 und S. 43. 483 Vgl. H. Domela: Der falsche Prinz, S. 307. 484 I. Claßen: Darstellung von Kriminalität, S. 133. 485 Ebd. 486 Ebd., S. 134. 487 Ebd.
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Auch Porombka vertritt die Ansicht, dass an der Biographie mindestens drei Verfasser beteiligt gewesen sind: Domelas Anwalt von der Heyden, Wieland Herzfelde, der Verleger und Domela selbst.488 Er stimmt in den Kanon von Claßen über den Bildungsgrad von Domela mit ein und legt dabei den Fokus auf dessen politische Bildung, über die Domela nicht selbst verfügt habe. Sie sei das Interesse anderer, das im Roman zum Ausdruck komme: „Zusammengenommen läßt das Domelas Lebensgeschichte zu einem Wandlungsroman werden, an dessen Anfang der arme Harry stand, in dessen Mitte der falsche Prinz auftrat und an dessen Ende die Genossen halfen, aus Domela einen Helden im Kampf gegen den Faschismus zu machen.“489 Kirsten kritisiert Porombka dahin gehend, dass er mit dieser Aussage Domela jegliche eigenständige politische Entwicklungsfähigkeit abspreche und ein vorgefertigtes Urteil über ihn fälle.490 Als Ausgangspunkt für die konstatierte eingeschränkte Autorschaft nimmt Claßen eine Anmerkung von Herzfelde aus dem Nachwort der Ausgabe von 1979, in der dieser schreibt, dass „Domela und ich Tage und Nächte das ‚Rohmaterial‘ Satz für Satz inhaltlich und stilistisch berichtigten.“491 Darin bestätigt sich für Claßen, dass mit dem „Rohmaterial“ eine chronologische Aufbereitung gemeint sei. Auf die zuvor von Herzfelde erfolgte eidesstattliche Erklärung über die alleinige Autorschaft Domelas geht sie jedoch nicht ein. Aus dieser zitiert Kirsten in seiner Publikation: „Kurze Zeit darauf befand sich Herr Domela auf freiem Fuß und kam nach Berlin in den Verlag. Dort habe ich das Manuskript Satz für Satz mit ihm durchgesehen und ihn jeweils gefragt, ob er, Domela [...] den Satz geschrieben habe, oder ob es sich um eine Abänderung oder Ergänzung durch Herrn von der Heyden handle. Ich verfolgte dabei, ebenso wie Domela, die Absicht, nur das zu veröffentlichen, was als Arbeit Domelas zu bezeichnen war. Die Stellen zu streichen, die nicht von Domela, sondern von Herrn von der Heyden herrührten, war verhältnismäßig leicht, denn Domela schrieb einen ganz anderen Stil als Herr von der Heyden.“ 492
Dieser Schreibstil Domelas findet sich auch in seinen Briefen an Jef Last wieder, die im „International Instituut voor Sociale Geschiedenis“ in Amsterdam archiviert werden. Übereinstimmend mit Kirsten, dem wie mir dieser Briefwechsel zur Verfügung steht, komme auch ich zum dem Schluss, dass an der Autorschaft Harry Domelas an seiner Biographie nicht zu zweifeln ist. In einem seiner Briefe berichtet Domela über
488 S. Porombka: Nachwort, S. 254ff. 489 Ebd., S. 262. 490 J. Kirsten: „Nennen Sie mich einfach Prinz“, S. 79. 491 Herzfelde zitiert in I. Claßen: Darstellung von Kriminalität, S. 133. 492 Herzfeldes eidesstattliche Erklärung findet sich in Auszügen in J. Kirsten: „Nennen Sie mich einfach Prinz“, S. 43.
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seine Art und Weise zu schreiben. Anlass dafür ist der Vorschlag Lasts ein weiteres Buch diesmal über sein Leben nach der Hochstapelei zu verfassen. Domela schreibt: „Was Du von dem Plan eines Buches schreibst, würde sich mit meinen Ideen decken. Allerdings, ob es eine Selbstbiographie im strengsten Sinne des Wortes würde, das ist eine Frage, die ich jetzt nicht beantworten kann; denn ehrlich gesagt, habe ich absolut keine klare Vorstellung, wie die Sache sich fertig ausnehmen wird. (Ich wünschte, sie wäre fertig!) Du entwirfst einen Roman und schreibst ihn herunter. Für mich ist das Schreiben ein Tasten. Auch als ich mein erstes Buch anfing, habe ich nicht gewußt, was mir da unter der Feder entsteht.“493
Als weiteren Beleg dafür, dass Domela der Verfasser der Biographie ist und nicht nur seine Lebensgeschichte dem Schreiben anderer überlassen hat, führt Kirsten ein Zitat von Harry Wilde an: „Es ist später viel herumgerätselt worden, ob das Manuskript des Buches tatsächlich aus seiner Feder stamme. Da ich ihn aber nicht nur als Prinz Lieven, sondern auch als Harry Domela kennenlernte, bin ich überzeugt, daß er selber der Autor war und das Buch völlig allein im Gefängnis schrieb. Er war nicht nur als Maler hochbegabt, sondern auch literarisch sehr gebildet. Wäre er nicht in die Strudel des Krieges gerissen worden, hätte er wahrscheinlich eine Akademie besucht und vielleicht Karriere als Maler gemacht. Er war in der Tat ein Musterbeispiel dafür, daß der Krieg nicht nur Menschen tötet, sondern auch Begabungen zerstört.“494
Ich folge – auch aufgrund der mir vorliegenden Briefe und des weiteren Lebensverlaufs von Domela – der Einschätzung Kirstens, dass Harry Domela der Autor seiner Biographie ist. Harry Domela gelingt ein Bestseller der Weimarer Republik. Nach seiner Entlarvung und Gefängnisstrafe avanciert Domela mit der Publikation seiner Autobiographie zu einem „der ersten, wen nicht dem ersten deutschen Medienstar“.495 Seine „Leben und Abenteuer“ werden mit ihm in der Hauptrolle verfilmt, weitere Engagements als Schauspieler folgen.496 Das Buch inspiriert unter anderem Thomas Mann
493 International Instituut voor Sociale Geschiedenis/Brief von Harry Domela an Jef Last, Antwerpen, 30. Oktober 1939. 494 Harry Wilde zitiert in J. Kirsten: „Nennen Sie mich einfach Prinz“, S. 46. 495 Ebd., S. 6. 496 Der Film trägt den Titel „Der falsche Prinz. Eine Zeitkomödie in 7 Akten“ und wurde 1927 von Heinz Paul gedreht. Er gilt als verschollen. Domela spielte in Bad Kudowa den Leutnant Karl-Heinz im Stück „Alt-Heidelberg“ von Wilhelm Meyer-Förster, in Leipzig eine Rolle in „Seine Durchlaucht“ und in Berlin in der Revue „Die ganze Welt lacht“. Vgl. J. Kirsten: „Nennen Sie mich einfach Prinz“, S. 43-44.
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für seinen Felix Krull und stößt auf Rezeption und Zuspruch bei überwiegend linkspolitischen Intellektuellen wie Tucholsky, Kisch, Kästner oder Ossietzky. Über diese Verbindung wird Domela von der „Roten Hilfe“ der KPD für Auftritte als „Prinz“ engagiert, der die Hohenzollern ihrer Lächerlichkeit preisgibt. „Die KPD hütete sich jedoch, diesen ‚unsicheren Kantonisten‘, der im Ruch eines schnöden Betrügers stand, in ihre Reihen aufzunehmen.“497 Folgt man den Überlegungen Kirstens, der sich intensiver mit dem Leben Domelas nach dessen Entlarvung als Hochstapler beschäftigt, sind die Auswirkungen des Verkaufserfolges von Domelas Biographie für dessen weiteres Leben folgenschwerer als die Episode der Hochstapelei selbst. Die Popularität Domelas in Deutschland rührt aus den hochstaplerischen Rollen und der damit verbundenen Offenlegung gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Biographie ermöglicht Domela jedoch nicht, sich von der Rolle des Hochstaplers zu befreien, führt nicht dazu, dass er einen Pass erhält, sondern verfolgt ihn bis Venezuela: Paradoxerweise ist es nicht die Angst vor der Entlarvung, ein Hochstapler gewesen zu sein, sondern die Angst vor der Entlarvung Harry Domela zu sein, die ihn – so zeigen es seine Briefe – alltäglich begleitet zu haben scheint. 6.3.2 Rekonstruktion des Biographisierungsprozesses Konflikte in den Lebenswelten vor der Wandlung zum Hochstapler Harry Domela verortet einen wesentlichen Teil seines biographischen GewordenSeins vor der Wandlung zum und während seiner Zeit als Hochstapler in den von ihm betretenen Lebenswelten im historischen Kontext des Ersten Weltkriegs in der Kaiserzeit sowie in der Nachkriegszeit der Weimarer Republik. Domela ist „noch keine zehn Jahre alt“ als „der Erste Weltkrieg“ ausbricht.498 Es ist für ihn eine Zeit, in der sein „Denken wach wird“, er jedoch noch nicht ahnen kann, „welche Hölle“ ihn erwartet.499 Mit dieser Vorwegnahme der kommenden Ereignisse zu Beginn seiner Biographie stellt er seine persönliche Entwicklung in das alle Lebenswelten überschattende Konfliktfeld des Ersten Weltkrieges und dessen politischen, gesellschaftlichen und individuellen Folgen. Er zeichnet eine an die Lebenswelten gebundene Entwicklung auf, in der sich die historischen Ereignisse, politischen und gesellschaftlichen Veränderungen konfliktreich für das Untereinander und Miteinander der Menschen zeigen. Domela skizziert eine Gesellschaft im Wandel, deren Widersprüche sich in das Subjekt hinein fortsetzen und denen es begegnen muss, will es denn handlungsfähig bleiben. Diese Handlungsfähigkeit geht Domela vor der Wandlung zum Hochstapler immer weiter verloren.
497 Ebd., S. 48. 498 H. Domela: Der falsche Prinz, S. 7. 499 Ebd.
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Im Gegensatz zu Manolescu und Straßnoff, die ihre Wandlung zum Hochstapler eigeninitiativ auf Basis ihrer sich selbst zugeschriebenen Genialität vorantreiben und sich Lebenswelten aussuchen, in die sie hinein möchten oder von denen sie sich abgrenzen möchten, stellt sich für Domela erst gar nicht die Frage, in welche Lebenswelt er vor der Wandlung zum Hochstapler gehen möchte, ihm passieren sie. Zusammenfassend kennzeichnet alle Lebenswelten vor der Wandlung zum Hochstapler „die Erfahrung verhinderter Erfahrung“500 aufgrund der gesellschaftspolitischen Umstände. Den Auswirkungen dieses Konfliktfeldes in seinen vielfältigen Nuancen auf das Leben von Harry Domela kann man in seinen biographischen Ausführungen auf die Spur kommen. Sie stellen den Schwerpunkt für die Rekonstruktion der Lebenswelten „Jugendjahre“, „Arbeit“ und „Auf der Straße“ dar. Lebenswelt: Jugendjahre Diese Lebenswelt wird bestimmt von gesellschaftlichen Veränderungen, die Einfluss auf Domelas persönliche Lebenssituation haben und denen er sich fremdbestimmt ausgesetzt fühlt: Wegen des Krieges und dessen Folgen kann er mögliche institutionelle Bildungswege nicht beschreiten, stellt sich als Soldat in den Dienst der Gesellschaft, gilt aber am Ende des Krieges als „Hochverräter“ 501, der seine Heimat und seine Familie verlassen muss. In dieser Lebenswelt erfährt Harry Domela Formen körperlicher und seelischer Misshandlungen. Außerdem werden seine Herkunft, sein Bildungswille und seine Individualität missachtet. Insbesondere diese Misshandlungs- und Missachtungserfahrungen sowie insbesondere die fehlende Anerkennung in Form sozialer Wertschätzung seiner Person führen am Ende der biographischen Erfahrungen in dieser Lebenswelt zu einer Infragestellung des Lebenssinns und zu existentiellen Ängsten, die sich in die weiteren Lebenswelten übertragen. Diese konfliktreichen Lebensumstände und die Lösungsversuche, mit den Konflikten umzugehen, haben Auswirkungen auf das Selbst- und Weltverhältnis. Konflikt: Stigmatisierung und Misshandlung von Körper und Seele Im Jahr 1915 wird Domela infolge des Kriegszustandes von seiner Familie getrennt. Domela besucht seinen in Riga lebenden Bruder. Während dieses Aufenthaltes wird sein Heimatort Bauske von der deutschen Armee besetzt, was eine Rückkehr zur Familie verhindert. Auch der Bruder kann sich nicht um Harry Domela kümmern, weil er zum „russischen Heeresdienst einberufen“ wird.502 Deshalb wird Harry gemeinsam mit anderen Flüchtlingskindern in einem „städtische[n] Asyl“ untergebracht.503
500 L.A. Pongratz: Kritische Erwachsenenbildung, S. 103. 501 H. Domela: Der falsche Prinz, S. 13. 502 Ebd., S. 7. 503 Ebd.
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Aufgrund seiner deutschbaltischen Nationalität, seiner bürgerlichen Herkunft und seiner physischen Konstitution erfährt Harry im städtischen Asyl Formen körperlicher und seelischer Misshandlungen: „Der Umschwung der Dinge in meinem jungen Leben war fürchterlich: zu Hause in einem stillen, soliden Bürgerhaus auferzogen, von der gütigen Mutter betreut, und jetzt den Händen von Wüterichen preisgegeben, die mich und die andern Jungen wie das liebe Vieh behandelten.“504 Harry erzählt, dass es im Asyl nur den „allernotwendigsten Unterricht“ gibt: „Er wurde von Handwerksmeistern in den Morgenstunden erteilt, während sie nachmittags die älteren Zöglinge in ihren Werkstätten verwandten. Da ich diesen Unterricht nicht mehr brauchte, wurde ich während der Lehrstunden mit Holzsägen und ähnlichen Arbeiten beschäftigt. Da ich von Natur ziemlich schwächlich bin, bewältigte ich selten die vorgeschriebene Menge.“505
Weil Domela sein Soll an Arbeit nicht erfüllt, wird er bestraft: Er bekommt nichts zu essen, wird geschlagen oder eingesperrt. Seine bisherige „Erziehung in den Elementarfächern“, seine bürgerliche, deutschbaltische Herkunft führen zu einer Ausgrenzung seitens der anderen Kinder, die in dem Asyl leben. Harry Domela wird stigmatisiert und ist „bei Russen und Letten maßlos gehaßt“.506 Zwischen „Zöglingen und Lehrern [herrscht] der erbittertste Kriegszustand“, der sich auf die Hierarchie in der Gruppe überträgt, an deren Spitze die körperlich Stärksten stehen.507 Domela wird von seinem „Zuchtmeister“ körperlich misshandelt: „Niemand kümmerte sich darum. Als schließlich doch der Arzt gerufen wurde, war ich nur noch durch eine Operation zu retten.“508 Seine Verletzungen sind so schwer, dass er seitdem auf dem rechten Ohr taub ist. Der Alltag im Asyl ist geprägt von Gewalterfahrungen und Hunger. Um Nahrung zu finden, reißt Harry aus. Bei seiner Rückkehr wird er wieder verprügelt. Er widersetzt sich dem Hausvater „[w]ie ein Wahnsinniger“ und wird deshalb für „besonders bösartig“ gehalten.509 Ein Lichtblick bietet sich ihm im Frühjahr 1917, als er aufgrund einer Blinddarmoperation eine Zeit lang im Krankenhaus bleibt. Dort kommt Professor Girgenson an sein Krankenbett und erkundigt sich nach seinem Befinden. Harry berichtet ihm von seinem Leiden im städtischen Asyl: „Er fragte mich – anscheinend hatte man es beim Baden bemerkt –, wovon ich denn am ganzen Körper so blutig geschlagen sei. Ich gestand alles: wie viehisch ich in der Anstalt behandelt
504 Ebd., S. 8. 505 Ebd., S. 7. 506 Ebd., S. 7-8. 507 Ebd., S. 8. 508 Ebd. 509 Ebd.
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worden sei, wie die anderen Jungens zu leiden hätten …. Es tat mir wohl, diesem Manne mit dem menschenfreundlichen Blick meine Leidenszeit einmal beichten zu können. Je mehr ich von meiner zweijährigen Leidenszeit erzählte, desto ernster wurde der gütige Mann.“510
Die Leidensgeschichte von Domela wird von Professor Girgenson anerkannt und führt zu einer Verbesserung der Situation im Asyl: Bei der Rückkehr Harrys hat die Heimleitung gewechselt. Pastor Deters, ein „Mann mit grundgütigen Augen in einem Kindergesicht“, betreut nun die Kinder und führt Harry „auf den richtigen Weg“.511 Domela erfährt Anerkennung für sein Leiden und darüber auch die Achtung seiner Person: „Gleich umgab er mich mit einer Fülle von Liebe, als ob er geahnt hätte, daß ich ihrer am meisten bedürfte.“512 Er findet in Pastor Deters einen Lehrer, der ihn sieht, der mit ihm durch die „Rigaer Hügellandschaft“ wandert und ihn im klassisch humanistischen Sinne Bildungserlebnisse bietet: „Er öffnete meinen Blick, zeigte mir die Kultur der Römer und Griechen, des Westens und des Ostens, und enthüllte mir so eine unbekannte Welt der Vergangenheit. Er gab mir Bücher, die meinen Gesichtskreis weiten sollten.“513 Die Begegnung mit diesem „Menschenfreund […] und Jugenderzieher“ führt dazu, dass ihm „die Heimat, Mutter und Elternhaus in Nebelferne“ rücken.514 Konflikt: fremd in der eigenen Familie Erneut sind es die Kriegsereignisse, die zu einer Veränderung in Harrys Leben führen: Im Herbst 1917 wird Riga von den deutschen Truppen erobert und Harry kann und muss nach Bauske zu seiner Familie zurückkehren. „Damit endete das innige Zusammenleben mit Pastor Deters.“515 Zu Hause angekommen stellt Harry fest, dass sich die Nebelferne bestätigt und er sich in seiner Familie fremd fühlt: „Als ich zu Hause ankam, erlebte ich eine Enttäuschung: Mutter und Brüder – wir waren uns fremd geworden.“516 Sowohl die Mutter als auch die Brüder gehen aus Harrys Sicht mit seinen Erfahrungen vor der Rückkehr in die Familie falsch um. Die Mutter sei übertrieben sorgsam: „Die Mutter sah in mir den kleinen Jungen, der ich meinem Alter von dreizehn Jahren nach auch war, packte mich sorgsam in Watte und behandelte mich als Nesthäkchen.“517 Von seinen Brüdern fühlt er sich verkannt, sie schätzen ihn „launisch“ und „duckmäuserisch“ ein, „ohne zu ahnen, wieviel Furchtbares ich die
510 Ebd., S. 8-9. 511 Ebd., S. 9. 512 Ebd. 513 Ebd. 514 Ebd. 515 Ebd. 516 Ebd., S. 9-10. 517 Ebd., S. 10.
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Jahre hindurch erlitten hatte. So wurde mein Verhältnis zu ihnen immer frostiger.“518 Im Spannungsfeld zwischen der übertriebenen Sorge der Mutter und der Ignoranz durch die Brüder sieht Harry als einzigen Ausweg den Rückzug auf sich selbst: „Schließlich zog ich mich ganz auf mich selbst zurück. Immerhin blieb mir ein Jahr jede äußere Aufregung erspart, so daß ich meine Ausbildung in den Elementarfächern fortsetzen konnte.“519 Nach diesem Jahr kommt es mit der deutschen Revolution und dem „Einmarsch der Bolschewiken“ zu weiteren einschneidenden Erlebnissen in Harrys Lebensgeschichte:520 „Nun sollte ich Furchtbares erleben. Meine Brüder waren alle geflohen: ich war mit der Mutter allein zurückgeblieben.... Nun kam der Bolschewismus und zugleich die Vergeltung für jahrhundertelange Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Bald begannen Haussuchungen, auch bei uns. Grauenhaftes geschah in den Wintermonaten des Jahres 1918-1919.“521
Als im Frühling 1919 „die Bolschewiken von dem Freikorps Brandis ... überwältigt“ werden, tritt Harry mit 14 Jahren der baltischen Landeswehr bei. 522 „Ein neues Leben!“ beginnt.523 Der Eintritt in das soldatische Leben wird von Harry explizit dem Leben in der Familie gegenübergestellt: „Ich wurde überall mit einer Herzlichkeit aufgenommen, die wohltuend von der Behandlung im Elternhause abstach.“524 Harry beschreibt das Gefühl von Kameradschaft und Zugehörigkeit, das Auswirkungen auf seine innere Verfassung hat: „Ich ‚fühlte mich‘“.525 Der junge Soldat lernt den Umgang mit der Waffe, meistert Gefechtssituationen und kann „mit den anderen für meine Heimat kämpfen“.526 Die baltische Landeswehr wird 1919 unter britisches Oberkommando gestellt. Daraufhin desertieren die meisten Soldaten. Auch Harry verlässt die Landeswehr und schließt sich dem Freikorps Brandis an. Dort ist er „Meldeläufer“, was seine „ganze Intelligenz und Aufmerksamkeit“ erfordert.527 Bei seinen neuen Kameraden lernt Harry das Lügen:
518 Ebd. 519 Ebd. 520 Ebd. 521 Ebd. 522 Ebd. 523 Ebd. 524 Ebd. 525 Ebd. 526 Ebd., S. 11. 527 Ebd.
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„Alles drängt sich um das Lagerfeuer. Einer erzählt, die andern hören zu. Zuerst von letzten Gefechten und Gefahren, dann von fernen Zeiten. Jeder hat plötzlich tollere Heldentaten vollbracht als der andere. Über ihren Heldentaten hätten sie schon zehnmal ins Gras beißen müssen. Sie lügen, sie lügen, daß sich die Balken der Bauernhäuser biegen. Hier habe ich das Lügen und Aufschneiden gelernt, das Lügen und Aufschneiden, das niemandem schadet und dem nur zum Opfer fällt, der dümmer ist als ich.“528
Konflikt: Verlust der Heimat und allein auf der Welt Im Winter 1919 ist der Erste Weltkrieg für Harry Domela zu Ende. Da er auf der Seite der Deutschen gekämpft hat, gilt er als „Hochverräter“, wird des Landes verwiesen und „nach Deutschland abgeschoben“.529 Eine „Rückkehr in die Heimat wird somit unmöglich gemacht.“530 Er erhält die Nachricht, dass seine Mutter tot sei und schlussfolgert „So stehe ich allein auf der Welt“.531 Harry beschreibt, dass ihn in der Heimat nichts mehr hält; Halt geben ihm seine „Kameraden“: „Unter ihnen war ich zum Mann geworden. Sie hatten mich immer liebgehabt. Sie hatten mich, vom Hauptmann angefangen, alle immer gelten lassen. Und da ich aufzutreten verstand, freundlich, zuvorkommend, gewandt, übersah man mich nicht.“532 Ihm fällt der Abschied von der Heimat nicht leicht – auch weil er nicht weiß, was ihn erwarten wird. Er geht „einem unbekannten Schicksal entgegen“: „Von etwas Schönem und Liebem nahm ich Abschied. Niemals würde ich es wieder sehen. Verloren, verloren... Geächtet, landflüchtig, entwurzelt! Heimatlos... Mit der Heimat versank auch meine Jugend hinter mir.“533 Gemeinsam mit den anderen Soldaten des Freikorps kommt Harry nach Jüterborg in der Mark Brandenburg, wo das Korps aufgelöst wird. Dieser Zeitpunkt markiert für Harry einen weiteren Wendepunkt in der biographisch begründeten Vorgeschichte zu seinen Hochstapeleien und gestaltet sich biographisch als Eintritt in die Lebenswelt „Arbeit“. Lebenswelt: Arbeit Angekommen in Deutschland muss Harry sich von seinen Kameraden verabschieden. Im Januar 1920 erhält er „eine Fahrkarte nach H. in der Westpriegnitz“, wo er auf einem Gut, das zu einem alten „Stift, von adeligen Damen bewohnt“ gehört, arbeiten soll.534 Harry beschreibt die Gegend, in der das Gut liegt, als „trostlos-öde
528 Ebd., S. 12. 529 Ebd., S. 13. 530 Ebd. 531 Ebd. 532 Ebd. 533 Ebd. 534 Ebd., S. 14.
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Gegend“ und fühlt sich „von aller Welt verlassen“.535 Harry wird von dem Gutspächter von P. dem Gärtner als Gehilfe zugeteilt und muss diesem „draußen im Garten bei der Arbeit zu Hand gehen“.536 Konflikt: mangelnde soziale Wertschätzung Harry Domela wird erneut mit der mangelnden sozialen Wertschätzung seiner Person konfrontiert. Die Auswirkungen dieses Konfliktes beschreibt er in folgenden Selbstund Weltreferenzen: Er schildert die schlechten Arbeitsbedingungen, beschreibt seine kalte Unterkunft, das schlechte und wenige Essen, die miserablen hygienischen Zustände und die Unterschiede zwischen ihm und den anderen „Dienstleuten des Gutes“.537 Domela fühlt sich als „ein Kind an Jahren, einsam, frierend...“ und seinem Schicksal ausgesetzt.538 Kaum Anerkennung findet seine Individualität. Er wird „als dummer Junge behandelt“.539 Sein Leben auf dem Gut beschwört, je länger es andauert, fatalistische Gedanken herauf. Kleine Versuche, sich der Eintönigkeit des Lebens zu entziehen, führen zu Konflikten, wenn sie die Differenzen zwischen ihm und den anderen Dienstleuten offensichtlich machen. Diese werden beispielsweise in folgender Selbstreferenz zur Welt deutlich: „Welch ein Abstand zwischen ihnen und mir! Und dennoch, was war ich, was galt ich hier? Von meinem Lehrmeister der Gärtner, KS als dummer Junge behandelt, mußte ich tagtäglich von ihm hören, wie ich Gott danken könne, als entlassener Soldat auf dem Gut Unterkommen gefunden zu haben. Als ich einmal in der Freizeit ein gutes Buch lesen wollte, regte er sich so darüber auf, daß ich jeden derartigen Versuch, über dieses eintönige, traurige Leben hinwegzukommen, unterließ.“540
Die Folgen der Arbeits- und Lebensbedingungen und der damit verbundenen sozialen Wertschätzung für seine Person fasst Harry zusammen: „Mit der Zeit verwahrloste ich so, daß ich völlig verlaust war. Ich hatte einen Ekel vor mir selbst! […] Ich fühlte mich an die Erde gedrückt, mich hoffnungslos versinken in den Schlamm, in dem ich zu fronden hatte: alles wurde so stumpf, so tot in mir; keine Hand war da, die sich mir in meinem dumpfen Elend entgegengestreckt hätte. […] Eine tötende Gleichgültigkeit ge-
535 Ebd. 536 Ebd. 537 Ebd., S. 15. 538 Ebd., S. 14. 539 Ebd. 540 Ebd., S. 15.
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gen alles legte sich über mich. Mochte doch aus mir werden, was da wollte: zu hoffen hatte ich für immer hier aufgehört.“541
Trotz dieser Schicksalsergebenheit aufgrund fehlender sozialer Wertschätzung entwickelt sich bei Harry in diesem Konfliktfeld der Lebenswelt „Arbeit“ eine neue Form der Auseinandersetzungen mit den gesellschaftlichen Zuständen. Er ballt „die Faust gegen das hell erleuchtete Herrenhaus“ und übt Kritik an Gesellschaftsordnung, indem er auf das Missverhältnis zwischen Herrn und Knechte oppositional vergleichend verweist: dem „Gutsherr[n]“ stehen die „Arbeitstiere“ gegenüber, die „satte Wohlhabenheit“ des einen und „Unwissenheit“ sowie „aufgezwungene Bedürfnislosigkeit[]“ der anderen.542 Harry erschrickt „über die Rebellion [seines] Geistes“: Wie kam ich zu solchen Gedanken, die mir bisher doch fremd gewesen waren? Ich war von Grund auf verbittert.“543 Im Gegensatz zu den Jugendjahren, in denen Harry seinen Lebenskrisen bedingt durch gesellschaftliche Konflikte wie den Ersten Weltkrieg passiv gegenübersteht, wird in der Lebenswelt „Arbeit“ ein Perspektivwechsel bezüglich der Reflexionen über gesellschaftlich motivierte Zustände vorgenommen. Gefangen in den gesellschaftlichen Hierarchien verändert sich Harrys Denken über den Zustand der Gesellschaft: Es lässt ihn rebellisch im Geiste, aber noch nicht in den Taten werden. Harry entkommt seiner elendigen Situation, als er per Telegramm dazu aufgefordert wird, sich in einer Kaserne in Neuruppin zu melden: „In Berlin war der KappPutsch ausgebrochen.“544 Harry meldet sich zur Reichswehr und wird „zur Niederschlagung von Arbeiterunruhen im Ruhrgebiet eingesetzt“.545 Dort eröffnet sich ihm „eine neue Welt“.546 Harry berichtet: „In Westfalen öffnete sich mir eine neue Welt. Soest, Sitz alter westfälischer Kultur, war die erste Stadt, die in mir die Ahnung eines ganz anderen Lebens erwecken sollte, eines Lebens, das so grundverschieden von dem der östlichen Welt war. In diesem stillen, anheimelnden Städtchen erwachte in mir nach der Qual der vergangenen Wochen neue Lebenslust und frischer Lebenswille.“547
541 Ebd., S. 16. 542 Ebd. 543 Ebd. 544 Ebd. 545 Ebd., S. 17. 546 Ebd. 547 Ebd.
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Harry findet als „Meldereiter“ Verwendung und fühlt sich „glücklich“.548 Er spürt „in jeder Fiber den Pulsschlag eines mir neuen Deutschlands“549, den er anhand der beobachteten Arbeit in den Zechen ausmacht: „Und ich – kaum sechzehn Jahre alt –, ich hatte das Glück, in dieser Welt wuchtig kreisender Räder und phantastisch schwingender Kräfte einherzugehen, in bester Montur, mit kräftigen Stiefeln, mit Geld in der Tasche und mit Frohsinn im Herzen. Zum erstenmal besuchte ich ein Theater. Der ‚Rosenkavalier‘ mit seinen bestrickenden Bühnenbildern, seiner entzückenden Rokokostimmung und seinen kultivierten Menschen, die ‚Fledermaus‘ mit dem kecken Prinzen Orlowski und seinem lebenslustigen Völkchen, ‚Carmen‘, die Oper voll Glut und Abenteuer, sie alle machten mich die Vergangenheit vergessen und ließen vor meinem Auge das Bild eines Lebens entstehen, das viel zu herrlich war, als daß es hätte wahr sein können. Damals jedoch malte ich mir zuweilen aus, wie schön es wäre, einmal in der Welt eines Prinzen Orlowski zu Hause zu sein.“550
Der Wunsch, Teil dieses herrlichen Lebens in der Fiktion zu sein, mündet in der Tagträumerei vom Leben als Prinz. Konflikt: Existenzängste Nach der Niederschlagung der Unruhen im Ruhrgebiet wird Harry in Berlin aus der Reichswehr entlassen und steht wieder vor „eine[r] trostlose[n] Zeit“.551 Er untermauert erneut die Bedeutung des Soldatenlebens: „Mir blutete das Herz! Nie hat wohl ein Junge mehr am Soldatenleben gehangen als ich!“552 Da er nicht auf das Gut zurückkehren möchte, kommt er in einem Flüchtlingsheim im Norden Berlins unter. Erneut verfällt er in einen lethargischen Zustand: „Ich ergab mich in alles.“553 Die Ursache dafür sieht er in der „maßlos drückenden und erschlaffenden Atmosphäre“ in dem Flüchtlingsheim, wo sich „das graue Elend der Ostflüchtlinge“ findet.554 Harry beschreibt diese als „teilnahmslos“, „in sich gekehrt“, mit „mutlosem Ausdruck“.555 Es ist „ein niederdrückendes Bild“.556 Die Flüchtlinge „hausten hier und warteten, warteten auf etwas, was gar nicht kommen konnte. Ihre Kräfte, ihre Glieder, ihre Gedanken, ihre
548 Ebd. 549 Ebd. 550 Ebd., S. 18. 551 Ebd. 552 Ebd. 553 Ebd., S. 19. 554 Ebd. 555 Ebd. 556 Ebd.
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Willen waren gelähmt; matt und schlapp brüteten sie dahin.“557 Domela muss das Heim nach zwei Monaten verlassen und findet bei einer Baronin „einen Posten als Hausbursche“.558 Die Arbeit als Hausbursche verortet er in einem konfliktreichen interpersonellen Spannungsfeld: Auf der einen Seite ist ihm die Arbeit als Diener „in innerster Seele zuwider“.559 Auf der anderen Seite schmeichelt der häusliche Luxus der Baronin seinen „Sinnen“.560 Erneut entsteht die Phantasie, auch einmal in diesem Luxus leben zu wollen: „und es fehlte nur, daß ich der Herr all dieser Kostbarkeiten gewesen wäre“.561 Von den Gesellschaften, die die Baronin in ihrem Haus zu geben pflegt, lernt Harry, „den Gast mit ‚guter Lebensart‘ von dem Gast mit ‚schlechter Kinderstube‘“ zu unterscheiden.562 Nach einiger Zeit entlässt die Baronin Harry, weil sie einen „herrschaftlichen Diener mit langjährigen Zeugnissen“ einstellen möchte.563 Die Entlassung führt bei Harry zu einer Krise: „In ein paar Tagen sollte ich auf der Straße stehen. Kaltherzig hatte die Baronin mir gekündigt. Ich hatte bei ihr nur wenige Mark Lohn verdient. Wovon leben? Wieder in ein obskures Heim zurück, wo mir das Massenelend jeden Lebensmut raubte? Ich schauderte. Ich schüttelte mich.“564 Konflikt: kriminelle Handlung zur Sicherung der Existenz Die Existenzängste führen zu der ersten kriminellen Handlung in Harrys bisherigem Leben: ein Löffeldiebstahl. Vorher jedoch werden die Gewissensbisse in einem inneren Monolog thematisiert: „Wenn Du einige Löffel nähmst, würdest du dich wohl fürs erste über Wasser halten können. […] Mehrfach hatte ich für die Baronin größere Geldsummen von der Bank holen müssen. Doch noch nie war mir bisher so ein Gedanke gekommen. Nein, nein! Ich tat es nicht. – So ging ich zu Bett; doch einschlafen konnte ich nicht. Was fängst du morgen an? Was wird aus dir werden? Und immer wieder sah ich das Silber vor mir. Nur ein paar Löffel... Ich redete mir selbst Courage ein. Was willst du anders? Du kannst ja nicht anders. Vogel, friß oder stirb...“565
557 Ebd. 558 Ebd., S. 20. 559 Ebd. 560 Ebd. 561 Ebd. 562 Ebd. 563 Ebd. 564 Ebd. 565 Ebd., S. 21.
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Harry stiehlt am nächsten Morgen die Löffel, postiert sie in einem Tabakladen und wird bei seiner Rückkehr ins Haus der Baronin verhaftet. Domela wird „wie ein Tier“ zur Polizeiwache geführt.566 „Nun war ich ein Verbrecher. Die Leute blieben stehen und starrten mich an. Nun fühlte ich mich aus der Gemeinschaft der anderen, der ehrbaren Menschen, ausgestoßen. So weit war es mit mir gekommen. Es war mir, als ob man mir die Kleider vom Leibe risse und mich vor aller Augen auspeitschte.“567
Am Abend des gleichen Tages wird Domela bis zu seiner Gerichtsverhandlung aus der Polizeihaft entlassen. Er wendet sich an den baltischen Vertrauensrat und bekommt Arbeit auf dem Land zugewiesen. Dort arbeitet er ein halbes Jahr in der Landwirtschaft, wechselt aus eigenem Entschluss seinen Arbeitsplatz, verdient sein Geld in einer Ziegelei und findet Anerkennung unter den anderen Arbeitern. Wie mit den Soldaten geht auch er mit den Arbeitern ein kameradschaftliches Verhältnis ein: „das ganze Leben erinnerte ans Militär“.568 Gemeinsam mit seinen neuen Kameraden trinkt er viel Alkohol. Im September endet die Arbeit auf der Ziegelei und die Gruppe wandert in eine kleine Stadt in den Harz, wo sie in einer Zuckerfabrik Beschäftigung finden. Konflikt: Verlust des Selbst in den sozialen Verhältnissen Harry ist jetzt ein Wanderarbeiter. Zum wiederholten Mal sind die Arbeitsbedingungen katastrophal. Harry grübelt über sein Leben und trinkt immer mehr: „Ich kam ins Grübeln, ins Denken. Dieses Nachsinnen über meine momentane Lebenslage, wie niederdrückend, ja, wie niederschmetternd war es. Auf der Ziegelei hatte ich das Trinken gelernt. Ja, ich kannte das gesteigerte Lebensgefühl, den Lebensrausch, der mich packte, wenn ich trank und trank und trank. Aber ich trank nicht nur, um mir ein paar Stunden einzubilden, daß ich doch noch sei, ich, Harry Domela, sondern ich trank auch, um mein ganzes Elend zu vergessen, zu vergessen, daß ich so sei, ein Enterbter des Glücks, eine ständig in Schlamm und Nässe watende Kreatur, Vieh mehr als Mensch.“569
Im Dezember endet die Arbeit in der Zuckerfabrik. Harry reist nach Erfurt und beginnt dort eine Tätigkeit in der „Maschinenfabrik ‚Erfordia‘“.570 Dem Direktor der Maschinenfabrik, „dem die Herzensgüte aus den Augen schaute“, erzählt Harry seine
566 Ebd. 567 Ebd., S. 22. 568 Ebd., S. 24. 569 Ebd., S. 26. 570 Ebd., S. 28.
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bisherige Lebensgeschichte und betont sein Vorhaben, „durch Arbeit, gleichgültig welche, wieder hochkommen“ zu wollen.571 Gefragt nach seiner „Veranlagung“ antwortet Harry: „Ich hatte immer gut zu zeichnen verstanden, meine Kameraden überall porträtiert; als er [der Direktor, KS] davon hörte, machte er mir Aussichten, mich nächstens auf sein Zeichenbüro nehmen zu können; bis dahin sollte ich mal jede Arbeit anpacken, dann würde er schon weiter sehen.“572 Unter den anderen Angestellten findet Domela „brüderliche[] Anteilnahme“.573 Aufgrund der Zuwendung und Anerkennung seiner Person macht Harry die Arbeit Spaß. Es gelingt ihm, in der Fabrik eine kleine Karriere zu starten. Zunächst draußen auf dem Fabrikhof eingesetzt bekommt Harry bald darauf einen Arbeitsplatz im „Maschinenhaus“, kann „seine Tüchtigkeit […] beweisen“ und sieht „eine Möglichkeit vorwärtszukommen“.574 In seinem Vorgesetzten findet er einen Lehrmeister und wird zu einem aufmerksamen Schüler. Die Arbeit erfüllt ihn. Er ist „endlich mal nach langer, langer Zeit meines Lebens wieder wirklich froh.“575 Konflikt: Verlust der Arbeit aufgrund der Staatenlosigkeit Doch erneut ist es die gesellschaftliche Sphäre, die dieser positiven Episode in der Lebenswelt „Arbeit“ ein Ende setzt: „Im Frühsommer 1922 erging eine Anweisung der Regierung, wonach alle Reichsfremden aus den Betrieben zu entlassen waren.“576 Harry, „Deutscher, aber staatenlos“, besitzt keinen deutschen Pass und damit keinen Nachweis über seine deutsche Herkunft.577 Er wendet sich an den Direktor, der ihm rät, sich an den „Regierungspräsidenten Tielemann“ zu wenden und jenem von seinem Schicksal zu berichten.578 Harry wird jedoch bei diesem nicht vorgelassen, was er seiner gesellschaftlichen Stellung als Arbeiter zuschreibt: „Wer kann den Zustand verstehen, in dem ich von Erfurt abreiste! In Erfurt begrub ich meine letzten Hoffnungen, durch zähe Arbeit vorwärtszukommen. Über meinem Leben schien ein Unstern zu walten.“579 Harry findet erneut Arbeit in einer Ziegelei. Dort reflektiert er über sein bisheriges Leben:
571 Ebd. 572 Ebd. 573 Ebd. 574 Ebd., S. 29. 575 Ebd., S. 30. 576 Ebd. 577 Ebd. 578 Ebd. 579 Ebd.
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„Etwas in mir war gebrochen, ich wußte nicht was. Ich war zurückgestoßen. Zurück mit dir! Was willst du? höhnte das Schicksal. Wer war es, der mich niedertrat, wer war es, der mich nirgendwo Wurzeln fassen ließ? An die drei Jahre war ich jetzt aus meiner Heimat verjagt, an die drei Jahre hatte ich in zumeist schwerer Arbeit versucht, über Wasser zu bleiben. Was diese Arbeit im Leben eines jungen, heimatlosen Menschen bedeutet, in einem Alter, das jedem andern die schönste Zeit seines Lebens, seine Jugend, ausmacht, können wirklich die nicht ermessen, die, im Elternhaus aufgewachsen, in diesen Jahren mit bunter Mütze, dicke Bücher der Bildung unter dem Arme, zur Schule wandern. In Erfurt hatte ich so recht den Wert jener Arbeit erkannt, die einem das Bewußtsein gibt, kein unnützes und wertloses Glied im Arbeitsprozesse zu sein. In Erfurt war mir klar geworden, daß Arbeit nur dann emporträgt, adelt, wenn sie einen mit Liebe und Freude erfüllt.“580
Nach dem ersten Frost gibt es in der Ziegelei keine Arbeit mehr. Harry beschließt erneut nach Berlin zu reisen, da diese Stadt Menschen wie ihm, „die verurteilt sind, im Schatten zu leben“, Zuflucht bieten kann.581 Hier in Berlin beginnt mit der Lebenswelt „Auf der Straße“ der dritte Teil der Vorgeschichte der Wandlung zum Hochstapler. In den Lebenswelten „Jugendjahre“ und „Arbeit“ beschreibt sich Domela abschließend als einen von der Gesellschaft in mehrfacher Hinsicht Verurteilten und Ausgestoßenen: Erstens ist er zu seinem Schicksal verurteilt, weil er keinen Einfluss auf die historischen Umstände seiner Jugend nehmen kann. Zweitens wird er von der Gesellschaft verurteilt, weil er kriminelle Handlungen begeht. Drittens ist er dazu verurteilt im Schatten zu leben, weil die Behörden ihn rechtlich missachten: Sie stellen ihm keinen deutschen Pass aus, der ihm vielleicht ein anderes Leben ermöglicht hätte. Was ihm nach der Lebenswelt „Jugendjahre“ und „Arbeit“ bleibt, ist ein Leben auf der Straße. Lebenswelt: auf der Straße Angekommen in Berlin bemerkt Harry, dass die „Weltstadt […] anders“ auf ihn wirkt.582 Wieder wendet er sich an den baltischen Vertrauensrat, Baron von Laudon, um in Arbeit vermittelt zu werden, wird jedoch abgewiesen. Diese Abweisung koppelt Harry rück an vergangene Erfahrungen: „Wie anders wäre ich empfangen worden, hätte ich mich als baltischer Baron einführen können. So mußte ich wieder am eigenen Leibe erfahren, was sich mir schon bei der baltischen Landeswehr aufgedrängt hatte: solange gemeinsame Not Adel und Nichtadel verband, galt jeder gleich; nachher jedoch, als die Begeisterung verflogen und jeder wieder mit seinen eigenen Sorgen be-
580 Ebd., S. 31. 581 Ebd. 582 Ebd., S. 32.
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schäftigt war, hielt der Adel streng auf sich und schloß sich von uns andern ab. Als einfacher Arbeiter konnte ich kaum auf Unterstützung bei meinen adeligen Landsleuten rechnen.“583
Harry packt ein „Gefühl der Schwäche, der Ohnmacht, der Selbstaufgabe“.584 Er beschreibt sich als „planlos, ziellos“ und fragt sich: „Wer jagte mich wieder in dieses Elend hinein? Von brutaler Bürokratenweisheit wußte ich damals noch nichts. Mein Verstand gab mir keine Antwort. Nein, Verbitterung ballte meine Fäuste [...].“585 Harry reflektiert weiter: „Mit einer wahren Wollust überkam mich auf einmal der Gedanke: sie haben dich um deine Arbeit gebracht, also brauchst du auch nicht mehr zu arbeiten; sie wollen ja keinen anständigen Menschen aus dir gemacht sehen, nun, so pfeif‘ auch drauf und sei Lump in Lumpen. Der Gedanke war da, ging wieder fort und kam immer wieder zurück. Plötzlich packte er mich mit einer Stärke, daß ich in eine Kneipe hineinging und mehrere Gläser Bier hinuntergoß.“586
Harry verbringt zwei Tage und Nächte auf der Straße; auch sein Bemühen, beim Städtischen Arbeitsnachweis Arbeit zu bekommen, scheitert, da er den Status eines Reichsfremden besitzt. Er beginnt, bei reichen Leuten zu betteln. Domela sucht Zuflucht im Wartesaal eines Bahnhofs, schläft dort ein und wird von der Polizei verhaftet. Seine dortigen Erfahrungen mit und Eindrücke von anderen Verhafteten fasst er wie folgt zusammen: „Mit großen Augen sah ich in eine Welt der Verderbnis und der Fäulnis. Ich fühlte mich maßlos erniedrigt, vollkommen unfähig, mich des niederdrückenden Einflusses dieser neuen Umgebung zu erwehren. Durch meine Festnahme war ich in sie hineingestoßen, ein Teil von ihr geworden. Was hatte ich denn noch vor den andern voraus? Was unterschied mich denn von dem alten zerlumpten Bettler in der Ecke da? Nur mein Alter, sonst nichts. Wir waren alle gleich.“587
Nach drei Tagen in Haft wird Domela mitgeteilt, dass er wegen Löffeldiebstahls gesucht wird und dem Gericht in Charlottenburg überführt werden muss. Dort wird ihm der Prozess gemacht und er wird zu vierzehn Tagen Gefängnis verurteilt. Da seine Untersuchungshaft dieser Anzahl an Tagen bereits entspricht, wird er sofort entlassen und ist zurück auf der Straße. „Das alte Bettlerleben begann jetzt wieder.“588 Er emp-
583 Ebd. 584 Ebd. 585 Ebd. 586 Ebd., S. 32-33. 587 Ebd., S. 39. 588 Ebd., S. 41.
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findet sich als „[a]usgestoßen aus der Gesellschaft der Ehrbaren, ausgestoßen…! Ein letzter Rest der Moral meines Elternhauses bäumte sich in mir auf. Aber bald fiel ich wieder in mir zusammen.“589 Er reflektiert die Auswirkungen seines Diebstahls und seiner Verurteilung im Hinblick auf seinen Platz in der Gesellschaft: „Durfte ich jetzt überhaupt noch erwarten, daß ein Mensch zu mir freundlich war? Zu mir, einem Dieb?! Durfte ich von nun ab überhaupt ein anderes Leben fordern? Vorbestraft, wie ich nun war, mußte ich da nicht froh sein, daß man mich überhaupt duldete? […] Kann dir denn jetzt noch ein Mensch Arbeit geben? Ist es nicht selbstverständlich, daß niemand mit einem Dieb zu tun haben will, ist es nicht begreiflich, daß jeder schon aus Gründen der Vorsicht von dir nichts wissen möchte? Also, was willst du denn? Vegetiere, bis es nicht mehr weitergeht.“590
Der Umgang mit den anderen Ausgestoßenen aus der Gesellschaft führt auch zu einer gesamtgesellschaftlichen Kritik: „War diese Art, Menschen vegetieren zu lassen, nicht schlimmer als Mord?! Auf diese Art einen Menschen seelisch und körperlich zugrunde gehen zu lassen, war es nicht schlimmer, als ihn totzuschlagen, ihn mit Blausäure zu vergiften wie einen räudigen Hund?! Hier wurde eine Generation von Verbrechern heraufgezüchtet, gleichgültig ein Kulturmord mitten in der Fülle kulturellen Lebens und Strebens einer modernen Weltstadt begangen.“591
„In dieser Welt war ich jetzt zu Hause“; wieder findet er Anerkennung bei seinen Leidensgenossen, eine „wohlwollende[ ]Kameradschaft“.592 Nur durch die Kameradschaft der anderen ist es für Harry möglich, „diese Umwelt zu ertragen.“593 Wie er selbst bemerken auch seine neuen Kameraden, dass er nicht wirklich zu ihnen gehört: „Trotz meines fadenscheinig gewordenen Anzugs stach ich von ihnen ab. Meine Art, mich zu geben, schuf mir selbst unter diesen verrohten Gesellen einen gewissen Abstand, der mit etwas Achtung gepaart war. Seltsam, daß ich schon unter ihnen ‚der Prinz‘ hieß. Wie kam dies nur?“594 Harry kann es sich nicht erklären, dass die anderen ihn als Prinz betiteln, da er doch unter den gleichen Lebensumständen lebt wie sie. Die „Umgebung [gewinnt] Macht über“ ihn und er steht „in der Krise meines Lebens“: „Ich fiel, verfiel … wem? Ich selbst war unfähig, am eigenen Schopf mich aus
589 Ebd., S. 42. 590 Ebd. 591 Ebd., S. 42-43. 592 Ebd., S. 43. 593 Ebd. 594 Ebd., S. 44.
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diesem Sumpf zu ziehen. Nur eine freundliche Hand … Da sollte ich von ihr auf seltsame Weise gerettet werden.“595 Konflikt: Selbstbildung und Rebellion gegen die Gesellschaft Diese Rettung ist Wolf, ebenfalls auf der Straße lebend, aber ein „Junge aus gutem Hause“.596 Die beiden Männer begegnen sich im Wartesaal des Anhalter Bahnhofs, Domela erzählt Wolf sein Leid. Wolf nimmt sich seiner an und sie werden gute Freunde. Domela berichtet über Bildungserlebnisse, die er mit Wolf hat. Zuvor formuliert er seinen Wunsch nach geistiger Auseinandersetzung; beschreibt sich als „geistig verkümmert[], innerlich aus[ge]brannt[] und leer“.597 Doch durch Wolf werden ihm „die Augen geöffnet, so daß ich mit neuen Sinnen in eine ganz unbekannte Welt eintrat“.598 Domela beschreibt Bildungserfahrungen, die sich aufgrund der Gespräche mit Wolf ergeben: „Noch immer habe ich in meinem Leben am meisten aus einer Unterhaltung profitiert. Als wenn ich allein nicht hätte denken können, so weitete sich mein Geist, sobald jemand anders mich zum Denken anregte. […] Nach der zweiten Zigarette fing Wolf ein Gespräch an. Wir tauschten unsere Meinung über ein Bild, eine Büste oder ein Buch aus. Manchmal brachte mir Wolf ein Buch mit, das er für einige Pfennige irgendwo erstanden hatte: für mich, der nach dieser Kost begieriger als nach Brot griff, jedesmal eine große Überraschung.“599
Wolf verfügt ebenfalls über einen soldatischen Hintergrund, hat jedoch im Gegensatz zu Harry „die sorgfältige Erziehung genossen, stammte aus großem Hause und war Geist vom Geiste der großen bürgerlichen Welt, mochte er sich auch noch so weit fortentwickelt haben. Daher lehrte er mich alles mit den Augen dieser Welt zu sehen und beurteilen. [...] Ich habe nie wieder jemand mit einer derartig hinreißenden Beredsamkeit sprechen hören. War es da zu verwundern, daß ich in der Unterhaltung mit ihm mehr lernte als bisher in meinem ganzen Leben, daß der Verkehr mit ihm für mich eine Offenbarung wurde?“600 Domela sieht sich durch die Begegnung mit Wolf mit der Ambivalenz der „großen bürgerlichen Welt“601 konfrontiert: der bürgerlichen Bildungsidee und Wolfs Flucht aus dieser Welt, deren Ziel ein Selbstmord auf Raten sei. Wolf sagt:
595 Ebd. 596 Ebd., S. 45. 597 Ebd., S. 46. 598 Ebd., S. 47. 599 Ebd. 600 Ebd., S. 47-48. 601 Ebd., S. 47.
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„Wenn nur das Elternhaus nicht so enge wäre… Wenn es nur nicht so unsere Beweglichkeit unterdrückte, uns jede Freiheit nähme. ‚Mäßige Dich, bezähme deine Zweifelsucht, taste nicht an Wahrheiten, die Tausenden vor dir Trost und Beruhigung gebracht haben‘ – so heißt es jeden Tag. ‚Überspringe nicht die Grenzen des Althergebrachten… Wie kannst Du mit frecher Kritik alles und jedwedes untersuchen?! Deine Ruhelosigkeit ist für uns beängstigend. Es gibt ewige Wahrheiten, an denen man nicht rütteln darf. Bei dir gibt es ja immer ein feststehendes Prinzip, und das ist: die Meinung immer und immer wieder ändern zu müssen. Was haben wir denn an dir, du unruhiger Kopf?!‘ [...] ‚Das ist es, Harry, was mich von zu Hause fortgetrieben hat. Lieber hier auf der Straße verrecken, als zu Hause dahinvegetieren, in der dumpfen Welt traditioneller Vorurteile und abgenutzter Gefühle.‘“602
Wolf ist für Harry „[e]in Rebell gegen die althergebrachte Ordnung, neuerungssüchtig und unstet, seine eigenen Wege liebend, ausgebrochen aus der Gesellschaft der Satten und Selbstzufriedenen, Empörer gegen die Gewohnheiten einer Welt, deren erstes Bedürfnis das nach Ruhe ist.“603 Wolfs Antihaltung gegenüber der Gesellschaft schildert Harry, als die Heilsarmee sich weigert, ihnen in einer Notsituation ein Dach über dem Kopf zugeben, weil die beiden nicht das dafür nötige Geld haben: „‚Diese verlogene Gesellschaft! Für die Ärmsten wollen sie da sein und machen aus dem Ganzen ein Gewerbe. Wo sollen wir jede Nacht soundsoviel Geld hernehmen? Ja, wärst Du in einer Versammlung von ihnen unter viel Trara und vor so und so viel Zuschauern auf die Bußbank gefallen und hättest mit einer Grimasse den Bekehrten gemimt, dann hätten sie für dich schon eine ‚Falle‘ gehabt.‘“604
Der Ausweg aus der Ausweglosigkeit, ein Moment der Freiheit, wird von Harry im eigenen Denken gesehen: „Nur eins konnten sie uns nicht nehmen: unsere eigenen Gedanken zu denken, unsern Geist als eine Waffe der Abwehr gegen eine uns feindliche Umwelt zu gebrauchen.“605 Immer wieder bemüht sich Harry vergebens um Arbeit oder um wohltätige Unterstützung bei den einschlägigen Hilfsorganisationen. Doch er findet keine Hilfe. Harry will nicht mehr in die „Welt stinkender Fäulnis und Verkommenheit“ zurück.606 Einziger Lichtblick ist seine Freundschaft zu Wolf: „Das Wissen Wolfs war bewundernswert; es öffnete mir eine Welt, nach der ich mich schon seit Pastor Deters Zeiten gesehnt hatte. Ich selbst war noch nicht so weit, alles, was Berlin bot,
602 Ebd., S. 54. 603 Ebd. 604 Ebd., S. 50. 605 Ebd., S. 54. 606 Ebd., S. 61.
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selbst zu verarbeiten; ich bedurfte noch der Hand eines andern. Den fand ich in Wolf. Mit ihm besuchte ich oft die Berliner Museen und Nationalgalerie, das Kaiser-Friedrichs-Museum, das Alte und das Neue Museum. Wolf versuchte mich zu formen, auf mein geistiges Wachstum wohltätig einzuwirken. Ständig munterte er mich auf, meine Talente zu pflegen und auszunützen. So hielt er mich an, im Alten Museum zu zeichnen. Dann verglich er das Original mit meiner Kopie, denn während besser ich zeichnete, konnte er besser sehen, so daß wir uns auch hierbei ergänzten.“607
Harry vollzieht nach eigenen Angaben eine Wandlung aufgrund seiner Bildungserfahrungen mit Wolf: „Die Schlacken meiner kleinbürgerlichen Herkunft fielen jetzt von mir. War ich noch vor Wochen in allen Widerwärtigkeiten meiner Existenz befangen gewesen, so schaute ich jetzt auf das vielgestaltige Leben dieser wuselnden Ameisenstadt mit der Distanz eines erwachenden Geistes, zogen wir beide als geistige Vagabunden durch das große Berlin die Kreuz und die Quer. Wolf brachte dabei seinen Grundsatz bei mir zur Anerkennung, daß jeder. [sic!] ‚Geistige‘ ohne Besitz ein Rebell gegen die Ordnung der Dinge von heute sein müsse. Immer wieder zog er Vergleiche zwischen der Gesellschaft der Satten und den von ihr Ausgestoßenen. [...] ‚Alle Erkenntnis erwächst aus Vergleichen‘, sagte Wolf.“608
Wolf und Harry wenden sich gegen die Gesellschaft. Dies ermöglicht ihnen ein geistiges Überleben auf der Straße: Der Hass „ließ uns die Dinge, häßlich und grausam wie sie waren, in hartem, unbarmherzigem Lichte sehen. Er hielt unsern Geist lebendig und ließ uns einen Standpunkt finden mitten in einer uns feindseligen Welt.“609 Doch dann kommt Wolf eines Abends nicht zum vereinbarten Treffpunkt. Harry erfährt von einem „andern Vagabunden“ von Wolfs Verhaftung.610 Wieder ist er allein, wird in eine tiefe Sinn- und Lebenskrise gestürzt und hegt Selbstmordgedanken. „Ich stand vor dem Zusammenbruch. Kälte, Nässe, Wetter und Wind, sie hatten meinem Körper nichts anzuhaben vermocht. ... Aber was jetzt an mir nagte, was sich jetzt in mich hineinfraß, dies schüttelte meinen ganzen Körper .... Anhaltende Müdigkeit lag auf mir. Immer häufiger erlebte ich jetzt Verzweiflungsanfälle, so daß ich meinte, nicht weiterleben zu können. Ich dachte an Wolf, der im gleichen Alter einen Selbstmord versucht hatte. Sollte ich meinem gan-
607 Ebd., S. 62. 608 Ebd., S. 62-63. 609 Ebd., S. 63. 610 Ebd., S. 64.
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zen verpfuschten Leben ein Ende machen? Ich glaubte, vorm Wahnsinn zu stehen. Ich war krank, krank...“611
Interaktionsabbrüche in den Lebenswelten vor der Wandlung zum Hochstapler In den Lebenswelten vor der Wandlung zum Hochstapler werden die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges und dessen politische und gesellschaftliche Folgen beschrieben, denen sich Domela ausgesetzt sieht. Sein zunächst daraus resultierendes SelbstWeltverhältnis lässt sich unter dem Begriff „Fremdbestimmtheit aufgrund verweigerter Anerkennung“ zusammenfassen: Wegen des Krieges und dessen Folgen muss er seine Heimat und seine Familie verlassen, kann mögliche institutionelle Bildungswege nicht beschreiten, stellt sich als Soldat in den Dienst der Gesellschaft, verdingt sich als Hilfsarbeiter und wird von einer Lebenswelt in die andere getrieben. Harry Domela wird körperlich misshandelt, seine Herkunft, sein Bildungswille und seine Individualität werden missachtet. Insbesondere diese Misshandlungs- und Missachtungserfahrungen und die fehlende Anerkennung in Form sozialer Wertschätzung seiner Person führen immer wieder zu einer Infragestellung des Sinns seines Lebens und zu existentiellen Ängsten. Die Behauptung seiner Individualität und die Sicherung seiner Existenz werden ihm aufgrund fehlender gesellschaftlicher Anerkennung erschwert. Vergleichbar mit Honneths anerkennungstheoretischen Überlegungen ist das existentielle Leid Domelas den gesellschaftlichen und teilweise auch familiären Missachtungsformen geschuldet. Er präsentiert sich in der Vorgeschichte als emotional Vernachlässigter, kognitiv Missachteter und sozial sowie rechtlich nicht Wertgeschätzter.612 Die gesellschaftlichen und familiären Verhältnisse sowie Institutionen werden als unterdrückend und ungerecht empfunden. Überschattet werden alle selbstreflexiven Phasen von der Frage nach der Bestimmung seines Platzes in der Gesellschaft und von der Frage, warum die Gesellschaft so mit ihm umgeht. Immer wieder nimmt er Bezug auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und schildert Interaktionen mit ihren Mitgliedern, die nicht zulassen, dass er sowohl gemäß seinen Fähigkeiten und Kenntnissen als auch seinen eigenen Vorstellungen und Wünschen leben kann. Die Auswirkungen seiner daraus resultierenden existenziellen Not im biographischen Geworden-Sein beschreibt er beispielsweise wie folgt: „Unfähig, zu denken, taumelte ich mehr als ich ging die Potsdamer Straße entlang. Brot! Nur ein Stück Brot! Alle Menschen gingen ausgeschlafen und gleichgültig an mir vorüber. Sahen sie mir denn nicht an, daß ich mich kaum noch auf meinen Füßen schleppen konnte? [...] Falls
611 Ebd., S. 67-68. 612 Vgl. A. Honneth: Kampf um Anerkennung.
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du hier in diesem reichen Hause um etwas bittest, kriegst du bestimmt etwas, dachte ich; so viele machen es ja und haben nicht so entsetzlichen Hunger wie du. Ich trat vor die Türe, ich wollte über die Schwelle gehen, da hielt mich irgend etwas noch zurück, ich kämpfte, stärker aber als alle Einwände und Vorwürfe waren der Selbsterhaltungstrieb und der quälende Hunger; die letzten Fetzen meiner bürgerlichen Selbstachtung schienen von mir abzufallen, als ich dann über die Schwelle des vornehmen Bürgerhauses trat. [...] ‚Was wollen Sie?‘ Mir ist die Kehle zugeschnürt, ich bringe keinen Ton heraus. Ich fühle, wie ich gemustert werde, dann höre ich, wie eine Stimme sagt: ‚Nur ein Bettler...‘ […] Jetzt war ich also ein Bettler! Tränen traten mir in die Augen, die ich rein mechanisch abwischte.“613
Dennoch versucht Domela, über verschiedene Strategien, den negativen Auswirkungen des Konfliktfeldes, die sich insbesondere in Interaktion mit anderen Menschen, seinen Zeitgenossen zeigen, zu entkommen und neue Handlungsperspektiven zu entwickeln Diese Lösungsversuche folgen in den Lebenswelten vor der Wandlung zum Hochstapler in erster Linie in Form von Interaktionsabbrüchen, um den defizitären Anerkennungsverhältnissen, die zu einer Fremdbestimmtheit führen, zu entfliehen und Selbstbestimmtheit zurückzuerlangen. Die Varianten des Interaktionsabbruchs werden im Folgenden zusammengefasst. Interaktionsabbruch: Aufbruch in neue Lebenswelten Harry vollzieht beispielsweise als ‚Fremder in der eigenen Familie‘ einen Interaktionsabbruch, um sich der fehlenden Wertschätzung seiner individuellen Entwicklung aufgrund der Heimerfahrungen zu entziehen. Er zieht sich zunächst in sich selbst zurück und bricht dann mit dem Beginn seines Soldatenlebens den Kontakt zur Familie ab. Interaktionsabbruch: Aufbruch durch Anpassung Trotz dieser widrigen Lebensumstände versucht er, in gesellschaftlich akzeptablen Bereichen wie Militär und Arbeit Fuß zu fassen. Trifft er dort auf soziale Wertschätzung, kann er sich einbringen und Anerkennung erfahren. Doch immer wieder holt ihn sein Schicksal als Deutsch-Balte bzw. als Staatenloser wieder ein und führt zu den sich verstetigenden Erfahrungen sozialer Ausgrenzung und damit verbundenen innerlich thematisierten Krisenzuständen. Diese von ihm historisch und gesellschaftlich kontextualisierten Konflikterfahrungen führen bei Domela dazu, dass er, wie die Rekonstruktion der biographischen Erfahrungen in den Lebenswelten zeigt, immer wieder gesellschaftliche Zugehörigkeitsempfindungen in Zweifel ziehen oder aufgeben muss. Um seiner konfliktbesetzten Lebenslage zu entgehen, versucht er, sich über verschiedene Rollen den gesellschaftlichen Umständen anzupassen. Jede Rolle jedoch, sei es die des gesellschaftlich Akzeptablen wie ‚Arbeiter‘ und ‚Soldat‘ oder
613 H. Domela: Der falsche Prinz, S. 36.
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die des Stigmatisierten wie ‚Vagabund‘, ‚Staatenloser‘ sowie ‚Krimineller‘, die er im Spannungsfeld von Akzeptanz und Widerstand gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse verortet, kann die Auswirkungen des Konfliktfeldes nicht aufheben. Sie zeigen im Gegenteil dazu die Unauflösbarkeit der Konflikte in Domelas Selbst-Weltverhältnis: In keiner der Rollen kann oder will Harry Domela bleiben. Es gibt nur Episoden von kleinen Glückszuständen, denen das Unglück auf dem Fuß folgt. So zum Beispiel in der Maschinenfabrik „Erfordia“, in der Domela das erste Mal eine Arbeit findet, die für ihn sinnvolle Tätigkeiten umfasst und in die er sich mit seinen Talenten einbringen kann. Sein Chef und seine Kollegen stehen ihm wohlwollend gegenüber. Doch dann verlangt die Regierung im Sommer 1922 von den Betrieben alle „Reichsfremden“ zu entlassen. Trotz aller Lösungsbemühungen in Form von Rollenwechseln in verschiedenen Handlungsfeldern in den Lebenswelten kommt es zu einer Verstetigung der Erfahrung der Fremdbestimmtheit, die sich auch als eine Verknüpfung des Immer-wieder-nicht-Dazugehörens trotz aller Bemühungen des Dazugehören-Wollens zeigt. Folgen davon sind in den Lebenswelten „Arbeit“ und „Jugendjahre“ verschiedene Formen von Interaktionsabbrüchen, die als Reaktion auf die nicht-lösbaren Konflikte zu verstehen sind. Interaktionsabbruch: Flucht vor der Realität Der desillusionierende Charakter seiner gesellschaftlichen Erfahrungen zeigt sich in einem Selbst- und Weltverhältnis, das sich aus den interferierenden Komponenten gesellschaftliche Ausgrenzung (Weltverhältnis) und gleichzeitigem Wunsch nach gesellschaftlicher Integration und Anerkennung (Selbstverhältnis) zusammenfügt. Die im Verlauf der Lebenswelten hervortretende Bewusstwerdung über die Unausweichlichkeit der sozialen Situation führt dazu, dass das Selbstwertgefühl infrage gestellt wird, dass das Bewusstsein über sich selbst schwindet und paradoxerweise manchmal nur in bewusstseinsgetrübten Zuständen hervorgebracht werden kann: „Aber ich trank nicht nur, um mir ein paar Stunden einzubilden, daß ich doch noch sei, ich, Harry Domela, sondern ich trank auch, um mein ganzes Elend zu vergessen, zu vergessen, daß ich so sei, ein Enterbter des Glücks, eine ständig im Schlamm und Nässe watende Kreatur, Vieh mehr als Mensch!“614
Bereits vor Wandlung zum Hochstapler ist es also nicht mehr nur die ‚reale‘ Realität, die sich ihn seiner selbst vergewissern lässt, sondern es sind Rauschzustände, die es ihm ermöglichen, sich daran zu erinnern, wer er ist. Nur im Vergessen der Welt um sich herum gelingt es ihm, an sich selbst festzuhalten. Doch auch die Flucht vor der Realität kann eine Verstetigung der Konflikte nicht aufhalten. Dies führt dazu, dass
614 Ebd., S. 26.
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Domela sich in den Lebenswelten vor der Wandlung zum Hochstapler immer wieder seiner selbst versichern muss, um wenigsten ein Bild von sich selbst zu erhalten. Nicht-Anerkennung führt in den Lebenswelten vor der Wandlung zum Hochstapler zu Widerständen und zum „Kampf um Anerkennung“, die sich in erster Linie als geistige Rebellion aufgrund von Selbstbildung zeigt.615 Interaktionsabbruch: Selbstbildung mit anderen und Rebellion im Geiste „Allein auf der Welt“ so charakterisiert sich Harry Domela am Ende seiner „Jugendjahre“ und verdeutlicht damit, dass es keine Instanzen außerhalb von ihm gibt, die mit ihm sein Leben tragen. Dennoch zeigen in den Lebenswelten vor der Wandlung zum Hochstapler immer wieder kleine Lichtpunkte, die sich als positive Bildungserlebnisse beschreiben lassen. Er begegnet Menschen, die ihm in seinem Selbstbild als feinfühligen, interessierten und intellektuell ambitionierten Menschen bestätigen. Sie regen ihn zur Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden Welt an. Aus den Gesprächen mit Pastor Deters und Wolf ergeben sich neue Ansichten von der Welt und auf die Gesellschaft. Der Fabrikant in Erfurt ermöglicht ihm eine Tätigkeit, die seinen Interessen entspricht, und trägt dazu bei, dass Domela seine Fähigkeiten im beruflichen Kontext verbessern kann. Im Haus des Schriftstellers hat er Zugang zu Büchern und erschließt sich so seinen Platz in der ‚Menschheitsgeschichte‘. Domela beschreibt Bildungs- und Lernprozesse, die von anderen angeregt werden, welche mehr wissen als er. Sie lassen ihn von ihrem Wissen profitieren. Bildungserlebnisse stellen sich auf Reisen ein, die er unternimmt, um sich von den Strapazen des Alltags zu erholen. Insbesondere das Eintauchen in die verschiedenen bereisten Landschaften machen diese zu bildungsrelevanten Orten der Selbstbesinnung und -reflexion. Domela bewegt sich auch in institutionalisierten Formen bürgerlicher Bildung: Mehrfach weist er auf Theater- oder Museumsbesuche, die ihn sowohl von seiner gesellschaftlichen Notsituation ablenken als auch seiner Allgemeinbildung dienen. Diese Bildungserlebnisse und -erfahrungen mit anderen führen dazu, dass Harry Domela zum einen lernt, sein Leiden an der Gesellschaft historisch sowie gesellschaftlich zu kontextualisieren und zu begründen. Dieses reflexive Vermögen ergibt sich zum Beispiel aus seiner Freundschaft zu Wolf, der ihm aufzeigt, dass nicht sein Schicksal seine Lebensumstände vorherbestimmt, sondern dass es die gesellschaftlichen Zustände sind, die auf sein vermeintliches Schicksal einwirken. Insbesondere aufgrund seiner Bildungserfahrungen mit Wolf kann Harry die Notwendigkeit von Individualität und Soziabilität als Prämissen humaner Selbstbildung
615 Vgl. A. Honneth: Die soziale Dynamik von Missachtung, S. 78-93; Honneth, Axel: „Umverteilung der Anerkennung. Eine Erwiderung auf Nancy Fraser“ in: Nancy Fraser/Axel Honneth, Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 129-224.
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erkennen. Weil ihm aber die Gesellschaft eben diese Prämissen auf Handlungsebene verweigert, kann er sich nur als einen von der Gesellschaft Missachteten begreifen. Domela gelangt zu der Erkenntnis über die unauflösliche Verquickung von Selbst und Welt. Auf dieser Grundlage gelangt er zu der Gewissheit, dass eine gesellschaftliche Zugehörigkeit, die seinem Selbstbild und seinem spezifischen Gewordensein entspricht, nicht vorhanden ist. Die Auswirkungen der zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Aspekte führen zu einem reflexiven, zwischen Ich- und Weltbezug ausgehandelten Selbstbild, das geprägt ist von einem interferierenden Konfliktrepertoire: Harry erlebt immer wieder die Missachtung seiner Person, die Misshandlung seines Körpers, die bis auf wenige Ausnahmen fehlende Akzeptanz seines Selbstbildes in Interaktion mit anderen. Immer wieder sind es diese Differenzerfahrungen, die ihn in seinem Wesen erschüttern, die sich steigern, verdichten und verstetigen und ihn vor der Wandlung zum Hochstapler in einen anomischen Zustand versetzen und den Sinn seiner Existenz infrage stellen: „Wenn ich mich auf der Straße im Spiegel sah – und wie oft mußte ich mich in den vielen Schaufenstern spiegeln –, so glaubte ich, einem fremden Menschen zu begegnen, der mich mit einer verzerrten Fratze ansah. War ich dies noch? Hohläugig, hohlwangig, mit abfallenden Schultern, mit schlotternden Beinen, verkommen, in Schmutz und Lumpen? Ich, Harry Domela...? [...] Der Achtzehnjährige, der sich damals in den Straßen rings um den Anhalter Bahnhof schleppte, war nur noch ein Schatten eines Menschen, war der Schatten Harry Domelas.“ 616
Jede Form von Selbstbildung, jede konstatierte Selbstentwicklung korrespondiert mit der Unsozialität in den Lebenswelten. Fremdbestimmt kreist das Selbstverhältnis um das Problem des Weltverhältnisses, nirgendwo wirklich dazuzugehören. Und wo er dazugehört, sorgen auf der einen Seite wiederum die gesellschaftlichen Verhältnisse dafür, dass diese kurzen Episoden schnell aufhören. Auch die Zugehörigkeit insbesondere in das Obdachlosenmilieu und in die „Unterwelt“ wird als fremdbestimmt empfunden. Die Nicht-Zugehörigkeit steht im Widerstreit zum Dazugehören-Wollen. In den Lebenswelten vor der Wandlung zum Hochstapler können Auswirkungen eines gesellschaftlich evozierten Konfliktfeldes sichtbar gemacht werden, die für Harry Domela nicht lösbar und trotzdem für seine Bildungsprozesse von Relevanz sind. Sie erweisen sich als dialektisch, als nicht aufhebbar, beschränken und gefährden die Handlungsmöglichkeiten des Individuums. Gleichzeitig besteht für Harry Domela existentieller Handlungsbedarf. Die Auswirkungen des Konfliktfeldes verdichten sich im Selbst- und Weltverhältnis. In diesem zeigen sich Gefühle des Selbstverlusts, mangelnde Selbstachtung oder auch das Hadern mit dem eigenen Schicksal. Alle Ereignisse und Erfahrungen in den Lebenswelten führen zu einem Krisenzu-
616 H. Domela: Der falsche Prinz, S. 68.
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stand, zur existentiellen Frage, wer er eigentlich ist, ob er noch ist. Das gesellschaftlich determinierte Geworden-Sein steht in Opposition zum individualisierten Geworden-Sein, das – betrachtet man die gesamte Entwicklung vor der ersten Hochstapelei – kaum Entsprechung im Da-Sein finden kann. Sein Bild von sich selbst – Domela beschreibt sich im Verlauf der biographischen Erzählung als aufgeschlossen, gebildet und kulturinteressiert – bekommt keine Anerkennung in Form sozialer Zugehörigkeit. Der aufrichtige Domela und sein authentisches Selbst können in keiner Lebenswelt dauerhaft bleiben. Eine subjektive Verortung, welche die interferierenden Kräfte im Konfliktfeld ausbalanciert, erfolgt in den Lebenswelten vor der Wandlung zum Hochstapler in der Erkenntnis einer nicht aufhebbaren Vergesellschaftung bei gleichzeitiger Missachtung seiner Existenz. Diese Erkenntnis wird in der Lebenswelt „Irrfahrten“, in welcher die Wandlung zum Hochstapler stattfindet, weiter verinnerlicht und auf das Handeln in gesellschaftlichen Konfliktfeldern übertragen. Die Strategie des Interaktionsabbruchs geht nicht auf. Sie wird selbst zum negationsresistenten Problem. Die Wandlung zum Hochstapler Harry Domela verortet seine Wandlung zum Hochstapler in seiner biographischen Erzählung unter dem Kapitel „Irrfahrten“, die sich als weitere Lebenswelt begreifen lässt, in der Domela seine Wandlung zum und erste Versuche als Hochstapler begründet. Domelas Wandlung beginnt mit einer intensiveren Reflexionsphase über seine bis dato zurückliegenden biographischen Erfahrungen. Diese Erfahrungen „gären“ in ihm, sie haben dazu geführt, dass alle ihm „von zu Hause mitgegebenen Anschauungen vernichtet“ sind; er begreift sich als einen unter vielen, „die von der Gesellschaft ausgestoßen“ sind.617 Alle bisherigen Erfahrungen und Ereignisse, alle Konfliktauswirkungen überlagern sich, sie bilden ein „krauses Durcheinander, aus dem ich mir zunächst nichts Neues schaffen“ kann.618 Domela stellt sich die Frage nach den verbindenden Elementen in diesem Durcheinander und versucht in der Bibliothek eines Schriftstellers, bei dem er eine Anstellung als Hausbursche gefunden hat, Antworten zu finden. Domela gewinnt über Lektüre die Erkenntnis, „daß die Geschichte des Menschen nichts als eine einzige lange Leidensgeschichte“ ist.619 Reflexive Erschließung gesellschaftlicher Handlungsbedingungen In diese Leidensgeschichte des Menschen kann er sich mit seiner Geschichte einfügen. Im Gegensatz zu Straßnoff und Manolescu, die sich als Genies und Lebenskünstler ihres Schicksals bemächtigen, begreift Domela sich selbst in Abhängigkeit zu den
617 Ebd., S. 69. 618 Ebd. 619 Ebd., S. 70.
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vorgefundenen und historisch gewachsenen gesellschaftlichen Bedingungen. Seine These zum geschichtlich gewachsenen menschlichen Leidensweg erinnert stark an Marx Formulierung: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“620 Damit lässt sich bei Domela ein reflexiver Transfer der Missachtungs- und Misshandlungserfahrungen feststellen, der folgenreich für seine weitere Entwicklung ist: Er erkennt, dass Menschen handeln und über dieses Handeln für sich und andere weitere Handlungsbedingungen schaffen. Diesen Handlungsbedingungen unterliegt Domela. Sie sind es, die zu seiner Ausgeschlossenheit aus der Gesellschaft geführt haben. Nicht mehr sein Schicksal leitet ihn durch sein Leben, sondern die Bedingungen, die von anderen geschaffen wurden. Und Domela geht während der Wandlung zum Hochstapler noch einen Schritt weiter: Er erkennt nicht nur, dass gesellschaftliches Handeln von vorgefundenen Bedingungen abhängt, sondern – Giddens würde von der „duality of structure“ sprechen621 – das sein Handeln auch Bedingungen für die eigene Existenz schaffen kann. Auf diesem Weg kommt Domela zu der Einsicht, dass er nicht eine Marionette der gesellschaftlichen Verhältnisse sein muss, die von anderen bewegt wird, sondern er kann selbst zum Handelnden werden. Nun ist es ihm möglich, Sinn aus seiner Vergangenheit am existentiellen Abgrund zu schöpfen: „Und als ich mich von meiner Hungerzeit etwas erholt hatte, da begriff ich erst, daß sie doch nicht ganz sinnlos war. Sie hatte in mir eine Selbständigkeit des Denkens entwickelt, die ich für nichts in der Welt wieder hergegeben hätte.“622 Das selbstständige Denken und die Einsichten über seine gesellschaftlichen Handlungsbedingungen führen zu einer Festigung des Selbstverhältnisses in der Welt, treibt ihn jedoch erneut in die Welten hinaus. Domela fasst neuen Mut und wird von der Hoffnung getragen, seine Selbstständigkeit im Denken auch auf sein Handeln übertragen zu können. Was folgt, ist jedoch eine Odyssee der Arbeitssuche, die ihn über Hamburg, nach Leipzig und München und schließlich zurück nach Berlin führt. Alle Bemühungen, Arbeit zu finden, scheitern. Domela verfügt über keinerlei finanzielle Mittel mehr. Wieder ist es der fehlende Nachweis über seine deutsche Nationalität, der es verhindert, dass Domela mittels Arbeit in der Gesellschaft Fuß fassen kann. Doch dann begegnet er dem „Baron Lüderitz“, der versucht, ein von ihm verfasstes Buch, das „nach den Prognosen der berühmtesten Magier ... geschrieben“ wurde und „das Horoskop des Kronprinzen und die Weissagungen über den kom-
620 Marx, Karl: „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Band 8, Berlin: Dietz 1972, S. 111-207, hier S. 115. 621 Giddens, Anthony: Central Problems in Social Theory, London/Basingstoke: Macmillan 1979, S. 69. 622 H. Domela: Der falsche Prinz, S. 70.
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menden Weltkrieg“ enthält, unter die Leute zu bringen.623 Bei einem gemeinsamen Abendessen redet Baron Lüderitz Harry Domela „dauernd mit ‚Herr Graf‘ an“.624 Als Harry „lachend protestiert“, entgegnet der Baron: „‚Ach was, man ist immer der, den man auch äußerlich vorstellt. Sie sehen wie ein Graf aus, ergo sind Sie auch einer. Ich heiße auch nur Lüderitz, aber nachdem mich in Wien einmal der alte Baron von Rothschild mit ‚Herr Baron‘ angeredet hat, bin ich Baron. Wer hindert mich daran, sic! Der Adel ist nach der Reichsverfassung abgeschafft. Ich bin eben Baron! Oder sollen wir uns wie Schuster und Schneider mit ‚Herr Gevatter‘ anreden? Das, was die andern zum Baron macht, habe ich schon lange. Was die an Grütze im Kopf haben, habe ich im kleinen Finger.‘“625
Harry hat seine erste Bekanntschaft mit einem Hochstapler gemacht. Wie zuvor mit Pastor Deters und Wolf lernt er von seinem Gegenüber. Zuvor jedoch äußert er moralische Bedenken gegenüber dessen hochstaplerischen Verhalten. Doch Lüderitz kann darüber nur lachen und antwortet: „Ja, Sie, Sie! Sie würden eher verrecken, bevor sie von der Dummheit der andern lebten. Blödsinn! Die Welt will betrogen sein. Bin ich es nicht, ist’s ein anderer.“626 Lüderitz hoffe, dass Harry diese Lehre von ihm annehme, er solle seinen Verstand gebrauchen und seinen Geist verwerten. Dann läge ihm die ganze Welt zu Füßen. Die Aussagen Lüderitz reflektiert Harry anschließend – wie ja in der kontemplativen Phase beim Schriftsteller gelernt, vor dem Hintergrund der sozialen gesellschaftlichen Situation und bemerkt: „Das war also der ‚Baron‘ Lüderitz. Solche Existenzen laufen in jeder Großstadt zu Tausenden herum; sie verstehen meisterhaft, mit dem geringsten Aufwand von Arbeit und Intelligenz sich jahre-, jahrzehntelang über Wasser zu halten. Und ich war hier in Berlin als Bettler herumgelaufen, drauf und dran, vor die Hunde zu gehen?! Hatte Lüderitz nicht doch recht, wenn er lieber kleine Schelmereien und Taschenspielerstückchen machte, ehe er wehrlos zugrunde ging? War es denn groß ein Verbrechen, die Schwächen der lieben Nächsten auszunützen, um sich selbst vor dem Untergang zu retten? Beruhte nicht Handel und Wandel, bald unmerklich, bald brutal, auf der Ausbeutung des Schwächeren, Dümmeren durch den Klügeren, Stärkeren? Die Frage zu stellen und sie positiv zu beantworten, konnte mir bei meiner Lage nicht schwerfallen. Lüderitzens Lebensauffassung färbte langsam auf mich ab.“627
623 Ebd., S. 73. 624 Ebd., S. 74. 625 Ebd. 626 Ebd., S. 76. 627 Ebd., S. 77.
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Inspiriert von der Unterhaltung mit Lüderitz und dessen Lebensauffassung erweitert Domela seine (marxistisch geprägten) ‚gesellschaftstheoretischen‘ Überlegungen und zeichnet das Bild einer Gesellschaft, in der die „Klügeren und Stärkeren“ die „Schwächeren, Dümmeren“ in den Marktmechanismen („Handel“) und den gesellschaftlichen Veränderungen („Wandel“) ausbeuten. Diese These reflektiert er einerseits vor dem Hintergrund seiner persönlichen biographischen Entwicklung, in der er insbesondere in der Lebenswelt „Arbeit“ den gesellschaftlichen Ausbeutungs- und Ausgrenzungsmechanismen als Schwächerer unterlegen ist. Andererseits eröffnen sich ihm so neue Handlungsoptionen, die sich den Ausbeutungsmechanismen anschließen, sie aber nicht gegen die schwachen Gesellschaftsmitglieder, sondern gegen die privilegierten einsetzt, um in der Gesellschaft nicht unterzugehen. Widersprüchliche Handlungsbedingungen und ihre Auswirkungen auf Sein und Schein Der Hochstapler Lüderitz zeigt ihm, dass es auch für einen von der Gesellschaft Ausgestoßenen möglich ist, über das Handeln neue Bedingungen für weitere Handlungen zu schaffen – wenn er lügt und betrügt. Erfolgreich kann er im Lügen und Betrügen sein, weil die Gesellschaft betrogen werden will. Dieser Wille zum Betrug liegt in den gesellschaftlichen Strukturen selbst begründet: Die Gleichheit aller unter der demokratischen Verfassung von Weimar und der somit möglichen Existenz des Seins steht im unauflöslichen Widerspruch zum Festhalten an der gesellschaftlichen Ordnung des Kaiserreichs und damit am Leben im Schein in großen Teilen der Gesellschaft. Lösen kann Domela diese Interferenz, die sich aus rechtlich verankerter und alltäglich gelebter gesellschaftlicher Ordnung ergibt, indem er diese in seine Handlungen einfließen lässt und sich so neue Handlungsmöglichkeiten schafft: In den Widersprüchen wandelt sich Harry Domela zum Hochstapler. Seine vorherige Strategie, sich den gesellschaftlichen Bedingungen über Interaktionsabbrüche zu entziehen und damit einen ‚Eingriff‘ in die Welt zu unterlassen, wechselt in eine Strategie der Handlung zum Schein, die in die Welt eingreift, ohne dass diese es bemerkt. Obwohl sie von ihr initiiert wird. Sie ermöglicht neue, veränderte Handlungsbedingungen. Harry wandelt sich zum Hochstapler, zum listigen und lügenden Odysseus, der sich auf seine „Irrfahrten“ begibt. Seine erste Hochstapelei begeht er in Darmstadt. Hier zeigt sich die Umsetzung seiner theoretischen mit seinem biographischen Geworden-Sein verknüpften Erkenntnisse: Als erstes legt er sich einen Adelstitel zu, nennt sich „Graf Pahlen“628 und wird prompt von seinem „Landsmann ... Graf Keyserling“ in dessen Villa empfangen.629 Da dieser ihm keine Arbeit vermitteln kann, schickt er Harry weiter zum „Graf
628 Ebd., S. 78. 629 Ebd.
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von Hardenberg“, der ihm finanzielle „Unterstützung“ aus einem Hilfsfond anbietet, die Domela alias Graf Pahlen dankend annimmt.630 Harry Domela reist weiter nach Hanau, wo er sich erneut einer Personenkontrolle durch die Polizei unterziehen muss. Da die Polizisten das „Empfehlungsschreiben des Grafen Keyserling“ bei ihm finden, wird er wegen Betruges angeklagt. Ihm wird in Darmstadt der Prozess gemacht. 631 Die von Domela eingegangene Wandlung, die er auf sein gesellschaftliches Handeln als Hochstapler überträgt, wirft also sofort Folgeprobleme auf. Diese Folgeprobleme bieten ihm jedoch auch einen Raum, in dem er sein Handeln aufgrund seiner gesellschaftstheoretischen, kritischen Überlegungen begründen und rechtfertigen kann: Während der Gerichtsverhandlung hält er der Gesellschaft diesen theoretisch erarbeiteten und im Hochstapeln umgesetzten Spiegel vor: Die den Prozess bestimmende Frage, ob Harry Domela für sein Handeln zu verurteilen ist oder nicht, wird begleitet von der Diskussion darüber, ob Graf Hardenberg ihm die finanzielle Unterstützung wegen seines vorgetäuschten Titels oder wegen Harrys Persönlichkeit hat zukommen lassen. Harry bleibt bei dem Standpunkt, dass er Graf Hardenberg als Person und nicht als Adeliger davon überzeugt hat, ihm zu helfen. Doch der Richter appelliert an die Aufrichtigkeit des Angeklagten. Harry hätte jederzeit kenntlich machen können, dass er nicht Graf Pahlen, sondern Harry Domela sei. Domela wird zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt. Die Begründung des Urteils kann Harry nicht anerkennen. Sie führt zu einer weiteren Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen und der daraus empfundenen Unverhältnismäßigkeit der Strafe: „Ich suchte Arbeit! Und wenn jemand mir Geld gab, weil er mir Arbeit nicht beschaffen konnte, sollte ich seine Mildtätigkeit, die doch meiner Person und meinem Elend galt, hernach mit Gefängnis büßen! Ich dachte an Wolf. Ich konnte nicht einsehen, daß ich Unrecht getan hatte. Was war denn dann Recht? War Recht, verhungern zu müssen? Hatte die Gesellschaft ein Recht, mich verhungern zu lassen? Oder hatte ich nicht das Recht, von ihr zumindestens Arbeit zu verlangen? Wie konnte der Richter ohne weiteres eine Schädigung annehmen, wo doch gar kein Schaden entstanden sein konnte? Wozu war der Fonds eigentlich geschaffen? War seine Beschränkung auf den Adel zulässig, obwohl Gesetz und Verfassung keinen Adel mehr kannten? So saß ich mit Trotz und innerer Auflehnung ab, was ich nicht Strafe, sondern nur Gewalt nennen konnte.“632
Nach der Entlarvung als Hochstapler, der die Scheingläubigkeit des Adels bedient, ist es erneut sein Sein, das – so empfindet es Domela – rechtlich missachtet wird. Diese Missachtung führt zu einer inneren Rebellion und nicht zu einer Beendigung
630 Ebd., S. 79. 631 Ebd. 632 Ebd., S. 82.
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der Hochstapelei. Im Gegenteil und zum Trotz betritt Domela seine hochstaplerische Lebenswelt. In der obigen Selbst-Weltreferenz zeigt sich, dass er seine Tat in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext stellt und sich als der Kenner der Weimarer Verfassung ausgibt. Die Ablehnung des Urteils ist als innere Rebellion zu begreifen. Seine Tat als den Umständen seines Lebens würdig. Wegen dieser Haltung und seines finanziellen Erfolgs aufgrund des Führens eines Adelstitels stellt er die Hochstapelei nicht ein, sondern beginnt jetzt in der Lebenswelt der Irrfahrten seine hochstaplerische Karriere. Selbstgeltung im Schein Ihm gelingt es, in Frankfurt aufgrund der Vortäuschung des Titels eines Barons finanzielle Zuwendungen zu bekommen. Mit diesem Geld fährt er mit einem Taxi nach Berlin, kann aber die Kosten der Reise nicht voll bezahlen. Der Taxifahrer zeigt ihn bei der Polizei an: Harry kommt erneut vor Gericht und wird verurteilt. Diese Verurteilung setzt seinen Ausführungen zufolge einen Reflexionsprozess in Gang, der sich auf seiner gesellschaftskritischen Urteilskraft gründet und zu einem neuen „Selbstbewußtsein“ führt: „So war ich wieder im Gefängnis. Doch gerade die Empörung, die ich über diese Verurteilung empfand, gab mir das Selbstbewußtsein zurück, das ich vor Gericht so kläglich verloren hatte. Hatte ich nicht alle Schläge im Leben überstanden? Spürte ich nicht, wieviel leichter ich allmählich mit Menschen und Dingen fertig zu werden verstand? Mein Geist war beweglich und wendig geworden. Kühl und gelassen hielt ich immer Distanz, [...]. Nun mußte ich etwas gelten. Galt ich nichts oder erniedrigte man mich, so versiegten meine Fähigkeiten.“633
Domela stellt bei sich die Entwicklung fest, dass er als Agierender in die gesellschaftliche Welt eingreifen kann und so „leichter mit den Menschen und Dingen“ fertig wird. Dabei wechseln sich die Machtverhältnisse in den Momenten der Hochstapelei. Im Schein der Rollen kann er seiner Selbstgeltung folgen und die ihm Glauben Schenkenden in ihren Handlungen beeinflussen. Domela erreicht seine Selbstgeltung und die damit verbundene Ausbildung und Anwendung seiner Fähigkeiten nur, wenn er diejenigen, die am Schein der Welt festhalten, täuscht. In der Täuschung liegt seine Macht, weil er darüber Einfluss auf sein Handeln und sein Leben in der Welt nehmen kann. Er hat gelernt, die Weltverhältnisse über Lüge und Täuschung zu verändern. So kann er so lange gut in seinem Sein existieren, bis die anderen den vorgetäuschten Schein bemerken. Dieses Selbstbewusstsein ermöglicht ihm, nicht nur auf gesellschaftliche Zustände zu reagieren, sondern aktiv an der Gesellschaft teilzunehmen. Um dem nach wie vor bedrohlichen gesellschaftlichen Untergang zu entgehen, hofft
633 Ebd., S. 83.
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Domela nicht mehr auf die Unterstützung durch andere, sondern konzentriert sich auf sich selbst und seine Geltung in der Gesellschaft. Die gesellschaftliche Präsentation des Seins im Schein Harry erkennt die Konflikte, die in seinen Lebenswelten eine große Rolle spielen und außerdem, dass sich die Widersprüche in sein Selbst hineinversetzt haben. Um sich soziale Geltung zu verschaffen, wählt er mit seiner Wandlung zum Hochstapler eine gesellschaftliche Präsentation seines Seins im Schein, welche die unauflösbaren Widersprüche bindet und mittels derer er gleichzeitig seinen Untergang abwehren kann. Er festigt sein Selbstbild, bleibt der, der er aufgrund seiner biographischen Entwicklung geworden ist. Verändert hat sich, dass er die Beziehung zu „Menschen und Dingen“ neu definiert: Über Lügen und Täuschen kann er sie beeinflussen. Die Lebenswelt als Hochstapler Harry Domela, der sich im Gegensatz zu Manolescu und Straßnoff in seiner Biographie nicht selbst als Hochstapler bezeichnet, schildert in seiner hochstaplerischen Lebenswelt die verschiedenen Rollen, die er spielt, in chronologischer Abfolge. Innerhalb dieser Chronologie der Hochstapelei lässt sich die Entwicklung feststellen, dass Domela immer weiter darin voranschreitet, seine vorgetäuschten Rollen mit seinen biographischen Erfahrungen und seinen politischen Überzeugungen zu verbinden. Er nutzt am Ende dieser hochstaplerischen Lebenswelt seinen über das Hochstapeln erreichten gesellschaftlichen Schein, um in der getäuschten Gesellschaft ein authentisches Sein zu verankern. Diesem Entwicklungsprozess und dessen gesellschaftlichen und individuellen Folgen gehen die folgenden Ausführungen nach. Hochstapelei: der Zugang zur Welt des Scheins Als „Graf v. d. Recke“ verdient sich Harry Domela sein Geld als Zigarettenhändler.634 Er legt sich diesen Namen zu, um seine Verdienstmöglichkeiten zu verbessern. Mittels des Titels, der eine adelige Herkunft suggeriert, öffnen sich die Türen der wohlhabenden Gesellschaft in Potsdam. Die Entscheidung, zu lügen und zu täuschen, wird von Harry ex negativo als Ausdruck von Erfahrung betrachtet: „..., sei doch nicht blöde und markiere einen von denen, die sich ’ne Krone ins Schnupftuch sticken lassen. Der Schatten des ollen Lüderitz fiel über meinen Weg.“635 Um sich selbst zu beruhigen, rechtfertigt er seine Täuschungen und Lügen damit, dass sie keinem schaden. Schließlich erhalten die Belogenen ja „reele Ware für billig Geld“.636 Sein erstes
634 Ebd., S. 89. 635 Ebd. 636 Ebd.
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‚Opfer‘ ist der „Graf v. Sch.“, der ganz „entzückt“ von Harrys Gesellschaft ist.637 Seine Entzückung fußt nach Domelas Ansicht darauf, dass er in die Rolle des Grafen v. d. Recke Aspekte seines Seins einfließen lässt: Er weiß sich zu benehmen und kann seine Kenntnisse „über Japan“ in ein Gespräch über eine „Sammlung japanischer Bronzen“ einfließen lassen. Harry stellt sich die Frage, „ob er [der Graf v. Sch., KS] von Harry Domela auch so erbaut gewesen wäre.“638 In seiner Rolle als Graf v. d. Recke fühlt sich Domela in der adeligen „Welt zu Hause, die mich in der ersten Zeit bestrickte und bezauberte. Eine mir ganz neue Welt, diese Welt des Adels, der Militärs und der Höflinge.“639 Er lernt die Bedeutung des Scheins innerhalb dieser gesellschaftlichen Schichten als einer unter ihnen kennen: „Die Hauptsache dabei ist die Art, wie man spricht, die Handbewegung, die die Rede begleitet, die Haltung, die man wahrt. ‚Haltung ist alles!‘ Der schöne Schein gesellschaftlicher Formen, die vornehme Zurückhaltung, der Takt im Verkehr mit Menschen gleicher Lebens- und Sinnesart schaffen eine weiche Atmosphäre, die jeden angenehm umfängt und einschläfert.“640
Nach einiger Zeit beginnen ihn, Gewissensbisse aufgrund seiner Hochstapelei, seiner damit verbundenen Lügen und Täuschungen zu plagen, Harry versucht sich aus der Welt des Scheins zurückzuziehen. Doch er wird „vermisst“ und kommt gegen seinen „Willen von ihrer Welt nicht los.“ Sein Einblick hinter die Kulissen des Scheins vertieft sich: „Damit begann ich sie mehr und mehr kennenzulernen. Was mich zuerst bestrickt hatte, verlor nach und nach seine Bedeutung. Jetzt sah ich hinter diesen gepflegten Formen die Menschen, – und der Eindruck, den ich nun von ihnen gewann, war nicht der beste.“641
Verschiedene Episoden verdeutlichen ihm mehr und mehr, dass die „Potsdamer Adelsgesellschaft ... eine Welt von gestern“ ist.642 In seiner Rolle als Graf von der Recke entwickelt Domela ein ambivalentes Verhältnis zur Welt des militärischen und adeligen Scheins. Zunächst bedeutet der Zugang zu dieser Welt eine Verbesserung der finanziellen Situation. Er erfährt einen ihm angenehmen Umgang mit seiner Person, ist bei seinen adeligen Opfern beliebt und lebt in einer „Atmosphäre“, die sich deutlich von seinem Leben auf der Straße oder als Hilfsarbeiter unterscheidet. Doch
637 Ebd. 638 Ebd. 639 Ebd., S. 90. 640 Ebd., S. 91. 641 Ebd. 642 Ebd., S. 95.
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je länger er in der Welt des Scheins verweilt, desto desillusionierter ist er von ihr. Er erlebt sie als vergangenheitsorientiert und fern von der gesellschaftlichen Realität. Nach ein „paar Wochen“ fliegt seine Hochstapelei auf. Er wird verhaftet und „zu drei Monaten Gefängnis“ verurteilt.643 Nach seiner Haftentlassung schlüpft er - nach einer erneuten Ausbeutungserfahrung als Hilfsknecht auf einem Bauernhof - in die Rolle des Prinzen Lieven. Nach einem kurzen Intermezzo in Hamburg reist er nach Heidelberg. Dort verschafft ihm seine Rolle als Prinz Lieven den Zutritt zur Burschenschaft der Saxo-Borussen.644 Hochstapelei: die Verknüpfung von Schein und Sein In dieser Hochstaplerphase setzt sich Harry intensiver damit auseinander, dass ihm die Rolle des Prinzen von anderen zugesprochen wird, ohne dass er sich diesen als Prinz vorgestellt hat.645 Seine Rolle als Adeliger erweitert er außerdem um eine militärische Komponente: Er ist jetzt auch ein „Leutnant im 4. Reichswehr-Reiterregiment, Potsdam“.646Als Hochstapler scheint er selbstsicherer und gereifter zu sein. Er verleiht seiner Hochstapelei außerdem den Gestus des Spielerischen: Sie sei „Blödsinn“, „Zimt“ und eine „Komödie“.647 Domela beschließt zunächst, mit diesem Spiel mit der Wirklichkeit aufhören zu wollen. Doch dann überkommt ihn die „Langeweile“.648 Wiederholt rechtfertigt er sein hochstaplerisches Handeln damit, dass dieses keinem schadet. Domela verweist auf seine bisherigen Erfahrungen, dass der Schein das Sein bestimmen kann: „Gelte was, so bist du was!“649 Harry Domela gelingt es, in der Burschenschaft der Saxo-Borussen hofiert zu werden, und beginnt, seine vorgetäuschte Rolle mit subjektiv-authentischen politischen Ansichten zu verknüpfen. Dies zeigt beispielsweise folgende Episode: „Ein anderer ... fuhr dazwischen: ‚Meiningen hat ganz recht. Wir kommen schon von selbst in unsere Positionen, die ein für allemal für uns da sind. Wir übernehmen dazu einfach die bewährten Grundsätze, die Verwaltungsmaximen unserer Väter. Wir wollen von gar nichts anderm wissen. Wozu?! Wär’ ja ausgemachter Blödsinn!‘ Wieder ein anderer äußerte: ‚Was gehn uns überhaupt die andern an. Was sie denken und treiben, ist uns Wurscht. Wir sind wir! ....‘
643 Ebd., S. 98. 644 Vgl. Ebd., S. 106ff. Diese Episode wurde von den Zeitgenossen Domelas am meisten beachtet und rezipiert. Siehe dazu ausführlicher: Bertrams, Kurt U. (Hg.): Der falsche Prinz und die Saxo-Borussen. Die Abenteuer des Harry Domela, Hilden: WJK 2006. 645 Vgl. H. Domela: Der falsche Prinz, S. 114. 646 Ebd. 647 Ebd., S. 115. 648 Ebd., S. 116. 649 Ebd.
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Über diese Ansichten mußte ich nun doch den Kopf schütteln. ‚Na, na, meine Herren‘, konnte ich mir nicht verbeißen, ‚da fürchte ich, daß Sie die Zeichen der Zeit nicht verstehen. Mit diesen Maximen läßt sich ein Volk heut nicht mehr regieren.“650
Die kritischen Äußerungen gegenüber den Ansichten der Burschenschaftler und ihrem Benehmen irritieren die Saxo-Borussen. Die von Harry als Prinz Lieven gemachten, von den Burschenschaftlern nach Harrys Angaben dem linkspolitischen Spektrum zugeordneten Äußerungen passen nicht zu denen, die von einer adeligen Person oder von einem Leutnant erwartet werden. Harry erfährt von den Irritationen, die er über die Verbindung von Schein und Sein in der Hochstaplerrolle auslöst, als er zufällig der Zeuge einer Unterhaltung zwischen Burschenschaftlern wird: „Als ich am nächsten Mittag zum Essen komme, höre ich bei meinem Eintritt vom Garderobenraum aus eine bemerkenswerte Unterhaltung. Ich vernehme Worte wie: ‚Roter Prinz‘, ‚verdrehte Ansichten‘, ‚unmöglich für Leutnant‘, ‚is’ er denn Leutnant?‘, ‚jedenfalls schneidiger Kerl‘, ‚tadelloses Benehmen!‘. Als ich eintrete: Totenstille, allgemeine Verlegenheit!“651
Insbesondere der Ausdruck „Roter Prinz“ markiert die Verknüpfung von Sein und Schein, im hochstaplerischen Handeln Domelas bei den Saxo-Borussen. Er beginnt vergangene biographische Erfahrungen und Erkenntnisse, die er daraus gewonnen hat, mit seiner Rolle als Prinzen zu kombinieren und in sein gesellschaftliches Handeln einfließen zu lassen. Deutlich wird dies auch in einer weiteren Zuschreibung seitens zweier Studenten, die ihn als „ vagabundierende[n] Prinz[en]“ bezeichnen und prognostizieren: „Da können wir uns ja noch auf Überraschungen gefaßt machen.“652 In seiner Hochstaplerrolle „Prinz Lieven“ spielt Harry Domela ein doppeltes Spiel mit seinen ‚Opfern‘: Er täuscht eine Rolle vor, erfüllt dabei die an diese Rolle gesetzten Erwartungen und bricht dann mit diesen, indem er sich nicht rollenkonform, aber authentisch, ausgerichtet an seinem Sein, verhält. Neben seinen gesellschaftskritischen Ansichten sind es insbesondere seine „Kenntnisse von Persönlichkeiten und Umständen“. Sie sind ihm dabei nützlich, dass nicht der „geringste Verdacht an seiner Prinzenrolle“ aufkommt.653 Wenn Zweifel an seiner Person aufkommen, gelingt es ihm die Scheinnormalität wieder herzustellen (vgl. Kapitel 3.3.2). Dies macht er vorzugsweise dadurch, dass er sich in kritischen Situationen nach außen selbstbewusst gibt und in die Unterhaltungen der Zweifler verbal oder nonverbal eingreift.
650 Ebd., S. 126. 651 Ebd., S. 138. 652 Ebd. 653 Ebd., S. 128.
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Harry Domela treibt die Ausgestaltung des Scheins mit seinem Sein in der Täuschung weiter auf die Spitze, als er einen bei den Saxo-Borussen beliebten Kinofilm mit Marx Worten als „Opium fürs Volk“ kritisiert.654 Dass sich Domela hier ausgerechnet auf Marx Werk „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ bezieht, zeigt zum einen, dass er seine politischen Ansichten nicht verhehlen will. Zum anderen bietet dieser Verweis einen Einblick darin, wie sich Domela selbst als Hochstapler versteht. Verbunden damit sind auch eine gewisse Selbstironie und der erneute Hinweis auf sein Weltbild, das sich aus der Verbindung eigener Erfahrungen und (marxistischer) gesellschaftstheoretischer Überlegungen speist. Liest man die Einleitung von Marx Rechtsphilosophie, erscheinen die von Domela in der Lebenswelt „Irrfahrten“ entwickelten gesellschaftstheoretischen Thesen als nahe Adaption: „Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d’honneur (Ehrenpunkt), ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“655
Auch wenn diese Bezugnahme auf Marx ein bisschen hoch stapelt, ergeben sich mit ihr doch Hinweise für das Selbstverständnis von Domela als gesellschaftliches Subjekt: Er will nicht apathisch sein, sondern die Illusionen der Gesellschaft enttarnen und sich selbst gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse auflehnen. Dabei bedient er sich des Hochstaplers, der der Gesellschaft eine ‚verkehrte Welt‘ und eine ‚phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens‘ zeigt. Diese Aufgabe, die Domela seinen Hochstapeleien zumisst, wird in der Lebenswelt des Hochstaplers weiter vorangetrieben und mündet in dem hochstaplerischen
654 Vgl. ebd., S. 139. 655 Marx, Karl: „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“, in: Karl Marx/ Friedrich Engels: Werke, Band 1, Berlin: Dietz 1976, S. 378-391, hier S. 378, Herv. i.O.
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Coup, für Prinz Wilhelm von Preußen gehalten zu werden. Diese hochstaplerische Episode nimmt ihren Anfang in Erfurt. Dorthin reist Domela über einen Zwischenstopp in Frankfurt. Zuvor hat er Heidelberg verlassen, weil ihn die Eintönigkeit in der burschenschaftlichen Gemeinschaft zu langweilen beginnt. Außerdem droht ihm, als Hochstapler entlarvt zu werden.656 Angekommen in Erfurt nimmt er als Baron v. Korff standesgemäße Logis im luxuriösen „Erfurter Hof“: „Warum sollte ich nicht dort hingehören, jetzt, wo ich mit Grafen und Baronen als Gleicher zu Tisch gesessen hatte?“657 Domela trifft auf „Gottlieb Portofei“, einen Landsmann, mit dem er sich regelmäßig trifft und der seine ‚wahre‘ personale Identität kennt.658 Eines Abends bietet der Hoteldirektor ihm und Portofei an, im Hotel eine Ausstellung zu besuchen. Domela und Portofei folgen der Einladung und treffen den Künstler persönlich in den Ausstellungsräumen an. Harry verhält sich seines vorgetäuschten Standes entsprechend reserviert, wodurch er an „Hochachtung jedoch nur zu steigen schien.“659 Nach einer Diskussion über die Qualität der Portraitmalerei machen sich der Hoteldirektor und Portofei auf die Suche nach einem Gemälde, das der Künstler begutachten soll. Portofei kommt lachend zurück und berichtet Harry, dass man ihn nun für „Prinz Wilhelm von Preußen“ halte.660 Harry und Portofei amüsieren sich zunächst über die Verwechslung. Harry spottet, er sei „ein Prinz ohne Mittel...!“661 Der „Unsinn“ schmeichelt ihm jedoch, da er „mit solchen Augen“ angesehen wird und erlebt, „wie alles vor mir in Ehrfurcht erstarrte.“662 Wieder wird ihm der Aufenthalt im Erfurter Hotel „zu langweilig“.663 Er macht sich abermals auf nach Berlin. Dort bezieht er als „Baron Korff“ ein Zimmer im „Habsburger Hof“ [...], in dem die märkischen Adligen abzusteigen pflegten.“664 Domela macht dort die Bekanntschaft mit dem jungen Baron T., dem gegenüber er sich als ein gebildeter Adeliger ausgibt und T. „einige moderne Bücher“ zum Kauf empfiehlt.665 Gemeinsam mit seinem adeligen Bekannten gewinnt er beim Glücksspiel eine größere Geldsumme. Als die beiden in den Habsburger Hof zurückkehren, wird Domela „allgemein als Königliche Hoheit angeredet“ – „überall Blicke der Ergebenheit und der
656 Vgl. H. Domela: Der falsche Prinz, S. 145. 657 Ebd., S. 151-152. 658 Ebd., S. 152. 659 Ebd., S. 154. 660 Ebd., S. 155. 661 Ebd., S. 156. 662 Ebd. 663 Ebd. 664 Ebd. 665 Ebd., S. 157.
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Ehrfurcht“.666 Harry Domela beschreibt seine Empfindungen und Befürchtungen, die angesichts dieser personalen Identitätszuschreibung bei ihm aufkommen: „Ich war wie benommen. Doch schmeichelte es mir, die Ehrerbietung meiner ganzen Umgebung auf mich zu ziehen. Nur eins beunruhigte mich: In welche Verlegenheit konnte ich hier geraten, wenn plötzlich jemand auftauchte, der den wirklichen Prinzen kannte! Jeden Augenblick konnte eine Aufklärung erfolgen.“667
Er beschließt, um diesen Schwierigkeiten zu entgehen, nach Erfurt zurückzukehren. Dort allerdings will er trotz seiner Angst vor Entlarvung die Rolle des Kronprinzen weiter spielen: „Es war doch zu angenehm, ständig der Gegenstand höchster Achtungsbezeugung zu sein.“668 Erfolgte das Spielen der Hochstaplerrolle „Prinz Wilhelm von Preußen“ zunächst aufgrund einer zufällig von außen herangetragenen Identitätsfestlegung, bekundet Domela seinen Willen, in Erfurt „die Rolle bewußt“ weiterzuspielen.669 Er fliegt also mit dem Flugzeug nach Erfurt und mimt dort die Rolle des Kronprinzen, der inkognito als Baron Korff in der Stadt verweilen möchte. In dieser Rolle trägt er sich in das „Goldene Buch des Hotels [...] hinter der Seite, auf der sich der „Reichskanzler“ verewigt hat, ein.“670 Hochstapelei: neues und altes Sein im Schein Dieser Eintrag führt dazu, dass Domela nun auch von anderen Hotelgästen und dem Hotelpersonal für den Kronprinzen gehalten wird. Domela beschreibt die Auswirkungen der Ehrerbietungen auf sein Selbst: „Es gab mir förmlich einen Knacks. Ich kam mir selbst so ganz anders vor. Alles fiel von mir ab, was ich von dem harmlosen Harry Domela an mir hatte. Ich meinte, es wüchse mir eine ganz neue Haut. Ich fühlte mich so isoliert, so groß, und glaubte, über allem, was da an Menschenzeug herumkroch, einherzugehen. So war ich Prinz, jeder Zoll ein Fürst, und gab mich mit einer mich selbst verblüffenden Selbstverständlichkeit. ... Nun war ich Prinz Wilhelm von Preußen.“671
Als Prinz Wilhelm begegnet er unter anderem dem „Kommerzienrat H.“, ein „Selfmademan“, der ihn aufgrund seines Wissens über die politischen Zustände in Deutschland beeindruckt und versucht, „Verständnis für Deutschlands frühere und
666 Ebd., S. 159. 667 Ebd. 668 Ebd., S. 160. 669 Ebd. 670 Ebd., S. 161. 671 Ebd., S. 162-163.
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heutige Entwicklung in ihm zu wecken, fördernd und anregend auf ihn einzuwirken und die Unterhaltung für einen jungen Hohenzollern in jeder Hinsicht interessant zu gestalten.“672 Harry zieht emotionale Parallelen zu seiner Freundschaft mit Wolf und überlegt, ob er dem Kommerzienrat, der zu ihm „so vertraulich spricht, wie ein Vater zu seinem Sohne“, seine Hochstapelei gestehen soll: „Es berührte mich ganz seltsam. Wie konnte ich es wagen, vor diesem Manne zu sitzen? Wie durfte ich mir erlauben, mich in den Frieden seiner Privaträume einzuschleichen, lediglich einer eitlen Rolle wegen. Wenn ich mich ihm eröffnete? Wenn ich ihm bekennen würde: ich bin nicht der, für den du mich hältst! Ich bin ein armer, herumirrender, entgleister Mensch! Hilf mir, den rechten Weg zu finden! Hilf mir, Anker zu werfen und endlich Boden zu fassen! Schon einmal griff ich hier, – hier in Erfurt – zerlumpt und hoffnungslos wie ich war, nach der rettenden Hand. Ich überlegte und sah ihn an ... Ja, würde der Mann da vor mir nicht empört sein, solcher Lüge Opfer gefallen zu sein?! Würde er, über mein Tun und Treiben eifernd, mir nicht sofort mit drohender Gebärde die Tür weisen? In Nacht und Nebel hinaus auf die Straße! Hinaus! Da stand er vor mir... Ich glaubte ihn zu sehen, wie er wirklich war... offen heraus, konsequent bis zum letzten. Ich konnte das Zutrauen nicht aufbringen, mich ihm zu entdecken. Ich konnte es nicht...“673
Auf diese Begegnung und die damit verbundenen Gefühle des Zwiespalts reagiert Domela unruhig. Seinem unsteten Wesen entsprechend verlässt er Erfurt und begibt sich – gemeinsam mit dem Hoteldirektor, der sich als „sachkundiger Begleiter“ aufdrängt – auf einen Ausflug nach Weimar. Danach reist er nach Gotha, wo er in einem Hotel die Fürstensuite bezieht. In Anbetracht des Prunkes, der ihn im Hotelzimmer umfängt, blickt er auf seine Zeit der Obdachlosigkeit in Berlin zurück: „Ich war im siebten Himmel! Ich mußte an Berlin zurückdenken, wo ich zusammen mit Wolf mit brennenden Augen vor den Stätten moderner Raumkunst gestanden hatte, und jetzt besaß ich es alles selbst! Glanz, Schönheit, Ruhe! Es war wie ein Traum. Ich versank in all diesem Reichtum. Es war mir gar nicht mehr bewußt, daß mir all dies nicht gehörte. Ich besaß es, weil ich da war. Alles Dumpfe, Finstere, Häßliche und Grausame lag weit hinter mir. ... Hier ging ich auf der Sonnenseite eines abgeklärten, wunschlosen Lebens. Bisher war ich in meinem Leben ein geschundener und bösgezauster Mensch gewesen. Jetzt saß ich an den Tafeln des Überflusses und war glücklicher als der gichtgeplagte Fürst, der zuweilen in diesen selben Räumen wohnte.“674
672 Ebd., S. 166-168. 673 Ebd., S. 169. 674 Ebd., S. 173.
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Es folgt ein weiteres Treffen mit dem Kommerzienrat H. Domela besucht ihn auf dessen „Kreuzburg“ und macht dort die Bekanntschaft mit „Mrs. Harkott aus Toledo“.675 In der Bibliothek des Kommerzienrates lässt Harry erneut eigene politische Ansichten in seine hochgestapelte Rolle einfließen – zur Überraschung des Hausherrn. So sagt er beispielsweise: „Er Noske, KS und Ebert sind diejenigen gewesen, die Deutschland 1918 vor dem Untergang gerettet haben.“676 In einer Unterhaltung mit der Amerikanerin kommt von ihrer Seite die Frage auf, wie Domela alias Baron Korff alias Prinz Wilhelm angesprochen werden möchte. Harry antwortet: „Um Gottes willen keine langen Anreden! Nennen Sie mich einfach Prinz. So bin ich es seit Jahren gewöhnt!“677 In dieser Aussage verschmelzen die eigene vergangene biographische Geschichte und die hochgestapelte Rolle. Die Erfahrungen im Schein werden als Bestandteile eines neuen Seins verstanden, das an das alte Sein anknüpft. Im Gegensatz zu den anderen hochstaplerischen Rollen, in denen das Sein von Domela zum Beispiel in Form von politischen Ansichten in den Schein einfließt, hat die Rolle als Prinz von Preußen Auswirkungen auf das Sein, weil es sich als Konsequenz aus biographischen Erfahrungen, Fähigkeiten und Charaktereigenschaften ergibt. Diese Erfahrung der Kausalität des subjektiven Geworden-Seins mit dem Leben im Schein führt zur angestrebten Selbstgeltung in der Gesellschaft: „Ich besaß es, weil ich da war.“678 Doch diese Verschmelzung von Schein, altem und neuem Sein, die dazu führen, dass die Hochstapelei einen Selbstgeltungsanspruch hervorbringt, wirft Folgeprobleme sowohl für das Sein als auch den Umgang mit anderen in der Welt des Scheins auf. Hochstapelei: die Folgeprobleme für das Sein Immer wieder setzt sich Domela im Laufe der Hochstaplerzeit als Prinz Wilhelm selbst ins Verhältnis zu seiner gespielten Rolle und zu seiner ‚wirklichen‘ gesellschaftlichen Situation. Er hinterfragt seine gesellschaftliche Verortung, indem er zwischen der Hochstaplerrolle und seiner Identität ‚Harry Domela‘ ein Spannungsfeld herstellt, dessen Pole die Verortungen als „Prinz“ und als „Harry Domela“ innerhalb der Gesellschaft und in Interaktion mit den anderen darstellen. Dieses Spannungsfeld führt zu einem ungewissen Ausblick auf die Zukunft, zu diffusen Empfindungen und kennzeichnet die Folgeprobleme hochstaplerischen Handelns. So schreibt er beispielsweise: „Ein namenlos bitteres Gefühl quoll in mir auf. Ein Prinz hatte doch
675 Ebd., S. 174-175. 676 Ebd., S. 175. 677 Ebd., S. 177. 678 Ebd., S. 173.
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alles. Ob mir, dem Harry Domela, jemand dies angeboten hätte? Wo mochte ich im Sommer sein? In welcher Lage?“679 Oder: „Auf der Fahrt dachte ich über meine Zukunft nach. Blitzartig ging mein ganzes bisheriges Leben an mir vorüber. Was bedeutet für mich dieses ungeahnte neue Leben? War ich nicht ein Fremdling in der Welt? Und mußte nicht mein Absturz um so niederschmetternder sein, je mehr ich mich mit diesem Leben des Glanzes befreundete, um so schmerzhafter, je mehr der schönen Tage vergingen? Es graute mir vor dem alten dumpfen Leben im Schatten... Ich hatte das Lichte, das Sonnige, das Glanzvolle gesehen. Ich wollte nicht mehr ins Dunkel zurück. [...] Was war ich ihnen als Mensch?“680
In dieser Reflexion, die während einer Autofahrt stattfindet, benennt er auch das Motiv der Eitelkeit für seine Hochstapelei und differenziert zwischen denen, die es ‚wert‘ sind, betrogen zu werden, und denjenigen, bei denen er ein schlechtes Gewissen bekommt. Gleich ist beiden Parteien, dass er ihnen als Harry Domela ein „Nichts“ ist, dass sie ihren Platz in der Gesellschaft gefunden haben und er „draußen stand“.681 Neben Zukunftsängsten plagt ihn die Frage: „Was bist Du denn?“ Die Antwort fällt ernüchternd aus: „Ein unsteter Fremdling auf dieser Erde! Ein Mensch, der so häßliche und verächtliche Mittel, Lug und Trug, nicht scheut, nur, um ein paar Tage des Glanzes zu genießen. Ein Mensch, der diese wenigen Tage auf der Sonnenseite des Lebens mit einer unausgesetzten moralischen Degradierung erkaufen muß! Pfui über dieses Leben des schönen Scheins! Dein wirkliches Leben ist ja doch nur ein Hundeleben! ... Ich war völlig in mich zusammengesunken. Meine Stimmung war unbeschreiblich. Schluß machen! Schluß machen!“ 682
Doch dieser innere Beschluss des moralisch Degradierten wird durch die äußeren Umstände revidiert: Zurück im Hotel fällt sein „Blick urplötzlich auf zwei Fürstenbilder, die leblos auf mich niederstarren... Was hatten die da vor mir voraus? Waren’s nicht auch nur Menschen wie ich?! ... Ich war doch noch jung. Ich war doch gesund...! Aus?! Aus?! – Nein, nur nicht unterkriegen lassen! Mochte kommen was wollte!“683 Und so spielt er seine Rolle weiter. Besucht Theater, wo er „‚auf sein
679 Ebd., S. 178. 680 Ebd., S. 179-180. 681 Ebd., S. 180. 682 Ebd. 683 Ebd., S. 181-182.
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Volk‘“ hinabblickt und einen überregionalen Bekanntheitsgrad in der Öffentlichkeit erlangt.684 Zeitungen wie die „Erfurter Tribüne“ beginnen, über die Anwesenheit des Prinzen von Preußen zu berichten: „Stündlich hatte ich mit einer Entlarvung zu rechnen. ... Jedenfalls war es mir klar, daß meine Gastrolle in Thüringen bald ein für allemal zu Ende war.“685 Domela verlässt Thüringen und steigt im „Habsburger Hof“ in Berlin ab.686 Seine finanziellen Mittel neigen sich dem Ende zu. Während seiner Spaziergänge durch die Hauptstadt kommen Erinnerungen an sein „Vagabundenleben“ hoch, die existentielle Ängste auslösen. „Mit Händen und Füßen sträubte ich mich dagegen. Nein, das durfte nicht sein! Ich wollte nicht erneut untersinken und verwahrlosen!“687 Domela fasst den Entschluss, der Einladung des Kommerzienrates auf das Schlosshotel in Gotha zu folgen: „Lieber in Gotha nach Wochen des Glanzes entlarvt werden, als hier in Berlin wieder der Straße verfallen.“688 Seine Entlarvung steht seiner Ansicht nach unmittelbar bevor. Doch als gesellschaftskritischer Rebell im Geiste benennt er die Motivation für den Verbleib in der hochgestapelten Rolle: „Es prickelte mir in den Fingerspitzen, denen da drinnen eine Lektion zu erteilen, über die alle Welt lachen sollte. Mochten sie sich doch blamieren, so gut sie konnten, diese hochmütigen, verachtend-verächtlichen Gesichter. Sie sollten ihren Prinzen haben, vor dem sie in Wollust, in Knechtseligkeit erschauern konnten. Die große Szene begann.“689
Hochstapelei: der Bruch mit der Welt des Scheins Harry ist mit seiner Rolle als Wilhelm von Preußen in der Zwischenzeit noch stärker in das mediale Interesse gerückt. Immer mehr Zeitungen und Zeitschriften berichten über seinen Aufenthalt und seine Auftritte. Die Zeitungslandschaft ist über die Echtheit der Identität des Prinzen von Preußen gespalten. Dass Harry seine Rolle dennoch weiterspielt, führt zu einer weiteren Entwicklung in den Reflexionen über die eigene Situation: Zunehmend sieht er sich in der Distanz zu den Kreisen, in denen er als Hochstapler agiert. Will er am Anfang noch dazugehören, ist vom schönen Schein eingefangen, um seine Lebenssituation zu verbessern, stellt sich gegen Ende der hochstaplerischen Episode ein zunehmendes Distanzgefühl ein. Trotz der Anerkennung seiner hochstaplerischen Rolle ist er auch jetzt in der „befrackten, feierlichen
684 Ebd., S. 182. 685 Ebd., S. 186. 686 Ebd. 687 Ebd., S. 187. 688 Ebd. 689 Ebd., S. 192-193.
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Gesellschaft, die jede Handbewegung ... beobachtete ... vollkommen fremd.“690 Dies liegt für ihn nicht nur daran, dass sich seine einfache Kleidung erheblich von denen der anderen unterscheidet, sondern auch daran, dass er als „königliche Hoheit“ nicht mehr „als Gleicher unter Gleichen“ – wie in seiner Hochstaplerrolle in Potsdam –, sondern „als Erster, als Mittelpunkt, um den sich alles drehte“ behandelt wird.691 In dieser doppelten Distanzierung zeigen sich ihm seine intellektuellen Fähigkeiten, die dazu führen, dass er sowohl seine Lügen, seine Täuschungen als auch seine gespielte Rolle aufrechterhalten kann. Immer weiter schreitet der Bruch mit der Hochstaplerrolle voran, immer mehr fließen die eigenen Erfahrungen in seine Äußerungen als Prinz mit ein. So diskutiert er beispielsweise mit der „Dame des Hauses“ und dem „Rittmeister“ während der Jagdgesellschaft über die Situation der Arbeiter auf dem Lande, ihren Lohn und die Arbeitslosenunterstützung. 692 Dabei präsentiert sich Domela als Verteidiger der einfachen Arbeiter und rekurriert auf die eigenen Erfahrungen: „‚Und werden dann wegen der paar heimlich verdienten Pfennige Nebenverdienst noch ins Gefängnis gesteckt und verlieren die ganze Unterstützung, verehrter Herr Rittmeister.‘ Der Rittmeister war ganz verwundert, daß ich so gut Bescheid wußte. Mich wurmte nur, daß ich nicht ganz so deutlich werden konnte, wie ich gemocht hätte. ‚Nein, Herr Rittmeister, was wissen wir von Arbeitslosigkeit, aber daß die Leute aus reiner Bosheit frieren und hungern, können Sie mir nicht einreden. Wie mancher möchte arbeiten, aber wenn’s weniger einbringt als die Unterstützung, wären die Kerls ja blödsinnig!‘ Der königliche Rittmeister war völlig überrascht. Ein königlicher Prinz und dann dieses Fraternisieren mit dem Pöbel!“693
Der Gedanke an die bevorstehende Entlarvung lässt ihn nicht los. Allerdings überfallen ihn nicht mehr nur existentielle Ängste, sondern in ihm erwacht auch die Abenteuerlust, die ihm einen Ausblick auf ein „wirkliche[s] Leben“ beschert: „Also noch zwölf Stunden Prinzendasein! Dann konnte die Jagd meinetwegen losgehen! Hurra! War es nicht der heiße Atem eines abenteuerlichen Lebens, der mir entgegenwehte, war es nicht wirkliches Leben?“694 Die bevorstehende Aufgabe der Hochstaplerrolle manifestiert sich auch in seinem letzten Eintrag in ein Goldenes Buch, den Domela in Weimar vornimmt: „In fide robur!“, schreibt er und persifliert damit die ‚Festigkeit im Glauben‘, die ihm als Hochstapler entgegen gebracht wurde.
690 Ebd., S. 209. 691 Ebd. 692 Ebd., S. 219. 693 Ebd. 694 Ebd., S. 233.
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Das Ende der Hochstapelei: die Rückkehr in die Welt des Scheins Domela verlässt Thüringen und zieht „[e]ine Meute von Kriminalbeamtem und Spitzeln hinter [sich] her. Das wahre Kesseltreiben!“695 Erst jetzt sei ihm das Riesenausmaß seiner Taten bewusst geworden. Domela sieht sich einer trüben Zukunft entgegenblicken: „Straße, Gefängnis, Gefängnis, Straße: das stand mir bevor.“696 Um der Straße und dem Gefängnis zu entgehen, trifft er den Entschluss, sich der Fremdenlegion anzuschließen, weil: „Deutschland will dich ja gar nicht.“697 Doch als er am nächsten Morgen in den Zug nach Frankreich steigen will, wird er von Kriminalbeamten festgenommen. Das Ende seiner biographischen Erzählung schließt den Kreis zum Anfang der Biographie: Im Gefängnis sitzend, an seinen Erinnerungen schreibend erhält er einen Brief von seiner Mutter, die doch noch lebt und alles versteht, „ohne daß ich es ihr hätte erklären müssen.“698 Hochstapelei: Schein-und-Sein-Variationen im Selbst-Weltverhältnis Insgesamt betrachtet zeigt die biographische Rekonstruktion der hochstaplerischen Lebenswelt die Bedeutung der Hochstapelei für Domelas Entwicklungs- und Bildungsprozess in vielfältigen, sich einander bedingenden Variationen über die Bedeutung von Schein und Sein für das Handeln des Subjektes in gesellschaftlichen Kontexten. Erarbeiten ließ sich erstens die Variation „Hochstapelei: der Zugang zur Welt des Scheins“. Zugang ist im doppelten Sinne zu verstehen: Auf der eine Seite gelingt es Domela mittels des Hochstapelns, eine Zeit lang seinem von Ausgrenzungs- und Missachtungserfahrungen geprägten Sein in der Gesellschaft zu entkommen. Auf der anderen Seite ermöglichen Täuschung, Lüge und Hochstapeln ihm auch, Erkenntnisse über die Welt des Scheins zu erlangen, die er mittels seines authentischen Seins nicht hätte erlangen können. Zweitens konnte eine Entwicklung aufgezeigt werden, die von Domela mit seinen Hochstapeleien vollzogen hat, und die sich unter „Hochstapeln: Verbindung von Schein und Sein“ zusammenfassen lässt. Hier zeigte sich, dass es Domela möglich wird, in seinen Hochstaplerrollen politische Ansichten und Erkenntnisse aus vergangenen biographischen Erfahrungen einfließen lassen kann. Drittens zeigen die Varianten „Hochstapelei: neues und altes Sein im Schein“ und „Hochstapelei: die Folgeprobleme für das Sein“ die Auswirkungen zwiespältiger Erfahrungen eines Zwischen-den-Welten-Seins, die zum einen dazu führen, Selbstgeltung und Anerkennung in Momenten der Täuschung zu erlangen. Zum anderen führt sie zu Ängsten, nach der Entlarvung endgültig das Dasein eines von der Gesellschaft Ausgeschlossenen führen zu müssen. Im Fall von Domela führen die gewonnenen
695 Ebd., S. 243. 696 Ebd. 697 Ebd., S. 244. 698 Ebd., S. 248.
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Erkenntnisse über die Welt des Scheins, sein eigenes (politisches) Selbstverständnis und Lebensansichten dazu, dass viertens die Variante „Hochstapelei: der Bruch mit der Welt des Scheins“ zum Zuge kommt. Während dieser Phase lässt sich feststellen, dass Domela diesen Bruch als Spiel mit der Wirklichkeit versteht und außerdem der Welt den Spiegel vorhalten will, in dem sie ihren Schein und die daraus resultierenden Ungerechtigkeiten für das menschliche (Da-)Sein in persona Harry Domela erblicken kann. Am Ende steht fünftens „das Ende der Hochstapelei“, das Domela in die Welt seines Seins zurückbringt. Von diesem Standpunkt in der Welt schreibt er seine Biographie und bewegt sich damit zu seinen biographischen Erfahrungen, die sich in den Lebenswelten rekonstruieren ließen. Über seine biographischen Bewegungen gibt das Folgende Aufschluss. Rekonstruktion der biographischen Bewegungen Wie Schulze ausführt, zeigen die biographischen Bewegungen, wie sich „ein Mensch einer Lebenswelt annähert, wie er in sie eindringt, wie er sie sich aneignet und sich in ihr einrichtet und wie er – unter Umständen – sich von ihr trennt, sie verlässt oder überwindet, und wie er die Bedeutung der verschiedenen Lebenswelten in sich aufnimmt, zuordnet und verbindet.“699 In der Biographie von Harry Domela findet sich ein biographisches Subjekt, das mit zeitlichem Abstand über seine biographischen Erfahrungen reflektiert. Dies schlägt sich in der biographischen Bewegung dahin gehend nieder, dass zwischen einem erlebenden Ich und einem erzählenden Ich unterschieden werden kann. Das erzählende Ich transformiert die diachronen Ereignisse auf eine synchrone Ebene und verleiht damit der biographischen Vergangenheit eine Bedeutung in der Gegenwart des biographischen Subjektes. Im Fall der autobiographischen Erzählung von Harry Domela ist zu bemerken, dass die biographischen Ereignisse und die narrative Reflexion über diese zeitlich nicht weit auseinanderliegen. Unmittelbar nach seiner letzten Inhaftierung beginnt Domela mit dem Verfassen seiner Autobiographie. Er ist nicht ein Erzähler, der mit großem zeitlichem Abstand auf sein Leben in einer vergangenen Gesellschaft zurückblickt, sondern die Erzählzeit wird nach wie vor von den in der Biographie dargestellten gesellschaftlichen Zuständen bestimmt. Sein „Leben“ und seine „Abenteuer“ in ihren gesellschaftlichen Verstrickungen haben also an Aktualität in der Erzählzeit nichts verloren und stellen sowohl für die Vergangenheit als auch für die Gegenwart unausweichliche Konstanten dar. Biographische Bewegung zwischen den Zeiten Die Unmittelbarkeit der Ereignisse für seine Situation in der Erzählzeit zeigt sich paradoxerweise in der überwiegenden Gestaltung der Biographie im Präteritum, die mit
699 T. Schulze: Lebenswelt und biographische Bewegungen, S. 117.
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Textpassagen im Präsens verknüpft werden. Die Welt- und Selbstreferenzen des biographischen Subjektes enthalten viele Zeitadverbien, die entweder auf die Zukunft (zum Beispiel: „morgen“, „bald“, „einige Tage vor Weihnachten“) oder auf die Gegenwart verweisen (beispielsweise: „jetzt“, „nun“). Diesen wird jedoch eine Tempusform des Prädikats zugeordnet, die der grammatischen Form des Präteritums entsprechen. Mit dieser Kombination, in der der textinterne Bezug und das verwendete Tempus nicht in Einklang stehen, interferieren Zukunft bzw. Gegenwart und Vergangenheit miteinander. Die Erwartungen des biographischen Subjektes in der Gegenwart und für die Zukunft werden mit dem biographischen Rückblick des Erzählers auf Ebene der Erzählzeit kombiniert. Erzählperspektive und die Perspektive des erlebenden Ichs überlagern sich in dieser zeitlichen Paradoxie der biographischen Bewegung. Mit diesem literarischen Kniff, von Käthe Hamburger als episches Präteritum bezeichnet, entsteht eine biographische Bewegung, welche die Aktualität der Ereignisse von der Vergangenheit in die Gegenwart sowohl des biographischen Subjektes als auch der Lesenden transportiert.700 Zum Beispiel reflektiert Domela angesichts der nicht vorhandenen Aussichten auf eine Beschäftigung „Was nun?! Jetzt war ich wieder auf Potsdam angewiesen und verdiente rein gar nichts.“701 Mit dem Zeitadverb „jetzt“, das auf die Gegenwart verweist, wird die Zeitlogik aufgebrochen, weil die Tempusform des Prädikats im Präteritum steht. Um die biographische Bewegung des Überzeitlichen für die singuläre biographische Phase der Hochstapelei weiter voranzutreiben, wird nach der Schilderung von Erlebnissen manchmal auch aus der Vergangenheitsform ins Präsens gewechselt. So kann eine über das biographische Erlebnis bis in die Gegenwart der Erzählzeit hinausgehende Gesellschaftskritik implementiert werden: „Nun war ich bald in einer Welt zu Hause, die mich in der ersten Zeit bestrickte und bezauberte. [...] Wie sicher und sorglos floß doch deren Leben dahin. Ein schöner und glänzender Rahmen um ein ruhiges und ungetrübtes Dasein. Leicht und gelassen die Formen des Umgangs, wohlgepflegt die Menschen, leise und abgetönt ihre Unterhaltung. [...] Dieses ungeheure Selbstbewußtsein gibt ihnen allen eine Sicherheit des Auftretens und der Beurteilung der Dinge, daß sie von gar keinem Widerspruch wissen wollen. Sie treten an Fragen, die sie interessieren, mit fertigen Urteilen heran, und es berührt seltsam, wie übereinstimmend die Urteile bei ihnen allen sind.“702
Auf diese Weise kommt es zu einer Verstrickung des erzählenden Ichs mit dem erlebenden Ich, welche die Unausweichlichkeit und gegenwärtige Präsens der biographischen Vergangenheit verdeutlicht. Dass zwischen den Ereignissen und der narrativen Verarbeitung eine zeitliche Distanz liegt, lässt sich eher in dem Wissen, über das das
700 Vgl. Hamburger, Käte: Die Logik der Dichtung, 4. Auflage, Stuttgart: Klett-Cotta 1994. 701 H. Domela: Der falsche Prinz, S. 89. 702 Ebd., S. 89-90.
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biographische Subjekt verfügt, finden. Ein Wissen, über das das erlebende Ich noch nicht verfügen kann. „Hätte ich gewußt, daß um dieselbe Stunde der neu angekommene Gast im Schloßhotel sich als ein harmloser Bankdirektor aus Frankfurt entpuppte, wäre ich nicht so aufgeregt und nervös gewesen. So aber dachte ich nur daran, daß morgen schon in allen Zeitungen nach dem falschen Prinzen gefahndet werden würde.“703
Festgestellt werden kann eine zeitlich-divergierend akzentuierte biographische Bewegung zwischen und in den Lebenswelten, die gleichzeitig Distanz zu den Ereignissen und deren Relevanz für das gegenwärtige Leben arrangiert. Biographische Bewegung zwischen den Welten In der biographischen Erzählung wird ein biographisches Subjekt präsentiert, das mit verschiedenen Welten konfrontiert wird, die es betritt, sich als Teil davon fühlt oder nicht. Es gibt zum Beispiel „ganz neue“704, „ganz unbekannte“705, „internationale“706, „feindselige“707, „wesenlos, düstere“708, „glänzende“709, „dunkle“710 oder „herrliche“711 Welten, die „starre Welt der anderen“712, „eine dumpfe Welt traditioneller Vorurteile und abgenutzter Gefühle“713 „eine Welt von gestern“714 oder „die Welt ihrer alten Herren“715. Es sind Welten, denen das biographische Subjekt ohnmächtig gegenübersteht, sich „ganz fremd gegenüber“ sieht, von denen es erdrückt wird oder die es aktiv mitgestaltet.716 Um die Widersprüchlichkeiten und Konflikten in diesen Welten, denen das biographische Subjekt ausgesetzt ist, narrativ zu gestalten, wird in der biographischen Bewegung mit oppositionalen Vergleichen gearbeitet. So präsentiert das biographi-
703 Ebd., S. 227. 704 Ebd., S. 90. 705 Ebd., S. 47. 706 Ebd., S. 63. 707 Ebd. 708 Ebd., S. 16. 709 Ebd., S. 107. 710 Ebd., S. 108. 711 Ebd., S. 112. 712 Ebd., S. 54. 713 Ebd., S. 95. 714 Ebd. 715 Ebd., S. 150. 716 Ebd., S. 100.
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sche Subjekt zum Beispiel auf der einen Seite die ‚Vornehmen‘ der Gesellschaft, die sich auszeichnen durch materiellen und kulturellen Besitz, Amtswürden und Statussymbole, deren Einsichtstiefe in die gesellschaftlichen Zustände jedoch beschränkt ist. Demgegenüber stehen die Obdachlosen, die einfachen Wanderarbeiter, die Knechte und Dienstboten, die sich mit der Kargheit ihres Lebens begnügen und sich lethargisch ihrem Schicksal fügen. Das biographische Subjekt wird weder in der einen sozialen Sphäre noch in der anderen verortet. Vielmehr wird ein biographisches Subjekt gezeigt, das, nachdem es versucht hat, Zugang zur Gesellschaft zu finden, sich als Part einer Gegenkultur zeigt. Es lernt insbesondere von sozialen Außenseitern wie zum Beispiel Wolf, der sich den Erziehungszielen seiner Eltern verweigert und sich über diesen Gegenentwurf definiert. Oder findet seinen Lehrmeister im Baron von Lüderitz, der sich mittels seines Adelstitels salonfähig macht. Als Mitglied der gesellschaftlich Ausgeschlossenen kann das biographische Subjekt die Zustände in der Gesellschaft und Kultur kritisieren, und dann als Hochstapler diese parodieren. Um die Differenz zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und den Obdachlosen zu veranschaulichen, werden in den Beschreibungen des Großstadtlebens hell und dunkel Vergleiche verwendet. Das Leben auf der Straße vollzieht sich im Dunklen. In den hell erleuchteten Restaurants sitzen die „wohlgepflegten Menschen, die keinen Tag sich um den Morgen zu sorgen brauchen [...]. Welch ein Abstand zwischen denen da drinnen und uns!“717 Diese Hell-Dunkel-Vergleiche, die auch mit den Bildern des Wartessaals und des Lebens außerhalb diesem korrespondieren, erinnern an Platons Höhlengleichnis, in dem sich – stark verkürzt ausgedrückt – der Aufstieg aus dem Schein der vergänglichen Dinge in die Welt des Seins vollzieht und diesem Vorgang bildungsphilosophische Bedeutung gemessen wird. Biographische Bewegung als Bruch mit dem Bildungsroman Eine weitere biographische Bewegung, die zeigt, wie sich das biographische Subjekt in und zu seinen Lebenswelten in der Vorgeschichte verhält, auch um seiner Erzählung einen übersituativen Sinn in der Gegenwart zu geben, besteht darin, Motive aus Bildungsromanen zu verwenden. Dazu zählen die schon erwähnten Aspekte „IchErzähler“, „erlebendes und reflektierendes Ich“, „Reisen“ oder „Begegnungen mit anderen Menschen und Welten“. Diese dienen zum einen dazu, der Erzählung Struktur zu verleihen. Zum anderen kann mit diesen Motiven sowohl der Entwicklungsgang des erlebenden Ichs als auch der Bildungsprozess des biographischen Subjektes verdeutlicht werden. Um die interferierenden Widersprüchlichkeiten, die den Bildungsprozess des biographischen Subjektes auslösen und begleiten, darstellen zu können, wird jedoch
717 Ebd., S. 52.
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mit dem „klassischen Bildungspathos“718, der den Stil gebenden Vorbildern wie zum Beispiel Goethes Wilhelm Meister innewohnt, gebrochen. So wird ein biographisches Subjekt darstellt, das zwischen seiner Individualität und seiner Vergesellschaftung gefangen ist, sich jedoch trotzdem und gerade deshalb als bildsam erweist. Wie in einem Bildungsroman konstituiert sich über das konfliktreiche Zusammenspiel von erzählendem und erlebendem Ich ein biographisches Subjekt in der wechselseitigen Beeinflussung von Sozial- und Selbsterfahrungen bzw. sozialem und individuellem Handeln. Doch anders als in den ‚klassischen‘ Bildungsromanen, in denen eine Aufhebung des Ich-Welt-Konfliktes immerhin über die innerliche Bildsamkeit erlangt und zu gesellschaftlichem Bestehen führen kann, wird insbesondere die aufgeklärte Idee der sozialen Brauchbarkeit des Einzelnen als ein Ziel von Bildung im Biographisierungsprozess ad absurdum geführt: Ein biographisches Subjekt tritt einer Gesellschaft gegenüber, die es nicht zulässt, dass dessen innere humanistische Überzeugungen und sein Wille, sich zu bilden, mit der Gesellschaft verbunden werden können. Dies zeigt sich insbesondere in den Sozialerfahrungen mit den anderen, denen Titel, Herkunft, Kleidung etc. wichtiger sind, als das Individuum mit seinen lebensgeschichtlichen Besonderheiten. „Mit rasender Geschwindigkeit sauste das Auto weiter. Bei der Kälte war Sprechen unmöglich. So ließen meine Gedanken mich auf der Fahrt nicht mehr los. Wäre doch alles aus! Was tust du noch auf dieser Welt? Wer kümmert sich um dich? Ein Gefühl grenzenloser Verlassenheit überfiel mich. Um seiner eigenen Eitelkeit willen machte man ein großes Gepränge mit mir. Was war ich ihnen als Mensch? Nichts! [...] Und diese wohlanständigen Menschen, die um mich herumlungerten, was waren sie anderes als armselige Schauspieler, die ihre innere Hohlheit, ihre Charakterlosigkeit, ihre Lumperei geschickt mit den Fetzen der Wohlachtbarkeit zu verdecken verstanden. Aber ich war derjenige, der draußen stand, während sie alles ihr eigen nannten, Angehörige und Freunde besaßen.“719
Biographische Bewegung als Odyssee Zu den Motiven des Bildungsromans, die der Erzähler verwendet, zählen auch die Reisen, die das erlebende Ich macht, die Krisenzustände und Entwicklungsprozesse, die es durchläuft sowie die Begegnung mit anderen Menschen, die – wie die Rekonstruktion der Lebenswelten gezeigt hat – bildend auf das biographische Subjekt einwirken. Doch anders als in Bildungsromanen werden die Reisen des biographischen Subjektes als Odyssee interpretiert und dargestellt: Wie Odysseus irrt das biographische Subjekt zehn Jahre lang zwischen den Lebenswelten umher. Von der Gesell-
718 Bittner, Günther: Das Leben bildet. Biographie, Individualität und die Bildung des ProtoSubjekts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, S. 104. 719 H. Domela: Der falsche Prinz, S. 180.
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schaft im Sein im Glauben an den Tod der Mutter von dieser ver- und zum Betteln getrieben, zum Ausgestoßenen gemacht, kehrt es ein in die Welt der Reichen und ihres Scheins. In dieser besteht das biographische Subjekt eine Zeit lang aufgrund seiner Klugheit, seines Geschicks, seiner Lügen und Täuschungen. Am Ende kehrt das biographische Subjekt heim zu seiner doch noch lebenden Mutter. Sein letztes Abenteuer besteht im Verfassen seiner Biographie, in der es der Gesellschaft den Spiegel vorhält. So erringt es letztendlich doch den Sieg über die Gesellschaft und für die Deutungshoheit über sein Leben: „Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung, Vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat, Und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet, Seine Seele zu retten und seiner Freunde Zurückkunft.“ 720
Neben dieser der biographischen Erzählung übergeordneten Bedeutung vom Standpunkt der Gegenwart mit Blick auf die Zukunft hat das Reisen auch auf synchroner Ebene Relevanz für die Konstitution des Subjektes. Das Reisen wird mit Empfindungen verknüpft, die Resultate der interferierenden Widersprüche sind. Dies zeigt exemplarisch folgende Textstelle: „Als ich so allein durch die wildbewegten Straßenzüge daherging, packte mich ein Gefühl der Schwäche, der Ohnmacht, der Selbstaufgabe, so daß ich gar nicht merkte, wie lange ich schon ziel- und planlos daherwanderte. Es wurde dunkel. Überall gleißten und glitzerten Lichter auf.“721 Mit dem Motiv des Reisens kann der Erzähler auch Übergänge von einer Lebenswelt in die andere gestalten. Wie in anderen Bildungsromanen bereist das erlebende Ich seine verschiedenen Lebenswelten. Dabei gibt es eine Ankunft und einen Abschied von den jeweiligen Orten der Lebenswelten. Gereist wird zu Fuß, mit dem Zug, dem Auto und dem Flugzeug oder auf dem Pferd. Das biographische Subjekt bereist Städte, Dörfer und Landschaften, lernt während seiner Reisen die unterschiedlichsten Menschen und Regionen kennen. Doch diese Reisen in andere Welten, welche die persönliche Weiterentwicklung des Individuums versinnbildlichen sollen, erweist sich als brüchig für die Selbst-Entwicklung: Das erlebende Ich ist verzweifelt, rastlos und getrieben, immer auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen. Verknüpft werden diese Empfindungen u.a. mit Landschaftsbeschreibungen, wie in dieser Passage:
720 Homer: Odyssee, 1. Gesang, Verse 1-4. 721 H. Domela: Der falsche Prinz, S. 32.
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„Im weiten Umkreis prangten die Buchenwälder in loderndem Rot, dahinter verdämmerten blau die Harzberge. Es lag eine herbe Stimmung über allem. Müde fiel ein Blatt nach dem andern nieder. Vor diesem Hintergrunde sah ich auf meine trostlos verzweifelte Lage; gerade in solcher Umgebung schien mir die eigene Existenz hoffnungsloser denn je. So war ich schließlich jeden Abend betrunken; ich schien rettungslos verloren.“722
Neben der Rastlosigkeit zeichnen die Reisen des biographischen Subjektes auch die Phasen der Erschöpfung und Ziellosigkeit. Sie werden oft anhand von WartesaalEpisoden dargestellt: „So war ich den ganzen Tag treppauf, treppab gelaufen und hatte den schlimmsten Hunger gestillt. Ich war hundsmüde geworden, fand aber kein Unterkommen. Und wieder begann meine nächtliche Wanderung, straßenauf, straßenab. Ein feiner eisiger Sprühregen hatte mich ganz durchnäßt. Es war kalt. Der nasse Asphalt glänzte im Laternenlicht. Ich lehne mich an eine Laterne und beginne mitten im Regen zu schlafen. Es gelingt mir nur auf kurze Zeit; jeder Fußgänger schreckt mich auf. [...] Vor mir der Anhalter Bahnhof. [...] Da drinnen ist Ruhe und Wärme. Ich möchte hinein. Deswegen werden sie mich doch nicht gleich bestrafen. Ich gehe die Treppe langsam hinauf. Der Dunst und die Wärme des Wartesaals schlagen mir einladen entgegen, sie überwinden in mir die letzte Scheu. An der warmen Heizung finde ich einen Stuhl, und von Wärme und Müdigkeit überwältigt, verfalle ich in einen tiefen, todesähnlichen Schlaf.“723
Die Reisen erfolgen meistens als Reaktion auf die diversen Schwierigkeiten, auf die das erlebende Ich in den verschiedenen Lebenswelten stößt. Die Reisebewegungen erfolgen für das erlebende Ich zwar fortschreitend von einem Ort zum nächsten. Das erzählende Ich sorgt jedoch dafür, dass die an das Reisen gekoppelte biographische Bewegung sich als immer wiederkehrend und trotz aller Ankünfte in den verschiedenen Orten als zirkulär erweist. „Ich sitze im Schnellzug nach Frankfurt-Basel. In eine Ecke gelehnt, mache ich es mir bequem. Mein einziger Reisegenosse hat das Licht abgeblendet und schnarcht in regelmäßigen Zügen. Der Regen klatscht gegen die Scheiben. Nichts als der monotone Takt der Räder und Achsen. Hamburg liegt hinter uns in Dunkelheit und Nebel. Wir haben das freie Feld erreicht. Der Sturm heult zum Erschrecken. Es ist mir seltsam zumute so ins ungewisse Dunkel der Nacht hinauszufahren. Ich fühle mich von einer unsichtbaren Gewalt fortgerissen. Wohin...? Wie der Zug in die Nacht hineinbraust, so war auch mein Leben verlaufen. Aus Heimat und Elternhaus in die Fremde gerissen, hatte ich rechts und links Lichter aufflackern und mich locken sehen. Aber
722 Ebd., S. 27. 723 Ebd., S. 37.
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ehe ich die Hand hatte ausstrecken können, um etwas vom Glück einzufangen, war alles schon weit hinter mir gelegen. Weiter, immer weiter, ob ich wollte oder nicht.“724
Es gibt keinen Ausweg, sondern lediglich „Irrfahrten“, kein Ende der Reise. Und wo es an einem bereisten Ort einen Lichtblick zu geben scheint, holt die fehlende Anerkennung der (personalen) Identität und die damit verbundenen Stigmatisierungen das biographische Subjekt wieder ein und lassen das Leben düster erscheinen. Egal welcher Lebenswelt beigetreten, in welche Stadt, in welchen Ort gereist wird – und es sind zahlreiche, die von Domela genannt werden – die Vergangenheit und die Gegenwart gesellschaftlicher Verhältnisse reisen mit. Biographische Bewegung als historische Kontextualisierung Eine weitere biographische Bewegung lässt sich darin erkennen, dass das erzählende Ich über das erlebende Ich eine historische Kontextualisierung der biographischen Erfahrungen in den Lebenswelten vornimmt. So überschatten die Folgen des Ersten Weltkrieges beispielsweise die Bildungsmöglichkeiten des erlebenden Ichs: Jeder aufgrund seiner bürgerlichen Herkunft sozial mögliche institutionelle Bildungsweg sowie damit verbundene Bildungsziele bleiben ihm verwehrt. Das biographische Subjekt bildet sich jenseits der institutionellen Wege. Quasi autodidaktisch lehren ihn in erster Linie sein Leben und die Unterhaltung mit andern, ihm wohlgesonnenen Menschen. Das biographische Subjekt durchläuft einen Bildungsprozess, der zunächst in der Figur des Pastors Deters in Ansätzen von den gesellschaftlich Etablierten unterstützt wird. Die Bildungserlebnisse fußen vorerst auf klassisch humanistischen Parametern und dienen immer wieder als Zufluchtspunkte, als Charakteristik seines Selbstbildes und als Kennzeichnung der Distanz zu den meisten seiner Mitmenschen. Sie eröffnen ihm eine andere Welt, tragen aber nicht unmittelbar zu einem Verständnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge und der eigenen Lebenssituation bei. Dies ermöglichen erst die Bildungserlebnisse mit Wolf, der mit seinen Ansichten in der Vorgeschichte die personifizierte Position einer Kultur gegen das Establishment einnimmt. Er ist wie Domela ein sozialer Außenseiter, allerdings aus gutem Hause und humanistisch gebildet, der sich gegen die gesellschaftlichen Erziehungsziele stellt und die Erwartungen seiner Familie verweigert. Er leistet mit seiner Existenz Widerstand gegen das von ihm Verlangte. „Jetzt wußte ich, was Wolf war. Ein Rebell gegen die althergebrachte Ordnung, neuerungssüchtig und unstet, seine eigenen Wege liebend, ausgebrochen aus der Gesellschaft der Satten und Selbstzufriedenen, Empörer gegen die Gewohnheiten einer Welt, deren erstes Bedürfnis das nach Ruhe ist. Wolf war eine Art ungeratenes Kind, ein Kind, das immer wieder schreit
724 Ebd., S. 109.
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und immer größere Ansprüche, größere Bedürfnisse mit Hartnäckigkeit geltend macht. […] Ein furchtbar lebhaftes, bewegliches Kind... Zum Empörer geworden, sieht es dann in der eigenen Sippe seinen Feind und läßt keine Gelegenheit vorübergehen, die starre Welt der anderen in Aufregung zu versetzen.“725
Die Bildungserlebnisse mit und das Lernen von Wolf ermöglichen einen Austausch über die gesellschaftlichen Zustände, der in deren Kritik mündet und zwischen den Freunden geteilt wird. Außerdem führen die gemeinsamen Erlebnisse zu der Erkenntnis über die Unausweichlichkeit und Ungerechtigkeit der eigenen Lebenssituation innerhalb der Gesellschaft. Die Bildungserlebnisse mit Wolf verändern auch das Selbstbild des biographischen Subjektes, das sich zunächst aus seiner bürgerlichen Herkunftsfamilie speist und sich nun in das eines gesellschaftlichen Rebellen zu wandeln sucht. Biographische Bewegung als Objektivierung Insbesondere die Unterhaltungen zwischen Domela und Wolf zeigen, dass die Erlebnisse des erlebenden Ichs objektiviert werden sollen, indem anderen Personen Wörtliches in den Mund gelegt und Handlungen in wörtlicher Rede wiedergegeben werden. Damit wird eine biographische Bewegung deutlich, die sich als eine „Erzählstrategie, die für die Darstellungen des Faktischen steht,“ zusammenfassen lässt. 726 Das biographische Subjekt ist ein entlarvter Hochstapler, tritt nun aber als Biograph in Erscheinung. Als solcher geht es überwiegend chronologisch vor, allerdings wird die Chronologie mit reflektierenden Einschüben verbunden, die auf die überblickende Perspektive des biographischen Subjektes verweisen: „Was hatte mir noch der Baron Lüderitz gesagt? ‚Was’n Baron im Kopp hat, habe ich im kleinen Finger, aber was Sie im kleinen Finger haben, habe ich nicht in der ganzen Hand, nicht mal im ganzen Kopp.‘ Also, kühl und zurückhaltend und mit jedem einige Worte reden. Die Hauptsache: Distanz!“727
Über diese biographische Bewegung gelingt es, eine Kausalität zwischen den einzelnen Ereignissen und der Biographie herzustellen. Die chronologische Anordnung der Ereignisse ist eine Entscheidung des rückblickenden erzählenden Ichs: Es ordnet und selektiert Ausschnitte aus seinem Leben aus gegenwärtiger Perspektive. Handlungsbekräftigende Funktion haben nicht nur einzelne Personen, sondern auch historische Daten und Ereignisse. Das erzählende Ich stellt die biographische Geschichte in den
725 Ebd., S. 54. 726 S.H. Kern: Die Kunst der Täuschung, S. 106. 727 H. Domela: Der falsche Prinz, S. 210.
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Kontext gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge. Passend zum Genre der Biographie wird aus der Ich-Perspektive erzählt. Fokussiert wird auf die individuelle Bedeutung der Lebenswelten für die Entwicklung des biographischen Subjektes. Ein weiteres gegenüberstellendes Vorgehen bildet die Unterscheidung zwischen den aus unmittelbaren Erfahrungen gewonnen Einsichten über die Lebenswelten und den indirekten, medial vermittelten Erkenntnissen über die Welt mittels Büchern, Filmen, Operetten oder Theaterstücken. Vor der Wandlung zum Hochstapler wird zum Beispiel sehr die Außenwelt rezipiert. Es werden Landschaften, Orte und Städte beschrieben und in Bezug zu den Erlebnissen gesetzt. Indem ‚Augenzeugen‘ zu Wort kommen und Orte benannt werden, erhebt das erzählende Ich für die biographischen Ausführungen einen Objektivierungsanspruch und versucht für die Authentizität seines Berichtes zu bürgen. Mittels dieser Objektivierungsstrategie wird suggeriert, Distanz zwischen der äußeren Welt und den Menschen zu wahren. Dieser eher rezeptive Weltbezug wird mit einem reflexiven Weltbezug kombiniert, der den Blick in das Innere des biographischen Subjektes lenkt. Es zeigt die unauflösliche Verquickung von Ich und der äußeren, sich dem Selbstbild entgegenstellenden Welt. Dabei erfolgt die biographische Bewegung häufig als innerer Monolog und spickt diesen mit Verben, die den reflexiv-emotionalen Bezug signalisieren. „Alles war mir jetzt so furchtbar gleichgültig. In die Museen ging ich jetzt nicht mehr; ich konnte die Sammlung, die dazu nötig war, nicht mehr aufbringen. Auf mein Äußeres legte ich überhaupt keinen Wert mehr. Ich war jetzt so verkommen und verschmutzt, daß ich erst später das Verhalten der Leute verstehen konnte. Wenn jemand von mir abrückte – und ich meinte damals, daß jeder sich vor mir entsetzte –, so spürte ich nur die Blutwelle in mir höhergehen, so spürte ich in mir nur den Trieb, einem solchen Menschen ins Gesicht zu speien. [...] Gegen jeden gut aussehenden Menschen wurde allmählich ein Haß in mir wach, der mich zu verzehren drohte. Paria, der ich geworden war, fühlte ich mich für kurze Zeit wohler und aufgehobener, wenn ich mich unter meiner Kaste, in der Welt des Kietzes, befand.“728
Biographische Bewegung zwischen Fragen und Antworten Eine weitere Besonderheit in der biographischen Bewegung sind die Fragen, die sich das biographische Subjekt sowohl als erzählendes als auch als erlebendes Ich stellt. Diese Fragen tragen oftmals die Antworten in sich. Sie veranschaulichen die Vereinzelung des Subjektes, rechtfertigen sein Handeln, dienen der Selbstvergewisserung in den gesellschaftlichen Verhältnissen und beziehen außerdem die Lesenden in die Erzählung mit ein. Mit den (rhetorischen) Fragen ist eine Reflexionsforderung an die Lesenden verbunden, die gekoppelt ist mit dem Ziel des Erzählers, die Ereignisse aus der Perspektive des erlebenden Ichs nachvollziehen zu können. Ein Beispiel:
728 Ebd., S. 65.
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„Sie [die Saxo-Borussen, KS] wußten nichts von der Welt, die hart neben ihnen atmete. Sie kannten nur eine Welt, die, in der sie sich als Herren der Schöpfung wähnten. Sie lebten nur eine Welt, die ihre. Alles andere hatte im weiten Abstand um sie zu kreisen. Mit welchem Recht? Konnten nicht jene robusten Gesellen, die ich in den Ziegeleien und in der Zuckerfabrik kennengelernt hatte, und die es übrigens mit den Saxo-Borussen im Saufen und Raufen wirklich aufnehmen konnten, mit mehr Recht Ansprüche erheben? Die kannten doch noch das grausame, harte Leben, die Arbeit, die Not der Millionen. Leider hatten ihnen die Herren eine ‚gottgewollte‘ Anspruchslosigkeit angezüchtet. Und doch keimt in manchen von ihnen die Erkenntnis, daß es anders werden muß, während die Herrensöhne sich nicht einmal fragen, ob es anders sein könnte. Es ist einmal so. Also muß es so sein.“729
Ein Beispiel für die Rechtfertigung des eigenen Handelns ist Folgendes: „Wenn du dir einige Löffel nähmest, würdest du dich wohl fürs erste über Wasser halten können. [...] Mehrfach hatte ich für die Baronin größere Geldsummen von der Bank holen müssen. Doch nie war mir bisher der Gedanke gekommen. Nein, nein! Ich tat es nicht. – So ging ich zu Bett; doch einschlafen konnte ich nicht. Was fängst du morgen an? Was wird aus dir werden? Und immer wieder sah ich das Silber vor mir. Nur ein paar Löffel... Ich redete mir selbst Courage ein. Was willst du anders? Du kannst ja nicht anders. Vogel, friß oder stirb...“730
Eine Selbstvergewisserung erfolgt beispielsweise in diesem Zusammenspiel von Fragen und Antworten: „Auf der Fahrt dachte ich über meine Zukunft nach. Blitzartig ging mein ganzes bisheriges Leben an mir vorüber. Was bedeutet für mich dieses ungeahnte neue Leben? War ich nicht ein Fremdling in der Welt? Und mußte nicht mein Absturz um so niederschmetternder sein, je mehr ich mich mit diesem Leben des Glanzes befreundete, um so schmerzhafter, je mehr der schönen Tage vergingen? Es graute mir vor dem alten, dumpfen Leben im Schatten... Ich hatte das Lichte, das Sonnige, das Glanzvolle gesehen. Ich wollte nicht mehr ins Dunkel zurück. [...]Was war ich ihnen als Mensch?“731
Biographische Bewegung als Geschichte in der Geschichte Über die biographischen Bewegungen in, zwischen und zu den Lebenswelten präsentiert sich ein biographisches Subjekt, das in sich das erlebende und das kritisch reflektierende Ich vereint. In dieser Verquickung kann der Hochstapelei auch nach ihrem Ende ein über die diachrone Ebene hinausgehender Sinn auf synchroner Ebene
729 Ebd., S. 150. 730 Ebd., S. 21. 731 Ebd., S. 179-180.
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zukommen. Dies unterstreicht die Bedeutung der vergangenen hochstaplerischen Taten für die Gegenwart des erzählenden Ichs: Der Hochstapler von einst erweist sich aufgrund seiner biographischen Erfahrungen als Experte und berechtigter Kritiker an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Diese Entwicklung wird durch die biographischen Bewegungen vor, während und nach der Wandlung zum Hochstapler unterstützt: In den Lebenswelten vor der Wandlung zum Hochstapler präsentiert sich das biographische Subjekt noch eher passiv, schicksalergeben und den gesellschaftlichen Verhältnissen ausgesetzt. Die Lebenswelten, zwischen denen er sich bewegt, und deren Konfliktgehalt ihn immer wieder einholen, werden mit einer fatalistischen Haltung verbunden. Diese weicht einer Haltung ‚Dem-Schicksal-zum-Trotze‘, die eine aktivierende Funktion übernimmt. Das biographische Subjekt lernt, als Hochstapler aktiv zu handeln und sein Verhältnis zu den Welten über Lüge und Täuschung zu ändern. Diesen Darstellungen auf der diachronen Ebene folgen die biographischen Bewegungen auf der synchronen Ebene: Das biographische Subjekt deutet sein Leben als Hochstapler in das eines authentischen Gesellschaftskritikers um, der gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse mit seinen Taten rebelliert und sich nun (vom synchronen Standpunkt) als Experte für das Erkennen gesellschaftlicher Missstände und Ungerechtigkeiten erweist. Es erkennt die Bedeutung der Vergesellschaftung für das Subjekt. Anhand der Rekonstruktion der Lebenswelten und der biographischen Bewegungen lässt sich ein Biographisierungsprozess aufzeigen, der sich als Selbstbestimmung eines Individuums durch seine Geschichte in der Geschichte charakterisieren lässt. Im Mittelpunkt steht ein biographisches Subjekt, das die Lebenswelten erfährt, kritisch hinterfragt und deutet. Dies zeigen die bereits angedeuteten Parallelen zu Marx, aber auch zu Goethes „Dichtung und Wahrheit“: Goethe verdeutlicht darin seine Ansicht, dass Individuum und Epoche einander tragen und dass Historizität und individuelle Bildung zusammenfallen.732 Auch im Biographisierungsprozess findet sich ein biographisches Subjekt, in dem sich sowohl die Geschichte seiner Zeit ausdrückt als auch ihre Widersprüchlichkeiten fortsetzen. Das biographische Subjekt ist sich der Historizität seiner Bildungsprozesse bewusst und kann darin die Abgründe, in die es im Verlaufe seiner autobiographischen Erzählung fällt und in denen es – sich selbst überlassen – unterzugehen droht, reflexiv verorten. Das biographische Subjekt ist zugleich ein unmoralisches und ein moralisches zwischen Sein und Schein. Vielleicht zeigt sich sein Bildungsbegriff gerade im Zusammenspiel marxistischer und klassisch-humanistischer Präferenzen nach Goethe. Die Verknüpfung von biographischen Bewegungen und Lebenswelten verweist auf eine Umdeutung des Hochstaplers in das Gegenteil seiner täuschenden Absichten:
732 Goethe, Johann Wolfgang: Dichtung und Wahrheit. Eine Auswahl, herausgegeben von Walter Schafarschik, Stuttgart: Reclam 1993.
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Der Präsentant des Scheins, der Lüge und der Täuschung wird zum Kritiker und zum authentischen Garanten für die als scheinhaft und unsozial entlarvte Wirklichkeit. 6.3.3 Rekonstruktion der gebrochenen Bildungsgestalt Aufgrund diverser gesellschaftlicher Umbruchs-, Ausgrenzungs- und Missachtungserfahrungen, die das Ergebnis gesellschaftlich manifestierter Konflikte sind, empfindet Domela sein Selbst- und sein Dasein sowohl vor als auch nach der singulären biographischen Phase der Hochstapelei als gefährdet. Domela inszeniert deshalb in seiner biographischen Erzählung ein Subjekt, das seine soziale Ausgeschlossenheit aufgrund der fehlenden Anerkennung seiner Identität und der sozialen Negation seiner individuellen Bestrebungen in gesellschaftlich etablierten Rollen erfährt. Dieses biographische Subjekt macht eine Entwicklung durch, indem es die erfahrene Zerrissenheit des Selbst im Sein in seiner gesellschaftlichen Kausalität verorten kann. Es nutzt das in seinen Augen von der Gesellschaft zugefügte Leid als Anstoß für Reflexionen über sein Verhältnis zu sich selbst und zur Welt. Immer wieder sieht sich Domela in seinem reflexiven Modus des In-und-zwischen-den-Welten-Seins mit den von Marotzki als grundlegend erachteten und in Anlehnung an Kant formulierten Fragen: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?“ konfrontiert.733 Insbesondere die Antwort auf die Frage „Was darf ich hoffen?“ überschattet den Lebensweg Domelas, da ihre Antwort die Hoffnungslosigkeit ist. Sie durchzieht das Selbst-Weltverhältnis wie ein roter Faden, gekoppelt an den Wunsch, ihr zu entrinnen. Da sich die realen Lebensbedingungen nicht ändern lassen, sucht Domela einen Ausweg in der Täuschung: Er wandelt sich zum Hochstapler, der mit den Elementen des Scheins und Seins spielt und gleichzeitig ein Ausweg aus den von Domela als hoffnungslos empfundenen widersprüchlichen gesellschaftlichen Zuständen ist, weil sich ihm neue Handlungsmöglichkeiten bieten. Porombka, der den Lebenslauf von Domela zutreffend als „Überlebens-Lauf“ charakterisiert, fasst den Erkenntnisprozess zu den gesellschaftlichen Verhältnissen wie folgt zusammen: „In diesem Überlebens-Lauf hat er den gesellschaftlichen Kosmos als einen strikt zweigeteilten kennengelernt: unterschieden in oben und unten, in reich und arm, in die Bereiche des schönen Scheins und des harten Seins. Zugleich aber hatte Domela begriffen, nicht zuletzt mit Hilfe der verschiedenen Lehrer und Lenker aus der Halb- und Unterwelt, daß man die strikte Grenze zwischen den beiden Bereichen überwinden kann, wenn man nur die Gesetze des schönen Scheins versteht und anzuwenden weiß.“734
733 W. Marotzki: Bildungstheorie und Allgemeine Biographieforschung, S. 62. 734 S. Porombka: Nachwort, S. 251.
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Die im Biographisierungsprozess vorgenommenen Reflexionen über die Ausweglosigkeit der eigenen Situation führen bei Domela zu einem Selbst-Weltverhältnis, das sich aus der Differenzerfahrung zwischen gesellschaftlicher Fremdbestimmtheit und individueller Selbstbestimmung speist. Es führt zu dem Wunsch nach sozialer Anerkennung und individueller Selbstverwirklichung. Diese angestrebte Wandlung in den Selbst-Weltverhältnissen kann aufgrund der konfliktreichen gesellschaftlichen Zustände nicht realisiert werden. Domelas Sein ist dermaßen von Interferenzen auf gesellschaftlicher Ebene durchzogen, dass er mit seinem Sein, sein Selbst-Weltverhältnis nicht ändern kann. Er hat also ein negationsresistentes (Bildungs-)Problem. Mittels der Rekonstruktion des Biographisierungsprozesses kann gezeigt werden, dass er über die Wandlung und das Leben als Hochstapler in der Lage ist, sein Weltverhältnis zu ändern und seinem Wunsch nach Selbstverwirklichung und Selbstbestimmtheit über einen biographischen Zeitraum hinweg zu realisieren. Mit dieser Wandlung zum Hochstapler macht er sich die Bedeutung des Scheins in den an der alten gesellschaftlichen Ordnung festhaltenden gesellschaftlichen Schichten zunutze und präsentiert sich in Rollen, die diesen Erwartungshorizont bedienen. Lügen, Täuschen und Hochstapeln ermöglichen ihm das Überleben in der Gesellschaft. Damit lässt sich sichtbar machen, dass Domelas Behauptung und Verwirklichung seines Selbst darüber erfolgt, dass er seine Fremdbestimmtheit durch andere über die Fremdbestimmung der anderen durch ihn ersetzt. Er kehrt die Verhältnisse in ihr Gegenteil um und kreiert so den bildungsrelevanten Sinn seiner Hochstapelei für die Konstitution des Subjektes. Indem er in seinen hochstaplerischen Phasen die Souveränität in Interaktionen mit anderen übernimmt, kann er genau denjenigen machtvoll gegenübertreten, die ihn ihre Macht haben spüren lassen. Domela konstruiert seine Bühne, auf der er die anderen täuscht. Im Falle seiner bekanntesten Hochstaplerrolle als Wilhelm von Preußen gelingt ihm sogar eine doppelte Täuschung: Angereist als Baron Korff etabliert er sich in der ‚besseren‘ Gesellschaft als der inkognito reisende Kronprinz. In dieser letzten Rolle überschreitet Domela die auf Täuschung und Lüge basierende Essenz der Hochstaplerfigur: Nicht mehr der Schein wird von ihm nach außen gewahrt, sondern sein Sein, seine Erfahrungen und seine gesellschaftskritischen Ansichten. Diese Überschreitung stellt innerhalb des Biographisierungsprozesses das Ende einer Entwicklung dar: Als erstes negiert Domela sein Weltverhältnis im Sein, in dem er dieses mittels Lügen, Täuschen und Hochstapeln überschreitet. So eröffnen sich ihm neue bis dahin unbekannte Welten. Im zweiten Schritt wächst Domela immer weiter in seine Rolle als Hochstapler hinein, er kann sich nach außen selbstbewusst geben. Überzeugend spielt er seine Rolle auch, weil die anderen daran glauben wollen. Er verhält sich gemäß ihren Erwartungen an die Rolle. Er fühlt sich hingezogen zu der Welt des Adels. Viertens fängt er an mit dem Schein seiner Rollen zu brechen, indem er sie mit seinem Sein zu füllen beginnt. Im Laufe der Hochstaplerzeit geht er jedoch in der vierten Entwicklungsphase immer weiter auf Distanz zu dieser Welt. Er will nicht mehr dazugehören, weil er für sich erkannt hat – und hier
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präsentiert sich der Hochstapler Domela in seiner Erzählung als Moralist und linkspolitisch Gebildeter –, dass seine ideellen Überzeugungen auch das Resultat von Erfahrungen am Rande der Gesellschaft sind. Domela deutet fünftens in seinen biographischen Reflexionen den Sinn seiner Hochstaplerrolle um: Sie dient nun dazu, den getäuschten Personen eine Lektion zu erteilen. Diese Lektion beinhaltet, den Betroffenen einen Spiegel vorzuhalten, in dem sie sich selbst als Welt von gestern, als Täuschende und als an dem Schein Hängende betrachten können. Deshalb kombiniert er seine ‚adeligen Merkmale‘ mit seinen politischen Ansichten und erzeugt so einen Bruch in der Wahrnehmung seiner vorgetäuschten Rolle. Im Bildungsprozess von Harry Domela zeigt sich die Wandlung eines SelbstWeltverhältnisses, das sich an der Schnittstelle von Sein und Schein befindet. Es handelt sich nicht um eine vollständige Wandlung des Selbst- und Weltverhältnisses. Dennoch hat diese Wandlung bildungsrelevanten Charakter, weil sie aufgrund der reflexiven Auseinandersetzung des biographischen Ichs mit sich selbst und der Welt erfolgt und auf die weitere Handlungsfähigkeit des Subjektes abzielt. Domela kann sein negationsresistentes Problem nicht im Sein lösen, geht aber eine Wandlung zum Schein ein, die sein weiteres Sein bestimmen wird. In seinem Bildungsprozess geht er als Hochstapler eine Wandlung ein, die alle Interferenzen bindet und gleichzeitig nach außen symbolisiert. Diese Wandlung lässt sich als gebrochene Bildungsgestalt in Domelas Biographisierungsprozess klassifizieren, weil • keine vollständige Wandlung des Selbst- und Weltverhältnisses erfolgt; • dennoch ein anderes Verhältnis zur Welt, zu anderen und zu sich selbst eingegan-
gen wird; • die negationsresistenten Probleme und die damit verbundenen interferierenden In-
teressen (Fremdbestimmtheit vs. Selbstbestimmung) in der Wandlung zum Hochstapler selbst zum Ausdruck kommen; • die Wandlung aufgrund existentiellen Handlungsbedarfs entsteht und Handlungsoptionen eröffnet, die aus der existentiellen Krise führen; • an dem biographischen Geworden-Sein, als am Selbstbild, festgehalten wird und • diese Wandlung zu Folgeproblemen führt. Diesen Folgeproblemen hat sich Domela nicht nur in den Lebenswelten, zum Beispiel in Form von Gefängnisstrafen, zu stellen, sondern sie haben auch Einfluss auf seinen Biographisierungsprozess, der nach seiner Entlarvung als Hochstapler erfolgt. Die Lebenswelt, die sich Domela als Hochstapler schafft, erweist sich als temporär beschränkter Zustand der Handlungsfähigkeit. Mit und nach dem Verfassen seiner Biographie muss Domela erneut darum kämpfen, vom Ausgeschlossenen zum Anerkannten zu werden, sein Selbstbild in einen Diskurs der Anerkennung stellen. Er hat also ein weiteres Problem, dem er sich in seinem Biographisierungsprozess stellt. Hier zeigt die Rekonstruktion des Biographisierungsprozesses, dass Domela über
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„biographische Reflexivität“ verfügt. Diese bezieht sich im Sinne Alheits nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf den Erwartungshorizont der anderen und wird in diesem mit produziert (vgl. Kapitel 4.2.4). Indem er diesen Erwartungshorizont bedient, kann er an seiner Wandlung zum Hochstapler festhalten und ihr gleichzeitig eine über die singuläre biographische Phase hinausgehende Bedeutung zusprechen. Hochstapler zu sein, kann dies bedeuten oder das Gegenteil. Damit lässt sich eine weitere Komponente der gebrochenen Bildungsgestalt „Hochstapler“ feststellen: Ihr Gebrauch kann sich in Biographisierungs- und Bildungsprozessen ändern. Im Falle von Domela besteht dieser Gebrauch darin, dass er sein biographisches hochstaplerisches Geworden-Sein in ein gesellschaftskritisches Dasein transformiert. Damit bindet er sein authentisches Sein paradoxerweise an den Schein des Hochstaplers. So erhält die Bildungsgestalt eine ihr entgegenstehende Bedeutung. Der Vertreter des täuschenden Scheins par exellence garantiert die Authentizität des biographischen Subjektes und damit auch die von Harry Domela. So kann Domela nach seiner Zeit als Hochstapler zum Gesellschaftskritiker avancieren, der sich beim Verfassen seiner Biographie der sozialen Deutungsmuster des Erzählten bewusst ist und diese sowohl zur Selbstinszenierung als auch zur Gestaltung seines Biographisierungsprozesses nutzt. Über den Weg des Erzählens versucht Domela, sowohl sein Selbst als Geworden-Sein darzustellen als auch über die Art und Weise seines Erzählens ein Bild von sich selbst zu zeichnen, das sich dem Stigma Hochstapler entgegenstellt und eine andere gesellschaftliche Verortung und Akzeptanz ermöglichen soll. Im Bildungsprozess, verstanden als reflexiver Modus des In-und-Zwischen-denWelten-Seins lässt sich eine gebrochene Figuration von Wandlungen des SelbstWeltverhältnisses feststellen, die sich als gebrochene Bildungsgestalt „Hochstapler“ analytisch fassen lässt. Sie bietet einen Orientierungsrahmen im biographischen Erzählen, bindet Interferenzen und lässt sich im Biographisierungsprozess markieren.
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Tabelle 5: Komponenten der gebrochenen Bildungsgestalt bei Harry Domela „Die Schlacken meiner kleinbürgerlichen Herkunft fielen jetzt von mir. War ich noch vor Wochen in allen Widerwärtigkeiten meiner Existenz befangen gewesen, so schaute ich jetzt auf das vielgestaltige Leben dieser wuselnden Ameisenstadt mit der Distanz eines erwachenden Geistes […]. Wolf brachte dabei seinen Grundsatz bei mir zur Anerkennung, daß jeder. [sic!] ‚Geistige‘ ohne Besitz ein Rebell gegen die Ordnung der Dinge von heute sein müsse. Immer wieder zog er Vergleiche zwischen der Gesellschaft der Satten und den von ihr Ausgestoßenen. [...] ‚Alle Erkenntnis erwächst aus Vergleichen‘, sagte Wolf.“ Weltreferenzen die eigene Geschichte in der Geschichte historische Kontextualisierung Objektivierung
Interferenzen zwischen den Welten
Referenzdimensionen
Selbstreferenzen Authentizität Vergewisserung gegenüber sich selbst und anderen Selbstbildung
biographische Bewegungen: eine Odyssee zwischen den Welten Welt Rebellion die Welt des Seins die Welt des Scheins
Interferenzen zwischen Schein und Sein
Selbstbild Verlust des Selbst in den sozialen Verhältnissen
Fremdbild Verlust gesellschaftlicher Zugehörigkeit aufgrund der Staatenlosigkeit, der Bruch mit der Welt des Scheins, Verbindung von Schein und Sein
Interferenzen Selbstgeltung des Subjektes im Schein und Sein neues und altes Sein im Schein, die gesellschaftliche Präsentation des Seins im Schein, das unauflösbare gesellschaftliche Widersprüche bindet und Handeln ermöglicht
Selbstverhältnis Fremd in der eigenen Familie Existenzängste Selbstgeltung Selbstbestimmtheit
Weltverhältnis Stigmatisierung und Misshandlung von Körper und Seele, Verlust der Heimat und der Familie, mangelnde soziale Wertschätzung, Fremdbestimmung
Interferenzen Folgen des 1. Weltkrieges, gesellschaftliche Ordnung und die Probleme des Scheins und Seins, kriminelle Handlung zur Sicherung der Existenz
Lebenswelten
Mensch reflexive Erschließung gesellschaftlicher Handlungsbedingungen
„Ich war im siebten Himmel! Ich mußte an Berlin zurückdenken. Wo ich zusammen mit Wolf mit brennenden Augen vor den Stätten moderner Raumkunst gestanden hatte, und jetzt besaß ich es alles selbst! Glanz, Schönheit, Ruhe! Es war wie ein Traum. Ich versank in all diesem Reichtum. Es war mir gar nicht mehr bewußt, daß mir all dies nicht gehörte. Ich besaß es, weil ich da war.“
Quelle: eigene Darstellung
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6.4 ZWISCHEN-FAZIT: LÜGEN, TÄUSCHEN, HOCHSTAPELN UND GEBROCHENE BILDUNGSGESTALTEN Die Analyse der Biographien der Hochstapler hat ergeben, dass sich in Bildungsgestalten Widersprüche manifestieren können, die sich sowohl auf diachroner als auch auf synchroner Ebene im Biographisierungsprozess zeigen und die miteinander interferieren können. Die rekonstruktive Interpretation hat die Entstehung von Bildungsgestalten (diachron) und ihren Gebrauch (synchron) in den Fokus gestellt und konnte so die Mehrdeutigkeit von Bildungsgestalten, ihre Brüchigkeit als Resultat von Interferenzen in Bildungsprozessen erarbeiten. So konnte ein neuer Zusammenhang zwischen den beiden Ebenen von Biographisierungsprozessen hergestellt werden. Dieses Zusammenspiel der Ebenen und die Eingebundenheit von (sprachlichem) Handeln in geschichtliche Zusammenhänge fassen die folgenden Ausführungen über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Biographien von Manolescu, Straßnoff und Domela zusammen. Die Lügen der Hochstapler Manolescu und Straßnoff lügen aus Lust an der Lüge und Domela reduziert seine Lust an der Lüge auf die Bequemlichkeit der Gesellschaft (vgl. Kapitel 2.2.3). Dieses Gefühl verbinden sie mit ihrem Drang, den eigenen Vorstellungen entsprechend leben zu wollen. Dies stellen sie über ihre moralische Pflicht, nicht lügen zu dürfen. Domela lügt aufgrund der schmerzlichen Wahrheit, die er für seine eigene Existenz erkennt. Sie alle machen die Erfahrung, dass der Schein und die Lüge für sie zu existentiellen Faktoren werden, sowohl auf der Ebene der Gesellschaft, die ihren Erlebnissen zufolge lügt und belogen werden will, als auch auf individueller Ebene, weil sie mittels der Lüge ihre gesellschaftliche Verortung auf den Kopf stellen können. Domela ist der Einzige, der angibt, dass er von anderen zum Lügen erzogen wird, von anderen das Lügen lernt. Seine ‚Lügentheorie‘ und Rechtfertigungsstrategie für das Lügen erinnert neben den Bezügen zur Nietzsche in mehrfacher Hinsicht an Rousseaus Überlegungen zur Lüge: Unverschuldet gerät er in die Notwendigkeit zu Unwahrheit hinein und findet über die Lüge zurück zu sich selbst (vgl. Kapitel 2.2.2). Dies zeigte sich beispielsweise darin, dass er sein Bild von sich selbst mit den vorgetäuschten Rollen verbindet und somit in der Täuschung die Wahrheit spricht. In dieser doppelten Täuschung wird er wahrhaftig, weil er sein inneres Selbst nach außen bringt, ohne auf die gesellschaftlichen Erwartungen an seine Rolle Rücksicht zu nehmen. Domela orientiert sich ganz an seinen Erfahrungen, die er lernt, gesellschaftshistorisch zu kontextualisieren. In Domelas ‚Lügenkonzept‘ geht es wie bei Rousseau nicht so sehr darum, die Lüge als generell vorhandene gesellschaftliche
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Form darzustellen, wie es beispielsweise Manolescu und Straßnoff tun, sondern sie wird als Erklärung herangezogen, um eine Gesellschaft vorzuführen, die sich selbst als Lügengebäude entpuppt. Vergleichbar mit Émile sieht sich Domela nicht zu einer bedingungslosen Wahrhaftigkeit verpflichtet, eben weil er das Lügen von anderen gelernt hat, sondern er lernt, indem er die Lügen und den Schein des sozialen Umfeldes mittels eigener Lügen entlarvt, sich ein eigenes Urteil darüber zu bilden, ob er lügen darf oder nicht. Die ausgewählten Hochstapler nutzen die Darstellung ihrer Lügen, um ihre Klugheit zu zeigen. Straßnoff erklärt seine Lügen zu Notlügen, um anderen zu helfen, hilft sich aber letztlich am meisten selbst. Manolescu inszeniert sich mithilfe der Lügen als Genie. Täuschungen werden von ihm als listiges Kriegsmanöver gerechtfertigt und entpuppen sich doch als diebische ‚Fürstenlügen‘, um sich der Welt der Reichen anpassen zu können (vgl. Kapitel 2.2.1). Manolescu, Straßnoff und Domela wissen um das Verbot der Lüge und die Pflicht zur Wahrhaftigkeit im Kant’schen Sinne, aber sie wissen, auch die Moralität der Lügen in ihren Biographien umzudeuten, in dem sie sich selbst als lügende, aber moralische Instanzen präsentieren. Bei Straßnoff und Manolescu werden die Lügen und Täuschungen an Aspekte von Genialität gekoppelt. Diese subjektiv empfundene Genialität wird bei Manolescu und Straßnoff über jedes hochstaplerische Erlebnis bestätigt – Entlarvungen werden heruntergespielt – wohl auch, weil die für sich selbst eingeforderte herausragende Stellung damit ad absurdum geführt werden könnte. Erfolgreich sind Lügner und Täuscher ja nur, wenn niemand ihre Lügen und Täuschungen als solche erkennt. Einblicke geben die Hochstapelnden in ihre Lügengebäude und wie diese zusammenstürzen. Sie entwickeln unterschiedliche Rechtfertigungsstrategien für das Lügen, welches ihnen gesellschaftliche Partizipationsmöglichkeiten bietet, die sie mit Wahrhaftigkeit nicht erlangt hätten. Manolescu lügt aus Hilfe zur Selbsthilfe und macht daraus keinen Hehl. Er hat die gesellschaftlichen Verhältnisse durchschaut und weiß sich ihrer zu bedienen. Das Lügen, das Täuschen und das Rollenspiel sind dem Dieb hilfreiche Gesellen, die ihn auf dem Weg zum Meister und Fürsten begleiten. Sowohl Manolescu und Straßnoff als auch Domela spielen mit der Redewendung, dass die Welt betrogen werden will. Weil sie das will, können Straßnoff und Manolescu lügen und täuschen. In den drei untersuchten Hochstaplerbiographien wird das Lügen außerdem als soziale Handlung präsentiert, die dazu dient, eine Vorstellung vom eigenen Selbst in der Welt zu realisieren. Die Schilderungen über ihre Entlarvungen zeigen, dass ihnen einige Male die Schlüssigkeit ihrer Handlungen abhandengekommen ist. So auch Manolescus Versuch, sich zum Hochstapler zu lügen, dessen Brüchigkeit das eigentlich Authentische von ihm, den Meisterdieb, hervorbringt.
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Das Spiel mit der Wirklichkeit der Hochstapler Alle Hochstapler machen sich Täuschungen zunutze, die nach Goffman mögliche Bestandteile von Wirklichkeit in Interaktion mit anderen sein können (vgl. Kapitel 3.3). Sie zeigen, wie man durch das Täuschen lernen kann. Beispielsweise bringt sich Manolescu das Täuschen und Lügen in seiner Lehrzeit selbst bei. Er lernt neben der Kontrolle seines Körpers auch, Andeutungen zu machen, das zu sagen, was die anderen hören wollen, lernt seine Gestik und Mimik einzusetzen und stattet sich mit den zu seinen Rollen passenden Statussymbolen aus. Die Fähigkeit zur Manipulation schreiben sich die Hochstapler in ihren Biographien, wie insbesondere die Analysen der Lebenswelten und der biographischen Begründungen für den Wandel zum Hochstapler gezeigt haben, selbst zu. Sie geben Einblicke, wie und warum diese gelingen können. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Verknüpfung von diachroner und synchroner Ebene, die auf ein Phänomen aufmerksam macht, von dem auch Goffman berichtet: In der Rolle als Hochstapler zeigen sie, dass sie eher an der Erfüllung der Erwartungen der anderen an ihrer vorgetäuschten Rolle interessiert sind als an der Moralität ihrer Darstellungen. Eine Moralisierung ihrer Handlung erfolgt erst in Reflexionsphasen, die sie vorwiegend auf synchroner Erzählebene thematisieren, um sich dort auch als vermeintlich Bekennende darzustellen und ihre Moral zu „verkaufen“.735 Die Hochstapler zeigen ihre Hochstapeleien auf. Sie rekonstruieren die Täuschungsmanöver und geben sie so als solche zu erkennen. Masken tragen Straßnoff und Manolescu, Rollen spielen alle auf Bühnen an verschiedenen Orten. Zutritt zu ihren Hinterbühnen gewähren sie mit ihren Biographien. So gut wie möglich versuchen sie, die Erwartungen ihrer Leserschaft zu erfüllen. Eine Ausnahme stellt Harry Domela dar, der auf diachroner Ebene mit den Erwartungen an seine Rolle bricht und so für erhebliche Irritationen beim ‚Publikum‘ sorgt. Gerade dadurch wird er sehr souverän über die Deutungen seiner Zeichen in den Augen der anderen. Domela zeigt in seiner Biographie, wie er immer wieder versucht, die Normalität des Alltags mit seiner ‚wahren‘ Rolle als Harry Domela herzustellen. Doch dies misslingt ihm immer wieder, weil er kaum Zusprache von anderen erfährt. Schließlich gelingen ihm über die Hochstapelei immerhin Momente einer Sicherung der Existenz und das Einbringen der Rolle in das über die Hochstapelei geschaffene Weltverhältnis. Er wie auch Straßnoff und Manolescu wiegen ihr Publikum in deren selbst konstruierter Sicherheit, indem sie gekonnt, ihre wahren Handlungsabsichten verbergen können. Sie machen den Schein der Täuschung für andere und für sich selbst erfahrbar. Sowohl Domela als auch Manolescu präsentieren ihre Hochstapeleien metaphorisch als Waffe. Bei Domela ist sie die Waffe des gesellschaftlichen Ausgestoßenen,
735 E. Goffman: Wir alle spielen Theater, S. 229-230.
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der Kampf ein Überlebenskampf. Manolescu hingegen zieht aus diffusen Motiven heraus in den Kampf gegen die Gesellschaft und zeigt dabei eine Ich-Zentriertheit, die sein Gefecht zum erneuten Täuschungsmanöver werden lässt. In der reflexiven Auseinandersetzung mit sich, der Welt und anderen kommen die Hochstapler – so zeigt die Analyse – zu der Einsicht, dass sie ihr Welt-Verhältnis mit Täuschungen und Lügen beeinflussen können. So hat beispielsweise die Auswertung von Straßnoffs Biographisierungsprozess ergeben, dass er sich über die Reflexionen seiner Hochstapeleien von den gesellschaftlichen Konventionen lösen kann. Domela befreit sich aus der Hoffnungslosigkeit seiner Situation und Manolescu deutet seine lebensgeschichtlichen Fakten um. Sie entziehen sich ihren Wirklichkeiten mit ihren Lügen und Täuschungsmanövern. So können sie betrügen, schädigen oder, wie im Fall von Domela, überleben. Sie zeigen, dass für sie selbst die Hochstapelei und damit die Vortäuschung von Wirklichkeit(en) eine zeitlich fixierbare Realität des Daseins ist. Die Hochstapelnden machen sich die Erwartungen ihrer Zeit an bestimmte Rollen zunutze. Dabei bewegen sie sich hochstaplerisch überwiegend in adeligen und/oder militärischen Kreisen, die selbst sehr daran interessiert sind, den Schein und ihre gesellschaftliche Machtposition zu wahren. In diesen können sie über eine den Anforderungen an die Rolle gerecht werdende Präsentation Eindruck schinden und die Macht über die Mächtigen erlangen. Mit der Analyse konnte gezeigt werden, dass die Hochstapler versuchen, ihren Betrügereien eine andere Bedeutung zu geben. Sie versuchen, von ihren Betrügereien abzulenken, indem sie, wie Manolescu und Straßnoff, ihre Fähigkeiten und Willensstärke in den Vordergrund stellen wollen. Sie stilisieren sich zu genialen Künstlern, die fernab einer moralischen, sozialen Verpflichtung, ihr Leben leben können. Dabei nutzen sie das gesellschaftliche Wissen über die Figur des Hochstaplers und können die daraus resultierenden Erwartungen in die (vorgetäuschte) Geschichte ihrer Hochstapelei einfließen lassen. Die Authentizität der Hochstapler Manolescu entwickelt in seiner Biographie ein strategisches Konzept zur Hochstapelei und verrät auf Grundlage eigener Lernprozesse, wie man als Hochstapler authentisch werden kann. In seinen Rollen und Masken will er seinen Opfern die Täuschung als Authentizität suggerieren. Hilfreich sind ihm zufolge dabei u.a. Antizipationsvermögen, Willensstärke, Autosuggestion, ein der Rolle entsprechendes Aussehen und Auftreten, Schlagfertigkeit und Intelligenz. Zu dieser Auffassung kommt auch Straßnoff, der jedoch nicht vor der ersten Hochstapelei in die Lehre gehen muss, sondern eine natürliche Begabung anmeldet, deren Einsatz dann der Zufall erfordert. Alle drei Hochstapler inszenieren sich in ihren Biographien sowohl auf diachroner als auch auf synchroner Ebene und können sich so als Souveräne über die Authentizität ihrer Re-
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flexionsprozesse als auch ihrer biographischen Erfahrungen und Erlebnisse darstellen. Straßnoff ist als Hochstapler daran gelegen, sein Selbstbild und den dazugehörigen Lebensstil zu realisieren. In der Darstellung seines Selbstverhältnisses ist er ein Hochstapler aus Berufung und spielt dabei mit den verschiedenen Darstellungsformen dieser Berufung in seinen verschiedenen Rollen als Hochstapler. Wie auch Domela nimmt er immer wieder Bezug auf die Erwartungen der anderen an seine Person und zeigt, wie wandelbar er in den verschiedenen Lebenswelten und den damit verbundenen Anforderungen ist. Letztendlich entscheidet er sich für eine mit den bürgerlichen Erwartungen nicht konforme Lebensweise, zu der auch das Hochstapeln bis zur letzten Verhaftung gehört. Seine Grenzüberschreitungen der moralischen Konventionen mittels Hochstapeleien und im Zuge dessen mit Lügen und Täuschungen ermöglichen ihm die Bestätigung seiner Authentizität. Alle drei Hochstapler geben an, zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden zu können. Meistens sogar besser als ihr soziales Umfeld, da dieses ihrer Ansichten und Erfahrungen nach von Lügen und mangelnder Aufrichtigkeit geprägt ist, ohne dass die Gesellschaft dies selbst als Lügen und Täuschungen klassifiziert. Die Gesellschaft ermöglicht ihnen das Lügen, so die These in allen drei Biographien, weil sie selbst verlogen ist, belogen werden will, in ihr der Schein regiert und sie bequem ist. Wie in der Interpretation gezeigt wurde, können Straßnoff und Manolescu die für sich beanspruchte Sonderstellung unter den Hochstaplern deshalb für sich beanspruchen, weil sie immer wieder über gesellschaftlich gesetzte Grenzen hinausgehen. Domela entwickelt ein Gefühl für seine Einzigartigkeit und Authentizität, die er mit der Erfahrung des Ausgeschlossen-Seins und des Nirgendwo-richtig-Dazugehörens verbinden kann. In seinen Rollen als Hochstapler lernt er zunächst, sich von sich selbst loszusagen, um wieder zu sich zu gelangen. So ist es ihm möglich, sein authentisches Bild von sich selbst mit der Rolle des Hochstaplers zu verbinden. In den Zeiten der „Klassischen Moderne“ legen die Hochstapler in ihren biographischen Erzählungen dar, wie sie die bürgerlichen Vorstellungen von der authentischen Entwicklung eines wahrhaftigen Individuums sprengen können. Sowohl Manolescu als auch Domela verdeutlichen dies auf biographischer Handlungsebene im synchronen Erzählen selbst: Manolescu täuscht eine Wandlung zum Hochstapler vor und widerspricht schon damit der gesellschaftlichen Erwartungshaltung an seine Biographie, das Wahrhaftige aus seinem Seelenleben zu erfahren. Domela bricht in seiner biographischen Bewegung mit den Klischees des Bildungsromans und stellt so einen desillusionierenden Bildungsprozess eines vergesellschafteten Subjekts dar, dem, als es weiter gehen muss, nach eigenem Ermessen nur noch Lügen, Täuschen und Hochstapeln übrig bleibt.
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Die Identitäten und die Anerkennung der Hochstapler Alle drei Hochstapler geben sich in ihren vorgetäuschten Rollen Namen und Titel, um ihren Opfern eine personale Identität vorzutäuschen. Sie benennen und titulieren sich selbst. Lediglich Harry Domela bekommt den Namen „Prinz Wilhelm von Preußen“ verliehen, kann sich aber nach anfänglicher Ziererei gut damit arrangieren. Die vorgetäuschten Namen und Titel werden von denen, die um ihre hochstaplerische, kriminelle Vergangenheit wissen, mit ihren ‚wahren‘ Namen verknüpft. Mit diesem Wissen spielen Manolescu und Domela bereits in den Titeln ihrer Biographien: Manolescu ist der Fürst Lahovary und Domela der falsche Prinz. Sie fungieren als doppelte Identitätsaufhänger für die folgende biographische Erzählung, identifizieren und differenzieren zugleich zwischen dem Hochstapler von einst und dem Autor im Jetzt. Über die Doppelnamen werden sich überlagernde Identitätszuschreibungen gebunden: die erfundenen biographischen Merkmale als Hochstapler und die wahre Lebensgeschichte der Autoren als Hochstapler von einst. Angezeigt wird damit auch eine zeitliche Einordnung der Hochstapelei in die Lebensgeschichte der Hochstapler: Es gibt während der hochstaplerischen Namenswechsel ein Davor-und-ein-Danach, das durch den ‚wahren‘ Namen präsentiert wird. Nach ihren Entlarvungen und Inhaftierungen werden Domela, Manolescu und Straßnoff aufgrund ihrer biographischen Vergangenheit zu den Diskreditierbaren und versuchen, über den Biographisierungsprozess ihrem Stigma auf verschiedene Art und Weise zu begegnen. Gemeinsam ist ihnen dabei, dass sie sich zu ihren Hochstapeleien bekennen, ihre hochstaplerischen Vorgehensweisen offenlegen. Unterschiedlich sind jedoch die Intentionen, mit denen die ‚Bekenntnisse‘ erfolgen. Was sich mit dem Einbezug der Namen im Titel schon andeutet, setzt sich in den Biographien in dialektischer Weise fort: Alle drei Hochstapler bekennen sich zu ihren Taten, die sie aber nicht wirklich bereuen. Unmittelbar damit verknüpft ist, dass sie darlegen, wie sie in ihrer Rolle als Hochstapler den Erwartungen der anderen so gerecht werden konnten, dass diese ihnen glaubten. Sie sind dabei sowohl um ihren Schein der Einzigartigkeit – was sich bei Manolescu und Straßnoff in ihrer proklamierten Genialität und bei Domela in seiner gesellschaftskritischen Haltung zeigt – bemüht als auch um den Schein der Normalität, um sich als Stigmatisierte den lesenden Nicht-Stigmatisierten präsentieren zu können. Auf diachroner Ebene in den Lebenswelten nutzen die drei Hochstapler den Schein ihrer Identitäten, um ihre angestrebten Ziele und Selbstbilder (Manolescu und Straßnoff) zu erreichen oder um nicht an den gesellschaftlichen Verhältnissen zugrunde zu gehen (Domela). Manolescu, Straßnoff und Domela stellen ihre Entschlüsse, als Hochstapler zu agieren, als bewusste Entscheidungen dar, die auf Basis von der Auseinandersetzung mit Selbst- und Weltverhältnissen getroffen wurden. Sie sind damit auch das Resultat von Lernprozessen, die bei Manolescu autodidaktisch erfolgen oder bei Domela in
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der Person des Barons Lüderitz von außen angestoßen werden. Straßnoff lernt das Hochstapeln u.a., um den gesellschaftlichen und individuellen Erwartungen sowohl zu ent- als auch zu widersprechen. Mittels biographischer Narration konstruieren die Hochstapler ihre Identität. Dabei erläutern sie, wie sie in ihren hochstaplerischen Rollen Authentizität suggerieren konnten. Diese Suggestion mündet bei allen in der reflexiv begründeten Wahrnehmung, dass ihre Ich-Identität auch mit der vorgetäuschten personalen Identität verschmilzt. Über diese Interferenz verdeutlichen Manolescu, Domela und Straßnoff die Authentizität ihrer vorgetäuschten Rollen und ihres ‚wahren‘ Ichs. Indem sie über ihre Lügen und Täuschungen erzählen, führen sie Aspekte von Widerstand und Verweigerung bei gleichzeitiger Antizipation von gesellschaftlichen Erwartungen zusammen, sodass die Authentizität ihrer Hochstapeleien im reflexiven Nachgang in die eigenen narrativen Identitätskonstruktionen integriert werden kann. Gezeigt werden konnte mit der Untersuchung außerdem, dass der Anlass zum Verfassen der Biographien auf der einen Seite den finanziellen Interessen der Hochstapler geschuldet ist. Die Aussicht auf einen monetären Profit, einen finanziellen Coup ist Erfolg versprechend, weil das öffentliche Interesse an Hochstaplern in ihren Lebenszeiten groß ist. Auf der anderen Seite geht es den nun ehemaligen Hochstaplern auch darum, die Deutungshoheit über ihr Leben zurückzuerlangen. Auch wenn diese im Fall von Manolescu darin besteht, in der autobiographischen Verarbeitung eine Hochstapler-Identität zu konstruieren, um in diese seine ‚authentische‘ Identitätsarbeit als Meisterdieb einfließen zu lassen. Die Analyse der biographischen Bewegungen und der dargestellten Lebenswelten in den Hochstaplerbiographien zeigt, wie die Hochstapelnden vor, während und nach der Hochstaplerphase den Schein wahren müssen, um im Sein bestehen zu können. So betreiben sie ein Spiel mit der Wirklichkeit über den Biographisierungsprozess. Die rekonstruktive Interpretation hat ergeben, dass sowohl Manolescu und Straßnoff als auch Domela über den Weg der Biographisierung versuchen, ihr Verhältnis zu sich selbst und zur Welt zu ordnen. Sowohl im Hinblick auf die biographischen Erlebnisse als Hochstapler als auch im Hinblick auf ihre reflexive Auseinandersetzung mit diesen Ereignissen werden Aspekte von Anerkennung berührt. Vor allem Domela thematisiert Formen der Missachtung von Anerkennung, die aus seiner Sicht überhaupt erst dazu führen, dass er lügen und täuschen muss. Die Missachtungen seines Körpers, die fehlende soziale Wertschätzung, die emotionale Vernachlässigung und kognitive Missachtung führen bei ihm zu einem Schwinden des Selbstbewusstseins und zu einer tiefen Lebenskrise, weil er kaum jemanden zu finden scheint, der ihn als Harry Domela anerkennt. Er entwickelt sich vom Rebellen im Geiste zum rebellischen Hochstapler gegen die gesellschaftlichen Zustände, die seine Anerkennung verhindern. Er beschreibt dabei einen Bildungsprozess, der sich auch dadurch auszeichnet, dass er sowohl über eigene Erfahrungen als auch in Interaktion mit anderen zu Kenntnissen und Ursachen über die Ungerechtigkeiten der
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Welt gelangt und sich damit reflexiv auseinandersetzt. Einige der Welten, die Harry Domela betritt, zeichnen sich durch die Weltlosigkeit aus, auf die Pannen verweist. 736 Harry Domela geht es dabei nicht darum, ein neues Selbst erfinden zu können, was andere anerkennen. Sondern, so hat es die Analyse ergeben, stellt bei ihm die Hochstapelei eine Möglichkeit dar, seine sich anhand von reflexiven Bildungsprozessen herauskristallisierende Rolle des Gesellschaftskritikers in Momenten der Hochstapelei anzuwenden. Er gibt sich „im Strudel der Entlarvungen“737 nicht selbst auf, sondern verleiht der Hochstaplergestalt Mehrdeutigkeit. Die verweigerte Anerkennung wird anhand der moralisch zu verurteilenden Figur des Hochstaplers zugespitzt und zu einem neuen Weg der Selbst-Anerkennung umgedeutet. Manolescu, Straßnoff und Domela reisen als Hochstapler von einem Ort zum nächsten. Finden aber keinen, an dem sie länger verweilen wollen oder können. Sowohl Manolescu und Straßnoff als auch Domela präsentieren sich als Wanderer zwischen den Welten ihrer (klein-)bürgerlichen Herkunft und der ‚höheren‘ Gesellschaft. So versuchen sie, ihr hochstaplerisches Handeln zu legitimieren. Straßnoff braucht die eingeschränkte Anerkennung seines Lebensstils, um diesen erst hervorbringen zu können und sich in Interaktion mit anderen als selbstbestimmten Außenseiter, als Lebenskünstler gesellschaftlich zu verorten. Domela kann über die bereisten Welten sein hochstaplerisches Handeln und die Widersprüchlichkeiten gesellschaftlicher Konventionen sowie normativ gesetzte Anerkennungs- und Missachtungsformen begründen. Manolescu nimmt seinen Kampf um Anerkennung auf, als der ärztlich festgestellte ‚Wahnsinn‘ droht, sein Selbstbild, das er nach außen präsentieren will, zu überlagern. Eine Stigmatisierung zum Hochstapler scheint für ihn besser zu sein als die eines psychisch Kranken. Aufgrund dessen präsentiert er sich in seiner Biographie als Hochstapler und setzt die dazugehörigen gesellschaftlichen Vorstellungen über Hochstapler mehr oder weniger gekonnt in Szene. Dies verhilft ihm zu (zweifelhafter) Berühmtheit, aber finanzieller ‚Anerkennung‘. Die Interpretation der Biographien hat ergeben, dass Lügen, Täuschungen und Hochstapeleien sich auch aufgrund von Erfahrungen und Erlebnissen in Anerkennungsverhältnissen ergeben können (vgl. Kapitel 3.3.3). In den analysierten Biographien kollidieren vor der Wandlung zum Hochstapler unterschiedliche und mit dem Selbstbild der Biographen nicht übereinstimmende Intentionen und Identitätsfestlegungen. Insbesondere die gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten und die damit verbundenen (moralischen) Erwartungen sind an diese Identitätsfestlegungen gekoppelt und werden als konfliktreich beschrieben.
736 T. Pannen: Anmerkungen aus dem Zettelkasten, S. 108. 737 Ebd.
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Anhand der Interpretation der Biographie von Georges Manolescu wurde ersichtlich, dass er sich zum Hochstapler wandelt, weil er unterschiedlichen Identitätsfestlegungen wie die des Wahnsinnigen und des Kriminellen entgehen will. Dies versucht er, indem er seiner Lebensgeschichte neue Bedeutungen zuschreibt. Die interferierenden Identitätsfestlegungen führen dazu, dass er in der „nachgeschichte der handlungen“, in „einen strategischen Interpretationskampf“ eintritt, in dem er die Bildungsgestalt des Hochstaplers anwendet.738 Er geht eine Wandlung zum Schein ein, die ihn in ein anderes Weltverhältnis bei gleichzeitiger Bestätigung seines Selbstbildes setzen soll. Die Wandlung zum Hochstapler realisiert sich im Moment des Erzählens. Dieses hat fiktiven Charakter, weil wesentliche Aspekte nicht den wahren Begebenheiten entsprechen. Manolescu spielt mit den kollektiven Wissensbeständen über die Merkmale und Eigenschaften eines Hochstaplers und kombiniert sie mit seiner Lebensgeschichte. Die Bildungsgestalt des Hochstaplers nimmt alte Bestandteile biographischer, gesellschaftlich kontextualisierter und subjektiv reflektierter Ereignisse auf. So versucht er, seinem Selbstbild vom Meisterdieb und mittels einer Schein-Identität dem Stigma des psychisch Kranken zu entgehen. Obwohl ihm schon zu Lebzeiten nachgewiesen werden kann, dass seine Wandlung zum Hochstapler vorgetäuscht ist und er bereits auf biographischer Handlungsebene mit dieser bricht, kann sich seine vorgetäuschte Bildungsgestalt über seine Lebenszeit hinaus gesellschaftlich als Teil seiner Identität etablieren. Im Falle von Straßnoff interferieren individuelle Selbst- und gesellschaftliche Fremdbestimmung als Form von Identitätsfestlegungen miteinander. Wie Manolescu gebraucht auch er die Bildungsgestalt des Hochstaplers, um sich vom Standpunkt der Erzählzeit sowohl in seinen biographischen Erlebnissen als auch in der Gesellschaft verorten zu können. Er schafft über die Biographisierung von bestimmten Lebensphasen ein Motivgeflecht, in dem er die ihn bedrückenden Konflikte, ihre Ursachen und Wirkungen narrativ gestaltet, von anderen bestätigen und erklären lässt. Wesentlicher Bestandteil dieses Motivgeflechts ist die Bildungsgestalt des Hochstaplers, das in das Sinnsystem der biographischen Entwicklung integriert und gebraucht wird, um sich in der fiktiven Einzigartigkeit am Rande der Gesellschaft zu verorten (vgl. Kapitel 6.2). Ihre Wandlungen zu Hochstaplern begründen Georges Manolescu, Ignatz Straßnoff und Harry Domela, indem sie ihre Selbstverhältnisse in Relation zu den Weltverhältnissen setzen. Sie beschreiben ihre Wandlung zum Hochstapler als Folge von gesellschaftlichen Zuständen, individuellen Talenten und Charaktereigenschaften. Sie charakterisieren sich als gebildet und gut aussehend, intelligent und fleißig, willensstark und als kluge Lügner. Sowohl Manolescu und Straßnoff als auch Domela erleben Momente, in denen ihr Selbst in den vorgetäuschten Rollen aufgeht. Während dieser Verquickung von Täuschung und Authentizität sehen Manolescu
738 G. Presch: Namen in Konfliktfeldern, S. 126.
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und Straßnoff ihre eigens proklamierte Genialität bestätigt; bei Domela führt dies zu einem Zustand zwischen Irritation und Selbstbestätigung. Alle drei Hochstapler geben an, dass ihre vorgetäuschten Rollen nicht aufgesetzt wirken, weil sie in ihnen auch Teile ihrer Identität und ihrer biographischen Erfahrungen mit sich selbst und anderen einfließen lassen können. Die Biographisierungs- und die Bildungsprozesse der Hochstapler Die Biographien von Georges Manolescu, Ignatz Straßnoff und Harry Domela wurden auf ihre Biographisierungsprozesse hin untersucht. Es wurde ihrer reflexiven Verortung in den Selbst-Weltverhältnissen nachgegangen. Dabei zeigte sich, dass die drei Biographen Bezug nehmen auf die jeweiligen gesellschaftlichen Zustände, sich zu diesen und ihren Mitmenschen positionieren und eine eigene Stellung zu den anderen und zur Welt formulieren. Ihre biographischen Bewegungen in und zu den Lebenswelten ermöglichen es ihnen, sich einen Platz in der Gesellschaft und in der Historie zu geben. Gemeinsam ist ihnen, dass sie auf unterschiedliche Art und Weise nach Anerkennung suchen, sich als Außenseiter der Gesellschaft positionieren und die Welt als Hochstapler selbst in die Hand nehmen, um sich aus Krisen und Konflikten zu befreien. Sie sehen sich vor, während und nach ihren Hochstapeleien dem Widerstreit von Identitätsfestlegungen ausgesetzt. Manolescus Lösung ist, sich als Hochstapler neu zu erfinden, um in diese Bildungsgestalt sein altes Leben als Meisterdieb einfließen zu lassen und sich vom Stigma des Geisteskranken zu befreien. Er wandelt sich in der Fiktion und ist dabei so erfolgreich, dass er als wahrer Hochstapler in die Geschichte eingehen wird. Ignatz Straßnoff macht den Hochstapler zum Beruf. Harry Domela eröffnen sich in der Figur des Hochstaplers neue Gestaltungsmöglichkeiten von Welt in Form von Lügen und Täuschungen, die er jedoch an seine eigene Authentizität koppeln kann und so in der doppelten Täuschung seine Wandlung zum Gesellschaftskritiker vollzieht. In ihren Biographien finden sich interferierende Kräfte, die mittels der Analyse der aufeinanderbezogenen Lebenswelten und biographischen Bewegungen herausgearbeitet werden konnten. Alle drei knüpfen mit ihren Erzählungen an ein alltagsweltliches Verständnis von Biographie an, nach dem es den „biographischen Pakt“ gibt, demzufolge die Einheit von Autor und Erzähler und erlebendem Ich auf einer impliziten oder expliziten Vereinbarung zwischen den Lesenden und dem Autor beruht. Dieser Pakt ist jedoch, wie es sich Lejeunes Ausführungen entnehmen lässt, keineswegs eine Garantie für die Wahrhaftigkeit der Bezüge zur Wirklichkeit und/oder das biographische Erzählen.739 Die Hochstapler brechen den Pakt, auch wenn sie sich an einige Konventionen des
739 Vgl. P. Lejeune: Der autobiographische Pakt.
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Biographiegenres halten. Dies geschieht zum Beispiel darüber, dass sie zwar einen Ich-Erzähler implementieren und diesen auch mit ihrem Namen benennen, jedoch den Ich-Erzähler mit auktorialer Erzählweise, die über die Erkenntnismöglichkeiten des erlebenden und reflektierenden Ichs hinausgehen, ausstatten. Damit überschreiten sie die Grenzen des biographischen Paktes, weil sie sich nicht nur als Souverän über die eigenen Gedanken, Reden und Erlebnisse machen, sondern auch über die anderen, die sie auf ihrem Lebensweg begleiten souverän beherrschen. Über die auktoriale Erzählweise können sie sich flexibel von den Ereignissen in den Lebenswelten distanzieren, positionieren sich damit aber gleichzeitig als außerhalb von dieser. Die Allmacht des auktorialen Erzählers lässt die Faktizität und Wahrheit über die biographischen Ereignisse in den Hintergrund treten. Sie präsentiert eine subjektive Auslegung von Ich, Welt und anderen. Insbesondere in der Biographie von Manolescu zeigt sich, dass das biographische Subjekt der eigentliche Hochstapler ist, weil es mit täuschender Absicht vorgibt, sich zum Hochstapler zu wandeln. Vor der schriftlichen Rekonstruktion ihrer hochstaplerischen Erfahrungen geben alle drei vor, eine (von außen, wegen ihrer Inhaftierung quasi erzwungene) Phase der Besinnung zu haben, in der sie über ihr bisheriges Leben und ihre Taten nachdenken können. In dieser Phase wandeln sich Manolescu und Straßnoff nach eigenem Bekunden zu den Bekennenden ihrer Taten. Domela hingegen bekennt nicht, sondern rekonstruiert sein Leben und seine Abenteuer offensiver als die anderen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Zustände. Manolescu, Straßnoff und Domela reflektieren mit größerem (Straßnoff) oder kleinerem (Manolescu, Domela) Abstand über eine singuläre lebensgeschichtliche Phase – ihre Hochstapeleien. Darin etablieren sie auch ein erlebendes Ich, das sich in seinen verschiedenen Rollen zeigt und sein vergangenes In-der-Welt-Sein als Hochstapler für andere öffentlich macht. Den Lesenden wird zugänglich, wie sie täuschen und lügen konnten. Ihr Scheitern wird aufgezeigt und produktiv umgedeutet: Das Scheitern ermöglicht erst die Offenbarung der Hochstapeleien. Obwohl sie in ihren Biographien eine singuläre biographische Phase in den Mittelpunkt stellen, schaffen sie es insbesondere über die Art und Weise, wie sie über diese Phase erzählen, wie sie die Lebenswelten darstellen und biographische Bewegungen ausführen, einen über diese Lebensphase hinausgehenden Sinn für das eigene Leben zu entwerfen. Gerahmt wird die singuläre biographische Phase von Vor- und Nachgeschichten, die entweder in den biographischen Geschichten selbst thematisiert werden oder sich aus den Schreibanlässen für die Biographien ergeben. Bei Straßnoff und Manolescu werden die Vorgeschichten und Nachgeschichten als Vor- und Nachwörter zu den Biographien gestellt. Domela zeigt im Gegensatz dazu selbst eine sehr ausführliche Vorgeschichte für die Wandlung zum Hochstapler auf. Die Phasen der Hochstapelei und die Reflexionen über diese können sich im Anschluss an Pongratz tatsächlich als „Passagen“ beschreiben lassen (vgl. Kapitel 3.2). In ihrer lebensgeschichtlichen und soziohistorischen Verortung bilden sie eine
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„Übergangskonstellation zwischen Vergangenheit und Gegenwart“, mit der Grenzen überschritten wurden, um sich selbst zu bilden.740 Es bestätigte sich die These, dass Konflikte aus der Vorgeschichte der Wandlung zum Hochstapler in dieser Bildungsgestalt und in ihrem Gebrauch gebunden werden. Diese Konflikte artikulieren sich sowohl in den Lebenswelten und in den biographischen Bewegungen. Sie sind damit sowohl Auslöser für die Wandlung zum Hochstapler als auch für den Gebrauch dieser Bildungsgestalt. Die gebrochene Bildungsgestalt des Hochstaplers wird genutzt, um sich für andere als solche zu identifizieren und gleichzeitig zu individualisieren. Dies kann gelingen, weil die drei Hochstapler an sozial geteiltes Wissen über Hochstapler anknüpfen können (Identifikation) und mit diesem auf unterschiedliche Art und Weise brechen, indem sie diese kollektiven Wissensbestände mit ihrer individuellen Lebensgeschichte verknüpfen (Individualisierung). Dies wurde ersichtlich daran, dass Manolescu, Straßnoff und Domela ihrer Bildungsgestalt des Hochstaplers eine individuelle Bedeutung geben, indem sie sie mit einzigartigen Merkmalen und Geschichten ausstatten. Sie ändern auch die sozial geteilten Geschichten über sich selbst, indem sie ihrer Bildungsgestalt des Hochstaplers eine andere Bedeutung zusprechen. So lassen sich gebrochene Bildungsgestalten identifizieren. Alle drei Hochstapler machen Diskrepanzerfahrungen, die sie nur aufheben können, indem sie täuschen, lügen und hochstapeln. So gehen sie zum Schein ein neues Welt-Selbstverhältnis ein. In realiter bleiben sie in ihrem ‚echten‘ Selbst-Weltverhältnis, das sich auf ihren gesellschaftlichen Erfahrungen, ihren sozialen Handlungsmöglichkeiten und ihrem Selbstbild gründet. Straßnoff und Domela wandeln sich nicht während der biographischen Reflexionen zu Hochstaplern, sondern legen dar, wie sie sich in diese wandeln konnten. Insbesondere Domela nutzt die Biographie, um sich über die Reflexion seiner hochstaplerischen Passage in einen gesellschaftskritischen Hochstapler zu verändern. Die Hochstapler überschreiten Wirklichkeiten, indem sie ‚Schein und Sein‘, ‚Authentizität und Identität‘, ‚Vergesellschaftlichung und Individualität‘ sowohl in ihrer Beschränktheit erfahren und diese Beschränktheit auf ihre Wandlungen zum Hochstapler übertragen können. Die methodische Ausrichtung der Interpretation fokussierte auf ein verändertes Verhältnis von diachronen und synchronen Analyseebenen für die Biographisierungs- und Bildungsprozesse der Hochstapler. Die Ergebnisse der Interpretationen zeigen, dass die synchrone Ebene von Reflexionsprozessen nicht mehr ausschließlich darauf ausgerichtet sein muss, eine Anerkennung des Erzählten im Hier und Jetzt zu erreichen, sondern bereits während der biographischen Bewegung zu den Lebenswelten stattfinden kann. Aufgrund dessen kam es auch zu folgenden Interpretationsmöglichkeiten: Betrachtet man die diachrone Ebene (erzählte Zeit, erlebendes Ich) der Bildungsgestalt des Hochstaplers in den Lebenswelten, so erklären alle drei
740 L.A. Pongratz: Zeitgeistsurfer, S. 82.
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Hochstapler ihr Geworden-Sein und begründen es mit den der biographischen Phase vorgelagerten Lebenspassagen. Auf synchroner Ebene (Erzählzeit, erzählendes Ich), also mit dem Gebrauch der Hochstaplerfigur in den biographischen Bewegungen, können sowohl Lebensgeschichte als auch gesellschaftliche Geschichten über sie in die Figur des Hochstaplers einwandern. Über das dialektische Verhältnis von biographischen Bewegungen, Lebenswelten und Geschichten können sie in der Bildungsgestalt des Hochstaplers Widersprüche binden. Diese Widersprüche ergeben sich aus der Figur des Hochstaplers, seine gesellschaftlichen und subjektiven Bedeutungen sowie aus den unterschiedlichen Identitätsfestlegungen, mit denen die drei Hochstapler zu kämpfen haben. Deutlich wurde, dass sich die Bildungsgestalt des Hochstaplers in den Biographien in einem Zusammenspiel von synchronen und diachronen Referenzherstellungen zur Welt, zum Selbst und zu anderen herstellt. Über den Vergleich der Interpretationen kann festgestellt werden, dass die Autoren unterschiedliche Fokussierungen hinsichtlich der diachronen oder synchronen Ebene vornehmen: Während Manolescu deutlich vom Standpunkt der Erzählzeit her reflektiert, betont Straßnoff die diachrone Ebene und kann sich so zum Hochstapler aus Berufung stilisieren. Domela verquickt auf geschickte Art und Weise synchrone und diachrone Ebene. Ein Vorgehen, das Wandlungen in der erzählten Zeit ermöglicht und diese gleichzeitig in der Erzählzeit bestehen lässt. Es konnte gezeigt werden, dass in den Bildungs- und Biographisierungsprozessen von Georges Manolescu, Ignatz Straßnoff und Harry Domela sowohl ihre Wandlung zum Hochstapler als auch ihre Reflexionen über diese Wandlung im biographischen Erzählen Referenzherstellungen und daraus resultierende Transformationen von widersprüchlichen Intentionen, Interessen und Machtverhältnissen widerspiegeln. Dies kann sowohl für das erlebende Ich als auch für das erzählende Ich festgestellt werden. Für das erlebende Ich wird dargestellt, wie Täuschen, Lügen und Hochstapeln Handlungsmöglichkeiten eröffnen, solange ihre Opfer nicht wissen, dass sie getäuscht werden. Sie nehmen also eine Zwischenstellung ein, sind ein zeitlich begrenzter Moment, auf den jedoch im Erzählen wieder zurückgegriffen wird, um sich als Hochstapler zu bekennen. Die Bekenntnisse zur Wandlung zum Hochstapler haben wiederum eine Vorgeschichte, die sich im Gebrauch der Hochstaplerfigur während der biographischen Bewegung zeigt. Sie wird genutzt, um eine andere Bedeutung zu implementieren, um so den stigmatisierenden Identitätsfestlegungen zu entgehen und eine neue Form der Auseinandersetzung mit der Welt eingehen zu können. In die subjektiven Referenzherstellungen der Hochstapler wandern also auch gesellschaftlich kontextualisierte Interaktionsbedingungen sowie Wissensbestände und ihr Konfliktpotential ein. Über die Integration des Interferenzkonzeptes (vgl. Kapitel 5) und die offenen Analysemöglichkeiten für lebensgeschichtliche Erzählungen, die sich aus den Definitionen von Lebenswelt und biographischer Bewegung nach Schulze ergeben, konn-
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ten mit der rekonstruktiven Interpretation Lügen, Täuschungen und Hochstapelei als das Resultat von Referenzherstellungen identifiziert werden. Spezifisch ist dabei zu beachten, dass in der Bildungsgestalt des Hochstaplers die gesellschaftlichen Widersprüchlichkeiten immer schon eingebunden sind. Mit ihr gelingt es den biographischen Subjekten, ihre Krisen und Konflikte zu handhaben. Allerdings mehr schlecht als recht, denn sie werden entlarvt, und sie sehen sich anschließend weiteren Problemen ausgesetzt. Bildungsgestalten als Ergebnis von Referenzherstellungen in den Lebenswelten (diachron) und der Gebrauch von Bildungsgestalten für reflexive Referenzherstellungen in der biographischen Bewegung (synchron) können, wie theoretisch erarbeitet und qualitativ untersucht, Scheinkompromisse darstellen. Sie sind dann zu verstehen als gebrochene Bildungsgestalten. Dies zeigte sich in allen drei Hochstaplerbiographien: Bei Straßnoff und Domela sind sie das Resultat von nicht lösbaren Konflikten, die sich aus der gegensätzlichen Fremd- und Selbstverortung in den vorgeschichtlichen Lebenswelten ergibt. Die Wandlung zum Hochstapler wird mit den Ereignissen in den Lebenswelten begründet. Damit sind sie in der Lage, in dem sie sich eine neue Rolle erfinden und als Täuschung präsentieren, einen eigentlich nicht lösbaren Konflikt vorläufig abzuschließen. Diesen Abschluss bringen sie mehr schlecht als recht zustande, weil sie als Hochstapler auffliegen. Mit dem Schreiben ihrer Biographien eröffnen sie eine neue Stufe der Auseinandersetzung um ihre Person und gebrauchen die Figur des Hochstaplers, um sich in ihren Wandlungen präsentieren zu können. Domela wandelt sich zum gesellschaftskritischen Hochstapler und Straßnoff bestätigt sein Selbstbild als Lebenskünstler am Rande der Gesellschaft. Beide nehmen dabei Bezug auf gesellschaftliche Entwicklungen, die in diese Selbstbilder einfließen. Bei Manolescu zeigte sich die Gebrochenheit der Bildungsgestalt darin, das mit ihr versucht wird, eine Auseinandersetzung über sein Identitätsmerkmal „Wahnsinn“ abzuschließen, und sich als Meisterdieb zu resozialisieren. Um die gegensätzlichen Interessen an seiner Person zu binden, nutzt er die Figur des Hochstaplers, da diese die unterschiedlichen Interessen binden kann. Im Gegensatz zu Domela, der seine Wandlungen zum Hochstapler vor allem diachron verortet, erweist sich bei Manolescu die diachrone Wandlung als Täuschung. Er gebraucht die Figur des Hochstaplers, um sich auf diachroner und synchroner Ebene den seinem Selbstbild widersprechenden Formen der Selbst- und Fremdverortung entledigen zu können. Alle drei schaffen sich mit ihren Biographien eine neue Auslegung ihrer hochstaplerischen Lebensgeschichte und wollen, dass die von ihnen vorgenommene Deutung ihrer Hochstapeleien innerhalb der Gesellschaft geteilt wird. Betrachtet man die lebensgeschichtlichen Äußerungen unter dem Aspekt sozial geteilter Biographisierungsprozesse und Identitätskonstruktionen, die sich auch auf narratives Handeln gründen, so fällt auf, dass es allen Hochstaplern gelingt, die Bildungsgestalt des Hochstaplers so auszugestalten und biographisch zu begründen,
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dass sie von der Gesellschaft, die ein Wissen über Hochstapler hat, geteilt werden können. Über die Offenbarungen und Bekenntnisse über die diachrone Ebene in den Lebenswelten können schlechte Eigenschaften als Vergangenes erscheinen und auf synchroner Ebene eigene Merkmalskomplexe eingebracht werden. Damit kommt es zu einem weiteren Bruch mit der Bildungsgestalt des Hochstaplers und gleichzeitig zu Referenzherstellungen zur Welt, zu den anderen und zu sich selbst, die teilweise auf Täuschungen basieren. Die Rolle des Hochstaplers, das hat die Interpretation der Biographien ergeben, kann die Widersprüchlichkeiten aufheben, weil sie eine Schnittstelle zwischen Sein und Schein darstellt und ihr Merkmale der Täuschung und der Authentizität inhärent sind. Die Untersuchung hat auch ergeben, dass in alle drei Biographisierungsprozessen die Vor- bzw. Entstehungsgeschichten einwandern. Sie werden so bildungsbezogen genutzt: Domela spiegelt das öffentliche Interesse an seiner Biographie dahin gehend wieder, dass er nutzt, worin man die gesellschaftliche Tragweite seiner Biographie sieht: die kritischen Auswirkungen der gesellschaftlichen Zustände auf den Menschen. Manolescu reagiert auf die Debatte, ob er denn wahn- und irrsinnig sei oder nicht. Straßnoff will sich in die Reihe der prominenten Hochstapler einreihen und bedient deshalb, wie Manolescu auch die gängigen Vorstellungen über Hochstapelnden in der Darstellung seiner Lebenswelten. Damit zeigt sich die Anschlussfähigkeit der Integration des historisch-pragmalinguistischen Interferenzkonzepts an methodologische und bildungstheoretische Überlegungen der Biographieforschung. Es konnte gezeigt werden, dass Widersprüche, Konflikte und Krisen, aus der Vorgeschichte der Biographie in den Biographisierungsprozess einwandern und die biographische Geschichte mitbestimmen. Dies gilt sowohl auf der Ebene der Lebenswelten als auch auf der Ebene des biographischen Erzählens. So konnte eine singuläre biographische Phase in ihrer narrativen Rekonstruktion von Ereignisabläufen sowohl vom Standpunkt der Erzählzeit als auch in ihrer gesellschaftlichen Einordnung im Hinblick auf Bildungsprozesse erschlossen werden. In den Biographien wird auf die Lebenswelten und die darin enthaltenen Handlungsfelder verwiesen, die sowohl von Konsens und Konflikt geprägt sind. Sie lassen Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Verbundenheit des biographischen Subjektes zu. Mittels der Analyse der biographischen Bewegung konnte verdeutlicht werden, wie diese Zusammenhänge narrativ gestaltet werden. Dieses Ergebnis korrespondiert mit den Ausführungen Alheits zum Fall Arnaud du Tilh, in denen er anhand seines Konzeptes der Biographizität aufzeigt, dass Krisen nicht zu einer Orientierungslosigkeit führen müssen, sondern biographisch reflektiert werden können. Auch die Hochstapler verfügen über Biographizität, weil sie ein „traditionelles Sinn-
Hochstaplerische Bildungsprozesse | 411
universum“ in ihre persönliche Entwicklung integrieren und auch darüber ihre Individualität bestimmen können.741 Die rekonstruktive Interpretation der drei Biographien verdeutlicht, dass mit der Integration des Interferenzkonzeptes eine methodische Erweiterung der Analysemöglichkeiten von lebensgeschichtlichen Erzählungen ermöglicht wurde. Diese Erweiterung zeigt sich auch durch den Einbezug von Schulzes Auffassungen zu den Lebenswelten und biographischen Bewegungen als Analyseinstrumente. So konnten Bildungsprozesse erfasst werden, die sowohl den Gebrauch einer Bildungsgestalt berücksichtigen als auch zeigen, dass eine Bildungsgestalt nicht immer auf einem abgeschlossenen Vorgang von Wandlungs- und Transformationsprozessen beruhen muss: Sie kann einen offenen Charakter haben, der mit neuen Wandlungen, Geschichten und Merkmalen gefüllt wird. Die Verdichtung und Überlagerung von verschiedenen Phänomenen in der Figur des Hochstaplers weist exemplarisch auf die Mehrdeutigkeit von Bildungsgestalten und den offenen Charakter von Bildungsprozessen hin, die es dem Subjekt ermöglichen, sich auch in unlösbaren konfliktreichen Situationen in sich selbst und in gesellschaftlichen Zusammenhängen zu konstituieren. Die Abgeschlossenheit des Vorgangs der Wandlung zum Hochstapler in einer singulären biographischen Phase erweist sich – wie die Interpretation der Biographien ergeben hat – als ein Zwischenzustand, der diachron verortet, auf synchroner Ebene dann genutzt wird, um mit der Bildungsgestalt zu brechen und gleichzeitig an ihr festzuhalten.
741 P. Alheit: „Biographizität“ als Schlüsselqualifikation, S. 33.
7
Resümee und Ausblick
Wer sich mit Hochstaplern beschäftigt, läuft selbst Gefahr, ihren biographischen Geschichten der Täuschung zu erliegen, will er oder sie denn eine Relevanz für die Erwachsenenbildung und die Erziehungswissenschaft aufzeigen, die über ihre Biographien hinausgeht. Dem damit verbundenen Hochstaplersyndrom zum Trotz fokussiere ich im Folgenden auf die Erträge dieser Arbeit für die Erwachsenenbildung und gebe Ausblicke auf Forschungsdesiderate, die auf ein Weiterdenken dieser Arbeit abzielen. Um weitere Denkperspektiven und die Erträge dieser Studie für die Erwachsenenbildung aufzuzeigen, beginne ich am Anfang und werfe nun einen Blick zurück auf die ‚Entstehungsgeschichte‘ meiner Arbeit, die auch getragen wurde von den Reaktionen anderer zum Zusammenhang von Lüge, Täuschung, Hochstapelei und (Erwachsenen-)Bildung.
7.1 AM ANFANG ANFANGEN Der Gegenstand dieser Arbeit amüsierte: Immer, wenn ich Menschen, die mich nach dem Gegenstand meiner Arbeit gefragt haben, antwortete, dass ich mich mit den Bildungsprozessen von Hochstaplern beschäftige, war die erste Reaktion ein Lächeln, dem sich in den meisten Fällen ein erstauntes, ungläubiges „Wirklich?“ und danach ein ebensolches „Warum?“ anschlossen. Bevor ich nach den erstaunten Amüsements ausführen konnte, warum ich mich wirklich damit beschäftige, wurde ich größtenteils sofort unterbrochen, weil: Der Gegenstand dieser Arbeit regte zum Assoziieren an: Alle, die mich fragten, hatten Antworten für sich selbst im Gepäck. Entweder nannten sie ‚prominente‘ Hochstapler oder sie stellten Bezüge zu ihren Lebenswelten her: Hochstapelei im wissenschaftlichen Bereich, Hochstapelei in der Schule, Hochstapelei im Internet, Hochstapelei in der Literatur, Hochstapelei im Lebenslauf, Hochstapelei in der alltäglichen Kommunikation, Hochstapelei in Liebesbeziehungen, Hochstapelei in der Politik, in der Wirtschaft und vieles mehr. Aber Hochstapelei und Bildung?
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Diese Arbeit warf also Fragen auf: Was können Lüge, Täuschung und Hochstapelei zu einer Diskussion um Bildung beitragen? Wie kann man Bildungsprozesse erfassen, zu deren Charakter es gehört, dass sie sich gegen objektive Kriterien sperren? Und ist es nicht so, dass die Bildung von Menschen an Maßstäbe gekoppelt wird, die nicht ihre eigenen sind? Kann man von Bildungsprozessen sprechen, wenn diese in sich die Dimensionen des Lügens und Täuschens tragen? Und überhaupt: Was hat das denn mit (Erwachsenen-)Bildung zu tun? Weil Manolescu, Straßnoff und Domela den wenigsten Fragenden bekannt waren, habe ich in meinen Antworten oft zur Veranschaulichung meines Erkenntnisinteresses auf Pippi Langstrumpf verwiesen. Zum einen macht sie sich die Welt, wie sie ihr gefällt, und zum anderen auf zwei Aspekte des Lügens aufmerksam, die Anknüpfungspunkte für eine erste Antwort auf die Frage geben können, was denn das alles mit (Erwachsenen-)Bildung zu tun hat: 1. Man darf der Welt und den Menschen nicht einfach so seinen Glauben schenken, sondern muss sie hinterfragen: „‚Wie komisch du aussiehst‘, sagte Pippi. ‚Was ist los? Du glaubst wohl, dass ich hier sitze und lüge? Was? Dann sag es nur‘, sagte Pippi drohend und krempelte die Ärmel hoch. ‚Nein, nein‘, sagte das Mädchen erschrocken. ‚Ich will nicht gerade behaupten, dass du lügst, aber ...‘ ‚Nicht?‘, sagte Pippi. ‚Aber genau das tu ich. Ich lüge so, dass meine Zunge schwarz wird, hörst das Du nicht? [...] Du musst doch merken, dass das gelogen ist. Du darfst dir doch nicht alles Mögliche von den Leuten einreden lassen!‘“1
Die Existenz der Lüge fordert den Menschen nicht nur dazu auf, den Lügenden zu entlarven, ihn unter den moralischen Gesichtspunkt des Wahrhaftigkeitsgebots zu stellen und zu verurteilen, sondern auch gleichzeitig dazu, das Geschehen in der Welt zu hinterfragen, sich kritisch mit allem Möglichen auseinanderzusetzen. Lügen können Menschen in eine mächtige Position bringen, weil sie zumindest für eine Zeit lang die Deutungsmacht über (sprachliche) Handlungen für andere übernehmen, die folgenreich sein können. Die Unterstützung des Menschen für seine kritische Hinterfragung von Herrschafts- und Machtbedingungen, um sich nicht alles von den Leuten einreden zu lassen, sehe ich als eine der wesentlichen Aufgaben von Erwachsenenbildung an. „Dagegen hilft nur die Ausbildung einer differenzierten, dialektischen, erfahrungsoffenen und handlungsfähigen Reflexivität – kurz: kritische Bildung.“2 Die von Pongratz angesprochene Ausbildung kritischer Reflexivität ermöglicht Men-
1
Lindgren, Astrid: Pippi Langstrumpf, Hamburg: Oetinger 2007, S. 58.
2
Pongratz, Ludwig A.: „Zeitgeistsurfer – oder: Die Legende vom Ende emanzipatorischer Erwachsenenbildung (1994)“, in: Pongratz, Sammlung (2010), S. 159-162, hier S. 162.
Resümee und Ausblick | 415
schen, nicht zögerlich oder erschrocken zu sein, wenn ihnen Lügner begegnen. Die Bewusstmachung von „verinnerlichter Herrschaft“, die sich im Zuge der Aufklärung und bis heute andauernd mit der „Freiheit des bürgerlichen Subjektes“ verstrickt 3, kann mittels einer Auseinandersetzung mit den Phänomenen Lüge, Täuschung und Hochstapelei in der Erwachsenenbildung erfolgen. 2. Man lügt, um sich mit anderen zwischen und in den Welten zurechtzufinden: ‚Jetzt lügst du‘, sagte Tommy. Pippi überlegte einen Augenblick. ‚Ja, du hast recht, ich lüge‘, sagte sie traurig. ‚Lügen ist hässlich‘, sagte Annika, die endlich wagte, den Mund aufzumachen. ‚Ja, Lügen ist sehr hässlich‘, sagte Pippi noch trauriger. ‚Aber ich vergesse es hin und wieder, weißt du. Und wie kannst du überhaupt verlangen, dass ein kleines Kind, das eine Mama hat, die ein Engel ist, und einen Papa, der ein Südseekönig ist, und das sein ganzes Leben lang auf dem Meer gesegelt ist, immer die Wahrheit sagen soll? [...] Wenn es also passieren sollte, dass ich mal lüge, so müsst ihr versuchen, mir zu verzeihen und daran zu denken, dass es nur daran liegt, weil ich etwas zu lange im Kongo war. Wir können doch trotzdem Freunde sein, nicht wahr?‘ ‚Ja, klar‘, sagte Tommy, und er wusste plötzlich, dass der Tag heute sicher keiner der langweiligen werden würde.“4
Pippi Langstrumpf ist ein starkes, widerspenstiges Mädchen, das um die Moralvorstellungen bezüglich der Lüge innerhalb der Gesellschaft weiß. Doch sie offenbart sich selbst in ihren biographisch bedingten individuellen und gesellschaftlichen Verstrickungen und begründet damit ihre Lügen. Sie zeigt eine Leichtigkeit im Umgang mit der Lüge, ihr kreatives Potential, das die Langeweile des Alltäglichen in ihrer intersubjektiven Bedeutung für sich selbst und andere überschreiten kann. In dieser ästhetischen Erfahrung veranschaulicht sich ein Umgang mit der persönlichen Lebenssituation, der den moralischen Gesetzmäßigkeiten widersteht, um sich selbst hervorbringen zu können, ohne am eigenen Leben zu verzweifeln. Pippi appelliert an das Verständnis für ihre Lügen aufgrund ihres biographischen Geworden-Seins und an die Belogenen, ihr zu verzeihen. Sind Lügen also zum einen sprachlich manifestierte Momente von Macht über andere, so sind sie zum anderen Momente der Selbstbestimmung über das eigene Leben, denen man nicht entgehen kann und die sich nicht ausschließlich an den Maßstäben aufgeklärter Vernunft messen lassen. Auch diese Lügenbegründung hat für mich etwas mit Bildung zu tun, die in der Mündigkeit des Menschen zum Widerstand und zur Reflexion über das eigene Leben,
3
Pongratz, Ludwig A.: „Freiheit und Zwang – Pädagogische Strafformen im Wandel (1995)“, in: Pongratz, Sammlung (2010), S. 174-187, hier S. 175.
4
A. Lindgren: Pippi Langstrumpf, S. 14-15.
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über das eigene Handeln in diesem Leben begründet liegt – mit all den Folgen, die die Lüge nach sich zieht und denen sich der Mensch zu stellen hat. Zu schauen ist dann, wer die Lügenden, wer die Opfer der Lüge sind, warum gelogen und warum der Lüge Glauben geschenkt wurde. Die Auseinandersetzung mit der Lüge, der Täuschung und der Hochstapelei unter dem Aspekt von Bildung trägt dazu bei, an einem „kritischen Sinn von Bildung“ und an einem Selbstverständnis von Erwachsenenbildnern festzuhalten, das den anderen Reibung ermöglicht, um Welt und Gesellschaft kritisch und in nicht-identischen Zusammenhängen denken zu können: „Denn erst im Widerstand kommt der kritische Sinn von Bildung ins Spiel: eine Kraft zur Differenz zu entwickeln, die es den Individuen ermöglicht, sich mit einer eigenständigen Lebensfigur zur Darstellung zu bringen; eine Reflexionsfähigkeit zu schärfen, die die blind gewordene Vernunft zur Selbstbesinnung gemahnt; einen Weitblick zu entfalten, der die Möglichkeit eines versöhnten Lebens, ohne Opfer und ohne Rache, nicht aus den Augen verliert. Dazu braucht es auf Seiten des Pädagogen nicht nur Geduld und Sensibilität, sondern auch Widerstandskraft und Beharrlichkeit, Distanz und Ich-Stärke. Es ist durchaus kein leichtes Geschäft, sich als Reibblock zur Verfügung zu stellen, damit andere an uns Konturen gewinnen. Doch ist es im wörtlichen Sinn notwendig – wenigstens genauso sehr wie das Gegenteil: uns um uns selbst zu sorgen, damit wir im Getriebe der Institutionen nicht zerrieben werden.“5
Um zu diesem Selbstverständnis und dieser Aufgabe der Erwachsenenbildung zu gelangen, sei ein vorausgehendes kritisches Denken in Anlehnung an Adorno notwendig, das nicht ausschließlich auf die Praxis ausgerichtet sein darf, so Pongratz, weil es sich sonst um jenes kritische Moment verkürze, mit dem es dem herrschenden Betrieb vielleicht noch hätte widerstehen können. Diesem kam diese Arbeit nach, indem sie nicht auf die Bedeutung von Lüge, Täuschung und Hochstapelei im praktischen, pädagogischen Handeln fokussierte, sondern versuchte, die Fluchtlinie der Aufklärung zumindest auf theoretischer Ebene zu überschreiten. Wenn dann kritisch angemerkt wurde, dass Pippi Langstrumpf ja keine Erwachsene sei, sondern ein Kind, bin ich auf die Hochstapler Georges Manolescu, Ignatz Straßnoff und Harry Domela zu sprechen gekommen. Sie thematisieren in ihren biographischen Erzählungen ihr Hochstapler-Geworden-Sein als Möglichkeit, sich von gesellschaftlichen und traditionellen Zwängen zu befreien, eine Form der Freiheit zu sich selbst zu entwickeln, indem sie über die Hochstapelei an ihrem Selbstverhältnis festhalten können. Auch sie machen sich bis zu ihrer Entlarvung als Hochstapler die Welt, wie sie ihnen gefällt.
5
Pongratz, Ludwig A.: „Ohne Leitbild? (1995)“, in: Pongratz, Sammlung (2010), S. 162173, hier S. 171.
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7.2 AM GEGENSTAND LERNEN UND WEITERDENKEN Ich habe Folgendes aus der Auseinandersetzung mit ihren Biographien gelernt und begonnen, aus erwachsenenbildnerischer und erziehungswissenschaftlicher Perspektive weiterzudenken: Lügen, Täuschen und Hochstapeln sind – so haben die interdisziplinäre theoretische Diskussion und die rekonstruktive Interpretation der Biographien in dieser Arbeit gezeigt – Handlungen des Menschen, denen die reflexive Auseinandersetzung mit sich in der Welt vorausgeht. Sie sind als Momente zu sehen, welche die widersprüchlichen Freiheits- und Emanzipationsprozesse der Aufklärung, die in die Moderne tradiert werden, bündeln und gleichzeitig mit ihnen brechen. Die Hochstapler, die in dieser Arbeit zu Wort kamen, weigern sich ab einem gewissen, von persönlichen Krisen gekennzeichneten Zeitpunkt in ihrem Leben Kants Lügenverbot und seinem Plädoyer für eine Erziehung zur Wahrhaftigkeit zu folgen. Ihrer mit dieser Verweigerung angestrebten Selbstbestimmung im Festhalten am eigenen Selbstbild und Freiheit gehen Versuche der Selbstdisziplinierung, nicht zu lügen, nicht zu täuschen, nicht hochzustapeln voraus. Diese Selbstdisziplinierungen sind zu verstehen als Bemühungen, sich den gesellschaftlichen Gegebenheiten und Moralvorstellungen anzupassen, dem Lügen, dem Täuschen, den kriminellen Handlungen zu entsagen. Sie tragen sich nach der Entscheidung, sich zum Hochstapler zu wandeln, fort – erfordern doch das Lügen, das Täuschen und die Hochstapelei Selbstdisziplin, um diese aufrechtzuerhalten. Immer wieder werden sie wegen ihrer mit der Hochstapelei verbundenen kriminellen Handlungen mit Gefängnishaft bestraft. Doch auch diese Formen gesellschaftlicher Disziplinierung hält sie nicht davon ab, von ihrem Leben Besitz in subjektiven Freiheitskategorien zu ergreifen. Sie vollziehen einen doppelten Bruch mit der sozialen Ordnung, der Zucht, der Moral und den gesellschaftlichen Disziplinierungsgeboten: Zum einen brechen sie mit dem Lügenverbot. Zum anderen übertragen sie die Parameter eines aufgeklärten Bürgers wie Vernunft, Disziplin und Fleiß auf ihre Lügen, Täuschungen und Hochstapeleien. Lügen und Täuschung erfordern Disziplin, sonst erfolgt die Entlarvung auf dem Fuß. Indem Manolescu, Straßnoff und Domela über ihre Zeit als Hochstapler berichten und/oder sich zum Hochstapler inszenieren, bedienen sie gesellschaftliche Erwartungen an die ‚Bekenntnisse‘ und Geständnisse entlarvter Lügner, Täuscher und Hochstapler. Dieser Erwartungshorizont korrespondiert mit den gesellschaftlichen Wissensbeständen über die ‚Figur‘ des Hochstaplers als alternative Lebensform in und Widerspiegelung der bestehenden ambivalenten, sozioökonomischen gesellschaftlichen Umstände der Moderne. Im Zuge der fortschreitenden Ökonomisierung der modernen Gesellschaft wird der Hochstapler zum Zeitgeist erhoben, der das moderne Sein und Schein des Subjektes synthetisiert. Als Spiegelbild interpretiert, macht er auf die Risiken einer Gesellschaft aufmerksam, in der die Ökonomisierung sowie
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Individualisierung der Lebensbereiche und die gesellschaftlichen Machtstrukturen Auswirkungen auf die Verwirklichungsmöglichkeiten des Seins haben. Unter dieser Prämisse sind Lügen, Täuschung und Hochstapeln dann nicht nur zu verstehen als Handlungsfähigkeiten, die Defizite ausgleichen oder überspielen, sondern sie sind Ausdruck eines gesellschaftlichen Mangels und Konfliktpotentials, die sich in das Subjekt hinein fortsetzen. Die Verstrickungen des Subjektes und die damit einhergehenden gesellschaftlich evozierten Probleme von (Inter-)Subjektivität zwischen Sein und Schein, die in der Figur des Hochstaplers exemplarisch gebunden wird, sind nicht ein Phänomen vergangener Zeiten, sondern nach wie vor aktuell. Sich mit Hochstaplern und ihren Lebensgeschichten auseinanderzusetzen, hat deshalb nicht nur einen feststellenden Charakter für ein bestimmtes Leben, sondern die Figur des Hochstaplers wird auch zum Brennglas für die gegenwärtigen Probleme des Subjektes in seinen individuellen, gesellschaftlichen und ökonomischen Verstrickungen, die Folgen für seine Konstitution und seine Bildungsprozesse haben. Die Vielgestaltigkeit, Universalität und Aktualität von Lügen, Täuschen und Hochstapeln wurde in dieser Arbeit in interdisziplinärer Auseinandersetzung dargestellt und auf biographie- und bildungstheoretische Überlegungen innerhalb der Erwachsenenbildung und Erziehungswissenschaft bezogen. Die eingangs konstatierte Forschungslücke in der Erwachsenenbildungswissenschaft konnte damit verkleinert werden und ermöglicht ein Weiterdenken in verschiedenen Bereichen. Auch in solchen, die in dieser Arbeit nur angedacht wurden. Einige möchte ich im Folgenden aufzeigen, indem ich sie mit den Erträgen dieser Arbeit verknüpfe. Die eng an die Individualisierungsdebatte gekoppelten Freiheitsdimensionen des Menschen6 schließt in gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen die Möglichkeit des Menschen ein, sich in der Differenz zur Norm in seiner Identität zu erfahren, die Komponenten von Sein und Schein im Nichtidentischen auszuhandeln. Die damit verbundene Abwendung gesellschaftlich manifestierter Moral für die eigene Lebensweise heißt nicht automatisch, dass eine Aufkündigung von Moral notwendig ist. Sondern sie macht darauf aufmerksam, zu fragen, was dazu führt, dass gesellschaftliche Normen akzeptiert, aber für die eigenen biographischen Phasen nicht realisierbar sind. Die Widerständigkeit des Subjektes, die sich im Lügen, Täuschen und Hochstapeln zeigen kann, ist auch immer zu verstehen als eine Reaktion auf den gesellschaftlichen Umgang mit Moral und auf das Menschenbild, das damit einhergeht. Für unsere heutige Zeit beschreibt beispielsweise Faulstich folgendes Menschenbild: „Das Menschenbild, das sich als Grundlage für ökonomisches und politisches Handeln immer mehr ausbreitet ist das des rationalen, kalkulierenden Individuums, das sich leiten lässt von
6
Vgl. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986.
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egoistischen Nutzenkalkülen und kurzfristigen Profiterwartungen. Moralanforderungen werden demgemäß zu irrationalen Handlungsbeschränkungen für diejenigen, die sich noch an Regeln halten und so etwas Skurriles wie Menschlichkeit nicht aufgeben wollen. Dann gälte also: ‚Moral ist etwas für die Deppen‘. Nur diese lassen sich durch skurrile Irrationalität oder Dummheit davon abhalten, ihren individuellen Nutzen zu maximieren. [...] Wenn man dem widerspricht, steht man fast hoffnungslos im Abseits. [...] Nicht die Erweiterung der Willkürfreiheit der Individuen, sondern der Schutz der Gemeinschaftsbeziehungen ist also das Basisproblem einer zeitgenössischen Ethik als Grundlage für arbeits- und bildungsbezogenes Handeln. Es handelt es [sic!] sich aber letztlich um ein uraltes Problem.“ 7
Um den Schutz der Gemeinschaftsbeziehungen – Faulstich ist hier ganz bei Kant – zu erreichen, ist es notwendig, dieses uralte Problem immer wieder zum Gegenstand von Erwachsenenbildung zu machen. Zu fragen ist dann auch nach der Willkürfreiheit der Individuen, aber nicht nur im Sinne Kants als Verletzung der gesellschaftlichen Gemeinschaft, sondern auch als Möglichkeit, auf die längst schon vorhandenen gesellschaftlichen Brüche aufmerksam zu machen, indem man sich dem Subjekt und seinen Handlungen (z.B. den von Faulstich erwähnten arbeits- und bildungsbezogenen Handlungen) zuwendet. Vielleicht wird dann aus der Not, zu lügen, eine Tugend. Hier sehe ich eine Möglichkeit zum Weiterdenken dieser Arbeit, das sich darin zeigen könnte, nicht nur die von Faulstich angesprochene ethische Ebene mit der Moral an ihrer Seite, sondern auch den Tugendbegriff in die erwachsenenbildnerische Diskussion zurückzuholen.8 Also nicht nur unter moralischen und ethischen Aspekten das Handeln des Subjektes zu denken, sondern, wenn denn mittels Hochstapelei, Täuschung und Lüge aus der Not im Leben eine Tugend gemacht werden kann, diese als Möglichkeit des widerständigen Subjektes zu denken. Zum Weiterdenken anregend und exemplarisch sei auf Butlers Veröffentlichung „Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend und dem Bild vom Menschen“ verwiesen. Darin bemerkt sie in Auseinandersetzung mit Foucault Folgendes: „Tugend wird meist entweder als Eigenschaft oder als Praxis eines Subjekts verstanden oder auch als Qualität, die gewisse Arten von Handlungen oder Praxis bedingt und kennzeichnet.
7
Faulstich, Peter: „Anschwellender Lamentismus oder renitenter Widerstand: Konsequenzen des Zerfalls des Sozialkonsens für die Bildungsarbeit in politischer Perspektive – eine Diskurswende?“ 2013, https://www.dvv-vhs.de/fileadmin/user_upload/6_Themenfelder/Politische_Bildung/BPT2013_Vortrag_Prof_Faulstich.pdf vom 17. November 2016, S. 2ff.
8
Siehe beispielsweise: Brumlik, Micha: Bildung und Glück. Versuch einer Theorie der Tugenden, Berlin/Wien: Philo 2002. Keller, Wolfgang: „Kompetenz und Bildung, Emotionen und Tugend. Ambivalenz der Kompetenz in Portfolioerfahrungen Freiwilliger“, in: Report – Zeitschrift für Weiterbildungsforschung 30 (2007), S. 53-62.
420 | Lüge, Hochstapelei und Bildung
Sie gehört einer Ethik an, die sich nicht im bloßen Befolgen objektiv formulierter Regeln oder Gesetze erfüllt. Und Tugend ist nicht nur eine Art und Weise, vorgegebenen Normen zu entsprechen oder sich ihnen anzupassen. Sie ist, radikaler, eine kritische Beziehung zu diesen Normen, die für Foucault als eine besondere Stilisierung von Moralität Gestalt annimmt.“ 9
Fragen nach der Bedeutung von Tugend in Bildungsprozessen im Zusammenspiel mit Lüge, Hochstapelei und Täuschung können als Forschungsdesiderat für die politische Erwachsenenbildung interessant sein – beispielsweise im Hinblick auf die Sozialen Medien und die virtuellen Lebenswelten, in und mit denen Menschen ihrem Leben, ihrem Sein einen Schein verschaffen. Hier finden sich neue Ästhetisierungsformen des Scheins, ein globaler Zugang zu Wahrheiten und Lügen, der Auswirkungen auf politische Einstellungen, Partizipations- und Gestaltungsformen sowie das menschliche Miteinander hat. Diese Aspekte werfen die Frage auf, wie sich diese auf die Ordnung des Seins und des Scheins in den Dimensionen von Tugend, Macht, Widerstand, Täuschen, Lügen sowie Hochstapelei in gesellschaftspolitischen Zusammenhängen auswirken und welche Rolle politische Erwachsenenbildung dabei spielen kann. Denn: „Kritische Bildung soll den Menschen Wege eröffnen, die bestehende Gesellschaft der Kritik zu unterziehen, Utopien zu entwickeln und diese handelnd umzusetzen.“10 Weiterdenken aus Sicht der Erwachsenenbildung lässt sich dann folgende Schlussfolgerung von Arendt aus dem Jahr 1963 in ihrem Essay „Wahrheit und Politik“, die an Aktualität nichts verloren hat, wenn nicht sogar relevanter ist als je zuvor: „Der Lügner hingegen braucht sich solch zweifelhafter Mittel nicht zu bedienen, um sich politisch zur Geltung zu bringen; er hat den großen Vorteil, daß er immer schon mitten in der Politik ist. Was immer er sagt, ist nicht ein Sagen, sondern ein Handeln; denn er sagt, was nicht ist, weil er das, was ist, zu ändern wünscht. Er ist der große Nutznießer der unbezweifelbaren Verwandtschaft zwischen dem menschlichen Vermögen, Dinge zu ändern, und der rätselhaften Fähigkeit zu sagen: ‚Die Sonne scheint‘, während es draußen Bindfäden regnet. Wäre unser Verhalten wirklich so bedingt, wie manche Verhaltensforscher sich einreden, so würden wir wohl nie imstande sein, dies kleine Mirakel zu vollbringen. Das aber heißt, daß unsere Fähigkeit zu lügen – aber keineswegs unser Vermögen, die Wahrheit zu sagen – zu den wenigen Daten gehört, die uns nachweislich bestätigen, daß es so etwas wie Freiheit wirklich gibt. Die Verhältnisse, unter denen wir leben und die uns bedingen, können wir nur ändern, weil wir
9
Butler, Judith: Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend, 2001, http://eipcp.net/tran sversal/0806/butler/de vom 17. November 2016, o.S.
10 Zeuner, Christine: Intentionen politischer Bildung – Notwendigkeit einer Diskursverschiebung, Hannover 2012, http://www.boeckler.de/pdf/v_2012_03_01_zeuner.pdf vom 17. November 2016, S. 8.
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trotz aller Bedingtheit relativ frei von ihnen sind, und es ist diese Freiheit, die das Lügen ermöglicht und die gleichzeitig von ihm mißbraucht und pervertiert wird.“ 11
„Brüche“ und „gebrochen“ sind Begriffe, die in dieser Arbeit ebenso oft zur Sprache kamen wie „zwischen“ oder „Zwischenzustand“. Sie stehen Pars pro Toto für mein Erkenntnisinteresse an den Bildungsprozessen von Menschen: Dieses fokussiert auf den Moment, wo, wie Meyer-Drawe es beschreibt, „das Vertraute seinen Dienst versagt und das Neue noch nicht zur Verfügung steht“, auf das „Zwielicht, auf einer Schwelle zwischen nicht mehr und noch nicht“.12 Vielleicht habe ich mich deshalb auch in einem ersten Schritt, um diesem Erkenntnisinteresse Gestalt zu geben, intuitiv den zwielichtigen Gestalten Manolescu, Straßnoff und Domela zugewandt, die sich im doppelten Sinne der Worte „between the lines“ innerhalb und außerhalb ihrer Biographien bewegen und bilden. Verbunden damit ist auch die Mehrdeutigkeit von Bildungs- und Biographisierungsprozessen, die mich fasziniert. Auch im Zwielicht und mittels mehrdeutiger Handlungen, die zum Beispiel aufgrund von heteronomen Handlungsbedingungen entstehen, kann sich der Mensch seiner selbst vergewissern, kann erkennen, lernen und sich bilden. Zu diesen mehrdeutigen Handlungen, die sich – wie diese Arbeit gezeigt hat – als bildungsbezogen erweisen können, zählen auch Lüge, Täuschung und Hochstapelei. In den Blick von Bildungsprozessen rückten in dieser Arbeit die Handlungsbedingungen des sich bildenden Subjektes in historischen, gesellschaftlichen und individuellen Entwicklungszusammenhängen und ihren Auswirkungen auf Biographisierungsprozesse. Die Beantwortung der Frage, wie die Entstehung und der Gebrauch von Bildungsgestalten und Biographie zusammenhängen, bildete einen weiteren Schwerpunkt. Es konnte anhand der biographischen Erzählungen erarbeitet werden, dass Konflikte aus der Vor- bzw. Entstehungsgeschichte des Biographisierungsprozesses sowohl einen Anlass für diesen sein als auch in den Biographisierungsprozesses selbst einwandern können. Gleiches gilt für die Bildungsgestalten und ihren Gebrauch. Biographisierungsprozesse individualisieren und identifizieren ein biographisches Subjekt, indem sie dieses mit einzigartigen Merkmalen und Geschichten verknüpfen. Diese Verknüpfung ermöglicht einen intersubjektiven Austausch, indem sie die Konstitution des biographischen Subjektes mit gesellschaftlichen und individuellen Erwartungshorizonten und Wissensbeständen verflechtet. Entscheidend dabei ist, dass dieses Wissen zum einen als vorausgesetzt gilt und zum anderen sozial geteilt werden kann.
11 Arendt, Hannah: Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays, München/Zürich: Piper 2013, S. 74. 12 K. Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, S. 14-15, Herv. i.O.
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Die Auswertung der Biographien der Hochstapler hat ergeben, dass sich in Biographien und Bildungsgestalten Widersprüche manifestieren können, die sich sowohl auf diachroner als auch auf synchroner Ebene im Biographisierungsprozess zeigen und interferieren können. Ausgangspunkt dafür war die Diskussion von Ansätzen innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung zur Sichtbarmachung von Bildungsprozessen. Diese kritische Auseinandersetzung kam u.a. zu folgendem Ergebnis: Für die diachrone Herausarbeitung von Bildungsgestalten steht die Frage im Zentrum, wie Bildungsgestalten aus früheren Selbst-Weltverhältnissen abgeleitet werden können. Eine Bildungsgestalt lässt sich dann als bildungsrelevant charakterisieren, wenn die Ableitung einer abgeschlossenen Wandlung eines Selbst-Weltverhältnisses gelingt. Vom diachronen Standpunkt aus lässt sich über den Gebrauch von Bildungsgestalten in Biographien keine Aussage treffen. Für die synchrone Analyse von Bildungsgestalten steht die Frage nach der abgeschlossenen Wandlung von Selbst- und Weltverhältnissen im biographischen Erzählen selbst im Mittelpunkt. Die Markierung einer Bildungsgestalt ist dann möglich, wenn sich eine Wandlung in neuen oder veränderten ‚Sprachspielen‘ bzw. sprachlichen Zusammenhängen zeigt. Diese Arbeit hat sich bemüht, diese zwei Analyseperspektiven zu verbinden, indem sie gefragt hat, wie die Entstehung (diachron) von Bildungsgestalten und ihr Gebrauch (synchron) in Biographisierungs- und Bildungsprozessen zusammenhängen. Diachron und synchron wurden dabei in der Semantik der Linguistik genutzt und sind nicht zu verwechseln mit den von Marotzki ausgemachten diachronen und synchronen Reflexionsformaten. So konnte ein neuer Zusammenhang zwischen den beiden Ebenen von Biographisierungsprozessen hergestellt werden: Diachrone Entwicklung und synchroner Gebrauch von Bildungsgestalten knüpfen an individuelle und gesellschaftliche Erwartungshorizonte und Wissensbestände an und werden im Kontext historischer Umstände wirksam. Notwendig ist also eine Untersuchung der Biographisierungsprozesse in ihren historischen Entstehungsbedingungen, individuellen und sozialen Erwartungshorizonten. Hier sehe ich Parallelen zum Ansatz von Alheit, der auf die strukturelle Verwobenheit von Biographisierung, Individuum und Gesellschaft aufmerksam macht.13 Ich habe diese Dimensionen erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung im Hinblick auf interaktionsgeschichtliche Überlegungen bezüglich sprachlicher Referenzherstellungen erweitert. So konnte anhand der Analyse der Hochstaplerbiographien gezeigt werden, dass Konflikte, negationsresistente Probleme und Krisen in einzelne Bildungsgestalten einwandern können und in den Lebenswelten sowie biographischen Bewegungen in den Biographisierungsprozessen erkennbar werden.
13 Vgl. zum Beispiel P. Alheit: „‚Biographizität‘ als Schlüsselqualifikation.
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Der biographietheoretische Ertrag dieser Arbeit besteht darin, nicht mehr auf abgeschlossene Wandlungen von Welt- und Selbstverhältnissen zu zielen, sondern den Biographisierungsprozess als Form der Referenzherstellung zu betrachten, der in eine Vor- und Nachgeschichte eingebettet ist und in dessen Mittelpunkt eine singuläre bedeutsame biographische Phase stehen kann. Diese singuläre biographische Phase – wie zum Beispiel das Leben als Hochstapler – wiederum wird selbst von Geschichten vor, nach und während des Biographisierungsprozesses bestimmt, sodass sich dieser selbst als Verknüpfung von gesellschaftlichen und individuellen Erwartungen lesen lässt. Folge davon können Bildungsgestalten sein, welche die unterschiedlichen miteinander interferierenden, individuellen sowie gesellschaftlichen Erwartungshaltungen und Sinnhorizonte bündeln, im Laufe des Biographisierungsprozesses mit diesen und gleichzeitig mit ihrer ursprünglichen Bedeutung brechen. Bildungsgestalten werden dann nicht als abfolgende Wandlung von Selbst-Weltverhältnissen erkennbar, sondern erweisen sich als mehrdeutiges Zusammenspiel individueller und gesellschaftlicher Interessen, die mit dem Biographisierungsprozess verbunden werden. Damit macht diese Arbeit darauf aufmerksam, dass es nicht nur zu Bedeutungsverschiebungen von Bildungsgestalten kommen kann, wenn eine größere Zeitspanne zwischen verschiedenen Biographisierungsprozessen besteht (siehe beispielsweise die Ausführungen von Kade), sondern dass Bedeutungsverschiebungen bereits in einzelnen Biographisierungsprozessen stattfinden können, die an eine und dieselbe Bildungsgestalt geknüpft werden.14 Sie können dann dies bedeuten und das Gegenteil. In Reminiszenz an Preschs Konzept der gebrochenen Namen habe ich sie als „gebrochene Bildungsgestalten“ benannt. Dessen historisch-pragmalinguistische Interferenzkonzept erwies sich als gewinnbringend, weil es Referenzherstellungen zur Welt in ihrem Eingebundensein in Geschichte, gesellschaftlichen und individuellen Konfliktfeldern fassen kann, ohne das handelnde Subjekt aus den Augen zu verlieren. Parallelen und Unterschiede lassen sich aus Sicht der Erwachsenenbildungswissenschaft zum Konzept der Bildungsgestalten bei Kade finden, der diese in „Bildungsbiographien“ markiert. Er bestimmt Bildungsbiographien als „ein jeweils temporäres Ereignis“ in einem Lebenslauf, über die „zu einem bestimmten Zeitpunkt“ erzählt werden.15 Dieses Phänomen fasst er unter dem Aspekt zeitlicher Indexikalität zusammen, das seiner Ansicht nach dazu führt, dass aus einer singulären Bildungsbiographie keine allgemeinen Aussagen über „individuelle stabile Merkmale einer Person, über deren Leben getroffen werden können“.16 Um allgemeine Aussagen treffen zu können, sei es
14 Vgl. Kade, Jochen: „Vergangene Zukünfte im Medium gegenwärtiger Bildungsbiographien. Momentaufnahmen im Prozess des Biographisierens von Lebenslaufereignissen“, in: BIOS 24 (2011), S. 29-52. 15 Ebd., S. 33. 16 Ebd., S. 33-34.
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notwendig, Bildungsbiographien mit einem zeitlichen Abstand zu vergleichen. Über diesen Weg könnten dann indexikalische Ausdrücke objektiviert werden. Kade zeigt also indirekt die Bedeutung von geschichtlichen Zusammenhängen für sprachliches, biographisches Handeln auf, kann dieses jedoch nur als zeitliche Abfolge von verschiedenen Bildungsbiographien ein und derselben Person ableiten, deren Chronologie sich für ihn als „Selbstbeobachtungsformat“ darstellt. 17 Um jedoch Indexikalität zu objektivieren, – Kade versteht darunter den Vergleich indexikalischer Ausdrücke in verschiedenen Bildungsbiographien einer Person – ist es meines Erachtens notwendig (soweit denn eine Objektivierung überhaupt möglich ist) im Sinne von Presch, die Vielfalt von und Interferenzen in Handlungsbedingungen als Vorgeschichte bzw. Entstehungsgeschichte von Bildungsbiographien und den ihnen inhärenten Gestalten in den Blick zu nehmen. Diese Geschichten haben Auswirkungen auf die Handlung selbst. So konnte diese Arbeit zeigen, dass nicht erst eine zeitlich versetzte Untersuchung von verschiedenen Bildungsbiographien eines Menschen, Bedeutungsverschiebungen innerhalb von Bildungsgestalten verdeutlichen, sondern bereits in einer ‚singulären‘ Bildungsbiographie sichtbar werden können. Bildungsgestalten sind damit nicht nur „zeitlich differente [...] Momentaufnahmen“18, deren Bedeutung sich im Laufe aufeinanderfolgender Bildungsbiographien ändern, sondern können bereits in einer Bildungsbiographie verschiedene Bedeutungen in sich vereinen. Im Biographisierungsprozess verbinden sich synchrone sowie diachrone Handlungs- und Reflexionsebenen. Auch sie können miteinander interferieren und erzeugen ein anderes Muster bei gleichzeitigem Festhalten am Alten. Dies konnte in den Biographien über die Verknüpfung von Lebenswelten und biographischen Bewegungen dargestellt werden. Die biographischen Bewegungen erfolgen auf synchroner Ebene also vom gegenwärtigen Standpunkt des erzählenden Ichs. Die Lebenswelten sind auf diachroner Ebene zu verorten, in ihnen hat sich das biographische Subjekt einst bewegt. Die von Kade angesprochene Zeitlichkeit, die sich ihm nur im Vergleich von Bildungsbiographien untereinander zeigt, kann somit auch Bestandteil eines Biographisierungsprozesses sein. Bei Kade rückt außerdem nicht in den Blickwinkel, dass das Subjekt die Mehrdeutigkeit sprachlicher Handlungen in einer Bildungsbiographie gebrauchen kann, um mit dem Biographisierungsprozess, mit seiner (Bildungs-)Biographie, in Interaktion mit anderen zu treten. Zwar plädiert er dafür, in Anlehnung an Tietgens Begriff der Suchbewegungen an einer Offenheit des Bildungsprozesses im Sinne einer Ausrichtung auf die Zukunft festzuhalten. Diese Suchbewegungen begreift er jedoch in Opposition zu einem „zielgerichteten Handeln“, bildungsbiographische Prozesse fol-
17 Ebd., S. 33. 18 Ebd., S. 36.
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gen „einer anderen Bewegungslogik“. 19 Suchbewegungen und zielgerichtetes Handeln in bildungsbiographischen Prozessen scheinen sich also im Sinne Kades auszuschließen. Dass auch mittels Biographisierung „zielgerichtetes Handeln“ möglich sein kann, konnte ich anhand der Rekonstruktion der Biographisierungsprozesse der Hochstapler zeigen. Die Biographisierung ermöglicht den Biographen, in einen „strategischen Interpretationskampf“20 einzutreten, der dazu führt, dass Bildungsgestalten sowohl konstruiert als auch gebraucht werden. Diese können dem gesellschaftlichen Erwartungshorizont gleichzeitig ent- und widersprechen. Damit wurde mit dieser Arbeit das Konzept der Bildungsgestalten in Biographisierungs- und Bildungsprozessen ein weiterer Impetus gegeben: Nicht nur die „individuelle Bedeutsamkeit von bildungsrelevanten Ereignissen und deren Verknüpfung“21 kann ausschlaggebend sein, sondern auch der gesellschaftliche Erwartungshorizont, vor dem diese Verknüpfung vorgenommen wird. Diese konnte mit der Integration des historisch-pragmalinguistischen Interferenzkonzeptes in die bildungs- und biographietheoretischen Überlegungen erarbeitet und in den Biographien der Hochstapler nachgewiesen werden. Bildungsgestalten als Gestaltwerdung von biographisch verorteten Bildungsprozessen, nicht als in sich geschlossen, sondern als mehrdeutig zu betrachten, gibt somit zu bedenken, dass sie gebraucht werden können, um in einen intersubjektiven Austausch zu gehen. Den Gedanken der Intersubjektivität von Bildungsgestalten weiter zu verfolgen, lässt sich als ein weiteres Forschungsdesiderat ausbuchstabieren. Gegenstand zur Bedeutung von Intersubjektivität könnte zum Beispiel auf den Forschungsprozess selbst abzielen und in diesem Zusammenhang exemplarisch den Euphemismus des „sozial erwünschten Antwortens“ in Befragungen oder (leitfadengestützten, problemorientierten, Experten- oder vielleicht auch narrativen) Interviews untersuchen. In Gläsers und Laudels „Lehrbuch Experteninterviews“ lese ich: „Das zentrale Problem im Umgang mit heiklen Fragen ist das sozial erwünschte Antworten: Der Interviewpartner gibt nicht die Antwort, die er für zutreffend hält, sondern die, von der er annimmt, dass sie mit den Erwartungen des Interviewers oder mit allgemeinen Erwartungen übereinstimmt.“22
Lügt also der Interviewpartner oder stapelt er hoch? Ist dies sozial erwünscht? Zur Klärung wird allgemein gängig darauf verwiesen, dass diese sozial erwünschten Ant-
19 Ebd., S. 37. 20 G. Presch: Namen in Konfliktfeldern, S. 126. 21 J. Kade: Vergangene Zukünfte, S. 35. 22 Gläser, Jochen/Laudel, Grit: Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse als Instrumente rekonstruierender Untersuchungen, 3., überarbeitetet Auflage, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009., S. 138.
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worten der Interviewsituation geschuldet sind. Möglich sei es, diesen Antworten beispielsweise zu entgehen, indem der Interviewer „neutralisierende“ Fragen stellt.23 Es obliegt also zugespitzt der Strategie des Interviewers, den Freiheiten der Antwortmöglichkeiten des Interviewten entgegenzuwirken – so könnte man im Umkehrschluss denken. Vielleicht erhält man dann so manipulierte Antworten? Verbunden damit ist auch eine Haltung der Forschenden gegenüber den Interviewten, die über ihr Leben erzählen. Sich dem sozial erwünschten Antworten unter den Aspekten des Lügens zu nähern, gebe meines Erachtens spannende Hinweise auf interferierende Interessen, Erwartungen und Kräfte und den damit verbundenen Handlungsbedingungen, Fähigkeiten und Bildungsprozessen in Interviewsituationen. Dabei sind meines Erachtens nicht nur die Fragen des Interviewers kritisch zu beleuchten, sondern viel interessanter wäre es, zu fragen, warum die Interviewten diese sozial gewünschten Antworten geben, dies im Hinblick auf Mehrdeutigkeit und Intersubjektivität weiterzudenken und mittels des Interferenzkonzeptes aus pragmalinguistischer Sicht zu untersuchen.24 Denkbar wären dann zum Beispiel auch „sozial erwünschte“ Bildungsgestalten, die eigentlich etwas anderes bedeuten. Weiterführend könnte man fragen, was über den referentiellen Gebrauch der gebrochenen Bildungsgestalten in Biographien hinaus noch bedeutsam ist. Denkbar sind Stichworte wie Differenzierung und soziale Integration, Gestaltung von Individualität und Anerkennung. Insbesondere eine stärkere anerkennungstheoretisch fundierte Beschäftigung mit Lüge, Täuschung und Hochstapelei, die in dieser Arbeit angedacht wurde, im Hinblick auf Bildung könnte für eine erneute Auswertung der Biographien gewinnbringend sein und stärker auf Intersubjektivität fokussieren. Zu fragen wäre dann zum Beispiel, ob sich die Geschichte individueller Bildung in Handlungsfeldern bewegt, die von Anerkennung und Nicht-Anerkennung geprägt sind und aus denen sich ein Spannungsfeld ergibt, das konfliktbeladen und widersprüchlich ist.25 Kann Intersubjektivität in den Anerkennungssphären begriffen werden als Katalysator von Bildungsprozessen im Sinne von Wandlungen der Selbst- und Weltverhältnisse?26 Lüge, Täuschung und Hochstapelei sind Interferenzen bindende Handlungen. Sie eröffnen andere Möglichkeiten gesellschaftlicher Partizipation und führen zu weite-
23 Ebd. 24 Zur Problematik siehe beispielsweise: Reinecke, Jost: „Sozial erwünschtes Antwortverhalten: Gewiss kein fiktives Forschungsproblem!“, in: Diagnostica 32 (1986), S. 193-196; Stocké, Volker: „Entstehungsbedingungen von Antwortverzerrungen durch soziale Erwünschtheit. Ein Vergleich der Prognosen der Rational-Choice Theorie und des Modells der Frame-Selektion“, in Zeitschrift für Soziologie 33 (2004), S. 303-320. 25 Siehe beispielsweise N. Balzer: Spuren der Anerkennung; A. Honneth: Kampf um Anerkennung. 26 Vgl. K. Stojanov: Bildung und Anerkennung.
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ren Problemen. Die Widersprüche sind nur für eine Zeit gelöst, eigentlich bestehen sie fort. Verstehen kann man sie, wenn man ihre Vorgeschichten betrachtet. Anhand der Interpretation der Quellen konnte gezeigt werden, dass sich widersprüchliche Intentionen, Interessen und Machtverhältnisse sowohl im Biographisierungs- als auch im Bildungsprozess niederschlagen können. Anhand der Analyse der Hochstaplerbiographien konnte gezeigt werden, dass vom Subjekt Wandlungen eingegangen werden können, die nicht nur im In-der-Welt-Sein gesucht, sondern auch im Zwischen-den-Welten-Sein gefunden werden können. Dabei wird versucht, eine Balance zwischen den widerstreitenden Interessen im Weltverhältnis bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Selbstbildes herzustellen. Diese Wandlungen konnten sich in Biographisierungsprozessen als gebrochene Bildungsgestalten markieren lassen. Möglich wäre ein Übertrag von Teilen der Ergebnisse dieser Arbeit auf andere bildungsbezogene Konfliktfelder wie zum Beispiel Lebenslanges Lernen, Kompetenzen oder die Bedeutung von Lügen und Täuschungen im Lebenslauf in beruflichen Handlungszusammenhängen. Zu fragen wäre dann nach den heteronomen Handlungsbedingungen, ihren Vorgeschichten, Auswirkungen im gegenwärtigen Handeln und ihren mehrdeutigen Resultaten.27 Bildung im Zusammenhang von Lüge, Täuschung und Hochstapelei zu betrachten, zieht die Möglichkeit in Betracht, dass an Selbstverhältnissen festgehalten werden kann, um in der Welt bestehen zu können. Lügen, Täuschen und Hochstapeln eröffnen dann Optionen, Weltverhältnisse zu gestalten. Mithilfe des Konzeptes zu den gebrochenen Bildungsgestalten konnte dieses Phänomen in den Biographien herausgearbeitet werden. Ein Weiterdenken dieses Ertrages der Arbeit, der mittels der Integration des historisch-pragmalinguistischen Interferenzkonzeptes möglich wäre, ist zum Beispiel in Bezug auf das normative Postulat des Lebenslangen Lernens denkbar. Hier könnte ein Wechsel der Forschungsperspektive möglich sein, der den Blick auf Texte lenkt, in denen die Idee des Lebenslangen Lernens bildungs- und disziplinpolitisch verankert wird. Einen Vorschlag dazu hat beispielsweise Wrana unterbreitet, der sich diesem Forschungsgegenstand diskursanalytisch und gouvernementalitätstheoretisch nähert. Wrana untersucht die im staatlichen Auftrag erstellten Texte „Zur Situation und Aufgabe der deutschen Erwachsenenbildung“ von 1960, den „Strukturplan für das Bildungswesen“ aus dem Jahr 1970, den Bericht „Weiterbildung. Herausforderung und Chance“ von 1984 und den dritten Teil des Gutachtens „Erwerbstätigkeit und Ar-
27 Siehe beispielsweise zur Bedeutung des „fake“ als Bewältigungsstrategie in Arbeitskonflikten: Bürgin, Julika: Gewerkschaftliche Bildung unter Bedingungen indirekter Arbeitssteuerung – Zweckbildung ohne Gewähr, Münster: Westfälisches Dampfboot 2013.
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beitslosigkeit in Deutschland“ aus dem Jahr 1997.28 Er schlussfolgert in einem ersten Schritt seiner Untersuchung: „Diese Gutachten sind präskriptive Texte, sie enthalten auf den ersten Blick eine Problemanalyse und Vorschläge für das Handeln der Akteure. Tatsächlich enthalten sie weit mehr: sie produzieren auf einer sehr basalen Ebene zunächst einmal die Gegenstände, von denen sie sprechen. Und da diese Gegenstände der ‚Erwachsenenbildung‘ im Allgemeinen [sic!] gesellschaftlichen Diskurs alles andere als gefestigt sind, entwerfen sie Felder des Eingreifens, die auf den zweiten Blick wenig gemeinsam haben.“29
Da die Diskursanalyse lediglich auf den diachronen Verlauf abzielt, sucht Wrana die synchrone Ebene mittels Gouvernementalitässtudien zu erfassen. Im Zusammenspiel der beiden Ebenen kann er feststellen, dass im Feld der Erwachsenenbildung (in Bezug auf das Lebenslange Lernen) ein Kampf der Akteure stattfinde, der sich durch zwei Komponenten auszeichne. Zum einen gehe es um die Gestaltung erwachsenenbildnerischer Inhalte und Formen und zum anderen um das Stärken und/oder Halten einer Position. Zu fragen ist dann, wer welche Texte wann und an wen in Auftrag gegeben hat und welche „Definitionsmacht“ damit angestrebt wird. 30 Angesichts von ausgewählten erwachsenenbildnerischen Veröffentlichungen zum Thema Lebenslangen Lernens schlussfolgert Wrana: „Es ist nicht mehr en vogue zivilisationskritisch zu sein, daher befürwortet man nun rückhaltlos, was man zuvor verdammte. [...] Für eine ganze Reihe von Vertreter/-innen der Disziplin
28 Deutscher Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen: Zur Situation und Aufgabe der deutschen Erwachsenenbildung, Stuttgart: Klett 1964; Deutscher Bildungsrat: Empfehlungen der Bildungskommission. Strukturplan für das Bildungswesen, Stuttgart: Klett 1972; Kommission Weiterbildung: Weiterbildung. Herausforderung und Chance. Bericht der Kommission Weiterbildung im Auftrag der Landesregierung von Baden-Württemberg, Stuttgart: Staatsministerium 1984; Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen: Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland. Entwicklung, Ursachen und Maßnahmen. Teil III. Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungslage, München 1997. 29 Wrana, Daniel: „Lernen lebenslänglich ... Die Karriere lebenslangen Lernens. Eine gouvernementalitätstheoretische Studie zum Weiterbildungssystem“, in: www.copyriot.com/ gouvernementalitaet (Hg.), „führe mich sanft“ Gouvernementalität – Anschlüsse an Michel Foucault. Gesammelte Veröffentlichungen zur gleichnamigen studentischen Tagung am 1. & 2. November 2002 in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 2003, http://copyriot.com/ gouvernementalitaet/pdf/fms-ebook.pdf vom 17. November 2016, S. 103-143, hier S. 110. 30 Ebd., S. 131.
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erscheinen die neuen Lernkulturen und ihr lebenslanges Andauern als Prozess der Befreiung. Die Themen werden unablässig variiert, mit dieser Art und Weise der Problematisierung gerät die Disziplin aber in einen affirmativen Diskurs. [...] Der Konstruktivismus nimmt [...] nicht nur eine affirmative Position ein, sondern liefert noch die Ideologie, die es zu ihrer Durchsetzung braucht [...] Er begründet seine Position immer noch mit dem moralischen Zeigefinger, der die Pädagogen und ihr Klientel vor der pädagogischen Bevormundung warnt, eine alte Angewohnheit der Reformpädagogen, die damit die Modernisierung der Machtverhältnisse vorangetrieben haben.“31
Mit den Ansätzen dieser Arbeit könnte man Wranas Forschungsidee aufgreifen und mittels des historisch-pragmalinguistischen Interferenzkonzeptes unter einer anderen Perspektive – ausgehend vom sprachlich handelnden Subjekt in historisch-pragmatischen Bezügen – untersuchen. Zu analysieren wäre dann, ob in den verschiedenen Textsorten der Erwachsenenbildung Mehrdeutigkeiten sprachlichen Handelns als Ergebnis interferierender Interessen in Konfliktfeldern zu finden sind. So könnten dann Handlungsbedingungen, ihre Geschichte, mehrdeutige Handlungen und Strukturen als Resultate möglicher Interferenzen für Texte mit Relevanz für die Erwachsenenbildung – zum Beispiel auf bildungs- oder disziplinpolitischer Ebene – betrachtet werden. Ausgangspunkt dafür könnten Fragen und Feststellungen sein, wie sie Faulstich und Zeuner angesichts der „Ökonomisierung und Politisierung des Feldes der Erwachsenenbildung“ im Hinblick auf die „Rolle der Wissenschaft“ machen: „Stehen wir also vor einer alternativlosen ‚Vermarktlichung‘ und ‚Verbetrieblichung‘ der Erwachsenenbildung, zu der die wissenschaftliche Behandlung des Feldes sogar noch beiträgt? [...] spätestens seit Mitte der 1990er Jahre ist eine sich selbst verstärkende ökonomische Invasion und politische Reorganisation des Feldes der Erwachsenenbildung zu beobachten. Zugleich haben die wissenschaftlichen Positionen selbst Schaden erlitten. Es gibt ein Ermüden kritischer Theorie, teils aggressive Gegenströmungen und auch illusionäre Neutralitätstendenzen. [...] In den immer wieder als ‚modern‘ behaupteten Kategorien verschwindet und dreht sich der Begriff Bildung bis zur Unkenntlichkeit. Mit der Übernahme betriebswirtschaftlicher Konzepte dringt instrumentelle Rationalität in die Erwachsenenbildungswissenschaft. Sinn wird durch Nutzen ersetzt, Wirtschaftlichkeit geht vor Menschlichkeit. Empirische Materialien liefern die Legitimation für eine Indienstnahme der Weiterbildung für politische Zwecke und ökonomische Interessen. Gegensteuernd und widerständig wäre dagegen eine Bildungs- und Erziehungswissenschaft und eine Erwachsenenbildungswissenschaft, die hartnäckig und renitent an ‚Bildung‘ festhält.“32
31 Ebd., S. 137-138. 32 Faulstich, Peter/Zeuner, Christine: „Ökonomisierung und Politisierung des Feldes der Erwachsenenbildung. Die Rolle der Wissenschaft“, in: Erziehungswissenschaft. Mitteilungen
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Der Anpassung an die Verhältnisse zu widerstehen, bedeutet auch, die Handlungsbedingungen des mündigen Subjektes zu hinterfragen und nicht nur aus der teilweisen Sicht ökonomischer und politischer (Erwachsenen-)Bildung das Handeln des Subjektes beeinflussen zu wollen oder zu ermöglichen. Am Beispiel der Hochstapler rückten die Widerstandsmöglichkeiten des Subjektes in den Fokus, die sich in dieser Arbeit zum Beispiel als Lügen und Täuschungen erwiesen. Ein Weiterdenken ist auch hier möglich, worauf zum Beispiel der Call for Papers zur Tagung „Kompetenz zum Widerstand – eine vernachlässigte Aufgabe der Ökonomischen und Politischen Bildung“ auch hinsichtlich der Aktualität dieses Forschungsdesiderats aufmerksam macht. Er verweist sowohl auf „die Möglichkeit des Widerstands [...] als Gegenstück zur Anpassung“ als auch auf Formen des Widerstands, der Momente der Anpassung aufzeigt und umgekehrt: „Widerstand kann dabei vielfältige Formen annehmen: von der bewussten Entscheidung für eine Art der Lebensführung, die sich den herrschenden Standards des Konsumierens und der Vermögensbildung verweigert, über die bewusste Wahlenthaltung bis hin zur begründeten und praktizierten Systemkritik oder zu Akten des Zivilen Ungehorsams. Vermutlich fragen Bildungspraktiker aufgrund ihrer Fokussierung auf das Handeln bzw. Verhalten viel zu selten danach, wie Menschen zu solcher Widerständigkeit gegen die zugrunde liegenden Rahmenbedingungen befähigt, wie also Verhalten und Verhältnisse gleichermaßen zum Gegenstand von Bildungsprozessen werden können.“33
Einen möglichen Schritt, den seltenen Fragen eine Perspektive zu ihrer Beantwortung zu geben, könnte mit einem Weiterdenken dieser Arbeit geschehen. Zum einen deshalb, weil sie mit Lüge, Täuschung und Hochstapelei Formen des ‚Widerstands‘ im Hinblick auf Bildungsprozesse in den erwachsenenbildnerischen Diskurs einbringt. Zum anderen, weil sie mit ihrem theoretischen und methodischen Ansatz sowohl Verhalten und Verhältnisse des widerständigen hochstapelnden Subjektes zum Gegenstand von Bildungsprozessen gemacht hat. Interessant wäre eine Reinterpretation der Hochstaplerbiographien im Hinblick auf die Widerstandskompetenz ihrer Protagonisten. Damit verbunden wäre auch die Möglichkeit, die Biographien von Manolescu, Straßnoff und Domela als Quellen der „Klassischen Moderne“, die mit dieser Arbeit der Erwachsenenbildung für die Erforschung von Bildungsprozessen erstmals zugänglich gemacht wurden, stärker unter Aspekten historischer (Erwachsenen-)Bildungsforschung zu betrach-
der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 26 (2015), S. 25-35, hier S. 33, Herv. i.O. 33 Kompetenz zum Widerstand – eine vernachlässigte Aufgabe der Ökonomischen und Politischen Bildung. Call for Papers. Bamberg, den 18.06.2014, http://www.bwpat.de/informativ/CfP_Bamberg.pdf vom 17. November 2016.
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ten. Diese Aspekte wurden nur am Rande gestreift. Als Quellen widerständiger Subjekte, welche die Schattenseiten bürgerlicher Bildungswelten aufzeigen und sich in diesen mittels Lüge, Täuschung und Hochstapelei behaupten, zählen sie zu den „Materialien, mit denen Bildungswirklichkeiten erschlossen werden können“.34 Damit trage ich zu einer Erweiterung der Quellenlage bei, zu der das Forschungsmemorandum der historischen Erwachsenenbildungsforschung auffordert. Die Quellen bieten weitere Anknüpfungspunkte dafür, das unvernünftige Subjekt in den realgeschichtlichen Zusammenhängen von Bildung aufzuspüren. Auch diese Perspektive würde dann auf Subjekte fokussieren, die Widersprüchen nicht passiv ausgesetzt sind, sich ihnen nicht nur verweigern, anpassen oder widerstehen, sondern „zum Guten wie zum Schlechten bereit“35 sind: „Vielmehr ermutigt kritische Bildung zum kunstvollen Selbstentwurf inmitten der gesellschaftlichen Widersprüche des sozialen Feldes. Inmitten der gesellschaftlichen Widersprüche entfaltet sie stets aufs Neue eine subversive Kraft, die den gesellschaftlichen Horizont aufreißt: Sie gewinnt Gestalt als Überschreitung.“36
7.3 AM ENDE „DAS NICHT-ZWEIFELN ANFANGEN“ 37 Diese Arbeit hat es sich zum Gegenstand gemacht, kunstvolle Selbstentwürfe inmitten gesellschaftlicher Widersprüche zu betrachten, indem sie Bildungsprozesse dort untersucht hat, wo sie Thema sind: in biographischen Erzählungen, in und mit denen sich Subjekte reflexiv ihr Sein und ihren Schein in der Welt erschließen. Mit ihren Biographien hinterlassen Georges Manolescu, Ignatz Straßnoff und Harry Domela Spuren von Lebenswelten und biographischen Bewegungen im geschichtlichen Prozess der Moderne, die mit dieser Arbeit aufgesucht wurden. Ich bin ihren Fährten gefolgt und habe Hinweise darauf gefunden, wie eng Selbstverfügung und Selbstverlust, Widerstand und Anpassung, Lüge und Wahrhaftigkeit miteinander verflochten sind. Ich habe versucht, die hochstaplerischen Bildungswege, in Anlehnung an Schulze nicht als abstrakte Größen zu betrachten, sondern in ihrem individuell Besonderen zu würdigen. Lebenswelt und biographische Bewegung erwiesen sich dabei als Auswertungsdimensionen, die den Forschungsblick weiteten und das je Spezifische der Hochstapler würdigen konnten. Bemüht habe ich mich um einen „Außenstandpunkt“, der nicht mit dem moralischen Zeigefinger auf die Geschichten der Hochstapler zeigte, sondern versuchte zu verstehen, wie sie wurden, was sie in ihren
34 Ciupke, Paul et al.: Memorandum zur historischen Erwachsenenbildungsforschung, Bonn: DIE 2002, S. 27. 35 E. Meueler: Die Türen des Käfigs, S. 76. 36 L.A. Pongratz: Zeitgeistsurfer, S. 158. 37 Wittgenstein, Ludwig: Über Gewißheit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, § 150.
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Biographien darlegen. Dabei habe ich mich „nicht auf den internen Fluchtpunkt eines reinen Subjektes“, sondern auf „die Willensbildung der Individuen aufgrund von Bewertungen von Handlungserwartungen“ bezogen. 38 Ich als Forschende habe mein Verständnis von Bildung an die Biographien der Hochstapler Manolescu, Straßnoff und Domela herangetragen und bin somit in Versuchung gekommen, meinen Standpunkt in den biographisch verorteten Bildungsprozessen bestätigt zu sehen. Der Außenstandpunkt war mein Anker dafür, nicht Selbsttäuschungen zu erliegen. Als Forschende in den biographisch erzählten Hochstaplerwelten erfüllte mich auch immer wieder der Zweifel, ob man den Lügenden, Täuschenden, Hochstapelnden, Betrügenden, Narzisstischen tatsächlich ohne den moralischen Zeigefinger begegnen kann. Ich habe mich bemüht, auch wenn mir nicht alle gleich sympathisch waren. So habe ich versucht, über despektierlichen Anmerkungen gegenüber Frauen von Manolescu und Straßnoff hinwegzusehen und das Schön-Reden ihrer Betrügereien zu ignorieren, um nicht den Fokus auf das gesellschaftlich verstrickte, sich bildende Subjekt zu verlieren. Die Hochstapelnden haben auch meine Grenzen überschritten und mich zweifeln lassen, ob nicht auch ich ihren Lügen, Täuschungen und Hochstapeleien erliege: Zeigt sich in den Biographien nicht nur „[d]as bloße Gehabe überlegter Lebensführung“, das „die wirkliche Aneignung der Lebensumstände [ersetzt]“?39 Eine weitere Fragen aufwerfende Antwort findet sich in Adornos Minima Moralia: „Gerade die, von deren Denken und Handeln die Änderung, das einzig Wesentliche, abhängt, schulden ihr Dasein dem Unwesentlichen, dem Schein, ja dem, was nach dem Maß der großen historischen Entwicklungsgesetze als bloßer Zufall zutage kommen mag. Wird aber dadurch nicht die gesamte Konstruktion von Wesen und Erscheinung berührt? […] Die Welt ist das System des Grauens, aber darum tut ihr noch zuviel Ehre an, wer sie ganz als System denkt, denn ihr einigendes Prinzip ist die Entzweiung, und sie versöhnt, indem sie die Unversöhnlichkeit von Allgemeinem und Besonderem rein durchsetzt. Ihr Wesen ist das Unwesen; ihr Schein aber, die Lüge, kraft deren sie fortbesteht, der Platzhalter der Wahrheit.“40
38 Faulstich, Peter/Zeuner, Christine: „Entwicklung, Situation und Perspektiven ‚subjektorientierter Erwachsenenbildungsforschung‘“, in: Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung 6 (2005), S. 129-144, hier S. 130. 39 L.A. Pongratz: Zeitgeistsurfer, S. 137. 40 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, Abschnitt 72.
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Literatur
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