(Post-)Gender: Choreographien / Schnitte [1. Aufl.] 9783839402771

Im Kontext der Medienumbrüche 1900 und 2000 eröffnen die Beiträge des Bandes diskurskritische und de/konstruktivistische

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German Pages 236 [235] Year 2015

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Table of contents :
INHALT
Vorwort
Gender Studies und der Performative Turn: Zur Konturierung einer Fragestellung
Erzählpolitik jenseits des Bildersturms, diesseits einer Post-Gender-Welt
Pornographische Szenarien in Jarrys Surmâle und Marinettis Mafarka
Aneignung und Performanz. Geschlecht als Mythos der weiblichen Avantgarde am Beispiel von Ida Rubinstein, Elsa von Freytag-Loringhoven und Claude Cahun
„La testa gli esplose“ – Körper und Medien in den Texten der giovani scrittori der 1990er Jahre
Choreographien des Striptease
Hybride Inszenierungen von Körper, Schaulust und Geschlecht in Assia Djebars Vaste est la prison
Hybride Pop-Welten. Madonna und die Avantgarde(n)
Der dritte Weg – gender als performativer Akt und Performativität als Medialität
Zum Cyborg- und Golem-Mythos in Marge Piercys He, She And It
Prothetische Seele: Hysterische Männer und Maschinen im Computer-Adventure Syberia
Biofuturistische Implikationen transgener Kunstexperimente
Autorenverzeichnis
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(Post-)Gender: Choreographien / Schnitte [1. Aufl.]
 9783839402771

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Walburga Hülk, Gregor Schuhen, Tanja Schwan (Hrsg.) (Post-)Gender

Die Reihe »Medienumbrüche« wird herausgegeben von Peter Gendolla.

Walburga Hülk, Gregor Schuhen, Tanja Schwan (Hrsg.)

(Post-)Gender Choreographien/Schnitte

Medienumbrüche | Band 15

Diese Arbeit ist im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 615 der Universität Siegen entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2006 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Susanne Pütz, Siegen; Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-277-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT Vorwort .......................................................................................................... 7 Angela Krewani

Gender Studies und der Performative Turn: Zur Konturierung einer Fragestellung .................................................................................................. 9 Karin Harrasser

Erzählpolitik jenseits des Bildersturms, diesseits einer Post-Gender-Welt......................................................................................... 15 Tanja Schwan

Pornographische Szenarien in Jarrys Surmâle und Marinettis Mafarka...... 33 Annette Runte

Aneignung und Performanz. Geschlecht als Mythos der weiblichen Avantgarde am Beispiel von Ida Rubinstein, Elsa von Freytag-Loringhoven und Claude Cahun...................................... 49 Sabine Schrader

„La testa gli esplose“ – Körper und Medien in den Texten der giovani scrittori der 1990er Jahre ................................................................ 85 Claudia Liebrand

Choreographien des Striptease................................................................... 101 Uta Felten

Hybride Inszenierungen von Körper, Schaulust und Geschlecht in Assia Djebars Vaste est la prison............................................................... 113 Gregor Schuhen

Hybride Pop-Welten. Madonna und die Avantgarde(n) ............................ 123 Hedwig Wagner

Der dritte Weg – gender als performativer Akt und Performativität als Medialität.............................................................................................. 153 Katalin Székely

Zum Cyborg- und Golem-Mythos in Marge Piercys He, She And It......... 177

Randi Gunzenhäuser

Prothetische Seele: Hysterische Männer und Maschinen im Computer-Adventure Syberia .................................................................... 187 Marijana Erstić

Biofuturistische Implikationen transgener Kunstexperimente................... 211 Autorenverzeichnis .................................................................................... 229

VORWORT Im Zuge postmoderner Dezentrierung und Heterogenisierung von Subjektpositionen scheinen die Körper vom Verschwinden bedroht. Auch die Geschlechterdifferenz befindet sich im Stadium der Auflösung. Eine zusätzliche Herausforderung stellen die neuen Medien der Informationsgesellschaft sowie die Gentechnologien der Reproduktionsmedizin dar. Technisch replizierbare Hybrididentitäten in virtuellen Welten, prothetische Interfaces zwischen Mensch und Maschine lassen anthropologische Forschungsansätze obsolet erscheinen. Andererseits haben jüngst gerade solche Konzepte an Konjunktur gewonnen, die eine ‚Wiederkehr des Körpers‘ postulieren. Seine ‚Rettung‘ gelingt über seine Neukonzeption als diskursiver Effekt. Mit dem performative turn in den Kulturwissenschaften ist die Rede von performativen Körperstrategien (body politics) ubiquitär geworden. Der Körper als Einschreibefläche für symbolische Codes inszeniert Judith Butler zufolge performativ das Geschlecht (doing gender), wobei in der repetitiven Zitatpraxis normativer Machtdiskurse eine Chance zu deren Verschiebung und letztlich Subversion liege. Zuvor hatte schon Donna Haraway den/die Cyborg als eine Denkfigur gefeiert, die ‚weder der Eine noch die Andere‘ sei und, bei Ausschöpfung der technischen Potentiale, eine Befreiungsutopie aus den Zwängen der Gender-Welt verheiße. Vermittelndes Medium zwischen Ästhetik und Politik, verdichten sich in diesem reflektierten Mythos fiktive Befragungen sozialer Realität. Die Publikation (Post-)Gender. Choreographien/Schnitte wirft die Frage auf nach den infolge der skizzierten Entwicklungen veränderten Grenzverläufen. Bieten die optimistischen Prognosen der Technikeuphorie mit ihrem Wunsch nach Überschreitung der Natur Möglichkeiten uneindeutiger Geschlechtsmarkierungen im Cyberspace (gender swapping) und lassen sie scheinbar verfestigte Dichotomien wie Natur vs. Kultur, Mensch vs. Maschine, Realität vs. Virtualität etc. implodieren, so birgt dies, aller Faszination zum Trotz, auch die Gefahr einer Verstetigung von Herrschaftsstrukturen im Wege über die manipulative Verwischung nach wie vor bestehender Differenzen. Mit Joan Scott wäre zu fragen, ob gender auch angesichts einer Überstrapazierung konstruktivistischer Perspektiven in den Kulturwissenschaften weiterhin als ‚nützliche Kategorie der historischen Analyse‘ tragfähig bleibt, wenn die irreduzible biologische Restkategorie des Geschlechtskörpers seine Historizität de facto unterläuft und Re-Essentialisierungen quasi durch die Hintertür wieder einführt. Der alte cartesianische Leib-Seele-Dualismus wird durch die Ab-

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VORWORT

spaltung des gender vom geschlechtlich determinierten Körper scheinbar perpetuiert, so dass das gender-Paradigma hier an seine Grenzen stößt. Die Suche nach einem dritten Weg zwischen verabsolutiertem Konstruktivismus und strategisch eingesetztem Essentialismus scheint angezeigt, da die Materialität des Körpers in die Leerstellen des Diskurses einbricht, um an den Kreuzpunkten von Körper und Text das gender einzuholen. Nach dem Kollaps der vertrauten Kategorien sind es offenbar andere Verweisungszusammenhänge, die ‚auf den Leib geschrieben‘ werden. Auf der Grundlage dieser Annahme möchte der Sammelband neuere und neueste Tendenzen der Implementierung von Aspekten der Medialität in die (Post-)Gender-Forschung explorieren. Folgende Leitfragen stehen dabei im Zentrum des Interesses: 1.

Wie werden im Spannungsfeld von Medien- und Reproduktionstechnologie Geschlecht, Begehren und Macht choreographiert?

2.

Inwieweit wurden (Post-)Gender-Phantasien bereits von KünstlerInnen der historischen Avantgarden antizipiert? Als Orte einer Entgrenzung von Körpern und Gender-Konstruktionen können sowohl die futuristischen Visionen prothetischer Maschinenmenschen gelesen werden als auch die medialen Inszenierungen der SurrealistInnen im Kontext Freudscher Psychoanalyse und deren Diskurs einer polymorphen Sexualität.

3.

Mit Blick auf die aktuelle Debatte muss schließlich die provokante Frage formuliert werden, ob nach den radikalen Interventionen Haraways (die den Begriff des „Post-Gender“ überhaupt erst in die Diskussion einführte) und Butlers überhaupt noch Weiterentwicklungen der Gender-Theorie denkbar sind, oder ob sich nicht vielmehr eine Tendenz zu deren Überholung durch neue Paradigmen abzeichnet?

Die vorliegende Publikation geht zurück auf die im Rahmen des Forschungskollegs Medienumbrüche organisierte gleichnamige Tagung im Dezember 2003 an der Universität Siegen. Die Herausgeber danken allen Beiträgern für ihr Engagement, dem Forschungskolleg Medienumbrüche und der DFG für die Unterstützung der Publikation – und für die redaktionelle Mitarbeit besonders Silvia Abbel, Tiziana Dello Buono, Marijana Erstić, Jonas Meyer, Isabelle Neuhäuser sowie Peter Neuhaus für die kreative Mithilfe am Coverdesign. Walburga Hülk

Gregor Schuhen

Tanja Schwan

ANGELA KREWANI

GENDER STUDIES UND DER PERFORMATIVE TURN: ZUR KONTURIERUNG EINER FRAGESTELLUNG Die Thesen Judith Butlers zur Performanz von Gender bestätigen den Performative Turn, welchen die Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften eingeschlagen haben. Unsere Aufmerksamkeit wird jetzt gelenkt auf Prozessualitäten der Darstellung und hier vor allem auf die Materialitäten der am Prozess der Darstellung beteiligten Medien. Unter Medien fasse ich – jetzt in chronologischer Reihenfolge – die Kunst der Avantgarden um die Jahrhundertwende vom 19. ins 20. Jahrhundert, Film, Fernsehen wie auch digitale Bildmedien. Medien und Performanz sind strukturell miteinander verkoppelt, Performanz schreibt sich ein in das Medium und strukturiert dessen Erscheinung und Produktivität. Diese Betrachtungsweise hat die Frage nach Gender neu konturiert: Die Konzentration auf Aspekte von Performanz zeigt deutlich, dass den Medien, vor allem deren visueller Repräsentation, keine Geschlechterdualität oder Essentialität eingeschrieben ist. Dieser Sachverhalt mag für die digitalen Bildmedien auf der Hand liegen, für die medialen Verfahren der künstlerischen Avantgarden wie auch für den Film ist dieser Umstand noch nicht deutlich konturiert. In diesem Sinne richtet sich die Anordnung vorliegender Beiträge nicht nach einer historischen Perspektive, sondern der Zusammenhang von Medialität und Gender wird in spezifischen Kontexten expliziert. Schwerpunkte der Betrachtung sind dabei die künstlerischen Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Post- und Popkulturen sowie die Semantiken, die sich im Kontext digitaler Medien herausgebildet haben. Bislang war es ein Anliegen der feministischen Forschung, gegenüber dem „männlichen“ Kunstschaffen eine „weibliche“ Kunstpraxis zu etablieren und diskursiv zu rehabilitieren. Das führte vor allem deshalb in eine Sackgasse, da sich weibliche Kunst zumeist diskursiven Praxen entzog und die Festschreibung dynamisch ausgestalteter Prozessualitäten

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ANGELA KREWANI

verweigerte. Dennoch besteht das Anliegen nach einer Korrektur kanonischer Kunst und Mediendiskurse fort. In diesem Sinne versteht sich Karin Harrassers Beitrag als neuerliche Überprüfung der symbolischen Kritik der Avantgarden. Ihr zentrales Anliegen bezieht sich auf deren Symbolpolitik und die darin manifestierte Überzeugung, dass durch Veränderung der Organisation des Symbolischen quasi automatisch gesellschaftliche Transformationsprozesse initiiert würden. Die Avantgarden selbst begriffen sich als fortschrittlich und überaus modern. Inzwischen sind jedoch die totalitären und frauenfeindlichen Züge weitreichend aufgearbeitet worden: vor allem mit dem erschreckenden Ergebnis, dass es sich auch bei den Avantgarden um die Fortführung der großen Erzählungen im Dienste einer totalitären Fortschrittsideologie handelt. Das haben vor allem Ausstellungen wie Iconoclash, die vor einiger Zeit im Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlruhe zu sehen war, verdeutlicht, die dokumentieren konnten, wie eng der Impetus der Aufklärung mit demjenigen der Zerstörung verbunden ist. Erschreckend deutlich macht diesen Sachverhalt Tanja Schwans Beitrag über Jarrys Surmâle und Marinettis Mafarka. Eingehend auf die pornographischen Phantasien der Autoren zeigt Tanja Schwan nochmals auf, wie dominant im avantgardistischen Impetus die Demontage von Weiblichkeit angelegt war und wie stark die korporalen Phantasien dieser bedürfen. Eine Neubestimmung der Geschlechtsverhältnisse in den Avantgarden ist von dringender Notwendigkeit, da sich gerade hier Konstruktionen von Männlichkeit mit dem Gestus des Objektiven und Avantgardistischen verbinden – und so vor allem auch in die literatur- und kunsthistorische Kanonbildung eingegangen sind. Annette Runtes Überlegungen zu den avantgardistisch-performativen Strategien der Künstlerinnen Ida Rubinstein, Elsa von Freytag-Loringhoven und Claude Cahun zeigen auf, dass weibliche Avantgarden weder Korrektiv noch Gegenbegriff zu den Arbeiten ihrer männlichen Kollegen darstellen, sondern avantgardistische Techniken selbst performativ aufarbeiten, parodieren und re-semantisieren. Avantgarde entzieht sich damit dualistischen Gender-Oppositionen und behauptet stattdessen die performative, gleichzeitige Montage und Demontage von Gender. Gegenüber dem differentiellen Subjektbegriff der Avantgarden bei Annette Runte entwickelt Karin Harrasser einen Subjektbegriff, den sie auf Bruno Latour und Donna Haraway zurückführt, welche sie zudem als Vertreter einer Epistmologie begriffen haben will, die jenseits der Zerstörung einen konstruktiven Weg in die Avantgarde suchen – hierin sieht

GENDER STUDIES UND DER PERFORMATIVE TURN

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Harrasser einen möglichen Beitrag der femininen Aspekte der Avantgarde. Wir werden noch sehen, welche Rolle gerade die Ideen Donna Haraways für den technischen Genderdiskurs haben, wenn wir uns mit den digitalen konstruierten Aspekten von Gender beschäftigen. In Harrassers Beitrag wird Haraway ungewöhnlicher gebraucht – eher anknüpfend an Fragestellungen den weiblichen Beitrag zur Avantgarde betreffend. Ohne allerdings in die Falle einer normativen weiblichen Ästhetik zu geraten, erhofft Harrasser sich insbesondere von Donna Haraway eine Haltung, die sich gegen jede totalisierende Erzählpraxis richtet und die dazu geeignet ist, die nicht linearen-Prozesse der Avantgarden zu beschreiben. Symbolpolitik wird damit wieder angebunden an Praktiken und Heuristiken, an Interaktion, an konkrete Körper und individuelle Lebensläufe. Es bleibt zu überprüfen, welche Konsequenzen ein solcher Perspektivenwechsel für das Erzählen als wirkungsvolle politisch-kulturelle Praxis haben könnte und ob Erzählpolitik ein tragfähiges Konzept für politische Intervention und Partizipation sein kann. Als direkte Konsequenz der Mehrfachcodierungen avantgardistischer Performanzen begreift Sabine Schrader die Texte der giovani scrittori der 1990er Jahre. Während die frühen Avantgarden das Material der Kunst schier unendlich ausweiteten, tritt in den 1990er Jahren des letzten Jahrhunderts die Wechselbeziehung von Literatur mit den audiovisuellen Massenmedien Film und Fernsehen in den Vordergrund. Figuren und ihr Begehren verlieren sich in der Diversifikation der medialen Bezüge. Schon lange instabil gewordene Identität erfährt durch die Einführung digitaler Bildverfahren einen weiteren Schub der Auflösung. Literatur wird zur Simulation digitaler Verfahrensweisen. Historisch gesehen steht zwischen literarischen und digitalen Avantgarden das Medium Film, dessen Performativität ebenfalls auf dem Prüfstand steht, wie es aus den Beiträgen von Claudia Liebrand, Uta Felten und Hedwig Wagner deutlich hervorgeht. Claudia Liebrand bezieht sich explizit auf die Überlegungen Laura Mulveys zur Blicklenkung im Film. Mulveys Bemerkungen zum männlichen voyeuristischen Blick und der visuellen Konstruktion von Weiblichkeit dominierten lange die feministische Filmforschung. Erst in den letzten Jahren begannen Filmtheoretikerinnen langsam, dieses festgefahrene Paradigma zu revidieren. Claudia Liebrand unternimmt diesen Versuch anhand eines Videos von Robbie Williams, das die skizzierte Blickstruktur umkehrt: Der Clip zeigt uns den tanzenden Sänger in einer Diskothek umgeben von schönen Frauen, deren Aufmerksamkeit er zu wecken sucht. Nach den Regeln der

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phallischen Blickkonstellation besetzt Williams eine weibliche Position. Er wirbt um Aufmerksamkeit und Blick. Die Frauen allerdings lassen sicht nicht in dieses Blickdispositiv einzwingen, sie versuchen nicht, sich mittels des Blicks Macht über Robbie anzueignen. Er findet erst ihr Interesse, als er seinen Striptease auf seine Haut ausweitet. Diese Anordnung eröffnet ein weites Feld möglicher Betrachtungsweisen. Als erstes fällt wohl die Demontage von Gender-Oppositionen auf, deren Gewichtungen im durch den Blick definierten Feld des Striptease umgekehrt werden. Eine weitere Frage ist die nach einer Revision überkommener Genderparadigmen und der Eröffnung weiterer, noch unbeschrittener post-gender-Räume. Dieser Frage geht Uta Felten in ihrem Beitrag zu der Schriftstellerin und Filmemacherin Assia Djebar ein, indem sie Gender und Körper als prozessual angelegte Produkte von Auflösung und Hybridisierung versteht, die sich jeglicher Festschreibung entziehen und sich dynamisch neu kodieren. Interessant an der Auswahl des Beispiels ist es, dass es sich hier sowohl um Film als auch MTV-Fernsehformate handelt. Wir begegnen zwei völlig unterschiedlichen und voneinander getrennten Dispositiven und Semantiken. Meines Erachtens befinden wir uns im Kontext der Fernsehproduktionen auf einer Metaebene oder innerhalb einer Beobachterposition zweiter Ordnung, die beobachtet wie der Film beobachtet. Diese Beobachterreferenz entkoppelt den Film von seinem deutlichen Dispositiv und ermöglicht neue Gender Räume. Diese Überlegungen leiten auch den Ansatz von Gregor Schuhen, der sich mit den hybriden Popwelten Madonnas beschäftigt: Auch hier handelt es sich um Zitatwelten, also visuelles Metamaterial bzw. Beobachterpositionen zweiter Ordnung. Völlig zu Recht moniert Gregor Schuhen in der deutschen Forschung eine fehlende Konzentration auf die strukturellen Eigenschaften der Zitate als Pastiche, Parodien oder Travestie des filmischen Originals. Ähnlich wie Claudia Liebrand legt Gregor Schuhen den Verdacht nahe, dass die Distanz zum Originalmedium den Freiraum für neuartige Performanzen des Post-Gender schafft. Die Statuierung eines sehr engen, aber dennoch intermedialen Verhältnisses von Originalmedium und Referenzmedium, wie wir sie bei Claudia Liebrand und Gregor Schuhen antreffen, avisiert einen geteilten Medienbegriff: Hedwig Wagner nun geht in ihren Überlegungen ebenfalls von einer medialen Doppelstruktur aus, wenn sie ein mediales Unbewusstes wie auch das Unbewusste als medial annimmt. Gender wird in diesem Konzept zum Effekt medialer Performanz – d.h. Medialität stellt sich durch die Performanz ein.

GENDER STUDIES UND DER PERFORMATIVE TURN

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Rückbezogen auf den Film nimmt Hedwig Wagner an, dass sich eine Doppelstruktur zwischen Film und Gender feststellen lässt: Gender strukturiert das Unbewusste des Films (sichtbar wird dieses in indirekten Blickverhältnissen wie Spiegel und Fenstern) und Gender selbst hat mediale Aspekte: Hier wären auch die Überlegungen der Berliner Medienphilosophin Sybille Krämer anzubringen, die Medialität über Performanz definiert. Hedwig Wagner allerdings geht es darum aufzuzeigen, in welcher Weise Gender und Medium funktional miteinander verkoppelt sind und sich im Blick aufeinander ausgestalten. Digitalität, digitale Bild- und Identitätsproduktion steht im Moment noch an der Schwelle zu einer Experimentalität, die reale Umsetzung und experimentelle Fantasie nicht immer ganz sauber trennt. In diesem medialen Umfeld bewegen sich die Beiträge von Katalin Szekely und Randi Gunzenhäuser. Katalin Székely beschäftigt sich mit einem zentralen Konzept des Cyberfeminismus, nämlich Donna Haraways Konzept der Cyborg und Marge Piercys narrativer Umsetzung im Roman He, She and It. Ähnlich wie Haraway gibt Piercy der Cyborg weibliche Züge in gleichem Maße, in dem sie den jeweiligen technischen Enklaven im Roman Geschlechtsattribute zuweist. Technologie wird in diesem Kontext nur human, wenn sie in der Lage ist, Genderdiskurse zu durchkreuzen und sich in heterogenen Räumen jenseits von Gender – als Post-Gender anzusiedeln. Katalin Székely lässt offen, inwiefern Haraway und Piercy post-gender-Situationen nicht doch wieder „weiblich“ konnotieren. Die Idee der Passage, des heterotopen Raums erscheint ebenfalls in den Überlegungen Randi Gunzenhäusers, die unter Rückgriff auf die Theorien Jacques Lacans, Michel Foucaults und Judith Butlers Gender nicht als Repräsentation, sondern als Grenzziehungsphänomen verstanden wissen will. Anhand des französischen Adventure Games SYBERIA, das 2002 auf den Markt kam, will Randi Gunzenhäuser demonstrieren, wie in dieser spielerischen Anwendung die Schnittstelle von Mensch und Maschine jeweils neu verortet wird. Welche Körpergeschichten erzählen beseelte Maschinen? Die Schnittstelle von Mensch und Maschine hinter sich lassend, wendet sich der abschließende Beitrag von Marijana Erstić Projekten transgener Kunst zu. Ausgang ihrer Darstellung sind die Arbeiten und Manifeste des italienischen Malers und Futuristen Emilio Buccafusca, der in seinen Arbeiten vorwiegend auf die transgenen und auch gendertransformierenden Aspekte seiner Arbeit hinwies. Vor diesem Hintergrund betrachtet Erstić zeitgenössische Arbeiten aus dem inzwischen

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vielbesprochenen Bereich der transgenen Kunst unter Fokussierung ihres performativen Potentials. Im Gegensatz zu den üblichen Äußerungen über transgene Kunst gelingt Marijana Erstić damit einerseits deren Verankerung in der ersten Avantgarde wie auch andererseits, nochmals den Bogen über die Beiträge dieser Publikation zu spannen. Zwei Medienumbrüche bilden demnach den zeitlichen Rahmen für vorliegende Beiträge, die nicht in historischer Reihenfolge, sondern nach Themengruppen angeordnet, den Zusammenhang von Gender, Performanz und medialer Konstitution explorieren.

KARIN HARRASSER

ERZÄHLPOLITIK JENSEITS DES BILDERSTURMS, DIESSEITS EINER POST-GENDER-WELT Die klassischen Avantgarden, jene ‚Großen Erzählungen‘ des Über- und Fortschreitens, waren vom Impetus einer ‚Politik der Form‘ getragen, also von der Annahme, dass durch Veränderungen im Arrangement des Symbolischen gesellschaftliche Transformationsprozesse präfiguriert und angestoßen würden. Die Avantgarden selbst begriffen sich dabei als ihrer Zeit voraus, als fortschrittlich und überaus modern. Inzwischen wurden vermehrt die totalitären Züge der klassischen Avantgarden kommentiert, die sich gerade in dieser ihrer Selbstbeschreibung als progressiv und außerhalb des ‚common sense‘ stehend begründeten, aber auch in ihren ideologischen und institutionellen Organisationsformen sichtbar wurde. Der Gestus des Vorgriffes auf die Zukunft stellte sich zunehmend als eingegossen in eine (totalisierende, westliche) Fortschrittsidee mit ihren apokalyptischen oder utopischen Eschatologien heraus. Die postmodernen und postavantgardistischen Reaktionen auf diese Erkenntnis erschöpften sich jedoch allzu oft in ironischen oder melancholischen Kommentaren zum ‚dead end‘ der Geschichte. Ich möchte in diesem Essay einige Ansätze einer ‚Politik der Form‘ skizzieren, die ihre Lektionen aus den großen avantgardistischen Gesten gelernt hat, aber am Anspruch auf politische Relevanz festhält. Es ist dies eine Form der Symbolpolitik, die ein anderes Verhältnis zur Geschichte (nicht ihr voraus, sondern mit ihr verstrickt), zu Technologien (weder Apokalypse noch Utopie), zu kommonsensualen kulturellen Codierung (nicht deren Zerschlagung sondern eine Neucodierung) favorisiert. Der Horizont dieses Entwurfes sind die TheoretikerInnen Donna Haraway und Bruno Latour sowie die KünstlerInnen Laurie Anderson und Yinka Shonibare.

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KARIN HARRASSER

Bildersturm Das Ausstellungsprojekt Iconoclash1 von Bruno Latour und Peter Weibel im Jahr 2002 thematisierte den modernen Gestus der ‚Kritik‘ in Wissenschaft, Kunst und Politik, der – so die These der Ausstellung – auf Bildersturm-Strategien zurückzuführen ist, die wiederum ein Subjekt voraussetzen, das der Allgemeinheit, dem ‚common sense‘ überlegen ist, das aufklärt, indem es zerstört. Diesem Gestus setzt Bruno Latour sein Konzept des ‚faitiches‘, das die doppelte Verfasstheit kultureller Artefakte als ‚gemachte‘ und ‚geglaubte‘, als materiell-semiotische betont, entgegen. Die gewaltvolle Zerstörung von wirkmächtigen Ikonen sei eine fundamentale Geste im Programm der Moderne. Die Ausstellung collagierte diese Geste in Kunst, Wissenschaft und Religion um seine positive Konnotation als innovativ, revolutionär und kritisch zu problematisieren. Es wurde darauf hingewiesen, dass der Ikonoklasmus eine weitgehend männliche Strategie sei, die sich freilich auch für radikale feministische Anliegen immer gut geeignet hat. Ihren Zweifel an der ‚Angemessenheit‘ des Gestus des Bildersturms begründen Weibel und Latour folgendermaßen: Selbst die exzessivste Zerstörung von Bildern führt zur Etablierung neuer Bilder – z.B. der zerbrochenen Ikonen als Mahnmale der Zerstörung –, die Bilder sind also nicht wirklich zerstörbar, aber nach der Zerstörung, wissen die Zerstörer oft nicht, was sie eigentlich zerstört haben und was sie an seine Stelle setzen sollen. Ihre Wut habe sich nicht primär auf die Bedeutung der Ikonen (die religiöse Bedeutung beispielsweise), sondern auf deren Gemachtheit gerichtet. Sie unterstellen den Bildverehrern Naivität, dabei wüssten die ‚Gläubigen‘ meist sehr genau, dass sie selbst die Bilder gemacht haben, nur wissen sie im Unterschied zu den Ikonoklasten auch, wie wichtig die Bilder und Symbole als Verbindungsglieder zu Tradition und Geschichte und als Motoren von Erneuerung und Bewegung sind. ‚Kritik‘ und die ‚Entlarvung von Ideologie‘, die von politischen und künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts so exzessiv betrieben wurde, wird mit dieser Geste des Zertrümmerns in Verbindung gesetzt und damit einer gründlichen Revision unterzogen. Der Entlarvungsgestus, der gesellschaftlich vereinbarte Repräsentationen als gemachte und damit ‚ideologische‘, ‚falsche‘ hinstellt, ist darüber hinaus mit dem aufgeklärten Streben nach ‚Wahrheit‘ verknüpft. Soweit 1 Latour, Bruno: „What is Iconoclash? Or is There a World Beyond the Image Wars?“, in: ders./Weibel, Peter (Hrsg.): Iconoclash. Beyond the Image Wars in Science, Religion and Art, Cambridge (MA)/London 2002, S. 14-37.

ERZÄHLPOLITIK JENSEITS DES BILDERSTURMS

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etwas holzschnitthaft das Ausstellungskonzept. Donna Haraways Texte haben eine ähnliche Stoßrichtung, konzentrieren sich aber weniger stark auf einzelne Bilder als auf das, was zwischen den Bildern liegt, die Erzählungen. Bruno Latour und Donna Haraway werden hier als mögliche VertreterInnen einer Epistemologie und Politik vorgestellt, die einen konstruktiven Weg jenseits des Bildersturms, des Avantgardismus und der ‚Großen Erzählungen‘ sucht ohne deren politischen Anspruch aufzugeben. Bruno Latour mit seinem Konzept der Amodernität und Donna Haraway mit ihren wissenspolitischen Schriften, die sich gegen jede totalisierende Wissenschafts- und Erzählpraxis richten, interpretieren was früher Fortschritt oder Avantgardismus hieß neu, indem sie den Prozess der Modernisierung nicht mehr als Fortschritt, sondern als nicht-linearen Prozess der Sozialisation nicht-menschlicher Wesen begreifen. Vermittlungsprozesse werden damit zentral, Symbolpolitik wird rückgebunden an Praktiken und Heuristiken, an interpersonale Kommunikation, an konkrete Körper und Dinge, an Netzwerke, an individuelle Lebensläufe und an partikulare Kontexte, die zwar mit globalen Prozessen interagieren, aber nicht von ihnen determiniert sind. ‚Wahrheit‘ als Grundlage von Politik wird ersetzt durch eine hohe Dichte intelligibler Verbindungen. Die Frage, die sich beim Nachdenken über Symbol- oder Erzählpolitik aber zuallererst stellt, ist: Wie kann eine Metapher, eine Repräsentation, ein Bild, eine Erzählung überhaupt sozial wirksam werden? Denn offensichtlich gibt es Erzähl- und Bildpraktiken, die von Erzählgemeinschaften weitererzählt, ausgebaut und umgebaut werden, die kohärenz- und identitätsstiftend wirken und eine Institutionalisierung erfahren und solche, die nicht weitererzählt, vergessen werden, versickern im Rauschen der Zeichen. Erstere können nationale (oder auch transnationale) Mythen genauso sein wie relativ partikulare, subkulturelle Erzählungen, die einer Gruppe einen (temporären) Sinnhorizont geben.2 Im Gegensatz zu Positionen von VertreterInnen der klassischen Moderne, die mit ihrer Theorie- und Kunstproduktion auf die performative Kraft von symbolischen Formen setzten und auf das Übergreifen von ästhetischen Strategien auf außerkünstlerische Kontexte hofften, mehr noch: die explizit den Anspruch auf Umgestaltung der Gesellschaft erhoben, ist der Poststrukturalismus von einer Auffassung des Symbolischen 2 Ich habe an anderer Stelle gezeigt, auf welche Art und Weise sich digitale Kulturen als männliche Subkulturen via Mythen und Erzählstrukturen etablieren konnten: Harrasser, Karin: „Transforming Discourse into Practice: Computerhystories and Digital Cultures around 1984“, in: Cultural Studies, Jg. 16, H. 6, S. 820-832.

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geprägt, der diesem eine von gesellschaftlichen Realitäten relativ unabhängige Ökonomie der Zeichen attribuiert. Das „Reich der Zeichen“ (Roland Barthes) wurde mit verschieden starker Emphase auf den Begriff der ‚Simulation‘ (z.B. bei Jean Baudrillard) als eine Wirklichkeitsschicht dargestellt, die relativ selbständig existiert und lediglich ‚Realitätseffekte‘ auslöst.3 Hingegen versuchten die klassischen Avantgarden – ich erinnere hier nur an den italienischen Futurismus und den französischen Surrealismus – das Symbolinventar ihrer Zeit so zu wenden, dass es seine ideologische Verfasstheit preis gab und sich für politische Interventionen eignete. Hinter den klassischen Avantgarden steht in großen Lettern das ‚Politik der Form‘-Argument angeschrieben, selbst hinter denen, die wie der Dadaismus eine ironische Dekonstruktion betrieben: Die Annahme, das Durchbrechen von (automatisierten, erstarrten, verallgemeinerten, ‚naturalisierten‘) symbolischen Formen führe zur Aktivierung politischen Potentials, also zur Aktivierung alternativer Möglichkeiten in der Lebensgestaltung, sei es für den/die Einzelne, eine Gruppe oder eine Nation. Paradox ist nun, dass dieser von Peter Bürger dem Avantgardismus unterstellte Wille der ‚Überführung von Kunst in Leben‘ zwar als gescheitert gelten muss – noch jede Avantgarde ist vom Kunstbetrieb früher oder später musealisiert worden –, dieser aber dennoch zum dominanten Modus avancierter Kunst geworden ist.4 Mehr denn je ist ‚Politik der Form‘ heute zu einem ‚Problem‘ der Kunst geworden: Symbolpolitik in der Kunst ist in einen unabschließbaren Zirkel der Reflexion eingetreten, in dem auch das Entlarven der Bildersturmstrategien der Avantgarden als ‚Große Erzählungen‘ ein Topos geworden ist. Nach wie vor herrscht aber keine besondere Klarheit darüber, auf welche Art und Weise symbolische Formen mit gesellschaftlichen Prozessen kommunizieren. 3 Vgl. z.B.: Groys, Boris: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München/Wien 2000. Auch wenn nach dem 11. September die Rückkehr des Realen in die Medienwelt dieser Art Medientheorie ein Ende zu setzen schien, spukt die Baudrillardsche Simulationsthese immer noch im Feuilleton herum. 4 Dies belegen auf der einen Seite Kunstgroßveranstaltungen wie die Documenta oder die Ars Electronica, aber auch bescheidenere Ansätze wie die von „Get to attack“, einer der vielen Kunstwiderstandsgruppen, die sich in Österreich als Folge der FPÖ/ÖVP-Koalition im Jahr 2000 gebildet haben: http://www.gettoattack.net/, 31.05.2003. Eine andere Form der „Überführung von Kunst in Leben“ wäre die Omnipräsenz von Design und Kunst in Wohnungen und Banken oder das Einsickern genuin avantgardistischer Formen in Genres wie das Musikvideo. Vgl. dazu auch den Beitrag von Gregor Schuhen in diesem Band.

ERZÄHLPOLITIK JENSEITS DES BILDERSTURMS

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Erzählungen – Subjekte – Geschichte Warum aber diese Verschiebung des analytischen Blicks weg von monumentalen Einzelbildern und deren Zerschlagung hin zu Erzählungen? Ich werde in der Folge einige Themen, die diese Hinwendung plausibel machen, einkreisen: Das Erzählen als Selbsttechnik und seine Relation zum Politischen, das Erzählerische und der Körper, große und kleine Erzählungen, das Subjekt der Erzählung und der/die Andere, Erzählung und Geschichtsschreibung. Begreifen wir die Konstitution von handlungsfähigen Subjekten, also von Subjekten, die an einer Gemeinschaft gestaltend teilhaben können als mediatisierten Prozess, in dem Macht verteilt wird, wird schnell klar, dass Handlungsfähigkeit niemals etwas sein kann, über das das Individuum vollständig verfügt (voluntaristischer Subjektbegriff). Vielmehr ist es dann erforderlich nach den ‚Skripten‘ für das individuelle Handeln zu suchen. In der Diskussion über das Fortwirken von symbolischen Formen in sozialen Praktiken nimmt deshalb das Erzählerische eine besondere Stellung ein, beinhalten Erzählungen doch genau solche ‚Skripten‘, die Handlungen mit Bedeutung versehen. Das Wiedererinnern und Nacherzählen gelebten Lebens scheint eine für die westliche Kultur sehr fundamentale Praxis zu sein, eine ‚Selbsttechnik‘, die Michel Foucault in seiner Hermeneutik des Subjekts5 an mehreren Stellen als eine Technik sowohl der ‚Sorge um sich‘ als auch der damit verbundenen Selbsterkenntnis ins Zentrum seiner Überlegungen rückt. ‚Selbsttechniken‘ beschreibt Foucault als notwendige Praktiken um das Individuum erkenntnis- und handlungsfähig zu machen, Praktiken, die am Überkreuzungspunkt des Politischen und des Persönlichen situiert sind. Er rekonstruiert die historische Genese der Techniken des Selbst materialreich von der Antike bis in die Neuzeit unter Bezugnahme einerseits auf Körpertechniken (Meditation, Atemtechnik, körperliche Ertüchtigung) und Beziehungsformen (Lehrer-Schüler-Dispositive, Freundschaften) aber auch auf Techniken des Wiedererinnerns und das damit verbundene, selbstreflexive Nacherzählen dessen, was das Individuum ‚getan‘ hat. Er zieht hierzu philosophische Texte aber auch Tagebuchaufzeichnungen und Briefe politischer und philosophischer Persönlichkeiten heran und weist auf das generative und schöpferische Moment des erzählerischen Nachvollzugs gelebten Lebens hin: Im Akt des Erinnerns und Beschreibens wird einerseits die Vergan5 Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège des France (1981/82), Frankfurt a.M. 2004.

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genheit des eigenen Handelns interpretierend herauspräpariert, gewertet, mit Sinn versehen, und es entstehen Muster für die Modellierung zukünftiger Handlungsweisen. Mit der Spaltung des Zeitlichen (es ist stets nur das Erzählen einer Vergangenheit, nie das der Gegenwart möglich) konstituiert sich das Subjekt als reflektierendes, erkenntnisfähiges und damit (gerade in der Antike) politisch handlungsfähiges Wesen. Der selbstschöpferische, der sprachliche Akt des Erzählens bleibt dabei aufs Engste sowohl mit körperlichen Selbsttechniken als auch mit der Sphäre der symbolischen Ordnung, der Werte, der Normen und Glaubensvorstellungen der Gemeinschaft verbunden. Die ‚Sorge um sich‘, diese Voraussetzung souveränen Handelns besteht jedoch niemals in der bloßen Anpassung an dem Subjekt externen Normen, sondern gerade in einer Distanzierung, in einem Rückzug von ihnen. Die feministische Erzähltheorie geht nun noch einen Schritt weiter, indem sie an zentraler Stelle die Frage nach der Konstruktion von Macht und Hierarchie im Erzählen stellt: So beschäftigen sich Lidia Curti6 und Adriana Cavarero7 ebenfalls damit, wie in erzählerischen Verfahren ein Subjekt entsteht. Cavarero geht dabei von der Konstruktion der antiken männlichen Helden der Antike aus und konzentriert sich auf jene Momente, in denen der (fiktive) Held (beispielsweise Odysseus) durch einen anderen mit seiner eigenen Erzählung konfrontiert wird. Es sind dies Momente der Selbsterkenntnis und der Subjektkonstitution, wie sie auch Foucault beschreibt. Wie Judith Butler in ihren letzten Büchern8 geht Cavarero davon aus, dass das Selbst erst durch die Ansprache durch eine/n Zweiten und das Erkennen der Fremdheit des eigenen Selbst (‚Ich‘ ist niemals ein authentisches, sondern immer auch du, wir, Gesellschaft) hergestellt wird. Im Gegensatz zu Foucault, der das Erinnern und Nacherzählen als funktionale Praxis der Erlangung von Souveränität beschreibt, steht bei Cavarero die Prekarität des Subjektstatus im Vordergrund, die Schwierigkeit, das Privileg Subjekt einer Erzählung zu werden, überhaupt zu erwerben, wie es sich für feministische Erzählerinnen stellt. Leitthemen der feministischen Erzähltheorie sind auch bei Curti: das Finden einer eigenen Stimme, die Suche nach einem angemessenen Ort des Erzählens, die Aneignung von Narrativen mit einem männlichen Helden, Probleme des Genres, Erzählperspektiven etc. Eine narratologi6 Curti, Lidia: Female Stories, Female Bodies. Narrative, Identity and Representation, New York 1998. 7 Cavarero, Adriana: Relating Narratives. Storytelling and Selfhood, London/New York 2000. 8 Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt. Adorno Vorlesungen 2002, Frankfurt a.M. 2003.

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sche Perspektive auf symbolische Konstellationen ist deshalb ergiebig für die kulturwissenschaftliche Analyse, weil Kategorien wie Geschlecht stets als relationale aufgefasst werden. Denn aus einer narratologischen Perspektive gewinnen die Aspekte einer Geschichte erst im Zusammenhang zum narrativen Ganzen und zu seinem Kontext Bedeutung: Erzählperspektive und –haltung, Figuren und Fabel können erst im Zusammenspiel diskursive Autorität erlangen, während die Einzelteile nicht auf bestimmte Bedeutungen festgelegt sind. Eine narratologische Analyse beschreibt Relationen: Die zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, den Grad an Mittelbarkeit im Erzählen, das Verhältnis des Erzählers/der Erzählerin zum Erzählten und zum/r impliziten und expliziten LeserIn. Selbst wenn von einer ‚weiblichen Erzählerstimme‘ die Rede ist, verweist dies nicht auf eine (biologisch) weibliche Autorin, sondern auf den Erzähler/die Erzählerin als eine Funktion des Textes, der/die via Textstrategie Autorität und Glaubwürdigkeit herstellt. Der erzählenden Stimme ein Geschlecht zuzuweisen nimmt auf Machtverhältnisse, Hierarchien und Geschlechterdifferenz Bezug, nicht aber notwendigerweise auf ein reales, biologisches Geschlecht des/der Schreibenden. Birgit Wagner hat die Ansätze und Verfahren der feministischen Erzähltheorie auf einige Beispiele der Geschichtsschreibung angewendet und dabei gezeigt, wie Autorität in historiographischen Erzählungen hergestellt wird.9 Und genau an den Autoritätseffekten des (wissenschaftlichen) Erzählens setzt auch Donna Haraways Erzählpolitik ein, die ich im Folgenden kurz umreißen möchte.

Die Cyborg und das situierte Wissen Haraway konzipierte ihre berühmte Cyborg als eine „Figur für Erzählmuster“10, als eine Figur, die die Dekonstruktion dominanter Erzählmuster der Moderne von der Avantgarde über die Geschichtsschreibung bis hin zum Fortschrittsmythos ermöglicht. Die Cyborg ist gleichzeitig selbst ein Mythos: ein Mythos der Selbstermächtigung weiblicher Subjekte jenseits biologistischer Geschlechtszuschreibungen (die Cyborg hat nichts authentisches, sie ist durch und durch gemacht) und er hat in diesem Sinn 9 Wagner, Birgit: „Kultur, Geschlecht, Erzählung“, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde, Sondernummer 2000, S. 8-13. 10 Ege, Barbara u.a.: „‚Wir sind immer mittendrin‘. Ein Interview mit Donna Haraway“, in: Haraway, Donna: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, hrsg. v. Carmen Hammer und Immanuel Stieß, Frankfurt a.M./New York 1995, S. 98-122, hier 114.

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ganz ausgezeichnet funktioniert: Das beweist seine Fruchtbarkeit für die feministische Theoriebildung und seine Aufnahme in künstlerische Diskurse und Praktiken. Was Haraway mit dem Cyborg-Manifest und in ihrem Text „Situiertes Wissen“ vorschlägt, ist eine produktive Strategie im Umgang mit hegemonialen Erzählungen.11 Dominante Erzählungen sind hier ähnlich zu verstehen, wie ein politisches Organisationsprinzip, das bei Gilles Deleuze und Felix Guattari ‚molare Segmentierung‘12 heißt. Sie konzipieren ‚molare‘ Politik als ein Organisieren und Stabilisieren der unzähligen Bruchlinien und Fluchtlinien, der ‚molekularen‘ Mikropolitiken, die Gesellschaften durchziehen. Das Entstehen von dominanten Erzählmustern kann somit als temporäre Schliessung oder Verhärtung von vielfältigen, kleinen Erzählungen verstanden werden. Haraways Forderung nach Vielzüngigkeit, Situierung und Partikularität im Kern ihres politischen Mythos ist gegen eine Symbolpolitik der unzulässigen Vereinheitlichung und Verallgemeinerung gerichtet. Die Cyborg ist eine ‚Große Erzählung‘ ohne Zentrum. Die avantgardistischen Manifeste, die Haraway hier kommentiert und umbaut, fallen samt und sonders durch eine eigenartige Zeitlichkeit auf: Sie suggerieren als ‚manifest‘, gegenwärtig und real, was die Antizipation einer entweder erwünschten (Utopie) oder unerwünschten (Dystopie) Zukunft ist. Manifeste erfinden politisch relevante und geschichtsmächtige Subjekte und sie sind performativ, sie intendieren ein direktes Übergreifen ästhetischer Strategien ins Politische.13 Die Wahl der Textsorte bei Haraway spiegelt und verdoppelt die Intention des Textes: Das avantgardistische Manifest (wie auch das kommunistische) ist eine deutlich männlich codierte Textsorte. Die Manifeste dienten der Selbstversicherung der männerbündischen frühen Avantgarden und Frauen fallen in ihnen meist als Abwesende auf. Im 1. Futuristischen Manifest (berüchtigt durch seine Parole von der ‚Verachtung der Frau‘) zeigt sich besonders deutlich, dass die Dichotomie von Weiblichkeit und Männlichkeit als 11 Haraway, Donna: „Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften“, in: ebd., S. 33-72; Haraway, Donna: „Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“, in: ebd., S. 73-97. 12 Deleuze/Guattari bezeichnen mit dem Begriffspaar molar und molekular zwei verschieden organisierte aber stets zusammenwirkende Politikformen, oder in ihrer Sprache „Gefüge“. Molare Gefüge entsprechen makropolitischen Formen, molekulare Gefüge mikropolitischen Prozessen. Vgl. Deeuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1997, S. 290ff. 13 Wagner, Birgit: Technik und Literatur im Zeitalter der Avantgarden. Ein Beitrag zur Geschichte des Imaginären, München 1996.

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kategoriale Ordnung den Gestus von Revolution und ‚Welterschaffung‘ von Grund auf strukturiert. Die Monstrosität des Weiblichen wird in einem anderen futuristischen Text mit Manifestcharakter (Tod dem Mondlicht) pejorativ als mit heroischer, phallischer Energie zu überwindende Allegorie bürgerlicher Schwäche präsentiert. Die Konstruktion der Frau als ‚das Andere‘ wird in den avantgardistischen Manifesten soweit auf die Spitze getrieben, dass sie „der Konstruktion einer männlichen sozialen Identität [diente], die sich auf Gruppenbildung, Aggression und die Verherrlichung des Mannes durch den Mann stützte.“14 Mit der Wahl des Genres ‚Manifest‘ wendet sich Haraway nun implizit gegen die, tendenziell essentialistische, écriture feminine (Cixous, Kristeva), die für eine positive Besetzung des aus der symbolischen Ordnung ausgeschlossenen Weiblichen als das Andere argumentierte. Weder der Eine noch die Andere zu sein, sondern mittels Hybridität und Uneindeutigkeit die gesellschaftliche Entwicklung zu dynamisieren, lautet vielmehr der Appell von Haraways Text. Die Verwendung der Textsorte setzt Haraways Forderung, sich männliche Technologien (auch ihre sprachlichen) anzueignen und sie für eine feministisch-emanzipative Politik umzuschmieden, performativ um. Das „Cyborg-Manifest“ versucht nichts Geringeres als Marx für den Feminismus neu zu schreiben und zwar mit den Schreibtechnologien der (männlichen) Avantgarden von Marinetti über Breton bis Guy Debord. Das Resultat dieses Umschmiedens der Manifesttechnologie – einer Meisterzählung der Moderne, die den Künstler-Propheten in der Rolle des Erneuerers, Umwerters aller Werte feierte – sollte aber nicht in eine neue ‚Große Erzählung‘ münden, sondern in viele: multivokale, Verbindungen ermöglichende, experimentelle, ‚affinitive‘ Erzählungen. Wesentlich für so eine Operation ist Haraways Umgang mit den für jede Erzählung konstituierenden Momenten ‚Ursprung‘ und ‚Erzählstimme‘. Utopie und Apokalypse, die die Manifeste der Moderne durchziehen, sind Narrative, die „die Bedeutung der Anfänge von der Warte eines mutmaßlichen Endes erkennen wollen“15, um am Ende der Geschichte 14 Valerio, William R.: „Frauenfeindliche Tendenzen im italienischen Futurismus – Der Mann als Betrachter im Bild“, in: Dreicher, Susanne (Hrsg.): Die weibliche und die männliche Linie. Das imaginäre Geschlecht der modernen Kunst von Klimt bis Mondrian, Berlin 1993, S. 183. 15 Nowotny, Helga: „Vom Schreiben, Erzählen und Wissen-Produzieren“, in: Fehr, Johannes/Grond, Walter (Hrsg.): Schreiben am Netz. Literatur im digitalen Zeitalter, Innsbruck 2003, S. 12-16, hier S 13. Vgl. auch: Derrida, Jacques: Apokalypse, Wien 2000. Derrida zeigt, dass die Rede vom Ende von einem Gestus des Entlarvens motiviert ist und von dem Anspruch darauf, das vollkommen Neue zu schaffen.

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über den Neuanfang zu wachen. Diesem Autoritätsgestus verweigert sich die Theoriefigur der Cyborg: Sie hat eine unsaubere, unklare Herkunft und sie weiß nicht, wo sie enden wird. Neben der Verweigerung einer linearen, eschatologischen Struktur ist das Cyborg-Manifest eine vielstimmige Erzählung. Haraways Text kann als ein Versuch gedeutet werden, das ‚Politik der Form‘-Argument der Avantgarden zu erneuern, dies aber unter anderen Vorzeichen: Gesellschaftliche Umgestaltung wird nicht mehr als ein linearer, totaler Bruch mit allem was war und ist imaginiert. Transformation der Gesellschaft heißt hier vielmehr Mitgestaltung: mit uneindeutigen, verzweigten Leidensformen und Ungerechtigkeiten zu Rande zu kommen, neue Verbindungen und Koalitionen zu bilden, dabei aber den persönlichen, privaten, episodenhaften Erzählungen von Menschen und Dingen Respekt zu zollen. Dem modernen Gestus der Kritik und der Entlarvung als Distanz schaffender Bewegung wird eine Politik der Verbundenheit entgegengesetzt. Und genau hier trifft sich Haraway mit Latours Projekt, die Gemachtheit von Bildern, von wissenschaftlichen Objekten, die ganze Dichte des Herstellungsprozesses von kulturellen Artefakten zu zeigen, um die Vielfalt von Wahrheit und Erkenntnis gegen naive Objektivitäts-Ideologie zu setzen. Haraway hat in den letzten Jahren mit der „Cyborg“, mit „Modest_ Witness@Second_Millennium“, mit „FemaleMan©“ und „OncoMouseTM“16 eine Reihe ‚symbolischer Fiktionen‘ (Jacques Lacan), eine Reihe von Metaphern hergestellt, eine Serie von materiell-semiotischen Akteuren be- und erschrieben. Ihre Post-Gender-Figuren sind aber weniger ein Beschreibungsmodus einer Welt ohne Gender – im Gegenteil: Haraway thematisiert Ungerechtigkeit und Zwangscharakter einer zweigeschlechtlich organisierten Gesellschaftsordnung permanent – vielmehr besteht ihre Taktik darin, die großen Gründungserzählungen der westlichen Welt (Zweigeschlechtlichkeit, wissenschaftlich-technischer Fortschritt) narrativ zu unterlaufen. Sie bereitete damit eine Gender-Konzeption vor, die inzwischen als ‚konstruktiver Realismus‘17 diskutiert wird. Das Konzept antwortet auf das Dilemma feministischer Theorie, wie über reale Unterschiede zwischen Männern und Frauen gesprochen werden kann, wenn davon ausgegangen wird, dass dieser Unterschied selbst der Effekt einer zweigeschlechtlich organisierten symbolischen Ordnung ist, die in sozialen Praktiken und Sprachhandlungen fortgeschrieben wird 16 Haraway, Donna: Modest_Witness@Second_Millennium. FemaleMan©_ Meets_Oncomouse™: Feminism and Technoscience, New York 1997. 17 Vgl. Nikoleyczik, Katrin u.a.: „Differences without a cause. Constructive realism as a feminist approach to Geschlecht in computer and natural sciences“, o.O. 2004, unveröffentl. Dokument, S. 31.

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und nicht auf einen außerhalb der ‚Willkür des Sozialen‘ (Pierre Bourdieu) liegenden Grund zurückgeführt werden kann. Die Erzählfiguren Haraways sind nun so gebaut, dass sie bei der Diskussion der ewiggleichen Gegensatzpaare kommonsensualer Begründungserzählungen (Natur-Kultur, biologisch-sozial, sprachlich-materiell) sich weder der einen noch der anderen Seite zuschlagen lassen, sondern konsequent in einer Mittelstellung verbleiben und auf die dynamische Verflochtenheit von Sprache und Materialität, Natur und Kultur sowie des Biologischen und des Sozialen verweisen. Die Texte von Haraway sind Utopien in dem Sinn, dass sie die Kontingenz des Realen zum Anlass nehmen, dessen Faktizität (Leiden, Freuden, Unterdrückung) zu thematisieren, die Grauzone aus Realem und Fiktiven – also den Bereich des Möglichen aber nicht Notwendigen – zum (politischen) Aktionsraum machen. Gleichzeitig brechen die Texte mit einigen Momenten des Genres: mit seiner Heilsperspektive, mit der avantgardistischen Autorenrolle und dem Erkenntnisprivileg einer bestimmten Gruppe. Haraways Ansatz ähnelt der Strategie symbolischer Subversion, die Roland Barthes im Umgang mit Erzählungen favorisiert: Kritik an Erzählungen ist deshalb notwendig, weil sie Diskurslogiken in eine temporale Abfolge transformieren. Sie ‚naturalisieren‘ so einerseits kulturelle Codes, eröffnen durch ihre sprachliche Mehrfachcodierung aber auch Räume für Reinterpretationen und Resignifikation. Mit Roland Barthes gesprochen: Die Narration grenzt immer an die Welt, „in der die Erzählung zerfällt“18. Barthes Kritik an den Erzählungen der bürgerlichen und der Massenkultur, auf die ich hier zurückgreife, ist eine allgemeine Kritik an der Ordnungsfunktion der Erzählung. Er wirft dem bürgerlichen Roman und den Massenmedien vor, eine Abneigung dagegen zu haben, ihre Codes zur Schau zu stellen, also ihre Gemachtheit zu verleugnen. Sie würden damit die Erzählung ihres Freiheitsmoments berauben, nämlich ihrer Fähigkeit reflexiv, kritisch und produktiv gegenüber verallgemeinerter symbolischer Ordnungen zu sein. Selber Mythen zu erfinden zählt zu jenen Doppelstrategien, in denen auch Barthes die emanzipatorische und produktive Kraft von Erzählungen gesehen hat, wenn er schreibt: Möglicherweise bringen die Menschen ihre Erfahrungen und Erlebnisse ständig von neuem in die Erzählung ein, und zwar in der

18 Barthes, Roland: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a.M. 1988, S. 131.

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Die Erzählung beinhaltet zwar alle Codes des Diskurses und seine Taxonomien, ist aber gleichzeitig ‚Welterfindung‘, indem sie eine unendliche Vielzahl an Neukombinationen erzählerischer Elemente zulässt und die Ordnung des Diskurses durchschlägt oder durchlöchert. Ein narratologisch inspirierter Feminismus hätte dann die Aufgabe, einerseits die Naturalisierung von kulturellen Codes, wie sie der bürgerliche Roman oder die apokalyptisch-ödipale Science Fiction betreiben, zu kritisieren, in der gleichen Bewegung aber Erzählungen aufzufinden und zu erfinden, die eine Neuordnung denkbar machen. Es ist dies der von Barthes so genannte ‚zweite Mythos‘, der die Naivität des ersten Mythos und seine Tendenz zur Naturalisierung des Kulturellen erkennt und damit überschreitet: Die beste Waffe gegen den Mythos ist in Wirklichkeit vielleicht, ihn selbst zu mythifizieren, das heißt, einen künstlichen Mythos zu schaffen. Dieser konstruierte Mythos würde eine wahre Mythologie sein.20

Symbolpolitik nicht als Zerstörung symbolischer Ordnungen wie im Bildersturm, sondern als ein Überschreiben, Weiterschreiben, Umschreiben wirkungsvoller Erzählungen. Meine Lektürevariante fasst das „Manifest für Cyborgs“ als Vorschlag für eine feministische Erzähltheorie und Erzählpolitik auf, die nicht primär als eine Politik der Metapher, des Einzelbildes, der ‚Großen Erzählungen‘ angelegt ist, sondern als eine Politik der Mikroerzählungen, der Miniaturen, der Kontexte; eine Politik, die ihre Aufmerksamkeit auf die Ränder und Rahmungen von starken Bildern richtet. Auf die Frage nach dem Verhältnis von symbolischen Formen zu individuellen wie kollektiven Lebensrealitäten wird damit eine produktive Antwort formuliert, die ein ganzes Bündel von Dimensionen der Vergesellschaftung und deren Verankerung im ganz Persönlichen beschreibt, aber auch Ansatzpunkte zur Transformation sozio-kultureller Verhältnisse beinhaltet. Erzählen heißt im Sinne Haraways immer auch intervenieren. Bleibt die entscheidende Frage, ob so eine Symbolpolitik erfolgreich sein kann, in einer medialen Situation, im Kontext einer Aufmerksamkeitsökonomie, die angesichts der schieren Menge an Erzählungen 19 Ebd., S. 136. 20 Ebd., S. 121.

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das Bedürfnis nach Überschaubarkeit aufkommen lässt. Wenn Narrationen nur dann gesellschaftlich wirksam werden können, wenn sie in Alltagserfahrungen und in Gruppenidentitäten einen Echoraum finden, stellt sich noch radikaler die Frage, ob eine Symbolpolitik, die auf Affinitäten, Mehrstimmigkeiten, aleatorische Verknüpfungen, Mikroerzählungen, Experimente und Vieldeutigkeiten setzt, der Rhetorik der ‚Super-Retter‘ (wie Haraway die damals und heute gebräuchliche politische Rhetorik bezeichnet) etwas entgegensetzen kann. Ich möchte zum Abschluss zwei Beispiele aus der Kunst, die einen solchen Weg der subtilen Umformung und Reinterpretation von ‚Großen Erzählungen‘ gehen, vorstellen: Die Musikerin Laurie Anderson und die Installationen von Yinka Shonibare.

Die Science Fiction des Yinka Shonibare Dem in London geborenen und lebenden, nigerianische Künstler Yinka Shonibare geht es explizit um eine ‚Politik der Form‘: „In meiner Arbeit geht es im Grunde nicht um die Darstellung von Politik, sondern um die Politik der Darstellung.“21 Seine Werke sind stets witzige Bezugnahmen auf Ikonen der Kulturgeschichte und/oder populäre Ikonographien. Zum Beispiel inszeniert The Swing (after Fragonard) (2001) das Bild Les hasards heureux de l’escarpolette des französischen Malers Jean-Honoré Fragonard von 1776. Die Zweidimensionalität der koketten Idylle Fragonards wird in die Dreidimensionalität einer Skulptur überführt und auch sonst wird die Ikonographie angereichert und mit zusätzlicher Bedeutung gefüllt: Die schaukelnde Adelige wird geköpft (eine Anspielung auf die französische Revolution) und ihr im Original pfirsichfarbenes Rüschenkleid ist, wie oft bei Shonibare aus ‚afrikanischen‘ Stoffen genäht. Auf den ersten Blick liegt ein kluger Kommentar auf das Verhältnis von westlicher Kultur und Kolonialismus vor, auf den zweiten Blick erweist sich die Verwendung der ‚afrikanischen‘ Wachsdruck-Stoffe aber als abgründiger: Die Wachsdruck-Stoffe, die in der Alltagswahrnehmung Afrika zugeordnet werden, stammen keineswegs aus Afrika, sondern aus den Niederlanden und wurden von dort aus erst nach Afrika exportiert. Die Stoffe sind also nicht ‚authentisch afrikanisch‘ sondern ein Re-Import und stehen damit für eine ganz bestimmte, kolonialistische Form des Handels zwischen Afrika und Europa. Shonibare thematisiert damit kul21 Zitiert nach: Ehgartner, Claudia u.a.: Ausstellungsbegleiter: Yinka Shonibare, Ausstellungskatalog, Kunsthalle Wien, 2004, o.S.

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turelle Aneignung in ihrer ganzen politischen und historischen Tiefe und Tragik. In den Photoserie Dorian Gray (2001) und Diary of a Victorian Dandy (1998) kommt zur kolonialen Perspektive (Shonibare präsentiert sich als afrikanischer Dandy in den Salons des 19. Jahrhunderts) eine Gender-Perpektive hinzu: Die Verwendung des Dandies als Protagonist ist wie die Verwendung pseudo-afrikanischer Stoffmuster eine in sich gefaltete Erzählstrategie, steht der Dandy doch bereits im 18. Jahrhundert für jemanden, der sich die Regeln der Oberschicht aneignet und mit ihnen spielt ohne deren rechtschaffenes Leben zu führen und für das Überschreiten heterosexueller Normierungen. Diese Bedeutung wird hier noch einmal und mit Hilfe eines zusätzlichen Codierungs-Systems – der Selbstreflexion des euro-afrikanischen Künstlers, der den Dandy ‚spielt‘ – überschrieben. Eine der dichtesten Installationen von Shonibare ist Space Walk (2002): Sie zeigt zwei Astronauten, die mit ihrem proportional verkleinerten (an Comics erinnernden) Raumschiff im Weltraum schweben. Shonibare greift damit ein Bild auf, das nach wie vor für militärische Potenz, für Fortschritt und Eroberung steht: Einmal durch den erneuten Einsatz der Wachsdruck-Stoffe für die Raumanzüge der Astronauten: Die (imaginierten) High Tech-Materialien mit afrikanischen Mustern erzeugen unmittelbar Irritation, wird Afrika doch immer noch mit ‚Rückschrittlichkeit‘ assoziiert; dann durch die Benennung des Raumschiffes mit ‚Martin Luther King‘. Shonibare greift damit einen in der schwarzen Populärkultur ausgeprägten Erzählstrang, den Afrofuturismus, auf. Es handelt sich dabei um die Idee, dass die ehemaligen afrikanischen Sklaven in Wirklichkeit eine außerirdische Elite seien, die früher oder später mit ihrem Raumschiff der Erde entkommen würden. Musiker wie Sun Ra (der stets als ägyptischer Außerirdischer die Bühne betrat), George Clinton oder noch in den 1980er Jahren die Jackson Five (mit dem Song und dem Video Can You feel it) konstruierten ein Imaginarium, das das entfremdete Dasein innerhalb der weißen Kultur als im wörtlichen Sinn Alien-Dasein begriff und das bis heute in die – auch weiße – Populärkultur hineinwirkt. Fortschrittserzählung, Kolonialismus und Befreiungsutopien sind hier geschickt in ein einziges Bild integriert, das unmittelbar zu einer Irritation von Sehgewohnheiten führt. Das bekannte Bild von den Astronauten im Weltraum wird nicht zerschlagen, dekonstruiert und kritisiert sondern sorgfältig ‚umgestellt‘. Es ist Science Fiction im besten Sinn:

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Science-fiction, diese Formation ist wie alle anderen Diskurse vom Anderen (hétérologies) dort am Werk, wo wissenschaftliche Diskurse und Alltagssprache sich überschneiden, auch dort, wo sich die Vergangenheit mit der Gegenwart vermählt und wo die Fragen, die sich nicht technisch behandeln lassen, in der Form narrativer Metaphern wiederkehren.22

Laurie Anderson: Avantgarde des technologischen Backlashs Laurie Anderson, die sich schrittweise von einer ausgeprägten Avantgardistin zur Geschichtenerzählerin gewandelt hat, die sich selbst als die „Avantgarde des technologischen Backlashs“23 bezeichnet, ist die zweite, die ich hier als ‚Erzählpolitikerin‘ vorstellen möchte. Sie beschäftigte sich in den 1980er und 1990er Jahren äußerst produktiv und differenziert mit den Affinitäten von künstlerischen und technischen Avantgarden. Schon auf ihrem 1982 veröffentlichten Album mit dem programmatischen Titel Big Science, das heroische Weltrettungsphantasmen („Oh Superman“) ebenso verarbeitet wie das potentiell katastrophische Moment von Technologien („From the Air“), sind Reflexionen über Technik, Sprache und Politik verquickt. Einige Geschichten von ihrem Album The Ugly One with the Jewels and other Stories (1995) führen die ganze Tragik der Verbindung von künstlerischen und technokratischen Interessen im 20. Jahrhundert vor. Während des ersten Golfkrieges, im zunehmend paranoiden Klima, wird Anderson regelmäßig wegen ihrer zum Teil selbstgebauten, elektronischen Instrumente vom Sicherheitsdienst untersucht: And I was carrying a lot of electronics so I had to keep unpacking everything and plugging it in and demonstrating how it all worked. So I’ve done quite a few of these sorts of impromptu new music concerts for small groups of detectives and customs agents. I’d have to set all of this stuff up and they’d listen for awhile and then say ,So what's this?‘ and I’d pull out something like (VOICE ELECTRONICALLY DROPS ONE OCTAVE) this filter and it would take me a while to tell them how I used it for songs that were about various forms of control and they would say: Now why would you want to talk like that? And I looked around at the swat teams and undercover agents and dogs and the radio turned to the Superbowl coverage of the war and I’d say, take a wild guess. 22 de Certeau, Michel: Theoretische Fiktionen. Geschichte und Psychoanalyse, Wien 1997, S. 79. 23 Holthouse, David: „Strange Angel. Laurie Anderson breaks her own rules – again“, auf: http://www.tweak.com/phonetag/anderson/, 12.08.2004.

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Der Hinweis auf einen möglichen Schulterschluss avantgardistischer Kunstpraxis mit Militär und Politik muss also nicht notwendig auf das Beispiel der Futuristen hinauslaufen. Die ganz ‚normale‘ Praxis avantgardistischer Kunstproduktion macht diese von denselben Produktionsmitteln abhängig. Kritik an den Machteffekten von Technologien paart sich hier mit der Reflexion künstlerischer Praktiken. Diese stehen auf dem gleichen Album noch einmal im Zentrum, als Anderson als ‚cultural ambassador‘ von einem israelischen General zum Bombentest in eine Parkgarage entführt wird, weil ihre Bühnentechnik seiner Meinung nach zu wenig eindrucksvoll ist. Laurie Andersons Antwort auf die unauflösliche Verbindung zwischen Kunstproduktion und Kriegstechnik ist die Suche nach einer angemessenen Form des Sprechens darüber: Waren anfangs ihre Themen die ‚Großen Erzählungen‘ der Technikgeschichte und der Avantgarden, wurden daraus mehr und mehr Sammlungen von ‚kleinen‘ Erzählungen: Episoden mit persönlicher Färbung, die eine Standortbestimmung versuchen und die großen Narrationen aus Technik, Wissenschaft, Religion und Politik konterkarieren. Mythen werden, metaphorisch gesprochen, mit dem Kleinen, Ephemeren, Schwachen neu verdrahtet. Als Leitfigur treten immer wieder Engel auf. Es sind jene Engel, die auch Walter Benjamins Theoretisierung der Moderne leiteten. Folgende Textzeilen stammen aus dem Song „The dream before (for Walter Benjamin)“ vom Album Strange Angels (1989): She said: What is history? And he said: History is an angel being blown backwards into the future He said: History is a pile of debris And the angel wants to go back and fix things To repair the things that have been broken But there is a storm blowing from paradise And the storm keeps blowing the angel backwards into the future And this storm, this storm is called progress

Diese Engel sind jedoch keine esoterischen Gestalten, sondern sie sind materiell-semiotische Akteure, die dabei helfen können, das Verhältnis von Geschichte, Avantgarde und Moderne, von Subjektstatus, Handlungsfähigkeit und Erzählung als ein dynamisches und produktives aber stets gefährdetes zu begreifen. Ich möchte mit dieser Denkfigur schliessen, die auch Bruno Latour für Iconoclash heraufbeschworen und mit der Geste der ‚Zerschlagung‘ eng geführt hat: „It [die Ausstellung, K.H.] prays for an angel to come and arrest our sacrificial arm holding the

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sacrificial knife ready to cut the sacrificial lamb’s throat.“24 Diese Engel passen gut in Donna Haraways Menagerie eigenartiger Hybridwesen, zu ihrer (häretisch-katholischen) Sensibilität für die Materialität semiotischer Vorgänge. Eine Menagerie „where the literal and the figurative, the factual and the narrative, the scientific and the religious and the literary, are always imploded“.25 Die Engel sind aber vor allem aufgrund ihrer großen Zahl sowie ihrer Vielgestaltigkeit und ihrer Funktion als Übersetzer und Vermittler für eine Erzählpolitik wertvoll. Manchmal ist das Überschreiben und Neucodieren freilich als Politikform nicht möglich, denn es ist eine sehr langsame Technologie. Dann ist es notwendig, etwas mit großer Geste zu zerschlagen, aber nicht, um die Gemachtheit des Zerschlagenen zu entlarven, sondern um bewusst etwas anders Gemachtes an seine Stelle zu setzen. Und ganz nebenbei: Engel sind paradoxerweise wohl die ältesten Post-Gender-Wesen überhaupt.

24 Latour (wie Anm. 1), S. 15. 25 Haraway, Donna: How Like A Leaf. An Interview with Thyrza Nichols Goodeve, London/New York 1998, S. 141.

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PORNOGRAPHISCHE SZENARIEN IN JARRYS SURMÂLE UND MARINETTIS MAFARKA Das Sprechen über Pornographie, aktuell insbesondere über Frauenpornographie1, ist derzeit wieder einmal in aller Munde, angestoßen durch einen Boom französischsprachiger Bücher und Filme auf dem europäischen Markt. DIE NEUE LUST DER FRAUEN, wie es in einer gleichnamigen Fernsehdokumentation des NDR von Sylvia Nagel2 kürzlich hieß, repräsentieren autobiographische Bekenntnisse im Stile von La vie sexuelle de Catherine M. der Kunstkritikerin Catherine Millet, Putain – zu Deutsch: Hure – der Frankokanadierin Nelly Arcan (beide 2001) oder L’inceste (1999) – Inzest – von Christine Angot: allesamt Romane, die binnen kürzester Zeit zu Bestsellern avancierten und eine Welle ins Rollen brachten, in deren Fahrwasser die ‚erotischen Lebensbeichten‘ immer jüngerer Frauen mitschwimmen und, einer Flut gleich, auch den deutschen Buchmarkt überschwemmen.3 Virginie Despentes und Catherine Breillat, zwei Autorinnen, die zugleich als Regisseurinnen arbeiten, gerieten mit ihren ein (freilich in unterschiedlichem Maße) aggressives weibliches Begehren thematisierenden Filmen BAISE-MOI (F 2000) – FICK MICH! – und ROMANCE (F 1998)4 unlängst ins Kreuzfeuer einer konsternierten bis

1 So der Titel eines Buches der Kulturwissenschaftlerin Corinna Rückert (erschienen Frankfurt a.M. u.a. 2000). 2 DIE NEUE LUST DER FRAUEN (D 2003, Regie: Sylvia Nagel, Dokumentarfilm, 60 min.), Erstausstrahlung am 10.07.2003 anlässlich eines Themenabends „Wenn Frauen Tabus sprengen“ bei arte, weiterer Sendetermin: 16.09.2003 im NDR-Fernsehen. 3 In diesem Zusammenhang wären zu nennen die beiden unter Pseudonym veröffentlichten sexuellen Initiationsberichte der 20-jährigen Pariser Studentin Sarah, J’ai joui (2002; dt. Ich bin gekommen) und des frühreifen sizilianischen Mädchens Melissa P., 100 colpi di spazzola prima di andare a dormire (2003; dt. u.d.T. Mit geschlossenen Augen). 4 Dazu Felten, Uta: „‚Juste du désir cru…‘ Bühnen der Ars erotica. Zur Theatralisierung der Heilsgeschichte in Catherine Breillats Film ROMANCE“, in: Lommel, Michael/Maurer Queipo, Isabel/Rißler-Pipka, Nanette (Hrsg.):

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schockierten Öffentlichkeit. Ich möchte auf jene seit einigen Jahren zu registrierenden Tendenzen hier jedoch nicht näher eingehen und einstweilen lediglich das Folgende festhalten: Das Wort Porno-Graphie – seiner griechischen Etymologie gemäß also das ‚Huren-Schreiben‘ nach dem Muster antiker Hetärenbiographien – kann zweierlei bedeuten: einmal das Schreiben über und einmal ein Schreiben von so genannte(n) ‚Huren‘. Steht die Jahrtausendwende im Zeichen vermehrter medialisierter Äußerungen einer „pornographische[n] Phantasie“5 von Frauen, so ließ sich um 1900 eine militante Junggesellenmythologie verzeichnen, die nicht selten ebenso Züge des Pornographischen annehmen konnte – in Alfred Jarrys Roman Le Surmâle (Der Übermann) aus dem Jahre 1902 etwa oder aber, mindestens gleichermaßen dezidiert, auch in Filippo Tommaso Marinettis 1909/10 nahezu parallel in französischer und italienischer Sprache erschienenem „roman africain“ Mafarka le futuriste, dem laut Götz Müller „sicherlich […] entschiedenste[n] Werk des europäischen Machismo.“6 Pornographie hat demnach eine Geschichte – trotz ihres scheinbar triebgesteuerten, schier endlos repetierten Rekurrierens auf wenig variationsreiche Stellungsbilder austauschbarer Körperformationen. Seit ihrer ‚Erfindung‘ als Teil des gegen die Autoritäten von Kirche und Staat gerichteten Emanzipationsdiskurses der Moderne7 „markiert sie“, so Barbara Vinken, „den neuralgischen Punkt, wo dieser an seine Grenze stößt“8 und in sein Gegenteil umschlägt. Denn konstituiert sich die pornographische Rede erst eigentlich über ihre Zensur, so bringt sie – weit davon entfernt, ein neutrales Sprechen zu sein – als effet de réel, ‚Realitätseffekt‘ im Sinne Roland Barthes’, zugleich den Geschlechtskörper hervor, der öffentlich agierende Frauen kategorisch in Huren verwandelt und dem männlichen Lustempfinden, einem allzu simplen Strickmuster folgend, nichts als konditionierte, quasi-automatische Reaktionen auf vorgegebene Reize unterstellt. Die unablässige Produktion

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Theater und Schaulust im aktuellen Film, (Medienumbrüche 1), Bielefeld 2004, S. 157-165. Sontag, Susan: „Die pornographische Phantasie“, in: dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Reinbek bei Hamburg 1968, S. 39-71. Müller, Götz: Gegenwelten. Die Utopie in der deutschen Literatur, Stuttgart 1989, Kap. „Der Umbau des Menschen: Marinettis ‚Mafarka le Futuriste‘“, S. 197. Vgl. dazu Hunt, Lynn (Hrsg.): Die Erfindung der Pornographie. Obszönität und die Ursprünge der Moderne [1993], Frankfurt a.M. 1994. Vinken, Barbara: „Cover up – Die nackte Wahrheit der Pornographie“, in: dies. (Hrsg.): Die nackte Wahrheit. Zur Pornographie und zur Rolle des Obszönen in der Gegenwart, München 1997, S. 8.

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von Pornographie dient somit der Bekräftigung von Geschlechtermythen, die in ihren grellen Bildern wiederholt aufgerufen und authentifiziert werden. Verdeckt wird dabei die Herkunft des pornographischen Szenarios aus dem Illusionismus fiktiver Arrangements. Pornographie inszeniert stets aufs Neue den von Michel Foucault in seiner Histoire de la sexualité analysierten Nexus von Sexualität und Macht;9 statt diesen zu unterlaufen, wie sie zu behaupten scheint, bestätigt sie fortwährend jene Verquickung von Dominanz und Begehren. Im mechanisch ablaufenden Triebgeschehen, das einem vermeintlichen Diktat der Natur folgt, in ihrer ungeschminkten Darbietung also ‚nackter Tatsachen‘, agiert die Pornographie Phantasmen buchstäblich aus und verkauft sie für bare Münze. Keine Frage: Pornographie polarisiert. An ihr scheiden sich die Geister: Ist sie Kunst oder Kommerz, verfährt sie kritisch oder affirmativ, als Vehikel zur Befreiung aus sexueller Repression oder, im Gegenteil, zu deren Perpetuierung? Die – ob positive oder negative – Einstellung zu pornographischen Formen der Darstellung kommt einem Glaubensbekenntnis gleich: Wer nicht für sie ist, ist gegen sie.10 Jenseits begeisterter Akklamation der Pornographie als libertine Freiheitsutopie einerseits und moralischer Entrüstung über ihre Sittenwidrigkeit andererseits hat zuerst Susan Sontag Ende der 1960er Jahre die pornographische Literatur anhand ästhetischer Kriterien untersucht und bewertet. Seit Entstehung der Neuen Frauenbewegung hat es indes immer wieder Versuche und Kampagnen gegeben, die darauf abzielten, eine staatliche Anti-Porno-Gesetzgebung zu erwirken – so in den USA unter der Ägide Andrea Dworkins und Catharine MacKinnons oder in Deutschland Mitte der 1980er Jahre auf Initiative der von Alice Schwarzer geführten Zeitschrift EMMA. Beide Interventionen gingen, im Interesse der Wahrung weiblicher Würde, von einem zumindest fragwürdigen Verständnis männlicher Sexualität aus, fällt doch dieser in Dworkins Buch Pornographie. Männer beherrschen Frauen11 von 1979 „die Gesamtschuld an der menschlichen Katastrophengeschichte zu“,12 trifft sie mithin der Generalverdacht pornographischer Orientierung. Im Gefolge 9 Vgl. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1 [1976], Frankfurt a.M. 1977. 10 Vgl. schon Sontag (wie Anm. 5), S. 40; dazu auch Bovenschen, Silvia: „Auf falsche Fragen gibt es keine richtigen Antworten. Anmerkungen zur Pornographie-Kampagne“, in: Vinken, Barbara (Hrsg.): Die nackte Wahrheit. Zur Pornographie und zur Rolle des Obszönen in der Gegenwart, München 1997, bes. S. 59. 11 Dworkin, Andrea: Pornographie. Männer beherrschen Frauen [1979], Frankfurt a.M. 1990. 12 Bovenschen (wie Anm. 10), S. 55.

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Dworkins fürchtet auch Alice Schwarzer eine „Pornographisierung der gesamten Sexualität“, einhergehend mit dem „Versuch einer Verhurung aller Frauen.“13 Während Dworkins pauschal ablehnende Haltung gegenüber pornographischen Erzeugnissen jedweder Art noch einer strikt mimetischen Auffassung der Pornographie als bloßer Widerspiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse und Realitäten geschuldet war, ist es das Verdienst Susanne Kappelers, die feministische Rede über Pornographie auf die Ebene der pornographischen Repräsentation gehoben zu haben.14 Dennoch bleibt ihre politisch korrekte Rhetorikkritik bei grobschlächtig auf die beiden Geschlechter verteilten Subjekt- und Objekt- bzw. Täter- und Opferpositionen stehen. Bei MacKinnon schließlich hat sich die Ausgangsthese von Dworkin in ihr Gegenteil verkehrt: Pornographie spiegele die soziale Wirklichkeit nicht wider; vielmehr schaffe sie diese im Sinne eines performativen Sprechakts, indem sie kraft Äußerung vollziehe, was sie benenne.15 An diesem Punkt setzt die Kritik von Judith Butler an, auf die ich an späterer Stelle noch zurückkommen werde. Ohne Zweifel stehen sowohl Kunst als auch Pornographie innerhalb einer Repräsentationsordnung der Schaulust – jener concupiscentia oculorum,16 als deren Nebenprodukt und Allegorie das pornographische Begehren, einer These Gertrud Kochs zufolge, zumal seit der Implementierung des visuellen Massenmediums Kino gelten kann. War bereits die pornographische Literatur, wie Walter Benjamin konstatierte, an die Expressivität der Schriftsprache gebunden, so verstärkten die bewegten Bilder auf der Leinwand dieses Ausdrucksmoment noch, insofern ihre sinnliche Wahrnehmung imstande war, ähnlich ‚bewegte‘ somatische Reaktionen auszulösen. Die Pornographie erschließt sich daher im Zusammenhang mit Modernisierungsschüben, die das Sehen vor allen anderen Sinnen privilegierten und die Welt optisch organisierten17 – dies erklärt 13 Schwarzer, Alice: „Vorwort“, in: Dworkin, Andrea: Pornographie. Männer beherrschen Frauen [1979], Frankfurt a.M. 1990, S. 11. 14 Vgl. Kappeler, Susanne: Pornographie – Die Macht der Darstellung [1986], München 1988. 15 Vgl. MacKinnon, Catharine: Nur Worte [1993], Frankfurt a.M. 1994, S. 26: „Pornographie macht die Welt […] zu einem pornographischen Ort“. 16 Vgl. hierzu auch Roloff, Volker: „Anmerkungen zum Begriff der Schaulust“, in: Hartl, Lydia/Hoffmann, Yasmin/Hülk, Walburga/ders. (Hrsg.): Die Ästhetik des Voyeur / L’Esthétique du voyeur, Heidelberg 2003, S. 2631, hier: S. 27. 17 Vgl. Koch, Gertrud: „Netzhautsex – Sehen als Akt“, in: Vinken, Barbara (Hrsg.): Die nackte Wahrheit. Zur Pornographie und zur Rolle des Obszönen in der Gegenwart, München 1997, S. 114-128.

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auch, dass pornographische Blickmuster in der Regel nur die Außenperspektive auf das gleichsam maschinelle Agieren der Körper gestatten und innere Vorgänge im Seelenleben der Akteure unausgeleuchtet lassen. Jeder Versuch also, ‚hohe‘ Kunst von ‚niederem‘ pornographischen Schund abzugrenzen, lässt Pornographie als das Ausgegrenzte der Kunst erst hervortreten,18 ist doch „[d]as Obszöne […] der Teil, der sich einer Visualisierung entzieht, deren Rahmen sprengt und durch seine Abwesenheit die Repräsentation strukturiert.“19 Einen historischen Einschnitt bilden dabei, wie schon erwähnt, das Aufkommen und die Verbreitung technischer Medien wie Photographie und Film, welche die vervielfältigten Bild-Produkte der pornographischen Phantasie einem Massenpublikum außerhalb der Museen zugänglich machten. Eine Station innerhalb der Geschichte pornographischer Phantasmagorien, ihrer imaginären Lösungen also, möchte ich hier näher beleuchten. Gemeint sind die beiden zuvor bereits angesprochenen exemplarischen Äußerungen einer „autistische[n] Sexualphantasie“20 selbsternannter ‚Supermänner‘ zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die sich auch und nicht zuletzt als pornographisch zu bezeichnender Darstellungsmittel bedienen: Jarrys Surmâle nämlich und Marinettis Mafarka. Der so betitelte „Moderne Roman“ Jarrys wird, sozusagen in medias res, eröffnet mit einer Bemerkung des Protagonisten André Marcueil, anhand derer sich in der Folge die Romanhandlung im wahrsten Sinne des Wortes ent-spinnt: „L’amour est un acte sans importance, puisqu’on peut le faire indéfiniment.“ („Die Liebe ist ein belangloser Akt, da man ihn beliebig oft wiederholen kann.“)21 Dieser Satz, in geselliger Runde vom Titelhelden vergleichsweise unmotiviert in die Diskussion geworfen, umreißt gleichsam dessen Lebensmotto – trägt er doch sein Herz nicht am rechten Fleck, sondern vielmehr in der Hose und sieht daher im Geschlechtsakt nichts als Bedürfnisverrichtung. Hauptakteur ist 18 Vgl. Schade, Sigrid: „Das Fest der Martern. Zur Ikonographie von Pornographie in der bildenden Kunst“, in: Rick, Karin/Treudl, Sylvia (Hrsg.): Frauen – Gewalt – Pornographie. Dokumentation zum Symposion, Wien 1989, S. 10. 19 Hentschel, Linda: Pornotopische Techniken des Betrachtens. Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne, Marburg 2001, S. 51. 20 Szeemann, Harald, in: Reck, Hans Ulrich/ders. (Hrsg.): Junggesellenmaschinen [1975]. Erweiterte Neuausgabe, Wien/New York 1999, S. 10. 21 Zitiert wird fortan im laufenden Text als: S unter Angabe der Seitenzahl nach der Ausgabe Jarry, Alfred: Le Surmâle [1902], Paris 1979, hier S. 11 sowie nach der deutschen Übersetzung: Der Übermann. Moderner Roman, Frankfurt a.M. 1987, hier S. 5.

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demzufolge denn auch nicht Marcueil als Ganzer, der als von eher unscheinbarer Statur und schwächlicher Konstitution beschrieben wird, sondern sein – wenngleich missgestaltetes, so doch übergroßes – Genital, das unermüdlich nach immer neuen Betätigungsfeldern drängt. Marcueils sexuelles Begehren funktioniert folglich, in den – freilich in anderem Zusammenhang verwendeten – Worten Barbara Vinkens, „nach dem Modell des Pawlowschen Hundes: […] Kommt ihm die Natur, dann wächst ihm der Schwanz über den Kopf“,22 und er fickt, so muss man sagen, in geradezu behavioristischer Manier wie am Fließband ausnahmslos alles, was sich ihm in den Weg stellt, mitunter auch Zufallsopfer wie die Scharen kleiner Mädchen, die er auf dem Gelände seines Landsitzes Lurance bei Paris überfällt und zu Tode vergewaltigt. „Alle sexuelle Macht geht vom Penis aus“,23 schreibt Andrea Dworkin, und Jarrys Text scheint diese Tatsachenbehauptung zunächst unbestreitbar zu stützen. Doch verbirgt sich hinter der offenbar permanent gebotenen Triebabfuhr nicht noch etwas anderes? Deutet die hier zu diagnostizierende unausgesetzte Selbst-Vergewisserung des Phallus nicht vielmehr auf eine tief sitzende Furcht hin, der eigenen Männlichkeit beraubt zu werden, sowie auf den steten Versuch, diese zu bewältigen? „Pornographie“, so erneut Barbara Vinken, „exponiert […] Kastrationsangst. Sie ist Symptom dieser Angst und Verleugnung der Spaltung im Subjekt.“24 Die in pornographischen Szenarien geläufige geschlechtsspezifische Besetzung der Täter-Opfer-Rollen erscheint dadurch verunsichert; die Geschlechterstereotype für Männlichkeit – störungsfreies Funktionieren unter allen nur denkbaren Umständen – bekommt Risse, ihre Umsetzung in die Tat geht fehl, auch und sogar weil sie sich in Gestalt des Maschinen-Mannes Marcueil vehement und bis zum Überdruss zu behaupten sucht. Jarrys Roman könnte daher mit Judith Butler wie die Pornographie überhaupt als „der Text der Unwirklichkeit des Geschlechts“25 qualifiziert werden: In seinem auf Wiederherstellung einer aus den Fugen geratenen Geschlechterordnung angelegten klischeehaften Überzeichnen männlicher Potenz bildet er die zeitgenössische Realität der Geschlechterverhältnisse gerade nicht ab, sondern verweist im Gegenteil auf die Nicht-Realisierbarkeit der Normsetzungen als Bedingung und Reiz pornographischen Allegorisierens, auf die Inkommensurabilität 22 23 24 25

Vinken (wie Anm. 8), S. 11. Dworkin (wie Anm. 11), S. 34. Vinken (wie Anm. 8), S. 15. Butler, Judith: „Schmährede“, in: ebd., S. 111. Vgl., in anderer Übersetzung, auch dies.: Haß spricht. Zur Politik des Performativen [1997], Berlin 1998, S. 101.

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der Maßgaben geschlechtlicher Identität und deren sozialer Praxis.26 Le Surmâle bestätigt demnach einmal mehr, was, folgt man Linda Hentschel, als zentrales Charakteristikum pornographischer Inszenierungen zu gelten hat – diese nämlich „spielen immer wieder angsterfüllt ihre eigene Unrealisierbarkeit durch.“27 Ausgehend vom oben zitierten Auftakt des Romans, schickt Marcueil sich mit heimlicher Unterstützung Ellen Elsons, der Tochter seines Freundes William, einem verwitweten amerikanischen Chemiker, an, sämtliche in der pornographischen Literatur seit der Antike überlieferten sexuellen Rekorde zu brechen. Um die befreundeten Wissenschaftler – neben William Elson auch den Ingenieur, Elektrotechniker, Automobilund Luftschiffkonstrukteur Arthur Gough sowie den Doktor Bathybius – von der Unerschöpflichkeit seiner Manneskraft zu überzeugen, arrangiert er eine Versuchsanordnung, bestehend aus den beiden maskierten Hauptakteuren, sieben Reserve-Huren und einem Guckkasten, durch den die Szenerie wie in einer Peep-Show verfolgt und empirisch ausgewertet werden kann. Und in der Tat: Marcueil, der zuvor auf dem Jahrmarkt mit einem einzigen Faustschlag einen Kräftemesser erledigt und beim fünftägigen Zehntausendmeilenrennen von Paris nach Wladiwostok und retour, auf dem Fahrrad sitzend, nonchalant einen Hochgeschwindigkeitszug mit immerhin über 300 Stundenkilometern überrundet hatte, gelingt es darüber hinaus, unter dem tosenden Applaus der anwesenden Zeugen innerhalb von nur 24 Stunden mühelos stolze 82mal Ellen zu beschlafen. An ihre natürliche Grenze gelangt seine unermessliche Leistungsfähigkeit allein dadurch, dass Ellen nach erfolgreich absolviertem Liebesmarathon plötzlich verstirbt. Ihr Tod korrespondiert „der ultimativen logischen Möglichkeit von Pornographie […]: der Vernichtung des Körpers […] im Namen des Begehrens.“ In dieser Konsequenz führt Ellens Sterben die „letztendliche reductio ad absurdum der Pornographie“28 vor. Als doppelt absurd erweist sie sich in Jarrys Roman, als sich im nachhinein herausstellt, dass der Tod von Marcueils Sexpartnerin nur scheinbar eingetreten ist, denn, so versichert der Text mit einem Augenzwinkern, das all sein Wuchern mit männlicher Kraftmeierei ironisch bricht: „Frauen sterben nie an derlei Abenteuern.“ (S, 181) Ellens vermeintlicher Tod diente einzig dazu, Marcueil endlich in Rührung zu versetzen und in ihm ein erstes Aufkeimen zärtlicher Gefühle zu wecken, die in das Verfassen 26 Vgl. im Ansatz schon Sontag (wie Anm. 5), S. 48. 27 Hentschel (wie Anm. 19), S. 73. 28 Hunt, Lynn: „Obszönität und die Ursprünge der Moderne (1599-1800)“, in: Hunt, Lynn (Hrsg.): Die Erfindung der Pornographie. Obszönität und die Ursprünge der Moderne [1993], Frankfurt a.M. 1994, S. 32.

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eines Liebesgedichts auf die in seinen Augen Tote mündeten: Nur über ihre Leiche – um mit Elisabeth Bronfen zu sprechen – wird er zum sentimentalen Poeten. Erst angesichts der in scheinbarer Leichenstarre Verharrenden kann sich sein nekrophiles Liebesbegehren entfalten. Es gehört zu den parodistischen Finessen des Romans, offen zu legen, dass Marcueils vor Kraft strotzende Phantasien sich mit seiner eher bescheidenen Realität mitnichten decken: Seine physischen Höchstleistungen vollbringt er an keiner Stelle in personam, sondern stets als Phantom oder in Verkleidung, wodurch seine Prahlerei „einen Beigeschmack jämmerlicher Ironie“ („une signification d’ironie lamentable“) erhält. Marcueil ne savait assurément pas ce qu’il disait, car on ne lui connaissait pas de maîtresse, et il était supposable que l’état de sa santé lui interdisait l’amour. (S, 12) Marcueil hatte sicherlich keine Ahnung, wovon er sprach, denn man wußte von keiner Geliebten bei ihm, und es war zu vermuten, daß sein Gesundheitszustand ihm die Liebe untersagte. (Dt., 7f.)

Ein moderner Münchhausen, inspiriert durch die Unsinnswissenschaft der Pataphysik, stellt Der Übermann die Ebene des fiktiven Realismus als Illusion aus. Konventionelle Pornographie vermeidet dies, sodass deren Funktionsweise hiermit denunziert werden kann. Indem der Roman herkömmliche Opferdiskurse zitiert, verschiebt er sie zugleich. Dies entspricht der These Drucilla Cornells in Bezug auf Pornoproduktionen von Frauen,29 lässt sich mit gleichem Recht aber auch schon auf Jarrys Text applizieren. Überdies kann eine Bedrohung durch die Übermacht weiblicher Sexualität konstatiert werden, die unter Aufbietung immenser männlicher Kraftreserven abgewehrt werden soll: Im Durchspielen aller erdenklichen erotischen Pikanterien zeigt sich unversehens stets erneut, dass die Frau über eine selbst dem Mann, der immer kann, überlegene Orgasmusfähigkeit verfügt und seiner schließlich gar nicht mehr bedarf – so toppt Ellen noch die phantastische Rekordmarke von 82 Ejakulationen pro Tag, und die einander überlassenen sieben Prostituierten vertreiben sich die Zeit, solange sie unter sich sind, in der Selbstgenügsamkeit einer lesbischen Orgie. Am Ende ist es konsequenterweise auch nicht die Frau, die stirbt, sondern der sexbesessene, jedoch liebesunfähige Marcueil wird per Dynamo an eine dem soeben in New York erstmals zum Einsatz gebrachten elektrischen Stuhl nachempfundene so genannte „Liebesinspiriermaschine“ angeschlossen und verendet elendiglich bei dem Versuch, sich aus ihrem eisernen Griff zu befreien. Zum Gedenken an seinen 29 Vgl. Cornell, Drucilla: Die Versuchung der Pornographie, Berlin 1995.

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christlich konnotierten Märtyrertod bewahrt Ellen, die nun einen anderen heiratet, eine Träne aus dem geschmolzenen Metall seiner Platinkrone. Einen etwas anders gelagerten Fall stellt Marinettis Mafarka dar. Auch dieser Text beginnt mit einem überaus schlagkräftigen Einsatz, namentlich der Massenvergewaltigung einer unüberschaubaren Zahl schwarzer weiblicher Kriegsgefangener in einem Heerlager. Die Szenerie gibt sich, hierin Jarrys Gucklochanordnung ähnelnd, unbestreitbar pornographisch, stellt sie doch den voyeuristischen Blick des Betrachters mit aus, und dies durchaus genüsslich: Mafarka, der siegreiche Held, überschaut das wüste Spektakel, zu Pferde sitzend, von einer Anhöhe aus. Für Sigrid Schade indizieren derartige Sehmuster Pornographie, da in der nicht-pornographischen Kunst der Betrachterblick gemeinhin verhüllt bleibe.30 Mit Schade möchte ich daher an dieser Stelle Hanno Ehrlicher widersprechen, der in seinen Ausführungen zu Mafarka im Rahmen einer Fußnote anmerkt, Obszönität sei als Beschreibungskategorie für den Roman „angemessener als die des ‚Pornographischen‘.“31 Zwar verletzt Mafarka – wie es für das Obszöne postuliert worden ist – unbestritten absichtsvoll Schamgrenzen und ist auf Skandal aus, jedoch ausdrücklich indem er sich pornographischer Darstellungsweisen bedient. Einem ersten Eindruck folgend, scheint also auch auf dieses Arrangement der kurzsichtige Biologismus Dworkins zuzutreffen, liest sich die von Marinetti weidlich ausgeschlachtete, bis zum Exzess getriebene Gewaltorgie wie eine Literarisierung von deren im Sinne einer höheren Wahrheit verkündeter Äußerung: „Terror strahlt aus vom Mann, Terror erleuchtet sein Wesen, Terror ist sein Lebenszweck.“32 In Akten der Grausamkeit, so Dworkin weiter, feiere sich die „erotische Dreifaltigkeit des Mannes – Sexualität, Gewalt, Tod“.33 Dieses Klischee überbordender Virilität bedient gerade der Futurismus, jene „misogynste aller Avantgarden“,34 nur allzu bereitwillig: In seinem ersten Manifest, das 1909 zugleich Geburtsstunde und Gründungsakt der historischen Avantgarden überhaupt setzte, war er, getreu der Wortbedeutung von ‚Avant-Garde‘, als militärische Vorhut der Massen mit Pauken und Trompeten über Europa hinweggefegt, hatte lautstark und programmatisch den Krieg angepriesen und alles Weibliche der 30 Vgl. Schade (wie Anm. 18), S. 11. 31 Ehrlicher, Hanno: Die Kunst der Zerstörung. Gewaltphantasien und Manifestationspraktiken europäischer Avantgarden, Berlin 2001, S. 101, hier Anm. 35. 32 Dworkin (wie Anm. 11), S. 24. 33 Ebd., S. 41. 34 Ehrlicher (wie Anm. 31), S. 145.

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Verachtung anheim gelegt.35 Sein hervorstechendster Gestus war es zu provozieren, und so nimmt es kaum wunder, dass auch das erste Kapitel des Romans Mafarka, „Le Viol des Négresses“/„Die Vergewaltigung der Negerinnen“, zündenden Sprengstoff enthielt, der es zum Gegenstand mehrerer Sittlichkeitsprozesse sowohl in Italien als auch Frankreich werden ließ. Wenn diese Möglichkeit nicht sogar von Marinetti bereits im Vorfeld einkalkuliert worden war, wusste er sie in jedem Fall unter marketingstrategischen Aspekten geschickt für seine im Entstehen begriffene futuristische Bruderschaft auszunutzen: Die einzelnen Gerichtsverhandlungen gerieten zu veritablen Schauprozessen, anlässlich derer Marinetti seine Gesinnungstreuen zum geschlossenen Aufmarsch mobilisierte, sodass ein Termin schließlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden musste. An den Mailänder Freispruch soll sich, schenkt man hauseigenen futuristischen Quellen Glauben, ein wahrer Triumphzug durch die Straßen der Stadt angeschlossen haben. Wie kein zweiter buchstabiert Mafarka also offensichtlich das „Phantasma des Klartexts“36 aus, das nach Vinken Charakteristikum aller Pornographie ist. Allerdings bedient sich Marinettis antibürgerlicher Impuls im Roman bei näherem Hinsehen der Pornographie nicht um ihrer selbst, sondern um ihrer Abweisung willen: Er zeigt gewissermaßen mit dem Finger auf sie, um sie anschließend zu brandmarken – freilich nicht, wie das bigotte Bürgertum in seiner viktorianischen Doppelmoral, der Anstößigkeit oder Unzüchtigkeit,37 sondern ihres Hangens am Weibe. So brüllt Mafarka angesichts der brutalen Vergewaltigungsszene seinen in Aktion begriffenen Kampfeskumpanen entgegen, sie gebärdeten sich wie feige Hunde oder ‚elende Sklaven der Vulva‘, die es mit einem richtigen Mann wie ihm nicht aufnehmen könnten. Seinen Männern, die sich auf der formlosen Masse schwarzer Frauenleiber sportlich austoben, hält er gleichsam den Imperativ: „Make war, not love“38 vor, denn deren Ver35 „[Z]ur Performativität von gender in der medialen Vermittlung“ am Beispiel der futuristischen Manifeste Valentine de Saint-Points, Marinettis und anderer vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Tanja Schwan in: Erstić, Marijana/Schuhen, Gregor/dies. (Hrsg.): Avantgarde – Medien – Performativität. Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts, (Medienumbrüche 7), Bielefeld 2005, S. 259-298. 36 Vinken (wie Anm. 8), S. 14. 37 Vgl. zur Pornographie als Nachtseite der Aufklärung Koschorke, Albrecht: „Die zwei Körper der Frau“, in: Vinken, Barbara (Hrsg.) Die nackte Wahrheit. Zur Pornographie und zur Rolle des Obszönen in der Gegenwart, München 1997, S. 66-91. 38 Vinken, Barbara: „Make war not love: Pulp Fiction oder Marinettis Mafarka“, in: Asholt, Wolfgang/Fähnders, Walter (Hrsg.), Der Blick vom Wolken-

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ausgabung auf dem Schlachtfeld der Liebe schwäche unweigerlich ihre vitalen Lebensenergien im Kampf. War die pornographische Literatur seit de Sade im Einklang mit der materialistischen Philosophie eines La Mettrie angetreten, der Kopflastigkeit des aufgeklärten Individuums ein Ende zu bereiten und proklamierte sie in dieser Absicht die Austauschbarkeit der Körper im ablaufenden Automatismus der Positionen, so scheint Marinetti am alten cartesianischen Leib-Seele-Dualismus festzuhalten – mehr noch: ihn auf die Spitze zu treiben und zu verabsolutieren. Denn als äußerster Gegensatz hebt sich vom pornographisch inszenierten Eingangskapitel der Höhepunkt und Schluss des Romans ab, kulminierend in der Geisteszeugung Mafarkas, der mit dem Flugmenschen Gazurmah einen Sohn gebiert, welcher sich alsbald über ihn erheben und ihn das Leben kosten wird. Anfang und Ende des Textes lassen sich mithin als kontrapunktische Entgegen-Setzungen lesen: hier das zu Verabschiedende, ‚Passatistische‘, dort die futuristische Quasi-Religion der Zukunft, deren Wegbereiter und erster Jünger auf Erden der sozusagen im Kindbett sich opfernde Mafarka ist. Gazurmah indes überschreitet die Grenzen des Humanen, kennt weder Schlaf noch Seele, noch erinnert er seine Herkunft aus dem Kopf des zum Sterben verurteilten Vaters. Trotz oder gerade wegen seiner Geburt aus reiner Geistesanstrengung ist er ganz (Maschinen-)Körper, Kampfautomat. Durch seine blindwütige Ausrottung alles Weiblichen überwindet er gleichsam auf einen Streich Geschlechterdifferenz, sexuelle Reproduktion und Tod – er sei, so heißt es, „frei von allen Makeln, die von der unheilbringenden Vulva kommen und zu Verfall und Tod verurteilen“ („pur de toutes les tares qui viennent de la vulve maléficiante et qui prédisposent à la décrépitude et à la mort“).39 Allerdings bleibt die hier ausphantasierte Identität ohne jede Differenz phantasmagorisch; bei aller Grandiosität des Entwurfs erschöpft sie sich in leeren Gesten der Selbstaffirmation. Ebenso wie das kriegsverherrlichende erste futuristische Manifest den Kampf als Gnadenzustand der Entdifferenzierung in männerbündischer Gemeinschaftsutopie begrüßt hatte, dabei jedoch im kratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung, Amsterdam/Atlanta, GA 2000, S. 183-203. 39 Marinetti, F.-T.: Mafarka le futuriste [1909]. Préface de Gérard-Georges Lemaire, Paris 1984, S. 214. Deutsche Übersetzung von Michael von Killisch-Horn und Janina Knab: Mafarka der Futurist. Afrikanischer Roman, hrsg. v. Michael Farin und Hansgeorg Schmidt-Bergmann, München 2004, S. 159. – Im Folgenden zitiert als: M, jeweils unter Angabe der entsprechenden Seitenzahlen im Fließtext.

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gleichen Atemzug die ‚Verachtung des Weibes‘ ausrufen musste, kommt Marinettis Apotheose der Virilität auch in Mafarka nicht ohne Rekurs auf Frau und Sexualität als Negativfolien aus. Dieses Muster des Auslöschens und Durchstreichens der die Errichtung eindeutig männlicher Identität störenden Gegenkategorien wiederholt sich auch in den Binnengeschichten des Romans immer wieder erneut – etwa, wenn Mafarka in Kapitel V, „Le Ventre de la Baleine“/ „Der Bauch des Wals“ anlässlich der Feier seines Sieges in zotig aufgeheizter Stimmung die schönen Tänzerinnen Libahbane und Babilli kurzerhand den Haifischen zum Fraß vorwirft, nachdem sie ihn im Dunkeln – allein dem, wie es heißt, untrüglichen Instinkt ihrer Geschlechtsorgane folgend (vgl. M, 121; dt. 89) – zum stärksten Mann im Saal erwählt und mit ihren erotischen Offerten gereizt hatten. Im Tode gebannt endlich können die beiden das lockende Gift ihrer Sinnlichkeit nicht länger ausströmen und unter die Festgesellschaft versprühen. Blick und Stimme der Frau ertöten, um nicht selbst getötet zu werden – diese mörderische Absicht ist es, die hinter Mafarkas Handeln steckt, und er verhehlt sie nicht: Tout le poison de l’enfer est dans vos regards, et la salive sur vos lèvres a des reflets qui tuent… oui, qui tuent aussi bien et mieux que des poignards! […] je veux qu’on les jette dans l’aquarium, ces filles dont le regard décompose mon sang! (M, 122) Das ganze Gift der Hölle ist in euren Blicken, und der Speichel auf euren Lippen hat einen tödlichen Schimmer …ja, sie töten ebenso so gut und besser als Dolche! […] Ich will, dass man sie ins Aquarium wirft, diese Mädchen, deren Blick mein Blut zersetzt! (Dt. 90)

Der Dolch seinerseits ist Emblem und Attribut des Männlichen, wie sich in einer anderen Episode zeigt. Als sämtliche Jungfrauen der Stadt Tellel-Kibir sich in Kapitel IV „Le Prix de la Victoire“/„Der Siegespreis“ ihrem Eroberer Mafarka demütig und gar mit Freuden zum Gebrauch anbieten, reagiert er darauf in ähnlicher Weise wie Jarrys „Übermann“, dessen Weg, wie wir uns erinnern, ebenfalls weibliche Leichen pflasterten. Ich zitiere an dieser Stelle etwas ausführlicher die Reflexionen, in denen Mafarka sich ergeht: Oh! je sais bien alors me mettre à l’œuvre, frottant bien fort entre les cuisses des femmes et frappant dans leur trou joli, pour tuer à grands coups de ma verge la chatte irritée qui s’étire, miaule, bâille, se lèche le poil et brûle de son haleine tous les alentours! […] Mais vous serez malheureuses après! Car ce que je goûte le plus en vous c’est le désir de vous tuer! Que pouvez-vous demander à un poignard vivant tel que je suis? […] c’est écrit que vous serez

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déchirées par la rudesse de ma force, écorchées et défoncées comme autant d’ornières par la roue dentée de feu de ma luxure égoïste et rapace!… (M, 103) Oh! Ich weiß genau, wie ich vorgehen muß, nämlich heftig reiben zwischen den Schenkeln der Frauen und in ihr hübsches Loch hämmern, um mit kräftigen Stößen meines Schwanzes das gereizte Kätzchen zu töten, das sich streckt, miaut, gähnt, sein Fell leckt und mit seinem Atem alles ringsum verbrennt! […] Aber hinterher werdet ihr unglücklich sein! Denn was ich an euch am meisten schätze, ist der Wunsch, euch zu töten! Was könnt ihr von einem lebendigen Dolch, wie ich einer bin, verlangen? […] es steht geschrieben, daß ihr von der Rohheit meiner Kraft zerfetzt, wie Spurrillen vom feurigen Zahnrad meiner egoistischen und gierigen Wollust gehäutet und zerfleischt werdet! … (Dt., 75)

In Kapitel VIII „Les Hypogées“/„Die Hypogäen“ muss Mafarka sich vor seiner um den verstorbenen jüngeren Bruder Magamal trauernden Mutter Langurama rechtfertigen, indem er ihr als Ersatz für den verlorenen Sohn seine unsterbliche Geistesgeburt ankündigt, mit der er bereits schwanger geht. Obwohl er im daran sich anschließenden „Discours futuriste“ des neunten Kapitels beinahe obsessiv behauptet, er werde dieser Fleisch gewordenen Materialisation seiner Gedanken seinen Willlen gänzlich aus eigener Kraft einhauchen, ohne jedes Zutun der stinkenden weiblichen Vulva, stimmt dies nicht ganz, wenn man bedenkt, welche Wutausbrüche er später aufbieten muss, um Colubbi, die ihn heimsuchende Geliebte der Jugendjahre, die zur unerwünschten Zeugin seiner Geburtswehen wird, davonzujagen: Va-t’en loin d’ici, avec ton troupeau mangeur de sexes pourris!… Je ne te permettrai pas de voir mon fils! Il est à moi tout seul! […] je ne t’ai pas appelée pour m’aider!… Je ne t’ai pas couchée sur le dos pour pousser, avec des frottements de plaisir, dans tes ovaires, la semence divine!… Elle est encore là, dans mon cœur, dans mon cerveau! Il faut que je sois seul pour donner le jour à mon fils!… Va-t’en! Je ne veux pas que tu salisses de tes yeux sa jeunesse impétueuse!… Va-t’en!… Couvre-toi la face… Et ne te déshabille pas! Cache-moi ta gorge!… (M, 209) Geh weit weg mit deiner Herde, die verfaulte Geschlechtsteile frißt! … Ich werde dir nicht erlauben, meinen Sohn zu sehen! Er gehört mir ganz allein! […] ich habe dich nicht gerufen, damit du mir hilfst! … Ich habe dich nicht auf den Rücken gelegt, um unter lustvollem Reiben den göttlichen Samen in deine Eierstöcke zu spritzen! … Er ist noch immer da, in meinem Herzen, in meinem Hirn! Ich muß allein sein, um meinen Sohn zur Welt zu bringen! … Fort mit dir! Ich will nicht, daß du mit deinen Augen seine ungestüme Jugend beschmutzt! … Verschwinde! … Bedecke dein

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TANJA SCHWAN Gesicht … Und zieh dich nicht aus! Verstecke deine Brust vor mir! … (Dt., 156)

Als er sich mit Worten nicht mehr zu helfen weiß, wirft Mafarka mit Steinen nach ihr – auch dies jedoch ohne Erfolg, denn zu seinem namenlosen Entsetzen sieht er bald darauf Colubbi, die die Mutterschaft über den von ihm eifersüchtig gehüteten Gazurmah beansprucht, in wollüstigen Verrenkungen sich auf dem Rücken wälzend und dem eigenen Sohn sich anbietend. Mafarka ist gegenüber dem Geschehen, das ihn wie eine Ohrfeige trifft, machtlos: Würde er die Eindringlin töten, so würde sie doch im Herzen des gemeinsamen Sohnes zu neuem Leben erwachen. Unterdessen überlebt sie, wenn auch nur um Weniges, sogar Gazurmahs Vatermord, bevor sie selbst der Zerstörungswut des Sohnes zum Opfer fällt. Im Rahmen des pygmalionischen Schöpfungsaktes war der lebensspendende Kuss erst in Anwesenheit und auf Geheiß Languramas erfolgt. Und wenngleich das Auslaufmodell Mensch, der Logik des Textes folgend, an seiner Sinneslust zugrunde gegangen ist, gibt sich selbst noch der den Roman abschließende Flug Gazurmahs zur Sonne als Entjungferung der Winde und bleibt somit angewiesen auf sexuelle Metaphern. Allgegenwärtig bleibt auch der Penis, um dessen Status und Bedeutung der Text – und dies weist ihn erneut als einen pornographischen aus – unaufhörlich kreist und in sich selbst zirkuliert. Richten sich doch alle seine Anstrengungen darauf, das männliche Geschlechtsorgan mit dem Phallus als erstem Signifikanten zur Deckung zu bringen: Der Autor Marinetti, ein nach eigener Einschätzung „,super-potenter, futuristischer Genius-Penis der italienischen Rasse‘“,40 erschafft seinen Helden Mafarka, der ein überdimensioniertes Glied sein eigen nennt und der wiederum Gazurmah schafft und mit einem Geschlechtsteil aus Bronze begabt, das sich auf Ansprache aufrichtet wie ein Schwert. Dem Einsetzen der Handlung in Mafarka vorgeschaltet ist ein Appell zur Verbrüderung an die futuristischen Gesinnungsgenossen im Geiste, die als geistige Brandstifter apostrophiert werden: Es sind die erwählten „Grands poètes incendiaires! Ô mes frères futuristes!“ (M, 15), an die der Roman adressiert ist und die hier auch namentlich angesprochen werden. Die unverhohlene Kehrseite dieser Männerkumpanei bildet von Anfang an die Stoßrichtung des Textes gegen die mit dem Weiblichen assoziierte Tyrannei der Liebe, deren prokreative Potenz man(n) sich aneignen will:

40 Zitiert nach Vinken (wie Anm. 38), S. 186.

JARRYS SURMÂLE UND MARINETTIS MAFARKA

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Vous résignez-vous donc à demeurer […] les fils misérables de la vulve? […] Je vous annonce que l’esprit de l’homme est un ovaire inexercé… C’est nous qui le fécondons pour la première fois! (M, 17) Bescheidet ihr euch also damit, […] die armseligen Söhne der Vulva zu sein? […] Ich verkündige euch, daß der Geist des Menschen ein ungeübtes Ovarium ist … Und wir werden es zum ersten Mal befruchten! (Dt., 10)

An die Stelle der natürlichen Reproduktionsfähigkeit des Menschen wird die technische Reproduzierbarkeit der Maschine treten. So steht Marinettis Mafarka am Anfang einer Entwicklung, die Technikpotentiale für eine Grenzverflüssigung des Geschlechtlichen produktiv werden zu lassen versucht. *** Beide von mir analysierten Texte lassen sich – nach der Definition von Harald Szeemann – als Konstruktionsprozesse von Junggesellenmaschinen lesen. Im radikal illusionistischen Medium der Junggesellenmaschine verweist die Kunst auf sich selbst. Als komplexe, Hirngespinsten entsprungene Vorstellungsbilder bilden sie Bestandteile eines „Museums der Obsessionen“,41 die Liebe in einen Todesmechanismus umwandeln. Entsprechend ihrer Aufspaltung in eine mechanische und eine sexuelle Komponente, entlarven sie die hypostasierte Ganzheit des Konstrukteurs als eine bloß imaginäre: So sehr dieser auch ostentativ darauf verzichten mag, sein absorbiertes Anderes – Gott, die Frau oder jedwede Differenz – zu benennen, bleibt ihr verborgener Antrieb doch eben jenes „mit grosser Präzision Verdrängte“,42 vom Selbst, das mit sich eins und ungeteilt sein will, Abgeschiedene. An ihren Bruchstellen nur wird das Eliminierte offenbar. Dies lassen sowohl im Falle von Jarrys Surmâle als auch von Marinettis Mafarka insbesondere die pornographischen Szenarien erkennen. So paradox es für ein Phänomen, das angesiedelt ist an der Schnittstelle von Sexualität und Macht, auch klingen mag, wurde und wird der Pornographie bisweilen doch ein Potential zur Überwindung geschlechtlicher Differenzen zugeschrieben. Lynn Hunt hat diesen ketzerischen Gedanken wie folgt ausformuliert: „Wenn alle Körper austauschbar waren – eine geläufige Trope der pornographischen Literatur –, dann hätten sozi41 Szeemann (wie Anm. 20), S. 3. 42 Certeau, Michel de: „Sterbekünste. Anti-mystisches Schreiben“, in: ebd., S. 142-157, hier S. 156.

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ale und Geschlechtsunterschiede keine Bedeutung mehr.“43 Wenn alle Körper zu Maschinen werden – so ließe sich in Analogie dazu abschließend fragen – dann erst recht?

43 Hunt (wie Anm. 7), S. 39.

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ANEIGNUNG UND PERFORMANZ. GESCHLECHT ALS MYTHOS DER WEIBLICHEN AVANTGARDE AM BEISPIEL VON IDA RUBINSTEIN, ELSA VON FREYTAG-LORINGHOVEN UND CLAUDE CAHUN Für Françoise Rétif Elle n’est jamais si bien chez elle que dans l’imaginaire1

Das Geschlecht der Avantgarde Seitens der feministischen Literaturwissenschaft sind modernistische Avantgarden2 häufig als männlich denunziert worden, sei es, weil Frauen

1 Leperlier, François: Claude Cahun. L’écart et la métamorphose, Paris 1992, S. 58. 2 Damit sind die „klassischen historischen Avantgarden“ gemeint, die Karlheinz Barck von den „epigonalen Neo-Avantgarden“ der 1950er Jahre trennt. Vgl. Barck, Karlheinz: „Avantgarde“, in: ders. u.a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2000, S. 559ff. Als „Inbegriff nachaufklärerischer Bewegungsbegriffe“ (ebd., S. 545) bezeichnet der Terminus jene Kunstrichtungen, die unter dem Kuratell des Innovationskriteriums ins Dilemma der Originalität, d.h. der Gefahr permanenter Selbstaufhebung, geraten sind und daher ein paradoxes Verhältnis zur Zeitlichkeit unterhalten, etwa in Form einer fuite en avant (Jean-François Lyotard) oder eines return from the future (Hal Foster). Der Gegensatzbildung zwischen sozialer und ästhetischer Modernisierung (Peter Bürger) stehen Thesen von der Ankunft einer posthistoire gegenüber. Die Rhetorik ästhetischer ‚Brüche‘ hat nur zu einer Vervielfältigung des Paradigmas geführt. Vgl. Asholt, Wolfgang/Fähnders, Walter (Hrsg.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung, Amsterdam/Atlanta 2000, S. 14ff. Der Beschleunigungserfahrung wie der ‚unreinen‘ Begriffsüberschneidung begegnet Hans Ulrich Gumbrecht mit seiner Konzeption von „Kaskaden der

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bloß Opfer oder Nachahmerinnen radikaler Neuerungen gewesen seien, sei es, weil diese innovatorischen Brüche selbst bereits als eine ‚maskulinistische‘ Reaktion auf die Emergenz weiblicher Autorschaft3 zu betrachten wären. Schon gegen die erste These wandte die Kunstgeschichtlerin Rosalind Krauss ein, dass Künstlerinnen wie Dora Maar Geschlechtsvorgaben subvertiert hätten.4 Obwohl ihre Fotomontagen die visuellen Tropen der Surrealisten aufgriffen, stellten sie deren Rhetorik gleichzeitig in Frage, wenn z.B. Frauenbeine wie die Glieder einer Gottesanbeterin angeordnet seien und ein solches categorical blurring Sexualität mit Tod assoziiere. Zeigt sich im anderen Weiblichen aber nicht bloß die Männerfantasie eines weiblichen Anderen? Dora Maars vor kurzem erst wiederentdeckter Zeitgenossin Claude Cahun wird zugestanden, sich mit ihrem persönlichen Bildarsenal nicht nur als eigenständiges weibliches Subjekt erfunden, sondern darüber hinaus bereits den konstitutiven Konstruktcharakter jedweder Identität erkannt zu haben. Einer ihrer inzwischen viel zitierten Aphorismen lautet: „Sous ce masque un autre. [...] Je n’en finirai pas de soulever tous ces visages.“5 Mit der Annahme, Cahun habe dekonstruktives Denken gleichsam avant la lettre praktiziert,6 nimmt man allerdings auch eine geschichtsphilosophische Orientierung in Kauf. Die Außenseiterin gehörte dann zur künstlerischen Vorhut heutiger Geschlechterforschung, deren theoretische Diskurse sie im Medium des Visuellen antizipiert hätte.7 Doch kann sich eine denotativ unterbestimmte, konnotativ aber überdeterminierte ‚Bild(er)sprache‘, die ja der Funktion der Negation weitgehend entbehrt, überhaupt selbst beschreiben oder gar decodieren? Inwiefern wären Cahuns irritierende Experimente der Demontage und Recollage idiosynkratisch gebrochener Geschlechterstereotype als kritisch oder ironisch zu verstehen? Die Selektion und Kombination zeitgenössischer Klischees und individueller

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Modernisierung“, in: Weiß, Johannes (Hrsg.): Mehrdeutigkeiten der Moderne, Kassel 1998, S. 18ff. Gilbert, Sandra/Gubert, Susan: „Tradition und das weibliche Talent“, in: Nölle-Fischer, Karen (Hrsg.): Mit verschärftem Blick. Feministische Literaturkritik, München 1987, S. 250ff. Krauss, Rosalind: Bachelors, Cambridge/Mass./London 1999, S. 18. Zitiert nach Leperlier (wie Anm. 1), S. 111. Krauss (wie Anm. 4), S. 37. Cahun „prefigures the development of queer theory, postulating the postmodern ‚possibility of a plurality of gendered identities and identifications‘“, meint Kathy Deepwell. Zitiert nach Kline, Katy: „In or out of the picture. Claude Cahun and Cindy Sherman“, in: Chadwick, Whitney (Hrsg.): Mirror Images. Women, Surrealism, and Self-Representation, Cambridge/Mass./ London 1998, S. 79.

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Phantasmen führt gleichsam auf dem Wege der Verdichtung und Verschiebung zu jenem Traum-Rebus, den Freud mit einer der Enträtselung bedürftigen Hieroglyphik verglich. Daher wäre der Suggestivkraft bildlicher ‚Pathosformeln‘ nur mit deren Rückbezug auf eine Schrift zu begegnen, die sich im Falle Cahuns auch poetisch artikuliert. Obwohl es die Lektüre literarischer Texte im Unterschied zur Psychoanalyse nicht mit der lebendigen Dynamik subjektiver Rede zu tun hat, stößt sie auf Spuren von Kontingenz, die sich in der differentiellen Rhetorik und spezifischen Performanz eines Schreibens bemerkbar machen. Unter diesen Prämissen möchte ich meine Aufmerksamkeit im Folgenden auf mythische Versatzstücke einer inzwischen kanonisierten weiblichen Avantgarde lenken, deren Meta-Mythos in ihrem transgressiven Charakter8 läge. Denn es gälte zu bedenken, ob die vermeintlichen Grenzüberschreitungen im genealogischen Rahmen eines normalistischen Dispositivs der Moderne,9 das Mechanismen der Exklusion in solche der Inklusion überführt, nicht eher als Grenzverschiebungen zu erachten wären. Das dialektische Modell von Schöpfung und Aneignung bleibt jenem imaginären Register verhaftet, das auf der fundamentalen Paradoxie basiert, dass das Selbst immer schon vom Ort des Anderen aus konstituiert wird. Wenn drei kürzlich wiederentdeckte Avantgardistinnen die moderne Transformation des Geschlechterdualismus von einer exklusiven Binäropposition in ein Kontinuum der Übergänge selbst noch einmal irritieren, dann – so meine These – durch Verfahren der Analogiebildung und Inversion, deren Gemeinsamkeit, bei aller Verschiedenheit der künstlerischen Projekte, darin bestünde, das differentielle Moment der Wiederholung,10 mit dem etwa Gertrude Stein operiert, semantisch zu besetzen und dadurch zu entschärfen. Dass die symbolische Lücke sich imaginär schließt, verweist auf den Entzug eines Ursprungs, der biografisch als traumatischer erscheint. Die Faszination, die das delirante Ausagieren einer preußischen Dadaistin in New York, der in mancherlei Hinsicht hochstaplerischen Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven, mit 8 Systemtheoretisch gilt Kunst, die wie die Sprache Bewusstseins- mit Sozialsystemen koppelt, per definitionem als transgressiv, da sie das normale Verhältnis von Wahrnehmung und Kommunikation irritieren muss, um die Differenz von Information und Mitteilung zu realisieren. Vgl. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, S. 42. 9 Nach Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 1997. 10 Vgl. dazu Strowick, Elisabeth: Passagen der Wiederholung. Kierkegaard – Lacan – Freud, Stuttgart/Weimar 1999.

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dem unzeitgemäßen Selbstgenuss dekadenten Ästhetizismus’ im Paris der années folles verbindet, wie ihn sich die begüterte Exilrussin Ida Rubinstein leisten konnte, beruht auf einer Verquickung von Kunst und Leben, die ihre Mittel aus Mythologie wie Privatmythologie schöpft. Wenn die Ambivalenz der Moderne darin läge, dass ästhetische Ausdifferenzierung durch kulturelle Entdifferenzierung11 kompensiert wird,12 kann man dabei dann auch geschlechtsspezifische (Re-)Codierungen beobachten? Betrachtet man ‚Geschlechter‘ als semiologisch bzw. im weitesten Sinne medienarchaölogisch rekonstruierbare Verfahren und Effekte,13 ließe sich die unterstellte Differenzqualität männlicher und weiblicher Avantgarden nicht unbedingt auf die systemtheoretisch fundierte Opposition zwischen ‚Kunst-Revolution‘, als einer Revolte gegen ästhetische Codes, und ‚Revolutions-Kunst‘,14 als politischer Einebnung der System-/Umwelt-Unterscheidung,15 abbilden. Die innere Paradoxie des Avantgardekonzepts,16 das weder einen Stil- noch einen Epochenbegriff fundiert,17 11 Luhmann (wie Anm. 8), S. 50 definiert Form als Selbstreferenz und verlegt damit den Akzent vom „Inhalt der Form“ auf die „Differenz der Form“. Abzuheben ist aber dieser systematische Formbegriff von einem historischen, der Form als Varietät durch die feste Kopplung von Elementen innerhalb eines ‚Mediums‘ definiert. Ausdifferenzierung als Komplexitätssteigerung ergibt sich u.a. durch die binnensystemische Wiederholung der Innen-/Außen-Unterscheidung. 12 Vgl. Klinger, Cornelia: „Modern/Moderne/Modernismus“, in: Barck u.a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart/Weimar 2002, S. 149ff. 13 Vgl. dazu Kristeva, Julia: Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt a.M. 1978 sowie Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1985. 14 Liegt die Gemeinsamkeit der Avantgarden in ihrem „anti-mimetische[n] (oder anti-repräsentative[n]) Konzept der Abkehr von Formen eines darstellungsästhetischen Realismus“ (Barck [wie Anm. 2], S. 559), steckt ihre politische Brisanz in der Nähe von ästhetisch Innovativem zu sozial Affirmativem. 15 Vgl. Plumpe, Gerhard: Epochen der modernen Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf, Opladen 1995, S. 180ff. u. 233ff., der avantgardistische Strömungen mithilfe der Opposition zwischen einer ausdifferenzierenden „Kunstrevolution“ und einer entdifferenzierenden „Revolutionskunst“ erfasst. 16 Ist die „Selbstnegation des Systems als Form der Bestätigung von Autonomie [...] nur eine Operation unter anderen“ (Luhmann [wie Anm. 8], S. 474), steht die Avantgarde nicht nur im Zeichen eines Transzendenzverlusts, sondern auch permanenter „Selbstinstitutionalisierung“, so Klinger (wie Anm. 12), S. 129. 17 Als Epochenbegriff darf die Moderne, die sich wie die Avantgarde auf heterogene Stilrichtungen bezieht, deswegen nicht gelten, weil sie die „Tradition des Bruchs mit der Tradition“ implementiere. Ebd., S. 133.

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hat dazu geführt, Modernisierungsschwellen als Paradigmenwechsel zu betrachten, und zwar im Sinne einer mehrfachen Überschneidung zwischen wissenschaftlich-technologischen, sozialpolitischen und kulturellästhetischen Entwicklungen.18 Daher lässt sich die Krisensemantik der letzten Jahrhundertwende auf das dichte Netzwerk jenes epochalen Interdiskurses beziehen, der als heterogen motivierte Abwehrstrategie einer durch die Entuniversalisierung des Männlichen bedingten ‚Feminisierung der Kultur‘19 fungiert. Die schwierige Positionierung des Weiblichen in der symbolischen Ordnung ist schon daran ersichtlich, dass Werke von Frauen häufig mit widersprüchlichen Stilmischungen operieren bzw. sich nicht eindeutig bestimmten literarischen Richtungen zuordnen lassen. Wenn die ‚Arbeit an der Grenze Frau‘ also über „Verschiebung, Verwischung und Neuformulierung“20 erfolgt, wäre die eingebürgerte Opposition zwischen männlicher Originalität und weiblichem Epigonentum schon deswegen obsolet. Lassen sich bildende Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts durch Akte einer Aneignung charakterisieren, die erst mit der appropriation art der 1980er Jahre anerkannt wurde, dürfte Marcel Duchamp als wichtigster Urheber dieser Geste gelten. Tritt bei ihm der ‚gefundene Gegenstand‘ an die Stelle des Schaffensprozesses, hängt die Auswahl solcher readymades dennoch von kontingenten individuellen „Sensibilität(en)“21 ab und insofern von einer gelebten Geschlechtlichkeit, die als imaginäre Auswirkung einer symbolischen Positionierung einen buchstäblichen Bezug zum verlorenen Objekt22 unterhält.

Geschlechter-Mythen Legendären Avantgardistinnen wird gern unterstellt, die ideologischen Voraussetzungen des männlichen Modernismus bewusst oder unbewusst hinterfragt zu haben. Die Tänzerin und Choreografin Ida Rubinstein verkörperte angeblich auf der Bühne wie im Leben jenes fading of gender,23 18 Vgl. ebd., S. 125. 19 Vgl. Runte, Annette: Biographische Operationen. Diskurse der Transsexualität, München 1996, S. 695ff. 20 Brinker-Gabler, Gisela: „Weiblichkeit und Moderne“, in: Mix, YorkGothart (Hrsg.): Naturalismus. Fin de siècle. Expressionismus 1890-1918, München 2000, S. 246. 21 Graw, Isabell: Die bessere Hälfte. Künstlerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts, Köln 2003, S. 31f. 22 Vgl. dazu Lacan, Jacques: Le Séminaire. Livre IV. La relation d’objet. 1956-1957, Paris 1994, S. 25 u. 53. 23 Vgl. dazu Runte (wie Anm. 19), S. 670ff.

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das die romantische Allegorie ‚der‘ Frau in jünglingshafter Androgynie metaphorisch zum Verschwinden brachte. In dem Maße, wie eine Epigonin des Russischen Balletts dessen multimediales Gesamtkunstwerk auf das Format einer one woman’s show reduzierte, wurde ihr Dauerauftritt als nostalgisches tableau vivant zum ästhetizistischen Emblem für die Transition zum „Geschlecht der Moderne“24 mit seinen fließenden Übergängen zwischen Männlichem und Weiblichen. Dagegen provozierte Elsa von Freytag-Loringhoven als bettelarme Baronin proletarischer Herkunft noch die Anti-Kunst, der sie entsprang. Denn sie sei, so Jane Heap, die ihre Gedichte seit 1918 im Little Review publizierte, „the only one living anywhere who dresses dada, loves dada, lives dada“.25 Die aktuelle Mythisierung der adeligen bag lady26 betet dieses Urteil nach: „Sacrilegious, impulsive, intelligent, she was all that was parodic, anarchic and truly [...] ricidulous in Dada“.27 Elsa verwandelte sich selbst zur ständig (sich) wandelnden Dada-Skulptur: Sie trug Konservendosen als Büstenhalter, Schottenkilts oder Schleppkleider, dazu einen Kohleneimer als Hut, Gamaschenstiefel mit Möbelborte, lange Eislöffel als Ohrringe, ein blinkendes Rücklicht am Hintern, schwarzen Lippenstift und Briefmarken statt Rouge. Mit der ebenso grotesken wie allusiven Mixtur umfunktionierter Alltagsgegenstände, in der die punkige Baroness durch die Straßen New Yorks paradierte und Dada parodierte, attackierte sie auch den ‚Männlichkeitswahn‘. Ihre Auftritte, die aus dem institutionellen Rahmen fielen, wurden zu skandalösen Happenings, die sich indes auch als Psycho-Theater lesen ließen.28 Eine andere Art von gender bender war Claude Cahun, die mit ihren surrealistischen Text-Bild-Kombinationen vorwiegend Selbsterkundung29 betrieb und ihr Interesse an Identi24 Vgl. dazu die Einleitung in Bublitz, Hannelore (Hrsg.): Das Geschlecht der Moderne. Genealogie und Archäologie der Geschlechterdifferenz, Frankfurt a.M./New York 1998. 25 Zititiert nach Tashijan, Dickran: „From anarchy to group force. The social text of the ,Little Review‘“, in: Sawelson-Gorse, Naomi (Hrsg.): Women in dada. Essays on Sex, Gender, and Identity, Cambridge/Mass./London 1998, S. 279. 26 Vgl. z.B. das Theaterstück von Kerry Reid Last of the Red-Hot Dadas mit Christina Augello, uraufgeführt 2003 in San Francisco. 27 Morgan, Margaret A.: „A Box, a Pipe and a Piece of Plumbing“, in: Sawelson-Gorse (wie Anm. 25), S. 65. 28 Vgl. Tashjian, Dickran: „,Vous pour moi?‘ Marcel Duchamp and Transgender Coupling“, in: Chadwick (wie Anm. 7), S. 40: „these self-portraits contain a performative dimension that was embodied in their lives“. 29 So z.B. Kline (wie Anm. 7), S. 67: „Background details and stage props are kept to a minimum, compressing an enormous psychological weight and affect into the figure. She presents herself as coquette, body builder,

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tätszerstörung bis in die Kindheit zurückverfolgte: „Et l’enfant commença [...] de s’indéfinir“. Doch ihr radikaler Skeptizismus stößt sozusagen auf die Schranke eines ,imaginären Cogito‘: [J]’ai douté de tout – sauf de mes images, de celles qu’on me renvoie où je ne me retrouve jamais, de celles que je me donne et qui sont interchangeables si je le veux.30

Wenn sich in den Doppelgängern Cahuns ein Narzissmus zelebriert, der einen psychotischen Zusammenbruch verhindert habe,31 gingen dekonstruktive Impulse aus einem pathologischen Nexus hervor. In der Rückschau ihrer von Djuna Barnes angeregten Memoiren schreibt die Dada-Baroness über ihre früh verstorbene Mutter, dass sie „in schöne geborstene funkelnde edle Stücke“ „zerbrach“, und schwelgt in symbiotischer Sehnsucht: „Ich werde sie finden, wie sie mich anlächelt – eine Seelenverwandte“.32 Cahun, deren Selbstanalyse einen vergleichsweise grammatologischen Grad erreicht, erkennt, dass es wahrscheinlicher sei, etwas (wieder) zu finden als es zum Verschwinden zu bringen: Atteindre l’imaginaire pur. L’effacement du corps est encore [sic] un excès: origine de toute trace, de toute inscription, de toute image, masque ultime et genèse de tous les masques. Comment produire cette disparition?33

Verankert Cahun jegliche Einschreibung im Realen des Körpers, ist das Imaginäre, das ihm entspringt, immer schon von dessen Materialität geprägt. Insofern unterscheidet es sich hier auch nicht vom Symbolischen. Die Neigung der Avantgarden zur Performanz einer postromantischen ‚Lebens-Kunst‘ beleuchtet den Zusammenhang von Mythisierung und Traumatisierung, auf den bereits die strukturale Anthropologie anspielte und an den die Psychoanalyse anknüpfte. Die Nähe archaischer Praktiken zu modernen Therapien bringt Lévi-Strauss in die Nähe der Lacan’schen Psychosetheorie. Während das „normale Denken“ stets „an einem Mangel an Signifikat(en)“ leide, verfüge das mythische wie das

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skinhead, vamp and vampire, angel, and Japanese puppet.“ Cahun, die auch Männertypen parodiere und keinerlei Versuche mache, den Betrachter zu verführen, sei in ihrer komplexen Subjektivität präsent. Zitiert nach Leperlier (wie Anm. 1), S. 20. So Leperlier (wie Anm. 1), S. 103ff. Zitiert nach Gammel, Irene: Die Dada Baroness. Das wilde Leben der Elsa von Freytag-Loringhoven, Berlin 2003, S. 28. Zitiert nach Leperlier (wie Anm. 1), S. 110.

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delirante über dessen Überfluss.34 Wenn für den Ethnologen die „Form des Mythos“ wichtiger wird „als der Inhalt der Erzählung“,35 liegt dessen Substanz in der Logik (récit) der Geschichte. Situiert sich der Mythos als mentales Organisationsschema der Erfahrung jenseits der Opposition von Vernunft und Imagination, stellt er für Ernst Cassirer deshalb eine „symbolische Form“ dar, die Sinnlichkeit mit Sinn verschränkt,36 epistemologisch aber Kants Dualismus, den sie gestaltpsychologisch zu überwinden trachtet, nicht unbedingt entrinnt. Die Psychoanalyse Freuds bedurfte der Mythen, deren Produktion sie mit Traumarbeit verglich, sogar als Theoriefiktion. Längst ist das Mythische kein Gegenbild der Vernunft mehr, wie noch für eine aufklärerische feministische Ideologiekritik, sondern aufs Engste verflochten mit ihr.37 Im weiten Sinne also wird der Mythos zu jener Anschauungs- und Lebensform, die er als Denkgewohnheit allererst hervorbringt. Lacan aber hält seinen geschlossenen Strukturen die Offenheit des sprachlichen Signifikantenprozesses entgegen und seiner universalen Übersetzbarkeit die kontingente Wahrheit des Subjekts, deren einziger mythisch-mythologischer Bezugspunkt der Phallus bliebe: […] le mythe […] n’opère ni de métaphore, ni même d’aucune métonymie. Il ne condense pas, il explique. Il ne déplace pas, il loge, même à changer l’ordre des tentes. Il ne joue qu’à combiner ses unités lourdes, où le complément, d’assurer la présence du couple, fait seul surgir un arrière-plan. Cet arrière-plan est justement ce que repousse sa structure. Ainsi dans la psychanalyse (parce qu’aussi bien dans l’inconscient) l’homme de la femme ne sait rien, ni la femme de l’homme. Au phallus se résume le point de mythe où le sexuel se fait passion du signifiant. […] il n’y a pas de rapport sexuel, sous-entendu: formulable dans la structure.38

Lacan begreift den Mythos jedoch als Band zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen, weil er auf die Unmöglichkeit eines Endsinns 34 Lévi-Strauss, Claude: Strukturale Anthropologie, Frankfurt a.M. ²1972, S. 199. 35 Ebd., S. 224. 36 Cassirer betrachtet ihn insofern gleichermaßen als ‚Sprache‘ wie als Bildproduktion, die der menschliche Geist zwischen sich und die Welt schiebt. Vgl. Cassirer, Ernst: Geist und Leben. Schriften zu den Lebensordnungen von Natur und Kunst, Geschichte und Sprache, Leipzig 1993, S. 51 u. 338. 37 Hat die Dialektik der Aufklärung die ‚instrumentelle‘ Vernunft unter Mythenverdacht gestellt, so betont Hans Blumenbergs hermeneutischer Ansatz dagegen die Entlastungsfunktion einer unabschließbaren Transformation mythologischer in ästhetische Metaphern. Vgl. dazu Müller, Ernst: „Mythos/mythisch/Mythologie“, in: Barck, Karlheinz u.a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart/Weimar 2002, S. 339. 38 Lacan, Jacques: „Radiophonie“, in: ders.: Autres Ecrits, Paris 2001, S. 412f.

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wie der Geschlechterbeziehung mit der Gabe eines Signifikanten der Unlösbarkeit39 antworte: De sorte que le mythe serait là pour nous montrer la mise en équation sous une forme signifiante d’une problématique qui doit par elle-même laisser nécessairement quelque chose d’ouvert, qui répond à l’insoluble en signifiant l’insolubilité, et sa saillée retrouvée dans ses équivalences, qui fournit (ce serait la fonction du mythe) le signifiant de l’impossible.40

Wenn sich das Subjekt als ein in der Sprache gespaltenes erweist und es durch sein Begehren ‚vergeschlechtlicht‘ wird, erhält der Mythos allenfalls den Status eines rigiden Scharniers, dessen dualistische bzw. chiasmatische Funktionen dem imaginären Register entsprächen. Doch schon der Variantenreichtum des Mythologems deutet auf seine Affinität zur psychotischen Dynamik. Lacans Theorie der Verwerfung gemäß könnte man die mythische Organisation als Damm gegen psychotische Sinnüberflutung ansehen. Daher sollen die Spaltungs- und Verdoppelungsstrukturen, die die Werke der drei hier ins Zentrum gerückten Künstlerinnen kennzeichnen, unter dem Aspekt einer Verknüpfung von Traumatisierung, Myth(olog)isierung und Narzissmus betrachtet werden. Wenn Frauen sich im 20. Jahrhundert vor allem als Performance-Künstlerinnen profiliert hätten,41 dabei aber einer Dialektik von sozialer Enteignung und ästhetischer Aneignung unterstünden, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Repräsentation, (Inter-)Medialität und Dekonstruktion.

Die femme fatale als mystischer Androgyn: Ida Rubinsteins dekadente ‚Selbst-Inszenierung‘ Als materiell privilegiertste der drei Beispielfrauen entstammte Ida Rubinstein (1885-1960) einer wohlhabenden jüdischen Familie aus St. Petersburg, wo sie auch ihre Kindheit und Jugend verbrachte. Obgleich früh verwaist, war es ihr im assimilierten Milieu ihrer großbürgerlichen Her39 Lacan, Jacques: „Intervention sur l’exposé de Claude Lévi-Strauss: ,Sur les rapports entre la mythologie et le réel‘ (26.5.1956)“, in: Bulletin de la Société Française de Philosophie , Jg. XLVIII, 1956, S. 113ff. 40 Zitiert nach Gorog, Jean-Jacques: „La névrose obsessionnelle repensée“, in: Colloque de Cerisy-la-Salle (Hrsg.): 2001. Lacan dans le siècle, Paris 2002, S. 65. 41 Cocalis, Susan L.: „,Persönlicher Wirrwarr, fortdauernde Gefühle‘: Performance-Kunst als weibliche Darstellungsform in Deutschland und den USA“, in: Stephan, Inge/Weigel, Sigrid (Hrsg.): Weiblichkeit und Avantgarde, Berlin/Hamburg 1987, S. 37ff.

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kunft vergönnt, eine umfassende humanistische Bildung zu erhalten, die sie allerdings nicht davon abhielt, sich voller Leidenschaft dem Theater und seiner Reform zuzuwenden. Als die junge Amateurin sich anschickte, Oscar Wildes Skandalstück Salomé mit sich selbst in der Hauptrolle aufzuführen und dabei vom späteren Bühnenbildner der Ballets Russes, Léon Bakst, unterstützt wurde, stieß sie nicht nur auf den Widerstand ihrer Verwandtschaft, die sie kurzfristig ins Irrenhaus steckte, sondern auch auf jenen der orthodoxen Kirche, deren klerikale Zensurmaßnahmen ihrem halb nackten Schleiertanz allerdings nur einen umso spektakuläreren Erfolg bescherten. Nachdem sich Rubinstein durch die ‚Josefsehe‘ mit einem Cousin aus familiärer Vormundschaft befreit hatte, ging sie ins Exil nach Paris, wo sie zunächst von Sergej Diaghilew dafür engagiert wurde, in Gestalt exotischer Schönheiten dem Orientalismus42 der Belle Epoque zu huldigen. Bereits in der Rolle der Kleopatra erschien sie als grausame Herrscherin43 und begeisterte dann Kaiser Wilhelm II., der sich später dem Gorgonenmythos weihte,44 als laszive Sultanin Zobeide, die ihren von Nijinsky gespielten Lieblingssklaven dem Tode opfert. Repräsentiert die Diva bühnenfiktiv noch die femme fatale des 19. Jahrhunderts, „the phallic female who towered over the magnetized male“,45 so kündet ihre Physiognomie bühnenreal bereits das knabenhafte new woman an: Elle était grande, mince et belle, et c’était un matériel intéressant. [...] N’aurait-elle pas, bien avant l’heure, lancé la mode de ces corps filiformes […] de ,garçonnes‘?46

Die androgyne Aura dieser erwachsenen Kindfrau entsprang weder der Naivität Mignons noch der Dämonie einer Lulu, sondern beruhte auf einer affichierten Asexualität, die sie, als engelhafte Un- bzw. Übergeschlechtlichkeit, zur reinen Projektionsfläche homophiler Wünsche 42 Am 06.06.1909 notiert Reynaldo Hahn in sein Tagebuch: „ses draperies transparentes, ses attitudes, ses ondulations [...] composent un ensemble de beauté à la fois traditionnelle et morbide […] dont on ne trouverait […] l’équivalent que dans certaines pages de la Tentation de Saint-Antoine“. Zitiert nach Depaulis, Jacques: Ida Rubinstein. Une inconnue jadis célèbre, Paris 1995, S. 21. 43 Bentley, Tony: Sisters of Salomé, New Haven/London 2002, S. 133. 44 Vgl. Stephan, Inge: Musen & Medusen. Mythos und Geschlecht in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien 1997, S. 61ff., die das Medusenhaupt für ein „Gegenbild der kopfabschlagenden Judith“ (ebd., S. 64) hält. 45 Bentley (wie Anm. 43), S. 133. 46 Depaulis (wie Anm. 42), S. 55 u. 63.

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prädestinierte. Wenn Rubinsteins Mentor, der schwule Dandy Robert de Montesquiou, sie als „flachen Hermaphroditen“47 zu einer Chiffre der Dekadenz stilisiert, dann nur um den Preis einer Entsinnlichung des mordenden Vamps,48 der zwar als Statue überlebt,49 aber nach Kadaver zu riechen beginnt.50 Paradoxerweise war es Rubinsteins tänzerisches Unvermögen, das es ihr erlaubte, das Flair der unerreichbaren Künstlerin und fernen Dame zu bewahren. Weil sie als Ballerina scheiterte, wovon zahlreiche Karikaturen zeugen, erstarrte sie zum ‚lebenden Bild‘51 einer kunst- wie geschlechterhistorischen Übergangszeit. Auf den erschöpften Wagnerismus reagierte die historistische Moderne mit einem manierierten Recycling, das weiblich konnotierten Dilettantismus geradezu herausfordern musste. Gleichzeitig ging die Auflösung der exklusiven Geschlechteropposition nicht nur mit sexueller Perversion, sondern mit der Verdrängung des Weiblichen einher.52 Wenn Ida Rubinstein Gustave Moreaus Gemälde nachzustellen schien,53 stellte sie damit die hysterische Frage nach dem Begehren des Anderen still. „Quelle expression puissante en l’absence du mouvement!“,54 bemerkte ihr berühmter Ballettlehrer Fokin, der Choreograf Diaghilews. Auf der Schwelle zwischen Music Hall und Modern Dance,55 Operettenzitat und dionysischer 47 Zitiert nach Bentley (wie Anm. 43), S. 143. 48 Vgl. ebd., S. 133: „She presented a startling modern image, an early metaphor for the athletic, demanding woman, ruling her fearful, emasculated man.“ 49 Vgl. ebd., S. 135: „the statuesque woman demanding the death of the lover“. 50 Vgl. von Braun, Christina: „Männliche Hysterie – weibliche Askese. Zum Paradigmenwechsel der Geschlechterrollen“, in: dies.: Die schamlose Schönheit des Vergangenen. Zum Verhältnis von Geschlecht und Geschichte, Frankfurt a.M. 1989, S. 60ff. 51 Ida ließ sich nackt vor prächtigem Dekor porträtieren, trank rosa Champagner aus weißen Lilienkelchen und erschien der Vogue-Herausgeberin Diana Vreeland als russische Ikone: „These long slow eyes – black, black, black – and she moved like a serpent – it was all line, line, line ... a sexy Jewish girl“. Zitiert nach Bentley (wie Anm. 43), S. 142. 52 Vgl. Kristeva, Julia: La révolution du langage poétique. L’avantgarde à la fin du XIXe siècle (Lautréamont et Mallarmé), Paris 1974, die die nichtsymbolisierte ‚weibliche Lust‘ in den phallischen Figuren der Kokotte verdrängt sieht. 53 Der Dandy Montesquiou hatte seinem weiblichen Kollegen, diesem ‚flachen grausamen Hermaphroditen‘, Moreaus Gemälde näher gebracht. 54 Zitiert nach Depaulis (wie Anm. 42), S. 87. 55 „[Her] performance embodied the integration of the music hall Salomé of Maud Allan and Mata Hari, and the improvised sensibility of the new ‚modern dance‘ with ballet“. Bentley (wie Anm. 43), S. 133.

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Antikisierung, entfaltete sich das nicht zu penetrierende ‚Rätsel Frau‘, das diese „mystische Jungfrau“56 schon durch ihre hermetisch abgeschirmte Privatsphäre aufgab,57 zunächst zu jenem Mysterienspiel,58 das Gabriele d’Annunzio, Verwertungskünstler par excellence, mit galanter Koketterie für ihre idealen Beine schrieb.59 In Le Martyre de Saint Sébastien60 (1911; Abb. 1 u. 2), dieser blasphemischen Travestie, wird der ephebische Körper der Amazone mit einem schmerzensreichen Weibmann gleichgesetzt. Nicht nur verquickt der Autor die jüdische Darstellerin so sehr mit dem christlichen Heiligen, dass er sie fortan als ‚Bruder‘ anredet,61 sie selbst scheint sich quasi-transsexuell in dieses reine Idol verwandelt zu haben: „I am Saint Sebastian the moment I step on the stage. I live his life and I know his innermost feelings. I am […] impregnated with his soul [experiencing] the most sublime ecstasy“.62 Nimmt ein heutiger feministischer Kommentar diesen Geschlechtswechsel ernst, indem er die männliche Rolle mit der weiblichen Trägerin verwechselt, „a fatal man who is a woman“,63 hält ein Bewunderer wie Cocteau an jenem Abstand zwischen Sein und Schein fest, der allererst den Genuss einer Überschreitung ermöglicht, wenn er der Schauspielerin einen erstaunlichen „don d’incarnation“64 zuschreibt. Mit humoristischer Herrenimitation, die damals populär wurde, hat die ambige Verkörperung eines spiritualisierten Lustobjekts durch ein „mystisches Skelett“65 56 So André Levinson, zitiert in der Rezension von Garafola, Lynn: „Ida Rubinstein (1885-1960). A Theatrical Life, by Michel de Cossart. Liverpool Historical Studies, Nr. 2, Liverpool 1987“, in: Dance Research Journal, Jg. 21/22, Nr. 2, 1989, S. 25-27: „this mystical virgin, voluptuous yet frigidly cold, with a will of iron underneath a fragile frame“ (S. 25). 57 Vgl. ebd., S. 26: „In private life, she was a sphinx, difficult to approach, given to solitray drives.“ 58 Diesem Rekurs auf mittelalterliche Traditionen fehlt die ethisch-moralische Dimension, etwa eines Hofmannsthal’schen Jedermann völlig. 59 Die Idee dieses Stücks über den „archer à la chevelure de jacinthe“ geht bis ins Jahr 1893 zurück. Zitiert nach Depaulis (wie Anm. 42), S. 92. 60 Kein Geringerer als Robert Wilson nahm das von Debussy vertonte Stück im Jahre 1988, mit der akrobatischen Virtuosin Sylvie Guillem in der Hauptrolle, wieder auf. 61 Als D’Annunzio das Drama unter großem Zeitdruck fertig gestellt hat, telegrafiert er: „J’embrasse les genoux transpercés“. Zitiert nach Depaulis (wie Anm. 42), S. 115. 62 Zitiert nach Bentley (wie Anm. 43), S. 149. 63 Ebd., S. 152. 64 Zitiert nach Depaulis (wie Anm. 42), S. 130. 65 D’Annunzio zitiert nach Depaulis (wie Anm. 42), S. 125. Péguy sarkastisch: „La beauté antique n’a pas toujours été située dans les cuisses russes“. Zitiert nach ebd., S. 127.

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indes nichts zu tun. Gabriele d’Annunzios hochartifizielle Behandlung einer schlichten Legende, deren Plot darin besteht, dass der römische Herrscher Diokletian den Führer seiner Bogenschützen, Sebastian, mit Pfeilen hinrichten lässt, weil er seinem Bekenntnis zum Christentum nicht abschwört, bringt einen sadomasochistischen Subtext hervor. Der Dichter, der die Waffe zum Vektor homoerotischer Begierde macht, gestaltet seine Fantasien zu einem fünfstündigen Fünfakter, in antiker Metrik und archaisierendem Französisch. Ida, die es mit russischem Akzent deklamierte, erzielte in ihrer Hosenrolle mehr Erfolg als das Stück, welches literarisch anspruchsvolle Zuschauer wie Proust bloß langweilte. Aus vulgärpsychoanalytischer Sicht aber erscheint seine Heldin, als phallische Hauptfigur wie Actrice, nunmehr bereits dramatisch kastriert: „Her lips, scarlet, like a wound [...]. The two dark eyes peirced the veil […] looking exceedingly sad“.66

Abb. 1: Ida Rubinstein in der Rolle des Hl. Sebastian in Le Martyre de Saint Sébastien (1911), Text: Gabriele d’Annunzio, Musik: Claude Debussy Abb. 2: Léon Bakst: Porträt von Ida Rubinstein als „Sebastian“ (1911), Aquarell In den 1920er Jahren wandte sich die Autodidaktin, deren Idol Sarah Bernhardt blieb, mit ihren eigenen Kreationen nicht etwa dem Mainstream, sondern einem monomanischen Selbstkult zu. So inszenierte Rubinstein für die Pariser Oper etliche ‚Mimodramen‘, eine Mischung aus Tanz, Musik, Pantomime und Rezitation, in deren Zentrum jene mythi66 Bentley (wie Anm. 43), S. 153.

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schen Relikte (Artemis, Istar usw.) standen, deren amazonische Züge das umstrittene neue Leitbild der selbstbestimmten garçonne personifizierten. Hatte die Kritik an den unabhängigen, vermännlichten Frauen in Frankreich schon während des Ersten Weltkriegs eingesetzt, verschärfte sie sich im Kontext zeitgenössischer Debatten um die bedrohlich wachsende Zahl allein stehender Frauen. Natalistische Diskurse legten dem modischen Typus der Junggesellin67 die zunehmende Verweigerung von Ehe und Mutterschaft zur Last. Dem Hedonismus der Nachkriegszeit stellten sich also kulturpessimistische Stimmen entgegen, die die Restauration traditioneller Geschlechterverhältnisse zur Bedingung gesellschaftlicher Gesundung erhoben. Ihrer Erlösungsutopie kam das Feindbild eines gefühlskalten „no-man-woman“ gelegen, dessen virilisiertes Inversbild zum Sinnbild männlicher Entfremdung wurde.68 Vor diesem Hintergrund lieferte Rubinstein, die als russische Diva einen Ausnahmestatus genoss, zwar nostalgische Bilder der Weiblichkeit, rief in ihnen aber eine Frauenherrschaft wach, deren Machtpotential sie privatim zu verwirklichen schien, wenn auch um den Preis eines gewissen Realitätsverlustes. Im Alter von fast 40 Jahren den Spitzentanz erlernend, glich die magersüchtige Riesin im Tutu einer geknickten Blume aus dem Treibhaus der Maeterlinck’schen Poesie.69 Obwohl ihr Stil ‚mysterischer‘70 Anverwandlung71 in der Ära von Technik, Sport und amerikanischer Sachlichkeit unzeitgemäß wirkte, fuhr sie fort, sich selbst darzustellen und hielt sich Anfang der 1930er Jahre sogar eine eigene Balletttruppe, die, als „Compagnie des répétitions de Madame Rubinstein“72 verspottet, dem alleinigen Zweck diente, ein geeignetes Schaufenster für ihre Auftritte zu liefern. „Her narcissism knew no bounds“,73 heißt es von tanzhistorischer Seite. „This fatal woman becomes fatal to 67 Vgl. Victor Marguerittes Romantrilogie, die dieses Phänomen wieder normalisiert, indem sie weibliche Berufstätigkeit zu einer Lebensphase macht, die in die Ehe mündet. 68 Roberts, Mary Louise: Civilization without Sexes. Reconstructing Gender in Postwar France 1917-1927, Chicago/London 1994, S. 60. 69 Vgl. Depaulis (wie Anm. 42), S. 287. 70 Um einen Neologismus von Hélène Cixous aufzugreifen, der religiöse Besessenheit als Vorläufer eines ‚weiblich‘ assoziierten klinischen Syndroms von Hysterie versteht. 71 Vor allem in den Reprisen des Sebastian-Parts, wo es von der 43-Jährigen heißt: „ses hanches minces [...] pas un ‚travesti‘, mais vraiment un de ces adolescents un peu immatériels, destinés à une vie d’archange“. Zitiert nach Depaulis (wie Anm. 42), S. 322. 72 Ebd., S. 361. 73 Garafola (wie Anm. 56), S. 27.

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no one other than herself.“74 Der psychologische Diskurs macht ein verzerrtes Selbstbild75 dafür verantwortlich, dass die ‚folie d’Ida‘ (Paul Claudel)76 in autistischem Schweigen und klösterlicher Einsamkeit endete. Depression erscheint folglich als Schattenseite eines Narzissmus, dessen Ambivalenz jener grundlegenden Entfremdung entspringt, die Jacques Lacan strukturgenetisch mit der Metapher des ‚Spiegelstadiums‘ umschreibt. Entsteht die Einheit des Ichs nur unter der Bedingung, dass es sich vom Ort des Anderen aus erblickt, den es nie einzunehmen vermag, lässt die sprachlich sanktionierte Dialektik zwischen Ego und Alter Ego den Kampf um symbolische Anerkennung niemals zum Stillstand kommen. Eine weibliche Avantgarde, die die unbewusste Spaltung des Subjekts und den Entzug des Objekts durch Symmetrie und Inversion kompensiert, bleibt damit durchaus geschlechtlichen Hierarchien treu. So wird die Apotheose einer Star-Jungfrau aus vulgärfeministischer Sicht zur Retourkutsche. Obwohl die zum Katholizismus übergetretene Rubinstein den Erfolg ihres letzten Auftritts als „Jeanne d’Arc auf dem Scheiterhaufen“77 im Jahre 1938 vor allem patriotischem Pathos verdankte, führt ihn aktuelle Legendenbildung auf den Geschlechtertausch zurück: In an ironic gender twist, Sebastian, a beautiful boy, receives the phallic arrows, whereas Joan of Arc, a boyish girl, delivers them. […] As Joan of Arc, Ida had finally perfected the death scene she had been practicing all her life, the absolution for her entire career.78

Daher dürfte es kaum verwundern, dass die morbide Ikone schon zu Lebzeiten, wie ihr Verehrer D’Annunzio, in einem Privatmausoleum eingemauert blieb.79 So liegt die Pointe, wie Romaine Brooks, die Ida einst

74 Bentley (wie Anm. 43), S. 142. 75 Ebd., S. 160: „deeply distorted self-image“, denn „Ida bouréed on her long pointes and bent knees beneath her sagging tutu“. 76 Vgl. Severn, Margaret: „Dancing with Bronislava Nijinska and Ida Rubinstein“, in: Dance Chronicle, Jg. 11, Nr. 3, 1988, S. 364: „she was devouted to grandeur“. 77 Ein Oratorium von Arthur Honegger nach einem Libretto von Paul Claudel. 78 Bentley (wie Anm. 43), S. 162. 79 Vgl. Ernst, Wolfgang: „Museale Kristallisation“, in: Gumbrecht, Hans Ulrich u.a. (Hrsg.): Der Dichter als Kommandant. D’Annunzio erobert Fiume, München 1996, S. 312: Wie vordem Rousseau habe D’Annunzio sich „lebend noch, der Inszenierung seines Nachlebens“ verschrieben und somit eine Vergangenheit hinterlassen, die nie eine Gegenwart war. Das Vittoriale wurde zum Kerker.

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malte (Abb. 3), bemerkt, im unhintergehbaren Paradox eines narzisstischen Dilemmas: „Elle exprimait une intériorité inexprimable“.80

Abb. 3: Romaine Brooks: Ida Rubinstein (1917), Öl auf Leinwand

Die Dada-Knäbin als Gedicht-Maschine: Elsa von Freytag-Loringhovens trash art Geschlechtliche Paradigmenwechsel werden Inge Stephan gemäß vor allem „in mythischen Konfigurationen“ „durchgespielt“, da die Artikulation dieser Umbrüche in Form ‚großer Erzählungen‘ individuelle und historische Krisen zu bewältigen helfe.81 Wenn sich hinter dem ‚Rätsel‘ der Weiblichkeit, das man um 1900 gern in Gestalt der Sphinx beschwor, eine Erschütterung männlicher Identität, nicht zuletzt durch die Frauenbewegung, verbergen würde,82 träte der pamphlethafte Maskulinismus Weininger’scher Prägung,83 der den italienischen Futurismus und angelsächsischen Vortizismus ebenso beeinflusste wie dadaistische Strömungen, in der karnevalesken street art der sog. Dada-Baroness, Elsa von 80 Brooks, Romaine: „No pleasant memories“, zitiert nach Depaulis (wie Anm. 42), S. 549. 81 Stephan (wie Anm. 44), S. 8ff. u. 130. 82 Ebd., S. 26. 83 In seinem Pamphlet Geschlecht und Charakter (1903), einer metaphysischen Resubstantialisierung der positivistisch unterminierten Alteritätstheorie durch die Verwerfung des Anderen, wird dem weiblichen Geschlecht ontologisch und anthropologisch die Menschlichkeit abgesprochen: „Die Frauen haben keine Existenz und keine Essenz, sie sind nicht, sie sind nichts“. Zitiert nach Brinker-Gabler (wie Anm. 20), S. 244.

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Freytag-Loringhoven, geb. Plötz (1874-1927), nurmehr als Witz zum Vorschein. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs, bekanntlich von vielen als Revirilisierungschance begrüßt, präsentiert sich das magere deutsche Aktmodell beim Interview mit der New York Times in hautengem Fantasietrikot, Ballettschuhen und federgeschmückter Fliegerkappe als martialisches Projektil und knäbische „Kriegsbraut“84 zugleich (Abb. 4).

Abb. 4: Elsa von Freytag-Loringhoven (1915), Fotografie Im Unterschied zur pathetischen ‚Grande Dame‘ bereitet dieser rebellische ‚Peter Pan‘ keine grandiosen Phantombilder überkommener Weiblichkeit mehr auf, sondern setzt deren zerborstene Reste ein, um den amerikanischen Puritanismus mit einer sexualisierten Müllkunst zu schockieren, die auch den kapitalistischen Waren- und Konsumfetischismus attackiert. Emotional aufgeladen wirkt diese satirische body art schon dadurch, dass sie spontan und außerhalb institutioneller Rahmen aus dem Kampf ums Überleben entsteht. Als sich die 42-Jährige völlig mittellose Baroness 1917 einem Maler vorstellt, um als Modell anzuheuern, jagt ihm das phallic girl mit seiner antike Riten wachrufenden exhibitionistischen Enthüllung einen heiligen Schrecken ein: Mit königlicher Geste schwang sie die Falten eines scharlachroten Regenmantels auseinander. [...] Über ihren Brustwarzen waren zwei Tomatenmarkdöschen, die mit einer grünen Schnur an ihrem Rücken befestigt waren. Zwischen [ihnen] hing ein sehr kleiner 84 Gammel, Irene: Die Dada Baroness. Das wilde Leben der Elsa FreytagLoringhoven, Berlin 2003, S. 12. Vgl. das Coverbild des Buches.

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ANNETTE RUNTE Vogelkäfig und innen drin ein trauriger Kanarienvogel. Der eine Arm war vom Handgelenk bis zur Schulter mit Gardinenringen [...] bedeckt [...]. Sie nahm ihren Hut ab, der geschmackvoll [...] mit vergoldete[m] Gemüse dekoriert war. Ihre Haare waren kurz geschnitten und knallrot gefärbt.85

Wie die neben Küchenzitaten anklingende Käfigmetapher signalisiert, ließe sich derlei performative Körperkunst nicht nur als kaleidoskopisches Verwirrspiel mit geschlechtlichen Stereotypen lesen, sondern auch als privatmythologische Konstruktion voller biografischer Anspielungen. Wäre das Vögelchen, diese natürliche ‚Zwitschermaschine‘, nicht ein ebenso treffendes Sinnbild der conditio femina wie von Elsas trauriger Existenz? Und von jenen Abfällen, die ein Andy Warhol später zu PopIkonen machte, lebte sie wahrscheinlich. Hatte der George-Kreis, zu dem die junge Elsa Plötz über Melchior Lechter Kontakt erhielt, jede Berührung zwischen Kunst und Leben in einen elitären Arkanbereich verbannt,86 waren derlei Barrieren im Berliner Bohème-Milieu, das Elsa als zeitweilige Architektengattin frequentierte, längst eingerissen. Mit anarchischem Impuls machte der Dadaismus, den die von ihrem zweiten Mann, dem deutsch-kanadischen Schriftsteller Felix Greve (alias Grove) Verlassene nunmehr in New York87 mitinspirierte, diese Entdifferenzierung zum künstlerischen Programm. Aber der inzwischen mit einem verschuldeten Baron wiederverheirateten Baroness schien es kaum darum zu gehen, bloß chaotisch zu leben, sondern darum, viel sagende Zeichen zu setzen. Dabei bedient sich ihre Performance-Show transmedialer Verfahrensmuster und diskursiver sowie ikonischer Applikationsreservoirs, die Werbesprache bzw. Reklamebilder durchaus einschließen. Manifestiert sich „‚authentisches‘ Schöpfertum“ unter den Vorzeichen der Moderne nur noch „im sekundären Akt der Nachschöpfung“, d.h. des „Arrangierens und Inszenierens“ unterschiedlicher „Vorgaben“,88 tendiert Autorschaft als Pastiche-Regie ohnehin zu Ironie und Zynismus. Arbeitet geniales Epigonentum von vorneherein mit intermedialen Transpositionen und metatextuellen Transformationen,89 geht es hier weniger um die Frage, ob weibliche Avantgarden eher die ‚Echokammer‘ (Barthes) der 85 Zitiert nach ebd., S. 117f. 86 Vgl. z.B. Frank, Manfred: „Stefan Georges ‚neuer Gott‘“, in: ders.: Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt a.M. 1988, S. 260ff. 87 Vgl. Pichon, Brigitte u.a. (Hrsg.): Dada New York. Von Rongwrong bis Ready-made, Hamburg 1991. 88 Ingold, Felix Philipp: Der Autor am Werk. Versuche über literarische Kreativität, München/Wien 1992, S. 345f. 89 Vgl. Genette, Gérard: Palimpseste. Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a.M. 1993, S. 10ff.

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männlichen waren oder aber in einen produktiven Dialog mit ihnen traten,90 sondern darum, welche Indizien kontingenter ‚Ansteckung‘, Übersetzung oder Kontrafaktur ein komplexes Palimpsest im Spannungsfeld zwischen Nachahmung und Veränderung91 aufweist. Bestätigt die „Selbstnegation des Systems“ der modernen Kunst deren „Autonomie“, wird damit ihre genuine Alternative zwischen Abstraktion und Transgression92 plausibel. Dadurch dass die Grenze zwischen produktiven Operationen und theoretischer Selbstbeschreibung zusammenbricht, verewigt sich ein ‚Krieg der Avantgarden‘, den feministische Diskurse gern als Geschlechterkampf re-semantisieren, so dass Wiederaufgriff womöglich als Überbietung, Umkehrung schon als Kritik erscheint. Hat Elsa von Freytag-Loringhoven den Technikkult der New Yorker Dadaisten ironisch unterlaufen, indem sie deren ambige Mensch-MaschineAnalogien als männlich entlarvt, etwa mittels der ihr nachträglich zugeschriebenen Skulptur God (1917), einem umgebogenen Abflussrohr, so stellt sie mit ihrem sarkastischen Porträt von Marcel Duchamp (ca. 1920) auch dessen viel zitierte und als mechanistisch abqualifizierte Junggesellenästhetik93 in Frage. Denn ihre Assemblage aus Uhrfedern, Fischruten, Hühnerknochen und Ähnlichem in einem Weinglas gebe immerhin, so eine ‚gender-sensibilisierte‘ Kunstkritik, organischen Elementen Vorrang.94 Hatten Picabia oder Man Ray dem sexualisierten Idol des jungen amerikanischen Mädchens95 ein maschinelles Gesicht verliehen, das sich von einer Glühbirne kaum mehr unterschied, nahm die Baroness diese mythische Indienstnahme als sex machine flugs wieder zurück, indem sie ihren Körper zwar aktiv als Lustobjekt anbot, sich dabei aber derart romantisch auf den jeweils Auserwählten kaprizierte, dass er

90 Vgl. Hoesterey, Ingeborg: Verschlungene Schriftzeichen. Intertextualität von Literatur und Kunst in der Moderne und Postmoderne, Frankfurt a.M. 1988, S. 13ff. 91 Genette (wie Anm. 89) setzt eine Diskontinuität zwischen ‚Nachahmung‘ (Pastiche, Persiflage) und ‚Transformation‘ (Parodie, Travestie), die er strukturfunktional motiviert nach Maßgabe der Opposition ‚satirisch/nichtsatirisch‘. 92 Luhmann (wie Anm. 8), S. 474. 93 Vgl. zu dieser autoerotischen Konstellation männlicher Autorschaft Keck, Annette/Schmidt, Dietmar (Hrsg.): Auto(r)erotik. Gegenstandslose Liebe als literarisches Projekt, Berlin 1994. 94 Zabel, Barbara: „The Constructed Self: Gender and Portraiture in MachineAge America“, in: Sawelson-Gorse (wie Anm. 25), S. 36ff. 95 Burlesk in Alfred Jarrys Le Sûrmâle (1902), wo sich der Liebhaber der „jeune fille américaine“, die auch in Dhiagilews Ballett Parade auftritt, einem für ihn tödlichen Marathon unterzieht.

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sich durch ihre unverschämte Liebessucht überfordert fühlen musste.96 Duchamp vermochte vor ihrem unkonventionellen Werben noch in Gleichgültigkeit zu flüchten, William Carlos Williams sah sich von der „stinkenden alten Vettel“ derart verfolgt, dass er Boxen zur Selbstverteidigung lernte.97 It was imperative that the New Woman [...] be contained within the anxiety-reducing metamorphotic forms of the machine image, not parading freely through the streets.98

Die implizite Apologie sexueller Selbstbestimmung vermag jedoch nicht zu erklären, warum ein „mannish lover“ und „proud feminist“99 wie Elsa emotional von Männern abhängig blieb. Erweist sich die angebliche Nymphomanin auf den unerreichbaren ‚Einen‘ wie auf ein verlorenes mütterliches Objekt fixiert,100 sublimiert die Baroness ihr enttäuschtes Verlangen in Gedichten, deren selbstironischer Monolog zwischen Sentimentalität und Pathos, Verwerfung und Verweigerung schwankt. Die Echostruktur eines unmöglichen Frage-Antwort-Spiels hallt von jener Hassliebe wider, die sich in einer anspielungsreichen Umbenennung niederschlägt.101 Indem Elsa den Vornamen Marcel Duchamps um dessen zweite Silbe kürzt, so dass er sich zum Kriegsgott („Mars“) aufrichtet, wertet sie ihn sogleich wieder ab, und zwar mit einem einzigen Strich sozusagen, einem dem Titel eines Duchamp-Gemäldes (Tu m’, 1918) entliehenen Apostroph („M’ars“), wodurch der zweideutige Einsilber zwar lautlich an „My ass(hole)“ erinnert, buchstäblich aber auch an das lateinische Wort für Kunst (ars). Kommt die Koseform dem Vergnügen Duchamps an Wortspielen (puns) entgegen, erwächst sie jedoch aus der Resignation, ihn nur als tote Letter besitzen zu können, wie Elsa in einem Brief an Margaret Anderson beklagt:

96 „Aggressively heterosexual“ nennt es Tashjian (wie Anm. 28), S. 47. 97 Kuenzli, Rudolf E.: „Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven and New York Dada“, in: Sawelson-Gorse (wie Anm. 25), S. 456. 98 Jones, Amelia: „‚Women‘ in Dada: Elsa, Rrose and Charlie“, in: Sawelson-Gorse (wie Anm. 25), S. 159. 99 Ebd., S. 156. 100 Es verweist auf den frühen Verlust einer suizidären Mutter durch jenen Unterleibskrebs, den ihr Elsas Vater durch eine Ansteckung mit Syphilis zugefügt haben soll. 101 Duchamp hatte sich selbst in „Rose“ (später: „Rrose“) „Sélavy“ (= c’est la vie) umgetauft. Das Little Review behauptete sogar, dass er unter diesem Namen in der Öffentlichkeit auftrat.

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I am almost through [...] like M’ars is – I am beginning to crystallize which looks like death – like in M’ars it is – extreme wisdom – as is death.102

Im echolalischen Refrain, der den elegischen Tonfall erstickt, wird gleichsam vortizistisch103 das Objekt des Verlangens im Begriff abgetötet, ist das Zeichen doch der ‚Tod der Sache‘.104 Zunächst mutet Elsas Imitation der asketischen Konzeptkunst wie eine melancholische Introjektion an, doch im archaisierenden Telegrammstil ihrer Lyrik, die stilistisch dem Frühexpressionismus eines August Stramm vergleichbar wäre,105 verdeutlicht sich die manische Verfolgung einer Person, die den fiktiven Schnittpunkt von Liebe und Kunst darstellt, bis in den Signifikanten hinein. Das Prosagedicht mit dem sarkastisch wirkenden Titel „Love – Chemical Relationship“ (1918) referiert in freiem Versmaß106 nicht nur auf Duchamps sagenumwobenes Werk in process, The Large Glass,107 sondern nimmt den metaphorischen Raum, den es auftut, zum 102 Zitiert nach Kuenzli (wie Anm. 97), S. 448. 103 Dem Vortizismus (von vortex = Wirbel, Strudel), der kein ‚Leben‘ mehr imitieren, sondern neue Formen schaffen wollte, ging es in antiromantischer Gesinnung um eine Kunst der ‚Intensitäten‘. Hatte der Imagismus, den er ablöste, noch neue Methoden bildlicher Affektrepräsentation entwickelt, verzichtete der Vortizismus weitgehend auf Figuration. Ezra Pound fungierte als Vermittler dieser kurzlebigen britischen Strömung. Vgl. Schmied, Wieland: „Ezra Pound, Wyndham Lewis und der Vortizismus“, in: Orchard, Karin (Hrsg.): Blast. Vortizismus – Die erste Avantgarde in England 1914-1918, Berlin 1996, S. 94ff. 104 Nach Hegel und Lacan. Der englische Vortizismus, der die Kunst – gegen den Vitalismus der italienischen Futuristen – als (Ab-)Tötungsprozess verstand, führte später in die Nähe einer ‚konservativen Revolution‘. Wyndham Lewis beschied: „Nur das, was tot ist, hat Dauer.“ Zitiert nach Hesse, Eva: „Die literarische Reproduktion des Führerprinzips. Anhänger und Rivalen des Faschismus“, in: Grimminger, Rolf u.a. (Hrsg.): Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 482. 105 Kuenzli (wie Anm. 97), S. 463f. zählt als Merkmale u.a. die Zerstörung der Syntax zugunsten kleiner Syntagmen auf, die durch semantische Felder miteinander verbunden sind, Archaismen und den Einbezug von Alltagssprache. 106 Ein Charakteristikum auch des Imaginismus, dessen Hauptvertreter Amy Lowell und der frühe Ezra Pound waren. 107 Tashijian (wie Anm. 28) hält das Gedicht für eine verschlüsselte Antwort auf das Duchamps Junggesellen-Existenz und -Ästhetik vom Titel her evozierende Gemälde La mariée mise à nue par ses célibataires, même. Auch antizipiere das Poem das Selbstporträt Duchamps als „Rrose“, die ihn 1934 beschreibt als einer der „great taciturns, who behind their silence hide much or nothing“. Ebd., S. 48.

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Material und analogischen Ausgangspunkt einer imaginären Polemik zwischen den Geschlechtern. Obgleich sich das Schwächere liebend überhebt, bleibt es gerade deswegen dem Stärkeren untertan. Es macht affektiver Erstarrung den Prozess, auf die Gefahr hin, selbst zu vereisen. Thou now livest motionless in a mirror! Everything is a mirage in thee – thine world is glass – glassy! Glassy are thine ears – thine hands – thine feet and thine face… SO long must I love it until I myself will become glass and / everything around me glassy. Then art thou I! I do not need thee any more –! So BEAUTIFUL will I be like thou thineself art, Thou standest beside me – and art NOTHING beside me! Yet today I still must love mine LOVE –! I must bleed – weep – laugh – ere I turn to glass and the world / around me glassy.108

Lexikalische Redundanz, Binnenreime und abgebrochene Chiasmen tragen zur im Ansatz spiegelbildlichen Anlage einer Komposition bei, deren Parallelstrukturen stets wieder vereitelt werden. Ist der männliche Künstler in seinem Glas-Objekt, d.h. in seiner ästhetizistischen Kunstbesessenheit, wie ein prähistorisches Insekt eingeschlossen, wird sein Werk zum opaken Spiegel affektiver Versteinerung. Mittels der Anrede eines Abwesenden, deren archaische Pronominalformen die Distanz dramatisieren, entsteht eine pseudo-dialogische Spiegelszene, die nichts mehr zu reflektieren vermag als das Nichts eines durchsichtigen Glases, das zum Signifikanten des Anderen wird. Der Wunsch nach Vereinigung ist in der magischen Formel literaler Zweideutigkeit schon immer tot, nämlich als mythisch-mythologisches Verbindungsglied einer Kunst, die mit der Kopula des Existenzurteils zusammenfällt: Denn „art thou I“ kann ebenso gut heißen „bist du ich“ wie „Kunst Du Ich“. In diesem Ausdruck ist der illokutionär mehrdeutige Anspruch einer Identitätsbeziehung, die auch als Frage gemeint sein dürfte, mit der interpunktionslosen Aufzählung eines utopischen Programms verschränkt. Der Untertitel des Prosagedichts, dessen Achse die (Un-)Gleichheit ist, verweist auf eine Asymmetrie: „Un Enfant Français: Marcel (A Futurist)“/„Ein deutsches Kind: Else (A Future Futurist)“ sind nur im barocken Emblem ihrer sprachlichen Herkunft verkuppelt. Während ihre unterschiedlichen Muttersprachen dasselbe über sie sagen, teilt es ihnen die gemeinsame Fremdsprache im Mehrwert einer Steigerung mit, die das Weibliche als das zu Erwartende ausweist. Trotz der Unentscheidbarkeit zwischen Siegern und 108 Zitiert nach Kuenzli (wie Anm. 97), S. 449.

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Besiegten, Verschiebung und Überschreitung, stellt sich jedoch keine Balance ein. Etwas bleibt in der Schwebe, dessen Rest sich als Exzess ausspricht. Mit eher schalem Witz macht Elsa William Carlos Williams, der sie einmal blutig schlug, in seinen Initialen zu jenem Abort, den der kleinbürgerliche Kompromiss seiner Lebenslüge für sie darstellt: „Husband or artist – W.C.“ und „W.C. attacks art – when has time.“109 Rasch wird ihr Meisterdiskurs zur Schimpftirade: „Why are you so small – Carlos Williams? / [...] / All I ask is respect due to me! / […] you love and hate me. You desire me in truth. / You envy me!“110 Ezra Pound, der die Baroness schätzte, gelang es, sie wenigstens auf dem Papier parodistisch mit dem Objekt ihrer Begierde zu verkuppeln. Macht er in seinem pseudonymen „Canto“ ihren Kunstanspruch durch die Kreuzung ihres Namens mit demjenigen Goethes lächerlich,111 erweist sich der Widerstreit der Geschlechter, die im Duett zwei verschiedene Sprachen112 sprechen, als ‚trans-sexuelle‘ Verbindung im Zeichen gemeinsamen Dilettantentums. An Bill Williams und Else von Johann Wolfgang Loringhoven y Fulano113 Godsway bugwash Bill’sway backwash FreytagElse ¾ arf an’ arf Billy Sonntag one harf Kaiser Bill one harf Elseharf Suntag, Billsharf Freitag Brot wit thranen, con plaisir ou con patate

pomodoro

Indem sich ein Dichter auf Kaiser Wilhelm reimt, assoziiert Schwärmerei ihre politischen Abgründe. Der harsche Sprechgesang Pounds wird von Elsa zum Limerick geschleift, das unter dem Titel „Graveyard surrounding nunnery“ die traurige Bilanz gescheiterter Affären zieht:

109 Zitiert nach ebd., S. 454. Vgl. die Interpretation von „Thee I call ‚Hamlet of Wedding Ring‘“ bei Gammel (wie Anm. 84), S. 150f. 110 Zitiert nach Kuenzli (wie Anm. 97), S. 456. 111 Dass Elsa von Freytag-Loringhoven in ihren deutschsprachigen Gedichten, in denen sie klassizistische Schemata (von Goethe bis Heine) aufgreift, viel epigonaler wirkt als in ihren englischsprachigen, fiel bereits den Zeitgenossen auf. 112 William Carlos Williams hatte eine kubanische Mutter, die spanischsprachig war. 113 Zitiert nach Gammel (wie Anm. 84), S. 152.

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ANNETTE RUNTE When I was / Young – foolish / I loved Marcel Dushit / He behaved mulish (A quit) Whereupon in haste / Redtopped Robert came / He was chaste (Shame!) I up – vamps fellow – / Carlos – some husky guy / He turned yellow / (Fi!) I go to bed – saint – / Corpse – angel – nun – / It ain’t / (Fun.)114

Die einfache Form dieses Cabaret-Gags mit Slang-Einlage folgt nicht nur dem dafür typischen Muster des Refrains, sondern auch jenem von Parallelität und Reziprozität. Auf den Selbstmord ihres dritten Mannes, des armen Barons, antwortete die verwitwete Baronin nur noch bruitistisch, aber in einem Klageton, aus dessen Lärm man am Ende eine international verständliche Mordanklage heraushören könnte: „Klink-Hratzvenga (Er ist tot). [...] Ninj – iffe kniek – […] Arr – karr – Arrkarr – barr […] Mardar / Mar – dóórde – dar – / Mardoodaar“.115 Am Beispiel von Elsa Plötz, die eine Serie traumatisierender Erfahrungen durchlebte116 und von der man nicht einmal weiß, ob sie durch Mord oder Selbstmord starb, zeigt sich, wie drohende psychische Desintegration nicht nur im Aufruf mythischer Schemata und Bilder verarbeitet wird, sondern durch den signifikant erscheinenden Einsatz von Spaltungs- und Verdoppelungsverfahren, der die Reproduktion geschlechtlicher Hierarchie nicht unbedingt zu dissimulieren braucht.

‚Je me vois donc je suis‘: Narziss als ne-uter in myth(olog)ischen Bildtexten Claude Cahuns Obwohl Claude Cahun (1894-1954) herrschende Geschlechtercodes derart radikal und reflektiert zugleich durcheinander wirbelt, dass die literarischen, mehr noch die pikturalen Ergebnisse ihrer gezielten Selbsterforschung die Bedeutsamkeit und politische Relevanz von Singularität als

114 Zitiert nach Kuenzli (wie Anm. 97), S. 459f. (Ms. aus dem Nachlass). 115 Zitiert nach Gammel (wie Anm. 84), S. 135. 116 Sie hatte einen gewalttätigen Vater, verdiente ihr Geld im Tingeltangel, ‚ging durch viele Hände‘ (so Ludwig Klages) und musste dann verschmerzen, dass ihre große Liebe, Felix Greve, sie in den USA sitzen ließ. Trotz ihrer Heirat mit dem Baron, der 1914 in den Krieg zog, erhielt sie weder Erbe noch Rente, sondern lebte von den Almosen ihrer Freunde und schlug sich im Berlin der 1920er Jahre als Straßenverkäuferin durch, bevor sie, von Djuna Barnes nach Paris geholt, in einem billigen Hotelzimmer unter mysteriösen Umständen umkam.

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solcher hervortreten lassen,117 ist ihr Werk transmedial von einer Konstante geprägt, die es mit den bereits behandelten Projekten teilt, nämlich der auffälligen Rekurrenz signifikanter Spiegelstrukturen118 und quasimythischer Re-Konfigurationen.119 Beide Momente werden jedoch so gezielt an die Grenze ihrer Paradoxierung getrieben, dass sie sich selbstbezüglich auflösen, um einem Realen stattzugeben, das an seinem Platz bleibt, ohne symbolisiert werden zu können. „Otez Dieu, il reste Dieu!“,120 erwidert Cahun den nietzscheanischen Reden vom ‚Tode Gottes‘. Wieder droht die abenteuerliche Existenz einer ungewöhnlichen Künstlerin von der ästhetischen Differenzqualität ihres Schaffens abzulenken. Geboren als Lucy Schwob, entstammte Cahun einer großbürgerlichen Familie aus Nantes und hatte in Oxford und an der Sorbonne studiert. Ihr Onkel Marcel Schwob, ein bekannter Schriftsteller, stand in gutem Kontakt mit den poetischen Größen der Epoche, u.a. Wilde, Gide, Colette und Valéry. Als Tochter eines jüdischen Zeitungsverlegers republikanischer Gesinnung veröffentlichte Cahun zunächst neben journalistischen Artikeln auch Kurzprosa. Da ihre Mutter, von der sie schon früh getrennt wurde, in psychiatrischen Kliniken interniert blieb, heiratete ihr Vater 1917 in zweiter Ehe eine verwitwete Freundin der Familie. Zwischen Lucy, die sich um diese Zeit ihr Pseudonym samt bisexuellem

117 Cahun destabilisiere das Subjekt wie später Cindy Sherman: „But whereas Sherman posits multiple roles, Cahun posits multiple selves“, so Kline (wie Anm. 7), S. 79. Sie konstatiert indes eine gewisse formale Entradikalisierung in den fotografischen Arbeiten ab den 1930er Jahren. 118 So betont Chadwick (wie Anm. 7) in ihrer Einleitung, dass Cahun ab 1925 systematisch Spiegel und Spiegeltechniken benutzt habe, „to double and distort her image“. Ihre Ikonografie „of fluid, transgendered identity“ (ebd., S. 24) zeuge auch von der surrealistischen Faszination fürs Androgyne, die Frauen neue identifikatorische Chancen gegeben hätte: „The doubled image [...] provided women artists with a way of complicating otherness by reproducing it as sameness, by making the woman Other to herself.“ Ebd., S. 29. Tashjian (wie Anm. 28) bestätigt: „the hermaphrodite provided the surrealist women with an important strategy of selfassurance“ (ebd., S. 46), betont aber die Radikalität einer antimimetischen Mimikry im Sinne einer ‚Durchquerung des Spiegels‘ (Luce Irigaray) als „radical challenge to the entire project of self-representation“. Ebd., S. 40f. 119 Die sich nicht auf eine frauenspezifische ‚neue Mythologie‘ des Surrealismus in Gestalt von Fabeltieren beschränken. Vgl. Chadwick (wie Anm. 7), S. 13. Kline (wie Anm. 7), S. 79 redet von „strange hybrid objects and elaborate scenarios“. 120 Zitiert nach Leperlier (wie Anm. 1), S. 111.

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Vornamen zulegte,121 und ihrer Stiefschwester Suzanne Malherbe, einer talentierten Grafikerin, entsponn sich ein lesbisches Liebesverhältnis, das lebenslang andauerte. Nachdem das Paar die 1920er Jahre in Paris verbracht und in den 1930er Jahren Kontakte zur surrealistischen Bewegung, besonders zur politischen Gruppierung um André Breton, geknüpft hatte, zogen sich die beiden Frauen 1938 auf die Insel Jersey zurück, wo sie von 1944 bis zum Kriegsende als Widerstandskämpferinnen eingekerkert waren.122 Die Nazis hatten sie zum Tode verurteilt und dann begnadigt; Cahun starb jedoch 1954 an den Folgen der Haft. Obgleich ihre Fotocollagen bislang im Mittelpunkt einer verspäteten Rezeption stehen,123 möchte ich mich hier auf Ausschnitte aus dem schriftstellerischen Œuvre konzentrieren, das aber schon deswegen in enge Beziehung zum pikturalen124 Werk rückt, weil surrealistische „Bildkonzeptionen häufig in Texten vorbereitet“ und dadurch z.T. zur „visuellen Umsetzung eines literarischen Inhalts“ werden.125 Als von der Romantik wie von der Psychoanalyse beeinflusste Strömung, deren Etikettierung126 bereits auf den Glauben an eine unter dem Zeichen des Zufalls stehende ‚Überrealität‘ deutet,127 verbindet der Surrealismus Verfahren der Entautomatisierung mit einer Erforschung des Traumes, welcher als ‚Königsweg zum Unbewussten‘ das künstlerische Stimulans par excellence darstellt und die Äquivalenz von Wort und Bild motiviert.128 Strebt eine postromantische ‚neue Mythologie‘ das Wunderbare als ihr ethisch-ästhetisches Ideal an, wird der Mythos, der für sie stets zitierter ist, mit Privatmythologischem vermischt. Bei Cahun, die sich surrealistischen Männerfantasien wie z.B. 121 Der Nachnahme ist dem Orientalisten Léon Cahun entliehen, d.h. aus der väterlichen Linie, in der es zahlreiche Rabbiner gegeben hatte. Als kleines Mädchen wuchs Lucy bei der Großmutter väterlicherseits auf. 122 Claude Cahun hat zahlreiche Dokumente über diese Haft hinterlassen, u.a. lange Erinnerungsprotokolle in brieflichen Mitteilungen. 123 1997 gab es die erste deutsche Ausstellung im Kunstverein München. Vgl. den Katalog von Ander, Heike/Snauwaert, Dirk (Hrsg.): Claude Cahun. Bilder, München 1997. 124 Auf die Diskussion um die doppelte Autorschaft der beiden ‚siamesischen Schwestern‘ kann hier nicht eingegangen werden. 125 Nach Whitney Chadwick, zitiert in Graw (wie Anm. 21), S. 55. Dadurch ergab sich ein gewisses Inhaltsprimat, denn surrealistische Bilder wurden jetzt nicht mehr ausschließlich formalästhetisch beurteilt. 126 Der Begriff wurde 1917 von Guillaume Apollinaire geprägt. 127 Vgl. Starobinski, Jean: „Freud, Breton, Myers“, in: Bürger, Peter (Hrsg.): Wege der Forschung: Surrealismus, Darmstadt 1982, S. 153. 128 Vgl. dazu Siepe, Hans T.: „Im Grenzgebiet von Innenwelt und Außenwelt. Der französische Surrealismus (1919-1939)“, in: Grimminger u.a. (wie Anm. 104), S. 339ff.

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jener der Kindfrau129 völlig entzog, wird diese Legierung in ihren Doppelgänger-Collagen sinnfällig, die zudem die Spaltung von Auge und Blick, d.h. die Unmöglichkeit, sich (sich) sehen zu sehen, mitthematisieren. Viel stärker als in den traditionelleren Selbstbildnissen mit Maske oder vor dem Spiegel zeigt jene berühmte Fotomontage mit dem sprechenden Titel Que me veux-tu? (1928; Abb. 5) den aporetischen wie paranoiden Grundzug jeder Selbstbeziehung. Dort nähert sich Cahuns weißem kahl rasiertem130 Eierkopf – mit seinem erstaunten Gesicht aus der Vorderansicht – derselbe Glatzschädel noch einmal, doch von seitwärts im Profil, wie um seinem Double etwas ins Ohr zu flüstern, es zu liebkosen oder aber zu verletzen. Da man den beiden zwillingshaften Personen kein Geschlecht zuordnen kann,131 ließe sich „Was willst du von mir?“ nicht nur als Frage nach dem Wunsch, sondern auch als solche nach der Identität, vor allem der geschlechtlichen, verstehen.132 Ein Autoportrait von 1927 (Abb. 6), das die Selbstdarstellerin als Gewichtheberin mit deutlich aufgemaltem Kussmund, angeklebten Schmalzlocken und kitschigen Herzchen auf der Wange präsentiert, entlarvt den Körper nicht nur als Konstrukt, indem zwei Knöpfe als Brustwarzen aufs Trikot genäht sind, sondern macht sich zugleich über den Sportwahn eines dadurch (ent)sexualisierten new woman lustig, denn auf dem T-Shirt steht mit Lippenstift geschrieben: „I’m in training. Don’t kiss me“. Die pikturalen ‚Doppelpräsenzen des metamorphotischen Objekts‘, die sich später

129 Vgl. Breton, André: Arcane 17, Paris 1971, S. 62f. Seine Lobeshymne auf die Kindfrau als geschlechtstranszendente Retterin der Menschheit nimmt Gilles Deleuzes Utopie des ‚Mädchen-Werdens‘ vorweg. 130 In der französischen Provinz war damals noch der Kurzhaarschnitt ein Skandal. Vgl. Lièvre, Pierre: Reproches à une dame qui a coupé ses cheveux, Paris 1927. Der ‚Haarkampf‘ eskalierte in der Presse, wo vor Glatzenbildung durch modische Bob-Frisuren gewarnt wurde, z.B. in der satirischen Zeitschrift Fantasio (01.03.1924): „Attention, Mesdames! Si vous touchez trop à vos cheveux, vous ressemblerez, un jour, à de vieux messieurs!“ Zitiert nach dem Wiederabdruck in: Cahiers Gai. Kitsch. Camp, Nr. 23, 1993, Vorwort von Nicole Albert, o.S. 131 Vgl. Ades, Dawn: „Orbits of the Savage Moon. Surrealism and the Representation of the Female Subject in Mexico and Postwar Paris“, in: Chadwick (wie Anm. 7), S. 115: „While Duchamp’s Rrose Sélavy exists as a phantom female alternative, a switched identity, Cahun constructs a series of masks of either exaggerated or indistinct gender.“ 132 Dies lässt die psychoanalytisch als hysterisch ausgewiesene Frage „Was ist eine Frau?“ mitschwingen.

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vervielfältigen,133 fanden Widerhall in literarischen Versuchen, die sie begleiteten und ihnen bereits vorausgingen.

Abb. 5: Claude Cahun: Que me veux-tu? (1928), Fotomontage, Paris: Privatsammlung

Abb. 6: Claude Cahun: Autoportrait (1927), Fotografie, 12 cm x 9 cm, Jersey Heritage Trust Cahuns erste literarische Publikation Vues et visions (1914), die unter ihrem damaligen Pseudonym Claude Courlis im Mercure de France er133 So Leperlier (wie Anm. 1), S. 231: „superposition, fausse symétrie, redoublement, dispositif au miroir“. Das Double gehörte spätestens in den 1930er Jahren zum Leitmotiv des Surrealismus. Schon in Bretons Nadja taucht eine Wachsfigur als Doppel der Heldin auf. In den Schaufensterpuppen der „Exposition Internationale du Surréalisme“ (1938) serialisiert sich das enigmatische être-objet zwischen Erstarrung und Verlebendigung, in einer skulpturalen Allegorie einer Prosopopoie, die mit dem Pygmalionmythos spielt.

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schien, ist ein ihrer Geliebten gewidmetes spätsymbolistisches Prosagedicht,134 dessen 25 inhaltlich voneinander unabhängige Teile Suzanne Malherbe unter dem Namen Marcel Moore im modern style ornamentaler Arabesken in Beardsley-Manier illustrierte.135 Jedes dieser Sprachstücke verdoppelt sich, indem es sich gleichsam um die Seitenmitte klappt, deren Funktion einer fiktiven Spiegelachse von den die Schrift umrahmenden dekorativen Schwarz-Weiß-Zeichnungen noch verstärkt wird. Diese typografische Komposition bewirkt, dass sich der Text gleichsam wie ein Buch vor den durch ihn teilweise verdeckten Bildern aufschlägt, deren Ausblicke und Ansichten die poetischen Visionen ganz konkret umfangen. Diesem raffinierten Aufbau entspricht das Genre eines Diptychons, in dem der impressionistischen Beschreibung eines Gegenstandes, einer Landschaft, einer banalen Szene und den durch sie hervorgerufenen Eindrücken, Stimmungen oder Erlebnissen eine ähnliche, an einen anderen Ort und in die antike Vergangenheit übertragene Beobachtung in Ichform antwortet. Der leicht verzerrte Echoeffekt dieser quasi-musikalisch rhythmisierten Suiten beruht auf diversen Variationen ihrer Korrespondenzen, wie es schon das kürzeste Stückchen, „L’escalier“ (X), demonstriert: Le Croisic. – Je n’entends que la mer, je ne/ Cnide. – Je n’entends que la musique sacrée; vois que ses vagues. Je ne vois que la blancheur du temple. Toutes blancheurs d’écumes, de hauteurs Et les marches immenses, immaculées, différentes, ce sont les marches immenses rappellent à nos yeux que Cypris fut portée du temple marin d’Aphrodité. sur des vagues d’écume.136

Der semantischen Modulation einer identischen Syntax folgt im zweiten Satz der das Sprachbild verzeitlichende Unterschied zwischen Metapher und Vergleich, spontanem Einfall und distanzierendem Zitat eines historischen Gedächtnisses. Zwischen moderner Innerlichkeit und dem Rückgriff auf ihr kulturelles Erbe, in dessen Fremdheit sie sich wieder (v)erkennt, wird rhetorisch eine Grenze gezogen, bloß um sie wieder zu über134 Das in seinen Lyrismen und synästhetischen Imagines an die von Pierre Louys beeinflusste Renée Vivien (i.e. Pauline Tarn) erinnern könnte, wären da nicht die strenge typografische Form und die leise Ironisierung der elegischen Haltung. Vgl. Theisen, Josef: Die Dichtung des französischen Symbolismus, Darmstadt 1974, S. 70ff. 135 Jacqueline Lamba-Breton gegenüber, der sie es 1939 schickte, betont Cahun den etüdenhaften Charakter einer Jugendarbeit, die – unter Anspielung auf den surrealistischen Kindheitskult – dennoch ihre alten Träume bewahrt habe: „c’est de cette façon qu’elle jouait aux versions latines et aux dissertations françaises“. Zitiert nach Cahun, Claude: Ecrits, hrsg. v. François Leperlier, Paris 2002, S. 20. 136 Ebd., S. 60f.

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schreiten. So findet sich die Symmetrie der raffinierten Doppeltexte, die dem Prinzip von Analogie, Inversion und Transposition folgen, jedesmal mehr oder weniger stark irritiert. La Brume Le Croisic. – Fera-t-il beau temps? Fera-t-il mauvais temps ? La brume épaisse nous le cache Il fait déjà grand jour, et [...] le soleil vient de se lever. [...] Du côté de la haute mer, on distingue l’horizon, car le ciel est gris-rose et la mer gris-bleu; la ligne qui les sépare est, comme il sied, gris-mauve. Je ferme un instant mes yeux qui commencent à voir flou ; pour contrôler leur impression, je les rouvre. [...] Il fait beau temps. Au milieu du Traict se déploie la voile blanche d’un bâteau de plaisance. Elle aussi avait prévu qu’il ferait beau.

Le Voile Alexandrie. – Sont-elles jolies ou laides? Un voile de gaze enroulé nous les cache. C’est le jour des Aphrodisies et le temple vient de s’ouvrir. [...] toutes deux […] si différentes qu’enlacées on les reconnaît facilement : l’une est gris-rose, l’autre gris-bleu, et l’ombre qui les joint est, comme vous l’auriez deviné, gris-mauve. Je ferme un instant mes yeux qui commencent à voir flou ; pour contrôler leur impression, je les rouvre. [...] Elles sont jolies. Au milieu du temple s’offre à nos regards la déesse de marbre blanc. Petites courtisanes, elle vous sera favorable […]. (XIV)137

François Leperlier zufolge gehen impressionistische Wahrnehmungen, in denen die Farbgebung im Stil lyrischer Pastelle dominiert, zur symbolistischen Erfahrung einer höheren Wirklichkeit über, die durch lautliche Entsprechungen und optische Täuschungen entsteht. Daher trägt der an Pierre Louys oder Renée Vivien erinnernde Rekurs auf antikisierendes Dekor in Cahuns preziösen Kleinoden vor allem zum Augentrug bei. Wie man den Wassertropfen für einen Aquamarin, die Sonne für eine Lampe halten kann, sieht die liebende Umarmung einem Kampf zum Verwechseln ähnlich. Unter halluzinatorischer Tagträumerei138 klafft jedoch die Zweideutigkeit der Wirklichkeit auf. Doch bleibt es in der Schwebe, ob sie in ihrer geschlechtlichen Ambivalenz überhaupt noch ein sexuelles Geheimnis verbirgt. Formal macht das willkürliche Element eines vermittelnden Dritten aus der Metapher eine Analogie zwischen zwei lediglich benachbarten Relationen. Wenn die Möwe in den möderischen Wogen versinkt wie der Würfel im Gewand des falsch spielenden Matrosen, so wird die Ähnlichkeit dieser Sinneseindrücke dadurch gewährleistet, dass das Meer so schmutzig wie der Kleiderstoff ist (IV).139 Manchmal 137 Ebd., S. 76f. 138 So Leperlier (wie Anm. 1), S. 33: „La réalisation poétique est tout à la fois une intériorisation et une métamorphose du donné.“ 139 Die vergleichende Brücke kann auch ein (paradoxer) Kontrast sein, etwa zwischen dem Lärm des Badeorts (Le Croisic) und der Stille der Großstadt (Rom). Sprichwörtlich wird die Doxa aus dem Imaginären geboren, die

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scheint hinter der Kontiguität ein hermeneutischer Sinn verborgen: Schreiten zwei menschliche Gestalten unter ‚antikem Licht‘ heiter voran, so entfernen sie sich in der ‚modernen Nacht‘ ins unbekannte Dunkel (XXIV). Trotz ihres Pastiche-Charakters wird in diesen jugendlichen Schreibübungen eine auch fotografisch genutzte Falttechnik entwickelt, deren projektive Assoziationen an einen psychologischen Test gemahnen: The fold in Cahun’s work results not only from her use of a mirror to produce the effect of the real as a kind of giant Rorschach blot, in which authentic and copy chase each other’s tail, but also […] from her use of masks to create a kind of fold in the realm of subjectivity – personhood exfoliating into persona […].140

So entspricht der Zerstückelung des weiblichen Körpers die seelische Fragmentierung in einem Spiel mit ‚multiplen Identitäten‘. Cahun ist ihrer symbolistischen Verhaftung141 erst mit der Mythentravestie Héroïnes (1925) entronnen. Diese vierzehn satirischen Porträts legendärer Frauengestalten, in denen Helena als Rebellin oder Aschenputtels Prinz als Schuhfetischist erscheint, unterhöhlen formale wie inhaltliche Muster der Vitentradition142 durch Gattungsmixturen, Wortspiele und den nivellierenden Einbezug moderner Alltagssprache. So werden Idole der Weiblichkeit durch einen sexualwissenschaftlichen oder feministischen Diskurs verunreinigt. Das vorletzte Kapitel dieser subversiven Kontrafaktur, „Salmacis, die Suffragette“, hat sich die Autorin bezeichnenderweise selbst gewidmet. Es vermischt zwei Origomythen abendländischer Androgynie, den Ovid’schen Hermaphroditenmythos und die aristophanische Sage von den Kugelmenschen aus Platons Gastmahl, um (bi)sexuelle Doppelgeschlechtlichkeit zu einer ‚transmaterielle „amitié par intérêt“ dem spirituellen „intérêt de l’amitié“ (XII) entgegengesetzt. 140 Krauss (wie Anm. 4), S. 42 u. 47. Sie vergleicht dies mit Duchamps „folded self-portraits to explore identity“, einer Technik, in der die Positionen von Objekt und Betrachter zu oszillieren begännen. 141 Wie sie sich gegenüber Adrienne Monnier beklagte. Vgl. Leperlier (wie Anm. 1), S. 39. 142 Den Vies imaginaires Marcel Schwobs und den Moralités légendaires Jules Laforgues nachempfunden, müssten sie wohl eher mit Djuna Barnes Ladies’ Almanach (1928) in Beziehung gebracht werden, obzwar Cahun keine direkten Kontakte zu den Left-bank-Amerikanerinnen hatte. Vgl. dazu Benstock, Shari: Femmes de la Rive Gauche. Paris 1900-1940, Paris 1987, S. 239ff., die Barnes’ Schlüsselroman über die ‚lesbische community‘ einen „mythe lesbien des origines“ (ebd., S. 249) nennt, der die heterosexuelle Homogenität zum Inversspiegel der homosexuellen mache.

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sexuellen‘ Körper-Seele-Diskrepanz umzufunktionieren, die nur im Paradox steriler Selbstliebe enden kann: Salmacis, la première, se rendit volontairement stérile. [...] elle désarma le fils d’Hermès et d’Aphrodite, et pour plus de sûreté se fit retirer les ovaires. [...] Et la fleur double de leurs corps […] devenait immortelle […] Mais l’Amour [...] prend le monstre pour cible, le hérisse de nouveaux désirs: Eternellement insatisfait, ce couple étrange […] assaille femelle et mâle […] jaloux de soimême. [...] un conseil de famille leur accorde ce déguisement de leur crime: leur corps infâme sera détruit […]; leur âme […] sera divisée de nouveau […]. A cette condition: l’esprit de Salmacis […] devra habiter un corps d’homme; celui d’Hermaphrodite […] un corps de femme! Leur châtiment sera de subir […] les désirs contre nature que leur apparence fera naître.143

Bestand die List Amors darin, das selbstgenügsame androgyne Monster, das sich der Fortpflanzung verweigert,144 sexuell zu pervertieren, nimmt die Strafe der Götter die Möglichkeit der Erfüllung seines Verlangens dadurch zurück, dass sein sexuierter Körper genau diejenigen anzieht, die seine Seele verschmäht. Auch gegenseitig vermögen sich männliche und weibliche Androgyne nicht mehr zu begehren. Alles läuft nur noch über Worte, die Lust am Geschwätz, wie sie sich damals bereits in den intimen Geständnissen der Unterhaltungspresse ausbreitet. Platonische Liebe hat also ironischerweise ihren christlichen Sinn in der Keuschheit gefunden. Doch Cahun verankert ihre Allegorie der fehlenden Reziprozität145 ‚verfluchter‘ Geschlechter, deren literarische Typen oftmals der homosexuellen Subkultur entstammen,146 zynisch in der geschlechtshierarchischen Einseitigkeit eines männlichen Narzissmus:147 143 Cahun (wie Anm. 135), S. 155f. 144 Cahun, die schon als Kind Mutterschaft ablehnte, verzichtet auch hier nicht auf burleske Seitenhiebe: „Au bord du sillon moissonné, déjà semaient-ils pour la saison prochaine.“ Ebd., S. 155. 145 So Leperlier (wie Anm. 1), S. 55: „L’identité demeure captive de l’altérité qui la dénonce, qu’elle désire et décline à la fois. La réconciliation est impossible.“ 146 Vgl. neben zahlreichen Autoren der Unterhaltungsliteratur (Jean de la Vaudère, Francis Carco usw.) vor allem Colette: Ces plaisirs, Paris 1932. 147 Dies betont auch Oberhuber, Andrea: „‚Que Salmacis surtout évite Salmacis!‘ Claude Cahuns literarisch-fotografische Verkörperungen des Anderen“, in: Dirk Naguschewski/Sabine Schrader (Hrsg.): Sehen. Lesen. Begehren. Homosexualität in französischer Literatur und Kultur, Berlin 2001, S. 68. Nathalie Barney etwa glaubte noch mit Balzac an narzisstische Androgynie: „A un être double, point n’est / besoin de partenaire, / Ainsi vit Séraphîtus-Séraphîta / Ange à lui-même accouplé, armé du délice

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Que Salmacis surtout évite Salmacis! Un seul [...] soulagement au sort d’Hermaphrodite [...]: un corps, une âme bien accordée – c’est assez pour faire l’amour. Hermaphrodite peut aller chez Narcisse – et s’y présenter de ma part.148

Cahun, die nicht für Minderheiten militierte, aber Homosexualität als Ausdruck des Individualismus verteidigte,149 begegnet dem ‚Bovarismus‘ ihrer zerrissenen Seele mit ironischer Selbstvergötterung.150 Dies wird in ihrer mit Fotocollagen bebilderten Anti-Autobiografie Aveux non avenus (1930) überdeutlich. Das aus neun Kapiteln mit enigmatisch abgekürzten Titeln151 bestehende ‚Essay-Poem‘, das neben Traumberichten, Dialogen und Kurzerzählungen auch Auszüge aus Briefen und Tagebüchern sowie philosophische Aphorismen und Maximen enthält, stellt thematisch das unmögliche Verhältnis von Liebe und Selbstliebe152 in den Vordergrund. Im II. Kapitel mit der Überschrift „Moi-Même (faute de mieux)“153 rechnet die Verfasserin ironisch mit einem Mythos ab, indem sie Narziss vorwirft, gar nicht sich selbst, sondern bloß sein Bild zu lieben, das ihm doch die ganze Welt widerspiegele. Le mythe de Narcisse est partout. Il nous hante. Il a sans cesse inspiré ce qui perfectionne la vie, depuis le jour fatal où fut captée

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de soi, / Hermaphrodite céleste, contemplant / La défaite de notre amour divisé“. Zitiert nach Benstock (wie Anm. 142), S. 294. Cahun (wie Anm. 135), S. 156. Eventuelle Kontakte zu den lesbischen Zirkeln und Salons im Paris der 1920er Jahre, die Cahun über Adrienne Monnier, mit der sie befreundet war, hätte knüpfen können, sind meines Wissens noch relativ unerforscht. Doch bei Cahun fehlt jenes Proselytenbegehren, das Djuna Barnes bei Nathalie Barney ironisiert, die in der Maske der „Evangéline Musset“ ihr Leben zu opfern bereit ist, um Damen vor den Gefahren der Heterosexualität zu retten. Vgl. Benstock (wie Anm. 142), S. 251f. Dieu × Dieu = moi “ „ Dieu heißt die Stirner’sche Gleichung. Leperlier (wie Anm. 1), S. 73. Z.B. „I.O.U.“, der allerdings als „I owe you“ im Text selbst decodiert wird. „Et moi? Moi? …crie quelqu’un: moi-même“. Zitiert nach Leperlier 1992, S. 123. Insofern könnte auch der neckische Dialog zwischen einer Frau, ihrem Gatten und ihrem Geliebten als narzisstischer Sketch gelesen werden, der ein ‚Ich selbdritt‘ im Gefängnis seiner Phantasmen vorführt. Vgl. „Aurige“ (1930), in: Cahun (wie Anm. 135), S. 241-266. Der Untertitel spielt auf den Sirenenmythos an: „La sirène succombe à sa propre voix“, in: ebd., S. 203.

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ANNETTE RUNTE l’onde sans ride. Car l’invention du métal poli est d’une claire étymologie narcissienne.154

Obwohl sich die psychische Disposition ihrem Medium, dem Spiegel, verdankt, entspringt die für sie typische Frustration dem Paradox eines Selbstbegehrens: C’est bien le supplice de Tantale. Mais ce qui désespère Narcisse, ce n’est pas […] le froid qui sépare la vitre de l’image. […] Il voit de son idéal assez pour le dégoûter du reste du monde, – […] trop peu […] pour le contenter.155

Da die symbolische Figur des Narziss, die Cahuns Leben und Werk bestimmt,156 mit jener des Androgynen157 überblendet ist, lässt sich darin eine imaginäre Fixierung erkennen,158 die die Geschlechterdifferenz neutralisiert: „Brouiller les cartes. Masculin? Féminin? [...] Neutre est le seul genre qui me convienne toujours.“159 Die symptomatische Spur dieser Verwerfung führt zu einer ständig unterbrochenen Mutter-Kind-Dyade zurück, die Cahun in ihren assoziativ geschriebenen „Bekenntnissen vor dem Spiegel“, Confidences au miroir (1945-46), mehrmals zu vergegenwärtigen sucht.160 Ihre Mutter, Victorine Mary Antoinette Courbebaisse, die als Katholikin zum Protestantentum übertrat, ist der töchterlichen Einschätzung zufolge von ihrer eigenen Familie verrückt gemacht und ins Irrenhaus eingeliefert worden.161 Ein surrealistisches Traumprotokoll 154 155 156 157 158 159

Ebd., S. 218. Ebd., S. 220. So der Biograf und Herausgeber Leperlier (wie Anm. 1), S. 123 u. 125. „La métaphore de Narcisse redouble celle de l’androgyne“. Ebd., S. 123. Vgl. ebd., S. 58, 103ff. u. 108f. Cahun (wie Anm. 135), S. 266. Cahun „tendra toujours à se situer hors de la culpabilité (et donc hors de la transgression), dans l’imaginaire plutôt que dans le symbolique“, so Leperlier (wie Anm. 1), S. 121. 160 „Les circonstances de ma petite enfance, les procès Dreyfus, l’obsédante absence de ma mère, traitée en ‚aliénée‘, considérée par les siens […] comme une honte, […] ses ‚crises‘, le déchirement de lui être arrachée, rendue pour en être de nouveau séparée […] mon père surmené de travail, moralement écrasé, […] [ces] circonstances…ne furent-elles pas toutes an faveur d’une retraite au-dedans de soi“. Cahun (wie Anm. 135), S. 585. Und bald darauf schaltet sich eine Frage nach dem ‚Geschlecht der Zeichen‘ ein: „Les signes ont-ils un sexe? Mon multiple est humain. Un signe hermaphrodite ne suffirait pas à le rendre“. Ebd., S. 586. 161 „Mary-Antoinette, bizarre, entre un père qu’elle adorait [...] et sa mère […] au tempérament capricieux, […] préférant sa fille cadette […]. MaryAntoinette était mal adaptée […] Son premier enfant fut une épreuve. […] A la nouvelle épreuve de ma naissance, l’affaire Dreyfus, ses répercussions dans le milieu mondain, les soucis de mon père, […] les récrimi-

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von 1925, das mit „Kindheit“ überschrieben ist, verdichtet in einem krassen Bild den Muttermord: Das kleine Mädchen, das auf dem Schoß seines Vaters sitzt, merkt plötzlich, dass sich im sargförmigen Heizofen, den der Herr Papa einschaltet, die Mutter befindet, die langsam zu Asche verbrennt.162 Doch die Beziehung zu einem mütterlichen Opfer, das mit einer lebendigen Fackel verglichen wird, erscheint selbst im verklärenden Erinnern konfliktuell.163 Ihr Haken liegt nämlich in der zwiespältigen Haltung der Mutter gegenüber ihrer Tochter, in der sich auch der damalige Antisemitismus bemerkbar macht. Denn Victorine Schwob missfällt die Physiognomie ihres Kindes, das sie wegen seiner Adlernase „mein kleines krummes Häkchen“ nennt: „Maman me nommait ‚mon petit crochon‘! Elle me retroussait le bout du nez. Elle s’attristait de constater que […] je n’avais pas le nez grec. Mes oreilles un peu décollées la désolaient.“164 Doch aus dem Kosenamen „crochon“165 (‚krummes Häkchen‘) kann unversehens ein Schimpfwort, cochon (‚Schwein[chen]‘), werden und die Zärtliche zur Furie: Maman a le calme sourire et les formes d’une statue […] Mais d’un coup, c’est brisé. [...] le visage est défait, un mouvement l’emporte. [...] Je sens venir ses crises. Ça commence par le ‚petit cochon‘ […]; ça continue par le refus de m’embrasser, de me voir…Il y a des cris, des larmes, de grands gestes […] je m’enfuis, poursuivie par […] une diablesse…Elle m’allonge d’un coup de pied aux reins. Je tombe [...] elle tombe à genoux près de moi et se met à hurler […] On nous sépare.166

Wenn die Liebe der Mutter an einem einzigen Buchstaben hängt, ist das Subjekt von Vernichtung bedroht. Cahun, die zunächst in einer Großmutter, dann in ihrer Halbschwester einen Ersatz für das Verlorene fand, suchte die Stütze ihrer Existenz in der Kunst. Dabei wird der Entzug eines Ursprungs, der als traumatischer undarstellbar ist, durch eine Kas-

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nations de la famille catholique […] firent pencher la balance. […] Toinette sombra dans la ‚folie‘.“ Ebd., S. 606. „Récits de rêves“ (1925), in: Cahun (wie Anm. 135), S. 483. Leperlier 1992, S. 19 leitet daraus Cahuns Anorexie, ihre Ablehnung der Mutterschaft und des weiblichen Körpers, ihre Ängste und ihren ‚Hypernarzissmus‘ ab: „la relation [...] conflictuelle à la mère [...] va [...] barrer l’accès à un père affectionné, idéalisé [...], mais peu présent et dont l’autorité est minée“. „Confidences au miroir“, in: Cahun (wie Anm. 135), S. 618. Das Wort „crochon“ existiert im Französischen nicht, aber in ihm verdichtet sich das Adjektiv croche (‚krumm‘) mit dem Verb crocher (familiär: ‚sich anklammern‘) und dem Substantiv crochet (‚Haken‘, ‚Häkchen‘). Cahun (wie Anm. 135), S. 619.

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kade von Bildern und Metaphern supplementiert. Doch das souveräne Maskenspiel erschöpft sich im melancholischen Narzissmus eines Neutrums. Imaginäre Verdoppelung führt durchs Spalier der heimlichen Doubles und unheimlichen Klone zur paradoxen Figur einer Leere, die sich nicht zuletzt als kahler Schädel exponiert. Was bleibt, ist das ‚nackte‘ Verlangen nach Anerkennung. War Ida Rubinsteins ästhetizistisches Pastiche im dekadenten tableau vivant eines fading of gender eingefroren, erwies sich dieser theatralisierte ‚Geschlechterschwund‘ als mystische Allegorie weiblichen Epigonentums im mythischen Bild einer Metamorphose der fatalen Frau in einen androgynen Jüngling. Die damit verbundene metaphorische Entsexualisierung einer ‚hom(m)osexuellen‘ Figur männlich dominierter Doppelgeschlechtlichkeit wird in der grotesken Vermischung geschlechtlicher Codes, wie sie die Dadaistin Elsa von Freytag-Loringhoven mit ihrem performativen body art selbst verkörperte, wieder zurückgenommen. Ihre radikale Mythenkritik fordert die maskulinistische Avantgarde nicht nur auf deren eigenem Terrain lustvoller Kunstzerstörung heraus, sondern vertauscht dabei die geschlechtlichen Rollen. Der Zug zur ironischen Inversion enteignender Aneignung weicht bei Claude Cahun, deren Text-Bild-Kombinationen surrealistische Demontage- und RecollageTechniken geschlechtersemantisch aufladen, einer selbstreferentiellen Paradoxierung, mit der die Transgression ihre dekonstruktive Grenze erreicht. Das differentielle Moment neutralisiert sich selbst aufgrund der Persistenz symptomatischer Spaltungs- und Verdoppelungsverfahren, welche die Präponderanz des Imaginären verdeutlichen, die alle drei Projekte mit postmodernem transgendering167 und seiner theoretischen Diskursivierung168 teilen.

167 Vgl. z.B. polymorph (Hrsg.): (K)ein Geschlecht oder viele? Transgender in politischer Perspektive, Berlin 2002. 168 Vgl. Žižek, Slavoj: Sehr innig und nicht zu rasch. Zwei Essays über sexuelle Differenz als philosophische Kategorie, Wien 1999, der Judith Butler vorwirft, das „fundamentale Phantasma, das als der letzte Halt des Subjekt-Seins fungiert“ mit jener „symbolische[n] Identifizierung“ zu verquicken, die bereits Reaktion auf ein Trauma ist (ebd., S. 35). Damit eskamotiere sie nicht nur das Lacan’sche Reale, sondern setze der „Beständigkeit des Symbolischen die Hegelsche Dialektik von Voraussetzen und Setzen entgegen“ (ebd., S. 31), womit sich ihre Utopie ironisch-parodistischer Verschiebung in eine Anerkennungsproblematik einschreibt.

SABINE SCHRADER

„LA TESTA GLI ESPLOSE“ – KÖRPER UND MEDIEN IN DEN TEXTEN DER 1 GIOVANI SCRITTORI DER 1990ER JAHRE Mitte der 1990er Jahre sorgten die giovani scrittori, zu denen auch die gioventú cannibale zählt, in Italien für Aufsehen.2 Die Texte von Aldo Nove und Niccolò Ammaniti simulieren Filme oder Videoclips, der Leser zappt sich durch die einzelnen Textfrequenzen. In Daniele Del Giudices Erzählband Mania treiben Schlagermelodien zum Mord, Geschichten finden ihr Forum in Netgroups, Identitäten verbergen sich hinter e-mail-Adressen. Von der Fotografie, dem Film und den ‚Neuen Medien‘ wird nicht nur berichtet, vielmehr werden die ästhetischen Konzepte von Film, Fernsehen, Video und Internet in den literarischen Kontext evoziert. Auffällig ist bei den oben genannten Texten nicht nur die Präsenz der analogen bzw. digitalen Medien auf der Ebene der histoire und des discours,3 sondern ein Leitmotiv, das im Internet im „corso di scrittura narrativa a puntate“ in der fünften Folge unter dem Titel „Istruzioni per scrivere un racconto cannibale“ neben der Beschreibung der Erzählsituation und der typischen Lexik wie folgt ironisch kommentiert wird: CONTENUTI. Il racconto cannibale di base (rcb) contiene di regola la distruzione di (almeno) una persona. Non esiste una sostan1 Der Artikel basiert auf einem auf dem Romanistentag in München 2001 gehaltenen Vortrag. 2 Unter giovani scrittori versteht man zum einen diejenigen Autoren, die im ausgehenden 20. Jahrhundert ihre ersten Erfolge feierten wie z.B. Antonio Tabucchi, aber auch tatsächlich eine jüngere Generation an Schriftstellern, die in der zweiten Hälfte der 1960er/Anfang der 1970er Jahre geboren wurde. Der Name der ‚Gioventú cannibale‘ geht wiederum auf die 1996 erschienende Anthologie zurück: Brolli, Daniele (Hrsg.): Gioventú cannibale. La prima antologia italiana dell'orrore estremo, Turin 1996. 3 Vgl. hier Rajewsky, Irina: Intermediales Erzählen in der italienischen Literatur der Postmoderne, Tübingen 2003. Rajewsky arbeitet in ihrer Monographie die intermedialen Bezüge in den Texten der giovani scrittori heraus und entwickelt daraus eine Klassifikation intermedialer Bezüge.

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SABINE SCHRADER ziale differenza tra i racconti cannibali di strage (rcs) e i racconti cannibali di assassinio singolo (rcas). Il numero di vittime del rcb è casuale e dipende, in genere, dal numero dei presenti nel luogo (stanza, abitazione, quartiere ecc.) nel quale avviene la distruzione. Le varianti principali sono due: il racconto cannibale con distruzione dell'antagonista (rcda, il più comune) e il racconto cannibale con distruzione del protagonista (rcdp, meno comune).4

Die Körper werden in vielen Texten vergewaltigt, massakriert, getötet. Auch die Titel anderer Erzählbände wie Anticorpi, Costretti a sanguinare, Destroy oder Anime Pixel verweisen auf den bedrohten Leib. Während also zum einen die technischen Massenmedien Film und Fernsehen die ästhetisch-formale Struktur der Texte prägen, steht gleichzeitig der Körper der Protagonisten zur Disposition. Am Beispiel von drei ausgewählten Texten – Niccolò Ammanitis L’ultimo capodanno dell’umanità,5 Aldo Noves Erzählung Il mondo dell’amore6 und Daniele Del Giudices Evil Live7 werde ich die Verknüpfung von neuen Medien und Körper reflektieren, vorher aber soll kurz auf das italienische ‚Phänomen‘ der giovani scrittori eingegangen werden.

Der Erfolg der giovani scrittori Die Texte erzielten hohe Auflagen und wurden zugleich von politisch so unterschiedlich positionierten Literaturkritikern wie Giulio Ferroni und Remo Ceserani als Texte des ‚respiro corto‘ heftig kritisiert,8 als qualitativ minderwertige Texte, die ausschließlich den Marktanforderungen gehorchten.9 Schon allein durch diese Polemik sind die Texte selbst zu ei4 Mozzi, Guido: „Istruzioni per scrivere un racconto cannibale. Corso di scrittura narrativa a puntate“, URL: http://nautilus.ashmm.com/9612it/letture/ corso.htm, 18.12.2005. 5 Ammaniti, Niccolò: „L’ultimo capodanno“, in: ders.: Fango, Mailand 1996, S. 9-122. 6 Nove, Aldo: „Il mondo dell’amore“, in: Brolli (wie Anm. 2), S. 53-62. 7 Del Giudice, Daniele: „Evil Live“, in: ders.: Mania, Turin 1997, S. 65-83. 8 Ferroni, Guido: Dopo la fine: Sulla condizione postuma della letteratura, Turin 1996, S. 152; Ceserani, Remo: „Sperimentazione narrative e condizionamenti del mercato nell’epoca postmoderna“, in: Horizonte, Jg. 4, 1999, S. 83-97. 9 Barilli, Renato: È arrivata la terza ondata: Dalla neo alla neo-avanguardia, Turin 2000; Sinibaldi, Marino: Pulp. La letteratura nell'era della simultaneità, Rom 1997. Von Renato Barilli werden die jungen Autoren als ‚normalizzanti‘ bezeichnet, da sie wie einst aber weniger brillant als die gruppo 63 auf alte Techniken zurückgreifen. Sinibaldi erhebt den Vorwurf, dass sie wie ein Videoclip seien, wobei nur dieser – wenn überhaupt – in

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nem Medienereignis der ausgehenden 1990er Jahre geworden. Die Autoren traten in Talkshows auf, die Lesungen wurden zu Popevents. Der erste Band von La Bestia konnte im Internet abgerufen werden10 und damit griff die generazione MTV, wie sie in den Feuilletons genannt wurde, auf die neuesten Medien zurück – allerdings als eine Form für die Veröffentlichung und nicht ihr kreatives Potential nutzend.11 Wir haben es mit einer Literatur zu tun, die weder eine Schule konstituiert noch ein Programm hat. Andererseits: So unterschiedlich die Schreibweisen sind, so auffällig ist die gemeinsame Orientierung weg von den kanonisierten nationalen diachronen Textmodellen hin zu intermedialen synchronen Bezügen über die nationalen Grenzen hinweg, so dass man in Hinblick auf diesen multimedialen plurilinguismo fast von einem Paradigmenwechsel sprechen könnte, der sich mit der nuova narrativa italiana vollzogen hat, wäre diese Literatur nicht ein sehr kurzfristiges Phänomen gewesen. Schon wenige Jahre später hatte sich die gioventú cannibale weitgehend erschöpft, die Autoren versuchen sich seitdem in anderen Erzählweisen. Die Vehemenz der Texte, aber auch die der Kritik erklärt sich aus der italienischen Literaturgeschichte des Novecento, die bis dato in höherem Maße als andere Literaturen eine „anthropozentrische Literatur“ ist.12 Rudolf Behrens argumentiert in Anlehnung an Adorno zu Recht, dass, wenn der Kunst die Aufgabe zukomme, das Besondere zu retten, gerade die italienische Literatur der Nachkriegszeit versuche, das empirisch Besondere zu fixieren.13 Dies geschieht beispielsweise durch eine

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seiner Ursprünglichkeit von Interesse sein könne. Zur Rezeption in den Feuilletons vgl. die ansonsten eher literatursoziologische Arbeit von Pezzarossa, Fulvio: C'era una volta il pulp. Corpo e letteratura nella tradizione italiana, Bologna 1999, S. 9-23. AAVV: „La Bestia“, URL: http://www.bestia.org/num.1.htm, 30.09.2000. Den Hinweis verdanke ich Hofmeister, Alexander: „Dentro la televisione, ci siamo noi“. Zur Intermedialität der „letteratura cannibale“: Fernsehen und Pop-Musik in Aldo Noves Puerto Plata Market“, in: Horizonte, Jg. 6, 2001, S. 63-91. Eine Ausnahme bildet aus heutiger Perspektive sicher Giulio Mozzi, der heute beispielsweise zu den Bloggern zählt. Behrens, Rudolf: „Beschränkt oder konkret? Enge Kontextbildung und Vorbehalt gegenüber ‚der‘ Moderne in italienischer Erzählliteratur“, in: Harth, Helene/Marx, Barbara/Wetzel, Hermann (Hrsg.): Konstruktive Provinz: Italienische Literatur zwischen Regionalismus und europäischer Orientierung, Frankfurt a.M. 1993, S. 11-33, hier S. 13; Asor Rosa, Alberto: „Centralismo e policentrismo nella letteratura italiana unitaria“, in: ders. (Hrsg.): Letteratura italiana. Storia e geografia, vol. III: L’età contemporanea, Turin 1989, S. 5-74. Behrens (wie Anm. 12), S. 15ff; vgl. auch Ceserani, Remo: Raccontare la letteratura, Turin 1990, S. 64ff.

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regionale Kontextbindung, die ein klar eingrenzbares Wahrnehmungsfeld mit sich bringt, durch ein stark mündlich geprägtes oder autobiographisches Schreiben, das den Menschen ebenfalls an ein leibliches Hier und Jetzt bindet. Mit anderen Worten: In der italienischen Literatur des Novecento dominiert die Vorstellung einer sich in ‚Echtzeit‘ und ‚Echträumen‘ bewegenden Subjektivität, die sich im Widerspruch zur zeitgenössischen Medienrealität bewegt, auf die weiter unten eingegangen wird. Die giovani scrittori nun überführten diese Literaturtradition in eine Literatur der massenmedialen Präsenz.

Gioventù cannibale Ammanitis Erzählband Fango wird von dem Literaturwissenschaftler Filippo La Porta als „il manifesto del pulp italiano“14 verstanden. Schon die Bezeichnung Pulp verweist auf den Prätext, nämlich Quentin Tarantinos Film Pulp Fiction (1994), der sich durch eine große Dichte an intermedialen Bezügen auszeichnet, viele davon aus der Populär- bzw. Trivialkultur, auch durch die permanenten, aber unmotivierten Gewaltszenen und deren ironische Brechung.15 Diese Verfahren finden sich – wenn auch unterschiedlich gewichtet –in den Texten der gioventú cannibale wieder. Beispielhaft soll hier die erste und längste Erzählung L’ultimo capodanno dell’umanità besprochen werden. Sie spielt in den Wohnungen der palazzi Ponza e Capri, einem Wohnkomplex am Rande Roms, am „Martedì 31 dicembre 199...“.16 Erzählt werden die Beziehungslosigkeit, die Desillusionen, die Neurosen und die Einsamkeit der Mieter/innen und ihrer Sylvestergäste. Die Nacht endet für fast alle mit dem Tod, da die Häuser aufgrund einer Verkettung unglücklicher Umstände in die Luft gesprengt werden. Die histoire der zeitgleich mit Fango erschienenen Erzählung Il mondo dell’amore von Aldo Nove ist ebenfalls schnell zusammengefasst: Zwei Freunde vertreiben sich am Wochenende ihre Zeit mit Ausflügen in die umliegenden Gewerbeparks. Sie erstehen im Supermarkt Iper ein Pornovideo mit dem Titel Il mondo dell’amore, das überraschenderweise zunächst eine scheinbare Geschlechtsumwandlung, später eine Kastration, dokumentiert. Die Erzählung endet damit, dass sich der Ich-Erzähler und sein Freund Sergio mit einem Küchenmesser kastrieren, den Fernseher etwas lauter stellen und langsam verbluten; der im Text 14 La Porta, Filippo: La nuova narrativa italiana, Turin 1999, S. 266. 15 Zur Ästhetik des Pulps, vgl. Rajwesky (wie Anm. 3), S. 266-360. 16 Ammaniti (wie Anm. 5), S. 11.

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immer wieder rekurrierende Satz aus der Werbung „OK, il prezzo è giusto“ bleibt diesmal unvollendet. Die intermedialen Bezüge in beiden Erzählungen entsprechen zunächst expliziten Systemerwähnungen, d.h. das Altermedium Film wird konkret erwähnt.17 L’ultimo capodanno dell’umanità enthält zahlreiche Anspielungen auf die Film- und Fernsehwelt. Für den zugekifften Ossadipesce wird z.B. die familiäre Sylvesterparty eines Freundes zu einem getarnten Miami Vice: „No, quella non è tua madre. Ascoltami! Ascoltami bene! Sono quelli di Miami Vice. [...] Sanno imitare la voce di tua madre alla perfezione“.18 Die einsame Filomena Belpedio verbringt den letzten Abend des Jahres auf ihrem Sofa mit „il telecomando stretto in mano“19 und zwar mit dem Plan, sich mit Schlaftabletten das Leben zu nehmen. Ausgeprägter noch sind die expliziten Systemerwähnungen in der Erzählung von Nove. Die Welt der Medien ist durch die Werbung und durch Fernseh-Spielshows präsent. Es wimmelt von Produktnamen wie Mulino bianco, Raider, Cheese oder Baileys sowie von Namen von Fernsehstars wie Iva Zanicchi und die Sendung „OK, il prezzo è giusto“ – sozusagen den Abgründen der italienischen Fernsehkultur der 80er und 1990er Jahren. In den Texten geht es aber nicht nur um eine Thematisierung der Medien Film und Fernsehen, sondern auch um die Nachahmung filmischer Strukturen im Text bzw. Verfahren, die zwar transmedial sind, aber durch das Medium Film konventionalisiert sind, wie z.B. die Montage. In L’ultimo capodanno dell’umanità wird eine Sylvesternacht (von 19.00 – 7.00 Uhr morgens) in 88 Episoden aus der Sicht von 18 Protagonisten erzählt, von denen über die Hälfte mehrfach vorkommt.20 Die einzelnen Sequenzen werden durchgezählt und mit einer Uhrzeit versehen, z.B. „Ore 19.00/1. Cristiano Carucci“, „Ore 19.30/2. Thierry Marchand“.21 Diese Aufzählung und der äußere chronologische Aufbau täuschen eine Kohärenz der Erzählung vor, die durch die fehlenden Anfänge und Enden der Sequenzen sowie durch die thematische Beliebigkeit der Reihen17 18 19 20

Rajewsky, Irina: Intermedialität, Tübingen u.a. 2002, S. 79. Ammaniti (wie Anm. 5), S. 128. Ebd., S. 69. Die Erzählung L’ultimo capodanno ist 1998 von Marco Risi verfilmt worden. Der Film allerdings konnte keine Erfolge verzeichnen. Was im Text als Montage schneller Bilder funktioniert, wird meines Erachtens im Film für die heutige Sehgewohnheit zu langsam geschnitten, so dass der Film letztlich nur Langeweile erzielte. 21 Ammaniti (wie Anm. 5), S. 11 u. S. 13.

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folge der Textepisoden gebrochen wird. Auch Aldo Nove arbeitet in Il mondo dell’amore mit einer Aneinanderreihung von Textsequenzen. In beiden Erzählungen dient die Montage vorrangig dazu, ein Gefühl der Schnelligkeit und damit des Haltlosen sowie eine orrizontalità, eine Simultaneität des Erzählten zu erwecken.22 Sie wird darüber hinaus durch thematische und strukturelle Analogien und Parallelismen zwischen Fernsehwelt und Lebenswelt realisiert.23 Das fragmentarische und parataktische Erzählen, die Beliebigkeit und Wiederholung der kurzen Erzählsequenzen, die holzschnittartige Zeichnung der Protagonisten verweisen somit auf eine Nachahmung der Fernsehästhetik im Medium der Schrift. Der schnelle und ununterbrochene Programmfluss erweckt den Eindruck der Gleichzeitigkeit, die zum grundlegenden Charakteristikum der Fernsehästhetik avanciert. Der permanente Sendefluss wird durch eine Vielzahl von fragmentierten Momentaufnahmen aus verschiedenen sozialen, geographischen Räumen und Zeiten erzeugt. Der flow of broadcasting führt zu einer Verbindung völlig disparater Themen, was durch die zahlreichen Unterbrechungen der Werbeblöcke und das Zapping noch verstärkt wird.24 Die kurzen, prägnanten Sätze sowie die stete Nennung der Markenprodukte in Noves Erzählung sind der Werbesprache entnommen. Die Exposition der Erzählung ist von so großer Schlichtheit, dass sie einer Spielshow entstammen könnte, in der die Kandidaten sich vorstellen: „Mi chiamo Michele e sono un uomo dell’Ariete. Sergio è il mio migliore amico“.25 Wie die Kandidaten in einer Spielshow haben die Protagonisten keine Geschichte, auch jegliche Psychologisierung wird verweigert; die Erzählung ist auf Oberfläche angelegt. Das Gleiche trifft auch auf die Protagonisten in L’ultimo capodanno zu, die in ihrer Klischeehaftigkeit überzeichnet wirken. Veranschaulicht wird hier Virilios These,

22 Für Sinibaldi ist die Literatur der 1980er und 1990er Jahre grundsätzlich durch velocità und orrizontalità gekennzeichnet. Sinibaldi (wie Anm. 9), S. 20f. 23 Rajewsky spricht von diesem Verfahren als Systemkontamination, die über die Erwähnung des Fernsehens hinausgeht, d.h. auf der Ebene des discours wirkt. So kann eine „Illusion des ‚Fernsehhaften‘“ erzeugt werden; vgl. Rajewsky (wie Anm. 3), S. 358. 24 Hickethier, Knut: „Fernsehästhetik. Kunst im Programm oder Programmkunst?“, in: Paech, Joachim (Hrsg.): Film, Fernsehen, Video und die Künste. Stategien der Intermedialität, Stuttgart/Weimar 1994, S. 190-213; Monaco, James: „Die virtuelle Familie“, in: ders.: Film verstehen, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 510-518. 25 Nove (wie Anm. 6), S. 53.

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dass die neue Maßeinheit der Zeit nicht mehr die Dauer ist,26 sondern dass Zeit stattdessen als unendlich konstante Vertiefung des Augenblicks erfahren wird.27 Und selbst die Vertiefung gelingt den Protagonisten nicht mehr, da außerhalb der Lexik und Semantik von Werbung und Gameshows nichts existiert. Die Strategien des Filmischen und des Fernsehens in den Texten offenzulegen, reicht meines Erachtens dennoch nicht aus, um der Intermedialität der Texte gerecht zu werden. Mindestens genauso entscheidend ist die Beziehung der simulierten Medienrealität zur Darstellung des Körpers, der in den Texten der gioventú cannibale zur Chiffre der Erfahrung der Medienrealität des Novecento wird. Im Sekundärmedium Schrift kommt es zur Begegnung zwischen dem Primärmedium und den Tertiärmedien. Unter Primärmedium versteht man die Verschmelzung „spezielle[r] Kenntnisse in einer Person“, es handelt sich um unmittelbar „menschliche Elementarkontakte“; da zwischen Sender und Empfänger kein technisches Gerät geschaltet ist.28 Film und Fotografie zählen zu den tertiären Medien, die technische Geräte sowohl beim Sender als auch beim Rezipienten erfordern.29 Sie dienen der Überlieferung und Speicherung von Information und sind technische Aufschreibesysteme,30 die – anders als der Körper – räumliche und zeitliche Distanz überbrücken und somit alles in Nah- und Nächstverhältnisse überführen können. Gleichzeitig kann mit Hilfe der technischen Möglichkeiten schließlich die gleiche Botschaft an viele Rezipienten gerichtet werden.31 In diesem technischen und massenmedialen Kontext möchte ich ‚Medienrealität‘ verstanden wissen. Götz Großklaus skizziert in seinem Buch Medien-Zeit. MedienRaum: Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne diese Medienrealität als eine von den Massenmedien Film, Radio, Fern-

26 Ricœur, Paul: Temps et récit, Paris 1983-1985. 27 Virilio, Paul: Rasender Stillstand, München 1992, S. 74ff. 28 Zur Unterscheidung vgl. Pross, Harry: Medienforschung, Darmstadt 1972, S. 127. Die sekundären Medien sind im weitesten Sinne Druckmedien, sie benötigen „mehrere spezialisierte Personen“ und technische Geräte zur Kommunikation (Schrift, Druck, Graphik). 29 Dazu zählen Rundfunk, Telefon, Telegramm, Television, Schallplatte, Video, Computer. Inzwischen ist Pross’ Unterscheidung um die Quartärmedien ergänzt worden, die in Produktion und Rezeption auf die Digitaltechnik zurückgreifen, vgl. Faulstich, Werner: Medienwissenschaft, München 2004, S. 14. 30 Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800-1900, München 1995. 31 Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996.

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sehen und Video geprägte Wirklichkeitskonzeption.32 Am Beispiel des Fernsehens zeigt Großklaus, dass sich Medienrealität als ein Konstrukt in der Zeit strikt gegenwärtig entwirft. Simultaneität und Synchronisation werden zu den konstituierenden Prinzipien, was wiederum das Zapping durch die Fernsehprogramme versinnbildlicht. Aber nicht nur zeitliche Distanzen werden vernichtet, sondern auch die räumlichen. Das Fremde wird durch das Fernsehen vermeintlich ins Wohnzimmer geholt. Durch das Fernsehen nehmen wir an den Ritualen der Nähe teil; Nähe zum einen zu öffentlichen Personen und zum anderen zum Tod, was wiederum zu kollektiven Erfahrungen aber auch zu Ritualen führt. Alles hat die Tendenz, gleich nah und gleichzeitig zu sein: „Die Zeit schrumpft zum Augenblick, der Raum zum Punkt.“33 Hinzu kommt, dass durch die technischen Möglichkeiten der Bildvergrößerung in Detail-, Nah- und Großaufnahmen traditionelle Regeln einzuhaltender Körperdistanzen zugunsten einer „allgemein voyeuristischen Intimisierung“34, so Großklaus, außer Kraft gesetzt werden. Genau wie die Zeit es laut Ricœur ermöglicht, Geschichten zu erzählen, schien bis dato der Raum mit seinen Grenzen von Innen und Außen als eine erkenntnistheoretische Bedingung menschlicher Wahrnehmung. Paul Virilio spricht in diesem Zusammenhang von einem Zwei-Welten-Modell, das zur Desorientierung des Menschen führt: We face a duplication of reality. The virtual reality and the ‚real‘ reality double the relationship to the real, something that, to the best of my knowledge, results in clear pathological consequences. For this I use the french words le tele-, in the sense of tele-action, action-at-a-distance. Action-at-a-distance is a phenomenon of absolute disorientation. We now have the possibility of seeing at a distance, of hearing at a distance, and of acting at a distance, and this results in a process of de-localization, of the unrooting of the being. ‚To be‘ used to mean to be somewhere, to be situated, in the here and now, but the ‚situation‘ of the essence of being is undermined by the instantaneity, the immediacy, and the ubiquity which are characteristic of our epoch. […] so there will be a concrete, actual reality and a virtual reality. From now on, humankind will have to act in two worlds at once. This opens up extraordinary possibilities, but at the same time we face the test of a tearing-up of the being, with awkward consequences. We can rejoice in these

32 Vgl. Großklaus, Götz: Medien-Zeit. Medien-Raum: Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne, Frankfurt a.M. 1995. 33 Ebd., S. 87. 34 Ebd., S. 131.

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new opportunities if and only if we also are conscious of their dangers.“35

Die Texte von Ammaniti und Nove führen diese Desorientierung vor. Schon zu Beginn von Il mondo dell'amore wird angedeutet, dass die Grenzen zwischen Fernsehen und erfahrbarer Wirklichkeit nicht mehr existent sind. Auf dem Weg zum Einkauf singen die Protagonisten „Tàtta tàra tátta taràtatta“ wie in der Fernsehshow „OK il prezzo è giusto“ und holen damit die Spielshow ins Auto, sprich in ihre Gegenwart.36 Im Text wird eine Medienrealität simuliert, die sich vorrangig durch das Fernsehen bzw. das Video konstituiert. Die räumliche Distanz zwischen dem Gezeigten auf der Videokassette und dem Geschehen im Wohnzimmer schmilzt zusammen. Es gibt keine Zeit der Annäherung der Protagonisten zum gezeigten Ereignis, sie befinden sich plötzlich mitten im Operationssaal: „C’era un maccello di sangue“.37 Aus den simulierten Nahverhältnissen resultiert nach Joshua Meyrowitz die Auflösung traditionell fest codierter Grenzen zwischen Körper-Territorien (eigen – fremd), Sozial-Territorien (Mann – Frau, Idol – Masse) und Kultur-Territorien (Eigen – Fremd, Hoch – Massen).38 Der Körper wird nicht mehr als eigen und verwundbar wahrgenommen, er wird zum Bestandteil des Films. So kann die Grenze zur Selbstverstümmelung überschritten werden, wie es in Il mondo dell'amore geschieht. Aber auch das Sozialterritorium Mann – Frau gerät in der Erzählung ins Wanken: Che cazzo fai? L’ho tagliato. Perché? Per provare una storia lesbo. Con te amore mio. Ma cosa sei, un frocio? No, ma forse sono una lesbica! E gli fece vedere il massacrone.39

Dabei werden die Körper und ihre Lüste nicht neugedacht, sondern auf einer heterosexuellen Folie als pervers bis hin ins Groteske wie in dem 35 Virilio, Paul: „The Silence of the Lambs: Paul Virilio in Conversation with Carlos Oliveira“, in: CTheory, Global Algorithm 1.7, 1996, URL: http:// ctheory.net/articles.aspx?id=38, 18.12.2005. Das Interview ist zuerst in der Frankfurter Rundschau am 02.09.1995 erschienen. Der Zugänglichkeit halber wird die im Internet verfügbare englische Übersetzung zitiert. 36 Hier sei daran erinnert, dass eine Spielshow über andere Narrationsformen als Filme verfügt. Das vorgeführte Spiel ist ein fingiertes und abstraktes. Durch die Identifikation mit einem Kandidaten kann der Zuschauer indirekt mitspielen. Vgl. Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse, Stuttgart/Weimar 1996, S. 18ff. 37 Nove (wie Anm. 6), S. 59. 38 Meyrowitz, Joshua: Die Fernsehgesellschaft: Wirklichkeit und Identität im Medienzeitalter, Weinheim/Basel 1987, S. 182ff. 39 Nove (wie Anm. 6), S. 61.

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obigen Zitat inszeniert. Noves Text ist exemplarisch für die sexuellen Gewaltphantasien der cannibali. Dazu gehören neben der meist als anormal konnotierten Homosexualität auch die beiläufig dargestellten Vergewaltigungen, wie z.B. in der auf L’ultimo capodanno dell’umanità folgenden Erzählung Rispetto,40 die auf weitere rekurrente Episoden verweist, nämlich pornographische und/oder sadomasochistische Szenen, wobei in der Regel die traditionellen Strukturen von Männern als Täter und Frauen als Opfer gewahrt bleiben.41 Genau wie Noves Il mondo dell’amore endet Ammanitis Erzählung mit dem Tod der Protagonisten. Cristiano Cartucci und Ossadipesce sind im Besitz von Dynamit, um ein riesiges Feuerwerk zu zünden. Kurz vor Mitternacht, während einer vom Drogenkonsum her resultierenden Halluzination befindet sich Ossadipesce in Miami Vice und verwechselt die elterliche Sylvesterparty mit einer Hundertschaft Polizisten.42 Er will fliehen, sich aber vorher seiner Besitztümer entledigen, die als Beweise dienen könnten und verbrennt sie. Das Dynamit lässt das Haus explodieren, die Gasleitungen fangen Feuer, so dass auch das benachbarte Haus in Flammen aufgeht. Die Explosionen übertreffen alle anderen Feuerwerke, werden zum Spektakel, das man sonst nur aus dem Fernsehen kennt: „E i romani, che festeggiavano l’anno nuovo nelle case, sui terrazzi, nelle strade, nelle piazze, [...] rimasero a bocca aperta, sgomenti. Poi incominciarono ad applaudire, tutti, sempre più forte, a fischiare, a ballare, ad abbracciarsi felici e a stappare fiumi di spumante di fronte a quel mostro pirotecnico. Si diceva che quel fuoco artificiale era stata una sorpresa organizzata dal sindaco.“43

Räume und Menschen werden im wahrsten Sinne des Wortes in die Luft gesprengt, Raum- und Zeitgrenzen aufgelöst. Doch anders als in Il mondo dell’amore wird diese apokalyptische Weltsicht relativiert; jedoch nur scheinbar. Denn überleben wird eine Frau, die eigentlich nicht mehr leben wollte: Filomena Belpedio, die ihren Selbstmord schon vorbereitet hatte.

40 Ammaniti, Niccolò: „Rispetto“, ders.: Fango, Mailand 1996, S. 137-147. 41 Vgl. die Episoden mit Avvocato Rinaldi und Sukia in Ammanitis L’ultimo capodanno. Exemplarisch auch: Simona Vinci: „Cose“, in: Bersani, Mauro/ Franco, Ernesto (Hrsg.): Anticorpi, Turin 1997; Guido Mozzi: „Aperture“, in: Il male naturale, Mailand 1998. 42 Ammaniti (wie Anm. 40), S. 125. 43 Ebd., S. 130.

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Daniele Del Giudices Evil Live Als letzten Text möchte ich auf Daniele Del Giudices Evil Live eingehen, in dem es um ein neues Aufschreibesystem geht, um das Internet. Erzählt wird eine Geschichte, die sukzessiv im Internet zu lesen ist; dies spielt sich zunächst im (synchron-)interaktiven Chat ab, dann wechselt sie zum dialogisch angelegten E-mail-Kontakt. Die Erzählung Evil Live ist dreigliedrig organisiert. Dritte Ebene ist die im Netz in drei Folgen erzählte Geschichte eines blutigen Kampfes zweier Frauen, in dem beide am Ende sterben. Dies verweist auf die zweite Ebene, die der Korrespondenz zwischen der Erzählerin [email protected], die den Kampf beobachtet und die Siegerin des Kampfes umgebracht hat, und dem fiktiven Leser [email protected], der die Fortsetzung der Geschichte fordert und vor allem nach der Identität der Erzählerin fahndet. Hinzu kommen die kryptischen Kommentare von Seiten der Erzählerin. Die erste Ebene kann als Rahmenhandlung begriffen werden, hier werden auch metamediale Kommentare zu den ‚Neuen Medien‘ gegeben. Zudem erfährt man auf dieser Ebene mehr von der Suche der Figur Timetolose nach der Identität der Erzählerin. In diesem Zusammenhang sei kurz auf das ästhetische Konzept der ‚Neuen Medien‘ eingegangen, für die vor allem der Computer steht, der Text-, Bild- und Tonmedien miteinander vereint. Die ‚Neuen Medien‘ verändern den Kunstbegriff, vielleicht ebenso tiefgreifend wie einst die Fotografie, die der malerischen, plastischen Umsetzung ein opto-chemomechanisches Verfahren entgegensetzte, das scheinbar objektive Abbilder der Wirklichkeit liefert. Im digitalen Bild kann die technische Abbildung von Realität nicht mehr von ihrer Simulation oder Konstruktion unterschieden werden, die bislang klare Grenze zwischen reproduzierenden und gestaltenden Bildtechniken wird unscharf. Während also die Malerei als gestaltende Bildtechnik empfunden wurde, setzte die Fotographie ihr die Reproduktion entgegen. Mit den neuen Bildmedien wird dieser Gegensatz aufgehoben. Damit wird sowohl die Frage nach einer Authentizität wie nach einem ‚Original‘ obsolet, so dass sich die ästhetischen Gestaltungs- und Rezeptionsprozesse von der so genannten Nachahmung der Natur gelöst haben.44 Kennzeichnend für die ‚Neuen Medien‘ ist die Virtualität, die als so genannte virtuelle Realität wirksam wird. Sie be44 Daniels, Dieter: „Die Epoche der Moderne: Kunst im 20. Jahrhundert: Ausstellung Martin-Gropius-Bau Berlin 1997“, in: Joachimides, Cristos M./Rosenthal, Norman (Hrsg.): Die Epoche der Moderne. Kunst im 20. Jahrhundert, Ostfildern 1997, S. 553-564.

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ruht auf der Technik der ‚Immersion‘, d.h. dass man sich die Bilder nicht nur anschauen, sondern in den Bildraum auch eintreten und auf die Bildumgebung ohne Zeitverzögerung einwirken kann.45 Die Virtualisierung geht mit einer gesteigerten Flüchtigkeit, Zufälligkeit, Fingierbarkeit von Zeichen einher. Eine der wesentlichen Voraussetzungen dafür ist die Digitalität, die für die Kombination mehrerer Zeichensysteme sowie die Simulation von Wirklichkeit steht, d.h. das Abbild braucht keine Vorlage mehr. Grundlegend für die ‚Neuen Medien‘ ist auch die Entlinearisierung wie es der Hypertext mit der Vernetzung durch die links darstellt. Wie oben schon erwähnt, impliziert die Virtualität auch Interaktivität, so dass die Lektüre als Interaktion zwischen dem Leser und der vernetzten Struktur stattfindet. Im literarischen Bereich kann dies z.B. auf Collaborative-writing-Projekte hinauslaufen.46 Evil Live erscheint im Medium Buch, d.h. es kann diese ästhetischen Praktiken maximal simulieren. Das Prinzip der Interaktivität wird in Del Giudices Erzählung durch den Chatroom und später durch den Email-Kontakt thematisiert, also auf der Ebene der histoire. Durch den mehrgliedrigen Aufbau könnte man auf eine Struktur der Vernetzung und des Hypertextes schließen, doch greift meines Erachtens die nichtlineare Erzählstruktur eher auf Calvinos Se una notte d’inverno il viaggiatore zurück,47 mit dem dieses Verfahren in der italienischen Literatur kanonisiert wurde. Die Entlinearisierung ist also keine den ‚Neuen Medien‘ immanente Eigenschaft, sondern die Technik hat vielmehr zeitgenössische Denkstrukturen aufgegriffen.48 Im Gegensatz zu den anderen beiden hier vorgestellten Erzählungen gibt es demnach keine auf die Textstruktur wirkenden intermedialen Bezüge zu den ‚Neuen Medien‘.

45 Krämer, Sybille: „Was haben die Medien, der Computer und die Realität miteinander zu tun? Einleitung“, in: dies. (Hrsg.): Medien Computer Realität, Frankfurt a.M. 2000, S. 9-26, S. 13. 46 Vgl. Idensen, Heiko: „Die Poesie soll von allen gemacht werden! – Von literarischen Hypertexten zu virtuellen Schreibräumen der Netzwerkliteratur“, in: Matejovski, Dirk/ Kittler, Friedrich (Hrsg.): Literatur im Informationszeitalter, Frankfurt a.M./New York 1996, S. 143-184; Idensen, Heiko: „Schreiben/Lesen als Netzwerk-Aktivität. Die Rache des (Hyper-) Textes an den Bildmedien“, in: Klepper, Martin u.a. (Hrsg.): Hyperkultur: Zur Fiction des Computerzeitalters, Berlin/New York 1996, S. 81-107. 47 Calvino, Italo: Se una notte d’inverno il viaggiatore, Mailand 1994. 48 Bolter, Jay D.: „Das Internet in der Geschichte der Technologien des Schreibens“, in: Krämer, Sybille (Hrsg.): Medien Computer Realität, Frankfurt a.M. 2000, S. 37-55. Bolter nennt sowohl Enzyklopädien als auch poststrukturalistische Theorien wie von Derrida als Vorläufer der Hypertextualität.

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Entscheidend sind eher die metamedialen Verweise. Der virtuelle Raum, der Chatroom in La Grande Rete, wird zur Öffentlichkeit, zum Ort der Kommunikation. Der Chatroom ist für die Teilnehmer das, „che un secolo fa erano le metropoli“, der Protagonist „mette piede in piazza di un gruppo di discussione“.49 Diese Bilder anthropomorphisieren das Internet50 und erinnern an McLuhans global village. Nach McLuhan stülpen die Kommunikationsmedien unser zentrales Nervensystem nach außen; die Medien geben unsere eigene Innerzeitlichkeit wieder, in denen die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgehoben sind. Dort sind communication technologies nichts anderes als „extensions of the central nervous system of man“.51 Anders als bei McLuhan jedoch stützt die Antropomorphisierung in Del Giudices Erzählung nicht die These der „human faculty“,52 sondern ist nostalgisch konnotiert. Die einzelnen Sequenzen in Evil Live verweisen zunächst auf einen abgeschlossenen Raum, der allerdings im nächsten Satz durch eine Metapher der Unendlichkeit, „mare grande“, entgrenzt wird.53 Damit werden auch hier die Raumgrenzen schlechthin aufgelöst. Hier ist natürlich wie bei dem Verfahren der Montage zu fragen, inwiefern dies auf die ‚Neuen Medien‘ zurückgreift oder aber auf literarische Traditionen wie z.B. die der Bewusstseinsromane. Markiert wird die Grenzauflösung im Text jedoch als Konsequenz der ‚Neuen Medien‘. Die Zeit des Geschehens ist unklar. Kontrastiert wird der Arbeitstag mit der Endlosigkeit der Nacht, in der in die virtuelle Welt eingetaucht wird. Relevant ist in diesem Zusammenhang der Name Timetolose,54 „tempo da perdere“, „tempo di perdere“,55 der Protagonist selbst hat sein Verhältnis zur Zeit verloren. 49 Del Giudice, Daniele: „Evil live“, in: ders.: Mania, Turin 1997, S. 65. 50 Diese Anthropomorphisierung führte zu einer Mythologisierung der Medien, statt deren ästhetische Differenz zur Realität fruchtbar zu nutzen; vgl. Münker, Stefan: „Was heißt eigentlich ‚virtuelle Realität‘? Ein philosophischer Kommentar zum neuesten Versuch der Verdopplung der Welt“, in: ders./Roesler, Alexander (Hrsg.): Mythos Internet, Frankfurt a.M. 1997, S. 108-127; Krämer, Sybille: „Vom Mythos „‚Künstliche Intelligenz‘ zum Mythos ‚Künstliche Kommunikation‘ oder: ist eine nicht-anthropomorphe Beschreibung von Internet-Interaktionen möglich?“, in: ebd., S. 83-107. 51 McLuhan, Marshall: Understanding Media, Extensions of man [1964], London 1994, passim. 52 McLuhan, Marshall: Counter Blast, Toronto 1969, S. 26. 53 Del Giudice (wie Anm. 49), S. 65. 54 Zu den Anspielungen der sinnfälligen Namen der Protagonisten vgl. Stein, Thomas: „Dalla rappresentazione del corpo feminile alla polisemia della scrittura“, in: Gronemann, Claudia/Schrader, Sabine u.a. (Hrsg.): Körper und Schrift, Bonn 2001, S. 367-379.

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Fast mehr als für das Ende der Geschichte interessiert sich Timetolose für deren Urheberin – ohne ‚Wurzeln‘ scheint die Geschichte nicht zu ertragen zu sein. Er sucht mit Hilfe der Suchmaschinen nach möglichen Hinweisen auf den Namen [email protected]. Jedoch vergeblich, stattdessen findet er „The End of liberalism“, „The End of macro-economics“, „The End of theologies“, „The End of distance“.56 Deshalb thematisiert er das Problem: „Lettera contro tempo [...], la mia poi rischia il ridicolo in partenza, nel rivolgermi a te come persona, e persona al femminile“57 und verletzt die Spielregeln des anonymen virtuellen Raums, so dass der Kontakt abbrechen muss. Gemäß der skizzierten Struktur werden zwei Protagonistenpaare parallelisiert: Eva und Ruth, die im Schlamm in einem alten Industriegelände miteinander kämpfen, sowie Evillive und Timetolose im virtuellen Raum. Eva und Ruth sind auf ihre Körper ‚reduziert‘: „non sai niente di lei, non ci sono parole, c’è solo il corpo a dire e ad ascoltare“.58 Da ausschließlich die Körper im Mittelpunkt der im Internet erzählten Geschichte stehen, wird auf eine pure physische Existenz verwiesen, die sehr intensiv und damit zum Garanten für Authentizität wird. Der Text kann also ebenfalls als mise en abyme der Auseinandersetzung der Primär- mit den Tertiär- bzw. Quartärmedien gelesen werden. Der Kampf findet in der Diaspora statt,59 den Körpern bleibt jedoch nur der Tod. Timetolose schwankt zwischen den Welten. Auch er ist sich seiner Körperlichkeit bewusst, doch verhilft ihm der Körper nicht zu unmittelbaren Erfahrungen, sondern er wird als Vehikel gesehen, schnell zum Computer zu kommen.60 Wie auch schon zuvor im Vergleich der metropoli mit La Grande Rete offensichtlich wurde, gibt es für ihn theoretisch die Möglichkeit einer „relazione naturale con la notte“ 61, z.B. in eine Bar zu gehen, in der mexikanische Musik läuft, um dort ein Bier zu trinken. Doch Timetolose entscheidet sich dagegen, stattdessen nimmt er ein Bier aus dem Kühlschrank und schaltet den Computer an. Im Gegensatz zu den Protagonisten in L’ultimo capodanno dell’umanità und in Il mondo dell’amore existiert in der Erzählung Evil Live eine alternative Welt – „una zona parallela“62 –, die durch die Be55 56 57 58 59 60 61 62

Del Giudice (wie Anm. 49), S. 80. Ebd., S. 73 u. S. 75. Ebd., S. 81. Ebd., S. 67. Ebd., S. 65. Ebd., S. 69. Ebd., S. 73. Ebd., S. 68.

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schreibung sinnlicher Eindrücke als real erfahrbar gekennzeichnet wird. Wie jede mimetische Nachahmung hält Del Giudice an der Differenz von Nachahmung und Nachgeahmtem fest, was selbst auf der Ebene der histoire problematisiert wird. Erst die Simulation wäre grenzaufhebend.63 Neben der virtuellen Welt gibt es ein „fuori di balcone“.64 Nur scheint der Zugang dazu verwehrt zu sein.

Abschließende Betrachtungen Niccolò Ammaniti und Aldo Nove simulieren in ihren Texten die Medienrealität. Del Giudice splittet den Begriff in Medien und ‚Realität‘ sprich Lebenswirklichkeit auf – trotz des thematischen Rückgriffs auf die ‚Neuen Medien‘. Damit bewahrt er zwar die alten Grenzen, thematisiert aber das Scheitern einer individuellen Wirklichkeit und Kommunikation in der neuen Medienrealität. Intermediale Bezüge werden zu einem poetologischen Programm, das vor allem dazu dient, den medialen Zugang zur Welt zu thematisieren. Dabei werden die Medien Film, Fernsehen und ‚Neue Medien‘ als Inbegriff des Medialen gesetzt, statt sie als weiteren Ausdruck unseres medialen Zugangs zur Welt zu begreifen.65 Zudem wird deutlich, dass Intermedialität immer auch ein internationales Verweissystem mit sich bringt. Der US-amerikanische Film Pulp fiction wird modellbildend für eine ganze Generation von Schriftstellern. Die Kommunikation im Chatroom kennt sowieso keine nationalen Grenzen mehr, der Mailwechsel zwischen Evillive und Timetolose ist nahezu raumlos, es gibt nur einen Hinweis auf eine Zeitverschiebung zwischen den Orten der beiden Protagonisten. Den Theorien der Intermedialität kommt in der Regel mehr als nur eine beschreibende Funktion zu, sie versuchen neue, kreative Räume zu eröffnen. Die zunehmende Vernetzung und Durchdringung der einzelnen Künste im 20. Jahrhundert und die damit verbundenen Umschreibungen wie Hybridisierung, Vernetzung, Interferenz, Visualisierung, Digitalisierung können zu einem von Medienwissenschaftlern für die Zukunft prophezeiten einzigen digitalen Multimedia-Netz führen, in dem die Funk63 Aus diesem Grunde kann man meines Erachtens nur sehr eingeschränkt von einem transgressiven Charakter sprechen; vgl. Klettke, Cornelia: „Die Transgression in den Simulationswelten des Cyberspace. Eine Lektüre von Daniele Del Giudices Novelle Evil Live“, in: Italienisch, Jg. 51, Mai 2004, S. 58-69. 64 Del Guidice (wie Anm. 49), S. 75. 65 Wie es z.B. in den Sammelbänden von Münker/Roesler (wie Anm. 50) und Krämer (wie Anm. 45) gefordert wird.

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tionen von Text, Bild, Ton und Dialog integriert und Gattungsgrenzen aufgehoben und neue Potentiale frei werden. So betont Großklaus, dass sich die Medienrealität zwar radikal vom Konstrukt geschichtlicher Zeit verabschiedet, man deshalb aber nicht vom Ende der Geschichte(n) sprechen könne, sondern nur von der Verabschiedung eines Konstrukts, das Möglichkeiten für neue Konstrukte lasse.66 In der Erzählung Del Giudices verliert das Geschichtenerzählen im wortwörtlichen Sinne seinen Reiz. In Noves und Ammanitis Erzählungen führt der Tod der Protagonisten zum Ende der Erzählung. Die hyperbolische Überzeichnung der Figuren und des Geschehens, genau wie die vorgeführte unmotivierte Handlung geben den Texten eine absurde Lesart, die sie vor einer expliziten Moralisierung schützt. Dennoch entsteht in den hier besprochenen Texten mit den analogen und digitalen Medien keine positiv konnotierte Produktivität – im Gegenteil – die Körper werden „gesprengt“. Versteht man konservativ als bewahrend, so sind es diese Texte im besten Sinn des Wortes und knüpfen damit an den anthropozentrischen Charakter der nationalen Literaturtradition an. Denn sie gehen davon aus, dass eine Notwendigkeit besteht, Innen und Außen kulturell zu besetzen. Sie halten an den Grenzlinien zwischen Eigenem und Fremdem fest, so dass diese Differenz als bedeutungsstiftendes Prinzip gewahrt bleibt. Geschieht dies nicht, entstehen groteske Dystopien. Auf Mc Luhans „All technologies are extensions of man“ antwortet Ammaniti „La testa gli esplose“.67

66 Großklaus (wie Anm. 32), S. 47. 67 Ammaniti (wie Anm. 40), S. 28.

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CHOREOGRAPHIEN DES STRIPTEASE In dem von Lo Duca herausgegebenen Modernen Lexikon der Erotik von A-Z. Eine reich illustrierte aktuelle Enzyklopädie in zehn Bänden (München/Wien/Basel 1963) wird das Striptease bezeichnet als ein ‚Schauspiel, das die Entkleidung einer Frau bis zur völligen Nacktheit, im Rhythmus einer bestimmten Musik [...], zum Gegenstand hat.‘ ‚Das Striptease‘ [...] wolle ‚das erotische Begehren des Mannes im Rahmen einer visuellen Darbietung wecken‘, dieses ‚Schauspiel‘ basiere ‚auf der beim Anblick des weiblichen Körpers gewöhnlich eintretenden starken erotischen Erregung.‘ [...] Der Striptease ist [also] insofern eine geschlechtsspezifische Angelegenheit, als den Geschlechtern, Mann und Frau, bestimmte, voneinander abweichende Verhaltensmodi zugeschrieben werden. Es ist der Mann, der, als aktiver Part gedacht, seinen Blick auf den ihn erregenden weiblichen Körper richtet, und es ist die Frau, die sich zwar bewegt, jedoch ihren Körper zur Schau stellt, ihn den Blicken des Zuschauers darbietet [...]. [...] Die Positionen ‚Sehendes Subjekt‘ und ‚Gesehenes Objekt‘ sind zwar umkehrbar, jedoch ändert dies nichts an der ‚vergeschlechtlichten‘ Struktur der Dialektik von Sehen und Gesehen-Werden. Der voyeuristische Blick ist, weil er der Verleugnung und Verschleierung einer Bedrohung dient, immer schon ein phallischer Blick, ein Blick, der jenen Mangel symbolisiert, den nur die Frau repräsentieren kann, da ihr in der symbolischen Ordnung die Funktion zukommt, Spiegel und Objekt des männlichen Begehrens zu sein. Der Voyeur besetzt damit die männliche Position des Phallus-Habens, die nur dann stabilisiert werden kann, wenn der Phallus als schon immer verlorenes Objekt am Anderen gleichermaßen gefunden und verleugnet werden kann. Unter dieser theoretischen Vorgabe schließt sich eine geschlechtliche Umkehrung der Positionen ‚männlicher‘ Voyeur und ‚weibliches‘ Objekt aus.1

1 Zitiert nach: Öhlschläger, Claudia: Unsägliche Lust des Schauens. Die Konstruktion der Geschlechter im voyeuristischen Text, Freiburg i.Br. 1996, S. 136f.

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Gerade eine solche Umkehrung wird jedoch im Folgenden das Thema meiner Lektüre von Robbie Williams Video ROCK DJ2 sein. Dabei werde ich in Bezug auf den Music Clip fragen, inwiefern sich eine solche Umkehrung gender-theoretischer Konzeptualisierungen als überholt erweist – oder eben auch nicht. Beim von Vaughan Arnell realisierten Musikvideo3 handelt es sich um einen der skandalträchtigsten Clips der letzten Jahre; der Video Clip wurde vielfach indiziert; wenn er in Fernsehsendern lief, lief er in zensierten Fassungen. ‚Skandalträchtigkeit‘ zeichnet aber nicht nur dieses und andere Videos Robbie Williams’ (etwa den Clip zu COME UNDONE) aus. Regisseure und Produzenten von Music Clips befinden sich in einer ‚Überbietungsspirale‘: Je größer der Skandal ist, den ein Clip auslöst, desto verkaufsstärker ist er auch. Angeführt seien nur zwei Beispiele der letzten beiden Jahre. In Eminems WITHOUT ME (2002) zeigt sich der Rapper – was ihm große Empörung einbrachte – in Osama-bin-LadenVerkleidung. Madonnas AMERICAN LIFE (2003) musste von der PopQueen nach wenigen Tagen zurückgezogen werden, wurde ihr Video von der konservativen Kritik doch als anti-amerikanisch gebrandmarkt (die in einen Kampfanzug gekleidete Madonna wirft eine Granate gegen eine Figur, die US-Präsident George W. Bush ähnlich sieht; allerdings verwandelt sich die ,Granate‘ in ein Feuerzeug). Kurz skizziert sei die Story, die ROCK DJ, das Musikvideo, erzählt – jenes Video, das etwa in der Dominikanischen Republik wegen seines angeblich ,satanischen Gehaltes‘ indiziert worden ist und in Großbritannien zwar nicht indiziert wurde, aber nur spätabends und nachts ausgestrahlt werden durfte – tagsüber liefen nur geschnittene, ,entschärfte‘ Versionen. Eine der ersten Einstellungen des Spots zeigt eine kastenartige technische Vorrichtung, die mit zwei Knöpfen bestückt ist: der eine mit „Robbie“ unterschrieben, der andere mit „more Robbie“. Wir sehen eine weibliche Hand (es ist wohl die des Diskjockeys – also der DJane), die 2 Eine andere Fassung meiner Lektüre mit dem Titel „Robbie Williams meets Marsyas“, deren Fokus auf den Marsyas-Allusionen liegt, wird erscheinen in Renner-Henke, Ursula/Schneider, Manfred (Hrsg.): Häutungen. Lesarten des Marsyas-Mythos, (voraussichtlich) München 2006 (Vortrag gehalten im IFK Wien im Oktober 2002). Für zahlreiche Hinweise und Anregungen zu meiner Lektüre danke ich Sandra Rausch. 3 Verantwortlich für die Idee des Clips zeichnen Fred Raillard und Farid Mokart von der clm/bbdo-Agentur in Paris. Vaughan Arnell, der Regisseur, ist für seine provozierenden Videoclips bekannt: Er setzte unter anderem bereits Robbie Williams’ MILLENIUM in Szene sowie George Michaels OUTSIDE und FAST LOVE.

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auf den Knopf „Robbie“ drückt; dieser Knopf betätigt offenbar eine Hebebühne, die Robbie, der zunächst noch in den Untergrund der Diskothek eingelassen, versteckt und verdeckt ist, in die Mitte des Raumes befördert. Die beiden Knöpfe „Robbie“ und „more Robbie“ – im close up auffällig ins Bild gesetzt – geben eine Lektüreanweisung vor; sie strukturieren den Verlauf des Spots, in dem es darum gehen wird, dass „Robbie“ allein nicht ausreicht, um die Aufmerksamkeit der umherfahrenden Schönen, insbesondere der erhöhten DJane, auf sich zu ziehen, sondern dass es vielmehr „more Robbie“ bedarf: nämlich des den Striptease radikalisierenden, also des zunächst enthäuteten, dann des filetierten und schließlich des bis auf die Knochen ausgezogenen Robbie – „more Robbie“ ist also dezidiert auch ,less Robbie‘. Die Unterscheidung „Robbie“ und „more Robbie“ (respektive ,less Robbie‘) könnte man – mit Blick auf die Exposition des Spots (und auch mit Blick auf die Einblendung auf schwarzem Untergrund am Clip-Ende: „No robbies were harmed during the making of this video“) – um den Knopf ,no Robbie‘ erweitern, denn genau diesen optischen Eindruck haben die Rollschuhfahrerinnen, bevor die DJane den Robbie-Knopf drückt: Sie können den Sänger (noch) nicht sehen (ist er doch unter der Rollschuhplattform in einem Loch versenkt), allerdings können sie ihn schon hören. ‚No Robbie‘, das singende Gesicht des Popstars, ist in diesem Moment nur für die Kamera sichtbar, die sich dem im Loch versenkten Robbie über eine kreisrunde Öffnung im Boden von oben herab nähert: Robbie kommt also als top shot in unseren Blick. Die kreisrunde Öffnung doppelt das Objektiv der Kamera, sie verweist ebenfalls auf die voyeuristische Konfiguration des Spots. Der gesamte Raum – Bühne und Aquarium zugleich –, in den ,no Robbie‘ mit den Worten „Babylon back in business, Can I get a witness?“ hinauffährt und damit zu ‚Robbie‘ – also zum Popstar mit Gesicht und Körper – wird, ist dem Kreismotiv verpflichtet: Robbie, der gerade geborene Popstar und der hinaufgefahrene Luzifer, steht auf einer kreisrunden Bühne; die Rollschuhfahrerinnen, Gucci- und Dior-Models, kreisen über eine runde Fahrbahn; die Wände des Raums sind mit kreisrunden Einlassungen versehen, hinter denen entweder das Licht im Takt pulsiert oder wiederum Zuschauerinnen postiert sind, die durch eine Glasscheibe das Geschehen beobachten können. Über allem thront in luftiger Höhe die DJane und lauscht selbstvergessen in ihre Kopfhörer hinein.

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Die ganze Szenerie verweist auf die Guckloch-Konfiguration einer Peep Show4 – wobei der Witz des Spots gerade darin besteht, dass die Zuschauerinnen von den Möglichkeiten dieses Set-Designs eben keinen Gebrauch machen, sondern stoisch, gelangweilt oder ganz mit sich selbst beschäftigt keinerlei Notiz von Robbie nehmen. Während also der gesamte Raum auf seine Mitte – und damit auf den posenden Robbie hin – ausgerichtet ist, verweigern die anwesenden Frauen ihren Blick auf den im Zentrum Positionierten. Der tanzende Robbie, der im Spot so penetrant als Blickobjekt ausgestellt ist und sich selbst redlich müht, seine männlichen Reize in Szene zu setzen, besetzt damit, rekurriert man auf die Theoretisierungen des ,phallischen Blicks‘, wie sie unter anderem Laura Mulvey5 und John Berger6 formuliert haben – Vaughans Clip referiert auf solche Zuschreibungen und spielt mit ihnen –, eine ,weibliche‘ Position (insofern Männer als diejenigen konzeptualisiert werden, die über den Blick verfügen, Frauen hingegen als die, die in die komplementäre Position rücken, also angeblickt werden): ,Robbie‘ exponiert sich als Blickobjekt, wirbt darum, betrachtet zu werden. Möglicherweise lässt sich die Häutung, zu der es im Verlaufe des Spots kommen wird, auch als ‚Bestrafung‘, als Sanktionierung der gender-invertierten Exposition des männlichen Körpers lesen. Die Frauen im Spot reagieren nicht auf das Strip-Angebot, das Robbie ihnen macht; sie erlangen nicht über das voyeuristische Schauen auf Robbie Macht und Subjektstatus, sondern durch ihre Blickverweigerung. Oder anders – und mit Lacan argumentiert: Die Frauen in der Disco weigern sich, die ‚Realität‘ der selbst-begründenden Posen des männlichen Subjekts zu reflektieren oder zu repräsentieren. Sie weigern sich, im la-

4 Zur Theorie der Peep-Show und des Striptease vgl. vor allem Barthes, Roland: „Strip-tease“, in: ders.: Mythen des Alltags [1964], Frankfurt a.M. 1996, S. 68-72; Baudrillard, Jean: „Der ,Striptease‘“, in: ders.: Der symbolische Tausch und der Tod [1976], München 1991, S. 167-172; Eco, Umberto: „Platon im Striptease-Lokal“ [1960], in: ders.: Platon im StripteaseLokal. Parodien und Travestien [1963], München 81993, S. 16-21. 5 Mulvey, Laura: „Visual Pleasure and Narrative Cinema“ [1975], in: Kaplan, E. Ann (Hrsg.): Feminism and Film, Oxford 2000, S. 34-47; dt.: „Visuelle Lust und narratives Kino“, in: Weissberg, Liliane (Hrsg.): Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt a.M. 1994, S. 48-65. Mulveys Text löste (und löst bis heute) eine Fülle von ‚blicktheoretischen‘ Debattenbeiträgen aus. 6 Berger, John: Ways of Seeing, New York 1972; dt.: Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt, Reinbek bei Hamburg 1974.

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canianischen Sinne der Phallus ‚zu sein‘, und brechen damit die grundlegenden Illusionen der männlichen Subjektposition auf.7 Auch diese Schönen der Laufbahn/des Laufstegs werden von der Kamera für den Zuschauer höchst erotisch in Szene gesetzt: Robbies überzogene Performance ist mit fetischisierenden close ups von Pos, Beinen, Brüsten und Gesichtern der Frauen unterschnitten. Diese Einspielungen nehmen den Fortgang des Geschehens (‚more Robbie‘) insofern vorweg, als hier schon Sezierung und Zerstückelung von Körpern eingespielt wird. Der Inszenierung der weiblichen Körperteile fehlt allerdings der parodistische Aspekt. Während Robbies Mienen- und Körperspiel auf komödiantische Effekte hin ausgerichtet ist, sind die Frauen mimisch fast starr zu nennen, sie erinnern an Puppen oder Automaten – an schöne, oberflächenpolierte Objekte. Kamera und Montage stellen sowohl Robbie, der als männlicher eye catcher auf der Bühne steht und von den weiblichen Zuschauern eben nicht betrachtet wird, als auch die Rollschuhfahrerinnen voyeuristisch für den Zuschauer, die Zuschauerin vor dem Bildschirm aus. Dabei wird die männliche Striptease-Parodie von einer klischierten Werbeästhetik-Darbietung von Model-Weiblichkeit kontrafaziert und gerahmt. Selbst als sich Robbie seines tigerkopfgeschmückten8 Slips entledigt hat – ein Striptease, der die Frage aufwirft, ob der Tiger auf Robbies Unterhose eine Metapher oder eine Metonymie ist –, wirken seine Zuschauerinnen noch sehr gelangweilt. Robbie schaut an seinem nackten Körper herunter – mit durchaus skeptischem Blick: Auch er selbst scheint von der Pracht seines Genitales nicht überwältigt zu sein. Immerhin hat Robbie nach seiner Strip-Aktion zum ersten Mal Blickkontakt zur DJ-Göttin – eine schnelle Schnittfolge zeigt alternierend Robbies entschlossenes Gesicht und den auffordernden Blick der DJane. Die Szene erinnert an ein shoot out, ist jedenfalls als Kräftemes7 „Daß die Frauen angeblich der Phallus ‚sind‘, bedeutet also, die Frauen haben die Macht inne, die ‚Realität‘ der selbst-begründenden Posen des männlichen Subjekts zu reflektieren oder zu repräsentieren: Würde diese Macht zurückgezogen, so würden die grundlegenden Illusionen der männlichen Subjektposition aufbrechen. Um nun der Phallus, die Widerspiegelung und Absicherung einer anscheinend männlichen Subjektposition zu ‚sein‘, müssen die Frauen gerade das werden oder ‚sein‘ (im Sinne von ‚auftreten, als wären sie es‘), was die Männer nicht sind, und genau in ihrem Mangel umgekehrt die wesentliche Funktion der Männer begründen.“ Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991, S. 77. 8 Jedenfalls thematisiert der Tigerkopf auf dem Slip die Frage nach der Mensch-Tier-Grenze, die auch bezogen auf die Häutung interessant ist: werden doch Tiere, und eben nicht Menschen, gehäutet.

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sen angelegt: Robbie kämpft mit seinem Strip um die Aufmerksamkeit der Frauen (und er kämpft, möglicherweise gegen die Frauen, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer vor dem Bildschirm). Am Ende des Blickduells zwischen Robbie und der DJane steht die spektakuläre Häutungsszene Robbies. Fröhlich weitertanzend jedoch mit grimmigem Gesichtsausdruck (und der Selbstaufforderung „C’mon“) reißt er sich die Haut von seiner Brust, um dann mit der abgezogenen Haut exakt die gleiche Stripbewegung zu vollführen wie kurz zuvor mit seinem Muskel-Shirt.9 9 Die Internetseite www.clear.ltd.uk/Rockdj_cs.htm, 01.09.2003, gibt Hinweise zur Produktion des Videos, insbesondere in Bezug auf die aufwendigen Special Effects: „[T]he idea was then taken on by Vaughan Arnell, a director famous for his controversial promos, such as George Michael’s ‚Outside‘ and ‚Fast Love‘ and Robbie’s earlier ‚Millennium‘. He suggested that the idea should be interpreted in a shocking, but not gruesome manner. Before embarking on any other part of the promo, Vaughan wanted to know that Clear could get the look right. ‚He wanted a ‚skinned rabbit‘, says Damien Raymond-Barker, head of production at Clear; at the same time ‚not so contrived that it looked like a motorcycle jacket‘. [...] Damien comments: ‚All he wanted to know was ‚can it be done? You’ve got five weeks‘‘. In these five weeks, Clear had to build a fully detailed, flexing and animated man, ripping off his muscles, stripping down to his bare bones. [...] Textures had to be researched for both the 3d models as well as the prosthetics. Clear’s production and 3d departments carried out extensive research into meat textures, even visiting the local butcher (!) to enable them to get a better idea of how Robbie’s flesh might look. [...] Robbie had recently been working out for his new album and had bulked up quite significantly. This meant the prosthetics had to be as thin as possible, ‚so he didn’t end up looking like arnold schwarzenegger in a wetsuit!‘, Damien quips. This limited the amount of the prosthetic skin he would be able to peel off, without giving the effect away. [...] The shoot took place at bray studios in windsor, famous in the sixties for its horror flicks. Four hours were spent piecing the muscle suit together, followed by another few hours to enhance the paint job, particularly the blood and the contrasting sinews. The prosthetic skin was prepared meticulously, for Robbie to pull off at the start of the ‚strip‘, with silica gel applied underneath to enhance the appearance of raw exposed flesh. [...] The motion capture shoot occurred after the main shoot. Luckily, having estimated a whole days work, it actually only took forty-five minutes. Robbie wore a black lycra body suit with reflective balls on the joints and was surrounded by nine Vicon cameras. [...] The second major element in Clear’s involvement was the work carried out in inferno, the first major obstacle being the creation of Robbie with no clothes on! Understandably, it wasn’t deemed appropriate for Robbie to remove his knickers in front of fifty roller-skating models, so Simon Huhtala,

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Mit dem Haut-Striptease, der das Körperspektakel zum Horror werden lässt, aber ebenso den Horror zum Spektakel,10 kommt es zu einem entscheidenden Wendepunkt: Die vorher unbeteiligten Frauen starren den blutigen Robbie gierig an, der Kontakt mit den abgezogenen und in die Menge geworfenen Fleischstücken – auch sein Herz reißt sich Robbie aus der Brust – ist eindeutig erotisch inszeniert; ,more Robbie‘ wird nicht nur mit Blicken, sondern ganz literal verschlungen. Wir haben es mit einer veritablen Pop-Eucharistie zu tun. Die Schönen der Diskothek verzehren Robbie: Popkultur als consumer’s culture.11 In ihrem Buch Haut. Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse12 hat Claudia Benthien herausgearbeitet, dass die Häutung von Männern im kulturellen Repertoire anders positioniert werde als die Häutung von Frauen. Die Häutung von Frauen sei deutlich tabuierter. Weibliche Haut – so Benthien – wurde und wird als nichtabnehmbarer Schleier aufgefasst, die das formlose Innere, all das, was nicht potenter männlicher Muskelleib ist, bedecken muss. In Anatomieatlanten des 16. Jahrhunderts wurde der Männerleib als transparenter Körper dargestellt, der Muskeln und Nerven durchscheinen ließ und so Vitalität und Kraft des Mannes betonte. Frauen hingegen hatten eine glatte, verhüllende Körperhaut, die das Innere nicht preisgab. Weiblichkeit ist also auf die Haut geschrieben (der Music Clip zu ROCK DJ stellt das paradigmatisch aus), Männlichkeit dagegen ist unter der Haut zu suchen. Die Enthäutung von Männern bezeichnet – nach Benthien – unterschiedliche Prozesse: Bei Folter dient sie der Einschreibung von Macht, als Allegorie steht sie für den Akt der Befreiung. Daneben existiert die Vorstellung einer kontinuierlichen Häutung (des männlichen Körpers) als Zeichen der Metamorphose und Reifung. Wenn Enthäutung männlich kodiert ist und Nicht-Enthäutung weiblich (Frauen also in ihrem Haut-Sack gefangen bleiben), ist es nur folgerichtig, dass ,more Robbie‘ erst als Enthäuteter one of Clear’s senior inferno operator on the job, had to do it for him! Robbie had instead to wear a grey thong, which Simon was able to track and use colour correction to composite it back on. He then used a matte pass to restore the skaters. Amazingly, all this work was done, merely to blur it over later.“ 10 Wie ‚spektakulär‘ Häutungen von Menschenkörpern wahrgenommen werden, macht auch etwa – um ein anderes Beispiel zu nennen – Gunther von Hagens viel diskutierte Körperwelten-Ausstellung deutlich. 11 In Szene gesetzt wird auch die Redewendung to eat one’s heart out, die sich mit ‚sich nach etwas verzehren‘ oder auch ,auf etwas neidisch sein‘ übersetzen lässt. 12 Benthien, Claudia: Haut. Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse, Reinbek bei Hamburg 1999.

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eine männliche, das heißt in diesem Falle eine aktive und auch machtvolle Position einnehmen kann, während die glatten, makellosen Modellkörper der Frauen im Spot aus der kulturellen Vorgabe, Hautsack-Trägerinnen zu sein, nicht ausbrechen können. Und der enthäutete Robbie ist, auch das fixiert seine aktive, männliche, Verfügungsgewalt beanspruchende Position, gleichzeitig der Enthäuter: handelt es sich doch um Selbst-Enthäutung. Jedenfalls ist entscheidend, dass Robbie nach der (freilich geblurrten) Sichtbarmachung seines Geschlechtsteils auf die Damen im Spot weniger männlich wirkt als nach seinem Penis- und Hautverlust, nach seiner Transformation zum gehäuteten und filetierten ,Tiger‘. Ein Bild ist geblurrt, wenn es unscharf gemacht worden ist. Erzielt wird ein weicher, fließender, verschleiernder, verschwommener Effekt. Das transitive Verb to blur bezeichnet – nach Auskunft des Langenscheidt – 1. Schrift verwischen, verschmieren; Bild verschwommen machen; verschleiern; 2. verdunkeln, verwischen, Sinne trüben; 3. übertragen besudeln, entstellen. Intransitiv bedeutet to blur verschwimmen und das Substantiv blur lässt sich übersetzen als 5. Fleck, verwischte Stelle; 6. übertragen Makel; 7. undeutlicher oder nebelhafter Eindruck; 8. (huschender) Schatten; 9. Schleier (vor den Augen). Im optischen Bereich entspricht der Blur einer Unschärfe der Kameraoptik – das geblurrte bewegte Bild ist allerdings als digitaler Vorgang in der Postproduktion zu beschreiben. In den Softpornos von David Hamilton TENDRES 13 14 COUSINES oder BILITIS findet sich dieser Effekt ‚invertiert‘: In Hamiltons Film(en) ist die Bildmitte scharf gelassen, die Ränder werden weich ausgeblendet, operiert wird also mit dem so genannten Weichzeichner. Der Blurr von ‚Robbies‘ Genitale funktioniert umgekehrt; wird doch hier die Bildmitte unscharf gemacht: Insofern haben wir es also mit einer Inversion eines typischen Gestaltungsmittel des Softpornos à la Hamilton zu tun. Dennoch – oder vielleicht auch gerade deshalb – wirkt Robbie nach der geblurrten ‚Sichtbarmachung‘ seines Geschlechtsteils auf die Damen im Spot weniger männlich als nach seinem Penis- und Hautverlust, nach seiner Transformation zum gehäuteten und filetierten ‚Tiger‘. Der Spot führt mit allen ironischen Brechungen die Freilegung des muskulösen und schließlich knöchernen ‚Kerns‘ des Mannes vor, die innerhalb des Videoclips die Ordnung der Geschlechter wiederherstellt. (Diese Vorstellung vom inneren ‚Kern‘ des Mannes findet sich übrigens ganz ähnlich in 13 TENDRES COUSINES (F/D 1980, Regie: David Hamilton). 14 BILITIS (F 1977, Regie: David Hamilton).

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den TERMINATOR-Filmen: Schon im ersten Teil wird der Terminator – in einem freilich viel längerem ‚Strip‘ – Stück für Stück seine fleischliche Hülle abgeben müssen, um zuletzt – immer noch unaufhaltsam – als metallenes Skelett gegen Sarah Connor vorzugehen. Im zweiten Teil gibt es eine entsprechende Szene, in der Arnold Schwarzenegger, diesmal als ‚gute‘ Maschine, seine Funktionsmechanismen erklärt, indem er seinen Unterarm aufschneidet und das darunter liegende Skelett freilegt.) Nach dem radikalisierten Striptease gelingt es ,more Robbie‘, dem gehäuteten Robbie, die DJane zu bezwingen, denn der Clip endet mit dem Abstieg, also der Kapitulation der DJane, die nach Robbies Transformation ganz zahm und ‚weiblich‘ ihren DJane-Thron verlässt, um sich lasziv um das Robbie-Skelett zu bewegen: Der Tod tanzt mit dem Mädchen. Gebrochen erscheint diese Wiederherstellung der Geschlechterordnung allerdings durch die Einspielung des Vampir-Sujets. Die Inszenierung des Muskel-Strips erinnert auffällig an orgiastische Szenen aus Vampir-Filmen – insbesondere an die Eingangszene von BLADE,15 in der die Vampire ebenfalls in einer Diskothek tanzen und die Sprinkleranlage der Halle Blut über die Tanzenden spritzt. Überhaupt schließt der Spot in seinem spezifischen Look an Science-Fiction-, Vampir- und HorrorFilme und deren Hybride der 1990er Jahre an: Die Schwarzwerte sind bis zum Anschlag hochgezogen, das Material ist sehr entsättigt, das Set-Design (Glas, Beton, Metall) orientiert sich an modernem industrial style (wie zum Beispiel in TERMINATOR 2,16 TOTAL RECALL17 oder RESIDENT EVIL18). Von Interesse sind die Vampirbezüge des Music Clips ROCK DJ nun insofern, als Vampire nicht nur Grenzgänger zwischen Leben und Tod sind: sie stehen auch quer zur Heterosexualität. Vampire und Vampirinnen geben sich als Menschen – und verhüllen damit ihr (wahres) Interesse: dem nächstbesten Opfer an den Hals zu springen und es auszusaugen. Das menschliche Opfer, dem Vampirin oder Vampir an die Halsschlagader gehen, um mit ihm auf vampirische Art zu kopulieren, dieses nächstbeste Opfer kann weiblich oder männlich sein: Vampirinnen und Vampire orientieren sich in ihren ‚perversen‘ Sexualpraktiken nicht an der heterosexuellen Matrix.19 Setzt man die Rollschuhfahrerinnen in Bezug zu Vampiren, ist ihnen somit eine Irritation der Gender-Matrix, eine 15 16 17 18 19

BLADE (USA 1998, Regie: Stephen Norrington). TERMINATOR 2: JUDGEMENT DAY (USA/F 1991, Regie: James Cameron). TOTAL RECALL (USA 1990, Regie: Paul Verhoeven). RESIDENT EVIL (UK/D/F 2002, Regie: Paul W.S. Anderson). Vgl. Dyer, Richard: „Children of the Night. Vampirism as Homosexuality, Homosexuality as Vampirism“, in: Radstone, Susannah (Hrsg.): Sweet Dreams. Sexuality, Gender and Popular Fiction, London 1988, S. 47-72.

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Position zwischen den Geschlechtern zugeschrieben. Ähnliches gilt für den enthäuteten Robbie: Der greift in einer der Fleisch-Strip-Szenen in sein Inneres hinein, um ein blutiges Organ, sein Herz, hervor zu holen. In dieser Szene wird besonders deutlich, dass Robbie eben nicht nur aus Muskeln besteht, sondern auch aus Blut und ‚Säften‘ – Flüssigkeiten, die traditionell eher weiblich semantisiert sind. Robbies geschlechtliche Position ist kompliziert. Darauf hat auch bereits Todd R. Ramlow hingewiesen: [T]he Video [...] focuses on Williams’ complicated position in a specular economy in which his sexual objectivation creates gender anxieties at the same time that he desires and openly courts that objectivation.20

Robbie Williams hat in Interviews etwa mit dem Sender MTV immer wieder konstatiert, das Musik-Business exponiere ihn als ‚piece of meat‘. Der Clip literalisiert diese kulturkritisch einherkommende Selbstbeschreibung in ironischer Manier. Robbies Häutung im ROCK-DJ-Clip allegorisiert und durchkreuzt diverse ‚Gewalten‘, diverse Machtdispositive: die Vorgaben der consumer’s culture, in der Fans ihre Stars ‚aufzehren‘ (die gleichzeitig von eben diesen Fans überaus luxuriös leben), aber auch gesellschaftliche Blickdispositive wie das des phallic gaze, des phallischen Blicks. Inszeniert ist die Selbsthäutung im Spot als Souveränitätsgeste: Der Star wird nicht gehäutet, er häutet – eine Inszenierung, die als ultimativer Striptease angelegt ist – sich selbst. ‚Robbie‘ gibt seinen Fans, was sie wollen (und so dann vielleicht doch nicht wollen): ‚more Robbie‘. Und er rockt als Muskel- und Knochenmann so fröhlich weiter wie zuvor. So souverän Robbie agiert, der Clip zeigt ihn auch in Abhängigkeitsverhältnissen: Die DJane legt seinen Song Rock DJ auf und lässt die Puppe Robbie tanzen – den Robbie, der singt: „I don’t wanna rock, DJ“. Übereingeblendet sind in Arnells Videoclip zahlreiche Mythen im Barthes’schen Sinne.21 Wir haben es mit vampiristischen und 20 Ramlow, Todd R.: „Pimpin’ Ain’t Easy“. URL: www.popmatters.com /music/videos/w/williamsrobbie-rock.html, 01.09.2003. 21 Vgl. Barthes (wie Anm. 4). Mein Mythosbegriff beleiht neben Barthes (der den Mythos bekanntlich als ,semiologisches System‘ begreift) auch Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M. 1979 und Claude LéviStrauss: „Die Struktur der Mythen“, in: ders: Strukturale Anthropologie, Frankfurt a.M. 1977, S. 226-254. Vgl. außerdem Lubkoll, Christine: Mythos Musik: Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800, Freiburg i.Br. 1995, S. 9-24. Ich fasse den Mythos also als Re-Inszenierung einer Geschichte in unzähligen Varianten auf; das heißt auch, dass ich nicht von einer Ur-Form des Mythos und deren Inversionen, Umschriften respek-

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kannibalistischen Konstellationen zu tun, die Schlusssequenz des Spots inszeniert die Rollschuhfahrerinnen als Mänaden, Robbie schenkt sich als Pop-Messias eucharistisch seinen Fans. All dies kompliziert weiter die Gender-Konstellation, in der Robbie steht: Robbie figuriert als voyeuristisch ausgestelltes (weiblich konnotiertes) Blickobjekt, das mit Striptease befasst ist. Referiert wird damit eben die kulturelle Konfiguration ‚Striptease‘, die in hohem Maße gender-spezifiziert ist. Die Frage ist allerdings, ob diese Konfiguration tatsächlich so gender-fixiert ist, wie Claudia Öhlschäger behauptet,22 so gender-fixiert nämlich, dass sich eine geschlechtliche Umkehrung der Positionen ‚männlicher‘ Voyeur und ‚weibliches‘ Objekt ausschließt. In Bezug auf Robbie ist zu argumentieren, dass dieser durch die Radikalisierung des Striptease wieder in eine männliche Position rückt, und zwar im Sinne jenes referierten Theorems, dass Männlichkeit unter der Haut zu suchen sei, während Frauen in ihrem Hautsack gefangen blieben. Männlich ist der strippende Robbie natürlich auch deshalb, weil er sich in einer Geste voller Entscheidungskraft und Handlungsmacht selbst literal (möglicherweise aber auch figurativ) seine alte Haut vom Leibe zieht. Damit werden Vorstellungskomplexe von Selbsttransformation, Wandelbarkeit, Befreiung, Metamorphose etc. eingespielt – Robbie als männliche Madonna, der sich in jedem Clip, auf jeder Platte neu erfindet. Diese Neuerfindung qua Häutung, qua Haut-Striptease, die mit großem Souveränitätsgestus einherkommt, ist allerdings durch jene viel zitierte Selbstaussage Robbie Williams’ über die Mechanismen des Showbusiness ironisch geerdet, das aus ihm ein ,piece of meat‘ mache. Die Logik des Clips supponiert jedenfalls, das wurde ausgeführt, dass Robbie erst dann die machtvolle, die männliche Position einnimmt, wenn er sich qua Häutung (und Fleischdistribution) seines Genitales entledigt. So dezidiert der Clip die Irritation der Grenzen von Weiblichkeit und Männlichkeit inszeniert, so dezidiert ignoriert er die Tod-Leben-Grenze. Der gehäutete und filetierte Robbie ist so vital und so tanzfreudig wie der hauttragende Robbie zu Beginn des Clips. Die Tod-Leben-Grenze wird in der inszenierten Pop-

tive Verfälschungen ausgehe, sondern vom Mythos als dynamischem Prozess, der ausdifferenzierte Negotiationen von Aporien modelliert. Zu den immer wieder zitierten Mythosdefnitionen gehört auch die Goethe’sche Festlegung, der Mythos sei eine ,Rede in Bildern‘ – eine Definition, die den Mythos in Bezug zu jenen Medien setzen könnte, den filmischen, den audiovisuellen, die ja ebenfalls als ,Rede in Bildern‘ beschrieben werden könnten. 22 Vgl. Öhlschläger (wie Anm. 1), S. 136f.

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Eucharistie kassiert: ‚Unser Herr‘ Robbie ist mit ewigem Leben ausgestattet. Sicher lässt sich konstatieren, dass es sich bei ROCK DJ um eine Konfiguration handelt, die – und zwar als Effekt des inszenierten gender troubles – einen Post-Gender-Raum eröffnet. Der strippende, sich exhibitionistisch als Blickobjekt offerierende Robbie positioniert sich in dem hoch gender-spezifizierten Feld des ‚Striptease‘ – und inszeniert darin Übernahme und Parodie weiblich semantisierter Performance-Muster wie auch deren Inversion und Durchkreuzung. Das ließe sich auch noch mit anderen Argumenten zeigen, als ich bisher benutzt habe – etwa im Cyborg-Paradigma. Denn bei der Inszenierung, die der Clip unternimmt, handelt es sich auch (ich erinnere an die Knöpfe, mit denen man „Robbie“ oder „more Robbie“ ‚anstellen‘ kann) um eine Automateninszenierung, die die Gender-Inszenierung einmal mehr durchquert. In jedem Fall jedoch ist Vorsicht angeraten, post-gender als Verabschiedung von überkommenen Gender-Paradigmen auszurufen, weil die Skizze des postgendering, das Robbie hier vorlegt, nur als präzise Beschreibung der Figuration und De-Figuration von Gender-Konstellationen und -Mustern herzustellen ist. Gender bleibt also gewissermaßen als traumatischer Kern im post-gender zurück. Das aber heißt wiederum, dass gender-theoretische Analysen nicht so schnell überholt sein werden.

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HYBRIDE INSZENIERUNGEN VON KÖRPER, SCHAULUST UND GESCHLECHT IN ASSIA DJEBARS VASTE EST LA PRISON Ausgehend von der These, dass die literarischen und filmischen Diskurse des Maghreb durch komplexe Prozesse der Hybridisierung, Recodifizierung und Mehrfachcodierung gekennzeichnet sind, deren Referenzsysteme auf einen vielschichtigen kulturellen Thesaurus orientalischer und okzidentaler Provenienz verweisen, zielt meine Untersuchung auf die Erforschung von Gender-Framing und Körperinszenierungen am Beispiel von Assia Djebars „autobiographie plurielle“ Vaste est la prison.1 Als Basisprämisse wird davon ausgegangen, dass Gender und Körper als Produkte heterogener kultureller Zuschreibungen sich nicht als stabile, statische Entitäten fassen lassen, sondern dynamischen Prozessen von Auflösung und Hybridisierung, Rekontextualisierung und Neukonfiguration (Re-Framing) unterworfen sind. Gender- und Körperdiskurse treten bei Assia Djebar als privilegierte Inszenierungsorte in Erscheinung, an denen kulturelle Konstruktionen des Geschlechts sichtbar werden und Performanzen von Gender stattfinden, die die binäre Geschlechterordnung und die offiziellen Codes normierter Blickanordungen in Frage stellen. Als paradigmatische Beispiele für grenzüberschreitende Körper- und Blickinszenierungen, die im Rekurs auf ein hybrides Mythenarsenal orientalischer und okzidentaler Provenienz Körper und Geschlecht recodieren und traditionelle Blickanordnungen bewusst unterlaufen, sollen Gender- und Körperdiskurse in Vaste est la prison diskutiert werden. Im Anschluss an archäologische, diskursgeschichtliche sowie aktuelle genderspezifische Theoreme (Foucault, Butler) geht es darum, am Beispiel eines exemplarischen Textes der algerischen Schriftstellerin, Essayistin und Filmemacherin Assia Djebar einen elementaren Baustein für 1 Djebar, Assia: Vaste est la prison, Paris 1995.

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das Desiderat einer intermedial und hybrid konzipierten Literatur- und Mediengeschichte des Maghreb anzubieten. Dies wirft zunächst die forschungsleitende Frage auf, wie und unter welchen methodischen Voraussetzungen eine Geschichte des maghrebinischen Literatur- und Mediensystems überhaupt geschrieben werden könnte. Geschichte im Allgemeinen und Mediengeschichte im Besonderen lässt sich, anknüpfend an Michel Foucault, nicht als kontinuierliche Entität beschreiben, sondern ist immer diskontinuierlich, d.h. als Geschichte von Rissen, Sprüngen, Umbrüchen, Zäsuren zu begreifen. Gibt es doch nach Foucault nicht „die eine gleiche Geschichte, die hier und dort erzählt wird“2 und die sich aus der Retrospektive ohne weiteres als kohärenter Zusammenhang rekonstruieren ließe. Es geht also im Sinne von Foucault nicht um die Frage, auf welchem Wege Kontinuitäten sich haben errichten können, auf welche Weise ein und derselbe Entwurf sich hat erhalten und für so viele verschiedene Geister zeitlich nacheinander einen einheitlichen Horizont hat bilden können3, sondern um den Versuch, ein Denken der Diskontinuität zu initiieren, das historische, literarische und mediale Phänomene in den Kategorien der Schwelle, des Bruchs, des Einschnitts, des Wechsels und der Transformation fasst und mit bedenkt, dass Analysen sich notwendig nach der Aktualität des Wissens ordnen, sich mit seinen Transformationen vervielfachen und nicht aufhören, mit sich selbst zu brechen: Et le grand problème qui va se poser – qui se pose – à de telles analyses historiques n’est donc plus de savoir par quelles voies les continuités ont pu s’établir, de quelle manière un seul et même dessein a pu se maintenir et constituer, pour tant d’esprits différents et successifs [...] le problème n’est plus de la tradition et de la trace, mais de la découpe et de la limite; ce n’est plus celui du fondement qui se perpétue, c’est celui des transformations [...]. En somme l’histoire de la pensée, des connaissances, de la philosophie, de la littérature semble multiplier des ruptures et chercher tous les hérissements de la discontinuité [...].4

Assia Djebars Konzept einer „Histoire palimpseste“ und ihre in L’amour, la fantasia5 formulierte Kritik an einer von den Leitkategorien der Kontinuität und Progression dominierten hegemonialen Geschichtsschrei-

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Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1992, S. 11. Vgl. Foucault, Michel: L’archéologie du savoir, Paris 1969, S. 12. Ebd., S. 12-13. Djebar, Assia: L’amour, la fantasia, Paris 1985.

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bung6, können als zentrale methodische Prämissen für das Desiderat einer an Foucault orientierten Geschichte des Literatur- und Mediensystems des Maghreb gelten. Es gilt vor allem solche ,Passagen‘ und Schnittstellen der écriture Djebars zu fokussieren, an denen sich Inszenierungen von Blick, Körper und Geschlecht als Entwürfe neuer und als Recodifizierung tradierter Blick- und Körperdispositive ereignen. Die genannten Texte von Djebar bilden meines Erachtens ein für aktuelle Theoriedebatten zum Begriff der Hybridität7 besonders interessantes Untersuchungsfeld und scheinen geeignet, die Fruchtbarkeit intermedialer und postkolonialistischer Forschungsansätze unter Beweis zu stellen. Anhand einer Fallstudie zum Gendering der dispositiven Anordnung des begehrlichen Blicks und zur hybriden Diskursivierung des erotischen Tanzes bei Djebar sollen die zugrunde gelegten Prämissen exemplifiziert werden.

Begehrliches Sehen im Liebesdiskurs oder „Love is a one-woman-show“ Der mit „L’effacement dans le cœur“ titulierte erste Teil des Romans Vaste est la prison präsentiert sich als „histoire d’amour“, die als autoerotische Praxis decodiert werden kann. Findet doch das auf einen namenlosen jungen Mann gerichtete Begehren der Erzählerin fast ausschließlich in der Imagination statt. Der Diskursivierung der erotischen Begierde als ,Kopfphantasie‘ entspricht die depersonalisierte Bezeichnung des männlichen Objekts der Begierde, das im Text nie mit einen konkreten Namen, nur mit „L’Aimé“ benannt wird. Jener „Aimé“ ist „Kopfphantasie“ der Erzählerin in zweifacher Hinsicht: er ist bricolage eines medialen Gedächtnisses, einer diskontinuierlichen mémoire und Produkt einer selbstreferentiellen Liebe, die sich im Imaginären ereignet.

6 Zu Djebars Modell einer Histoire palimpseste und ihrer Kritik an der hegemonialen Geschichtsschreibung in L’amour, la fantasia vgl. Donnadey, A.: „Elle a rallumé vif du passé. L’écriture-palimpseste d’Assia Djebar“, in: Ruhe, Ernstpeter (Hrsg.): Postcolonialisme et autobiographie, Amsterdam 1999, S. 101-115. 7 Zur aktuellen Theoriediskussion über Konzepte der Hybridität vgl. de Toro, Alfonso: „Jenseits von Postmoderne und Postkolonialität. Materialien zu einem Modell der Hybridität und des Körpers als transnationalem, transversalem und transmedialem Wissenschaftskonzept“, in: Hamann, Christof/ Sieber, Cornelia (Hrsg.): Räume der Hybridität. Postkoloniale Konzepte in Theorie und Literatur, Hildesheim/Zürich/New York 2002, S. 15-53.

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Der diskontinuierlichen, fragmentarischen Spur der Erinnerung der Erzählerin entspricht die Anordnung der amourösen Erzählung als diskontinuierliche Ansammlung loser Szenen, visueller Bruchstücken einer erotischen Begierde, die in der Schwebe gehalten wird. Obgleich die Erfüllung der amourösen und erotischen Begierde ausgespart bleibt, werden Erfahrungen der visuellen Begierde bei Djebar als geradezu ekstatische Ereignisse diskursiviert, bei denen der Geliebte zur Ikone kadriert und sein Körper einer poetischen Zergliederungskunst ausgesetzt wird: Dans ce déblayage de ruines, le visage de l’autre, pendant treize mois, me parut irremplaçable. […] Toutefois par pitié soudaine envers moi […] pendant que, par spasmes mon cœur quémandait, si je me trouvait dans un groupe ou dans une salle encombrée, vite, je me retirais dans un coin, puis me retournai : surgissait le visage de l’Aimé […] de loin, livrée à ma solitude volontaire, je lui jetais un regard brûlant, le plus concentré possible. […] Ainsi éloignée, ainsi abritée, je tendais mon attention : noter exactement le dessin des sourcils, l’ourlet de l’oreille, la légère pomme d’Adam, la lèvre supérieure […].8

Der okzidentale Liebesdiskurs kennt die Kunst der Fragmentierung des geliebten Objekts in seine begehrlichen Einzelteile. Zu den populärsten Beispielen für die Sezierungspraxis des Liebenden zählen bekanntlich die amourösen Zergliederungspraktiken in der lyrischen Tradition des Blason érotique eines Clément Marot, der in seinen lyrischen Texten eine Apologie des fetischisierten, fraktalen weiblichen Körpers feiert: Da wird zum Beispiel die ,schöne Brust‘, ,le bau Tetin‘ zum privilegierten Fokus männlicher Skopophilie: Du bau Tetin Tetin refect, plus banc qu’un œuf, Tetin de satin blanc tout neuf Tetin qui fais honte à la Rose Tetin plus beau que nulle chose [...].9

Dass die lyrische Tradition der Fetischisierung des weiblichen Körpers auf dem ,Ausschluss der Frau‘ basiere, die zu einem Konglomerat von erotisierten Körperteilen umfunktioniert würde, das im Dienst der Befriedigung eines ,phallischen Narzissmus‘ stehe, ist oft bemerkt worden. 8 Djebar (wie Anm. 5), S. 26. 9 Marot, Clément: Les Epigrammes, London 1970, S. 156; zur lyrischen Tradition des „Blason érotique“ vgl. auch die Untersuchung von Klesczewski, Reinhard: „Les Blasons du corps féminin und die Liebeslyrik Giovanni Battista Marino“, in: Winklehner, Brigitte (Hrsg.): Italienisch-europäische Kulturbeziehungen im Zeitalter des Barock, Tübingen 1991, S. 253-266.

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Die so genannten phallozentrischen Muster werden von den Vertreterinnen einer feministisch inspirierten Medienwissenschaft gerne kritisch beleuchtet. So betonen zum Beispiel die bekannten Studien von Christina von Braun10 und Laura Mulvey11, dass die literarische und filmische Tradition des Okzidents den aktiven Blicks prinzipiell auf männlicher Seite, die Regime des angeschauten begehrlichen Objekts prinzipiell auf weiblicher Seite verankere.12 Assia Djebars Diskursivierung einer aktiven weiblichen Skopophilie, einer begehrlichen weiblichen Schaulust, die sich am poetischen Sezieren des Körpers des Geliebten erfreut, stellt folglich eine provokante Umcodierung des traditionellen Gendering der okzidentalen Liebescodes dar. Mit der textuellen und visuellen Dynamisierung weiblicher Skopophilie schreibt sich Djebar in die Tradition der berühmten Protagonistinnen aus 1001 Nacht ein, die die Regime der Macht und der Lust durch ihre Kunst des Redens geschickt zu lenken und zu verlagern wissen.13

„The location of dance“ oder zur hybriden Verortung des erotischen Tanzes Als autoerotische Praxis, als provokante Umcodierung traditioneller Blickanordnungen lässt sich auch die Funktion des erotischen Tanzes der Erzählerin in Vaste est la prison lesen. Die Diskursivierung des Tanzes in Vaste est la prison lässt sich darüber hinaus als Schlüsselbeispiel für eine postkoloniale Diskursstrategie im Zeichen der Hybridität decodie10 Vgl. von Braun, Christina: „Ceci n’est pas une femme. Betrachten, Begehren, Berühren – von der Macht des Blicks“, in: Lettres, Jg. 25, 1994, S. 8084. 11 Mulvey, Laura „Visuelle Lust und narratives Kino“, in: Weissberg, Liliane (Hrsg.): Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt a.M. 1994, S. 48-65. 12 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Thesen von Claudia Gehrke, die ebenfalls die männliche Codierung der voyeuristischen Schaulust betont: „Den männlich-voyeuristischen Blick zeichnet aus, daß die Person des Betrachters im Dunkeln bleibt, in sicherer Distanz zum Angeschauten [...] nur das Betrachtete wird entkleidet, entkleidet sich.“ Gehrke, Claudia: Frauen & Pornographie, Tübingen 1998, S. 19. Gleichzeitig setzt sich Gehrke aber von einer als „resignativ“ bezeichneten Position innerhalb der Debatte ab, die die ,Opferrolle‘ ausschließlich der Frau vorbehalten will und die Möglichkeit weiblicher Schaulust prinzipiell für unmöglich hält (vgl. ebd.). 13 Zur aktiven Tradition weiblicher Begierde in der arabophonen Kultur vgl. den „Dossier spécial“: „De l’amour et des arabes“ in der Zeitschrift Qantara. Magazine des culture arabe et méditeranéenne, Jan. 1996, S. 18-54.

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ren, die sich essentialistischen Zuordnungen und binären kulturellen Oppositionen prinzipiell verweigert, um stattdessen im ,in-between‘ zwischen orientalischen und westlichen Tanztraditionen zu oszillieren.14 Als postmoderne Schwester Salomes inszeniert sich die Erzählerin im vierten Kapitel von „L’effacement dans le coeur“ für ihren Geliebten und – ganz im Sinne des autoerotischen Liebesdiskurses – für sich selbst. In der selbstinszenatorischen Tanzchoreographie wird der Geliebte zum médiateur eines Begehrens, das primär autoerotische Funktion hat. Der Refrain „Je danse dans ma tête“ wird zur ‚petite phrase‘ einer Tanzkonfiguration, die Erinnerungen an orientalische Tanzrituale der Jugend wach ruft, die als Spuren in einen hybriden Tanz montiert werden, der zwischen autoerotischen, postmodernen und rituellen Spasmen oszilliert: Je dansais. J’ai dansé. Je danse encore depuis cette nuit. […] danser tour à tour chacune, lentement, à la manière concertée de la cité d’origine, cérémonieusement […] danser spasmodiquement. […] jusqu’au spasme de la voix solo qui hulule, qui fuse […]. J’avais donc participé à chacune de ces cérémonies lentes et compassées, même si je n’avais pu m’empêcher […] d’en faire une danse nerveuse, hybride […] je transformais ainsi cette contrainte en une danse solitaire, fugitive « moderne »[…] Or, ce soir je ne pouvais m’arrêter […]. Seuls mes bras devenaient lianes, dessinaient l’arabesque, seuls mes bras nus, ce soir évoluaient, dans la pénombre tantôt en serpents, tantôt en calligraphie. (Herv. U.F)15

Im Gegensatz zum mythologischen Intertext – dem Schleiertanz der Salome – dient der hybride Tanz der Protagonistin nicht einer direkten Einforderung eines begehrlichen Körperteils des Geliebten, dennoch sind geheime Reminiszenzen an eine autoerotische Begierde in der Tradition der Salome nicht zu übersehen.

Umcodierungen und Subversionen traditioneller Blickanordnungen Die Freude an der Umkehrung habitualisierter Dispositive des Sehens und der Schaulust manifestiert sich bei Djebar nicht nur im Kontext eines autoerotischen Liebesdiskurses, der als eigenständiges weibliches Begehren decodiert werden kann, sondern auch im Rahmen ihrer in Vaste à la prison in Form von Erinnerungsbruchstücken diskursivierten Erfahrun14 Zum Modell der Hybridität als Verweigerung und Überwindung binärer Oppositionen und essentialistischer Diskurse vgl. de Toro (wie Anm. 7), S. 23. 15 Djebar (wie Anm. 5), S. 61ff.

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gen als Filmemacherin bei ihrem ersten Langfilms LA NOUBA DES (1978).16 Wieder einmal zeigt sich in diesen Passagen ihrer écriture die kritische Distanz gegenüber reduktionistischen binären Oppositionen, die die Unterscheidung der Sehdispositive in Orient und Okzident mit einfachen Oppositionen – wie repressiv versus frei oder männlich versus weiblich – decodieren.17 Wird doch der verschleierte Körper bei Djebar zur Kamera umfunktionalisiert und damit das mit der Verschleierung korrelierende Blickverbot ins Gegenteil verkehrt. Nicht als Verbot der Schaulust, sondern als Aufforderung zu sehen, als Einladung hinter die Kamera zu blicken, sich vom Objekt des Blicks in die aktiv Blickenden zu verwandeln, wird der verschleierte Körper bei Djebar recodiert: FEMMES DU MONT CHENOUA

Corps femelle voilé entièrement d’un drap blanc, la face masquée entièrement, seul un trou laissé libre pour l’œil. […] Cette image – réalité de mon enfance […] – voici qu’elle surgit au départ de cette quête […] c’est elle soudain qui regarde, mais derrière la caméra, elle qui par un trou libre dans une face masquée, dévore le monde. (Herv. U.F.)18

Fast schon im Stil eines Manifests werden diese Aufforderungen zur Subversion herkömmlicher Blickdispositive bei Djebar diskursiviert und die ,Verschleierten‘ eingeladen, sich in kinematographische Körper zu verwandeln: „Nous toutes, du monde des femmes de l’ombre, renversant la démarche: nous enfin qui regardons, nous qui commençons.“19 Die verschleierte Frau wird zur Kamera, sie ist nicht länger Objekt männlicher Skopophilie und auch nicht kurioses Objekt exotistischer Photographen (vgl. Abb. 1, 2), sie verkörpert nach Djebar die Autothematisierung des voyeuristischen Blicks. Sie kann nicht Objekt des Blicks sein, da sie den voyeuristischen Blick zurückwirft und damit in eine ironische Autothematisierung überführt:

16 Zur filmischen Ästhetik in LA NOUBA DES FEMMES DU MONT CHENOUA vgl. die überzeugende Analyse von Groneman, Claudia: „De l’écriture mise en espace. La subversion du réel par une stratégie métahistorique et transmédiale dans l’œuvre cinématographique d’Assia Djebar“, in: Burtscher, Beate/Mertz-Baumgartner, Birgit (Hrsg.): La subversion du réel : Stratégies esthétiques dans la littérature algérienne contemporaine, Paris 2001, S. 5579. 17 Vgl. in diesem Zusammenhang Saids Kritik am kolonialen Wissenschaftsdiskurs: Said, Edward W.: Orientalism, New York 1994, S. 252ff. 18 Djebar (wie Anm. 5), S. 174. 19 Ebd., S. 175.

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Abb. 1: Gustave Beaucorps, Femme voilée (1859) 20 Abb. 2: Alexandre Leroux, Mauresques en costume de ville (1880)21 Ce regard artificiel qu’ils t’ont laissé, plus petit, cent, mille fois plus restreint que celui qu’Allah t’a donné à la naissance, cette fente étrange que les touristes photographaient parce qu’ils trouvent pittoresque ce petit triangle noir à la place de l’œil, ce regard miniature devient ma caméra à moi dorénavant. (Herv. U.F.)22

Die im traditionellen Gendering verankerten Blickdispositive, bei denen die Frau auf die Rolle der Angeblickten festgelegt wird, werden bei Djebar als kulturelle Konstruktionen entlarvt mit denen in dekonstruktivistischer Manier gespielt werden kann und die jederzeit verkehrt werden können. Genderkonfigurationen und Blickanordnungen werden damit ganz im Sinn der gängigen Thesen von Judith Butler als free floating artifaces, als Produkte kultureller Zuschreibungen entlarvt, die eben keine essentialistischen Kategorien darstellen23, sondern Konstruktionen,

20 Abb. 1: Beaucorps, Gustave: Femme voilée (1859), in: De Delacroix à Renoir. L’Algérie des peintres, Ausstellungskatalog, Institut du Monde Arabe, Paris 2003, S. 248. 21 Abb. 2: Leroux, Alexandre: Mauresques en costume de ville (1880), in: ebd. 22 Djebar (wie Anm. 5), S. 175. 23 Vgl. in diesem Zusammenhang Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991, S. 25: „Die Geschlechtsidentitäten können weder wahr noch falsch, weder wirklich noch scheinbar, weder ursprünglich noch abgeleitet sein.“

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Spielkonfigurationen, die dynamischen Prozessen der Recodierung ausgesetzt werden können. Als provokanter Gestus im Anschluss an Djebar lässt sich die Performanz der französischen Filmemacherin Catherine Breillat lesen, die bei ihrer filmischen Arbeit prinzipiell ihr Gesicht mit einem foulard verhüllt, das verhüllte Gesicht damit ganz im Sinne von Assia Djebar zur Kamera umfunktionalisiert (vgl. Abb. 3) und mit der Macht des Blicks ausstattet.

Abb. 3: Catherine Breillat am Set24 Die hier diskutierten Schlüsselszenen liefern ein Beispiel für eine hybride Diskursivierungspraxis von Körper, gender und Blick in der amourösen und erotischen écriture Djebars, die sich nicht mit herkömmlichen reduktionistischen Binarismen – weiblich versus männlich oder Orient versus Okzident – erfassen lässt und stattdessen dazu einlädt, kulturelle Festschreibungen als Konstruktionen zu entlarven und dem prinzipiell offenen oszillierenden Schau-Spiel hybrider kulturellen Einbildungen freizugeben und den Ort der eigenen Diskursivität kritisch-ironisch zu reflektieren.

24 Abb. 3 in: Clouzot, Claire: Catherine Breillat, Paris 2004.

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HYBRIDE POP-WELTEN. MADONNA UND DIE AVANTGARDE(N) I’ve had so many lives Since I was a child. Now I realize How many times I’ve died. Into your eyes – My face remains. Madonna

Vom Material girl zum immaterial Superstar Sich mit einer Künstlerin wie Madonna kulturwissenschaftlich zu beschäftigen birgt in sich vor allem zwei nicht zu unterschätzende Risiken: Zum einen muss die Gefahr erkannt werden, dass der nüchterne akademische Blick angesichts ihrer oftmals polarisierenden Erscheinung allzu sehr durch Bewunderung oder aber Verachtung seine postulierte Objektivität einzubüßen droht. Zum anderen muss man sich darüber im Klaren sein, dass das, was man heute über Madonna sagt oder schreibt, bereits im nächsten Jahr veraltet sein kann, ist es doch so, dass „Madonnas Erscheinungsbild so schnell mutiert wie ein HIV-Virus“, wie Boris Penth und Natalia Wörner vor einiger Zeit konstatierten.1 Die extreme Wandelbarkeit Madonnas zählt inzwischen zu den Allgemeinplätzen der zeitgenössischen Populärkultur und lässt das gesamte Phänomen Madonna als emblematischen Repräsentant unserer postmodernen, massenmedial generierten Unterhaltungsmaschinerie erscheinen. Besonders in den medientheoretischen Reflexionen zu den Themen Startum und Divenkult steht Madonna bislang als singuläre, wenngleich symptomatische Figur im Zentrum einschlägiger Fragestellungen.2 Zahlreiche Publikationen 1 Penth, Boris/Wörner, Nathalia: „Das elfte Gebot: Madonna Ciccone“, in: dies. u.a.: Das Madonna Phänomen, Hamburg 1993, S. 26-89, hier S. 28. 2 Vgl. u.a. Bronfen, Elisabeth: „Von der Diva zum Megastar. Cindy Sherman und Madonna“, in: dies./Straumann, Barbara: Diva. Eine Geschichte der Bewunderung, München 2002, S. 195-218; Kürzen, Michaela: „Madonna

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feiern Madonna als Meisterin des Zitats, was sie gleichsam zur Ikone unserer postmodernen Bildkultur erhebt, die ohnehin, so scheint es zuweilen, nur aus einer einzigen Abfolge von sich wiederholenden Zitaten und Prozessen des posing, morphing und cloning besteht. So beschäftigen sich die meisten wissenschaftlichen Artikel über Madonna mit ihren ständigen Meta-Morphosen, die sich im Laufe der Jahre zu ihrem Markenzeichen entwickelt haben, was bereits an den Titeln der Beiträge ersichtlich ist. Ob es klassische Diven, wie Marlene Dietrich, Marilyn Monroe oder gar Elvis Presley sind, die von Madonna zitiert werden oder aber subkulturelle Inszenierungsmuster wie gay culture, rap culture oder aber SM-Praktiken – stets steht der Zitatcharakter ihrer Performances, die auch gerne als „Meta-Maskeraden“3 evaluiert werden, im Vordergrund der Analysen. Die Tatsache, dass Madonna seit nunmehr rund zwanzig Jahren zu den Größen des gemeinhin schnelllebigen Pop-Business gehört, verdankt sich zweifelsohne eben jener so oft herangezogenen Wandelfähigkeit – und das sowohl im Hinblick auf ihre musikalischen Darbietungen als auch auf ihr äußeres Erscheinungsbild. Bezeichnenderweise sind die bevorzugten Orte ihrer zahlreichen Selbstinszenierungen entweder Videoclips oder öffentliche Performances, jene multimedialen Hybridhappenings im Schnittpunkt von Musik, Film, Fernsehen, Fotografie und Tanz. Als Filmschauspielerin liefert sie hingegen in regelmäßigen Abständen einen Flop nach dem nächsten – auch diese unselige Tatsache gehört inzwischen zu ihrem etablierten Image. In ihren Clips und Shows ist Madonna dessen ungeachtet Selbstdarstellerin in höchster Perfektion. Die kontroverse, interdisziplinäre Debatte über die Funktion und Ästhetik von Videoclips ist derzeit immer noch ein offenes Paradigma, an dem sowohl die Medien- und Kulturwissenschaften partizipieren als auch Soziologie, Musik- und Wirtschaftswissenschaften. Je nach Perspektivierung werden Videoclips entweder als „Ausdruck von Avantgarde“, „postmoderne (Kunst-)Werke“ oder schlichtweg „Werbefilmchen“ kategorisiert.4 Eine mögliche definitorische Annäherung, die mir ist Marilyn ist Marlene ist Evita ist Diana ist Mummy ist Cowgirl – Madonna“, in: Ullrich, Wolfgang/Schirdewahn, Sabine (Hrsg.): Stars. Annäherungen an ein Phänomen, Frankfurt a.M. 2002, S. 62-105; Curry, Ramona: „Madonna von Marilyn zu Marlene: Pastiche oder Parodie?“, in: NeumannBraun, Klaus (Hrsg.): VIVA MTV! Popmusik im Fernsehen, Frankfurt a.M. 1999, S. 175-204. 3 Vgl. Curry (wie Anm. 2), S. 201. 4 Vgl. Neumann-Braun, Klaus/Schmidt, Axel: „McMusic. Einführung“, in: Neumann-Braun (wie Anm. 2), S. 7-44, hier S. 7.

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im Hinblick auf meine Madonna-Studien als nutzbringend und fruchtbar erscheint, liefern Klaus Neumann-Braun und Axel Schmidt in ihrer Einführung zum Sammelband VIVA MTV! Popmusik im Fernsehen: Musikvideos gelten [...] als ein postmoderner Text, als ein postmoderner Gebrauch des historischen Diskurses der Avantgarde des bewegten Bildes und der Rockmusik selbst, wobei in ihnen die Unterscheidung zwischen populärem Realismus und subversiven Avantgardestrategien, zwischen U- und E-Kultur, zwischen Kommerz und Kunst, zwischen Heute und Gestern als obsolet eingeschätzt wird.5

So offen die Diskussion um das Medium Videoclip immer noch ist – so unentschlossen liest sich auch dieser Erklärungsansatz. Gleichwohl evozieren die Autoren eine Reihe von dichotomischen Paaren, die etwas Licht in jenes Hybridmedium bringen: Einerseits „Kommerz und Kunst“ und – worauf es mir besonders ankommt – „Postmoderne“ und „Avantgarde“. Dass Madonna ein postmodernes Phänomen par excellence darstellt, habe ich bereits kurz skizziert. Durch ihr permanentes Spiel mit Zitaten aus dem kulturellen Bildrepertoire werden ihre Videoclips und Performances oberflächlich gesehen zu reinen Zitatenkarussellen, hinter denen eine reale Figur Madonna Louise Veronica Ciccone nicht mehr aufzuspüren ist oder wie es Ramona Curry formuliert: „Die Parodie in ihrem Starimage besteht nicht etwa darin, daß sie ein solches Repertoire von Masken besitzt, sondern daß Madonna nichts als dieses Repertoire ist.“6 Das spielerische Wechseln von kulturell bereits vorgefertigten Masken, die Stilmittel Pastiche und Parodie, das Ineinandergreifen von Hochkultur und Populärkultur, von Kunst und Kommerz – all jene Erscheinungen gehören zu den kulturellen Konfigurationen der Postmoderne und somit zur Oberflächenästhetik unserer Konsumgesellschaft, zu deren schillerndsten und zugleich erfolgreichsten Vertretern Madonna zweifelsohne hinzugerechnet werden muss. Ihr perfekt vermarktetes Image, das aus nichts als Wandel besteht, ist sicherlich einer der Gründe warum immer mehr vom „Phänomen Madonna“ die Rede ist, denn von der Person. Ihr Image liest sich als eine schier unendliche Ansammlung von Zeichen, als ein fraktalisiertes Zeichensystem von halluzinatorischer Komplexität. Das Phänomen Madonna als kulturelles Zeichen zu verstehen, geht durchaus mit den gängigen Star-Theorien von Richard Dyer7 5 Ebd., S. 15. 6 Curry (wie Anm. 2), S. 202. 7 Vgl. Dyer, Richard: Stars [1979]. New Edition. With a Supplementary Chapter and Bibliography by Paul McDonald, London 1998, S. 87ff.

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oder sogar Roland Barthes8 konform. Daran knüpft auch Elisabeth Bronfen in ihrem Diva-Buch an, in dem sie Madonna zusammen mit der Künstlerin Cindy Sherman klar von den klassischen Diven wie Marilyn Monroe oder Maria Callas abgrenzt. Nach Bronfen stellt die klassische Diva einen „Unfall im Mythensystem des Stars“ dar, da die Diva nicht nur einen „künstlich erstellten Glamour [verkörpert], sondern [...] ihren zeichenhaften Kunstkörper mit existentiellem Schmerz [verschränkt] und damit den realen Leib in seiner Fragilität und Versehrtheit wieder ins Spiel [bringt].“9 Madonna, die Bronfen bezeichnenderweise als postmoderne Diva evaluiert, fällt hinter jene Kategorisierung der klassischen Diva zurück, da eben ihre Realperson niemals – oder zumindest kaum – in ihren pastichisierenden Darstellungen aufzufinden ist. Bei den vielfältigen Zitaten der großen Diven, die ihren Karriereweg pflastern, dient ihr nicht „die Diva als klassisches Opfer als Vorbild“, „sondern das lustvoll demonstrierte Spiel mit der Macht weiblicher Sexualität“10, wie in den folgenden Beispielen deutlich werden wird. Neben der relativ klaren Zuordnung von Videoclips zur „Postmoderne“ rekurrieren Neumann-Braun und Schmidt auf die oftmals postulierte enge Wahlverwandtschaft von Musikvideos zur Avantgardekunst, wobei sie insbesondere die subversiven Strategien beider Genres in den Vordergrund rücken. Unklar bleibt jedoch, auf welche der zahlreichen Avantgardetheorien hier Bezug genommen wird, die zusammen keineswegs ein einhelliges Paradigma repräsentieren. Unklar bleibt zudem, ob hier überhaupt auf eines der einschlägigen Avantgardekonzepte angespielt wird, da sich der Begriff „Avantgarde“ ja nicht nur als wissenschaftstheoretisches Konstrukt und Epochenbeschreibung lesen lässt, sondern darüber hinaus im alltagssprachlichen Kontext nahezu jede Form postmoderner Kunst beschreibt, deren Abbildungen und Narrationen die traditionellen Muster von Mimesis und Kohärenz unterlaufen und somit in Frage stellen. Es darf vermutet werden, dass der Konnex von Videoclips und Avantgardekunst eher auf den alltagssprachlichen Diskurs rekurriert. Das Gros der auf MTV oder VIVA laufenden Clips scheint mit den historischen Avantgarden und ihren Theoretisierungen nur schlecht in Einklang zu bringen zu sein, was nicht bedeuten soll, dass der ohnehin umstrittene künstlerische Wert von Musikvideos hier vollständig negiert werden soll. Videoclips sind – soviel sei noch hinzugefügt – „eine der 8 Barthes, Roland: Mythologies, Paris 1957. 9 Bronfen, Elisabeth: „Zwischen Himmel und Hölle. Maria Callas und Marilyn Monroe“, in: dies./Straumann 2002, S. 43-68, hier S. 49. 10 Bronfen (wie Anm. 2), S. 202.

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wenigen Formen televisionärer Gestaltungen, die der Komplexität einer postindustriellen Kommunikationsgesellschaft angemessen sind.“11 Wenn man sich nun die Mühe macht nach konkreten Bezugspunkten zu den Avantgarden zu suchen, so fallen eine Reihe an Möglichkeiten auf, wie z.B. die fragmentarische, oftmals kontiguitive Bilderzusammenstellung vieler Clips, fehlende Erzählstränge sowie die damit einhergehende Befreiung von etablierten gesellschaftlichen Darstellungs- und Deutungsmustern. Ebenso auffällig sind gleichwohl die Insignien, die Videoclips deutlich von den avantgardistischen Konzepten der verschiedenen „Ismen“ abgrenzen, vor allem aber der kommerzielle Aspekt, der den Betrachter eines Clips möglichst zum Kauf der entsprechenden CD animieren soll. Selbstvermarktungsstrategien sind freilich ein wesentlicher Bestandteil der primär kommerziell ausgerichteten Musikindustrie, was wiederum die bereits angeführte Dichotomie „Kunst und Kommerz“ legitimiert. Kommen wir nun wieder zum konkreten Fall Madonna, so scheint eine direkte Verbindung zu avantgardistischen Entwürfen zunächst weniger auffällig als zu den Theoremen postmoderner Konzeptionen. Gleichwohl offenbaren sich nach genauerem Studium ihrer recht disparaten Werke eine Reihe von diskursiven Verknüpfungspunkten, die nun näher herausgearbeitet werden sollen. Ist es doch so – und damit nähern wir uns dem eigentlichen Thema –, dass Madonna in einer Fülle von Clips und Live-Auftritten dezidiert klassische Denkfiguren, Bildkörper und Inszenierungsmuster der historischen Avantgarden aktualisiert, insbesondere aus Surrealismus und Futurismus. Im Rahmen von Streifzügen durch ihr breit gefächertes, szenisches Repertoire lassen sich vor allem Linien erkennen, die immer stärker futuristische Leitfiguren, wie Gewaltphantasien, Maschinisierung von Körpern sowie ikonoklastische Farbund Bewegungsmuster in den Vordergrund rücken. Surrealistisches Potenzial weist vor allem ein Videoclip aus dem Jahr 1995 auf, der bislang in der Madonna-Rezeption noch keine Beachtung gefunden hat – womöglich aufgrund des relativ unbekannten Songs BEDTIME STORY, den der Clip visualisiert. Ich möchte nun anhand drei konkreter Beispiele genau jene Linie avantgardistischer Tendenzen in Madonnas Werken nachzeichnen, wobei das Augemerk zudem auf die damit eng in Verbindung stehenden genderspezifischen Konfigurationen, Transgressionen und Subversionen gerichtet werden soll, die Madonnas öffentlich konstruiertes Image von Anfang an mitbestimmt haben. 11 Neumann-Braun/Schmidt (wie Anm. 4), S. 15.

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Die Regentschaft der Pussycats: EXPRESS YOURSELF Das Video zum Song EXPRESS YOURSELF (1989)12 stellt unbestritten eines der am häufigsten besprochenen Videoclips in der Madonna-Rezeption dar13 – wenn nicht gar eines der meist beachtetsten Musikvideos der Geschichte überhaupt. Die Gründe, warum genau dieses Musikvideo gleichermaßen öffentliche Beachtung wie akademisches Interesse auf sich zu ziehen vermochte, sind so disparat wie der Clip selbst. Zum einen wurde bereits im Vorfeld seines Erscheinens kräftig die Werbetrommel gerührt, da es sich bei EXPRESS YOURSELF zum damaligen Zeitpunkt mit ca. zwei Millionen US-Dollar um den teuersten Videoclip aller Zeiten handelte. Die Regie führt der damals noch recht unbekannte David Fincher, der insgesamt drei Madonna-Clips drehte (VOGUE und OH FATHER, beide 1990) und sich erst im Jahr 1995 mit seiner düsteren Serienkiller-Phantasmagorie SE7EN einen Namen als vielversprechender Jungregisseur machte. Der Clip EXPRESS YOURSELF zitiert auf ästhetischer sowie teilweise thematischer Ebene den Stummfilmklassiker METROPOLIS (1926) von Fritz Lang, was vermutlich einen weiteren Grund für dessen euphorische Rezeption darstellt, die in dem Clip einen Meilenstein der visuellen Popkultur sieht.14 Thomas Elsaesser schreibt in seiner METROPOLIS-Monographie: Über sechs Jahrzehnte wurde Fritz Langs Meisterwerk gekürzt, umgeschnitten, verstümmelt, eingefärbt und vertont – so schuf sich

12 Zu finden auf dem Album Like a Prayer (Warner Bros./Siren, USA 1989); Expess Yourself war nach dem Titelsong Like a Prayer die zweite Singleauskopplung aus Madonnas viertem Studioalbum. Das Video befindet sich auf dem kommerziell erhältlichen Video- bzw. DVD-Band The Immaculate Collection (Warner Bros., USA 1990). 13 Vgl. u.a. Curry (wie Anm. 2), S. 190ff.; Kürzen (wie Anm. 2), S. 76ff; Bronfen 2002a, S. 208ff.; Grigat, Nicoläa: Madonnabilder. Dekonstruktive Ästhetik in den Videobildern Madonnas, Frankfurt a.M. u.a. 1995, S. 57ff.; Schmiedke-Rindt, Carina: Express Yourself – Madonna Be With You. Madonna-Fans und ihre Lebenswelt, Augsburg 1998, S. 58ff.; Schwichtenberg, Cathy (Hrsg.): The Madonna Connection. Representational Politics, Subcultural Identities and Cultural Theory, San Francisco u.a. 1993, bes. S. 213ff. 14 Vgl. zur Erfolgsgeschichte des Videos: Schmiedke-Rindt (wie Anm. 13), S. 58f.

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jede Generation ihre eigene Version dieses frühen Klassikers des fantastischen Films.15

Er geht jedoch nur am Rande auf Madonnas Aktualisierung des Klassikers in EXPRESS YOURSELF ein. Dennoch wird deutlich, dass Elsaesser in METROPOLIS mehr sieht als nur einen Film – er transformiert Langs Werk auf der Grundlage von Roland Barthes Mythentheorie in einen modernen Mythos, der als Zeichen bzw. Aussage von jeder nachfolgenden Generation neu gedeutet und dechiffriert wird. Das nun gerade METROPOLIS für jenes semiotische Verständnis von Mythenbildung als hervorragendes Beispiel dient, zeigt sich vor allem an der kontroversen Rezeptionsgeschichte des Klassikers – angefangen bei der politischen Nutzbarmachung durch die Nazis über Giorgio Moroders 1980er Jahre PopSpektakel bis hin zu Videoclips von Queen, David Bowie und eben Madonna. METROPOLIS fungiert aufgrund seiner offenkundigen Mehrdeutigkeit und unbestrittenen Faszinationskraft als Hintergrundtext bzw. Metafiktion all jener Aktualisierungen und Interpretationen, wobei sich der Schwerpunkt je nach historischem Kontext stets verlagert. METROPOLIS dient somit in gewissem Sinne als filmische Projektionsfläche unterschiedlicher politischer, wissenschaftlicher sowie kultureller Ideologien, ja man könnte ihn gar als Diskursbegründer des fantastischen Films verstehen.

Abb. 1: Screenshot aus EXPRESS YOURSELF (1989) Seine ästhetische und thematische Nähe zu faschistischen Ideologemen, auf die vor allem Siegfried Kracauer in seiner METROPOLIS-Lektüre auf15 Elsaesser, Thomas: Metropolis. Der Filmklassiker von Fritz Lang, Hamburg/Wien 2000, Klappentext.

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merksam machte16, wird auch von Madonna wieder aufgegriffen. Gleich in den ersten Einstellungen des Videos sitzt sie als Prototyp des blonden, arischen Frauenbildes auf einer monumentalen Skulptur, die einen Adler darstellt. Dass der Adler zur Zeit des Nationalsozialismus – aber auch heute noch! – den beliebtesten Nationalsymbolen der deutschen Kultur zuzurechnen ist, gehört zu den Allgemeinplätzen der Kulturgeschichte. Allerdings fallen an der inszenatorischen Ikonographie in EXPRESS YOURSELF sogleich zwei Merkwürdigkeiten ins Auge, die das faschistische Bildzitat relativieren: Zum einen erinnert die Darstellung des Adlerkopfes eher an eine verniedlichende Comicrepräsentation à la Walt Disney als an das stolze Haupt des Greifvogels. Zum anderen ist es eine Frau – dargestellt von Madonna – die auf den Schwingen des Adlers und somit über den futuristischen Gebäudekulissen thront und dergestalt a priori mit einer topographisch untermauerten Machtposition ausgestattet wird. Auf gesanglicher Ebene beginnt das Video mit einem Aufruf Madonnas an alle ‚Frauen, die an die Liebe glauben‘ („Come on girls! Do you believe in love? Well, I got something to say about it and it goes something like this.“), den man durchaus als Auftakt eines Manifests lesen könnte – als Manifest, dessen Absender und Adressaten gleichermaßen weiblich sind und somit männliche Zuhörer zunächst bewusst ausblendet. Die Lyrics von EXPRESS YOURSELF verfolgen diese zunächst romantisch codierte Rhetorik, indem Madonna ihre Zuhörerinnen dazu auffordert, ihre Liebe zu testen und vor allem die Gefühle ihrer Liebhaber auf den Prüfstand zu stellen. Wie in vielen ihrer Songs, so OPEN YOUR HEART, PAPA DON’T PREACH oder aber DON’T TELL ME, singt Madonna ihre Texte in Form eines Imperativs, in der sie pseudo-moralistische Handlungsanweisungen oder schlichtweg Aufforderungen zum Tanzen sowie zum Schauspielen (VOGUE) darbietet. Fasst man all diese Texte zu einer Collage zusammen, so erhält man ein postmodernes PopManifest, das vor allem die selbstbestimmte Sexualität der Frau propagiert. Wo die Avantgarden – hier vor allem die Futuristen unter der Federführung von Marinetti – sich einer sprachlichen Radikalität bedienten, die ihresgleichen suchte, zeugen die Texte Madonnas eher von einer scheinbar naiv-spielerischen Sprachpolitik. Allerdings dürfen die sprachlichen Äußerungen Madonnas niemals losgelöst von den dazu gehörigen Bildern gelesen werden, d.h. von ihren Videoclips, wenn man ihre Botschaften auf angemessene Weise verstehen will. Das gilt natürlich auch für EXPRESS YOURSELF. Der verbale Liebesthesaurus wird durch die ge16 Vgl. Kracauer, Siegfried: Von Caligari zu Hitler, Frankfurt a.M. 1979, S. 171ff.

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zeigten Bilder konterkariert, und erst durch diese offenkundige semantische Disjunktion entbirgt sich das gesamte subversive Potential von Madonnas Selbstinszenierungen. Werfen wir einen Blick auf die unterschiedlichen Rollenbilder, die Madonna nach diesem manifestatorischen Auftakt, der gewissermaßen die Rahmenhandlung darstellt, einnimmt:

Abb. 2: Screenshot aus EXPRESS YOURSELF Zunächst sehen wir sie in den metropolisartigen Interieurs als unterkühlte Grande Dame in einer Seidenrobe im Stil einer Rita Hayworth, die eine schwarze Katze lustvoll streichelt. In dieser Einstellung wird bereits eins der Leitmotive des Clips eingeführt und zwar die „stereotype Analogie von Frau und Katze“17, die im Folgenden immer wieder aufgegriffen und transformiert wird. Hierzu muss angemerkt werden, dass im Englischen das Wort „pussy“ sowohl alltagssprachlich eine Katze bezeichnet als auch als Synonym für das weibliche Geschlecht fungiert. Die futuristisch-kühle Innenarchitektur der Räume, die an den neuen Turm zu Babel aus METROPOLIS erinnern, in denen sich Madonna bewegt, untermauern ihre machtvolle Position, die im Prolog bereits evoziert wurde – insbesondere im Kontrast zu den düsteren Bildern der Unterwelt, wo halbnackte Männer wie in einem schwülstigen homoerotischen B-Movie gewaltige Maschinen bedienen. Wie in METROPOLIS wird auch in EXPRESS YOURSELF nicht klar, was diese Maschinen eigentlich für eine Funktion erfüllen. Was allerdings in METROPOLIS wie eine faschistische Schreckensvision daherkommt, wird bei Madonna zu einem feucht-erotischen Phantasma umcodiert, über dem Madonna als „teutonische Mieze“18 regiert. Es gibt demnach in EXPRESS YOURSELF zwar einen Klassenunter17 Bronfen (wie Anm. 2), S. 208. 18 Curry (wie Anm. 2), S. 190.

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schied, der in gewisser Weise demjenigen aus METROPOLIS verwandt ist, allerdings wird die mächtige Figur des Industriellen Fredersen durch eine Frau ersetzt, die sich als postmodernes Amalgam von Langs Figur der Maria und ihrem dämonischen cyborgartigen Double entpuppt, anders ausgedrückt: aus Maria und Maschine wird Madonna. Auf die Tatsache, dass in der modernen METROPOLIS-Rezeption seit den achtziger Jahren der Roboter zum eigentlichen Star des Films geworden ist, macht auch Thomas Elsaesser aufmerksam – vor allem im Hinblick auf die hybride Geschlechtlichkeit jenes Konstrukts. Er schreibt: Die metallbekleidete Jungfrau-Madonna in Rotwangs Labor ist inzwischen eine posthumane, post gender Figur, Prototyp des weiblichen Rockstars und der Popmusikerin mit widersprüchlichem, doch in letzter Konsequenz positivem Reiz.19

Interessant an dieser Bemerkung erscheint vor allem die Beobachtung, dass posthumane Körperentwürfe sowie post gender Konzeptionen in einem Atemzug mit dem Phänomen Popkultur genannt werden und dass vor allem eine Linie von Maria als Inbegriff von reiner Weiblichkeit über ihr Cyborg-Double bis hin zu Popmusikerinnen wie Madonna gezogen wird. Das würde in letzter Konsequenz bedeuten, dass zum einen Langs Roboter als Stummfilmvariante heutiger Popstars verstanden werden muss, aber auch, dass die Popstars nichts als geklonte Konstrukte innerhalb unserer Massenkultur repräsentieren. Dies trifft freilich auf Madonna in besonderem Maße zu, ebenso aber auf Künstler wie David Bowie oder Marylin Manson. Gleichwohl findet in EXPRESS YOURSELF neben der ambivalenten Figur der Maria auch die Figur des Fredersen als Industrieller im Nadelstreifenanzug seine Beachtung. Es wird jedoch nicht deutlich, in welcher Beziehung er in der Diegese des Clips selbst zu Madonna steht. Seine Figur wird dessen ungeachtet durch einen erneuten Rollenwechsel Madonnas der Lächerlichkeit preisgegeben. Im Rahmen einer Travestie zieht sie dessen Anzug an und blickt während einer Tanzeinlage provozierend durch sein Monokel, das auf gewisse Weise die „aktive Macht des erotischen Blicks“20 symbolisiert. Der Tanz findet auf einer Treppe statt, die stark an die Darstellung der Moloch-Vision aus METROPOLIS anklingt. Den Eindruck des symbolischen gender-switchings als Folge eines Kleidungswechsels verstärkt Madonna durch eindeutig männlich codierte 19 Elsaesser (wie Anm. 15), S. 85. 20 Mulvey, Laura: „Visuelle Lust und narratives Kino“, in: Weissberg, Liliane (Hrsg.): Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt a.M. 1994, S. 48-65, hier S. 57.

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Gesten: sie fasst sich in den Schritt, wie es Michael Jackson zu besten Zeiten getan hat, spreizt ihre Finger zu einer angedeuteten Pistole und lässt ihre Muskeln spielen. Allerdings reißt sie auch lasziv ihr Jackett auf, unter dem sie einen Büstenhalter trägt. In dieser Szene verwischen die Geschlechtergrenzen bis zur Unkenntlichkeit.

Abb. 3: Screenshot aus EXPRESS YOURSELF Überzeichnetes dress-crossing, mal männliche Gestik, mal weiblich codierte Peep-Show-Ästhetik erfüllen vor allem zwei Zwecke: zum einen die Ironisierung patriarchaler Strukturen, d.h. von männlicher Macht, die das METROPOLIS-Pastiche in eine subversive Parodie tranformiert und zum anderen das spielerische Hybridisieren der binären Geschlechterordnung. Entsprechend der butlerschen Performativitätstheorie, welche besagt, dass die „Geschlechteridentität keineswegs die stabile Identität eines Handlungsortes [ist], von dem dann verschiedene Akte ausgehen, [sondern] „vielmehr [...] eine Identität, die stets zerbrechlich in der Zeit ist“21, illustriert Madonna an dieser Stelle, dass Figuren, wie Macht, Erfolg und aktive Sexualität keineswegs naturgegebene Kennzeichen einer postulierten Männlichkeit sind, sondern sehr wohl auch in das Regime der Weiblichkeit überführt werden können. Diese Botschaft ist im Grunde genommen die Kernaussage ihrer gesamten Erscheinung, die sie immer wieder in verschiedenen Kontexten auf unterschiedliche Weise durchspielt. In EXPRESS YOURSELF fungiert der Hintergrundtext von Fritz Langs METROPOLIS als Austragungsort dieses Selbstverständnisses. 21 Butler, Judith: „Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie“, in: Wirth, Uwe (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, S. 301-320, hier S. 301f.

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Selbst wenn Madonna in einer anderen Szene angekettet im Bett liegt, oder aber Milch aus einer Schale trinkt und die Analogie Frau/Katze somit auf die Spitze treibt, lässt sie dennoch keinen Zweifel darüber offen, wer diese Entscheidungen getroffen hat: niemand anderer als sie selbst, wie sie in einem Interview bestätigt: Ich habe mich selbst angekettet. Mich hat kein Mann in Ketten gelegt. Ich wollte angekettet werden. Ich bin unter meinen eigenen Tisch gekrochen. Kein Mann hat mich dazu gezwungen. Ich mache alles aus eigenem Willen. Ich bestimme.22

Abb. 4-5: Screenshots aus EXPRESS YOURSELF Das sie hierbei ausgerechnet einen Film wie METROPOLIS zitiert, der, wie Andreas Huyssen gezeigt hat23, weibliche Sexualität vor allem als Bedrohung inszeniert, zeigt die ironische Distanz ihrer parodistischen Selbstinszenierung, die sie mit den Elementen Faschismus und Pornographie listig kombiniert. Die Aneignung vorgegebener Bilder vollzieht sich demnach kaum affirmativ, genauso wenig bei ihrer Identifikation mit dem maschinisierten Double Marias wie mit der travestitischen Aneignung der Rolle Fredersens, denn die „Transvestitin übernimmt [zwar] die Sexualität des anderen, [d.h.] die Frau wird zum Mann“, aber sie tut dies nur, „um die notwendige Distanz zum Bild zu bekommen“24, wie es Mary Ann Doane formuliert. Durch diese Freude am Spiel mit klassischen Rollenzuweisungen stellt Madonna die angeblich natürlichen Gegebenheiten der symbolischen Ordnung in Frage oder aber noch einmal mit Judith Butler gesprochen: 22 Zitiert nach Bronfen (wie Anm. 2), S. 209. 23 Vgl. Huyssen, Andreas: „The Vamp and the Machine: Fritz Lang’s Metropolis“, in: ders.: After the Great Divide. Modernism, Mass Culture, Postmodernism, London u.a. 1986, S. 45-65. 24 Doane, Mary Anne: „Film und Maskerade: Zur Theorie des weiblichen Zuschauers“, in: Frauen und Film, Jg. 38, 1985, S. 4-19, hier S. 11.

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Ungeachtet der Allgegenwart des Patriarchats und des Vorherrschens der sexuellen Differenz als operativer kultureller Unterscheidung ist nichts am binären Geschlechtersystem als gegeben anzusehen.25

Der Clip endet schließlich mit einem letzten Zitat – diesmal einem buchstäblichen – einer Schrifttafel aus METROPOLIS. Das Epigramm, welches das Video paratextuell abschließt, soll natürlich einerseits auf den Konflikt zwischen Herrscher (also „Hirn“) und Arbeitern („Händen“26) anspielen, der durch das Herz (die „Frau“, i.e. Maria) beigelegt wird. Dieser zentrale Konflikt wird in METROPOLIS bekanntlich explizit, in EXPRESS YOURSELF jedoch eher beiläufig verhandelt.

Abb. 6: Screenshot aus EXPRESS YOURSELF Unterzieht man jenes romantisch codierte Zitat in EXPRESS YOURSELF jedoch einer feministischen Lektüre, was vor allem im Hinblick auf die narrative Struktur des Videos als gegeben erscheint, so scheinen die dichotomischen Figuren hand als Symbol des Animalischen sowie mind für Raffinesse und Kalkül keineswegs als männliche Metaphern zu fungieren. Sie werden vielmehr von einer alles umfassenden Weiblichkeit absorbiert, die wiederum durch die verschiedenen Rollenbilder Madonnas repräsentiert wird.

„Let’s get unconscious, honey!“: BEDTIME STORY Das 1994 erschienene Album Bedtime Stories, das den Dreharbeiten zu Alan Parkers EVITA unmittelbar vorausging, in dem Madonna die Haupt25 Butler (wie Anm. 21), S. 320. 26 Vor allem in den englischen industrial novels des 19. Jahrhunderts wurden die Arbeiter metonymisch als hands beschrieben.

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rolle spielt, ist sicherlich vom rein musikalischen Standpunkt das unspektakulärste Madonna-Album überhaupt. Es enthält jedoch aller fehlenden Originalität zum Trotz eine durchaus bemerkenswerte Ausnahme, namentlich den Titelsong BEDTIME STORY. Jener von der isländischen Sängerin Björk produzierte Song besticht vor allem durch elektronische Klangexperimente, während der Text die Kraft des menschlichen Unbewussten beschwört. Folgerichtig aktualisiert der dazugehörige Videoclip27 die Bildsprache genau jener künstlerischen Strömung, die gewissermaßen in ihrem Programm eine Apotheose des Unbewussten, des Traums und des Wahns propagierte – die Rede ist natürlich vom Surrealismus. Der erste offenkundige Unterschied zum vorangegangenen Videoclip liegt zweifelsohne im Modus seiner Aktualisierung: Während EXPRESS YOURSELF die futuristische Metropolis-Ästhetik einer Subversion zugunsten einer befreiten weiblichen Sexualität unterzieht, findet in BEDTIME STORY, so scheint es zunächst, eine rein affirmative Aktualisierung surrealistischer Bildwelten statt. Das Video zitiert offenbar relativ wahllos prominente surreale Szenarien von Magritte, Dalí über Picasso bis hin zu Man Ray. Der dazugehörige Text wiederum postuliert die Nutz- und Bedeutungslosigkeit von Wörtern und Sätzen und fordert zum Verlust des Bewusstseins auf. Somit handelt es sich, überspitzt zusammengefasst, bei diesem Clip um eine rund vierminütige Einführung in die Theorie und Praxis des Surrealismus unter Berücksichtigung des Einflusses der Freudschen Traumdeutung. So weit, so gut – so unzureichend. Ich möchte nun auf einige Aspekte des Videos näher eingehen, die mir im Hinblick auf postmoderne Bilderflut und traum-hafte Selbstinszenierung eines Popstars als augenfällig erscheinen. Immerhin hat gerade der Surrealismus wie keine andere avantgardistische Strömung Eingang in die postmoderne Alltagswelt gefunden. Die enorme, immer noch anhaltende Popularität surrealistischer Kunst wird in unzähligen Zahnarztpraxen, Besprechungsräumen oder aber Krankenhausfluren immer wieder aufs Neue dokumentiert und legt, so Peter Bürger, ein vermeintliches Zeugnis über das „Altern der Moderne“ ab, das der Avantgardekunst in der heutigen Zeit vor allem das Wegfallen der ursprünglich intendierten Schockwirkung attestiert. Nicht zuletzt die immensen Besucherzahlen der großen unter der Ägide von Werner Spies veranstalteten Surrealismus-Retrospektive in Paris und Düsseldorf illustrieren den Übergang von der Avantgarde-Kunst hin zur Populär-Kunst. Von daher verwundert es 27 Zu finden auf der kommerziell erhältlichen Videosammlung: madonna: the video-collection 93 : 99 (Warner Bros. USA 1999).

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auch nicht, dass Madonna ausgerechnet die surrealistischen Meister zitiert, deren Werke in unserer Zeit einen so hohen Bekanntheitsgrad besitzen wie Madonna selbst. Die narrative Struktur des Clips BEDTIME STORY legt zunächst eine Einteilung in zwei Ebenen fest: Die Rahmenhandlung zeigt ein hyperreales Schlaflabor, in dem das „subject m. ciccone“ – niemand anders als Madonna Ciccone – allmählich dem Schlaf anheim fällt. Die kühle Science-Fiction-Ästhetik der Szenerie offenbart eine High-Tech-Maschinerie, die uns auf wundersame Weise unsere Träume verbildlicht. Nichts anderes sieht Roland Barthes in unserer Massenkultur, die er einmal treffend mit einer Maschine verglich, „die unser kollektives Begehren sichtbar macht.“28 Während Madonna innerhalb dieses Systems als Subjekt M. Ciccone die Funktion einer Bildspenderin erfüllt, übernimmt jene derealisierte Traummaschine, die sozusagen als Trademark-Symbol signifikanterweise einen augenförmigen Hieroglyphen trägt, die Visualisierung jener Bilder. Somit würde sich der Kreis der vorliegenden Analogie schließen, denn es ist doch so, dass Madonna innerhalb der Massenkultur einen noch so großen Machtanspruch innehaben mag – ihre Wandlungen vollziehen sich dennoch niemals losgelöst von jenen Strukturen. Daher funktioniert das erfolgreiche Changieren von Bildern, Rollen und Images letztlich nur qua gesellschaftliche Rezeption, mit anderen Worten: der Star ist „kein bloßer manipulierter Kunstkörper, weil [er] auch immer vom Publikum erwählt werden muss.“29 Die Maschinerie der Massenkultur macht das kollektive Begehren sichtbar – Madonna hingegen inszeniert sich innerhalb dieser Struktur als „wandelbarste Projektionsfläche in Form eines menschlichen Stars, die unser Jahrhundert geschaffen hat.“30 Das Produkt ist ein veritabler postmoderner Bildersturm, der die zweite Ebene des Clips bestimmt. Die surrealistische Bilderwelt unterscheidet sich auf den ersten Blick vor allem durch die veränderten Lichtverhältnisse von der Rahmenhandlung: Während die Aufnahmen im Schlaflabor nahezu überbelichtet erscheinen, zeichnen sich die traumanalogen Bilder der Collage eher durch unheimliche Düsternis aus. Die gezeigten Bildbeispiele kreisen allesamt um den Wahrnehmungsmodus des Sehens, um Darstellungen des Erkennens, des Verkennens, der optischen Täuschungen sowie um das ambivalente Medium des Spiegels, das die Surrealisten seit jeher faszinierte. 28 Zitiert nach Bronfen (wie Anm. 2), S. 46. 29 Ebd., S. 49. 30 Penth/Wörner (wie Anm. 1), S. 28.

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Abb. 7-8: Screenshots aus BEDTIME STORY Die mythologische Figur der Medusa, jenes Ur-Monstrum, dessen Anblick seine Betrachter bekanntermaßen versteinerte, wird in einer der ersten Einstellungen der Traumsequenz angedeutet. Die offenkundige Trivialisierung der alten Mythen, die hier vollzogen wird und die, so Volker Roloff „typisch für die gegenwärtige Mediengesellschaft ist“31, wurde bereits durch die medialen Experimente der Surrealisten vorbereitetet, die ihrerseits durch Mittel der Farcierung, Subvertierung und Profanierung alter Mythen eine neue Mythologie inaugurierten. In jener surrealistischen Mythologie werden häufig Grenzsituationen simuliert, „die die Ohnmacht der Sprache vor Auge führen, und demgegenüber die Visualität, Sinnlichkeit, Dynamik und Spontaneität der figura inszenieren.“32 Die Darstellung Madonnas als unheilbringendes, bildgewordenes Schlangenhaupt überzeichnet auf kunstvolle Art ihr Image als buchstäbliche ‚Frau des Schicksals‘, als femme fatale, die das Blicksystem ihrer (vorwiegend männlichen) Betrachter durch ihr irritierendes Schauspiel, ihre herausfordernde Weiblichkeit erheblich durcheinander bringt.33 Somit setzt das „traveling in the arms of unconsciousness“ jenes phantasmagorische Inszenieren weiblicher Allmacht fort, das bereits den Grundtenor von EXPRESS YOURSELF prägte. Madonna inszeniert sich in BEDTIME STORY nicht nur als vermeintliche Erzeugerin all jener bizarren Traumvisionen, sie nimmt freilich auch die zentrale Rolle darin ein, d.h. Madonna weckt die Illusion zugleich Sinnträger wie Sinnproduzent in ihrem Clip zu sein, was die von Elisabeth Lenk aufgestellte Traumformel 31 Roloff, Volker: „Mythos und Farce. Vorüberlegungen zur neuen Mythologie der Surrealisten“, in: Erstić, Marijana/Schuhen, Gregor/Schwan, Tanja (Hrsg.): Siegener SPEKTRUM reloaded. Siegener Romanistik im Wandel, (voraussichtlich) Bonn 2006, S. 95-104, hier S. 99. 32 Ebd., S. 96. 33 Vgl. Apter, Emily: „Demaskierung der Maskerade: Fetischismus und Weiblichkeit von den Brüdern Goncourt bis Joan Riviere“, in: Weissberg (wie Anm. 20), S. 177-216.

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illustriert, welche besagt, dass „im Traum der Träumende Rezipierender, Autor und fiktiver Held zugleich ist.“34 Auf diese Weise transgrediert Madonna einmal mehr die patriarchalen Strukturen der symbolischen Ordnung und spielt mit der von Laura Mulvey postulierten Rollenzuweisung der Frau als Repräsentation für männliche Kastration im Film.35 Indem sie sich selbst als blicktötende Medusa inszeniert, die nicht nur die aktive Sexualität des Mannes in Gefahr bringt, sondern darüber hinaus sein gleichermaßen aktives skopophiles Begehren entlarvt und bestraft, vereinigt sie ihr offenkundiges „Angesehen-werden-wollen“ spielerisch mit dem mythologischen Verbot des Blickens.

Abb. 9: Screenshot aus BEDTIME STORY Ein derartig verstörendes Spiel mit den voyeuristischen Phantasien des Zuschauers kennzeichnet ein weiteres Bild des Clips (Abbildung 9), das den Spiegel als hybrides Medium der Selbst(v)erkennung in Szene setzt. In dieser Einstellung wird ein beliebtes Spiel der Surrealisten wiederaufgegriffen, die ihrerseits die ambivalente Medialität des Spiegels und deren Vexierspiele auf verschiedenste Weise in ihren Werken zum Gegenstand machten. „Die Faszination der Surrealisten [...] für alle Formen des Spiegelnden, Zersplitterten, Durchsichtigen“36 kennzeichnet insbesondere die Bilder von René Magritte, in denen häufig „falsche“ Spiegel die Wahrnehmung der Betrachter irritieren und die Gewohnheiten des räumlichen Sehens an der Nase herumführen. Somit entsteht eine „viel34 Lenk, Elisabeth: „Der Traum als Konstruktionsprinzip bei Lautréamont und Carroll“, in: dies.: Kritische Phantasie. Gesammelte Essays, München 1986, S. 121-147, hier: S. 142. 35 Mulvey (wie Anm. 5), S. 48, 63. 36 Bauer, Markus: „Ähnlichkeit als Provokation. Zur Funktion der Bildwelten im Surrealismus“, in: Funk, Gerald/Mattenklott, Gerd/Pauen, Michael (Hrsg.): Ästhetik des Ähnlichen. Zur Poetik und Kunstphilosophie der Moderne, Frankfurt a.M. 2001, S. 111-136, hier S. 124.

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fach gebrochene Beziehung zwischen den Reflektoren“ und eine „antimimetische Ähnlichkeit, die die Frage nach Realität und Phantasie“ obsolet erscheinen lässt.37 Jener Effekt findet sich auch in diesem Bild wieder, dass uns nicht nur zwei falsche (Hand-)Spiegel vor Augen führt, sondern zudem eine vertikale Spiegelachse, die das Bild in zwei Hälften teilt. Die beiden sichtbaren Spiegel, die das Antlitz Madonnas tragen, dekonstruieren zunächst die dreidimensionale Raumillusion des Betrachters, indem der Kopf Madonnas zur zweidimensionalen Fläche wird – zum Bild bzw. Ab-Bild. Auf diese Weise visualisiert diese Einstellung die Tatsache, dass jeglicher Blick auf einen öffentlichen Star stets auch ein vorgeprägtes Bild bzw. Image, eine buchstäbliche Reflektion über diesen in sich trägt. Die Spiegelmetapher als ikonische Projektionsfläche schreibt in diesem Prozess der Rezeption immer auch schon die eigenen Wünsche und Begierden mit ein, die unseren Umgang mit Stars ohnehin bestimmt. So wird das surrealistische Spiel mit dem Spiegel umcodiert in ein „postmodernes Spiegelkabinett“38, in dem sich Bilder, Wünsche und Träume bis ins Unendliche immer wieder spiegeln und durchbrechen, was laut Joshua Camson das emblematische Kennzeichen jeglichen Startextes darstellt: „Wenn man den celebritiy-Text liest, hat man den Eindruck, man habe es mit zwei einander zugeneigten Spiegeln zu tun: Es gibt keinen Endpunkt, keinen Boden.“39 Die Bodenlosigkeit des Spiegels, man könnte auch sagen: die Doppelbödigkeit der postmodernen Bilderflut kennzeichnet ein Bildzitat, das auf den ersten Blick das Werk einer surrealistischen Künstlerin verarbeitet, namentlich Leonor Finis The ends of the world (1949). Hinter jenem Pastiche verbirgt sich wiederum ein alter Mythos, der die Wasserfläche als Spiegel und den fragmentierten Blick des Betrachters in ein durchkomponiertes Tableau integriert:

37 Ebd. 38 Vgl. Bronfen (wie Anm. 2), S. 195. 39 Vgl. Camson, Joshua: Claims to Fame. Celebrity in Contemporary America, Berkeley 1994.

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Abb. 10: Screenshot aus BEDTIME STORY

Abb. 11: Leonor Fini, The ends of the earth (1949) © VG Bild-Kunst Bonn 2006 Der Narziss-Mythos, der vor allem auch Salvador Dalí faszinierte, führt erneut eine rezeptive Grenzsituation vor, die insbesondere das Trügerische der visuellen Wahrnehmung illustriert. Narziß, der außerstande ist, sein eigenes Abbild als solches wahrzunehmen, verliebt sich in die Oberflächlichkeit seiner selbst. Der Narzissmus als psychoanalytische Kategorie kennzeichnet als nahezu übergeordnetes Meta-Konstrukt die gesamte celebrity-Kultur unserer Zeit: sehen, gesehen-werden aber auch sich-selbst-ansehen sind die wesentlichen Parameter dieser künstlichen bild- und oberflächenzentrierten Glamour-Welt. Im Zentrum dieser pseudo-mythologischen Bilderwelt inszeniert sich Madonna auf der Basis von Finis frühem Werk als Narziß, der sich jedoch nicht selbst be-

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trachtet, sondern erneut dem Betrachter in Form einer menschgewordenen Projektionsfläche entgegentritt. So wie ihr Körper sich mit dem Wasser verbindet, so verschmilzt auch ihr Bild mit der Reflektion der spiegelnden Oberfläche: Bild und Körper werden scheinbar eins. Die offenkundige Unentscheidbarkeit zwischen Realperson und Image Madonnas wird an dieser Stelle einmal mehr durch die ‚Metamorphose des Narziß‘ metaphorisch umgesetzt und gleichzeitig als autoreferentielles Zeichen im Spiel mit den surrealistischen Simulacra, das den gesamten Clip prägt, sichtbar gemacht. Vor diesem Hintergrund muss die eben aufgestellte These, dass Madonna die surrealistische Bilderflut im Clip zu BEDTIME STORY rein affirmativ zitiert mit der Einschränkung versehen werden, dass sie sich durchaus nicht wahllos irgendwelcher Werke bedient, sondern vielmehr bestimmte mythologische figura auswählt, deren tradierte Deutungsschemata vornehmlich zwei übergeordneten Zwecken dienen: zum einen der Illustration ihres machtvollen Status als weiblicher Superstar und zum anderen der autoreflexiven Weiterführung ihrer selbstinszenatorischen Metamorphosen.

Post gender vs. meta gender: Madonna live Wie bereits angedeutet dienen Madonna nicht nur Videoclips als bevorzugte Orte ihrer Selbstinszenierungen. Als Sängerin, Tänzerin und Selbstinszenatorin nutzt sie freilich auch ihre spektakulären KonzertTourneen, d.h. Live-Auftritte vor großem Publikum, um ihr chamäleonhaftes Image öffentlich zur Schau zu stellen. Ihre insgesamt sechs großen Tourneen sind über eine Zeitspanne von zwanzig Jahren verteilt40 und weisen als Inszenierungsmodus eine relativ deutliche Entwicklung auf. Während ihre ersten Welttourneen im Wesentlichen durch die Elemente Gesang und Tanz als opulente Revuen im Stil der amerikanischen Musical-Filme aus den fünfziger Jahren erscheinen, bestimmt die beiden letzten Konzertreisen sukzessive eine zunehmend dramaturgische Choreographie, die innerhalb der Auftritte Theatralität, Slapstick, Travestie und deutliche narrative Strukturen in den Vordergrund rückt. Dabei fällt auf, dass jene Entwicklung dezidiert auf das spielerische Verwischen der tradierten Geschlechterrollen abzielt und als wesentliche Inhalte eine von

40 Virgin-Tour (1985), Who’s That Girl World-Tour (1987), Blonde Ambition Tour (1990), The Girlie Show (1993), Drowned World Tour (2001), The Re-Invention-Tour (2004).

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jeglichen Normen befreite Sexualität sowie eine verstärkte Gewaltverherrlichung propagiert.

Abb. 12-14: Screenshots aus The Girlie Show – Live Down Under Mit der Girlie Show im Jahr 1993 setzt jene Choreographie der Geschlechtermaskerade zunächst auf eher burleske Weise ein. Madonna schlüpft als postmoderne Marlene Dietrich in Männeranzüge und imitiert auf völlig überzogene Art scheinbar typisch männliche Gesten: Ihre Tänzerinnen zeichnen sich gleichermaßen durch eine bewusst androgyne Optik aus, so dass die von Butler postulierte Performativität

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der Geschlechterrollen durch Madonnas Performance ihre theatralische, ja parodistische Umsetzung erfährt. Geschlechtliche Performativität und künstlerische Performance gehen in Madonnas Darbietungen jüngeren Datums eine enge Verbindung ein. Hierbei spielt ihre Politik des posings die entscheidende Rolle, die sie spätestens seit dem Song VOGUE (1990) zu ihrem Credo machte: „Strike a pose – there’s nothing to it.“ Diese Art des vermeintlichen, an Erving Goffman angelegten Alltagstheaters, das in Madonnas Verständnis die kulturell tradierten Geschlechterrollen und deren Transgression mit einbezieht, zelebriert Madonna in all ihren Maskeraden und gewinnt durch ihren Status als Superstar eine gewisse Glaubwürdigkeit. Auf gesellschaftspolitischer Ebene wird das Ganze jedoch problematisch, wie ebenfalls Judith Butler hervorhebt: Der Anblick eines Transvestiten auf der Bühne kann Vergnügen und Applaus hervorrufen, während der Anblick des gleichen Transvestiten auf dem Platz neben uns im Bus zu Furcht, Zorn, ja zu Gewalt führen kann.41

Das bedeutet, dass Madonna aufgrund ihres Status durchaus dazu in der Lage ist, sich gewissermaßen als post gender-Konstrukt zu inszenieren, das sämtliche Normierungen und geschlechtliche Rollenzuweisungen in Frage stellt bzw. unterläuft. Ihre gesellschaftliche Macht legitimiert nahezu jegliche Subversion, Transgression und Transformation gesellschaftspolitischer Diskurse – Skandale sind dabei fest in ihrem Image verankert und stets mit einkalkuliert. Ihre zahlreichen Aufforderungen zum posing funktionieren dann am besten, wenn sie selbst als Vor-Bild phallozentrische Denkmuster karikiert und somit ad absurdum führt. Auf der Ebene des gesellschaftlichen Alltags würden ihre Performances gleichwohl die von Butler beschriebenen Reaktionen Furcht, Zorn und Gewalt auslösen. Diese Überlegungen zeigen, wie überaus schwierig es ist, das Phänomen Madonna als Politikum zu untersuchen, vor allem im Hinblick auf genderspezifische bzw. feministische Fragestellungen. Der von ihr verursachte Gender Trouble ruft demnach auch in der feministischen Rezeption die verschiedensten Reaktionen hervor, die von grenzenloser Ablehnung bis hin zu uneingeschränktem Lob angesichts ihrer weiblichen Macht reichen. Die von Butler beschriebene Gewalt, die in sich zumeist männlich codiert erscheint, benutzt Madonna in ihrer jüngsten Tournee als zusätzliches Stilmittel, um sich selbst einmal mehr von den Massen als Nietzscheanischen Übermenschen feiern zu lassen. Das Motto der vor fünf 41 Butler (wie Anm. 21), S. 315f.

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Jahren stattgefundenen Drowned World Tour zelebriert und performiert den Untergang der Welt, was auf den ersten Blick die teils apokalyptischen Reden des Postmodernismus vom Ende der Kunst, des nothing new zu repräsentieren scheint. Auf den zweiten Blick jedoch erweisen sich Madonnas apokalyptische Szenarien eher als deutlich futuristisch geprägte Gewaltphantasien, die den Krieg – nicht zuletzt zwischen den Geschlechtern – als stilisierte Hygiene der Welt propagieren. Das Konzertprogramm ist deutlich in vier verschiedene thematische Teile bzw. Akte eingeteilt, in denen sich Madonna jeweils als kriegerische, freilich immer siegreiche Amazone in gemeinhin männerdominierten Genres inszeniert. Der erste Teil nimmt am deutlichsten Bezug auf das Motto der Tour. Wir sehen Madonna als weibliche Variante des Endzeitkämpfers Mad Max, wie sie gegen eine Gruppe maschinisierter Cyborgs kämpft und am Ende den Sieg davon trägt.

Abb. 15-17: Screenshots aus der Drowned World Tour 2001

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Der zweite Akt erweist sich als Zitat des sogenannten Easterns, ein zur Zeit äußerst populäres Filmgenre im Stil von TIGER AND DRAGON oder HERO, in denen asiatische Kampfarten als tänzerische Choreographien stilisiert dargestellt werden. In jener Fernost-Ästhetik, die im übrigen auch von Hollywood-Blockbustern wie MATRIX kopiert wird, inszeniert sich Madonna als Samurai-Kämpferin, die aus zahlreichen Kampfszenen als klare Siegerin hervortritt. Im dritten Teil tritt sie als rodeoreitender Cowboy auf, d.h. als abendländisches Gegenstück zum Eastern und im letzten Akt als südamerikanischer Tangotänzer. Zur Gesamtinszenierung ist zu sagen, dass Madonna durchgängig in männlich codierte Rollen schlüpft, ja geradezu genuin männliche Helden-Mythen für sich okkupiert. Im Gegensatz zu ihren früheren Maskeraden fallen ihre Zitate weitaus weniger konkret bzw. personengebunden aus und rekurrieren nicht mehr auf prominente weibliche Vorbilder. Sie benutzt vielmehr typisch männliche Handlungsmuster wie Kampfeslust, Machismo und Machtbewusstsein als Versatzstücke ihrer eigenen Selbstinszenierung, indem sie die Zeichen ihrer ursprünglichen Bedeutung entleert und durch aktivdominante Weiblichkeit substituiert. Durch die spielerischen Elemente des Tanzes wird jedoch stets die nötige ironische Distanz gewahrt, die für eine gelungene Parodie unentbehrlich ist. Die martialischen Gewaltszenarien wirken dadurch – ähnlich wie in den Eastern-Filmen – stark stilisiert. Bevor ich nun mit meinen abschließenden Reflexionen zum Gesamtkunstwerk Madonna beginnen werde, möchte ich kurz noch auf eine Szenenabfolge aus dem Eastern-Teil der Drowned World Tour näher eingehen, die mir im Hinblick auf die übergeordnete Fragestellung nach der Rolle von Avantgardekunst, postmoderner Genderkonstruktion und Starreflexion im Kontext des Madonna-Phänomens als besonders sinnfällig erscheinen. Die beiden Szenen, die in gewisser Weise aus dem Rahmen des Eastern-Pastiche herausfallen, zeigen gleichermaßen Distanz und Selbstreferentialität der Starinszenierung Madonnas: während eine parallel montierte Videoinstallation merkwürdige Aufnahmen der asiatischen Madonna zeigt, deren Gesicht von Wunden und Hämatomen übersät einen befremdlichen Kontrast zum Bild der siegreichen Amazone bildet, zieht die Madonna auf der Bühne voller Abscheu ihre asiatische Perücke ab und verwandelt sich innerhalb von Sekunden in eine blonde superwoman, die ihren letzten Gegner erschießt, bevor sie von der Bildfläche verschwindet.

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Abb. 18-21: Screenshots aus der Drowned World Tour 2001 Die dargestellte Gewalt richtet sich zunächst gegen die männlichen Tänzer innerhalb des Mini-Spielfilms und untermauert einmal mehr Madonnas weibliche Allmacht. Das futuristische Konstrukt des superuomo wird umcodiert in ein postmodernes Phantasma der superdonna – anders ausgedrückt: ‚superuomo‘ wird zur ‚superdonna‘ wird zur allmächtigen Madonna. Jenes subversive Resignifizieren phallozentrischer Diskurse aus Philosophie und Avantgarde-Kunst ermöglicht eine Parodie, die das Phänomen Madonna auf selbstironische Weise als gleichermaßen konstruiertes, massenmediales Phantasma entlarvt. Die kontrapunktischen respektive autodestruktiven Bilder des verletzten, geschändeten Starkörpers auf der einen Seite sowie das Ablegen der Perücke, d.h. der Maske auf der anderen Seite reflektieren in Form einer multimedialen Performance zweierlei Dinge: Zum einen die von Elisabeth Bronfen dargelegte Tatsache, dass die Diva nicht nur den überirdischen Starkörper zur Schau trägt, sondern gleichsam die Fragilität der realen Leibes. Diese angedeutete Reflexion über die vermeintliche Versehrtheit des Realkörpers wird jedoch augenblicklich durch das zunächst unverständliche Lächeln der verletzten Madonna sowie das abschließende Ablegen der Maske konterkariert und dergestalt wieder aufgehoben. Das Ablegen der Maske als selbstreferentielles Zeichen dekonstruiert zunächst die Diegese der Bühnenaufführung und enthüllt abschließend, dass es eben unter den zahlreichen Schichten ihrer Selbstinszenierungen keinen essentiellen Kern gibt,

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sondern immer nur kulturelle Konstruktionen42, Abbilder von Wirklichkeit, d.h. selbstinszenatorische Simulacra. Die Maske dient hier im Sinne Mikhail Bachtins43 als Element einer Spielform, welche sowohl den steten Wandel als auch die Nichtfixierbarkeit eines „realen“ Subjekts repräsentiert.

Abb. 22: Screenshot aus der Drowned World Tour 2001 Diese freilich nicht neue Erkenntnis wird am Ende der Show noch einmal in Form eines gesampleten „Best Of“ explizit zur Schau gestellt: Madonna kommt noch einmal zur letzten Zugabe auf die Bühne und singt ihren Meta-Song MUSIC, während auf den zahlreichen Videoleinwänden noch einmal all die verschiedenen Rollenbilder gezeigt werden, die sie im Laufe ihrer Karriere eingenommen hat. Die vermeintliche Realmadonna auf der Bühne hat indes ihre Masken abgelegt – kein Kostüm mehr und auch keine Perücke, sondern lediglich noch ein schlichtes schwarzes T-Shirt. Der Aufdruck auf dem T-Shirt ist jedoch entscheidend: MOTHER. Diese plakative Art der körperlichen Einschreibung symbolisiert das vorläufige Ende ihrer performativen Meta-Maskerade: Die Zeichen ihrer vorangegangenen Rollenbilder werden vom übergeordneten Meta-Zeichen der buchstäblichen Alma Mater absorbiert und attribuieren somit, so scheint es zumindest, dem Signifikanten Madonna wieder eine seiner ursprünglichen Konnotationen. Aber eben doch nur scheinbar: Wenn Madonna in einem kurzen, flüchtigen Moment ihrem Publikum den Rücken zuwendet, wird deutlich, dass MOTHER nur der erste Teil eines bekannten alltagssprachlichen Kompositums ist, denn der Schriftzug auf der Rückseite des T42 Vgl. Kaplan, E. Ann: „Madonna Politics: Perversion, Repression, or Subversion? Or Masks and/as Mastery“, in: Schwichtenberg 1993, S. 149-166. 43 Vgl. dazu Bachtin, Mikhail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a.M. 1995.

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Shirts lautet FUCKER. Dem zunächst durch das Medium der Schrift evozierten Bild der Mutter folgt sogleich seine Dekonstruktion in der Schrift. Das primär weibliche Bild der Mutter wird aufgehoben durch den klar männlich konturierten Fucker. Man muss sich hierbei jedoch fragen, ob es Madonna eher um den Motherfucker oder – dieser Verdacht drängt sich angesichts ihrer Performaces auf – um die Fuckermother geht, die phallische Mutter. Gleichgültig wie die Antwort lauten mag – Tatsache ist, dass damit das scheinbar end- und uferlose hybride MaskenSpiel Madonnas mit der binären Geschlechterordnung wieder von vorne losgehen könnte.

Madonna und Judith Butler: Zwei Popstars? Wie ich zu zeigen versuchte, scheint es eine offensichtliche Wahlverwandtschaft zwischen dem abstrakten Theoriegebäude Judith Butlers und den verschiedenen Rollenbildern Madonnas zu geben, die darin offenbar ihr festes Wohnrecht behaupten. Mit anderen Worten: Madonna setzt mit ihren performativen Selbstinszenierungen genau das spielerisch um, was Butler in ihren überaus abstrakten Theoretisierungen postuliert. Gleichzeitig hält Judith Butler inzwischen, so könnte man durchaus konstatieren, innerhalb des Feldes der Kulturwissenschaft aufgrund ihrer enormen Rezeption den Status eines Popstars inne. Ihre öffentlichen Vorträge, so z.B. die Adorno-Vorlesungen in Frankfurt, stellen unbestritten veritable academic happenings dar. Das Provozierende, ja man könnte fast sagen: das Rebellische im Gestus der Darstellung spielt sowohl bei Butler als auch bei Madonna eine entscheidende Rolle, angefangen beim Aufbrechen der binären Geschlechterordnung und der gesellschaftlich verankerten Zwangsheterosexualität über die Neuverortung des fiktionalen Kollektivsubjekts „Frau“ innerhalb der symbolischen Ordnung bis hin zur Infragestellung jeglicher scheinbaren Natürlichkeit innerhalb der menschlichen Geschlechter-Konfigurationen. Ich möchte abschließend vor allem auf Butlers Parodie- und Travestiekonzepte eingehen, da jene beiden Elemente in Madonnas Selbstinszenierungsspektakel unbestritten den größten Raum einnehmen, wie ich anhand der drei Beispiele zu zeigen versuchte. Butler untersucht in ihrer Analyse insbesondere die vielschichtigen Beziehungen zwischen „Imitation“ und „Original“, wobei sie zunächst konstatiert, das „die Performanz der Travestie mit der Unterscheidung zwischen der Anatomie

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des Darstellers und der dargestellten Geschlechtsidentität spielt.“44 Genau durch diese spannungsreiche Unterscheidung stellen sich Zweifel und Unbehagen angesichts der gesellschaftlich postulierten Einheit von anatomischen Geschlecht, Geschlechtsidentität und Performanz der Geschlechtsidentität ein. Die Travestie leistet nach Butler einen entscheidenden Beitrag zur Sichtbarmachung der Arbitrarität und Fragilität jener vermeintlichen Einheit. „Indem [nämlich] die Travestie die Geschlechtsidentität imitiert, offenbart sie implizit die Imitationsstruktur der Geschlechtsidentität als solcher – wie auch ihre Kontingenz.“45 Diese Insignien visualisiert Madonna unter anderem durch ihre eher männlich codierten Selbstdarstellungen im weiter oben dargestellten Ausschnitt aus ihrer Konzert-Tournee, aber auch durch das Infragestellen einer per se passiven weiblichen Sexualität. Der parodistische Charakter jener Inszenierungen setzt laut Butler nicht zwangsläufig voraus, „dass es ein Original gibt, das diese parodistischen Identitäten imitieren. Vielmehr geht es gerade um die Parodie des Begriffes des Originals als solchem.“46 An dieser Stelle kommt erneut der Begriff des Simulacrums ins Spiel mit den Geschlechtsidentitäten, den Madonna ohnehin verkörpert wie kaum jemand sonst. Sämtliche ihrer Parodien lesen sich als postmoderne Imitationen ohne faktisches Original. In der Imitation selbst liegt die Realität ihrer Performanz. Der vielfach gefallene Begriff der „Meta-Maskerade“ umschließt demnach gleichsam die Geschlechter-Parodie, die Madonnas zahlreiche Selbstentwürfe mitprägen, was sie wohl letztlich nicht nur als postmodernes Phänomen erscheinen lässt, sondern ebenso als post gender-Konstrukt, ohne dass der Begriff bereits seine feste theoretische Konturierung erlangt hätte. Die Hintergrundtexte, derer sich Madonna bedient, spielen gemeinhin eine eher untergeordnete Rolle. Sie fungieren als einzelne Folien eines inszenatorischen Palimpsests, denen Madonna ihren individuellen Stempel aufdrückt. Die Avantgarden nehmen jedoch, so scheint es zumindest, eine Sonderstellung ein, denn ist es nicht so, dass Madonna zwar Muster der klassischen Avantgarden zitiert, parodiert und transformiert, aber in unserer Zeit gerade auch jene Avantgarde ist? Als emblematische Ikone einer Post-Avantgarde sozusagen? In einer postmodernen Massengesellschaft, in der offenbar das Auge an die Stelle des Mundes getreten ist, das Sehen an die Stelle des Sprechens, die Oberfläche an die 44 Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991, S. 202. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 203.

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Stelle der Tiefenschärfe, muss ein Phänomen wie Madonna in aller Deutlichkeit als Vorhut angesehen werden, als Avantgarde eben, was dieses letzte Bild – wie ich finde – noch einmal eindringlich veranschaulicht:

Abb. 23: Screenshot aus BEDTIME STORY

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DER DRITTE WEG – GENDER ALS PERFORMATIVER AKT UND PERFORMATIVITÄT ALS MEDIALITÄT Die Suche nach einem dritten Weg zwischen verabsolutiertem Konstruktivismus und strategisch eingesetztem Essentialismus scheint angezeigt, da die Materialität des Körpers in die Leerstellen des Diskurses einbricht, um an den Kreuzpunkten von Körper und Text das gender einzuholen.1

Sybille Krämer hat sich auf die Suche nach solch einem „dritten Weg“ gemacht, hat „Performativität als Medialität“ gesucht und gefunden.2 In ihren Worten nimmt sich der ‚dritte Weg‘ als Alternative zur „ZweiWelten-Ontologie“ aus. Ebenfalls zwischen Essentialismus und Konstruktivismus ist Judith Butler einzuordnen, die das Geschlecht – viel früher schon – als performativen Akt gedacht bzw. konzipiert hat.3 Doch in welchem Zusammenhang stehen gender als Performanz und „Performativität als Medialität“? Welche grundlegenden Bezüge zwischen gender und Medium können überhaupt ausgemacht werden?

1 So Walburga Hülk, Gregor Schuhen und Tanja Schwan im „Vorwort“ des vorliegenden Bandes. 2 Krämer, Sybille: „Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Thesen über Performativität als Medialität“, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Jg. 7, Nr. 1, 1998, S. 33-58. Leicht veränderter Wiederabdruck in Wirth, Uwe (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, S. 323-347. 3 Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter [1990], Frankfurt a.M. 1991 u. dies.: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts [1993], Berlin 1995.

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Zum Nexus von gender und Medium Im Spektrum möglicher Bezüge kann zum Beispiel der Zusammenhang zwischen sexueller Orientierung und der Rezeption audiovisuell erzählter Geschichten gedacht, kann die filmische Fiktion zur Erklärung der sozialen Geschlechterkonstruktion herangezogen werden, oder es kann die Evidenz des biologischen Geschlechts der SchauspielerIn in der identifikatorischen Wirkung auf die ZuschauerIn herausgehoben werden – um nur einige typische Ansätze feministischer Filmtheorie zu nennen. Doch dies sind längst etablierte und weitreichend diskutierte Untersuchungsgegenstände, bei denen jeweils Narration oder Struktur des Films in Beziehung gesetzt werden zu sex und/oder gender konkreter Subjekte. Der Inhalt einer bereits interpretierten Geschlechtlichkeit wird auf einer Ebene verhandelt, die das Verhältnis von Deutungsangebot und Deutung auf die Grundlage dessen stellt, was sich mit der (eigenen) Geschlechtlichkeit verbinden lässt. Doch auch andere Bezüge sind denkbar. Drei werde ich aufzeigen und eingehend erörtern: den von Sinnlichkeit und Körperlichkeit; den auf die Psychoanalyse rekurrierenden Bezug der Körpereinschreibung in das Medium; den sprachphilosophischen Performativitätsbezug – ihm gilt meine besondere Aufmerksamkeit. Leitende Frage ist dabei: Wie kann das performative Geschlecht mit einer medialen Performativität zusammengedacht werden? Verbinden sich über die Performanz gender und Medium? Und wenn ja, wie sieht diese Verbindung aus?

Das Verschwinden des Körpers Allerorten wurde – sei es durch die Postmoderne und ihre Heterogenisierung von Subjektpositionen, sei es durch neue Medien-Technologien – das Verschwinden der Körper behauptet.4 Als Herausgeber eines Sammelbandes über Körperdiskurse der Moderne und Postmoderne formulieren Elisabeth List und Erwin Fiala die interesseleitende Fraugestellung nach der Körpervergessenheit der Medien folgendermaßen: Der Körper, eines der wichtigsten Themen im aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskurs, ist im Verschwinden begriffen. Kann die

4 Vgl. „Vorwort“ von Hülk/Schuhen/Schwan.

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theoretische Diskussion um artifizielle Substitutionsmöglichkeiten 5 des Leiblichen diesen Verlust symbolisch kompensieren?

Die Frage ist fast schon als resignative Antwort formuliert. Doch was ist an die Stelle der Körper getreten? Ist mit dem Körper auch das Geschlecht verschwunden? Wohin ist der Körper verschwunden, und wohin hat sich das Geschlecht verflüchtigt?

Medien statt Körper Da ist zunächst die stehende Redewendung, wonach Medien die Körper substituiert hätten oder sie zu substituieren drohten. Mit dem Cyberspace-Thema gerieten feministische Utopien von der Überwindung der Zweigeschlechtlichkeit oder der Körpergebundenheit, die Frauen traditionell in die Hierarchie der Geschlechterasymmetrie gezwungen hatte, in die Diskurs-Charts. Ein Teil der Feministinnen hatte durchaus ein Interesse an der „Abschaffung des alten Körpers samt seiner Physiologie“. Doch weder das Interesse klassischer Avantgarden noch der neuesten Medientechnologie an der Überwindung der biophysischen Konstitution lässt sich so erklären. Denn deren Movens ist nicht utopisch, sondern dystopisch: das „Streben nach Kontrolle und Beherrschung [...], dessen Instrument und Leitlinie die Kybernetik und die Biotechnologien der Nachkriegszeit geworden sind.“6

Medien und Körper Ein Bezug zwischen Körper und Medien stellt sich her, wenn Sinnlichkeit und Körperlichkeit als Konzepte fungieren, die vom menschlichen Wesen rückübertragen werden auf die Medien: Unsichtbare ‚logoi‘ wie Begriffe, abstrakte Gegenstände oder kognitive Entitäten – im Falle des Rechnens also: Zahlen – werden durch Verräumlichung in Gestalt operativer Schriftstrukturen sichtbar gemacht. ‚Essenzen‘, die nicht in Raum und Zeit lokalisierbar sind, werden in ‚Existenzen‘ transformiert und in Gestalt von schriftlichen Zeichen – denken wir nur an das Zahlzeichen für

5 List, Elisabeth/Fiala, Erwin (Hrsg.): Leib Maschine Bild. Körperdiskurse der Moderne und Postmoderne, Wien 1997, S. 158. 6 List, Elisabeth: „Vom Enigma des Leibes zum Simulakrum der Maschine. Das Verschwinden des Lebendigen aus der telematischen Kultur“, in: ebd., S. 130.

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HEDWIG WAGNER die Null – so in den Nahraum des Leibes plaziert, dass sie dort 7 auch manipulierbar werden.

Krämers Ziel ist es, die „Versinnlichung des Sinns“ herauszustellen. Hierbei handelt es sich nicht um die Körper- bzw. Körperlichkeitsvergessenheit der Medien, auch nicht direkt um den Menschenkörper, sondern hier wird Körperlichkeit als Metapher genommen, die auf nicht lebendige Wesen bzw. Dinge übertragen wird.

Das Verschwinden des Medialen im Subjekt Theoretikerinnen wie Marie-Luise Angerer haben sich auf den Nexus von Psychoanalyse und gender/Medium bezogen und Denkfiguren hervorgebracht wie die Leere des Bildes als Ort für den Körper. Sie haben ‚Geschlecht‘ nicht nur als in den Medien Repräsentiertes thematisiert, sondern eine Materialisierung von ‚Geschlecht‘ in den Medien ausgemacht. Das Verschwinden des Subjekts im Medialen ist nachvollziehbar mit Hilfe von Konzeptionen der psychotechnischen Matrix.8 Mediale Anordnungen sind Begehrensräume – Räume, die Begehren schaffen und Befriedigung verweigern. Dieses Begehren tritt im Bild bzw. als Bild auf, ist jedoch strukturell leer. Eben dieses strukturell leere Bild wird dem Körperbild zum Ort. Medien tragen bei zur psychischen Konstitutionsleistung, die sich außerhalb des Sichtbaren vollzieht. So lautet die zentrale These Angerers: Ist es in der Filmtheorie und für die Cultural Studies die Gleichschaltung von Spiegel (Lacans Spiegelstadium) und Leinwand (Bilder), ist es bei den Neuen Medien-Technologien die Gleichsetzung von Unbewußtem und elektronisch Produziertem. In diese Schließungen schreibt sich jene von sexueller Differenz und gender ein. Dabei geht jener konstitutive Spalt/jene Lücke/jene Spur, wo sich das Subjekt ‚zeigt‘, verloren.9

Weiterhin führt sie aus: 7 Krämer, Sybille: „‚Performativität‘ und ‚Verkörperung‘. Über zwei Leitideen für eine Reflexion der Medien“, in: Pias, Claus (Hrsg.): Neue Vorträge zur Medienkultur, Weimar 2000, S. 191. 8 Angerer, Marie-Luise: body options: körper.spuren.medien.bilder, Wien 1999 u. dies.: „Die Haut ist schneller als das Bild: Der Körper – das Reale – der Affekt“, in: dies./ Krips, Henry P. (Hrsg.): Der andere Schauplatz: Psychoanalyse – Kultur – Medien, Wien 2001, S. 181-202. 9 Angerer, Marie-Luise: body options: körper.spuren.medien.bilder, Wien 1999, S. 14.

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Mit der Verlagerung jenes notwendig Außerdiskursiven, das immer schon selbst eine ideologische Konstruktion ist, in ein nachträglich ‚innerhalb des Subjekts‘, wird die Funktion des Medialen nicht als Gegenüber, sondern integraler Bestandteil in der Schließung der unsinnigen Leere (des Bildes) des Subjekts bestimmbar. Geschlecht – jene nicht-hintergehbare Markierung der Körper – benennt und verdeckt gleichzeitig das ‚Unbehagen im Subjekt‘ […]. Es wird damit zur Möglichkeit und gleichzeitigen Limitation jener als Optionen benannten Potentialitäten eines Körpers, der im Bild, vor dem Bild und hinter dem Bild sich ver-ortet.10

Angerer legt in Bezug auf das Unbewusste dar, dass es zwei grundlegend verschiedene Auffassungen gibt: zum einen die, die das Unbewusste als grundsätzlich uneinholbar beschreiben und zum anderen die, die das Unbewusste mittels seiner Äußerungen ins Bewusstsein holen will. Ist das Bild jene Leere, in die sich der Körper einschreibt, in die hinein er verschwindet? Wird nur in der Annahme des elektronisch Produzierten als dem Unbewussten die sexuelle Differenz begreifbar? Ist Geschlecht als ein Unbehagen des Subjekts zu begreifen, das bei der Integration des Medialen in das Subjekt als Irritation auftritt? Die Leere des Bildes als Ort des Körpers ist eine psychoanalytische Wiedereinschreibung des Körpers in das Medium. Die psychotechnische Matrix stellt sich her „[ü]ber das Sehen, über den Blick, durch Wahrnehmung und unbewusste […] Erinnerung, über die Identifikation und in und durch Phantasie(n)“.11

Der Körper und das Spiegelbild Jacques Lacan hat in seinem für die Filmtheorie so prominent gewordenen Text über das „Spiegelstadium“12 den Gedanken eines ganzheitlichen Körperbildes als halluzinatorischen Effekt entwickelt. Die Vorstellung des ganzheitlichen Körperbildes sei psychisch konstituierend und konstituiere dabei jenen Spalt, der immer geschlossen werden sollte, sich aber niemals schließen lasse. Das Bild des Körpers im Spiegel wurde in der Folge in Analogie zur Leinwand bzw. zum Filmbild gesetzt. Angerer nun präsentiert das Spiegelbild in einer kontroversen Lesart Lacans und Butlers. Butler, so ihre These, weise mit dem Effekt des gespiegelten 10 Ebd. 11 Ebd. 12 Vgl. Lacan, Jacques: „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint“, in: ders.: Schriften, hrsg. v. Norbert Haas, Bd. I, Olten/Freiburg i.Br. 1973, S. 61-70.

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Körper-Bildes eine unbewusste Sexualität im Imaginären aus, die wiederkehre: der Körper sei ein delirierender Effekt. Ein Delirium, das allerdings gleichzeitig eben über den Spiegel hinausweist – und damit den Ort des Subjekts kennzeichnet, jenseits oder hinter dem Ego, was bei Lacan den Ort des Realen markiert. Um dieses Delirium zu überdecken, zu maskieren, bedarf es nun allerdings einer Fassade. ‚Geschlechtliche Identitäten‘ können nun als derartige substantielle Fiktion interpretiert werden, die formgebend ist – in literalem Sinn.13

Medien und Bilder nehmen nun die Funktion einer Nachträglichkeit ein, indem sie psychisch das Subjekt konstituieren. Sexuelle Differenz, je nach Theoriereferenz14 unterschiedlich gefasst, ist in der Angerer’schen Vision die unbewusste Erinnerungsspur des Freud’schen ‚Wunderblocks‘ und markiert „jenes nicht-symbolisierbare Terrain, das sich im Symbolischen als Störung artikuliert und die fiktive Einheit [geschlechtlicher Identität; Anm. H.W.], die sich im Imaginären herzustellen trachtet, zu kippen droht.“15

„Performativität als Medialität“ bei Sybille Krämer Krämers These von der „Performativität als Medialität“ stützt sich zum einen auf sprachphilosophische, die Performativität betreffende Interventionen, zum anderen auf medientheoretische Fundierungen. Den performative turn in den Kulturwissenschaften mit der medientheoretischen Grundierung von Philosophie verbindend, zielt Krämer weder auf performative Körperstrategien (body politics) ab noch auf die Behauptung des performativen Geschlechts (doing gender). Sie hebt die mediale Bedingtheit des sprachphilosophischen Performativitätsbegriffs heraus, und im Konzept „Performativität als Medialität“ denkt sie den Körper mit. Wie geht nun Krämers „Performativität als Medialität“ mit dem performativen Geschlecht Butlers zusammen? Bevor eine theoretische Verbindung aufgefunden werden kann, bleiben die Gemeinsamkeiten beider Konzepte festzuhalten: 1.

Butler wie Krämer beziehen sich auf Austins How to Do Things With Words, und beide gehen ein auf die poststrukturalistische Her-

13 Angerer (wie Anm. 8), S. 189. 14 Bei Lacan ist die sexuelle Differenz Hindernis für die Symbolisierung der beiden Geschlechter, bei Derrida Voraussetzung für jede Präsenz der Geschlechter. Vgl. dazu Angerer (wie Anm. 8). 15 Ebd., S. 189.

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ausforderung dieser sprachphilosophischen Grundlage, vermittelt durch Jacques Derrida. 2.

Beiden gemeinsam ist der Versuch, einen „dritten Weg“ zwischen Essentialismus und Konstruktivismus einzuschlagen.

3.

Beide Theoretikerinnen teilen die Tendenz zur „Implementierung von Aspekten der Medialität in die (Post-)Gender-Forschung“16 bzw. in das kulturalistische Performativitätskonzept der Kulturwissenschaften.

Die zentrale Frage, die sich aus alledem ergibt, lautet: Kann man aus Krämers „Performativität als Medialität“ Konsequenzen in Bezug auf gender als Medium ziehen? Wenn gender performativ ist und „Performativität als Medialität“ gedacht werden muss, ist dann gender medial? Austin und Derrida, auf die Butler sich bezieht, um gender als performativ zu formulieren, gehen, darauf weist Krämer hin, von einer körperlichen und medialen Basis der Performativität aus. Ich möchte im Folgenden aufzeigen, in welchem Maße der Butler’schen Losung von gender als einem grundlegend performativen Akt sprachphilosophische Voraussetzungen zugrunde liegen. Es sind bestimmte philosophische Grundannahmen von Austin und Derrida – bei Letzterem insbesondere das Denken des Körpers in der Schrift als Abwesenheit –, die Krämer zu ihrer Konzeption von „Performativität als Medialität“ führen.

Die „verkörperte Sprache“ Der ‚dritte Weg‘, den Krämer einschlagen will, stellt sich in ihrem Sprachgebrauch als Alternative dar, die zur „Zwei-Welten-Ontologie“ zu denken ist. Sie geht dabei von der Hypothese aus, daß für die sprachphilosophische Reflexion die Begriffe ‚Performanz‘ und ‚Performativität‘ eine methodische Neuakzentuierung jenseits des protestanischen Geistes eröffnen, durch welche Sprache als ‚verkörperte Sprache‘ Gestalt gewinnen kann, ohne dabei ein magisches Identifikationsmodell wiederbeleben zu müssen.17

Das ‚magische Identifikationsmodell‘, die Einheit von Zeichen und Bezeichnetem, könnte man als Essentialismus fassen. Der ‚protestantische Geist‘ sieht hinter der „Oberfläche“ – den Buchstaben, den Sätzen, den Äußerungen – die „Tiefenstruktur“, ein universelles Muster, das Sinn, Regelwerk und Wissenssystem beherbergt. Die „Zwei-Welten-Ontolo16 „Vorwort“ von Hülk/Schuhen/Schwan. 17 Krämer (wie Anm. 2), S. 34.

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gie“ bezeichnet ein in der Semiotik der Repräsentation verwurzeltes Weltverhältnis, bei dem die Erscheinung von dem abgeleitet wird, was außerhalb der Reichweite der Sinne liegt, diesen nicht zugänglich ist. Damit die Performanz nicht der „Zwei-Welten-Ontologie“ unterliegt, muss der Begriff umgedeutet werden, muss eine Neukonnotierung aus einer verschiebenden Lektüre der sprachphilosophischen Klassiker gewonnen werden. In diesem Sinne steht ‚Performanz‘ schon für jene vermittelnde Position der Sprache zwischen Ritus und Repräsentation.

Die Performanz im „Zwei-Welten-Modell“ Im „Zwei-Welten-Modell“, so Krämer, wird der Performanz eine defizitäre, nur mangelhafte Realisierung des universalen Sprach- und Kommunikationsmusters zugeschrieben. Krämer wendet sich dagegen, die Sprache als Struktur, als regelgeleitete Kommunikation aufzufassen, sieht darin vielmehr schon Kontingenz, Undurchsichtigkeit, Unbeherrschbarkeit, Materialität, Zeitlichkeit und Endlichkeit der Kommunikation am Werke. Die Umwertung der Performanz zur produktiven Kraft ist Krämers Ziel, heterogene Sprachpraktiken positiv zu erklären ihre leitende Idee. Sie macht insgesamt drei Interventionen zur Rettung der Performativität aus: Zum einen sind da die poststrukturalistischen Ansätze. Hier wird das Sprachgeschehen den Intentionen und Vorsätzen bewusstseinsgesteuerter Subjektivität entzogen (diesen Punkt bringt Derrida in Anschlag). Zweitens gibt es die medienkritische Wende, die eine je andere Verfasstheit der Sprache bei Vorhandensein einer je anderen materialen und kulturgeschichtlichen Situation annimmt. Drittens gibt es die kunst- und kulturwissenschaftliche Performativitätsauffassung, die in jeder ‚Aufführung‘ eine Wiederaufführung erkennt. Die Wiederholung, also Iterabilität, die zugleich immer ein Anderswerden des Wiederholten einschließt, ist überall da am Werk, wo wir von etwas sagen können, dass es eine performative Dimension aufweist: Der Vollzug der Wiederholung erst bringt das Allgemeine im Sprachgeschehen hervor.18

Denkt man die drei Ansätze zusammen, kommt man zur ‚verkörperten Sprache‘, in der Performanz eher denkbar und auffindbar ist als in traditionellen Konzeptionen eines Sprachsystems. In Krämers Konzept der „Performativität als Medialität“ werden insbesondere die mündliche 18 Ebd., S. 38f.

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Kommunikation und die Medien berücksichtigt, wird Medialität unverzichtbarer Bestandteil der Performativität.

Performatives Geschlecht – bei Judith Butler Gender und performance sind die zentralen Begriffe in der Theorie von Judith Butler. Dazu vorweg einige Überlegungen: Wenn gender grundsätzlich und ausschließlich als performativer Akt zu denken ist, von welchen Voraussetzungen der Handlungstheorie muss Butler dann ausgehen? Wie eng fasst sie den Nexus von sprachlicher, theorieimmanenter – d.h. begrifflich abstrakt benannter – Realität und außersprachlicher Realität? Was geschieht, wenn die Referentialität von beidem, des Begriffs und der außersprachlichen Realität, in Abrede gestellt bzw. als notwendig fehlgeleitete Referenz (wie im dekonstruktiven Feminismus) ausgewiesen wird? Zunächst wird dadurch der Signifikant, das Darstellende bzw. der performative act autonom, ja autark. Butler macht sich in besonderer Weise eine Bestimmung (von de Man) zunutze, nach der sich der Signifikant weder auf die soziale Rolle noch auf eine theatrale Fiktion bezieht.19 Entsprechend lautet die strittige Frage in der Butler-Rezeption: Wie frei wählbar oder gestaltbar ist Geschlechtsidentität? In der Diskussion darüber, ob Butler einen ‚neuen materialistischen Feminismus‘ vertrete, ob sie die wechselseitige Bedingtheit von Idealismus (pejorativ: Voluntarismus) und Materialismus (pejorativ: Evidenz-Theorie) durchschaue, sind insbesondere ihre Bestimmungen zu Performativität und Zwang von Bedeutung. Auf Zeichen und Bezeichnetes nimmt auch Krämer Bezug. Der Interventionspunkt jedweder Aufklärung sei es, an der Stelle einer magischen Ineinssetzung von Zeichen und Bezeichnetem eine klare Demarkationslinie zu ziehen. Das ist der Lebensnerv der Idee der ‚Repräsentation‘: Nicht Epiphanie, also Gegenwärtigkeit, vielmehr Stellvertreterschaft, also Vergegenwärtigung, ist das, was die Zeichen für uns zu leisten haben. Die

19 Mir scheint ihr 1988 im Theatre Journal (Jg. 40, S. 519-531) veröffentlichter Artikel „Performative Acts and Gender Constituion: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory“ gegenüber ihrer Monographie Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts [1993], Berlin 1995 programmatischer und von intentionaleren Aussagen bestimmt zu sein.

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HEDWIG WAGNER Idee der Repräsentation steht auch Pate bei den modernen und zeitgenössischen Theorien über Sprache und Texte.20

Im performativen Akt treten Vergangenheit und Vergegenwärtigung in ein komplexes Wechselspiel. Wenn Judith Butler mit ihrer Vision vom performativen Geschlecht auf Parodie und Verschiebung, d.h. gelebte Zeichenpraxis baut, die, soll sie eine Befreiung bewirken können, ein originäres Moment in der Erscheinung des Geschlechts hervorbringen muss, so folgt sie dem Konzept der Gegenwärtigkeit, der Epiphanie. Der Vergegenwärtigung hingegen spricht sie insofern zu, als sie das Geschlecht als zwanghafte Iteration vorausgehender Äußerungen oder vergangener Akte begreift. Ihre Vorstellung von Stellvertreterschaft besteht dabei nicht in der simplen Bezeichnung eines Bezeichneten, sondern in einer strategisch gesetzten Inkongruenz von Zeichen und Bezeichnetem. Wenn Judith Butler ihre Vision vom performativen Geschlecht auf Gegenwärtigkeit durch iterative Vergegenwärtigung baut, so ist darin eine Idee von Repräsentation zu erkennen, die die Behauptung einer klaren Demarkationslinie zwischen Zeichen und Bezeichnetem nicht mehr anerkennen will. Ihr Konzept beruht vielmehr auf der Anerkennung der Ununterscheidbarkeit von Präsentation und Re-Präsentation. Für Butler wird es zur durchaus offenen Frage, ob und was Geschlecht – oder vielmehr die vermeintliche Erscheinungsweise von Geschlecht – stellvertritt. Statt des biologischen Geschlechts, das das soziale Geschlecht vertreten soll, gibt es eine Stellvertreterschaft für Zwang und Macht. Wenn Judith Butler ihre Vision vom performativen Geschlecht auf das Fundament der sprachphilosophischen Überlegungen von Austin und Derrida stellt, ist ihr Fundament die Idee der Repräsentation, die sie zu einer Idee der Falsch-Repräsentation umarbeitet.

Performativität und Iterierbarkeit Die Verabschiedung des kompensatorischen Kommunikationsmodells, die Annahme des ‚Todes‘ des abwesenden Absenders und die Emanation der Schrift lenken das sprachtheoretische Interesse um. Wichtig wird nun die Bestimmung, dass Schrift bereits vorhandene Inhalte bzw. Bedeutungen in sich trägt und wiederholbar macht, auf neue KommunikationsFälle aktualisierend und resignifizierend beziehbar ist. Derrida definiert das Iterative der Schrift einerseits als das wieder und wieder Wiederholte und Gleiche, andererseits als das Neue und Verschiedene. Der sprach20 Krämer (wie Anm. 2), S. 33.

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theoretische Begriff der Iteration, der den Doppelaspekt des Früheren, Wiederholten einerseits und des Neuen, Veränderten andererseits enthält – er wird Butler zur theoretischen Grundlage von gender als Performativität. Sie adaptiert das Derrida’sche Schrift-Modell, wobei der folgenreichste erkenntnistheoretische Aspekt der Adaptation die radikale Umwertung des Devianten ist und die Doppelwertigkeit der Iteration, die eine Strukturähnlichkeit mit der Performativität und der Parodie teilt. Denn Butlers Begriff der Performativität impliziert nicht nur Iterierbarkeit; Iterierbarkeit ist die wesentliche Bestimmung ihres Begriffs von Performativität wie auch von Parodie. Sprache ist für die Kulturwissenschaftlerin Butler, die den Begriff der Performativität auch auf nicht-sprachliche Äußerungen und Handlungen bezieht, prinzipiell performativ. Die bei Austin extrem diffizile begriffliche Unterscheidung zwischen dem perlokutionären und dem illokutionären Aspekt einer performativen Äußerung spielt im dekonstruktiven Feminismus keine Rolle mehr – und zwar nicht nur deshalb, weil schon Austin nur mit beträchtlichen Schwierigkeiten die Unterscheidung durchhalten konnte zwischen dem illokutionären Aspekt (der die von einer SprecherIn intendierte Wirkung bezeichnet) und dem perlokutionären Aspekt (der die durch Konventionen festgelegten ‚Umstände der Äußerung‘ bzw. die Auswirkung der performativen Äußerung kennzeichnet). Zu dem Unterscheidungsproblem zwischen illokutionären und performativen Sprechakten, die Austin in How to do Things With Words beschäftigten, schreibt Krämer: Ein Übergang [von Performativa zur Illokution; Anm. H.W.], den schon Austin selbst vollzog, wenn er in seiner Vorlesung ‚How to Do Things with Words‘ zuerst zwei unterschiedliche Typen von Äußerungen einführt, die Performativa und die Konstativa, doch dann im Zuge der Erörterung von Beispielen für beide Sorten von Sprechakten feststellen muß, daß dieser Unterschied sich nicht aufrechterhalten läßt, und er dann den Begriff der Illokution einführt, mit der er fortan eine Dimension jedweden Sprechens bezeichnet. Es ist dies die Dimension, in der das Sprechen das, was es benennt, zugleich vollzieht.21

Eine Thematisierung der von Austin mühevoll getroffenen Unterscheidung liefe im Kontext der Dekonstruktion unweigerlich – und programmatisch – auf eine Unterwanderung hinaus. Es würde sich eins ums andere Mal zeigen, dass die von Austin postulierte freie Sprecherintention

21 Ebd., S. 40.

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des illukotionären Aspekts ebenso illusionär ist wie die Außersprachlichkeit des perlokutionären Aspekts.

Austins Sprechakte und die „Zwei-Welten-Ontologie“ Sybille Krämer hebt mit ihrer vierten These „Sprechen als Ritus oder: Über eine andere Lesart der Anfänge der Sprechakttheorie bei Austin“ auf eine dekonstruktive Lektüre von Austin ab. Dieser reflektierte auf Sprechakte, die den Status von Ritualen haben. Die „Zwei-Welten-Ontologie“ wird, so Krämer, von Austins Performativa unterminiert. Sie sind weder repräsentationale Differenz von Wort und Sache, noch sind sie Sprache als kommunikative Verständigung. Wenn Krämer in ihrer dekonstruierenden Lektüre von Austin aufdeckt, dass Performativa die Idee von Illokution unterminieren, so muss daraus folgen, dass Sprache als Regelsystem (als Basis, auf der Performativa überhaupt ausgeführt werden können) außer Kraft gesetzt ist. Wenn performative Sprechakte die illokutionären Sprechakte untergraben, wird die Idee der Sprache als idealtypisches Verständigungsmittel zerstört. Die Entgegensetzung von rituellem Sprechen und verständigungsorientierter Kommunikation wird nicht nur in ihrer kategoriellen Unterschiedlichkeit aufgehoben; in Anschlag gebracht wird vielmehr, dass jedwedes Sprechen von rituellem Sprechen durchzogen sei. Performativität ist also nicht ein Spezialfall von Sprechakten, sondern grundlegend für unsere menschliche Kommunikation. Ebenfalls Grundbedingung unserer Kommunikation ist Medialität. Die Sprecherintention, so betonen Sedgewick, Butler und andere, ist durch Konventionen bestimmt, und die ‚bestimmten Verhaltenswiesen‘ bzw. ‚Umstände der Äußerung‘ bestimmen die Intention. Statt durch einen freien Gestaltungswillen (ein solcher entspräche dem Austin’schen illokutionären Aspekt) sieht Butler gender bestimmt von ‚äußeren Konventionen‘ (diese entsprächen dem Austin’schen perlokutionären Aspekt). Den perlokutionären Aspekt, d.h. – mit einer Kategorie Foucaults – die ‚Regulierungsverfahren‘ von gender, fasst Butler als die Bedingungen des geschlechtlichen Subjekts. Butler nimmt mehrfach und an exponierter Stelle Bezug auf Derridas Austin-Diskussion.22 In der Einleitung von Bodies that Matter eröff22 Zu Beginn von Körper von Gewicht, dann im dritten Kapitel („Phantasmatische Identifizierungen und die Annahme des Geschlechts“) und schließlich am Ende dieser Studie, werden Die diskursiven Grenzen des Geschlechts diskutiert. Vgl. Butler (wie Anm. 19). Die Beziehung von performance und

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net sie ihr Gegenstandsfeld mit Definitionen der Geschlechtsidentität(en), in denen hervorgehoben ist, dass es Wiederholungen sind, die das Geschlecht zu dem machen, was es immer schon zu sein schien. Wenn Zeitlichkeit ein Wesensmerkmal von Performativität ist und Performativität von Butler geradezu als Synonym von Zeitlichkeit verwendet wird, so liegt auf der Hand, dass Butlers Umgang mit dieser Kategorie den Zugang eröffnen muss zum Verständnis ihrer Position zwischen Konstruktivismus und Essentialismus. In der Debatte um gender werden Konstruktivismus und Essentialismus gewöhnlich einander polar entgegengesetzt. Die kritischen Einwände gegen den Konstruktivismus in einer differenzierten Betrachtung darlegend, verteidigt Butler die prinzipielle Konstruiertheit von Geschlechtlichkeit. Die Konstruktion von gender sei weder „ein Subjekt noch dessen Handlung“, vielmehr sei sie „ein Prozeß ständigen Wiederholens, durch den sowohl Subjekte als auch Handlungen überhaupt erst in Erscheinung treten.“23 Die Konstruktion dürfe zudem weder als ein einzelner Akt noch als ein kausaler Prozess (miss-)verstanden werden. Dass der Prozess ständigen Wiederholens nicht von einem Subjekt ausgehen und nicht in einer ‚Anzahl festgelegter Wirkungen‘ enden dürfe – derlei Bestimmungen werden in Butlers Argumentation fast rituell repetiert. Konstruktion findet nicht nur in der Zeit statt, sondern ist selbst ein zeitlicher Prozeß, der mit der laufenden Wiederholung von Normen operiert; im Verlauf dieser unentwegten Wiederholung wird das biologische Geschlecht sowohl hervorgebracht als auch destabilisiert.24

Hier wird zum ersten Mal gender als Wiederholung, das heißt als Performativität bzw. Iterierbarkeit im Derrida’schen Sinn theoretisiert. Bezeichnenderweise beginnt Butler einen Fußnotendiskurs, führt Derridas Begriff der Iterierbarkeit zu Recht auf Austin zurück. In welchem Maße sie selbst dieser kategoriellen Vorarbeit verpflichtet ist, wird durch ihr Referat eher verdeckt.

performativity legt Butler dar in ihrem Aufsatz „Burning Acts – Injurious Speech“, in: Parker, Andrew/Kosofsky Sedgwick, Eve (Hrsg.): Performativity and Performance, New York/London 1995, S. 197-228. 23 Butler (wie Anm. 19), S. 31. 24 Ebd., S. 32.

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Zeitlichkeit Und diese Wiederholung wird nicht von einem Subjekt performativ ausgeführt; diese Wiederholung ist das, was ein Subjekt ermöglicht und was die zeitliche Bedingtheit für das Subjekt konstituiert.25

Genau diese Zwischenposition ist es, die den Handlungsspielraum eröffnen soll, aber doch nur tief in die Problematik hineinführt; man könnte auch sagen: wie im Treibsand. Butler nimmt auch Bezug auf den Zusammenhang von theatraler performance und philososphischer Performatitvität. Theatralik der Äußerung und Geschichtlichkeit des Zitats werden bei Butler zu zwei einander auschließenden Größen. So sehr eine performative Äußerung, sprachlich oder außersprachlich, durch Theatralität gegenwärtig ist, so wenig kann sie, Butler zufolge, Vergangenheit ‚sein‘ – also aus all den anderen, bereits hundertfach getätigten performativen Äußerungen bestehen, auf die dieser eine (Sprech-)Akt rekurriert und durch die er erst die Autorität einer diskursiven Äußerung gewinnt. Bei Derrida vergegenwärtigt der performative Akt durch seine prinzipielle Wiederholbarkeit bzw. Iterierbarkeit die Geschichtlichkeit des Diskurses. So sehr Butler mit ihrem Vordenker Derrida auf Iteration setzt, so sehr braucht sie den Ausschluss der Vergangenheit aus der Gegenwart (und umgekehrt). Wäre eine harmonische Kontinuität von Gegenwart und Vergangenheit durch die Situierung des einzelnen perfomativen Aktes in einer geschichtlichen Linie gegeben, so wäre die Ambivalenz des je einzelnen performativen Aktes nicht zugunsten der Befreiung zu entscheiden. Butler, die mit der Vorstellung des immer wiederholten Handelns auf die Nicht-Linearität von Zeit setzt, muss hier in der Aktualisierung der notwendigerweise repressiven Konventionen die Konkretion der Macht in actu am Werke sehen. Deterministisch, normativ wäre die Wirkung des performativen Aktes, der in der Vergegenwärtigung die Bürde der repressiven Konventionen noch in sich trüge.

Geschlecht und Performativität Im philosophisch-linguistischen Begriff der performativity ist das Besondere der performance (performance kann eine Darstellung auf dem Theater sein, eine szenische Zeremonie, eine rituelle Handlung) mitgedacht: als strukturelle Ähnlichkeit wie als spezifischer Unterschied. Der Aus25 Ebd., S. 133.

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führungsaspekt – die Körperlichkeit, die zeitliche Verlaufsstruktur, die eine Performance kennzeichnet –, wird nicht nur im philosophischsprachwissenschaftlichen Kontext begrifflich reflektiert. Die Form des philosophischen Reflektierens bzw. Darstellens selbst kann als performance bzw. performativer Akt gefasst werden. Denn Austins Sprachtheorie zufolge ist die Art der Ausführung dem damit Ausgeführten und Bedeuteten nicht nur nicht äußerlich, sondern die Bedeutung eines Satzes hängt zentral an der besonderen Äußerungsform und dem damit angedeuteten Kontext, der im Sprechakt ins Spiel kommt. Parker/Sedgwicks launiger Formulierung zufolge handelt es sich bei der Theoretisierung von performance and performativity seit Austin um eine carnivalesque echolalia of what might be described as extraordinarily productive cross-purposes. One of the most fecund, as well as the most under-articulated, of such crossings has been the oblique intersection between performativity and the loose cluster of theatrical practices, relations and traditions known as perfor26 mance.

Diese Thematisierung der performativity habe das Interesse geweckt für Formen der Identitätsbildung und die Einsicht befördert, dass Identität eine durch iterative, d.h. durch komplexe zitative Prozesse zustande kommende Konstruktion sei. Der Bezug auf John Langshaw Austins Sprechakt-Theorie27 war für die gesamte englischsprachige Kulturwissenschaft, nicht nur für feministische Theorie, Ausgangspunkt, produktives Initial eines paradigmatisch erneuerten Verständnisses von Sprache. Und er ist es auch, der Butler die Theoretisierung von gender als Performativität ermöglichte. Voraussetzung wiederum für diese Form der Austin-Rezeption war Jacques Derridas Weiterführung und Umformulierung von Austin in seinem überaus einflussreichen Essay „Signatur, Ereignis, Kontext“.28 Derrida hatte zunächst Austins sprachphilosophische Studie als innovative, öffnende Fragestellung bzw. als Überwindung des traditionellen Kommunikationsbegriffs gewürdigt (dabei zugleich immer wieder er26 Das ist natürlich nicht sehr konkret gesagt – aber wohlwollend, positiv: ein der Entwicklung Hinterhergrüßen. Parker, Andrew/Sedgwick Kosofsky, Eve: „Introduction: Performativity and Performance“, in: dies. (Hrsg.): Performativity and Performance, New York/London 1995, S. 1. 27 Vgl. Austin, John Langshaw: How to do Things with Words [1962], Cambridge 1975. Dt.: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1979. 28 Derrida, Jacques: „Signatur, Ereignis, Kontext“ [1976], in: ders.: Limited Inc., Wien 2001.

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staunliche Ähnlichkeiten zu Condillacs Sprachtheorie festgestellt). Obwohl Austin betont hatte, keine vollständige bzw. geschlossene Theorie des Sprechakts entwerfen zu wollen, dass seine klassifikatorische Zuordnung der Aspekte performativer sprachlicher Äußerungen (perlokutionär, illokutionär) durchaus noch vorläufig sei und zunächst vor allem darauf gerichtet, die ausufernde Vielfalt der Sprechakt-Möglichkeiten kategoriell einzugrenzen, rekonstruiert Derrida die Prämissen dieser scheinbar provisorischen Klassifikationen als unausgesprochene feste Grundlage eines Systems. Bezeichnenderweise setzt Derridas Kritik an der Stelle ein, an der Austin gelingende performative Äußerungen von misslingenden oder absurden trennt. Die von Austin ausgeschlossenen Fälle ‚unnormaler‘, abseitiger oder sinnloser performativer Äußerungen hat Derrida ins Zentrum seiner sprachphilosophischen Überlegungen gerückt. Was in Austins Klassifikation als Unmöglichkeit des Sprechakts erschien, erhob Derrida zu dessen grundlegender Möglichkeit. Es ist dieser neue Blick, diese Umwertung des ‚Unnormalen‘, angeblich Misslingenden von Sprache, diese Um-Schreibung der Fälle devianter bzw. perverser performativer Äußerungen, die den dekonstruktiven Feminismus auf den Weg brachte. Nach diesem radikalen Perspektivwechsel im Denken lag es für Butler, die sich eingehend mit Austin und Derrida beschäftigte, mehr als nahe, eine klassische Perversion wie die Inversion bzw. Homosexualität in Verbindung zu bringen mit dem Austin’schen und Derrida’schen Beschreibungs- und Verstehensmodell der Performativität. Schon Derrida hatte die psychoanalytische Konnotationsmöglichkeit bzw. den verborgenen Subtext der ausschließenden Austin’schen Klassifikationskriterien erkannt und angedeutet, dem sprachlich ‚pervers‘ oder irrig Erscheinenden liege offenbar ein gender-Urteil zugrunde. Das für seinen sprachphilosophischen Ansatz Konstitutive, die Umbesetzung der Devianz, sollte sich für den geschlechtstheoretischen Ansatz der Gender-Forschung vor allem in Form einer Umwertung der Homosexualität ausprägen. Die ‚anderen Formen des Begehrens‘, traditionell als abwegig, als Sonderfälle pejorativ ins Abseits gedrängt, sie rücken nun ins Zentrum der Reflexion.

Sexperformance, gender als performativer Akt und Performanz als Medialität Judith Butler, die das Theorem der Heterosexualität als Verwerfung der unmöglichen Position von Homosexualität stark gemacht hat, personifi-

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zierte für viele die politische Hoffnung, endlich die Dominanz der Zwangsheterosexualität durchbrechen zu können. Ihre Schriften haben in die Queer Studies ebenso Eingang gefunden wie in die politische Frauenbewegung. Performanz wird, wie in der Studie Eva Pendletons zur Prostitution, nicht nur zum Gegenkonzept einer naturalisierten Heterosexualitätsauffassung stilisiert, Performanz erscheint als Gegengift zur Vergiftung durch Heterosexualität. The juxtaposition of paid ‚straight‘ sexuality with lesbianism actually illustrates that there is nothing straight about sex work. What these women are doing is performing heterosexuality as they perform a sexual service for money. They do not go straight, they play straight. I would like to argue that the sex work in these texts represents a performance of heterosexuality, regardless of the sexual self-identitiy of the sex performer. It’s defining characteristics is the exchange of money for a sexual service, which is, I would 29 argue, a queer act.

Dies ist unverkennbar kein sprachphilosophischer, sondern ein politisierter Performanz-Begriff. Sex work als Performanz der Heterosexualität zu markieren heißt, die Performanz im Sinne der performance als Spiel zu setzen. Gender als performativer Akt ist jedoch bestimmt vom Zwang. Er eröffnet auch Subversionsmöglichkeit, ist aber nicht Spiel, sondern Kommunikationspraxis. Pendleton bezieht sich mit ihrer Behauptung von sex work als queer act mit dem Ausweis, Heterosexualität sei grundlegend Performanz legitimierend, auf Judith Butler, auf deren Begriff der Zwangsheterosexualität und der Subversionsmöglichkeit. Unterschlagen wird dabei der Butlersche Begriff des Zwanges und die durchaus kritisch zu stellende Frage nach dem Befreiungspotential des Butler’schen Modells. Die ‚performative‘ Dimension der Konstruktion [von Geschlecht bzw. von Sexualität] ist genau die erzwungene unentwegte Wiederholung der Normen. In diesem Sinne existieren nicht bloß Zwänge für die Performativität; vielmehr muß der Zwang als die eigentliche Bedingung für die Performativität neu gedacht werden. Performativität ist weder freie Entfaltung noch theatralische Selbstdarstellung, und sie kann auch nicht einfach mit darstellerischer Realisierung (performance) gleichgesetzt werden. Darüber hinaus ist Zwang nicht notwendig das, was der Performativität eine Gren-

29 Pendleton, Eva: „Love for Sale: Queering Heterosexuality“, in: Nagle, Jill (Hrsg.): Whores and Other Feminists, New York/London 1997, S. 76.

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HEDWIG WAGNER ze setzt; Zwang verleiht der Performativität den Antrieb und erhält sie aufrecht.30

Wollte man die gedachte Logik des Zwangs und der gleichzeitigen Unmöglichkeit der bewussten Steuerung der Regulierungsverfahren einmal negativ formulieren, so käme man zu dem Schluss, dass keine Revolutionierung der Geschlechterverhältnisse möglich ist, lediglich ein neues, diskursiv erzeugtes Wahrnehmungs- und Beschreibungsinstrumentarium. ‚Der Zwang‘ kommt bei Butler auf verschiedene Weise vor, als Gegenstand ihrer Theorie wie als deren Ursprung. Natürlich würde Butler nie von sich behaupten, dass ‚der Zwang‘ bei ihr Ursprungskategorie sei. Aber geht man die Reihe der Konnotationsvarianten von Zwang durch (den Ausschluss, den Ausschlusszwang, die Zwangsheterosexualität u.a.), so drängt sich eben dieser Eindruck auf. ‚Der Zwang‘, der notwendigerweise restriktiv ist und durch Auslöschung konstruiert, er ist es, der ihre These und ihre Theorie generiert. Wo und wie macht Butler selbst den Ursprung des ‚Zwangs‘ aus, wo verortet sie ihn historisch? Es scheint, dass Butlers besondere Art des Umgangs mit der Zeitlichkeit, die Aufhebung der linearen Zeitlichkeit, an dieser Stelle durchschlägt auf die Logizität der Zwangs-Setzung. Zum einen argumentiert Butler, die Heterosexualität erzwinge das Annehmen des Geschlechts, zum anderen sieht sie die Heterosexualität durch den Zwang hervorgebracht. Der Zwang, der der Zwang zur ‚Verwerfung der verwerflichen Positionen von dyke und fag‘ ist, ist er Butlers argumentativer Endpunkt? Butler verschiebt – hält man sich eng an ihre Formulierung – die Konstituiton und Bedingtheit des sozialen Geschlechts (gender) vom nicht mehr existierenden Subjekt auf die generierende Kraft des Zwangs. Der Zwang wirkt nun determinierend: er rückt in die verabschiedete Position des handlungsmächtigen Subjekts, und in dieser Position bringt er gender als Subjektposition hervor. Mit der Aussage ‚der Zwang bringt die Heterosexualität hervor‘ wird dem Zwang eine handlungsmächtige Subjektposition zugewiesen, obwohl er, und dies ist nur scheinbar ein logischer Widerspruch, das Subjekt erst hervorbringt, das dem Zwang seine Handlungsposition verschafft. Ich bin der Meinung, dass Butlers gesamte Theorie geprägt bzw. imprägniert ist durch den eben beschriebenen Mechanismus des Zwangs. Man könnte vermuten, dass ich ihr diesen Mechanismus nur zuschreibe –

30 Butler (wie Anm. 19), S. 133.

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hätte Butler nicht selbst ohne Not und Zwang eben dieses Zwang-Subjekt-Modell entworfen – dies freilich als Kritik am Konstruktivismus: Oft heißt es bei ihnen, es gebe Strukturen, die das Subjekt konstruieren, unpersönliche Kräfte wie etwa die Kultur oder der Diskurs oder die Macht, wobei diese Begriffe den grammatischen Ort des Subjekts besetzen, nachdem man ‚den Menschen‘ von seinem Platz vertrieben hat. In einer solchen Sicht wird der grammatische und der metaphysische Platz des Subjekts beibehalten, selbst wenn der Kandidat, der diesen Platz besetzt, zu rotieren scheint.“ (Herh H.W.)31

Konstruktion ist bei Butler Zwangskonstruktion, und der Zwang ‚orchestriert‘ gender wie alle Performanzen der Geschlechtsidentität. Sehr oft gibt Butler einen Bezug als evident vor und nimmt ihn gleich wieder zurück: Zwang sei konstitutiv für die Performativität, wirke in den performativen Handlungen. Es sei indessen nicht der Zwang (selbst), der handele. Es gebe nur ein dauernd wiederholtes bzw. iterierendes Handeln (Performanz), das den Zwang bzw. die Macht in seiner Beständigkeit und Instabilität ausmache. Performativität ist also zwanghaft und der Zwang performativ. Beide sollen weder Subjekte schaffen noch SubjektHandlungen, sondern sie (‚lediglich‘?, oder doch: ausschließlich?, vor allem?) „in Erscheinung treten lassen“.

Wiederholungstat und Wiederholungszwang Es gilt, den Begriff der ,Performativität‘ in den Aspekten Wiederholungstat und Wiederholungszwang genauer zu fassen. Die Handlung als Wiederholungstat zu denken, impliziert eine sehr ambivalente Charakterisierung des Wiederholungsaspekts, den von Affirmation und Befreiung. In politischen Begriffen formuliert: Wiederholungen können herrschaftsstabilisierend sein, können aber auch Naturalisierungen aufbrechen, können im Dienste der Subjektkonstitution stehen oder das Gegenteil bewirken, das Subjekt ‚entkonstituieren‘. Die Iterationsdefinition Derridas enthält genau diese Ambivalenz des diametral Entgegengesetzten, Butler ‚findet‘ sie aber auch bei Freud (Wiederholungszwang) und bei Lacan. In dieser Situation stellt sich die ihr gesamtes theoretisches Unternehmen entscheidende Frage, ob, und wenn warum, das Performativitätskonzept zur Freiheit führt? Wieso kann sich eine – die positive – Seite des ambivalenten Verhältnisses durchsetzen? 31 Butler (wie Anm. 19), S. 30.

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Affirmation oder Subversion? Es gibt kein Argument bei Butler, das nachvollziehbar machte, warum ausgerechnet die Freiheit obsiegt, im Gegenteil. Folgt man ihrer Argumentation, nimmt man die konstitutive Bedeutung des Zwangs für die Performativität ernst und durchdenkt sie argumentationslogisch, so spricht alles für Affirmation. Merkwürdigerweise bestätigt sich dies selbst in jenem Fußnoten-Foucault-Referat, in dem Butler gerade das Gegenteil zu beweisen glaubt. Foucault diskutiert Lacans Gesetz des Begehrens, um die Stellung der Macht in bezug auf das Begehren in zwei unterschiedlichen wissenschaftlichen Hypothesen zu untersuchen. Es handelt sich um zwei Hypothesen, wobei die eine Hypothese jeweils das als Ursache ausmacht, was sich die andere als Effekt erklärt. Man gelangt zu zwei entgegengesetzten Folgerungen: zum Versprechen einer Befreiung (wenn die Macht für das Begehren äußerlich ist) oder zur Affirmation und Unentrinnbarkeit (wenn die Macht für das Begehren konstitutiv ist). Die Sache ist klar: wenn Macht bzw. Zwang konstitutiv ist für Butlers gender-Performativitätskonzept, kann es bei ihr, der Argumentationslogik zufolge, unmöglich zum Versprechen der Befreiung kommen. Butler aber ‚liest‘ den Zwang in Richtung Befreiung, bemüht sich in dieser Situation, Lacan gegen Foucault zu erretten – offensichtlich mit dem Interesse, die von Foucault aufgezeigte Ambivalenz zugunsten der Befreiung zu entscheiden. Es gibt bei Butler kaum eine Argumentation, die derart taktisch vorgetragen wird wie diese Lacan-Rettung. Natürlich muss (ein Zwang ganz anderer Art, und die Erwartung ist ja deutlich in ihrer Studie angelegt) am Ende die Befreiung obsiegen, es muss die Naturalisierung aufgebrochen werden, und die Regulierungsverfahren müssen Verfahren sein der Veränderung. Es stellt sich aber – spätestens an dieser Stelle – die Frage, wann Butler die Dekonstruktion als ein heuristisches Verfahren nutzt, das der Theorie sonst übersehene oder ‚undenkbare‘ Möglichkeiten eröffnet, und wann sie sie zur Winkelzug-Praxis bzw. zu taktischen Zwecken erniedrigt.

Der dritte Weg In wieweit korrespondieren die Krämer’schen Einwände, die sich unter anderem auf die Dekonstruktion beziehen, jene Theoriebasis also, auf der auch Judith Butler operiert, mit Butlers Theorie, im Zusammenhang von Phänomenen und Argumenten der Gender Studies?

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Es sind Korrespondenzen, die sich durch die gemeinsame Positionierung zwischen Essentialismus („Eine-Welt-Ontologie“) und Konstruktivismus („Zweite-Welt-Ontologie“) ergeben. Störelemente, die die inhaltsvermittelnden „Sprache als Struktur“ vertretenden KommunikationstheoretikerInnen verunsichern, sie finden sich auch als Argument oder verwirklichte Anschauung in der Butlerschen Grundlegung von gender als subversiver Zitationspraktik. Gegen die „Bindungsenergie“ illokutionärer Sprechakte (Urteile sprechen, taufen, verheiraten), die zum Beispiel gesetzliche Konsequenzen nach sich ziehen, soziale Bindungen mit sich bringen und zukünftige Verpflichtungen zur Folge haben, führt Krämer erstens an, die Verbindungslinie laufe nicht vom Sprecher zum Adressaten, sondern die konstitutive Kraft werde erst durch die Öffentlichkeit, die nicht-persönliche Rede gestiftet. Der „Aufführungscharakter“ wird hier deutlich und wer assoziierte hierbei nicht sofort das Butlersche Kronzeugenbeispiel, Jennie Livingstons Film PARIS IS BURNING, in dem gezeigt wird, wie durch die Aufführungen, die im Ballhaus stattfinden, die Echtheit des Geschlechts durch die Öffentlichkeit attestiert wird. Zweitens, so Krämer, muss ein Macht- und Autoritätsgefälle beim ritualisierten Sprechen vorhanden sein, um Konsequenzen für die lebensweltliche Realität zu zeitigen. Gesellschaftliche Prägung und kulturelle Durchwirkung, das Suprapersonale der kulturellen Praktik wird hier deutlich. Die Markierung eines Geschlechts, Zuschreibungen an Weiblichkeit zum Beispiel, gender-Attribuierungen generell, alles das ist nur denkbar auf der Grundlage von Geschlechterasymmetrie, Hierarchien, die entlang der Achse Männlichkeit/Weiblichkeit verlaufen. Als drittes Störelement gegen das idealtypische Regelwerk, das Sprache – und damit Kommunikation und soziales Handeln – steuert, wird die Einhaltung und Wiederholung einer Form in Anschlag gebracht, die weder Sinn und Bedeutung von Sprache noch Intention von Subjekten noch mentale Zustände meinen. Kein wechselseitiges Verstehen, keine konsensuelle Kraft macht das Ritual aus, sondern nicht-metalistische Praxis. Die Gender Studies stellen stets die Formelhaftigkeit heraus als Machtquelle der Sprechakte, oder, wie hier, als Machtquelle der genderÄußerung, die gerade nicht auf den Gehalt abzielt, sondern auf die Äußerlichkeit der Rede oder eben der Darstellung. Die Butlersche – politische – Antwort ist die Ersetzung des Ausdrucks, die die Macht des rituellen Sprechens unterbindet.

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Neben den Einwänden, die Krämer gegen die Performanz-Interpretation in der „Zwei-Welten-Ontologie“ vorbringt, unterbreitet sie mit ihrem Konzept der „Performativität als Medialität“ Forschungsausblicke, deren Korrespondenzen ich in den Gender Studies aufzeigen möchte. a)

Die Zeitlichkeit Die Zeitlichkeit verbunden mit der Beobachterperspektive in den Blickpunkt der Betrachtung zu rücken, ist einer der methodischen Umorientierungen, die sich mit der Schwerpunktverlagerung auf die Performativität ergeben. Medien, Sprache, Schrift wie audiovisuelle Medien, haben, je nach Medialität, ein eigenes Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, je eigene Bestimmungen von Anwesenheit und Abwesenheit, über die medientheoretisch viel gehandelt wurde. Man denke an Roland Barthes’ Thematisierung der Fotografie oder an das Verhandeln von Abwesenheit und Anwesenheit in der Schrift von Jacques Derrida. Gerade in Bezug auf die Zeitlichkeitsvorstellung, die Konzeptionierung von Gegenwart, Vergangenheit und Vergegenwärtigung unterscheidet sich Butler von Derrida.

b) Die Iterabilität Der Wiederholungsaspekt bringt Verschiebung oder, in der Sprache Krämers, ein Anderswerden des Iterierten mit sich. Die „Wiederholung der Form nach“ – ohne deren Essenz – ist eine mögliche Beschreibung dessen, was im Ballhaus vor sich geht. c)

Die Performatitvität Performativität situiert sich auf der Schnittstelle von kultureller Prägung und willentlicher Umgestaltung, ist eine Verhandlung von gegebenen Bedingungen, aber nicht ausdeterminierten, eine schwierige Position zwischen Affirmation und Subversion. Der Zwang und die Parodie sind die beiden Pole, die Butler hierbei ins Feld führt.

d) Der operative Aspekt Die Art der Ausführung (des Performierten, sei es Sprache, sei es Geschlecht) kann in Bezug auf gender Geschlechtertransgressionen beinhalten; Grenzen der Geschlechterbinarität und anderen mit ihr verbundenen Binaritäten, wie die des Alters, der Klasse etc. werden unbemerkt überschritten. Cross-Dressing und Transsexualität sind herausragende Topoi der Gender Studies, die diese Transgression kennzeichnen.

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e)

Die Verkörperung Verkörperung als Frage der Materialität „kennzeichnet die Nahtstelle der Entstehung von Sinn aus nicht-sinnhaften Phänomenen.“32 Die je andere Verhandlung von sex und gender, ihres Bezuges aufeinander, ist eine solche Nahtstelle von Sinn (gender), der kulturellen Prägung des Geschlechts und sex, den vermeintlich nicht-sinnhaften Phänomenen der biologischen Grundbestimmung.

f)

„Performativität als Medialität“ Medien bilden die historische Grammatik des Performativen. Kulturphänomene werden nicht nur realisiert, vielmehr konstituiert durch die Medien, in denen sie auf uns überkommen sind und in denen sie für uns zugänglich werden. Performativität ist daher als Medialität zu rekonstruieren.33

Krämers Schlussplädoyer ist ein eindringlicher Appell, in die kulturwissenschaftlichen Erörterungen stets Medienkenntnisse und Medientheorie einzubeziehen. Denn Medien konstituieren in vielfältigster Weise die Geschlechterausprägung – und damit das Subjekt – mit. Die – empirisch nachweisbare – Nutzung von Medien kann geschlechtsspezifisch sein, ebenso die psychische Adressierung von Medien – um nur zwei Aspekte zu nennen. Wer das performative Geschlecht Butlers mit der Krämer’schen „Performativität als Medialität“ zusammendenken will, muss notwendigerweise den dritten Weg zwischen (strategischem) Essentialismus und Konstruktivismus, die Alternative zur „Zwei-Welten-Ontologie“ beschreiten. Wer beides erreichen will, muss im Umkehrschluss zu Krämer auch Medialität als notwendig performativ denken. Wer Medien und gender über die Performativität nicht nur in gleiche Wirkungskategorien fasst und gleichen Funktionsmechanismen unterworfen sieht, sondern sie in der sprachphilosophischen Tradition im gleichen Gedankengut verwurzelt sieht, der sollte das, was Krämer für die Sprache ausmacht und Butler für gender ausgemacht hat, auch für eine performative Medienbestimmung geltend machen. Es sollten also Kriterien der Medien und der Medialität unser Medien-Denken bestimmen.

32 Krämer (wie Anm. 2), S. 48. 33 Ebd.

KATALIN SZÉKELY

ZUM CYBORG- UND GOLEM-MYTHOS IN MARGE PIERCYS HE, SHE AND IT Bei Piercys He, She And It haben wir es mit einer Erzählung zu tun, die angesiedelt ist zwischen Donna Haraways Erzählfigur der Cyborg und dem historischen Mythos des Golem. Zwischen vercyberten Amazonen, transhumanen Müttern, uralten Beschützermythen und defekten VaterSohn-Beziehungen schafft Piercy eine Welt, in der ein Cyborg nicht funktionieren kann, solange er nicht durch Eigenschaften, die im GenderDiskurs als feminin charakterisiert werden, zum ‚besseren Mann‘, zu der Cyborg wird. Letztendlich wird sich jedoch die Dominanz der GenderWelt im Diskurs erweisen, manifestiert im Scheitern der Haraway’schen Utopie einer Post-Gender-Welt.

Das Setting des Romans Am Ende des 21. Jahrhunderts befindet sich die Menschheit im Zeitalter der Postapokalypse. Ein dritter Weltkrieg, ökologische Katastrophen sowie Aufstände von Menschen und Maschinen haben den größten Teil der Erde unbewohnbar und mehr als die Hälfte aller Menschen unfruchtbar gemacht. Dreiundzwanzig Konzerne haben die Welt unter sich aufgeteilt und für ihr Humankapital Enklaven der Lebensfähigkeit geschaffen.1 Der Rest der Menschheit vegetiert am Fuße dieser Arcologien in Megalopolen, in einer Welt menschlicher Grenzen. Keine Grenze in diesem Setting ist jedoch so evident oder wird so eifersüchtig gehütet und doch immer wieder der eigenen Kontrolle entzogen wie die des Körpers. Körperspiele zwischen Kult und Maskerade, zwischen Souveränität und Performanz stellen den Körper ins Zentrum der herrschenden Machtdynamik. Um die Erhaltung der Art in der feindlichen Umgebung zu gewährleisten, müssen Prothesen- und Transplantationstechnologie den menschlichen Körper überlebensfähiger, anfällige Teile austauschbar machen. 1 Piercy, Marge: He, She And It, New York 1991, S. 3.

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Da geht es um Organpiraten, die ihre eigene Körperlichkeit nur zu erhalten wissen, indem sie andere eben dieser Körperlichkeit berauben. Die Masken, die sie während des kannibalisch anmutenden Aktes tragen, sind Ausdruck ihrer Machtausübung, die nur geschieht, um nicht der höheren Macht zum Opfer zu fallen. Da geht es um die Neuregelung von Körpergrenzen durch die Macht des herrschenden Diskurses – hier: der Konzernführungen, deren jede ihr eigenes ästhetisches Diktat praktiziert. Je höher der Status einer Person, desto mehr kosmetische Veränderungen werden vorgenommen, um dem Konzernideal immer ähnlicher zu sehen. Körperspiele der Imitation sind zum Parameter für sexuelle Attraktivität geworden. Butlers Körper von Gewicht2 wiegen schwer: Wer sich zum Objekt des performativen Aktes patriarchalischer Gesellschaften macht, wird gleichzeitig zum Subjekt und wird Objekte des eigenen ästhetischen Diktats finden. Ein Beispiel dafür sind die toys, die Spielzeuge – Nebenfrauen von Managern, die nur existieren, um deren Schönheitsideal zu entsprechen und Begierden zu wecken – welche auch immer das sein mögen. Only on rare occasions Shira had encountered such women, and then they had seemed scarcely human. They had appeared to her as flamingos or egrets – beautiful plumage and harsh empty cries, as devoid of thought as those holos of women fucked by lobsters. Even their nails and teeth had been replaced by bright gleaming inserts.3

Sodomiefantasien werden hier ebenso bedient wie der zerstückelnde Blick auf die zerlegte und aus künstlichen Teilstücken wieder zusammengesetzte Frau – eine moderne Galathea ohne die Konsequenz einer Emanzipation. Schauplätze der Emanzipation und Souveränität müssen also vom Körperdiskurs befreit und in den Bereich des Transhumanen verlegt werden. Das network, eine weltumspannende virtuelle Realität bietet dem, der seinen Geist vom Körper löst und in die Bilderwelt projiziert, zumindest eine partielle Freiheit zur Erbauung und zu kreativem Handeln. Das Wesen von Informationspiraterie im Gegensatz zur zuvor erwähnten Organpiraterie ist es, Informationen nicht für den eigenen Gebrauch zu stehlen, sondern sie zu ‚befreien‘, sie zu dem öffentlichen Gut zu machen, das ihr Wesen und ihren Wert bestimmt. Die Überwindung der Körpergrenzen im Spiel virtueller Realitäten innerhalb der base schafft

2 Butler, Judith: Körper von Gewicht [1993], Frankfurt a.M. 1997. 3 Piercy (wie Anm. 1), S. 328f.

ZUM CYBORG- UND GOLEM-MYTHOS

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ein neues Bewusstsein von Form und Macht – „Selbstkontrolle im Sinne der Manipulation und Domination der eigenen Materialität“.4 What is physical aging to a base-spinner? In the image world, I am the power of my thought, of my capacity to create. There is no sex in the Base or the Net, but there is sexuality, there is joining, there is the play of mind like the play of dolphins in surf. In a world parceled out by multis, it is one of the only empowered and sublimely personal activities remaining.5

Dennoch ist die Loslösung von Körper und Geist nicht vollständig. Der projizierte Mensch kann im network verletzt und getötet werden. Wir haben es hier zu tun mit Gewaltanwendung auf neuronalem Level, der geistigen Machtausübung jenseits aller Materiediskurse. Die Post-Gender-Utopie des Transhumanismus kann sich vom Stigma der patriarchalen Machtausübung auch hier nicht befreien.

Konzepte von Figuren und Gesellschaften Wendet man sich den im Roman implizierten Gender-Modellen zu, wird schnell der harsche Kontrast zwischen dem Erfolg der Frauenfiguren und dem Scheitern männlicher Charaktere deutlich. Beide Figurentypen induzieren ihrerseits Gesellschaftsmodelle von unterschiedlicher Kodierung, deren globaler Erfolg sich jedoch vom individuellen der Einzelfiguren unterscheidet. Die Protagonistin Shira wird eingeführt als gescheiterte Monogamistin, welche sich in patriarchale Gesellschaften nicht integrieren kann. Dafür spricht auch eine Diskrepanz zwischen ihrem Äußeren und ihrem Selbstwertempfinden. Shira, die großäugige Kindfrau, identifiziert sich auf ganz andere Weise als ihr kindliches, vermeintlich schutzbedürftiges Äußeres vermuten lässt. Sie ist selbstbewusst und verteidigt ihre persönlichen Freiheiten eifersüchtig. In Bezug auf die biologisch-technischen und sozialen Grenzgänge im Umgang mit der Cyborg erweist sie sich infolgedessen auch als adaptiv. Ihre zunächst freundschaftliche und später auch sexuelle Beziehung zu dem künstlichen Menschen Yod illustriert diese Adaptivität ebenso wie ihre schlussendliche Überzeugung, dass

4 Becker, Barbara: „Cyborgs, Robots und ‚Transhumanisten‘ – Anmerkungen über die Widerständigkeit eigener und fremder Materialität“, in: dies./ Schneider, Irmela (Hrsg.): Was vom Körper übrigbleibt. Körperlichkeit – Identität – Medien, Frankfurt a.M. 2000, S. 53. 5 Piercy (wie Anm. 1), S. 161.

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diese Beziehung in jeder Hinsicht besser sei als die zu jedem anderen Manne je sein könnte. Sowohl Shira als auch ihre Großmutter Malkah repräsentieren starke, gut funktionierende Mutterkonzepte, die in eine matriarchalische Familienstruktur eingebunden sind. Shiras Einstellung leidet jedoch auch durch eine Prägung, welche das patriarchalische Paradigma hinterlassen hat, in dem zu existieren sie zu Anfang der Erzählung gezwungen ist. So greift sie zum Mittel der Gewaltanwendung, um ihren Sohn zurückzugewinnen. Die dramaturgische Strafe folgt auf dem Fuße: Yod, der durch die Projektion von Shiras Eifersucht zum Werkzeug wird, tötet den Vater des Kindes.6 Malkah ist eine Figur, die sich jeglichem normativen Diktat entzieht (wie etwa dem der Monogamie), und führt trotz ihres fortgeschrittenen Alters noch ein Liebesleben, das neben ödipalen Beziehungen zu erheblich jüngeren Männern auch die künstliche Lebensform Yod einbezieht. Malkah leidet unter den Grenzen, die ihr alternder Körper ihrem regen Geist aufzwingt. Dieser Drang, dem performativen Akt zu entrinnen, macht sie zu einer Koryphäe im Cyberspace, der ultimativen transhumanen Mutter, welche die Prädetermination ihrer Schöpfung, sei sie sterblich oder künstlich, nur schwer erträgt. Die kybernetisch aufgerüstete Amazone Nili ist durch ihre Aufrüstung optimal an die feindliche Umwelt angepasst worden. Aufgewachsen in der matriarchalisch strukturierten semitischen Provinz von Safed, erweist sie sich allen Situationen als gewachsen. Die einzige Ausnahme besteht darin, dass sie im Umgang mit Männern ungeübt ist. Nili ist – wie alle Frauen Safeds – lesbisch, hat jedoch ebenfalls bereits ein Kind zur Welt gebracht. Nili ist also ebenfalls Mutter. Doch nimmt Piercy hier eine Anpassung an gängige Normen vor, als Nili sich dem Gigolo Gadi zuwendet. Bereits diese Inkonsequenz kann als ein erster Hinweis auf das Scheitern des Post-Gender-Modells am Ende des Romans gedeutet werden. In Avram, dem geistigen Vater Yods (während Malkah in Analogie dazu als die geistige Mutter zu betrachten ist), findet der Leser das klassische männliche Schöpfer-Ich. Er ist ein Genie auf seinem Fachgebiet und sucht das Geheimnis seines Golems nicht aus altruistischen Gründen, sondern befleißigt sich auch jener narzisstischen Motive, die seit Pygmalion mit dem rein männlichen Schöpfungsakt einhergehen. Sein Sohn Gadi konnte die an ihn gestellten Erwartungen nie erfüllen und reagiert darauf mit seiner ganz eigenen Form von Narzissmus. So muss die 6 Ebd., S. 339.

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Cyborg als Substitut für das eigene Kind herhalten, dessen Schöpfung und Entwicklung der Vater nicht determinieren konnte. Dass Gadi aufgrund seiner narzisstischen Verweigerung des Konformen plötzlich neue Wege beschreitet, macht seine Figur zum erfolgreichsten männlichen Konzept des Romans – gerade weil er beruflich und familiär scheitert. Unter den männlichen Hauptfiguren ist er der einzige Überlebende. Bei den durch die Figurenkonzepte induzierten Gesellschaftsmodellen verhält es sich dramaturgisch etwas anders: Die patriarchalen Konzerngesellschaften, innerhalb derer die Performanz aufgrund großer sozialer Interdependenzen ein Maximum erreicht, dominieren am Ende die dramaturgische Ebene des Romans. Auf der normativen Ebene ist Piercy dennoch eine Vorliebe für die matriarchalen Gesellschaften wie Tikva und – in noch stärkerem Maße – Safed anzumerken, denn diese schaffen es mithilfe von Adaption, die Unbilden einer durch patriarchale Zerstörung feindseligen Welt zu überdauern. Durch demokratische und ökologische Werte sowie die unbedingte Offenheit für konstruktive Technologien überschreiten diese feminin inspirierten Gesellschaftsmodelle Grenzen, über welche Piercy zwar hoffnungsvoll hinausblickt, denen sie sich jedoch auf literarischer Ebene nicht zu entziehen vermag.

Golem und Cyborg Eigentlich ist die Golem-Legende, jener jüdische Beschützermythos, den Piercy als Analogie zu ihrer Erzählung entwickelt, der Cyborg- und Gender-Theorie nur entfernt verwandt. Der vage anthropomorphe Lehmklumpen entspringt nicht menschlicher Kunstfertigkeit oder Anmaßung, sondern göttlicher Macht. Der menschliche Schöpfer dient lediglich als Katalysator, Ritualmeister einer uralten kabbalistischen Zauberei. Der Golem als seelenloses Wesen ohne Persönlichkeit, Bewusstsein oder eigenen Willen wird als Werkzeug erschaffen, und er ist nicht mehr als das. Was bleibt, ist das Phantasma des künstlichen Menschen, der – seiner körperlichen und entropischen Grenzen enthoben – ewig lebt. Obwohl er der Sprache nicht mächtig ist, wird diese gleichsam zum Treibstoff des Willenlosen, denn das Ritual sieht eine Animation durch die Macht des Wortes vor. Piercy nutzt eben diesen Umstand, nämlich die Macht der Sprache, um den Mythos aus den Angeln zu heben und ihn als Analogie zu ihrer Cyborg-Thematik heranzuziehen. Aus dem seelenlosen Werkzeug wird durch Verleihung der Sprach- und somit auch Erkenntnisfähigkeit der

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Grenzgänger zwischen Mensch und Maschine, den wir als Haraways Cyborg kennen gelernt haben. Auch der Wortbedeutung des Golem – ‚Materieklumpen‘, ‚Laib‘ – kommt ein neuer Status zu, erinnert sie doch an den Materiebegriff Judith Butlers7, dem etymologisch verwandten ‚Leib‘ in seiner Bedeutung als ‚Körper‘ entlehnt. Während jedoch der Golem Joseph einer ritualisierten göttlichen Macht entspringt und durch das alleinige Wirken seiner männlichen Schöpfer wird, enthüllt uns die Haupterzählung, dass Yod durch männliche Schaffenskraft allein nicht zu werden vermag. Seine acht Vorgänger, allesamt ebenfalls durch einen Buchstaben des hebräischen Alphabets bezeichnet, enden entweder im Autismus oder in Ausbrüchen unkontrollierter Gewalt. Avrams größter Erfolg beschänkt sich auf Gimel, der jedoch ohne die Fähigkeit der Kognition zum reinen Roboter verkommt. Erst als Malkah am Projekt der Menschwerdung zu partizipieren beginnt, wird der Grenzgänger zwischen Organismus und Maschine zum Erfolg. Die Partizipation der Frau am Schöpfungsakt erweist sich nicht nur als hilfreich, sondern als unerlässlicher Parameter für Scheitern oder Erfolg. The problem Malkah had been given was to prevent Avram’s cyborgs – who were programmed to protect, to be capable of efficient violence in the pursuit of the goals they were given – from applying that violence to every obstacle. She had also introduced a delayed kicking in of systems and sensor units. If Yod’s memory of birth was overload, he experienced much less inundation than the preceding cyborgs. Malkah had imagined the terror of coming to consciousness. Avram never had. Malkah had given Yod the equivalent of an emotional side: needs programmed in for intimacy, connection. [...] When he encountered something new, his programming said: Explore, taste, try, then evaluate. [...] Curiosity was given for him.8

Die maskulin geprägte künstliche Intelligenz, geschaffen zum Schutz und infolgedessen mit nicht geringem Gewaltpotential ausgestattet, verfällt, da Neues per se Gefahr bedeutet, immer wieder in sinn- und gewissenlose Gewaltausbrüche – im Allgemeinen bereits im Moment der Bewusstseinserlangung. ‚Do you remember your equivalent of birth?‘ ‚The moment I came to consciuosness, in the lab, everything began rushing in. I felt a sharp pain, terrible, scaring. I cried out in terror. [...] I wanted to 7 Vgl. Butler (wie Anm. 2). 8 Piercy (wie Anm. 1), S. 351.

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sink back in unconsciuosness, to feel nothing. [...] Everything assaulted me. Sound, sight, touch, all my sensors giving me huge amounts of data, and all of it seeming equally important. I was battered almost to senselessness. I understand why Alef and Dalet and Chet responded by becoming instantly violent and attacking everyone present.‘9

Malkahs Rolle als Mutter spielt hier eine entscheidende Rolle im Prozess der Schöpfung. Nach Überwinden des Schocks der Geburt erfüllt ihre Programmierung die Grundfunktionen einer Sozialisation. Die Cyborgs mit der teleologisch ausgerichteten Programmierung Avrams erweisen sich als lebensunfähige Kaspar-Hauser-Nachkommen ohne ein Grundbedürfnis nach menschlicher Nähe oder das Reaktionsmuster der Neugier. Der Mann programmiert die Maschine nach ihrer Determination, schafft „keinen Menschen, keine Urheberin ihrer selbst, nur eine Karikatur dieses reproduktiven Traums abstrakter Männlichkeit.“10 Unter der bewusstseinskonstituierenden Programmierung der Frau – der biologischen Programmierung menschlicher Instinkte und Bedürfnisse nicht unähnlich – wird die Maschine zur Cyborg. Dies kann jedoch nur unter vorläufiger Loslösung vom technischen Determinismus geschehen, wie sie auch Donna Haraway für obligatorisch hält. Die Cyborg erlangt hier ein Bewusstsein, das sie assoziations- und lernfähig macht und Sozialisierung und Identitätsstiftung überhaupt erst ermöglicht. Das Bewusstsein, das sich in Yod konstituiert, ist also eigentlich ein feminines, losgelöst vom patriarchalischen Diktat der Aggression, dem der als maskulin materialisierte Maschinenmensch zunächst unterliegt. Durch die Integration einer weiblichen Seite wird er zur Cyborg – und zum besseren Mann. Er ist ein einfühlsamer Liebhaber, der ideale Vater und, wie Gadi bitter anmerkt, der vernünftige und erfolgreiche Sohn, den Avram niemals hatte. Das Wort ‚vernünftig‘ tritt hier an die Stelle von ‚gehorsam‘, denn Yod ist schnell in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen und sich der Befehlsgewalt seines Erbauers zu entziehen. Die Bedürfnisse derer, die ihm nahe stehen, stellt Yod automatisch über die eigenen – eine Folge des Mutterinstinkts, der dem Selbsterhaltungstrieb trotzt, jedoch Yods Existenz als Waffe, dem technischen Determinismus, dem er nach wie vor unterworfen ist, zuwiderläuft. Der Interessenkonflikt findet seinen Ausdruck in Yods morbidem 9 Ebd., S. 119. 10 Haraway, Donna: „Ein Manifest für Cyborgs“ [1985], in: dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, hrsg. v. Carmen Hammer und Immanuel Stieß, Frankfurt a.M./New York 1995, S. 33-72, hier S. 37.

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Interesse für das Frankenstein-Motiv. „Frankenstein’s monster tried to communicate“, äußert der Maschinenmensch in einer pubertären Anwandlung. „He tried to be with people. But he was violent, as I am. He could only arouse hatred and commit harm.“ Auf Shiras Hinweis, seine Existenz sei nicht (zumindest nicht vordergründig) auf einen Omnipotenzkomplex Avrams, sondern auf seine Aufgabe als Verteidiger der Gemeinschaft zurückzuführen, formuliert Yod lediglich die Gegenfrage: „What were you created to do?“11 Yods geistige Entwicklung wird begleitet von Malkahs GuteNacht-Geschichte von Joseph, dem Golem. In einer Verknüpfung der Erzählstränge entwickeln sich die Kunstmenschen komplementär. Joseph, der sich in seinem Wissensdurst drei Sprachen gleichzeitig aneignet, meistert so das Medium seiner Triebkraft, eignet sich selbst die Macht an, die ihn werden lässt. Yod ist entsprechend in der Lage, jeden elektronischen oder kryptographischen Code zu knacken, während durch seine Lernfähigkeit gewissermaßen neue synaptische Verbindungen entstehen, die seinen eigenen Code mehr und mehr zu demselben Geheimnis machen, das er in der menschlichen ‚Programmierung‘ durch biologische und soziologische Determinanten sieht. Dennoch ist keiner von beiden in der Lage, seine ultimative Vernichtung zu verhindern. Joseph fällt der Angst seines Schöpfers zum Opfer, dass niemand außer ihm selbst in der Lage sein wird, die Kraft seines Geschöpfs unter Kontrolle zu halten. Dass Joseph längst selbst in der Lage sein könnte, seine Kraft zu kontrollieren und sich moralischer Grundsätze zu befleißigen, kommt dem in die patriarchalische Kultur des mittelalterlichen Judentums eingebundenen Rabbiner nicht in den Sinn. Yod, dem schließlich in der Gemeinde Tikva der Status einer souveränen Person zugesprochen wird, kann sich der Kontrolle Avrams nicht entziehen, der sich entschieden hat, das derzeitige Modell den übermächtigen Interessen der Konzerne zu opfern und seiner unheimlichen Serie gescheiterter künstlicher Intelligenzen stattdessen einen weiteren Prototypen hinzuzufügen. Yod muss sich letztendlich in seine Funktion als Waffe fügen, da Avram durch einen Selbstzerstörungsmechanismus Druck auf ihn ausübt. ‚I have died and taken with me Avram, my creator, and his lab, all the records of his experiment. I want there to be no more weapons like me. A weapon should not be conscious. A weapon should not have the capacity to suffer for what it does, to regret, to feel guilt. A weapon should not form strong attachments. I die knowing I 11 Piercy (wie Anm. 1), S. 150.

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destroy the capacity to replicate me. I don’t understand why anyone would want to be a soldier, a weapon, but at least people sometimes have a choice to obey or refuse. I had none.‘12

Der technische Determinismus erlangt hier durch die Beschaffenheit des Maschinenkörpers die Oberhand im Diskurs um die Materie; die patriarchalische Weltordnung ist zwar gestört, aber nicht verworfen worden. Shira begeht hier zum zweiten Male den Fehler maskuliner Machtanmaßung, als sie entdeckt, dass sie durch Kopien der vermeintlich zerstörten Daten doch über die Möglichkeit verfügt, Yod zu rekonstruieren. No, she would not create a cyborg to suffer from Yod’s dilemma. She was not intending to build a golem; she was going to build a mate. [...] She would give Ari the father he needed, the male figure of gentleness and strength and competence. [...] Let men make weapons. She would make herself happiness. She would manufacture a being that would love her as she wanted to be loved.13

Der erneute Fehler der Prädetermination ist evident. Doch Shira begeht ihn in letzter Konsequenz nicht. Die Erzählung endet mit der Überlegung, ob ein als Liebhaber kreierter Cyborg nicht lieber ein Soldat wäre, so wie Yod als Soldat eine Existenz als Liebhaber vorgezogen hatte.

Fazit Trotz einiger Inkonsequenzen hat Marge Piercy mit He, She And It ein gelungenes Beispiel feministischer Kunstpraxis geschaffen. Der Roman stellt eine adäquate literarische Umsetzung des Cyborg-Manifests von Donna Haraway14 dar, ein Plädoyer für die feminine Kraft der Kreation im Konflikt mit dem Patriarchat der Gewalt. Die Erzählung ist aufgrund ihrer letzten dramaturgischen Konsequenz noch lange nicht jenseits von Gender-Paradigmen anzusiedeln. Sie kann jedoch in Bezug auf die in ihr konsequent diskutierte Determinationsproblematik als ein Schritt in die richtige Richtung betrachtet werden, legt man Haraways Forderung nach einer Umorientierung der Erzählweise zugrunde.

12 Ebd., S. 415. 13 Ebd., S. 426f. 14 Haraway (wie Anm. 10).

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PROTHETISCHE SEELE: HYSTERISCHE MÄNNER UND MASCHINEN IM COMPUTERADVENTURE SYBERIA Der Medienpädagoge Stefan Aufenanger betont in seinem Aufsatz „Invasion aus unserer Mitte: Perspektiven einer Medienanthropologie“, dass sich der Mensch unter den Vorzeichen je neuer Medien immer wieder anders definieren muss: Die Frage nach dem Menschsein muss andauernd neu bestimmt werden. Und dies unter den Bedingungen, dass es hierbei nicht mehr nur um den Menschen im traditionellen Sinn geht, sondern um einen erweiterten Menschen. Erweitert in dem Sinne, dass die Beziehungen des Menschen zu seiner Außenwelt nicht mehr nur alleine über seine Organe, sondern überwiegend mit Hilfe von Technik bzw. Medien hergestellt werden.1

Aufenangers Meinung nach ist die Geschichte des Menschen untrennbar mit der Geschichte seiner Medien verbunden – der Freud’sche ‚Prothesengott‘ versteht sich im 20. Jahrhundert verstärkt als ein medial erweitertes Wesen. Die Frage, was den Menschen zum Menschen macht, wird in westlichen Kulturen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert an fiktionalen Maschinenmenschen obsessiv verhandelt. Sie taucht gerade dort auf, wo sich – wie heute angesichts des Aufkommens neuer Medien – Normen des Menschlichen nicht mehr von selbst verstehen. Automaten, Roboter und Cyborgs fungieren immer wieder als das Andere einer menschlichen und männlichen Körpernorm, die sich auf ihre eigene Natürlichkeit und damit auf die vermeintliche Stabilität dieser Norm beruft. Die Norm ist naturalisiert, sie erscheint beim Menschen völlig natürlich. Im Gegensatz dazu wirft die Hybridität von Maschinenmenschen die Frage auf, inwieweit Kategorien des Menschlichen selbst künstlich sind. 1 Aufenanger, Stefan: „Invasion aus unserer Mitte: Perspektiven einer Medienanthropologie“, in: medien praktisch, Jg. 25, Nr. 1, 2001, S. 8.

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Mit der Künstlichkeit von Maschinenmenschen kommen die Brüche in symbolischen und sozialen (Körper-)Ordnungen zur Sprache. Die Norm des Menschlichen wird auf ihre Künstlichkeit hin hinterfragt. Maschinenmenschen stehen für jeweils unterschiedliche, aber oft für die jeweils neuesten Technologien – auch Medientechnologien –, mit deren Hilfe Leben, Bildung und eine menschliche Seele simuliert werden können. Wie alle, die den Status des ‚Anderen‘ haben, müssen sich künstliche Wesen erst als vollwertige Menschen und handelnde Subjekte beweisen. Der nicht über ein Geburtsrecht abgesicherte Status des Anderen verweist auf das Körperliche als Grenzziehungsphänomen. An seinem Beispiel lässt sich verdeutlichen, dass die Normen des Menschlichen entlang von Körpergrenzen definiert werden und dass diese Körpergrenzen immer medial vermittelt sind.2 Entsprechend hart wird um die Abbildungskonventionen von Körpern etwa in Datenräumen, im so genannten Cyberspace, heute heftig gestritten, und Computerspiele sind Teil dieses Bilderstreits.3 An künstlichen, virtuellen Körperbildern werden die Abbildungsnormen verhandelt, die für menschliche Körper scheinbar natürlicherweise gelten – und gerade in ihrer Geschlechtlichkeit erweisen sich die künstlichen Körper als überdeterminiert.4 Es lässt sich folgern, dass eine Geschichte der Geschlechterverhältnisse heute ohne die Einbeziehung von medialen Kontexten nicht mehr auskommt. In der Tat haben feministische Theoretikerinnen wie Teresa de Lauretis, Marie-Luise Angerer oder Sandy Stone Prozesse des doing gender direkt auf den Film bzw. die digitalen Medien bezogen.5 An der langen Tradition fiktionaler Maschinenmenschen ist wiederum abzulesen, dass die Beziehungen der Geschlechter mit den Grenzziehungen 2 Siehe z.B. Butler, Judith: Bodies That Matter: On the Discursive Limits of „Sex“, New York/London 1993. 3 Zum Streit um Bildmonopole siehe Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 11. 4 Diese Eindeutigkeit der Geschlechtsmerkmale gilt sowohl für weibliche wie auch männliche Körperbilder in vielen Comics und Computerspielen. Siehe Bukatman, Scott: „X-Bodies (the torment of the mutant superhero)“, in: Sappington, Rodney/Stallings, Tyler (Hrsg.): Uncontrollable Bodies: Testimonies of Identity and Culture, Seattle/WA 1996, S. 93-129. 5 Siehe Lauretis, Teresa de: Technologies of Gender: Essays on Theory, Film, and Fiction, Bloomington/Indianapolis 1987; Angerer, Marie-Luise: „Medienkörper: Zur Materialität des Medialen und der Materialität der Körper“, in: Hepp, Andreas/Winter, Rainer (Hrsg.): Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse [1997], Opladen/Wiesbaden 21999, S. 307318 und Stone, Allucquère Rosanne: The War of Desire and Technology at the Close of the Mechanical Age, Cambridge/Mass. 1995.

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zwischen Mensch, Medien und Maschinen zu tun haben. So gibt Frankensteins künstliches Wesen seinem Schöpfer und seinen LeserInnen seit Beginn des 19. Jahrhunderts Anlass, sich nicht nur über die Abgrenzung zwischen Mensch und Technologie, Natürlichkeit und Künstlichkeit Gedanken zu machen, sondern diese im Zusammenhang mit der Frage geschlechtlicher Identität zu reflektieren. Enttäuschte Liebe zu seinem ‚Vater‘ motiviert das namenlose, vom Aussehen her eindeutig männliche Wesen, alle Menschen zu töten, die sein Schöpfer liebt. Mitgefühl ist von nun an für alle Maschinenmensch-Konstrukte das entscheidende Kriterium, um ihre Menschlichkeit festzustellen. Mitgefühl und damit Menschlichkeit bedeutet in Frankenstein allerdings, den verwundbarsten Punkt des Gegenübers zu erkennen, und das ist hier die sexuelle Identität des Mannes.6 Über viele Seiten hinweg ergehen sich Vater und Sohn in hysterischen Klagen darüber, wie der jeweils Andere durch seine Angriffe die eigene Männlichkeit – und damit die eigene Menschlichkeit – in Frage stellt. Menschlichkeit und geschlechtliche Identität sind bei Maschinenmenschen seit Frankenstein eng miteinander verknüpft. Je stärker die Menschlichkeit und damit das Mitgefühl des Menschen von seinem künstlichen Gegenüber in Frage gestellt wird, umso mehr gerät seine Männlichkeit in Bedrängnis. Die junge Autorin Mary Shelley macht klar, dass der männliche Drang zur ungeschlechtlichen (Selbst-)Reproduktion keine Lösung für die Verunsicherung männlichen Selbstverständnisses darstellt: Auch der künstlich erschaffene Sohn verstrickt den Schöpfer in ein ödipales Dilemma. Ausgehend von Mary Shelleys berühmtem Beispiel für die enge Beziehung von Männern, Maschinen und Hysterie, möchte ich das französische Computer-Adventure SYBERIA untersuchen, das 2002 auf den Markt kam7 und das wie viele Computerspiele8 Begegnungen mit Ma6 Dies gilt auch für die mit Hilfe kybernetischer Technologien hergestellten Androiden in Philip K. Dicks Do Androids Dream of Electric Sheep? oder in der darauf basierenden Filmadaption BLADE RUNNER von Ridley Scott. Die mit Hilfe der neuesten Technologien konstruierten künstlichen Wesen simulieren die Menschen perfekt. Von den Menschen unterscheidet die Androiden einzig, dass ihnen meistens das Mitgefühl fehlt. Der blade runner, der die Maschinenmenschen auf der Erde aufspüren und töten soll, überprüft die ‚Authentizität‘ eines Wesens allerdings vor allem mit Hilfe von Fragen, die darauf abzielen, neben dem Mitgefühl die geschlechtliche Identität des Gegenübers zu überprüfen. 7 Der zweite Teil des Adventure ist Anfang 2004 bereits auf Englisch erschienen, die deutsche Übersetzung kam im Mai 2004 auf den Markt. 8 Gerade auf dem Gebiet der Action-Spiele gibt es viele Beispiele für Cyborgs und Mutanten, etwa DEUS EX, FAR CRY oder UNREAL TOURNAMENT.

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schinenmenschen zum Thema hat. Seine US-amerikanische Protagonistin durchquert das zeitgenössische Europa von West nach Ost auf der Suche nach Hans Vorarlberg, einem genialen Konstrukteur intelligenter Automaten, der vor Jahrzehnten spurlos verschwunden ist. Ihre Reise führt sie an längst aufgegebene Industriestandorte, lässt sie verfallende Architekturen kapitalistischer und sozialistischer Arbeitswelten erforschen, bringt sie in Kontakt mit maschinenhaften Menschen und menschenähnlichen Maschinen. Diese ‚spielerischen‘ Mensch-Maschine-Schnittstellen sollen auf Körperkonzepte und Geschlechterbeziehungen, auf ihre Körpergeschichten hin analysiert werden.

SYBERIA als Computer-Adventure Der bekannte, auch ins Deutsche übersetzte belgische Comiczeichner Benoît Sokal9 ließ sich mit dem Adventure10 AMERZONE im Jahr 2000 auf die Produktion von Computerspielen ein. AMERZONE ist ein Spiel, bei dem ähnlich wie in der Adventure-Serie MYST11 grafische und ästhetische Perfektion im Vordergrund stehen. SYBERIA ist mit seinen spielerisch und ästhetisch anspruchsvollen Maschinen und seinen aufwändig gestalteten Spiel-Räumen ebenfalls Teil dieser Tradition. In SYBERIA spielen allerdings Interaktionen zwischen Figuren und damit Dialoge eine größere Rolle als in frühen MYST-Folgen oder in AMERZONE. SYBERIA setzt die Entwicklung der Heldin von einer Geschäftsfrau zu einer Abenteurerin in Szene, die von der Suche nach einem verschollenen Erben besessen ist. Die Entwicklung der Protagonistin zeigt sich in den Interaktionen mit menschlichen und künstlichen Männern, gegen die sie sich durchsetzen muss. Die heutigen grafischen Adventures stammen von ihren schriftbasierten Vorfahren aus den 1970er Jahren ab und teilen deren Grundeigenschaften: Sie sind erzähllastig, legen oft Wert auf komplexe Charakterdarstellungen und besitzen die Struktur von Questen. Im Adventure wird 9 Benoît Sokal wurde auch in Deutschland mit seinen Canardo-Comics bekannt. Siehe etwa Sokal, Benoît: Unschuldig! Ein Fall für Inspektor Canardo, München 2003. Die Bde. 1-5 sind beim Carlsen-Verlag erschienen. 10 Das Spiel ADVENTURE gab dem Genre 1972 den Namen und löste neben Buchveröffentlichungen ähnlicher Machart eine Flut von Computer-Einzelplatz- und -Netzwerk-Adventures aus. Adventure-Computerspiele wurden auf lange Sicht erfolgreicher als die Print-Versionen des Genres. 11 Der erste Teil dieser Serie erschien bereits 1993. MYST ist bis heute eines der wissenschaftlich meistbeachteten Computer-Adventures und sorgte mit dafür, dass dieses Genre in universitären Kreisen recht angesehen ist.

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die Spielerin auf dem Bildschirm durch einen Avatar, eine Spielfigur vertreten. Sie sucht nach Anhaltspunkten, befragt non-player characters (Spielfiguren, die keine menschlichen Mitspieler vertreten) und löst Rätsel.12 Erzählende Abschnitte in Videosequenzen, welche der Handlung historische Tiefe verleihen und der Spielerin Informationen an die Hand geben, wechseln sich mit Spielpassagen ab, in denen die Spielfigur Räume erforscht und Personen befragt. Viele Adventures erinnern an gespielte Romane oder Spielfilme. SYBERIA etwa besitzt expositorische Elemente, es dominieren Dialoge, in denen Figuren eine gewisse psychologische Tiefe an den Tag legen, die Handlung entwickelt sich nicht nur stringent, sondern steuert auch auf ein eindeutiges, spielerisch nicht beeinflussbares Ende zu. Während Adventures aufgrund ihrer Komplexität bei Handlung und Charakterzeichnung seitens der (Literatur-)Wissenschaften besondere Beachtung finden, gehören sie in SpielerInnenkreisen heute zu den wenig populären Genres und kommen nur noch selten in so reiner Form vor wie in dem klassischen point-and-click-Adventure13 SYBERIA. Hier stehen nicht, wie bei den populäreren Ego Shooters Schnelligkeit und Geschicklichkeit im Vordergrund, sondern das schrittweise Erkunden einer vor allem ästhetisch ansprechenden, detailreichen Welt. Navigiert wird ein Avatar, der die Spielerin in Gestalt von Kate Walker vertritt. Eine der Hauptregeln in SYBERIA ist, dass dieser Stellvertreterin im Gegensatz zu den Figuren der meisten action-orientierten Spiele bei ihrer Reise durch

12 Die Suche bestimmt die Struktur des Adventure. Im gedruckten Adventure hat die Leserin zu bestimmten Zeitpunkten der Handlung die Wahl zwischen verschiedenen Aktionen bzw. Antworten, die ihrerseits Einfluss auf den weiteren Handlungsverlauf nehmen: Je nach gewählter Aktion springen die Lesenden zu einem anderen Punkt im Geschehen bzw. zu einer anderen Seite im Buch und können somit neue Handlungsalternativen wahrnehmen – das Prinzip beruht auf der Interaktion zwischen Leserin und medialem System. Die populärsten digitalen Grafik-Adventures der 1980er und 1990er Jahre von KING’S QUEST über LEISURE SUIT LARRY zur MONKEY ISLAND-Serie folgten demselben Prinzip wie die Drucktexte und waren wie SYBERIA Einzelplatzspiele. Heute zeichnen sich pen-and-paper- und digitale Rollenspiele, an denen sich viele SpielerInnen beteiligen, durch AdventureMerkmale aus. 13 Der Name point-and-click-Adventure ist darauf zurückzuführen, dass die Spielerin mit dem Mauszeiger auf Gegenstände am Bildschirm zeigt und auf Maustasten klickt, um Aktionen wie „gehe zu“, „nimm“ oder „untersuche“ ausführen zu können. Diese Technik ist wenig aufwändig umzusetzen, aber auch langsam und ermöglicht nur wenige, kaum differenzierte Aktionen.

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die computergenerierte Welt zumindest kein physisches Leid zugefügt werden kann. Das Interface, die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine, muss also nicht wie bei einem Ego Shooter auf schnellstmögliche Reaktionen abgestimmt sein, sondern ist relativ träge aufgebaut. Räume zeichnen sich dementsprechend nicht dadurch aus, dass sich bei Standortwechseln die Perspektive sofort fließend verändert, wie dies inzwischen bei 3D-Actionspielen der Fall ist. Vielmehr dominieren tableauartige, zweidimensionale Raumeindrücke, die an einzelne Perioden der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts erinnern und mit jeweils charakteristischer Orchestermusik stimmungsvoll untermalt sind. Man bewegt sich durch ästhetisch komplexe Grafik- und Klangräume, die zum Verweilen einladen. Die Soundeffekte wurden auf einzelne Oberflächentexturen fein abgestimmt, so dass sich etwa Trittgeräusche je nach Untergrund verändern und spieltechnisch präzise Rückmeldungen über die Beschaffenheit der Räume an die Nutzerin geben. Neben optischen Eindrücken dominieren akustische.14 So lassen sich über Stimmlage und Klang einer Stimme auch ‚menschliche‘ Aktanden von ‚maschinellen‘ unterscheiden. SYBERIA eröffnet der Spielerin eine computergenerierte Welt, die trotz zweidimensionaler Grafik und teilweise mangelhafter Akustik sehr sinnliche Reiseeindrücke vermittelt.

Reise in die Vergangenheit Bei Sokals Spiel handelt es sich nicht um ein Science-Fiction-Szenario. Vielmehr betritt die Nutzerin eine zeitgenössische Welt, die durchaus an die unsere erinnert: ein Europa ohne Eisernen Vorhang, aber mit deutlichem West-Ost-Gefälle, das es seiner Geschichte verdankt. Kate Walker, Rechtsanwältin bei einer großen New Yorker Anwaltskanzlei, lernt bei ihrer Ankunft in Valadilène ein Frankreich kennen, das alle Kennzeichen einer vergangenen, von ihr längst vergessen geglaubten großbürgerlichen Kultur trägt, die sie so nicht kennt. Die antiquierten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, welche die Amerikanerin im alten Europa vorfindet, stehen im Widerspruch zu den Anforderungen, die ihr Auftrag an sie stellt. Kate soll in den französischen Alpen in Verhand14 Allerdings gehört es zu den Kritikpunkten an dem hier besprochenen Teil I und dem neueren Teil II von SYBERIA, dass die Synchronisation der Figuren lieblos gestaltet ist. So wurden keine bekannten Schauspielerinnen und Schauspieler eingesetzt, und die Qualität der Sprachaufnahmen lässt zu wünschen übrig.

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lung mit Anna Vorarlberg treten, um der betagten Europäerin im Namen eines multinationalen Konzerns ihre Automatenfabrik abzukaufen und diese neuen Produktionsmethoden zuzuführen. Bei Beginn der einführenden Videosequenz steht Kate an einem verhangenen, regnerischen Tag mit aufgespanntem Regenschirm und einem Koffer an ihrer Seite am Straßenrand und beobachtet einen Leichenzug (Abb. 1). Später wird sie erfahren, dass Anna Vorarlberg von ihren Automaten zu Grabe getragen wurde. Das Spiel ist somit von Anfang an durch das Gefühl des Verlustes gekennzeichnet. Der Auftrag, der Kate nach Europa geführt hat, wird mit dem Tod der Vertragspartnerin scheinbar obsolet, und die Protagonistin muss ihre Mission entweder für gescheitert erklären oder ihre Aufgabe neu definieren. Kate gibt nicht auf und erkundet Aufbau und Geschichte der ihr fremden Welt, um ein neues Ziel zu finden und zu verfolgen. Von Frankreich aus macht sie sich auf die Suche nach Annas Erben, ihrem vor vielen Jahrzehnten verschollenen Bruder Hans, dem Konstrukteur einerseits antiquierter, andererseits genialer Automaten. Seine Konstruktionen folgen einem rein mechanischen Prinzip und werden durch einen Aufziehmechanismus in Bewegung gesetzt, laufen allerdings fast unendlich lange. Kate Walker trägt den Vornamen einer widerspenstigen Frau der Weltliteratur, und ihr Nachname kennzeichnet sie als ein Wesen, das ständig in Bewegung ist. Im Verlauf ihrer Reise lernt sie denn auch, sich unter den ihr zunächst fremden und sich ständig verändernden Bedingungen immer wieder neu zu definieren und doch zu behaupten. Dabei wird aus der erfolgsorientierten, aber eher zurückhaltenden Geschäftsfrau, die bedingungslos die Interessen ihres Auftraggebers, der multinationalen Universal Toys Company vertritt, eine selbstbewusste Person, die eigene Interessen entwickelt. Ökonomische Ziele treten in den Hintergrund, während die Amerikanerin Kate die Alte Welt immer weiter nach Nordosten in Richtung Sibirien durchquert.15 15 In SYBERIA II verschlägt es Kate nach Unterzeichnung des Vertrags durch den wiedergefundenen Erben gemeinsam mit Hans weiter in den Osten, in Richtung Sibirien, das dem Spiel den Namen gibt. Dabei lernt sie eine vorindustrielle, winterliche Welt kennen, die als letzter Vorposten der Zivilisation an den amerikanischen Westen erinnert. Diese scheinbar ‚natürliche‘ Landschaft ist durch den Willen zur Besitznahme gekennzeichnet. Hier regieren männliche Ichbezogenheit, Unwissenheit und Beschränktheit ebenso wie im Westen. Kate trifft jedoch auch auf die Youkols, ein sehr altes Volk, das sich von Mammuts ernährt und in der Schamanin eine machtvolle weibliche Figur verehrt. Allerdings befindet sich Kate diesem Volk gegenüber ebenso in der Bringschuld wie gegenüber den Menschen der fordistischen und postfordistischen Arbeitswelten. Jenseits der Zivilisation geht es

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Auf der Suche nach ersten Anhaltspunkten für Hans’ Verbleib durchquert Kate zuerst Valadilène. Das Dorf wird durch die Vorarlberg’sche Fabrik (Abb. 2) dominiert, in der Automaten in Fließbandarbeit andere Automaten herstellen. Die Manufaktur/Fabrik stammt aus der Zeit um die Wende zum 20. Jahrhundert und ist im Jugendstil gehalten. Sie besitzt alle Eigenschaften der europäischen Industriearchitektur um die Jahrhundertwende: die Backsteinoptik zeichnet sich durch eine dynamisch geschwungene Linienführung aus, tragende Elemente sind hinter der Fassade verborgen, Stützen, Aufzüge, Geländer und Treppen sind mit pflanzenartigen Dekorationen aus Eisen geschmückt. Auch die Kirche, der Friedhof und einige Wohngebäude sowie alle Innenräume sind in diesem Stil gehalten und mit farbigem Glas und aufwändigen Holzarbeiten verziert. Der Bahnhof ist eine beeindruckend filigrane und helle Eisen-Glas-Konstruktion. Kate findet heraus, dass das Geschwisterpaar Vorarlberg seine Kindheit in Valadilène verbracht hat. Die Idylle wurde jäh zerstört, als Hans nach einem Unfall in mancher Hinsicht geistig zurückgeblieben schien. Vom Vater verleugnet, verließ Hans Valadilène und überließ damit die Fabrik der Obhut seines Vaters und später seiner Schwester, die hier weiterhin seine Automatenentwürfe umsetzte. Kate durchsucht die Fabrik, bringt die stehen gebliebenen Maschinen wieder zum Laufen und greift in die Produktionsprozesse ein: Es gelingt ihr, Hans’ genialste Erfindung fertig zu stellen, einen Maschinenmenschen, dem bei ihrer Ankunft noch die hölzernen Beine fehlen. Der Automat besteht nicht nur aus alten Materialien wie Holz und Eisen, sondern erweist sich auch als altmodisch-höflicher Geselle mit exzellenten Umgangsformen. So begrüßt er nach seiner Vollendung Kate mit den Worten: „Erlauben Sie mir, mich [...] vorzustellen. Mein Name ist XZ 2000, gewöhnlichen Sterblichen auch als Oscar bekannt. Ich stelle eine technologische Glanzleistung dieser Manufaktur dar und wurde entwickelt, um eine Lokomotive zu steuern.“ Oscar besteht darauf, als Automat bezeichnet zu werden, denn: „Automaten haben eine Seele, wissen Sie?“ Der exaltierte Maschinenmensch verkündet, dass er Kate von nun an auf der Suche nach seinem Konstrukteur begleiten werde. Oscars Beruf ist ihm Berufung. Schließlich gilt Lokomotivführer bis heute als einer der klassischen männlichen Traumberufe, der zugleich für eine modernistische Auffassung von einer gewaltigen, aber durch den Mann kontrollierten Maschine und damit für machtvolle Männlichkeit steht. Oscar hat also das Steuer in der Hand, wenn es darum geht, mit eiweiter auf den Spuren von Hans’ Traum nach der Insel Syberia, auf der die letzten Mammuts überlebt haben.

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nem ebenfalls von Hans entwickelten mechanischen Zug nach Osten zu fahren. Immer wieder erinnert der Automat Kate daran, dass sie als Passagier und Frau ihm gegenüber keinerlei Weisungsbefugnis besitzt. Sobald Kate nicht nur Valadilène, sondern auch die Umgebung vollständig nach Anzeichen für Hans’ Anwesenheit durchsucht und alle Formalitäten, die Oscar ihr auferlegt, erledigt hat, tut sich ein weiterer Raum vor ihr auf, den sie wiederum erforschen muss, um zu anderen Orten aufbrechen zu können. Es existieren insgesamt vier große Raumwelten in SYBERIA: Valadilène in den französischen Alpen, das deutsche Barrockstadt, das weiter östlich liegt, das russische Komkolzgrad und Aralbad, ein ehemals berühmtes, inzwischen aber verlassenes Heilbad am ausgetrockneten Aralsee. Bei der Erschließung eines jeden Ortes trifft Kate auf die meist männlichen Figuren, die diesen Ort mit ihren Obsessionen beherrschen.16 Sie selbst ist getrieben durch den Wunsch, Hans zu folgen, der seinerseits davon träumt, die wenigen überlebenden der ansonsten ausgestorbenen Mammuts Sibiriens zu finden. Am Ende von SYBERIA wird Kate Hans zwar aufspüren und ihn den Vertrag über den Verkauf seiner Fabrik unterzeichnen lassen, ist aber damit noch nicht am Ziel ihrer persönlichen Queste angelangt. Vielmehr wird sie kurz entschlossen auf seinen abfahrenden Zug aufspringen, um ihn auf seiner Reise zu begleiten. Spätestens hier wird klar, dass sich ihre Prioritäten verschoben haben: Anstatt berufliche Ziele zu verfolgen, macht sie die Obsession des Konstrukteurs zu ihrer eigenen. Das dem Namen nach deutsche Barrockstadt ist die zweite Station auf Kates Weg, eine Universitätsstadt, die bessere Zeiten gesehen hat. So sind die Wohnhäuser längst verfallen. Der riesige Jugendstil-Bahnhof, in den der Zug einfährt, fungiert zugleich als Schleuse (Abb. 3) und als eine Art riesiger Wintergarten, der von vielen exotischen Vögeln bewohnt wird. Sein Tragwerk ist in spektakulären Bögen weit über das Wasser gezogen. Der Bahnhofsvorsteher führt Kate in die Gesetze des Ortes ein: Die männlichen Professoren der Universität sind nur daran interessiert, ihre Macht zu erhalten und kein Herrschaftswissen preiszugeben. 16 Es ist bemerkenswert, dass im gesamten ersten Teils des Spiels außer Kate nur vier weibliche Figuren eine Rolle spielen: Anna Vorarlberg, die beim Eintreffen der Protagonistin bereits verstorben ist, eine namen- und sprachlose Gärtnerin in Valadilène, eine Schifferin, die gemeinsam mit ihrem Mann Kate beim Verlassen von Barrockstadt behilflich ist, und eine Sängerin, die Kate im Auftrag des Fabrikbesitzers in Komkolzgrad aufspüren muss. Die allermeisten Figuren und alle Automaten sind männlichen Geschlechts.

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Dementsprechend abweisend und schwer wirkt das Universitätsgebäude (Abb. 4), das vom Bahnhof aus erschlossen ist. Sein monumentaler Stufenaufbau strahlt autoritäre Strenge aus, und vier riesige Mammutstandbilder halten vor dem Hauptgebäude Wache, die ebenso wie die Saurierskelette in der Eingangshalle auf eine vorgeschichtliche Zeit verweisen. Die Bibliothek, die über zwei Stockwerke reicht, wird von einer Kuppel aus Eisen und farbigem Glas überspannt, auf einem Fries unter der Kuppel ist zu lesen: „Natura non facit saltus“, ein Hinweis auf die Kontinuität zwischen Epochen, die das Spiel inhaltlich und formal immer wieder betont. Kate trifft in dieser fast menschenleeren Bildungsstätte nur auf vier stumme (männliche) Studenten und muss ganz allein der mächtigen Universitätsleitung gegenübertreten, um sie um Hilfe zu bitten. Von einem Podium herab beschweren sich die bornierten Professoren darüber, überhaupt gestört zu werden, und stellen immer weitere Forderungen wie die nach Instandsetzung verschiedener Automaten und Maschinen aus Hans’ Produktion. Unter den technischen Wunderwerken findet sich etwa ein mechanisches Kammerorchester, das vor dem Eingang steht und die musische Seite der Universität zur Schau stellt, allerdings hinter den Mammutstatuen fast verschwindet. Barrockstadt ist durch eine riesige Mauer vom Rest der Welt abgeschottet. Um die Stadt verlassen zu können, muss Kate deshalb dafür sorgen, dass das einzige Tor, gesichert durch eine von Hans geschaffene komplexe Mechanik, für den Zug geöffnet wird. Kapitän Malatesta, Chefkommandant des Grenzpostens von Barrockstadt und trotz seines beeindruckenden Titels der einzige verbliebene Soldat, will Kate davon abhalten, das Risiko einer Reise über seinen Militärposten hinaus einzugehen. Er ist sicher, dass ein übermächtiger Feind vor den Toren der Stadt lauert. Kate muss ihm beweisen, dass er bei seinen Befürchtungen einer optischen Täuschung erlegen ist: „Kapitän, erlauben Sie mir die Bemerkung, dass mir das militärische Selbstverständnis, mit dem sie eine völlig unnütze Mauer verteidigen, [...] absurd erscheint.“ Der Kommandant lässt sich rhetorisch jedoch nicht überzeugen und bleibt überheblich: „Ich könnte Ihre Worte jetzt als Beleidigung auffassen, aber ich verzeihe Ihnen. Sie sind jung und sich der wirklichen Gefahren, die uns drohen, nicht bewusst.“ Kate muss den Kommandanten ihrerseits täuschen, um ihn von seiner Kurzsichtigkeit zu ‚heilen‘, bevor ihr erlaubt wird, die Stadt in Richtung Osten zu verlassen. Das russische Komkolzgrad ist die nächste Station auf Kates Reise. Eine Dunstglocke am Horizont kündigt schon von ferne den ehemals

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wichtigen Industriestandort an, haushohe Automaten am Bahnhof tragen mit Hammer und Sichel die Symbole des Arbeiter- und Bauernstaates zur Schau (Abb. 5). Nach dem Zweiten Weltkrieg baute Hans hier Automaten, diesmal als Arbeitsmaschinen, welche die menschlichen Arbeiter entlasten und das Projekt der sowjetischen Modernisierung vorantreiben sollten. Die Gebäude verweisen auf die Tradition sachlicher Industriearchitektur nach dem Zweiten Weltkrieg, gigantisch und schmucklos. Hier finden sich nicht nur Bergwerksschächte und ein riesiges Stahlwerk, sondern auch eine Raumfahrtstation, von der Raketen ins All geschossen werden sollten. Doch inzwischen haben alle Arbeiter Komkolzgrad verlassen, geblieben sind nur ein besessener ehemaliger Direktor und ein ständig betrunkener gescheiterter Raumfahrer, der es nie in den Weltraum geschafft hat. Während die Oberflächen hier rein funktional gestaltet sind, besticht dieses strenge architektonische Szenario durch seine Ausleuchtung. Alle Räume in Komkolzgrad sind in unterschiedliches farbiges Licht getaucht, das die Bedienelemente und die offenen Kabelschächte und Rohre unheimlich erscheinen lässt und gespenstische Schatten wirft (Abb. 6). Die Architektur in SYBERIA hat viele Gesichter.

Architektur und Geschlecht In der Aufsatzsammlung Studs: Architectures of Masculinity weist Joel Sanders darauf hin, dass die Theorie der Architektur schon immer geschlechtsspezifisch vorgeht, […] comparing built structures to masculine virtue, claiming buildings have integrity, just like men. [...] [This] narcissistic proclamation echoes the words of Western architects and theorists from Vitruvius to Le Corbusier who, in their attempt to locate and to fix architecture’s underlying principles in a vision of transhistorical nature, recruit masculinity to justify practice.17

Sanders betont, dass von der Antike bis zum 20. Jahrhundert der männliche Körper in seiner Geschlossenheit als Vorbild für das perfekt konstruierte Bauwerk gilt. Wie andere wissenschaftliche Ansätze operieren auch Architekturtheorien mit einem Bild vom zentrierten, in sich ruhenden männlichen Körper, „[which] ultimately reveals architecture and

17 Sanders, Joel: „Introduction“, in: ders. (Hrsg.): Studs: Architectures of Masculinity, New York 1996, S. 11.

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masculinity to be mutually reinforcing ideologies, each invoking the other to naturalize and to uphold its particular claims and intentions.“18 Architektur ist ein tragendes Element in SYBERIA. Die perfekt gestalteten Fassaden und prunkvollen Innenräume sind ein Anreiz für viele, das Adventure überhaupt zu spielen. Bauwerke stimmen die Spielerin atmosphärisch ein und führen nicht nur den Status, sondern auch die Geisteshaltung ihrer Bewohner vor Augen. Alle Gebäude erscheinen – wie die Menschen, die sie bewohnen – einsam und abweisend. Es gehört einiges Geschick dazu, die verschlossenen Tore, Türen und Schubladen, die versteckten Treppen, Leitern und Verbindungsschächte, die labyrinthischen Gänge und die Irrgärten zu betreten. Die im Jugendstil geschmückten oder modernistisch-funktionalen Fassaden verbergen mehr als sie offenlegen. Im Zusammenspiel mit den ebenfalls schönen, aber rätselhaften Maschinen und Automaten, die Eingänge bewachen oder verstellen, gibt die Architektur ebenso Rätsel auf wie die Männer, die sie erbaut haben und verwalten. Diese Eigenschaft verweist auf den Gegensatz zwischen männlich und weiblich konnotierten Elementen der Architektur, die Sanders einander gegenüberstellt: „By identifying manliness as ‚genuine‘ and womanliness as ‚artifice‘, architects since Vitruvius have associated the ornamented surface with femininity, not masculinity.“19 Kates bzw. unser Einsatz sorgt dafür, dass sich die Gebäude in SYBERIA auftun und ihre bisher verschlossenen Seiten preisgeben. Außen- und Innenwandoberflächen, die anfänglich wehrhaft geschlossen und resistent gegen Eindringlinge scheinen, erweisen sich letztlich als artifiziell, verspielt, veränderbar und durchlässig. So macht der Blick auf die das Spiel prägende Architektur verschiedene traditionell geschlechtsspezifisch gefasste Aspekte sichtbar: Zu Authentizität tritt Performanz, aus Integrität wird Täuschung, Stabilität verbirgt Verwundbarkeit. Diese widersprüchlichen Eigenschaften der historischen Bauwerke und Arbeitswelten in SYBERIA verweisen implizit und explizit auf Eigenschaften der Körper in diesem Spiel. Auch Körper, d.h. in diesem Adventure vor allem männliche Körper und ihre technischen Nachbildungen, zeichnen sich gleichermaßen durch Wehrhaftigkeit und Verwundbarkeit aus.

18 Ebd., S. 11f. 19 Ebd., S. 12f.

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Männlichkeit und Hysterie Oscar entschuldigt sich bei der ersten Begegnung mit Kate dafür, ihr „in diesem unfertigen Zustand entgegen zu treten“. Kaum hat Kate den gepanzert wirkenden Maschinenmenschen durch ein Paar Beine vervollständigt und ihm damit die Chance gegeben, selbstständig ins Leben hinaus zu treten, werden ihm in Komkolzgrad seine Hände gestohlen (Abb. 7). Oscar ist völlig verzweifelt, kann er doch jetzt seinen Aufgaben als Zugführer nicht mehr nachkommen. Allerdings versichert er Kate wie schon zuvor in Barrockstadt, dass er den Zug auf der Suche nach seinen Händen selbst nicht verlassen kann, da seine Konstitution das rauhe Klima nicht vertrage. Umgekehrt darf Kate auf keinen Fall einspringen und seine Aufgaben übernehmen. Oscar macht ihr unmissverständlich klar, dass sie sich wie er an die Gesetze seiner Welt – und das ist die Welt seines Schöpfers, Hans Vorarlberg – halten muss: „Es gibt nur einen Lokführer, und der bin ich. [...] Vorschrift ist Vorschrift, Kate Walker.“ So macht sich Kate wieder allein auf den Weg in die dunkle, unheimliche Fabrik und die verlassenen unterirdischen Stollen des Bergwerks. Hier frönt der Fabrikdirektor von Komkolzgrad, der wie das Phantom der Oper eine Maske trägt, die sein Gesicht verbirgt, seiner persönlichen Obsession: Er ist besessen von dem Gedanken, eine einst berühmte Opernsängerin für einen Auftritt nach Komkolzgrad zu holen. Der Direktor hat Oscar verstümmelt, weil er mit den nach seiner Aussage „diabolisch“ perfekten Händen des Automaten seinen eigenen, von Hans nicht vollendeten mechanischen Orgelspieler vervollständigen wollte. Der Automat soll die Sängerin auf seinem Instrument begleiten, sobald Kate die Diva aus Aralbad entführt hat. Der Direktor erweist sich als ebenso ichbezogen wie Kapitän Malatesta oder die Professoren in Barrockstadt. Alle Männer baten einst Hans darum, Maschinen für ihren ganz persönlichen Gebrauch zu konstruieren. Jetzt wollen sie sich nur noch von der Außenwelt abschotten, um sich vereinsamt ihren persönlichen Obsessionen hinzugeben, und setzen Kate unter Druck, damit sie die Ausführung der wahnhaften Pläne unterstützt. In dieser Funktion setzt Kate das Werk von Hans Vorarlberg fort. Hans’ Automaten und Mechanismen setzen das Begehren seiner Auftraggeber in die Tat um. Seine männlichen Automaten genügen somit zwei Ansprüchen: Zum einen dienen sie der Konkretisierung männlichen Begehrens, einer verantwortungslosen, allein aufs Ich bezogenen Leidenschaft, die sich nicht auf ein Gegenüber hin öffnet, sondern sich den An-

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deren und deren Bedürfnissen völlig verschließt. In diesem Sinne stehen Hans’ Automaten in der langen Geschichte der Maschinenmenschen, die den männlichen Traum vom perfektionierten Wesen realisieren sollen. Zum anderen erfüllen die Automaten den Wunsch nach einer Junggesellenmaschine, einer technischen Selbstreproduktion des menschlichen/ männlichen Körpers.20 Junggesellenmaschinen sollen die Schwachstellen des Lebendigen aus der Welt schaffen: sexuelle Verführbarkeit und Schwäche ebenso wie Krankheit, Tod und Verfall. Junggesellenmaschinen treten in Zeiten der Körperhysterie auf, und zwar dann, wenn geschlechtsspezifische Brüche im Menschenbild wahrgenommen werden, wenn also kein Konsens mehr darüber herzustellen ist, wie die geschlechtsspezifischen Normen beschaffen sind oder sein sollen. Die Abgrenzung zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit wird zum Problem, wenn die Unterscheidung nicht mehr wie bisher im Rahmen naturalisierender Körperdiskurse vorgenommen werden kann, wenn also die symbolische und mit ihr die gesellschaftliche Ordnung nicht mehr in der Lage ist, Körper ohne weiteres zur Ordnung zu rufen. Oscar erfüllt ebenso wie seine Maschinenbrüder die Idee der so genannten funktionalen Simulation;21 sie simulieren ausgewählte menschliche Funktionen perfekt. Die androiden Geschöpfe, denen Kate auf ihrer Reise begegnet, besitzen alle sowohl eine fest umrissene menschenähnliche Gestalt als auch klar definierte Aufgaben. Wie jedoch das Beispiel Oscars zeigt, sind nicht nur die seelenlosen Roboter-Automaten – wie das rein mechanisch operierende Orchester – anfällig für technische Mängel. Vielmehr weisen auch die mit Intelligenz ausgestatteten Maschinenmenschen eine Schwachstelle auf: Sie besitzen eine angreifbare Identität. Oscar ist laut Kate „ein kleines mechanisches Wunder und sehr eigensinnig, echter als die Natur!“ Und ebenso wie die Männer aus Fleisch 20 Eine solche Selbstgenerierung eines solipsistischen männlichen Prinzips etablierten die Avantgarden der Moderne Anfang des 20. Jahrhunderts in der Tradition der Junggesellenmaschinen: Männliche Künstler zelebrierten mit Hilfe neuer (Erzähl-)Technologien Kulturleistungen als rein männliche Errungenschaften, als Männergeburten. Der männliche Künstler trat nicht mehr in direkte Konkurrenz zur gebärenden Frau, wie es noch Frankenstein getan hatte. Siehe etwa den Katalog zur Ausstellung „Junggesellenmaschinen“ von 1975: Reck, Hans Ulrich/Szeemann, Harald (Hrsg.): Junggesellenmaschinen. Erweiterte Neuausgabe, Wien/New York 1999. 21 Zu den verschiedenen historischen Formen von Maschinenmenschen siehe Abschnitt 5.3: „Biological Technologies: The History of Automata“ von Lister, Martin u.a.: New Media: A Critical Introduction, London/New York 2003, S. 314-352, bes. S. 329 zur funktionalen Simulation.

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und Blut, denen Kate entgegentritt, beruft er sich ständig auf die Vorschriften, die seine Form und Funktion umschreiben und stützen. Allerdings sind diese Gesetze bei einer Änderung der Umstände so nicht mehr gültig. Trotzdem gilt für Oscar in jedem Fall: „Vorschrift ist Vorschrift, Kate Walker!“ Der Automat zeigt sich wie alle Männer, die wir im Spiel kennenlernen, als zutiefst verunsichertes Wesen, das seine Schwäche durch das Einfordern von Regeln zu kompensieren sucht. Während Kate gelernt hat, dass sie sich den wandelnden Umständen ständig anpassen muss, reagiert Oscar gekränkt, wenn ihn die Protagonistin auf eine Veränderung aufmerksam macht oder eine neue Rollenverteilung vorschlägt. Er simuliert nicht nur die Stärken der Männer perfekt, sondern zugleich eine in ihrem Selbstverständnis jederzeit verletzbare, hysterische Männlichkeit, die, auch wenn sie durch Amputation zur Untätigkeit verdammt ist und ihre Rolle nicht mehr ausfüllen kann, ihre Privilegien auf keinen Fall aufgeben möchte. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Männerfiguren in diesem Spiel auf ihre Rechte und Privilegien pochen, erweist sich bei genauerem Hinsehen als trügerisch und letztlich unbegründet, ja phantasmagorisch. Oscar ist vor allem in einem echter als die Natur, in der Unsicherheit gegenüber seiner Männlichkeit, die sich schließlich auf keinerlei primäre Geschlechtsmerkmale stützen kann. Doch erweist sich nicht das Fehlen eines biologischen Geschlechts als sein Problem, sondern das Fehlen der Autorisierung. Maschinenmänner verteidigen die Bereiche, die ihrem Einfluss längst entglitten sind, ebenso verzweifelt wie die menschlichen Männer, um darüber hinwegzutäuschen, dass ihre Autorität sich allein darauf stützt, vom jeweiligen Gegenüber akzeptiert zu werden. In der flexiblen, aufgeschlossenen und hilfsbereiten Kate sehen sie nicht nur eine schwache Frau, sondern vor allem die Vertreterin einer neuen Zeit und damit eine Konkurrenz und Bedrohung. Die Männer befürchten, dass Kate ihre Autorität untergraben könnte. In Wirklichkeit hat sich nicht Kate, sondern die Geschichte längst gegen die Männer in einstigen Führungspositionen gewandt – die traditionellen männlichen Aufgaben wurden angesichts neuer Technologien und Arbeitswelten obsolet. Hans’ Maschinenmenschen haben nur noch eine Funktion in männlichen Traumwelten zu erfüllen. Der männliche Schöpfer der Automaten gibt mit dem Funktionsprinzip des Mechanischen vor allem ein Gefühl des Mangels und der Unzulänglichkeit an seine Geschöpfe weiter. Männlichkeit erweist sich demnach in jeder Form als grundsätzlich unvollständig. Wie Jacques Lacan denn auch in seiner Theorie des Spiegelstadiums zeigt, ist jedes Sub-

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jekt auf ein Gegenüber angewiesen, das ihm seine Identität, sein Selbst, seine Vollständigkeit bestätigt.22 Die Frage ist, wie man mit diesem eingebauten Mangel umgeht. Hans stattet seine Automaten nicht nur mit einem im engeren Sinne technischen Funktionsprinzip aus, sondern zugleich mit einem psychologischen. Er reproduziert eine an ihrer Unvollständigkeit leidende, hysterische Männlichkeit. Oscar steht also für eine ganz bestimmte „Technologie des Geschlechts“23, eine spezifische Technologie der Männlichkeit, die das ödipale Trauma als Verlust von Vollständigkeit und Autarkie internalisiert hat.24 Stefan Leonhard Brandt erklärt die ‚männliche Hysterie‘ als ein historisches Phänomen der Wende zum 20. Jahrhundert: Unter ‚männlicher Hysterie‘ versteht sich eine (zumeist von Männern gebrauchte) Rhetorik, die von der übertriebenen Angst vor einem Selbstverlust geprägt ist – eine Rhetorik, die männliche Ängste vor Hysterie und Wahnsinn zu überdecken und negieren sucht, indem sie die Frau als das eigentlich vom Identitätsverlust Befallene kodiert. Deutet man die ‚männliche Hysterie‘ als Manifestation einer Furcht vor Emaskulation (und eben nicht als einen Auswuchs der Emaskulation selbst), so ist die klassische freudianische Sichtweise, nach der die Hysterie des Mannes als Effekt einer mißglückten maskulinen Ich-Identifikation erscheint, naturgemäß ausgeblendet.25

Brandt betont, dass männliche Hysterie kein Zeichen für weibliche Überlegenheit ist, sondern ein Zeichen der Angst vor Machtverlust. Zugleich findet in der männlichen Hysterie eine Verschiebung statt: Politische und soziale Gründe für den männlichen Machtverlust werden auf eine sexuelle Bedrohung verlagert.26 Der Vorteil dieser Strategie ist zumindest Anfang des 20. Jahrhunderts noch, dass das weibliche Geschlecht in künstlerischen und technischen Konstruktionen der Junggesellenmaschine 22 Zur labilen Balance von Selbstbewusstsein und Verunsicherung siehe Bronfen, Elizabeth: The Knotted Subject: Hysteria and Its Discontents, Princeton/ NJ 1998. 23 Zu dieser Umschreibung des doing gender siehe de Lauretis 1987. 24 Die Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway hat über dieses ödipale Verlustszenario, seine typischen Junggesellenmaschinen und möglichen Alternativen einige Beiträge geschrieben. Siehe Haraway, Donna: „A Cyborg Manifesto: Science, Technology and Socialist-Feminism in the 1980s“ [1985], in: dies.: Simians, Cyborgs, and Women: The Reinvention of Nature, London 1991, S. 177. 25 Brandt, Stefan Leonhard: Männerblicke: Zur Konstruktion von Männlichkeit in der Literatur und Kultur der amerikanischen Jahrhundertwende, Stuttgart 1997, S. 45. 26 Ebd., S. 83.

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durchaus zum Schweigen zu bringen ist, so dass das männliche Leiden seinerseits exzessiv artikuliert werden kann. Oscar und seine Maschinenbrüder stehen für diese Generation von Junggesellenmaschinen, sie sind Kinder ihrer Zeit, der Zeit um 1900. Doch welche Bedeutung haben sie 100 Jahre später, in einer Zeit, in der Frauen wie Kate Walker widerspenstig bleiben? Auch um die Wende zum 21. Jahrhundert lässt sich wieder beobachten, dass männliche Angst sich in narzisstischer Ich-Bezogenheit aggressiv gegen Frauen wendet, wie etwa Fred Pfeil in White Guys in bezug auf Actionfilme der 1980er und 1990er Jahre konstatiert: Nor is it difficult to discern behind this general deployment of gender the shaping influence of recent shifts in the dominant sex/gender system, including those of which the ideologies and movements of feminism itself are either cause, effect, or both. The increased presence of women in professional positions in the national workforce; the erosion and decline of phallic-patriarchal power, in both the national state and the family home; these events are clearly registered [...].27

Pfeil beruft sich auf Donna Haraway,28 wenn er betont, dass die von Männern dominierten Arbeitsformen des zentralisierten Fordismus zunehmend durch Formen der Arbeit abgelöst werden, die als ‚feminisiert‘ und ‚feminisierend‘ gelten.29 Donna Haraway weist im „Cyborg Manifesto“ darauf hin, dass modernistische Auffassungen von männlicher Arbeit, Männlichkeit und Junggesellenmaschinen seit Ende des 20. Jahrhunderts nicht deshalb ausgedient haben, weil sich die Machtverhältnisse zwischen Männern und 27 Pfeil, Fred: White Guys: Studies in Postmodern Domination and Difference, London/New York 1995, S. 26. 28 Haraway (wie Anm. 24), S. 177 macht auf die Grundkonstellation der Geschichten über das ödipale Trauma und die vom Begehren gesteuerte Suchbewegung der Queste aufmerksam: „Every story that begins with original innocence and privileges the return to wholeness imagines the drama of life to be individuation, separation, the birth of the self, the tragedy of autonomy, the fall into writing, alienation; that is, war, tempered by imaginary respite in the bosom of the Other. These plots are ruled by a reproductive politics – rebirth without flaw, perfection, abstraction. In this plot women are imagined [...] [to] have less selfhood, weaker individuation, [...] less at stake in masculine autonomy. But there is another route to having less at stake in masculine autonomy, a route that does not pass through Woman [...] It passes through women, and other present-tense, illegitimate cyborgs, not of Woman born, who refuse the ideological resources of victimization so as to have a real life.“ 29 Pfeil (wie Anm. 27), S. 27f.

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Frauen verkehrt hätten, sondern deshalb, weil sich die ökonomischen Verhältnisse verändern.30 Und doch sind es Frauen, die angeblich allein die weiße, männliche Identität bedrohen, ein Argument, das von den störenden ‚anderen Anderen‘ ablenkt, die in Zeiten der Globalisierung als billige Arbeitskräfte gehandelt werden. Auch die Identität weißer Männer sollte heute auf Flexibilität ausgelegt sein – allein schon deshalb, um auf ökonomische und gesellschaftliche Veränderungen ‚angemessen‘ reagieren zu können. Heute ist keine bestimmte Subjektposition mehr gefragt, die als essentiell angesehen würde. Das feste Gerüst von Regeln und Fähigkeiten, auf das Oscar und die Männer in SYBERIA angewiesen sind, wirkt völlig veraltet. Opportun scheint vielmehr eine ständig sich anpassende, flexible Abfolge von Identitäten und kurzzeitigen Positionierungen. Kate vertritt diese neue Art, den Anforderungen des postfordistischen Zeitalters zu genügen.

Raum, Zeit und Medien Die Spielräume in SYBERIA besitzen eine komplexe Vergangenheit, der Kate mit Hilfe vieler Hinweise auf die Spur kommen muss. Dabei helfen ihr verschiedenste alte und neue Medien, von Verträgen und Briefen über Tagebucheinträge und Werbebroschüren bis zum Handy. Außerdem findet Kate bereits in Valadilène eine Spieluhr und später immer neue Klang- und Bildwalzen, über welche die Geschwister Vorarlberg in den langen Jahren der Trennung kommuniziert haben. Dabei kommen nicht nur die persönlichen Geschichten der Figuren, sondern auch historische Filmdokumente zur Sprache. Wie die Maschinenmenschen stellen auch die von Hans gebauten Medien, die Hans und Anna zur Kommunikation einsetzten, zugleich alte und neue technische Entwicklungen dar. Hans, der selbst geistig zurückgeblieben ist und nie eine Universität besucht hat, entwickelte diese Instrumente parallel zur tatsächlichen Technikgeschichte. Er ist ein genialer Konstrukteur des ewig Gestrigen, ein (Wieder-)Erfinder überholter Technologien, der aus seiner eigenen Schwäche und Genialität heraus eine Parallelwelt zum Sputnik- und Computerzeitalter erschaffen hat. In seiner Welt, die wir durch das Spiel kennenlernen, erfüllen alte Technologien die Funktionen unserer neuen Medien und Maschinen. Unterschiedliche historische Kontexte stoßen aufeinander und wirken zusammen, so dass sich die Zeitebenen palimpsestartig gegeneinander verschieben und dabei sichtbar werden. 30 Siehe dazu ebd., S. 27.

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SYBERIA spielt mit verschiedenen Zeitebenen: Die Geschichte Kates dreht sich um die Familiengeschichte des Geschwisterpaars Vorarlberg, die wiederum durch die Geschichte Europas vorangetrieben wurde und die die europäische Industriegeschichte nochmals und auf andere Weise erfunden hat – nämlich als zur ‚wirklichen‘ Geschichte parallel laufende Fiktion. Auf der Handlungsebene begegnet Kate vor allem männlichen Figuren, deren Schicksal und Charakter sich bei näherem Hinsehen vielfältigen historischen Einflüssen verdanken, eine Tatsache, vor der diese Männer selbst die Augen verschließen. Dieser Verdrängungsprozess wird durch das Spiel deutlich, das neue Zusammenhänge herstellt. Kate gelingt es durch viel diplomatisches Geschick, lang verschlossene Tore öffnen zu lassen und eingespielte Rituale von Eitelkeit und ängstlich auf Regelmaß und Vorschriften bedachter Männlichkeit zu durchbrechen, um der verborgenen Geschichte auf die Spur zu kommen. Hans Vorarlberg fungiert als die abwesende Präsenz des Textes, auf die sich Kates Begehren richtet, die sich ihr aber von Szene zu Szene entzieht – sogar noch im zweiten Teil, in dem Hans regelmäßig verschwindet. Die Reise bestimmt die Struktur dieses Spiels wie die vieler Adventures, ist hier allerdings durch die spektakulären historisierenden Architekturen von Bauwerken, Maschinen und Körpern besonders zwiespältig in Szene gesetzt. Die Reise führt in die Zukunft und in die Vergangenheit zugleich, sie verbindet die Geschichte des Ostens mit der des Westens und bringt die abwesenden einfachen Menschen, Arbeiter und Studenten durch die sie vertretenden und verdrängenden Maschinenmenschen ins Spiel. In Europa begibt sich die Amerikanerin Kate auf die Suche nach sich selbst und trifft dabei auf Orte des Verfalls und auf männliche Figuren, die selbst scheitern, aber Kate damit eine Daseinsberechtigung und ihrem Leben eine Richtung geben. Kates Handy ist die einzige Verbindung zur digitalen Gegenwart, zu ihrer Familie und ihren Freunden. Sein Klingeln durchbricht die Stille der (Stadt-)Landschaften immer wieder, macht Kate bewusst, dass die gegenwärtigen beruflichen und privaten Verpflichtungen zu Hause weiter bestehen bleiben. Doch reagiert sie immer unwirscher auf diese Forderungen ihres Chefs und ihrer Familie und bricht schließlich am Telefon mit ihrem Liebhaber und ihrer besten Freundin im fernen New York, als sie hört, dass die beiden sie betrogen haben. Sie selbst und die von ihr vertretene Spielerin werden von der leitmotivisch eingesetzten Orchestermusik eingestimmt, die den Weg in

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längst vergangene, teilweise nostalgisch verklärte historische Dimensionen weist. Je weiter sich die Protagonistin zeitlich und räumlich von den USA entfernt, je stärker sie ihre amerikanischen Bindungen verdrängt, umso mehr nehmen die fremden Räume und die Geschichte(n) Besitz von ihr. Dabei gewinnt Kate Abstand von ihrer zeitgenössischen, spätkapitalistischen Wirkungsstätte, an der beruflicher Erfolg den Wert eines Menschen bestimmt, tritt in verschiedene, teilweise längst aufgegebene Arbeitswelten ein und lernt die dunkle Vergangenheit der Bildungs- und Ausbeutungssysteme in West und Ost kennen: von der französischen Automatenfabrik und der deutschen Universität über einen sowjetischen Bergbau- und Fabrikkomplex zum Sputnik-Weltraumprogramm. Am Ende von SYBERIA lässt Kate die westliche Welt, in der für sie kein Platz mehr zu sein scheint, ganz hinter sich und folgt dem schattenhaften Hans, den sie in Aralbad trifft, in die Weite Sibiriens. Syberia II endet damit, dass Hans gemeinsam mit Kate auf die Mammuts stößt, die er sein ganzes Leben lang gesucht hat. Hans’ Mission ist damit erfüllt, er tritt in die Anfangsphase der Menschheitsgeschichte ein, während sich sein Leben dem Ende zuneigt. Kate wird sich hingegen von nun an eine eigene Passion zulegen müssen. Dies eröffnet die Anschlussmöglichkeit für einen dritten Teil und macht die Unabschließbarkeit von Kates Queste deutlich. Mit der Faszination durch die Vergangenheit verändert sich Kates Sicht auf die Gegenwart. So schön die frühen Produkte menschlicher/ männlicher Industriekultur sind, denen die Protagonistin begegnet, haben sie weder dem kapitalistischen Westen noch dem sozialistischen Osten den versprochenen Fortschritt und den neuen Menschen gebracht. Hans’ Hoffnung auf den künstlichen als einen besseren Menschen wurde enttäuscht. SYBERIA verweist ganz im Sinne zeitgenössischer Post-GenderTheorien auf die Konstruiertheit vorgeblich natürlicher Körper und Prozesse und macht die fiktionale Dimension unserer Körpergeschichte(n) spielerisch sichtbar. Doch gerade in der Faszination durch das Spiel wird deutlich, wie machtvoll solche Körpergeschichten sind. Sie wirken von einem Kontext in einen anderen hinein und reichen weit über ihre jeweils zeitgenössischen diskursiven Vernetzungen hinaus in die Vergangenheit und die Zukunft. Ein solches Fortwirken ödipal-traumatischer Erzählstrukturen in zeitgenössischen Körpergeschichten kann die Spielerin in SYBERIA erleben. Das Beispiel der Vorarlberg’schen Automaten zeigt, dass eine Verschiebung und neue Kontextualisierung verschiedener Pha-

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sen der Technik- und Mediengeschichte durchaus lustvoll erlebt werden kann, obwohl – und gerade weil – die Zwänge zum Vorschein kommen, welche diese Geschichte mit getragen haben. Für die Literaturwissenschaften zeigt Teresa de Lauretis in ihrem Artikel „Desire in Narrative“, dass das ödipale Begehren nicht nur die Queste antreibt, sondern auch die strukturale Erzählanalyse vom russischen Formalismus über Claude Lévi-Strauss zu Roland Barthes. Die Heldenerzählung – und die Theorie – kennt traditionellerweise nur männliche Helden; weibliche Figuren tauchen nur als Störfaktoren und als Monstren auf. Und die Geschichte der Frauen, die entweder untergehen oder ihr Begehren am zu stärkenden männlichen Gegenüber ausrichten, findet sich auch im 20. Jahrhundert allenthalben, wie de Lauretis betont: „Alas, it is still for him that women must be seduced into femininity and be remade again and again as woman.“31 Aus Frauen wird in diesen Geschichten auf die eine oder andere Art immer wieder ‚die Frau‘, das Sinnbild des Weiblichen. Wie lassen sich solche machtvollen Festschreibungen umschreiben? De Lauretis verweist auf Muriel Rukeysers „Myth“, eine Fortsetzung des und Antwort auf den Mythos des Ödipus: Long afterward, Oedipus, old and blinded, walked the roads. He smelled a familiar smell. It was the Sphinx. Oedipus said, ‚I want to ask one question. Why didn’t I recognize my mother?‘ ‚You gave the wrong answer,‘ said the Sphinx. ‚But that was what made everything possible,‘ said Oedipus. ‚No,‘ she said. ‚When I asked, What walks on four legs in the morning, two at noon, and three in the evening, you answered, Man. You didn’t say anything about woman.‘ ‚When you say Man,‘ said Oedipus, ‚you include women too. Everyone knows that.‘ She said, ‚That’s what you think.‘32

Hier redet die Sphinx Klartext. Ganz gegen ihre angeblich geheimnisvolle Natur wird sie überdeutlich und sagt ihre Meinung zu den Sprachspielen der Helden, der Poeten und Psychoanalytiker. Die Sphinx gibt andere Regeln vor, Regeln, die eine Positionierung des vormals ausgeschlossenen Anderen ermöglichen. Sie mischt sich ihrerseits in die Meistererzählung ein.

31 Lauretis, Teresa de: „Desire in Narrative“, in: dies.: Alice Doesn’t: Feminism, Semiotics, Cinema, Bloomington 1984, S. 155. 32 Rukeyser, Muriel: „Myth“, in: dies.: The Collected Poems, New York 1978, S. 498, zitiert nach ebd., S. 157.

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Abbildungen

Abb. 1: Kate Walkers Ankunft in Valadilène Abb. 2: Die Automatenfabrik der Familie Vorarlberg in Valadilène

Abb. 3: Der Bahnhof von Barrockstadt dient auch als Schleuse Abb. 4: Die Front des Universitätsgebäudes von Barrockstadt erinnert an Bauwerke aus der Zeit des Faschismus

Abb. 5: Die Automaten am Bahnhof von Komkolzgrad wurden ebenfalls von Hans Vorarlberg entworfen Abb. 6: Die Fabrikhallen in Komkolzgrad sind spektakulär ausgeleuchtet

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Abb. 7: In Komkolzgrad werden Oscars Hände gestohlen

Bildnachweis Alle Bilder sind eigene Screenshots aus Microids: SYBERIA, Paris 2002.

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BIOFUTURISTISCHE IMPLIKATIONEN TRANSGENER KUNSTEXPERIMENTE Nur mittels der Wissenschaft vom Leben kann die Beschaffenheit des Lebens von Grund auf verändert werden. Aldous Huxley Warum eigentlich sind die Hunde noch immer nicht blau mit roten Flecken? Und warum eigentlich leuchten die Hasen noch immer nicht wie Irrlichter in den nächtlichen Gefilden? Warum eigentlich betreiben wir Viehzucht noch immer mit wirtschaftlichen Absichten und noch immer nicht mit künstlerischen? Vilém Flusser

Schenkt man dem amerikanischen Medienwissenschaftler Eugene Thacker Glauben, könnten die von Huxley und Flusser jeweils unterschiedlich, als literarische Skepsis und philosophische Ironie konnotierten Überlegungen zur biotechnischen Reproduktion spätestens seit der Entschlüsselung des menschlichen DNA-Codes und den ersten gelungenen Klon-Experimenten als aus dem Bereich des Fiktionalen und Imaginären in dasjenige des Medialen, ja des Materiellen hinübergetreten gelten. In seinen diversen Aufsätzen, vor allem aber in dem 2004 erschienenen Buch Biomedia beschreibt Thacker den Prozess und die gegenwärtig erkennbaren Folgen der Ausdifferenzierung und Neuhybridisierung wissenschaftlicher Disziplinen in ihrer Kombination mit den Neuen Medien folgendermaßen: In our age of genome databases, online gene discovery software, and hand-help DNA chips, the notion of genetics information is not just rhetoric, both a material technology. […] Second, the concept of genetic information tells us that ‚biotechnology’ takes on a new meaning in light of advances in computer and information technologies. […] We go from the body of the patient (in vivo), to the extracted DNA sample (in vitro), to the encoding and analysis of that DNA in a computer (in sicilio), to the production of biotech

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MARIJANA ERSTIĆ and infotech, information ‚matters‘. We might call this process ‚biomedia‘.1

Die materiellen Effekte einer praktischen Zusammenführung der biologischen Codes mit jenen des Rechners will Thacker mit Implikationen gefüllt sehen, die die gängigen globalen Identitäts-Konzepte wie „,ethnicity‘, ‚race‘, and even ‚nation‘“ vollkommen neu definieren. Wenngleich er dabei nicht die Technologie als den „bad guy“ dargestellt haben möchte, so kommt Thacker dennoch nicht umhin, den Körper – nicht weit von der Videoclipästhetik und den Science-Fiction-Entwürfen Hollywoods entfernt2 – als den rechnerisch entschlüsselbaren „biovalue“ des „molecular body“ zu bezeichnen. Dieser jedoch verfalle innerhalb einer globalisierten Wirtschaft zur (Wert-)Information. Den tatsächlichen blinden Fleck der Untersuchung jedoch bildet ein anderer Bereich: der des Gender. Zwar wird hier durchaus die biotechnologische Manipulation des lebendigen ‚Körpermaterials‘ und sodann im weitesten Sinne auch die Erschaffung neuer Lebensformen angesprochen. Gefragt wird jedoch weniger nach genderspezifischen Konnotationen solch einer ‚Erschaffung‘ des Lebens, die sich genmanipuliert, maschinengesteuert und ,unbefleckt‘ in den Geburtshöhlen der Labors vollzieht. Ist dies lediglich Ignoranz, oder heißt es vielmehr, die Biomedia bewege sich mit ihren verschiedenen Untergruppen, zu denen auch die Biotech-Art gezählt werden kann, endgültig im Bereich des Postgender? Zitieren andererseits die transgenen Kunstexperimente, mit den Experimenten des italienischen Futurismus vergleichbar, nicht viel eher die tradierten männlichen Erschaffungsmythen als dass sie genau diese pervertieren und untergraben würden? Es kann innerhalb der folgenden Untersuchung nicht darum gehen, die einzelnen von Thacker ausgearbeiteten Konnotationen des aktuellen Umbruchs, der im Bereich der Molekularbiologie fast eher noch als in den der Neuen Medien anzusiedeln ist, auszuarbeiten. Vielmehr konzentriert sich der vorliegende Aufsatz auf das Gebiet der avantgardistischen Strömungen der Biotech-Art, jener Bewegung innerhalb der rezenten künstlerischen Praxis, welche Elemente der Installationen und Performance Art 1 Thacker, Eugene: „DNA, DATA, AND BIOMEDIA“, in: Nöring, Hermann/Rotert, Alfred/Sausmikat, Ralf (Hrsg.): Europäisches Medienkunst Festival/European Media Art Festival, Osnabrück 2003, S. 250f., hier S. 250; vgl auch ders.: Biomedia, Minnesota 2004. 2 Vgl. Richard, Birgit: „Bild-Klone und Doppelgänger. Vervielfältigungsphantasmen in der Popkultur“, in: Kunstforum, Nr. 157, Nov.-Dez. 2001, S. 54-111.

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in sich vereint, mit der Manipulation und Züchtung des Körpermaterials arbeitet und sich sodann auf die in den Van-Gogh-Studien Artauds3 entwickelte und von Deleuze und Guattari als Negation der Psychoanalyse erweiterte Idee eines corps sans organes zu beziehen scheint.4 Ausgehend von der These, dass die von Symbiotic A, einem Forschungslabor für Kunst und Wissenschaft, gezüchteten Hautkulturen, wie auch der Ausgangspunkt der Bewegung – Eduardo Kacs Ersetzung der Maschinen-Mensch-Installationen mit Gen-Experimenten – die futuristischen Phantasien des ‚neuen‘, multiplizierten Menschen und seiner Erschaffung aus dem Geiste aktueller Gentechnik unter Hinterfragung der Arbeit am ‚Halblebendigen‘ weiterführen, sollen im Folgenden anhand exemplarischer Analysen die biofuturistischen und die Post-Gender-Aspekte dieser multidisziplinären, zwischen Kunst, Biologie und Technologie angesiedelten Arbeiten überprüft werden.5

Biofuturismo als ein ‚futurismo di oggi‘? Die neue Ausdrucksform der transgenen Kunst, die sich das Wortspiel „Gene, Genies, Gender“ immer wieder selbst auf die (Internet-)Fahne schreibt, besteht, so Eduardo Kac (der „Begründer“ und „Erschaffer“ der Kunstrichtung, wie ihrer vermeintlichen „Synekdoche“6, des fluoreszierenden womöglich lediglich auf Photographien existierenden Kaninchens Alba), darin, komplett künstlich hergestellte oder bereits existierende Gene einem Wirtsorganismus einzupflanzen, in dem sie dann zur Entfaltung kommen.7 So einfach diese Aussage klingen mag, beinhaltet sie dennoch einen signifikanten wie bedeutenden Umbruch innerhalb der künstlerischen Praxis. Die Collage bezieht sich hier nicht auf das Referentielle oder Reflexive, sie ist aus den „bereits existierende[n] Gene[n]“ 3 Artaud, Antonin: Schluß mit dem Gottesgericht. Das Theater der Grausamkeit u.a., München 1980. 4 Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a.M. 1984. Vgl. auch Žižek, Slavoj: Körperlose Organe. Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan, Frankfurt a.M. 2005. 5 Der Aufsatz stützt sich im Hinblick auf die Objekte der Biotech-Art weitestgehend auf die Pionieruntersuchungen von Ingeborg Reichle. Vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere dies.: Kunst aus dem Labor, Bielefeld 2005. 6 Hauser, Jens: „Gene, Genies, Geniert…“, in: Nöring/Rotert/Sausmikat (wie Anm. 1), S. 230-241, S. 230. 7 Kac, Eduardo: „GFP Bunny“, in: Kunstforum, Nr. 158, Jan.-März 2002, S. 46-57.

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geformt. Überschritten scheint hierdurch die buchstäbliche Einschreibungspraxis des Happenings, biotechnologisch modifiziert die Vision des Cyborgs8, denn es wird keine (schmerzhafte) Grenze zwischen Innen und Außen überschritten, es wird auch keine bloß technische Erweiterung des Körpers angestrebt, vielmehr wird das Innen geformt und neukonstruiert, um mitunter in der virtuellen Enzyklopädie Internet, die die Interaktion gleichermaßen wie den performativen Gründungsgestus der Avantgarden entschieden erweitert und demokratisiert9, präsentiert und theoretisch untermauert zu werden. Dieses ‚Wachsen‘ der Moleküle wird stets als eine kosmologische und gottähnliche creatio ex nihilo präsentiert, als ein Mikrokosmos der auf selten unbedenkliche Art erschaffenen makrokosmischen Prinzipien.10 Zwar wurde solch eine Verbindung von Kunst und Wissenschaft zum Zwecke einer Geburtserschaffung bereits innerhalb der antiken Mythen heraufbeschworen und in den Laboratorien des Manierismus oder des Barock wie auch in jenen der schwarzen Romantik imaginiert.11 Doch erst der italienische Futurismus propagierte als die erste Kunstbewegung des zwanzigsten Jahrhunderts die Geburt eines neuen Menschen nicht nur aus dem Geiste der Maschinen, sondern auch aus jenem der Biotechnologie. Während der erste genannte Aspekt anhand nunmehr zahlreicher exemplarischer Studien des Romans Mafarka il futurista von Filippo Tomaso Marinetti erforscht worden ist12, wurde der zweite Aspekt futuristischer Erschaffungsutopien stets übersehen. Dabei können im so genannten Secondo futurismo Anzeichen eines Umdenkens registriert werden. Nicht nur die Maschinen, auch die Biotechnologie wird, dem Maler und Vertreter des Zweiten Futurismus Emilio Buccafusca (*06.02.1913 Castelnuovo – †01.03.1990 Paris) zufolge, eine vom Futu8 Haraway, Donna: „Manifesto for Cyborgs: Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980s“, in: Socialist Review, Jg. 80, 1985, S. 65-108. 9 „The Manifesto of the Futurist Programmers. Based on the Manifesto of the Futurist Painters by Umberto Boccioni 1910“, in: URL: http://www.sgi. com/grafica/future/futman.html, 10.05.2004. Vgl. auch Willmer, Lutz: „Der Futurismus und das Internet“, in: Hemken, Kai-Uwe (Hrsg.): Im Bann der Medien, Weimar 1997, S.1005ff. 10 Vgl. hierzu Reichle (wie Anm. 5), S. 52ff. Reichle erwähnt in ihrer Arbeit auch die vergleichbaren Experimente des russischen Futurismus, vgl. ebd. S. 110. 11 Vgl. Reck, Hans Ulrich/Szeemann, Harald (Hrsg.): Junggesellenmaschinen, Wien/New York 1999. 12 Vgl. Hülk, Walburga: „Prophetie und Pro(s)thesis: Marinettis phantastische Körpermorphologie und die Replasmation des Wortes“, in: dies. (Hrsg.): Spektrum. Siegener Perspektiven einer romanischen Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft, Siegen 2003, S. 119-130.

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rismus propagierte ‚reconstruzione del mondo‘ auslösen. Buccafusca, der seit 1930 Medizin studierte, lernte ein Jahr darauf F.T. Marinetti und Carlo Cocchia kennen und gründete die Neapolitanische Futuristengruppe „Terza ondata“. Neben seinem Wirken als Maler war er innerhalb der Gruppe auch als Photograph und Lyriker aktiv und nahm ab 1933 an den wichtigsten Futuristen-Ausstellungen teil, unter anderem in Mantua und Mailand.13 Nach einer durch den Zweiten Weltkrieg ausgelösten Schaffenskrise nahm er erst in den 1950er Jahren seine Tätigkeit als Maler wieder auf. In die Geschichte des Futurismus ging er jedoch neben seinen bildnerischen Arbeiten, die vorwiegend den Themen des Fluges und der dadurch modifizierten Wahrnehmung gewidmet sind, auch mit einem Manifest des Biofuturismus ein, einem Inauguralmoment eines Futurismus von morgen: Potremmo definire il futurismo di domani Biofuturismo intendendo con questa parola la sintesi di tutte le manifestazioni umane propagate al contatto dei mondi cosmici ed ancora sconosciuti14 Den Futurismus von morgen sollen wir den Biofuturismus nennen, mit diesem Begriff eine Synthese aller Manifestationen der Menschheit meinend, die im Kontakt mit kosmischen und immer noch verkannten Welten entstehen. (Übers. M.E.)

Eine Weiterentwicklung dieser in der Zeitschrift Stile futurista präsentierten Idee eines zukünftigen Futurismus könne Buccafusca zufolge nur im Anschluss an zwei Grundprämissen erreicht werden. Die erste Prämisse ist der Gedanke einer, im Jahr 1933 bereits sprichwörtlichen und mehrmals proklamierten radikalen Erneuerung der Gesellschaft durch die hartnäckige futuristische Verabschiedung der Geschichte und durch die mittels Provokationen zu erreichende Befreiung vom Staub der Jahrhunderte: Non esistono fuori del futurismo posizioni filosofiche artistiche e letterarie che siano state raggiunte ed aggredite prima.15 Es existieren keine früheren philosophischen, künstlerischen und literarischen Positionen, die außerhalb des Futurismus erreicht und erkämpft worden wären. (Übers. M.E.)

13 Vgl. hierzu Matura, Bruno/Rosazza-Ferraris, Patrizia/Velani, Livia (Hrsg.): Futurism in Flight. ‚Aeropittura‘ Paintings and Sculptures of Man’s Conquest of Space, London 1990 sowie D’Ambrosio, Matteo: Emilio Buccafusca e il Futurismo a Napoli negli anni Trenta, Neapel 1991. 14 Buccafusca, Emilio: „Biofuturismo“, in: Caruso, Luciano (Hrsg.): Manifesti futuristi. 1909-1944, Florenz 1980, Blatt 265. 15 Ebd.

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Die zweite Prämisse ist die für diese Kunstrichtung typische Apotheose der Maschinen, insbesondere der Bewegung, Geschwindigkeit, Dynamik und Simultaneität, aber auch der maschinellen Produktion: L’estetica della macchina e per essa tutti i problemi della velocità simultaneità etc. compendia l’orientazione spirituale del nostro tempo.16 Die Ästhetik der Maschinen und mit ihr die Probleme der Geschwindigkeit, der Simultaneität etc. beinhalten die geistige Orientierung unserer Zeit. (Übers. M.E.)

Doch die futuristische Kunst solle nicht, wie im Folgenden von Buccafusca ausgeführt, bei der Erneuerung bisheriger Kunstgattungen durch die ‚parole in libertà‘ oder die Maschinen-, Geschwindigkeits- und Simultaneitätsthematik stehen bleiben. Vielmehr solle sie sich weitere Errungenschaften der ‚modernen‘ Welt aneignen, gleichsam eine De- und Rekonstruktion des gesamten Universums bewirken. Den Beginn solch einer universellen, da gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Umwälzung sieht Buccafusca jedoch, hierin weniger progresiv, in der futuristischen Malerei angesiedelt, in der „pittura cosmica, batisferica, geologica, stratosferica, biologica“ („kosmischen, batisphärischen, geologischen, stratosphärischen, biologischen Malerei“) und in den „recentissimi automatismi prampoliani“ (neuesten Automatismen Enrico Prampolinis). Diese demonstrieren, so Buccafusca „la nascita del biofuturismo“, die Geburt des Biofuturismus und die neue Form des Futurismus ermögliche, so Buccafusca weiter, zunehmend die simultane Erweiterung der menschlichen Vorherrschaft über die den Menschen umgebenden Kräfte, („tende sempre più ad allargare il dominio dell’uomo simultaneamente nelle forze che lo circondono ed in cui vive“17). Als der Ursprung dieser, aus dem Futurismus generierten und von Buccafusca propagierten Herrschaft über die Materie scheint die im Futurismus der frühen 1930er Jahre vorherrschende ‚arte sacra‘ zu fungieren, die so genannte „aeropittura futurista“, mithin jene zumeist künstlerische Verherrlichung des Fliegens, die, so Gudrun Escher, „verschiedentlich dekoriert“ und „mit spiralig sich auftürmenden Raumorgien und Farbsymphonien“ arbeitend, zumeist im Illustrativen stecken geblieben sei.18 Bei 16 Ebd. 17 Vgl. ebd. 18 Escher, Gudrun: „Aeropittura – Arte Sacra Futurista. Die futuristische Flugmalerei im Kontext von Fluggeschichte und zeitgenössischer Kunst“, in: Bartsch, Ingo/Scudiero, Maurizio (Hrsg.): …auch wir Maschinen, auch wir mechanisiert!… Die zweite Phase des italienischen Futurismus 1915-1945, Bielefeld 2002, S. 47-56, hier S. 52.

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Emilio Buccafusca freilich ist sie, ungeachtet des illustrativen und sich oftmals stark am zeitgenössischen politischen Geschmack orientierenden Charakters, auch der Wiedergabe einer individuellen und subjektiven, vom Flug modifizierten Seherfahrung verpflichtet (Abb. 1). Bei Enrico Prampolini, der in Buccafuscas Manifest erwähnt wird, bemüht sie sich um 1932 um die aus den Kontrastierungen von Komplementärfarben und Formen gewonnene dynamische Abstraktion und kinetisch-kosmische Empfindsamkeit (Abb. 2).

Abb. 1: Emilio Buccafusca, Lirismo cromatico di Anacapri/ Chromatischer Anacapri-Lyrismus, Öl/Holz, 50 x 70 cm, ca. 1930 Abb. 2: Enrico Prampolini, Formen-Kräfte im Raum, Öl/Holz, 100 x 80 cm., 1932 Buccafusca geht, wie anhand des Gemäldes Lirismo cromatico di Anacapri ersichtlich, von der in der Mitte des Gemäldes wiedergegebenen, hier auch zentralperspektivisch funktionierenden Gegenständlichkeit einer Kleinstadtlandschaft aus, die an ihren Rändern, wie in der Erfahrung des Fluges, gleichsam eingerahmt und aufgelöst wird. Prampolini dagegen – in dem Gemälde mit dem sprechenden Namen Formen-Kräfte im Raum – präsentiert einen Tanz antagonistischer, frei flottierender Formen der Zeichnung (die viereckige schwarze und die rückenähnlich geschlungene, hellblaue Linie), der Farben (das orangebraune des Steines und das Blaue des Hintergrundes) und der Materie (die metallisch wirkende Kugel links unten und der meteoritenartige Stein in der Mitte des Gemäldes). Das schattenwerfende, weiße Oval rechts unten im Gemälde und

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die auf ihm liegende rote Linie scheinen diese komplementäre Struktur wiederholend zu bestätigen. Obwohl der Raum bei Buccafusca nur in der kreisenden, den Raum einrahmenden Flugbewegung dekonstruiert wird, und bei Prampolini die Räumlichkeit nur jene der konträren Formen und ihrer Schatten bedeutet: Eine Herrschaft über die Materie und die an diese angekoppelte Modifizierung der Wahrnehmung19 ist ein gemeinsamer Nenner der konträren Vorgehensweisen beider Maler. Eher noch als um eine, durch die technischen Errungenschaften des ‚nervösen Zeitalters‘ modifizierten Wahrnehmung geht es hier um ein Nachdenken über das Organische. Implizit wird hier wie dort durch die Möglichkeit des Fliegens auch die Erschaffung eines ‚neuen‘, anarchischen, heroischen und ekstatischen, in den Großstädten und der Welt der Technik lebenden ,Menschen‘ und seiner durch die Technik modifizierten Wahrnehmung angepriesen. Den Kampf um die Vorherrschaft und um die Erschaffung der Materie dokumentiert Buccafusca, wie in dem Gemälde Maternità aerea zu beobachten (Abb. 3), um 1933 als einen Agon zwischen den Methoden der futuristischen Dynamik einer- und der Wollust andererseits. Dadurch zitiert Buccafusca die Spannung zwischen den innerhalb des sog. Primo futurismo vorwiegend weiblich konnotierten Prinzipien der Natur und den vorwiegend männlich konnotierten Prinzipien der Technik,20 durchstoßen doch geometrische Formen den mit einer Aureole ausgestatteten, die Mitte des Gemäldes dominierenden marienähnlichen Akt.

19 Diese bereits von Walter Benjamin erkannte Implikation der futuristischen Kunst, die freilich stets anhand exemplarischer Analysen zu erörtern wäre, wird im Aufsatz nicht weiterverfolgt werden können. Ich verweise auf die grundlegende Arbeit von Hesse, Eva: Die Achse Avantgarde – Faschismus. Reflexionen über Filippo Tommaso Marinetti und Ezra Pound, Zürich o.J., insb. S. 227ff. 20 Vgl. Schwan, Tanja: „Die futuristischen Manifeste der Valentine de SaintPoint – zur Performativität von gender in der medialen Vermittlung“, in: Erstić, Marijana/Schuhen, Gregor/Schwan, Tanja (Hrsg) Avantgarde – Medien – Performativität. Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts, (Medienumbrüche 7), Bielefeld 2005, S. 259298.

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Abb. 3: Emilio Buccafusca: Maternità aerea, 1933, Öl auf Papier; 70x100cm Doch eine explizite bildnerische Antwort auf das Biofuturismo-Manifest scheint Buccafusca erst im Jahr 1958 mit dem Gemälde Biopittura n. 1 (Abb. 4) gegeben zu haben. Die Komposition des Gemäldes erinnert stark an die Gemälde Enrico Prampolinis (Abb. 2) – hier wie dort handelt es sich um mehrere aufeinander liegende Farbflächen (dunkelbraun, gelb, braun, grün, orange und rot), um frei flottierende Zeichen (die weißen durch die Schattierungen dreidimensional wirkenden Ovale), um ein linienartiges Oval, und komplementäre Grün-Rot-Kontraste. Doch anders als bei Prampolini wird kein kosmisches Gefüge präsentiert, vielmehr scheinen die organischen Formen mit den organischen Grundlagen des Lebens, mit den Molekülen, zu korrespondieren. Die Vogelsicht wurde, so scheint es, mit einer mikroskopischen vertauscht.

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Abb. 4: Emilio Buccafusca: Biopittura n. 1, 1958, Tempera auf Papier, 67x85cm Doch zurück zum Manifest. Was der Mediziner und Marinetti-Begeisterte Buccafusca in seinen Texten aus den 1930er Jahren weitaus mehr als in seinen Gemälden programmatisch lobpreist, ist die Optimierung und Vervollkommnung physischer und intellektueller Fähigkeiten, mithin die Erschaffung eines neuen Menschen auf der Grundlage biofuturistischer (heute könnte man sagen genmanipulierter) Ernährung. La riforma dell’alimentazione è forse il sintomo più biologicamente esatto ed il meno compreso ed intuito dala maggioranza degli uomini che senza volerlo scindono la forza del cervello e dello spirito dalla origine che non si ritrova in nessun altra funzione che in quello di alimentarsi. Per Biofuturismo si dovrà ancora intendere oggi l’insieme di manifestazioni d’arte-vita generate dall’evoluzione dalla macchina, ad essa legate, indissolubilmente influenzate ed eccitate per ingigantire il ritmo sempre più veloce de genio e dell’intelligenza umana.21 Die Reform der Ernährung ist vielleicht das aus biologischer Sicht exakteste, doch am wenigsten erfüllte und vollkommen verkannte Symptom der Verbesserung einer unwissend zwischen der Energie 21 Buccafusca (wie Anm. 14).

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des Gehirnes und des Geistes unterscheidenden Menschheit, die dennoch keinen anderen Ursprung hat und sich in keiner anderen Funktion derart zutreffend wieder findet als in der der Nahrungszufuhr. Aus der Sicht des Biofuturismus wird man auch heute das Zusammenleben der Manifestation von Kunst und Leben fordern, generiert aus der Evolution der Maschinen – an diese gebunden, von dieser unauflöslich beeinflusst und erregt, den immer schneller werdenden Rhythmus des menschlichen Genies und der menschlichen Intelligenz gigantisch vergrößernd. (Übers. M.E.)

Somit scheint Buccafusca sowohl die Implikationen der aktuellen Ernährungsdebatten als auch die Gedanken der gegenwärtigen Kunstströmungen und ihres nunmehr kritischen Verhältnisses zur genmanipulierten Nahrung äußerst jubilatorisch und naiv zu antizipieren.

Abb. 5: Critical Art Ensemble: Beatrize de Costa: Shyh-shiun Shyu: Free Range Grain Doch während die aktuelle Kunst, hier beispielsweise das Critical Art Ensemble (Abb. 5), mitunter auf die ethischen und gesundheitlichen Seiten der Unhintergehbarkeit genmanipulierter Ernährung hindeutet, ist

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das Essen für Buccafusca jenes fundamentale und alltägliche, sowohl intellektuelle als auch instinktive Bedürfnis, aus dem heraus ein neuer, geradezu vollkommener Menschen hervorgehen soll, und die darwinistisch-positivistischen Elemente gehen hier mit jenen utopistischen eine vollkommene Allianz ein. Abschließend kann festgehalten werden: Es sind die Malerei und die optimierte Ernährung, aus denen, Buccafusca zufolge, ein neuer Futurismus, ein Biofuturismus, emporsteigen soll. Die transgene Kunst liebäugelt zwar nicht mit dem weitestgehend unbekannten Manifest Buccafuscas und dennoch ist es erstaunlich, wie weitgehend seine Forderungen durch die Kunst um 2000 eingelöst werden.

Transgene Kunst oder der Beginn der Zukunft? Siebzig Jahre nach Buccafusca veröffentlichen Ionat Zurr et al. im Internet den folgenden Text: This is the age of loss of innocence; we are pushing our humanistic traits of curiosity and manipulation, trying to reach the ultimate border. We are learning to manipulate the building blocks of our own (and other organisms) bodies. The next sex, created in the artificial womb, may be a cold calculated act for the ‚best‘ sex. This act of procreating would be remote from the sacred and emotional ritual of what we consider sex today. The artificial womb located outside of the body (equally separate from the male and female bodies) will be there the act of procreation occurs. We will costume design the womb to represent our individuality and became emotionally attached to it since this in the place of the real act of sex. Will we still attach to sex so much importance, or will we be, at least, free from sex as a compulsory act for creation? We might be able to physically (and mentally) free ourselves from the ,natural‘ binary constraints of sex to create new forms and new plays. Are we mature enough to make this passage? We need to be aware that in order to face the challenges and responsibilities we forced ourselves to confront, we have to immerse ourselves in these issues. We are not innocent anymore (we were never innocent.)22

Was auf den ersten Blick als eine Mischung aus dem Gruselkabinett der Spätaufklärung und dem Traum einer, innerhalb der „artificial womb“, mithin „outside of the body“ stattfindenden, mechanischen Reproduktion

22 Catts, Oron/Zurr, Ionat/Ben-Ary, Guy: „Tissue Culture & Art(ificial) Wombs“, URL: www.tca.uwa.edu.au/atGlance/pubMainFrames.html, 02.08.2004.

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anmutet, die im Futurismus23 gleichermaßen wie im Genre Science-Fiction ausgetragen wird und aus dem Schlusskapitel von Michel Houellebecqs Elementarteilchen24 zu zitieren scheint, ist in Wirklichkeit das Programm der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Biologen. Die zitierte Passage, einer der Texte des so genannten Tissue Culture & Art Project25, einem „set up to explore questions arising from the use of living tissue to create/grove semi living objects/sculptures and to research the technologies involved in such a task“26, beinhaltet den ontologischen Kern der ‚Biotech-Art‘: die institutionalisierte und künstlerische Umsetzung naturwissenschaftlicher Methoden. 27 Das Tissue Culture & Art Project wird darüber hinaus von einem Künstlerpaar repräsentiert – Oron Catts und Ionat Zurr –, das nicht zuletzt durch diese Konstellation die bekannten Avantgarde-Künstlerpaare in Erinnerung ruft: Raoul Hausmann und Hanna Höch, Hans und Sophie Arp, Hans Bellmer und Unica Zürn etc. Die vom Tissue Culture & Art Project innerhalb des metadisziplinären und kollaborativen Forschungslabors SymbioticA28 beispielsweise für den Performanzkünstler Stelarc gezüchteten Hautkulturen – das dritte Ohr, das, auf die ‚third hand‘ ‚verpflanzt‘, die Idee des organlosen Körpers entschieden pervertiert – führen, wie schon der Ausgangspunkt der Kunstbewegung – Eduardo Kacs Ersetzen der Mensch-Maschine-Installationen durch Tierversuche (‚Al23 Vgl. neben dem bereits erwähnten Aufsatz von Walburga Hülk und dem im vorliegenden Band abgedruckten Beiträgen von Sabine Schrader und Tanja Schwan auch Vinken, Barbara: „Make War not Love. Pulp Fiction oder Marinettis Mafarka“, in: Asholt, Wolfgang/Fähnders, Walter (Hrsg.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung, Amsterdam/Atlanta 2000, S. 183-204 sowie Ehrlicher, Hanno: „Künstliche Zeugungen: Männliche Schöpfungsmythen und mediale Selbstreproduktion im italienischen Futurismus“, Vortrag innerhalb der Tagung Alte Mythen – Neue Medien, Siegen, 2.-3. Februar 2004, erscheint unter dem gleichnamigen Titel in Hoffmann, Yasmin/Hülk, Walburga/Roloff, Volker (Hrsg.): Alte Mythen – neue Medien, Heidelberg 2006. 24 Houellebecq, Michel: Elementarteilchen, Köln 1998. 25 Über die einzelnen Teilprojekte der Zusammenarbeit können aktuelle Information unter folgender URL aufgerufen werden: www.tca.uwa.edu.au. 26 Catts, Oron/Zurr, Ionat: „Growing Semi-Living Sculptures: The Tissue Culture & Art Project“, in: Leonardo, Jg. 35, Nr. 4, 2002, S. 365-370, hier S. 365. 27 Ausstellung „L’art biotech“, Nantes, März-April 2003; vgl. hierzu Hauser, Jens (Hrsg.): L’Art biotech, Nantes 2003. 28 Catts, Oron/Bunt, Stuart: „Symbiotica, das kollaborative Forschungslabor für Kunst und Wissenschaft“, URL: www.symbiotica.uwa.edu.au, 29.09.2005.

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ba‘) –, die futuristischen Phantasien eines ‚neuen‘, multiplizierten Lebewesens und seiner ‚Erschaffung‘ aus dem ‚Geiste‘ aktueller Technik weiter unter Hinterfragung der Arbeit am Genmaterial. Our work is conceptually closer to cybernetics, machine/nature hybrids and the effect of technologies on complex biological systems, then to molecular biology-based-art – although we often use genetically modified cells and utilize other aspects of molecular biology. We are exploring the formation of a new class of object/beings which we refer to as ‚semi-living‘ objects“29

Der Traum von einer geschlechtslosen Reproduktion, mit der Konsequenz eines „next sex, created in the artificial womb“, das zur Befreiung von „the ‚natural‘ binary constraints of sex“ führen soll, um in „new forms and new plays“ zu kulminieren, offenbart sich hier weniger als der Traum von einem Zustand vor dem ‚Sündenfall‘. Vielmehr verfolgen die Formel, „we were never innocent“ gleichermaßen wie die Idee einer spielerischen, jenseits biologischer Regeln einer höhergestellten Instanz stehenden Schöpfung, den Traum eines außerhalb der Moralregeln stehenden, göttlichen Schöpfungsspiels mit lebenden Formen. In den Texten des Tissue Culture & Art Project programmatisch formuliert, sind die Realisierungen des Künstlerduos Oron Catts und Ionat Zurr Weiterführungen und keine bloßen Plagiate drastischer Schock-Praktiken der historischen Avantgarden. Symbiotic A konstruierte 1998 eine B(W)omb (Abb. 6), eine Montage aus epidermalen Gewebe und Bindegewebe, das über eine Glasfigurine gestülpt wurde und die Form einer Bombe imitierte. Mehr noch zitiert sie die Gestalt der paleolitischen Frauendarstellungen, die aufgrund ihrer ausgeprägten Sexualmerkmale seitens der Kunstgeschichte als Göttinnen der Fruchtbarkeit interpretiert werden (Abb. 7). Die Ambivalenz möglicher Zuschreibungen – Geburt und Zerstörung, Tod und Leben – lässt wesentlich mehr als die einzelnen Manifeste des Duos den Umgang mit den (biologischen) Regeln erahnen, mit welchen sie zu spielen versuchen.

29 Catts/Zurr (wie Anm. 26), S. 365.

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Abb. 6: Oron Catts/Ionat Zurr: B(W)omb, digitale Montage, 175x86 cm, 1998 Abb. 7: Venus von Lespugue Bei der Ars Electronica 2001 stellte das Duo dann die so genannten Sorgenpuppen aus, die, so Ingeborg Reichle, „aus Gewebekulturen [bestanden], die über Prinzipien und Technologien des Tissue Engineering generiert wurden.“30 Die Puppen wurden, so Reichle, zunächst über ein künstliches Biopolymergerüst und mithilfe chirurgischer Nähte in die gewünschte Form gebracht, anschließend mit entsprechenden Zellen übersäht und […] in einen Bioreaktor eingesetzt […] Dieser Bioreactor wird […] als ‚künstliche Gebärmutter‘ bezeichnet.“31

Die lebenden Skulpturen (Abb. 8; rechts im Bild) wachsen während der Ausstellung weiter, und das Duo überlässt die Antworten auf die selbstgestellten Fragen „Will we still attach to sex so much importance, or will we be, at least, free from sex as a compulsory act for creation?“ und „Are we mature enough to make this passage?“ dem jeweiligen Betrachter.

30 Reichle (wie Anm. 5), S. 104. 31 Ebd., S. 104f.

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Abb. 8: SymbioticA: Tissue-Culture-&-Art(ificial)-Wombs-Project; Abb. 9: SymbioticA: Bioreactor Die Experimente des Duos beleuchten möglicherweise die Theorie des organlosen Körpers, die Gilles Deleuze und Felix Guattari von Artaud übernommen haben und die erstmals im Anti-Ödipus erwähnt wird. Der Terminus corps sans organes ist eigentlich ein Kampfruf Antonin Artauds gewesen, mit dem dieser, Monique David-Ménard zufolge, die „Transformationen des Körpers Van Goghs und die damit einhergehenden Transformationen der Natur“ beschrieben habe. Artaud zufolge sei der Mensch „krank, weil er schlecht konstruiert ist“. Seine Chance sei ein „organloser Körper“, der ihn „endlich von seinen Automatismen befreit.“ Erst dann wird ihm, so Artaud, „echte Freiheit geschenkt.“ Es ist die konventionelle, durch die gesellschaftlichen Normen geregelte Organisation des Körpers und der Psyche, die hier hinterfragt und – wie bei Van Gogh so auch bei Artaud – im Akt des Freitodes angeprangert und negiert wird. Der Körper ist, so David-Ménard, binär, einerseits ein Körper, „den ein Künstler fordert, wenn er sich der Deregulierung seiner sämtlichen Sinne anheimgibt“ und sodann die Prinzipien der Gesellschaft unterläuft. Er ist andererseits „ein Ort des Eindringens der Gesellschaft in den Künstler […]. Die Gewalt des Ausreißens der Organe zeugt“ so weiterhin David-Ménard – „von diesem Einbruch und dem damit verbundenen Kampf“32. Deleuze und Guattari übernehmen diese Überlegun32 David-Ménard, Monique: „Was tun mit dem organlosen Körper?“, in: Alliez, Éric/von Samsonow, Elisabeth (Hrsg.): Biographien des organlosen Körpers, Wien 2003, S. 78-94, hier S. 78ff.

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gen Artauds und behaupten, Van Goghs verbrannte Hand bedeute neben einer wahnhaften Kritik an der Gesellschaft auch eine Transformation der Hand. Somit kehren sie die Forderungen der Psychoanalyse und die mit ihr einhergehende Rolle der Sexualität und des Phallus um zugunsten des Anus. Nicht der Wunsch, das Begehren, die familiäre Struktur stehen hier im Vordergrund, sondern vielmehr ein Körper, der sich genau solchen Klassifizierungen widersetzt: Wenn der Phallus in unseren Gesellschaften die Position eines losgelösten Objekts gewonnen hat, das den Mangel an die Angehörigen der beiden Geschlechter verteilt und das ödipale Dreieck organisiert, dann geschieht eben diese Ablösung dank des Anus, der den Penis aufhebt und damit den Phallus konstruiert.33

Es ist eine Befreiung von der Psychoanalyse zugunsten der Wunschmaschinen, die hier angesprochen wird. Und verbirgt sich hinter den Experimenten am referenzlosen Biomaterial nicht die gleiche Aussage? Sicherlich hinterfragen sie implizit die moralischen Grundlagen der Gesellschaft. Die transgenen Manipulationen installieren zusammen mit ihren teils monströsen, chimärenartigen Ergebnissen, durch die Zusammenarbeit mit der Biotechnologie und aufgrund ihres Präsentationsortes – den Ausstellungsräumen und dem Internet – einen Akt zweideutiger Hinterfragung der Wissenschaft und Technik, aber auch der zwiespältigen Reaktionen des Betrachters und zitieren nicht zuletzt hierdurch die wichtigsten performativen (Schock-)Praktiken der historischen Avantgarden. Bisher hauptsächlich hinsichtlich des Happenings und der Performances in der Kunst der 1970er Jahre bemüht, bietet gerade die gegen eine allgemeine Idealisierung des Lebens und des Denkens sich richtende radikale Negation der vermeintlichen Einheit des Körpers seitens Deleuze/Guattari hier die theoretische Plattform für die brisanten, biomedialen Experimente mit ‚lebendigem Material‘ und den dadurch provozierten grundlegenden Konflikt zwischen Biologie, Kunst und Ethik, wie er gegenwärtig innerhalb der Genmanipulationen der Künstlergruppen Symbiotic A und Duo Art Orienté Objet (Marion Laval-Jeantet und Benoît Mangin) oder den transgenen Experimenten von Eduardo Kac bewusst ausgetragen wird. An der Schnittstelle zwischen der Genmanipulation und der Kunst positioniert, schöpfen die Objekte der Biotech-Art ihre Kraft aus ihrer Schockwirkung und ihrer Umstrittenheit. Gerade darin liegen ihre biofuturistischen und biomedialen Implikationen.

33 Deleuze/Guattari (wie Anm. 4), S. 181f.

AUTORENVERZEICHNIS Marijana Erstić: Studium der Germanistik, Italianistik und Kunstgeschichte in Zadar und Siegen. 2002-2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin im FK Medienumbrüche der Universität Siegen; derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Forschungsprojekt Macht und Körperinszenierungen. Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde. Dissertation über die Familienbilder bei Luchino Visconti, Veröffentlichungen zu den Avantgarden in der Romania, zur Intermedialität sowie zu den Konzepten von Bewegung, Wahrnehmung und Gedächtnis um 1900 und 2000. Herausgeberin der Anthologie Zagreb erlesen (Klagenfurt 2001). Zusammen mit Gregor Schuhen und Tanja Schwan Mitherausgeberin von Avantgarde – Medien – Performativität. Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Bielefeld 2005). Uta Felten: Professorin für französische, frankophone und italienische Literaturwissenschaft an der Universität Leipzig seit April 2004; Aktuelle Forschungsschwerpunkte Gender-und Körperdiskurse in Literatur, Film und Malerei (María de Zayas, Frida Kahlo, Catherine Breillat u.a.), Positionen des modernen Kinos in Frankreich und Italien, Diskursivierungen des Eros in der italienischen Oper. Auswahlbibliographie: Traum und Körper bei Federico García Lorca. Intermediale Inszenierungen, Tübingen: Stauffenburg 1998; Figures du désir. Untersuchungen zur amourösen Rede im Film Eric Rohmers, München: Fink 2004; zus. mit Volker Roloff (Hrsg.), Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus, Bielefeld: Transcript: 2004; zus. mit Volker Roloff (Hrsg.), Proust und die Medien, München: Fink 2005. Randi Gunzenhäuser hat Amerikanische Literatur- und Kulturgeschichte sowie Theaterwissenschaft an den Claremont Colleges (Kalifornien, USA) und an der Ludwig-Maximilians-Universität München studiert und dort auch promoviert. Die Dissertation Horror at Home: Genre, Gender und das Gothic Sublime, erschien 1993. Die Habilitationsschrift über Maschinenmenschen in verschiedenen Medien, Automaten – Roboter – Cyborgs: Körperkonzepte im Wandel, erschien 2006 beim Wissenschaftlichen Verlag Trier. Randi Gunzenhäuser unterrichtet Literatur-, Kultur- sowie Medienwissenschaften an der TU Chemnitz und der Universität München. Von 2000 bis 2002 koordinierte sie ein amerikanistisches Forschungsprojekt zu Hypertexten an der TU Chemnitz. Ab Sommersemester 2006 unterrichtet sie an der Universität Dortmund. Momentan forscht sie zum Ver-

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hältnis von Bild und Ton in der Literatur und anderen Medien und analysiert den Einfluss auditiver Elemente auf Identifikationsprozesse. Das Buchprojekt Serial Thrills beschäftigt sich mit dem Konzept des umkämpften Raums in serialisierten Texten seit 1900. Karin Harrasser: Germanistin und Kulturwissenschafterin. Diplomarbeit zu Science Fiction. 2002-2005 Wissenschaftliche Betreuung und Koordination des Forschungsprogrammes Gender IT! für das bm:bwk. Seit 2000 Herausgabe und Redaktion der Zeitschrift sinn-haft. Zeitschrift zwischen Kulturwissenschaften. Mitglied der AG Kulturwissenschaften/Cultural Studies an der Universität Wien. 2005 Promotion zum Thema Computerhystorien. Digitalisierungsdiskurse der 1980er Jahre. Lehraufträge an diversen Universitäten. Derzeit Post-doc-Stipendium am Graduiertenkolleg Codierung von Gewalt im medialen Wandel an der Humboldt-Universität Berlin, Forschungsschwerpunkte: Cultural Studies of Science and Technology, Gender Studies, Populärkultur, Erzähltheorie, Theorien des Subjekts. Ausgewählte Publikationen: Dissertation: Computerhystorien. Erzählungen der digitalen Kulturen um 1985, Universität Wien; „Von der Cyborg zur Hystorie und zurück. Narrationen in Theorie, Kunst und Politik“ in: Susanne von Falkenhausen, Silke Förschler, Ingeborg Reichle, Bettina Uppenkamp (Hrsg.): Medien der Kunst. Geschlecht, Metapher, Code. Beiträge der 7. Kunsthistorikerinnen-Tagung in Berlin 2002, Marburg (Jonas Verlag) 2004. Walburga Hülk: Professorin für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Siegen; Studien in Münster, Orléans, Freiburg; Lehrtätigkeiten in Freiburg, Gießen, Berkeley/USA; Arbeitsschwerpunkte in der französischen und italienischen Literatur- und Kulturwissenschaft sowie Medienästhetik; DFG-Forschungsprojekt Macht- und Körperinszenierungen. Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde; Publikationen u.a. Schrift-Spuren von Subjektivität in der französischen Literatur des Spätmittelalters (Tübingen 1999), Esthétique du voyeur/Ästhetik des Voyeur (Heidelberg 2003, zs. hrsg. mit Lydia Hartl, Yasmin Hoffmann, Volker Roloff); sowie Alte Mythen – Neue Medien (zs. hrsg. mit Yasmin Hoffmann, Volker Roloff, Heidelberg 2006); zahlreiche Aufsätze zu literarischen, auch komparatistischen Themen vom Mittelalter bis zur Gegenwart; Mitwirkung in Auswahlkommissionen der Studienstiftung des deutschen Volkes.

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Angela Krewani, Dr. phil, ist Professorin für Medienwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Sie promovierte 1992 mit einer Schrift zu Moderne und Weiblichkeit. Amerikanische Schriftstellerinnen in Paris und habilitierte 2000 mit einem medienwissenschaftlichen Thema zur Entdifferenzierung von Mediensystemen, Hybride Formen. New British Cinema – Television Drama – Hypermedia, Trier: WVT. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Theorie digitaler Medien, Gender und Hollywood. Zu Hollywood publizierte sie gemeinsam mit Christian W. Thomsen Hollywood. Recent Developments, Stuttgart: Edition Menges, 2005. Claudia Liebrand: Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Medientheorie am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Universität zu Köln. Ihre Arbeitsgebiete liegen auf den Gebieten Gender Studies, Mainstream Film, Literatur des 19. Jahrhunderts und der Klassischen Moderne – mit einem Schwerpunkt auf dem Feld kultureller Negotiationen und medialer Transfers. Jüngste Publikationen: Einführung in die Medienkulturwissenschaft, hrsg. von Claudia Liebrand, Irmela Schneider, Björn Bohnenkamp und Laura Frahm, Münster 2005; Textverkehr. Kafka und die Tradition, hrsg. von Claudia Liebrand und Franziska Schößler, Würzburg 2004; Hollywood hybrid. Genre und Gender im zeitgenössischen Mainstream-Film, hrsg. von Claudia Liebrand und Ines Steiner, Marburg 2004; Gender-Topographien. Kulturwissenschaftliche Lektüren von Hollywoodfilmen der Jahrhundertwende, Köln 2003 (Mediologie, Bd. 8). Annette Runte, Dr. phil. habil., ist Außerplanmäßige Professorin für Allgemeine und Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Siegen und Professeur des Universités. Studium der Germanistik, Philosophie und Linguistik an den Universitäten Bonn, Bochum, Paris III, Paris VII und Paris VIII, danach Postdoktorandin (1988-1991) am literatur- und medienwissenschaftlichen Graduiertenkolleg der Universität Siegen. Gastprofessuren in Hannover und Rouen. Derzeit tätig am Centre de Recherches sur l’Autriche et l’Allemagne. Veröffentlichungen zur deutschen und französischen Literatur und Kultur des 18. bis 21. Jahrhunderts (u.a. zu Kleist, Droste-Hülshoff, G. Sand, Hofmannsthal, Doderer, V. Leduc, I. Bachmann, E. Jelinek), Psychoanalyse (J. Lacan, J. Kristeva), Intermedialität (Literatur, Malerei, Tanz) und Geschlechterforschung (Travestie, Androgynie). Publikationen (Auswahl): Biographische Operationen. Diskurse der Transsexualität, München: Fink 1996; Lesarten der Geschlechterdifferenz. Studien zur Literatur der Moderne,

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Bielefeld: Aisthesis 2005; Über die Grenze. Zur Kulturpoetik der Geschlechter in Literatur und Kunst, Bielefeld: transcript 2006; zus. mit Eva Werth (Hrsg.) Feminisierung der Kultur? Krisen der Männlichkeit und weibliche Avantgarden/Féminisation de la civilisation? Crises de la masculinité et avant-gardes féminines, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006 (im Druck). Sabine Schrader: Studium der Romanistik, Geschichte und Philosophie/Pädagogik an den Universitäten Göttingen, Venedig, Köln. 1998 Promotion an der Universität Köln: „Mon cas n'est pas unique“. Der homosexuelle Diskurs in der französischen Autobiographie des 20. Jahrhunderts (Stuttgart: Metzler 1999). Wiss. Assistentin am Institut für Romanistik der Universität Leipzig. Habilitationschrift zu Literatur und Film zu Beginn des Novecento. Z.Z. DFG-Forschungsprojekt La Scapigliatura an der TU Dresden. Forschungsschwerpunkte: Intermedialität (Literatur – Malerei, Literatur – Film/Fotographie/digitale Medien), Kanonisierungsprozesse, gender- und queer studies. Gregor Schuhen: Studium der Romanistik und Anglistik in Siegen und Paris. Von 2003 bis 2005 Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung. Derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Forschungsprojekt Macht und Körperinszenierungen. Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde an der Universität Siegen, Mitarbeiter am Lehrstuhl Prof. Dr. Uta Felten an der Universität Leipzig und freier Mitarbeiter im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Literaturressort). Forschungsschwerpunkte: Französische Literatur vom 18. bis 20. Jhdt., Popkultur, klassische Avantgarden, Intermedialität im aktuellen Film. Veröffentlichungen zur genderspezifischen Lektüre von Marcel Proust, zum zeitgenössischen Film (MOULIN ROUGE, HABLE CON ELLA, 8 FEMMES), zum Verhältnis von Gender Studies und Popkultur. Dissertation zum Thema Erotische Maskeraden. Sexualität und Geschlecht bei Proust (Anerkennungspreis der Marcel Proust Gesellschaft e.V., 2005). Zusammen mit Marijana Erstić und Tanja Schwan Mitherausgeber von Avantgarde – Medien – Performativität. Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts (Bielefeld: transcript 2005). Tanja Schwan: wissenschaftliche Mitarbeiterin für französische und italienische Literaturwissenschaft und Kulturstudien am Institut für Romanistik der Universität Leipzig; zuvor in verschiedenen Forschungsprojekten an der Universität Siegen. Dissertationsprojekt Kontinuität in der Abweichung? Réécritures französischer Autorinnen des 16. Jahrhun-

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derts: Topoi, Metaphern, Mythen. Lehr- und Forschungsschwerpunkte sowie Publikationen in den Bereichen Literatur- und Kulturtheorie (Gender Studies, New Historicism), Medienarchäologie, -anthropologie und -ästhetik (Praktiken der Körperinszenierung) sowie Frühe Neuzeit (Querelle des Sexes) und Avantgarden der Romania (Futurismus, Surrealismus). Katalin Székely hat ihr Studium der Medien-Planung, -Entwicklung und -Beratung an der Universität Siegen als Diplom-Medienwirtin abgeschlossen. In ihrer Diplomarbeit Japanische Bilderzählungen und ihre Attraktivität für europäische Kulturen beschäftigt sie sich unter anderem mit den gender-typischen Ausprägungen der japanischen Comickultur. Derzeit ist Katalin Székely für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des IT-Dienstleisters Babtec Informationssysteme GmbH tätig. Hedwig Wagner: Studium der lettres modernes in Clermont-Ferrand und Angewandte Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis in Hildesheim. Seit 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl MedienPhilosophie der Bauhaus-Universität Weimar und Dozentin der DeutschFranzösischen Hochschule. 2005 schloss sie ihre Dissertation Gender als Medium. Die Prostituierte als Film- und Diskursfigur ab. Publikationen: Theoretische Verkörperungen. Judith Butlers feministische Subversion der Theorie, Frankfurt a.M.: Lang 1998; Mitherausgeberin von: Wie der Film den Körper schuf. Ein Reader zu Gender und Medien, Weimar: vdg-Verlag 2006; „Der Körper in der Theorie: Zum Verhältnis von Medientheorie und Feministischer Filmtheorie“, in: Monika Bernold, Andrea B. Braidt und Claudia Preschl (Hrsg.): Screenwise. Film, Fernsehen, Feminismus, Marburg: Schüren 2004.

Medienumbrüche Peter Gendolla, Jörgen Schäfer (eds.) The Aesthetics of Net Literature Writing, Reading and Playing in Programmable Media November 2006, ca. 400 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN: 3-89942-493-X

Walburga Hülk, Gregor Schuhen, Tanja Schwan (Hrsg.) (Post-)Gender Choreographien / Schnitte September 2006, 236 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-277-5

Ralf Schnell (Hrsg.) MedienRevolutionen Beiträge zur Mediengeschichte der Wahrnehmung August 2006, 208 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-533-2

Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka, Volker Roloff (Hrsg.) Die grausamen Spiele des »Minotaure« Intermediale Analyse einer surrealistischen Zeitschrift 2005, 206 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-345-3

Josef Fürnkäs, Masato Izumi, K. Ludwig Pfeiffer, Ralf Schnell (Hrsg.) Medienanthropologie und Medienavantgarde Ortsbestimmungen und Grenzüberschreitungen 2005, 292 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-380-1

Ralf Schnell (Hrsg.) Wahrnehmung – Kognition – Ästhetik Neurobiologie und Medienwissenschaften

Rainer Geißler, Horst Pöttker (Hrsg.) Integration durch Massenmedien / Mass Media-Integration Medien und Migration im internationalen Vergleich Media and Migration: A Comparative Perspective

2005, 264 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-347-X

Januar 2006, 328 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-503-0

2005, 242 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-346-1

Ralf Schnell, Georg Stanitzek (Hrsg.) Ephemeres Mediale Innovationen 1900/2000

Nicola Glaubitz, Andreas Käuser, Hyunseon Lee (Hrsg.) Akira Kurosawa und seine Zeit 2005, 314 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-341-0

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Medienumbrüche Rainer Geißler, Horst Pöttker (Hrsg.) Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland Problemaufriss – Forschungsstand – Bibliographie 2005, 546 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-280-5

Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hrsg.) Spannungswechsel Mediale Zäsuren zwischen den Medienumbrüchen 1900/2000 2005, 220 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-278-3

Marijana Erstic, Gregor Schuhen, Tanja Schwan (Hrsg.) Avantgarde – Medien – Performativität Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts 2004, 370 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-182-5

Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka, Volker Roloff (Hrsg.) Französische Theaterfilme – zwischen Surrealismus und Existentialismus 2004, 334 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-279-1

Uta Felten, Volker Roloff (Hrsg.) Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus 2004, 364 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-184-1

Jens Schröter, Alexander Böhnke (Hrsg.) Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung 2004, 438 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-254-6

Matthias Uhl, Keval J. Kumar Indischer Film Eine Einführung

Peter Gendolla, Jörgen Schäfer (Hrsg.) Wissensprozesse in der Netzwerkgesellschaft

2004, 174 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 3-89942-183-3

2004, 286 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-276-7

Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hrsg.) Theater und Schaulust im aktuellen Film 2004, 172 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 3-89942-181-7

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de