Natur [1. Aufl.] 9783839403402

Natur ist Gegenbegriff von Gesellschaft, von Kultur, vom Sozialen, kurz: sie ist alles, was der Mensch nicht erschaffen

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German Pages 142 [145] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
I. Einleitung: Natur als soziologisches ›Einzugsgebiet‹
II. Soziologie und menschliche Natur
III. Gesellschaft und Naturprozess
IV. Soziologie und Geographie
V. Pflanzen-, Tier- und Humanökologie
VI. Die Soziologie und die Natur der Naturwissenschaft
VII. Soziologie und ökologische Krise
VIII. Ausblick
Anmerkungen
Literatur
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Natur [1. Aufl.]
 9783839403402

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Matthias Groß Natur

Die Beiträge der Reihe Einsichten werden durch Materialien im Internet ergänzt, die Sie unter www.transcript-verlag.de abrufen können. Das zu den einzelnen Titeln bereitgestellte Leserforum bietet die Möglichkeit, Kommentare und Anregungen zu veröffentlichen. Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme!

Einen Einblick in die ersten zehn Bände der Einsichten gibt die Multi-Media-Anwendung »Einsichten – Vielsichten«. Neben Textauszügen aus jedem Band enthält die Anwendung ausführliche Interviews mit den Autorinnen und Autoren. Die CD-ROM ist gegen eine Schutzgebühr von 2,50 € im Buchhandel und beim Verlag erhältlich.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2006 transcript Verlag, Bielefeld Lektorat: Kai Reinhardt, Bielefeld Herstellung: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-340-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Inhalt

I. Einleitung: Natur als soziologisches ›Einzugsgebiet‹ II. 1. 2. 3. 4.

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Soziologie und menschliche Natur 9 Natürliches Verhalten und sinnhaft orientiertes Handeln 10 Gene, das menschliche Gehirn und die Soziobiologie 14 Soziologie und die Natur der Geschlechterverhältnisse 21 Das stahlharte Gehäuse: Menschenaffen und die industrielle Gesellschaft 24

III. Gesellschaft und Naturprozess 30 1. Organizismus und die Entwicklung der Gesellschaft 31 2. Die Durchsetzungskraft der Organismusmetapher 36 3. Globalisierung als Naturgeschichte 42 IV. Soziologie und Geographie 48 1. Geographischer Determinismus und die Ökologie der Gesellschaft 49 2. Geographie als Lebenswissenschaft 54 3. Soziologie, Blüte der Geographie? 56 4. Soziale Einflüsse und die geographische Umwelt 59 V. Pflanzen-, Tier- und Humanökologie 64 1. Soziologie als Teil der Tierökologie 64 2. Überlappende Einzugsgebiete: Disziplinäre Ansprüche auf die Humanökologie 66 3. Soziologische Humanökologie oder Aufgabe disziplinärer Identität? 74 VI. Die Soziologie und die Natur der Naturwissenschaft 79 1. Die zwei Symmetrieprinzipien der Wissenschaftssoziogie 80 2. Die Wirklichkeit der Natur in Aktion 84 3. Cyborg-Städte und andere Monstrositäten 88 4. Das Ende der Hybridisierung? 91

VII. Soziologie und ökologische Krise 94 1. Umweltsoziologie oder Soziologie der Natur? 95 2. Der Konstruktivismus des umweltsoziologischen Realismus 100 3. Der objektive Unterbau des Konstruktivismus 103 4. Netzwerke, gestörte Stoffwechselprozesse und ökologische Modernisierung 105 VIII. Ausblick

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Anmerkungen

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Literatur

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I. Einleitung: Natur als soziologisches ›Einzugsgebiet‹ Warum ein Soziologiebuch, das sich mit Natur befasst? Ist Natur nicht das, was die Soziologie gerade nicht interessiert? Oft löst das Thema in der Soziologie Unbehagen aus. Was hat Natur dann mit Einsichten in die Soziologie zu tun? Sehr viel! Das Thema »Natur« gehört zur Soziologie wie das Thema »Gesellschaft«, wenngleich meist versteckt, verklausuliert oder in expliziter Abgrenzung. Soziologie kann Gesellschaft nur über den Bezug zu Natur verstehen. Dieses Buch ist daher auch eine Einführung in den sich immer wieder ändernden Gegenstand der Soziologie und ihren Untersuchungsbereich »Gesellschaft«. Natur bedeutet im Alltag – wie auch in der Soziologie – viele verschiedene Dinge. Natur wird oft als das Ursprüngliche und Gute betrachtet, das in Gegensatz zu Gesellschaft als dem Künstlichen und gar Zerstörenden steht. Natur steht aber auch für das Wilde und Bedrohliche, das zum Schutz der Gesellschaft gezähmt wird. Beide Sichtweisen lassen sich auf die innere Natur des Menschen anwenden: Die Natur des Menschen kann das Gute darstellen, das es zu bewahren gilt, sie kann aber auch die dunkle Seite menschlicher Entwicklung beschreiben, die gebändigt werden muss. Der Überblick in diesem Buch stellt nicht nur die Vielfalt und Breite des Themas dar, er zeigt auch, dass die Auseinandersetzung mit Natur nicht unsoziologisch ist, sondern dass dies im Gegenteil die Entstehung und Entwicklung des Fachs maßgeblich begleitet hat. Die soziologische Verarbeitung verschiedener Naturkonzepte ist seit Beginn der Disziplin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für das Verständnis und die Analyse des Sozialen von grundlegender Bedeutung. Dieses Buch zeigt, dass ohne eine Gegenüberstellung von Natur und Gesellschaft – aber auch ohne die beständige Auseinandersetzung mit diesem Gegenüber – die Disziplin Soziologie nicht hätte entstehen können. Das Buch verweist damit auch darauf, dass die Soziologie wahrscheinlich nur durch tiefe Auseinandersetzung weiter Bestand haben kann. Die Kapitel illustrieren an ausgewählten Beispielen, wie sich wichtige soziologische Denktraditionen vom späten 19. bis ins 21. 5

Jahrhundert erst in der Auseinandersetzung mit und der Aufnahme von verschiedenen Naturkonzepten etablieren konnten, und nicht zuletzt dadurch das Untersuchungsobjekt »Gesellschaft« geschaffen und weiterentwickelt wurde. Dabei wird der Fokus auf die Herausbildung, Festlegung und Veränderung von »Einzugsgebieten« der Disziplin Soziologie gelegt. Ein Einzugsgebiet ist hier zu verstehen als der Bereich, den die Mitglieder der Disziplin als das Feld ansehen, in dem sie Daten sammeln, aus dem sie Begriffe übernehmen, theoretische Versatzstücke herausbrechen oder Modelle borgen dürfen. Es geht im Fall von »Natur«, wie sich immer wieder zeigen wird, aber nicht nur um reine Grenzverschiebungen und Abgrenzungsarbeit (Gieryn 1999), sondern auch um das Neuentdecken von disziplinären Regionen. Manche davon galten lange Zeit als nicht der Soziologie zugehörig bzw. sie ›ziemten‹ sich nicht mehr, zur Soziologie dazuzugehören, oder sie wurden zunehmend von anderen Disziplinen mitgenutzt. Der Begriff der disziplinären Einzugsgebiete zeigt auch an, dass Grenzen nicht nur durchlässig, sondern gar nicht immer erkennbar sind. Es handelt sich eher um überlappende Regionen ähnlich wie »Fischschuppen« (Campbell 1969) oder ineinander übergehende ›Wolken‹. Einzugsgebiete haben zudem – ohne in Zufälligkeit zu münden – etwas Unvorhergesehenes, in dem Sinne, dass man gelegentlich einmal von diesem, einmal von jenem disziplinären Teller naschen kann oder ein Konzept ausleiht, ohne aber seine eigene ›Heimat‹ dauerhaft zu verlassen. Regionen, in denen Formen von »Natur« als zu unsoziologisch betrachtet werden, können auch Generationen von Soziologen und Soziologinnen später als fruchtbare, wenngleich »brachliegende Flächen« (Abbott 2001) wieder entdeckt werden. Das Überlappen und die Wandlung von Einzugsgebieten in der Soziologie lässt sich im Fall von Natur besonders gut beobachten. Es geht daher im Folgenden auch darum zu erläutern, wie die Soziologie zur disziplinären Identitätsbildung und Weiterentwicklung immer wieder Natur – und damit scheinbar Unsoziologisches als Erklärungsressource – in ihr Einzugsgebiet hineingenommen (und gelegentlich wieder hinausgeschoben) hat, nur um gewissermaßen eine eigene, entnaturalisierte Natur-Variante etablieren zu können. Im Zusammenhang mit der Erhaltung 6

des eigenen Fachs ist die Bestimmung von Einzugsgebieten der Soziologie zum einen wichtig, um die Identität der Disziplin zu festigen, zum anderen aber auch, um eine legitime Grundlage für die Kooperation mit Nachbardisziplinen zu schaffen. Dieses Buch bietet daher einen Überblick über 150 Jahre »Natur« in der Soziologie. Hierzu gehört selbstverständlich die Diskussion über die menschliche Natur, wie sie seit den 1970er Jahren, insbesondere in der Soziobiologie, ausgetragen wurde und wird. Diese Debatte ist, wie fast alle Naturthemen, so alt wie die Disziplin Soziologie selbst. Die Diskussion um die innere Natur des Menschen, die Zentralität von »Instinkten« für menschliches Sozialverhalten oder die Bedeutung von natürlicher Anpassung haben Soziologen und Soziologinnen bereits früh beschäftigt. Dies wird Thema des II. Kapitels sein. Daran schließt sich in Kapitel III die Frage an, ob (und wenn ja: wie) sich gesellschaftliche Prozesse von Naturprozessen unterscheiden lassen, oder ob nicht erstere nur eine besondere Form eines bestimmten Naturprozesses sind. Insbesondere die Vorstellung von der menschlichen Gesellschaft als natürlichem Organismus kann als Grundlage des Fachs Soziologie gesehen werden, denn erst dadurch konnten Autoren wie Emile Durkheim Gesellschaft als eigenen soziologischen Untersuchungsbereich etablieren. Setzt man die analytische Unterscheidung von Gesellschaft und äußerer Natur bereits voraus, drehen sich die Diskussionen oft um die Bedeutung der geographischen Umwelt für Gesellschaft. Soziologische Ansätze, die verstärkt versuchen, menschliche Gesellschaft als (besonderen) Teil dieser Umwelt zu denken, hatten immer einen wichtigen Einfluss auf die Weiterentwicklung des Fachs. Kapitel IV diskutiert daher die Nähe der frühen amerikanischen Soziologie zur Humangeographie. Insbesondere die sich sehr stark ähnelnden disziplinären Einzugsgebiete beider Fächer an der Universität Chicago im frühen 20. Jahrhundert sollen hier Thema sein, da sich daran die Eigenarten der Soziologie im Vergleich zu anderen Disziplinen und deren Naturzugänge verdeutlichen lassen. Kapitel V fährt – hieran anknüpfend – mit Diskussionen um die Rolle der menschlichen Gesellschaft in den Disziplinen der Pflanzen- und Tierökologie des frühen 20. Jahrhunderts fort, um zu dem unsicheren Boden hinzuführen, auf 7

dem sich Gesellschaft als ›Nicht-Natur‹ abzuspielen scheint. Die Herausforderungen und Chancen einer daraus entwickelten soziologischen Humanökologie knüpfen hier an, weil aus dieser Denkrichtung und ihrer Auseinandersetzung mit Natur einige der heute noch wichtigen Ansätze des Fachs – von der teilnehmenden Beobachtung bis zur Stadtsoziologie – hervorgingen. Kapitel VI diskutiert dann den Wandel der Bedeutung von Natur in wissenschaftssoziologischen Analysen. Hierzu gehören neuere Diskussionen über eine Hybridisierung von Natur und Gesellschaft und die damit verbundenen Herausforderungen für die Soziologie. Daran schließt sich in Kapitel VII die umweltsoziologische Debatte seit den 1970er Jahren an. Es geht hier sowohl um die konzeptuelle Erfassung und Bedeutung der Rückwirkungen ökologischer Prozesse auf Gesellschaft als auch um Diskussionen der sozialen Konstruiertheit von versus einer ›objektiv‹ gegebenen Natur. Der abschließende Ausblick resümiert die beständige Bedeutung von »Natur« in der Soziologie.

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II. Soziologie und menschliche Natur Wahrscheinlich am prominentesten und für die Disziplin sehr nachhaltig stellte Max Weber (1864-1920), eine der wichtigsten Gründerfiguren der Soziologie, das naturhafte und in diesem Sinne unbewusst-körperliche Verhalten dem subjektiven und sinnhaften Handeln gegenüber. Die Aufgabe der Soziologie sieht Weber darin, die »sinnhaft orientierten Handlungen deutend zu verstehen« (Weber 1972: 3). Handeln ist hier verstanden als eine Aktivität, die für den Handelnden subjektiv mit Sinn verbunden ist und sich sinnhaft am Verhalten Anderer orientiert. Ein soziologisches Verständnis von Handeln kann, wie zum Beispiel später bei George Herbert Mead (1863-1931) deutlicher wurde, mit einem Konzept des Sichverhaltens zu materiellen Objekten und damit zur äußeren Natur erweitert werden (Mead 1977; vgl. Joas 1980; Capek 2006; Puddephatt 2005). Die innere Natur des Menschen wurde bei Weber jedoch analytisch vom bewussten Handeln getrennt. Das kann wie folgt ausgelegt werden: Wer sinnhaft handelt, hat seine innere Natur im Griff, weshalb sie soziologie-analytisch ausgeklammert werden kann. Dies passierte auch in weiten Teilen der Soziologie bis in 1970er Jahre. In dieser Zeit wurde die Kontroverse über die biologischen Grundlagen des Sozialverhaltens durch die Soziobiologie in die breitere Öffentlichkeit getragen und erinnerte damit auch die Soziologie wieder an die biologische Natur des Menschen. Die sich an das Auftauchen der Soziobiologie anschließende Debatte und einige der soziologischen Reaktionen hinsichtlich der Eigenständigkeit und der Nutzung ihrer Einzugsgebiete sollen die folgenden Kapitel erläutern. In Kapitel II/1 werden meist klassische soziologische Versuche zum Thema menschliche Natur diskutiert, um anschließend in Kapitel II/2 die Bedeutung für die heutige Soziologie durch die Debatte um die Soziobiologie sowie die Neurobiologie zu erläutern. Kapitel II/3 wirft ein Schlaglicht auf die Diskussion um die ›natürliche‹ Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Kapitel II/4 zeigt dann am Beispiel des sozial-evolutionären Ansatzes von Alexandra Maryanski und Jonathan H. Turner, wie das Einzugsgebiet der Soziologie in Abgrenzung zur Soziobiologie erweitert wird und wie natürliche Erklärungen soziologisiert ^

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werden, um als Alternative zu den Ansätzen der Biologie angeboten werden zu können.

1. Natürliches Verhalten und sinnhaft orientiertes Handeln Deutlicher als Weber haben Ferdinand Tönnies (1855-1936) und Vilfredo Pareto (1848-1923) die Natur des Menschen soziologisch thematisiert. Tönnies ging davon aus, dass alle sozialen Beziehungen durch den menschlichen Willen hervorgebracht werden. Als soziale Tatsachen existieren Beziehungen nur durch den Willen des Individuums, Verbindungen einzugehen. Dieser Wille und die Beziehungen der Menschen zueinander können sich von einer zur nächsten Situation radikal ändern. Tönnies’ bekannte Idealtypen der Willensformen sind der Kür- und der Wesenswille. Der Kürwille, oft verglichen mit Webers zweckrationalem Handeln, beschreibt die Grundlage der Verwirklichung zweckhaft kalkulierter menschlicher Aktivitäten. Der Wesenswille beschreibt hingegen das natürliche Verhalten – in englischen Übersetzungen von Tönnies’ Arbeiten taucht er als »natural will« auf (vgl. Loomis 1955) –, in dem Beziehungen, wie zum Beispiel Freundschaften, als Selbstzweck angesehen werden. Dieser Wesenswille steht für das konditionierende und ursprüngliche Element in jedem Willensprozess, der sich aus dem naturhaften Temperament oder dem naturhaften Charakter des Individuums ableitet. Bei Tönnies ist dieser Wesenswille nicht durchgehend durch Irrationalität gekennzeichnet. Er bezeichnet den Wesenswillen sogar einmal als vergleichbar mit einem Teilbereich von Webers Verständnis der Wertrationalität (Tönnies 1931: 6). Es ist bei Tönnies die widersprüchliche Natur des Menschen, in der beide Formen des Willens beständig wirken – häufig auch gegeneinander. In modernen Gesellschaften entwickelt sich, so Tönnies, immer mehr der Kürwille und zunehmend weniger das »Wesenhafte« des menschlichen Verhaltens weiter. Das Verhalten innerhalb der engeren Familie in traditionellen Gemeinschaften war in Tönnies’ Beschreibungen jedoch noch als natürlich zu verstehen (Tönnies 1979). Interessant ist hier, dass Tönnies die gemein10

schaftliche Form des Zusammenlebens nicht romantisiert und die gesellschaftliche verdammt – oder umgekehrt, wie Durkheim in seiner Gegenüberstellung von mechanischer und organischer Solidarität (vgl. Sorokin 1956: 491). Für Tönnies ist es vielmehr die Spannung zwischen den beiden Formen der sozialen Verbindungen sowie die widersprüchliche Natur des Menschen, die durch den Widerstreit als Voraussetzung für Fortschritt und sozialen Wandel in der Moderne angesehen werden sollte. Wie genau das zu verstehen sein könnte, wird bei Tönnies jedoch nicht klar. Bei Vilfredo Pareto war es die Derivationslehre, die ihn in Bezug auf die soziologische Erfassung der menschlichen Natur bekannt machte. Derivationen sind für Pareto schein-logische Erklärungen einer Handlung, da alle rationalen Aktivitäten und geistigen Regungen des einzelnen Menschen auf eine schwer zu ermittelnde »Triebschicht« zurückzuführen sind, die er in Residuen einteilte. Für Pareto standen interessanterweise genau diese Residuen, die nicht-rationalen Prozesse menschlicher Aktivitäten, im Zentrum seiner Soziologie (vgl. Pareto 1975: 355-378). Pareto setzt damit unter das rationale Handeln eine schwer zu fassende naturhafte Grundlage. In seinem Ansatz werden Handlungen als schein-rational bezeichnet, weil Menschen erst nach einer Handlung eine rationale Erklärung für diese nachreichen. Dies deutet auf eine Umkehrung der aktiven Rolle im Handeln des Individuums hin und verweist damit auf Parallelen zu heutigen Diskussionen über neurologische und genetische Erklärungen für Handlungen und Entscheidungen (vgl. Nielsen 2005: 200, 216; Lopreato 1973).1 Den Tiefen der menschlichen Natur wurde bei Pareto damit zumindest eine zentrale, aber nicht eindeutig positive Rolle für die Entwicklung des Individuums in der Gesellschaft zugesprochen. Auf den ersten Blick ähnlich wie Pareto – und mehr noch wie die beiden Willensformen bei Tönnies – hatte George Herbert Mead, der stark von der Evolutionstheorie Darwins beeinflusst war, die biologische Natur des Individuums in seiner Gegenüberstellung des »I« und des »me« zu fassen versucht. Das »Ich« (»I«) ist bei Mead, wie auch bei Sigmund Freud und vielen anderen Autoren des frühen 20. Jahrhunderts, sozusagen nicht immer 11

Herr im eigenen Haus, da es naturgegebene Impulse in das rationale Handeln sendet. Es ist bei Mead jedoch nicht ein schwer zu ermittelndes Etwas, sondern interessanterweise der Ursprung des freien Handelns. Es ist zudem das Rohmaterial, welches vom »me«, dem reflexiven und rationalen Teil des Selbst, zur Verfügung gestellt und durch Erfahrungen weiter verarbeitet wird. Das »I« kann das Verhalten eines Menschen maßgeblich steuern, ohne dass dieser sich während seines Tuns darüber bewusst ist. Dies geschieht nach Mead dann, wenn nicht genügend Input durch das »me« vorhanden ist. So verstanden sind Menschen fähig, jenseits des bewussten Handelns zu ›handeln‹, denn sie sind, so Mead, niemals reine soziale und rational handelnde Wesen, immer kann die menschliche Natur ihnen einen Streich spielen. Menschen können sogar von ihrem eigenen Handeln überrascht werden, weil sie eine Handlung nicht bewusst geplant haben. Mead diskutiert zwar auch negative Folgen eines starken »I«, aber grundsätzlich sieht er die Rolle positiv, denn hierin liegt bei ihm die Quelle von Kreativität, neuen Erfindungen und damit die Triebfeder von Fortschritt und Modernisierung (Mead 1977: 199-246). In dieser Hinsicht ähnelt sein Ansatz dem von Tönnies. Allerdings gelang es Mead zu erklären, warum die Spannung zwischen der Naturseite und der Gesellschaftsseite im Individuum die Voraussetzung für gesellschaftlichen Fortschritt darstellt. Wie bei Mead gilt natürliches Verhalten im Alltag auch heute noch meist als etwas Positives. Natürlichkeit wird positiv bewertet, weil sie mit den Eigenschaften ›ungekünstelt‹, ›ursprünglich‹, ›unverstellt‹ oder ›ehrlich‹ gleichgesetzt wird. Natürlichkeit bedeutet dann: ›nicht von der Gesellschaft verdorben‹. Es handelt sich hier um Charakterisierungen, die einen Menschen dafür auszeichnen, dass er oder sie sich etwas bewahrt hat, das im Laufe des menschlichen Lebens in der Gesellschaft nicht mehr als vorhanden erwartet wird. Dies deutet darauf hin, dass erwartet wird, dass solch ›natürliche‹ Eigenschaften im Laufe eines Lebens zunehmend verloren gehen, weil sie dem gesellschaftlichen Alltag des Lebens nicht standhalten können. In der Kriminalistik ging es jedoch immer wieder darum, die Schattenseiten der menschlichen Natur zu enttarnen und zu erforschen, ob es nicht eine an12

geborene böse Natur des Menschen gibt. Die Rede von einer menschlichen Natur ist daher immer ambivalent, je nachdem, ob die bösen tiefen Schichten oder die erstrebenswerten Eigenschaften von Menschen angesprochen werden (vgl. Faris 1937; Inglis et al. 2005). Was aber könnte Natürlichkeit im Sinne einer Ursprünglichkeit sein, die über die metaphorische Verarbeitung von Tönnies, Mead oder Pareto hinausgeht? Hier gehen die Meinungen und Interpretationen auseinander. Die Bedeutung von Rasse, Auslese, Abstammung und natürlicher Anpassung für gesellschaftliche Entwicklung wurde zwar bereits lange diskutiert, bevor es die Soziologie als Disziplin gab. Aber die Diskussionen innerhalb der Soziologie liefern ein ambivalentes Bild, denn in der frühen soziologischen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts finden sich immer wieder Auseinandersetzungen über die große Bedeutung von der inneren Natur bestimmter Volksgruppen oder »Rassen«. Neben Otto Ammon (1842-1916) war ein auf »rassischen« Grundlagen beruhendes Konzept von gesellschaftlichem Fortschritt am deutlichsten bei Ludwig Gumplowicz (1838-1909) zu finden. Gumplowicz, der zu Lebzeiten als Sozialdarwinist verstanden wurde, gebrauchte in seinem Buch »Der Rassenkampf« (1883) den Rassenbegriff jedoch als einen an ethnische Gruppen angelehnten Terminus. Aus heutiger Sicht kann Gumplowicz eher als ein Vorläufer der soziologischen Konflikttheorie betrachtet werden und seine Arbeiten sind als direkter Einfluss auf klassische gruppentheoretische Ansätze der Soziologie zu sehen (vgl. Acham 1995). Für Gumplowicz entwickelte sich Fortschritt aus Konflikten, zuerst zwischen »Rassen« und dann zwischen Staaten. Der Staat fungierte dann wieder als Institution zur Unterwerfung bestimmter »Rassen«. Diese Konflikte zwischen Gruppen werden in seinem Verständnis von gesellschaftlicher Entwicklung als »ewiger Rassenkampf« aufgefasst. Dieses Modell der Entwicklung ist bei Gumplowicz als Naturgesetz verstanden (vgl. Brix 1986; Weingart 2000). Otto Ammon verfolgte jedoch eine ganz andere Form der Lehre Darwins. Er stützte sich allgemein auf die Darwin-Wallace-These vom universellen biologischen Prinzip der natürlichen Auslese, womit sich viele Phänomene in der Natur bis hin zum menschlichen Verhalten erklären lassen.2 Ammon, 13

ein Sozialanthropologe und Soziologe, kritisierte in seinem Buch »Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen« (1900) bestehende Theorien der Soziologie insbesondere dahingehend, dass sie sich nur über einen ökonomischen Ansatz den sozialen Problemen genähert hätten. Wie viele Kollegen seiner Zeit schlägt er eine biologische Erklärungsweise vor, die sich auf die Lehre Darwins stützen sollte. Ammon war einer der Sozialwissenschaftler, die auch von dem Zoologen Ernst Haeckel (18341919) unterstützt wurden. Das ist nicht verwunderlich, denn Ammons Lehre war der von Haeckels Version des Darwinismus sehr ähnlich. Für Ammon waren die Naturgesetze ebenso Gesellschaftsgesetze. Der Kampf ums Dasein und die Unterschiede zwischen Menschen gehörten nach Ammon zu den ewigen Erscheinungen des Lebens. In Anlehnung an Haeckel forderte Ammon (1891) sogar, dass der Darwinismus Deutschlands Religion werden müsse. Ansätze wie diese gerieten innerhalb der Soziologie aber immer wieder unter scharfe Kritik. Der prinzipielle Vergleich oder sogar das Gleichsetzen des Sozialverhaltens von Menschen mit denen anderer Lebewesen gehörten spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht ins Einzugsgebiet der modernen Soziologie. Erst in den 1970er Jahren wurde die Diskussion über die Natur des menschlichen Sozialverhaltens als Soziobiologie neu entdeckt (vgl. Holton 1978), das Gebiet der Soziologie wurde damit von einer anderen Disziplin überlappt.

2. Gene, das menschliche Gehirn und die Soziobiologie Das zuerst 1975 erschiene Buch »Sociobiology: The New Synthesis« des Zoologen Edward O. Wilson hatte die Gemüter – insbesondere der Sozialwissenschaftler, aber auch von Vertretern der Biologie – erhitzt.3 Wilson hatte verkündet, dass in einer neuen Disziplin namens »Soziobiologie« eine neue Synthese zwischen der Biologie und den Sozialwissenschaften stattfinden würde (vgl. Wilson 1975, 1980). Am Anfang stand die Definition: »Die Soziobiologie ist eine wissenschaftliche Disziplin, definiert als die systematische Erforschung der biologischen Grund14

lage jeglicher Formen des Sozialverhaltens bei allen Arten von sozialen Organismen einschließlich des Menschen. Sie analysiert die biologischen Vorgänge, auf denen die Organisationen solcher Einheiten wie der Verband von Eltern und ihren Nachkommen, Termitenkolonien, Vogelscharen, Pavianhorden und Jäger- und Sammlerbanden beruht.« (Wilson 1980: 6) Da die Soziobiologie auch den Menschen zum Untersuchungsgegenstand haben sollte, würde nach Wilson über kurz oder lang die Biologie zur Grundlagenwissenschaft der Sozialwissenschaften werden. Dies würde geschehen, indem die Biologie mit Genetik und Verhaltensforschung die Erklärungsgrundlagen aller sozialen und kulturellen Abläufe liefern würde. Die Debatte wurde schnell auf die alte nature/nurture-Unterscheidung4 reduziert, insbesondere von Seiten der sozialwissenschaftlichen Kritik. An der Soziobiologie-Debatte lässt sich jedoch das Ringen um die legitimen Einzugsgebiete der Soziologie besonders gut erkennen. Ähnlich wie bei den frühen Soziologen und ihrem Glauben an eine natürliche Fortführung des Sozialen aus dem Naturprozess (vgl. auch Kap. III unten) nehmen Wilson und seine Koautoren (z.B. Lumsden/Wilson 1981) an, dass in menschlichen Gesellschaften dieselben Gesetze gelten wie in tierischen. Bei Wilson wird dies zugespitzt, indem er weiter davon ausgeht, dass alle Menschen dem Imperativ der Maximierung der genetischen »Fitness« folgen. Gesellschaft wird damit durchgängig als Produkt einer biologischen Evolution begriffen (vgl. Wuketis 1997). Diese Sichtweise hat verständlicherweise einige Kritik provoziert, nicht nur von Seiten der Sozialwissenschaften, sondern auch aus den Reihen der Biologen selbst (vgl. Dawkins 1994, Lewontin 2002). Grundsätzlich wurde von Seiten der Sozialwissenschaften darauf verwiesen, dass die von der Soziobiologie vertretene Sicht, dass soziales Handeln kausal durch physische und chemische Prozesse im menschlichen Körper erklärt werden kann, nicht haltbar sei, da diese Prozesse Handeln lediglich ermöglichen (vgl. Hird 2004). Von sozialwissenschaftlicher Seite wurde zwar nie geleugnet, dass biologische Vorbedingungen selbstverständlich zum sozialen Verhalten gehören. Der Verweis darauf, dass sich die genetische Ausstattung eines Menschen aus der Steinzeit nicht sehr von der 15

des 21. Jahrhunderts unterscheidet, ließ aber den Glauben zu, dass die menschliche Natur eher eine Konstante ist, die daher von Seiten der Soziologie ausgeklammert werden kann. Treu dem oft bemühten Diktum Emile Durkheims, Soziales nur durch Soziales zu erklären, wurde die Untersuchung des Einflusses von Kultur und gesellschaftlichen Lebensformen als einzig legitimes Einzugsgebiet der Soziologie verstanden. Die Verwobenheit des Sozialen und des Innernatürlichen, d.h. des genetischen Bereichs, die eine einfache Übernahme der Sozialwissenschaften in die Biologie weiter in Frage stellt, findet sich in der so genannten Thrifty-Gene-Theorie. Gemäß der »thrifty genotype«-Hypothese (thrifty: sparsam) haben sich in der Evolution bevorzugt solche Genvarianten ausbreiten können, die die Energiespeicherung bei Mensch und Tier begünstigen. In modernen Industriestaaten, aber auch in so genannten Schwellenländern wirken sich diese Genvarianten ungünstig aus, da sie bei gegebenem Angebot an leicht verfügbaren, energiereichen, schmackhaften und preiswerten Nahrungsmitteln die Fettspeicherung und somit das Zustandekommen von Übergewicht fördern. Möglicherweise noch wichtiger im Hinblick auf die Auswirkung dieser Interaktion des »thrifty«-Genotyps mit heutigen Umweltbedingungen ist die sich parallel vollziehende Abnahme an körperlicher Aktivität. Soziale Veränderungen insbesondere der Verstädterung haben sich stark auf das Ess- und Bewegungsverhalten der Gesellschaft ausgewirkt. Im Zusammenhang mit der Zunahme von Übergewicht wird von einer Adipositasepidemie gesprochen, die insbesondere Kinder und Jugendliche betrifft (vgl. Hebebrand et al. 2004). Greg Critser (2003: 129-130) berichtet von einem anschaulichen Fall der engen Kopplung soziologischer und ›genetischer‹ Faktoren bei übergewichtigen mexikanischen Einwanderern in die USA. Das »Thrifty Gene« äußert sich nämlich erst besonders stark in Wechselwirkung mit einer bestimmten sich ändernden sozialen Umwelt. Die häufig nährstoffarme Kost in ländlichen Regionen Mexikos und Mittelamerikas bedingt, dass schwangere Frauen in diesen Regionen ihrem Kind das für das Verbrennen von Fett verantwortliche Gen in der Form vererben, dass die Verbrennung von Fett bei den Kindern verlangsamt wird. Dadurch werden die Kinder für ein Leben in dieser sozialen Um16

welt Mittelamerikas gerüstet. In der neuen Umgebung in den USA werden die Kinder jedoch einfach übergewichtig, weil auch eine Ernährung, die bei anderen Amerikanern nicht unbedingt Fettleibigkeit zur Folge hätte, Amerikaner mexikanischer Abstammung übergewichtig werden lässt, da sie aufgrund ihrer genetischen Ausrüstung viel weniger Fett abbauen.5 Auch von Seiten der Neurobiologie wird die Verschränkung der natürlichen körperlichen Vorgänge und sozialen Counterparts immer mehr diskutiert; freilich noch meist ohne Einbezug soziologischer Expertise. Neurobiologen wie Wolf Singer (2002) gehen davon aus, dass neurologische Korrelate für Handlungen und Entscheidungen zentral sind, und die Gewissheit, autonom zu handeln, tatsächlich als Illusion gelten kann – ein schöner Trick, mit dem sich Menschen gerne selbst täuschen. So verstanden wären menschliche Handlungen reduzierbar auf die Summe gemachter Erfahrungen, die das Gehirn in ein Navigationssystem verwandelt, das nicht mehr vom Bewusstsein gelenkt wird, sondern von den angesammelten Erfahrungen. In verschiedenen Versuchen konnte Singer aufzeigen, dass eine Versuchsperson durchaus dazu veranlasst werden kann, eine Handlung auszuführen, ohne dass ihr die Aufforderung bewusst wird. Erst im Nachhinein entwickeln Menschen auf Befragen eine Begründung für eine bestimmte Handlung, die jedoch nichts mit der in der Versuchssituation eingeführten Ursache zu tun hat. Für die Soziologie, nimmt sie die Ergebnisse von Singer et al. ernst, bedeutet dies lediglich, erst einmal anzuerkennen, dass Vorgänge im menschlichen Gehirn als Grundlage menschlichen Handelns zu akzeptieren wären. Davon sind die heutige Soziologie und angrenzende Disziplinen aber noch ein Stück entfernt. Nur Jürgen Habermas (z.B. 2005) nimmt gelegentlich zum Thema Stellung, weil er befürchtet, dass mit Singer und seiner Kollegen Forschung die Willensfreiheit als Fiktion verstanden werden könnte, womit alles, was Habermas heilig ist, dahin wäre. Es gäbe dann nicht nur keine Willensfreiheit mehr, auch die Rede von einem gesellschaftlichen Diskurs oder von gesellschaftlichem Handeln würde keinen rechten Sinn mehr machen, denn dann wäre all dies bereits in bestimmten Gehirnregionen festgelegt. Grundsätzlich hat die Soziologie, mehr als ihre Nachbardiszi17

plinen Anthropologie und Psychologie, ein ablehnendes Verhältnis zu neurologischen Ansätzen und zur Soziobiologie entwickelt. So verschieden die Beiträge aus der Reihe der Soziobiologie und verwandter Konzepte ausfallen, die anzutreffende Einstellung unter Soziologen verweist darauf, dass es sich durchweg um Ansätze handele, die Handeln oder Bewusstsein als Naturphänomen auffassten. So unterschiedlich sie auch sein mögen, soziobiologische und neurobiologische Erklärungen werden offensichtlich als ernst zu nehmende Konkurrenz zu soziologischen Erklärungen aufgefasst – sozusagen als ein Wildern anderer Disziplinen im soziologischen Einzugsgebiet. Die Ablehnung von Seiten der Soziologie zeigt sich alleine daran, dass es bis jetzt erst ein einziges soziologisches Lehrbuch gibt, das sich ausführlicher mit soziobiologischen Themen auseinander setzt: Es ist Pierre van den Berghes Buch »Man in Society: A Biosocial View«, veröffentlicht bereits 1975. 25 Jahre nach Erscheinen dieses Buches zeigt sich van den Berghe (1990; vgl. auch Ellis 2005: 132) äußerst ernüchtert über den erhofften Einzug der Soziobiologie in die Soziologie. Die beiden Gründe, die er für eine ablehnende Haltung der Soziologie gegenüber der Biologie allgemein und der Soziobiologie im Besonderen nennt: Anthropozentrismus und geschulte Inkompetenz. Der Anthropozentrismus beruht auf dem Glauben, dass Menschen einzigartig unter allen Lebewesen sind, weil sie Kultur haben. Kultur wird, so van den Berghe, in der Soziologie jedoch als wichtigster, wenn nicht gar einziger Einfluss zur Erklärung des Soziallebens angesehen. Diese Einzigartigkeit würde von Soziologen mehr als von Vertretern jeder anderen Disziplin hervorgehoben, weshalb die Soziobiologie als Bedrohung wahrgenommen würde. Die antrainierte Unfähigkeit führt van den Berghe auf die universitäre Ausbildung zurück, in der Studierenden der Soziologie ein nahezu feindliches Verhältnis zur Biologie vermittelt würde. Autoren wie Lee Ellis (2005) und prominent Joseph Lopreato und Timothy Crippen (1999) gehen so weit zu argumentieren, dass die gesamte Soziologie nur erfolgreich weiter bestehen könne, wenn sie sich endlich von ihrer Biophobie kurieren lasse. Auffälligerweise hat die in den 1970er Jahren einsetzende Kritik an den soziobiologischen Schriften insbesondere Wilsons da18

zu geführt, dass viele Soziobiologen selbstverständlich Verbesserungen an der ursprünglichen Theorie durchgeführt haben, so dass sie heute auch innerhalb der Soziologie akzeptierter erscheint denn je (vgl. Segerstråle 2000).6 Möglicherweise gibt es jedoch Anzeichen für eine Anbindung der Sozialwissenschaften an die Biologie in überlappenden Regionen von gemeinsamen Einzugsgebieten; zuerst jedoch eher von der Seite der Naturwissenschaften selbst. Es war wieder einmal ein Zoologe, Richard Dawkins, der mit seiner These des egoistischen Gens (»The Selfish Gene«, 1976) den Geistes- und Sozialwissenschaften Rückendeckung lieferte – zumindest bestritt er in expliziter Abgrenzung zu Wilsons Soziobiologie einen direkten und grundsätzlich engen Zusammenhang zwischen Biologie und dem Sozialen. Er lehnte die von Wilson propagierte neue Synthese zwischen Biologie und Sozialwissenschaften ab. Für Dawkins lehnt sich die kulturelle Entwicklung sehr wohl an eine vom Darwin’schen Entwicklungsgedanken geprägte Durchsetzung des Bestangepassten an. Er gesteht der Kultur jedoch eine eigenständige Entwicklung zu. So wie das Gen als die fundamentale Einheit der Selektion in der biologischen Entwicklung gilt, sieht Dawkins »Meme« bei der kulturellen Entwicklung am Werk (vgl. bereits Semon 1904). Ein Mem kann eine Idee oder ein Gedanke sein, der sich in sozialen Praktiken durch Mutation und Selektion weiterentwickelt. Mehr noch als Dawkins hat Susan Blackmore die Theorie der Meme als Kritik an Wilsons Soziobiologie in Stellung gebracht, da das Mem, anders als Gene, »eine grundlegende Rolle für unser Verständnis der menschlichen Natur spielen kann« (Blackmore 2003: 49). Die Rolle der Soziologie könnte hier aber durchaus hilfreich sein, die Bedeutung der Meme zu spezifizieren, denn Blackmore (2000) gibt interessanterweise selbst zu, dass es noch nicht exakt möglich sei, Meme genau messbar zu machen. Das Problem der Messbarkeit von sozialen Phänomenen ist der Soziologie schon lange bekannt. Fundamentalkritiken an soziologischen Konzepten, wie die von Stephen Turner, erinnern an die Diskussion um die Messbarkeit des Mems. Wie Turner (1994) immer wieder gerne bemerkt, können die meisten soziologischen Konzepte keine Plausibilität aufweisen, da sie nicht beobachtbar seien und somit auch keine Kausalitäten festgestellt werden kön19

nen. Turner zählt hierzu Vorstellungen vom impliziten Wissen, sozialen Praktiken, Regeln, Sitten oder Gepflogenheiten. Aber gerade die in den letzten Jahrzehnten prominent werdende Praxistheorie (vgl. Schatzki et al. 2001) betont, dass bewusstes und zielgerichtetes Handeln nicht der Hauptfokus der Soziologie sein soll. Es gehe eher darum, auch die routinisierten und aufgrund der körperlichen und damit natürlich-biologischen Verfassung eines Individuums sich äußernden Verhaltensweisen zu analysieren. Um das Einzugsgebiet der Soziologie jedoch weiter von soziobiologischen Strömungen rein zu halten, wird die natürlichbiologische Verfassung dann meist wieder soziologisiert, indem die hieraus hervorgehenden Verhaltensweisen z.B. als »kommunikative Praxis« (Knoblauch 2005: 350) beschrieben werden. Der Kommunikationsbegriff wird dennoch auch auf Körperhaltung, Gestik oder Stimmlage ausgedehnt. Mit dem so entworfenen Konzept der Praxis nähert man sich jedoch – wahrscheinlich unbewusst – einer ›naturnahen‹ Beschreibung und erweitert damit das Einzugsgebiet der Soziologie erneut. Die nicht-intentionalen Verhaltensweisen und Ausdrucksformen gehören hier zur Erklärung bestimmter Praktiken mit dazu. Es scheint also so, als ob die Soziologie und manche Bereiche der Soziobiologie schon längst überlappende disziplinäre Einzugsgebiete nutzen, sich nur noch nicht bewusst darüber sind. Kurzum: Es geht um Vorstellungen, Ideen und ihre Weiterreichung durch so genannte Meme und die Frage, wie und warum bestimmte soziale Erscheinungen sich durchsetzen konnten und andere nicht. Die Soziologie kann dann mit ihren Theorien und der Erforschung gesellschaftlicher Kommunikation, der Wechselwirkung zwischen Individuen und Gruppen, der Bedeutung von politischen Einflüssen, sozialen Praktiken, religiösen Vorstellungen und anderen kulturellen Faktoren sicher mehr beitragen als die Rede von Memen als Ideen, die sich irgendwie evolutionär weiterentwickeln und verbreiten. Zudem können menschliche Handlungen, auch wenn sie als in weiten Teilen determiniert gelten, in ihrer Gesamtheit soziologisch als freie Handlungen beschrieben werden. In George Herbert Meads Sichtweise zum Beispiel würde das »Ich« auch dort autonom handeln, wo die Motive durch neuronale Netzwerke und 20

genetische Anlagen gesteuert werden. Neu und herausfordernd für die Soziologie ist hier also nicht die Entdeckung der ›wahren‹ menschlichen Natur durch Neurologen wie Singer, sondern eher das Vokabular, mit dem Handeln in Abhängigkeit von ›naturalen‹ Einflüssen analysiert wird. Das bekannte Thomas-Theorem, das besagt, dass wenn Menschen eine Situation als wirklich ansehen, eine darauf basierende Handlung in ihren Folgen real ist,7 greift leicht verändert auch hier: Die Welt ist real, auch und gerade wenn sie im Kopf entsteht. Soziologisch sind die Vorstellungen von Singer et al. wenig anstößig.

3. Soziologie und die Natur der Geschlechterverhältnisse Bis hierhin sprachen wir immer abwechselnd von Menschen, Individuen oder Gesellschaft. Die Debatte um die Soziobiologie und das Thema der inneren Natur hat in der Soziologie jedoch in einem anderen Zusammenhang prominente Aufmerksamkeit erhalten, nämlich bei der Frage nach den natürlich gegebenen und den durch gesellschaftliche Einflüsse geprägten Unterschieden zwischen den Geschlechtern. Der traditionelle Feminismus hatte meist zum Ziel, Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen zu schaffen. Es war an prominenter Stelle der Ökofeminismus, der die innere Natur der Frau mit der äußeren thematisch verknüpfte.8 Ziel war nun nicht mehr die Aufhebung der Geschlechterungleichheit, sondern das Hervorheben der Ungleichheit, was die Weiblichkeit aufwerten sollte. Die weiblichen Tugenden der Frau als naturnahes Wesen standen im Zentrum des Interesses (vgl. Mies/Shiva 1995). Das intuitive weibliche Verständnis der Natur, so die These, stehe im Gegensatz zur mechanistischen Männerwelt. Die Zerstörung der äußeren Natur wird als Merkmal einer männlichen Welt gekennzeichnet. Die Kritik am Ökofeminismus, insbesondere von Seiten des traditionellen Feminismus, setzt an dieser Stelle an, weil sich mit einer solchen Sichtweise unschwer eine (schleichende) Rückkehr zu traditionellen Rollen der Frau in modernen Gesellschaften vorstellen lässt. Denn warum sollte dann die Ungleichbehandlung von Männern 21

und Frauen schlimm sein, wenn sie Folge von natürlichen Unterschieden ist? Trotz aller Rhetorik von der sozialen Konstruktion von Geschlecht leugnet auch in den Sozialwissenschaften sicher niemand mehr eine Relevanz physiologischer Unterschiede zwischen Männern und Frauen, wenngleich die Diskussion in der Öffentlichkeit oft anders aussieht. Man denke hier an die im Februar 2005 aufgeflammente Kontroverse um einige Äußerungen von Larry Summers, dem damaligen Präsidenten der Harvard Universität. Summers hatte in einer provokanten Rede darüber spekuliert, ob die schwache Repräsentanz von Frauen an der Universität nicht doch an angeborenen Unterschieden zwischen Männern und Frauen liegen könnte. Auch wenn die öffentliche Diskussion hitzig war und Summers laut Medienberichten sogar um seinen Posten zu fürchten hatte, blieben die negativen Reaktionen aus den Reihen der Soziologie doch auffällig verhalten, wie zum Beispiel die offizielle Erklärung der »American Sociological Association« (ASA) zeigt.9 Es scheint so, als ob das Einzugsgebiet der Soziologie durch biologische Erklärungen nicht mehr als allzu bedrohend wahrgenomen wird. Es war nach den Debatten der 1970er Jahre nur eine Frage der Zeit, dass Sozialwissenschaftler, die sich mit den biologischen Einflüssen auf menschliches Handeln befassen, interessiert sein würden, dieses Thema auch auf Unterschiede im Verhalten von Männern und Frauen auszuweiten. Die Entwicklung einiger Arbeiten der berühmten Feministin, Biologin und Soziologin Alice S. Rossi soll hier als Beispiel dienen.10 Es war im Jahre 1964, als Rossi eine vielzitierte Schrift zur Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen veröffentlichte. Die heute nicht sehr revolutionär anmutende These war, dass Männer und Frauen zwar physiologisch unterschiedlich seien, sozial jedoch austauschbar sind. Was Männer können, können Frauen genauso gut – und umgekehrt. Dies sei nicht so, wenn soziale Zwänge, moralische Vorstellungen oder Machverhältnisse dies verhinderten. Dreizehn Jahre später veröffentlichte Rossi wieder einen einflussreichen Artikel (Rossi 1977) zum Thema, offensichtlich stark von der in dieser Zeit aufblühenden und von Edward O. Wilson initiierten Debatte um die Soziobiologie ge22

prägt. In diesem Aufsatz stellte sie plötzlich auf die natürlichen Unterschiede zwischen Mann und Frau in der Elternrolle ab. Wenngleich sie in ihrer Profession als Soziologin und Feministin deutlich ihren Widerwillen bekundet, sich ernsthaft mit den biologischen Grundlagen im Geschlechterverhältnis zu befassen, schreibt sie doch deutlich: »The paper will argue that the particular version of egalitarianism underlying current sociological research on, and advocacy of ›variant‹ marriage and family forms is inadequate and misleading because it neglects some fundamental human characteristics rooted in our biological heritage. Unless the biosocial factors are confronted, allowed for, and, if desired compensated for, the current press toward sexual equality in marriage and the workplace and shared child-rearing may show the same episodic history that so many social experiments have demonstrated in the past.« (Rossi 1977: 2) Wie andere Soziologen vor und nach ihr auch möchte Rossi sich aber explizit von den Vorstellungen Edward O. Wilsons abgrenzen (vgl. Degler 1991: 294), um ein eigenes soziologisches Einzugsgebiet zu etablieren. Sie fordert daher eine »biosoziale Perspektive« (Rossi 1977: 2) in der Soziologie. Diese besage nicht, »that there is a genetic determination of what men can do compared to woman; rather, it suggests that the biological contributions shape what is learned, and that there are differences in the ease with which the sexes can learn certain things« (ebd.: 4). Rossi fundiert ihr Argument auf der These, dass die Unterschiede auf die menschliche Evolution zurückzuführen seien: »We are part of a mammalian primate heritage that has existed for more than 65 million years. Homo Sapiens evolved only 40.000 years ago from our immediate ancestors, the primitive hominids, which themselves evolved only two to three million years ago. […] Against this background, the two hundred years in which industrial societies have existed is a short time indeed, to say nothing of the mere twenty years in which a few of the most advanced industrial societies have been undergoing the painful transition to a post-industrial societal stage.« (Ebd.: 3) Die Beobachtung, dass erst die Evolution Männer und Frauen mit verschiedenen Fähigkeiten zur Aufzucht von Kindern ausge23

stattet hatte, war bereits 1977 nicht neu und hatte auch in der Soziologie eine lange Vorgeschichte. Die These, in den Jahren danach von Rossi immer wieder vorgetragen und verfeinert, passt aber so gar nicht in die Soziologie der 1960er und 1970er. Die Angst der Soziologie vor biologischen Erklärungen saß tief; insbesondere in Deutschland vor dem Hintergrund der Naziherrschaft und ihrer rassistischen und biologistischen Theorien und Praktiken. Trotz aller Distanzierungsversuche der Soziologie aus soziobiologischen Einzugsgebieten während des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts verweisen auch die amerikanischen Soziologen Jonathan H. Turner und Alexandra Maryanski auf eine Annäherung und damit Ausweitung des Einzugsgebietes der Soziologie in Richtung Biologie, jedoch ohne Aufgabe der eigenen Identität. Auch sie versuchen die Entwicklung einer Alternative zur Soziobiologie.

4. Das stahlharte Gehäuse: Menschenaffen und die industrielle Gesellschaft In »The Social Cage: Human Nature and the Evolution of Society« (1992) analysieren Maryanski und Turner die negativen Phänomene moderner Gesellschaften wie Isolation oder Anomie im Vergleich zu unseren direkten Vorfahren. In ihrem Buch geht es um das Zusammenspiel von menschlicher Natur und natürlicher Umwelt. Die Autoren untersuchen die Verhaltensweisen der direkten Vorfahren heutiger Menschen, der großen Menschenaffen. Ihre These ist, dass die Gehirnbeschaffenheit des Homo sapiens und der großen Menschenaffen ein nur schwach ausgeprägtes Sozialleben sowie einen hohen Individualismus begünstigen (Maryanski/Turner 1992: 13). Maryanski und Turner wollen damit auch die heutige Soziologie daran erinnern, dass die biologischen Grundlagen menschlichen Verhaltens nicht weiter ausgeklammert werden können, wenn die Soziologie nicht gänzlich unbedeutend werden soll. Der Obertitel »social cage« in Maryanskis und Turners Buch ist eine schräge Übersetzung von Max Webers »stahlhartem Ge24

häuse« (vgl. Baehr 2001). Der Titel soll darauf verweisen, dass Jäger-und-Sammler-Gesellschaften ein Paradies für Menschen gewesen sein sollen, wohingegen in der Moderne immer mehr Restriktionen für das Individuum zu verzeichnen sind, da es sich gegen eine Übermacht der äußeren Kultur und Technik verteidigen muss. Vor 40.000 Jahren war dies nach Maryanski und Turner noch ganz anders. Die Bevölkerungsdichte sei relativ niedrig gewesen, so dass mit Leichtigkeit Nahrung gefunden werden konnte, denn »hunters and gatherers do not have to work hard to meet their nutritional requirements, even under what appear to be extreme environmental conditions« (Maryanski/Turner 1992: 79). Niemand, so die Autoren weiter, konnte damals Reichtum erwerben, die Hierarchie zwischen Männern und Frauen war gering oder nicht vorhanden, kurzum: Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften stellten eine egalitäre Form des Zusammenlebens dar. Diese Form des Zusammenlebens habe eine hohe Ausprägung von Individualismus gefördert, nicht zuletzt, weil nur vier Stunden am Tag gearbeitet werden musste und der Rest der Zeit zur individuellen Gestaltung genutzt werden konnte. Über einen Zeitraum von mehreren Millionen Jahren hatte sich das Genmaterial damals durch Selektion langsam an die spezifische Lebensart der Jäger und Sammler anpassen können. Diese genetische Ausprägung wurde etwa vor 100.000 Jahren festgelegt, in einer Zeit, in der sich die Größe des Gehirns und das Sprachvermögen herausgebildet hatten. Maryanski und Turner konstatieren, dass sich das menschliche Zusammenleben, begonnen mit den ersten Agrargesellschaften, zunehmend als »stahlhartes Gehäuse« für die Individuen entwickelte, da individuelle Freiheit immer mehr eingeschränkt wurde. Durch die Einführung der Sesshaftigkeit, die ersten Formen der Landwirtschaft, die Einführung von Haustieren und die ersten domestizierten Pflanzen habe sich der auf Individualismus und auf einen Vier-Stunden-Tag ausgerichtete Jäger und Sammler seinen eigenen Käfig geschaffen. Sesshaftigkeit und Agrikultur bedeuteten zwar mehr Nahrung, aber auch mehr beschwerliche Arbeit und eine soziale Organisationsform, die die menschliche Natur einengte. Seit dieser Zeit, so Maryanski und Turner, hätten Menschen versucht, sich aus dieser Einengung zu befreien. 25

Die Autoren fordern damit viele soziologische Ansätze zur Entwicklung moderner Gesellschaften heraus, wenngleich ihre implizite Kritik an der Industriegesellschaft deutlich an die Erkenntnisse der klassischen Soziologie geknüpft ist. Neben Durkheims Anomie-Konzept war es in der klassischen Soziologie wahrscheinlich Georg Simmel, der mit seiner Kritik an den Entwicklungstendenzen der Industriegesellschaft am eindrücklichsten Stellung bezog. In Simmels Perspektive schlagen sich die subjektiven Errungenschaften der modernen Welt, das Können und Denken der Individuen, in ›Dauerformen‹ der objektiven Kultur nieder, die dem Menschen später als fremde Macht gegenüberstehen können. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beobachtet Simmel, dass sich die subjektive Kultur der Individuen immer weiter von der objektiven Kultur entfernt, obwohl Letztere ursprünglich aus den Gestaltungen der subjektiven Kultur entstanden ist. Für Simmel wird die objektive Kultur gesteuert von einer re-naturalisierten Eigendynamik, einer »zweiten Natur«, wenngleich sie ursprünglich von Menschen initiiert wurde. Er beschrieb die funktionale Differenzierung der Gesellschaft als Quelle dieser nicht-intendierten Nebenfolgen in Form der Objektivierung von Kulturleistungen. Ebenso vermutete er, dass in Folge industrieller Entwicklung die Nebenfolgen wichtiger werden könnten als die intendierten Ziele: »Aber was die Produkte, als solche des Geistes, hervortreibt, eines scheinbar aus dem andern, ist die kulturelle Logik der Objekte, nicht die naturwissenschaftliche. Hier liegt der verhängnisvolle innere Zwangtrieb aller ›Technik‹, sobald ihre Ausbildung sie aus der Reichweite des unmittelbaren Verbrauches herausgerückt hat. So kann etwa die industrielle Herstellung mancher Fabrikate die von Nebenprodukten nahe legen, für die eigentlich kein Bedürfnis vorliegt; allein der Zwang, jene einmal geschaffenen Einrichtungen voll auszunutzen, drängt darauf; die technische Reihe fordert von sich aus, sich durch Glieder zu komplettieren, deren die seelische, eigentlich definitive Reihe nicht bedarf – und so entstehen Angebote von Waren, die erst ihrerseits künstliche und, von der Kultur der Subjekte her gesehen, sinnlose Bedürfnisse wachrufen. In manchen Wissenschaftszweigen ist es nicht anders.« (Simmel 1998: 213f.) 26

Wenngleich Simmel hier nur implizit auf die Unterdrückung der menschlichen Natur, d.h. der biologischen Grundlagen des Menschen durch die von ihm selbst entwickelten modernen Kulturleistungen anspielt, so zeigt er auf, dass die moderne Gesellschaft im Begriff ist, durch das Übergewicht der von ihnen geschaffenen »zweiten Natur« erdrückt zu werden. Diese Denkstruktur findet sich immer wieder: in Hans Freyers (1887-1969) Diskussion über das Zusammenwachsen der Mittel und Techniken zu einem selbständigen Wesen (Freyer 1921), Arnold Gehlens (1904-1976) Vorstellung einer erdrückenden »Superstruktur« durch das Zusammenwachsen von Wissenschaft, technischer Anwendung und industrieller Auswertung (Gehlen 1975), William F. Ogburns (1886-1959) Theorie des Cultural Lag, in dem die kulturelle Entwicklung dem technischen Fortschritt quasi natürlicherweise hinterherhinkt (Ogburn 1967), sowie in der jüngeren Technikforschung auch in den Diskussionen um Langdon Winners (1977) These einer sich autonom entwickelnden Technik. Norbert Elias (1897-1990) hatte die Vorstellung der Unterdrückung des Individuums durch das Leben in der Moderne bereits seit den 1930er Jahren diskutiert. In seinen Arbeiten, insbesondere im frühen Werk »Über den Prozess der Zivilisation« (1976), versuchte er aufzuzeigen, wie aus kleineren Herrschaftseinheiten zu Beginn der Neuzeit sich immer mächtigere »Monopolzentralen« herausentwickelten. Innerhalb der immer größer werdenden Monopolzentralen zeichnet sich ein konkurrenzgeladener Prozess der zunehmenden Funktionsverteilung ab. Dieser, so Elias, schränkt die Natur des Menschen immer mehr ein, indem dem Individuum zunehmend die große Last der »Affektdämpfung und Triebregelung« aufgebürdet wird. Für Elias sind Menschen aufgrund ihrer biologischen Natur eine der anpassungsfähigsten Spezies. »Es gehört«, schreibt er, »zu den Eigentümlichkeiten der Menschen, dass sie von Natur aus in besonderer Art und Weise wandelbar sind. Ihre Integration in Gesellschaft zeigt dies deutlich.« (Elias 1986: 114, Herv. im Orig.) Wenngleich Elias gelegentlich andeutet, dass die Annäherung der Soziologie an die Biologie nicht notwendig ist, indem er aufzuzeigen versucht, dass die biologischen Grundlagen aufgrund ihrer Konstanz für das Leben in der modernen Welt immer unwichtiger würden und Menschen 27

sich durch ihre Flexibilität immer unabhängiger von dieser machen könnten, so fordert er doch für die soziologische Ausbildung, dass eine »ernsthafte und gute Examensfrage« viel häufiger gestellt werden müsste: »Welche biologischen Eigentümlichkeiten sind die Voraussetzungen für die Veränderlichkeit und besonders für die Entwicklungsfähigkeit menschlicher Gesellschaften?« (Ebd.: 114) Anders als Simmel und Elias behaupten Maryanski und Turner erstaunlicherweise, dass moderne post-industrielle Gesellschaften viel besser an die paradiesischen Bedingungen der Jägerund-Sammler-Gemeinschaften heranreichen würden als die Gesellschaftsformen früherer Jahrtausende: »Post-industrialization is no utopia, for all the contemporary problems of industrial societies remain, but such systems are still far better than their predecessors, not because of their affluence but, equally important, because of their capacity to free people from much physical drudgery and to give them wider arrays of options and opportunities and much more say in how they run their lives.« (Maryanski/Turner 1992: 140) Kurzum: Mit aktuell zu beobachtenden Individualisierungstendenzen würden sich moderne Gesellschaften tatsächlich zurück zu ihren natürlichen Wurzeln bewegen. Der Postindustrialimus, so Maryanski und Turner, sei ein System, das sich sehr gut auf die menschliche Abstammung vom Affen einstellen würde, denn jeder Mensch auf diesem Planeten wäre heute froh darüber, in freien Gesellschaften leben zu dürfen, die genau seiner Natur, dem Primatenerbe, entsprechen. Denn die neuen Strukturen der Postmoderne würden, entgegen der Bedenken vieler zeitgenössischer Soziologen, zunehmend »far less problematic for a bigbrained hominoid than is often assumed« (ebd.: 162). Wahrscheinlich würden die Autoren fast 15 Jahre nach Erscheinen von »Social Cage« vorsichtigere Töne anschlagen, aber ihre und ihrer Anhänger Stoßrichtung hat sich nicht geändert: Individualismus in der Postmoderne liegt begründet in unserer Vergangenheit als Menschenaffen und dem Jäger-und-Sammler-Dasein (vgl. Turner 2000; Turner/Maryanski 2005). Dahinter steht ein untrüglicher Glaube an den Fortschritt (Chirot 2005), denn Turner und Maryanski gehen davon aus, dass sich Gesellschaften in Reaktion auf 28

verschiedene soziale und natürliche Zwänge durch neue Innovationen immer erfolgreich an diese anpassen konnten. Maryanski und Turner gelingt es mit diesem Ansatz, das Einzugsgebiet der Soziologie zu erweitern, indem sie sich von der Soziobiologie abgrenzen, um eine Alternative anzubieten. Ihre Beobachtung ist diese: »[S]ociobiology cannot explain the complexities of human organization and culture.« (Maryanski/Turner 1992: 4) Mit dieser Aussage reduzieren sie die Soziobiologie auf einen Ansatz, der von einer »miraculous ability of totally selfish and maximizing genes« ausgeht, »to explain sociocultural constructions« (ebd.: 166). Mit dieser Behauptung vereinfachen sich die beiden Soziologieprofessoren Maryanski und Turner ihren strategischen Weg, eine Alternative zur Soziobiologie zu liefern, indem sie Jäger-und-Sammler-Gesellschaften mit heutigen Gesellschaftsformen vergleichen. Denn dadurch, dass die Soziobiologie auf ›eigennützige Gene‹ reduziert wird, können sie das Einzugsgebiet der Soziologie erweitern, indem sie andere Bereiche der Soziobiologie, hier: die Erforschung der biologischen Grundlage des Sozialverhaltens, soziologisieren. Nicht zuletzt die Arbeiten von Maryanski und Turner veranschaulichen jedoch die enge Verbindung zwischen der inneren menschlichen Natur und der durch Anpassung an äußere Gegebenheiten bedingten gesellschaftlichen Entwicklung. Um sich nicht komplett von anderen Diskussionen in der Biologie abzukoppeln, machten sich Maryanski und Turner Gedanken darüber, wie sie möglichst geschickt (und für die Puristen des Fachs wenig anstößig) das Einzugsgebiet der Soziologie erweitern können, ohne das disziplinäre Eigenverständnis zu verlieren. Solche Strategien der Erweiterung und Veränderung von Einzugsgebieten lassen sich am Beispiel der klassischen soziologischen Vorstellung von Gesellschaft als einem natürlichen Organismus (und damit in vielerlei Hinsicht erst der Grundlegung der Soziologie) sowie des Ansatzes, Gesellschaften und globale Prozesse als Naturprozess zu verstehen, weiter studieren. Dies wird Thema des folgenden Kapitels sein.

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III. Gesellschaft und Naturprozess Seit dem Beginn der Institutionalisierung der nordamerikanischen und europäischen Soziologie als eigenständige Disziplin haben Soziologen versucht, ihre Ansätze dadurch zu verbessern, indem sie die Sprache und Methodologie der Naturwissenschaften zu übernehmen suchten. Der Verweis auf den naturwissenschaftlichen Charakter der Soziologie war ein wichtiger strategischer Zug, um die Eigenständigkeit der Soziologie und ihrer Einzugsgebiete zu klären. Auch wenn vereinzelt auf den Wechselwirkungsbegriff der Physik rekurriert wurde (vgl. Simmel 1989), war es doch meist die Biologie, die als Einzugsgebiet der Soziologie genutzt wurde. Die Soziologie sollte nicht nur in Fortsetzung der Naturwissenschaften versuchen, Sozialgesetze zu formulieren, um soziale Phänomene erklären und Vorhersagen treffen zu können, sondern sich, wie bereits Auguste Comte (1798-1857) forderte, gar an die Spitze aller Naturwissenschaften setzen. Anstatt Comtes Vorschlag zu folgen, orientierte man sich an der Biologie als Leitwissenschaft. Besonders wichtig für die Entwicklung der Soziologie waren aus den Naturwissenschaften stammende Metaphern. Ihre systematische oder auch nur heuristische Bedeutung war entscheidend zur Gestaltung eines eigenen Einzugsgebietes. Innerhalb der Gruppe von Autoren, die der Biologie entstammende Begriffe in unterschiedlichen Zusammenhängen verwenden, waren es am nachdrücklichsten die Organizisten, durch die erst die Soziologie ihr eigenes Untersuchungsobjekt Gesellschaft erhalten konnte. Es war die Vorstellung von Gesellschaft als einem natürlichen Wesen, die hier das Fundament bildet. Dies wird Thema des folgenden Kapitels III/1 sein. In Kapitel III/2 wird gezeigt, wie die Vorstellung des natürlichen Organismus Gesellschaft erst die Grundlage dafür bildete, diesen Organismus soziologisch rein, d.h. von seiner Natürlichkeit bereinigt, zu gestalten. Auch wenn es in diesen beiden Kapiteln in erster Linie um klassische soziologische Themen des späten 19. Jahrhunderts zu gehen scheint, wird im Folgenden immer wieder auf Paralellen und Kontinuitäten bis hin zu heutigen Diskussionen der Soziologie verwiesen. Abschlie-

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ßend beleuchtet Kapitel III/3, was es bedeuten kann, ganze Gesellschaftzusammenhänge als Naturprozess zu analysieren.

1. Organizismus und die Entwicklung der Gesellschaft Die Analogie von Gesellschaft und Organismus hatte mit der Entdeckung des Blutkreislaufs und dem Herzen als Motor des Körpers im 17. Jahrhundert einen ersten Höhepunkt erreicht. Die moderne Gesellschaft und insbesondere die moderne Stadt wurden als ein Konglomerat aus Arterien und Venen, durch die Menschen wie gesunde Blutkörperchen strömten, betrachtet. Gesellschaft wurde als ein organisches Ganzes gesehen. Der Kreislauf im Körper und die Umwelterfahrung des menschlichen Körpers wurden als Analogie betrachtet. Richard Sennett (1997: 326-328) berichtet von dem deutschen Arzt Ernst Platner (1744-1818), der eine erste prominente Analogie zwischen dem Kreislauf im menschlichen Körper und der Umwelterfahrung des Körpers entwickelte. Die den Menschen umgebende Luft sei wie Blut, so Platner, und müsse daher durch die Haut aufgenommen im Körper zirkulieren. Durch diese These wurde recht bald die regelmäßige Reinigung der Haut als wichtig für das Wohlbefinden und die Gesundheit des Menschen angesehen. Gesundheit und ungestörte Zirkulation sollte aber auch auf Gesellschaft angewandt werden. Unrat, Schmutz und Urin verschwanden bald von den Straßen europäischer Großstädte und enge Gassen wurden zu weiten Straßen umgestaltet. Städte wie Karlsruhe wurden gar komplett nach einem Kreislaufmodell entworfen und gebaut.11 Die Auffassung des menschlichen Zusammenlebens als Gesellschaft (und damit unterschieden von einer Gruppe, dem Nationalstaat oder einer Region) ist sehr alt. Sein Ursprung wird oft in Platons »Politeia« gesehen. Erstaunlich ist jedoch, dass ein eigener Gesellschaftsbegriff auf Grundlage der Vorstellung eines ›organischen‹ Zusammenhalts sich erst im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert auszubilden begann. Die Romantiker – und später auch Auguste Comte – verglichen die Gesellschaft explizit mit

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einem Organismus. Für Comte waren es fünf Kernelemente, die den sozialen Organismus kennzeichneten. Diese Metapher suggerierte (1) ein höheres Wesen, dem besondere Aufmerksamkeit gebührte; es umfasste (2) ein Modell menschlicher Evolution; es förderte (3) die Entwicklung einer Theorie sozialer Organisation; es indizierte (4) ein methodologisches Prinzip für die Sozialwissenschaften, und lieferte (5) normative Kriterien für die Evaluierung soziale Phänomene sowie für die Generierung von Handlungsempfehlungen (vgl. Levine 1995: 243). Durch eine solche Vorgehensweise dachte Comte eine überzeugende Grundlage für eine Wissenschaft der Gesellschaft geschaffen zu haben. Ihm zufolge konnte die spezifische Realität dieser Gesellschaft nur als Naturgegenstand erkennbar werden. Allgemein übernahmen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Autoren wie Paul von Lilienfeld, Lorenz von Stein und auch Albert Schäffle die Vorstellung von Gesellschaft als Organismus. Dieses Denkmodell war ebenso von französischen Soziologen, von Alfred Espinas bis René Worms, aber an zentraler Stelle von Herbert Spencer popularisiert worden. Für von Lilienfeld gilt, dass die »menschliche Gesellschaft […], gleich den Naturorganismen, ein reales Wesen« (1873: 1) ist. Worms will auch von der »gesellschaftlichen Organologie« oder der »Organkunde« reden, denn diese sei »die Wissenschaft von den verschiedenen Körpern […], die in der Gesellschaft dasselbe sind wie die Organe in dem einzelnen Lebewesen: wirtschaftliche Korporationen, die Reichtum erzeugen (Bauern und Handwerker) oder umtreiben (Kaufleute und Seeleute); Korporationen, die dem geistigen Leben vorstehen (Gelehrte, Priester); juristische und politische Korporationen« (Worms 1991: 63). Für diese Extremform des Organizismus ist Gesellschaft eine Fortsetzung der Natur, eine höhere Manifestierung der gleichen Kräfte, welche die Grundlage für alle anderen natürlichen Phänomene bilden. Viele weitere Autoren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben verschiedene Varianten dieses Modells weiterentwickelt, von der exakten Übertragung lebendiger Organe auf gesellschaftliche Phänomene auf der einen Seite bis hin zu der Aussage, dass es sich nur um vage Analogien handele, die nichts mit einem biologischen Organismus zu tun haben auf der anderen Seite. Zu ersteren gehört anschaulich si32

cherlich der Schweizer Rechtswissenschaftler und Politiker Johann Kaspar Bluntschli (1808-1881), der mit Vergleichen aufwarten konnte, in denen sogar das Geschlecht einzelner sozialer Bereiche im gesellschaftlichen Teil des Organismus festgelegt wurde. Für Bluntschli war der Staatsapparat zum Beispiel ein männlicher Organismus, während die Kirche ein weiblicher war (Bluntschli 1875; vgl. Sorokin 1956: 205-207). Teilweise wurden im Organizismus in direkter Analogie Erscheinungen aus der organischen Natur auf die Gesellschaft übertragen, wie bei René Worms (1991, 1926), teilweise auch rein metaphorisch wie bei Schäffle (1875). Albert Schäffle (1831-1903) war ein einflussreicher Professor in Tübingen und Wien, der 1871 sogar österreichischer Handelsminister wurde, aber auch großen Einfluss auf die Sozialgesetzgebung Bismarcks ausübte. 1875 erschien Schäffles berühmtestes Buch mit dem Titel »Bau und Leben des sozialen Körpers«. Schäffle lehnte eine Analogie des Gesellschaftslebens zu biologischen Beschreibungen nicht grundlegend ab, sondern versuchte, diese in einer organizistischen Perspektive zu modifizieren und weiter in einzelnen Analogien auszuführen. Schäffle kann so sehr detailliert die Komplexität moderner Gesellschaften illustrieren. Bei allen Einwänden macht die Soziologie Schäffles deutlich – wie Peter Hejl (2000: 180-194) anschaulich ausführt –, wie »die Orientierung am organismischen Stoffwechsel« dazu führt, auch die »Wirtschaft als integralen Teil des gesellschaftlichen Prozesses zu sehen, ohne der einseitigen ökonomischen Determinantion des Marxismus oder dem Reduktionismus der individualistischen Tradition zu verfallen« (Hejl 2000: 186). Wie weiter zu sehen sein wird, ist die Organismusmetapher viel mehr: Sie ist erst die Grundlage dafür, dass sich die moderne Soziologie überhaupt innerhalb der bestehenden Disziplinenlandschaft und ihrer entsprechenden Untersuchungsbereiche etablieren konnte, und in diesem Sinne ihr eigenes Einzugsgebiet für die Gründung einer eigenen Disziplin geschaffen wurde. Auch Emile Durkheim wollte seine Soziologie von biologischen und naturalen Erklärungen abgrenzen. Er erklärte aber, dass »Gesellschaft, wenn sie eine spezifische Wirklichkeit ist, kein eigenständiger Bereich ist; sie ist Teil der Natur; sie ist deren 33

höchste Äußerung. Der soziale Bereich ist ein natürlicher, der sich von anderen Bereichen nur durch seine größere Kompliziertheit unterscheidet.« (Durkheim 1981: 40) Diese Sichtweise baut auf Herbert Spencer (1820-1903) auf, der die Vorstellung der Gesellschaft als natürlichen Organismus in der Soziologie am nachhaltigsten prägte. Er gilt in dieser Hinsicht auch heute noch als der einflussreichste Soziologe unter denen, die den Organizismus in die Soziologie einbrachten und damit das Einzugsgebiet der Soziologie besonders stark auf die Biologie und damit auch auf die Evolutionstheorie des 19. Jahrhunderts ausdehnte. In seiner »Einleitung in das Studium der Soziologie« (1875) fragt Spencer nicht nach dem Sinn von sozialen Phänomenen, sondern versucht, die naturwissenschaftliche Analyse auf die historischen und sozialen Prozesse zu übertragen. Er geht weiterhin allgemein von einem Wachstumsprozess des sozialen Organismus aus. Spencer beschrieb gesellschaftliche Entwicklung als einen Prozess, der sich nicht grundsätzlich von dem der biologischen Evolution unterscheidet. Die gesellschaftlichen Phänomene dieses Prozesses sollten mithilfe soziologischer Methoden beobachtbar gemacht werden, um Naturgesetze des Sozialen zu finden. Lediglich kausale Zusammenhänge seien festzustellen. Die hieraus hervorgehenden Daten benötigten laut Spencer keine Auslegung mehr, da sie für sich selbst sprechen würden (Kunczik 1983: 440). Soziale Entwicklungsprozesse werden bei Spencer, wie es für seine Zeit üblich war, durch gesellschaftliche Differenzierung erklärt, die durch die voranschreitende Arbeitsteilung angetrieben wird. Er beschreibt gesellschaftliche Entwicklung als Abfolge von Bevölkerungswachstum, funktionaler Differenzierung und Integration. Auch hier folgte Durkheim noch Spencer, obwohl er sich von ihm eigentlich absetzen wollte. Auch er beantwortet die Frage nach der Ursache für die Arbeitsteilung mit der von Darwin entlehnten Vorstellung des immer hitziger werdenden Überlebenskampfes durch Konkurrenz zwischen Individuen (Durkheim 1992: 325). Dieser Kampf kommt zustande, weil die Dichte der Gesellschaft durch Bevölkerungswachstum und Verstädterung zunimmt. Da die Arbeitsteilung damit als ein naturgegebenes Prinzip verstanden wird, verbindet sie Biologie und Soziologie. 34

Bei Durkheim und bei Spencer ist es das »Überleben der Tüchtigsten«, ein Ausdruck, den Spencer etwa zehn Jahre vor Darwin in die Wissenschaft einführte,12 das die Triebfeder des Fortschritts darstellt. Was Spencer aber von vielen seiner Nachfolger unterscheidet, ist sein Versuch, ein einheitliches Entwicklungsgesetz zu entwerfen, das sowohl auf die menschliche Gesellschaft als auch auf die materielle Natur anwendbar ist (vgl. Spencer 1883). Durch die zunehmende Nähe und Integration verschiedener Teile einer Gesellschaft oder von Lebewesen in der Natur würde auch ihre gegenseitige Abhängigkeit verstärkt. Gesellschaftliche Entwicklung bedeutet also zunehmende Integration durch zunehmende Differenzierung, welche wiederum Arbeitsteilung vorantreibt. Das Prinzip der funktionalen Differenzierung und der Evolutionsgedanke ist selbstverständlich auch heute noch ein wichtiger Kernpunkt für soziologische Analyse, nicht zuletzt in den prominenten Systemtheorien nach Talcott Parsons (2003) und Niklas Luhmann (1984, 2005; vgl. Wagner 1996). Bei Luhmann verdeutlicht sich die Nähe zum Thema Evolution – und damit implizit naturhafter Entwicklung – jedoch erst auf den zweiten Blick, denn sein Konzept des Sozialen als Verknüpfung sinnhafter Kommunikationen mutet doch erheblich ›naturfreier‹ an als andere Gesellschaftstheorien. Luhmanns idealistischer Ansatz fußt aber auf einem Naturalismus, denn auch wenn Kommunikation bei ihm als ein selbstreferentiell geschlossenes und seine Elemente (Kommunikationen) als autopoietisch reproduzierendes System beschrieben wird, so basiert genau dies in seiner Gesamtheit auf einer evolutionären Sichtweise. Der Begriff Evolution ist zwar zuerst mit Charles Darwin verbunden, dennoch eignet er sich bei Luhmann als Erklärungsmuster für gesellschaftliche Prozesse (vgl. Winthrop-Young 2003). Evolution ist bei Luhmann nicht einfach eine Metapher, sondern steht für eine allgemeine Form von Variation, Selektion und Stabilisierung von Systemen. Entscheidend ist, dass sich für die Systemtheorie alles Gesellschaftliche wie in der zufälligen Selektion bei Darwin formiert. Trotz aller Bemühungen kann Gesellschaft jedoch nicht unter Kontrolle gebracht werden, denn Zufallseffekte machen Pläne immer wieder zunichte. So verstanden wirken die unvorhergesehenen Effek35

te menschlichen Handelns wieder in die allgemeine natürliche Evolution zurück (Luhmann 2005: 181-233). Interessanterweise ist es das organizistische Denken des 19. Jahrhunderts und die Auffassung von Gesellschaft als etwas Naturhaftes, was später allgemein abgelehnt wurde. Dennoch borgten sich die funktionalistischen Theorien, wenngleich sie den Organizismus insbesondere in der Tradition Spencers offiziell zurückwiesen, vielfache Anregungen aus dem organizistischen Denken (Lau 1981: 15). Auch hier gilt: Das Einzugsgebiet der Soziologie wurde in Richtung »Natur« erweitert, nur um die in der Erweiterung eingefangenen Naturelemente nach erfolgreicher Ausschlachtung wieder hinauszuwerfen. Talcott Parsons schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein, denn in »The Structure of Social Action« fragte er eingangs siegessicher: »Who reads Spencer now?« (Parsons 1966: 3), um darauf zu verweisen, dass Spencer in der Soziologie der 1930er Jahre niemanden mehr interessieren würde. Im Weiteren geht es nun darum, die Bedeutung des Modells vom gesellschaftlichen Organismus zu vertiefen und zu zeigen, wie notwendig der Organizismus, das heißt: das Konzept vom menschlichem Zusammenleben als Teil der Natur, für die Etablierung eines soziologischen Gesellschaftsbegriffs als einer ›entnaturalisierten‹ Entität und als einer wissenschaftlichen Grundkategorie der Soziologie war.

2. Die Durchsetzungskraft der Organismusmetapher Die organische Theorie der Gesellschaft war charakterisiert durch einen von Auguste Comte abgeleiteten wissenschaftlichen Optimismus, der auf sein Verständnis von Positivismus zurückgeht. Dieser Optimismus wurde von den meisten Sozialwissenschaftlern des 19. Jahrhunderts geteilt. Comtes Soziologie basierte zwar zum großen Teil auf biologischen Begriffen. Er war auch einer der ersten, der Gesellschaft als einen Organismus bezeichnete, aber er entwickelte diesen Gedanken nicht sehr weit. Trotzdem wird er in dieser Hinsicht von seinen Nachfolgern, die sich selbst einer Ausprägung des Organizismus zuzählten (z.B. Alfred Espinas), immer wieder als wichtiger Einflussfaktor genannt. 36

Noch heute wird unter dem Organizismusbegriff meist eine Form des Holismus bezeichnet, nach der die Welt auf allen Ebenen aus Einzelorganismen besteht, die in geschachtelten Hierarchien organisiert sind. Das Grundprinzip ist, dass die einzelnen Elemente in vielfältigen Wechselbeziehungen zueinander stehen und dadurch in der Gesamtschau Eigenschaften hervorbringen, die durch eine isolierte Betrachtung der einzelnen Elemente nicht mehr erklärbar sind. Diese Betrachtungsweise war auch für die Soziologie wichtig, denn um 1870 herum war das Konzept der Gesellschaft noch sehr vage und amorph. Die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Disziplin, die diese Einheit erforschen sollte – und überhaupt deren Möglichkeit –, waren zudem sehr umstritten. Nur etwa 30 Jahre später, zu Beginn der 20. Jahrhunderts, wurde weder die Realität der Gesellschaft noch die Notwendigkeit einer Disziplin, die sich mit der Untersuchung dieser Gesellschaft befasste, noch grundsätzlich geleugnet. Es ging eher um Details. Der Organizismus und damit das zum Einzugsgebiet erklärte Terrain der Biologie für die Soziologie waren zentral für diesen Erfolg. Der Beweis, dass Gesellschaft eine Realität sui generis darstellte, wie es Durkheim nannte, konnte nur durch die Analogie zum natürlichen Organismus gewonnen werden, wenngleich dies, wie wir weiter sehen werden, strategisch wieder geleugnet werden musste, um nicht dem Vorwurf des Biologismus ausgesetzt zu sein. Als sich in den 1890er Jahren die Soziologie zumindest in Frankreich und an einigen nordamerikanischen Universitäten etabliert hatte, wendete sich die Kritik gegen organizistisches Denken. Prominente Autoren wie Georg Simmel, Ferdinand Tönnies oder Max Weber verwarfen organizistisches Gedankengut gänzlich oder rückten, wie zum Beispiel Albert Schäffle (1906), von einer strengen Analogisierung ab und nutzten die Begriffe aus dem Organizismus in rein metaphorischer Form. Wenngleich man hier vermuten kann, dass durch die Analogie des sozialen zum biologischen Organismus ein Bewusstsein der Abhängigkeit der Gesellschaft von natürlichen Ressourcen gefördert wurde (vgl. hierzu Kap. VI), wurde die Organismusmetapher doch recht bald als ein dem Selbstzweck dienendes vages Gerüst von Analogien betrachtet, das keinerlei sinnvollen Beitrag für eine 37

Wissenschaft der Gesellschaft zu leisten vermochte. »Ihr wissenschaftlicher Wert«, schrieb Theodor Kistiakowski bereits 1899, sei »abgesehen von der bloß bildlichen Darstellung und Ausdeutung der Erscheinungen für pädagogische Zwecke, vollständig nichtig« (Kistiakowski 1899: 203). Die Soziologie sollte sich nämlich nun auf die spezifischen Probleme bei der Analyse der Gesellschaft konzentrieren und dabei, so fährt Kistiakowski fort, diene der Organizismus »den Zwecken der Erkenntnis nicht im mindesten, weil man aus der Tatsache der Ähnlichkeit gewisser Züge des sozialen und des individuellen Organismus nicht schließen kann, dass auch alle anderen Züge gleich sein müssen« (ebd.: 204). Eine Befürchtung vieler Autoren dieser Zeit war, dass der Organizismus zu sozialdarwinistischen und damit rassistischen Denkweisen verleiten würden. In der französischen Variante des Organizismus wurde der Sozialdarwinismus jedoch heftig angegriffen. Organizismus sollte hier explizit als Alternative zu gesellschaftlichen Rassentheorien verstanden werden, wenngleich auch diese den Evolutionsgedanken Spencers folgte. Von französischen Autoren wie Alfred Espinas oder René Worms wurde nicht die bedeutende Existenz von Konflikten in der Natur geleugnet, sondern stattdessen auf die Möglichkeiten der Harmonie und des Konsenses verwiesen. Der Organismusbegriff fungierte hier als Modell kooperativer Organisation. Auch wenn viele Schriften von Organizisten des späten 19. Jahrhunderts nicht immer ganz frei von Rassenkonzepten waren, so spielten diese allgemein eine untergeordnete Rolle. Im Gegenteil: Gesellschaft wurde verstanden als ein natürliches Wesen, welches geboren wurde, aufwuchs und sich entwickelte. Gesellschaft wurde so als eine natürliche Erscheinung, ein Lebewesen verstanden, dem gelegentlich auch ein eigenes Gewissen und ein eigener Wille zugeschrieben wurde. Im Organizismus ist jede Gesellschaft ein Gesamtwesen und eine Funktionseinheit mit eigenen Eigenschaften und Gesetzen. Der soziologische Organizismus französischer Prägung hat nicht die Unabhängigkeit der einzelnen Zellen zur Geltung gebracht, sondern stattdessen deren gegenseitige Abhängigkeit und Wechselbeziehung betont. Im Frankreich des 19. Jahrhunderts wurde unter Gesellschaft ein Organismus verstanden, bei dem jeder Teil eine wichtige Teilfunk38

tion ausführt. Mit diesem Vergleich, in dem eine Gesellschaft mit einem eigenständigen Wesen gleichgesetzt wurde, konnte auch jede Nation als ein relativ geschlossenes und zielgerichtetes Aggregat verstanden werden. Ebenso wie ein Organismus mehr als eine einfache Zellenzusammenballung war, ist eine Gesellschaft mehr als eine einfache Gruppe von Individuen. Wie Barberis (2003: 57-59) insbesondere am Beispiel von Alfred Espinas (1844-1922) aufzeigt, war der Organizismus auch in Frankreich stark an Spencer angelehnt. Bei Spencer war die soziale Evolution als ein besonderer Fall von organischer Evolution dargelegt. Soziologie und Biologie vereint damit ein gemeinsames Prinzip: Die evolutionäre Entwicklung geht von Differenzierung und Organisation aus. Gesellschaft ist dann ein Ergebnis der Evolution, welche mit einfachen Formen beginnt. Espinas versucht in seinem zu seiner Zeit einflussreichen Werk »Des Sociétés Animales« (1877, dt. 1879), den fortschreitenden Verlauf aller sozialer Erscheinungen als ein Kontinuum darzustellen, angefangen bei einzelnen biologischen Organismen über Tiergesellschaften bis hin zu Menschengesellschaften. Die höher entwickelten Sozialformen waren eher psychisch als physisch miteinander verbunden. Ein Bewusstsein und Ansätze von Moral in rudimentären Stadien wurden bereits bei Tieren festgestellt. Sie hatten einen natürlichen Ursprung. Die psychische und physische Evolution verlief parallel zueinander. Alle höher entwickelten Organismen wurden als Gesellschaft von Gesellschaften ausgelegt. So wie eine Ansammlung von einzelnen Individuen (z.B. Zellen) ein fortgeschritteneres Individuum (z.B. Tier) formt, so entsteht nach demselben Prinzip eine soziale Gesellschaft aus vielen einzelnen Individuen. Die Verortung der Gesellschaft innerhalb der Natur folgte damit der gleichen Logik wie die, ein bestimmtes Organ innerhalb eines lebenden Körpers anzusiedeln. Wenn die Gesellschaft als ein natürliches Wesen aufgefasst wurde, so wurde dargelegt, so müssen auch grundlegende Gesetze der Natur auf die Gesellschaft zutreffen. Die Strategie der frühen Soziologen, ihr disziplinäres Einzugsgebiet zu stärken, war wohl die: Im Falle eines Einspruchs von Kritikern der Soziologie, dass eine Wissenschaft der Gesellschaft nicht existieren kann, war es nunmehr möglich, mittels Folge39

rungen vom Speziellen auf das Allgemeine (Induktion) zu beanspruchen, dass soziale Gesetze existierten, bevor man sie tatsächlich gefunden hat. Dies wird verständlich, da in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Großteil der Biologieliteratur Einspruch gegen eine Disziplin der Soziologie erhob, deren Untersuchungsgegenstand die menschliche Gesellschaft sein sollte. Die organizistische Konzeption der Gesellschaft betonte die Solidarität aller ihrer Mitglieder und Elemente, zur selben Zeit aber auch die grundlegenden Unterschiede zwischen diesen Elementen, die in der Form und Struktur der Gesellschaft selbst zu suchen sind. Ein erster Schritt zur Ablösung vom Organizismus, ohne wichtige Bestandteile über Bord zu werfen, kann in Gabriel Tardes (1843-1904) Arbeiten gesehen werden. Tarde, der in der aktuellen Soziologie gerade eine kleine Renaissance feiert (vgl. Borch 2005; Latour 2005), versuchte, moderne Gesellschaften als einen mechanizistisch aufzufassenden Naturprozess darzustellen. Für Tarde stellte die Gesellschaft als Untersuchungsbereich der Soziologie selbstverständlich eine eigene ›natürliche‹ Wirklichkeit dar, aber er wandte sich vehement gegen die Sichtweise, dass diese Form des Realismus auf dem Organizismus fußen sollte (vgl. Barberis 2003: 64). Auch wenn sich Tarde offiziell gegen den Organizismus wandte, so wollte er doch aus den Naturwissenschaften einen anderen Aspekt in das disziplinäre Einzugsgebiet der Soziologie hineinbringen. So wie in den Naturwissenschaften Naturgesetze aus der Beobachtung einzelner Teilchen abgeleitet wurden, so sollte sich nach Tarde die Soziologie gesellschaftliche Gesetze aus einem individualistischen Mechanismus ableiten. Dies stellte sich für ihn so dar: Aus der Wiederholbarkeit der individuellen Handlungen wollte er, im Gegensatz zu Spencers allgemeiner Vorstellung von Gesetzen auf hohem abstraktem Niveau, auf der Mikroebene der Gesellschaft »natürliche« Sozialgesetze ableiten können. Der wissenschaftliche Fokus der Soziologie lag für Tarde daher in der Nachahmung, die zum Ziel haben sollte, Wiederholungen und Gleichförmigkeiten als »Kollektivgesetzmäßigkeiten« herauszufiltern. Erst durch Nachahmung können die einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft Teil einer Massenbewegung werden, die dann den Gegenstand der Soziologie ausmacht. Das Individuum ist bei 40

Tarde also tatsächlich so etwas wie ein Molekül, das in der Gesellschaft herumschwirrt. Wie viele Soziologen vor und nach ihm erklärt Tarde die hieraus abzuleitende Naturgesetzlichkeit mittels einer aus der Mechanik und der Biologie dieser Zeit entlehnten Analogie: dem Gleichgewicht. Bestehende Gleichgewichtszustände in der Gesellschaft werden dadurch gestört, dass einzelne Individuen sich aus der immer gleichen Nachahmung befreien und als positive oder negative Störenfriede hervortreten. Die Ursachen einer solchen zeitlich eng begrenzten Befreiungstat sind soziologisch nicht zu erklären. Es kann lediglich beobachtet werden, wie zum Beispiel ein Wissenschaftler plötzlich aus der Routine der Nachahmung herausbricht und etwas Neues erfindet. Dadurch setzt er oder sie möglicherweise eine Störbewegung in Kraft, die bestehende Zustände in der Wissenschaftslandschaft über Bord wirft. Es entsteht Widerstand gegen die neue Sichtweise, der laut Tarde in drei Formen des Konfliktes münden kann: Krieg, Konkurrenz und Diskussion. Unter einer dieser drei Formen breitet sich dann die neue Erfindung aus, bis sich wieder ein Gleichgewichtszustand eingependelt hat. Anders als in anderen konfliktsoziologischen Sichtweisen (vgl. Simmel 1992; Ross 1908; Dahrendorf 1957), in denen gesellschaftliche Konflikte als Triebfeder für Fortschritt angesehen werden, ist Gesellschaft bei Tarde ein Naturprozess, der sich schlicht wiederholt. Der Verzicht auf eine Weiterentwicklung der Organismusanalogie und der Gesellschaft nach den ›großen Drei‹ der Soziologie dieser Zeit – Simmel, Weber und Durkheim13 – kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gesellschaft als Untersuchungsobjekt einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin erst dadurch etabliert werden konnte, dass einige der zentralen Charakteristika des Organizismus beibehalten wurden. Auch Durkheim teilte viele Überzeugungen der Organizisten. Sein Hauptanliegen in »Die Regeln der soziologischen Methode« (1995) war es, Gesellschaft als Realität sui generis herauszuarbeiten. Er stellte dabei ihre Komplexität, ihre natürliche Beschaffenheit und die Möglichkeit ihrer wissenschaftlichen Untersuchung heraus. Die Arbeiten Durkheims, die heute zum allgemeinen soziologischen Kanon gehören, basieren auf einer Konzeption von Gesellschaft, wie sie im Organizismus entwickelt wurde. Pitirim Sorokin zählt 41

in seinem Standardwerk »Contemporary Sociological Theories« (1956; zuerst 1929 erschienen) Durkheim noch selbstverständlich zu den Organizisten (Sorokin 1956: 216). Und auch Donald Levine schlussfolgert in einem 1995 erschienenen Aufsatz: »Durkheim fashioned a schema for classifying types of human society as one would classify types of organisms.« (Levine 1995: 249) Kurzum: Die Vorstellung der Gesellschaft als Teil der Natur durch die Organizismus-Lehre diente als Grundlage dafür, Gesellschaft als entnaturalisiertes Objekt der Soziologie zu etablieren. Der Gesellschaftsbegriff wird heute als selbstverständlich hingenommen, aber es war ein langer Weg, die »Natur«-Elemente aus dem Einzugsgebiet wieder loszuwerden. Es sollte sich jedoch nur um eine kurzzeitige Loslösung handeln, denn es folgten viele Vorstellungen von Gesellschaft als Naturprozess in den verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen des 20. Jahrhunderts. Insbesondere bei Diskussionen um Globalisierung oder das globale Weltsystem würde man jedoch eine Nähe zur »Natur« am wenigsten vermuten. Dass auch hier der Einbezug von Natur in soziologische Einzugsgebiete das Rohmaterial und den Kern der Betrachtung ausmacht, soll das folgende Kapitel zeigen.

3. Globalisierung als Naturgeschichte Die Suche nach Naturgesetzen des Sozialen mag im 21. Jahrhundert innerhalb der Soziologie offiziell nicht mehr en vogue sein. Die Suche nach einer Gesellschaftstheorie, in der biologische, ökonomische und andere soziale Faktoren zwar mit unterschiedlichen Wertigkeiten versehen waren, aber doch letzten Endes alles einem Naturgesetz gleichen Verlauf unterworfen ist, wurde aber nur teilweise aufgegeben; gelegentlich taucht »Natur« auch gut getarnt unter anderen Begriffen und Konzepten wieder auf. Hierzu gehören zum Beispiel neuere Ausformungen der seit den 1970er Jahren entwickelten Weltsystemtheorie nach Immanuel Wallerstein. Die Weltsystemtheorie ist eine makrosoziologische Theorie der internationalen Verknüpfungen. Auch wenn das Forschungsinteresse den historischen Stadien und der Dynamik der kapitalistischen Weltwirtschaft gilt, ist die Untersuchungseinheit 42

»Welt« doch als Gesamtorganismus zu verstehen, der insbesondere in den Arbeiten seit den 1990er Jahren deutlich naturalistische und organizistische Züge aufweist. Als Weiterentwicklung der Dependenztheorie von Andre Gunder Frank (1929-2005) skizzierte zu Beginn der 1970er Jahre Immanuel Wallerstein mit der Weltsystemtheorie (world-system theory) eine erste einflussreiche Theorie der Globalisierung (Wallerstein 1986). Im Gefolge von Childe (1975), aber mehr noch von Fernand Braudel (1994), und damit grundsätzlich verschieden zu anderen, eher auf Parsons zurückgehenden Globalisierungstheorien seit den 1980er Jahren (vgl. Robertson 1992), besagt die zentrale These der Weltsystemtheorie, dass der Wandel einzelner Länder nicht ohne den Wandel des gesamten kapitalistischen Weltsystems verstehbar ist. Ein Weltsystem nach Wallerstein und anderen gründet sich auf marktwirtschaftliche Organisation, in der der Hauptmotor die Akkumulation von Kapital ist. Das Weltsystem funktioniert auf der Basis des Kapitalflusses aus unterentwickelten Ländern, der Peripherie, in die hoch entwickelten oder industrialisierten Länder, das so genannte Zentrum. Ähnlich wie schon bei Franks Dependenztheorie, welche die asymmetrischen Beziehungen zwischen industrialisierten Zentren und unterentwickelten ›Satelliten‹ zum Fortschungsgegenstand machte, ist auch bei Wallerstein die unterentwickelte Peripherie vom entwickelten Zentrum abhängig. Wallerstein geht davon aus, dass dieses Weltsystem im 16. Jahrhundert durch eine Krise des Feudalismus entstanden ist. Davor, so Wallerstein, gab es nur Weltreiche, deren Beziehungen zu anderen Regionen sich durch Raub oder den Tausch von Luxusgütern kennzeichneten. Im Jahre 1990 erklärte Frank plötzlich seine eigene Dependenztheorie als auch die darauf aufbauende Weltsystemtheorie nach Wallerstein für obsolet (Frank 1990). Frank vertrat seitdem die These, dass das Weltsystem nicht erst im 16. Jahrhundert entstanden sei, sondern lediglich eine neuere Ausformung eines einzigen Systems darstellt, das seit mindestens 5000 Jahren besteht. Die Transformation von Feudalismus zu Kapitalismus im 16. Jahrhundert stelle auch nur eine der zahlreichen immer wiederkehrenen Transformationen des Weltsystems dar, wie man sie seit mindestens fünf Jahrtausenden nachvollziehen könne. Dem43

nach ist dann der Aufstieg Europas lediglich als ein geopolitischer shift innerhalb des Weltsystems zu bewerten. Frank spricht in Abhebung von Wallerstein von »Weltsystemgeschichte« (world system history). Neuere Publikationen in der Tradition der Weltsystemgeschichte nach Frank’scher Provenienz betrachten jedoch nicht nur die gesellschaftliche Entwicklung als ein auf ökonomischen Zyklen beruhendes Naturgesetz, sondern fassen die gesamte Entwicklung moderner Zivilisationen als Teil der natürlichen Evolution. Der Materialismus der ökonomischen Langzeitstudien wird durch ökologische Zyklen ersetzt: »Ecological limits become also the limits of socioeconomic processes of empires, civilizations, and nation states, and the interplay between ecological limits and the dynamics of societal systems defines the historical tendencies and expansionary trajectories of the human enterprise«, schreibt zum Beispiel Sing Chew (2001: 57). Die Grenzen der äußeren Natur determinieren also die Entwicklung des Systems, welche die Zyklen der Expansion und Kontraktion des Weltsystems bestimmen (vgl. auch J.W. Moore 2000). Dies knüpft wieder an die Arbeiten von Braudel (1994) an, der sich ausführlich mit dem Milieu, in dem Menschen über Jahrhunderte lebten, beschäftigte. Zu dem Milieu zählten nicht nur die kulturellen Errungenschaften, auch nicht einfach Straßen und Häuser, sondern genauso geographische Voraussetzungen wie Berge und Ebenen, Meere und Flüsse. Lynn White jr. hatte 1967 behauptet, dass die westliche Gesellschaft durch ihre judäo-christliche Tradition in eine einzigartige ökologische Krise geschlingert sei (White 1967) – und hat damit das Umweltbewusstsein einer ganzen Generation mitgeprägt. Autoren aus der Tradition der Weltsystemstudien hingegen argumentieren, dass ökologische Degradierung zu verstehen sei als »a typical feature of human societal/civilizational relations with Nature« (Chew 2001: 93). In einem historischen Überblick zeigt Chew, dass der Raubbau an Natur nicht einzigartig und neuzeitlich-westlich geprägt ist, sondern sich typologisch seit 5000 Jahren nicht gewandelt habe, denn: »[W]hen social systems reach a level of complexity and differentiation, their relationship with nature turns degradative.« (Ebd.: 3) Wann genau dieser Punkt ein44

tritt, definiert Chew nicht. In manchen Fällen sei er bereits beim Übergang von Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften zu sesshafteren Formen des Zusammenlebens zu beobachten. Chew versucht auf diese Weise den Mythos zu entzaubern, dass vormoderne Gesellschaften ›im Einklang mit der Natur‹ gelebt hätten. Die Besonderheit dieser Studien liegt darin, eine naturalistische Perspektive in die Soziologie und angrenzende Disziplinen eingeführt zu haben, die bei Vielen Unwohlsein hervorruft. Das, was der Soziologe Chew (2001, 2006), der Historiker Marks (2002), der Politologe Thompson (2006) oder die Archäologen Kristiansen und Larsson (2005) im Sinn haben, ist das Aufdecken des Zusammenhangs zwischen den Grenzen der Naturressourcen und der Entwicklungsdynamik des Weltsystems. Der Fokus, so das Selbstverständnis dieser Autoren, liegt – theoretisch meist reichlich unterbelichtet – auf der Beobachtung der Schnittstelle von Natur und Gesellschaft. Die Grundthese ist simpel: Kapitalakkumulation führt unweigerlich zu Umweltproblemen, Umweltprobleme führen zum gesellschaftlichen Niedergang, Niedergang bedeutet eine Erholungsphase für die Natur, bevor wieder eine Phase der gesellschaftlichen Naturausbeutung und Naturüberlastung einsetzt, die wieder zum Niedergang menschlicher Zivilisation führt. Dies klingt nach einem ehernem Gesetz der »Wiederkehr des Immergleichen« (Nietzsche), denn alle Versuche der gesellschaftlichen Steuerung, wie z.B. Gesetze zur Eindämmung von Abholzung im ersten Jahrtausend v. Chr. in China, im antiken Rom ab 300 n. Chr. und das Aufkommen von Umweltbewusstsein in Mesopotamien bis hin zu »Greenpeace« und radikaleren Umweltgruppierungen, haben nicht geholfen, weshalb das gegenwärtige Weltsystem gerade wieder vor einem neuen »Dark Age«, einem gesellschaftlich dunklen Zeitalter, stehe (Chew 2006). Von allen Autoren der WeltsystemgeschichtePerspektive ist es wohl Chew, der am nachdrücklichsten argumentiert, dass auch die seit dem späten 20. Jahrhundert wahrgenommene ökologische Krise und die Umweltbewegung eigentlich nicht neuartig sind: Auch das gab es schon immer; besonders immer dann, wenn die menschliche Naturnutzung intensiv und die ökologische Degradierung besonders bedrohlich war. Nach dem ersten (1200 bis 600 v. Chr.) und zweiten (500 bis 900 n. 45

Chr.) dunklen Zeitalter steht uns nun, so sein Ausblick, das dritte bevor. Die zu beobachtenden Schrumpfungsprozesse in Teilen Europas seien erste Anzeichen für das aufkommende dunkle Zeitalter. Für das globale Ökosystem bedeute ein »Dark Age« jedoch eine Erholungsphase. »Dark ages should be appreciated as periods for the restoration of the ecological balance that have been disrupted by centuries of intensive human exploitation of Nature.« (Chew 2001: 10) Chew und andere entwickeln und verteidigen somit einen Naturalismus, der den Verlauf der Geschichte der letzten 5000 Jahre durch die Ausweitung und Kontraktion der menschlichen Gesellschaft in der natürlichen Umwelt kennzeichnet. Zur Illustration werden Beispiele anthropogen verursachter Ressourcenknappheit aus allen Phasen der menschlichen Geschichte aneinandergereiht. Hierzu gehören zum Beispiel die komplexen Verflechtungen und Handelsbeziehungen mit Ressourcen in Form von Rohmaterialien (besonders Holz) zwischen zum Teil entlegenen Regionen, der Zusammenhang von Bevölkerungsdichte, Verstädterung und Ressourcenerschöpfung, und auf dieser Basis die historischen Transformationen von frühen Hochkulturen bis hin zur Gegenwart. Mit diesen Arbeiten, deren Diskussion auf großen soziologischen Kongressen mittlerweile zum Standard gehört, wird das Einzugsgebiet der Soziologie über eine naturalistische Variante einer ökonomischen Theorie erweitert. Die Legitimität dieser Perspektive innerhalb der traditionellen und damit antinaturalistisch ausgerichteten Mainstream-Soziologie kann hier durch die Übernahme klassischer soziologischer Themen und Konzepte erreicht werden, insbesondere aus der historischen Soziologie (vgl. Skocpol 1984; Schützeichel 2004) – wie Differenzierung oder Systemtransformation – und die empirischen Methoden der Klassiker Weber oder Durkheim (vgl. Ragin/Zaret 1983). Diese Strategien der Erweiterung und Veränderung der Einzugsgebiete mittels ›genuin‹ soziologischer Konzepte lassen sich am Beispiel der Auseinandersetzung der Soziologie mit der Geographie, also der sozialwissenschaftlichen Disziplin, die sich am deutlichsten mit den physischen Grundlagen der Gesellschaft befasst, im Detail studieren. Im folgenden Kapitel geht es daher um die soziologische Einbeziehung der geographischen Umwelt und um Versuche der 46

interdisziplinären Kooperation zwischen amerikanischer Geographie und Soziologie seit 1900.

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IV. Soziologie und Geographie Eine der Disziplinen, der die Soziologie im Laufe ihrer Geschichte immer wieder auf ihren Einzugsgebieten begegnete, war die Geographie. In diesem Kapitel wird aufgezeigt, wie die nordamerikanische Geographie und die Soziologie ihre universitäre Institution zum Ende des 19. Jahrhunderts mit sehr ähnlichen, wenn nicht gar den gleichen disziplinären Wurzeln zur Untersuchung der menschlichen Gesellschaft begannen. Da die Geographie eine lange Tradition in Europa, insbesondere in Deutschland, aufzuweisen hatte, die noch junge Soziologie sowohl in Europa als auch in Nordamerika und in anderen Regionen der Welt sich erst etablieren und damit von bestehenden Disziplinen absetzen musste, begannen bald Abgrenzungsversuche. Beide Fächer fanden zwar ihre eigene disziplinäre Ausrichtung, trafen sich jedoch in gemeinsamen Einzugsgebieten bei der Auseinandersetzung über die Bedeutung der materiellen Umwelt menschlicher Gesellschaften. Es soll in diesem Kapitel gezeigt werden, dass diese Auseinandersetzung zur Entwicklung und Ausdifferenzierung der Humanökologie führte, die heute als Grundlage für viele naturfreie Bereiche der Soziologie gelten kann. Die Herausbildung der Humanökologie kann vor dem Hintergrund der Wechselwirkungen soziologischer und geographischer Strömungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts am besten verstanden werden. In der historischen Literatur zu den Ursprüngen der Humanökologie wird gewöhnlich die Stadtsoziologie der Chicagoer Schule der 1920er Jahre genannt. Diese sei als eine Erweiterung oder Ausdehnung der zeitgenössischen Pflanzen- und Tierökologie auf die menschliche Gesellschaft zu verstehen (vgl. Bulmer 1984; Gaziano 1996; Katz 2004; Matthews 1977; Serbser 2004). Es kann jedoch eher davon ausgegangen werden, dass die Ursprünge vielmehr auf einer Auseinandersetzung über die Natürlichkeit menschlicher Gesellschaft liegen. Damit lässt sich auch die Ähnlichkeit zwischen Tier- und Humanökologie innerhalb der Disziplinen Geographie und Soziologie vor dem Ersten Weltkrieg aufzeigen. Im Folgenden wird die Entwicklung ökologischen Denkens und der Gebrauch des Begriffs »Humanökologie« um 1900 in den Arbeiten von J. Paul Goode, Edward C. Hayes, Albion 48

Small sowie George Vincent diskutiert. Um aufzuzeigen, wie zentral die Bedeutung von »Natur« in den Auseinandersetzungen zwischen den Disziplinen zumindest in den USA war, sollen Debatten zwischen Vertretern verschiedener Disziplinen, insbesondere zwischen denen, die ein mit der jeweils anderen Disziplin gemeinsames Einzugsgebiet für die Erhaltung und Generierung ihrer eigenen Disziplin suchten, beleuchtet werden. Dies erscheint wichtig, da paradoxerweise die Erweiterung der Einzugsgebiete der Soziologie die Bedeutung natürlicher Einflussfaktoren auf Gesellschaft legitimieren musste, aber gleichzeitig vor einer »Naturalisierung« schützen sollte. In Kapitel IV/1 wird hierzu die Bedeutung der Entwicklung der Ökologie als neuer Wissenschaft im späten 19. Jahrhundert für die Verbindung zwischen Geographie und Soziologie eingeführt. In Kapitel IV/2 wird die ökologische Perspektive in der Geographie eingeführt, bevor in Kapitel IV/3 gezeigt wird, wie sich mithilfe der Ökologie als Leitdisziplin die Soziologie in der Disziplinenhierarchie über die Geographie zu setzen suchte. In Kapitel IV/4 wird einer der frühen soziologischen Versuche, das Soziale und die geographischen Einflüsse zu integrieren, diskutiert, da er ein Vorläufer aktueller Diskussionen, wie sie in Kapitel VI eingeführt werden, darstellt.

1. Geographischer Determinismus und die Ökologie der Gesellschaft In vielen Sozialtheorien des 19. Jahrhunderts wurde der Einfluss der äußeren Natur auf den Menschen als determinierend verstanden. Die äußere Natur hatte in dieser Sichtweise einen maßgeblichen Einfluss auf die Herausbildung sozialer Formen. Dies bedeutete, dass geographische Faktoren nicht einfach kulturelle Charakteristika bestimmen, sondern, dass diese Einflüsse direkt auf menschliche Individuen einwirken. Emile Durkheim hat sich in »Der Selbstmord« (1983) ausführlich mit Arbeiten dieser Denkrichtung auseinander gesetzt. Diese später unter dem Label »geographischer Determinismus« oder »Umweltdeterminismus« gefasste Sichtweise – Durkheim sprach dabei von den klimatischen und kosmischen Faktoren – richtete sich auf Fragen nach 49

dem Ursprung kultureller Eigenschaften und darauf, wie sich Gesellschaften zu ihrer Erhaltung wandeln und sich anpassen, um in ihren Grundfunktionen überleben zu können. Menschliches Handeln gehörte hier zu einem Netzwerk aus Ursache und Wirkung im größeren Zusammenhang einer Naturordnung. Hierdurch konnten alle sozialen Formen mit Verweis auf das Klima, das Wetter oder die Fauna und Flora erklärt werden. Die Frage war hier, wie Gesellschaften von ihrer natürlichen Umgebung kontrolliert wurden. In den 1890er Jahren begannen die Soziologie sowie die amerikanische Geographie, sich als selbstbewusste Disziplinen in der Universitätslandschaft zu etablieren. Die Vertreter beider Disziplinen waren daher damit beschäftigt, ihre Untersuchungsfelder zu definieren. Insbesondere die Geographie dieser Zeit war bemüht, sich von einseitigen Erklärungsmodellen zu emanzipieren. Auch wenn sich die Soziologie zuerst auf die Erforschung der gesellschaftlichen Phänomene konzentrierte, standen auch Auseinandersetzungen über den Platz des Menschen in der Natur, die Frage nach dem Raum der Gesellschaft sowie die Visualisierung von menschlichen Ansiedlungen auf Landkarten auf dem Plan. Sie wurden oft als strategische Mittel eingesetzt, die eigene Disziplin einzugrenzen. Auch wenn die Soziologie und die Geographie in dieser Hinsicht sicherlich eng verwandt waren, kam mit der Ökologie eine weitere neue Disziplin, die ein hybrides Feld wie die Humanökologie entstehen ließ, als zentraler Treffpunkt oder überlappendendes Einzugsgebiet für Geographie und Soziologie hinzu. Es war bekanntermaßen Ernst Haeckel, der zuerst den Begriff »Ökologie« (Oecologie) in seiner »Generellen Morphologie« von 1866 geprägt hatte. Haeckel leitete den Begriff aus dem griechischen oikos (Haus) und logos (Lehre) ab. Ökologie ist daher wörtlich genommen die ›Wissenschaft vom Haus‹ – oder besser: vom ›Haushalt der Natur‹. Haeckels ursprüngliche Definition verstand die Ökologie schlicht als »die gesamte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt, wohin wir im weitesten Sinn alle Existenzbedingungen rechnen können« (Haeckel 1988: 286). Auch wenn es nicht Haeckels erklärtes Ziel war, eine eigene Disziplin ins Leben zu rufen, hatte er durch 50

diese Definition den Fokus sowohl auf lebende als auch auf nichtlebende Komponenten der natürlichen Welt gelegt. Der Ökologiebegriff war jedoch bis in die 1890er Jahre kaum in Gebrauch. Tatsächlich konnte er sich erst durch den dänischen Botaniker Eugenius Warming (1841-1924) und der deutschen Übersetzung seines Buches »Plantesamfund« von 1895 als »Lehrbuch der ökologischen Pflanzengeographie« (1896) durchsetzen. Dieses Buch verbreitete den Begriff in weiteren Kreisen der akademischen Welt. Der ökologische Charakter und die geographische Basis menschlicher Gesellschaften nahmen auch eine zentrale Stellung in der Sichtweise früher amerikanischer Soziologen an der Universität Chicago ein. 1892 wurde Albion W. Small (1854-1926) zum Leiter des neu gegründeten Soziologiedepartments in Chicago berufen.14 Small war zusammen mit George E. Vincent Autor von »An Introduction to the Study of Society« (1894), dem ersten amerikanischen Lehrbuch der Soziologie. Der Text kann als ein Versuch aufgefasst werden, die Methoden der Soziologie an die der Biologie und der Ökologie anzulehnen. In der Einleitung des Bandes beschreiben Small und Vincent ihr Buch schlicht als einen »laboratory guide«, um Menschen in ihren alltäglichen Beschäftigungen zu erforschen (Small/Vincent 1894: 15). Small und Vincent glaubten, dass ihr Buch mit »laboratory guides in biology« vergleichbar sei (ebd.: 17). »An Introduction to the Study of Society« war somit als Leitfaden gedacht, mit dessen Hilfe Studierende der Soziologie die menschliche Gesellschaft wie Phänomene der Natur untersuchen sollten. Die Bedeutung der geographischen Umwelt, die Darstellung dieser Umwelt auf Landkarten und die Abbildung von Siedlungen und Bevölkerungsbewegungen in ihrer natürlichen und erbauten Umwelt waren zentrale Themen dieses Buches.15 Auch wenn Small und Vincent nicht explizit den Begriff Ökologie in ihrem Werk verwandten, so erstellten sie doch eine Methodologie für den beobachtenden Soziologen, die sehr ähnlich, wenn nicht gar gleich den Arbeiten von Warming, Haeckel sowie von vielen Geographen, Zoologen und Botanikern des späten 19. Jahrhunderts war. Ihr allgemeines Verständnis zum Untersuchungsbereich der Soziologie fassen Small und Vincent so zusammen: 51

»Society, in order to maintain its coherence and continue its development, must constantly readjust itself to natural and artificial conditions, for the [social] organism sustains a relation of double reaction with its environment. Natural circumstances make an impression upon society, which in turn effects modifications in nature. These artificial arrangements again influence social perception, and are themselves further modified.« (Ebd.: 336) Für die Autoren steht Gesellschaft also in einem stetigen Wechselverhältnis zur äußeren Natur, das für die soziologische Untersuchung von Bedeutung ist. Die äußere Natur hinterlässt ihre Spuren in der Gesellschaft und diese reagiert auf diese Aktivitäten der Natur (ebd.). Anders als im Organizismus wird Gesellschaft nicht als Teil der Natur verstanden, sondern als Gegenüber, das in enger Wechselwirkung mit der äußeren Natur steht. Am Schluss der Kapitel aus »Introduction« (1894) stand, wie bei Lehrbüchern üblich, ein Katalog von Fragen und Aufgaben für Studierende des Fachs. Dazu gehörte an vielen Stellen auch das Zeichnen von Landkarten, um die Verbindung zwischen natürlichen Gegebenheiten, die Platzierung von Wohngebieten, Straßen und dem gesellschaftlichen Leben in Abhängigkeit von geographischen Bedingungen besser zu verstehen (ebd.: 126, 142, 166). Small und Vincent suchten nach einem Ansatz, mit dem sich gesellschaftliche Entwicklung in ihrer materiellen Umwelt besser erfassen ließ. Diesem Zweck sollten Untersuchungen über die Lokalität von Dörfern, ihr Verhältnis und die Bedeutung der Beschaffenheit der Böden, die Bedeutung von neuen Transportwegen dienen. Die Soziologie, so ihre Annahme, muss dazu die natürliche Umwelt direkt in ihre Untersuchungen aufnehmen: »Yet the phenomena with which Geography, Physics, Chemistry, Geology, Physical Geography, Botany, and Zoölogy deal are of essential importance to the genuine sociologist, whether he studies society as a whole, or examines some specific group. It is, indeed, impossible to gain a clear insight into the fundamental phenomena of a community without a preliminary knowledge of its natural environment.« (Ebd.: 170) Es verwundert daher nicht, dass Studierende des frisch gegründeten Departments für Soziologie auch Kurse in Biologie 52

und Geologie als Teil ihres Soziologiestudiums besuchen mussten. Auch einige Jahre später, in seinem Buch »General Sociology« (1905), scheint Albion Small die Relevanz der natürlichen Umwelt für die Analyse sozialer Prozesse anzuerkennen. Small (ebd.: 405-424) begnügt sich hier in erster Linie damit, die materielle Umwelt als urbane Umwelt und nur noch beiläufig im Hinblick auf natürliche Ressourcen als der Versorgungsbasis von Gesellschaft zu thematisieren. Trotz allem schlussfolgert er, dass »a complete theory of human association must accordingly include a full account of all physical and vital forces in their action upon the conditions and incidents of association« (ebd.: 420). Das Interessante ist nun, dass Small die materielle Umwelt, die als Einfluss auf menschliche Gesellschaft messbar ist, als Teil der sozialen Kräfte, der »social forces« versteht. Ironisch fügt er hinzu, dass »some of the social forces are not social at all« (ebd.). Es erscheint damit so, dass Small mit diesem Schritt versucht, die natürliche Umwelt, die in Wechselwirkung mit der menschlichen Gesellschaft steht, als Teil der soziologischen Tatsachen zu konfigurieren und damit als soziale Tatsache erfassbar zu machen. Im Begriff der »social forces« spiegelt sich auch Durkheims Begriff der sozialen oder soziologischen Tatsachen (faits sociaux) wider. Der Begriff der »social forces« wurde jedoch in der frühen amerikanischen Soziologie verschieden von Durkheims faits sociaux verstanden, wenngleich beide Begriffe in heutigen Einführungsbüchern austauschbar benutzt werden (vgl. Thompson and Hickey 1996: 4-11, aber auch schon in Hayes 1908). Die spätere Auslegung von Durkheims Definition sozialer Fakten war, dass die Vorstellung der natürlichen Umwelt die sozialen Verhältnisse widerspiegele (vgl. Catton/Dunlap 1978; Douglas 1992; Gilbert 1989). Bei Durkheim heißt es dazu: »Die bestimmende Ursache eines soziologischen Tatbestandes muss in den sozialen Phänomenen, die ihm zeitlich vorausgehen, und nicht in den Zuständen des individuellen Bewusstseins gesucht werden.« (Durkheim 1995: 193) Eine soziale oder soziologische Tatsache war bei Durkheim grundsätzlich all das, was auf ein Individuum einwirkt. Die materiellen Objekte der Gesellschaft sind bei Durkheim jedoch »nur gefestigte Arten des Handelns« (ebd.: 113).16 Durkheim 53

schrieb daher der äußeren Natur der Gesellschaft keine ursprünglichen Kräfte für sozialen Wandel zu.

2. Geographie als Lebenswissenschaft Obwohl die Geographie als wissenschaftliche Disziplin zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihren Schwerpunkt nicht auf soziale Reformen legte, war ihre Definition des Gegenstandes oft ähnlich mit der anderer Soziologen dieser Zeit. Gelegentlich wurde die Geographie auch zusammen mit Soziologen bearbeitet und weiterentwickelt. William Morris Davis (1850-1934) wird allgemein als der Vater der amerikanischen Geographie angesehen, nicht zuletzt weil er die »Association of American Geographers« 1904 maßgeblich mitgegründet hat und zudem viele wichtige Definitionen über den Gegenstand der Geographie formulierte. Davis definierte die Geographie als die Lehre der Beziehungen der Lebewesen auf der Erdoberfläche sowie als die Lehre von Orten und Verteilungen (Davis 1909). Das erste eigenständige Geographiedepartment in den USA wurde 1903 an der Chicagoer Universität errichtet. Es war Rolin D. Salisbury, der Vorsitzende des Departments von 1903 bis 1919, der mit Harlan H. Barrows (1877-1960) und J. Paul Goode (1862-1932) zwei Wissenschaftler anwarb, um ein einheitliches Programm dieser neuen Disziplin zu entwickeln. Goode war zu Lebzeiten zuerst als Kartograph bekannt (vgl. Goode 1906, 1909, 1926, 1927). Goode gab viele geographische Karten und Bücher heraus. Am bekanntesten war »Goode’s School Atlas«, der heute unter dem Titel »Goode’s World Atlas« herausgegeben wird und ähnliche Bedeutung hat wie in Deutschland der »Diercke Weltatlas«. Um 1900 plante Salisbury, dass Goode ein Lehr- und Forschungsprogramm für das Department entwerfen sollte. 1902 legte Goode einen Entwurf für zwölf Schwerpunkte der geographischen Ausbildung vor. Die neuen Richtungen in der Geographie »were planned to occupy the great uncultivated field between geology and climatology on the one hand, and biology, history, sociology, economics, anthropology, and political science on the other« (James/Martin 1981: 313, Herv. von mir). Goodes Vor54

schlag von 1902 war gedacht als Grundlage für die Entwicklung eines vollständigen Universitätslehrplans für Geographie in Amerika (Pattison 1978, 1981). 1904 verfasste Goode einen einflussreichen Artikel mit dem Titel »The Human Response to the Physical Environment«. Hierin erörterte er den hybriden Charakter der Geographie, die sowohl die physische als auch die soziale Umwelt untersuchen sollte. In Anlehnung an die Theorien von Herbert Spencer, Lester F. Ward, Thorstein Veblen und Franklin Giddings diskutiert er die Bedeutung verschiedener Formen der Umwelt für gesellschaftliche Entwicklung (Goode 1904: 334-336).17 Goodes Perspektive war die, dass »progress in social evolution is a record of a changing ratio between the influence of the physical environment and this growing social environment« (ebd.: 342). Und obwohl sich moderne Gesellschaften zunehmend von der physischen Umwelt emanzipiert hätten, könne diese niemals ganz ausgeklammert werden, denn »we can never reduce this environment to zero. […] These forces may be unseen, but they are nevertheless potent, and they are eternal.« (Ebd.: 343) Es mag nicht Goodes Absicht gewesen sein, aber durch solche Aussagen schreibt er dem Gebiet der physischen Geographie zwar einen immerwährenden Einfluss zu, reduziert diesen aber doch zunehmend als vernachlässigbare Variable zur Erforschung des menschlichen Soziallebens. Goode vermutet sogar, dass der Einfluss der physischen Umwelt auf die Entwicklung der modernen Gesellschaft nur noch ca. 20 Prozent von allen Einflüssen ausmacht – im Gegensatz zu 95 Prozent bei vormodernen Gesellschaften (ebd.: 343). In diesem Sinne hätten sich moderne Gesellschaften von der Natur emanzipiert. Ein Fortschritt gegenüber Goodes allgemeinen Darstellungen von 1904 kann darin gesehen werden, dass er das Konzept der Ontographie, welche als die geographische Wissenschaft der Beziehungen zwischen Lebewesen im Allgemeinen gesehen wird, weiterzuentwickeln suchte. Ontographie, wie von Davis angeführt, war nach Goodes Verständnis in drei Teilbereiche zu untergliedern: die Ökologie von Menschen, Tieren und Pflanzen. Sie war bald ein wichtiger Bestandteil für die geographische Forschung. 1907 kündigte Goode einen Kurs mit dem Titel »Ontographie« an, welchen er als »the principles of geography, with the 55

purpose of emphasizing the interrelation of life and its physical environment, essentially an elementary course in plant, animal and human ecology« (Goode 1911: 111) beschrieb. Für Gerhard Fuchs ist das Erscheinen des Begriffs der Ökologie in der amerikanischen Geographie ganz allgemein »unmittelbar an den Beginn der anthropo-geographischen Forschung geknüpft, es fällt mithin direkt mit den Anfängen der Geographie als einer Beziehungswissenschaft zusammen« (Fuchs 1967: 85; vgl. Martin 1987). Auch Goode sah das Feld der Ontographie und der allgemeinen Ökologie als synonym.

3. Soziologie, Blüte der Geographie? Mit dem Ziel der interdisziplinären Zusammenarbeit stand Goode bald in Kontakt mit Edward C. Hayes (1868-1928), einem Soziologen an der Universität Illinois, um mit ihm über das Verhältnis von Soziologie und Geographie zu diskutieren. Wie Vincent war auch Hayes ein Student von Small in Chicago. 1902 promovierte Hayes an der Universität Chicago. 1907 wurde er Professor und Leiter des Departments für Soziologie an der Universität Illinois, eine Position, die er bis zum seinem Tod 1928 innehatte. Hayes war ein prominenter Vertreter der Soziologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Im Jahr 1915 veröffentlichte er ein einflussreiches Einführungsbuch der Soziologie (Hayes 1915) und im Jahr 1921 wurde er Präsident der »American Sociological Society« (der heutigen »American Sociological Association«). In einem Aufsatz über die Beziehung zwischen Geographie und Soziologie (Hayes 1908) zitiert er ausführlich aus einem Brief, den ihm Goode geschrieben hatte. Humanökologie, so wird Goode zitiert, sei als Verbindung zwischen den beiden Disziplinen zu verstehen. In der Diskussion um die Beziehung zwischen Geographie und Soziologie erklärte Goode, dass die Geographie den Themen Migration und Mobilität mehr Beachtung schenken sollte (in Hayes 1908: 394). Das waren Themen, die Goode 1902 unter Wirtschaftsgeographie subsumiert hatte, einem Gebiet, welches auch die Handelsgeographie einschloss. Er definiert Wirtschafts56

geographie als »the principles determining the rise of international trade; the choice of routes; methods of business organization; cooperation and competition; government restriction and encouragement« (Goode 1902, wieder abgedruckt in Pattison 1978: 6-7). Wirtschaftsgeographie befasst sich allgemein mit den Strukturen der Wirtschaftsverbreitung und mit den Faktoren und den Prozessen, die die Gebietsaufteilung der Erde betreffen. Die Handelsgeographie als Teilbereich der Wirtschaftgeographie widmet sich mit den räumlichen Grundlagen und Auswirkungen des Handels und seiner regional differenzierten Organisationsform. 1908 stellte Goode fest, dass das Gebiet der Humanökologie am besten ausgestattet sei, um diese Phänomene zu studieren und dass Soziologie und Geographie die richtigen Wissenschaften seien, um regionale Organisationsformen und die Auswirkungen des Handels mit den Methoden der Wirtschaftsgeographie zu bearbeiten. Für Goode ist jedoch explizit die physische Umwelt die Grundlage für das Gebiet der Geographie. Daraufhin definierte er die Humanökologie als »a study of the geographic conditions of human culture«, die aber über das Gebiet der Geographie hinausreiche. Daher sollte die Geographie eine gezielte Vorbereitung für andere Disziplinen – besonders jedoch für die Soziologie – sein. Daraufhin schlug Goode Hayes vor, dass die Humanökologie als ein neues hybrides Gebiet betrachtet werden sollte, wobei die Geographie die materiellen Grundlagen bearbeitet und die Soziologie von diesen geographischen Daten abstrahiert. Anders noch als in Goodes Kursentwurf vom vorhergehenden Jahr, wo die Humanökologie als ein Teil der Ontographie betrachtet wurde, hält er jetzt fest, dass die Humanökologie teilweise zum Fachbereich der Soziologie gewechselt sei. Goode sagt deutlich: »I like to think of sociology as the fruit and flower of geographic study, and that this service will prove the validity in the point of view of the geography today.« (Zitiert in Hayes 1908: 395) In Hayes’ Artikel, welcher von Small als Herausgeber des »American Journal of Sociology« veröffentlicht wurde, wurde damit zum ersten Mal das Konzept einer Humanökologie (human ecology) in einem wissenschaftlichen Magazin diskutiert. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts erschien die Humanökologie damit als verheißungsvolles Feld, auf dem sich ver57

schiedene Disziplinen treffen konnten. Zumindest Hayes’ Ausblick und seine Feststellung über Goodes Vorstellungen sowie über die Zukunft der Beziehung zwischen Geographie und Soziologie waren sehr erwartungsvoll. Hayes schrieb: »Thus it is that geography and sociology become allies.« (Hayes 1908: 395) Allerdings schreibt er nur eine Seite später, dass »an attempt to explain the distribution of social phenomena by reference solely to conditions supplied by peculiarities of the earth’s crust would prove illusory« (ebd.: 396). Hayes ließ somit keinen Zweifel daran, »that tracing the effects of geographic conditions on social phenomena […] is distinctly an excursion into sociology, and contributes an essential part of the explanation sought by sociology« (ebd.: 399). Er betont jedoch, dass eine soziologische »explanation will not be complete until the four factors in the explanation, physiologic, technic, geographic, and psychic, are correlated into one description. It cannot be made by any one of the sciences that discover a part of the conditions of social reality, but only by a sociology which gathers all of these conditions into one perspective.« (Ebd.: 388) Für Hayes war die Geographie die Disziplin, die die grobe Vorarbeit für die Soziologen leistete, was ebenso die Datensammlung durch andere Naturwissenschaften beinhalten konnte. Die viel geschickteren Soziologen, so Hayes implizit, erledigen die intellektuelle oder wissenschaftliche Arbeit der Abstraktion und der Schlussfolgerungen. Auch hier findet sich wieder unser altes Muster: Die Soziologie erweitert ihr Einzugsgebiet, indem sie teilweise Aufgaben der Geographie übernimmt und damit die Bedeutung der äußeren Natur für soziologische Beschreibung vergrößert. Dies geschieht aber wiederum nur, um explizit die sich mit der materiellen Natur befassenden Aspekte als leichtere Handarbeit der Geographie zuzuschreiben, damit die Rolle der Soziologie als Wissenschaft – und nicht nur Datensammlertätigkeit – aufgewertet wird. Interessanterweise kann man nach 1908 keinerlei Schriften von Goode finden, in denen er den Begriff »Humanökologie« verwendet, obwohl viele seiner Veröffentlichungen (wie z.B. seine Monographie über »The Geographic Background of Chicago« [1926]) die gesellschaftlichen Aspekte der Ökologie, wie sie durch Haeckel and Warming eingeführt wurden, diskutieren.18 Es war 58

also, wenn man die Kommunikation zwischen Hayes und Goode als Indikator nimmt, die Geographie selbst, die ihr Einzugsgebiet, das unter dem Label »Humanökologie« fungierte, an die Soziologie übergeben hatte. Goode gab dieses Gebiet auf, und seinem Kollegen Harlan Barrows gelang es 1922 nicht, wie wir später feststellen werden, es zurückzuerobern, wenngleich Barrows behauptete, dass »Geographie« ein Synonym für »Humanökologie« sei.

4. Soziale Einflüsse und die geographische Umwelt Nachdem er das Einzugsgebiet der Soziologie durch das ›Anhängsel‹ Humanökologie erfolgreich erweitert hatte, erklärte Hayes in den darauf folgenden Jahren, dass die Soziologie sich als eine Disziplin entwickeln müsse, die sich an den Methoden der Naturwissenschaften orientieren soll. Diese Forderung war nichts Außergewöhnliches. Das Drängen der Soziologie, eine objektive Wissenschaft zu werden, um sich von der normativen Sozialarbeit und der Sozialreform abzuheben, war eine generelle Strategie im frühen 20. Jahrhundert, um sich als eigenständige Disziplin zu etablieren (vgl. Bannister 1987; Chriss 2006; Gieryn 2006). Einige Jahre nach seiner Diskussion mit Goode begann Hayes in einem Artikel unter dem Titel »The ›Social Forces‹ Error«, die aktuelle Soziologie zu attackieren, da sie die Bedeutung der natürlichen Umwelt für die Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung vernachlässige. Hayes’ Vorschlag, die Soziologie in Richtung einer Naturwissenschaft zu lenken, war vergleichbar mit den Forderungen von Hayes’ Zeitgenossen in der Geographie. Um ein wissenschaftliches Verständnis der menschlichen Gesellschaft zu gewährleisten, sagt Hayes, müssen beide, die physische und die soziale Seite, in die soziologischen Analysen einbezogen sein. In seiner Dissertation zitierte Hayes noch Gabriel Tardes (vgl. Kap. III/2) Definition von Gesellschaft: »Societies are not merely masses of inter-spiritual action; they are at one and the same time masses of inter-spiritual and inter-corporeal actions, combined with many physical actions, united struggles with the forces of nature to repel and to utilize them.« (Tarde, zitiert nach Hayes 1905: 59

628) Bereits hier waren die äußeren Einflüsse auf Gesellschaft im Gegensatz zu Smalls (1905) und Durkheims (1995) Definition von den sozialen Tatbeständen durchaus als materiell und natürlich zu verstehen. In Anbetracht dessen ging Hayes’ Arbeit zu einer proto-ökologischen Soziologie weit über die Durkheim’sche Auffassung von sozialen Tatsachen hinaus, weil der natürlichen Umwelt ein direkter Einfluss auf die menschliche Gesellschaft zugebilligt wurde, ohne in einen einseitigen Determinismus zu verfallen. Die Vorstellung, dass soziale Kräfte als die einzige Erklärung für das Sozialleben betrachtet werden sollten, war für Hayes ein metaphysischer Ansatz, da er die geographische Umwelt ausklammerte. Um Vorhersagen über zukünftige Entwicklungen der Gesellschaft zu machen, wollte Hayes eine soziologische Rahmenbedingung für die Analyse, die wie folgt aussieht: »Given a population whose psychophysical organisms have such and such recognized tendencies, set in the midst of such and such a material environment, supplied in part by nature and in part by labor of man, and in such and such a social environment, consisting of the already prevalent activities, then such and such further activities will on the whole thereafter prevail, and if given modifications are now introduced into their physical or social environment such and such changes in the prevalent activities will ensue.« (Hayes 1911a: 625, Herv. im Orig.) Hayes zeichnet hier die Konturen für ein flexibles Modell der menschlichen Gesellschaft und der Umwelt, welches weder die Reduktion von Gesellschaft auf Natur propagiert, noch die von Natur auf Gesellschaft. Dafür sollten die Wechselwirkungen zwischen beiden Seiten erforscht werden. Die vier Kernelemente, welche Hayes für die Erforschung der Gesellschaft immer wieder nannte, waren die Bevölkerung als ein psychophysikalischer Organismus, die soziale Umwelt sowie die natürliche Umwelt, die sowohl aus der vom Menschen gemachten als auch der natürlichen Umwelt besteht. Hayes glaubte, dass »every human act, every human experience, has a natural history, and has its roots in the interplay with other lives« (Hayes 1905: 641). Er wollte die Hauptaufmerksamkeit der Soziologie auf »the processes of interaction that constitute society« (ebd.: 751) richten. Soziale Prozesse 60

sollten im Zentrum der soziologischen Forschung stehen – und nicht Gruppen oder Gesellschaften. Hayes behauptete, dass die Soziologie »must adopt the method of other sciences and account for its realities in terms of conditioning phenomena and relations between phenomena« (Hayes 1911a: 625). Hayes’ Untersuchungsbereich der Soziologie unterteilte sich in zwei Hauptgruppen (Hayes 1911c, 1915: Kap. I und II): (1) das soziale Handeln und (2) die bedingenden Faktoren, welche dieses Handeln formen und verändern. Dies war ein Schritt, um die oben genannten vier Ursachenkategorien zu differenzieren, so dass sie operationalisiert sind und in Beziehung zueinander gesetzt werden können (Hayes 1908: 388). In gewisser Weise war dies ein Versuch, für die Soziologie die aus der Geographie bekannte Spannung zwischen einer auf Natur rekurrierenden Erklärung und einer auf soziale Faktoren gerichteten Erklärung zu lösen. Hayes’ Vorschlag war es, soziales Handeln in einer zweistufigen Herangehensweise zu untersuchen: Gesellschaftliche Prozesse sollten in einer deskriptiven Art und Weise erfasst werden, um dann anschließend die Ursachen für die Richtungen dieser Prozesse untersuchen zu können (Hayes 1906: 65). Er schlägt daher vor, gesellschaftliche Formen zu analysieren, um anschließend auf der Grundlage der vier Variablen zu ermitteln, welche die Haupteinflüsse für diese Formen sind. Hayes unterschied zwischen verschiedenen Arten von rein physischen Phänomenen und den »sozial-physischen Phänomenen«, um die Bedeutung der natürlichen Umwelt für das soziologische Verstehen zu ermitteln. Dies, so Hayes, könne nur erreicht werden, wenn das soziale Verhalten erfasst wurde – der erste Schritt –, um eine optimale Erklärung im zweiten Schritt abgeben zu können. Hayes nennt diese die sozial-physischen Phänomene, »so as to set them off from all other physical phenomena less related to the sociological« (Hayes 1906: 59). Hayes’ Artikel über »social forces«, welcher ursprünglich 1910 zum Jahrestreffen der »American Sociological Society« präsentiert wurde, löste eine zu ihrer Zeit prominente Debatte über die Ausweitung und die Anschlussfähigkeit soziologischer Konzepte an natürliche Phänomene aus. Wie zu erwarten, war das Fazit für Hayes, dass es für die Soziologie wichtig ist, Erklärungen he61

ranzuziehen, »that consist in reference to conditions geographic, technic, psychological and social« (Hayes 1911b: 644). Kurze Zeit später wurde die Debatte ad acta gelegt und Hayes ›stand alleine da‹. Selbst Small schien unentschlossen und unterstütze seinen ehemaligen Studenten nur halbherzig (Small 1911). Ausgehend von seinen Überlegungen in »The ›Social Forces‹ Error« konstatierte Hayes (1914) drei Jahre später dennoch erneut, dass »prevalent social activities are molded by conditions of four kinds: (1) geographic conditions, or the natural physical environment; (2) technic conditions, or the artificial environment; (3) psychophysical conditions, or the hereditary and acquired traits of population; (4) social conditions, or the causal relations between the activities of associates« (Hayes 1914: 813). Dieses Modell zeigt damit verschiedene Faktoren auf, die soziologisch zu beachten wären, macht aber nur lose Aussagen über die genauen Zusammenhänge. Hayes spezifizierte jedoch – ähnlich wie Small und Vincent (1894) –, dass »geographic conditions, or the natural physical environment inhabited, must be recognized as including aspects, soil, water supply, other mineral sources, flora, fauna, and topography« (ebd.: 813). In Hayes’ Konzept passen sich menschliche Gesellschaften nicht einfach der materiellen Umwelt an. In seinen Augen waren menschliche Gesellschaften aktiv handelnd, jedoch nicht nur in und mit einer sozialen und natürlichen Umwelt, sondern auch mit und durch moderne Technologien. Wie in Hayes’ Artikel und Reflexion aus den früheren Jahren, betonte er auch hier noch einmal die Wechselwirkung zwischen den vier Gruppen, so wie sie etwa 50 Jahre später als das »POET-Model« von Otis D. Duncan (1961) bekannt wurden: Menschliche Bevölkerung (P), Organisation (O), Umwelt (E) und Technologie (T) (vgl. auch Kap. V/3 unten). In seinem zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr bekannten Lehrbuch »Introduction to the Study of Sociology« (1915) führte Hayes seine Überlegungen zur Bedeutung der materiellen Umwelt für das Verständnis der sozialen Prozesse fort. Er widmete sogar ein Kapitel den »geographischen Ursachen und deren sozialen Effekten«. Er diskutierte sein Konzept der Interaktion der vier Kategorien im Detail in vier einzelnen Kapiteln auf über 300 Seiten. Immerhin: Nach all den Auseinandersetzungen mit sei62

nen Soziologiekollegen konnte Hayes die Bedeutung der geographischen Umwelt für das soziologische Verständnis von Gesellschaften ausführlich diskutieren – fast ohne andere Geographen zu zitieren oder auf sie zu verweisen.19 Man erkennt, dass Hayes eine rein soziologische Theorie aufstellen wollte, in der Variablen der natürlichen Umwelt eine zentrale Rolle spielten, d.h. er gedachte, das Einzugsgebiet der Soziologie zu erweitern und dabei vor anderen Disziplinen – zumindest implizit – den Hauptzugang zur natürlichen Umwelt zu bekommen. Aber Ansätze zur rechtmäßigen Erforschung menschlicher Gesellschaften wurden auch von Seiten der Naturwissenschaften unternommen, insbesondere der Tierökologie, welche wiederum Konzepte aus der Botanik übernahm. Dies und die Frage, wie sich hieraus die Humanökologie dennoch als soziologische Unternehmung entwickeln konnte, wird Thema des folgenden Kapitels sein.

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V. Pflanzen-, Tier- und Humanökologie Die vorhergehenden Abschnitte haben bereits angedeutet, dass in der Pflanzen- und Tierökologie, damals noch meist »Pflanzenkunde« und »Zoologie« genannt, häufig soziologische Themen behandelt wurden, dass sich aber insbesondere die Soziologie von den Einzugsgebieten dieser Disziplinen beeinflussen ließ. Etwa zu Beginn des Ersten Weltkrieges begannen insbesondere Zoologen den Anspruch zu erheben, dass die Soziologie letztendlich ein Teilbereich der Tierökologie sein muss; ein Anspruch, der dem von Edward O. Wilson in den 1970er Jahren hinsichtlich seiner Grundsätzlichkeit zu gleichen scheint (siehe Kap. II/1). Dieser Versuch der Übernahme von Einzugsgebieten der Soziologie wird das Thema in Kapitel V/1 sein, um in dem hierauf folgenden Kapitel V/2 zu zeigen, welche Strategien notwendig waren, um ab ca. 1920 in Auseinandersetzung mit der Ökologie und teilweise auch erneut der Geographie das soziologische Einzugsgebiet und damit das »Natur-Terrain« wieder zu erweitern. Kapitel V/3 wird zusammenfassend verschiedene Strategien zur Einbeziehung des Gegenübers »Natur« in soziologische Theorien sowie die Hindernisse bei der Erweiterung von Einzugsgebieten beleuchten.

1. Soziologie als Teil der Tierökologie An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert waren soziologische Konzepte und Begriffe in dem neu aufgekommenen Feld der Ökologie sehr einflussreich. Ronald Tobey (1981: 83-86) zeigte sogar, dass das Ökologiekonzept seit 1890 direkt aus den soziologischen Diskussionen um ›Gemeinschaft versus Gesellschaft‹ (Tönnies 1979) heraus entwickelt wurde und die Metapher, welche eine soziale Einheit als eine Art Organismus beschreibt (vgl. Kapitel III), ebenfalls von der Soziologie entliehen wurde. Es dauerte jedoch mehr als ein Jahrzehnt, bis die Humanökologie zu einem Thema der amerikanischen Ökologie wurde. 1913 begann der Tierökologe Charles C. Adams (1873-1955), der ebenso

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wie Hayes an der Universität von Illinois lehrte, über die Rolle der Humanökologie im Wissenschaftssystem nachzudenken. Adams ging davon aus, dass die verschiedenen Ökologien – die des Menschen, der Tiere und der Pflanzen – aus praktischen Gründen zwar unabhängig voneinander entwickelt worden seien. Er glaubte jedoch, dass »to the mutual advantage of these subjects they are now rapidly converging, and we may anticipate a similar relation between general animal ecology and the ecology of man« (Adams 1913: 10). Adams verdeutlichte, dass Humanökologie als Teil seiner Disziplin, der Tierökologie, verstanden werden müsse. Nach Adams’ Meinung war auch die Soziologie ein Teil der allgemeinen Ökologie. Für Autoren wie Adams war es selbstverständlich, das Feld menschlicher Gemeinschaften wie eine Tiergemeinschaft in der natürlichen Umwelt zu behandeln. Entgegen der Humangeographie20 des frühen 20. Jahrhunderts waren die aus der Biologie stammenden Ökologen zumeist an menschlichen Instinkten und der Physiologie interessiert und nicht an Kultur, menschlichen Wahrnehmungen und Bewusstsein. In den folgenden Jahren wurde zwar gelegentlich auf Adams’ Forderung, das Gebiet der Humanökologie als einen Teil der Tierökologie zu betrachten, Bezug genommen, aber die kulturelle Seite der Humanökologie blieb weitgehend ausgeklammert. Im Sommer 1914 definierte auch die »British Ecological Society« die Humanökologie als Teilbereich der allgemeinen Ökologie (McIntosh 1985: 302). 1916, beim ersten Treffen der neu gegründeten »Ecological Society of America«, forderte der Geograph Ellsworth Huntington andere Geographen auf, in der neuen wissenschaftlichen Vereinigung Mitglied zu werden, damit die Humanökologie ausreichend repräsentiert sei (Cittadino 1993: 255). Huntington (1919) selbst führte einige Forschungen zum Zusammenhang zwischen Zivilisationen und Klima durch. Er konstatierte, dass die Entwicklung von Zivilisationen und die besonderen kulturellen Ausprägungen menschlicher Gesellschaften nicht getrennt und unabhängig von klimatischen Bedingungen verstanden werden können (vgl. Stehr/von Storch 1999). Dieser Umweltdeterminismus wurde jedoch außerhalb des Fachberei-

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ches Geographie wenig beachtet und auch innerhalb der Disziplin zunehmend angegriffen. Huntington selbst verwies nach dem Ersten Weltkrieg immer weniger auf die Humanökologie. Seit den 1920er Jahren entwickelte sich die Ökologie in Nordamerika als eine akademische Disziplin, die sich ihrem Selbstverständnis zufolge ausschließlich auf Pflanzen und Tiere konzentrieren sollte (McIntosh 1985). Dies wird auch deutlich im Untertitel der 1920 gegründeten Zeitschrift »Ecology«: »Continuing the Plant World«. Im Leitartikel der Erstausgabe wurde jedoch weiterhin für eine breite Auslegung der Ökologie geworben, denn »[G]eography, in so far as it is the study of man in relation to his environment, is human ecology.« (B. Moore 1920: 4) Zwei Jahre später konstatierte Steven Forbes in seinem oft zitierten Artikel »The Humanizing of Ecology«, dass »der zivilisierte Mensch« und seine Beziehung zur natürlichen Umwelt als Untersuchungsgegenstand der Ökologie zu verstehen ist (Forbes 1922). Trotz allem galten bereits Mitte der 1920er Jahre die frühen Ansätze einer Ökologisierung der Geographie und der Soziologie, aber auch die Versuche aus Reihen der Tierökologen, den Menschen mit in ihre Untersuchungen einzuschließen, als antiquiert. Das alte Einzugsgebiet der Ökologie lag also beinahe brach und konnte nun von der Soziologie leicht übernommen werden. Diese Chance wurde insbesondere von Mitgliedern der Soziologiefakultät der Universität Chicago wahrgenommen.

2. Überlappende Einzugsgebiete: Disziplinäre Ansprüche auf die Humanökologie Im Jahre 1935 erinnerte sich Charles Adams seiner alten Ausführungen über die Beziehung zwischen allgemeiner Ökologie und Humanökologie. In seinem Essay »The Relation of General Ecology to Human Ecology« bemerkte er, dass »the recognition of human ecology and utilization of the definitively developed ecological ideas are of very recent development. The older authors recognized the general field but did not elaborate it.« (Adams 1935: 328) In diesem Artikel verwies Adams auch auf sich selbst und bezeichnete sich als einen der »älteren Autoren«. Den Soziologen 66

der 1930er Jahre sprach er hingegen die Rolle der wirklichen Humanökologen zu. Wie konnte es dazu kommen? Es war im Jahr 1914, als Robert E. Park (1864-1944) als Dozent an die soziologische Fakultät der Universität Chicago kam. Dies war eine Zeit, in der Albion Small und William I. Thomas noch immer die bedeutenden Lehrenden im Department waren. 1916 begannen Park und sein Mitarbeiter Ernest W. Burgess damit, Aufsätze für ihr einflussreiches Einführungsbuch »Introduction to the Science of Sociology« (1921)21 zu sammeln. Im Rückgriff auf Frederic Clements verwies Park bereits 1918 auf das Potential der Pflanzenökologie, das für eine soziologische Theorie der sozialen Prozesse zentral sei (Park 1918). Wenige Jahre später schrieben dann Park und Burgess, dass Clements’ »analysis of the succession of plant communities within the same geographical area and of the relations of competitive co-operation of the different species of which these communities are composed might well serve as a model for similar studies in human ecology« (Park/Burgess 1921: 555). In den Ausführungen der beiden Chicagoer Soziologen finden sich auffälligerweise keine Vergleiche oder Parallelen zwischen Geographie und Soziologie, die im Zusammenhang mit einer Humanökologie stehen. Zudem betont Park immer wieder, dass Ökologie, welche als ein neuer Ausdruck für die frühere Bezeichnung »Haushalt der Natur« stehe, als die soziologische Perspektive in den Biowissenschaften verstanden werden muss. Für Park bedeutete das Prinzip der »konkurrierenden Zusammenarbeit«, das aus dem organizistischen Gedankengut der Soziologie stammte, die Anwendung einer soziologischen Grundregel auf die Erforschung der Fauna und Flora (ebd.: 555ff., vgl. Park 1936a, 1939). Selbstbewusst stülpt Park damit eine soziologische Perspektive über andere Wissenschaften und schützt seine Version der Humanökologie vor einer möglichen Anschuldigung aus den Reihen der Soziologie, dass es sich hier um eine Biologisierung des Sozialen handle. Park erweiterte einfach das Einzugsgebiet der Soziologie um Bereiche, die ebenso zur Geographie oder zur allgemeinen Ökologie gehörten. In der Folgezeit waren die Geographen, die ihre Aufmerksamkeit auf die soziale Seite der Geographie richteten, erneut mit dem Dilemma konfrontiert, mit dem bereits Goode 1904 zu 67

kämpfen hatte. Auf der einen Seite konzentrierten sich Geographen in ihren Forschungen auf die Geologie, Meteorologie oder Geophysik und ihre Bedeutung für gesellschaftliches Zusammenleben. Auf der anderen Seite versuchten sie, um der Anschuldigung eines einseitigen Umweltdeterminismus entgegenzuwirken, die Bedeutung des gesellschaftlichen Lebens und die räumliche Verteilung hervorzuheben und beschäftigten sich mit dem Einfluss des Menschen auf den geographischen Raum. Hierbei liefen sie jedoch Gefahr, als Anthropologen, Ökonomen oder Soziologen ›zweiter Wahl‹ wahrgenommen zu werden. In diesem Tenor diskutierte Nevin Fenneman in seiner Ansprache als Präsident der »Association of American Geographers« die Besorgnis der Geographie, dass andere Disziplinen geographische Arbeit ausübten (Fenneman 1918). Er argumentierte, dass die Geographie zwar zur Familie der Physiographie, Klimatologie sowie zur Lehre der natürlichen Ressourcen und zur Ökologie gehöre, das genuin geographische Gebiet sei jedoch »the study of areas in their compositeness or complexity, that is regional geography« (1918: 7; Herv. im Orig.). In der Folgezeit konzentrierte sich die Geographie jedoch zunehmend wieder auf ihre Studien zum Einfluss der geographischen Umwelt auf menschliche Gesellschaften und fiel damit auf eine Form des Umweltdeterminismus zurück (z.B. Huntington 1919). Als Indikator kann hier die Untersuchung von Davis zum »Progress of Geography in the United States« (Davis 1924) gesehen werden. Davis sah die Errungenschaften seiner Disziplin fast ausschließlich auf dem Gebiet der physischen Geographie. Anfang der 1920er Jahre versuchte Goodes Kollege Harlan Barrows das Einzugsgebiet der Geographie, welches vor dem Ersten Weltkrieg den Soziologen überlassen wurde, erneut zu erobern. In seinem vielzitierten Aufsatz »Geography as Human Ecology« erklärte er, dass die Humanökologie als das genuine Gebiet der Geographie zu verstehen sei, weil die Geographie sich nicht »with the relations of plants and animals to their natural environment« befasse, sondern mit »plants and animals as elements of the natural environment affecting man« (Barrows 1923: 4). Barrows zeigt im Folgenden die Unterschiede zwischen dem Gegenstandsbereich der Geschichtswissenschaft und der Geogra68

phie auf, wobei sich die Geschichtswissenschaft mit der Vergangenheit befasse, während die Geographie die Gegenwart fokussiert. So gesehen sei die Geschichtswissenschaft »concerned with time relations; chronology is its organizing principle. Geography is concerned with place relations; ecology might be its organizing concept.« (Ebd.: 6; Herv. im Orig.) Der Zusammenhang zwischen Geographie und Soziologie war für Barrows jedoch nicht so eindeutig erklärbar. Er betont zwar, dass es für die Soziologie schwierig war, ihre richtige Nische zwischen den anderen Fachrichtungen zu finden, dass aber die Beiträge der Soziologie zur wissenschaftlichen Wissensgenerierung von größter Bedeutung seien. Er fährt fort und argumentiert, dass die Soziologie einige Forschungsarbeiten in der Humanökologie vorzuweisen hat. Dennoch bleibt er unentschlossen, ob in Zukunft der Arbeitsbereich der Humanökologen »will be done chiefly by geographers or by sociologists« (ebd.). Diese Vorsicht bezüglich seiner Einschätzung der soziologischen Variante der Humanökologie in einem Artikel mit dem Titel »Geographie als Humanökologie« ist auffallend. Die Vorsicht hatte sicherlich auch mit der Tatsache zu tun, dass die Soziologen seiner Zeit bereits eine gewisse Bekanntheit und einen konzeptuellen Vorsprung gegenüber den Geographen hatten. Es steht außer Zweifel, dass amerikanische Soziologen dieser Zeit mit viel Selbstbewusstsein in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit auftraten. Dies ist zum großen Teil auf die Persönlichkeit, die strategische Planung und die Etablierung der Soziologie durch Robert E. Park zurückzuführen. Im Gegensatz zu seinen Kollegen aus der Geographie war Parks Definition von Geographie im Vergleich zur Soziologie direkt und unkompliziert.22 Er schrieb: »Geography as a science is concerned with the visible world, the earth, its location in space, the distribution of the land masses, and of the plants, animals, and peoples upon its surface. […] As soon as the geographer begins to compare and classify the plants, animals, and the peoples with which he comes in contact, geography passes over into the special sciences, i.e., botany, zoölogy, and anthropology.« (In Park/Burgess 1921: 8) Dies geht bereits über die Hayes’sche Definition des Arbeits69

bereichs der Geographie im Vergleich zur Soziologie hinaus. Im selben Jahr, als die »Introduction« von Park und Burgess (1921) veröffentlicht wurde, rezensierte Park zwei Bücher zur Humangeographie. Was auch immer die Unterschiede zwischen den verschiedenen Strömungen der Humangeographie sein mochten, Park ging davon aus, dass die Geographie »reduces itself to an investigation of the manner in which the organization of life within the house, within the communities, i.e., village or city, and within the typical geographical areas (islands) is determined by geographical facts, that is to say, soil and water, flora and fauna, coal and other minerals« (Park 1921: 786). Als Park fünf Jahre später einige Bücher über die natürlichen Grundlagen von menschlichen Gesellschaften rezensierte, schrieb er, dass »the relations between human geography and human ecology […] are so obscure that it is important, in the interest of clear thinking, to determine boundaries – and not merely boundaries, but points of view and methods« (Park 1926a: 487; vgl. auch McKenzie 1926). Parks Strategie zur Ausweitung des Einzugsgebietes der Soziologie zielte auf eine klare Unterscheidung zwischen Soziologie und Geographie, wenngleich sie der fast 20 Jahre alten Vorgabe von Goode und Hayes folgte. Park vereinfachte die Unterscheidung jedoch deutlich – man könnte sagen, er banalisierte sie: »Sociology starts with society, but geography starts with the soil. […] Sociology seeks to classify its facts and to describe social changes in terms of processes.« (Park 1926a: 487) Heutige Vertreter der Sozialgeographie sehen die Aufgaben der Disziplinen etwas anders. Knapp 70 Jahre später schreibt Benno Werlen, ein prominenter Vertreter der Sozialgeographie in Deutschland: »Erforscht die Geographie die erdoberflächlichen Erscheinungsformen, ist die Soziologie an den gesellschaftlichen Aspekten interessiert.« (Werlen 1995: 513) Park hingegen geht davon aus, dass die Soziologie mit den gesellschaftlichen Aspekten beginnt, so wie die Geographie mit Erscheinungsformen der Erdoberfläche beginnt; nicht, dass dies ihr einziges Forschungsgebiet ist. Um die beiden Seiten, die naturwissenschaftliche und die soziale, innerhalb der Humanökologie zu vereinen, stellt sich für Park die Arbeitsteilung zwischen Geographie und Soziologie folgendermaßen dar: Geographen beschreiben und sammeln Fakten 70

in einer idiographischen Art und Weise, während die Soziologen durch eine nomothetische Herangehensweise nach universellen Regeln und Gesetzen suchen. Der Unterschied zwischen nomothetischer und idiographischer Wissenschaft geht auf Parks Doktorvater Wilhelm Windelband an der Universität Heidelberg zurück (Windelband 1900).23 Interessanterweise fand Park diese Unterscheidung am deutlichsten in den Schriften des französischen Geographen Lucien Febvre formuliert, welcher zu dieser Zeit (1926) als Professor an der Universität Straßburg lehrte. Folglich fasste Park einfach Febvres Ansicht zusammen und folgerte, dass von der Geographie keine Zugeständnisse bezüglich ihrer »mania for classification« zu erwarten seien. Dies sei der Fall, weil alles andere – also ein eher nomothetischer Ansatz – »would mean passing over, in most cases, anything peculiar, individual, or irregular – that is to say, in short, all that is most interesting« (Park 1926a: 487). An anderer Stelle schreibt Park ebenso im Rückgriff auf Febvre: »Geographers, like historians, have been traditionally interested in the actual rather than the typical. Where are things actually located? What did actually happen? These are the questions that geography and history have sought to answer.« (Park 1926b: 2) Durch diese Unterscheidung, die Park von einem prominenten Geographen selbst übernommen hatte, hatte er ein leichtes Spiel, die Geographie zusammen mit der Geschichtswissenschaft in den Bereich der idiographischen Disziplinen zu stellen, obwohl die Geographie auch an Themen wie Geologie oder natürlichen Ressourcen interessiert sein mochte. Soziologie wurde damit, so Parks Hoffnung, zu einer Naturwissenschaft, obwohl sie nicht über die für die Naturwissenschaft traditionell notwendigen Werkzeuge verfügte. Es war auch ein Versuch, die Soziologie in der Hierarchie der Wissenschaften über der Geographie zu platzieren. In der direkten Beobachtung von Menschen in ihrer natürlichen Umgebung (die natürliche Umgebung war für Park in der modernen Welt zunehmend die Großstadt) sah Park die am besten zu realisierende Methode, um Tatsachen über die soziale Welt zu sammeln – ähnlich wie im Chicagoer Geographieprogramm zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Diese Methode wurde später in Gestalt der teilnehmenden Beobachtung weiterentwi71

ckelt und bis in die 1970er Jahre hinein sogar als »naturalistische Soziologie« bezeichnet (vgl. Lofland 1967, 1971). Am Ende des oft zitierten Artikels »Human Ecology« fasst Park seine Strategie zur Erforschung der menschlichen Gesellschaft zusammen und schlägt vier Variablen vor, welche innerhalb einer Gesellschaft interagieren: »(1) population, (2) artifact (technological culture), (3) custom and beliefs (non-material culture), and (4) the natural resources« (Park 1936a: 15; ähnlich auch Park 1933a). Diese vier Variablen sollten auf jeweils zwei Ebenen untersucht werden: der ökologischen Ebene, die sich auf die ungeplante Fortbewegung konzentrierte, und der Ebene der moralischen oder kulturellen Entwicklung, die sich auf das Verstehen von Menschen und Gruppen konzentrierte. Die durch die Komplexität der Interaktion dieser vier Variablen, eingespannt zwischen ökologischer und kultureller Ebene, gegebene Nichtsteuerbarkeit moderner Gesellschaft war ein Hauptkriterium, warum Park gelegentlich von Gesellschaft als natürlichem Prozess sprach (vgl. Park 1933b). In einem allgemeinen Aufsatz unter dem Titel »Modern Society« (Park 1942) macht er den Sachverhalt der fast zufälligen und damit in seinem Sinne natürlichen Entwicklung der Gesellschaft, die auf die ökologische Ebene der Gesellschaft zurückzuführen ist, deutlich: »The mechanization and rationalization of agriculture, for instance, has tended to depopulate the countryside, and by converting the farmsted into a factory and the peasant into a wage earner and proletarian, has so stepped up the tempo of rural life that is has brought society as a whole into such a condition of unstable equilibrium that anything apparently may happen, the best as easily the worst.« (Ebd.: 232) Im Kern von Parks Überlegungen stand, dass sich die Gesellschaft genau wie die äußere Natur zwar nicht steuern lässt, aber dennoch wie die Natur erforscht werden kann. Damit folgt er Small und Vincent, die konstatiert hatten, dass die Soziologie – genau wie die Biologie – die Natur der Gesellschaft untersuchen kann. Wenn jedoch lediglich Methoden wie in den Naturwissenschaften verwendet würden, könnte die spezifisch soziale Seite nicht analysiert werden. Diese müsse in einem zweiten Schritt auf der moralischen oder kulturellen Ebene untersucht werden. 72

Hierin spiegelt sich der in Kapitel IV/3 erwähnte Zwei-SchrittAnsatz von Hayes wider. Parks Methode unterschied sich jedoch von der von Hayes: Zu Beginn einer soziologischen Erhebung wollte sich Park auf die ökologische Ordnung konzentrieren. Erst nachdem diese abgeschlossen ist, solle man die genuin soziale Seite untersuchen – das, was er die kulturelle Ordnung nennt. Diese Ordnung nennt er jedoch den »limiting factor« (Park 1936a: 15) für die ökologische Ebene. Zudem ist die Wechselwirkung der vier Variablen zueinander nicht eindeutig in ihrem Verhältnis zu den zwei Ordnungen geklärt. Sie werden eher lose als die Faktoren »that maintain at once the biotic balance and the social equilibrium, when and where they exist« (ebd.), beschrieben. Obwohl Park und Burgess in der »Introduction« (1921) zahlreiche Arbeiten von Biologen zitierten, verwendeten sie diese Autoren nicht, um ihre Diskussion über die Humanökologie zu vertiefen. In diesem über 1000 Seiten umfassenden Werk wird zum Beispiel Goode an keiner Stelle erwähnt. Hayes taucht nur einmal im Zusammenhang zum Verständnis von »Interessen und Bedürfnissen« auf (ebd.: 499). Charles Adams wird kurz zusammen mit anderen Biologen dieser Zeit im Zusammenhang des Verständnisses von Konkurrenz in der Biologie erwähnt. Sein Buch »Guide to the Study of Animal Ecology« wird gemeinsam mit zahlreichen anderen Pflanzen- und Tierökologen lediglich am Ende des Kapitels über »society and the group« in der Bibliographie aufgeführt. Adams’ Ausführungen zur Humanökologie werden nicht erwähnt, ebenso wenig die humanökologischen Arbeiten von Hayes. Park und auch Burgess konnten durch diese – bewusste oder unbewusste – Vorgehensweise eine wissenschaftlich brachliegende Fläche in einem Prozess der »Neuerfindung des Rades« (Abbott 2001: 17) füllen und hatten so das Einzugsgebiet der Soziologie problemlos erweitert. Die brachliegende Fläche wurde von Autoren wie Hayes oder Goode bereits mehr als ein Dutzend Jahre zuvor hinterlassen.

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3. Soziologische Humanökologie oder Aufgabe disziplinärer Identität? Nachdem die Ökologie nach dem Ersten Weltkrieg ihren eigenen Weg gegangen war und der Mensch als Untersuchungsgebiet kurzzeitig ausgeklammert wurde, intensivierte sich die Konkurrenz zwischen Geographie und Soziologie. Die Versuche von Huntington und Barrows erinnern nochmals daran, dass die zwei Geographien – die physische und damit ›naturbezogene‹ sowie die soziale und kulturbezogene – in verschiedene Welten gehören, die sich nicht einfach in einem Hybrid, genannt Humanökologie, verbinden lassen. Dagegen hatte sich die Soziologie um 1900 von den Einflüssen des Umweltdeterminismus und vermeintlich auch des Organizismus befreit und damit eine sichere Basis errichtet, von der aus sie in andere Fachgebiete hineinwirken konnte, ohne ihre eigene Identität allzusehr zu gefährden. Es war, wie Robert Park glaubte, sogar möglich, dass die Soziologie ihre Leitideen in andere Fachbereiche übertragen konnte. Viele Inhalte der Humanökologie (einschließlich des Namens) waren von Geographen einer früheren Generation geborgt, die dann in den Bereich der Soziologie eingebunden wurden. Dies war möglich, weil die Geographie unentschieden blieb über das Wie und Ob der Einbeziehung des gesellschaftlichen Faktors auf der Erdoberfläche. Die Soziologie als Sozialwissenschaft konnte dann ihr Einzugsgebiet erweitern. Zumindest Park schien sich sehr darüber sicher zu sein, dass die Humanökologie ein soziologisches Vorhaben ist.24 Um das Einzugsgebiet der Humanökologie für die Soziologie zu erhalten, musste er jedoch auf Dauer verdeutlichen, dass er das Gebiet der Humanökologie nicht der allgemeinen Ökologie, der Biologie oder der Geographie überlassen will, da ein Ansatz, der soziale Beziehungen auf Stoffströme oder Beziehungen im Raum reduziert, den zentralen Aspekt des soziologischen Verstehens von menschlichen Beziehungen verspielen würde (Park 1936a: 12-15; 1936b: 175-179). Obwohl Park bemüht war, diesen Punkt deutlich herauszustellen, verdichtete sich die Kritik an seiner Version der Humanökologie nach fast 20 Jahren in den späten 1930ern dahingehend, dass er zu sehr in das Gebiet der Biologie abgerutscht sei. Die Soziologie müsse sich, so 74

zum Beispiel Alihan (1938), Gettys (1940) oder Quinn (1939), entscheiden, ob sie eine reine Sozialwissenschaft sein will oder lediglich ein Anhängsel der Biologie. Das Einzugsgebiet war offensichtlich zu groß geworden. Zu Beginn der 1930er Jahre wurden ökologische Ansätze innerhalb der Soziologie allgemein angegriffen; ganz ähnlich der Kritik an Hayes’ »social forces debate« von 1911. Als mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges das Fortbestehen der Soziologie in zunehmendem Maße mit der Idee verbunden wurde, dass soziale Variablen sowohl als Ursache als auch als Effekt zur Erklärung von gesellschaftlichem Wandel herangezogen werden müssen, war das Ergebnis absehbar: Vorschläge, die eine andere Richtung als diese einschlugen, wurden als außersoziologisch betrachtet. Aus diesem Konflikt zwischen einer Soziologie, die sich zuerst und einzig auf das Soziale konzentrierte, und einer Soziologie, die ebenso die ökologische oder die natürliche Basis der Gesellschaft ins Blickfeld zu rücken versuchte, folgte eine extreme Form der Soziologisierung seit den späten 1940er Jahren, welche eine Soziologie, die beide Seiten einzuschließen suchte, hinter sich ließ. In den Jahren seit 1950 wurden die disziplinären Einzugsgebiete der Soziologie, zumindest wenn es um Natur ging, deutlich verkleinert. Hauptaugenmerk wurde auf soziales Handeln gelegt und natürliche Einflüsse wurden aus dem soziologischen Erklärungsrepertoire entfernt. Jede Bemühung, nicht-soziale Dinge in die Waagschale zu werfen, wurde als Bedrohung für das Überleben des ›Unternehmens Soziologie‹ angesehen. Eine Konsequenz daraus war, dass George A. Theodorson 1958 in einer Untersuchung über das Interesse an Humanökologie innerhalb der Soziologie der 1950er Jahre feststellen konnte, dass Parks »human ecology essentially is a thing of the past« (Theodorson 1958: 351). Kurzum: Die Unterscheidung zwischen einem soziologischen Konzept der Humanökologie und einer geographischen Sichtweise erwies sich als unvereinbar und letztendlich entfernten sich die beiden Seiten immer weiter voneinander, nachdem sie Einzugsgebiete aus den Fachbereichen Ökologie, Geographie und Soziologie geteilt hatten. Jedes Mal, wenn der Bereich der Humanökologie als ein interdisziplinäres Vorhaben neu besetzt wurde, wur75

de die genaue Identifikation des Feldes schwieriger. Auf der einen Seite blieben die Humanökologen eine strategische Gruppe, welche sich stets auf ihre entsprechende Heimatdisziplin berief, auf der anderen Seite reagierten sie durch Anknüpfung an andere Disziplinen gegen eine zu enge Einbindung in disziplinäre Kontexte. Die andauernde Spannung zwischen Strategien zum Erhalt der Disziplin und der Erweiterung disziplinärer Einzugsgebiete führte im Falle der Humanökologie zum Scheitern eines an die Geographie anknüpfenden Unternehmens. Allgemein entwickelten sich seit den 1950er Jahren dann viele verschiedenen Ansätze der Humanökologie sowohl in den Naturals auch den Sozialwissenschaften. Die beiden Stränge der sozialund der naturwissenschaftlichen Humanökologie, die in der frühen Geographie und der Soziologie noch in Verbindung betrachtet werden sollten, gingen von nun an getrennte Wege. Humanökologische Ansätze in der Ökonomie, der Epidemiologie, der Psychologie oder der Siedlungssoziologie haben heute bis auf den Namen häufig nichts mehr miteinander gemeinsam (siehe allein Atteslander/Hamm 1974; Bennett 1993; Berry 1976; Bruhn 1974; Hardin 1985; Hawley 1950; Marten 2002). Möglicherweise hat dies auch damit zu tun, dass in den USA seit dieser Zeit von Wissenschaftlern, die sich selbst als Soziologen bezeichneten, kaum noch Arbeiten in der Humanökologie unternommen wurden. Otis Duncan (1959, 1961) war einer der wenigen, der in den 1950er und frühen 60er Jahren noch zu einer kleinen Gruppe von Soziologen gehörte, die sich in der »American Sociological Association« mit humanökologischen Themen befasste. Duncan tat dies jedoch in expliziter Abgrenzung zur Chicago School, ganz zu schweigen von der vor dem Ersten Weltkrieg erschienen geographischen und soziologischen Literatur. Duncan, der in den 1950er Jahren sogar in Chicago lehrte, warnte seine Kollegen vor den »limited gleanings« (Duncan 1961: 142) von Parks Humanökologie. Sein Rahmenwerk, das in den 1970er Jahren auch von den Umweltsoziologen Dunlap und Catton aufgegriffen wurde (siehe Kap. VII), nannte er das »POET-Modell«, ein Akronym, das die Wechselwirkung zwischen Population, Organisation, Umwelt und Technologie illustrieren sollte. Sein oft herangezogenes Beispiel zur Illustration dieses Modells ist die Zunahme von Smog in 76

Los Angeles. Das Automobil (Technologie) nimmt indirekt durch Abgase und den Bau neuer Verkehrswege Einfluss auf die natürliche Umwelt. Da neben dem Individualverkehr auch die Bevölkerung Kaliforniens immer weiter zunimmt, bedeutet dies auch mehr Autos. Das führt dann zu Veränderungen in der gesellschaftlichen Organisation, wie zum Beispiel durch neue Besteuerung des Benzins oder neue Umweltgesetze. Dies führt wiederum zu Veränderungen der Technologie (z.B. energieeffizientere Autos). Dieses ›Modell‹, das keine Aussagen über die soziologisch-konzeptuelle Verknüpfung der Zusammenhänge macht, war natürlich, wie in den Kapiteln IV/3 und V/2 dargestellt, eine Kopie der Beschreibungen von Hayes oder Park. Im Jahre 1961 beobachtet Leo Schnore dann, dass das Interesse an humanökologischen Fragen innerhalb der Soziologie stark nachgelassen habe und bei einer Umfrage nur noch 100 von den damals insgesamt 4200 Mitgliedern der »American Sociological Association« (ASA) »Humanökologie« als eine ihrer Hauptinteressen nennen (Schnore 1961: 131). Die Soziologie selbst hatte also das Feld der Humanökologie verlassen. Das freiwerdende Vakuum konnte von anderen Disziplinen gefüllt werden – wenngleich dies in vielen Fällen nur am Namen erkennbar war. Trotzdem lassen sich gerade in den letzten Jahren wieder Bemühungen einer Neuentdeckung erkennen, die zum einen das Verhältnis zwischen Soziologie und Geographie allgemein beleuchten, aber auch auf potentielle Kooperationen zwischen Soziologie und besonders der Sozialgeographie hinweisen (Heinritz/Helbrecht 1998; Kramer 2003; Werlen 1995). Für Werlen (1995), wie für viele andere Sozialgeographen auch, stellt die Sozialgeographie die Schnittstelle zwischen Geographie und Soziologie dar. Sozialgeographie kann damit als eine weiterentwickelte Version der frühen Humanökologie verstanden werden. Man könnte sogar sagen, dass die Geographie sich ihr altes Einzugsgebiet aus den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts über einen Umweg wieder zu Eigen gemacht hat – ohne dass die Soziologie viel davon bemerkt hat.25 Um zusammenzufassen: Mit der Erweiterung des Einzugsgebietes der Chicagoer Schule in Richtung Geographie und Ökologie entstand die soziologische Humanökologie. Diese wurde we77

gen ihrer Naturnähe stark kritisiert und daher offiziell fallen gelassen. Die Humanökologie mit ihren überlappenden Einzugsgebieten mit der Geographie stellte für die Soziologie nicht nur das Fundament für einen soziologischen Fokus auf die Erfassung von ökologischen Variablen dar. Sie war auch der erste Schritt hin zu einer Methode direkter Beobachtung der sozialen Welt, denn bis dahin war es für Soziologen üblich, sich mit Akten oder bestenfalls mit Daten und Informationen aus zweiter Hand zu begnügen. Die klassische Humanökologie Chicagoer Prägung ist auch die Grundlage für die nach dem Zweiten Weltkrieg entstehende Siedlungs- und Regionalsoziologie (vgl. Atteslander/Hamm 1974; Hamm/Neumann 1996), die soziologische Stadt- und Raumforschung (vgl. Friedrichs 1977; Theodorson 1982) und die Umweltsoziologie seit den 1970er Jahren. Insbesondere die Umweltsoziologie als Reaktion auf die aufkommende Umweltbewegung und ein steigendes Umweltbewusstsein seit den 1960er Jahren führten dazu, dass das Thema Natur auch in anderen Teilen der Soziologie interessant wurde. Die sozialwissenschaftliche Thematisierung von Natur erfolgte – zumindest in Europa – zuerst im Rahmen der Wissenschaftsund Technikforschung, wo bereits seit den ersten Versuchen einer Wissens- und Wissenschaftssoziologie in den 1920er Jahren die Frage nach der Bedeutung der Natur in wissenschaftlichen Aushandlungsprozessen gelegentlich eine Rolle spielte. Dieser Einstieg und seine Entwicklung in der Wissenschaftssoziologie wird Thema des folgenden Kapitels sein.

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VI. Die Soziologie und die Natur der Naturwissenschaft Karl Mannheim (1893-1947), der als einer der Begründer der Wissenssoziologie gilt, hat sich zwar in seinen Schriften zur materiellen Natur geäußert, er betrachtete aber die äußere Natur, ähnlich wie bereits Durkheim, als statisch und zeitlos – und damit als nicht direkt relevant für soziologische Erklärungen (vgl. Mulkay 1979: 10-12). Mannheim ging es in erster Linie um den Zusammenhang zwischen Wissensformen und Sozialstruktur, beispielsweise wie die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen bestimmte Glaubensformen bedingt. Mannheim behandelte die Wissenschaft als soziale Gruppe jedoch gesondert. Die Gewinnung naturwissenschaftlichen Wissens über die Natur wurde zwar von der sozialen Seite aus erklärt, jedoch nur dann, wenn es sich um wissenschaftliche Fehlentwicklungen durch ökonomisch, religiös oder kulturell bedingte Einflüsse handelte (Mannheim 1969: 146-148). Mannheim zufolge ist die naturwissenschaftliche Methodik und damit der wissenschaftliche Zugang zur Natur von anderen sozialen Aktivitäten streng zu trennen. An dieser Sichtweise wurde lange Zeit nicht gerüttelt. Dennoch war es maßgeblich die Wissenschafts- und Techniksoziologie, die sich relativ früh um Alternativen bemühte. Bis die äußere Natur jedoch eine eigene ›objektive‹ Stimme bekommen sollte, dauerte es eine gewisse Zeit. Es musste erst das Problem der bis in die 1960er Jahre gültigen kategorialen Unterscheidung zwischen falschem und wahrem Wissen angegangen werden, um sich dann um die Symmetrisierung zwischen der äußeren Natur und der sozialen Welt zu kümmern und damit das Einzugsgebiet der Soziologie wieder einmal zu erweitern. Dies wird Thema von Kapitel VI/1 sein. In Kapitel VI/2 werden dann einige empirische Beispiele der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), die am prominentesten eine Erweiterung des soziologischen Einzugsgebietes durch eine Hybridisierung zwischen Natur und Gesellschaft fordert, eingeführt, um daran anknüpfend in Kapitel VI/3 Weiterentwicklungen aus dieser Tradition zu diskutieren. Diese knüpfen zum Teil aber auch wieder an die in Kapitel III diskutierten organizistischen Theorien an. Kapitel VI/4 beleuchtet dann erste Anzeichen 79

des Endes um den ›Hype um Hybridität‹, d.h. einen Rückzug aus diesem gerade entdeckten Einzugsgebiet.

1. Die zwei Symmetrieprinzipien der Wissenschaftssoziologie Wenngleich sich Karl Mannheim noch gelegentlich um eine Integration der ›objektiven Natur‹ in soziologische Ansätze bemühte, so war bei Robert K. Merton (1910-2003), dem Begründer der modernen Wissenschaftssoziologie, die Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft – und damit der Zugang zur äußeren Natur – eindeutig. Merton grenzte die Wissenschaft von anderen Bereichen der Gesellschaft durch ihre besonderen sozialen Normen ab (Merton 1985). Es war das Selbstanwendungsproblem, das Merton und andere dazu bewegte, der Wissenschaft einen Sonderstatus zuzuschreiben. Wenn nämlich die soziologische Erklärung von wissenschaftlicher Wahrheit durch soziale Faktoren vorgenommen werden kann, kann diese Erklärung auch auf die Soziologie selbst angewendet werden. Doch dadurch würden soziologische Aussagen haltlos werden. Man ging daher davon aus, dass es einige feste und universalgültige Grundlagen des Wissens geben musste, die sich durch die wissenschaftliche Methode ergeben. In den 1970er Jahren begann dann die Soziologie, Wissenschaft selbst als eine Klasse von Erkenntnissen zu betrachten, die genau wie andere kulturelle Bereiche (z.B. Religion, Wirtschaft, Familie) zu untersuchen sind, wie z.B. beim so genannten »strong programme« der Edinburgh School. In Abgrenzung von Merton, der für das »weak programme« stand, forderte das »strong programme«, dass für die soziologische Analyse von falschen und wahren Aussagen die gleichen Kategorien zu verwenden seien (Bloor 1976). Dieses »Symmetrieprinzip« richtete sich nicht zuletzt gegen die klassische Wissenschaftsgeschichte sowie die normativ orientierte Wissensschaftssoziologie in der Tradition von Mannheim bis Merton. Wie bereits bei Mannheim wurden auch bei Merton nur die Fehlschläge und Irrtümer in der Wissenschaftsentwicklung auf soziale Einflüsse – wie ökonomische Interessen oder kulturelle Eigenschaften – zurückgeführt. Gefestigte 80

Wahrheiten, also zum Beispiel die Naturgesetze, wurden durch den rationalen Überzeugungsgehalt der Wahrheit selbst erklärt (vgl. Krohn 2000). Der Vorteil des »Symmetrieprinzips« der Edinburgh School hingegen war, dass erst einmal alle Überzeugungen gleich behandelt werden konnten. Ob wahre oder falsche, rationale oder irrationale Aussagen – für den beobachtenden Soziologen der Edinburgh School war dies nicht von Belang, da alle wissenschaftlichen Ergebnisse durch soziale Ursachen erklärt werden konnten. Relevant war stattdessen der besondere Blick auf die sozialen Bedingungen, die wissenschaftliches Wissen hervorbringen. Dieses Symmetrieprinzip ging also davon aus, dass naturwissenschaftliche Erkenntnis nicht zu einem sozial unabhängigen objektiven Wissen führen könne. Soziale Ursachen können damit sowohl für wahre als auch für falsche Ergebnisse verantwortlich sein. Der wichtige Punkt war hier, dass wissenschaftliche Beobachtungen nicht einfach die Wahrheit über die Natur hervorbringen, sondern dass diese selbst auch sozial geprägt sind. Sie sind selektiv, werden interpretiert und ausgehandelt. Das Selbstanwendungsproblem blieb aber weiter ungelöst, auch wenn der Hinweis darauf, dass Wissen jeder Art – also auch soziologisches Wissen – sozial determiniert sei und dadurch keine Aussagen über Wahrheit und Falschheit des Wissens gemacht werden können, einen kurzzeitigen Ausweg andeutete. Dieser Ausweg verwischt tatsächlich jedoch jegliche Differenz zwischen dem Sozialen und der Natur auf den Laborbänken und macht dadurch viele Forschungsergebnisse uninteressant, weil wichtige Aspekte – wie eine Gewichtung verschiedener sozialer Einflüsse – kaum herauszuarbeiten sind, wenn jegliches Wissen gleich sozial konstituiert sein soll. Aus dieser Tradition heraus entstanden seit den späten 1970er Jahren eine Reihe von prominenten Studien, in welchen die naturwissenschaftliche Laborpraxis mit ethnographischen Methoden beobachtet wurde. Hierdurch wurde jedoch die ursprüngliche wissenschaftssoziologische Frage nach der Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft aus den Augen verloren. Zu diesen Forscher/ -innen, die die Innenseite der Wissenschaft untersuchten, gehörte – neben Karin Knorr Cetina (1984) und Michael Lynch (1985) – 81

auch der französische Wissenschaftssoziologe Bruno Latour, der zusammen mit Steve Woolgar die erste dieser ethnographischen Studien veröffentlicht hatte (Latour/Woolgar 1979). Ein Ergebnis jener Studien war dann, dass im Labor auch nichts besonders ›Wissenschaftliches‹ passiert, d.h.: Die wissenschaftliche Praxis ist nicht mehr oder weniger rational oder sozial als die Praktiken anderer gesellschaftlicher Bereiche wie Kunst, Wirtschaft oder Politik (insbes. Knorr Cetina 1984). Wissenschaftliche Ergebnisse kommen in dieser Lesart durch Aushandlungen, kulturelle Besonderheiten, Interessen oder Konflikte zustande. Die dann folgenden Diskussionen über die Ethnographie des naturwissenschaftlichen Labors kreisten u.a. darum, dass der alterierten Natur in und auf den Experimentiergeräten und den Arbeitsbänken der Wissenschaftler/-innen keinerlei Bedeutung für die gewonnenen Ergebnisse zugestanden wurde. Die Wissenschaftssoziologie nimmt daher einen bestimmten Blickwinkel auf ihr Untersuchungsobjekt ein, der sich aber in vielen – wenn nicht gar allen – anderen Strängen der Soziologie wiederfindet: Die Soziologie beschreibt Gesellschaft als im ständigen Wandel begriffen, betrachtet aber die Natur als stabile Einheit, auf der sich Gesellschaft abspielt und die sich nur durch Gesellschaft ändert. Das war auch der Angriffspunkt Latours, der in den folgenden Jahren am traditionellen Paradigma der Edibourgh School zu rütteln begann. Die Erklärung, dass jegliches wissenschaftliche Ergebnis Verhandlungssache sei, wollte ihm nicht genügen. Seine Meinung war, dass die Wirklichkeit der Natur mitverhandle. Latour kündigte damit dem auf soziale Erklärungen beschränkten Paradigma der Soziologie und begann eine »symmetrische Anthropologie« zu entwerfen. Der Ansatz ist heute allgemein als Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) bekannt. Das Symmetrieprinzip der Edinburgh School wurde hier erweitert. Nicht nur wahre und falsche Aussagen sollten mit der gleichen Begrifflichkeit erfasst werden, sondern auch eine weitere Gruppe von Mitspielern im Aushandlungsprozess über wissenschaftliche Ergebnisse: Pflanzen und Tiere, Maschinen, die materiellen Widerstände, die Eigendynamiken der wissenschaftlichen Instrumente und der alterierten Natur, kurz: alles, was in der Wissenschaftssoziologie bis dahin als ›unsoziologisch‹ galt.26 82

Für Latour ist die Trennung von Mensch und Nicht-Mensch, von Natur und Gesellschaft für eine adäquate Analyse von Vorgängen in der Wissenschaft – aber auch in der weiteren Gesellschaft – nicht brauchbar. Diese Vorgänge wollte er vielmehr als Konstruktion von »Hybriden«, also Mischformen, bestehend aus menschlichen und nicht-menschlichen Elementen, verstanden wissen. Seit den späten 1980er Jahren propagierte Latour daher eine radikale Symmetrisierung, bei der die a-priori-Unterscheidung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten fallen gelassen werden sollte. Es sind die anderen Formen der ›Kommunikation‹ und Interaktion mit der nicht-menschlichen Umwelt, die als Teil der sozialen Realität verstanden werden sollen. Um alle Seiten begrifflich zu erfassen, führte Latour den aus der Semiotik entlehnten Begriff des Aktanten ein. Nicht nur die Menschen, sondern auch die Dinge der Natur und der Technik werden dann als Aktanten im sozialen Gewebe gefasst. Sie verbinden sich zeitweilig mit menschlichen Aktanten, sie dienen dazu, Macht auszuüben, moralische Bedenken anzumelden oder Interessen durchzusetzen. Demzufolge sind Natur und Gesellschaft die Produkte, nicht die Ursachen von sozialen Kontroversen um Natur, Wissenschaft und Technik. Latour nannte seine neue Sichtweise »nicht-modern« und kontrastierte sie mit der »Konstitution der Moderne«, die es zwar ermöglichte, durch praktische Kombinationen zwischen Menschen und Nicht-Menschen immer raffiniertere Technologien zu entwickeln, dies aber nur unter der Bedingung, dass Menschen als reine Subjekte und Nicht-Menschen als reine Objekte konzipiert wurden. Damit wurden sowohl die soziologischen Repräsentationen der Natur als reines soziales Konstrukt als auch als objektiv gegeben kritisiert. Für Latour bestand die Unterscheidung zwischen Natur und Gesellschaft niemals ›wirklich‹, sondern stellt lediglich ein machtvolles Werkzeug für die Konstitution der modernen Gesellschaft dar. Die Natur-Gesellschafts-Unterscheidung nennt Latour ›die große Fiktion der Moderne‹. Sobald man glaubt, die Unterscheidung entdeckt zu haben, vermehren sich hybride Kollektive zwischen Natur und Gesellschaft. In seinem Buch »Wir sind nie modern gewesen« (1995) geht Latour davon aus, dass weder Natur noch Gesellschaft als Realität sui generis 83

existieren, sondern lediglich als Hybrid. Zumindest in der Version der ANT in den 1980er und frühen 1990er Jahren wurde angestrebt, jede analytische Unterscheidung zwischen Natur und Gesellschaft fallen zu lassen und nur noch von Netzwerken bestehend aus (natürlichen und sozialen) Aktanten auszugehen (vgl. Callon 1986; Latour 1995).

2. Die Wirklichkeit der Natur in Aktion Emprische Studien aus der Perspektive der Akteur-NetzwerkTheorie sind erhellend, wenn es um die Rolle der Natur in der wissenschaftlichen Praxis geht. Seine Alternative zu der alten Entweder-oder-Debatte zwischen Konstruktivismus versus Realismus tauft Latour den »realistischen Realismus«. Er lokalisiert das Problem in der falschen Annahme einer absoluten ontologischen Unterscheidung zwischen dem kognitiven Subjekt und der äußeren Welt als Objekt. Um die Seiten zu überbrücken, so Latour, argumentieren die Realisten heute, dass die Wissenschaft den Schlüssel der Erkenntnis liefere, während die Relativisten konstatieren, dass die Wissenschaft auch nur eine weitere kulturelle Praxis und ein weiteres Sprachspiel sei. Latour hält dagegen, dass diese Unterscheidung in Wirklichkeit nur ein Konstrukt der Moderne ist, wenn auch ein besonders wirkungsvolles. Um dieses Konstrukt endlich zu überwinden, führt Latour seine Leser in die Welt der »Handlungsketten«, bestehend aus Menschen und Nicht-Menschen, ein. Dazu gehört eine Expedition in den amazonischen Regenwald. Dort erforschen Wissenschaftler die sich verschiebende Grenze zwischen Savanne und Wald. So sieht Latours Begründung für die Notwendigkeit zum Verständnis einer Handlungskette, zusammengesetzt aus Menschen und Nicht-Menschen, aus: Nähme man den Forschern im amazonischen Regenwald den Wald weg, was würde ihnen bleiben? Nichts. Der Wald selbst müsse also als Teil des Forschungsprozesses in soziologische Analysen eingebracht werden. Es ist jedoch nicht so leicht, denn eine Bodenoder Pflanzenprobe ist nicht einfach ein Teil des Waldes oder ein Stück Natur. Eine Probe wird verschiedenen Übersetzungen un84

terzogen, indem ein Wissenschaftler z.B. ein Stück Erde mithilfe einer Farbtafel identifiziert, die Farbe in eine Zahl übersetzt und diese dann in eine mathematische Gleichung einfügt. Dazu gehören an zentraler Stelle Exkremente von Regenwürmern (Latour 2000: 81), da diese Tiere für einen Streifen tonhaltigen Bodens verantwortlich gemacht werden, der einen Hinweis darauf zu geben verspricht, ob der Wald nun vordringt oder zurückweicht. Die Wissenschaftler und ihre Helfer setzen die gesammelten Pflanzen und die Exkremente der Würmer im Labor oder bereits beim Feierabendtreffen im Café neu zusammen, vereinigen sie neu und verteilen sie wieder nach neuen Erkenntnissen. Sie transformieren sie in Dinge, die in die Sprache der Wissenschaften übersetzt werden. »Damit die Welt erkennbar wird, muss sie zu einem Laboratorium werden, und um einen jungfräulichen Urwald in ein Laboratorium zu verwandeln, muss er die Form eines Diagramms annehmen.« (Ebd.: 57) Diesen Prozess dokumentiert Latour für seine Leser peinlich genau. In jedem Schritt wird die Materie in eine Form übersetzt, nur um im nächsten Schritt als neue Materie wieder in eine andere Form transformiert zu werden (ebd.: 84ff.). Diese Repräsentation des Waldes ist das Ergebnis einer langen Kette von Übersetzungen. Der Gewinn dieser Transformationen ist »ein Mehr an Kompatibilität, Standardisierung, Text, Berechnung, Zirkulation und relativer Universalität« (ebd.: 87). Für Latour ist es wichtig zu betonen, dass die Erscheinungen dieses Gewinns sich nicht an einem fixen Schnittpunkt zwischen dem Wald und der wissenschaftlichen Darstellung finden, sondern dass sie entlang einer reversiblen Transformationskette zirkulieren (ebd.: 88). Mithilfe von Maschinen und mit der bildlichen Unterstützung von (elektronischen) Anzeigen erhofft der Wissenschaftler sich dann, die abgebildeten Ergebnisse in eine Theorie über die Zukunft des Waldes zu übersetzen: Dringt der Wald vor oder eher die Savanne? Wie auch immer das Ergebnis ausfällt, es wird weiter zirkulieren: Über Fax, Diskette, E-Mail, und irgendwann vielleicht sogar in wissenschaftlichen Lehrbüchern. Die naturwissenschaftlichen Tatsachen sind für Latour wirklich, aber ohne die Forschung und ihre Übersetzungsarbeiten würde es sie nicht geben. Dies zu verdeutlichen ist Latours Anliegen, wenn er 85

von der »Wirklichkeit der Wissenschaft« spricht. Mit Beispielen wie seiner Reise in das Amazonasgebiet versucht Latour zu zeigen, dass die traditionelle Kluft zwischen Natur oder Technologie (Objekte) und den menschlichen Akteuren (Subjekte) in erster Linie keine ontologische, sondern eine politische ist. Wo die Vorstellung von der Symmetrisierung von Natur, Gesellschaft und auch der Technik weiter hinführen kann, macht anschaulich Mike Michael (2000) deutlich. Im Rückgriff insbesondere auf die Arbeiten von Latour, aber auch anderer ANT-Autoren, versucht Michael ein theoretisches Rahmenwerk zu entwerfen, in dem die Verwobenheit von Kultur, Technik und Natur eine zentrale Rolle spielen: Von »Gesellschaft zu Heterogenität« nennt er das und illustriert sein Vorhaben mit verschiedenen Fallbeispielen. Das vielleicht anschaulichste Beispiel ist Michaels Selbstexperiment der Durchwanderung der Samaria-Schlucht auf Kreta (ebd.: 45-70). Diese längste und tiefste Schlucht Europas war wiederholt von Michael besucht worden, um die ›Natur‹ dort zu genießen. Beim ersten Versuch wurde Michael vor Ort mitgeteilt, dass ein starker Wind, der durch die Schlucht pfiff, die Gefahr von herabstürzenden Felsbrocken vergrößerte, weshalb er ohne Naturgenuss wieder abfahren musste. In den folgenden Jahren versuchte es Michael immer wieder. Manchmal waren zu viele andere Touristen da, um in Einsamkeit die Erhabenheit der Natur zu erleben. Einmal waren es jedoch die neuen, noch nicht genügend eingelaufenen Hightech-Wanderschuhe, die Michael nach wenigen Stunden mit Blasen an den Zehen den Naturgenuss verdarben. Diese Wanderschuhe sind dann Michaels Aufhänger dafür, die facettenreichen »Assoziationen« mit der materiellen Umwelt in allen möglichen Variationen aufzuzeigen. Er beschreibt die Rolle der Schuhe bei der Ordnung und auch der Behinderung seines Kontaktes mit der natürlichen Umwelt. Dies ist erhellend. Der Leser fühlt sich geradezu Seite an Seite mit Michael, wie er durch die Schlucht wandert, die materiellen Widerstände die Füße quälen, die Sonne ihn durstig macht und sein Mund austrocknet. Das erzählerische Talent wird mit der ANTSprache ganz sicher unterstützt. Michaels erklärtes Ziel ist es jedoch, nicht nur schöne Ge-

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schichten zu erzählen, sondern mit seinen neuen Begriffen, insbesondere dem des »co(a)gent«, neue Charaktere zu erfinden, die aus Menschen und Nicht-Menschen bestehen (ebd.: 42ff.). Dieser Begriff nimmt eine entscheidende Funktion in Michaels Analyse neuer Hybridzusammensetzungen ein. Michael erklärt: »I want to follow the hybrids: this means we are not dependent on humans’ accounts, and we do not, however provisionally, endow these humans with heroic agency. […] When we follow the hybrid, we assume its agency to be distributed, pluralized, contingent. So the components of a hybrid all contribute to its agency, as do other entities that are more or less associated with the hybrid. Thus, hybrids entail co-agents in a melee of co-agency.« (Michael 2000: 42, Herv. im Orig.) Um die Einheit der besonderen Teile eines Hybrides zu erfassen, soll auch der ausübende Zwang und Druck, die Macht, kurz: die »cogency« im neuen Mischbegriff »co(a)gency« ihren Niederschlag finden. Ein solcher co(a)gent ist zum Beispiel der »Hudogledog«, dem das vorletzte Kapitel des Buches gewidmet ist. Ein »Hudogledog« ist ein »Mensch-Hundeleine-Hund« (humandoglead-dog). Man kann sich nun leicht vorstellen, in welche Richtung Michaels »Hudogledog«-Stories und -Überlegungen gehen: zerstrittene siamesische Zwillinge, also zerrender Hund versus ziehendes Frauchen, die kulturell entscheidende Rolle von Haustieren beim Parkspaziergang, die Bedeutung der variablen Länge der Leine zur räumlichen Ausdehnung des »Hudogledog« etc. Der immer wieder getätigte Verweis darauf, dass ja Gesellschaft, Natur und Technik eigentlich und endlich als hybride Netzwerke, bestehend aus co(a)gents, verstanden werden sollten, leuchtet bei den vorgeführten Beispielen ein. Wenn darüber hinaus lediglich mit weiteren Hilfsmetaphern die Alltagsgeschichten der »Kollektive« neu erzählt werden, kann es neben dem Unterhaltungswert bald so erscheinen, dass dieser Ansatz einfach nicht über die Mittel verfügt, die richtigen Unterscheidungen sichtbar zu machen. Solche Geschichten zeigen aber, wie das Erweitern des soziologischen Einzugsgebietes auf nicht-menschlicher Akteure eine umfangreichere Beschreibung sozialen Lebens ermöglicht. Es wird vorgeführt, wie das Einzugsgebiet der Soziologie erheblich ausge-

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dehnt wird, indem in die Analyse nicht-menschliche Akteure als prägende Einflüsse einbezogen werden. Es deutet aber auch an, dass diese Strategie nicht von Dauer sein wird. Auch viele deutsche Autoren glauben, mit den Überlegungen Latours einen Ansatz gefunden zu haben, der die empirische Realität besser einfangen kann als die Gegenüberstellung von Natur und Kultur. Das Erweitern des Einzugsgebietes in Richtung ›mehr Natur‹ mit der Hilfe der ANT gehört mittlerweile zum Standard vieler soziologischer und ethnologischer Schriften (vgl. Krauß 2000; Kropp 2002). Es ist der Netzwerkbegriff, wie er von Latour entwickelt wurde, dem »so unterschiedliche Dinge wie Natur und Kultur, Wissenschaft und Erkenntnis, Politik und Ökonomie, menschliche und nicht-menschliche Akteure« an einem »fragilen Faden« (Krauß 2000: 58) aufgereiht werden können. Die Attraktivität der Aufdeckung einzelner Knotenpunkte, die einen Einblick in die Verknüpfung von Natur und Gesellschaft geben, sind verlockend und haben in den letzten Jahren eine Fülle von Forschungsprojekten unterstützt (vgl. Voss/Peuker 2006). Die entscheidende Frage, wie die Soziologie theoretisch darauf reagieren kann, dass Gesellschafts-Natur-Beziehungen als kommunikativ-interaktiv verstanden werden können, wird mit dieser Erweiterung des soziologischen Einzugsgebiets in eine Richtung getrieben, die die Soziologie bezüglich ihres Verständnisses von Handlung, von Kommunikation und vom Sozialen irritiert. Mit der ANT wird jedoch ein soziologischer Purismus zu überwinden versucht, der durch den Rückzug aus soziologischen Einzugsgebieten seit der Mitte des 20. Jahrhunderts erst notwendig wurde.

3. Cyborg-Städte und andere Monstrositäten In der aktuellen Literatur hat sich ein weiterer Strang zu den Diskussionen, die nicht nur die äußere belebte Natur, sondern auch Technologien in ihre Beschreibungen aufnehmen, hinzugesellt.27 Dazu gehört die Rede von Cyborgs. Die Wortschöpfung »Cyborg« wird den NASA-Wissenschaftlern Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline zugeschrieben, die den Begriff 1960 einführten, um eine Reihe von Experimenten zu beschreiben, in denen es darum ging, 88

den menschlichen Körper mit technischen Mitteln zu verbessern, damit er sich besser für die Raumfahrt eignete. Allgemein leitet sich der Name aus den englischen Worten »cybernetic« und »organism« ab. Das Wort »Organismus«, wie in Kapitel III/1 gesehen, stammt aus dem 18. Jahrhundert. Die Kybernetik hingegen ist eine Wissenschaft, die in den 1940er Jahren von dem Mathematiker Norbert Wiener eingeführt wurde. Die Kybernetik ist die Wissenschaft von der Struktur komplexer Systeme, insbesondere komplexer Kontroll- und Kommunikationssysteme unter Menschen und Tieren, die durch Rückkopplungen gesteuert sind. Ein Cyborg ist dementsprechend ein Mensch, der aus natürlichen und technischen Teilen besteht. Cyborgs sind also Mischwesen aus lebendigem Organismus und Maschine. In der neueren sozialwissenschaftlichen und feministischen Literatur findet sich hierzu gewöhnlich die Definition der kalifornischen Biologin und Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway. Bei Haraway sind Cyborgs »kybernetische Organismen, Hybride aus Maschine und Organismus, ebenso Geschöpfe der gesellschaftlichen Wirklichkeit wie der Fiktion« (Haraway 1995: 33). Der Cyborg in Haraways Schriften verbindet aber viel mehr als nur Menschen, Natur und Maschinen (vgl. Saupe 2002). Er nimmt einiges von seiner Stärke aus der Science-Fiction oder aus Kreaturen wie der »OncoMouse«. In ihren Beschreibungen führt Haraway dann einige Stränge aus der Technologie, soziale Verordnungen und modifizierte biologische Prozesse zusammen – nahezu alles von Genen über die globale Biodiversität bis hin zur Sportreportage ihres Vaters (vgl. Haraway 2003). Mit ihrer Variante des Cyborg hat Haraway eine schillernde Figur geschaffen, mit der sich erzählerisch Dualismen, wie z.B. traditionelle Geschlechterollen, überbrücken lassen. Im Kern lehrt uns die Cyborg-Diskussion, dass die Gesellschaft von morgen und die in ihr lebenden Menschen andere sein werden als heute. Die Faszination der Vorstellung von Cyborgs scheint eher daraus zu erwachsen, dass sie das Nichtwissen darüber, worin sich Menschen der Zukunft von uns heute unterscheiden, in metaphorischer Form bündelt. Der Fokus innerhalb der Cyborg-Diskussion auf die Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und dem menschlichen Körper 89

wird jedoch möglicherweise am besten in neueren Arbeiten zur Stadtentwicklung verdeutlicht. Sie knüpft damit auch erneut an der soziologischen Variante des Organizismus und damit an die immer in Bewegung befindliche Herausbildung und Eingrenzung des Kernbegriffs der Soziologie an: Gesellschaft. Wenn der Cyborg als kybernetische Schöpfung, also als Hybrid zwischen Maschine und natürlichem Organismus verstanden werden soll, dann kann die städtische Infrastruktur als eine Reihe miteinander verbundener Systeme zur Erhaltung des menschlichen Lebens in einer zum Leben ungeeigneten Umgebung durch die Regulierung von Sauerstoff und Luftfeuchtigkeit verstanden werden (vgl. Swyngedouw 1996). Die Strategie, die Stadt des 21. Jahrhunderts als »Cyborg City« zu konzeptualisieren, begegnet dem Problem, eine klar abgrenzbare Einheit als Stadt festzulegen. Hinzu kommen neue Metaphern des Urbanen, die sich zum einen auf explizit organizistische Konzepte des 19. Jahrhunderts berufen, zum anderen aber mit neo-organizistischen Ansätzen neue Aspekte einbringen (vgl. Gandy 2005). Wie wir in Kapitel III/1 gesehen haben, ging es in der klassischen, organizistischen Konzeption der Stadt um eine funktionale Analogie, die aus der Biologie abgeleitet wurde. Hier korrespondierte die räumliche Differenzierung mit einer bestimmten Anordnung menschlicher Organe. In neueren organizistischen Ansätzen, die sich auf Großstädte konzentrieren, wird diese jedoch weniger als ein Körper mit klar zuschreibbaren Organen analysiert, sondern die Körpermetapher wird zunehmend von der Vorstellung vom urbanen Raum als einer Prothese ersetzt. Matthew Gandy führt hierzu aus: »The cyborg metaphor not only reworks the metabolic preoccupations of the nineteenth century industrial city but also extends to a contemporary body of ideas that we can term ›neo-organicist‹ on account of the deployment of biophysical metaphors for the interpretation of social and spatial complexity.« (Gandy 2005: 29) Mit der Rede von der Stadt als Cyborg und der Heranziehung von Analogien aus der Medizin – und hier insbesondere aus der Neurologie – ist erneut eine organizistische Variante der frühen Soziologie belebt worden. Die moderne Großstadt wird hier – wie 90

im französischen Organizismus – als eine besondere Form eines auf Homeostase ausgerichteten Körpers verstanden. Diese Variante der Hybridisierung zwischen dem Sozialen und dem Natürlichen ist sicherlich ein Extrem, das sich nur schwer weitertreiben lässt. Wenn bereits ganze Städte als hybride Formen, in denen Technik, Gesellschaft und Natur verschwimmen, konzipiert werden, dann warten alte Unterscheidungen (womöglich im neuen Gewand) eigentlich nur darauf, wieder neu entdeckt zu werden – zumindest legt uns das die Geschichte der Soziologie nahe.

4. Das Ende der Hybridisierung? Die Diskussionen um die Symmetrieprobleme der Akteur-Netzwerk-Theorie und verwandter Ansätze sind an ihrem prominentesten Vertreter Bruno Latour nicht unbeachtet vorbeigezogen. In neueren Arbeiten (Latour 2001, 2005) verabschiedet er sich deutlich von seiner radikalen Symmetrisierung zwischen Natur und Gesellschaft. Er bezeichnet seinen einstigen Versuch zur Symmetrisierung von Natur und Kultur sogar als »naiv, denn Artefakte bleiben Artefakte, auch wenn sie symmetrisiert werden« (2001: 352). An anderer Stelle spricht er in diesem Zusammenhang auch von dem »Irrtum in meinem Buch über die Modernen« (ebd.: 355).28 Mehr noch, in Zeiten von Genfood oder dem globalen Klimawandel scheint der Begriff »Natur« zwar auf den ersten Blick zu erodieren, aber immer werden neue und manchmal auch alte Grenzziehungen nachgeliefert (Wehling et al. 2005). Eine radikalsymmetrische Herangehensweise berücksichtigt eben nicht die Unterschiede zwischen menschlichem und nicht-menschlichem ›Handeln‹, und ist daher nicht dauerhaft durchzuhalten. Latour hingegen, der Haraways Variante der Cyborg-Metapher nicht abgeneigt ist, will mit seiner Weiterentwicklung der Akteur-Netzwerk-Theorie nicht auf eine Vernetzung im Sinne einer immer mehr verwobenen und organismusgleichen Welt hinaus. Es geht ihm um eine Serie von Transformationen und Übersetzungen, wobei jede Veränderung in irgendeiner Verbindung zwischen verschiedenen Akteuren eine Veränderung anderer Akteure bewirken kann. Die Akteur-Netzwerk-Theorie ist damit eher 91

eine Methodologie – wie es Latour auch jüngst in Buchform vorschlug (Latour 2005) – des Reisens von einem zum nächsten menschlichen und nicht-menschlichen Knoten, um verschiedene Perspektiven darzustellen. Die Handlungspraxis in vielen ökologischen Feldern, in Freisetzungsexperimenten in der Gentechnik, in der Abfallwirschaft oder in großen Landschaftsgestaltungen lässt sich so interpretieren, dass in ihr naturale und kommunikative Zurechnungen des Handelns wechseln können. Kommunikativ ist zum Beispiel die Einstellung einer Ökologin im Feld, wenn sie abwartet und beobachtet, was sie in der Natur bewirkt oder wie die Natur antwortet. So gesehen befindet sie sich in einer ganz eigenen Situation doppelter Kontingenz,29 da sie weder weiß, wie die Natur auf ihre Interventionen reagiert, noch ihre Interpretation dieser Reaktionen feststeht. Es dürfte eine der spannendsten Aufgaben für die empirische Soziologie der nächsten Jahre werden, hier anzusetzen und die Begrifflichkeiten von Cyborgs, Aktanten, Co-Agenten und ähnlichen Wortschöpfungen auszunutzen und zur Analyse der Prozeduralisierung von Wechselwirkungsprozessen zwischen Sozialem und Naturalem sichtbar zu machen. Ein Versuch hierzu wurde in Abgrenzung zu den ANT-Autoren von Harry Collins und Martin Kusch (1998) vorgenommen. Ihre Kernunterscheidung ist die zwischen zwei Handlungsformen, dem polymorphen und dem mimeomorphen Handeln. Polymorphe Handlungen sind nicht einfach nachahmbar, da sie sinnhafte Orientierungen verlangen. Maschinen hingegen können mimeomorphe ›Handlungen‹ nachahmen, wie z.B. in die Pedale eines Fahrrades treten. Mimeomorphe ›Handlungen‹ sind damit die Verbindung zwischen dem, was Menschen und NichtMenschen tun können. Dies deutet aber auch an, dass sich hier ein erster Schritt der »Dehybridisierung« abzuzeichnen beginnt, denn die bis vor kurzem propagierten Verwischungen der Grenzen zwischen Natur und Gesellschaft werden wieder zurückgenommen und durch analytisch genauere Begrifflichkeiten ersetzt. Im folgenden Kapitel geht es nun um ein in ihren Grundzügen ähnliches Anliegen wie das der ANT, nämlich: die äußere Natur endlich wieder in das Einzugsgebiet der Soziologie hineinzulassen. Mit dem Aufstieg der neuen Umweltbewegung seit den 92

1960er Jahren wurde der Begriff »Natur« in vielen Bereichen der Soziologie zunehmend synonym gebraucht mit »Ökosystem« oder im Zusammenhang mit der ökologischen Degradierung von Fauna und Flora. Daran knüpft ein neuer Versuch an, das Einzugsgebiet Natur wieder salonfähig zu machen. Es geht hier um das zuerst von den Umweltsoziologen William R. Catton und Riley E. Dunlap seit den späten 1970ern propagierte, neue ökologische Paradigma der Soziologie, in dem eine integrierte Sichtweise von Natur und Gesellschaft angestrebt wird.

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VII. Soziologie und ökologische Krise Nach dem Zweiten Weltkrieg war es insbesondere die durch Talcott Parsons initiierte Rezeption von Max Weber und Emile Durkheim, die dazu führte, dass sich die Soziologie in einem von Modernisierung und Fortschritt geprägten Klima zunehmend auf das beschränkte, was Hans Linde die Einseitigkeit der »social systems«-Ansätze nannte (Linde 1972). Mit der materiellen Seite des Sozialen befassten sich Soziologen dann nur noch gelegentlich.30 Erst in den 1970er Jahren begann sich dann in Nordamerika – und etwas später auch in Europa – die Subdisziplin Umweltsoziologie (environmental sociology) herauszubilden, um die wechselseitige Beeinflussung zwischen Gesellschaften und ihrer natürlichen Umwelt zu erforschen (vgl. Brand/Reusswig 2001; Dunlap et al. 2002; Huber 2003; Lange 2002). Im Sinne einer auf ökologische Probleme gerichteten Soziologie geht die Verwendung des Begriffs »environmental sociology« auf Samuel Klausner zurück (vgl. Klausner 1971). Trotz der im Nachhinein gerne unter dem »Umweltsoziologie«-Label geführten Bücher »Risikogesellschaft« von Ulrich Beck und Niklas Luhmanns »Ökologische Kommunikation« (Buttel 2002b: 46) gelang es im deutschsprachigen Raum jedoch erst im Laufe der 1990er Jahre, mit soziologischen Arbeiten, die sich explizit mit den theoretischen Herausforderungen der Naturthematik befassen, eine breitere soziologische Diskussion einzuleiten (vgl. Brand 1998; Diekmann/Jaeger 1996). Trotz aller Unterschiede zwischen europäischer und nordamerikanischer Umweltsoziologie hinsichtlich ihrer theoretischen und empirischen Ausrichtungen kann Arthur Mol (2006) mittlerweile jedoch erste Anzeichen einer theoretischen und empirischen Annäherung beider Traditionen erkennen. Angeregt durch den Diskurs über die ökologische Krise wurde seit den 1980er Jahren dann auch in der Umweltsoziologie – weitgehend ohne Kenntnisnahme wissenschaftssoziologischer Debatten – die Diskussion um die soziale Konstruiertheit der äußeren Natur geführt. Dieser Weg der Umweltsoziologie, die zwischen einer auf die sozialen Bedingungen von Umweltdiskursen und einer auf die Erforschung der Wechselwirkung zwischen der materiellen Wirklichkeit der Natur und der Gesellschaft gerichte94

ten Perspektive schwankt, wird Thema von Kapitel VII/1 sein. Die Kapitel VII/2 und VII/3 nehmen dann etwas genauer unter die Lupe, in welcher Form Natur tatsächlich ins Einzugsgebiet der selbsterklärten realistischen Umweltsoziologie integriert wird und inwieweit die sozialkonstruktivistische Perspektive wirklich ohne ›realistischen‹ Naturbezug auskommt. Entlang der Spannungslinie ›Konstruktivismus und Realismus‹ gruppieren sich heute eine Reihe von Forschungssträngen und konzeptuellen Ansätzen, die im letzten Jahrzehnt auch den Mainstream der Soziologie tangiert haben. Von diesen werden in Kapitel VII/4 einige benannt, wobei der in Kapitel VI eingeführte Akteur-Netzwerk-Ansatz wieder aufgegriffen wird.

1. Umweltsoziologie oder Soziologie der Natur? Ein einseitiger Umweltdeterminismus ist zwar heute in der Soziologie nicht mehr anzutreffen, dafür findet man insbesondere in der Umweltsoziologie oft den Vorwurf vor, dass sich soziologische Studien zu Umweltthemen mit einem einseitigen Sozialdeterminismus zufrieden gäben. Eine solche Sichtweise, die häufig mit dem Begriff »Sozialkonstruktivismus« belegt ist, geht davon aus, dass die Natur nie direkt zu Menschen sprechen kann, denn alle Bedeutungen und Auslegungen sind innerhalb einer Gesellschaft konstruiert. Ohne die lokale Interpretation ist Natur bedeutungslos. Gelegentlich wurde gegenüber dieser Sichtweise ein Realismus eingefordert, der die objektive Natur in soziologische Beschreibungen einfügen soll (z.B. Catton/Dunlap 1978; FischerKowalski/Weisz 1998; Murphy 2006). Die Schriften von Frederick H. Buttel, William R. Catton und Riley E. Dunlap gelten auch heute noch als Klassiker der neuen Subdisziplin »Umweltsoziologie« (z.B. Buttel/Flinn 1975; Buttel 1976; Catton/Dunlap 1978; Dunlap/Catton 1979). Anders als bei Buttel (vgl. Buttel 1978, 2002a) war das Hauptziel von Catton und Dunlap (1978) jedoch, den so genannten Anthropozentrismus der klassischen Soziologie zu überwinden. Dieser, so die Behauptung von Catton und Dunlap, hätte dazu geführt, dass der nicht-sozialen Umwelt der Gesellschaft keine Aufmerksamkeit geschenkt 95

worden sei und die Soziologie in Anbetracht der Diskussion über die ökologische Krise wenig Konzeptuelles zu bieten hätte. Dies ist erstaunlich, sieht man sich die reiche und lange Geschichte des Naturthemas in der Soziologie an. Ähnlich wie Catton und Dunlap sieht wenige Jahre später auch Niklas Luhmann die Lage: »Für die Soziologie kam diese Diskussion – wie so vieles – überraschend, und sie traf das Fach unvorbereitet. Die Soziologie hatte bis dahin rein innergesellschaftliche Perspektiven gepflegt, sich in Ideologien über die rechte gesellschaftliche Ordnung verwickelt und sich von Ideologien dann wieder zu befreien versucht. […] Die Natur konnte und musste den Naturwissenschaften überlassen bleiben.« (Luhmann 1986: 12) In diesem Tenor forderten auch Catton und Dunlap ihre Kollegen auf, »to rethink the traditional Durkheimian norm of sociological purity – i.e., that social facts can be explained only by linking them to other social facts« (Catton and Dunlap 1978: 44; Herv. im Orig.). Auch wenn Catton und Dunlap dies nicht beabsichtigten (Dunlap 2002), ihre Forderung wurde allgemein als grundsätzliche Ablehnung der klassischen Soziologie betrachtet, die als »inhospitable to the nurturing of ecologically-informed sociological theory and research« (Buttel 1986: 338) galt. Unkritisch übernahm auch die deutschsprachige Diskussion lange Zeit diese Sichtweise. Soziologie, so zum Beispiel Werner Rammert (1997) bereits im Titel eines Aufsatzes, sei eine Disziplin, in der »Natur nicht zählen würde« (vgl. Murphy 1995). Ironischerweise bewegten sich Dunlap und Catton (1979: 64), sicherlich das einflussreichste Autorenpaar der neuen Subdisziplin, mit ihrem Konzept eindeutig in die Richtung des analytischen Rahmenwerkes von Goode und Hayes sowie von Park, wie es etwa 70 bzw. 50 Jahre früher angeboten wurde. Die Umweltsoziologie wurde gelegentlich sogar als ›neue Humanökologie‹ bezeichnet. Die in diesen Schriften diskutierte alte Humanökologie war jedoch auffälligerweise die von Autoren wie Otis Duncan (vgl. Kap. V/3). Allgemein lässt sich daher sagen, dass sich die Umweltsoziologie der 1970er als Kritik an der damaligen Mainstreamsoziologie verstand, aber auch als Abgrenzung von der klassischen Tradition des Fachs, der man nachsagte, sie sei blind für die natürliche Umwelt der Gesellschaft gewesen. 96

Soziologen der 1970er Jahre konnten die brachliegenden disziplinären Regionen aus den frühen 1940er Jahren füllen und Ansprüche auf vermeintlich neue Einzugsgebiete stellen. Im Laufe der Zeit wurden diese Einzugsgebiete abhängig von den aktuellen Bedürfnissen und Problemstellungen neu definiert, wieder verlassen oder neu verkündet. Gespeist wurde dies aus verschiedenen Quellen – etwa der Biologie, der Geographie, der Ökonomie oder der Ökologie. Die von Latour unverblümt eingeforderte Symmetrie wird hier als Dialektik formuliert. Der Tenor ist: Die Nutzung von Natur wird zugleich von symbolisch-kulturellen Aspekten als auch von der materiellen Widerständigkeit, Knappheit und der Eigendynamik von nicht-menschlicher Umwelt geprägt (z.B. Brand/Kropp 2002, 2004; Fischer-Kowalski 2001). Dieses Selbstverständnis, das in vielen Strängen der Soziologie lange verpönt war, soll, so die Hoffnung, auch Wege zu Anschlüssen an benachbarte Disziplinen öffnen – nicht zuletzt, um die Relevanz der Soziologie und anderer Sozialwissenschaften für interdisziplinäre Umweltforschung zu verdeutlichen (vgl. Daschkeit/Schröder 1998; Glaeser 2006; Pohl/Hirsch Hadorn 2006). Hier findet sich im Kern dann der alte Streit zwischen Realismus und Sozialkonstruktivismus wieder. Zum einen handelt es sich um Versuche, das Einzugsgebiet der Soziologie und anderer Sozialwissenschaften so zu erweitern, dass Gesellschafts-Natur-Interaktionen direkt als Teil einer Umweltsoziologie oder einer Erforschung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse betrachtet werden können (Becker 2003; Görg 2003; Jahn 1991). Zum anderen gewinnen Ansätze an Prominenz, die den Zusammenhang von Weltbildern und Naturvorstellungen (Brand et al. 1997; Gill 2003; Rink/Wächter 2004; Weber 2003) sowie von Lebensstilen (Poferl 2004; Reusswig 1994; Rink 2002) herausarbeiten. Hierzu lassen sich auch die vielfältigen Ergebnisse zu Umwelteinstellungen und Umweltkommunikation mit verschiedenen theoretischen Untermauerungen zählen (z.B. Franzen/Meyer 2004; Kuckartz et al. 2002; Kleinhückelkotten 2005; Michelsen/Godemann 2005). Der sich dazwischen abspielende Konflikt beschäftigte insbesondere die deutsche Umweltsoziologie (vgl. Brand 1998; Halfmann 2001). Die in einigen Ansätzen angestrebte Verknüpfung zwischen ›objektiven‹ Umweltbedingungen und ›sub97

jektiven‹ Wahrnehmungen ist ein kleiner Schritt hin zu einem besseren Verständnis des komplexen Verhältnisses der symbolischen und materiellen Aspekte umweltsoziologischer Herausforderungen. In den Sozialwissenschaften gab es neben der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) der 1990er Jahre, die, wie wir in Kapitel VI gesehen haben, anfänglich eine methodologische Symmetrisierung in der Interaktion zwischen Mensch und Nicht-Mensch propagierte, verschiedene andere Ansätze, die sich um die Integration der natürlichen und sozialen Bereiche bemühten. Die Herausforderung der konzeptuellen Erfassung der Wechselwirkungen zwischen materieller und sozialer Umwelt findet sich aber – wenn auch oft nicht explizit – bereits in der klassischen Unterscheidung zwischen Struktur und Handlung. Anthony Giddens’ Theorie der Strukturierung (1988) ist hier wohl am instruktivsten, um die Verbindung der Diskussion um ›Natur/Struktur versus Gesellschaft/Handeln‹ zu verdeutlichen. Giddens (1979) verwies schon in den 1970ern auf das, was er eine Dualität von Strukturen nennt, um dem Vorwurf eines einseitigen Strukturdeterminismus zu entgehen. Strukturen, so Giddens, sind immer zugleich Medium und Ergebnis sozialen Handelns, so wie die äußere Natur immer Ergebnis als auch ein Grenzen setzendes Medium sozialen Handelns ist. Natur ist also Medium, weil es bestimmte Handlungen zulässt, aber dafür andere verhindert. Natur ist aber auch Resultat, weil sie nur ›produziert‹ werden kann, wenn sie als Medium sozialen Handelns verarbeitet wird. In diesem Tenor versuchen zum Beispiel neuere Diskussionen zur »Umweltgerechtigkeit« (vgl. Bolte/Mielck 2004; Elvers 2005) in Kooperation mit dem Feld der Epidemiologie, Mensch-UmweltInteraktionen als Gegenstand soziologischer Analyse zu etablieren. Meist bleibt es aber bei einer klassischen Gegenüberstellung beider Seiten und damit einer klaren Arbeitsteilung zwischen den Natur- und Sozialwissenschaften. Trotz des heute etablierten Oberbegriffs »Umweltsoziologie« (environmental sociology) wurde dieser in den 1980er Jahren nur der Gruppe von Autoren zugeteilt, die ein neues Paradigma einforderte, das dem Realismus der ökologischen Problematik ge-

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recht werden soll. Der anderen Seite, die mit traditionellen soziologischen Mitteln Umweltthemen erforschte, wurde das Label »Soziologie der Natur« oder »der Umwelt« (sociology of the environment) zugeschrieben. Es ist dennoch interessant zu verfolgen, wie sich die beiden Seiten – Umweltsoziologie und Soziologie der Umwelt – hinsichtlich ihres wandelnden Verständnisses zu ihrem Gegenüber Natur verhalten. Wie schlagen sich diese beiden Sichtweisen nun konkret in ihrem soziologischen Umgang mit der Natur – und in diesem Zusammenhang mit den möglichen Erweiterungen oder Verschiebungen ihrer methodologischen und theoretischen Einzugsgebiete – nieder? Unterscheidet man analytisch zwischen Gesellschaft und Natur, dann sind nach Brand/Reusswig (2001) sowie Brand/Kropp (2004)31 grundsätzlich drei verschiedene Formen ihrer Relationierung denkbar: Zuerst ist da der Naturalismus, in dem Mensch und Gesellschaft als abhängige Teile der Natur betrachtet werden. In dieser Sichtweise werden Menschen von den Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten der Natur determiniert. Sie können folglich am besten mit den Mitteln der Naturwissenschaften (z.B. der Ökologie) analysiert werden. Zweitens stellen die Autoren den Soziozentrismus oder Kulturalismus vor. Natur und Umwelt sind hier keine bestimmenden Größen an sich, wie z.B. in der Humanökologie (vgl. Kap. IV und V), sondern soziale Konstrukte, d.h. Ergebnisse von kulturellen Bedingungen und sozialen Aushandlungsprozessen. An dritter Stelle bieten Brand et al. eine dialektische Sichtweise an, in der Natur und Gesellschaft als zwei distinkte, gleichwohl in vielfältigen Wechselwirkungen aufeinander bezogene Bereiche angesehen werden sollen. Neben Ulrich Becks Weltrisikogesellschaft und den auf Marx zurückgehenden Ansatz zum gesellschaftlichen Stoffwechsel von Fischer-Kowalski et al. wird hier für gewöhnlich der oben vorgestellte Ansatz der AkteurNetzwerk-Theorie genannt. Die umweltsoziologische Forschungslandschaft scheint damit klar abgesteckt: Man kann die Naturverständnisse der Soziologie seit den 1970er Jahren analytisch in (1) Realismus/Naturalismus, (2) Sozialkonstruktivismus und (3) die Versuche einer so genannten Dialektik, einer Integration beider Perspektiven, einteilen.

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Theoretisch und methodologisch, so weit scheint Einigkeit, stellt eine Integration beider Lager (1 und 2) die größte Herausforderung an die Soziologie dar.

2. Der Konstruktivismus des umweltsoziologischen Realismus Die Soziologie steht, wie wir in den vorhergehenden Kapiteln gesehen haben, mit dem Thema und dem Gegenstand »Natur« traditionell vor besonderen Herausforderungen, denen andere Wissenschaften nicht gegenüberstehen. Durch die veränderte Kommunikation über die Wechselwirkungen zwischen Natur und Gesellschaft wird Soziologie selbst – streng genommen – Teil dieser Veränderung. Sofern sich die Soziologie als Analyse und Selbstbeschreibung der Gesellschaft versteht, ist sie Bestandteil der gesellschaftlichen Kommunikation, die sie selbst beschreibt. Im Gegensatz dazu: Die Naturwissenschaften als Disziplinen sind nicht Elemente ihrer Objektbereiche: Die Chemie als Wissenschaft funktioniert nicht chemisch. Daher ist die Theoriesprache der Soziologie nicht immunisierbar gegenüber der Sprache, die sie zu erfassen sucht. Folgt man also Beck und geht davon aus, dass im Verlauf der »Industrialisierung« von Gesellschaft nun im 21. Jahrhundert als einer Nachfolgephase eine »Ökologisierung« der Gesellschaft ansteht, in der sich die Wechselwirkung mit der Natur in Richtung einer kommunikativen Kultur zu wandeln beginnt, so kann die Soziologie ihre Theorie nicht dagegen immunisieren. Wie aber kann sie darauf konstruktiv reagieren? Zur Verdeutlichung der Herausforderungen einer Soziologie, die sich mit der natürlichen Umwelt von Gesellschaft befasst, ist oben genannte Dreiteilung eine brauchbare Strategie. Tatsächlich wird man aber bei näherer Betrachtung kaum einen Sozialkonstruktivisten finden, der behaupten würde, dass Umweltprobleme nicht ›wirklich‹ sind, oder einen ›Realisten‹, der kulturelle Einflüsse auf Naturverständnisse abstreiten würde. Es sei eben jeweils nicht das Thema der soziologischen Analyse, so das gängige Argument. Um diese Einteilungen und das möglicherweise spannendste 100

Thema der Soziologie – das Erweitern und Schrumpfen von Natur-Einzugsgebieten – noch zuzuspitzen, soll im Folgenden gezeigt werden, dass auch selbsterklärte Realisten oder Naturalisten sozialkonstruktivistisch arbeiten und Sozialkonstruktivisten wiederum einen naturalistischen Zugang benötigen.32 Dass die erklärten Mittelwege ihre ganz besonderen Tücken haben, haben wir bereits am Beispiel der Akteur-Netzwerk-Theorie in Kapitel VI gesehen. Diese wird uns aber noch weiter begleiten. Die oben vorgestellten ›Begründer‹ der neuen Umweltsoziologie, William Catton und Riley Dunlap, forderten 1978 ein neues ökologisches Paradigma der Soziologie ein, das davon gekennzeichnet sein soll, dass es die natürliche Umwelt ernst nimmt. Unter Hinzunahme naturwissenschaftlichen Wissens sollten aus einer »realistischen Perspektive« auf Umweltprobleme Analysen dieser Probleme unternommen werden. Catton und Dunlap (1978) diagnostizierten, dass die ökologische Krise zu einer radikalen Umwandlung der Soziologie führen würde. Sie klagten alle soziologischen Sichtweisen eines gemeinsamen Fehlers an: Anthropozentrismus. Sie propagierten ein »new ecological paradigm« (NEP), welches den Fokus auf die Wechselwirkung von Menschen und Ökosystemen richten wird, da der Mensch auch nur ein Lebewesen unter vielen im »web of life« sei. Auffällig ist nun jedoch, dass sich Dunlap, Catton und ihre jeweiligen Co-Autoren bis heute nirgendwo ernsthaft dem theoretischen Problem einer Gesellschafts-Natur-Wechselwirkung und deren soziologischer Rahmung stellen. Folgerichtig sind die empirischen Analysen aus dem Umfeld von Catton und Dunlap in den Jahren nach 1978 dann auch alle eher traditionelle soziologische Einstellungsuntersuchungen. Die Wechselwirkung von Menschen und Ökosystemen wird bei ihnen zwar thematisiert und in Einleitungen ihrer Artikel wird das »new ecological paradigm« angeführt. Untersucht werden dann aber Themen der Umweltbewegung, sich wandelnde Einstellungen zu Recycling, Ländervergleiche zum Thema Klimawandel und ähnliches (z.B. Dunlap/van Liere 1978; Dunlap 1998; Dunlap/Mertig 1996; Mertig/Dunlap 2001). Hier wird also ein neues Paradigma des Wandels der Naturvorstellungen in der Bevölkerung bemessen und nicht ein neues Paradigma der Soziologie praktiziert. Anders aus101

gedrückt: Selbsterklärte Umweltsoziologen forderten zwar eine Erweiterung des soziologischen Einzugsgebietes, trauen sich aber offensichtlich nicht, in eigenen Forschungen Ernst mit ihrer Forderung zu machen. Natur bleibt das Andere, Ausgeschlossene, das Gegenüber. Davon, dass mit ihrer Forderung in der Soziologie ein Erdrutsch ausgelöst würde, wie sie es 1978 vorhersagten, kann auch heute keine Rede sein. Im Gegenteil: Unter Umweltsoziologie wird seit den 1980er Jahren zunehmend auch wieder die Soziologie der Umwelt- und Naturthemen gefasst, genauso wie es eine Soziologie der Armut, der Devianz, des Wissens oder der Religion gibt – also genau das, von dem man sich in den 1970ern zu verabschieden suchte. Die selbsterklärte Abwendung vom viel gescholtenen Durkheim’schen Paradigma wurde nicht vollzogen. Der Ansatz von Catton und Dunlap ist sogar sehr durkheimianisch, da eine objektive Umwelt als gegeben vorausgesetzt wird. Bei Durkheim heißt es ganz klar, dass man, um die Frage nach dem kulturellen Verständnis von Natur zu beantworten, »zuerst zugeben [muss], dass es sich um wirkliche Dinge handelt, die auf diese Weise dargestellt werden« (Durkheim 1981: 104). Auch Durkheim setzt voraus, dass es die äußere Natur in einer bestimmten Form objektiv gibt. Verschiedene Gruppen oder Gesellschaften machen sich dann verschiedene Vorstellungen von dieser, die der soziologische Forscher in Wahrnehmungskategorien zu fassen versucht. Dies ist soziologisch nichts Außergewöhnliches. Auch Hans Freyer, der in seiner »Theorie des objektiven Geistes« (1966) den Zusammenhang zwischen Selbst und Umwelt diskutierte, geht davon aus, dass das Verhältnis des Individuums und seiner, wie Freyer es nennt, »seelischen Vorgänge« in der Korrelation mit der äußeren materiellen Welt konstant bleibt. Denn: »Die eine gegenständliche Welt, die für alle da ist, die vor mir war und nach mir sein wird, steht als Begrenzung, als Richtpunkt, als Gegenstück meinem Selbst gegenüber.« (Ebd.: 22) Wenngleich Freyer das Dominantwerden technischer Kategorien im Alltag des modernen Individuums diskutiert (vgl. Freyer 1921: 134-137), war Durkheim in seiner normativen Bewertung der modernen Wissenschaft jedoch bereits einen Schritt weiter gegangen. Moderne Wissenschaft sei, so Durkheim, anderen kulturel102

len Verstehensweisen von Natur überlegen (Durkheim 1981: 574f.). Er gibt somit vor, als moderner säkularisierter Europäer mit Hilfe der Naturwissenschaft den ›wahren‹ Charakter der Natur erkennen zu können – d.h. auch, dass das naturwissenschaftliche Wissen über Natur ›wahrer‹ und ›verlässlicher‹ ist als andere Wissensformen. Das ist der Naturalismus oder Realismus, den auch Catton und Dunlap vertreten, da sie an die realistische Abbildung ökologischer Probleme durch die von ihnen ausgewählten Naturwissenschaften glauben. Sie sind daher eigentlich Sozialkonstruktivisten mit einer (normativen) Vorliebe für bestimmte Konstruktionen. Eine objektiv gegebene Natur und objektiv gegebene Umweltprobleme werden vorausgesetzt. Da scheinen es die Sozialkonstruktivisten, die, wie es Brand und Kropp (2004) nennen, eine »genuin soziologische Analyse« vornehmen, hinsichtlich der Reinheit der soziologischen Herangehensweise besser zu haben. Wie gesagt: Es scheint so.

3. Der objektive Unterbau des Konstruktivismus Eine sozialkonstruktivistische Perspektive repräsentiert nach Brand/Kropp (2004), Brand/Reusswig (2001), Japp/Krohn (1996) oder Keller/Poferl (1998) die Cultural Theory nach Mary Douglas, mit der eine von Natur ›bereinigte‹ soziologische Erklärung geprüft werden kann. Die Anthropologin Mary Douglas geht davon aus, dass unterschiedliche Organisationsformen und Kulturen zu unterschiedlichen Welt- und Naturbildern führen (Douglas 1974). Ihre Cultural Theory ist eine Variante der Kultursoziologie, die prägnante Modellierungen und empirische Untersuchungen hinsichtlich der sozialen Konstruktionen von Naturwahrnehmungen vorgelegt hat. Auch wenn diese Theorie auf Douglas zurückgeht, wurde sie besonders durch Arbeiten von Rayner (1984), Thompson et al. (1990), Schwarz/Thompson (1990) und Wildavsky/Dake (1990) auf umweltsoziologische Fragen zugespitzt. In allen diesen Publikationen geht es darum, die möglichen Konzeptionen, in denen Natur und Gesellschaft relationiert werden, typologisch zu erfassen und auf sozialstrukturelle Differenzierungen zurückzuführen. Dieser theoretische Zugang wurde häufig he103

rangezogen, um die Unterschiede zwischen Umweltwahrnehmungen und normativen Programmen verschiedener Umweltideologien auf bestimmte institutionelle Bezugsfelder zu erfassen. Die Kritik gegenüber dem kultursoziologischen Ansatz (vgl. Johnson 1987; Keller/Poferl 1998) betonte dann vor allem ihre strukturtheoretisch bedingte Statik, die empirisch die Rekrutierungsbedingungen für Umweltaktivitäten nicht erfolgreich erklären kann, und organisationstheoretisch zu strikt zwischen Gruppe, Markt und Hierarchie trennt. Aus der Warte der Cultural Theory ist es jedoch leicht verständlich, wie und warum Menschen ihre ›Realität‹ der Natur durch bestimmte soziale Interaktionsformen konstruieren. Die Annahme, dass es nur eine ›wahre‹ Natur und objektiv gegebene Umweltprobleme geben könne, widerspricht diesem Ansatz. Eine Erweiterung des Einzugsgebietes in Richtung ›mehr Natur‹ scheint hier ausgeschlossen. Gibt man allen Kulturen, Gruppen und Individuen eine gleichberechtigte Stimme, dann kann die Vielfalt der kulturellen Naturverständnisse nicht in einer einzigen naturgegebenen Realität begründet liegen. Die Antwort ist klar: Naturanschauungen werden durch Weltanschauungen und soziale Erfahrung bestimmt. Dies bedeutet dann auch, dass die Wahrnehmung von Natur ausschließlich im Bias einer bestimmten Kultur liegt. Um verschiedene kulturelle Bewertungen von Natur durchführen zu können, müssen sozialkonstruktivistische Beobachter jedoch ihr disziplinäres Einzugsgebiet fast widerwillig oder möglicherweise unbewusst erweitern. Sie müssen implizit annehmen, dass die Realität des zu beschreibenden natürlichen Gegenstandes oder eines Bereiches (z.B. eine Prärie, ein Wald oder die globale Klimaerwärmung) zwischen den Verfechtern verschiedener Perspektiven konstant bleibt. Ebenso müssen sie implizit davon ausgehen, dass diese Verfechter verschiedener Naturverständnisse tatsächlich über die gleiche Sache reden. Hieraus folgt, dass mindestens zwei (bei Douglas idealtypisch vier) alternative kulturelle Bewertungen von Natur von der gleichen implizit vorausgesetzten ›objektiven‹ Natur stammen können, wenn man nicht gänzlich leugnen will, dass man überhaupt weiß, wovon die untersuchten und befragten Gruppen reden.33 Man könnte hieraus 104

folgern, dass für einen streng sozialkonstruktivistischen Soziologen ein natürlicher Wandel in der Natur, wie z.B. ein großer Waldbrand, ein Erdbeben – oder auch einfach schlechtes Wetter, das eine schlechte Ernte bedingt und dazu führt, dass bei einer bestimmten Pflanze eine ›natürliche‹ Eigenschaft sich ›natürlich‹ verändert –, keinen Einfluss auf die soziale Konstruktion der Natur nehmen muss, da Veränderungen in der Beschaffenheit der materiellen Umwelt keine Veränderungen in sozialen Definitionen und Vorstellungen erklären können. Das Erweitern des soziologischen Einzugsgebiets basiert auf einem Naturalismus, der als Relativismus erklärt wird. Denn diese sozialkonstruktivistische Variante der Soziologie fundiert in einer tiefgründigen Verpflichtung zu einem epistemologischen Realismus, da ein sozialkonstruktivistischer Ansatz – implizit – von einer feststehenden und statischen Realität der Natur ausgeht – ja ausgehen muss.34 Die Frage bleibt – wie auch bei Durkheim –, wer zu Anfang einer Beobachtung oder eines Forschungsprojektes die Eigenschaften der echten oder realen Natur festlegt. Ist es der soziologische Beobachter als Amateur-Naturkenner? Sind es bestimmte Akteure, die die Soziologin befragt? Oder sind es ausgewählte Ergebnisse der Naturwissenschaft? Dieses Problem handhaben verschiedene Autoren meist nach Gutdünken – wenn sie die Frage überhaupt explizit stellen.

4. Netzwerke, gestörte Stoffwechselprozesse und ökologische Modernisierung Es ist auffällig, dass die meisten Soziologen und die Umweltsoziologie im Besonderen vor dem symmetrischen Ansatz von Bruno Latour und anderen zurückscheuen. Warum dies so ist, ist nicht ganz verständlich, denn der Versuch der Akteur-NetzwerkTheorie, die materielle Umwelt in soziologischen Beschreibungen ernst zu nehmen und weiterzuentwickeln, kommt der Forderung nach einem »neuen ökologischen Paradigma« nach Catton und Dunlap mit folgenden Kernpunkten sicher am nächsten: 1.

Eine Voraussetzung ist die Einnahme einer symmetrischen 105

2.

3.

4.

Position, die die Wechselwirkungen zwischen Natur und Mensch gleichzeitig beobachtbar macht. Für diese Beobachtung beider Seiten und die sprachliche Erfassung wird der Begriff der ›Aktanten‹ eingeführt, der in Abhebung von der Sinnzuschreibung des Handelnden in der Soziologie aus der Semiotik eingeführt wurde. Der Mensch verliert seine zentrale Rolle im Ökosystem, da keine Vorabunterscheidungen zwischen Menschen, Objekten, Dingen oder Naturen getroffen werden. Alle a-priori-Unterscheidungen zwischen Aktanten werden abgeworfen, auch und besonders die zwischen ›sozial‹ und ›natürlich‹.

Diese methodologischen Eckpunkte der ANT sind der Erläuterung des »new ecological paradigm« von Catton und Dunlap (1978: 45f.) sehr ähnlich. Ein grundlegenderes Problem dürfte sein, dass die ANT zwar anschauliche Geschichten von der handelnden Natur erzählen kann, konzeptionell koppelt sie sich jedoch von den Stärken der Soziologie ab (Erklärung von Handeln, von sozialen Prozessen, Erfassung von Einstellungen, von Verhalten etc.). Sie läuft damit aber auch außerhalb der Soziologie ins Leere, da ihre ›Objektivierung‹ von Natur in einer Metaphorik aus dem Alltag besteht, die nur bedingt an naturwissenschaftliche Untersuchungsergebnisse anschlussfähig ist. Für viele Umweltsoziologen gilt die Methodologie der AkteurNetzwerk-Theorie zwar allgemein als anregend, durch ihren aus der Wissenschafts- und Technikforschung stammenden mikrosoziologischen Ansatz werden jedoch viele umweltsoziologisch wichtige Aspekte ausgeblendet. »Actor-Network reasoning is by and large to render exogenous most of the major motors of change in society. In better understanding Actor-Network-dynamics relating to science and relating to nature and the like, we sacrifice the ability to understand macro-processes of change«, sagt hierzu Frederick Buttel (2001: 46). Entsprechend entwickelte sich in den USA, insbesondere im letzten Jahrzehnt, eine viel stärker makrosoziologisch orientierte Umweltsoziologie, die nicht nur evolutionstheoretische Denkweisen aus dem 19. Jahrhundert 106

wieder aufnimmt, sondern sich stark an Marx’ Stoffwechselbegriff anlehnt (vgl. Foster 2000). Es ist das Marx’sche Wechselverhältnis von Natur und Gesellschaft, in dem sich die beiden interagierenden Seiten in Stoffwechselprozessen verändern. In Nordamerika war es insbesondere das von John Foster populär gemachte Konzept der Unterbrechung des Stoffwechsels (»metabolic rift«), der das Einzugsgebiet der Soziologie in Richtung Natur erweiterte. Publikationen zu diesem Thema fanden Einzug in die großen Zeitschriften der Disziplin, ein Phänomen, das es, wenn es um die äußere Natur geht, in diesem Ausmaß seit den 1930er Jahren nicht mehr gegeben hat (Foster 1999; York et al. 2002, 2003). Hinter der Rede vom »metabolic rift« verbirgt sich etwas relativ Einfaches. Im Zuge kapitalistischer Produktionsweise werden der Natur Stoffe entnommen, die ihr – anders als in vorkapitalistischer Zeit – nun nicht mehr natürlich (z.B. in Form von Viehdung) zurückgeführt werden, sondern sie landen als Müll meist in ganz anderen Ecken der Welt. Um dies auszugleichen, werden z.B. chemische Düngemittel eingeführt, die für die Herstellung wiederum andere Naturvorräte aufbrauchen und eine neue Unterbrechung im Stoffwechselprozess der beiden interagierenden Seiten Natur und Gesellschaft hervorbringen. Zur Kompensation muss der Natur wieder ein neuer Stoff abgerungen werden, was zu einer anderen, meist viel größeren Unterbrechung im Stoffwechselprozess führt usw. Es ist erstaunlich, wie ein so einfaches Denkmodell aus dem 19. Jahrhundert, das zuerst auf Marx und seine Lesart von Justus von Liebig (vgl. Krohn/Schäfer 1978) zurückgeht, in der Soziologie des 21. Jahrhunderts so einflussreich sein kann. Es ist aber möglicherweise gerade die Einfachheit des Konzepts, die es so attraktiv für die empirische Umweltsoziologie macht. Es lässt sich auf so verschiedene Themen wie den Klimawandel, die Entwicklung historischer Wirtschaftsformen, die moderne Landwirtschaft oder den ›ökologischen Fußabdruck‹ anwenden (vgl. J.W. Moore 2000; Clark/York 2005; York et al. 2003). Das normative Ergebnis solcher Untersuchungen steht jedoch immer schon in Vorhinein fest: Es ist die kapitalistische Produktionsweise und die industrielle Modernisierung, die keinen Ausweg aus dem Dilemma des »metabolic rift« erlaubt, denn 107

die Ausweitung der Kluft beschleunigt sich mit dem Fortschreiten des Kapitalismus. Diese Sichtweise steht im Gegensatz zu den europäischen Ansätzen zur Analyse von ökologischen Modernisierungsprozessen (vgl. Mol 2001; Huber 2004; Jänicke et al. 2003). Diese gehen davon aus, dass beständiges ökonomisches Wachstum nicht nur kompatibel mit Umweltschutz und nachhaltiger ökologischer Entwicklung sein kann, sondern tatsächlich den besten Weg darstellt, ökologische Degradierung zu verlangsamen oder gar zu stoppen. Auch wenn die größten Umweltprobleme durch Modernisierung und Industrialisierung hervorgerufen wurden, so müsse ihre Lösung wieder genau hier liegen. Nicht weniger, sondern mehr Modernisierung müsse das Ziel sein (Beck et al. 1996; Buttel 2000; Mol/Sonnenfeld 2000). So wichtig diese Perspektive für die Umweltsoziologie als Gegengewicht zur Theorie des »metabolic rift« ist, so konzentrierte sie sich doch lange Zeit nur auf die Herausforderung der institutionellen Veränderungen, die für eine ökologisch nachhaltige Entwicklung der modernen Gesellschaft notwendig ist – und nicht um die konzeptuelle Anbindung an natürlich-stoffliche Prozesse. In neueren Arbeiten (vgl. Spaargaren et al. 2006) wird diese Lücke mit einem u.a. von Latour informierten Konzept der »environmental flows«, unter das sowohl materielle als auch soziale Elemente gefass weden, zu schließen gesucht. Neben der Theorie des »metabolic rift« ist die Akteur-Netzwerk-Theorie sicherlich der bekannteste Versuch, einen Punkt zum Anknüpfen an die ›objektive Natur‹ zu finden. Durch die Rede von Netzwerken, Aktanten und Hybriden kann das soziologische Problem der objektiven (oder ›realistischen‹) Thematisierung von Natur invisibilisiert werden. Daraus können, wie wir in Kapitel VI/2 gesehen haben, erheiternde Essays von eigenwilliger und widerständiger Natur entstehen. Aus sozialkonstruktivistischer Sicht wird man einwenden, dass damit soziologische Handlungskonzepte überzogen werden, da ja offensichtlich nicht symbolisch, sondern effektiv gehandelt wird. Zudem wird damit der klassische Begriff der doppelten Kontingenz kontaminiert. Da in täglichen Interaktionen die saubere Trennung zwischen einer rein symbolischen, also sprachlich konventionalisierten, und ei108

ner rein kausalen Zweck-Mittel-Operation nicht anzutreffen ist, sondern vielmehr analytisch eingezogen wird, sollte es auch für soziologische Beobachtung legitim sein, sich um die hybriden Formen der Kommunikation und Interaktion zu kümmern. Hierzu wird es sicherlich in Zukunft Kooperationen zwischen der Umweltsoziologie, der Wissenschafts- und Techniksoziologie sowie vieler andere Stränge der Disziplin geben, denn Natur bleibt eines der wichtigsten Themen und Aufgaben für die Soziologie.

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VIII. Ausblick Natur, so könnte man nach der Lektüre dieses Buches sagen, ist immer eine wichtige Grundlage soziologischer Begriffe und Konzepte. Dies ist sie aber paradoxerweise nur durch von großer Zuneigung geprägten Abgrenzungsstrategien. Nehmen wir an, dass die hier vorgestellten Beispiele aus 150 Jahren Soziologiegeschichte als typisch für Entwicklungen in der Soziologie gelten dürfen, so lässt sich zusammenfassen, dass erst die ständige Auseinandersetzung mit der Erklärungsressource, von der man sich immer absetzen möchte, die Voraussetzung für den Erhalt des Faches bietet: Ohne die Vorstellung von der Gesellschaft als Natur gäbe es keine Vorstellung von Gesellschaft als naturfreiem Untersuchungsobjekt. Die aus dem Organizismus stammenden ›Grundzutaten‹ von Gesellschaft sind bis heute erhalten, wenngleich die Debatten um die ›Natur der Gesellschaft‹, d.h., was Gesellschaft ausmacht und was dazu gehört, noch lange nicht versiegt sind. Zu dieser Debatte hat der oft zitierte Satz der ehemaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher (»there is no such thing as society«) sicherlich auch einen Beitrag geleistet. Der Organizismus war jedoch die Grundlage dafür, dieses schwer definierbare Untersuchungsobjekt analytisch so zu gestalten, dass sich mindestens eine große Disziplin um es herum etablieren konnte. Für die Soziologie ist Gesellschaft etwas, das in einem Doppelverhältnis zu verschiedenen Naturen steht: Gesellschaft ist einerseits fest verbunden mit Natur, steht ihr andererseits auch gegenüber. Die Problematik der Unterscheidungen und Zuschreibungen führt sowohl bei den Klassikern als auch bei zeitgenössischen Ansätzen zu Verwirrung. Für Georg Simmel stellte die Abgrenzung zwischen Natur und ihrem sozialen und kulturellen Gegenüber noch kein Problem dar, denn die »prinzipielle Sicherheit der Abgrenzung zwischen Natur und Kultur, mit der die eine gerade da beginnt, wo die andere aufhört, leidet unter der Unsicherheit über die Einordnung der Einzelerscheinung so wenig, wie die Begriffe des Tages und der Nacht darum ineinander verschwimmen, weil man eine Dämmerstunde bald dem einen, bald der anderen zurechnen mag« (Simmel 2001: 620). Die diskutierten Fälle ha110

ben gezeigt, dass die Soziologie sich häufig in Simmels »Dämmerstunde« aufhält. Mithilfe der Metapher der Einzugsgebiete und damit der Vorstellung des Einziehens oder des ›An-sich-Heranziehens‹ von Naturkonzepten anderer Disziplinen wurde gezeigt, dass die Soziologie von dieser Dämmerstunde zu einem bedeutenden Anteil abhängig ist. Dies verdeutlicht, warum zu bestimmten Zeiten als Erfolg versprechend geltende Strategien der Soziologie für interdisziplinäre Kooperationen (Geographie und Ökologie), Konzepte der Hybridisierung von Natur und Gesellschaft in der Akteur-NetzwerkTheorie oder konzeptuelle Anknüpfungspunkte an Nachbarregionen (Biologie, Evolutionstheorien) meist nur von kurzer Dauer waren, gelegentlich sogar kläglich scheiterten – ja scheitern mussten, um erfolgreich wieder neu entdeckt zu werden. Von den frühen Diskussionen über den Naturorganismus Gesellschaft bis zur heutigen Diskussion über eine biopolitische Wende in der gesellschaftlichen Selbstthematisierung erscheint es eher so, dass die kritische Auseinandersetzung mit dem Gegenüber erst Voraussetzung für neue Konzepte ist. Denn sobald im Einzugsgebiet anderer ›naturnähererer‹ Disziplinen gewildert wurde (wie z.B. in der Ökologie und Geographie durch die Chicagoer Soziologen zu Beginn des 20. Jahrhunderts) oder man glaubte, gänzlich neue Einzugsgebiete entdeckt zu haben (wie z.B. die neuen Umweltsoziologen Catton und Dunlap in den 1970er Jahren oder die Akteur-Netzwerk-Theorie seit den 1980er Jahren), bereinigte man diese nicht einfach hin zu mehr ›Naturfreiheit‹, sondern konnte gestärkt mit Weiterentwicklungen aufwarten, ohne die die Disziplin wahrscheinlich nicht hätte 150 Jahre Bestand haben können. Andersherum ausgedrückt: Die Geschichte der Soziologie ist ein beständiger Versuch des Herrwerdens über die Natur, der dann aber immer wieder in einer freundlichen Annäherung mündet. Zu guter Letzt verweist dieses Buch über und durch die Metapher der Einzugsgebiete auf eine weitere Natur. Es sind dies die Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen, die eine eigene Natur zu haben scheinen, welche sich nicht einfach verdrängen oder auflösen lässt durch guten Willen, Prestige, Macht oder üppige Forschungsmittel. Diese Ambivalenz schafft jedoch auch Beruhi111

gung, denn nicht zuletzt der historische Blick zeigt, dass ein Verdrängen soziologischer Untersuchungsbereiche durch Natur, sei es in Form von Biologisierung oder einer Übermacht durch Umweltnaturwissenschaften, auch in Zukunft nicht zu erwarten ist. Auf der anderen Seite stellen die immer wiederkehrenden Versuche einer Emanzipation der Soziologie von einer wie auch immer gearteten Natur jedoch eine wichtige Illusion dar – und so soll es weiter bleiben.

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Anmerkungen 1

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Dass sich Paretos Werk und insbesondere seine Klassifikation der Residuen auch kulturtheoretisch lesen lässt, zeigt anschaulich Bach (2004). Eine solche Sichtweise war zum Ende des 19. Jahrhunderts nichts Außergewöhnliches. Es gehörte als Erklärungsressource eher zum Standard oder gar zum ›guten Ton‹ in verschiedenen Disziplinen (vgl. Engels 2000). Zur Entwicklung der Wahrnehmung der Soziobiologie in verschiedenen Disziplinen und der Öffentlichkeit siehe Linke (2006). In dieser Debatte geht es darum, ob der Mensch überwiegend durch seine Gene (nature) bestimmt ist, oder ob durch die (sozialen) Umweltbedingungen (nurture) entscheidend Einfluss auf die Entwicklung genommen werden kann. Die Zahlen von übergewichtigen Kindern, die vor der Pubertät aus Mexiko in die USA eingewandert sind, lassen diesen Schluss zumindest zu. Amerikaner mexikanischer Abstammung der Altersklasse 5-11 leiden zu über 25 % an Fettleibigkeit (27,4 % Mädchen, 23 % Jungen). Bei einem Alter von 11 haben 32,4 % der Jungen mit Fettleibigkeit zu kämpfen, mit 12 Jahren 43,4 % der Mädchen (vgl. Critser 2003; Schlosser 2002). Richter (2005) glaubt jedoch grundsätzlich, dass die von Wilson propagierte Biologisierung der Soziologie trotz der Weiterentwicklungen der Soziobiologie als gescheitert angesehen werden kann. Im Original heißt es: »If men define situations as real, they are real in their consequences.« (Thomas/Swaine Thomas 1928: 571) Auch wenn das Zitat aus einem mit seiner Frau zusammen herausgegebenen Buch stammt, gilt es als sicher, dass diese Passage auf William Isaak Thomas zurückgeht (vgl. Merton 1995: 391). Die Schattierungen des Ökofeminismus sind vielseitig. Für viele Autoren, wie zum Beispiel Janet Biehl (1991), stellt Ökofeminismus einen Versuch dar, linke politische Theorie mit Feminismus und Ökologie zu verbinden. 113

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Vgl. Footnotes: Newsletter of the American Sociological Association 33 (3): 10, 2005. Ende Februar 2006 räumt Summers seinen Posten dann offiziell aus anderen Gründen. Seine umstrittene Äußerung zu angeborenen Unterschieden zwischen Männern und Frauen hatte hier aber sicherlich eine gewisse Bedeutung. Rossi übernahm 1983 die 74. Präsidentschaft der »American Sociological Association« (ASA). Ihre Ansprache unter dem Titel »Gender and Parenthood« (Rossi 1984) stellte eine konsequente Weiterentwicklung der hier vorgestellten Arbeiten von Rossi dar. Eine ausführliche Darstellung dieser Entwicklung findet sich in Degler (1991: 293-309), allerdings vor dem Hintergrund darwinistischen Gedankenguts in der amerikanischen Öffentlichkeit. Karl Wilhelm von Baden-Durlach gründete die Stadt im Jahre 1715 entlang strahlenförmiger Alleen, die von seinem Schloss ausgingen. Er plante, sich eine neue fürstliche Residenz zur eigenen künftigen »Ruhe und Gemütsergötzung« zu erbauen: »Carlos Ruhe«. Ringstraßen beschreiben Kreise um die Anlage und suggerieren den Eindruck vollkommener Geschlossenheit. Die Stadt spiegelt damit neben dem Kreislauf des Organismus weitere Leitbilder des 18. Jahrhunderts wider: Gleichgewicht und lineare Ordnung. Jonathan Turner (1985) schlug daher vor, Darwin einen »biologischen Spencerianer« zu nennen, anstatt weiterhin von Spencer als einem »Sozialdarwinisten« zu sprechen. Der geneigte Leser mag sich fragen: Wo bleibt hier Marx? Marx war sicherlich ein für die Soziologie relevanter Autor, aber mit der Institutionalisierung der Soziologie und der Suche des Fachs nach einem Untersuchungsobjekt hatte er selbst nichts zu tun. Zudem wurden Marx’ Naturverständnis und seine proto-ökologischen Ideen an vielen Stellen bereits eingehend behandelt. Zur heutigen Bedeutung der ›grünen Seite‹ von Marx in der Ökologiediskussion und der Soziologie siehe Benton (1996), Foster (2000) oder Järvikoski (2005) und für die aktuelle Umweltsoziologie insbesondere Kapitel VII/4 unten. Nach Studien in Deutschland beendete Small seine Doktor114

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arbeit 1889 an der Johns Hopkins University. Nach einer Zwischenphase am Colby College wurde er nach Chicago berufen, um eine der größten und bis heute einflussreichsten Lehr- und Forschungsstätten der Soziologie aufzubauen (Abbott 1999; Dibble 1975; Hayes 1927). Eine ausführliche Diskussion hierzu findet sich in Groß (2004). Zu Durkheims Debatte mit französischen Geographen seiner Zeit über sehr ähnliche Fragen bezüglich des Objektund Untersuchungsbereiches der Soziologie und der Geographie vgl. Berdoulay (1978). Zu einer Diskussion der deutschen Soziologie und ihrem Verhältnis zur französischen Geographie um 1900 siehe anschaulich Gephart (2004). Eine weiter gefasste Interpretation von Durkheims Konzept soziologischer Tatsachen findet sich in Groß (2001: Kap. 2) und Järvikoski (2005). Die Auflistung dieser Formen von Umwelten in Goodes Essay erinnert stark an die des Soziologen Franklin Giddings (1901). In dieser Veröffentlichung will Goode explizit nicht das Gebiet der physischen Geographie verlassen. Er schreibt, dass das Buch vom Standpunkt einer »geologist’s vision« (Goode 1926: 3) verfasst wurde. Dennoch: In der Einführung beschrieb er die Großstadt als »shaped like a doughnut« (ebd.: 1) und beschreibt weiter, die Stadt sei ein »system in dynamic equilibrium. […] It is a vortex, into which there is a continual flow of people and of food and other commodities, and out of which there is a flow of people and of goods more or less transformed.« (Ebd.: 1f.) Die einzige Ausnahme bildet das Werk der Klimatologin Ellen C. Semple (1911). Im Deutschen werden die Termini »Human-« und »Antropogeographie« synonym verwandt. Die Sozialgeographie wird gewöhnlich als ein Teilbereich der Humangeographie angesehen. Über das, was »Sozialgeographie« genau ist, gibt es aber unterschiedliche Auffassungen. Einigkeit besteht darüber, dass das Ziel der Sozialgeographie die Erforschung des Gesellschafts-Raum-Verhältnisses ist, und dass diese 115

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damit offiziell den sozialwissenschaftlichen Teilbereich der Geographie darstellt (vgl. Werlen 2000: 19). Dieses Buch wird oft fälschlicherweise als Ursprung und als erste schriftliche Fixierung des Begriffs Humanökologie (human ecology) betrachtet. Zu Parks Erfahrungen mit der Geographie (insbesondere der Kartographie) durch sein Studium in Deutschland unter Alfred Hettner siehe Entrikin (1980), Groß (2001) oder Lindner (1990). Windelbands (1900) berühmtes Kapitel zur Unterscheidung zwischen nomothetischer and idiographischer Wissenschaft wurde zum ersten Mal von Park im Einführungsbuch von Park und Burgess (1921: 8-10) ins Englische übersetzt. Es war für ihn zum Beispiel selbstverständlich, sich in den späten 1920er und den frühen 1930er Jahren der »Ecology Group« an der Universität von Chicago anzuschließen, an der die bekanntesten Ökologen und Zoologen der Zeit teilnahmen (Shore 1987: 103, siehe aber Mitman 1992: 92). Dass die Geographie stark von der Soziologie Notiz nimmt, umgekehrt aber nicht, zeigt anschaulich Kramer (2003). Allein ein Blick in die rennommierte Zeitschrift »Progress in Human Geography« zeigt, wie viele soziologische Autoren hier zum Zitier-Kanon gehören, wohingegen geographische Arbeiten in den Mainstream-Zeitschriften der Soziologie so gut wie gar nicht wahrgenommen werden. Für eine ausführlichere Diskussion neuerer Arbeiten zur Akteur-Netzwerk-Theorie und verwandter Ansätze siehe Brown/Groß (2002). Eine erste Übersetzung der wichtigen Arbeiten der ANT ins Deutsche findet sich in Belliger/Krieger (2006). Reine Mensch-Technik-Interaktionen sind ebenfalls ein wichtiges Thema der Wissenschaftssoziologie. Für weiterführende Diskussionen zu diesem Themenkomplex siehe Braun-Thürmann (2002) sowie Rammert/Schulz-Schaeffer (2002). In seinem neuesten Buch schreibt Latour, er habe die Rede von der Symmetrisierung mittlerweile aufgegeben, »when I realized that readers concluded from it that nature and socie116

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ty had to be ›maintained together‹ so as to study ›symmetrically‹ ›objects‹ and ›subjects‹, ›non-humans‹ and humans« (Latour 2005: 76). Doppelte Kontingenz ist ein von Parsons geprägter und von Luhmann aufgegriffener und weiterentwickelter Begriff, mit dem verdeutlicht werden soll, dass alles Erleben und Handeln immer auch von anderen Menschen und damit von beidseitiger Ungewissheit abhängt. Als wichtige Autoren seit dem Zweiten Weltkrieg wären neben dem oben diskutierten Otis Duncan noch William Burch (1971), Walter Firey (1960), Jack Gibbs und Walter Martin (1959), Amos Hawley (1950), Leo Schnore (1961) oder Samuel Klausner (1971) auf nordamerikanischer Seite zu nennen. Auf europäischer Seite sind verschiedene Schriften des »Frankfurter Instituts für Sozialforschung« (vgl. Wehling 2002), Arbeiten aus der Siedlungs- und Agrarsoziologie (z.B. von Blanckenburg 1962; Schäfers 1968) sowie der Industriesoziologie (Jarre 1975, 1976) zu erwähnen. Die hieraus hervorgehenden Arbeiten bis ca. 1970 wirkten jedoch allgemein nicht besonders stark in den (ex-post definierten) soziologischen Mainstream hinein. Ich greife hier diese beiden Autorenpaare heraus, weil sie die folgende Dreiteilung am anschaulichsten präsentieren. Die Einteilung findet sich in der einen oder anderen Form aber bei nahezu allen europäischen und nordamerikanischen Autoren der Umweltsoziologie. Siehe hier stellvertretend nur Diekmann/Preisendörfer (2001) oder die Beiträge in Dunlap et al. (2002). Selbstverständlich ist dies eine grobe Vereinfachung und man wird verschiedenste Schattierungen von Realismus/Naturalismus, Konstruktivismus und eine Verbindung beider Perspektiven finden, die sich in der folgenden Beschreibung nicht klar verorten lassen. Für illustrative Zwecke ist diese Einteilung und die synonyme Verwendung der Begriffe Realismus und Naturalismus äußerst hilfreich. Diese Form eines ›impliziten‹ Naturalismus findet sich anschaulich bei Douglas (1992) oder Macnaghten/Urry (1998). Zum allgemeinen Problem der Voraussetzung einer stati117

schen Natur als Hintergrundschablone in sozialkonstruktivistischen Untersuchungen siehe anschaulich Woolgar (1983) und Woolgar/Pawluch (1985).

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Einsichten. Themen der Soziologie Raj Kollmorgen Gesellschaftstransformation

Holger Braun-Thürmann Innovation

Dezember 2006, ca. 120 Seiten, kart., ca. 12,00 €, ISBN: 3-89942-492-1

2005, 118 Seiten, kart., 11,50 €, ISBN: 3-89942-291-0

Andreas Ziemann Soziologie der Medien

Robert Gugutzer Soziologie des Körpers

September 2006, ca. 130 Seiten, kart., ca. 12,50 €, ISBN: 3-89942-559-6

2004, 218 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN: 3-89942-244-9

Boris Holzer Netzwerke

Rolf Eickelpasch, Claudia Rademacher Identität

September 2006, 130 Seiten, kart., 12,50 €, ISBN: 3-89942-365-8

Matthias Groß Natur September 2006, 142 Seiten, kart., 13,00 €, ISBN: 3-89942-340-2

Dirk Baecker Wirtschaftssoziologie Mai 2006, 188 Seiten, kart., 15,00 €, ISBN: 3-933127-36-X

Helmut Willke Global Governance Februar 2006, 152 Seiten, kart., 13,50 €, ISBN: 3-89942-457-3

Raimund Hasse, Georg Krücken Neo-Institutionalismus (2., komplett überarbeitete Auflage) 2005, 136 Seiten, kart., 13,50 €, ISBN: 3-933127-28-9

2004, 138 Seiten, kart., 12,00 €, ISBN: 3-89942-242-2

Gabriele Abels, Alfons Bora Demokratische Technikbewertung 2004, 142 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN: 3-89942-188-4

Frank Eckardt Soziologie der Stadt 2004, 132 Seiten, kart., 12,00 €, ISBN: 3-89942-145-0

Stefan Kühl Arbeits- und Industriesoziologie 2004, 182 Seiten, kart., 13,80 €, ISBN: 3-89942-189-2

Rainer Schützeichel Historische Soziologie 2004, 142 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN: 3-89942-190-6

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Einsichten. Themen der Soziologie Hannelore Bublitz Diskurs

Paul B. Hill Rational-Choice-Theorie

2003, 122 Seiten, kart., 11,50 €, ISBN: 3-89942-128-0

2002, 92 Seiten, kart., 9,50 €, ISBN: 3-933127-30-0

Ansgar Thiel Soziale Konflikte 2003, 102 Seiten, kart., 10,50 €, ISBN: 3-933127-21-1

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Jörg Dürrschmidt Globalisierung 2002, 132 Seiten, kart., 12,00 €, ISBN: 3-933127-10-6

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Martin Endreß Vertrauen 2002, 110 Seiten, kart., 10,50 €, ISBN: 3-933127-78-5

Urs Stäheli Poststrukturalistische Soziologien 2000, 88 Seiten, kart., 10,50 €, ISBN: 3-933127-11-4

Theresa Wobbe Weltgesellschaft 2000, 100 Seiten, kart., 10,50 €, ISBN: 3-933127-13-0

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Einsichten. Themen der Soziologie Sabine Maasen Wissenssoziologie 1999, 94 Seiten, kart., 10,50 €, ISBN: 3-933127-08-4

Volkhard Krech Religionssoziologie 1999, 100 Seiten, kart., 10,50 €, ISBN: 3-933127-07-6

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