Kind und Natur: Die Bedeutung der Natur für die psychische Entwicklung [5. Aufl.] 9783658212759, 9783658212766

Der Mensch ist als Teil der Natur im biologisch-materiellen Sinne an den Zustand der Natur gebunden. Ulrich Gebhard geht

709 55 25MB

German Pages IX, 406 [407] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-IX
Einleitung (Ulrich Gebhard)....Pages 1-6
Die psychische Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt (Ulrich Gebhard)....Pages 7-35
Was ist „Natur“? (Ulrich Gebhard)....Pages 37-50
Die Beseelung der Natur (Ulrich Gebhard)....Pages 51-77
Zur Funktion von Naturerfahrungen in der Kindheit (Ulrich Gebhard)....Pages 79-113
Zur Bedeutung der Naturästhetik (Ulrich Gebhard)....Pages 115-126
Naturerfahrung und Gesundheit (Ulrich Gebhard)....Pages 127-140
Naturerfahrung und Umweltbewusstsein (Ulrich Gebhard)....Pages 141-151
Anthropologische Aspekte des Mensch-Natur-Verhältnisses (Ulrich Gebhard)....Pages 153-162
Kinder und Tiere (Ulrich Gebhard)....Pages 163-211
Angst und Ekel vor Tieren (Ulrich Gebhard)....Pages 213-240
Kinder und Pflanzen (Ulrich Gebhard)....Pages 241-259
Kind und Tod (Ulrich Gebhard)....Pages 261-290
Zur Wahrnehmung und psychischen Verarbeitung der Umweltzerstörung (Ulrich Gebhard)....Pages 291-327
Ein Gespräch über Bäume (Ulrich Gebhard)....Pages 329-338
Back Matter ....Pages 339-406
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Kind und Natur: Die Bedeutung der Natur für die psychische Entwicklung [5. Aufl.]
 9783658212759, 9783658212766

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Ulrich Gebhard

Kind und Natur Die Bedeutung der Natur für die psychische Entwicklung 5. Auflage

Kind und Natur

Ulrich Gebhard

Kind und Natur Die Bedeutung der Natur für die psychische Entwicklung 5., aktualisierte Auflage

Ulrich Gebhard Universität Hamburg Hamburg, Deutschland

ISBN 978-3-658-21275-9 ISBN 978-3-658-21276-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-21276-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detail­ lierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 1994, 2001, 2009, 2013, 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Laux Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort zur 5. Auflage

Seit dem ersten Erscheinen von „Kind und Natur“ im Jahre 1994 hat sich die nationale und auch internationale Forschung auf diesem Gebiet sehr entwickelt und ist kaum noch zu überschauen. Die damit verbundene Vielfalt habe ich mit der nun vorliegenden 5. Auflage zum Anlass genommen, die sehr verzweigte Forschungsaktivität zu den verschiedenen thematischen Akzenten (Naturerfahrung, Tiere, Pflanzen, Landschaften, Gesundheit, Ästhetik, Naturbeseelung, Angst, Tod, ökologische Krise u.v.m.) in einem Buch zu versammeln und aufeinander zu beziehen. Ich danke dem Verlag für die erneute Aufnahme in das Programm und Viktoria Böther für das sorgfältige Lektorat.

Hannover, im Mai 2020 Ulrich Gebhard

V

Inhalt

1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Die psychische Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.1 Ein dreidimensionales Persönlichkeitsmodell als Bezugsrahmen . . . . . . . . . . 7 2.2 Zur Psychoanalyse der nichtmenschlichen Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.2.1 Verbundenheit zwischen Mensch und nichtmenschlicher Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2.2.2 Differenzierung und das Bedürfnis nach „Objekten“ . . . . . . . . . . . . . 16 2.2.3 Die Situation bei Erwachsenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.3 Der Mensch als „animal symbolicum“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.4 Naturerfahrungen als Übergangsphänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.5 Zur Entsprechung von innerer Natur und äußerer Natur: Naturverhältnis und Selbstverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3 Was ist „Natur“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Aspekte des Naturbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Zum Naturbegriff von Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Natur als sinnstiftende Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Systematisierungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4 Die Beseelung der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 „Johann, der Spitzwegerich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Animistisches und anthropomorphes Denken bei Kindern . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Abbau der animistischen Denkhaltung durch Erziehung und Schule . . . . . 4.4 Psychoanalytische Betrachtungen: Primärer Narzissmus und Naturbeseelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 „Subjektivierung“ und „Objektivierung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Bewusster Umgang mit Anthropomorphismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51 51 52 60 61 65 68

VII

VIII

Inhalt

5 Zur Funktion von Naturerfahrungen in der Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 5.1 „Brauchen“ Kinder Natur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 5.2 Beobachtungen und Befunde zu Naturerfahrungen in der Kindheit . . . . . . 84 5.3 Angst vor und in der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 5.4 Brachen und „Naturerfahrungsräume“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 5.5 Zum Zusammenhang von Natur- und Sozialerfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . 111 6 Zur Bedeutung der Naturästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Naturästhetik bei Kindern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Ästhetisierung als Moralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Kulisse und Atmosphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Das Naturschöne als Element eines guten Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

115 116 119 122 124

7 Naturerfahrung und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Natur als Therapie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Ausgewählte empirische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Synergien von Naturerfahrung und Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Natur als salutogener Faktor: Symbolische Valenzen von „Natur“ . . . . . . .

127 127 129 133 135

8 Naturerfahrung und Umweltbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Naturbeziehung und Naturverbundenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Naturerlebnisse und Umweltbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Naturerlebnis und Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

141 141 144 148

9 Anthropologische Aspekte des Mensch-Natur-Verhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . 153 10 Kinder und Tiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Die emotionale Bedeutung von Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Empirische Hinweise zu den Wirkungen von Heimtieren auf Kinder . . . . 10.3 Welche Tiere werden von Kindern besonders geschätzt? . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Die besondere Beziehung von Mädchen zu Pferden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5 Welchen Begriff haben Kinder vom Tier? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6 Tierquälerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.7 Therapie mit Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.8 Kinder und Nutztiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.9 Zum Problem der Anthropomorphisierung von Tieren . . . . . . . . . . . . . . . .

163 163 169 177 184 189 196 200 205 210

11 Angst und Ekel vor Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Bei welchen Tieren verspüren Kinder Angst und Ekel? . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Angeborene Dispositionen für Angst vor Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Psychoanalytische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Bemerkungen zum Ekel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

213 213 223 227 232

Inhalt

IX

11.5 Zum pädagogischen Umgang mit Angst und Ekel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 12 Kinder und Pflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Das Interesse von Kindern an Pflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Zur Lebendigkeit von Pflanzen in der kindlichen Vorstellung . . . . . . . . . . . 12.3 Die emotionale Bedeutung von Pflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4 Anthropomorphes Verständnis von Pflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

241 242 247 251 255

13 Kind und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1 Tod, Verdrängung und lebendige Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Tot oder lebendig? Zum Lebensbegriff von Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3 Das kindliche Todesverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4 Angst vor dem Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.5 Formen kindlicher Trauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.6 Zum pädagogischen Umgang mit dem Thema Tod und Sterben . . . . . . . . .

261 261 263 271 280 284 287

14 Zur Wahrnehmung und psychischen Verarbeitung der Umweltzerstörung . . 14.1 Angst, Verdrängung, Gelassenheit, Verantwortung. Reaktionsweisen auf die ökologische Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2 Empirische Befunde zur Wahrnehmung der ökologischen Krise bei Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2.1 Angst und Bedrohung: Wahrnehmung der Umweltsituation in den 80er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2.2 Zukunftsoptimismus und Pragmatik: Die Wahrnehmung der ökologischen Situation in den 90er Jahren und zu Beginn des neuen Jahrtausends . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2.3 Aktivität: Umweltengagement in Zeiten von Fridays for Future . . 14.3 Kinder und Umweltzerstörung. Psychodynamische Überlegungen . . . . . . 14.3.1 Die Wahrnehmung der Umweltsituation und die Angst davor werden oft abgewehrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.2 Die Umweltzerstörung hat psychische Folgen, auch wenn sie nicht bewusst wahrgenommen wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.3 Identifikation mit Naturphänomenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.4 Die Bedeutung von ökologischem Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.5 Exkurs: Todesverdrängung und Umweltzerstörung . . . . . . . . . . . . . . 14.3.6 Die ökologische Krise beeinflusst das Verhältnis zwischen den Generationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

291 291 293 293

295 298 302 302 306 308 310 316 322

15 Ein Gespräch über Bäume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 IX

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Einleitung 1 Einleitung 1 Einleitung

Wir sind so gern in der Natur, weil diese keine Meinung über uns hat. (Friedrich Nietzsche) Natur ist für mich, wenn die Vögel singen, die Sonne scheint, und wenn es ab und zu auch mal regnet, wenn man baden gehen kann, die Bäume schön blühen, wenn überall Nester drauf sind – das stell’ ich mir unter Natur eigentlich vor. (Stefan, 7 Jahre)

Angesichts der ökologischen Situation und der öffentlichen Diskussion darüber ist es keine Frage mehr, dass der Mensch als Teil der Natur unmittelbar im materiellen, biologisch– ökologischen Sinn mit dem Zustand der Natur verknüpft ist und dass die Zerstörung der Natur auch die konkreten materiellen Lebensbedingungen der Menschen einschränkt und die Gesundheit gefährdet (Gundermann 1997). Luftverschmutzung, Wasserzustand, Waldsterben, Gifte in Nahrungsmitteln sind hierfür nur Stichworte. Kinder leiden daran im auch medizinischen Sinne in besonderer Weise. Darum geht es in diesem Buch nicht. Es geht vielmehr um die psychische Seite dieses grundlegenden ökologischen Zusammenhangs, und zwar, wie er sich in der Entwicklung von Kindern darstellt. Schon Alexander von Humboldt wollte bei der Erforschung der Natur „nicht bei den äußeren Erscheinungen allein verweilen“, sondern hatte die Vorstellung, die Natur auch so zu erforschen, „wie sie sich im Inneren der Menschen abspiegelt“ (Humboldt 1845). Dass äußere Natur psychisch wirksam ist, also eine Bedeutung auch für die psychische Entwicklung hat – so der Untertitel des vorliegenden Buches –, ist nur auf den ersten Blick eine triviale Aussage. Auf den zweiten Blick entpuppt sie sich nämlich als eine Fragestellung, die in besonderer Weise der Erklärung und Differenzierung bedarf. Vor allem wissen wir wenig darüber, von welcher Art und Qualität die nichtmenschliche „äußere Natur“ sein sollte, um die Entwicklung der „inneren Natur“ des Menschen zu fördern. Darüber, wie die menschliche Umwelt in den ersten Lebensjahren aussehen sollte, wissen wir mehr, beispielsweise, dass dazu eine haltende Atmosphäre (Winnicott 1974) und verlässliche Bezugspersonen gehören.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Gebhard, Kind und Natur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21276-6_1

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1 Einleitung

Dieses Buch behandelt die Frage, welche Bedeutung „Natur“ im Leben von Kindern bis etwa zur Pubertät hat. Dazu werden theoretische Annahmen und empirische Forschungsergebnisse zusammengetragen, und es wird diskutiert, wie sich äußere lebendige Natur psychisch vermittelt und auch, wie sich ein entsprechender Mangel auswirkt. Diese Fragestellung enthält dreierlei Implikationen: 1. Erstens eine phänomenologische: Welchen konkreten Naturphänomenen wenden sich Kinder zu, welche bevorzugen sie, von welchen wenden sie sich ab, vor welchen haben sie Angst, usw. Es geht bei diesen Überlegungen um den Bezug zur äußeren Natur. Das kindliche Verhältnis zur eigenen Natur, das Verhältnis zum Körper beispielsweise, wird hier nicht behandelt. Es geht um äußere lebendige Naturphänomene (zum Naturbegriff siehe Kapitel 3). 2. Zweitens eine psychologische: Welche innere, psychische Bedeutung haben äußere Naturphänomene? Hierbei wird untersucht, in welcher Weise „Natur“ psychodynamisch als Symbol verwendet wird und wirkt. Dieser Aspekt der Fragestellung, nämlich wie sich Natur symbolisch „im Inneren der Menschen abspiegelt“ (Humboldt), ist das zentrale Thema dieses Buches, wobei auch darzulegen und zu begründen sein wird, dass „Natur“ tatsächlich in psychischer (und nicht nur in biologisch-ökologischer) Hinsicht für den Menschen bedeutsam ist (siehe vor allem Kapitel 2). Wegen des besonderen Stellenwerts der frühen Kindheit, mit deren Verständnis auch spätere Lebensabschnitte besser verstanden werden können, steht dabei die Situation von Kindern im Mittelpunkt. 3. Drittens schließlich ist die Fragestellung auch von praktischer Bedeutung. Das gilt für die Familienerziehung gleichermaßen wie für andere Bereiche: vom Kindergarten über Stadt- und Landschaftsplanung bis zum Biologieunterricht in den Schulen. Die Frage nach „Naturbeziehungen“ ist bedeutsam für den Städtebau, die Landschaftsplanung, die Architektur von öffentlichen wie privaten Gebäuden, für therapeutische Anwendungen wie tiergestützte Therapie oder Gartentherapie. Sie ist auch wichtig für die Reflexion der psychischen Bedingungen für den Naturschutz. Das kindliche Verhältnis zur Natur soll dabei nicht vorschnell unter dem Blickwinkel pädagogischer oder anderer anwendungsbezogener Ziel- und Wunschvorstellungen betrachtet werden. Das Thema „Kind und Natur“ ist zwar für die Pädagogik von Belang, es wird hier jedoch primär als ein psychologisches behandelt, das das Verhältnis von Kind und lebendiger Natur beleuchtet und erst sekundär auf Anwendungsfelder bezogen wird. An geeigneten Stellen wird allerdings auch auf pädagogische Implikationen und Konsequenzen hingewiesen. Die Frage, welche psychische Bedeutung Naturphänomene in der kindlichen Entwicklung haben, ist gerade für diejenigen relevant, die im Hinblick auf das Verhältnis zu und das Interesse für Natur pädagogisch wirken wollen. Für die Umwelterziehung und den Biologieunterricht beispielsweise ist es von zentraler Bedeutung, die psychologischen Bedingungen zu verstehen, die der (auch kognitiven) Beschäftigung mit Natur zugrunde liegen. Insofern soll die vorliegende Studie auch für solche Belange eine Grundlage sein. Bereits in den fünfziger Jahren hat Plötz (1970) hierzu ein kleines

1 Einleitung

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lesenswertes Bändchen vorgelegt, das vor dem Hintergrund theoretischer Annahmen vor allem von Piaget psychologische Beobachtungen als Grundlage der „Naturkunde in der Volksschule“ zusammenstellt. Plötz legt seine Ausführungen entwicklungspsychologisch (im Sinne einer Phasenlehre) an und überlegt, „welche Interessen und welche Weisen der Gegenstandserfassung“ im Hinblick auf die Gegenstände des naturkundlichen Unterrichts in den Kindern „jeweils zur Entfaltung drängen“ (Plötz 1970, S. 7). Eine solche „Entwicklungspsychologie“ wird hier nicht versucht. Vielmehr werden einzelne zentrale Aspekte des kindlichen Naturbezugs vor dem Hintergrund theoretischer Vorannahmen reflektiert und auch miteinander in Beziehung gesetzt. In dem vorliegenden Band geht es vor allem um den emotionalen Bezug zur Natur und nicht so sehr um das (kognitive) Interesse an Natur beziehungsweise an naturwissenschaftlichen Themen, wenngleich natürlich beide Aspekte letztlich zusammengehören und aufeinander bezogen werden müssten (vgl. Gebhard 1988 a und b, Löwe 1987). Es geht also eher um die Beziehung (beispielsweise) zu Heimtieren oder zu Pflanzen als um das Interesse an (beispielsweise) Photosynthese oder Evolutionslehre. Die Fragestellung, welche psychische Funktion beziehungsweise welchen Stellenwert (äußere) Naturphänomene für Kinder haben, ist zunächst auch abgekoppelt von der Absicht, ihnen etwas beizubringen. Es gilt zunächst, sie zu verstehen. Diese Eingrenzung hat allerdings den Vorzug, dass die kindliche Beziehung zu Naturphänomenen (Tiere, Pflanzen, Wälder, Wiesen, zerstörte Umwelt) zunächst als ein Thema behandelt werden kann, das eine grundlegende Frage menschlichen Lebens betrifft, nämlich das psychische Verhältnis des Menschen zur Natur – eine Frage, die in der traditionellen Psychologie lange Zeit nicht einmal gestellt wurde (siehe Kapitel 2). Es kommt also vor jeder politischen oder umwelterzieherischen Zielsetzung darauf an, zu erkunden und zu sehen, welche Beziehung Kinder überhaupt zu lebendigen Naturphänomenen haben. Dabei ist die spontane Geste in den kindlichen Naturkontakten unbedingt zu achten, geradezu zu schützen. Deshalb ist das „Atmosphärische“ beim Spielen in der Natur weitaus wichtiger als alle möglichen biologischen, umweltpädagogischen oder sonstigen Lernprozesse, die natürlich auch in der Natur möglich sind. Bildungsprozesse in der Natur setzen vor allem auf Persönlichkeitsbildung und -stärkung, indem sie die besagte spontane Geste des Kindes und damit sein Autonomiebedürfnis nicht ins Leere laufen lassen. So besteht ein wesentlicher Wert von Naturerfahrungen in der Freiheit, die sie vermitteln können. Es ereignet sich die Wirkung von Natur nämlich vor allem beiläufig und nebenbei. Kinder machen Erfahrungen mit der Natur unabhängig von jeder pädagogischen Einflussnahme. Sie spielen im Wald, klettern auf Bäume, bauen sich Buden, kümmern sich um ihre Katze oder gießen Blumen, haben aber auch Angst vor bellenden Hunden, vor Spinnen, ekeln sich vor Würmern, sind traurig angesichts des Todes eines Heimtieres. Kinder machen auch dann Erfahrungen mit der Natur, wenn diese – wie in den „unwirtlichen Städten“ (Mitscherlich 1965) – zerstört oder nur reduziert oder verkümmert vorhanden ist. Auch hier gibt es (beispielsweise) Hinterhöfe, Insekten, Pflasterritzenvegetation, Hunde. 3

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1 Einleitung

Ein Anliegen dieses Buches ist es somit, Beobachtungen und Befunde darüber zusammenzustellen, welche psychische Bedeutung Naturphänomene im Leben der Kinder haben. Die Daten, die es hierzu gibt, stammen aus den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen (Architektur, Forstwissenschaft, Landespflege, Gartenbau, Städteplanung, Tiermedizin, Ethologie, Ethnologie, Medizin, Psychologie, Psychotherapie, Soziologie, Biologie, Erziehungswissenschaft, Didaktik). Seit der 1. Auflage dieses Buches sind hierzu eine Reihe von Rewiews und andere systematische Darstellungen erschienen (z. B. Gill 2014, Huppertz/Schatanek 2015, Raith/Lude 2014, Späker 2017, Weber 2016). Die Aufgabe besteht zunächst darin, diese vorliegenden Befunde systematisch zu sammeln und aufeinander zu beziehen. Darüber hinaus werden diese Beobachtungen und Befunde theoretisch reflektiert und eingeordnet. Das Thema „Kind und Natur“ wird dabei auch als ein Kapitel der Umweltpsychologie behandelt. Vor allem vor dem theoretischen Hintergrund der Psychoanalyse wird versucht, die vielfältigen, zum Teil widersprüchlichen Befunde zum Verhältnis von Kindern zu Naturphänomenen zu systematisieren. Vieles spricht dafür, dass das menschliche Verhältnis zur Umwelt und zur lebendigen Natur in weiten Teilen unbewusst ist (vgl. Ittelson et al. 1977); insofern kann die Psychoanalyse, die sich systematisch mit dem Unbewussten befasst, einen geeigneten begrifflichen Rahmen bieten, Aspekte des menschlichen Verhältnisses zur Natur zu beschreiben. So soll im Folgenden auch versucht werden, die Psychoanalyse für ökopsychologische Fragestellungen zu erschließen. Dass das menschliche Verhältnis zur Natur im Wesentlichen als ein unbewusstes angesehen werden muss, wird übrigens sowohl in der Umweltpolitik (Steurer 1998) als auch in der Umweltpädagogik zwar gesehen, aber viel zu wenig beachtet (Holfelder/Gebhard 2016). Sonst könnte nämlich der Stellenwert rationaler Einsicht in beiden Feldern nicht so überschätzt werden. Nun hat sich die Psychoanalyse (bislang) vor allem mit der Genese und Dynamik intra- und interpsychischer Prozesse beschäftigt und nur wenig mit der psychischen Funktion der nichtmenschlichen Umwelt. Unter „Objekten“ werden im Rahmen der Psychoanalyse immer Personen verstanden. Deshalb wird, bevor wir ab Kapitel 4 zur psychischen Bedeutung von einzelnen Naturphänomenen kommen, zunächst ein theoretischer Rahmen darüber geschaffen, welche Bedeutung überhaupt die nichtmenschliche Umwelt in der psychischen Entwicklung hat. Auf der Grundlage dieser theoretischen Vorklärungen können dann einzelne Aspekte des kindlichen Naturbezugs behandelt werden. Zum Aufbau des Bandes Zunächst soll erörtert werden, welche psychische Bedeutung die nichtmenschliche Umwelt (im Unterschied zur menschlichen) für den Menschen hat (Kapitel 2). Es werden Grundannahmen der ökologischen Psychologie und Positionen der Psychoanalyse zusammengestellt und zum Teil miteinander verknüpft. Dabei werden zusätzlich über die Psychoanalyse hinausgehend symboltheoretische Grundannahmen expliziert. Diese Überlegungen haben im Gesamtzusammenhang des Buches die Funktion, die Annahme, dass „Natur“ auch psychisch bedeutsam ist, theoretisch zu fundieren. Nur so können nämlich im Weiteren plausible Annahmen darüber formuliert werden, welchen psychischen Wert

1 Einleitung

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einzelne Naturphänomene haben. Eine besondere Rolle wird dabei der Ansatz von Searles spielen, außerdem symboltheoretische Ansätze. Oft wird, wenn es um die Bedeutung von Naturerfahrungen geht, der Begriff „Natur“ gleichsam als Zauberformel oder geradezu als Werbeträger benutzt, was „Natur“ sozusagen vor jeder Reflexion als „gut“ erscheinen lässt. Um dieser Gefahr zu entgehen, werden in Kapitel 3 einige Aspekte des Naturbegriffs zusammengestellt. Dabei wird der ästhetisch-symbolische Aspekt des Naturbegriffs als für unsere psychologische Fragestellung besonders geeignet herausgestellt. Das 4. Kapitel dient der Reflexion des Phänomens, dass Kinder (und übrigens auch Erwachsene) dazu neigen, Naturphänomene animistisch zu besetzen, zu beseelen; vor allem Tiere und ihre Verhaltensweisen werden oft auf anthropomorphe Weise interpretiert. Die „Beseelung der Natur“ wird vor dem Hintergrund der im 2. Kapitel entfalteten Zusammenhänge über die Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt, empirischen Animismusstudien und psycho-analytischer Annahmen zum primären Narzissmus auf eine neue Weise interpretiert. Als Ergebnis wird damit ein neuer, reflektierterer Umgang mit Anthropomorphismen nahegelegt, der anerkennt, dass in Anthropomorphismen nicht nur ein (manchmal unangemessenes) Verständnis von Naturphänomenen, sondern auch eine emotionale Beziehung zu ihnen zum Ausdruck kommt, die ihrerseits auch eine Bedingung sowohl für Erkenntnis als auch Anerkenntnis von der Natur ist. Im 5. Kapitel werden zahlreiche Untersuchungen darüber zusammengetragen, welchen psychischen Wert Naturerfahrungen in der Entwicklung von Kindern haben. Es geht dabei um die These, dass Kinder auf das Fehlen von natürlichen Elementen auch seelisch besonders empfindlich reagieren beziehungsweise positiv formuliert, dass Naturerfahrungen für Kinder psychisch besonders stimulierend sind. Im 6. Kapitel geht es um die kontrovers diskutierte Frage, welche Bedeutung das „Naturschöne“ bereits für Kinder hat. Ausgehend von Kants These, dass eine Versenkung in die als schön empfundene Natur gewissermaßen zu einer Veredelung des Menschen führe, wird unter Berücksichtigung von empirischen Befunden die für Kinder zentrale Funktion des aktiv-handelnden Umgangs mit der Natur mit naturästhetischen Kategorien in Beziehung gebracht. Immer wichtiger werden im Naturdiskurs gesundheitsbezogene Argumente. Der Zusammenhang von Naturerfahrung und psychischer wie physischer Gesundheit wird im 7. Kapitel behandelt. Auch hier kann auf eine Vielzahl von empirischen Studien zurückgegriffen werden. Die gesundheitsförderliche Wirkung von Naturerfahrungen wird interpretiert vor dem Hintergrund des Konzepts der Salutogenese. Häufig wird eine Verbindung (vor allem in der sogenannten Erlebnispädagogik) hergestellt zwischen positiv getönten Naturerfahrungen vor allem in der Kindheit und einer besonderen Wertschätzung von Natur. Dieser Zusammenhang von Umweltbewusstsein und Naturerfahrung wird im 8. Kapitel (kritisch) hergestellt. Dabei wird die besondere Bedeutung intuitiver und emotionaler Zugänge zur Natur theoretisch ausgeleuchtet.

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1 Einleitung

Im Anschluss daran werden einige anthropologische und evolutionsbiologische Vorstellungen bzw. Argumente für die Notwendigkeit von Naturerfahrungen kritisch diskutiert (Kapitel 9). In den folgenden Abschnitten geht es dann um konkrete Naturphänomene: Tiere (Kapitel 10) und Pflanzen (Kapitel 12). Befunde aus den unterschiedlichsten Bereichen werden zusammengetragen, um den Wert von Pflanzen und Tieren im kindlichen Leben zu beschreiben. Kapitel 11 widmet sich dem Thema „Angst und Ekel vor Tieren“, wobei vor dem Hintergrund von empirischen Studien über die Objekte der Angst und des Ekels einerseits und der psychoanalytischen Angsttheorie und einigen theoretischen Anmerkungen zum Phänomen des Ekels andererseits auch einige Thesen zum (pädagogischen) Umgang mit Angst und Ekel entwickelt werden. Man kann sich nicht mit der lebendigen Natur befassen, ohne dass dabei das Gegenteil – der Tod – zumindest unbewusst ständig präsent ist. Deshalb wird in Kapitel 13 das kindliche Todesverständnis thematisiert; ebenso werden kindliche Formen von Trauer reflektiert. Diese Ausführungen dienen zugleich als Grundlage für Kapitel 14, in dem über kindliche Vorstellungen, Wahrnehmungen und Verarbeitungsformen der Umweltzerstörung, des „Sterbens der Natur“, nachgedacht wird. Die „Fridays for Future“-Bewegung ist dafür ein aktuelles Beispiel und wird in diesem Kapitel auch ausführlich berücksichtigt werden. In der Tendenz lassen die Befunde den Schluss zu, dass Kinder den Zustand der äußeren Natur wahrnehmen beziehungsweise spüren und dass sie damit auch Angst verbinden. In einem längeren abschließenden Abschnitt wird versucht, die Befunde zur Wahrnehmung und der Umweltzerstörung unter Bezugnahme auf die psychoanalytische Verdrängungslehre, der Umweltbewusstseinsforschung und pädagogische Möglichkeiten zu reflektieren. Es wird sich dabei zeigen, dass Kinder aufgrund ihrer Sensibilität gegenüber der menschlichen und nichtmenschlichen Umwelt sehr deutliche Hinweise geben, welche (seelischen) Folgen die Distanzierung und Entfremdung von der Natur hat. Ein Anliegen des vorliegenden Buches ist es, über diese Signale nachzudenken. Gewissermaßen als Schlusswort wird am Ende des Buches ein Kindergespräch über Bäume in einigen Auszügen vorgestellt und vor dem Hintergrund der Gedanken aus den verschiedenen Kapiteln des ganzen Buches zum Verhältnis von Kindern zur Natur interpretiert.

Die psychische Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt

2 Die psychische Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt

2.1 2.1

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Ein dreidimensionales Persönlichkeitsmodell als Bezugsrahmen Ein dreidimensionales Persönlichkeitsmodell als Bezugsrahmen

Die Persönlichkeit des Menschen wird in den meisten psychologischen Schulen als das Ergebnis der Beziehung zu sich selbst und der Beziehung zu anderen Menschen verstanden. In der jeweils aktuellen Persönlichkeitsstruktur verdichten sich nach dieser Auffassung die Erfahrungen mit sich selbst und den anderen; die nichtmenschliche Umwelt – also Gegenstände, Pflanzen, Tiere, Natur, Landschaft, Bauten – spielt in einem solchen zweidimensionalen Persönlichkeitsmodell (vgl. Krampen 1987) keine oder jedenfalls nur eine untergeordnete Rolle. In zweidimensionalen Persönlichkeitsmodellen hängt nämlich die psychische Entwicklung vor allem von der Art und Qualität der menschlichen Umwelt ab. Wie wichtig beispielsweise feste Bezugspersonen für die Persönlichkeitsentwicklung in der (frühen) Kindheit sind, ist inzwischen unbestritten. Die Erfahrungen, die Kinder in den ersten Lebensjahren mit vertrauten Bezugspersonen machen, bestimmen wesentlich die Persönlichkeit und auch, mit welcher Tönung und Qualität die Welt wahrgenommen wird. Erikson (1968) hat dafür den Begriff „Urvertrauen“ eingeführt. Macht das Kind die Erfahrung, dass es geliebt und gewollt, dass es gehalten wird, so sind das gute Bedingungen für ein von Vertrauen geprägtes Verhältnis zur Welt, zu anderen Menschen und auch zu sich selbst. Das Winnicottsche Konzept des „Haltens“ akzentuiert genau diesen Gedanken (vgl. Winnicott 1974). Wie wichtig eine „haltende“ Atmosphäre gerade in frühester Kindheit ist, zeigen die systematischen Untersuchungen von Spitz (1946, 1972, 1973): Er beobachtete in Säuglingsheimen, in denen die Säuglinge gut und korrekt versorgt wurden, die Folgen von unzureichender seelischer Zuwendung. Vor allem das Fehlen einer festen Bezugsperson führte zu starken psychischen und somatischen Beeinträchtigungen und Entwicklungsrückständen. Die Bedeutung der menschlichen Umwelt soll, auch wenn sich dieses Kapitel schwerpunktmäßig mit der nichtmenschlichen Umwelt befasst, keineswegs bestritten werden. Im Gegenteil: Der Mensch als soziales Wesen kann nur vor dem Hintergrund seiner gemeinsamen Geschichte mit personalen „Objekten“ verstanden werden.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Gebhard, Kind und Natur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21276-6_2

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2 Die psychische Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt

Nun leben die Menschen aber nicht allein auf der Welt. Sie leben vielmehr in einer Welt, in der es weitaus mehr nichtmenschliche „Objekte“ gibt als menschliche. Mehr noch: Der Mensch ist als Teil und Gegenüber der Natur (vgl. Kattmann 1997) untrennbar mit all diesen nichtmenschlichen Objekten verbunden. Während es bezüglich der biologischökologischen Verflochtenheit des Menschen mit der nichtmenschlichen Natur angesichts der ökologischen Krise keine Zweifel mehr geben kann, suggeriert ein zweidimensionales Pesönlichkeitsmodell, dass man sich die psychische Genese der menschlichen Persönlichkeit unabhängig von der nichtmenschlichen Umwelt vorstellen könne. Dabei hat bereits Hellpach – sozusagen als erster Umweltpsychologe – diesen Zusammenhang thematisiert und versucht, eine allgemeine „Geopsychologie“ (Hellpach 1911) zu begründen. Auch Piaget und Inhelder (1980) unterstreichen explizit, dass und wie sehr die seelische Entwicklung von Kindern auch durch die dingliche und räumliche Umgebung, und eben nicht nur von der sozialen Umgebung beeinflusst wird. Von Dürckheim vertritt die Auffassung, dass Selbst- und Welterfahrung auf sehr subtile Weise zusammenhängen und kaum voneinander getrennt betrachtet werden können: Zwischen dem lebendigen Selbst und seinem Raum besteht ein konkretes Sinnverhältnis; denn das lebendige Selbst und der gelebte Raum stehen zueinander im Verhältnis der Verwirklichung (v. Dürckheim 1931, S. 473).

Wie sehr das menschliche Leben nur in Korrespondenz mit den Dingen der Umwelt sich vollzieht, unterstreicht auch Heidegger: Die Frage: Was ist ein Ding? ist die Frage: Wer ist der Mensch? Das bedeutet nicht, daß die Dinge zu einem menschlichen Gemächte werden, sondern heißt umgekehrt: Der Mensch ist als solcher zu begreifen, der immer schon die Dinge überspringt, aber so, daß dieses Überspringen nur möglich ist, indem die Dinge begegnen und so gerade sie selbst bleiben – indem sie uns selbst hinter uns selbst und unsere Oberfläche zurückschicken (Heidegger 1975, S. 2).

Rousseau hat in seinem erziehungsphilosophischen Werk Emile betont, dass der Mensch drei Erzieher braucht: die Natur, die Menschen und die Dinge. Die Natur entwickelt unsere Fähigkeiten und unsere Kräfte; die Menschen lehren uns den Gebrauch dieser Fähigkeiten und Kräfte. Die Dinge aber erziehen uns durch die Erfahrung, die wir mit ihnen machen, und durch die Anschauung (Rousseau 1978, S. 10).

Besonders bedeutsam sind die Dinge im Emileschen System der Erziehung übrigens in der zweiten Phase der Kindheit (bei Rousseau vom 2. bis zum 12. Lebensjahr). In dieser Zeit sollen die Dinge, also die nichtmenschliche Umwelt, bei der Entwicklung des Kindes die Hauptrolle spielen. So formuliert Rousseau (1978, S. 63) als Erziehungsregel: „Haltet das Kind von den Dingen abhängig, und ihr werdet es naturgemäß erziehen.“ Seit den 60er Jahren versucht die Ökologische Psychologie (environmental psychology, Umweltpsychologie) der traditionellen „Umweltvergessenheit“ (Kruse 1983, S. 122) ent-

2.1 Ein dreidimensionales Persönlichkeitsmodell als Bezugsrahmen

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gegenzuwirken. Mit der Ökologischen Psychologie ist das traditionelle zweidimensionale Persönlichkeitsmodell durch die dritte Dimension insofern erweitert, als dass die Wechselwirkung des Menschen auch mit der nichtmenschlichen Umwelt in den Blick gerät. Während die traditionelle Psychologie die Umwelt letztlich für psychische Prozesse als unbedeutend oder jedenfalls als nachgeordnet betrachtet, versucht die Ökologische Psychologie, Person und Umwelt in eine systematische Beziehung zu setzen. Diese Sichtweise lenkt den Blick auch auf die natürliche und dingliche Umwelt des Menschen; Mensch und Umwelt sind also in dieser Perspektive gewissermaßen „Entwicklungspartner“ (Wolf 1995). Zweifellos ist diese neue Perspektive auch ein Effekt der ökologischen Krise, durch die die natürliche und dingliche Umwelt zunehmend gefährdet wird. Dem gedankenlosen Umgang mit der Umwelt entsprach insofern auch eine Umweltvergessenheit in der Psychologie. Umwelt ist im Rahmen der Ökologischen Psychologie eine Kategorie für die Gesamtheit der relevanten Umgebung des Menschen, wozu Menschen und Dinge gleichermaßen gehören. Es wird davon ausgegangen, daß der Mensch nicht ein passiver Reizempfänger, auch nicht ein psychologisch autonomes Wesen ist, sondern in einer dialektischen Spannung zu seiner Umgebung steht, mit ihr interagiert, sie formt und von ihr geformt wird (Ittelson et al. 1977, S. 26).

Als ein entscheidender Grundgedanke muss in diesem Zusammenhang herausgestellt werden, dass das Verhältnis von Mensch und nichtmenschlicher Umwelt, das Verhältnis von Mensch und Natur als ein Interaktionsgefüge, geradezu als eine Beziehung gedacht werden muss, und nicht als ein Verhältnis des mehr oder weniger unverbundenen Gegenüber. Dieser Beziehungsaspekt ist gerade im Hinblick auf die lebendige Natur grundlegend; er ist aber auch bedeutsam bei der unbelebten Natur, beispielsweise bei Landschaften, Gewässern oder Steinen. Interessant, aber hier nicht thematisiert, ist dabei die Beziehung zu technischen Gegenständen (Schwabe 1994, Turkle 1994a). Bei der „Beseelung der Natur“ (Kapitel 4) und auch bei der Beziehung zu Tieren (Kapitel 10) und Pflanzen (Kapitel 12) wird der Beziehungsaspekt jedoch in diesem Buch in ausgesprochener Weise zum Thema gemacht (siehe auch Gebhard 2018a). Die Beziehung, die wir zu unserer Umwelt haben beziehungsweise entwickeln, ist also entscheidend. Insofern hat das Subjekt sowohl Eigenschaften, die der Umwelt entstammen, als auch solche individueller Art. Ebenso, wie das Individuum auf der einen Seite Bestandteil seiner Umwelt ist (vgl. Ittelson et al. 1977, S. 26f.), gibt es auf der anderen Seite keine materielle Umwelt, die nicht in persönliche und soziale Bezüge eingebettet wäre. Dieses Interaktionsgefüge ist nur mit dem besagten dreidimensionalen Persönlichkeitsmodell beschreibbar (siehe z. B. Hemmati-Weber 1992, Heubach 1987). Der Beziehungsaspekt wird besonders spürbar in Situationen, in denen wir „Atmosphären“ erleben. Bei Naturerlebnissen wird dies ausgesprochen deutlich. Bei Natur- und Landschaftserlebnissen erfahren wir nämlich sowohl uns selbst als auch die Natur. In Atmosphären fließen insofern Subjekt- und Objektanteile zusammen (Gebhard 2005a). Böhme (2014) begreift die

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2 Die psychische Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt

Atmosphäre als ein wesentliches Element der naturästhetischen Erfahrung; darauf wird im Kapitel zur Naturästhetik (Kapitel 6) noch zurückzukommen sein. Auch in der Aneignungstheorie von Leontjev wird die Gerichtetheit auf die auch nichtmenschliche Umwelt und vor allem die Notwendigkeit, sich mit ihr vertraut zu machen, betont. Der Begriff „Aneignung“ charakterisiert den Prozess der Wechselbeziehung mit der Umwelt und unterstreicht nicht nur, dass die (eben auch dingliche) Umwelt von entscheidender Bedeutung für die „Entwicklung des Psychischen“ (Leontjev 1973) ist, sondern auch, dass die psychische Aneignung eine aktive Tätigkeit ist, wodurch die Außenwelt psychisch repräsentiert wird (vgl. auch Graumann 1990, Jacob 1984, Nohl 1980, S. 26f.). Das Kind „paßt sich seiner Umwelt nicht einfach an, sondern macht sie sich zu eigen, das heißt, es eignet sie sich an“ (Leontjev 1973, S. 233). Dabei ist vor allem der Gedanke, dass erst durch die Aneignungstätigkeit die Objekte der Außenwelt psychisch repräsentiert werden, mit der psychoanalytischen Vorstellung der Entwicklung von Selbst- und Objektrepräsentanzen durchaus vergleichbar. Die Objektrepräsentanzen repräsentieren vor dem Hintergrund des oben angesprochenen Beziehungsaspekts nie nur die Objekte, sondern stets und unentflechtbar damit verbunden die Interaktionen beziehungsweise die Interaktionserfahrungen zu diesen Objekten. Insofern sind die symbolischen Repräsentanzen der äußeren, phänomenalen Welt immer in gewisser Weise „Beziehungsrepräsentanzen“ (Waldvogel 1997) oder „geronnene Interaktionserfahrungen“ (Lorenzer 1983). Diese Repräsentierung von äußeren Objekten im inneren seelischen Geschehen ist nur als ein aktiver (symbolischer) Konstruktionsprozess zu verstehen, und in diesem Zusammenhang ist der Wahrnehmungsaspekt für die Bedeutung von Umweltelementen – menschlichen wie nicht-menschlichen – zentral wichtig (vgl. Hemmati-Weber 1993). Durch den sinnlichen Wahrnehmungsakt werden äußere Objekte gleichsam zu inneren Objekten. Diese Überführung von Außen nach Innen ist eine symbolische. Die seelischen Objektrepräsentanzen enthalten nicht lediglich das getreue Spiegelbild der äußeren Welt, sondern sind mit symbolischer Bedeutung, in der der besagte Beziehungsaspekt zu den Objekten verdichtet ist, gleichsam aufgeladen und – das ist besonders wichtig – beeinflussen auf diesem Wege auch das eigene Selbst, sind mithin identitätsbildend (Habermas 1996). Diese in gewisser Weise konstruktivistische Version von Wahrnehmung kommt in dem Begriff der „Empfindung“ treffend zum Ausdruck: Das Empfinden ist ein sympathetisches Erleben. Im Empfinden erleben wir uns in und mit unserer Welt. … Die Beziehung des Ich auf seine Welt ist im Empfinden eine Weise des Verbunden-Seins, die von dem Gegenüber des Erkennens scharf zu unterscheiden ist (Straus 1956, S. 208).

Die psychische Wirksamkeit von nichtmenschlichen Umweltelementen wird also wesentlich ermöglicht durch die symbolische Repräsentanz unserer Welterfahrung oder besser: Weltbeziehung. Dadurch bekommt die symbolische Valenz der nichtmenschlichen Umwelt – in unserem Zusammenhang der Natur – eine wichtige Rolle. Deshalb werden in Kapitel 2.3 auch einige grundlegende symboltheoretische Überlegungen angestellt. Und auch bei

2.2 Zur Psychoanalyse der nichtmenschlichen Umwelt

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der Explikation des Naturbegriffs (Kapitel 3) wird der ästhetisch-symbolische Aspekt in den Mittelpunkt gestellt.

2.2 2.2

Zur Psychoanalyse der nichtmenschlichen Umwelt Zur Psychoanalyse der nichtmenschlichen Umwelt

Die Psychoanalyse ist geradezu ein klassisches Beispiel dafür, wie die Genese von Persönlichkeitsstrukturen (und -störungen) nur aus intra- und interpsychischen Prozessen abgeleitet wird, und nicht umsonst fordert Bachelard (1959) eine „Psychoanalyse der Objekte“, die er am Beispiel des Feuers durchdekliniert. In der Objektbeziehungstheorie der Psychoanalyse sind die relevanten „Objekte“, mit denen sich das Kind psychisch auseinandersetzen und die es psychisch repräsentieren muss, immer Menschen (vgl. z. B. Jacobson 1978). Die Psychoanalyse beschäftigt sich theoretisch und auch in ihrer therapeutischen Praxis vorwiegend mit der Analyse menschlicher Interaktionsprozesse und unterliegt damit einer problematischen Einengung, die sie freilich mit den meisten anderen psychologischen Schulen teilt und für die es historische Gründe gibt. Die ökologische Perspektive ist eben – und das nicht nur in der Psychologie – relativ neu. Auch wenn es derzeit nicht gerade das Hauptparadigma der Psychoanalyse ist, sich mit der Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt zu befassen, sollen in diesem Kapitel einige psychoanalytische Gedanken hierzu entfaltet werden. Die Psychoanalyse könnte nämlich einen wichtigen Beitrag leisten zur Aufklärung der eben auch unbewussten Prozesse des menschlichen Verhältnisses zur Natur beziehungsweise zur nichtmenschlichen Umwelt. Die Umwelt wirkt sich meistens auf einer nicht-bewussten Ebene aus. Erst bei Änderungen der Umwelt wird diese wieder bewusst wahrgenommen, weil neue Anpassungsprozesse nötig werden. Die Ökologische Psychologie beschäftigt sich mit der unbewussten Ebene nur am Rande, was auch daran liegt, dass sich die Psychoanalyse bisher nur wenig eingemischt hat. Gewissermaßen nebenbei wurde freilich immer wieder im Kontext der Psychoanalyse auf die Bedeutung auch nichtmenschlicher Objekte hingewiesen: So unterschied zum Beispiel Balint (1972) zwischen „Oknophilen“ (Menschen, die beengte Verhältnisse bevorzugen) und „Philobaten“ (Menschen, die gern durch „freundliche Weiten“ schweifen). Mitscherlich (1965, 1971) machte auf die verheerenden psychischen Folgen der „unwirtlichen“ Städte aufmerksam (s. ausführlich Kapitel 5). Ihmzufolge braucht der Mensch „Lebensbedingungen, bei denen genügend dingliche Reize vorhanden sind, die zu (personenbezogenen) Objektbeziehungen herausfordern“ (Mitscherlich 1971, S. 39). Winnicott (1951) entwickelte mit seiner Theorie der Übergangsobjekte sogar eine explizite Begrifflichkeit für das Verständnis der Bedeutung auch nichtmenschlicher Gegenstände, wobei diese Gegenstände bei Winnicott letztlich menschliche Objekte symbolisieren (siehe Kapitel 2.4). Von diesen vereinzelten Hinweisen abgesehen gibt es meines Wissens nur einen einzigen konsistenten psychoanalytischen Ansatz, der die Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt für die menschliche Persönlichkeitsentwicklung reflektiert. Es handelt sich dabei um die Arbeit von H. F. Searles (2016), der die Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt 11

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2 Die psychische Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt

in der normalen Entwicklung und in der von Schizophrenen untersucht hat (siehe auch Gebhard 2016b, 2018 a und b). Dieser Ansatz aus den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde nun für die deutschsprachige Diskussion entdeckt und liegt seit einigen Jahren als deutsche Übersetzung vor.

2.2.1 Verbundenheit zwischen Mensch und nichtmenschlicher Umwelt Searles geht von einer grundlegenden „Verwandtschaft“ (kinship) des Menschen mit der nichtmenschlichen Umwelt aus und verweist dabei auf sehr allgemeine Phänomene, die zeigen, dass „der Mensch kein Fremder in seiner nichtmenschlichen Umwelt, sondern mit ihr verwandt ist“ (Searles, 2016, S. 39). Er bezieht sich dabei auf Erkenntnisse aus der Tierpsychologie, der Physiologie, Anatomie, Embryologie, deren Triftigkeit im Einzelnen allerdings nicht immer einleuchtend erscheint. So ist es wohl kaum oder zumindest als ein nur sehr schwacher Hinweis für die erwähnte Verwandtschaft zu verstehen, dass alle lebenden Substanzen aus denselben chemischen Elementen zusammengesetzt sind. Eine Verwandtschaft besteht Searles zufolge zwischen Mensch und nichtmenschlicher Umwelt bereits vor jeder konkreten psychischen Erfahrung oder Entwicklung. Diese Verwandtschaft konstituiert gewissermaßen den Rahmen, innerhalb dessen psychische Entwicklung einschließlich der Beziehung zu menschlichen Objekten sich vollziehen kann. Die psychische Existenz des Menschen ist insofern eine Funktion seiner nichtmenschlichen Umwelt. Die Hauptthese von Searles lautet, dass die nichtmenschliche Umwelt keineswegs bedeutungslos für die menschliche Persönlichkeitsentwicklung ist, sondern vielmehr einer der wichtigsten Bestandteile der psychologischen Existenz des Menschen. Ich bin davon überzeugt, dass das menschliche Individuum ein bewusstes oder unbewusstes Gefühl der Verbundenheit mit seiner nichtmenschlichen Umwelt hat. Diese Verbundenheit ist ein transzendental wichtiges Moment des menschlichen Lebens, das – wie andere wichtige Umstände der menschlichen Existenz – eine Quelle für ambivalente Gefühle ist. Darüber hinaus setzt man, wenn man deren Bedeutung für sich zu ignorieren versucht, seine psychische Gesundheit aufs Spiel (Searles 2016, S. 39).

Während des weitaus größten Teils seiner Geschichte war für den Menschen diese Verwandtschaft mit der nichtmenschlichen Umwelt selbstverständlich: Animistische Weltauffassungen gehen ja geradezu von einer entsprechenden Isomorphie von Mensch und Natur aus (vgl. Kapitel 4). Durch die christliche Religion und vor allem durch die Entwicklung der Naturwissenschaften ist dieser Zusammenhang jedoch überdeckt worden, was nicht nur zu einer Abwertung animistisch–anthropomorphen Denkens geführt hat, sondern auch zu einer Vernachlässigung der nichtmenschlichen Umwelt. Searles verweist auch auf die Bedeutung von nichtmenschlichen Umweltelementen für die psychische Gesundheit, ein Phänomen, das in therapeutischen Zusammenhängen längst zum Beispiel im Rahmen von Beschäftigungstherapien genutzt wird, ohne dass freilich die psychoanalytische Theorie dafür eine Begründung liefern könnte. Das gilt übrigens

2.2 Zur Psychoanalyse der nichtmenschlichen Umwelt

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ebenso für die Arbeit mit kreativen Medien oder für die Bedeutsamkeit einer ansprechenden Naturumgebung eines Krankenhauses (vgl. Blume 1989, Schwertl 1989, Ulrich 1985). Auch im alltäglichen Leben spielen nichtmenschliche Umweltelemente eine so offensichtliche Rolle, dass es in der Tat erstaunlich ist, dass die Psychoanalyse ihr Verstehensmodell nur oder vorwiegend auf die Analyse intra- und interpsychischer Prozesse gerichtet hat. Beispiele hierfür sind: Gartenpflege, die Liebe zu vertrauten Orten in der Natur, Sport, Haustiere, Zoobesuche, Freude an Landschaften. Searles verweist weiter darauf, wie häufig nichtmenschliche Umweltelemente in der Kunst, der Poesie, in der Sprache der romantischen Liebe und vor allem – für die Psychoanalyse höchst bedeutsam – in Träumen vorkommen. Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Hinweise, die die Relevanz der nichtmenschlichen Umwelt für die Persönlichkeitsentwicklung unterstreichen und die Aufforderung an die Psychoanalyse enthalten, ihr Theoriegebäude um diese Dimension zu erweitern, unternimmt Searles eben diesen Versuch: Er entwirft eine (neue) psychoanalytische Entwicklungslehre, die auf der Grundlage klassischer psychoanalytischer Theorieelemente (vor allem der Objektbeziehungs- und der Narzissmustheorie) reflektiert, welchen Einfluss die nichtmenschliche Umwelt auf die seelische Entwicklung hat. In Das Unbehagen in der Kultur, einem seiner glänzendsten Essays, hält Freud zum Verhältnis von Ich und Welt folgende für unseren Zusammenhang grundlegende Gedanken fest: (Das) Ichgefühl des Erwachsenen kann nicht von Anfang an so gewesen sein. Es muß eine Entwicklung durchgemacht haben, die sich begreiflicherweise nicht nachweisen, aber mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit konstruieren läßt. […] Ursprünglich enthält das Ich alles, später scheidet es eine Außenwelt von sich ab. Unser heutiges Ichgefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines weit umfassenderen, ja – eines allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt entsprach (Freud 1930, S. 424f.).

Dieses Gefühl der gleichsam allumfassenden Verbundenheit mit der Umwelt nennt Freud „ozeanisch“. In der ganz frühen Entwicklung des Kindes gibt es in der traditionellen psychoanalytischen Entwicklungslehre eine Phase, in der das Kind noch nicht zwischen dem „Selbst“ und den äußeren Objekten unterscheiden kann. Dieser Auffassung zufolge kann das Kind nicht zwischen Innen und Außen, Ich und Du, Subjekt und Objekt differenzieren, vielmehr muss man sich das subjektive Erleben als eine Fusion zwischen den genannten Faktoren vorstellen. Es handelt sich dabei um die frühkindliche primär–narzisstische Position, bei der das Kind sich verbunden fühlt mit den äußeren Objekten, womit freilich in dieser theoretischen Version nur menschliche Objekte gemeint sind. Spitz (1972) hat diesen Zustand des Neugeborenen „objektlose Stufe“ genannt und meint damit die Tendenz, im subjektiven Erleben mit den wichtigen menschlichen Objekten, in der Regel der Mutter, zu verschmelzen. Ein entscheidender Schritt ist in diesem Zusammenhang die Auflösung der symbiotischen Verschmelzung mit den primären Objekten, nämlich die Erfahrung und die Verarbeitung der realen Getrenntheit (von der Mutter). Damit ist die primäre Einheit aufgehoben: Das Selbst und die Welt der Objekte sind getrennt und finden psychisch ihren Niederschlag in Selbst- und Objektrepräsentanzen. 13

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2 Die psychische Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt

Es muss an dieser Stelle nicht ausführlich auf die einzelnen Merkmale dieser symbiotischen Phase eingegangen werden, zumal es eine Fülle von Literatur zu diesem Thema gibt (z. B. Mahler et al. 1978). Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass inzwischen Zweifel an der Existenz einer solchen primären symbiotischen oder gar autistischen Phase (wie sie zum Beispiel von Mahler beschrieben wurde) geäußert werden (vgl. Stern 1998). Konkrete Säuglingsbeobachtungen (Zusammenfassung bei Dornes 1993, 2000) zeigen, dass Kinder von Anfang an auf die „Objekte“ der Welt ausgerichtet sind, ohne jemals vollständig mit ihnen verschmolzen gewesen zu sein (vgl. auch Lichtenberg 1991). Zu erinnern ist in diesem Kontext auch an die Antriebslehre von Schultz-Henke (1951), demzufolge die sogenannte „Intentionalität“ die ontogenetisch früheste Äußerungsform menschlicher Triebhaftigkeit ist. Zusätzlich interessant ist noch, dass der „intentionale Antrieb“ im System von Schultz-Henke sowohl Menschen als auch Dingen gilt. Nach Stern sind bereits Säuglinge durchaus auf die wirkliche äußere Realität ausgerichtet und eine Verschmelzung von Subjekt und Objekt gibt es demzufolge nicht. Er bescheinigt ihnen sogar eine ausgezeichnete Realitätsprüfung (Stern 1998) – eine Fähigkeit, die vor dem Hintergrund der Annahme einer Fusion von Ich und Welt eigentlich nicht möglich wäre. Der Zustand eines reinen primären Narzissmus ist insofern ein theoretisches Konstrukt, das sich in der Wirklichkeit zumindest nicht beobachten lässt. Searles behauptet nun (im Anschluss an Piaget), dass die ursprüngliche – man müsste jetzt wohl hinzusetzen: relative – Einheit im subjektiven Erleben des Kindes nicht nur die primären Bezugspersonen betrifft, sondern eben alle Objekte, die nichtmenschliche Umwelt genauso wie die menschliche Umwelt. Das klingt in den grundlegenden Studien von Spitz bereits an: Auf dieser Stufe kann das Neugeborene ein „Ding“ nicht von einem anderen unterscheiden; es kann ein (äußeres) Ding nicht von seinem eigenen Körper unterscheiden und es erlebt die Umgebung nicht als etwas, was von ihm getrennt ist (Spitz 1972, S. 54).

Die psychische Leistung, zwischen sich selbst und der nichtmenschlichen Umwelt zu differenzieren, ist nun Searles zufolge als ein entscheidender Entwicklungsschritt anzusehen, ähnlich wie die Lösung aus der symbiotischen Mutterbeziehung. In dieser entscheidenden Phase entdeckt der Säugling nicht nur den Unterschied zwischen sich und den Menschen um ihn herum, sondern auch den zwischen sich und seiner nichtmenschlichen Umwelt. Bevor er diesen Grad psychischer Strukturbildung erreicht, erlebt er sich nicht nur eins mit seiner Mutter, sondern auch eins mit der Welt, in der er lebt – soweit sie zu seinem Gesichtskreis gehört (Searles, 2016, S. 57).

Das Neue an diesem Gedankengang ist in der Tat grundlegend. Wenn es richtig ist, dass die Erfahrung, die das kleine Kind mit den primären Objekten macht, wesentlich die spätere Persönlichkeit, das Lebensgefühl, das Urvertrauen (oder wie immer man es nennen mag) bestimmt, dann wird eben dieses Lebensgefühl auch von der Art und Qualität der nichtmenschlichen Umwelt geprägt sein. Im Anfang ist unsere Heimat, sagt Winnicott

2.2 Zur Psychoanalyse der nichtmenschlichen Umwelt

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(1990), und damit ist sehr treffend der hier gemeinte Zusammenhang verdichtet. Dieses basale Heimatgefühl konstituiert sich aus der Erfahrung der gelungenen und als befriedigend erlebten Beziehung zu den primären Objekten: Das sind Menschen, Gegenstände, Pflanzen, Tiere, Häuser, Landschaften, Steine usw. Es gibt auch den Wunsch, in eben diese Heimat zurückzukehren. In Bezug auf menschliche Objekte kennen wir das zum Beispiel aus Momenten der Verliebtheit; in Bezug auf nichtmenschliche Objekte kennen wir es beispielsweise aus intensiven Formen des Landschafts- und Naturerlebens. Es bleibt eine lebenslange psychische Aufgabe, zwischen dem Selbst und der Welt der Objekte zu unterscheiden (vgl. Winnicott 1951, S. 23f.). So betont Searles, dass der Mensch ein Leben lang darum bemüht ist, sich nicht nur von seiner menschlichen Umwelt, sondern auch von seiner nichtmenschlichen Umwelt zunehmend klarer zu unterscheiden, und gleichzeitig, indem er diese Differenzierung erreicht, eine bedeutungsvolle Beziehung sowohl zu dieser Umwelt als auch zu seinen Mitmenschen zu erhalten und neu zu entwickeln (Searles, 2016, S. 57f.).

Neben psychoanalytisch orientierten Autoren – Freud, Klein, Fairbairn, Balint, Mahler, Hartmann – bezieht sich der Ansatz von Searles auch auf die Entwicklungspsychologie von Piaget und die von Werner (1959), die beide eher den kognitiven Aspekt der Entwicklung betonen. Auch in der Entwicklungspsychologie von Werner wird eine frühkindliche Phase der Einheit mit der jeweils umgebenden nichtmenschlichen Umwelt angenommen („Synkretismus“). Diese Stellung in der Welt hat zur Folge, dass die Dinge der äußeren Welt „physiognomisch“ wahrgenommen beziehungsweise interpretiert werden. Bei Piaget werden diese Phänomene ähnlich beschrieben, allerdings mit dem Begriff Egozentrismus bezeichnet. Die „physiognomische Weltschau“ ist nach Werner ursprünglich gegeben. […] und zwar ist sie dies nicht etwa kraft einer anthropomorphen Beseelung der Natur, kraft eines durch Analogie vom Menschen auf die tote Umwelt übertragenen Lebenscharakters, sondern deshalb, weil die physiognomische Schau die eigentlich ursprüngliche Betrachtungsweise überhaupt ist, in der sich eine Scheidung zwischen toter und lebendiger Umwelt noch gar nicht vollzogen hat (Werner 1959, S. 45f.).

Ein wichtiger Effekt der subjektiv empfundenen Einheit von Ich und Welt – um wieder auf die Begrifflichkeit von Searles zurückzukommen – ist, dass die Dinge der äußeren Welt im Lichte der emotionalen Bedürfnisse des Kindes gesehen (Egomorphismus) und entsprechend animistisch beziehungsweise anthropomorph interpretiert werden. Der von Werner so genannte Synkretismus wird uns im Kapitel über animistisches und anthropomorphes Denken bei Kindern wieder beschäftigen (siehe Kapitel 4); er ist nämlich ein Zug im kindlichen Denken und Fühlen, der gerade im Hinblick auf die lebendige Natur, vor allem in Bezug auf Tiere, doch auch, wie zu zeigen sein wird, in Bezug auf Pflanzen besonders auffällig ist. Der kindliche Synkretismus oder Animismus ist also ein Phänomen, das im Zusammenhang damit gesehen und verstanden werden muss, dass das kleine Kind noch nicht 15

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2 Die psychische Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt

zwischen sich selbst und der Umgebung klar unterscheiden kann. Diese relative Einheit wird durch kognitive und affektive Lernprozesse, durch Erfahrung mit der äußeren Realität zunehmend aufgehoben, wobei es allerdings (nach Searles) keine charakteristischen Phasen gibt, sondern eben eine zunehmende Differenzierung, an deren Ende die relativ (!) sichere Erkenntnis steht, dass man eine Identität als individueller Mensch im Unterschied zu anderen Menschen, Tieren, Pflanzen und unbelebten Gegenständen hat. Die Realität der Außenwelt als eigene Realität zu begreifen, ist also das Ergebnis dieser Differenzierung – ein Vorgang, der in seiner psychischen Tragweite gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. So bezeichnet es Erikson (1988, S. 121) auch als mehr oder weniger überraschend, dass Menschen die Gegebenheiten der Außenwelt erkennen und sie sogar in einen Zusammenhang bringen können. Albert Einstein bemerkte in einem ganz anderen Zusammenhang, ein körperliches Objekt zu begreifen bedeute, ihm eine reale Existenz zuzuschreiben. „Die Tatsache, daß die Welt der Sinneserfahrungen begreiflich ist, ist ein Wunder“ (Einstein 1954, zitiert nach Erikson 1988, S. 121).

2.2.2 Differenzierung und das Bedürfnis nach „Objekten“ Der Ausgangspunkt besteht also … in einem Entwicklungsstadium, in dem das Kind noch nicht zwischen sich selbst und seiner Umwelt unterscheidet. Wenn der Säugling also für eine gewisse Zeit nicht in der Lage ist, sich von seiner menschlichen Umwelt zu unterscheiden und auch nicht in der Lage ist, … in der Außenwelt Belebtes von Unbelebtem zu unterscheiden, ist er vermutlich – zumindest für einige Zeit nach der Geburt –gleichermaßen unfähig, sich von der ihn umgebenden nichtmenschlichen (unbelebten, pflanzlichen, tierischen) Umwelt zu unterscheiden, kann sich also nicht als etwas Lebendiges und nicht als etwas Lebloses, nicht als ein menschliches Wesen und nicht als eine Pflanze oder ein Tier erfahren (Searles 2016, S. 62).

Wie lange dieser Anfangszustand andauert, ist natürlich eine schwierige Frage. Die Angaben schwanken zwischen dem 2. und dem 5. Monat. Ich halte es auch für nicht unwahrscheinlich – vor allem angesichts der psychoanalytisch orientierten systematischen Säuglingsbeobachtungen (Stern 1998) –, dass die angenommene Einheit eben nur der Ausgangspunkt ist und dass die Differenzierung eigentlich mit der ersten Erfahrung mit der Welt beginnt – und das ist der erste Lebenstag. Die Forschungen von Lichtenberg (1991) legen die Annahme nahe, dass es bereits in den ersten Lebensmonaten sowohl Gemeinsamkeits- als auch Getrenntheitserlebnisse gibt. So müssen auch traditionelle Annahmen über eine sogenannte Reizschranke bei Neugeborenen als überholt bezeichnet werden (vgl. Esman 1991). Angesichts vielfältiger empirischer Befunde ist vielmehr anzunehmen, dass „das Neugeborene aktiv ist und versucht, sein Ausgesetztsein an informative Aspekte seiner visuellen Welt zu optimieren“ (Emde/Robinson 1979, S. 86). Insofern verlangen Säuglinge geradezu nach äußeren Reizen und entsprechenden Objekten. Der Hunger nach Objekten (und zwar menschlichen und nichtmenschlichen) führt zumindest sehr früh

2.2 Zur Psychoanalyse der nichtmenschlichen Umwelt

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dazu, sich den Gegenständen der äußeren Welt zuzuwenden (vgl. Eagle 1988, S. 245f.). Nur ist eben diese frühe Differenzierung eine noch sehr unsichere. Der Prozess, Innen und Außen auseinanderzuhalten, beginnt also offenbar sehr früh und ist darüber hinaus auch eine lebenslange Aufgabe. So gibt es auch bei Erwachsenen noch „Rückfälle“, die Freud als ozeanisches Gefühl bezeichnet hat. Solche Zustände kennen wir aus Träumen, bisweilen auch bei Naturerlebnissen. Der Ausgangspunkt der subjektiv empfundenen Verbundenheit – von Einheit kann man wohl angesichts der Forschungsbefunde nicht mehr sprechen – mit den Dingen wirkt also (unbewusst) ein Leben lang fort, auch wenn die Menschen in ihrem Bewusstsein längst ein differenzierendes Weltbild erlangt haben. Auch ältere Kinder und Erwachsene sind auf diese Weise mit der nichtmenschlichen Umwelt affektiv verbunden. Auf der Ebene unbewusster Konzeptualisierungen bleibt die subjektive Einheit mit diesem Ausschnitt der Umwelt noch lange bestehen, obwohl auf einer bewussten Wahrnehmungsebene eine Differenzierung längst möglich ist (Searles 2016, S. 63).

Da diese Differenzierung nicht nur eine affektive, sondern auch eine kognitive Aufgabe ist, setzt Searles diese Entwicklung zu fortschreitender Differenzierung in Beziehung zur kognitiven Psychologie von Piaget. Danach vollzieht sich die Differenzierung in der frühen Kindheit vor allem auf der sensomotorischen Ebene. In der späteren Kindheit findet sie mittels innerer Repräsentanzen auf einer sprachlichen Ebene statt, und in der Adoleszenz vollzieht sie sich auf der Ebene formalen Denkens. Piaget entwickelt dabei einen Objektbegriff, der ausdrücklich und geradezu vor allem die nichtmenschliche Umwelt meint. Das „Objekt“ wird dabei als ein System von Wahrnehmungsbildern begriffen. Piaget (1978, S. 188) nimmt an, „daß das kindliche Denken von der Idee eines universellen Lebens als einer primären Idee ausgeht“. Die äußere Welt bildet aus der Sicht des Kindes insofern ein „Lebenskontinuum, in dem alle Körper mehr oder weniger Aktivität und Einsicht aufweisen“ (Piaget 1978, S. 190). Die subjektiv empfundene Verbundenheit mit den Dingen kann auch Quelle verschiedener und zum Teil archaischer Ängste sein – ein Umstand, der die Regression in eben diesen Zustand nicht nur als ein ozeanisches Gefühl erscheinen lässt. Searles meint sogar, dass die potentielle Aktivierung solcher Ängste für (psychoanalytische) Forscher und Forscherinnen das Haupthindernis darstelle, sich überhaupt systematisch mit der Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt zu befassen. Außerdem – und das ist sicherlich für eine Pädagogik, die die nichtmenschliche Umwelt mitreflektiert, außerordentlich interessant – ist die nichtmenschliche Umwelt nicht immer von der Art, dass sie die seelische Entwicklung fördert. Das wirft die Frage auf, welcher Art und Qualität die nichtmenschliche Umwelt zu sein hat, damit sie im Sinne von Winnicott eine haltende ist. Die Zerstörung der Umwelt oder das Fehlen von haltenden Umweltelementen – Bedingungen, unter denen viele Kinder aufwachsen – wird insofern sicherlich auch die seelische Entwicklung beeinflussen (siehe ausführlich hierzu Kapitel 5 und 14).

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2 Die psychische Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt

Kehren wir aber zunächst zurück zur fortschreitenden Differenzierung von Ich und Welt. Searles schließt sich der nicht ganz unproblematischen Annahme an, dass sich in der menschlichen Ontogenese seine Phylogenese wiederhole. Er bezieht hier explizit auch die Entwicklung des Ichs ein und schreibt: Die Ichentwicklung des gesunden menschlichen Individuums rekapituliert die Phylogenese der menschlichen Rasse – sie rekapituliert also die Entwicklungsgeschichte, ihre geschichtlichen Anfänge in einer unorganischen Welt und durchläuft die Phase des Auftauchens der ersten elementaren lebendigen Materie und der sukzessiv höheren Lebensformen bis zum thriumphalen Auftauchen der menschlichen Form des tierischen Lebens auf diesem Planeten (Searles 2016, S. 65).

Diese Aufzählung ist deshalb für unseren Zusammenhang interessant, weil Searles daraus explizit einige Zustände als charakteristisch für die Entwicklung des menschlichen Ichs heraushebt: Die ersten Rudimente des menschlichen Ichs entsprechen danach dem völlig anorganischen, leblosen Zustand. Dann folgt eine Phase, in der sich das Ich zwar als belebt (im Unterschied zu lebloser Materie), aber noch nicht als menschlich erlebt. Erst später kommt dann das Bewusstsein seiner selbst als ein lebendiges, individuelles menschliches Wesen. Vor diesem Hintergrund bezeichnet Searles die zeitweilige Rückkehr zu ontogenetischen Stufen, in denen die subjektiv erlebte Einheit noch dominanter war als im erwachsenen Leben, als „phylogenetische Regression“. Als Stütze für die Annahme, dass Menschen in ihrer individuellen Entwicklung auch psychisch phylogenetisch frühere Stufen durchlaufen, führt Searles einige mythologische Beispiele aus Griechenland, Mexiko und totemistischen indianischen Kulturen an. Es zeigt sich dabei, dass in vielen Mythen die Grenze von Mensch und nichtmenschlicher Umwelt fließend war: Menschen konnten in Steine, Bäume oder Tiere verwandelt werden und umgekehrt. Inwieweit die frühen Mythen der Menschheitsgeschichte freilich auch Aufschluss geben über die frühen Entwicklungsstufen des Ichs, mag hier offenbleiben. Immerhin fällt jedoch die relative Austauschbarkeit oder jedenfalls Unabgegrenztheit von Mensch und nichtmenschlicher Umwelt in vielen mythischen Überlieferungen auf. Ein Beispiel hierfür ist der griechische Mythos von Deukalion und Pyrrha, bei dem in der Tat aus anorganischer Materie – aus Steinen – Menschen entstehen. Das Ende dieses Mythos sei in der Erzählweise von Gustav Schwab zitiert: Da ereignete sich ein großes Wunder: das Gestein begann seine Härtigkeit und Spröde abzulegen, wurde geschmeidig, wuchs, gewann eine Gestalt; menschliche Formen traten an ihm hervor. […] Was jedoch an den Steinen Feuchtes oder Erdiges war, das wurde zu Fleisch an dem Körper; das Unbeugsame, Feste ward in Knochen verwandelt; das Geäder in den Steinen blieb Geäder. […] Diesen seinen Ursprung verleugnet das menschliche Geschlecht nicht, es ist ein hartes Geschlecht und tauglich zur Arbeit. Jeden Augenblick erinnert es daran, aus welchem Stamm es erwachsen ist (Schwab 1837, S. 17).

Trevett (1957) begreift Schöpfungsmythen weniger als jeweils historisch entstandene Annahmen über die Welt- und Menschentstehung, sondern eher als (symbolischen) Ausdruck

2.2 Zur Psychoanalyse der nichtmenschlichen Umwelt

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der ersten (ontogenetischen) Schritte der Ich-Entwicklung und auch der Entwicklung der Bewusstheit hinsichtlich der umgebenden Welt. In einem Vergleich verschiedenster Schöpfungsmythen kommt Trevett zu ähnlichen Aussagen wie Searles: Das Kind erfahre sich zunächst (als erste Differenzierung) als lebendig und dadurch von allen unbelebten Dingen der Umgebung als unterschieden; die Differenzierung schreite dann fort, indem sich das Kind als Mensch erfahre und sich somit von anderen Lebensformen unterscheide; die letzte Stufe der Differenzierung ist dann das Bewusstsein eines lebendigen menschlichen Individuums, das sich von anderen Menschen, insbesondere von der Mutter unterscheidet. Nicht nur anhand archaischer Mythen lassen sich solche Feststellungen treffen, auch ein Blick in viele Kindermärchen ergibt ein ähnliches Bild. Menschen können sich in Tiere verwandeln und umgekehrt; der Unterschied zwischen tot und lebendig ist fließend und umkehrbar (siehe Kapitel 13); leblose Puppen (zum Beispiel Pinoccio) können zu Menschen werden. Ein weiteres Argument für die psychische Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt sind die Träume. In Träumen kommen nichtmenschliche Elemente weit häufiger vor als menschliche: Gegenstände, Landschaften, Häuser, Tiere, Pflanzen usw. Auch wenn diese Elemente natürlich verstanden werden können als Symbole oder Projektionen menschlicher Gefühle oder Gedanken, zeigt doch die Häufigkeit von nichtmenschlichen Elementen die Bedeutung, die die nichtmenschliche Umwelt zumindest im Unbewussten hat. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine vergleichende Analyse von 800 Träumen (Boss 1958), die die nichtmenschlichen Traumelemente (unbelebte Objekte, verschiedene Pflanzen, Tiere, Landschaften) im Einzelnen und vor allem in ihrer Sukzession im Verlaufe einer psychoanalytischen Behandlung zum Gegenstand hat. Während der Träumer, dessen Träume Boss untersucht hat, zu Beginn der Analyse überwiegend von unbelebten Gegenständen träumte, waren die Traumelemente später auch Pflanzen und Tiere, schließlich gegen Ende der Analyse auch menschliche Objekte. Insgesamt ist diese Studie als eine bemerkenswerte Stütze für die These von der phylogenetischen Regression zu betrachten. Interessant sind auch Isolationsexperimente, bei denen Versuchspersonen von allen Umweltstimuli ferngehalten wurden, und zwar von menschlichen und nichtmenschlichen. Dabei ist auffällig, wie schnell die Versuchspersonen angesichts des Fehlens vor allem der nichtmenschlichen Umwelt dekompensieren. Jedenfalls scheint im Vergleich zu Menschen, die beispielsweise schiffsbrüchig wurden und insofern menschliche Objekte sehr lange entbehrten, das Fehlen gegenständlicher beziehungsweise nichtmenschlicher Umwelt eher noch verheerendere Auswirkungen auf die menschliche Psyche zu haben. In diesem Zusammenhang ist die ichpsychologische Position interessant, dass es zum Aufbau von Ichstrukturen eine Stimulusnahrung geben und dass diese eben auch nichtmenschlicher Natur sein müsse. Rapaport (1958) zeigte, dass das sich entwickelnde Ich neben kontinuierlichen Bezugspersonen auch der gegenständlichen Reiznahrung bedarf, wobei er von systematischen Beobachtungen berichtet, wonach Ichfunktionen durch sensorische Deprivation außer Kraft gesetzt wurden (vgl. Bexton et al. 1954). Der Ursprung der psychischen Entwicklung wird also von Searles als eine subjektiv erlebte Einheit auch mit den Dingen der Welt aufgefasst, aus der sich die Menschen gewissermaßen 19

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2 Die psychische Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt

befreien, indem Ich und Welt zunehmend getrennt werden. Diese Unterscheidung macht es möglich, sich in der Welt zielgerichtet auf spezifisch menschliche Weise (nämlich als ein Gegenüber der Natur) zu verhalten. So ist die charakteristische dialektische Doppelstellung des Menschen als Teil und Gegenüber der Natur auch psychisch – und zwar von Anfang an – wirksam: So sehr die potentielle Verbundenheit mit den Objekten auch als ozeanisch oder paradiesisch erscheinen oder auch verklärt werden mag, die Differenzierung und Seperation gehört von Anfang an zu den Bedingungen der psychischen Entwicklung (Stern 1998). Jedoch gilt angesichts der angesprochenen Dialektik im selben Maße auch die Komplementäraussage: So sehr das Kind und auch der Erwachsene sich die Welt der Objekte gegenüberstellt, er bleibt doch auch immer mit ihnen verbunden; es bleibt, wie Searles es formuliert, eine grundlegende Verwandtschaft mit den Dingen bestehen. So kommt es, dass in unserer Kultur der gesunde Erwachsene nicht völlig losgelöst von seinem Auto, seinem Zuhause, seiner Kleidung und all dem anderen materiellen Besitz betrachtet werden kann und auch nicht ohne seine besonderen Fertigkeiten im Umgang mit seiner nichtmenschlichen Umwelt (sei es in seiner täglichen Arbeit oder bei seinen Hobbys), auch nicht ohne seine Haustiere usw. Es ist jedem, denke ich, klar, dass all diese Dinge in unserer Kultur in einem realen Sinne Bestandteile einer individuellen Persönlichkeit sind (Searles 2016, S. 75).

Wie bereits angedeutet, stützt Searles seine Ausführungen auf Material, das er bei der Behandlung von Psychotikern gewonnen hat. Bei ihnen lassen sich nämlich die phylogenetischen Regressionen bis zur Stufe von lebloser Materie beobachten. Jedoch gibt es diese Regressionen nicht nur bei Psychotikern. Die ursprüngliche seelische Verbundenheit mit der nichtmenschlichen Umwelt macht sich auch bei normalen Menschen zum Beispiel in folgenden Gefühlen, Phantasien, Träumen oder Ängsten bemerkbar: • Das Gefühl, dass bestimmte Elemente der nichtmenschlichen Umgebung als Teil des eigenen Selbst behandelt werden. • Die Überzeugung, dass einem tierischen oder auch unbelebten Objekt mehr Aufmerksamkeit und Liebe geschenkt wird als einem selbst. • Die Angst, nicht menschlich zu sein, und die Angst, als solches ertappt zu werden. • Der Wunsch, nichtmenschlich zu werden. • Die Erfahrung, einen anderen Menschen zu behandeln, als wäre er ein Tier oder ein unbelebtes Ding. Es ist sehr wichtig zu betonen, dass solche Gefühle, solche „phylogenetischen Regressionen“ keineswegs pathologisch sind. Im Gegenteil: Wenn sie nicht fixiert sind, entlasten sie geradezu das Individuum von der Anstrengung, ständig Ich und Welt getrennt halten zu müssen. Solche temporären Zustände können insofern auch eine emotionale Erholung vom interpersonellen Leben sein. Dass die Zuwendung zur nichtmenschlichen Umwelt einen solchen erholsamen Effekt hat, wird – ohne Bezugnahme auf derartige Überlegungen – sicherlich bei der Konzeption von Erholungsgebieten oder Kurregionen genutzt. Auf

2.2 Zur Psychoanalyse der nichtmenschlichen Umwelt

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diesen Aspekt der Umwelt als Quelle des Wohlbefindens, geradezu der Gesundheit, wird im Hinblick auf die Natur in Kapitel 7 noch genauer eingegangen. Winnicott übrigens meint, dass auch die Übergangsobjekte (z. B. Teddybären, Bettzipfel, Haustiere) u. a. eben diese erholsame Funktion haben (siehe ausführlich Kapitel 2.4). Der Bereich der Übergangsobjekte, der ja theoretisch von Winnicott ganz bewusst in einem tertiären, paradoxen Bereich zwischen innerer und äußerer Realität angesiedelt ist, ist nämlich eine Sphäre, „in der das Individuum ausruhen darf von der lebenslänglichen menschlichen Aufgabe, innere und äußere Realität voneinander getrennt und doch in wechselseitiger Verbindung zu halten“ (Winnicott 1951, S. 11).

2.2.3 Die Situation bei Erwachsenen Für unseren Zusammenhang würde es ausreichen, die Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt für die kindliche Entwicklung zu bedenken. Searles bezieht jedoch darüber hinausgehend auch noch die Verhältnisse bei Erwachsenen und vor allem bei psychotischen Patienten mit ein, wobei er reichhaltiges Fallmaterial vorlegt. Der Vollständigkeit halber seien diese Befunde kurz zusammengefasst: Die nichtmenschliche Umwelt bietet auch dem Erwachsenen eine zentrale emotionale Orientierung, eine feste Insel angesichts der ständig wechselnden Umstände des täglichen Lebens. Das Gefühl der „Verwandtheit“ mit der nichtmenschlichen Umwelt ermöglicht eine zentrale emotionale Orientierung; es nährt sich aus der als Kind empfundenen Einheit zwischen Mensch und allen Elementen der nichtmenschlichen Umwelt und es umfasst und ermöglicht darüber hinaus geradezu ein Gefühl für die eigene menschliche Individualität. Auch wenn wir mit der Umwelt über das Gefühl der Verwandtheit verbunden sind, so gibt es doch ein klares Gespür dafür, dass wir nicht eins sind mit ihr. Der Mensch weiß, dass er unwiderruflich und irreversibel eben ein Mensch ist und insofern auch der nichtmenschlichen Umwelt gegenüber steht. So ist das Gefühl der Verwandtheit nicht zu verwechseln mit irgendeiner mystischen Erfahrung. Im Gegenteil: Die reife Form der Beziehung zur nichtmenschlichen Umwelt, das Gefühl der Verwandtheit, setzt die beschriebene Differenzierung, die Getrenntheit voraus. In dem Gefühl der Verwandtheit, das eben die Trennung notwendig voraussetzt, fühlt der Mensch sehr wohl eine reale und auch enge Verwandtschaft mit den Dingen und mit der Natur, verliert dabei jedoch nicht das Bewusstsein seiner eigenen menschlichen Identität. So findet – darauf ist bereits hingewiesen worden – die Doppelstellung des Menschen in der Welt als Teil und Gegenüber der Natur eine psychische Entsprechung, die freilich ständig aufrechterhalten werden muss, was ein anstrengendes Geschäft ist und einen grundlegenden Konflikt in sich birgt: […] das Gefühl eines inneren Konflikts, weil der Mensch sich bewusst ist, ein Teil der Natur und gleichzeitig anders als die übrige nichtmenschliche Natur zu sein; und die beiden Hauptbestandteile dieses inneren Konflikts – die Sehnsucht, vollständig eins zu werden mit seiner 21

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2 Die psychische Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt

nichtmenschlichen Umwelt, und die im Kontrast dazu stehende Angst, falls diese Situation einträfe und er damit sein einzigartiges Menschsein einbüßte. Es scheint unvermeidlich, dass der Mensch – selbst der reife Erwachsene – seiner nichtmenschlichen Umwelt unterschiedliche und konflikthafte Gefühle entgegenbringt, da die Position der Menschheit gegenüber dieser Umwelt – angeboren – konflikthaft ist. Das Fundament des Menschen ist die Natur, doch er ist unüberbrückbar anders (Searles 2016, S. 104).

Wenn auch auf diese Weise die Stellung des Menschen im Verhältnis zur nichtmenschlichen Umwelt prinzipiell konfliktreich ist, so gibt es doch eine Reihe von psychologischen Gewinnen, die aus einer reichen und nahen Beziehung zur nichtmenschlichen Umwelt erwachsen, wobei Searles vor allem die Beziehung zur lebendigen Natur heraushebt: 1. Die Linderung von verschiedenen schmerzhaften und angstbesetzten Gefühlszuständen. 2. Die Förderung der Selbstverwirklichung. 3. Vertiefung des Realitätsgefühls. 4. Unterstützung der Wertschätzung und positiven Einstellung zu den Mitmenschen. Die Möglichkeit der Linderung angstbesetzter Gefühle hängt damit zusammen, dass die erwähnte Verwandtheit dazu beitragen kann, die existentielle Einsamkeit des Menschen im Universum zu ertragen. Die Möglichkeit der Linderung angstbesetzter Gefühle hängt damit zusammen, dass das Gefühl der Verbundenheit mit der nichtmenschlichen Umwelt dazu beitragen kann, die existenzielle Einsamkeit des Menschen im Universum zu ertragen. Die Einsamkeit dessen, der weiß, dass er sich seiner selbst bewusst und ein vernunftbegabtes Wesen ist, das immer außerhalb der übrigen Natur stehen wird. Darüber hinaus mildert es seine Angst vor dem Tod. Es verhilft ihm auch zu einer gewissen Ruhe, einem Gefühl der Stabilität, Kontinuität und Sicherheit. Schließlich wirkt es auf die gleiche Weise Gefühlen von Wert- und Bedeutungslosigkeit entgegen (Searles 2016, S. 116).

Der Sinn für die Verbundenheit – die tätige Aktivität in der Umwelt einschließt – kann für das Subjekt sowohl das Gefühl für die umgebende Realität als auch die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit zumindest unterstützen. „Es verhilft ihm zu einem tieferen Gefühl für die eigene Identität und Individualität, es hilft ihm bei der Entwicklung seiner kreativen Fähigkeiten, und es hilft ihm, seine Fähigkeiten, aber auch deren Grenzen, deutlicher zu erkennen“ (Searles 2016, S. 120). Searles beschäftigt sich im eigentlichen Hauptteil seines Buches mit dem Verhältnis zur nichtmenschlichen Umwelt bei neurotischen und vor allem psychotischen Patientinnen und Patienten und präsentiert dabei sehr vielfältiges Fallmaterial, das allerdings in unserem Zusammenhang nicht so sehr interessiert. Zusammengefasst lässt sich das pathologische Verhältnis zur nichtmenschlichen Umwelt folgendermaßen charakterisieren: Vor allem psychotische Menschen tendieren dazu, auf eine sehr frühe Stufe der Selbst–Umwelt–Beziehung zu regredieren, auf der noch keine klare Trennung zwischen Selbst und nichtmensch-

2.3 Der Mensch als „animal symbolicum“

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licher Umwelt vollzogen ist. Diese „phylogenetische Regression“ ist bei solchen Menschen fixiert und führt zu ausgeprägten Wahrnehmungsstörungen und auch zu Problemen mit der menschlichen Umwelt. Diese Menschen sind oft unfähig, zwischen sich selbst und der nichtmenschlichen Umwelt zu differenzieren; sie haben auch oft Angst, nichtmenschlich zu werden oder bereits zu sein und als solche entlarvt zu werden; sie wünschen sich bisweilen, nichtmenschlich zu werden, um so unlustvollen Gefühlszuständen (Angst vor dem Tod, Angst vor Verantwortung, Einsamkeit, Schuldgefühlen usw.) zu entgehen, oder auch, um einen besonders erstrebenswerten Zustand zu erreichen. Bisweilen werden auch Menschen wie nichtmenschliche Objekte behandelt und auch umgekehrt wird mit nichtmenschlichen Objekten so umgegangen, als seien sie menschliche Wesen. Wie bereits ausgeführt, sind natürlich solche Zustände auch bei sogenannten „Normalen“ zu beobachten, ja sie haben sogar als ein Bestandteil jeder gesunden Persönlichkeit eine stabilisierende Funktion. Insofern sind die Grenzen, was das Verhältnis zur nichtmenschlichen Umwelt angeht, im normalen und pathologischen Verlauf fließend. So wäre ein psychisches Verhältnis zur Umwelt, das so starre Grenzen zwischen Selbst und Welt errichtet hat, dass gar keine Verbundenheitserlebnisse mit der Umwelt mehr möglich wären, zumindest ebenfalls problematisch. Insofern sei an dieser Stelle bereits auf das Konzept der sogenannten „Naturverbundenheit“ hingewiesen, das als ein wesentliches Element der Wirkungen von Naturerfahrungen auf die Gesundheit (siehe Kapitel 7) und auch auf das Umweltbewusstsein (siehe Kapitel 8) angesehen werden kann.

2.3 2.3

Der Mensch als „animal symbolicum“ Der Mensch als „animal symbolicum“

Ernst Cassirer hat den Menschen als „animal symbolicum“ bezeichnet, wonach alle Formen menschlicher Weltwahrnehmung Akte symbolischer Sinngebungen sind. Der menschliche Weltbezug, der Bezug zur nichtmenschlichen wie menschlichen Umwelt ist danach notwendig ein symbolischer. Der zentrale Begriff der Cassirerschen Semiotik ist der der „symbolischen Form“. Darunter „soll jene Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird“ (Cassirer 1969, S. 175). Cassirer bezieht sich auf den Umweltbegriff von Uexküll (1928). Danach sind Tiere perfekt über den „Funktionskreis“ von „Merknetz“ und „Wirknetz“ in ihre jeweilige Umwelt eingepasst. Beim Menschen allerdings erhält die Umwelt eine neue Dimension: Der Mensch hat gleichsam eine neue Methode entdeckt, sich an seine Umgebung anzupassen. Zwischen dem Merknetz und dem Wirknetz, die uns bei allen Tierarten begegnen, finden wir beim Menschen ein drittes Verbindungsglied, das wir als ‚Symbolnetz‘ oder Symbolsystem bezeichnen können. Diese eigentümliche Leistung verwandelt sein gesamtes Dasein. … Es gibt indessen kein Mittel gegen diese Umkehrung der natürlichen Ordnung. Der Mensch entkommt dieser seiner Erfindung nicht. … Er lebt nicht mehr in einem bloß physikalischen, sondern in einem symbolischen Universum (Cassirer 1996, S. 49f.). 23

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2 Die psychische Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt

Die Umwelt des Menschen ist ein Symbolsystem. Für den Bezug des Menschen zu den äußeren Dingen ist das ein folgenschwerer Gedanke: Zwischen Ich und Welt, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Innen und Außen gibt es einen dritten Bereich, der vermittelnd den Kontakt herstellt. Damit wird sowohl Subjektivität als auch Objektivität konstituiert. Dies wird grundlegend auch die Beziehung des Menschen zur Natur beeinflussen. Die nichtmenschliche Umwelt, die Natur, ist nie nur das äußere Phänomen, sondern immer auch ein mit (subjektiver) Bedeutung aufgeladenes Symbolsystem (siehe Kapitel 4.5). Blumenberg zufolge ist der Mensch existentiell geradezu darauf angewiesen, sich auf diese Weise von der Welt, auch von der Natur, zu distanzieren. Danach kann der Mensch nur auf eine Weise existieren, nämlich „indem (er) sich nicht unmittelbar mit dieser Wirklichkeit einläßt“ (Blumenberg 1971, S. 115). Die Welt, in der wir leben, ist eine kulturell geschaffene Symbolwelt, ein Amalgam aus äußerer und innerer Welt. Der menschliche Wirklichkeitsbezug ist indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem ‚metaphorisch‘. … Der metaphorische Umweg, von dem thematischen Gegenstand weg auf einen anderen zu blicken …, nimmt das Gegebene als das Fremde, das Andere als das vertrauter und handlicher Verfügbare. … Das animal symbolicum beherrscht die ihm genuin tödliche Wirklichkeit, indem es sie vertreten läßt; es sieht weg von dem, was ihm unheimlich ist, auf das, was ihm vertraut ist (Blumenberg 1971, S. 115f.).

Das Verhältnis zur Welt ist kein unmittelbares, sondern ein durch Symbole gewissermaßen geschütztes und vermitteltes. Unser Bezug zur Welt ebenso wie unsere Möglichkeit von Erkenntnis von Welt wird durch Metaphern ermöglicht und zugleich prinzipiell begrenzt. Es sind nie die Dinge der Welt, die unmittelbar zu uns sprechen, stets sind es unsere metaphorischen Deutungsmuster, die die Welt auf eine menschliche Weise zu verstehen suchen. „Nicht die Dinge selbst beunruhigen den Menschen, sondern die Meinungen über die Dinge“, sagt der römische Philosoph Epiktet. „Was ist also Wahrheit?“, fragt Friedrich Nietzsche in seinem gern und oft kolportierten Essay „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“. Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind; Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen (Nietzsche 1873, S. 374f.).

Nietzsche geht also von der prinzipiellen Metaphorizität des menschlichen Natur- und Weltbezuges aus und kritisiert dies zugleich als eine Art kollektive Lüge „nach einer festen Convention“ (Nietzsche 1873, S. 374f.). Bei genauerem Hinsehen (vgl. Keil 1993) zeigt sich allerdings, dass diese harsche Kritik vor allem dem Umstand gilt, dass der Mensch vergessen habe, „das es so mit ihm steht“ (Nietzsche 1873, S. 374f.). Insofern mahnt uns Nietzsche, den notwendig mittelbaren Weltbezug nicht zu verleugnen, denn „alle Weltconstructio-

2.3 Der Mensch als „animal symbolicum“

25

nen“ – so Nietzsche (1872/73, S. 47) – seien „Anthropomorphismen“ und die Philosophie sei „die Fortsetzung des Triebes, mit dem wir fortwährend, durch anthropomorphische Illusionen, mit der Natur verkehren“ (Nietzsche 1872/73, S. 51). Genauso, wie das Verständnis der äußeren Welt ein symbolisches ist und damit die Möglichkeit von Erkenntnis begrenzt und relativiert, ist auch das Verständnis des eigenen Selbst notwendig symbolisch. So wirkt die äußere Welt gleichsam als ein Metaphernvorrat, der in Symbolisierungsprozessen ein Selbstverständnis des Menschen ermöglicht und begleitet. Die Symbole, mit denen wir uns zu deuten und zu verstehen versuchen, werden aus der begegnenden Welt genommen; die Welt, in der wir leben, die Lebenswelt, be-ding-t (im Sinne des Wortes) unser Selbstverständnis. Die Computermetapher des menschlichen Geistes, „the candle in the wind“, Verwurzelung oder Entwurzelung, Schlange als Verführerin, agnus dei, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei – solche beliebig zu ergänzenden Beispiele verweisen auf je unterschiedliche Lebenswelten, die auf symbolische, jetzt allerdings physiomorphe und auch technomorphe Weise Deutungsmuster für das menschliche Selbstverständnis bereitstellen. In den einzelnen Abschnitten dieses Buches wird sich zeigen, dass und wie die Natur in der Tat als Metaphernvorrat fungiert, dass Pflanzen und Tiere oft in Form von anthropomorpher Symbolisierung als Ausdruck von subjektiven Sinnentwürfen interpretiert werden können. So ist es nicht gleichgültig, in welcher Umwelt wir leben. Auch die nichtmenschliche Umwelt, die Dinge, haben über Symbolisierungsprozesse eine psychodynamische Bedeutung, ein Gedanke, der pädagogisch höchst bedeutsam ist: Psychische Entwicklung und auch Erziehung geschieht nicht nur innerhalb der Beziehung zwischen Menschen (Gebhard et al. 2015, Nohl 2011). Auch die Art und Qualität der Dinge unserer Umwelt sind bedeutsam. Das betrifft die Naturumgebung ebenso wie die Wohnumgebung, die Schulhausarchitektur (Gebhard 1997) ebenso wie den Umgang mit alltäglichen Dingen (Schachtner 2014). Da die Symbolschicht als ein dritter Bereich zu denken ist, als ein Zwischenbereich des Übergangs zwischen Ich und Welt, ist es auch folgerichtig, dass Symbolisierungsprozesse ihr Material sowohl aus der äußeren Natur (physiomorphe Symbole) als auch aus dem Ich (anthropomorphe Symbole) entnehmen. Selbstverständlich bedingen sich die physiomorphen und anthropomorphen Symbole und Deutungsmuster gegenseitig; die Frage nach Henne und Ei ist auch hier unbeantwortbar. Das, was wir als Natursymbole im Kontext physiomorpher Deutungsmuster als Grundlage unseres Selbstverständnisses nehmen, entspringt natürlich zugleich anthropomorphen Projektionen und umgekehrt. Keil (1993) spricht in diesem Zusammenhang von einem anthropomorph-physiomorphen Paradox. Im Übrigen lassen sich die zwei zentralen kognitiven Schemata der Metapherntheorie der kognitiven Linguistik (Lakoff/Johnson 1998) in dieses Muster einordnen: Die metaphorische Strategie der Verräumlichung von abstrakten Vorstellungen wäre in diesem Kontext eine physiomorphe Metaphorik (Entwicklung als „Lebensweg“, die Bäume nicht in den Himmel wachsen lassen), die Strategie des „embodyment“ eine anthropomorphe Metaphorik. Vor allem die Nutzung des eigenen Körpers als Bedeutungsspender ist bei Lakoff und Johnson zentral. Danach beginnt alles Verständnis der äußeren Welt beim eigenen Körper und bei konkreten Sinneswahrnehmungen. 25

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2 Die psychische Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt

Die Symbolisierung ist also eine ernsthafte Angelegenheit, da durch Symbole menschliches Leben erst als ein sinnvolles erlebt und interpretiert werden kann. „Wer auch immer denkt, strukturiert den Kosmos seines Bedeutungsuniversums durch Metaphern“ (Lakoff/ Johnson 1998, S. 7). So haben auch gemäß empirischen Befunden aus der Psychotherapieforschung Symbole die Funktion, Sinnstrukturen zu konstituieren (Buchholz 1996). Es gibt einen Zusammenhang von psychischer Gesundheit und dem Reichtum an symbolischen Bildern. Die nackten Fakten und Erklärungen der Welt stiften noch keinen Sinn, wohl aber deren persönliche Aneignung. Durch Metaphern kann einer an sich unbegreiflichen Welt Sinn verliehen werden. Bilder, die uns vertraut sind, die gewohnten Kontexten entstammen, können somit Unsicherheit reduzieren. Die Analyse von Metaphern hat die Aufgabe, „an die Substruktur des Denkens heranzukommen, an den Urgrund, die Nährlösung der systematischen Kristallisationen“ (Blumenberg 1998, S. 13). Symbolsierungen sind somit nicht Realitätsverkennungen oder -verzerrungen, wie es die frühe Psychoanalyse noch angenommen hat (siehe unten), sondern im Gegenteil „Modelle in pragmatischer Funktion“ (Blumenberg 1998, S. 11) zur sinnhaften Orientierung in der Realität einerseits und zugleich zur Strukturierung der Realität andererseits. Die Metapher von der „Lesbarkeit der Welt“ trifft eben diesen Aspekt, nämlich den Wunsch, die Welt möge sich in anderer Weise als der bloßen Wahrnehmung und sogar der exakten Vorhersagbarkeit ihrer Erscheinungen zugänglich erweisen: im Aggregatzustand der ‚Lesbarkeit‘ als ein Ganzes von Natur, Leben und Geschichte sinnspendend sich erschließen (Blumenberg 1981, S. 10).

Dieser Wunsch als Inbegriff des „Sinnverlangens an die Realität“ ist Grundlage und Motor für Religion, Kultur und aufgeklärte Wissenschaft. Blumenberg verfolgt diesen Wunsch von der griechischen Kosmogonie und dem biblischen Weltverständnis, über Goethes Naturauffassung bis hin zur modernen Biologie, dem genetischen Code. Die Lesbarkeit der Welt erweist sich dabei als eine Konkretisierung des menschlichen Bedürfnisses, die Welt und die Natur mit Bedeutung und Sinn zu versehen und sie so zu verstehen. Die „Lesbarkeit“ ist natürlich ihrerseits eine Metapher. Sie zeigt an, dass das Lesen der Welt nicht in der Sprache der Welt erfolgt, sondern gemäß den Metaphern, den Bildern, den Welt-Bildern des Menschen. Durch Metaphern kann zwar die Welt gelesen werden, aber die jeweiligen Bilder strukturieren die Phänomene und Gegenstände vor. In der Metapher verbinden sich eben Ich- und Welt-Anteile, es ist der Bezug zur Welt, der in der Metapher verdichtet ist – und das in historischen und kulturellen Spielarten. Metaphern organisieren auf diese Weise als Deutungsmuster die Aneignung von Welt. So kann die Welt vertraut werden, nicht zuletzt, weil wir uns in ihr wiederfinden können. Durch Metaphern finden wir einerseits einen Zugang zu den Dingen der Welt, andererseits zeigt der metaphorische Charakter unseres Weltbezugs an, dass wir keinen unmittelbaren Zugang zu den Dingen haben. Mit Cassirer gehe ich also davon aus,

2.3 Der Mensch als „animal symbolicum“

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daß ‚Ich‘ und ‚Du‘ nicht fertige Gegebenheiten sind, die durch die Wirkung, die sie aufeinander ausüben, die Formen der Kultur erschaffen. Es zeigt sich vielmehr, daß in diesen (symbolischen) Formen und kraft ihrer die beiden Sphären, die Welt des ‚Ich‘ und die des ‚Du‘, sich erst konstituieren. Es gibt nicht ein festes, in sich geschlossenes Ich, daß sich mit einem ebensolchen Du in Verbindung setzt und gleichsam von außen in seine Sphäre einzudringen sucht (Cassirer 1961, S. 50f.).

Stattdessen muss man sich – so Cassirer – in den „Mittelpunkt jenes Wechselverkehrs“ versetzen. Der Gedanke des „Mittelpunkts des Wechsel-verkehrs“ zwischen Ich und Welt entspricht genau dem Konzept, dass das Verhältnis von Ich und nichtmenschlicher Umwelt als Interaktion, als Beziehung gedacht werden muss, dass mithin die nichtmenschliche Umwelt, auch die Natur, eine psychische Bedeutung haben muss (siehe Kapitel 2.2). Da Symbolisierungen auf realen Erfahrungen beruhen und diese verdichten, sind Symbole auch Ausdruck der Qualität und der Tönung unserer Beziehung zur Welt. Sie repräsentieren Weltbezug und Lebensgefühl zugleich. Noch deutlicher als in der philosophischen Metapherntheorie wird durch die Psychoanalyse das Subjekt in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt. Der Fokus verschiebt sich damit von einem eher erkenntnistheoretischen Schwerpunkt auf eine individuelle Perspektive, auf die Perspektive des Subjekts: Wie gelingt es den Subjekten, eine Verbindung von Innen und Außen herzustellen, eine „Begegnung“ von Ich und Du zu inszenieren? Dazu werde ich im Folgenden einige Aspekte der psychoanalytischen Symboltheorie zusammentragen, um dann im nächsten Abschnitt (Kapitel 2.4) den „Mittelpunkt jenes Wechselverkehrs“ in den Blick zu nehmen. Dazu werde ich die Winnicottschen Begriffe der Übergangsphänomene und des potentiellen Raums heranziehen. Für die Freudsche Psychoanalyse ist das Symbol Ausdruck einer Erfahrung, in der Regel einer vergessenen beziehungsweise verdrängten Erfahrung. Angesichts der radikal-aufklärerischen Perspektive von Freud war dies gleichbedeutend mit dem Programm, diese Erfahrungen wieder zurückzugewinnen. Sie sollten gewissermaßen direkt wiederbelebt werden, ohne Umschreibung durch Symbole. Letztlich galt es, die Symbole zu desymbolisieren. In den Anfängen der Psychoanalyse galt das Symbol also noch als Anzeichen für Entstellung von eigentlich Gemeintem, das der Aufklärung bedarf. In der Traumdeutung entwickelte Freud (1900) folgendes Symbolverständnis: Die Bilder des Traumes sind ein symbolischer Ersatzausdruck für unbewusste Vorstellungen, die nur über eine symbolische Entstellung die Zensur umgehen können. In der sogenannten Traumarbeit wird der unbewusste Gehalt, der latente Trauminhalt, überführt in den manifesten Trauminhalt, der lediglich symbolisch die unbewussten Inhalte darstellt. Die symbolische Darstellung ist ein Kompromiss zwischen den unbewussten Regungen und einer normgebenden Zensur, der durch Verschiebung, Verdichtung, Verkehrung ins Gegenteil zustande kommt. Für Freud ergibt sich hier eine auffällige Parallele zum neurotischen Symptom. Auch dieses sei eine symbolische Lösung für den eigentlichen Konflikt, der allerdings auf diese Weise unbewusst bleiben kann beziehungsweise muss. Beispielsweise wird bei einer Phobie das eigentliche Angstobjekt durch ein zufälliges an27

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2 Die psychische Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt

deres Objekt (zum Beispiel ein Tier) symbolisch ersetzt. Das Ziel der psychoanalytischen Behandlung ist, diese Symbolisierung rückgängig zu machen, um sich der unmittelbaren Realität stellen zu können. Die Verdrängung soll aufgehoben werden, was idealtypisch in der völligen Aufklärung der Symbole geschehen würde. „Nur was verdrängt ist, wird symbolisch dargestellt, nur was verdrängt ist, bedarf der symbolischen Darstellung“, fasst Ernest Jones (1919) die klassische Freudsche Position zusammen. Dieses Symbolverständnis steht eindeutig in der aristotelisch geprägten Tradition, wonach Symbole lediglich Ausdruck unklarer Gedanken, bestenfalls rhetorisches Ornament sind und letztlich in logische und klare Aussagen überführbar sind. Dieses Symbolverständnis unterstellt, dass wir gleichsam direkten Weltbezug – jenseits und unabhängig von symbolischen Formen – haben könnten. Genau dies kann jedoch nach den Überlegungen im Anschluss an vor allem Cassirer und Blumenberg nicht angenommen werden. Der Mensch ist als animal symbolicum geradezu auf Symbole angewiesen, um verdrängte Erfahrungen wiederzugewinnen. Es geht also bei der Wiedergewinnung von Erfahrung nicht um Desymbolisierung, sondern um Resymbolisierung. Entsprechend hat Lorenzer (1983) den Freudschen Symbolbegriff sozusagen vom Kopf auf die Füße gestellt. Danach muss das Symbol geradezu als Anzeichen von Bewusstheit verstanden werden, während Verdrängung der Vorgang ist, durch den Symbole aus der Kommunikation ausgeschlossen werden. Solchermaßen verwandelte Symbole nennt Lorenzer Klischees. Insofern ist die Freudsche Position genau umgekehrt: Nicht die Symbolbildung ist Ausdruck der Neurose, sondern der Verzicht auf die Symbolisierung. Wichtig ist der Gedanke, dass der Verzicht auf Symbolisierung nicht etwa notwendig zu Aufklärung und mehr Klarheit führt, also zu einer eindeutigen und logischen Form des ehemals Symbolisierten, sondern im Gegenteil zu einer klischeehaften Verzerrung. Wir müssen also – und das ist eine der Haupteinsichten, die wir der Psychoanalyse in unserem Zusammenhang verdanken – bei der symbolischen Übertragung unterscheiden: Wir müssen unterscheiden • in Symbole, die sinnhaftes menschliches Leben erst ermöglichen und die auch nur um den Preis der Zerstörung von Sinn aufklärbar sind. • in Klischees, die Ausdruck von Verdrängtem sind und deren Bildhaftigkeit verdunkelt und verschleiert. Der Versuch der Aufklärung dieser „Symbole“ bleibt weiterhin das berechtigte Anliegen der Psychoanalyse und das einer kritischen Hermeneutik. In dieser Differenzierung ist sowohl der aufklärerische Impetus der (Freudschen) Psychoanalyse als auch das „Sinnverlangen an die Realität“ im Sinne von Blumenberg berücksichtigt, wobei es freilich nicht immer einfach ist, zwischen sinnstiftenden Symbolen und sinnentstellenden Klischees zu unterscheiden.

2.4 Naturerfahrungen als Übergangsphänomene

2.4 2.4

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Naturerfahrungen als Übergangsphänomene Naturerfahrungen als Übergangsphänomene

Nun wird der besagte „Mittelpunkt jenes Wechselverkehrs“ zwischen Ich und Du, Innen und Außen, Subjekt und Objekt genauer in den Blick genommen. Cassirers symboltheoretische Position, wonach es „nicht ein festes, in sich geschlossenes Ich“ gäbe, das sich mit einem ebensolchen Du in Verbindung setzen könne (vgl. Cassirer 1961, S. 50f.), findet sich in Winnicotts Theorie der Übergangsphänomene wieder. Entscheidend ist dabei der Umstand, dass diese Verbindung zwischen dem Selbst und der Welt der Objekte nicht nur eine entwicklungspsychologisch frühe Stufe ist, sondern dass dieser Übergangsraum – wenn auch im ersten Lebensjahr gleichsam „erfunden“ – prinzipiell von Winnicott zu den Bedingungen menschlicher Existenz gerechnet wird. Die Übergangsobjekte haben nach Winnicott eine Mittlerrolle zwischen Objekt- und Subjektwelt. Dabei ist sicherlich bedeutsam, dass die Übergangsobjekte nichtmenschliche Objekte sind. Insofern ist die Theorie der Übergangsobjekte auch ein wichtiger kategorialer Rahmen zum Verständnis des kindlichen Verhältnisses zur nichtmenschlichen Umwelt, auch des Verhältnisses zu Naturphänomenen. Zur Reflexion der grundlegenden Frage, auf welche Weise der Mensch die gleichzeitige Existenz einer innerseelischen und einer äußeren, materiellen Realität der ihn umgebenden Welt miteinander vereinbart, schlägt Winnicott den Begriff des „Übergangsraums“ oder „potentiellen Raums“ vor. Es handelt sich dabei um einen fiktiven Raum, in dem der Mensch sich quasi oszillierend zwischen seinen innerseelischen Prozessen und den materiellen Gegebenheiten der äußeren Welt hin und her bewegt. Solche Vorgänge sind besonders gut im Spiel der Kinder nachvollziehbar. Nach Winnicott gibt es die scharfe Trennung von seelischem Innenraum und äußerer Realität nicht; insofern postuliert er einen dritten Bereich, in dem Innen und Außen vermittelbar sind. Meines Erachtens ist noch ein dritter Aspekt notwendig, sobald man diese beiden Arten der Darstellung für erforderlich hält: Dieser dritte Bereich des menschlichen Lebens, den wir nicht außer Acht lassen dürfen, ist ein intermediärer Bereich von Erfahrungen, in den in gleicher Weise innere Realität und äußeres Leben einfließen. Es ist ein Bereich (…), in dem das Individuum ausruhen darf von der lebenslänglichen menschlichen Aufgabe, innere und äußere Realität voneinander getrennt und doch in wechselseitiger Verbindung zu halten. … Deshalb untersuche ich das Wesen der Illusion, die dem Kleinkind zugebilligt wird und im Leben des Erwachsenen einen bedeutsamen Anteil an Kunst und Religion hat (Winnicott 1951, S. 11f.).

In diesem Sinne könnte der Übergangsraum der psychische Ort sein, in dem die besagte Verwandtheit zwischen Mensch und nichtmenschlicher Umwelt repräsentiert ist. Die nichtmenschliche Umwelt bekommt nach Winnicott nun zum ersten Mal im Leben der Kinder eine wichtige Bedeutung, wenn das Kind beginnt, sich seiner absoluten und existentiellen Abhängigkeit von der Mutter und zugleich seiner Getrenntheit von ihr bewusst zu werden. In einer solchen Situation kreiert das Kind sozusagen das Übergangsobjekt: Nichtmenschliche Gegenstände – ein Teddy, ein Tuch, der Zipfel der Bettdecke, ein Kissen u. v. m. – gewinnen auf diese Weise eine besondere Bedeutung; sie werden zum Symbol, 29

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2 Die psychische Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt

das hilft, die Angst auszuhalten. In diesem Prozess bekommt ein Objekt der nichtmenschlichen Welt die Funktion, über die drohende und auch reale Trennung von den Menschen hinwegzutrösten und Halt zu gewähren. Dieses Objekt symbolisiert nicht nur die Mutter, es symbolisiert vor allem die kreative Lösung und die Fähigkeit, mit einer solchen Situation umgehen zu können. Im Gegensatz zu der nicht völlig kontrollierbaren Mutter hat ein solches Objekt auch noch den Vorzug, dass es besser kontrollierbar ist. Möglicherweise kann der psychische Wert von Naturphänomenen – zum Beispiel das Halten von Heimtieren (Kapitel 10), das Herumstreunen in wilder Natur (Kapitel 5) oder auch die Vorliebe für Pflanzen (Kapitel 12) – auch mit der Theorie der Übergangsobjekte verstanden werden, zumal, wie zu zeigen sein wird, die Beschäftigung mit verschiedenen Naturphänomenen durchaus die tröstende und haltende Funktion hat, wie sie Winnicott für die Übergangsobjekte beschrieben hat. Die Übergangsphänomene sind insofern paradox, als sie sowohl das subjektive Innen als auch das objektive Außen repräsentieren. Dass ein Ding zugleich Teil der äußeren Welt und der inneren Welt ist, ist ein „Paradox, das ich hinnehme und nicht aufzulösen versuche. Das Kleinkind kann die Trennung von Objektwelt und Selbst nur vollziehen, weil es zwischen beiden keinen leeren Raum gibt“ (Winnicott 1971, S. 125). Diesen Raum nennt Winnicott den potentiellen Raum, weil in ihm Spiel, Illusion und Symbolisierungsprozesse stattfinden können. Dieser paradoxe Raum des Übergangs, der Illusion, des Symbols ist eine Vermittlung zwischen „subjektivem Objekt und objektiv wahrgenommenem Objekt, zwischen Ich und Nicht-Ich“ (Winnicott 1967, S. 116). Auch die Symbolschicht haben wir in Kapitel 2.3 als einen dritten Bereich konzeptualisiert, als einen Raum des Übergangs zwischen Ich und Welt. Symbolisierungsprozesse nehmen demzufolge notwendig ihr Material sowohl aus der Welt als auch aus dem Ich. Der potentielle Raum der Übergangsphänomene und der Symbole stellt eben jenen Schutz zwischen Ich und Welt dar, den Cassirer als notwendig für das animal symbolicum angenommen hat. Ohne sich auf metapherntheoretische Ansätze aus der Philosophie zu beziehen, behauptet Winnicott genau dies, nämlich daß kein Mensch frei von dem Druck ist, innere und äußere Realität miteinander in Beziehung setzen zu müssen, und daß die Befreiung von diesem Druck nur durch einen nicht in Frage gestellten intermediären Erfahrungsbereich (in Kunst, Religion usw.) geboten wird (Winnicott 1951, S. 24).

Übergangsobjekte haben allerdings nicht nur die beschriebene Funktion für die Bewältigung von Angst, sie zeigen überhaupt auch ein wachsendes Interesse an der dinglichen Objektwelt an. Stevenson (1954) untersuchte in einer Befragung bei Londoner Müttervereinigungen die Qualität der Übergangsobjekte und auch, wie die Mütter damit umgehen. Besonders interessant sind Beobachtungen von Kindern, die sich keine Übergangsobjekte geschaffen haben: Solche „objektlosen“ Kinder machten nicht einmal den Versuch, irgendwelche Gegenstände in Besitz zu nehmen, und zwar deshalb, weil weder nichtmenschliche Gegenstände noch menschliche Beziehungen für sie Bedeutung hatten. Stevenson inter-

2.4 Naturerfahrungen als Übergangsphänomene

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pretiert diese Befunde dahingehend, dass eben die grundlegenden Beziehungen zur Welt der Objekte nicht zustande gekommen sind. Solche Kinder bleiben in doppelter Weise einsam: sowohl im Hinblick auf die primären menschlichen Objekte als auch im Hinblick auf die nichtmenschliche Umwelt. Die Fähigkeit zum Erwerb von Übergangsobjekten zeigt insofern sowohl eine hinreichend geglückte Beziehung zu Menschen als auch eine hinreichend geglückte Beziehung zu belebten und unbelebten Dingen an – ein Aspekt der Übergangsobjekte, der bisher und wohl auch von Winnicott selbst übersehen wurde. Man kann vor dem Hintergrund der Selbstpsychologie und Narzissmustheorie einzelne Objekte der nichtmenschlichen Umwelt auch als Selbstobjekte beschreiben. Das sind äußere Objekte, die (zumindest partiell) als ein Teil des eigenen Selbst erlebt werden. Auch hier gibt es ähnlich wie bei den Übergangsobjekten eine Verbindung von innerer und äußerer Welt, wenn auch der Terminus Selbstobjekt wiederum nur menschliche Objekte meint. Wenn wir jedoch den psychoanalytischen Objektbegriff auf nichtmenschliche Gegenstände ausdehnen, wird der Gedanke Kohuts (1973) auch für unseren Zusammenhang bedeutsam, dass es nämlich für eine gesunde psychische Entwicklung unerlässlich sei, positive Selbstobjekte zu haben. Wenn nämlich die Natur oder einzelne Naturphänomene solche Selbstobjekte sein können, wird die Zerstörung der Natur – neben der biologisch-ökologischen Belastung – auch psychische Folgen haben (vgl. Kapitel 14). Die nichtmenschliche Umwelt hat – unabhängig von der Annahme der subjektiv empfundenen Einheit von Ich und Welt zu Beginn des individuellen Lebens – in der psychischen Entwicklung des Kindes eine wichtige Bedeutung, die im Rahmen der Theorie der Übergangsphänomene gesehen werden kann. Searles behauptet sogar, dass […] diese nichtmenschliche Umwelt offenbar im Leben eines normalen Säuglings und Kindes signifikant zu einer emotionalen Sicherheit beiträgt, zu seinem Gefühl stabiler und kontinuierlicher Erfahrungen sowie zu seiner sich entwickelnden eigenen Identität (Searles 2016, S. 87).

So ist die nichtmenschliche Umwelt – und dazu gehören Tiere, Pflanzen, unbelebte Gegenstände – der unerlässliche Kontext, der Hintergrund, der Rahmen, in dem die Ichentwicklung, die Entwicklung der Beziehung zu Menschen sich vollzieht. Aus diesem Rahmen können dann – individuell und nach Bedarf – Übergangsobjekte oder Symbole entnommen beziehungsweise gebildet werden. In der Auseinandersetzung mit der nichtmenschlichen Umwelt lernt das Kind also sich beziehungsweise seine Grenzen kennen und bezieht diese Erkenntnisse auch auf menschliche Beziehungen. Umgekehrt wird die nichtmenschliche Umwelt natürlich auch im Lichte der Erfahrung gesehen, die das Kind mit den menschlichen Bezugspersonen gemacht hat. Aneignung der nichtmenschlichen Umwelt, insbesondere der Natur, ist auch zugleich Selbstaneignung. Menschliche und nichtmenschliche Umwelt bedingen sich gegenseitig; eine Umwelt, die im Sinne von Winnicott haltend ist, muss insofern beide (haltenden) Elemente enthalten. Auch Erikson (1937) und Mahler (1958) berichten von Fällen, bei denen nichtmenschliche Umweltelemente als Hilfsmittel dienten (ähnlich wie

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2 Die psychische Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt

Übergangsobjekte), innerseelische Konflikte und auch reale zwischenmenschliche Versagungen besser auszuhalten. Auf die zentrale Rolle der nichtmenschlichen Umwelt für die Entwicklung des Selbst weist auch die Philosophin Susanne Langer (1965) innerhalb ihres symboltheoretischen Ansatzes hin, der von der Psychoanalyse beeinflusst ist und der umgekehrt auch von der psychoanalytischen Symboltheorie aufgegriffen wurde (z. B. Lorenzer 1970). Vor allem wegen der relativen Überschaubarkeit, Einfachheit und Stabilität der nichtmenschlichen Umwelt eigne sich diese – so Langer – dazu, einerseits einen stabilen Hintergrund für die Selbstentwicklung abzugeben und andererseits auch dazu, als Projektionsfläche für die Symbolbildung zu dienen. Nach dieser symboltheoretischen Auffassung braucht der Mensch als „animal symbolicon“ die nichtmenschliche Umwelt auch dazu, um aus ihr Material für die spezifisch menschliche Symbolbildung zu gewinnen. So bringt Langer ausdrücklich die Entwicklung des Selbst und die Fähigkeit, Symbole für Gefühle oder Vorstellungen zu bilden, in einen engen Zusammenhang. Sie hält es auch für sehr naheliegend, dass in archaischen Kulturen Gottheiten (als Innbegriff bestimmter moralischer Qualitäten) oft Tiergestalt hatten. Ein ähnlicher Prozess spielt sich nun auch beim Kleinkind ab: Kinder nutzen auf symbolische Weise Elemente der nichtmenschlichen Umwelt, um sich einerseits von der Komplexität der menschlichen Beziehungen zu entlasten und auch, um eben diese menschlichen Beziehungen zu strukturieren. In welcher dinglichen Welt also Kinder aufwachsen – und das betrifft Räume, Spielzeug und auch Kontakt zu lebendiger Natur – bestimmt neben der Art und Qualität der personalen Zuwendung die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern grundlegend. Es ist davon auszugehen, dass „das Kind den Stoff für seine Symbolschöpfungen […] aus der begegnenden Welt“ (Bittner 1981, S. 200) nimmt. In unserem Zusammenhang ist freilich zu fragen, was passiert, wenn Kinder in einer Welt aufwachsen, in der Naturphänomene wie Tiere und Pflanzen entweder immer seltener werden oder die gar zerstört ist? Diese Frage wird in den Abschnitten zur Funktion von Naturerfahrungen in der Kindheit (Kapitel 5) und zur kindlichen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsweise der Umweltzerstörung (Kapitel 14) wieder aufgenommen und diskutiert werden. Die nichtmenschlichen Objekte sind unter anderem deshalb für das Kind so wichtig, weil sie gerade wegen ihrer Nichtmenschlichkeit manipulierbar sind, was freilich für die belebte Umwelt des Kindes nicht so ohne weiteres, jedenfalls nicht immer zutrifft. Sie können als Refugium angesichts schwieriger menschlicher Verhältnisse fungieren. Im Verlaufe der Pubertät wendet sich allerdings – Searles zufolge – der Jugendliche verstärkt menschlichen Objekten zu, was freilich voraussetzt, dass die nichtmenschliche Umwelt nach wie vor eben als Refugium zur Verfügung steht. So hängt die Konstituierung des Selbst wesentlich mit den Erfahrungen zusammen, die das Subjekt mit „Objekten“ gemacht hat. Dass diese Objekte sowohl Menschen als auch „Dinge“ sein können, ist vor dem Hintergrund der dargelegten symboltheoretischen Überlegungen nicht mehr so verwunderlich und entspricht den Einsichten der Psychoanalyse ebenso wie denen der Ökologischen Psychologie. In diesem Zusammenhang bedeutsam sind empirische Befunde, die die Bedeutung der Dinge bei der Entwicklung des

2.5 Zur Entsprechung von innerer Natur und äußerer Natur

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Selbstkonzepts von Kindern und Jugendlichen beschreiben (Fuhrer 1995, Fuhrer/Laser 1997). Bei dem Versuch einer solchen „ökologischen Konzeption des Selbst“ (Hormuth 1990) zeigt sich, dass Dinge aus der Umwelt im Sinne einer symbolischen Selbstdefinition herangezogen werden. Besonders bedeutsam sind die Dinge gemäß den Untersuchungen von Fuhrer im Übergang vom frühen zum mittleren Jugendalter, was interessanterweise den Vorstellungen von Rousseau relativ nahe kommt, der wie gesagt (siehe Kapitel 2.1) im Emile den Dingen bis zu einem Alter von 12 Jahren eine besondere Bedeutung beimisst. Je 30 Mädchen und Jungen im Alter zwischen 10 und 18 Jahren sollten die Dinge, Orte und Personen mit einer Kamera aufnehmen, die ihnen wichtig sind und die Teil ihres Selbstkonzepts sind. Es zeigt sich, dass Mädchen mehr Personenaufnahmen als die Jungen machen, die Jungen dagegen mehr Orte. Im Hinblick auf den Altersverlauf ist erwähnenswert, dass die Jungen mit zunehmendem Alter weniger Dinge fotografierten, während es bei den Mädchen genau umgekehrt ist (Fuhrer/Laser 1997). In diesem Zusammenhang interessant sind Untersuchungen der Chicagoer Schule in der Nachfolge von G. H. Mead zur Bedeutung von „liebgewordenen Gegenständen“, die zwar keine Übergangsobjekte im Winnicottschen Sinne sind, aber Objekte, in und mit denen symbolisch menschliche Aktivitäten und Erinnerungen repräsentiert werden können. Bei der Erforschung solcher liebgewordener Gegenstände (Csikszentmihalyi/ Rochberg-Halton 1978) zeigte sich, dass Naturphänomene eine nicht unbedeutende Rolle spielen: Für Kinder sind die liebgewordenen Gegenstände besonders häufig Haustiere, für Erwachsene mittleren Alters Pflanzen und für ältere Menschen Porzellan. Die liebgewordenen Gegenstände fungieren entweder als Erinnerungsbehälter oder – und zwar besonders bei Tieren – als Anregung zu Aktivität. Jüngere Menschen orientieren sich eher an Aktionsobjekten, während erwachsene und ältere Menschen eher Kontemplationsobjekte bevorzugen. Zumindest ähnlich den Übergangsobjekten tragen bedeutsame und eben liebgewordene Gegenstände dazu bei, das Erleben von innerer und äußerer Welt zu strukturieren und zugleich in Verbindung zu halten.

2.5 2.5

Zur Entsprechung von innerer Natur und äußerer Natur: Naturverhältnis und Selbstverhältnis Zur Entsprechung von innerer Natur und äußerer Natur

Insgesamt haben die Überlegungen dieses Kapitels gezeigt, dass und wie sehr die (nichtmenschliche) Umwelt auch psychisch wirksam ist. Natürlich nicht alles, aber ein sehr großer Bereich dieser nichtmenschlichen Umwelt ist nun die äußere lebendige Natur. Die Art und Qualität der Natur beziehungsweise unserer Naturerfahrungen wird wesentlich die psychische Befindlichkeit beeinflussen; insofern sind die Ausführungen dieses Kapitels der theoretische Hintergrund, vor dem die einzelnen Befunde zur (psychischen) Bedeutung von Naturphänomenen, wie sie in den folgenden Abschnitten entfaltet werden, zu sehen sind. Der Grundgedanke dabei ist, dass es eine klare und endgültige Trennung von Innen und Außen nicht gibt. Die äußere Natur beeinflusst immer auch die innere, psychische 33

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2 Die psychische Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt

Natur des Menschen und umgekehrt. Unser Naturverhältnis und unser Selbstverhältnis hängen zusammen (Gebhard 2005b, 2018b) Die Natur kann symbolisch zum Spiegel des Menschen werden und deshalb treten in unseren Naturbeziehungen auch Selbstaspekte zu Tage beziehungsweise werden uns zugänglich. Böhme (2014) nennt die Ausdrucksform dieses Übergangsbereichs von Subjekt und Objekt, von Mensch und Natur in seiner Naturästhetik „Atmosphäre“ (siehe Kapitel 6) und Jung (2005) führt in diesem Zusammenhang den Begriff „Psychotoperfahrung“ ein. Die Natur wird also – wie das Caspar David Friedrich ausdrückt – zur „Membran subjektiver Erfahrungen und Leiden“ (zitiert nach Altner 1991, S. 9). Dass in Naturerfahrungen Selbst- und Naturbezug zusammengehen, macht auch verstehbar, dass dabei die Natur häufig auf anthropomorphe Weise eine physiognomische Gestalt annimmt (Kapitel 4). Auf symbolische Weise fühlt man sich bei Naturerlebnissen „gemeint“ und angesprochen. Das gilt bei der Wirkung von Landschaften (Kapitel 5) ebenso wie bei der Beziehung zu (Heim-)Tieren (Kapitel 10) und Pflanzen (Kapitel 12), die subjektiv als bedeutungsvoll interpretiert werden. Die anthropomorphe Interpretation von Natur allein macht allerdings den Selbstbezug bei unseren Naturbeziehungen noch nicht verständlich. Es muss noch ein entscheidender zusätzlicher symbolischer Akt hinzugedacht werden. In literarischen Zeugnissen und Berichten von Naturerfahrungen fällt zusätzlich auch die häufige Verwendung von Natursymbolen zur Interpretation des Menschen bzw. sich selbst auf. Die Natur kann gewissermaßen als ein Symbolvorrat für Selbstdeutungen des Menschen fungieren. Man kann verwurzelt sein wie ein Baum oder fromm wie ein Lamm. Der grünende Frühling kann zum Hoffnungsträger werden oder wir können uns fühlen wie ein Fisch im Wasser. Man könnte derartige Symbolisierungsprozesse in logischer Umkehrung zu den anthropomorphen Interpretationen „physiomorphe“ Interpretationen nennen. Durch diesen Deutungsmusterzirkel – anthropomorph gedeutete Naturobjekte werden durch physiomorphe Deutungsmuster wieder zurück auf das Subjekt bezogen (vgl. Keil 1993) – können die mit Bedeutung versehenen Naturobjekte zu Selbstaspekten werden. Die seelischen Objektrepräsentanzen enthalten nicht lediglich das getreue Spiegelbild der äußeren Welt, sondern sind mit symbolischer Bedeutung versehen, in der die Beziehung zu den Objekten verankert ist. Auf diesem Wege beeinflussen sie auch das eigene Selbst. Die nichtmenschliche Umwelt, die Natur, ist somit nie nur das äußere Phänomen, sondern immer auch ein mit (subjektiver) Bedeutung aufgeladenes Symbolsystem. „Selbstsein und Natursein stehen sich gegenüber als zueinander gehörig“ (Jaspers 1973, S. 174). Die Bedeutungen jedoch, die Naturphänomene in symbolischer Hinsicht haben, sind keine Eigenschaften der Naturphänomene, sondern Schöpfungen des Menschen. Eben deshalb kann mit Naturerfahrung auch Selbsterfahrung verknüpft sein. Natursymbole können genutzt werden, uns selbst zu beschreiben und zu verstehen. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine Homologie, die eine strukturelle Wesensverwandtschaft unterstellen würde, sondern um eine Analogie, die die Natur als symbolischen Spiegel gleichsam nutzt. So wirkt die äußere Welt bzw. die Natur als ein Symbolisierungsanlass, der ein Selbstverständnis des Menschen ermöglicht und damit Identität konstituiert.

2.5 Zur Entsprechung von innerer Natur und äußerer Natur

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Der Zustand der äußeren Natur und der Zustand der inneren Natur korrespondieren also. Eine vielfältige und intakte äußere Natur wird sich insofern positiv auf die psychische Befindlichkeit oder geradezu Gesundheit auswirken. Jedoch ist die menschliche Beziehung zur (äußeren) Natur eine dialektische: Genauso, wie sich die äußere Natur psychisch niederschlägt, ist der Zustand der äußeren Natur auch als ein Spiegelbild der inneren psychischen Verfassung des Menschen zu interpretieren. Die Umweltzerstörung ist kein Naturereignis, sondern ist sozialpsychologisch mit der Situation des neuzeitlichen Menschen in Verbindung zu bringen. Dieses dialektische Spiegelverhältnis zwischen innerer Natur und äußerer Natur wird im Folgenden immer im Blick zu behalten sein, wenn über den psychischen Stellenwert einzelner Naturphänomene nachgedacht wird. Noch eine abschließende Bemerkung: Natürlich gehört zu den notwendigen und legitimen Entwicklungsschritten in unserer Gesellschaft die Trennung von Innen und Außen. Jedoch kann diese Trennung wohl auch zu scharf sein, so dass die Wechselbeziehung zwischen Innen und Außen gehemmt ist, was Folgen sowohl für die Umwelt als auch für die Innenwelt hat. Kinder, wie zu zeigen sein wird, entziehen sich (noch) einer solch exakten Trennung und Differenzierung. Ihre Gefühle, Stimmungen, Phantasien und Bedürfnisse korrespondieren (noch) freier, vielleicht auch harmonischer mit der Welt der äußeren Natur und der Dinge.

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3

Was ist „Natur“? 3 Was ist „Natur“?

Ist nicht Natur Natur? Ist es nicht egal? (Mädchen, 9 Jahre)

3.1 3.1

Aspekte des Naturbegriffs Aspekte des Naturbegriffs

Die grundlegende Fragestellung dieses Buches nach der Bedeutung von Natur für die seelische Entwicklung von Kindern macht es notwendig, den schillernden Begriff „Natur“ in den Blick zu nehmen und ihn – eingedenk seiner kulturellen und naturphilosophischen Dimensionen (siehe ausführlicher zum Beispiel Böhme 1992, Erdmann/Mues 2017, Gloy 1995, Grossklaus/Oldemeyer 1983, Kirchhoff et al. 2020, Mittelstrass 1981, Schäfer 1993, Seel 1991, Weber 1989, Zimmermann 1982) – auch einzugrenzen. Dabei ist davon auszugehen, dass die selbstverständliche Rede von Natur nicht mehr ohne weiteres möglich oder sogar „anachronistisch“ (Hauser 1996, S. 85) geworden ist. Zu vielfältig sind die Naturbegriffe, zu viele zum Teil auch illusionäre Hoffnungen und Interessen knüpfen sich an „Natur“ – und das in historischen und kulturellen Spielarten. Der „hohe Grad der Unbestimmtheit des Begriffsinhaltes von ‚Natur‘“ – so der Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung bereits 1987 – kann hier nicht ignoriert werden. So wird im Folgenden der Versuch gemacht, den Naturbegriff für unsere psychologische Fragestellung zu explizieren. Dabei wird der Naturbegriff eine Akzentuierung in zweifacher Hinsicht erfahren: Zum einen wird abgehoben auf die phänomenologische Ebene: Natur als das Gesamt von Naturphänomenen, also Tieren, Pflanzen, Landschaften, wobei die unbelebte Natur in diesem Buch weitgehend unbehandelt bleibt. Und zum anderen wird – vor dem Hintergrund der symboltheoretischen Überlegungen in Kapitel 2 – Natur als umfassendes Symbol begriffen. Damit bekommt der ästhetisch-symbolische Aspekt des Naturbegriffs für die hier diskutierte psychologische Frage einen wichtigen Stellenwert. Die Frage nach dem psychologischen Verhältnis von Mensch und Natur könnte die Annahme implizieren, dass es in der inneren Natur des Menschen konstante Bedingungen gibt, die sein Verhältnis zur äußeren Natur bestimmen. Von dieser Annahme wird hier jedoch eher nicht ausgegangen, auch wenn die Frage, ob es ein quasi biologisch fundiertes „Naturbedürfnis“ des Menschen gibt, in Kapitel 9 vorsichtig diskutiert wird. Der Mensch ist nämlich immer zugleich Teil und Gegenüber der Natur (vgl. Kattmann 1997); angesichts © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Gebhard, Kind und Natur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21276-6_3

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3 Was ist „Natur“?

dieser Dialektik lässt sich auch sein psychologisches Verhältnis zur Natur immer nur als ein Spannungsverhältnis begreifen, das zudem auch nur historisch zu erfassen ist. Sowohl das menschliche Verhältnis zur Natur als auch der Naturbegriff unterliegen jeweils kulturellen Einflüssen und sind keine Konstanten. Es handelt sich nämlich immer um von Menschen angeeignete und bereits reflektierte Natur, die ohne die Beziehung zu ihr gar nicht zu denken ist. Insofern ist die Frage nach der psychischen Bedeutung von Natur letztlich eine kulturwissenschaftliche beziehungsweise eine kulturpsychologische Fragestellung (vgl. Sichler 1992). Die Bedeutung, die Natur und Landschaft haben, sind insofern weniger Eigenschaften der Natur bzw. der Landschaft, sondern Interpretationen des Menschen (Hunziker 2010). Jede Trennung von Mensch und Natur unterschlägt, dass der Mensch auch Natur ist. Damit wird allerdings zugleich ermöglicht, dass die Natur zum Gegenstand objektivierender naturwissenschaftlicher Forschung wird – im Übrigen auch der Mensch als Naturwesen selbst. So kann die Frage, was Natur ist, auch ironischerweise nicht von den Naturwissenschaften geklärt werden und konsequent schlägt Böhme (1992, S. 35) vor, „den Begriff Natur aus den Naturwissenschaften überhaupt zu streichen.“ Dass der Mensch Teil der Natur ist, tritt am klarsten zu Tage an seiner Körperlichkeit. Deshalb kommt dem menschlichen Leib … eine ganz zentrale Rolle in seiner Beziehung zur Natur zu, weil im menschlichen Leib die Naturbeziehung zu einer Selbstbeziehung des Menschen wird. (Böhme 1992, S. 53)

Insofern wir als leibhaftige Wesen selbst auch Natur sind, ist es möglich, Naturerfahrungen zu machen, weil Natur nicht nur das außer uns liegende ist. Oder umgekehrt formuliert: „Der menschliche Leib ist qua Natur in diesem Sinne etwas Äußerliches und Äußeres, … Vorgegebenes, eine äußere Instanz und gegebenenfalls Gegeninstanz zum menschlichen Willen“ (Böhme 1992, S. 79). Durch den Leib, durch die „Natur, die wir selber sind“ hat der Mensch Anteil am Natürlichen und vor diesem Hintergrund hängen die Naturbeziehung und die Selbstbeziehung des Menschen zusammen. Dieses Selbst-Natur-Sein des Menschen (Thomas 1996) ist für psychologische Studien zum Naturverhältnis des Menschen zentral, weil aufgrund dessen psychologische Kategorien, die das Verhältnis zum eigenen Selbst betreffen, übertragbar werden auch auf das Verhältnis zur Natur. Thomas (2018) schlägt in einem ähnlichen Kontext eine Naturphilosophie „von Innen“ vor, die er auch in pädagogisch-didaktischer Hinsicht ausbuchstabiert. Insbesondere in den Überlegungen zur animistisch-anthropomorphen Interpretation von Natur (Kapitel 4) wird dieses SelbstNatur-Sein wieder aufgegriffen. Besonders schön wird die Naturhaftigkeit des Menschen bereits im 18 Jahrhundert von Schelling auf den Punkt gebracht: Solange ich selbst mit der Natur identisch bin, verstehe ich was eine lebendige Natur ist so gut, als ich mein eigenes Leben verstehe; …sobald ich aber mich … von der Natur trenne, bleibt mir nichts übrig als ein todtes Objekt und ich höre auf, zu begreifen, wie ein Leben außer mir möglich sey. (Schelling 1967, S. 47)

3.1 Aspekte des Naturbegriffs

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Schon die Sprachregelung „Mensch und Natur“ oder „Kind und Natur“ verführt allerdings dazu, „Natur“ und „Mensch“ in einer Beziehung des Gegenüber zu sehen. Dabei werden die beiden entscheidenen Komplikationen im Verhältnis „Mensch“ – „Natur“ unterschätzt: 1. daß der „Mensch“ – gleichgültig wie man ihn außerdem metaphysisch deuten mag – als leibhaft erfahrendes und handelndes Wesen ein Glied der „Natur“ ist wie anderes naturhaft Seiendes; 2. daß „Natur“ stets auch etwas aus der Sicht von Menschen Definiertes ist (Oldemeyer 1983, S. 15).

„Natur“ kann insofern nur als „etwas von Menschen jeweils in bestimmter Weise Erfahrenes“ (Oldemeyer 1983, S. 16) diskutiert werden. Schon die Frage, der in diesem Buch nachgegangen wird, nämlich welche Bedeutung „Natur“ in der psychischen Entwicklung hat, ist historisch. Naturvölker würden kaum auf diese Idee kommen; insofern ist die moderne Disziplin der Ökopsychologie (siehe Kapitel 2.1) auch als ein historischer Reflex auf die ökologische Krise zu verstehen. Wir können also nicht objektivierend und isoliert definieren, was die Natur an sich ist. Wir können aber darüber nachdenken, was sie für uns ist, wir können darüber nachdenken, was die Natur uns bedeutet. Wenn also in den nächsten Kapiteln die Bedeutung von verschiedenen Naturerfahrungen für die kindliche Entwicklung betrachtet wird, geht es dabei nicht um ein gleichsam naturwüchsiges Geschehen, sondern stets um einen kulturell vermittelten Aneignungsprozess von Natur (Kirchhoff 2018). Naturbeziehung und Naturwahrnehmung setzen Naturinterpretation voraus. Der Ausdruck „menschliches Verhältnis zur Natur“ zielt letztlich auf ein umfassendes Gefüge von Einstellungen und Verhaltensweisen. Nicht allein der philosophische und wissenschaftliche Erkenntniszugang ist gemeint, noch ferner das alltagspraktische Berücksichtigen „natürlicher“ Gegebenheiten, ihre Einkalkulierung, ihre Ausnutzung, ihre technische Bearbeitung und Umformung, sondern ebenso jede religiöse, ästhetische oder in sonstigem Sinne emotionale Ausrichtung auf „Natur“. Dazu gehören sowohl die bewußt gesteuerten als auch die unausdrücklichen, nur gewohnheitsmäßig gelebten Beziehungen, sowie schließlich die innerlichen Bereitschaften, auf „Natur“ in bestimmter Weise zu agieren und zu reagieren. (Oldemeyer 1983, S. 16)

Dass und wie sehr unsere Naturvorstellungen kulturell erzeugt sind, betont die sogenannte „Cultural Theory“ (Wildavsky 1993), wenn sie – durchaus mit kritischer Note – von „Myths of Nature“ spricht. In Abgrenzung dazu zeigt Reusswig (2004), wie sehr die Naturbilder mit ihren kognitiven, emotionalen und ästhetischen Elementen wesentlich von unterschiedlichen Lebensstilen geprägt sind. Wie wir Natur interpretieren, ist insofern ein zutiefst kulturelles Thema und hat zudem auch etwas mit der jeweiligen psychischen und sozialen Verfasstheit zu tun (Groh 1996). Jedoch: Selbst, wenn unser Verhältnis zur Natur immer nur relativ zu bestimmen ist, wir immer auch uns selbst reflektieren, wenn wir unser Verhältnis zur Natur reflektieren, so bleibt trotzdem die Frage wichtig, welche Rolle Naturphänomene in der Psychogenese und Psychodynamik von Menschen haben. Es ist die Frage, wie sich äußere Natur in der inneren 39

40

3 Was ist „Natur“?

Natur des Menschen repräsentiert und was das für jeweilige Folgen hat. Das entspricht in etwa der bereits in der Einleitung erwähnten Vorstellung Alexander von Humboldts, der bei der Naturforschung „nicht bei den äußeren Erscheinungen allein verweilen“, sondern die Natur auch so erforschen wollte, „wie sie sich im Inneren der Menschen abspiegelt“ (Humboldt 1845). Naturerfahrungen sind also immer auch Kulturerfahrungen, oder – wie Boesch (1980, S. 10) es ausdrückt – die „Kultur ist das Biotop des Menschen“. Dabei ist die Unterscheidung von Objektivierung und Subjektivierung der Umwelt und damit natürlich auch der Natur von Bedeutung (siehe ausführlich in Kapitel 4.5). Die Natur hat für den Menschen insofern zwar eine „objektive“ Bedeutung, wird zugleich aber auch auf subjektive Weise mit symbolischen Bedeutungen aufgeladen. Die Umwelt ist Kultur nicht einfach in dem Sinne, daß sie zu einem größeren Teil durch den Menschen erst gestaltet wurde, sondern auch in dem tieferen Sinne, daß sie, auch als Natur, immer zugleich auch Struktur und Symbol ist, eingebettet in Bedeutungssysteme komplexer Art, Träger von Valenzen und damit Versprechungen, Bestätigungen oder Begrenzungen und Bedrohungen des Handelns (Boesch 1980, S. 100).

Das Selbstverständnis des Menschen ist somit eng mit seinem Naturverständnis verbunden; und das gilt in kulturhistorischer Hinsicht ebenso wie im Hinblick auf einzelne Subjekte. Vor diesem Hintergrund wundert es dann auch nicht mehr, dass die Vielfalt der Naturbeziehungen und -begriffe verwirrend ist. „Natur“ – scheinbar ein so selbstverständlicher und klarer Begriff – ist kaum mit eindeutigem Inhalt zu füllen. Als „objektiv Seiendes“ etwa im Sinne der griechischen „physis“ kann damit alles Existierende bezeichnet werden, womit jedoch eben nichts Spezifisches bezeichnet ist. Heraklit zufolge ist die Natur ewig und damit auch unentstanden. In dem lateinischen Wort „natura“ wird dagegen das Geborenwerden akzentuiert (nasci = geboren werden). Natur wäre danach etwas, das aus sich heraus – gleichsam ohne „technische“ Hilfe – existiert beziehungsweise entsteht. In diesem begriffsgeschichtlichen Zusammenhang ist wichtig zu betonen, dass „Natur“ eben auch in ihrer symbolischen Valenz von Bedeutung ist; das gilt für die vorliegende psychologische Untersuchung in besonderer Weise. „Natur“ wird beispielsweise zum Symbol für paradiesische, auch utopische Zustände (Eisel 1992), kennzeichnet eine Sehnsucht nach Unentfremdetheit, nach Ganzheit und Glück. „Natur“ in diesem Sinne meint insofern mehr das sogenannte „Naturschöne“, ein Begriff, der bei Kant eine große Rolle spielt. Zum Beispiel meint Kant, dass durch Versenkung in die „Natur“ die moralische Entwicklung des Menschen gefördert werde (siehe Kapitel 8). Eine solche Sehnsucht nach „Naturschönheit“ beziehungsweise eine entsprechende ästhetische Stilisierung wurde historisch erst möglich, nachdem eine reale Entfremdung (und/oder auch Emanzipation) von der Natur durch die Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik eingetreten ist. Der Prozess des Wandels von einer negativen zu einer positiven Sicht der (wilden) Natur betrachten Groh und Groh (1989, S. 54) geradezu als „eine der Bedingungen der Möglichkeit von Naturerfahrung“. Die in Poesie und Landschaftsmalerei gleichermaßen stilisierte Sehnsucht nach Arkadien

3.1 Aspekte des Naturbegriffs

41

war jedenfalls nicht zufällig eine Begleiterscheinung der Aufklärung (vgl. Valentien 1989). „Das vorgeblich geschichtslose Naturschöne hat seinen geschichtlichen Kern“ (Adorno 1970, S. 102), wobei auch das Diktum aus der „Dialektik der Aufklärung“ mitzudenken ist: Der Mythos geht in die Aufklärung über und die Natur in bloße Objektivität. Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie die Macht ausüben. Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann. (Horkheimer/Adorno 1969, S. 9)

In der Symbolik von schöner Natur verdichtet sich zum einen eine Kritik an politischen Zuständen, zum anderen eine regressive Tendenz hin zu einer harmonisch phantasierten Vergangenheit, aber auch ein utopischer Entwurf für eine bessere Zukunft, wobei die auch bedrohlichen Aspekte der Natur eher ausgeblendet sind. Da der Standpunkt des zivilisierten Städters durch Ferne und Entfremdung von der Natur, durch einen Mangel an Natur in seinem Lebenszusammenhang gekennzeichnet ist, verbindet sich mit der Vorstellung von Natur die Sehnsucht nach einer Erlösung von der Last und Beengung zivilisierten Lebens. Das impliziert nostalgische Reminiszenzen an eine unschuldige Kindheit, Staunen und Bewunderung darüber, daß Ordnung, Einheit und Zweckmäßigkeit in der Natur von selbst da sind, während der zivilisierte Mensch meint, sie sich durch Disziplin und Rationalität abtrotzen zu müssen. (Böhme 1989, S. 61)

So ist zumindest eine Bedingung der Romantisierung (oder auch Verklärung) von Natur, dass man keine Angst mehr vor ihr hat. Dieses eher ängstlich oder gar feindlich getönte Verhältnis zur Natur gab es mindestens bis ins 18. Jahrhundert (Perpeet 1992, Lehmann 1996). Doch die gesuchte Nähe zur Natur setzt die Distanz zu ihr voraus, die durch Technik und Naturwissenschaft zumindest möglich wird. Vor allem die gezähmte Natur ist schön. In diesem Kontext ist „Natur“ meistens „gut“ (Kirchhoff et al. 2012, S. 11). Das gilt für das romantische Naturgedicht ebenso wie für die moderne Waschmittelwerbung. Dass diese positiv getönte Natursymbolik die Menschen nicht gehindert hat, die konkrete Natur zu zerstören, steht freilich in einem merkwürdigen Missverhältnis zu dieser Naturästhetik; künstlerischer und wissenschaftlich-technischer Zugang zur Natur sind eben auseinandergefallen. Doch kann „Natur“ auch eine kritische Kategorie sein, nämlich als (symbolisches) Korrektiv zu einer entfremdeten Gesellschaft und als Vor-Schein (im Blochschen Sinne) einer utopischen Welt. „Natur“ ist dann nach Bloch ein „Vermissungs- und Überholungsbild“ einer Welt ohne Entfremdung, wozu freilich ein „nicht quantifizierend-kalkulatorischer Naturbezug“ (Bloch 1970, S. 170) gehört. Denn im richtigen, wahrhaft praktischen Verändern des Verhältnisses von Menschen zur Natur vollzieht sich auch Veränderung der Verhältnisse der Menschen zueinander (Bloch 1975, S. 251).

Friedrich Schiller formuliert in seinem Aufsatz „Über naive und sentimentalische Dichtung“ sehr klar: „Die Dichter sind überall, schon ihrem Begriffe nach, die Bewahrer der Natur.“ Und in Bezug auf subjektives Wohlbefinden in der Natur sagt er: „Deswegen ist 41

42

3 Was ist „Natur“?

das Gefühl, womit wir an der Natur hangen, dem Gefühl so nahe verwandt, womit wir das entflohene Alter der Kindheit beklagen.“ Ausdrücklich sind hier „Natur“ und „Kindheit“ in einen Assoziationszusammenhang gebracht, der für unsere Fragestellung bedeutsam ist. Es kommt darauf an, das kritische Potential von Kunst, das heißt hier von Naturästhetik, zu betonen und auch zu nutzen, statt die utopischen Momente der Natursymbolik vorschnell leichtfertig zu verschenken. Angesichts der ökologischen Krise kann das bedeuten, die Versprechungen der Naturästhetik mit der realen Naturerfahrung zu konfrontieren. Eine solchermaßen „ästhetische Erziehung“ (Schiller) des Menschen verrät weder das utopische, das heißt hier kritische Moment von Kunst, noch ist sie eine unpolitische, folgenlose Flucht in ein idyllisches Arkadien. Dass sich überhaupt „Natur“ als Symbolik für die genannten Inhalte offenbar anbietet, kann nämlich auch daran liegen, dass in der Beziehung von Mensch und Natur ein entsprechendes psychisches Potential liegt, das in der Kunst zwar stilisiert und verdichtet zu Wort kommt, aber wohl auch sonst psychisch wirksam ist (vgl. Kirchhoff et al. 2012).

3.2 3.2

Zum Naturbegriff von Kindern Zum Naturbegriff von Kindern

Im Folgenden werden einige empirische Befunde zum gewissermaßen „alltäglichen“ Naturbegriff zusammengestellt. Was wird im Alltag unter „Natur“ verstanden, unabhängig von den Untiefen der Begriffsgeschichte? Die Konzepte von Kindern werden dabei im Mittelpunkt stehen. Trommer (1990, S. 24) fragte 98 Erwachsene nach ihren Assoziationen zum Begriff „Natur“. Sie assoziierten dabei besonders häufig nichtmenschliche Naturphänomene (Bäume 40mal, Wiese 24mal, Wald 23mal, Tiere 15mal, Vögel 11mal, Blumen 11mal), ästhetische Kategorien 13mal (Schönheit, Weite, Harmonie), erholungsbezogene Kategorien 11mal (Wandern, Spazieren, Ruhe, Erholung) und auch 12mal Aspekte der Umweltzerstörung. Bemerkenswert ist, dass der Begriff „Mensch“ (= menschliche Natur) nur 8mal genannt wurde (vgl. Hard 1983). Auffällig ist auch, dass nie die unbelebte Natur (Wasser, Steine, Wolken o. ä.) genannt wird. Fazit: Unter „Natur“ ist vorwiegend außermenschliche Natur assoziiert worden. Positiv-gefühlsbetonte Aspekte überwogen. Dies verweist auf die in unserem Kulturkreis herrschende Konvention, daß mit „Natur“ vorwiegend etwas verbunden wird, • das draußen vorkommt, • das mit Lebewesen und/oder • das mit Landschaft in Verbindung gebracht wird, • das vor allem außermenschlich existiert und • das angenehm ist (Trommer 1990, S. 25).

Nach einer Befragung von Schuster et al. (2008, S. 39) assoziieren Jugendliche (n= 1203) mit Natur v. a. Ruhe (16 %), Erholung/Entspannung (14 %), Wald (9 %), Schönheit (7 %)

3.2 Zum Naturbegriff von Kindern

43

und Pflanzen/Blumen/Tiere (7 %). Auch Kinder (8-9 Jahre) verstehen Natur vornehmlich als eine nichtmenschliche (Pohl/Schrenk 2002). Natur ist danach die „belebte natürliche Umwelt“ unter Ausschluss des Menschen. Allerdings erwähnen Kinder (zumindest häufiger als Erwachsene) auch unbelebte Dinge: Berge und Steine zum Beispiel. Zusätzlich wurden in dieser Studie von den Kindern Bilder gemalt. Das Bild der Natur ist ein harmonisches und idealisiertes: „Blühende Wiesen, blauer Himmel, Sonnenschein, Vögel“ (Pohl/Schrenk 2002, S. 141). Im LBS-Kinderbarometer 2005 (n=1833) ergibt die Frage nach dem Naturverständnis bemerkenswerte Ergebnisse. Es sind nämlich v. a. die Pflanzen, die die Natur ausmachen (ca. 60 %). Mit deutlichem Abstand folgen Tiere und Menschen (ca. 22 %), dann „Luft, Sauberkeit und Ruhe“ (10 %), „Freiheit“ (10 %) und „Ästhetik“ (9 %). Geschlechtsunterschiede gibt es hier nicht, wohl aber Altersunterschiede (s. Tabelle 3.1). Tab. 3.1

Naturverständnis nach Jahrgangsstufen (LBS-Kinderbarometer 2005, n=1833)

Planzen Tiere/Menschen Schutzbedürftigkeit Ästhetik Luft/Sauberkeit/Ruhe Gewässer

4. Klasse R % 51 % 1 2 18 % 3 11 % 4 10 % 10 5 % 12 3 %

5. Klasse R % 1 60 % 2 25 % 7 5 % 3 10 % 5 8 % 13 3 %

6. Klasse R % 1 56 % 2 23 % 10 6 % 5 10 % 3 12 % 12 5 %

7. Klasse R % 1 70 % 2 23 % 13 4 % 9 6 % 3 15 % 5 9 %

R= Rangplatz

Die Kategorie „Freiheit“ wird insbesondere von Kindern genannt, die in wenig besiedelten Gegenden wohnen (weniger als 900 Einwohner pro Quadratkilometer). Für diese Gruppe ist „Freiheit“ immerhin das drittwichtigste Attribut von Natur. Im Naturbegriff der Kinder scheinen also mehr ihre konkreten Naturerfahrungen verdichtet zu sein als projizierte Sehnsüchte. In ihrer Studie zu den Naturbildern von Kindern im Grundschulalter stellt Meske (2011) fest, dass die Naturbilder der befragten Kinder zwar recht detailliert sind, eine Erläuterung oder gar Erklärung den Kindern jedoch schwerfällt. Die Naturbilder lassen sich wie folgt beschreiben: • Hauptcharakteristika der Natur sind Pflanzen (besonders Bäume). • Die meisten Kinder zählen auch Tiere zur Natur (Tiere, die beim Menschen leben, allerdings nicht immer). • Natur wird mit „draußen“ assoziiert. • Natur grenzt sich für die Kinder von Technik und maschinell Hergestelltem ab. • Das Naturbild ist positiv. • Der Mensch wird meist nicht als Teil der Natur angesehen (Ausnahme: zivilisationsbezogene und ästhetisch-erholungsbezogene Elemente) 43

44

3 Was ist „Natur“?

• Der Mensch wird oft aufgrund seiner nicht umweltfreundlichen Lebensweise aus der Natur exkommuniziert (Meske 2011, S. 268).

Für die befragten Kinder ist die Natur schützenswert. Jedoch fühlen sie sich auch von Teilen der Natur (z. B. bestimmten Tierarten) bedroht (Meske 2011, S. 268). Das Wissen der befragten Kinder über Natur- und Umweltschutz variiert stark. Dieses Wissen moderiert die Beurteilung des Menschen als Beschützer oder Zerstörer der Natur (Meske 2011, S. 268). Die Natur wird als strapazierfähig eingeschätzt; nur die Hälfte der Kinder sieht sie als wirklich bedroht an (Meske 2011, S. 268). Das Naturbild von Stadt- und Landkindern unterscheidet sich kaum, ebenso wenig wie das von Mädchen und Jungen. Mädchen haben allerdings tendenziell ein differenzierteres Naturbild, sehen den Menschen häufiger als Teil der Natur, berichten ausgiebiger und begründen den Naturschutz eher emphatisch bzw. biozentrisch (Meske 2011, S. 268f.). Auch die Unterschiede in den Naturbildern zwischen Zweit- und Viertklässlern sind gering; Viertklässler zeigen lediglich ein breiteres Umweltwissen und können sich besser ausdrücken. In einer Untersuchung an 13- bis 18-jährigen Jugendlichen (n=263) bescheinigt Margadant-van Arcken (1997, S. 47f.) den Jugendlichen ein „beschränktes“ Naturbild: „Es umfasst die lebende, unberührte, sich selbst regulierende Natur unter Ausschluss des Menschen.“ Natur ist also vorwiegend als biotische gedacht, wobei der Mensch interessanterweise als Störenfried aus der Natur exkommuniziert wird. Der Begriff „Umwelt“ dagegen wird abiotisch konzipiert. Neben dem vorherrschenden „beschränkten Naturbild“ rekonstruiert Margadant-van Arcken (1997) aus den Äußerungen der Kinder und Jugendlichen noch ein „romantisches Naturbild“ und ein „umfassendes Naturbild“, das durch die Einbeziehung von Wasser und Boden, Landwirtschaft und vor allem des Menschen gekennzeichnet ist. In einer vergleichenden Untersuchung von deutschen und japanischen Kindern (Gebauer/ Harada 2005) zeigt sich ein bemerkenswerter Unterschied bezüglich des Naturkonzepts: Während die japanischen Kinder vor dem Hintergrund buddhistischer Orientierungen „Natur“ als ein sinnstiftendes Konzept interpretieren, fehle bei den deutschen Kindern ein ähnlich sinnstiftender Kontext, ihre Naturkonzepte seien „polarisiert, widersprüchlich und exklusiv“. In der Zukunftsjugendstudie des BMUB mit über 1000 Jugendlichen (2018, S. 27) ist auch nach den Natur- und Umweltassoziationen gefragt worden. Auffällig ist, dass „Natur“ überwiegend positiv konnotiert ist (Genuss, Entspannung, Schönheit, Spaß, Ressource), „Umwelt“ dagegen mit negativen Einfällen unterlegt ist (Zerstörung, Artensterben, Klima etc.). Die besagte romantische Aufladung von Natur ist also auch bei Jugendlichen anzutreffen. Außerdem werden auch konkrete Naturphänomene benannt: Tiere, Pflanzen, Bäume, Wald, Landschaften etc. Wofür Natur bei Kindern und Jugendlichen symbolisch stehen kann, zeigt eine Studie (N=23) mit 12- bis 13-Jährigen von Wals (1994): Natur ist lebendig, besteht aus Blumen, Tieren und Bäumen; die „wahre Natur“ ist „rein“, „friedlich“ und nicht von Menschen gemacht. Die Natur ist wild und spontan, erhält sich selbst, steht für Freiheit und Einsamkeit. Deutlich reproduzieren sich auch hier historisch gewachsene (romantische) Naturbilder, die freilich ihre Wirkung durchaus in Korrespondenz zur gewissermaßen „tatsächlichen“

3.3 Natur als sinnstiftende Idee

45

Naturnutzung entfalten: Natur als „entertainment“, als „challenging place“, als „reflection of the past“, als „background to activities“, als „place for learning“, als „place to reflect“.

3.3 3.3

Natur als sinnstiftende Idee Natur als sinnstiftende Idee

Lebensweltliche Vorstellungen von Natur bei Kindern und Jugendlichen sind sehr von der Überzeugung geprägt, dass die Natur sich zum Gleichgewicht reguliert und dass der Mensch eigentlich das Gleichgewicht stört (Jelemenská 2006, Sander 2003). Das als natürlich empfundene Gleichgewicht verdichtet gewissermaßen die gute und heile Natur, die nur gut unter Ausschluss des Menschen ist – jedenfalls in weit verbreiteten Vorstellungen von Jugendlichen und auch Erwachsenen. Demgegenüber muss „natürlich“ hier angemerkt werden, dass es gerade ein wesentliches Charakteristikum von Natur ist, dass sie dynamisch und sowohl ökologisch als auch evolutionär im Ungleichgewicht ist. Trotzdem werden auch ausgesprochen „unnatürliche“ Kulturlandschaften wie zum Beispiel die Lüneburger Heide als besonders natürlich angesehen. Ein solches Naturverständnis bescheinigt auch Brämer (2005, 2006) den Jugendlichen in verschiedenen Studien und spricht dabei von „Ungereimtheiten“: Die Idealisierung und Harmonisierung der Natur belegt Brämer mit dem Begriff des „Bambi-Syndroms“ und ein damit zusammenhängendes Nutzungstabu mit dem Begriff des „Schlachthaus-Syndroms“. Zu fragen ist freilich, ob dieses Naturbild ausschließlich oder auch nur v. a. als ein unrealistisches Naturverständnis gedeutet werden muss. Es kann nämlich auch sein, dass sich in den Naturidealisierungen eine positive Beziehung zur Natur offenbart, die in ihren symbolischen Valenzen nicht im Gegensatz zu realistischen, naturwissenschaftlichen Versionen stehen muss. Wie mit einer solchen Perspektive die Beseelung und Idealisierung von Natur auch positiv interpretiert werden kann, wird ausführlich im Kapitel zur Beseelung der Natur (Kapitel 4) thematisiert. Natur wird gewissermaßen als „sinnstiftende Idee“ verwendet – eine Denkfigur, die sich nicht nur im Hinblick auf Natur im engeren Sinne findet, sondern auch bei Vorstellungen von Jugendlichen zur Gentechnik. Bei der (eher kritischen) Beurteilung der Jugendlichen wird ausgesprochen häufig und in verschiedenen Varianten das Natürlichkeitsargument bzw. eher Unnatürlichkeitsargument gegen die Gentechnik vorgebracht (Gebhard 2016c). Häufig finden sich zudem Hinweise, dass v. a. der Wald zum Inbegriff von ursprünglicher Natur im Sinne von Wildnis (Kirchhoff 2017) und damit zum Sehnsuchtsort (Kirchhoff et al. 2012) wird. Natürlich ist auch „Wildnis“ nicht in erster Line unberührte wilde Natur, sondern eine kulturelle Konstruktion: „Nicht die Tatsache, dass ein Gebiet frei von Einflüssen des Menschen ist, macht es zu einer Wildnis, sondern dass es als Gegenwelt zur kulturellen und zivilisatorischen Ordnung empfunden wird. Dafür genügt es, dass das Gebiet zumindest in einer für den Betrachter relevanten Hinsicht nicht vom Menschen gemacht ist“ (Kirchhoff 2012, S. 12). In Interviews von Braun (2000) wird die Gleichsetzung von Wald und Natur ganz deutlich (siehe auch Kapitel 7.4). Groß (2007) findet entsprechende Hinweise in Interviews 45

46

3 Was ist „Natur“?

mit Jugendlichen. Zugleich wird hier der als natürlich aufgefasste Wald zum Symbol für Ganzheit und Heilsein. Damit verbunden ist ein statischer Naturbegriff, der das Gleichgewicht zum Inbegriff von Natürlichkeit macht. Auch in volkskundlichen Untersuchungen von Schriever (2000) zeigt sich, dass der Wald geradezu ein Synonym von „Natur“ ist. In narrativen Interviews rekonstruiert er, dass der Wald, also die Natur, der Stadt, also der Kultur, gegenübergestellt wird. Dabei wird Natur überwiegend positiv konnotiert und mit einer besonderen „Erhabenheit“ verbunden. Der Wald ist „per se Symbol für die Natur“ (Schriever 2000, S. 73, ähnlich bei Bahrdt 1974, S. 67). Damit verbunden ist auch die Vorstellung von der Ursprünglichkeit der Natur, die den Menschen zum „Fremdkörper in der Natur“ (Schriever 2000, S. 79) degradiert. In diesem Kontext sei gerade im Kontext dieses Buches, dessen grundlegende These ja gerade darin besteht, dass „Natur“ in einem sehr umfassenden Sinne sowohl Kindern als auch Erwachsenen gut tut, auf die Probleme einer naturalistischen Verwendung des Naturbegriffs hingewiesen. Allerdings muss mit einer argumentativen Verbindung von Natur und dem gutem Leben (Gebhard/Kistemann 2016b) nicht im Stile des naturalistischen Fehlschlusses behauptet werden, dass die Natur Werte und Sinn vorgeben könnte, was zu beachten v. a. für die Naturerfahrungspädagogik eine wichtige, nicht immer präsente Reflexionsebene darstellt. Formulierungen wie „von der Natur lernen“ haben eben nur im naturwissenschaftlich-technischen Sinne ihre Berechtigung, nicht jedoch bei moralischethischen Argumentationen. In der Bionik beispielsweise kann sinnvoll auf Vorbilder in der Natur zurückgegriffen werden. Aber z. B. schon Hans Bibelriethers prominent gewordenes Diktum „Natur Natur sein lassen“ (Bibelriether 1992) stellt keine wissenschaftliche Aussage dar, sondern eine naturschützerische bzw. umweltpolitische Strategie für den sogenannten Prozessschutz in Nationalparken. Diese Unterscheidung müsste für die Naturerfahrungspädagogik grundlegend sein, sollen nicht unreflektiert vermeintlich natürliche Ordnungen zum Orientierungspunkt für ethische Positionierungen werden (als sogenannte „naturalistische Ethik“). Während in der Ethik Natürlichkeit als normgebende Instanz inzwischen obsolet geworden ist, hat sie im Alltagsbewusstsein einen nicht zu vernachlässigenden „Bonus“ (Birnbacher 2006, 2019). Die Bezugnahme auf Natur sei eine grundlegende menschliche „Kernintuition“ (Daston 2018, S. 13), die etwas mit einem „schöpferischem Verlangen nach Ordnungen“ (Daston 2018, S. 75) zu tun habe. Der besagte Bonus entspringt der Sehnsucht vieler Menschen nach einem gleichsam naturgegebenen Leitbild, wobei Natur meist positiv konnotiert wird. Dabei wird die Sein-Sollen-Unterscheidung übersehen und es bleibt unthematisiert, dass der jeweils präsupponierte Naturbegriff eine menschliche Konstruktion ist, die nicht „objektive“ Grundlage für Werturteile sein kann (Gebhard/Langlet 1997). Eine derartige Grundlage gibt es generell nicht – auch z. B. Grundgesetz und Menschenrechte sind menschengemacht. Jedoch suggeriert der Rückbezug auf Natur, diese prinzipielle Ungewissheit ließe sich umgehen. Das ist eben das Verführerische und auch Gefährliche an naturalistischen Argumentationen. „Reaktionäre und Revolutionäre, fromme und säkularisierte Menschen beanspruchten die Autorität der Natur gleichmaßen. Überall auf der Welt gab es Traditionen, die in der Natur das Vorbild aller Werte – des Guten, des Wahren und

3.4 Systematisierungsversuche

47

des Schönen – sahen“ (Daston 2018, S. 10). Daston spitzt die philosophische Kritik am naturalistischen Fehlschluss zu als „so etwas wie eine heimliche Schmuggelaktion, bei der kulturelle Werte auf die Natur übertragen würden, um sich dann zur Untermauerung eben dieser Werte auf die Autorität der Natur berufen zu können“ (Daston 2018, S. 11). Doch darf mit der Keule des „naturalistischen Fehlschlusses“ das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden, zumal der Rückbezug auf Natur nach Daston einer grundlegenden Intuition entspringt. Denn Natur kann jenseits ontologisierender Festschreibungen in einem symbolischen Sinne verstanden werden, wobei „die Welt den handelnden Subjekten als ein antwortendes, atmendes, tragendes, in manchen Momenten sogar wohlwollendes, entgegenkommendes oder ‚gütiges‘ Resonanzsystem erscheint“ (Rosa 2012, S. 9). Vor dem Hintergrund dieser möglichen Resonanz wird im Verhältnis des Menschen zur äußeren Natur stets auch sein Verhältnis zu sich selbst sichtbar. Die Erfahrungen, die wir in und mit der Natur machen, sind auch Erfahrungen mit uns selbst – nicht nur, weil wir es sind, die diese Erfahrungen machen, sondern weil Naturphänomene Anlässe sind, uns auf uns selbst zu beziehen (Gebhard 2005b). Natur wird auf diese Weise – wie Caspar D. Friedrich (1774–1840) formuliert – zur „Membran subjektiver Erfahrungen und Leiden“ (zit. nach Altner 1991, S. 9).

3.4 Systematisierungsversuche 3.4 Systematisierungsversuche

Wichtig ist ein Bewusstsein und die Reflexion über die verschiedenen Dimensionen unserer Naturkonzepte. Deshalb werden im Folgenden einige Systematisierungen vorgestellt: Nohl (1982) beispielsweise unterscheidet neben der symbolisch-ästhetischen Bedeutung, der er übrigens ebenfalls bei dem „Naturbedürfnis“ des Menschen eine zentrale Rolle beimisst, noch die „utilitär–vitale“ und die „ökologisch–vitale“ Bedeutung der Natur. Der erste Begriff zielt auf die Tatsache, dass „Natur“ auch die materielle Grundlage des (menschlichen) Lebens ist; „Natur“ in dieser Bedeutungsdimension ist Ressource. Daraus leitet sich die Notwendigkeit ab, die Natur zu kultivieren, um sich der Ressourcen zu vergewissern. Der Mensch als Kulturwesen ist darauf angewiesen, die Natur in seinem Sinne zu verändern und zu nutzen (vgl. Gadamer 1989). Die „ökologisch–vitale“ Bedeutung der Natur meint im Unterschied zu den beiden anderen Aspekten, dass der Mensch als Teil der Natur aufgefasst werden muss, dass Menschen „an die Natur, so wie sie in ihren Lebensbereichen vorherrscht, biologisch–physiologisch angepasst“ sind (Nohl 1982, S. 525). Diese Systematisierung der Naturbedeutungen ist insofern nützlich, weil damit genauer angegeben werden kann, wovon jeweils die Rede ist. Wenn also über das Naturbedürfnis im psychologischen Sinne reflektiert wird, ist am ehesten der symbolisch–ästhetische Naturaspekt gemeint – ein Gedanke, der bei den Überlegungen zur animistisch–symbolischen Naturinterpretation eine wichtige Rolle spielt (siehe Kapitel 4). So kann es durchaus als Privileg bezeichnet werden, dass der verstädterte Mensch der Moderne Natur vor allem unter dem symbolisch-ästhetischen Aspekt gleichsam zweckfrei genießen kann, weil 47

48

3 Was ist „Natur“?

der unmittelbare Zwang der Naturbearbeitung zumindest nicht mehr dominant ist. Die Möglichkeit des ästhetischen Naturerlebens ist insofern geradezu eine „zivilisatorische Errungenschaft“ (Tessin 1981). Aspekte des Naturbegriffs normative Natur

gefährliche Natur

normative Orientierung

Religion schöne Natur

Politik

expressive Orientierung

Ökonomie instrumentelle Orientierung

Kunst

Natur als Ressource

Technologie Bildung Wissenschaft kognitive Orientierung

gefährdete Natur

wahre Natur Abb. 3.1: Modell von Naturkonzeptionen (Feldmann 1990, S.1990, 29) S. 29) Abb. 3.1 Modell von Naturkonzeptionen (Feldmann

zeichnet werden, dass der verstädterte Mensch der Moderne Natur vor allem unter dem symbolisch-ästhetischen Aspekt gleichsam zweckfrei genießen kann, weil der unmittelbare Zwang der Naturbearbeitung zumindest nicht mehr dominant ist. Die desModell ästhetischen Feldmann (1990a) schlägt eine ähnliche Systematisierung vor, Möglichkeit die er in einem einer Naturerlebens ist insofern geradezu eine „zivilisatorische Errungenschaft“ (Tessin 1991). Typologie von Naturkonzeptionen zusammenfasst (siehe Abb. 3.1). Feldmann (1990) schlägt eine ähnliche Systematisierung vor, die er in einem Modell einer Je nachdem, in welchem kulturellen Subsystem (Politik, Religion, Kunst, Bildung etc.) man Typologie von Naturkonzeptionen zusammenfasst (siehe Abb. 3.1). Je nachdem, in welchem sich gerade befindet, resultiert daraus eine entsprechende Orientierung, die den jeweiligen kulturellen Subsystem (Politik, Religion, Kunst, Bildung etc.) man sich gerade befindet, resulNaturbegriff beeinflusst. Und Orien so finden sichdie im den Feldmannschen System: diebeeinfl schöne Natur, tiert daraus eine entsprechende tierung, jeweiligen Naturbegriff usst. Und wahre Natur, die mannschen gefährdete Natur, als Ressource, diewahre normative und die sodie finden sich im Feld System:Natur die schöne Natur, die Natur,Natur die gefährdete gefährliche Diese Typologie bringt etwas in die Vielfalt derDiese Naturbegriffe Natur, Natur Natur. als Ressource, die normative Natur „Ordnung“ und die gefährliche Natur. Typologie bringt etwas „Ordnung“ in die derwie Naturbegriffe. Darüber hinauszuunreden. terstreicht diese und verringert die Gefahr, vonVielfalt „Natur“ in der Zigarettenwerbung Darüber Typologie, dass „Natur“ undTypologie, „Kultur“ kein sondernkein gerade zu aufeinandersonverhinaus unterstreicht diese dassGegensatzpaar, „Natur“ und „Kultur“ Gegensatzpaar, wiesen sind. „Natur“ als unbeeinfl usst von kulturel len, d.h. also menschlichen Eingriffen zu dern geradezu aufeinander verwiesen sind. „Natur“ als unbeeinflusst von kulturellen, d. h. denken, ist nämlich unmöglich oder zumindest unsin nig, obwohl dies ein Naturbegriff ist, der also menschlichen Eingriffen zu denken, ist nämlich unmöglich oder zumindest unsinnig, durchaus häufig verwendet wird: obwohl dies ein Naturbegriff ist, der durchaus häufig verwendet wird; „Natur“ wäre danach Danach ist „Natur“ wäre das, was ohne den Menschen existiert. Gloy (1995) betont in diedas,Zusammenhang, was ohne den Menschen existiert. wirdNatur eher nicht angesprochen, nicht sem dass man eher sagen Damit könne, was ist. So wirdwas derNatur Naturbegriff ist bzw. sein soll. wird der Naturbegriff konstruiert „aus der z.B. Opposition einer Reihe konstruiert „aus derSoOpposition zu einer Reihe anderer Begriffe, aus der zu Gegenüberstelanderer aus– der Gegenüberstellung Natur – Vernunft,von Natur – lung NaturBegriffe, – Geist,z. B. Natur Vernunft, Natur – Kunst,Natur Natur––Geist, Technik. In Abhebung diesen Kunst, Natur – Technik usw. die In Abhebung Kontrastbegriffen Natur Kontrastbegriffen ist mit Natur Gesamtheitvon der diesen Gegenstände gemeint, die ist wirmit vorfi nden die und die ohne menschlichen Willen und ohne menschliches Zutun von sich aus existieren, erzeugt werden oder entstehen und sich erhalten, während es sich bei den Opposita um Produkte der menschlichen Ratio, Planung und Ausführung handelt, um künstliche oder künstlerische Produkte“ (Gloy 1995, S. 23). Markl hält dagegen einen derartigen Naturbegriff für unsinnig:

3.4 Systematisierungsversuche

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Gesamtheit der Gegenstände gemeint, die wir vorfinden und die ohne menschlichen Willen und ohne menschliches Zutun von sich aus existieren, erzeugt werden oder entstehen und sich erhalten, während es sich bei den Opposita um Produkte der menschlichen Ration, Planung und Ausführung handelt, um künstliche oder künstlerische Produkte“ (Gloy 1995, S. 23). Markl hält dagegen einen derartigen Naturbegriff für unsinnig: Unsinnig deshalb, weil es jedenfalls heute von der Tiefsee bis zur Hochstratosphäre und vom Nordpol bis zum Südpol keinen Lebensraum auf dieser Erde gibt, in dem nicht die direkten oder indirekten Auswirkungen menschlichen Tuns und (Sichgehen-) Lassens unübersehbar verunstaltend nachweisbar wären. Da außerdem niemand davon ausgehen wird, daß fünf Milliarden Menschen wieder spurlos aus der Natur verschwinden können, […] wäre ein solcher Naturbegriff ein rein abstrakt–historisches Traumgespinst (Markl 1989, S. 74).

Der Mensch als Natur- und Kulturwesen kultiviert eben die Natur, und in diesem Prozess verschwimmt die Trennlinie zwischen Kultur und Natur. Sicher drückt […] der Naturbegriff in erster Linie die Gesellschaft aus, worin er erscheint; ihre Ordnung oder Unordnung, die wechselnden Formen ihrer Abhängigkeit. Diese Formen kehren auch im Naturbegriff überbauhaft wieder (Bloch 1935, S. 202).

Bei der psychologischen Betrachtung des menschlichen Verhältnisses zur Natur ist dieser Gedanke nicht so überraschend, er gilt aber wohl auch bei der naturwissenschaftlichen Annäherung an Natur. Markl (1989, S. 75) definiert als Natur den „Kulturzustand unserer Umwelt, den extensive, nicht industrielle, traditionelle Landbewirtschaftung erhalten hat.“ Diesen Naturbegriff kennzeichnet er konsequent als „Traditionsnaturbegriff“, um die kulturellen Anteile daran zu unterstreichen. Vernünftig ist das traditionsbezogene Naturverständnis, weil es erstens direkt am affektiven Bezug zu dem festzumachen ist, was den meisten Menschen bei uns nun einmal als Natur gilt, was sie aus ihrer Kindheit, den Erzählungen von Eltern und Großeltern und aus den Naturbeschreibungen und Bildern der Bücher, die sie lesen, der Filme, die sie sehen, wiedererkennen. […] Zweitens zielt solcher Naturbegriff, wenngleich er nur Naturähnlichkeit, nicht wirklich unberührte Natur im Blick hat, auf etwas Wesentliches: auf einen Zustand recht großen Artenreichtums, recht annehmbarer Biotop- und Landschaftsvielfalt und recht guter Beständigkeit dieses Zustands über die Dauer vieler Menschengenerationen hinweg (Markl 1989, S. 75).

Dieser Naturbegriff ist für unseren Zusammenhang ausgesprochen nützlich, weil er auf das abzielt, was hier mit „lebendiger Natur“ gemeint ist: Pflanzen, Tiere, Wälder, Wiesen, Brachflächen u. ä. Alle diese Naturphänomene sind natürlich nicht „reine Natur“, aber sie sind Phänomene, in und an denen Natur in Kultur sichtbar und spürbar wird. Indem die Erfahrung von äußerer Natur zugleich auch eine Erfahrung von innerer Natur ist, indem die Natur eben zur Projektionsfläche „subjektiver Erfahrungen und Leiden“ werden kann (vgl. Böhme 1988), ist die symbolisch-ästhetische Valenz von Naturerfahrungen 49

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3 Was ist „Natur“?

in den Vordergrund gerückt. Die Ästhetik der Natur ist für unsere Fragestellung, die auf die Erfahrung, das Erleben und damit auch auf die Wahrnehmung (aisthesis) von Natur zielt, grundlegend. Die Leibphilosophie Böhmes nimmt insofern konsequenterweise auf die ästhetische Dimension der menschlichen Naturbeziehung Bezug: Die ästhetische Naturbeziehung erhebt keinen Anspruch auf Erkenntnis, jedenfalls nicht den Anspruch auf Erkenntnis ihres Objekts, der Natur. Sie ist, wo sie sich ästhetisch reflektiert, vielmehr Erkenntnis des Subjektes: seiner Harmonie, Erhabenheit, Einsamkeit, seiner Sehnsucht. Die beiden Hauptanliegen der Naturthematisierung stehen sich also wie Objekt und Subjekt, wie Natur an sich und Natur für uns, wie Erkenntnis und Gefühl, wie Wissenschaft und Kunst gegenüber. Eine ästhetische Theorie der Natur beansprucht offenbar von diesem Hintergrund her gesehen, eine Einheit von Kunst und Wissenschaft zu sein und die Natur an sich mit der Natur für uns in ein aufweisbares Verhältnis zu setzen (Böhme 1992, S. 125).

Die ästhetische Dimension des menschlichen Naturbezuges ist auch deshalb für die psychologische Perspektive eine geeignete, weil in ihr die symbolische Bedeutung von Natur am ehesten aufgehoben ist. Diese symbolische Valenz unserer Naturerfahrungen kann zu einer „Attraktion der ästhetischen Natur“ werden, die zugleich ein „absichtslos sinngebender Akzent des menschlichen Daseins“ (Seel 1991, S. 106) ist. „Die Gegenwart des Naturschönen ist in diesem Sinn unmittelbar und mittelbar gut, ihre Erfahrung also eine positive existentielle Erfahrung“ (Seel 1991, S. 303). Martin Seel (1991) unterscheidet in seiner „Ästhetik der Natur“ drei Weisen der sinnlichen Wahrnehmung von Natur, nämlich die Kontemplation als Modus sinnfremder Naturbegegnung, die Korrespondenz als Modus sinnhafter Naturbegegnung und die Imagination als Modus bildhafter Naturbegegnung. Diese Dimensionen der ästhetischen Naturwahrnehmung werden unter Bezugnahme auf konkrete Kinderäußerungen im Kapitel zur Naturästhetik wieder aufgegriffen (Kapitel 6). Durch die symbolisch-ästhetische Aufladung von Natur kann Natur-Erfahrung in gewisser Weise eine Art von sinnstiftender Selbst-Erfahrung werden. Zu betonen ist in diesem Zusammenhang, dass das auch dann gilt, wenn der reflexive Geist den projektiven Charakter der symbolisch gedeuteten Natur erkennt. Sinn ist nie ein gestifteter, Sinn ist immer ein erzeugter. Zu betonen ist weiterhin, dass die symbolische Aufladung von Natur nicht nur ein bewusst zielgerichteter Prozess ist, sondern dass sich die Phantasien und Bedeutungszuschreibungen über Natur auch aus unbewussten Quellen speisen werden. Dieser Dimension des menschlichen Naturverhältnisses ist in Kapitel 2 allgemein nachgegangen worden und auch in den nun folgenden konkreten Abhandlungen zur kindlichen Beziehung zu Tieren und Pflanzen, zu den Quellen von Umweltbewusstsein, zu naturnahen Brachflächen oder zur Beseelung von Natur werden diese latenten Sinnstrukturen eine Rolle spielen. Dass Sinnerzeugung qua Natur möglich ist, zeigen nämlich nicht nur die historischen Naturkonzeptionen des 18. und 19. Jahrhunderts, sondern auch die je individuellen Symbolisierungen und sinnhaften Konstrukte, die im subjektiven Verhältnis zu Naturphänomenen aufscheinen. Genau das ist das Thema der nun folgenden Kapitel.

Die Beseelung der Natur 4 Die Beseelung der Natur

4.1 4.1

4

„Johann, der Spitzwegerich“ „Johann, der Spitzwegerich“

Anthropomorphismen gelten in der biologischen Verhaltensforschung (zu Recht) als unangemessene Vermenschlichungen. Trotzdem ist die Fähigkeit, auch nichtmenschliche Objekte (Tiere, Pflanzen, Gegenstände) zu beseelen (Animismus), eine Eigenschaft der menschlichen Psyche, die sich deutlich bei Kindern, aber auch in modifizierter Form bei Erwachsenen zeigt und die mit dem verhaltensbiologischen Verdikt des Anthropomorphismus nicht abgetan ist. In anthropomorphen beziehungsweise animistischen Weltdeutungen offenbart sich nämlich nicht nur eine kognitive Interpretation der Welt, sondern zugleich auch eine affektive Beziehung zu ihr. Im Übrigen zeigen sich anthropomorphe Projektionen nicht nur im Hinblick auf Lebewesen, sondern auch im Hinblick auf die unbelebte Natur und technische Gegenstände (Schwabe 1994), beispielsweise Computer (Turkle 1994). In ihren Untersuchungen von 4- bis 14-jährigen Kindern zeigt Turkle (2005), dass es eine ausgesprochene Unsicherheit darüber gibt, ob beispielsweise Computer lebendig oder leblos sind: Auf der einen Seite ist der Computer wegen seiner Unbeweglichkeit leblos, auf der anderen Seite ist er aber auch ein Interaktionspartner, der auch von sich aus zu agieren scheint. Die oft erhobene Forderung (v. a. im Umkreis der Biologiedidaktik), dass Anthropomorphismen möglichst schon während der Grundschulzeit abzubauen seien, muss insofern neu bedacht werden. Eben dies soll in diesem Kapitel geschehen. Dabei wird nicht die verhaltensbiologische Position in Frage gestellt, dass Tiere ein je arteigenes Verhaltensrepertoire haben, das es zu beachten und auch zu achten gilt. Vielmehr werden die psychologischen Bedingungen reflektiert, die dem anthropomorphen beziehungsweise animistischen Denken zugrunde liegen und die bei pädagogischen Entscheidungen natürlich mitbedacht werden müssen. An den Anfang stelle ich den Aufsatz einer 13-jährigen Schülerin, der im Rahmen einer Unterrichtseinheit über Pflasterritzenvegetation entstanden ist: Johann, der Spitzwegerich Hallo Fans, ich heiße Johann. Und ich bin ein Spitzwegerich erster Klasse. Da es August ist, blühe ich in meinem dezenten Lila. Aber was rede ich da, eigentlich wollte ich Euch ja von meinem Tagesablauf in einer Rinnsteinritze auf dem Schulhof der Integrierten Gesamtschule © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Gebhard, Kind und Natur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21276-6_4

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4 Die Beseelung der Natur

Linden schildern. Am besten fange ich mit 7.00 Uhr an, denn dann wache ich ja sowieso erst auf. Also los geht’s: Dong, dong, dong, dong, dong, dong wecken mich die Glocken der St. Martinskirche auf. Ich räkele mich, trinke meinen Schluck Morgentau und warte auf die Nachrichtenfliege. Während ich so warte, sehe ich, wie immer mehr Schüler in Richtung Schuleingang gehen. Ah, da kommen auch diese zwei langhaarigen Typen, die jeden Morgen eine Runde um die Schule drehen. Jetzt könnte sie aber bald kommen, die Nachrichtenfliege! – Aber was ist das?! Der wird doch nicht … der kann doch nicht … au, autsch, oh weh. Da ist doch einer von diesen langhaarigen Vollidioten, diesen blinden Weinbergschnecken, mitten auf mich draufgelascht! Na ja, aber daran bin ich ja schon gewöhnt, denn das passiert ja mindestens fünf mal die Woche. Die Menschen haben aber auch Quadratlatschen, wenn ich da an meine kleinen zarten Stengelchen denke. Bsss, Bsss – endlich kommt die Nachrichtenfliege, von der ich alle neuesten Nachrichten des Tages erfahre. Sie erzählt mir, dass sich eine große Horde Kinder (auch Klasse genannt) mit zwei Lehrern und einer Lehrerin meinem Rinnstein nähert. Da sehe ich die Klasse auch. Gott sei Dank teilen sie sich am Anfang des Pausenhofes in kleine Gruppen auf. Wahrscheinlich spielen sie wieder eins von den Spielen, die sie Rallye nennen, denke ich, denn ich sehe, dass sie weiße Zettel in den Händen halten. Plötzlich merke ich, wie sich zwei Mädchen in meine Richtung bewegen. „Da, ein blühender Spitzwegerich“, ruft die eine. Am besten sage ich euch jetzt schon mal tschüs, denn ich glaube, dass ich euch nicht mehr lange von mir erzählen kann. Da haben mich schon die Finger der einen gepackt, ich spüre, wie sie mich aus der Erde zieht, dann werde ich ohnmächtig … PS: Zwei Tage später wurde Johann auf der Mülldeponie in Altwarmbüchen von einem Müllberg begraben.

4.2 4.2

Animistisches und anthropomorphes Denken bei Kindern Animistisches und anthropomorphes Denken bei Kindern

Das anthropomorphe Denken gehört zu dem Komplex, den Piaget „animistisches Denken“ genannt hat. Piaget meint damit eine kindliche Haltung gegenüber der Welt, die davon ausgeht, dass die äußeren Objekte (Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine, Gebrauchsgegenstände usw.) so ähnlich oder gar gleich sind wie das Kind selbst. Animismus ist danach die „Tendenz, die Körper als lebendig oder mit Absichten ausgestattet zu betrachten“ (Piaget 1978, S. 143). Die Dinge werden gleichsam „beseelt“, wobei die Erfahrung der eigenen Gefühlshaftigkeit, der eigenen Intentionalität, eben der Beseeltheit, auf andere, dem Ich fremde Objekte projiziert wird. Piaget charakterisiert das animistische Denken gewissermaßen als „falsches Bewusstsein“, das das Kind in unserer Kultur bis etwa zur Pubertät überwunden haben soll. Freilich ist es ein Bewusstsein, das dem kindlichen Denken adäquat ist: Es ist das Weltbild des egozentrischen Kindes, das so auf eine ihm gemäße Weise die Welt systematisiert und deutet beziehungsweise ihr eine Bedeutung gibt (vgl. Kapitel 2). Piaget entlehnt den Begriff Animismus der Ethnologie, wo er das Weltbild archaischer Kulturen kennzeichnet, in denen ebenfalls nichtmenschliche Objekte mit Geist, Absicht und Persönlichkeit ausgestattet werden. Der Totemismus ist dafür ein geeignetes Beispiel, das auch Freud zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zu animistischen Vorstellungen gemacht hat. Angehörige archaischer Kulturen

4.2 Animistisches und anthropomorphes Denken bei Kindern

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[…] bevölkern die Welt mit einer Unzahl von geistigen Wesen, die ihnen wohlwollend oder übelgesinnt sind; sie schreiben diesen Geistern und Dämonen die Verursachung der Naturvorgänge zu und halten nicht nur die Tiere und Pflanzen, sondern auch die unbelebten Dinge der Welt für durch sie belebt (Freud 1912/13, S. 93).

Die Ausgangsüberlegung von Piaget ist nun die Annahme, dass auch bei Kindern eine ähnliche Haltung gegenüber der Welt zu beobachten sei, die erst später – etwa bis zur Zeit der Pubertät – von einer rationalen Weltsicht überlagert werde. Von demselben Gedanken ging auch Freud aus, versuchte jedoch nicht, diese Überlegung empirisch zu belegen. Piaget vertritt übrigens nicht die These, dass die animistische Haltung des Kindes als eine ontogenetische Wiederholung phylogenetischer Prozesse zu verstehen sei (vgl. Piaget 1978, S. 144) – im Unterschied beispielsweise zu dem Philosophen Bollnow, der eben diese Annahme sehr akzentuiert vertritt: „Das magische Weltbild früherer Menschheitsstufen kehrt mit unwiderstehlicher Gewalt in der einsamen Seele des einzelnen Kindes wieder“ (Bollnow 1947, S. 207). Piaget untersuchte Kinder im Alter von 3 bis 13 Jahren und stellte eine charakteristische, in Phasen verlaufende Abnahme der animistischen Denkweise fest. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass Piaget vor allem den kognitiven Aspekt dieses Prozesses untersuchte. Nach Piagets Befunden ist bis zu einem Alter von sechs bis sieben Jahren alles mit Bewusstsein ausgestattet. Alles Geschehen kann nur gedacht werden als bewusste und intendierte Aktivität. Allerdings spricht das Kind den Dingen nicht ausdrücklich Bewusstsein zu, es macht gar keine Unterschiede zwischen dem eigenen Denken und der äußeren Welt. In der nächsten Phase (6,5 bis 8,5 Jahre) werden alle beweglichen Dinge als mit Bewusstsein ausgestattet angenommen, in der dritten Phase schließlich nur die mit Eigenbewegung ausgestatteten Körper (8,5 bis 11,5 Jahren). Schließlich (etwa mit 11/12 Jahren) wird das Bewusstsein den Tieren vorbehalten. Vergleichbare Stadienabfolgen beobachtet Piaget bei dem Begriff „Leben“ (siehe Kapitel 13.2). Ein wesentlicher Zug des animistischen kindlichen Weltbildes ist ein gleichsam universaler Moralismus. Das Kind begreift „die Welt als eine Gesellschaft von Lebewesen, die moralischen und sozialen Gesetzen gehorchen“ (Piaget 1978, S. 176). Entsprechend der egozentrischen Haltung sind das dann natürlich Lebewesen, die letztendlich dem Wohl des eigenen Ich dienen wollen und sollen. Bis in ein Alter von sieben oder acht Jahren sind die Kinder nicht bereit anzunehmen, die Dinge könnten tun was sie wollen, und zwar nicht, weil diese Dinge keinen Willen hätten, sondern weil ihr Willen einem moralischen Gesetz verpflichtet ist, dessen Prinzip man mit „alles für das höhere Wohl des Menschen“ umschreiben könnte (Piaget 1978, S. 183).

Die persönlichen Erfahrungen mit sich und der Welt werden verallgemeinert und auf die begegnende Umwelt ausgedehnt oder – wie Freud (1912/13, S. 112) es formuliert – „Strukturverhältnisse der eigenen Psyche“ werden „in die Außenwelt verlegt“. Dieses erste Weltbild des Kindes wird allerdings mit der Wirklichkeit konfrontiert und so in einem fortschreitenden Entwicklungsprozess korrigiert. In der Entwicklungspsychologie von 53

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4 Die Beseelung der Natur

Piaget ist das die Entwicklung vom frühkindlichen Egozentrismus zur realitätsgerechten Erkenntnis, das heißt auch Anerkenntnis der äußeren Welt. Egozentrismus ist nun keineswegs mit der Haltung eines erwachsenen „Egozentrikers“ zu vergleichen, der sich überall in den Mittelpunkt stellt. Im Sinne von Piaget meint Egozentrismus eine geistige Ausrichtung, die gleichsam im eigenen Standpunkt befangen ist. Sie hat eine „Deformation der Wirklichkeit in Funktion der [eigenen] Handlung und des eigenen Gesichtspunkts“ (Piaget 1969, S. 358) zur Folge. „Aufgrund eines scheinbar paradoxen Mechanismus […] kennt sich das Subjekt […] in dem Moment am wenigsten, wenn es am meisten auf sich selbst zentriert ist“ (Piaget 1974, S. 12). Die kognitive Haltung des Animismus, die sich aus der Egozentrizität des Kindes ergibt, wird nun im Laufe der Entwicklung durch zunehmende Dezentrierung aktiv überwunden. Damit man zu einer solchen objektiven Schau der Dinge kommt, muß der Geist sich entsubjektivieren, muß er seine angeborene Egozentrizität überwinden. Wir haben, so glauben wir, gezeigt, daß das eine Operation ist, die dem Kind alles andere als leicht fällt (Piaget 1978, S. 188).

Das animistische Weltbild des Kindes wäre freilich missverstanden, fasste man es als eine reflektierte, systematische Denkweise auf. Es ist eher eine „geistige Ausrichtung“, weniger eine „bewußt systematische Überzeugung“ (vgl. Piaget 1978, S. 157). Piaget bezeichnet (zumindest die frühen) Phasen des Animismus als implizite Haltungen. Der Animismus ist als kognitive Sicht der Dinge gewissermaßen Ausdruck der subjektbezogenen affektgetönten Seinsweise des Kindes. So gesehen ist deshalb der Animismus keineswegs das Ergebnis einer reflektierten Kon­struktion des kindlichen Denkens. Er ist eine von allem Anfang an gegebene Tatsache, und die leblose Materie hebt sich erst durch fortschreitende Differenzierung vom Leben ab. Aktivität und Passivität, Eigenbewegung und erworbene Bewegung sind Begriffspaare, die das Denken schrittweise aus einem ursprünglichen Kontinuum herausarbeitet, in dem alles lebendig zu sein scheint (Piaget 1978, S. 188).

Im Übrigen ist der kindliche Animismus bei Piaget nicht notwendig anthropomorph, jedenfalls sind die Begriffe nicht identisch. Während allerdings die Beseelung von Lebewesen fast notwendig anthropomorphe Züge tragen wird, weil bei entsprechenden Projektionen eben von der menschlichen Beseeltheit auszugehen ist, ist der kindliche Animismus im Sinne der Verlebendigung von leblosen Gegenständen nicht unbedingt anthropomorph getönt. Auch wird den Dingen gewissermaßen nur das für die Erfüllung ihrer jeweiligen Aufgaben Notwendige an Bewusstsein zugeschrieben: „Ein sieben Jahre altes Kind wird nicht annehmen, die Sonne sehe uns in unserem Zimmer oder kenne unseren Namen, aber es vermutet, die Sonne finde jeden Tag heraus, wo wir gehen, denn sie muss uns begleiten, ‚um uns warm zu geben‘“ (Piaget 1978, S. 182). Dass Kinder die Welt nicht nur anthropomorph trotz animistischer Sichtweise deuten, liegt vor allem daran, dass Kinder selbst noch keine in sich geschlossene personale Identität haben wie Erwachsene und insofern eine solche auch nicht auf äußere Objekte projizieren

4.2 Animistisches und anthropomorphes Denken bei Kindern

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können. Das Bewusstsein seiner selbst wächst in dem Maße, wie der Mensch die andersartige Realität der außer ihm existierenden Objekte anerkennt beziehungsweise anerkennen muss. Das Ichbewusstsein – so Piaget – „entwickelt sich erst schrittweise und aufgrund der Widerstände, die das Verhalten der anderen entgegensetzt“ (Piaget 1978, S. 192). Insofern kann in der Tat gesagt werden, dass Kinder (und wohl auch Erwachsene) in der Auseinandersetzung mit äußeren Gegenständen auch sich selbst kennenlernen und dass sich beide Prozesse gegenseitig fördern (vgl. Gebhard 1988b). Zugleich kann dieser Zusammenhang auch als ein Hinweis für die von Searles postulierte „Verwandtschaft“ zwischen Mensch und nichtmenschlicher Umwelt gewertet werden (vgl. Kapitel 2). Piaget behauptet, dass die animistische Weltsicht bei zunehmender Selbst- und Welterkenntnis abnehme: Im gleichen Maße, wie sich das Kind seiner Persönlichkeit klar bewußt wird, spricht es den Dingen eine derartige Persönlichkeit ab. Im gleichen Maße, wie es seine eigene subjektive Tätigkeit entdeckt und spürt, wie schwierig es ist, deren Inhalt erschöpfend zu verstehen, spricht es den Dingen das Selbstbewußtsein ab. (Piaget 1978, S. 195)

Dass Kinder keine feste Grenze zwischen den Dingen der äußeren Welt und dem eigenen inneren Erleben ziehen, entspricht auch, wie in Kapitel 2 gezeigt wurde und wie in Kapitel 4.4 im Hinblick auf das „Naturgefühl“ noch genauer ausgeführt wird, psychoanalytischen Annahmen. Die psychische Repräsentanz von äußeren Nicht–Ich–Objekten ist auch hier ein wesentlicher Reifungsschritt. Die Anstrengung und Ernsthaftigkeit dieses affektiven und kognitiven Prozesses kann kaum überschätzt werden. Da jedenfalls zu Anfang dieser Entwicklung ichbezogene, subjektive seelische Anteile und die äußere Welt in der Vorstellung noch nicht klar getrennt sind, können sich Innen und Außen auch gegenseitig beeinflussen. Auf diese Weise erhalten die Dinge der Außenwelt Wesenszüge der seelischen Innenwelt, auch nichtmenschliche Gegenstände werden beseelt. Natürlich nehmen die Gegenstände auf diese Weise quasi menschliche Gestalt und Eigenschaften an; die Welt wird von einem egozentrischen Standpunkt aus anthropomorph interpretiert. Alles ist so wie ich: Die Sonne scheint, weil sie lieb ist. Der Tisch ist böse, weil er mich gestoßen hat. Wenn jemand pustet, fliegt der Schmerz weg. Ein sechsjähriger Junge (nach Zietz 1955): „Die Wolken bewegen sich, weil sie Regen bringen wollen.“ – „Der Ball springt von der Wand zurück, damit man ihn auffangen kann. Die Holzkugel tut es nicht, weil sie zu dumm ist.“ Das Kind projiziert eigene psychische Anteile auf die Dinge und lernt sowohl sich selbst als auch die Dinge dabei kennen, was bei fortschreitender Entwicklung zu einer Differenzierung von Innen und Außen, von Ich und Welt führt, wie in Kapitel 2 ausführlich dargelegt wurde. Dass bereits bei Säuglingen, also zu Anfang der psychischen Entwicklung sehr ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeiten und damit auch Getrenntheitserlebnisse (vgl. Stern 1998) zu beobachten sind, zeigt, dass Kinder primär von der Existenz einer Außenwelt ausgehen. Diese Außenwelt wird jedoch – und das bleibt die gültige Aussage der Animismusstudien von Piaget – im Lichte der eigenen Erfahrungsweisen (kognitiv) interpretiert. Die Tatsache, dass es eine Außenwelt gibt, die nicht nur unabhängig vom eigenen Ich, sondern auch völlig anders sein kann, bleibt eine wichtige Erkenntnis für das Kind. 55

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4 Die Beseelung der Natur

Es gibt eine Reihe von Folgeuntersuchungen, in denen die Animismushypothese von Piaget überprüft wurde. Die Ergebnisse dieser Studien sind durchaus widersprüchlich: Zunächst wurde Piagets Modell bestätigt (Bruce 1941, Klingensmith 1953, Russell 1940a, 1940b, 1942, Russell/Dennis 1941), es gibt jedoch auch gegenteilige Befunde (Huang/Lee 1945, Johnson/Josey 1931, Laurendeau/Pinard 1962), was vor allem auf unterschiedliche methodische Zugänge zurückzuführen ist. In einigen wesentlichen Punkten muss die Animismustheorie von Piaget jedoch inzwischen neu formuliert werden (Pauen 1997), vor allem, was das theoretische Verständnis angeht. Das betrifft die Unterscheidungsfähigkeit von lebendig und nicht-lebendig (siehe Kapitel 13.2), damit zusammenhängend die zentrale Bedeutung der autonomen Bewegung und den charakteristischen Verlauf in Bezug auf das Alter. Pauens (1997) Frage, ob der Animismus überlebe, ist zwar zu bejahen, jedoch überlebt er in einer völlig anderen theoretischen Form und vor allem Bewertung, als Piaget das vorgeschlagen hat. Seit Beginn der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts hat sich der Focus der Forschung verschoben. Es wurde nicht mehr untersucht, wie ähnlich die kindlichen Konzepte denen der Erwachsenen sind beziehungsweise in welchen Stufen die kindlichen Konzepte immer „richtiger“ werden. Vielmehr interessiert die Frage, vor welchem Hintergrund und auf welcher Grundlage Kinder ontologische Objektkategorien unterscheiden. Damit hat sich „eine Diskussion um die Fundamente unseres Wissens entzündet, die in ihrer Bedeutung weit über die Relevanz der ursprünglichen Animismus-Debatte hinausgeht“ (Pauen 1997, S. 99). In Bezug auf das Alter zeigt sich, dass Kinder keineswegs durchgängig animistisch denken. Am deutlichsten wird dies in den Untersuchungen zur Unterscheidung von lebendig und nicht-lebendig. So müssen die Altersangaben von Piaget bezweifelt werden. Es kann nicht von einer mehr oder weniger stetigen Abnahme des animistischen Denkens ausgegangen werden, die einer inneren Logik folgt. In einer Metaanalyse vorliegender Befunde zeigen bereits Looft und Bartz (1969), dass unabhängige Auswerter zu anderen Stadieneinteilungen kommen als Piaget. Es gibt also keine gewissermaßen kausale Korrelation von Alter und animistischen Denkhaltungen. So konnte Mähler (1995) zeigen, dass die animistischen Interpretationen bei dreijährigen Kindern weniger ausgeprägt sein können als bei vier- bis fünfjährigen Kindern. Eine gewisse Bestätigung erfahren die Befunde von Piaget von Buggle und Westermann-Duttlinger (1988), allerdings verschieben sich die Phasen v. a. wegen des Einflusses der Schule um drei Jahre nach vorn. Danach unterstellen 5- bis 8-jährige Kinder den Objekten zu 25 % Wissen, zu 36 % die Fähigkeit, zu spüren und zu 43 % einen eigenen Willen, der zudem gut und böse sein kann. Zwar zeigt eine Reihe von weiteren Untersuchungen (zum Beispiel Carey 1985, Jahoda 1958, Laurendeau/Pinard 1962, Safier 1964, Stavy/Wax 1989), dass in der Tat das animistische Denken mit zunehmendem Alter abnimmt, doch sind die individuellen Unterschiede innerhalb einer Altersgruppe größer als zwischen aufeinanderfolgenden Altersstufen, wie Hedewig (1988) gezeigt hat. Er befragte Schülerinnen und Schüler der 3. bis 10. Klasse (n=376) nach ihren Naturvorstellungen. Im Hinblick auf die Verwendung von Anthropomorphismen interpretiert er die Schülerantworten so, „daß offensichtlich anthropomorphe

4.2 Animistisches und anthropomorphes Denken bei Kindern

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Vorstellungen zu den (…) Ursachen biologischer Phänomene bereits im 3. Schuljahr selten sind und vom 4. Schuljahr an nur noch sporadisch vorkommen“ (Hedewig 1988, S. 224). Im Hinblick auf das Verhältnis zu Haustieren sind die Ergebnisse allerdings etwas anders, was daran liegen wird, dass zu Haustieren oft eine intensive Beziehung besteht (s. Kapitel 10). Auch Dennis (1957) bringt in einer vergleichenden Studie viele Beispiele dafür, dass sich Kinder derselben Altersstufe in Bezug auf das animistische Denken sehr stark voneinander unterscheiden können, während Erwachsene bisweilen Vorstellungen haben, die denen von Kindern ähneln. Umgekehrt zeigen neuere Befunde, dass bereits drei- bis fünfjährige Kinder zwischen beseelten und unbeseelten Objekten dann unterscheiden können, wenn ihnen diese Objekte sehr gut bekannt sind (Bullock 1985, Carey/Gelman 1991, Gelman 1990, Gelman/Kremer 1991). Dagegen ist das teleologische Denken bei Vorschulkindern noch sehr ausgeprägt (Opfer/Gelman 2001): Sie erklären die Handlungen von Tieren und auch Pflanzen psychologisch (also anthropomorph). Biologische Erklärungsmuster treten nach dieser Studie erst in der 5. Klasse auf. Es zeigt sich, dass Objekte, bei denen eine direkte sinnliche Erfahrung nicht möglich ist (wie z. B. Sonne oder Mond), eher beseelt bzw. verlebendigt werden als Objekte, mit denen man persönlichen Kontakt hat wie Fahrräder oder Autos (Pauen 1997, Richards/Siegler 1984). So scheint insgesamt die Variation innerhalb der einzelnen Altersstufen so groß zu sein, dass Altersangaben allenfalls als Tendenzangaben zu verstehen sind. Das betont bereits Werner (1959), der es ausdrücklich ablehnt, präzise Altersangaben in dieser Hinsicht zu machen. Zudem wird die animistische und auch anthropomorphe Denkhaltung durch bestimmte Darstellungsweisen von Tieren und Pflanzen in den Medien (zum Beispiel Trickfilme) und auch durch spezifische Eigentümlichkeiten der Sprache („Die Sonne geht auf.“) verstärkt. Die Untersuchungen von Carey (1985), auf die in den Abschnitten über das kindliche Verhältnis zu Tieren (Kapitel 10), Pflanzen (Kapitel 12) und zum Tod (Kapitel 13) noch ausführlich eingegangen wird, bestätigen die Relativität der Altersangaben von Piaget und zeigen die Beeinflussbarkeit der animistischen und anthropomorphen Denkweise. Es zeigte sich außerdem, dass animistische Interpretationen durchaus auch (wenn auch weniger) bei älteren Menschen vorkommen (Bell 1954, Brown/Thouless 1965, Crannell 1954, Crowell/Dole 1957, Dennis 1953, 1957, Lester 1970). Auch kleine magische Rituale wie zum Beispiel das Klopfen auf Holz sind weit verbreitet (Woolley 1997). Vor diesem Hintergrund ist der Animismus nicht ein ausschließlich kindliches Phänomen, sondern gewissermaßen Ausdruck einer allgemein-menschlichen Denkhaltung, die kulturell und individuell mehr oder weniger überformt und modifiziert sein kann (vgl. Lowrie 1954). Auch Luckmann (1993) zeigt, wie die „Entseelung“ oder wie er sagt, „Entsozialisierung“ ontogenetisch wie phylogenetisch fortschreitet. Während es am Anfang eine „universale Projektion“ gebe, werden mit fortschreitender Entwicklung zunächst Unbewegtes wie Steine, dann Objekte ohne Reaktionsvermögen wie Pflanzen, schließlich Objekte ohne Sprachfähigkeit aus dem Bereich des Menschlichen, des Sozialen und Beseelten ausgegrenzt. In der Tat interpretieren Kinder häufiger animistisch als Erwachsene (Buggle/Westermann-Duttlinger 1988), doch ist unstrittig, dass auch erwachsene Angehörige von Naturvölkern animistische Interpretationen gerade im Hinblick auf die Natur vornehmen 57

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4 Die Beseelung der Natur

(Dennis 1943, Dennis/Russell 1940, Havighurst/Neugarten 1955, Jahoda 1958, Klingberg 1957, Mead 1932). Der kulturelle Einfluss ist auch in westlichen Kulturen wirksam: So vermindert sich die Häufigkeit animistischer Interpretationen bei Kindern in Abhängigkeit vom (höheren) beruflich-sozialökonomischen Status der Eltern und dem Ausmaß der Leseaktivität des Kindes (Buggle/Westermann-Duttlinger 1988). Und auch hier finden sich Animismen bei Erwachsenen. So zeigen volkskundliche Untersuchungen zum Walderleben bei Erwachsenen in Deutschland, dass animistische Vorstellungen ein essentielles Element bei ihren Walderlebnissen sind: „Aber diese animistische Atmosphäre dieses Denkens, die auch die Atmosphäre der Märchen ist, spielt für viele Befragte aus unseren Untersuchungen immer noch wie selbstverständlich in die sinnliche Wahrnehmung der Natur hinein“ (Lehmann 2000, S. 31). Auch durch Untersuchungen im Umkreis der sogenannten „Folkbiology“ (Coley et al. 2002, Hatano/Inaki 1996, Medin/Atran 1999) wird die Relativierung des kindlichen Animismus nachhaltig bekräftigt (Coley et al. 2002, S. 67f.). Im Zusammenhang mit den überraschenden Befunden zum Lebensbegriff (s. Kapitel 13.2) bereits bei kleinen Kindern wird neuerdings gemutmaßt, dass es bei Kindern ein intuitives biologisches Wissen gäbe (Mähler 1999). Derartige „naive Theorien“ im kindlichen Denken moderieren auch das animistische Denken. Auch vor dem Hintergrund dieser Annahme versteht Carey (1985) das animistische Denken nicht in erster Linie als Ausdruck des egozentrischen Weltbildes im Sinne von Piaget, sondern eher als das Ergebnis eines „Wissensdefizits“. Dieses Wissensdefizit wird auch nicht mehr mit unreifen Denkstrukturen (wie das Piaget angenommen hatte) in Verbindung gebracht, sondern nüchtern als Faktum konstatiert, das man ändern kann (Berzonsky 1971, Looft/Charles 1969). Was allerdings Kinder bereits in frühen Jahren über die Unterscheidung von Leben und Nicht-Leben, über menschliches Leben, über das Leben von Pflanzen (siehe Kapitel 12) und vor allem über das Leben von Tieren (siehe Kapitel 10) wissen, ist bemerkenswert. So ist auch die Annahme eines Wissensdefizits durch inzwischen zahlreiche Studien nicht mehr sehr plausibel aufrecht zu erhalten. So zeigen bereits Vierjährige gute Kenntnisse über die Eigenschaften von Lebewesen (Kapitel 13.2) und haben auch eine Unterscheidungsfähigkeit von tot und lebendig. Beide theoretischen Verstehensansätze – unreife Denkstrukturen (Piaget) und Wissensdefizit (Carey) – haben gemeinsam, dass sie sich an den animistischen „Fehlern“ der Kinder orientieren, die überwindbar und demzufolge auch zu überwinden sind. Bei beiden Perspektiven werden die Äußerungen der Kinder im Hinblick auf die Nähe oder Ferne zu einer naturwissenschaftlichen Norm bewertet. Damit gerät nicht in den Blick, dass animistische Denkhaltungen – verstanden als Interpretationen der Wirklichkeit – auch einen symbolischen Bezug zu Dingen, Tieren und Pflanzen herstellen, der auf einer anderen Ebene als die naturwissenschaftliche Erklärung liegt (siehe Kapitel 4.4, 4.5 und 4.6). So konnte Mähler (1995) empirisch in Fallstudien zeigen, dass bereits Vorschulkinder geradezu mühelos zwischen animistischen und rationalen Deutungsmustern hin- und herpendeln können. Die neue theoretische Interpretation des Animismus als Ausdruck von Phantasietätigkeit und Kreativität ist vor diesem Hintergrund ausgesprochen plausibel. Die Koexistenz von rationaler und magisch-animistischer Denkweise erlaubt es, sowohl

4.2 Animistisches und anthropomorphes Denken bei Kindern

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in naturwissenschaftlichen Begriffen als auch in animistischen Geschichten zu denken, ohne dabei in Konflikte zu geraten oder gar durcheinander zu kommen (vgl. Subbotsky 2004, Mähler 2005, Rosengren et al. 2000, Zohar/Ginossar 1998). Dazu passt auch die Beobachtung von Herrmann et al. (2010), dass dreijährige Kinder eher seltener beispielsweise einen Hund anthropomorph interpretieren als fünfjährige Kinder, mithin die Anthropomorphisierung nicht das primäre Weltbild darstellt, sondern eher kulturell erworben ist. Sie stellen die These auf, „that anthropocentrism does not represent the young child’s initial entry point for reasoning about biological world, but that it is a learned perspective“ (Herrmann et al. 2010, S. 982). Interessant in diesem Zusammenhang sind auch neuere empirische Studien, wonach anthropomorphe Interpretationen eine sinnkonstituierende Funktion beim Verstehen der Wirklichkeit haben: „Anthropomorphizing nonhuman agents seems to satisfy the basic motivation to make sense of an otherwise uncertain environment“ (Waytz 2010a, S. 410). Eine grundlegende Motivation nach Kompetenz, nach Selbstwirksamkeit verstärke danach anthropomorphe Weltinterpretationen. Die Autoren zeigen diese Zusammenhänge in verschiedenen Experimenten und belegen den Zusammenhang von Motivation und Anthropomorphisierungen auch neurobiologisch. Durch bildgebende Verfahren konnte gezeigt werden, dass die neuronalen Korrelate von Anthropomorphisierungen ähnlich den Prozessen sind, wenn über andere Menschen nachgedacht wird (Waytz 2010a, S. 415ff.). Jedenfalls wird sich die animistische und anthropomorphe Denkweise nicht plötzlich mit zwölf Jahren in Luft auflösen, was vor allem durch die Befunde an Erwachsenen deutlich gezeigt wird. Bereits David und Rosa Katz, die in ausführlich dokumentierten „Gesprächen mit Kindern“ auch das magische, animistische, anthropomorphe Weltbild ihrer Kinder untersuchten, stellten zwar eine deutliche Abnahme dieses Denkens bei Schuleintritt fest, vermuten aber auch einen Fortbestand dieser Haltung im Erwachsenenalter. Nach unseren bisherigen Beobachtungen scheint die straffere Zucht des Denkens, wie sie mit dem Schuleintritt beginnt, dem magischen Denken des Kindes Abbruch zu tun und soll das ja auch, aber das magische Denken weiß dann schon neue Schlupfwinkel in der Seele zu finden; schließlich: wer weiß sich selbst als gebildeter Kulturmensch von einem letzten Rest magischen Denkens ganz frei? (Katz/Katz 1928, S. 255).

Es ist wohl davon auszugehen, dass es das animistisch-magische Denken in allen Altersstufen gibt, ja dass möglicherweise auch bei Erwachsenen nur eine „dünne Schicht vor dem Magischen“ (Vincze/Vincze 1964) besteht. Sehr zugespitzt könnte man sagen, dass es gewissermaßen zum historischen Programm der Naturwissenschaften – und natürlich auch des naturwissenschaftlichen Unterrichts – gehört, diese dünne Schicht zu stärken.

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4 Die Beseelung der Natur

4.3 4.3

Abbau der animistischen Denkhaltung durch Erziehung und Schule Abbau der animistischen Denkhaltung durch Erziehung und Schule

Schule und Erziehung setzen auf die Beeinflussbarkeit des animistischen Denkens. Einerseits werden dabei die entwicklungspsychologischen Altersangaben normativ interpretiert, wonach es gewissermaßen Aufgabe einer an Aufklärung orientierten Erziehung ist, das Kind aus dem magisch-animistischen Weltbild zu befreien. Andererseits bietet ein Verständnis, dass den Animismus vor allem als Wissendefizit interpretiert, Ansatzpunkte für entsprechende didaktische Begründungen, dieses Defizit zu beheben. Aufgabe der Schule, vornehmlich der Grundschule, und hier in erster Linie des naturwissenschaftlichen Aspekts des Sachunterrichts, sei es nämlich, das magische, animistische, anthropomorphisierende Denken der Kinder abzubauen. Hierzu einige Zitate aus fachdidaktischer Literatur: Dem naturwissenschaftlichen Unterricht kommt dabei eine unterstützende Funktion zu, z. B. beim Abbau der affektiven Identifikation der Kinder mit den Dingen, bei kindlichen Formen der Anthropomorphisierung, Personifikation oder Allegorisierung von Pflanzen und Tieren (Bäuml-Rossnagel 1979, S. 57f.). Der Grundschullehrer hat die nicht leichte, aber dankbare Aufgabe, das Kind aus seiner Rolle der Identifikation herauszuholen, das heißt die Anthropomorphisierungen abzubauen und durch ein echtes Verständnis tierischen Verhaltens zu ersetzen (Vogel 1978, S. 98). Die spezifische Eigenart des tierischen Daseins ist noch nicht entdeckt. Diesen Schritt vermag das Kind wohl nicht ohne Führung zu tun. Hier hat die entscheidende Aufgabe des Unterrichts anzusetzen (Stückrath 1965, S. 15). Das Verniedlichen der Lebewesen, ihr Vermenschlichen, die Darstellung der „guten Mutter Natur“ hielt sich lange Zeit in vielen Schulbüchern, vor allem der Volksschule. Erst in jüngerer Zeit wurde diese Betrachtungsweise auch in den Grundschulen zugunsten einer weitgehend sachlichen Darstellung zurückgedrängt (Killermann 1991).

Die pädagogischen Bemühungen vor allem seit den sechziger Jahren werden in der Tat eine Abnahme animistisch–anthropomorpher Vorstellungen bewirkt haben. Das passt übrigens durchaus in die dargelegten entwicklungspsychologischen Zusammenhänge. Danach kommt ja die animistische Denkweise nicht etwa aufgrund einer endogenen Reifungsdynamik zu Beginn der Pubertät zum Erliegen, sondern durch einen stetigen Lernprozess, durch direkten Kontakt mit den äußeren Dingen der Welt. Natürlich sind dabei nicht nur die äußeren Dinge der Welt bedeutsam, sondern wesentlich auch die jeweiligen kulturellen Gegebenheiten und Vorgaben, die durch die Erziehung vermittelt werden. Sehr deutlich zeigt sich das in den Studien zum animistischen Denken in nicht-westlichen Kulturen, in denen die Befunde von Piaget gerade nicht bestätigt werden konnten. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass in der von Piaget beeinflussten Entwicklungspsychologie vor allem der kognitive Aspekt des animistischen Weltbildes und seiner Veränderung untersucht wurde. Die affektive Seite wurde dabei eher vernachlässigt

4.4 Psychoanalytische Betrachtungen

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beziehungsweise geradezu als Hemmschuh für die kognitive Entwicklung angesehen. Besonders deutlich wird das bei Katz/Katz: Das emotionale Denken ist überstark, das rationale Erfassen der Wirklichkeit ringt sich schwer aus dem Gefühls- und Wunschschoß los, das sein Mutterboden ist. Der Affekt ist der stärkste Motor der kindlichen seelischen Tätigkeiten im allgemeinen, seines Denkens im speziellen, aber er ist zugleich auch das stärkste Hemmnis für ein sachgerechtes Denken. […] Der Fortschritt des Denkens vollzieht sich als Befreiung von Wünschen, Hoffnungen und Befürchtungen (Katz/Katz 1928, S. 253).

Die hier implizierte Trennung von Kognition und Affektivität ist nicht unproblematisch. In den anthropomorphen beziehungsweise animistischen Weltdeutungen offenbart sich nämlich nicht nur eine kognitive Interpretation der Welt, sondern zugleich auch eine affektive Beziehung zu ihr. Die pauschale Forderung nach Abbau der Anthropomorphismen, wie sie bis in die 90er Jahre fast unisono in der Didaktik erhoben wird (Ausnahmen sind in der Physikdidaktik v. a. Wagenschein 1965 und in der Biologiedidaktik Gebhard 1990b) lässt also zum einen diesen affektiven Aspekt der Anthropomorphismen außer Acht, zum anderen vernachlässigt sie die kognitiven Potenziale, die Anthropomorphismen als potentielle Lernhilfen bereitstellen. In diesem Zusammenhang gibt es insbesondere für die Biologie und Chemie Positionen, wonach anthropomorphe Interpretationen eben solche kognitiven Lernhilfen sein können. So werden beispielsweise inzwischen im Chemieunterricht Anthropomorphismen nicht mehr diskreditiert (z. B. Anton 1993, Gebhard/Lück 2002, Lück 2003, Miller 1992) und ihre motivierende Kraft auch empirisch untersucht (Püttschneider/ Lück 2004). Kattmann (2005) zeigt zudem, dass anthropomorphe Vorstellungen aufgrund der durch sie gewonnenen Anschauung ein „mental nahe liegendes Instrument für das Lernen“ sein und damit unter bestimmten Umständen das Lernen von biologischen Sachverhalten fördern können (vgl. Zohar/Ginossar 1998, Kallery/Psillos 2004). Im Folgenden soll die affektive Dimension anthropomorpher Vorstellungen im Fokus stehen. Hierbei ist der Gedanke von zentraler Bedeutung, dass Affekt und Kognition untrennbar zusammengehören: Es gibt keine Kognition ohne einen dazugehörigen Affekt, und auch umgekehrt gibt es keinen Affekt ohne dazugehörige Kognition (Ciompi 1982, Gebhard 1988b). So gilt es nun, die affektive Seite des anthropomorphen Denkens zu beleuchten, um zu sehen, welche Art der emotionalen Beziehung Anthropomorphismen zu Naturphänomenen herstellen.

4.4 4.4

Psychoanalytische Betrachtungen: Primärer Narzissmus und Naturbeseelung Psychoanalytische Betrachtungen

Sehen wir uns zu diesem Zwecke an, was die Psychoanalyse zum Thema Anthropomorphismus und Animismus zu sagen hat. Dabei ist noch einmal (vgl. Kapitel 2) einschränkend anzumerken, dass sich die Psychoanalyse vorwiegend mit den Beziehungen zu menschlichen 61

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4 Die Beseelung der Natur

Objekten beschäftigt hat; die übrige Welt (Pflanzen, Tiere, Gegenstände) spielt in ihrem Theoriegebäude nur eine untergeordnete Rolle, auch wenn sich Freud (1912/13) gerade mit dem Animismus in dem Essay „Totem und Tabu“ auseinandergesetzt hat. So können jetzt die Überlegungen zur psychischen Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt, wie sie im 2. Kapitel entfaltet wurden, eine Grundlage auch zum Verständnis des kindlichen Animismus sein. Zu erinnern ist dabei an das Diktum von Nietzsche (1872/73, S. 47), wonach „alle Weltconstructionen … Anthropomorphismen“ seien. Und die Philosophie ist danach „die Fortsetzung des Triebes, mit dem wir fortwährend, durch anthropomorphische Illusionen, mit der Natur verkehren“ (Nietzsche 1872/73, S. 51). Völlig analog hierzu mutmaßt Freud in den Mittwochsprotokollen vom 27.2.1907, „unser Verständnis reiche so weit wie unser Anthropomorphismus“. Es fallen Parallelen zwischen der Psychoanalyse und der Theorie der kognitiven Entwicklung von Piaget auf, zumindest was das Verständnis des Animismus angeht. Dem kindlichen Egozentrismus entspricht in der Psychoanalyse der primäre Narzissmus, den es völlig analog zur Dezentrierung bei Piaget zu überwinden gilt, um entsprechend der Herrschaft des Realitätsprinzips zur Erkenntnis und Anerkenntnis der äußeren Objektwelt zu kommen. Bereits 1912 entwickelte Hans Sachs in einem sehr scharfsinnigen, jedoch weithin unbekannten Aufsatz „Über Naturgefühl“ Gedanken, die denen von Piaget zumindest ähnlich sind. Eine nicht leicht überwindbare Schwierigkeit bei den ersten Schritten seelischer Entwicklung, die der Mensch zu tun versuchte, war die Aufgabe, die Grenzen zwischen dem Ich und der Außenwelt festzulegen und dann die Außenwelt als solche zu erkennen und ihren Inhalt festzustellen (Sachs 1912, S. 125).

Die Tendenz, Gegenstände der äußeren Welt zu anthropomorphisieren, zu beseelen, zu personifizieren, entspringt bei Sachs dem primären Narzissmus. Der Animismus des Kindes wie auch der archaischer Kulturen ist auch hier ein zunächst kognitiv gemeintes Weltbild, eine „Denkvereinfachung“, wie Sachs es ausdrückt. Das Kind und der primitive Mensch nehmen den Stein, über den sie stolpern, den Baum, an dem sie sich stoßen, sogleich als ebenbürtigen Partner an, weil sie bis zu der Vorstellung unbeseelter, das heißt dem Ich ganz ungleicher Objekte nicht gelangt sind (Sachs 1912, S. 125).

Der Versuch der Denkvereinfachung ist freilich nur das kognitive Motiv für die Entwicklung eines animistischen Weltbildes. Mindestens ebenso wichtig ist nach Sachs, dass angesichts des Realitätsprinzips der anfängliche Zustand nicht aufrecht erhalten werden könne. Die primärnarzisstische Illusion, man sei omnipotenter Mittelpunkt der Welt und alles geschehe nur im Hinblick auf die eigene Person, widerspricht zu sehr der äußeren Realität, als dass diese Vorstellung lange Zeit ungebrochen erhalten bleiben könnte. Das Realitätsprinzip ist – so Winnicott – für das Kind „eine Beleidigung“, die es zu verarbeiten gilt. So werden eben Wünsche, Vorstellungen, Illusionen, die im Kontext des primären Narzissmus auftauchen, nie ganz aufgegeben, sondern eher verschoben oder umgeformt. Es sei allerdings

4.4 Psychoanalytische Betrachtungen

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an dieser Stelle noch einmal an die in Kapitel 2 bereits angesprochenen relativierenden Befunde der neueren Säuglingsforschung erinnert, nach denen der primäre Narzissmus nicht mehr als ein Zustand der völligen Verschmelzung und der Allmachtsillusion gedacht werden kann. Die Differenzierung ist von Anfang an ein Merkmal der psychischen Entwicklung (vgl. Kapitel 2.2.2). Als ein Element dieses Differenzierungsprozesses kann dann auch betrachtet werden, dass die primären Vorstellungen umgeformt werden; und dies geschieht unter anderem dadurch, dass Ich-Anteile auf die äußere Welt projiziert werden. Die Phantasiepersonen, mit denen die ganze Natur erfüllt wird, sind zunächst nichts anderes als Wiederholungen des eigenen Ichs die nach dem Mechanismus der Projektion in die Außenwelt versetzt werden (Sachs 1912, S. 126).

Die animistische Vorstellung, die Elemente der umgebenden Welt seien so oder zumindest so ähnlich wie man selbst, entspringt also – psychoanalytisch betrachtet – einer psychodynamisch zu verstehenden Abwehr- und Verdrängungsgeschichte. Der affektive Grund für die Abwehr, nämlich sowohl das Verdrängte als auch die Notwendigkeit der Verdrängung, lebt freilich in den animistischen und anthropomorphen Weltdeutungen verwandelt fort. Dies markiert genau den zusätzlichen Gedanken, den wir der Psychoanalyse für unseren Zusammenhang verdanken: Sie verdeutlicht zum einen den affektiven Gehalt der Anthropomorphismen und betont zum anderen, dass die kindlichen Denk- und Fühlformen zwar überlagert beziehungsweise verdrängt werden können, jedoch niemals ihre Bedeutung für das Welt- und Selbstbild verlieren. Das Verdrängte entfaltet vom Unbewussten aus eine Dynamik, die wirksam bleibt. Und die Verdrängungsnotwendigkeit geht weiter: Da auch das animistische und anthropomorphe Weltbild der Realität nicht standhält (anders als in archaischen Kulturen), wird die anthropomorphe Sicht der Natur in ein allgemeines „Naturgefühl“ verwandelt. Als typisch für das Naturgefühl der Alten haben wir die Personifikationstendenz kennengelernt; diese kann sich bei dem modernen Menschen in der alten Form nicht mehr durchsetzen, denn die objektive Erkenntnis der realen Verhältnisse ist in unserem Geiste so stark geworden, daß eine Auflehnung dagegen nicht mehr möglich ist. An die Stelle der Personifizierung, welche dem Gegenwartsmenschen keine Lust mehr verschaffen würde, ist eine andere Technik der „Naturbeseelung“ getreten, die unseren Erfahrungen minder grell widerspricht. Wir verzichten darauf, aus den hinausprojizierten Affekten selbständige, menschenähnliche Gestalten zu bilden, aber wir fahren mit der Projektion selbst noch immer fort. Wenn wir die Trauer des herbstlichen Waldes und das Lachen des Fühlingshimmels empfinden, schieben wir der Natur, deren wechselnde Bilder in unserem Inneren mit Assoziationen verknüpft sind, unsere Affekte zu. […] Diese Objektivierung der Empfindungen nennen wir „Stimmung“; sie ist das eigentliche Merkmal des modernen Naturgefühls (Sachs 1912, S. 130).

Ob allerdings das Naturgefühl mit der Ableitung aus einer Abwehr- und Verdrängungsgeschichte hinreichend beschrieben oder gar verstanden ist, kann auch bezweifelt werden. Das Naturbedürfnis oder das Naturgefühl hat sicherlich noch andere Komponenten, die in späteren Kapiteln diskutiert werden (Kapitel 5 und 9). Zum Beispiel kann gefragt werden, 63

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4 Die Beseelung der Natur

ob nicht der Mensch als Naturwesen zumindest auch ein originäres oder autonomes Naturgefühl hat, das nicht nur als Umformung anderer Bedürfnisse verstanden werden muss. Auch Ferenczi hat bei seiner Untersuchung über die „Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinns“ eine „animistische Periode“ ausgemacht: „Alles spricht dafür, daß das Kind eine animistische Periode der Realitätsauffassung durchmacht, in der ihm jedes Ding beseelt vorkommt, und es in jedem Ding seine eigenen Organe und deren Tätigkeiten wiederzufinden sucht“ (Ferenczi 1913, S. 132). Er spricht ebenfalls von einer vorübergehenden Periode, die freilich für die Beziehung des Individuums zur äußeren Welt grundlegend und insofern auch bleibend ist. Es entstehen so jene innigen, für’s ganze Leben bestehenbleibenden Beziehungen zwischen dem menschlichen Körper und der Objektwelt, die wir die symbolischen heißen. Einerseits sieht das Kind in diesem Stadium in der Welt nichts als Abbilder seiner Leiblichkeit, andererseits lernt es, die ganze Mannigfaltigkeit der Außenwelt mit den Mitteln seines Körpers darzustellen (Ferenczi 1913, S. 132).

Aus Sicht der Psychoanalyse geht es vorwiegend um ein affektives Band zwischen Ich und Welt, das in animistischen und auch anthropomorphen Deutungen ihren symbolischen Ausdruck findet. Die kindliche, animistisch–anthropomorph getönte Beziehung zu den Dingen der Welt, also auch zu Pflanzen und Tieren, kann also in eine symbolische Beziehung verwandelt werden, in der die Spuren animistischer, anthropomorpher Weltinterpretation noch enthalten sind, die aber nicht im Gegensatz zu gewissermaßen objektiver Erkenntnis stehen muss. Portmann (1960, S. 38f.) spricht in einem anderen Zusammenhang von einer primären und einer sekundären Welt- und Naturauffassung. Der Mensch eignet sich nämlich die Umwelt auf zwei Weisen an: Bei der „Objektivierung der Außenwelt“ handelt es sich um die Entwicklung sozusagen „richtiger“, objektiver Erkenntnis im Dienste der Anpassung an die sachlichen Bedingungen der Umwelt. Bei der „Subjektivierung der Umwelt“ handelt es sich dagegen um die Entwicklung emotionaler Beziehungen zu den Objekten und um den Aufbau symbolischer Ordnungen. Die Umwelt erhält so eine subjektive, individuelle Bedeutung (vgl. Boesch 1978). Beide Bezüge zur Welt sind gleichermaßen für den Menschen wichtig. Die zuletzt angedeutete kulturpsychologische Unterscheidung von Subjektivierung und Objektivierung zusammen mit der psychoanalytischen Annahme, dass es sich bei animistischen Interpretationen um Symbolisierungen handelt, macht deutlich, dass es sich bei den Animismen nicht notwendig um falsche Wirklichkeitsauffassungen handeln muss, sondern um individuelle Sinngebungen, die durchaus neben „richtigen“ Wirklichkeitsauffassungen bestehen können. Deshalb ist es auch nicht erstaunlich, animistische Interpretationen bei Erwachsenen zu finden. Diese Komplementarität gibt es wohl bereits bei kleinen Kindern; jedenfalls ließen sich mit dieser Annahme die ansonsten verwirrenden empirischen Befunde zum kindlichen Animismus verstehen. Bevor vor diesem Hintergrund einige Vorschläge zum bewussten Umgang mit animistischen und anthropomorphen Welt- und Naturdeutungen gemacht

4.5 „Subjektivierung“ und „Objektivierung“

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werden, sollen die Begriffe „Subjektivierung“ und „Objektivierung“ genauer eingeführt werden.

4.5 4.5

„Subjektivierung“ und „Objektivierung“ „Subjektivierung“ und „Objektivierung“

Wir leben als Menschen nicht in einer eindeutigen, homogenen Umwelt, sondern – das ist in den Ausführungen zur symbolischen Bedeutung der nicht-menschlichen Umwelt (Kapitel 2.3) deutlich geworden – haben Teil an sehr verschiedenen Formen der Wirklichkeit, beziehungsweise besser: Wirklichkeitskonstruktionen (Glasersfeld 1984). Ernst Boesch (1980) unterscheidet grundlegend die beiden Wirklichkonstruktionen der Objektivierung und Subjektivierung, akzentuiert sie als die zwei prinzipiellen menschlichen Haltungen gegenüber den Dingen der Welt und entwickelt am Beispiel des Hausbaus seine Begrifflichkeit: Das Haus, vom Blätterdach des Buschmanns über den Iglu des Eskimos bis zum klimatisierten Bungalow des Amerikaners erfüllt immer dieselbe Funktion: es stabilisiert die Temperatur, die Luftfeuchtigkeit, es schützt vor Wind und Regen. Dadurch entlastet es den Organismus und gewährt die Perioden der Ruhe und Erholung, die er benötigt. … Das Haus ist im Grunde einfach eine Klimakammer, die zusätzlich auch noch gewisse soziale Schutzfunktionen zu übernehmen vermag (Boesch 1980, S. 51).

Die Handlung „Haus bauen“ erfordert eine Vielzahl instrumenteller Fähigkeiten: systematische Beobachtungen der äußeren Realität, technische Einflussnahme auf diese Realität, handwerkliches Geschick und vieles mehr. Das Hausbauen – also die instrumentelle Veränderung der Realität im Sinne des Menschen – wird umso effektvoller sein, je zutreffender, in gewisser Weise je „objektiver“ die systematisierte Wahrnehmung dieser Realität ist. Diese Art von Weltbezug, die gleichsam die Anpassung des Menschen an seine Umwelt ermöglicht, nennt Boesch „Objektivierung“. Dieselbe Handlung, deren instrumentelle Bedeutung außer Frage steht, hat jedoch zusätzlich und notwendig noch eine subjektiv-funktionale Bedeutung. Dazu gehört die Funktionslust, über äußere Situationen instrumentell, naturwissenschaftlich-technisch verfügen zu können, und – mehr noch – die symbolischen Bedeutungen, die menschliche Handlungen und die Dinge, mit denen wir umgehen, annehmen können. „Man beachte, daß beide, die instrumentale und die funktionale Seite des Handelns, miteinander eng zusammenhängen: das subjektive Funktionserleben muß umso höher valent erscheinen, je wichtiger uns die Instrumentalität des Handels ist, und umgekehrt“ (Boesch 1980, S. 53). Mit der Handlung „Haus bauen“ verknüpfen sich somit notwendig projektive Bedeutungszuschreibungen, die über die objektivierende Dimension hinausgehen, diese jedoch nicht etwa in Frage stellen oder gar in einem Widerspruch zu ihr stehen. Werte, Phantasien, Mythenbildungen, Ästhetisierungen heften sich so an Handlungen und Wahrnehmungen und verbinden sich untrennbar mit der instrumentellen Funktion und der objektivierenden Bedeutung. Diese Art von Weltbezug nennt Boesch „Subjektivierung“. 65

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4 Die Beseelung der Natur

Die Dinge der Welt, die Gegebenheiten der Umwelt sind vor diesem Hintergrund nie nur Objekte – als solche blieben sie uns fremd. Zugleich sind sie oder besser symbolisieren sie projizierte Aspekte des eigenen Ich. Auf diese Weise wird die Umwelt vertraut und mit persönlicher Bedeutung versehen. Ein Haus ist eben nicht nur eine „Klimakammer“, sondern zugleich auch ein „Zuhause“. Der Architekt beschreibt das Haus anders als derjenige, der in ihm wohnt. Allerdings: Sobald der Architekt im Hause wohnt, füllt es sich auch für ihn mit Inhalten und Bedeutungen, die in seinen objektiven Plänen nirgends erscheinen – obwohl sie, und das ist vielleicht nicht unwichtig, gerade daraufhin konzipiert worden sind. (Boesch 1980, S. 62)

In unsere objektivierenden Pläne eingewoben sind also unsere subjektivierenden Bedeutungszuschreibungen; beide Weltbezüge sind zwar analytisch trennbar, sind jedoch in unseren Handlungen und Wahrnehmungen stets vereint, wobei allerdings die Subjektivierung die Richtung angibt: Der Mensch ist nicht zunächst Architekt, ein kühl-sachlicher Planer, um dann anschließend zum Träumer zu werden, sondern er ist vor allem Träumer, der sich dann zum Architekten entwickeln kann, wenn die Versachlichung genügend fortschreitet, jene Objektivierung, die Piaget so schön beschrieben hat. (Boesch 1980, S. 62)

In gewisser Weise sind diese Weltbezüge in den Piaget’schen Begriffen der Akkomodation und der Assimilation enthalten. Wichtig jedoch ist der Aspekt, dass die assimilierende Subjektivierung nicht nur eine entwicklungspsychologisch frühe Stufe ist (bei Piaget der frühkindliche Egozentrismus, in der Psychoanalyse der primäre Narzissmus), sondern ein nicht hintergehbarer Weltbezug. Boesch unterscheidet in diesem Zusammenhang die primäre kindliche Subjektivierung von der sozusagen erwachsenen, sekundären Subjektivierung: Welches ist nun die Beziehung zwischen diesen beiden Arten subjektiver Objektwahrnehmung? Die erste, die des kindlichen Egozentrismus, vermengt das Innen mit dem Außen, Kausalität mit Intentionalität, organische Genese mit künstlicher Herstellung, Vorstellungen mit Ereignissen. Der zweite, der sekundäre Subjektivismus, ist subtiler, schwerer einzusehen. Er besteht nicht in Verkennungen der Wirklichkeit, sondern in Symbolisierungen. (Boesch 1980, S. 66)

Im Unterschied zu Boesch glaube ich, dass die strikte Unterscheidung in kindliche, die Realität verkennende und damit in gewisser Weise falsche Subjektivierung einerseits und erwachsene, symbolisierende Subjektivierung andererseits nicht haltbar ist. Zumindest – und das ist eine der Haupteinsichten der Psychoanalyse – bleiben die kindlichen Subjektivierungen gewissermaßen als affektive Unterfütterung auch des erwachsenen Weltbildes ein Leben lang wirksam. Beide Subjektivierungen versehen die Realität mit Bedeutung, sind Symbolisierungsprozesse und zeigen ein Bedürfnis nach Sinn an. Diese Symbolisierungen vermengen auch nicht das Innen mit dem Außen, sondern bringen Innen und Außen in Verbindung. Wichtig ist – insbesondere für die Beziehung zur Natur –, dass dadurch

4.5 „Subjektivierung“ und „Objektivierung“

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ein Gefühl der Vertrautheit und Verbundenheit aufgebaut wird – ein Aspekt, der bei der Beziehung zu Tieren (Kapitel 10) und Pflanzen (Kapitel 12), aber auch zu Landschaften (Kapitel 5) wieder auftauchen wird. Neben der gewissermaßen tatsächlichen Bedeutung der Natur hat die Natur noch eine symbolische Bedeutung, heften sich an besondere Ausschnitte der Umwelt Phantasien und Konnotationen. Ein Apfelbaum beispielsweise kann neben der faktischen Bedeutung, die in Kategorien beispielsweise der Biologie, der Gärtnerei, der Ernährung beschreibbar sind, ganz andere Phantasien und Konnonationen an sich binden. Er kann Merkzeichen für die Fähigkeit des Kletterns sein, erinnert vielleicht an den Garten der Kindheit oder an soziale Erfahrungen des Apfelklauens. Solche persönlichen Assoziationen können sich zusätzlich mit kulturell vermittelten Symbolsystemen verbinden, beim Apfelbaum zum Beispiel mit der Paradiesgeschichte, mit dem Schönheitsurteil des Paris oder mit Schneewittchen. Subjektivierung und Objektivierung erweisen sich dabei keineswegs als alternative Zugänge zu den Dingen der Welt, sondern stets als gleichzeitig beziehungsweise komplementär, wobei natürlich der Schwerpunkt je nach Tätigkeit jeweils verschoben sein kann. Gegenläufig zu der von Piaget beschriebenen Dezentrierung und damit Objektivierung, gegenläufig zu der von der Psychoanalyse beschriebenen Anerkennung des Realitätsprinzips wird die Wirklichkeit subjektiviert und damit auf symbolische Weise mit persönlicher Bedeutung versehen. „Unsere Welt ist immer zugleich Objekt und Symbol“ (Boesch 2000, S. 11). Indem so Teile der Außenwelt zu symbolischen Repräsentanten der Innenwelt gemacht werden, werden sie zu Elementen des individuellen Lebens und notwendigerweise auch verpersönlicht. So sind auch die symboltheoretischen Ausführungen aus dem 2. Kapitel an dieser Stelle anzuwenden. Objekte der Außenwelt – in diesem Buch interessieren in erster Linie Naturphänomene – haben nicht nur eine Bedeutung als objektive Gegebenheiten, die natürlich nur auf dem Wege rationaler Objektivierung erkannt werden können, sondern auch eine symbolische Bedeutung, in der persönliche Erfahrungen, Beziehungen, Konnotationen zusammenfließen. Auf diese Weise kann die Umwelt wahrhaft angeeignet werden. Winnicott hat mit seiner Theorie des intermediären Bereichs (siehe Kapitel 2.4) deutlich gemacht, wie sehr Kinder und auch Erwachsene einen Bereich brauchen, in dem sie Innen und Außen, Subjekt und Objekt nicht streng voneinander geschieden halten müssen, auch wenn sie es können. In diesem Bereich können sich Objektivierung und Subjektivierung zusammenfügen, ohne sich auszuschließen. Dieser intermediäre Raum ist der Ort, an dem die dargelegten Weltbezüge der Subjektivierung und Objektivierung zusammenkommen. Insofern besteht die Symbolisierung nicht nur aus Subjektivierungen (wie Boesch behauptet), sondern das Symbol, das Innen und Außen verbindet, das Sinn zu stiften in der Lage ist, versöhnt sozusagen Objektivierung und Subjektivierung. Eine Beschäftigung mit Naturphänomenen, das dem Sinnverlangen genügen soll, geht weder rein objektivierend noch rein subjektivierend vor. Nur in der anerkannten und selbst gedachten Verschränkung von beiden Zugängen kann Sinn aufscheinen. Dieses subjektive Gefühl von Sinn kann dann entstehen, wenn wir uns nicht auf eine Seite dieser Polarität schlagen (müssen), sondern gelassen beiden „Lesarten“ nachsinnen, wir gewissermaßen „zweisprachig“ (Gebhard et al. 2017a, S. 145ff.) sind. „In dem Maße, als es uns gelingt, diese 67

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4 Die Beseelung der Natur

beiden übergeordneten Zielsetzungen in Einklang zu bringen, meinen wir, dass unser Handeln und Leben sinnvoll sei“ (Boesch 1998, S. 218).

Abb. 4.1 Die Grundkonstellation der Sinnkonstitution zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Subjektivierung und Objektivierung (Gebhard 2007)

Ein abschließender Hinweis ist noch wichtig: Dass Tiere und Pflanzen eine symbolische Bedeutung im Kontext von Märchen (Gebhard 2009a), Fabeln und künstlerischen Darstellungen haben, wird natürlich von niemandem bestritten. Wichtig ist jedoch der Gedanke, dass diese Symbolisierung sich auch im konkreten Umgang mit Pflanzen und Tieren vollzieht. Wenn ein Kind eine Beziehung zu seinem Hund entwickelt oder wenn Menschen sich einen Blumenstrauß auf den Tisch stellen, sind das Vorgänge, in die mannigfache subjektive Symbolisierungen einfließen. Mehr noch: Eben diese Subjektivierung verleiht solchen Phänomenen erst Sinn und Bedeutung; und dabei muss nicht – das wird für die nun folgenden Überlegungen zum Umgang mit Anthropomorphismen bedeutsam – die rationale Objektivierung der Wahrnehmung von Pflanzen und Tieren ausgeklammert oder unterlaufen werden.

4.6 4.6

Bewusster Umgang mit Anthropomorphismen Bewusster Umgang mit Anthropomorphismen

Ich halte den (v. a. in der Biologiedidaktik) empfohlenen Umgang mit Anthropomorphismen, wie er oben mit einigen Äußerungen belegt ist, für einseitig. Er betont zu sehr die gerade genannte Objektivierung der Außenwelt und den Aufbau eines rational begründbaren, im Einklang mit der wissenschaftlichen Biologie stehenden Verhältnisses zu Tieren und

4.6 Bewusster Umgang mit Anthropomorphismen

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Pflanzen, dem das vermeintlich kindliche Verhältnis als irrational gegenübergestellt wird. Zudem wird dabei nicht berücksichtigt, dass es sich auch beim wissenschaftlichen um einen metaphorischen Weltbezug handelt. Eine solche pädagogische Position entspricht allerdings gewissermaßen dem Kernauftrag der objektiven Wissenschaft, wie ihn Vollmer (1975, S. 165) formuliert, nämlich der „Entanthropomorphisierung unseres Weltbildes“. Natürlich gibt es dafür gute Argumente; die verhaltensbiologischen sind nicht die einzigen und auch diese müssen differenziert betrachtet werden, wie eine Äußerung von Konrad Lorenz zeigt: Ich behaupte aber, daß für einen normalen Menschen die Du–Existenz höheren Tieren gegenüber genauso zwingend ist wie gegenüber Mitmenschen. Ich behaupte, daß ein Mensch nicht imstande ist, längere Zeit mit einem Hund oder einer Katze ein Heim zu teilen, ohne zu der zwingenden Überzeugung zu gelangen, daß er mit einem Lebewesen in Kontakt steht, das Lust und Leid empfindet, im Prinzip nicht anders als er selbst. Diese Erkenntnis ist aber in philosophischer Hinsicht genauso schwerwiegend wie in moralischer, ich brauche die Konsequenzen in diesen Hinsichten nicht weiter auszuführen. Die Einstellung des Menschen zu seiner lebenden Umwelt wird durch diese Erkenntnis auch sehr wesentlich beeinflußt, und dies hat praktische Konsequenzen, an denen keiner vorübergehen kann: Die idealistische Gegenüberstellung von erlebenden und erkennenden Menschen und einer Außenwelt, die in diesem Erleben und Erkennen nicht bildmäßig dargestellt werden kann, führt ganz zwangsläufig zu einer Überbewertung des menschlichen Subjekts. Wer erkannt hat, daß sein Hund „auch einer“ ist, ist ganz automatisch von diesem Irrglauben geheilt. Er ist sich der Realität der nicht-menschlichen außersubjektiven Umwelt bewußt geworden (Lorenz 1985).

Ein gewichtiges Argument für den Abbau der Anthropomorphismen ist, dass ein unreflektierter Anthropomorphismus sehr leicht die Tendenz zu einem anthropozentrischen Weltbild in sich birgt, das – jedenfalls in seiner humanegoistischen Zuspitzung – nicht zuletzt die aktuelle ökologische Krise mit bedingt. Meyer-Abich (1984, S. 19) formuliert diese anthropozentrische Weltsicht in drastischen Worten: Wir aber verhalten uns in der Natur so, als sei der Rest nichts als für uns da. Alle Welt sei die unsere, und unser Wille geschehe, sagt die Industriegesellschaft. Die ganze Welt ist dann nur noch Umwelt des Menschen und sonst nichts. Wir stehen in der Mitte, und alles andere steht um uns herum, mehr oder weniger griffbereit.

Bei dieser Formulierung fällt die Nähe zur psychischen Situation des kleinen Kindes in der Theorie von Piaget und auch der Psychoanalyse frappierend auf. Der kindliche Egozentrismus wird zur menschlichen Selbstbezogenheit, der kindliche Anthropomorphismus wird zur despotischen und unreflektierten Variante des Anthropozentrismus, der übrigens gar nicht die wahrhaftigen Interessen der Menschen im Blick hat und deshalb auch nicht die Belange der Natur. Jedoch basiert dieser Anthropozentrismus zugleich gerade auf der Entseelung, der naturwissenschaftlich–technischen Objektivierung der nichtmenschlichen Natur. Diese Form des Anthropomorphismus besteht nicht nur in der subjektiven und perspektivisch–menschlichen 69

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Wahrnehmung der Natur – im Gegenteil: die notwendig menschliche Perspektive wird durch das Objektivitätsideal von Wissenschaft geradezu geleugnet –, sondern zusätzlich darin, der Natur durch wissenschaftlichen und technischen Zugriff den menschlichen Willen gleichsam aufzuzwingen. Historisch hängt also die Naturnutzung und damit die Eröffnung neuer Handlungsspielräume mit einer Entseelung der Natur zusammen, wobei offen ist, ob die Entseelung eine Vorbedingung (Gloy 1995, S. 66f.) für die Naturnutzung war oder deren Folge (Luckmann 1993, S. 203f.). Angesichts der globalen krisenhaften Situation, an der der objektivierend-rationale Weltzugang zumindest beteiligt ist, muss die Menschheit wohl in der Tat „erwachsen“ werden, muss diese infantile Position überwinden, muss sich – um mit Piaget zu reden – dezentrieren; sie muss lernen, die äußere Realität nicht nur selbstbezogen zu sehen. In diesem Kontext ist eine Forderung nach Abbau der Anthropomorphismen richtig. Jedoch besteht die Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten. So kann nämlich ein wohlverstandener Anthropomorphismus eine anthropozentrische Haltung relativieren. Denn die Beziehung, die die affektive Seite des anthropomorph–animistischen Denkens darstellt, wird durch einen umstandslosen Abbau der Anthropomorphismen auch mit zerstört oder zumindest eingeschränkt. Es handelt sich dabei um genau jene Affekte, die bei der Formulierung und Begründung von affektiven Zielen, vor allem in umwelterzieherischer Absicht, so oft beschworen werden: Liebe zur Natur, Bereitschaft zum schonenden Umgang mit ihr, usw. Schon der Vorwurf des Anthropomorphismus impliziert gewissermaßen ein Bekenntnis zum Anthropozentrismus. Nur aus einer ganz eingeschränkten menschlichen Perspektive ist es sinnvoll, alles, was existiert, so aufzuteilen, dass sich unsere Spezies auf der einen Seite befindet und alles andere, von den Mikroben bis zu den Pulsaren, auf der anderen. (…) Und erst dann, nachdem eine derartige Aufteilung postuliert wurde, ist es möglich, die anthropomorphen Projektionen aus der winzigen Menschenprovinz auf die Unermesslichkeit des Universums zu identifizieren – und für unzulässig oder kindisch zu erklären. (Daston 2018, S. 81f.)

Untersuchungen zur Bedeutung des Wissens beim Umwelthandeln (siehe Kapitel 14) zeigen, dass ein rein kognitives Verständnis von Naturphänomenen noch keine Bereitschaft schafft, sich für den Erhalt der Natur konkret einzusetzen. Dazu bedarf es eben – und das liest man inzwischen in allen Verlautbarungen zur Umwelterziehung – einer entsprechenden emotionalen Grundlage. Nur was ich schätze, bin ich bereit zu schützen. Dabei ist es natürlich keine Frage, dass zum Schätzen auch das Kennen gehört. Aber ebenso ist es keine Frage, dass man nur etwas schätzen wird, wozu man auch eine Beziehung hat. Insofern ist von dieser Seite her betrachtet die Schwächung des kindlichen Animismus, der Abbau der Anthropomorphismen, als eine affektive Verarmung anzusehen. Es bestehen im Umgang mit den Anthropomorphismen nämlich zwei Gefahren: Die eine ist die, in einem radikalen Egozentrismus zu verharren und damit zu einem offenbar destruktiven Anthropozentrismus zu kommen; die andere ist die, durch eine radikale Aufgabe der animistischen, affektiven und subjektivierenden Komponente unseres Weltzugangs die

4.6 Bewusster Umgang mit Anthropomorphismen

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Welt zu entseelen. Das Ergebnis beider Wege wäre das gleiche: nämlich die Gefahr der Zerstörung, einmal durch Egoismus, das andere Mal durch Gleichgültigkeit. Ein zentraler Akzent bei meinem Vorschlag, anthropomorphe Interpretationen von Naturphänomenen nicht nur zuzulassen, sondern geradezu zu kultivieren, liegt in der ihnen innewohnenden Kraft, auch nichtmenschliche Objekte, auch Naturphänomene zu Moralobjekten zu machen. Verbunden mit einer anthropomorphen Interpretation werden Naturobjekte zu potentiellen Objekten einer menschlichen Ethik. Dagegen schließt der naturwissenschaftlich-objektivierende Blick auf Natur diese moralische Interpretation im Zusammenhang mit dem Wertfreiheitspostulat sogar ausdrücklich aus. Tiere und Pflanzen werden zu Moralobjekten v. a. dadurch, dass sie analog zu Menschen gesehen und demzufolge auch ethisch so behandelt werden (vgl. Waytz et al. 2010a, S. 425, Waytz et al. 2010b). Bei älteren Kindern und Jugendlichen ist der explizite Gebrauch von Anthropomorphismen weniger ausgeprägt. Zumindest wird kognitiv zwischen Menschen und anderen Organismen deutlicher unterschieden. Das affektive Band, das sich aus der Beziehung beispielsweise zu Haustieren ergibt, bleibt jedoch weiterhin anthropomorph getönt. Dabei gibt es natürlich Organismen, die sich für eine Anthropomorphisierung eher anbieten als andere. Hunde und Katzen, überhaupt Heimtiere, werden auch noch von Erwachsenen anthropomorph interpretiert. So ist es noch eine offene Frage, in welches Gewand sich die Anthropomorphismen bei älteren Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen kleiden. Es ist anzunehmen, dass Anthropomorphismen durchaus auch in späteren Phasen zumindest Bestandteil der Beziehung zu Tieren, aber auch zu Pflanzen sind. Allerdings werden sie wohl nicht in jeder Lebenslage geäußert, da sie im Kontext einer naturwissenschaftlichen, objektivierenden Sichtweise von Tieren und Pflanzen tabuisiert sind. Jedenfalls ist der Bezug zu einer Ethik der Natur, der durch anthropomorphe Interpretationen herstellbar ist, im Hinblick auf das Naturverhältnis ausgesprochen wichtig: Anthropomorphe Interpretationen können nämlich aufgrund ihren beziehungsstiftenden Valenz eine zentrale Denkfigur für die moralische Betrachtung und auch Behandlung von Tieren und Pflanzen darstellen (Gebhard et al. 2003, Meske 2011, S. 104). Humane Maßstäbe gelten vor diesem Hintergrund auch für den Umgang mit der Natur. Es handelt sich dabei um eine Art von moralischer Motivation. Gerade in moralischer Hinsicht müssen natürlich die anthropomorph getönten Urteile noch zum Gegenstand expliziter Reflexion gemacht werden (siehe Kapitel 8.3). Sehr deutlich zeigt in diesem Zusammenhang eine italienische Studie (Sacchi et al. 2013), dass eine anthropomorphe Interpretation nicht gleichsam naturwüchsig zu angemessenen moralischen Urteilen kommt. Im Hinblick auf Naturkatastrophen zeigen die Autoren, dass eine anthropomorphe Interpretation von Natur die Bereitschaft mindert, Opfern zu helfen. Im Schlusskapitel werde ich diesen Aspekt der moralischen Interpretation von Natur in einem „Gespräch über Bäume“ beispielhaft an einer Kinderdiskussion aufzeigen und im Kapitel über den Zusammenhang von Naturerfahrung und Umweltbewusstsein (Kapitel 8) wird diese Funktion der Anthropomorphismen noch einmal ausführlich aufgenommen. Theodor Litt verweist in seinem Buch Naturwissenschaft und Menschenbildung darauf, welche Folgen ein rein naturwissenschaftlicher Umgang mit der Natur für die Persönlich71

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keit hat: „Die Entpersönlichung, der der Mensch sich selbst unterwirft, indem er Subjekt des reinen Denkens zu werden strebt, hat zum Korrelat eine Weltentleerung, die Entsinnlichung und Sinnaustilgung in einem ist“ (Litt 1959, S. 37). Litt zufolge besteht eine Dualität zweier Naturbegriffe und also zweier Verhaltensweisen des Menschen zur Natur. Dem Menschen begegnet die Natur danach in zwei gleichwertigen Konstellationen, in der Erkenntniskonstellation und in der Erlebniskonstellation. In der Erkenntniskonstellation wird die Natur zur Sache, die zu einem Mittel innerhalb vorweg gewählter Zwecke wird. In der Erlebniskonstellation wird die Naturerfahrung zur Sinnerfahrung: Der Mensch erfährt die Natur auf diese Weise in einer Du-Beziehung. Beide Pole haben natürlich ihre Berechtigung, dürfen aber nicht jeweils absolut gesetzt werden. Die eine Position darf nicht auf Kosten der anderen dominieren. Weder der „Imperialismus der naturwissenschaftlichen Methode“, noch eine falsche Innerlichkeit soll überhand nehmen (Litt 1959, S. 11). Litt verweist dabei auf Goethe, dem er bescheinigt, dass er die beiden Pole, von denen auch hier die Rede ist – nämlich sowohl Erkenntnis von Natur als auch Beziehung zur Natur – noch zu vereinen wusste: Es geht darum, das Recht des Menschen zu wahren, der nicht gewillt ist, sich sein Verhältnis zu der ihm begegnenden und ihn für sich fordernden Welt durch irgendwelche wissenschaftlichen Einreden trüben oder zerstören zu lassen (Goethe, zitiert in Litt 1959, S. 44).

In unserem Zusammenhang würde das bedeuten, das Recht des Kindes zu wahren, Naturphänomene auch animistisch–anthropomorph zu deuten. Wohlgemerkt: auch! Die naturwissenschaftliche Sicht der Dinge soll es natürlich auch lernen. Es gilt, die Spannung zwischen beiden Seiten auszuhalten, ohne sich auf eine Seite zu schlagen und die jeweils andere dabei auszugrenzen. Hierauf zielt auch meine Kritik an der Forderung nach Abbau der Anthropomorphismen, nämlich dass in ihr die Aufforderung steckt, den Beziehung stiftenden, affektiven Anteil der anthropomorph–animistischen Herangehensweise an Naturphänomene entweder zu verdrängen oder bei anderen Gelegenheiten zu realisieren, beispielsweise im Deutschunterricht bei der Interpretation von Fabeln. Über ein ähnliches Dilemma denkt Martin Wagenschein in seiner pädagogischen Autobiographie nach: In unseren Schulen gibt es zwei Monde. Sie treten in verschiedenen Räumen auf; hart und nackt der eine, der andere leise und verschleiert; vorgeführt von zwei verschiedenen Fachlehrern. Was der eine Mond mit dem anderen zu tun hat, davon wird nicht gesprochen. Gibt es den Deutschlehrer, der ein Mondgedicht bespricht und dem der Glanz der Newtonschen Mondrechnung noch gegenwärtig ist? […] Kann man sich einen Physiklehrer denken, der zur Einleitung dieser Mondrechnung die unvergleichlichen Sätze Johann Peter Hebbels seinem Schüler vorliest, dem die Dunstglocke der Städte den Horizont geraubt hat? (Wagenschein 1983, S. 162f.)

In Bezug auf das animistische Denken geht Wagenschein davon aus, dass es nicht irgendwann aufhört. Er nimmt vielmehr an, dass es vom rationalen Denken gewissermaßen überlagert

4.6 Bewusster Umgang mit Anthropomorphismen

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wird, jedoch noch weiterhin unser Verhältnis zur Welt mitbestimmt. Eine entsprechende Position ist auch hier in Kapitel 4.2 entfaltet worden; und auch bei Hegel heißt es bereits: Das Leben des gegenwärtigen Geistes ist ein Kreislauf von Stufen, die einerseits noch nebeneinander bestehen und nur andererseits als Übergang erscheinen. Die Momente, die der Geist hinter sich zu haben scheint, hat er auch in seiner gegenwärtigen Tiefe (Hegel, zitiert nach Freese 2002, S. 73).

Hegel argumentiert zwar philosophisch und nicht psychologisch, trotzdem gibt es zumindest eine Analogie zu Wagenscheins Position: „Die Entwicklung darf nicht stockwerkhaft gedacht werden, so als ob in einem gewissen Alter die eine Phase endete und eine neue beginne. Die magische Schicht bricht nicht ab, sie zieht sich nur zurück und lebt innen weiter“ (Wagenschein 1965, S. 55). Als didaktische Konsequenz fordert er: Wenn wir die äußere Schicht stärken wollen, so müssen wir zuerst die innere anreden und anregen. Was außen anwachsen soll, müssen wir von innen heraus wachsen lassen. Das magische Denken bleibt also weiterhin eine schöpferische Potenz, von der her wir die äußeren Schalen des geistigen Wachstums aufbauen können (Wagenschein 1965, S. 61).

In der Tat wäre es wichtig, die magischen, zum Teil auch unbewussten Anteile unseres Seelenlebens als eine schöpferische Potenz, als einen „lebendigen Untergrund unserer seelischen und geistigen Existenz“ (vgl. Werner 1959) zu betrachten und sie nicht als irrationale, realitätsinadäquate, bestenfalls als zu überwindende kindliche Perspektive zu denunzieren (vgl. Gebhard 1992). Die anthropomorphisierende Verniedlichung der Natur bei gleichzeitigem Nutzungstabu ist das, was Brämer in verschiedenen Naturreports mit dem so genannten „Bambisyndrom“ bezeichnet und gar eine „fortschreitende Bambisierung“ (Brämer 2005) konstatiert. Auch gemäß des letzten Naturreports (Brämer/Koll 2017, S. 7f.) dominiere eine „vermenschlichte Naturvorstellung mit letztlich spirituellem Charakter.“ So haben Bäume gemäß 51 % der befragten Jugendlichen eine Seele. Die Frage ist, ob dieses Phänomen mit dem abwertenden Begriff „Bambi“ richtig bezeichnet ist, unterstellt es doch den Kindern und Jugendlichen, dass sie tatsächlich und nicht in einer gleichsam reflektierten Form von Symbolisierung damit eine Beziehung zur Natur verdichten. In diesem Zusammenhang ist die hier vorgeschlagene Interpretation der animistischen Denkhaltung als Symbolisierung oder als Ausdruck von Phantasietätigkeit bedeutsam. Es gilt, beide Wege gleichzeitig zu beschreiten. Dass das bereits Vorschulkinder können, zeigen die bereits erwähnten neueren Studien, wonach Kinder über ein erstaunliches Wissen in Bezug auf verschiedene Naturphänomene verfügen. Dieses Wissen muss jedoch einem in gewisser Weise spielerischen Animismus keinen Abbruch tun (vgl. Mähler 1995). Kenntnisse über Natur (also Objektivierung) und symbolische Beseelung (also Subjektivierung) schließen sich nicht aus – und das natürlich nicht nur bei Kindern. Im Gegenteil: Die Subjektivierung und auch der Animismus ist nicht eine spezifisch kindliche Eigenschaft – allerdings kann es sein, dass Kinder noch zwangloser zwischen Realität und Phantasie,

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zwischen Subjektivierung und Objektivierung, zwischen Symbol und „Tatsache“ hin- und herpendeln können. Diese Fähigkeit gilt es nicht zu unterhöhlen. Die beiden Monde Wagenscheins gibt es auch in der Biologie. So kann man sich den eingangs erwähnten Spitzwegerich auf zwei Wegen nähern: Erstens, indem man die ökologischen Bedingungen der Pflasterritzenvegetation biologisch analysiert, und zweitens, indem man das Leben des Spitzwegerichs literarisch–anthropomorph beschreibt. Es wäre fatal, eine von beiden Seiten für die eigentlich angemessene zu erklären. Die betreffende Schülerin weiß natürlich, dass Pflanzen keine Menschen sind, sie weiß auch über die biologischen Lebensbedingungen des Spitzwegerichs sehr wohl Bescheid. Aber offenbar lassen sich beide Wege gleichzeitig beschreiten; die Spannung kann ausgehalten und sogar zum besseren Verständnis der biologischen Zusammenhänge genutzt werden. Es handelt sich in diesem Fall sicherlich um eine sekundäre Subjektivierung im Sinne von Boesch (1980), die eben nicht im Widerspruch zur objektivierenden Sicht der Dinge steht. Man könnte auch von einer „sekundären Anthropomorphisierung“ sprechen, die spielerisch zwischen subjektivierenden und objektivierenden Vorstellungen hin- und herpendelt. Solche sekundären Anthropomorphisierungen gibt es auch – wie ein Blick in viele Fachbücher schnell zeigt – in der Wissenschaft. So zeigt sich zum Beispiel in einer Sprachanalyse der Werke Darwins, dass diese stark anthropomorph geprägt sind (Crist 2000), was im Übrigen in einem bemerkenswerten Gegensatz zur den mechanistisch anmutenden Organismusbeschreibungen des 20. Jahrhunderts steht (Crist 2000, S. 12). Auch die vermeintlich metaphernfreie Fachsprache der Biologie ist bisweilen anthropomorph getönt, beispielsweise bei dem Terminus „Räuber-Beute-Beziehung“. Natürlich steht die anthropomorphe Version bisweilen in einem logischen Widerspruch zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Das ist ja auch der Grund dafür, dass Anthropomorphismen aus der Sicht vieler Naturwissenschaftsdidaktiker bereits in der Grundschule durch korrekte naturwissenschaftliche Begriffe und Erkenntnisse abgelöst werden sollten. In Gesprächen mit Kindern konnten wir beobachten (Billmann-Mahecha/ Gebhard/Nevers 1997), dass beide Versionen – die naturwissenschaftliche und die anthropomorphe – nebeneinander im Bewusstsein der Kinder vorkommen, ja, dass der logische Widerspruch gar nicht existiert. Kinder, die annehmen, dass Bäume Schmerz empfinden oder Angst haben, wenn sie gefällt werden, wissen zugleich von der Photosynthese und der Sauerstoffproduktion. Der Widerspruch erweist sich nämlich bei genauerer Betrachtung als ein Scheinwiderspruch. Die animistisch-anthropomorphe, subjektivierende Perspektive gegenüber Naturphänomenen zielt auf eine andere Dimension als die naturwissenschaftliche, objektivierende Perspektive. Während die Biologie beschreibt und erklärt und damit ein möglichst objektives Bild der zoologischen oder botanischen Wirklichkeit entwirft, erhält die Wirklichkeit durch die Anthropomorphismen eine symbolisch vermittelte, subjektive Bedeutung. Objektivierung und Subjektivierung sind eben komplementäre Zugänge zur Wirklichkeit, die sich deshalb weder gegenseitig ausschließen noch sich widersprechen müssen beziehungsweise können. So gilt es die Spannung, die zwischen anthropomorphen Deutungen und (natur-) wissenschaftlicher Erkenntnis besteht, auszutragen und zu reflektieren. Die Berücksichtigung anthropomorpher Vorstellungen begünstigt damit auch

4.6 Bewusster Umgang mit Anthropomorphismen

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eine Verbindung von Schulwissen und Alltagswissen (vgl. Anton 1993). Subjektivierende Naturinterpretationen auch im naturwissenschaftlichen Unterricht zum Gegenstand der Reflexion zu machen, ist zugleich auch ein Beitrag zu einer wissenschaftsphilosophischen Reflexion objektivierender naturwissenschaftlicher Wissensbestände: „A science that is alive, animate and caring of relationships is a model which may be imperfect by the standards of objective, causal and mechanic orthodoxy. But is it any more imperfect than any other models used in school science?“ (Watts/Bentley 1994, S. 96) Friedrich Nietzsche formulierte in genialer Zuspitzung gleichsam das didaktische Programm wissenschaftlicher Denkweise, wenn er in „Menschlich – Allzumenschliches“ vorschlägt, man müsse ein „Doppelgehirn mit zwei Hirnkammern“ ausbilden – einmal, um Wissenschaft, sodann um Nicht-Wissenschaft zu empfinden; nebeneinander liegend, ohne Verwirrung, trennbar, abschließbar; es ist dies eine Frage der Gesundheit. (Nietzsche, zitiert nach Rumpf 1991, S. 330)

Es ist jedoch gerade eine „Frage der Gesundheit“, beide Bereiche (wieder) in Beziehung zu bringen: Wenn man das anthropomorphe Denken abbauen will oder es schlicht ignoriert, führt das dazu, dass Kinder ihre lebensweltlichen Erfahrungen, in denen nämlich anthropomorphe Vorstellungen häufig vorkommen, zurückhalten. Jedoch gerade das Aufnehmen der Spannung, die zwischen wissenschaftlicher und lebensweltlicher Erfahrung liegt, wäre eine anzustrebende Fähigkeit, da es angesichts der historischen Situation und der ökologischen Krise weder ein Zurück zu magischen, archaischen Weltbildern noch eine einseitige Favorisierung eines technisch–naturwissenschaftlichen Weges geben kann. Es ist nämlich die Frage, ob Menschen zu den Dingen in der Welt überhaupt eine andere als eine menschliche, das heißt potentiell anthropomorphe Haltung einnehmen können (Oesterdiekhoff 2013, S. 129), da Menschen den Dingen der Welt immer eine Bedeutung geben müssen. Jedenfalls wird sich unter der dezentrierten, objektivierenden, wissenschaftlichen Perspektive auch immer ein sozusagen animistischer, anthropomorpher, affektiver „Unterbau“ befinden, der nicht vernachlässigt werden darf. Im Gegenteil: Es käme darauf an, diesen „Unterbau“ zu kultivieren. Die animistische und anthropomorphe Tendenz des kindlichen Weltbildes, die Welt im Lichte des eigenen Selbst zu interpretieren und demzufolge auch zu anthropomorphisieren, wird nicht abgelöst durch das objektivierende Denken, sondern durch dieses sekundäre Denken ergänzt beziehungsweise komplettiert. Es ist eine der bleibenden Grundeinsichten der Psychoanalyse, dass die kindlichen Denk- und Fühlformen zwar durch sekundärprozesshafte Denkformen überlagert, verwandelt oder auch verstellt werden können, jedoch stets als gewissermaßen affektiver Unterbau wirksam bleiben, und zwar sowohl im Hinblick auf das (alltägliche) Weltbild als auch im Hinblick auf die Persönlichkeitsentwicklung. Hervorzuheben ist dabei, dass dieser Unterbau als „Basisschicht der Subjektivität“ (Lorenzer 1970) nicht etwa das objektivierende Denken unterminiert, sondern bereichert, in gewisser Weise ein Verstehen der äußeren Welt geradezu erst ermöglicht. In anthropomorphen Weltinterpretationen zeigt sich – und das sollte in diesem Kapitel ge75

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4 Die Beseelung der Natur

zeigt werden – nämlich nicht nur ein kognitives Erklärungsmuster, sondern zugleich eine affektive Beziehung zu den verschiedensten Phänomenen. Beides zusammen konstituiert ein wahrhaftiges Verstehen. „Making sense by making sentient“, wie Waytz et al. (2010a) es ausdrücken. Damit werden die Phänomene der Welt nicht nur zutreffend beschrieben und erklärt, zugleich erhalten sie dadurch eine je individuelle Bedeutung, sie erhalten durch Symbolisierungsprozesse einen Sinn. Eben diese Konstitution von Sinnstrukturen ist für die Subjekte zentral wichtig, es ist geradezu, um den Nietzschegedanken aufzunehmen, eine Frage der Gesundheit. Zu betonen ist also der symbolische Aspekt der Anthropomorphisierungen: Sie sind eben nicht lediglich Verkennungen der Realität der Natur, sondern symbolische Deutungen, die zwanglos neben naturwissenschaftlichen Deutungen stehen können. Bereits jüngere Kinder sind sich, wie gezeigt wurde (Kapitel 4.2), dieser „Als-ob“-Beziehung durchaus bewusst und können damit gleichsam „zweisprachig“ umgehen. Diese Zweisprachigkeit (Combe/ Gebhard 2012, S. 106ff., Gebhard et al. 2017a, S. 145ff.) bezeichnet die Fähigkeit, zwischen Subjektivierung und Objektivierung (Kapitel 4.5) zwanglos hin- und herwechseln zu können, und hält eine Koexistenz subjektivierender, emotionaler, alltäglicher, beziehungsstiftender Vorstellungen über Natur auf der einen Seite und rationaler, wissenschaftlicher Konzepte über Natur auf der anderen Seite nicht nur für möglich, sondern geradezu für grundlegend geboten. Naturphänomene menschlich, das heißt auch immer potentiell anthropomorph, zu betrachten, heißt nun keineswegs auch notwendig, die Natur anthropozentrisch auszubeuten. Im Gegenteil: Wenn die äußere Natur (symbolisch) zum Spiegel des Menschen wird, ist dies eher ein Grund, die Natur zu bewahren. Übrigens – und das wird uns im Kapitel über die kindliche Wahrnehmung und Verarbeitung der Umweltzerstörung (Kapitel 14) noch beschäftigen – gilt diese Spiegelung auch umgekehrt: die zerstörte Natur wirkt auch psychisch auf den Menschen zurück. So hängt unser Natur-Verhältnis mit unserem Selbst-Verhältnis zusammen und diese Dialektik hat sowohl Folgen für die Natur als auch für die Entwicklung des Selbst. Im Kapitel über den Naturbegriff (Kapitel 3) ist dieser Gedanke bereits in der Entsprechnung von Selbst- und Naturerfahrung angeklungen. Und auch in den Überlegungen zur psychodynamischen Bedeutung der nicht-menschlichen Umwelt (Kapitel 2.5) ist diese Entsprechung von Naturerfahrung und Selbsterfahrung thematisiert worden. Eine weitere Stütze für meine Argumentation bietet eine vergleichende ethnologische Studie zur menschlichen Beziehung zu Hunden (Serpell 1985). In dieser Studie wird der Frage nachgegangen, wie es kommt, dass in einigen Kulturen Hunde vorwiegend liebevoll, in anderen dagegen lieblos oder zumindest distanziert betrachtet werden. Serpell geht von der Hypothese aus, dass Menschen eine „natürliche Neigung“ haben, enge, liebevolle Beziehungen zu bestimmten Tieren aufzubauen (wie zum Beispiel dem Hund), dass jedoch bisweilen diese Neigung der Notwendigkeit widerspricht, diese Tiere für wirtschaftliche, auch unangenehme Zwecke auszubeuten (Ziehen von Schlitten, Nahrungsmittel). Der Vergleich von 43 verschiedenen Kulturen zeigt, dass in Kulturen, in denen die ökonomische Bedeutung von Hunden sehr groß ist, dieser konflikthafte Widerspruch vermieden wird,

4.6 Bewusster Umgang mit Anthropomorphismen

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indem die Beziehungen zu Hunden unemotional und distanziert gestaltet werden. Umgekehrt zeigt sich, dass in Kulturen mit überwiegend liebevoller, also auch emotionaler Beziehung zu Hunden, diese nicht für wirtschaftliche Zwecke verwendet werden oder zum Beispiel als Jagdgenossen ein hohes Ansehen genießen. Eben diesen Zusammenhang beschreibt Konrad Lorenz in einer einfachen, jedoch einleuchtenden und nachvollziehbaren Szene: Heute aß ich zum Frühstück geröstetes Brot und Würstchen. Das Würstchen und das Schmalz, in dem das Brot geröstet wurde, kam von einem Schwein, das ich schon als herziges, kleines Ferkel gekannt hatte. Sobald es größer wurde, hatte ich geflissentlich jeden weiteren Kontakt mit diesem Schwein vermieden, um mein Gewissen nicht zu belasten (Lorenz 1993).

Auf unseren Zusammenhang bezogen und verallgemeinert stützt die ethnologische Studie die These, dass emotionale, auch anthropomorphe Beziehungen zur Natur dann kulturell unerwünscht sind und abgebaut werden, wenn die wirtschaftliche Ausbeutung von Natur im Vordergrund steht. Das Ausmaß der Ausbeutung der Natur – jedenfalls in unserer Kultur – kann zumindest darüber nachdenklich machen, welche Funktion eine pädagogische Haltung hat, die die kindlichen Anthropomorphismen abbauen und an deren Stelle eine notwendigerweise beziehungslosere, objektive Erkenntnis der äußeren Realität setzen will.

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Zur Funktion von Naturerfahrungen in der Kindheit 5 Zur Funktion von Naturerfahrungen in der Kindheit

5.1 5.1

„Brauchen“ Kinder Natur? „Brauchen“ Kinder Natur?

Alexander Mitscherlich äußerte bereits in den sechziger Jahren die Vermutung, dass eine besondere Entfremdung von Natur – wie in den „unwirtlichen Städten“ – soziale und psychische Defizite hervorrufe und dass dieser Zusammenhang besonders bei der Entwicklung von Kindern sichtbar werde. Danach „braucht“ das Kind seinesgleichen – „nämlich Tiere, überhaupt Elementares, Wasser, Dreck, Gebüsche, Spielraum“ (Mitscherlich 1965, S. 24). Warum werden unsere städtischen Kinder nicht wie Kinder von Menschen behandelt, sondern wie Puppen oder Miniaturerwachsene, von infantilisierten Erwachsenen umgeben, deren städtische Vorerfahrungen sie dermaßen beschädigt haben, daß sie schon gar nicht mehr wissen, was der Mensch bis zum 6., bis zum 14. Lebensjahr für eine Umwelt braucht (Mitscherlich 1965, S. 25).

Das Problem, das hier in so deutlichen Worten beschrieben wird, ist inzwischen eher noch größer geworden. Die künstliche Umwelt wächst gegenüber der natürlichen immer mehr an, was sich in dem zunehmenden „Verbrauch“ an Landschaft für Städtebau, Industrie und Straßenbau und dem damit verbundenen Urbanisierungsgrad zeigt. Doch was für eine Umwelt „braucht“ der Mensch? Ist diese Entwicklung in der Tat für die sozialen und psychischen Lebensbedingungen (abgesehen von den biologisch-ökologischen) so bedrohlich? Allerdings: Was der Mensch, insbesondere das Kind, für eine Umwelt „braucht“, welche Qualität und wieviel Natur, um gesund zu bleiben, ist eine komplexe und auch noch nicht abschließend zu beantwortende Frage. Zwar behauptete der Entwicklungspsychologe Busemann schon 1955, dass die Möglichkeit, Natur erleben zu können, zum „seelischen Existenzminimum“ des Menschen gehöre, und auch von neurobiologischer Seite wird auf die Notwendigkeit von Naturerfahrungen hingewiesen (Hüther 2005, 2008). Jedoch hat sich insgesamt die traditionelle Psychologie, insbesondere die Psychoanalyse, zu sehr auf die Beziehung des Menschen zu anderen Menschen konzentriert. Die „Objekte“ im Rahmen der Psychoanalyse sind immer personale. Dass die frühkindliche Entwicklung wesentlich geprägt wird durch die Qualität der menschlichen Zuwendung

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Gebhard, Kind und Natur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21276-6_5

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5 Zur Funktion von Naturerfahrungen in der Kindheit

durch haltende Bezugspersonen (siehe z. B. Erikson 1968, Spitz 1972, Winnicott 1974), ist inzwischen unbestritten. Die Erfahrungen z. B., die Kinder in den ersten Lebensjahren mit vertrauten Bezugspersonen machen, bestimmen wesentlich die Persönlichkeit und auch, mit welcher Tönung und Qualität die Welt wahrgenommen wird. Erikson (1968) hat dafür den Begriff „Urvertrauen“ eingeführt. In unserem Zusammenhang stellt sich nun die Frage, was der Mensch an nichtmenschlicher, also dinglicher und eben auch natürlicher Umwelt braucht. Das ist zugleich die Frage, ob die Beziehung zur „Natur“ auch ein Element für das von Erikson so genannte „Urvertrauen“ bzw. ob die „Natur“ im Sinne von Winnicott auch „haltend“ sein kann. Vor dem Hintergrund dieser in Kapitel 2 ausführlich entfalteten Theoriebezüge kann jetzt die psychische Bedeutung von Naturelementen in der kindlichen Entwicklung bedacht werden (vgl. Kohler 2014, Quartier/Thurn 2018, Renz-Polster/Hüther 2013, Weber 2016). Es liegt eine Vielzahl von Befunden aus den unterschiedlichsten Disziplinen (Gartenbau, Stadtarchitektur, Landespflege, Forstwissenschaft, Psychologie, Soziologie, Ethologie, Pädagogik, Umweltbildung u. v. m.) vor, die hier unter dem Blickwinkel der psychischen Entwicklung von Kindern zusammengestellt werden. Bei den im Folgenden zusammengetragenen Belegen für die (günstigen) Wirkungen von Naturerfahrungen ist allerdings auch mitzubedenken, dass Kinder und v. a. Jugendliche diese nicht immer wollen bzw. dass es sehr wirkungsmächtige Konkurrenz gibt. Bei der Entscheidung zwischen „wirklichen“, sinnlichen Naturerfahrungen und Erfahrungen in virtuellen Welten ist die Natur nicht immer bzw. immer weniger attraktiv. Dies gilt vor allem im Hinblick auf die Konkurrenz von Computer und Fernsehen. Nach der JIM-Studie 2018 nutzen 94 % der Jugendlichen täglich das Smartphone (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2019, S. 13). Meske zeigt in einer qualitativ angelegten Untersuchung, dass der häufige Konsum von Medien und Spielkonsolen eher ein bedrohliches Naturbild fördere, wobei der Mensch zudem als nicht zur Natur gehörig interpretiert wird. Vielfältige und intensive Naturerfahrungen fördern dagegen ein Naturbild, in dem der Mensch als Teil der Natur wahrgenommen werde (Meske 2011, S. 270). Gmeiner (2003) hat im Auftrag der „Österreichischen Kinderfreude“ 1123 Kinder im Alter von 6 bis 15 Jahren nach ihren Freizeitvorlieben gefragt. Immerhin 35,1 % halten sich danach gern in der Natur auf. Allerdings wird dies noch übertroffen durch Fernsehen (52,2 %) und Computer (47,2 %). Brämer spricht in seinen seit 1997 durchgeführten Umfragen „Jugendreport Natur“, bei denen insgesamt über 13000 Jugendliche befragt wurden, von einer sich ausbreitenden „Naturentfremdung“ (Brämer 2004). Zum Beispiel wird im Jugendreport Natur´06 gezeigt, dass Unternehmungen in der Natur umso unattraktiver sind, je mehr elektronische Medien man besitzt oder sich ihrer bedient. Es scheint danach so zu sein, dass Natur und Naturerfahrungen zumindest keine zentrale Rolle bei Jugendlichen in der Pubertät spielen: Der Report spricht geradezu von einem zunehmenden „Verschwinden der Natur aus dem alltäglichen Horizont junger Menschen“. Ganz wesentlich liege das am Medienkonsum und an der Reglementierung von Naturerfahrungen. Interessant ist dagegen, dass immerhin 61 % den nächsten Wald in fünf Minuten erreichen könnten und 38 % dies auch mehrmals die Woche tun. 47 % suchen mehrfach die Woche Wiesen und Felder auf, 68 % Gärten. Aller-

5.1 „Brauchen“ Kinder Natur?

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dings fungiere die Natur dabei vornehmlich als Kulisse und weniger als Anlass zu Aktivität. Außerdem nimmt der Drang nach aktiven Naturerfahrungen (Radeln, Klettern, Paddeln, Wandern) mit dem Alter ab (Brämer 2006). Auch im neuesten „Jugendreport Natur“ aus dem Jahr 2016 (N=1.253, 6.-9. Klasse aller Schulformen, Brämer/Koll 2017) bestätigt sich dieser Trend und wird auch mit dem zunehmendem Medienkonsum in Verbindung gebracht (vgl. Dieser 2015, S. 9). Doch auch 2016 zeigte sich, dass 40 Prozent der Jugendlichen mindestens einmal in der Woche Waldkontakt haben und weitere 21 Prozent wenigstens einmal im Monat. Nur 14 Prozent der Jugendlichen geben an, in letzter Zeit gar nicht im Wald gewesen zu sein. Das wird von der Studie „Fokus Naturbildung“ bestätigt. Dort geben sogar 81 Prozent der befragten Jugendlichen an, in der warmen Jahreszeit mehrmals die Woche oder sogar täglich in der Natur zu sein (vgl. Kleinhückelkotten et al. 2017, S. 7). Ein Drittel der Jugendlichen gibt an, auch allein in der Natur unterwegs zu sein, häufiger jedoch werden die Jugendlichen von befreundeten Personen oder der Familie begleitet (Kleinhückelkotten et al. 2017, S. 7). Brämer interpretiert diese und ähnliche Aufenthalte in der Natur nicht als Naturnähe, sondern moniert, dass die Natur oft nur noch als „Kulisse statt Abenteuer“ (Brämer 2006, S. 38) fungiere. In einer Gesamtinterpretation aller seiner durchgeführten Studien sieht Brämer (2018) seine Diagnose einer zunehmenden Naturentfremdung bestätigt und bezieht sich dabei auf stetig geringer werdende Naturerlebnisse und v. a. auf fehlendes Naturwissen. Nach Befunden von Schuster et al. (2008, N=1133, 13–18 Jahre) spielt die Natur im Freizeitverhalten von Jugendlichen nur eine untergeordnete Rolle: Items wie „mich um Tiere kümmern“ oder „in der Natur spielen“ finden in einer Ratingskala gegenüber Musik, Internet oder sozialen Kontakten keine große Zustimmung, bei Jungen noch weniger als bei Mädchen. Der genussvolle und kontemplative Aufenthalt in der Natur ist den befragten Jugendlichen relativ fremd: Spazieren gehen, Augenblicke in der Natur genießen, Tiere und Pflanzen beobachten oder gar Pilze sammeln gelten als weniger attraktiv. Hier gibt es allerdings eine interessante Geschlechtsspezifik. Mädchen haben offenbar eher einen „ruhigen genießerischen Zugang zur Natur als Jungen, die in ihr eher eine Bühne für sportliche Aktivitäten sehen“ (Schuster et al. 2008, S. 143). Auch Kaplan/Kaplan (2002) registrieren, dass Jugendliche nicht so sehr Naturfreiräume bevorzugen wie Kinder; sie sprechen geradezu von einer „time out“, was die gesuchte Nähe zur Natur angeht. Vielmehr suchen Jugendliche öffentliche Räume auf, in denen sie mit Gleichaltrigen Kontakt haben. Die Befunde zu Jugendlichen zeigen insgesamt einen bemerkenswerten Widerspruch: Einerseits gelten Naturaktivitäten eher als unattraktiv, andererseits werden Naturräume jedoch in durchaus nennenswertem Umfang aufgesucht. Eine genauere Analyse der empirischen Literatur zeigt zudem, dass Jugendliche durchaus eine Sehnsucht nach Natur haben, diese aber nicht immer aufsuchen, weil die adoleszenzspezifischen Themen wie Autonomie oder Identität dort scheinbar nicht zu bearbeiten sind. Kaplan/Kaplan (2002) leiten daraus ab, dass man dem in der Weise Rechnung tragen müsse, dass durch entsprechend freizügige Gestaltung von Naturräumen auch Interaktions- und Identitätsbedürfnisse realisiert werden können. Das berührt zum einen das Konzept der „ecological identity“ (Thomashow 1995, 2002), zum anderen aber auch die öffentliche Freiraumplanung (s. u.). 81

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5 Zur Funktion von Naturerfahrungen in der Kindheit

Auch in einer qualitativen Studie im Forschungsstil der Grounded Theory über jugendliche Naturerfahrungen in schulischen Kontexten (Früchtnicht 2020) zeigte sich, dass die Jugendlichen die Natur als Raum für verschiedene Aktivitäten durchaus schätzen. Außerdem wird die „Schönheit“ der Natur ausgesprochen häufig erwähnt. Die Interpretation von Natur changiert zwischen einer sinnlich-ästhetischen und einer symbolischen Komponente. Zwar erweisen sich soziale Interaktionen als zentral, doch auch hierbei spielt der Naturraum eine bedeutsame Rolle. Auch nach der bereits erwähnten Studie „Fokus Naturbildung“ (N=1.002, 12–15 Jahre) von 2017 kann von Naturentfremdung keine Rede sein (Kleinhückelkotten et al. 2017). Die befragten 12- bis 15-Jährigen scheinen Naturerfahrungen sogar ausgesprochen zu schätzen: Natur ist ein Ort zum Wohlfühlen, für soziale Kontakte, auch zum Alleinsein und Stille, als Ausgleich zum sonstigen Alltagsleben. Die Befunde ähneln in auffälliger Weise den Ergebnissen der Naturbewusstseinsstudien des BfN, nach denen Natur bei Erwachsenen „zu einem guten Leben dazugehört“ (BMUB/BfN 2016, 2018). Jugendliche assoziieren laut der Studie „Fokus Naturbildung“ mit Natur vor allem positive Attribute: Freiheit (74 Prozent), Abenteuer (71 Prozent), Stille (53 Prozent) und Gesundheit (42 Prozent). „Frische Luft“ wird in den Interviews häufig erwähnt und das unterstreicht symbolisch die Orientierung an Gesundheit und Freiheit (vgl. Kleinhückelkotten et al. 2017, S. 5). Am wichtigsten sind also bei der Bevorzugung von Naturräumen Freizügigkeit und Unkontrolliertheit. „Vielleicht sollte man einfach mal jeden selbst seine Erfahrungen machen lassen“ (Luis, 14 Jahre). Auch gemäß einer britischen Studie (O’Brien 2009) ist in einer Befragung von Kindern der Wald (wenn er vorhanden und zugänglich ist) der häufigste Spielort. Nach der KIM-Studie von 2014 (6-13 Jahre) spielen 39 % am liebsten draußen, übertroffen nur vom Bedürfnis, sich mit Freunden zu treffen (53 %). Fernsehen (36 %), Sport (24 %) und Computer (23 %) rangieren also nach den Naturerfahrungen (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2015). 46 % spielen danach täglich draußen. Positives Naturerleben, das auch mit subjektivem Wohlbefinden einhergeht (siehe Kapitel 7), ist zudem eine Funktion der sogenannten „Naturverbundenheit“ (Mayer/ McPherson Frantz 2004, DeNeve 1999, Nisbet et al. 2009, Zelenski/Nisbet 2014, Pensini et al. 2016). Diese Naturverbundenheit gibt es auch bei Kindern und Jugendlichen. So konnten Sothmann und Menzel (2016) zeigen, dass ein subjektives Verbundenheitsgefühl Wohlbefinden nicht nur sehr ausgeprägt bei Kindern induziert, sondern auch bei Jugendlichen, allerdings nur kurzfristig. Angesichts der widersprüchlichen Befundlage muss die Frage nach der „Naturentfremdung“ sicherlich noch weiter erforscht werden (vgl. Gräntzdörffer 2016). Qualitative Befunde zeigen allerdings eher, dass positiv getönte Naturerfahrungen bei Kindern und auch bei Jugendlichen durchaus vorhanden sind (Früchtnicht et al. 2020). Das zeigen auch viele naturpädagogische Erfahrungen, nach denen es zumindest nur wenig Motivationsprobleme bei Naturerfahrungsangeboten gibt. So gibt es inzwischen auch eine Reihe von Vorschlägen, Erfahrungen mit digitalen Medien und Naturerfahrungen produktiv zu verknüpfen (Lude 2017, 2018), wobei die Forschungslage diesbezüglicher Effekte bislang noch als zumindest unabgeschlossen bezeichnet werden muss.

5.1 „Brauchen“ Kinder Natur?

83

Auf jeden Fall scheint die Vorliebe für naturnahe Landschaften bei jüngeren Kindern (zwischen 6 und 10 Jahren) zumindest ausgeprägter zu sein als bei Jugendlichen (Herzog et al. 2000). Jugendliche allerdings, die sich bereits als Kinder oft und gern in der Natur aufgehalten haben, haben auch als Jugendliche eine ausgeprägtere Vorliebe für Aufenthalte in der Natur, außerdem weniger Komfortwünsche und v. a. weniger Angst vor Natur (Bixler et al. 2002). Genauso wichtig wie der Altersverlauf bei der Bevorzugung von Naturräumen ist allerdings die Tatsache, dass der tatsächliche und mentale Zugang zur Natur nicht allen Menschen gleichermaßen möglich ist. Naturräume sind unterschiedlich verteilt und werden zudem offenbar vor dem Hintergrund unterschiedlicher Bildungsgänge nicht immer als Ressource wahrgenommen. In dieser Hinsicht existiert in Deutschland eine Art von „Umweltungerechtigkeit“ (Böhme et al. 2019, Conrad/Bunge 2014, Jumperz 2012), die stark mit sozialer Ungleichheit einhergeht. In den seit zehn Jahren durchgeführten zweijährigen Naturbewusstseinsstudien (BMUB/BfN 2016, 2018) des Bundesamts für Naturschutz wird deutlich, dass gerade sogenannte bildungsbenachteiligte Schichten die positiven Möglichkeiten von Naturerfahrungen deutlich weniger nutzen (können). Das gilt in ähnlicher Weise für Bewegungserfahrungen. In sozial benachteiligten Stadtteilen ist die sogenannte Walkability meist schlechter als in sozial besser gestellten Stadtteilen (Sallis et al. 2011). So ist der fußläufige Zugang zu naturnahen Freiflächen sowohl ein Anreiz für Bewegung als auch für Naturerfahrungen. Die Wohnumgebung – die ja deutlich mit dem sozialen Status zusammenhängt – hat also sehr viel mit Naturerfahrung und Bewegung zu tun (Maas et al. 2009 a und b) – und damit auch sehr deutlich mit Gesundheit (Kapitel 7). In einer breit angelegten Kinderbefragung (9-14 Jahre, N=2400) in Nordrhein-Westfalen (LBS-Kinderbarometer 2005) konnte gezeigt werden, welche Wirkungen die Kinder selbst ihren Naturerfahrungen zuschreiben. Zunächst ist bemerkenswert, dass für die meisten Kinder Natur und Umwelt der wichtigste positive Aspekt in ihrer Wohnumgebung ist. Etwa die Hälfte der Kinder halten sich fast täglich in der Natur auf, die Mädchen noch etwas mehr als die Jungen. Mit zunehmendem Alter nimmt das Bedürfnis nach Natur ab. Bei den von den Kindern genannten Wirkungen von Naturerfahrungen stehen Spaß (80 %), Wohlfühlen (77 %) und Entspannung (76 %) deutlich an erster Stelle. Immerhin 70 % der Kinder meinen, in der Natur so sein zu können, wie sie sind. Selten (10 %) haben die Kinder Angst in der Natur (siehe 5.3). Zehn Jahre später beim LBS-Kinderbarometer 2015 hat sich das Bild nicht wesentlich geändert, allerdings gibt etwa ein Fünftel an, dass man in der Wohnumgebung wenig oder gar nicht so spielen könne, wie man möchte. Sogar die bereits erwähnte KIM-Studie 2014, die v. a. den Medienkonsum von Kindern (6-13 Jahre) erfasste, bestätigt, dass 39 % am liebsten draußen spielen, wobei Medien dem sogar nachgeordnet sind (s. o.). Der Stadtökologe Sukopp (1987) geht davon aus, dass es ein „elementares menschliches Bedürfnis“ sei, Natur zu erleben und dass dieses am deutlichsten im Verhalten von Kindern offenbar werde. „Menschliches Wohlbefinden hat in einem wichtigen Aspekt Kontakt mit der Natur zur Voraussetzung“ (Sukopp 1987, S. 6). Und in einem eher an der Praxis orien83

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5 Zur Funktion von Naturerfahrungen in der Kindheit

tierten Buch behaupten Österreicher und Prokop (2011): „Kinder wollen draußen sein“. Eine empirische und theoretische Unterfütterung soll in den folgenden Abschnitten geschehen.

5.2 5.2

Beobachtungen und Befunde zu Naturerfahrungen in der Kindheit Beobachtungen und Befunde zu Naturerfahrungen in der Kindheit

In diesem Abschnitt sollen Beobachtungen, Besonderheiten und Untersuchungen zu der Art des kindlichen Naturkontakts und – soweit möglich – auch zum kindlichen Naturbedürfnis zusammengestellt werden. Insgesamt zeigen die Befunde, dass Naturerfahrungen die Entwicklung und das Wohlbefinden fördern und auch einen positiven Einfluss auf Einstellungen und die Wertebildung im Hinblick auf Umweltfragen haben (vgl. den systematischen Literaturreview von Gill 2014). Ziel dieser Zusammenstellung ist es, die Forderung nach einem naturnahen Lebensumfeld zum einen auch psychologisch differenziert zu reflektieren beziehungsweise zu fundieren und zum anderen diese Forderung von einem romantisierend–unverbindlichen Beigeschmack zu befreien. Zunächst sei noch einmal Mitscherlich zitiert: Der junge Mensch ist noch arm an höherer geistiger Leistungsfähigkeit – er ist weitgehend ein triebbestimmtes Spielwesen. Er braucht deshalb seinesgleichen, nämlich Tiere, überhaupt Elementares, Wasser, Dreck, Gebüsche, Spielraum. Man kann ihn auch ohne das alles aufwachsen lassen, mit Teppichen, Stofftieren oder auf asphaltierten Straßen und Höfen. Er überlebt es – doch man soll sich dann nicht wundern, wenn er später bestimmte soziale Grundleistungen nie mehr erlernt, z. B. ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem Ort und Initiative. Um Schwung zu haben, muß man sich von einem festen Ort abstoßen können, ein Gefühl der Sicherheit erworben haben. […] Je weniger Freizügigkeit, je weniger Anschauung der Natur mit ihren biologischen Prozessen, je weniger Kontaktanregung zur Befriedigung der Neugier, desto weniger kann ein Mensch seine seelischen Fähigkeiten entfalten und mit seinem inneren Triebgeschehen umzugehen lernen (Mitscherlich 1965, S. 24f.).

Ich teile weitgehend diese Position von Mitscherlich. Jedoch muss man sehen, dass diese Thesen ein zwar plausibles, aber dennoch ein Glaubensbekenntnis sind. Insofern ist es wichtig, sie mit Untersuchungen zu konfrontieren, die den Wert von Naturerfahrungen in der Kindheit empirisch überprüfen und damit fundieren. Otterstädt untersuchte bereits 1962 den Spielraum von Vorortkindern in einer mittleren Stadt. Er fragte, welchen Spielraum Kinder benötigen, um ungehindert und harmonisch aufzuwachsen, und erhielt auch Ergebnisse, die Antwort auf unsere Frage nach dem Wert von Naturerfahrungen geben können. Nach seinen Befunden bevorzugen Jungen wie Mädchen […] eindeutig Feld, Wiese, Wald und Gewässer, noch anders gesprochen, die belebte Natur statt der unbelebten. […] Sehen wir vom allseits beliebten Wasser ab, das zweifellos an erster Stelle der Beliebtheit steht, so bleiben vor allem jene Örtlichkeiten im Interesse des sich frei bewegenden Kindes, die Abwechselung zu bieten vermögen, die auf kurze Entfernung schon

5.2 Beobachtungen und Befunde zu Naturerfahrungen in der Kindheit

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wechselvoll sind, die voller Geheimnis stecken, die man nicht sogleich übersieht, die lauschig sind, die Verstecke haben, die Unbekanntes, Entdeckbares einschließen und die Neugierde und den Wissensdurst befriedigen können. Das ist nicht das Wohngebäude, nicht die Straße, auch nicht die gar zu bald gekannte Nachbarschaftslandschaft, sondern die nicht unter Kontrolle genommene Natur: Wiese mit Gebüschen und Bäumen, Wald, Waldrand mit Dickicht, Feld mit Wiesenverzahnung und Wildbeobachtungsmöglichkeiten, Natur mit tausendfältigem Leben und Weben. Keine kahlen Örtlichkeiten werden gewählt, keine, die allzu bald nichts Neues mehr bieten können, sondern die, die seit Urzeiten den Menschen anreizen, die Sinne schärfen lassen und der Neugier entgegenkommen. Vor die Wahl gestellt, Naturlandschaft oder Kulturlandschaft zum Spielen zu wählen, entscheidet sich das Gros für die Naturlandschaft (Otterstädt 1962, S. 278).

Sehr deutlich wird hier, dass Kinder an der Natur vor allem die Abwechslung, die Möglichkeit nach immer wieder neuen Aktivitäten schätzen. Die Frage an die Kinder, wie sie sich ihren Spielplatz gestalten würden, ergibt in der Auswertung den Befund, dass Kinder weniger Sportplätze oder angelegte Spielplätze schätzen, sondern eher die „ganz urtümlichen Dinge einer elementaren Welt“: Bäume, Gebüsch, hohes Gras, Wiese, Blumen, Garten, Bach, Sumpf, Waldrand, dichter Wald, verwildertes Land. Im eigenen Zimmer will nur ein sehr kleiner Teil der befragten Kinder spielen. In diesem Zusammenhang kaum zu interpretieren, aber immerhin interessant ist der Befund, dass in hohem Gras fast nur Mädchen spielen wollen, in verwildertem Land jedoch 100 % der Jungen und nur etwa 20 % der Mädchen. Die Gegenstände, mit denen die befragten Kinder am liebsten spielen, sind allerdings keine Naturphänomene: Am häufigsten und am liebsten wird mit dem Ball und mit dem Fahrrad gespielt. Jedoch sind auch Steine, Wasser, Sand, Erde und Laub keineswegs untergeordnet. Die Befragung erbrachte auch, dass die Kinder sehr viele Beobachtungen in freier Natur machen. Dabei ergibt sich eine deutliche Geschlechtsspezifik: Die Jungen beobachten sehr oft Tiere, vor allem Wild (Reh, Hase, Fasan, Wiesel), auch Schlangen, Würmer, Gestein und „verdächtige Leute“. Die Mädchen beobachten dagegen eher selten Wild. Sie beschäftigen sich mehr mit Vögeln, Hühnern, Insekten und „kleineren Kindern“. Otterstädt fasst zusammen: Freiheit, Ungebundenheit, das heißt keineswegs Zügellosigkeit, bedeutet dem spielenden Kinde alles in den entscheidenden Entwicklungsjahren zwischen 9 und 14 Jahren. Fehlt diese Freiheit, kommt es zu seelischen Verkümmerungen (Otterstädt 1962, S. 285).

Es ist natürlich bei dieser frühen Untersuchung kritisch anzufragen, ob das Ergebnis, dass die Kinder ausgesprochen viel in der Natur spielen, bei einer Untersuchungsgruppe im ländlichen Raum nicht vorhersehbar gewesen wäre. Eine Kontrollgruppe aus dem städtischen Raum untersucht Otterstädt leider nicht. Insofern ist sein allgemeines Ergebnis, dass „der Lebensraum des Kindes im Grunde stadtfern“ (Otterstädt 1962, S. 285) ist, sicherlich überzogen. Ein wichtiges Ergebnis dieser relativ alten Untersuchung bestätigt sich auch in vielen späteren Untersuchungen, nämlich dass der Wert von Naturerfahrungen ganz 85

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5 Zur Funktion von Naturerfahrungen in der Kindheit

wesentlich darin liegt, dass die Kinder hier ein relativ großes Maß an Freizügigkeit haben und den Augen von Eltern und Erziehern entzogen sind. Hart (1979, 1982) diskutiert den Wert von natürlicher Umgebung für Kinder, wobei er beklagt, dass wir mehr über die Ökologie der Paviane wissen als über den Gebrauchswert von Landschaft und Natur für Kinder. Er stellt einige Beobachtungen zusammen: • • • •

Kinder spielen auf Spielplätzen relativ wenig. Kinder benutzen die Gesamtheit der Landschaft, die ihnen zugänglich ist. Die bevorzugten Umweltausschnitte sind sehr klein. Am meisten sind die Flächen geschätzt. die von den Planern gewissermaßen vergessen wurden. • Kinder wollen sich ihren Freiraum oft selbst zurechtmachen. • Die Auseinandersetzung mit der Natur ist meistens eher sanft, ein Experimentieren und Erforschen. Ursprünglich ist also der Umgang mit der Natur eher pfleglich. Gerade der letzte Punkt ist auch pädagogisch von Interesse. Die Befürchtung – auch von Naturschützern – Kinder würden durch impulsives und oft schonungsloses Handeln die eigentlich zu bewahrende Natur in ihrem Spiel zerstören, scheint vor diesem Hintergrund gesehen relativ gegenstandslos zu sein. Die sorgsame und sanfte Umgangsweise mit Natur beziehungsweise zumindest entsprechende Werthaltungen werden auch offenbar in Gesprächen mit Kindern (siehe Kapitel 15), in denen es um naturethische Dilemmata geht (Gebhard et al. 1997, 2003, Billmann-Mahecha et al. 1997, 1998). Dieses Phänomen wird im Kapitel über den Zusammenhang von Naturerfahrung und Umweltbewusstsein noch einmal aufgegriffen (Kapitel 8). Dieser gewissermaßen sanfte Aspekt der kindlichen Naturbeziehung zeigt sich auch in Einstellungsmustern, die mit Hilfe eines Fragebogens (environment response inventory) bei Kindern faktorenanalytisch rekonstruiert wurden (Bunting/Cousin 1985). Eine positive Einstellung zu natürlichen Umwelten (Pastoralismus) und eine ausgeprägte Reizsuche angesichts natürlicher Umwelten (stimulus seeking) sind neben dem sogenannten Antiquarianismus (emotionales Verhältnis zur Vergangenheit und zu altmodischen historischen Umwelten) die bevorzugten Dimensionen. Dagegen sind Urbanismus (Neigung zu von Menschen gemachten Umwelten und zum Leben in der Stadt) und „environmental adaption“ (Befolgung von Maximen wie „der Mensch muss sich die Natur untertan machen“) nachgeordnet. Der Ökologe Remmert (1988) befürchtet zu Recht, dass Kinder zu wenig oder nur eingeschränkte Erfahrungen in der Natur machen können, wenn die Naturschutzvorschriften allzu streng angewandt werden. Die Gefahr ist nämlich eine andere: Kinder werden so „nur die Situation im Wald, im Feld, am Wasser einschätzen als ‚alles ist verboten‘. Damit ziehen wir eine neue Generation von Menschen heran, denen jeglicher Sinn für Natur und Naturschutz fehlen muß“ (Remmert 1988, S. 37f.). Natürlich pflücken Kinder bisweilen Blumen, reißen sich einen Stock von einem Baum, bauen sich Buden – jedoch hält die Natur diese Nutzung wohl aus. Die Zerstörung von Ökosystemen hat sicherlich andere Ursachen

5.2 Beobachtungen und Befunde zu Naturerfahrungen in der Kindheit

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als das Kinderspiel. Wenn Erziehung und Unterricht einen eher pfleglichen Umgang mit der Natur stützen oder gar entwickeln wollen, können sie von dieser Haltung ausgehen. Die kindliche Scheu vor der Zerstörung von Lebendigem zeigt sich nicht nur in der Schule. Die in Kapitel 12.4 dokumentierte Geschichte über die Weigerung von Kindern, bei einer Bohne einen Längsschnitt durchzuführen, ist ein weiteres Beispiel. Natürlich gibt es auch andere Beobachtungen – z. B. Tierquälerei (siehe Kapitel 10.6) – jedoch sind diese wohl nicht die Regel. Hart (1982) vertritt insgesamt die These, dass es eine spezielle, und zwar sehr innige Beziehung gerade von Kindern zur Natur gebe. Er bringt sie in Zusammenhang mit einem besonders offenen Bewusstseinszustand bei Kindern („open–mindedness“). Die damit verbundene Kreativität und Sensibilität sei bei Erwachsenen nur noch bei Künstlern anzutreffen. Noch wichtiger sei allerdings eine „existenzielle Dimension“: Danach seien Kinder ausgesprochen interessiert an der äußeren physischen Welt; sie suchen (mehr als in späteren Phasen) nach einem Verständnis der Welt (inklusive Pflanzen und Tieren) und auch ihrem eigenen Platz. Diese Offenheit und Sensibilität für die Dinge der Natur sei in späteren Entwicklungsphasen nie wieder so ausgeprägt wie in der Kindheit; beispielsweise hätten Teenager viel mehr mit sich selbst zu tun. So könne man z. B. oft beobachten, dass Kinder tief in Naturbeobachtungen oder Naturerfahrungen versunken sind. Freilich muss hier einschränkend angemerkt werden, dass Kinder alles, was sie tun, sozusagen ganz und gar tun. Die Hingabefähigkeit an die jeweils aktuelle Situation ist überhaupt bei Kindern ausgeprägter als bei Erwachsenen; das wird auch ihre Erfahrungen mit der Natur betreffen. Das hat bereits Muchow in den 30er Jahren im Zusammenhang mit ihren phänomenologischen Studien über das Leben von Kindern in der Großstadt festgestellt: […] das Kind ist ganz allgemein […] unendlich viel intensiver an die Dinge der Welt hingegeben, verströmt sich selbst, seine Affekte und Wünsche viel intensiver in die Dinge hinein als der Erwachsene, der ein ganzes System denkgesetzlicher Formungen an die Dinge heranbringt, durch deren Anwendung sie vom Ich abgerückt und dem Ich gegenübergestellt werden (Muchow 1932, S. 91f.).

Ausgedehnte Naturkontakte in der Kindheit sind Hart zufolge für eine gesunde seelische Entwicklung außerordentlich wichtig. Und zwar sollen diese Erfahrungen in der eigenen, alltäglichen Umwelt gemacht werden und nicht etwa in künstlich angelegten Parks oder zoologischen Gärten, die nur am Sonntagnachmittag besucht werden. Der Kontakt zu Lebendigem sei vor allem deshalb wichtig, weil er es konkret ermögliche, das „komplexe interdependente Leben auf diesem Planeten“ (Hart 1982) richtig zu verstehen und zu bewerten. Inzwischen gibt es zahlreiche Hinweise, dass Naturerfahrungen das Selbstbewusstsein, das Selbstwertgefühl (Wells/Evans 2003) und auch die Selbstwirksamkeitserwartung positiv beeinflussen. Schwiersch (2009) konnte in einer Fragebogenuntersuchung herausfinden, dass die größte Korrelation zwischen Naturerfahrung und Selbstwirksamkeit in der Altersgruppe zwischen 13 und 15 Jahren besteht. Zwischen Selbstwirksamkeit und 87

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5 Zur Funktion von Naturerfahrungen in der Kindheit

Naturerfahrung bestehe dabei ein größerer Zusammenhang als zum bloßem Naturaufenthalt (Schwiersch 2009). Untersuchungen in verschiedenen Waldschulen (6-10 Jahre) bestätigen diese Ergebnisse: Bereits ein Tag in der Woche steigerte das Selbstwertgefühl (Murray/Higginson 2004 Berger 2008), ebenso wie Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen (O’Brien 2009, O’Brien/ Murray 2007). Auch soziale Fähigkeiten werden wegen der relativ freien Umgebung und der damit verbundenen Verantwortlichkeit für sich selbst und auch für andere gewissermaßen „flüssiger“ (O’Brien/Murray 2007). Überhaupt scheint es so zu sein, dass es vor allem die Freizügigkeit und Unkontrolliertheit ist, die nicht nur an Naturerfahrungen so attraktiv sind, sondern die auch einen wesentlichen Anteil an den positiven Effekten haben dürften. Darauf ist schon hingewiesen worden und dieser Gedanke wird auch leitend in Kapitel 5.4 über die Bedeutung von Brachflächen sein. Eine Befragung von Lehrkräften und Umweltpädagogen in Australien (vgl. Maller 2009) bestätigt dies sehr deutlich: Die Befragten erwarten vor dem Hintergrund ihrer vielfältigen Erfahrungen positive Effekte im Hinblick auf geistige Gesundheit, Selbstbewusstsein, soziale Beziehungen und auch Bewegung. Die kindliche Entwicklung wird nicht nur von sozialen und personalen Bedingungen, sondern auch von der gegenständlichen Umwelt beeinflusst, wie in Kapitel 2 ausführlich dargelegt wurde. So gibt es Untersuchungen darüber, wie die räumliche Umwelt für Kinder im häuslichen Wohnraum aussehen sollte (Peek 1995). Danach brauchen Kinder einen großen Bewegungsraum und viel freien Raum zur Entwicklung von Motorik und Handlungsfähigkeit. Dabei muss beachtet werden, dass Kinder eine aktive Auseinandersetzung mit den Objekten der Welt suchen, dass sie die Objekte, auch die Naturobjekte, nicht etwa nur betrachten und darüber nachdenken, sondern dass sie sich diese durch Handeln und Erleben aneignen. Insofern scheinen ästhetische Qualitäten (jedenfalls im klassischen Sinne) bei der Entscheidung für Naturspielorte nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Das wird noch genauer zu bedenken sein, jedenfalls kommen entsprechende explizite Wertschätzungen vor allem bei älteren Kindern vor (siehe Kapitel 6). In zahlreichen Untersuchungen zur Kleinkindsentwicklung wird immer wieder hervorgehoben, wie wichtig eine möglichst vielfältige Reizumgebung ist; und das betrifft die nichtmenschliche Umgebung ebenso wie die menschliche (vgl. Kapitel 2). Neben dem Einfluss auf die Gehirnentwicklung trägt eine reizvielfältige Umwelt dazu bei, psychische Entwicklungsschritte anzuregen und zu fördern. Es ist so, dass eine reizarme und auch eine reizhomogene Umwelt sich in mehrfacher Weise – nämlich die emotionale ebenso wie die kognitive Entwicklung betreffend – negativ auswirkt. Das Optimum liegt zwischen homogenen, immer gleichen, jedoch vertrauten Reizen einerseits und sehr neuen und fremdartigen Reizen andererseits. Auch spielpsychologische Befunde (Heckhausen 1964, Nickel/Schmidt–Denter 1991, Scheuerl 1990) weisen in diese Richtung. Heckhausen zufolge zeichnet sich das Kinderspiel u. a. durch sogenannte „Aktivierungszirkel“ aus: dem aktiven und oft wiederholten Aufsuchen eines Wechsels von Spannung und Lösung. Eine solche fördernde Reizumwelt, die eine Mittelstellung zwischen neu und vertraut einnimmt, ist nun in der Tat eine relativ naturnahe Umgebung, in der sowohl verlässliche Kontinui-

5.2 Beobachtungen und Befunde zu Naturerfahrungen in der Kindheit

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tät besteht als auch ständiger Wandel (siehe dazu auch Kapitel 9). Eine solche „reizvolle“ Umgebung lädt zur Exploration, zur Erkundung ein, weil sie neu und interessant ist und eben zugleich vertraut. Lindemann-Matties (2006) zeigt, dass solche Erfahrungen sogar auf dem Schulweg möglich sind. Dem Bedürfnis nach aktiver Orientierung kann man am besten nachgehen in einem Zustand relativer Sicherheit und Geborgenheit. In Großstädten gibt es zunehmend die paradoxe Situation, dass Kinder sowohl zu schwach als auch zu stark gereizt sind. Einerseits fehlt häufig eine reizvolle Spielumwelt: Es fehlen Brachflächen (siehe Kapitel 5.4), soziale Knotenpunkte, und das Spielen auf der Straße ist meist wegen Autoverkehr nicht möglich oder zumindest schwierig (Zinnecker 1997). Andererseits kann man von einer Überreizung (Lärm, Verkehr, Medien etc.) in der Stadt sprechen, die auch häufig zu nervösen Symptomen führt. Mit Berlyne (1969) könnte man das Kinderspiel in der Natur als „unspezifische Exploration“ bezeichnen, eine Tätigkeit, die die Neuigkeit der Umgebung als Anlass zu explorativer Aktivität nimmt und damit zugleich Sicherheit und Vertrautheit herstellt. Im Anschluss an Sebba (1991) lassen sich die stimulierenden Erlebnisqualitäten, die (im Unterschied zur zivilisierten Umwelt) die Natur bietet, wie folgt zusammenstellen (vgl. Trommer/Noack 1997): • Gleichzeitige Vielfalt von Reizen durch wechselnden Wind, wechselnde Lichteffekte, wechselnde Temperaturen, Gerüche usw. • Kontinuierlicher Wechsel der Reize über eine Skala von Tönungen von hell zu dunkel, trocken zu nass, warm zu kalt usw. • Die Instabilität und Fragilität der natürlichen Umwelt verlangt Wachsamkeit und Aufmerksamkeit. • Kontakt zu Lebendigem. • Die Umrisse natürlicher Umgebung sind oft vieldeutig, unscharf, unendlich verschiedenartig und darum sehr gut geeignet, die Phantasie anzuregen. Auch Montessori betont die Bedeutung von Naturelementen für die Entwicklung des Kindes und verweist darauf, „wie stark Kinder von Licht, Farben und Tönen angezogen werden und welchen sichtlichen Genuss sie daran finden“ (Montessori 1980, S. 94). Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Zusammenhang von Naturerfahrung und Leseaktivität (Meske 2011, S. 229). Auch die Sprachkompetenz kann durch die Naturerfahrungen beeinflusst werden (O’Brien/Murray 2007). Yarrow et al. (1975, S. 40f. und S. 95f.) untersuchten bei Kleinkindern, mit welchen Dingen aus der physischen Welt diese Kinder umgehen. Danach bevorzugen Kinder Dinge, die erstens erkennbar reagieren („responsiveness“), zweitens komplex sind („complexity“) und drittens eine hohe Varietät („variety“) haben, wobei die Dimension „Komplexität“ nach dieser Untersuchung zumindest bei jüngeren Kindern am unwichtigsten ist. Diese Kriterien werden, auch wenn das von Yarrow et al. nicht ausdrücklich hervorgehoben wird und diese Untersuchung keine über die Bedeutung von Natur war, insbesondere von Naturphänomenen erfüllt, weil diese veränderbar und unfertig sind (vgl. Nohl 1989). 89

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5 Zur Funktion von Naturerfahrungen in der Kindheit

Yarrow et al. behaupten sogar, dass solche Gegenstände die kognitive und motivationale Entwicklung mehr als die soziale Umwelt zu fördern in der Lage sind. Dass und wie der Umgang und das Spiel in der Natur und mit Naturmaterialien vor allem die kognitive Entwicklung fördern können, zeigt zusätzlich eine Untersuchung von Jansson (1984). Ich halte allerdings die hier implizierte Trennung von sozialen beziehungsweise personalen Erfahrungen einerseits und gegenständlichen Erfahrungen andererseits für problematisch. Auch die Erfahrungen mit den Dingen der Natur geschehen in einem sozialen Kontext und erhalten nur in diesem ihre Bedeutung (siehe zu diesem Problem Kapitel 5.5). Bettelheim beobachtete bei Kibbuzkindern eine besonders enge Bindung an die Natur, deren sicherheitsspendende Funktion mit der von menschlichen Beziehungen vergleichbar sei. Ihre Liebe gleicht nicht der Liebe des Bauern für sein Land; es ist eine echte Liebesbeziehung zur Natur. Da diese sie niemals enttäuscht, können sie hier ihre tiefsten Gefühle offenbaren, und da sie keine Forderungen stellt, ist es nicht gefährlich, sich aus der Hand zu geben (Bettelheim 1971, S. 262).

Diese durchaus haltende Beziehung zur Natur bezieht sich allerdings nur auf spezifische Teile der Natur, nämlich solche, zu denen eine Beziehung hergestellt wurde, die man sich also persönlich angeeignet hat, z. B. beim Hüten der Schafe oder bei der Gartenarbeit. Eine besonders enge Bindung an die Natur beobachtete Bettelheim übrigens beim männlichen Geschlecht. In einer vergleichenden ethnographischen Studie fand Tuan (1978) heraus, dass Kinder aller Kulturen im vorpubertären Alter ein ausgeprägt emotionales Verhältnis zur Umwelt entwickeln, in der sie leben. Das hat sicherlich auch etwas zu tun mit einer besonderen Bindung an so etwas wie „Heimat“, so problematisch dieser Begriff – zumal in Deutschland – auch geworden ist. So meint „Heimat“ in diesem Zusammenhang auch nicht etwa eine nostalgische Reminiszenz an eine romantisch verklärte Kulisse (vgl. Wood 1985). Eher könnte man mit Bausinger (1980, S. 20) Heimat begreifen als […] Nahwelt, die verständlich und durchschaubar ist, als Rahmen, in dem sich Verhaltenserwartungen stabilisieren, in dem sinnvolles, abschätzbares Handeln möglich ist – Heimat also als Gegensatz zu Fremdheit und Entfremdung, als Bereich der aktiven Aneignung, der aktiven Durchdringung, der Verläßlichkeit.

Es gibt jedenfalls Hinweise dafür, dass sich Menschen in der Landschaft, in der sie aufgewachsen sind, auch als Erwachsene noch besonders wohlfühlen. Cobb (1959) analysierte 300 Autobiographien von sogenannten „creative thinkers“ und fand dabei heraus, dass für diesen Personenkreis eine besondere Naturnähe in der mittleren Phase der Kindheit (ca. 5 bis 12 Jahre) ausgesprochen wichtig war. In dieser Zeit entstehe ein Bewusstsein und ein Sinn für die „dynamische Beziehung mit der äußeren Welt“, was immer wieder zur Quelle kreativer Prozesse werden könne. Die Erfahrung mit der natürlichen Welt sei wichtig, um eine gleichsam biologische Basis für Intuitionen zu entwickeln, weil nur die Erfahrung von

5.2 Beobachtungen und Befunde zu Naturerfahrungen in der Kindheit

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Natur dem Kind erlaube, in Prozessen zu denken. Zusätzlich ist nach Cobb eine naturnahe und damit auch vielfältige Umgebung eine Bedingung dafür, sich selbst zu entfalten. Eine naturnahe Umgebung ist nämlich zugleich eine Welt, die für das Kind bedeutungsreich ist. Cobb geht sogar davon aus, dass es ein menschliches Grundbedürfnis sei, in einer solchen bedeutungsreichen und vielfältigen (Natur–) Umwelt zu leben (vgl. Cobb 1959, S. 542). Moore und Young (1978) fanden in einer Analyse von Kinderzeichnungen heraus, dass Kinder Naturelemente viel höher bewerten, als es der realen Häufigkeit in ihrer jeweiligen Umgebung entspricht. Zu analogen Befunden kommt auch Reiß (1996); er forderte Kinder zwischen 8 und 14 Jahren auf, ein freies, thematisch nicht festgelegtes Bild zu malen. In die Auswertung konnten 34623 Bilder aufgenommen werden. Obwohl die Naturthematik nicht vorgegeben war, kommen Naturbilder relativ häufig vor: Umweltzerstörung (17,5 %), Landschaften in einer heilen Natur (13,5 %) und Tierdarstellungen (8,1 %) (ausführlich in Kapitel 14). Ein häufig verwendetes Argument für den Wert von Naturerfahrungen in der Kindheit sind positiv getönte Kindheitserinnerungen von Erwachsenen: In diesen sind nämlich Naturelemente deutlich überrepräsentiert (vgl. Lehmann 1996, Lukashok/Lynch 1956). In biographischen Interviews (Wilke 2004) mit Erwachsenen zeigt sich insbesondere die Bedeutung von Freiräumen: Die Freizügigkeit und damit verbunden die Erinnerung an Freiheit verdichtet am besten das Gefühl für die Natur in der (erinnerten) Kindheit. Inwieweit jedoch solche Kindheitserinnerungen von Erwachsenen als Beleg für die These, dass Naturerfahrungen von besonderem Wert für Kinder seien, herangezogen werden können, scheint fraglich: Hier könnte eine romantisierende Verklärung sowohl der Kindheit als auch der Natur zumindest im Spiel sein. Deshalb seien an dieser Stelle einige Befunde zum Naturerleben von Erwachsenen eingefügt. Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch die Befunde zum Zusammenhang von Naturerfahrung und Gesundheit (Kapitel 7), die sich auch auf Erwachsene beziehen. Insgesamt zeigen die bisher dargestellten Befunde, dass natürliche Strukturen in der Tat eine Vielzahl von Eigenschaften haben, die für die Entwicklung von Kindern gut sind: Die Natur verändert sich ständig und bietet zugleich Kontinuität. Sie ist ständig neu (z. B. der Wechsel der Jahreszeiten) und doch bietet sie die Erfahrung von Verlässlichkeit und Sicherheit: Der Baum im Garten überdauert die Zeitläufe der Kindheit und steht so für Kontinuität. Der psychische Wert von „Natur“ besteht also in ihrem eigentümlichen, ambivalenten Doppelcharakter: Sie vermittelt die Erfahrung von Kontinuität und damit Sicherheit, und zugleich ist sie immer wieder neu. Auch in der Anthropologie geht man davon aus, dass es beim Menschen zum einen einen grundlegenden Wunsch nach Vertrautheit und zum anderen ein ebenso grundlegendes Neugierverhalten gibt (siehe Kapitel 9). Die Vielfalt der Formen, Materialien und Farben regt die kindliche Phantasie an, sich mit der Welt und auch mit sich selbst zu befassen. Das Herumstreunen in Wiesen und Wäldern, in sonst ungenutzten Freiräumen kann Sehnsüchte nach „Wildnis“ und Abenteuer befriedigen, die sonst nicht oder kaum zu ihrem Recht kommen würden (vgl. Milchert 1983, Trommer 1992, 2012). Vielleicht nicht ganz zu Unrecht spitzt Shepard (1977, S. 7) diesen Gedanken zu, wenn er die Bedeutung von Naturerfahrungen charakterisiert 91

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als „essential to human health as good mothering“. Naturerfahrungen scheinen also die seelische Entwicklung eher zu fördern, und das hat auch einen Einfluss auf die Gesundheit von Kindern wie Erwachsenen (siehe Kapitel 7). So hat beispielsweise das ungeregelte Spiel im Freien einen positiven Einfluss auf die kognitive Entwicklung (Jutras 2003), und die Existenz von Bäumen in der Umgebung wirkt sich auf das Ausmaß der Kreativität bei Spielen aus (Taylor et al. 1998, Fjørtoft/Sageie 2000). Taylor et al. (2002) zeigen außerdem einen Einfluss auf die Konzentration und die Fähigkeit, unmittelbare Bedürfnisse aufzuschieben. Deshalb werden Naturerfahrungen inzwischen auch im Kontext von chronischen Aufmerksamkeitsstörungen für sinnvoll gehalten (s. Kapitel 7). Vor allem das aktive Spielen in grüner Umgebung verbessert die Aufmerksamkeit (Taylor et al. 2001, Kuo/Taylor 2004). Faber Taylor und Kuo (2009) formulieren sogar, dass ein Spaziergang im Park die Aufmerksamkeit in ähnlichem Ausmaß zu unterstützen vermag wie Ritalin. So unterstützt das Spielen im Wald die kreative Entwicklung von komplexen Spielen (Canning 2010, 2013). „Therefore, when an environment has flexible potential, it is able to facilitate a child’s potential for curiosity, problem solving and creative thinking“ (Canning 2013, S. 1049). Auch der stressmildernde Effekt, auf den ich im Kapitel über den Zusammenhang von Naturerfahrung und Gesundheit noch einmal zurückkommen werde, ist bei Kindern zu beobachten (Wells/Evans 2003): Eine vegetationsreiche Umgebung wirkt als Puffer für stressige Lebensereignisse und ist zudem förderlich für das Selbstwertgefühl. Die bisher referierten Befunde, die „Natur“ und „Naturerfahrungen“ deutlich positiv erscheinen lassen, sind nicht die einzigen. Gegen diese Ergebnisse, zumindest jedoch gegen eine entsprechende Interpretation, sind auch Einwände vorgebracht worden, die im Folgenden dargestellt werden sollen, um zu einem ausgewogenen Urteil zu kommen. Zwar wird selten bestritten, dass Kinder gern in der Natur spielen, jedoch wird bezweifelt, ob dafür der Hauptgrund in einer besonderen Naturnähe zu suchen ist. An der Natur wäre dann für Kinder vor allem interessant, dass sie hier ungestört und unkontrolliert sind. Möglicherweise könnten dieselbe Funktion auch Schrottplätze oder Baustellen erfüllen. So behauptet z. B. Holcomb (1977), dass ein mangelnder Kontakt mit der Natur keine nachteiligen Folgen habe. Andere Vermutungen betrachtet sie als Projektionen von Erwachsenen. Gerade für kleine Kinder seien die Unterschiede zwischen Stadt und Land, zwischen sogenannter natürlicher Umwelt und bebauter Umwelt fast unbedeutend, da Wahrnehmungs- und Unterscheidungskriterien in Bezug auf die natürliche Umwelt nicht angeboren, sondern anerzogen seien. Die Ergebnisse einer Untersuchung, die Holkomb mit vierjährigen Kindern durchführte, sind die folgenden: • Beim Ordnen und Sortieren von Bildern sind Naturphänomene kein Kriterium; die Kinder achten auf ganz andere Dinge. Ob auf den Bildern Naturszenen dargestellt sind, scheint keine Rolle zu spielen. Jedenfalls war bei keinem der Kinder das Unterscheidungskriterium „natürliche versus vom Menschen hergestellte Szene“ beobachtbar. • Die Kinder wissen jedoch, dass Häuser, Straßen, Autos usw. von Menschen hergestellt wurden, Berge, Bäume (auch die Bäume der Stadt) und Tiere aber nicht.

5.2 Beobachtungen und Befunde zu Naturerfahrungen in der Kindheit

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• Kinder können Plastikblumen leicht von echten Blumen unterscheiden, nicht aber eine Wildform von einer kultivierten Pflanze. • Bei den Lieblingsplätzen der Kinder handelt es sich hauptsächlich um von Menschen geschaffene Orte. Selbst der Strand ist nur deshalb so beliebt, weil es dort Eiscreme gibt. Holkomb bringt dieses Ergebnis damit in Zusammenhang, dass sich Kinder in kultivierten und damit auch gesicherten Umwelten freier bewegen dürfen. Auch hier haben wir also das Ergebnis, dass Kinder Orte bevorzugen, in denen sie sich frei bewegen können; das kann, muss aber nicht die Natur sein. Für vierjährige Kinder ist – dieser Untersuchung zufolge – also ein Wald genauso faszinierend wie ein Straßenzug. An beiden Orten finden sie viele interessante Dinge. Jedoch ist dies altersabhängig: Ältere Kinder und auch Erwachsene haben es schwerer als kleine Kinder, z. B. in einer Straßenpfütze einen kleinen See zu sehen. Hard (1975) glaubt auch bei Erwachsenen nicht, dass sie eine eigentlich reine, unberührte Natur suchen. Abgesehen davon, dass es die „ursprüngliche Natur“ ohnehin nicht gibt, bezweifelt Hard, dass diese Ziel der Sehnsüchte ist. Was die „Natur“ attraktiv macht, ist nicht so sehr ihre tatsächliche „Kulturferne“ und „Unberührtheit“. Sie ist vielmehr attraktiv, weil sie ein Milieu zu liefern verspricht, in dem ein Verhalten möglich wird, das dem Normverhalten in der industriellen Arbeitswelt entgegengesetzt beziehungsweise komplementär ist. „Natur“ ist gesucht, weil sie Spielräume verspricht für entlastetes, „sozialentpflichtetes“ Verhalten und insofern sie „individuell ausdeutungsfähige“ Möglichkeiten und Raum für vielfältige Freizeitaktivitäten bietet. […] Bereitstellung möglichst „reiner“ Natur genügt also nicht. Auch der teilweise so vehement geäußerten Überzeugung, daß die möglichst „unberührte“ (beziehungsweise derart konservierte) Natur größere Erholungswirkung und ein „tieferes“ Naturerlebnis hervorriefe, muß widersprochen werden (Hard 1975, S. 14, vgl. auch Kiemstedt 1967, Kaplan/Kaplan 1989).

Danach ist die Natursehnsucht des Städters eher als kompensatorische Flucht vor dem Stress der technischen Umwelt anzusehen (vgl. Olschowy 1983, S. 107). Fischerlehner (1993) kommt in einer inhaltsanalytischen Auswertung von 136 Schüleraufsätzen zum Thema „Was ich in der Natur erleben kann“ zu folgenden Befunden: Für die 9- bis 13-jährigen Kinder kann Natur sein: ein Ort der Entspannung, ein Spiel- und Sportplatz, ein Ort der sozialen Interaktion, ein Ort der Arbeit, ein Anlass, sich mit der Naturzerstörung auseinanderzusetzen und auch als eine Aufforderung zu Wachstumsund Reifungsprozessen. In der Natur gefällt mir, dass man allein sein kann und dass man sich erholen kann. (Junge, 11 Jahre) Die Natur ist für die Tiere ein Lebensraum, und für uns Kinder ist es so eine Art Spielplatz. Auch für Erwachsene ist es ein Spielplatz, nur ein bisschen größer. (Mädchen, 10 Jahre)

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5 Zur Funktion von Naturerfahrungen in der Kindheit

Fischerlehner rekonstruiert aus den Aussagen der Kinder eine durch „Natur“ induzierte Förderung der Kreativität und der kognitiven Entwicklung. Allerdings – und darauf sei hier bereits hingewiesen – kann „Natur“ auch eine Quelle von grundlegenden Ängsten sein, die sich auf die Umweltzerstörung beziehen. Darauf wird in Kapitel 14 noch ausführlich einzugehen sein. Johannsmeier führte in einem Kindergarten mit drei- bis sechsjährigen Kindern in einer längeren Periode Befragungen durch, die v. a. dem kindlichen Verhältnis zu Pflanzen galten (siehe Kapitel 6 und 12). Jedoch gibt es auch im Hinblick auf das Naturverhältnis und Naturverständnis der Kinder einige Ergebnisse: Als Spielort in der Natur wird der Privatgarten nur von jüngeren Kindern favorisiert. Bedeutsamer sind die Flächen vor den Wohnhäusern. Freilich gibt es hier erhebliche Restriktionen; oft ist das Spielen auf den Grünflächen vor den Wohnhäusern nämlich verboten. So spielen die Kinder meist auf Steinflächen, ältere Kinder weichen auch auf Brachflächen aus. Spielplätze werden nur manchmal genutzt. Neben Pflanzen (auf Bäume klettern, Buden bauen usw.) werden an sonstigen Elementen Wasser, Sand und Erde bevorzugt. Die Autorin stellt fest, dass Kinder aus Wohnblöcken oft besser als Kinder aus Eigenheimen dran waren, da hier der Einfluss und Zugriff der Eltern auf die Aktivitäten der Kinder geringer ist. Der Privatgarten ist offenbar nur bedingt attraktiv für (zumindest ältere) Kinder. Insgesamt scheint die Studie von Johannsmeier – ähnlich wie die von Holcomb (1977) – zu zeigen, dass Kinder die Natur vor allem wegen der Freiräume bevorzugen. Kinder, deren Eltern sich insgesamt restriktiv verhalten, haben fast kein Verhältnis zu Pflanzen, dürfen auch nicht klettern oder matschen. Im Extremfall äußert sich dies in einer stark negativen Einstellung, die Pflanzen nur mit Gefahren verbindet (Absturz, Dornen, Gift) (Johannsmeier 1985, S. 799).

Nach Meske wird mit körperlichen, sinnlichen und sozialen Naturerfahrungen die Grundlage für das lebensweltliche Naturbild von Kindern gelegt (Meske 2011, S. 269). Die Art und Anzahl von Naturerfahrungen sei zwar von der Wohnlage abhängig, vielfältige und intensive Naturerfahrungen könnten aber überall – auch in der Großstadt – gemacht werden (Meske 2011, S. 269). Gemeinsame Naturerfahrungen und Anregungen durch Bezugspersonen spielten dabei eine größere Rolle als das Imitationslernen angesichts der elterlichen Naturbilder (Meske 2011, S. 269). Das kindliche Naturbild entwickle sich bisweilen aber auch unabhängig von dem der Eltern, Peers jedoch könnten Naturerfahrungen ermöglichen oder auch verhindern (Meske 2011, S. 269). Insgesamt lässt sich sagen, dass der Wert von Natur wesentlich darin liegt, dass Kinder hier ein relativ hohes Maß an Freizügigkeit haben, zugleich relativ aufgehoben sind und zudem Bedürfnissen nach „Wildnis“ und Abenteuer nachgehen können. Ob dieses Bedürfnis nach Wildnis und Abenteuer sich besonders gut in bestimmten Landschaftstypen realisieren lässt, ist dabei noch eine offene Frage. Jedenfalls zeigt eine Reihe von Befunden (Balling/Falk 1982, Falk/Balling 2010, Bunting/Cousins 1985), dass Kinder (und zwar

5.2 Beobachtungen und Befunde zu Naturerfahrungen in der Kindheit

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mehr als Erwachsene) park- und savannenähnliche Gegenden bevorzugen, wofür häufig anthropologische Begründungszusammenhänge angegeben werden (s. Kapitel 9). Der äußere und innere Freiraum, der durch Naturerfahrungen sich eröffnet, ist also ein zentrales Moment der Attraktivität von „Natur“ (vgl. Pyle 2002). In diesem Zusammenhang sind auch die Untersuchungen zum Aktionsradius von Kindern und Jugendlichen von Bedeutung. In einer Untersuchung in Tübingen zum „free range“ von 9- bis 10-jährigen Kindern (Flade/Achnitz 1991) wird der begrenzte Aktionsradius von Kindern deutlich, was vor allem mit dem Autoverkehr und dem Fehlen verkehrssicherer Wege und Gebiete zusammenhängt. Der „free range“ (also der Raum, in dem sich Kinder ohne erwachsene Beaufsichtigung bewegen können) nimmt mit zunehmendem Alter zu und auch bei Jungen ist er größer als bei Mädchen. Diese Ergebnisse werden von Fuhrer/Quaiser-Pohl (1999) bestätigt. Sie ließen 10- bis 14-jährige Schüler und Schülerinnen einer Schweizer Kleinstadt im ländlichen Raum Tageslaufprotokolle anfertigen und konnten zeigen, dass der Aktionsraum von Kindern und Jugendlichen eine Funktion des Lebensalters ist (vgl. bereits Muchow/Muchow 1935) und dass Mädchen weniger selbständig sich die Räume aneignen, sondern häufig von Erwachsenen mit dem Auto gefahren werden (vgl. Flade 1996, Kustor 1996, Nissen 1990). Das wird mit zunehmendem Alter sogar noch deutlicher (Richards/Larson 1989) (vgl. Kapitel 5.3). Während bei den Jungen die Bewegungsfreiheit etwa ab zehn Jahren wächst, wird sie bei Mädchen noch weiter eingeschränkt, und zwar wegen Hausarbeit in der Wohnung (LBS-Initiative Junge Familie 2003) und der elterlichen Befürchtung vor sexueller Belästigung. Das hat zur Folge, dass vielmehr Mädchen (41 %) Angst haben, im Park oder im Wald zu spielen als Jungen (24 %) (Nissen 1990). Diese Geschlechtsspezifik (Spitthöver 1989) unterstreicht noch einmal, wie sehr räumliche und soziale Aspekte miteinander verwoben sind. Auffällig ist auch, dass sich dieser geschlechtsspezifische Effekt bei zunehmendem Alter noch verstärkt und dass er bei ausländischen Mädchen noch ausgeprägter ist (Sachs-Pfeiffer/Krings-Heckheimer 1980). Zusätzlich zeigt sich, dass Mädchen die freien Räume auch anders nutzen als Jungen (Nissen 1990, Bissigkummer et al. 1996, Fuhrer 1998, Fuhrer/Quaiser-Pohl 1999). Angesichts der empirischen Befundlage sollte die Tatsache, dass Kinder offenbar solche Naturorte am meisten schätzen, die von den erwachsenen Planern vergessen wurden, mehr bedacht werden. Das spricht insgesamt sehr für die Schaffung von städtischen Freiräumen, in denen unreglementiertes Spiel (Meske 2011, S. 76) möglich ist – ein Argument, das in Kapitel 5.4 zur Bedeutung von Brachflächen ausführlich aufgenommen wird. Offenbar entfaltet sich der Wert von Naturerfahrungen nur oder zumindest gerade erst in derartigen Situationen relativer Freizügigkeit. Die Spannweite von Naturerfahrungen zwischen Kontinuität und ständiger Neuigkeit kann nicht unter Aufsicht erfahren werden, sondern muss in kleinen, aber selbständigen Schritten erschlossen werden. Das damit verbundene Risiko ist entwicklungsfördernd.

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5.3 5.3

5 Zur Funktion von Naturerfahrungen in der Kindheit

Angst vor und in der Natur Angst vor und in der Natur

In einer Untersuchung von Hart (1979) wurden Grundschulkinder nach ihren Lieblingsorten gefragt. Danach sind Flüsse, Seen, Wälder, Bäume und Steinbrüche sehr beliebte Aufenthaltsorte, was angesichts der Befunde aus Kapitel 5.2 nicht verwundert. Allerdings werden diese Orte bisweilen mit ängstlichen Gefühlen gekoppelt, worauf bisher noch nicht eingegangen wurde. Die „freundlichen Weiten“ (vgl. Balint 1972), die ganz offensichtlich Naturszenen oft darstellen, sind offenbar leicht mit einem „thrill“-Affekt (Angstlust) verbunden und kommen wohl auf diese Weise kindlichen Bedürfnissen nach Abenteuer, Wildnis und Freizügigkeit entgegen. Jedenfalls fällt es auf, dass die Kinder gerade solche „ambivalenten Räume“ (vgl. Lippitz 1989, S. 99f.) besonders attraktiv finden (zu umweltpädagogischen Konsequenzen siehe Ewert 1986). Interessant in diesem Zusammenhang ist auch der Befund von Lückmann/Menzel (2013), dass die bekannteste Pflanze bei Teenagern die Brennessel ist. 90 % kennen sie, gefolgt vom Gänseblümchen (70 %). Auch in der Studie von Lekies et al. (2015), bei der Jugendliche bei monatlichen Naturabenteuerunternehmungen über mehrere Jahre beobachtet wurden, gibt es viele Hinweise auf Angst, Ablehnung und auch Ekel angesichts von Gefahren und Schmutz. Allerdings empfinden die Jugendlichen ebenso – und zwar oft dieselben – Spaß und Freude in der Natur, v. a. als Kontrast zum Alltagsleben in der Stadt. Die besagte Angstlust mag auch etwas mit Phantasien zu tun haben, die sich auch aus Märchen, Mythen und v. a. modernen Medien speisen. Natürlich sind diese angstgetönten Gefühle nicht nur angenehm und abenteuerlich. Durchaus ernstzunehmende Angst vor Tieren (Kapitel 11) und auch Angst, verloren zu gehen, sind von Kaplan (1976) bei Kindern und Jugendlichen beschrieben worden. Nach der Untersuchung von Hallmann et al. (2005) (im Rahmen des LBS-Kinderbarometers NRW 2003 und 2004, N=4707, 9–14 Jahre) werden auch Angstgefühle in der Natur geäußert. Wenn die Kinder Unsicherheitsorte in der Wohnumgebung angeben (immerhin zu 21,6 %), dann sind es – bei Mädchen etwas mehr als bei Jungen – Naturorte. Die Gründe sind Dunkelheit, Unübersichtlichkeit, Einsamkeit, Stille und Angst vor Verbrechen. Nicht die Natur selbst ist somit Grund für die Angst, sondern eher der fehlende Schutz. Im Jugendreport Natur 2016 (Brämer/Koll 2017, S. 20) zeigt sich ebenfalls, dass mit Natur auch Gefahren und Ängste verbunden sind. Ein gutes Drittel ist ungern allein im Wald und hat Angst, sich zu verlaufen. Angst vor Desorientierung ist weit verbreitet. Häufige Naturerfahrungen sind allerdings geeignet, die Angst geringer werden zu lassen. „Wer besonders wenig Kontakte mit der Natur pflegt bzw. nicht die Chance dazu hat, wird vermutlich auch im Weiteren durch erheblich höhere Angstbarrieren davon abgehalten“ (Brämer/Koll 2017, S. 21). Auch als gefährlich empfundene Tiere (Wildschweine, Füchse, Wölfe, Bären) spielen gemäß dieser Studie bei der Angst im Wald eine Rolle. Diese Ängste minimieren teilweise den Naturkontakt (Meske 2011, S. 268). Folglich ist Natur nicht immer die schöne, harmonische Natur, in der man sich sicher und aufgehoben fühlt, sondern auch die bedrohliche, die Quelle von verschiedensten Ängsten sein kann. Die Angst vor der Natur und eine entsprechende Unsicherheit angesichts der

5.3 Angst vor und in der Natur

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Widrigkeiten der Natur war neben der Existenzsicherung sicher eine der Hauptantriebskräfte, die Natur auf naturwissenschaftliche und technische Weise beherrschen zu wollen – nämlich um die Angst zu bannen. Die kindliche Angst vor der Natur kommt auch zum Ausdruck in vielen Kindermärchen und -geschichten, in denen es oft eine Gefahr bedeutet, in den Wald zu gehen. In „Hänsel und Gretel“ oder „Rotkäppchen“ fließt die Angst vor der Natur, der Dunkelheit und vor dem Alleinsein beziehungsweise dem Verlorengehen zusammen. Der Wald steht hier für das Ungewisse, „das als bedrohlich und zugleich verheißungsvoll empfunden wird“ (Kirchhoff 2018, S. 52). Überhaupt ist der (symbolisch und kulturell aufgeladene) Wald ein gutes Beispiel dafür, dass Naturorte sowohl zu Orten der Angst als auch zu Orten der Geborgenheit werden können. Auch gemäß einer britischen Studie (O’Brien 2009) betrachten Kinder den Wald als den gefährlicheren Ort als die Straße, obwohl sie ihn gleichzeitig als den beliebtesten Spielort bezeichnen. Der Wald ist trotz aller Stilisierung beziehungsweise gerade wegen dieser, weil dadurch nämlich auch mythische und sagenhafte Elemente eingeschlossen sind (vgl. Lehmann 1996, 1999), auch eine Quelle von Angst und Unbehagen. Der (vor allem nächtliche) Wald ist unheimlich und geheimnisvoll. Der Wald war der Zivilisation hinderlich (Mantel 1990, S. 58) und wurde nicht nur zum Zwecke der Gewinnung von Kulturland gerodet. So blieb der Wald auch animistisch besetzt, im Wald „überlebten“ die Wesen der vorchristlichen Mythen (Böckelmann 1986, Harrison 1992, S. 81). Dass der Wald als kulturelles Phänomen symbolisch aufgeladen ist, zeigen vor allem kulturwissenschaftliche bzw. ethnologische Studien (Lehmann/Schriever 2000, Lehmann 1999, Schütz 1994). Waldvorstellungen und Waldbewusstsein hängen eng zusammen und sind stets von „vielfältigen Deutungsmustern und ästhetischen Vorgaben“ (Lehmann 2000, S. 24) unterfüttert. Bahrdt (1974, S. 67) spricht geradezu vom „Vorstellungs-, Empfindungsund Verhaltenssyndrom ‚deutscher Wald‘“. So zeigen volkskundliche Untersuchungen zum Walderleben bei Erwachsenen (narrative Interviews), dass die Angst im Wald viel mit Kindheitserfahrungen zu tun hat. „Immer wieder berichteten Informanten beider Geschlechter über einzelne beängstigende Episoden aus ihrer Kindheit, die es ihnen bis heute nahezu unmöglich machten, sich allein in einem geschlossenen Wald aufzuhalten“ (Lehmann 2000, S. 32). Erfahrungen und Erinnerungen von Verlaufen, Verlassensein, (sexuellen) Belästigungen u. v. m. können sich in der Atmosphäre des Waldes aktualisieren (Lehmann 1999, S. 91f.). In Einzelinterviews mit 60 (erwachsenen) Personen konnte Braun (2000, S. 122) feststellen, dass es sehr verbreitet ist, v. a. in der Nacht im Wald Angst zu haben, und zwar unabhängig von sozialen und kulturellen Milieus. Wichtig dabei ist die mangelhafte Sicht, und auch das Gehör registriert Geräusche, die nicht immer eindeutig zuzuordnen sind und deshalb Unsicherheit erzeugen. Lehmann (1996) nimmt an, dass kulturelle Bilder die Angst im Wald eher verstärken (vgl. Schütz 1994). In einer Untersuchung im Unteren Remstal wurde gefragt, wie groß der Waldanteil in Erholungslandschaften sein sollte (Freiräume 1976). Landschaften mit mehr als 70 bis 80 97

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5 Zur Funktion von Naturerfahrungen in der Kindheit

Prozent Wald wurden abgelehnt, ebenso Landschaften mit weniger als 20 bis 30 Prozent. Große Wälder werden der Studie zufolge als „langweilig, düster, bedrückend“ empfunden. Es gibt auch Hinweise dafür, dass die Erholung im Wald etwas mit seiner Gepflegtheit zu tun hat (Martens et al. 2011). Am beliebtesten sind Waldränder, die einen offenen und freien Blick auf die Landschaft gestatten. Das entspricht auch Befunden von Kiemstedt (1967), nach denen der Waldrand als ein „Träger geistigen Gehalts“ ausgewiesen wird, was natürlich auch mit ästhetischen Traditionen bukolischer Landschaftsideale zu tun haben wird. Darüber hinaus vermittelt der Waldrand jedoch genau jene ambivalente Erfahrung von Vertrautheit und Neuigkeit, die wir bereits als ein Hauptmerkmal des positiven Werts von Naturerfahrungen herausgestellt haben. So verweist Hard (1975) unter Bezug auf Appleton (1975 a und b) auf die Balance von Intimität und Weite: Die positiv getönte Erfahrung von Natur und Landschaft beruhe danach auf dem gleichzeitigen Vorhandensein von landschaftlichen Symbolen der risikoreichen Ferne und von landschaftlichen Symbolen des Schutzes und der Sicherheit. Gemäß der „Prospect-Refuge“-Theorie von Appelton (1975 a und b) sollte ein Ort sowohl Schutz als auch Ausblick bieten. Orte, die Schutz und Geborgenheit gewährleisten und zugleich dem Bedürfnis nach Ausblick und damit Neuigkeit entsprechen, werden am meisten geschätzt und von Anhängern der Savannentheorie auch mit evolutionären Annahmen verknüpft (s. Kapitel 9). So werden beispielsweise in Restaurants meist zunächst die Tische an der Wand besetzt und dann erst die in der Mitte. Dies scheint jedoch kulturspezifisch zu sein: Eine amerikanische Studie (Schroeder 1991) zeigt, dass der dichte naturbelassene Wald in den USA zu den beliebtesten Landschaftsformationen zählt. So ist der Wald natürlich nicht nur eine Quelle von Angst, sondern auch ein oft erwähnter Faktor bei der gesundheitsförderlichen Wirkung von Natur (siehe Kapitel 7). Die (wilde) Natur kann bei Kindern neben vielen z. T. bereits genannten positiven Effekten auch die Angst, verloren zu gehen, auslösen (vgl. Lynch 1960) – eine Angst, die natürlich genauso in der unüberschaubaren Großstadt auftaucht, wobei dort jedoch potentielle Helfer anwesend sind. So hat Kaplan (1976) in Sommerferienlagern beobachtet, dass insbesondere Stadtkinder befürchten, in den Wäldern verloren zu gehen. Dabei wird wohl auch die Angst vor Tieren (siehe Kapitel 11) und überhaupt Angst vor dem Unbekannten eine Rolle spielen. Gesell und Ilg (1962) haben beiläufig ebenfalls auf Ängste vor Höhlen, Wäldern und wilden Landschaften hingewiesen. So ruft v. a. bei kleinen Kindern Unvertrautes – dazu gehören auch fremde und unüberschaubare Landschaften – Angst hervor; zusätzlich werden solche Landschaften oft noch magisch und animistisch besetzt. Auch in der Bundesrepublik gibt es Berichte von Erzieherinnen, wonach „Stadtkinder sich – erstmalig in einen Wald gebracht – unwohl, ja unsicher fühlen auf dem ungewohnt weichen Untergrund“. Verschiedenen Befunden zufolge (z. B. Hart 1979, Kaplan 1976) scheinen Stadtkinder ängstlicher in Naturumwelten zu sein als Landkinder. Jedenfalls können diese Ängste teilweise den Naturkontakt minimieren (Meske 2011, S. 268). Auch Erwachsene (Flint et al. 2009, Rink 2009) und Jugendliche (Lückmann et al. 2013) bevorzugen übrigens eher Kulturlandschaften als Wildnis. Totholz wird als unangenehm empfunden, manchmal sogar als unordentlich oder unaufgeräumt (Lupp et al. 2011).

5.4 Brachen und „Naturerfahrungsräume“

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Die bevorzugten Räume von Mädchen sind im Vergleich zu Jungen nicht so sehr Plätze in der Natur. Auffällig häufig geben sie ihr eigenes Zimmer als Lieblingsspielplatz an. Diese Beobachtung wird auch bestätigt durch eine Untersuchung (Spitthöver 1987), nach der Mädchen sich generell weniger im Freiraum aufhalten als Jungen und eher die wohnungsnahen Spielgelegenheiten bevorzugen. Jungen bevorzugen potenziell gefährlichere Landschaftselemente als Mädchen (Strumse 1994). Das ist sicherlich auf eine entsprechend geschlechtsspezifische Sozialisation zurückzuführen, die ein Verhalten, das potentiell mit Freizügigkeit, Risiko und Gefahr verbunden ist, bei Mädchen zumindest eher unterbindet als bei Jungen. Abschließend sei noch einmal betont, dass Angstgefühle in der Natur nicht ausschließlich negativ zu bewerten sind. Dass Angst auch als sogenannte „Angstlust“ (Balint 1972, vgl. Kapitel 11.5) mit lustvollen Gefühlen verbunden sein kann, zeigen Studien zur sogenannten „mystery“ bei Naturerfahrungen (Kaplan/Kaplan 1989). Das subjektive Gefühl von „mystery“ ist ein ambivalentes: Die damit verbundene Unheimlichkeit und Rätselhaftigkeit hat sowohl Aspekte von Angst als auch von gewissermaßen wohligem und lustvollem Schauern (Gebhard/Menzel 2019). Nach Kaplan und Kaplan (1989) hat ein mittlerer Grad an Rätselhaftigkeit in der Natur eher eine positive Wirkung. Ganz ohne „mystery“ erscheint Natur langweilig (z. B. Herzog/Bryce 2007, Strumse 1994).

5.4 5.4

Brachen und „Naturerfahrungsräume“ Brachen und „Naturerfahrungsräume“

Der schönste (Spielplatz) war an der Mauer, die ja nicht weit von Gropiusstadt ist. Da gab es einen Streifen, den nannten wir Wäldchen oder Niemandsland. Der war kaum 20 Meter breit und wenigstens anderthalb Kilometer lang. Bäume, Büsche, Gras so hoch wie wir, alte Bretter, Wasserlöcher. Da kletterten wir, spielten Verstecken, fühlten uns wie Forscher, die jeden Tag wieder einen uns bis dahin unbekannten Teil des Urwäldchens entdecken. Wir konnten da sogar Lagerfeuer machen und Kartoffeln braten und Rauchzeichen geben. Irgendwann haben sie dann gemerkt, daß da Kinder aus Gropiusstadt spielten und Spaß hatten. Da sind wieder die Trupps angerückt und haben Ordnung gemacht. Dann haben sie Verbotsschilder aufgestellt. Nichts durfte man mehr, wirklich alles war verboten. Radfahren, auf Bäume klettern, Hunde frei laufen lassen. Die Polizisten, die wegen der Mauer da ständig rumlungerten, kontrollierten die Einhaltung der Verbotstafeln. Angeblich war unser Niemandsland jetzt ein Vogelschutzgebiet. Wenig später haben sie es zur Müllkippe gemacht. (Christiane F.: Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Sternbuch 1979, S. 30f.)

Zwei Drittel aller Kinder in der Bundesrepublik wohnen in der Stadt. Das wirft ein Licht auf die Möglichkeiten, die die meisten Kinder haben, in relativ naturnahen Räumen zu spielen beziehungsweise sich aufzuhalten. Nach „draußen“ in die Natur zu gehen, ist zumindest in Großsiedlungen oder Trabantenstädten schwierig; etwas besser dürfte es in Altbauquartieren und Einfamilienhaussiedlungen am Stadtrand aussehen. Bereits 1975 beklagt von Hentig:

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5 Zur Funktion von Naturerfahrungen in der Kindheit

Kindheit heute ist Stadtkindheit, eine Kauf- und Verbraucherkindheit, eine Spielplatzkindheit, eine Verkehrsteilnehmerkindheit. Ihr fehlen elementare Erfahrungen: ein offenes Feuer machen, ein Loch in die Erde graben, auf einem Ast schaukeln, Wasser stauen, ein großes Tier beobachten, hüten, beherrschen. Das Entstehen und Vergehen der Natur, die Gewinnung von Material zu brauchbaren, notwendigen Dingen […] werden dem Kind – wie den meisten Erwachsenen – vorenthalten. […] Das Kind […] kann sich Bewährung und Risiko nur einbilden oder erlisten: durch Zerstörung und mutwilligen Verstoß gegen die Regeln, die Erwartungen, die Vernunft (v. Hentig 1975, S. 33f.).

Die Probleme der Stadtentwicklung können und brauchen hier nicht dargelegt zu werden. Auch soll bei aller Kritik an städtischen, naturfernen Lebensverhältnissen nicht übersehen werden, dass die Stadt durchaus auch fördernde, kultivierende und anregende Wirkungen auf die seelische Entwicklung von Kindern hat. Die folgenden Ausführungen sind insofern auch kein Plädoyer für ein illusorisches „Zurück zur Natur“ – vielmehr machen sie darauf aufmerksam, was bei einem einseitig technisch organisierten Leben auf der Strecke bleiben kann. So ist zu bedenken, welche Lebens- und Entfaltungsbedingungen Kinder in einer verstädterten Umwelt haben (siehe auch z. B. Harms et al. 1985, Muchow/Muchow 1935, Zeiher 1998). In unserem Zusammenhang ist nun vor allem zu bedenken, welchen Stellenwert die Natur in einer solchen Umwelt (noch) hat und was dies für die seelische Entwicklung von Kindern bedeutet. In einem historischen Abriss zeigt Zeiher (1983), wie die „Räume der Kindheit“ immer enger und perfekter geworden sind. Wie die Befunde aus Kapitel 5.2 gezeigt haben, sind die Naturbedürfnisse von Kindern in monofunktionalen, zugewiesenen und beengten Freiräumen nicht zu befriedigen. Sobald sie dem Kleinkindalter entwachsen sind, versuchen Kinder, wo es geht und mit viel Abenteuerlust und Phantasie, die Spezialisierungen der Räume zu durchbrechen. Eine Möglichkeit dazu bieten die letzten unspezialisierten Räume: unbebaute Grundstücke, Baustellen, auf denen gerade nicht gearbeitet wird, und Abrißhäuser. Sie haben für Kinder heute die gleiche Anziehungskraft wie für ihre Eltern Kriegsreste und Trümmer. Es sind Räume und Materialien der Erwachsenen, aber von Erwachsenen vorübergehend aufgegeben, durch Veränderung und weitere Veränderbarkeit gekennzeichnet, voller Gefahren, Verbote und Möglichkeiten, auch außerhalb erwachsener Kontrolle (Zeiher 1983, S. 185).

Auch die Freiburger Kinderstudie zeigt eine abnehmende Bedeutung von Außenräumen (in der Natur) für Kinder und Jugendliche und eine damit verbundene „Verhäuslichung“ der Kinder (Blinkert 1993, S. 127f.). Das geht einher mit einer zunehmenden Verdrängung von Kindern und Jugendlichen aus dem Straßenraum (Wehrspaun 2001). Auch wenn man angesichts der veränderten Kindheit von einer derartigen „Verhäuslichung“ (Fölling-Albers 2001, S. 28) der Kinder in der Tat sprechen kann, es gewissermaßen einen „Trend von Draußen nach Drinnen“ (Nave-Herz 2015, S. 100, Rolff/Zimmermann 1997, S. 68) gibt, werden attraktive Orte im Freien durchaus auch genutzt, nicht zuletzt, um das Bewegungsbedürfnis (Fölling-Albers/Hopf 1995, S. 39) zu befriedigen.

5.4 Brachen und „Naturerfahrungsräume“

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Eine qualitative Studie mit Grundschulkindern (21 Einzelinterviews) zeigt, dass das „Draußen-Spiel“ beliebter als das „Drinnen-Spiel“ ist (Rohlfs 2006, S. 144ff.); dies gilt für Stadtkinder ebenso wie für Landkinder. Von den 21 befragten Kindern identifiziert Rohlfs nur zwei als ausgesprochene Drinnen-Kinder. Neben Naturelementen (v. a. Wald, aber auch Bach, Wiese, Budenbauen) sind dabei Fahrradfahren und soziale Kontaktmöglichkeiten wesentlich. Das Spiel im Freien kann auch oft auf der Straße stattfinden. Zugleich haben fast alle Untersuchungen erwiesen, dass Kinder an der Natur die Freizügigkeit, die Unkontrolliertheit schätzen. Bereits in der groß angelegten Studie von Hart (1979) über die Beziehung von Kindern zu dem Ort, an dem sie leben, kam u. a. eben heraus, dass die Kinder die freien Orte („free range“) besonders schätzen. Und auch bei der bereits mehrfach genannten Studie „Fokus Naturbildung“ (Kleinhückelkotten et al. 2017) rangiert „Freiheit“ als Assoziation für Natur an erster Stelle. Es zeigte sich schon seit langem, dass Kinder auf Spielplätzen relativ wenig spielen (vgl. z. B. Forsch 1980, Hart 1982, Johannsmeier 1985, Thiemann 1988, S. 28f., Rohlfs 2006). Bierhoff (1974) belegt dies in einer Studie über 21 Spielplätze und zeigt, dass auf 16 Plätzen sogar bei guten Wetterbedingungen im Sommer durchschnittlich weniger als 10 Kinder anzutreffen waren. Kinderzeichnungen idealer Wohnumgebungen zeigen entsprechend auch weniger Gerätespielplätze als vielmehr Gärten mit Wasser und Tieren (Keul/Keul 1993). Brown und Burger (1984) beobachten, dass Spielplätze geradezu gemieden werden. Viel beliebter sind „verbotene Räume“ wie Baustellen, Hinterhöfe, Bahndämme, Ruinen, wo die Möglichkeit zu unbeobachtetem Spiel mit anderen Kindern besteht. Freilich liegen die Wünsche und der tatsächliche Aufenthaltsort weit auseinander. Jacob (1984) zeigte in einer Untersuchung zur Umweltaneignung von Stadtkindern, dass sich zwar die meisten Kinder im Straßenraum aufhalten, dass jedoch dies nur etwa jedes 20. Kind will. Eine umfangreiche Untersuchung an Berliner Kindern (Berg-Laase et al. 1985) stützt die Vermutung, dass Kinder geradezu ein Bedürfnis nach Natur haben. Fast alle untersuchten Kinder (Interviews, Analyse von Kinderzeichnungen) wünschten sich mehr Grün, mehr Wiesen und Bäume in der unmittelbaren Umgebung. Dabei fällt auf, dass dieses „Naturbedürfnis“ erstens bei Mädchen und zweitens bei Kindern aus Kreuzberg, die sicherlich die wenigsten praktischen Naturerfahrungen haben, am ausgeprägtesten ist (vgl. hierzu auch Engelbert 1982, Tuan 1977a). Auch eine schwedische Untersuchung (Björklid 1982) zeigt, dass Parkanlagen, überhaupt große Grünflächen bei Kindern sehr beliebt sind. Das gilt für Vorschulkinder ebenso wie für Jugendliche. Berglez (2005) konnte in einer Untersuchung an 174 Kindern (6-12 Jahre) ebenfalls zeigen, dass Spielplätze im Vergleich zu Naturorten eindeutig als unattraktiver eingeschätzt wurden. Auch eine qualitative Betrachtung der jeweiligen Art des Spiels offenbarte interessante Unterschiede: Das Verhalten an Naturorten wurde als kreativer, ausdauernder und zielorientierter beschrieben. Dass Kinder wenig auf Spielplätzen spielen, wird auch von Mundt (1980) bestätigt, wobei das allerdings noch mehr für Kinder aus dem ländlichen Raum zutrifft. Landkinder „nutzen häufig andere Plätze wie z. B. Gärten, Höfe, Scheunen, Ställe, aber auch die Straße als Spielorte“ (Mundt 1980, S. 87). Kleinere Kinder spielen auch oft in den Gärten der Eltern. 101

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5 Zur Funktion von Naturerfahrungen in der Kindheit

Nun ist anzunehmen, dass Landkinder es sich wohl eher leisten können, Spielplätze zu meiden und auf andere Flächen, vorzugsweise Brachflächen auszuweichen. Stadtkinder haben oft keine Alternative, jedenfalls, wenn sie auch nur etwas Naturkontakt haben wollen, was ja offenbar der Fall ist. Aber auch Dörfer werden ja „entwickelt“, und dabei scheinen die Bedürfnisse der Kinder nur am Rande berücksichtigt zu werden. Zentrale und damit wohnungsferne Kindergärten, mechanisierte Spielplätze, Neubausiedlungen, zunehmende Gefahren im Straßenverkehr nehmen dem Landleben den „verschönernden Schleier sinnhafter Ganzheitlichkeit“ (Karsten/Thunemeyer 1983, S. 149). So scheint das Stereotyp von einem glücklichen Leben auf dem Lande nicht mehr ganz der sozialen Realität zu entsprechen (Goldschmidt 1990, Beach 2003). Das zeigt sehr deutlich eine Analyse von Landkindergärten, in der „das Märchen von der idealen Kindheit auf dem Lande“ (Berger/ Krug 1990, S. 13) zerstört wird. So haben sich die Lebensräume im ländlichen Raum zunehmend denen in Großstädten angeglichen. In einer Studie von Pohl (2006) haben Landkinder jedoch immer noch mehr Naturerfahrungen und damit im Zusammenhang eine differenziertere Naturwahrnehmung (Thomas/Thompson 2004). Sehr wichtig ist dabei die gute Erreichbarkeit von Orten wie Wald, Wiese oder Bach. Eben diese gute Erreichbarkeit versucht das Konzept der Naturerfahrungsräume (s. u.) auch in der Stadt sicherzustellen. In diesem Zusammenhang ist auch bedeutsam, dass über 80 % der Deutschen mit Stadt zumindest auch „Parks und öffentliche Grünräume“ assoziieren (BMUB/BfN 2016, S. 43) Bei aller Kritik an Spielplätzen muss natürlich auch bedacht werden, dass innerstädtische Spielplätze oft die einzigen für Kinder zugänglichen Freiflächen und sozialen Knotenpunkte sind. Insofern sind sie ohne eine veränderte Freiraumplanung noch nicht ohne weiteres ersetzbar. Zudem gibt es inzwischen Spielplatzkonzepte, die die hier entfalteten Argumente zum Teil berücksichtigen (Luchs/Fikus 2013). Und Quartier et al. (2018) zeigen, dass „Naturverbindung“ auch in der Stadt gehen kann. Dass Spielplätze oft so unattraktiv für Kinder sind, liegt wohl vor allem daran, dass auf ihnen nur wenig eigene Gestaltungsmöglichkeiten bestehen, wie das in naturnahen Räumen oder mit Naturgegenständen eben möglich wäre. Auf den meisten Spielplätzen kann kaum etwas verändert und gestaltet werden – allenfalls im Sandkasten, und der ist für auch nur etwas ältere Kinder kein bevorzugter Spielort mehr. Die meisten Dinge sind auf Spielplätzen fest verankert; Kinder können mit solchen Gegenständen nur das tun, was diese Gegenstände gewissermaßen vorschreiben. Eine solchermaßen vorgegebene Umwelt strukturiert wohl auch entsprechend die Persönlichkeit der Kinder, die in ihr leben (müssen). Naturnahe Freiräume machen Kinder zumindest nicht in dem Maße zu „Objekten der Entwicklung“ (vgl. Leist 1990). Naturphänomene oder –gegenstände haben zwar auch einen eigenen Charakter beziehungsweise Eigenschaften, die beachtet werden müssen, jedoch sind sie in ihrer Vielfältigkeit und Variabilität (Materialien, Farben, Formen, Strukturen), eben in ihrer Lebendigkeit, so beschaffen, dass die kindliche Phantasie und Eigentätigkeit eher angeregt wird. Außerdem kann man Naturräume vielfältig nutzen, kann sie verändern, und sie sind trotz aller Kontinuität immer wieder neu (s. o.). Die oft eingeschränkte Veränderbarkeit von Spielräumen wird bisweilen auch mit aggressiven Reaktionen von Kindern und Jugendlichen in Verbin-

5.4 Brachen und „Naturerfahrungsräume“

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dung gebracht. In der Tat ist bei zunehmender Bebauungsdichte und entsprechend weniger Freiraum mit Konflikten mit den sozialen Systemen der Erwachsenenwelt zu rechnen. Auch wenn solche Zusammenhänge natürlich nicht kausal nachweisbar sind, werden soziale „Symptome“ wie Vandalismus, Aggressionsbereitschaft, Drogenprobleme u. ä. mit dieser Entwicklung zusammenhängen. Das Verändern von Räumen gestattet, diese zu einem persönlichen Raum zu machen und sich somit auch mit den Räumen zu identifizieren. Wenn Kinder Erfahrungen in naturnahen Freiräumen nie oder zu wenig machen können, scheinen sie entsprechende Fähigkeiten zu verlernen oder nicht auszubilden; so lässt sich vielerorts beobachten, dass Kinder, wenn sie sich überwiegend in technisierter Umgebung oder auf Spielplätzen aufhalten, z. B. einen Wald für ihre Spiele nicht nutzen können oder sogar Angst davor haben. Nun wird „Natur“ kein Allheilmittel gegen alle Art von neuzeitlichen Zivilisationsschäden sein, jedoch scheinen naturnahe Spielorte Situationen für Kinder bereitzuhalten, bei denen viele kindliche Anliegen völlig nebenbei und ohne pädagogisches Arrangement ausgelebt werden können. Der alten Forderung nach einer „bespielbaren Umwelt“ (vgl. Bochnig/Mayer 1989) ist in diesem Kontext unbedingt zuzustimmen. In der Freiburger Kinderstudie (Blinkert 1993, S. 10) werden für einen geeigneten „Aktionsraum für Kinder“ vier Kriterien genannt: Der Raum muss für Kinder zugänglich, frei von Gefahren und gestaltbar sein; außerdem sollte eine Chance bestehen, Spielkameraden anzutreffen. Zugleich werden auch interessante und realisierbare Gestaltungsmöglichkeiten aufgezeigt, die diesen Kriterien Rechnung tragen (Blinkert 1993, S. 192f.). In einer vergleichenden Studie in mehreren süddeutschen Städten (Reidl et al. 2005) konnte der Erlebnis- und Spielwert von Brachflächen bzw. Naturerfahrungsräumen empirisch bestätigt werden: In Naturerfahrungsräumen spielen Kinder länger, lieber und auch weniger allein. Ein Bewusstsein für Lieblingsorte und damit Zugehörigkeitsgefühl ist ausgeprägter. Es zeigt sich auch, dass ein wesentliches Motiv hierfür die Unkontrolliertheit und Freizügigkeit ist, für Jungen noch mehr als für Mädchen. Eine qualitative Analyse der Aktionen zeigte zudem, dass das Kinderspiel komplexer, kreativer und selbstbestimmter ist. Diese positive Bedeutung konnte auch in Elternbefragungen bestätigt werden: Fast alle Eltern äußern sich eindeutig positiv zu Naturerfahrungsräumen, weil Kinder dort kreativer sind (95,8 %) und dort Pflanzen und Tiere kennen lernen können (91,1 %). Und schließlich – das bestätigt die Freizügigkeitsthese auch von Elternseite – begrüßen 86,2 % der Eltern, dass sich Kinder in Naturerfahrungsräumen frei und ohne Aufsicht bewegen können. Über 82 % haben auch keine Befürchtungen im Hinblick auf Unfälle, und das Schmutzigmachen spielt nahezu gar keine Rolle (vgl. Blinkert et al. 2015). Die Eröffnung und Entwicklung kreativer Möglichkeiten wird von einer Reihe weiterer Studien bestätigt (z. B. Luchs/Fikus 2013) Naturnahe Freiräume sind also sehr geeignete Rahmenbedingungen für das kindliche Spiel. Fehlen solche Rahmenbedingungen, kann das leicht Passivität und Apathie zur Folge haben. Bespielbare Umwelt bedeutet auch, dass es (nicht nur für Kinder) mehr ungeplanten Raum in den Städten geben müsste (zum Konzept einer „bespielbaren Stadt“ siehe Harms/ Mannkopf 1989). Solches „Niemandsland“, solche Brachflächen sind nämlich automatisch 103

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5 Zur Funktion von Naturerfahrungen in der Kindheit

relativ naturnah und kommen so auf doppelte Weise dem Bedürfnis nach Freizügigkeit entgegen. Diese Argumente dürfen und sollen allerdings nicht dahingehend überzogen werden, Spielplätze überhaupt abzuschaffen. Dem steht nämlich entgegen, dass in vielen Stadtgebieten Spielplätze die einzigen Orte sind, an denen relativ freies und ungefährdetes Spielen möglich ist. Ungeplanter Raum heißt: Brachflächen, wilde Vegetation, Wiesen, stillgelegte Schienenstränge, Friedhöfe, alte Industrieanlagen, Wasser, dichtes Laub, gefrorene Seen. Das sind nur Beispiele für eine Umwelt, in der das menschliche (nicht nur das kindliche) Bedürfnis nach „Wildnis“ eine Chance hat und sich nicht mit den Tröstungen der Touristikbranche oder der Zigarettenwerbung zufrieden geben muss. Shepard (1977, S. 11) mutmaßt sogar, dass eine wilde Umgebung einen gleichsam direkten Zugang zum Unbewussten hat: „The wilderness may be the epigraph of the unconscious.“ Ohne dass dem ein explizites Konzept zugrunde liegen wird, ist es immerhin auffällig, dass Naturbilder und –symbole ausgesprochen häufig und offenbar mit Erfolg als Werbeträger benutzt werden. Die Suche nach Spannung und Abenteuer findet so eher im Fernsehen ihre Erfüllung (vgl. Lang 1992) als in Streifzügen und Geländespielen in unmittelbarer Umgebung. Brachflächen können sicherlich, sofern sie noch vorhanden sind, derartige Bedürfnisse und Sehnsüchte weitaus besser und vor allem nachhaltiger und wirkungsvoller erfüllen, wie eine Untersuchung von Nolda (1990) über die Nutzung von Stadtbrachen zeigt. Besonders deutlich gilt das für Kinder im Alter von etwa 5 bis 13 Jahren; das „Kinderspiel“ war dieser Untersuchung zufolge nämlich die häufigste Nutzungsart (neben verschiedensten Betätigungen der Erwachsenen wie Hund ausführen, Spazierengehen, Fahrradfahren, Beeren sammeln, Pflanzen sammeln, Joggen, Auto reparieren). Einige Beispiele zeigen sehr plastisch, wie vielfältig und eben auch naturbezogen Kinder auf Brachflächen spielen können: Drei Jungen strolchen durch das Gelände, schneiden Zweige von Büschen ab, stochern damit im Graben herum; zwei Kinder sammeln „gelbe Knöpfe“ (Blütenköpfe von Rainfarn); eine Kindergruppe spielt „Verstecken“ im Gebüsch und in der hohen Ruderalvegetation; vier Kinder reißen vertrocknete Sauerampfer-Blütenstände aus, binden sie zusammen und fegen mit diesem „Besen“ den angrenzenden Weg; viele Kinder sammeln Marienkäfer und fangen Heuschrecken (Nolda 1990, S. 29).

Nolda beobachtete bei Kindern ein ausgeprägtes „Erkundungsverhalten“ auf den Brachflächen. Kinder sehen und pflücken Pflanzen, beobachten Insekten, verfolgen ihre Flucht. Oft verlassen Kinder die vorgegebenen Trampelpfade, um eigenen, jeweils immer wieder neuen Ideen nachzugehen. Die Studie von Nolda zeigt sehr deutlich, wie sehr dieser „wilde Grünflächentyp“ in der Stadt den Bedürfnissen von Kindern entspricht. Für Kinder „sind wohnungsnahe Brachflächen ideale ‚Streifräume‘, die durch ihren Charakter (unfertig, veränderbar, wenig geordnet) zur Aneignung anregen und nicht-reglementiertes Spielen zulassen. Wo sonst gibt es das noch in der Stadt?“ (Nolda 1990, S. 32). Kinder entfalten auf Brachflächen Aktivitäten, die durchaus auch verändernd eingreifend sind: Äste abreißen, Budenbau, Feuer anzünden, Löcher graben. Diese Art von Spiel ist ein sehr attraktives und wohl auch kindgemäßes (siehe auch Harms et al. 1985),

5.4 Brachen und „Naturerfahrungsräume“

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aber oft auf gepflegten und geordneten Parkanlagen nicht erlaubt, ein Aspekt, der noch zu bedenken sein wird. Hier zeigt sich, dass Natur – namentlich Brachflächen – für Kinder weniger wegen des potentiellen ästhetischen Genusses interessant ist. Vielmehr stellt sie eine Aufforderung zu Aktivität dar (vgl. Margadant–van Arcken 1989, 1990). In weiteren Untersuchungen zum Erlebniswert von Brachflächen konnte festgestellt werden, dass Brachflächen als „natürlich, wild, vielfältig, abenteuerlich, abwechslungsreich, interessant“ (Nohl/Scharpf 1975, S. 8) eingeschätzt werden, dass jüngere Menschen insgesamt Brachflächen positiver als ältere Menschen beurteilen (vgl. Job 1988, S. 473, Nohl/ Scharpf 1975, S. 99), dass Menschen aus der Großstadt Brachflächen mehr schätzen als die Landbevölkerung (Nohl/Scharpf 1976 S. 99) und schließlich, dass Frauen Brachflächen noch positiver beurteilen als Männer (vgl. Job 1988, S. 473). Dass und wie Stadtbrachen höchst unterschiedliche Sinnentwürfe und damit verbundene Erlebnisqualitäten bei Erwachsenen hervorrufen, zeigt eine bemerkenswerte semantische Studie zu „gefühlten Theorien“ angesichts des Erlebnisses von innerstädtischen Brachflächen. Verschiedene symbolische Bedeutungen von „Natur“ (siehe Kapitel 3) werden durch Brachflächen aktualisiert: Angesichts der Zweckungebundenheit von Brachflächen erscheint Natur als Symbol für Unabhängigkeit von direkter menschlicher Einflussnahme, Wildnis, Unordnung, Planlosigkeit, Autonomie und Freiheit. Das Chaos transformiert sich in ein Reich der Möglichkeiten und damit der Freiheit. … Natur ist darin der Ort der Unabgeschlossenheit (sowohl des Subjekts, als auch der Welt), der positiven Seite der Ungewißheit (Eisel et al. 1996, S. 74).

Diese Untersuchungen beziehen sich zwar nicht nur auf Kinder, doch kann insgesamt sicherlich gesagt werden, dass grüne Brachflächen ein geradezu idealer Spiel- und Erlebnisraum für Kinder sind. Entsprechende Forderungen sind nicht neu. Bereits Otterstädt (1962, S. 287) vertrat die Auffassung, dass bei einer Wohneinheit von 5000 Menschen mindestens eine zusammenhängende Fläche von 20 Hektar für Kinder vorhanden sein müsste. Hart (1982, S. 39) fordert ein Netz von kleinen ungeplanten Flächen in der Nähe der Wohnung. Auch für Erwachsene sind Brachflächen durchaus von Interesse. Dinnebier (1991) verweist dabei v. a. auf das symbolisch-ästhetische Potential (Natursehnsucht, Sinngebung, Natursymbolik) und fordert, entsprechende Chancen für neue freiraumplanerische Aktivitäten zu nutzen. Im Einzelnen gibt es auch für Erwachsene in Brachflächen folgende Vorzüge: • ihre relativ freie Verfügbarkeit für Spiel und Sport, für kulturelle Aktivitäten und unreglementierte Nutzungen, • ihre vegetative Ausstattung mit Ruderalnatur als ästhetischer Charakteristik, • die Möglichkeit zur Naturbeobachtung in der sich spontan reichhaltig einstellenden Tier- und Pflanzenwelt, • ihre kulturhistorische Bedeutung als städtische Industrie-, Wohnungsbau- und Infrastrukturbrache (Dinnebier 1991).

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5 Zur Funktion von Naturerfahrungen in der Kindheit

Milchert (1996) konstatiert zwar eine Zunahme von städtischen Grünflächen in den letzten zwei Jahrzehnten, kritisiert jedoch die freiraumplanerische Akzentsetzung und fordert eine „Entrümpelung der Freiraumsysteme“. Die breiig ausufernde Stadt erzeugte an ihren Stadträndern immer aufs neue große diffuse Einfamilienhaus- und Gewerbegebiete, die „durchgrünt “ wurden, neue endlose Grünflächen aus Rasen und Rosen addieren sich zu großen Verkehrsgrünflächen, Abstandsflächen an Gebäudeflächen entstanden, und in den letzten Jahren kam im Zuge von Ausgleichsmaßnahmen zunehmend ökologisches Grün hinzu (Milchert 1996).

Aus Freiflächen wären also auch für Erwachsene wieder Freiräume im doppelten Wortsinne zu machen, wobei sich Freiräume natürlich nicht nur in öffentlichen Grünanlagen eröffnen dürften (vgl. Hülbusch 1996). Die hier zusammengetragenen psychologischen und pädagogischen Zusammenhänge könnten insgesamt ein gewichtiges Argument sein, naturnahe Biotope und Brachflächen zu erhalten – und zwar über die biologisch–ökologischen Argumente hinaus (vgl. Sukopp 1987, S. 13). Denn Naturerfahrungen haben – wie gezeigt wurde – eine nicht zu unterschätzende Funktion auch für die seelische Entwicklung. Viele Hinweise sprechen dafür, dass die grüne Stadt in gewisser Weise auch die gesündere Stadt ist, wobei vor allem die präventiven Aspekte einer vielfältigen und ökologisch gesunden Umwelt zu betonen sind (Claßen/Bunz 2018). Eine solche Umwelt kann als eine Quelle des Wohlbefindens und des sinnhaften Lebens aufgefasst werden, was im Rahmen eines salutogenetischen Konzepts zu einem Element eines gesunden Lebens werden kann (siehe Kapitel 7). Allerdings wird kindlichen Bedürfnissen bei der Ausgestaltung der Umwelt nicht immer im nötigen Umfang Rechnung getragen. Zu sehr gelten in der Städteplanung (noch) andere Prioritäten (Ökonomie, Verkehr, vordergründige Ästhetik); die Frage, welche seelischen Naturbedürfnisse Kinder (und natürlich auch Erwachsene) haben, wird zumindest nur selten mit in die Überlegungen einbezogen (vgl. Mitscherlich 1965, Muchow/Muchow 1935, Mundt 1980, Thomas 1979, Ward 1978, Schmidt 1987, Zacharias 1987). Das führt oft dazu, dass Kinder – analog zum Begriff der „vaterlosen Gesellschaft“ (Mitscherlich 1963) – nicht nur vaterlos, sondern auch heimatlos aufwachsen (zum Phänomen der „placelessness“ siehe Relph 1970). Dies regt zum Nachdenken darüber an, wieviel Natur-Spiel-Raum Kindern in unserer Gesellschaft noch gelassen wird. Vielleicht entspricht die Vernichtung von Brachflächen – die „äußere Flurbereinigung“ – auch einer „inneren Flurbereinigung“, durch die die seelische Entwicklung „übersichtlicher“ und besser kontrollierbar wird. Angesichts der hier dargelegten Befunde und Zusammenhänge wäre es, was den Naturund Brachflächenraum für Kinder angeht, ratsam, mehr ungeplanten, naturnahen und somit freien Raum zu schaffen beziehungsweise zu erhalten (Deutsches Kinderhilfswerk 2005, Stopka/Molitor 2016). Das wäre freilich paradox: es wäre sozusagen die bewusste Planung des Nicht-Planbaren. Ein gelungenes, gut dokumentiertes und theoretisch reflektiertes Beispiel hierfür ist eine entsprechende Planung für Kinder und Jugendliche in Herten (Mey et al. 1997, Ahmann/Schröder 1993, Görlitz et al. 1993, 1998). Die Kinder

5.4 Brachen und „Naturerfahrungsräume“

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könnten bei derartigen Planungsprozessen auch mit einbezogen werden, was übrigens die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen vorsieht (Hofmann 2007, Duden et al. 2007, Schröder 1995, 1996). Bei dieser Partizipationsidee ist natürlich zu bedenken, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind und Freiflächen mit einer anderen Rationalität planen, als es sich die Planer vielleicht insgeheim wünschen. Kinder mit in die Planung einzubeziehen hieße, Vertrauen in die Eigenverantwortlichkeit von Kindern zu entwickeln und zugleich auf ein Stück erwachsener Kontrollmöglichkeit zu verzichten. Auch hier bietet der Modellversuch in Herten gute Anregungen (Apel/Pach 1993, Moore 1989). Zugleich ist zu berücksichtigen, dass natürlich die Kinder keine fertigen Planungsentwürfe vorlegen können. „Die Stärke ihrer Beiträge liegt in der freigesetzten Phantasie, ihren Ideen, den entwickelten Visionen“ (Mussel 1993, S. 99). Platz und Fläche wäre im Übrigen genug vorhanden – es ist eben oft nur „verbotenes Grün“. Und es gibt inzwischen auch angemessene planerische Konzepte (z. B. Adge et al. 2002, Degünther 2008, Reidl et al. 2005). Angesichts dieser Situation ist der Ruf nach sogenannten „Naturerfahrungsräumen“ in der Stadt nicht erst in letzter Zeit zu vernehmen. Der zentrale Gedanke dabei ist, dass derartige Naturerfahrungsräume für die kindliche Entwicklung ein günstiges Gegengewicht angesichts der „veränderten Kindheit“ darstellen. „Ein Städtischer Naturerfahrungsraum (NERaum) ist eine weitgehend ihrer natürlichen Entwicklung überlassene, mindestens ein Hektar große ‚wilde‘ Fläche im Wohnumfeld, auf der ältere Kinder und Jugendliche frei – ohne pädagogische Betreuung und ohne Geräte – spielen können“ (Schemel 2009, 80). Dieses Konzept hat sich noch nicht in hinreichendem Maße realisieren lassen. In diesem Zusammenhang sind vor allem drei Herausforderungen zu nennen. Erstens müssen dafür geeignete Freiflächen vorhanden sein bzw. bereitgestellt werden. Zweitens werden damit verbundene Risiken in aller Regel überschätzt. Und drittens gibt es zur Frage der Betreuung noch kontroverse Diskussionen – und zwar sowohl hinsichtlich der Kinder als auch hinsichtlich der Naturerfahrungsräume selbst. Jedenfalls sollen diese „Naturerfahrungsräume“ (Schemel 2008, 2009, Reidl et al. 2005) als Flächenkategorie im Bundesnaturschutzgesetz etabliert werden (siehe Tabelle 5.1). Dabei ist darauf zu achten, dass durch solche Maßnahmen die Möglichkeiten des Naturerlebens nicht gleichzeitig in „normalen“ Flächen, die dieses Etikett nicht tragen, begrenzt werden (vgl. Brämer 1998b). Eine Reihe von konkreten Umsetzungen dieses Konzepts findet sich in Schemel/Wilke (2008). Ein gelungenes Beispiel dafür ist das Berliner Projekt „Naturerfahrungsräume in Großstädten. Wege zur Etablierung im öffentlichen Freiraum“ (Stopka/Rank 2014). In solchen Räumen ist das möglich, was in der Spielpädagogik das sogenannte „Freie Spiel“ genannt wird (Gründler/Schäfer 2000, S. 17), das übrigens ebenfalls in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen als Recht verbrieft ist. Die ungarische Kinderärztin Emi Pikler hat dieses Konzept für die frühkindliche Erziehung entwickelt. Selbstbildungsprozesse sind in Naturumgebungen mit vielen unfertigen Dingen gut zu initiieren.

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Tab. 5.1

5 Zur Funktion von Naturerfahrungen in der Kindheit

Der Städtische Naturerfahrungsraum (NER) – die neue Grünflächenkategorie (Schemel 2008, S. 83)

Nutzung Charakter Größe Pflege Lage Zielgruppe Betreuung

Reglementierung Planerische Sicherung

Vorrang Erholung (Schutzgebiete nur in Ausnahmefällen geeignet) mindestens 50 % naturbelassen, der Rest extensiv gepflegt, natürliche Attraktivität (evt. Anfangsgestaltung: z. B. Erdhügel, Tümpel) Keine Geräte und sonstige Infrastruktur ca. 2 Hektar (in Ausnahmefällen: mindestens 1 ha) zwecks Offenhaltung extensive Pflege in Teilräumen (je nach örtlichen Gegebenheiten, Besucherfrequenz und Wünschen der Nutzer) in Wohnbereiche integriert oder diesen dicht zugeordnet (Erreichbarkeitsradius möglichst nicht über ca. 300 m) vorrangig Kinder und Jugendliche im Alter von 6 bis 12 Jahren, nachrangig auch ältere Jugendliche und Erwachsene möglichst keine pädagogische Betreuung, Kinder bleiben unter sich. Ausnahmen: Spielaktionen zum Kennenlernen, Abbau von Schwellenängsten bei der Begegnung mit „wilder“ Natur. Allerdings Betreuung der Fläche zur Gewährleistung der Sicherheit. keine Verbote oder Gebote, allerdings Einhaltung von Sicherheitsstandards (in Abstimmung mit Haftpflichtversicherung), ansonsten sind alle Aktivitäten außer Motorsport erlaubt. im Rahmen der Bauleitplanung sind NERäume als Grünflächen mit besonderer Zweckbestimmung verbindlich

Verbote, Vorschriften, ästhetische Repräsentationsflächen, beobachtbare und kontrollierbare Spielplätze und nicht zuletzt auch die Ängstlichkeit vieler Eltern schaffen meist angesichts der kindlichen Bedürfnisse eine absurde Situation. Die Wochenzeitschrift DIE ZEIT beauftragte 2015 das Institut YouGov mit einer Befragung von 1002 Müttern und Vätern, wie sie mit den diesbezüglichen Bedürfnissen ihrer Kinder (5-15 Jahre) umgehen: 50 % haben ein „mulmiges Gefühl“, wenn ihr Kind allein draußen ist, 82 % wollen gern jederzeit wissen, wo sich das Kind aufhält und 83 % wissen jederzeit, mit wem das Kind unterwegs ist (Hörnlein 2015). Danach erlauben 56 % der Eltern ihren Kindern das freie, d. h. unbeaufsichtigte Spiel nur auf dem eigenen Grundstück. Die Kinder haben eigentlich die Erfüllung ihrer Wünsche direkt vor Augen, zum Greifen und Erleben nahe; sie müssen jedoch noch zusätzlich lernen, auf die Befriedigung ihrer Freiheits- und Naturbedürfnisse im Angesicht der Erfüllungsmöglichkeiten zu verzichten. Diese psychische Leistung dürfte durchaus ein wichtiges Element bei der Sozialisation der Innenwelt sein: Die Durchorganisierung der äußeren Natur findet so eine sehr passende Entsprechung in der organisierten Beherrschung innerer Bedürfnisse bei den Angehörigen der Industriegesellschaft. So beschreibt Norbert Elias den „Prozess der Zivilisation“ genau in dieser Hinsicht: Die Entwicklung, die zu einer sachgerechteren Erkenntnis und zu einer wachsenden Kontrolle von Naturzusammenhängen durch Menschen führte, war also, von einer anderen Seite her

5.4 Brachen und „Naturerfahrungsräume“

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betrachtet, zugleich auch eine Entwicklung zu größerer Selbstkontrolle des Menschen (Elias 1976, Bd.1, S. LVIII).

Elias meint zwar eine Entsprechung der Beherrschung von inneren Triebansprüchen einerseits und äußerer Natur andererseits, doch lässt sich dieser zivilisationstheoretische Gedanke auch gut auf die Situation des Kindes übertragen, das angesichts von äußerem „verbotenen“ Grün auch innen kontrollierbar wird. Überwachbare Spielplätze, auch Abenteuerspielplätze, sind insofern eigentlich schon Symptom der Unwirtlichkeit unserer Städte. Selbständige Aneignung, Geheimnisse, ein experimenteller Umgang mit der Wirklichkeit fallen oft einer allzu kontrollierenden Organisation zum Opfer. Es ist eben der Freiraum, der die Natur für Kinder so attraktiv macht. Erst diese relative Freizügigkeit ermöglicht es, sich die Natur wahrhaft anzueignen. Die positiven Wirkungen von Naturerfahrungen, wie sie von den meisten Studien nahegelegt werden (vgl. Kapitel 5.2), entfalten sich nicht, wenn Natur gewissermaßen verordnet wird, wenn allzu umstandslos Naturorte zu Lernorten gemacht werden (vgl. auch Coster/Gleeve 2008, Weber 2016, S. 121ff.). Das gilt beispielsweise auch für die Konzipierung von sogenannten „Abenteuerspielplätzen“. Auch die „Übungen“ zum Naturerleben (z. B. Cornell 1979) müssten in dieser Hinsicht zumindest überdacht werden, unabhängig von der berechtigten Skepsis, ob durch pädagogisch initiiertes Naturerleben eine ökologisch wirksame Natursensibilisierung einhergeht. Wenn die Pädagogik alles didaktisch oder pädagogisch besetzt – auch mit guter Absicht –, besteht zumindest die Gefahr, dass Kinder keinen eigenen Zugang zur Wirklichkeit finden oder dieser ihnen sogar verbaut wird. Aries (1975, S. 48) verweist in der Geschichte der Kindheit auf den „langen Prozeß der Einsperrung der Kinder […], der bis in unsere Tage nicht zum Stillstand kommen sollte und den man als Verschulung […] bezeichnen könnte.“ Der letzte Schrei dieser Entwicklung wäre es dann wohl, wenn auch noch die sogenannten „wilden Freiräume“ zum Einsperren ge– beziehungsweise missbraucht werden würden. Nicht nur die Orte, die von den Planern vergessen wurden, werden von den Kindern am meisten geschätzt, auch die Natursituationen, die von den pädagogischen Planern nicht allzu sehr vorstrukturiert sind, können positive Wirkungen haben. Es ereignet sich die Wirkung von Natur nämlich nebenbei (Gebhard 2012, 2013b). Nur der Naturraum wird als bedeutsam erlebt, in dem man eigene Bedürfnisse erfüllen, in dem man eigene Phantasien und Träume schweifen lassen kann und der auf diese Weise eine persönliche Bedeutung bekommt. So wurde in der bereits erwähnten qualitativen Studie über jugendliche Naturerfahrungen in schulischen Kontexten (Früchtnicht 2020) von vielen Jugendlichen die Abhängigkeit ihrer Erlebensmöglichkeiten von den naturpädagogischen Vorstellungen der jeweiligen Leitung als deutliche Einschränkung benannt. So resümiert ein Jugendlicher: „Es müsste gelöscht werden aus unseren Gedanken, dass das ’n Schulausflug ist, dann wäre es noch viel besser geworden.“ Auch die qualitative Studie von Weiser (2020) zeigt, dass Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter (drei bis acht Jahre) Natur gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt sind. Nur vereinzelt zeigen sie auch Berührungsängste. Obwohl diese Studie im Kontext forschenden Lernens und damit innerhalb einer didaktisch inszenierten Form statt109

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5 Zur Funktion von Naturerfahrungen in der Kindheit

gefunden hat, erwiesen sich auch hier die freizügigen Spielmöglichkeiten als zentral: Es geht um Aktivitäten, bei denen die Kinder „ihrem Bedürfnis nach Bewegung und diversen Sinneserfahrungen nachkommen. Sie erkunden ihre Umgebung, sammeln, rennen, klettern, bauen, kämpfen und raufen oder verstecken sich. Zudem untersuchen sie ihre Umgebung und Objekte: Sie zerbrechen beispielsweise Stöcke, werfen Steine in Schluchten oder stauen Wasser“ (Weiser 2020). Solche Orte oder Plätze, die mit persönlicher Bedeutung gleichsam aufgeladen worden sind, können auch zu Lieblingsplätzen werden, die persönliche Identität begründen (vgl. Keller et al. 1989). Das bedeutet, dass Naturerfahrungen auch etwas mit der Stärkung der Subjekte zu tun haben: Unsere Naturverhältnisse und unsere Beziehung zu uns selbst hängen zusammen (Gebhard 2005), und Naturerfahrungen haben eine identitätskonstituierende Funktion (Gebhard et al. 2003). Dieser Aspekt berührt wieder die Frage, die Gegenstand des 2. Kapitels war, nämlich ob und in welcher Weise die dingliche und natürliche Umwelt etwas Analoges zu dem, was Erikson „Urvertrauen“ genannt hat, bedingen könnte. Dieser Aspekt der Identitätsentwicklung unterstreicht noch einmal, dass und wie die nichtmenschliche Umwelt etwas mit der seelischen Entwicklung zu tun hat. Der humangeographische Begriff der „place identity“ zielt auf die subjektive und emotionale Beziehung zu einem Ort (place) und bietet damit ein Konzept an, dass und wie Landschaft und Natur eine Rolle bei der Identitätskonstituierung spielen können (Korpela 1989, Lengen 2016, Relph 1976, Rose 1996, Tuan 1974). Wie amerikanische Studien (Dovey 1990, Fishwick/Vining 1992, Korpela 1992) zeigen, können Naturorte durchaus eine solche identitätsstiftende Funktion haben. Solche Orte dienen dazu, freudige und schmerzvolle Gefühle zu regulieren, die Kohärenz der eigenen Persönlichkeit zu sichern und auch das eigene Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Natur kann eine solche persönliche Bedeutung erhalten, wenn die Freiräume, die auch die Stadt bietet, genutzt werden (können). Allerdings ist auf die Gefahr hinzuweisen, dass „Natur“ vielleicht allzu umstandslos in einen unverbindlichen Freizeitbereich verbannt wird, in dem die Naturbedürfnisse von Kindern wie von Erwachsenen sozusagen ersatzweise erfüllt werden. „Licht, Luft und Sonne im Wohngebiet, das Eigenheim im Garten im pseudoländlichen Stil, der Urlaub im Hochgebirge oder am Meer… In der Fabrik, im Büro, im Geschäft brauchte man keine Rücksicht auf die Natur zu nehmen, dort war sie längst der technischen Rationalität geopfert worden“ (Bahrdt 1974, S. 160). Trotz dieses Einwandes ist jedoch mit der Forderung nach naturnahen Freiräumen auch oder gerade in der städtischen Umwelt die Hoffnung verbunden, „relative Freiräume gegenüber den Zwängen der aktuellen Kultur und Gesellschaft zu sichern, Freiräume, die nicht nur entlasten, sondern auch helfen, die autonomen Sichtweisen und Verhaltensweisen zu entwickeln, aus denen aktive Eingriffe in die Gesellschaft und Kultur entstehen können“ (Bahrdt 1974, S. 67). Deshalb gilt es, entsprechende Freiräume auch und vor allem in den Städten zu etablieren, zumal die Mehrheit der Menschen bereits in urbanen Gebieten (Vlahov/Gelea 2002) lebt. Da nützt die romantische Reminizenz an ein unbeschwertes Landleben auch nicht weiter. Vielmehr ist für die Stadtplanung zu überlegen, wie sich städtische Umgebungen so gestalten lassen, dass die gesundheits- und

5.5 Zum Zusammenhang von Natur- und Sozialerfahrungen

111

entwicklungsfördernden Wirkungen von Naturerfahrungen auch hier möglich sind (siehe Kapitel 7). Auf diese Weise könnte die Städteplanung mit Konzepten von Public Health verknüpft werden (Cold 2001, Groenewegen et al. 2006, Duhl/Sanchez 1999). Zum Schluss dieses Abschnitts sei noch einmal auf den häufig zu hörenden Einwand gegenüber den grünen oder „wilden“ Freiräumen eingegangen, dass diese (zu) gefährlich seien und dass v. a. die Versicherungsfragen ungelöst sind. Abgesehen davon, dass das Bestehen und der Umgang mit Risiken zu einer gelungenen Kindheitsentwicklung geradezu notwendig dazugehören, sind solche Befürchtungen weitgehend unbegründet: Zum einen gibt es kaum juristische Verfahren zu Unfällen auf Spielplätzen oder grünen Freiflächen (Agde 1996) und die Gefahren werden in der Regel überschätzt. Und auch die DIN-Norm formuliert: „Freude am Abenteuer und Bestehen eines Risikos als Bestandteil des Spielwerts sind im Rahmen kalkulierter spielerisch-sportlicher Betätigung erwünscht. Für Kinder nicht erkennbare Gefahrensituationen sind zu vermeiden“ (DIN 18034).

5.5 5.5

Zum Zusammenhang von Natur- und Sozialerfahrungen Zum Zusammenhang von Natur- und Sozialerfahrungen

Mit „reiner“ Naturerfahrung, mit einer abwechslungsreichen Umwelt allein, ist es natürlich auch nicht getan, zumal auch sogenannte reine Grundbedürfnisse beim Menschen stets in Verbindung mit soziokulturellen Bedingungen auftreten. Das gilt auch für das (kindliche) Bedürfnis nach Natur. Hinzu muss sicherlich auch eine sozial und personal anregende Umwelt kommen. Die Dinge der Natur, die Dinge der Welt bekommen erst eine Bedeutung innerhalb der Beziehung zu lebendigen Menschen. Das Spielen in der Natur ist oft an die Bedingung geknüpft, dass Freunde dabei sind. In diesem Zusammenhang von Bedeutung ist zudem die Erfahrung, dass durch Naturerfahrungen sich auch das Sozialverhalten von Kindern positiv verändert (Dyment/Bell 2008, O’Brien/Murray 2007, Palmberg/Kuru 2000). Dass die Erfahrung von Natur verknüpft ist mit der Beziehung zu Menschen, gilt insbesondere für kleinere Kinder, die eine personale Beziehung und damit Geborgenheit brauchen, um sich auf die Dinge der Welt, auf die Natur zubewegen zu können. Vertraute Bezugspersonen sind insofern noch oft in Sichtweite oder Rufnähe, um eine (selbständige) Aneignung von Natur zu ermöglichen (vgl. Hart 1979, S. 110ff., Muchow/Muchow 1935, S. 29ff., Moore/Young 1978, S. 95, Orth/Seggern 1977, S. 35). Schritte in die Selbständigkeit, in die abenteuerliche und bisweilen auch ängstigende (vgl. Kapitel 5.3) Natur, bedürfen gerade bei Kleinkindern einer gesicherten menschlichen Beziehung. Dieser Zusammenhang lässt sich besonders gut bei den Versteckspielen von Kindern beobachten: Das Wiederfinden, die Nähe zu Menschen, ist genauso wichtig wie die Distanz, das Alleinsein zum Beispiel in der Natur. So wird das Naturverhältnis von Kindern auch durch gemeinsame Naturerfahrungen mit Eltern oder Gleichaltrigen (vgl. Meske 2011, 269) beeinflusst. Auch wenn es nach der Naturbewusstseinsstudie 2015 für 92 % der deutschen Erwachsenen wichtig ist, Kindern die Natur nahe zu bringen (BMUB/BfN 2016, S. 61), gibt es Hinweise dafür, dass Familien 111

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5 Zur Funktion von Naturerfahrungen in der Kindheit

nicht sehr häufig zusammen mit Kindern in die Natur gehen (Brämer 2015b, S. 19). Dafür wurden in einem Familien-Naturbildungsprojekt die folgenden Gründe rekonstruiert: Zeit, Leistungsdruck, Passivität, Entfernung, Sorgen/Ängste und Medienkonsum (Fassbender/ Pfeiffer-Frohnert 2017, S. 33). Die Welt, in die das Kind hineinwächst, ist zudem nie eine rein „natürliche“; sie ist immer schon (jeweils historisch verschieden) menschlich beziehungsweise durch menschliche Perspektive getönt (siehe Kapitel 3). Das ist kein Widerspruch zu dem Gedanken, dass der Mensch auch oder geradezu v. a. von nichtmenschlichen Objekten umgeben ist und dass auch diese Objekte seine Persönlichkeitsentwicklung beeinflussen (vgl. Kapitel 2). Von Geburt an lebt das Kind in einer vom Menschen geschaffenen objektiven Welt. Zu ihr gehören die Gegenstände des täglichen Bedarfs, die Kleidungsstücke, die einfachen Werkzeuge. […] Selbst den Naturerscheinungen begegnet das Kind unter den von Menschen geschaffenen Bedingungen; die Kleidung schützt vor Kälte, die künstliche Beleuchtung erhellt die Dunkelheit der Nacht. Die psychische Entwicklung des Kindes beginnt in einer menschlichen Welt (Leontjev 1973, S. 368).

Die Elemente der nichtmenschlichen Umwelt erhalten nur innerhalb und durch menschliche Beziehungen Bedeutung und Sinn für das Kind. Die Dinge, auch Naturphänomene, haben keine Bedeutung „an sich“. Die Bedeutung konstituiert sich vielmehr in menschlichen Interaktionsprozessen und in der Auseinandersetzung mit den „Objekten“ zugleich. M. Mead zeigt in einer ethnologischen Feldstudie über die Manus in Neu–Guinea, dass die Kinder dort zwar in einer sehr anregenden natürlichen Umwelt aufwachsen, jedoch diese nur wenig nutzen können, geradezu apathisch werden, weil die Erwachsenen ihnen sehr wenig personale Zuwendung und damit Anregung geben (Mead 1966, vgl. auch Tuan 1978). So ist eben „die Bedeutung des Dinges“ nicht „als Ausfluss seiner inneren Beschaffenheit“ zu verstehen, sondern geht aus den „Interaktionsprozessen zwischen verschiedenen Personen“ hervor (vgl. Blumer 1973, S. 83). Dieser Beziehungsaspekt des Mensch-Natur-Verhältnisses ist in Kapitel 2.1 herausgestellt worden. Auch die subjektive Bedeutung der beziehungsweise die Beziehung zur Natur lässt sich nicht von der Beziehung zu (frühkindlichen) Bezugspersonen trennen. Die Tönung, die die Beziehung zu den Dingen erhält, spiegelt auch die Tönung wieder, die in der Beziehung zu Bezugspersonen gelegen hat. Abgesehen davon, sind natürlich Bezugspersonen in gewisser Weise auch Vorbilder für die Kinder. So überträgt sich innerhalb der Beziehung zwischen Kind und (beispielsweise) Mutter die Bedeutung, die die Dinge, auch die Dinge der Natur, für die Mutter haben. So werden nicht nur die Gegenstände, also auch Naturphänomene, gewissermaßen zu Merkzeichen der Beziehung zu den primären Bezugspersonen, sondern die Bedeutung und die Wertigkeit, die die Natur für die Eltern hat, überträgt sich auf diese Weise in frühkindlichen Szenen auf die jeweils nächste Generation. Die Einstellungen und Wertmaßstäbe der Eltern offenbaren sich z. B. in der häuslichen Wohnumwelt und prägen das Wahrnehmungsmuster von Kindern. Wie die Eltern mit Nachbarn umgehen, welche Bilder an der Wand hängen, ob und wie Zimmerpflanzen gepflegt werden, ob es Haustiere

5.5 Zum Zusammenhang von Natur- und Sozialerfahrungen

113

gibt, wie mit „Ungeziefer“ umgegangen wird – in solchen und ähnlichen Szenen zeigt und überträgt sich das jeweilige Verhältnis zur Natur. Da die dingliche Organisation der Umgebung auf die psychische Entwicklung und das soziale Verhalten einen Einfluss hat, müsste sich auch durch eine wohlüberlegte Gestaltung der materiellen Umgebung psychosoziales Verhalten beeinflussen lassen. Dabei ist es mit einer möglichst naturnahen Organisation der frühkindlichen Lebenssituation allein auch nicht getan. Die dinglichen und die personalen Erfahrungen des kleinen Kindes gehören nämlich – wie gesagt – wechselseitig zusammen. So betont der Verhaltensbiologe Hassenstein (1980, S. 131) völlig zutreffend, dass drei Dinge wichtig sind, damit Kinder sich auf wahrhaft menschliche Weise entfalten können: „Innere Freiheit, dingliche Möglichkeiten und die geeigneten menschlichen Partner.“ Es ist z. B. denkbar, dass Kindern durch eine naturnahe Wohnumwelt eine entsprechend positive Beziehung zur Natur nahegelegt wird. Wenn die Bezugspersonen jedoch nicht die dazu passenden Einstellungsmuster repräsentieren, sondern nur gewissermaßen den äußeren Rahmen dafür bieten, werden Konflikte, für die es noch kaum Verarbeitungsmöglichkeiten gibt, die Folge sein. Insofern ist von Naturerfahrung allein seelische Gesundheit und auch ein umweltbewusstes Denken und Verhalten nicht zu erwarten. Isolierte Naturerfahrungen wären, so wichtig sie sind, für sich allein genommen seelenlos, eine trügerische und folgenlose Idylle.

113

6

Zur Bedeutung der Naturästhetik 6 Zur Bedeutung der Naturästhetik

„Natur ist, wo es schön ist – und Freiheit.“ (Junge, 9 Jahre)

Naturerfahrungen haben auch eine ästhetische Dimension. Pflanzen, Tiere, Landschaften sind nämlich Gegenstand sinnlicher Erfahrung und haben damit immer auch ästhetische Momente. Adolf Portmann betont, wie sehr gerade das direkte sinnliche Erleben von Natur – und zwar in durchaus kindlicher Dimension und Erlebnisweise – die rationale Denkfähigkeit des Menschen bedinge oder geradezu erst ermögliche. Nur wenn diese primäre, direkte, sinnliche und auch handelnde Erfahrung mit der Natur hinreichend zu ihrem Recht komme, könne sich das Denken entfalten. Dazu bedarf es jedoch der „Stärkung des sinnfälligen Erlebens der Natur“. Denn: Der Weg dazu geht durch die ästhetische Funktion, er geht über die Welt der Sinne, der Qualitäten – er geht über […] die Wirkung der Naturdinge und darin ganz besonders die unabsehbare Fülle des Lebendigen (Portmann 1963, S. 258).

Bei Menschen, die ein Gefühl für die Schönheit der Natur haben, scheint ein Zusammenhang von Naturverbundenheit (Mayer/McPherson Frantz 2004) und seelischem Wohlbefinden besonders ausgeprägt zu sein (Zhang et al. 2014). Speziell nachgewiesen ist dieser Zusammenhang im Hinblick auf eine Steigerung des Selbstwertgefühls. Hier werden sogar bisweilen evolutionäre Hintergründe angenommen (Etcoff 2011). Dutton (2009) z. B. vermutet, dass ein ausgeprägtes Schönheitsempfinden deshalb „überlebenswirksam“ sei, weil schöne natürliche Umwelten eher Nahrungsquellen anzeigen würden. Zudem gibt es Hinweise, dass der Sinn für Naturschönheit mit Lebenszufriedenheit korreliert (Diessner et al. 2008, 2013). In diesem Kontext wird zudem ein Zusammenhang von Schönheitssinn und Gerechtigkeits- bzw. Fairnessempfinden postuliert (Diessner et al. 2008, 2009).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Gebhard, Kind und Natur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21276-6_6

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116

6.1 6.1

6 Zur Bedeutung der Naturästhetik

Naturästhetik bei Kindern? Naturästhetik bei Kindern?

Welche Bedeutung hat nun die besagte „ästhetische Funktion“ für Kinder? Die bisher ausgebreiteten Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass ein kontemplatives, romantisches, betrachtendes „Erleben“ von Natur, wovon Erwachsene vielleicht träumen, eher nicht dem kindlichen Zugang zur Natur entspricht. In Kapitel 5 wurde ausführlich dargelegt, dass ein wesentlicher Wert von Naturerfahrungen die damit verbundene Freizügigkeit ist. Dazu kommt die mit der Naturerfahrung einhergehende Aktivität: Kinder setzen sich mit der Umwelt, mit der Natur, aktiv auseinander und eignen sie sich auf solche Weise an. Sie gestalten dabei die Umwelt nicht selten auch um, was bisweilen durchaus im Gegensatz zu den Vorstellungen und Planungen Erwachsener bei der Gestaltung von Freiflächen und Erholungsgebieten geschieht. Der kindliche Eigensinn, soweit es die Annäherung an Naturphänomene betrifft, wird auch darin deutlich, dass Dinge, Plätze, Nischen Bedeutungen erhalten, die für Erwachsene belanglos sind. Trotzdem ist natürlich die Naturerfahrung eine sinnliche Erfahrung, die den Bereich des Ästhetischen berührt. Für die Wahrnehmung der ästhetischen Qualität der (Natur-) Umwelt bedarf es zudem bestimmter Erfahrungen oder geradezu Kompetenzen. In diesem Kapitel sollen nun einige Überlegungen und Befunde darüber zusammengestellt werden, welche Bedeutung ästhetische Erfahrungen für Kinder im Hinblick auf ihr Naturverhältnis haben können. Die Befunde sind durchaus widersprüchlich, was vor allem mit dem jeweils implizierten Ästhetikbegriff zu tun hat. Während in direkten Befragungen ästhetische Zugänge zur Natur eher wenig geäußert werden, offenbaren sich diese eher in Gesprächen mit Kindern über Natur, in denen nicht direkt nach der Schönheit der Natur gefragt wird. Deshalb werden in diesem Kapitel viele originalen Äußerungen von Kindern und Jugendlichen zitiert (ausführlich in Billmann-Mahecha/Gebhard 2004, 2009, Früchtnicht et al. 2020). In diesem Zusammenhang ist auch nach kindlichen Formen von Ästhetik zu fragen, vor allem, was ihre sinnliche Wahrnehmungsweisen von Natur angeht. Dass Kinder nicht die ästhetischen Vorlieben und Bedürfnisse von Erwachsenen haben, heißt nämlich nicht, dass sie gar keine haben. Johannsmeier (1985) beobachtete in einem Kindergarten Kinder über eine längere Zeitperiode auch im Hinblick auf ihr Verhältnis zu Pflanzen. Sehr deutlich wird bei dieser Untersuchung, dass der Wert von Pflanzen für Kinder weniger im ästhetischen als vielmehr im konkreten und pragmatischen Bereich liegt. Nach den Befunden von Johannsmeier ist die wichtigste Pflanze der Baum, und zwar deshalb, weil man auf ihm klettern und von ihm Früchte ernten kann. Sträucher werden genutzt als Versteckmöglichkeiten oder zum Abreißen von Zweigen zum Zwecke der Herstellung von Gewehren, Schwertern, Spazierstöcken u. ä. Blumen werden manchmal gepflückt, um sie der Mutter zu schenken, manchmal auch als Haarschmuck bei den Mädchen. Kinder, die keine oder nur wenig Gelegenheit hatten, praktischen und konkreten Umgang mit Pflanzen zu haben, äußerten mehr oder weniger gelangweilt, die Pflanzen seien zum Wachsen und Angucken da. Namentlich werden vor allem solche Pflanzen genannt, die eine konkrete Bedeutung haben (Spielen,

6.1 Naturästhetik bei Kindern?

117

Essen). Der ästhetische Wert scheint untergeordnet zu sein bzw. wird von den Kindern nicht wahrgenommen oder als Wert formuliert. Nach den Befunden von Johannsmeier werden beispielsweise Sträucher, wenn überhaupt, nach ihrer „kindlichen Funktion“ benannt: „Juckpulverpflanze“ oder „Knallbeerenstrauch“. Für Kinder sind an der Natur nicht die Farbenvielfalt der Blumen oder das Rauschen der Bäume interessant, sondern überwiegend pragmatische Aspekte und v. a., dass man hier unkontrolliert und freizügig spielen kann. Das wird durch eine phänomenologische Studie aus den Niederlanden sehr deutlich bestätigt. Auf Grund systematischer Beobachtungen und Interviews in mehreren Kindergärten kommt Margadant-van Arcken (1989, S. 17) zu folgendem Schluss: „[…] a beautiful landscape does not give aesthetic pleasure to children. For them a landscape is an invitation to activity.“ Die ästhetische Komponente im Sinne einer unmittelbaren Ästhetisierung von Natur ist also bei der Landschafts- und Naturwahrnehmung bei Kindern zumindest nachgeordnet. Der Anreiz zu Aktivität führt entsprechend zu ganz pragmatischer Naturnutzung: Buden bauen, Früchte ernten, Blumen pflücken. Solche praktischen Gründe stehen auch in einer Studie mit Grundschulkindern von Pohl (2006) im Vordergrund: Die meisten Kinder betonen einen instrumentellen (71 %) und erkundenden (62 %) Zugang. Der ästhetische (25 %) und kontemplative Zugang (23 %) ist zwar nachgeordnet, aber immerhin erwähnenswert. So staunt Pohl (2006, S. 124f.) über den hohen Anteil von Kindern, „welche Tätigkeiten des Pflückens von Bäumen oder Beeren bzw. des Sammelns von Tieren, Pflanzen oder Gegenständen sowie erkundende Aktivitäten wie das Fangen und Betrachten von Tieren nannten.“ Bei Klemm (1974 S. 159) wird der pragmatische Nutzen von Pflanzen erst von älteren Kindern (11 bis 13 Jahre) betont als Nahrung, als Handlungsobjekt, als Medizin, während die jüngeren Kinder (8/9 Jahre) neben dem Handlungswert auch den ästhetischen Wert von Pflanzen sehen (Klemm 1975, S. 159). Freilich scheint Klemm in ihren Überlegungen von einem eher äußerlichen und instrumentellen Ästhetikbegriff auszugehen, wenn sie zugleich den 8- bis 9-Jährigen einen eher nüchternen Bezug zu Pflanzen zuweist: „Für sie stellten Pflanzen jederzeit austauschbare Objekte dar, die zum Zwecke der ästhetischen Erbauung für den Menschen geschaffen waren, als Verkaufsobjekte in den Blumenläden stehen und an besonderen Tagen, wie dem Muttertag oder dem Geburtstag, eine gewisse Rolle spielen“ (Klemm 1974, S. 160). Bei Scherf (1988) scheinen „ästhetische Empfindungen“ maßgeblich für das kindliche Interesse an Pflanzen zu sein (vgl. Finke et al. 1999). Die Daten ihrer Untersuchung zeigen jedoch deutlich, dass dies zumindest für die jüngeren Kinder (im Vergleich zu Studierenden) nur sehr eingeschränkt zutrifft. Beispielsweise wird die Brennnessel aus sehr pragmatischen Gründen, nämlich schmerzhaften Erfahrungen, abgelehnt. Auch bei anderen Pflanzen werden praktische Aspekte von den Kindern hervorgehoben: die Heilwirkung bei der Kamille oder das Nektaraussaugen bei der Weißen Taubnessel. Die Betonung der Schönheit der Pflanzen ist eigentlich in dieser Studie erst bei Studierenden bestimmend. Vielleicht ist die ästhetische Komponente im Verhältnis zu Pflanzen ein Gefühl von Erwachsenen, das auf Kinder projiziert wird, auch wenn Kinder dies dann als Ästhetisierung 117

118

6 Zur Bedeutung der Naturästhetik

bisweilen übernehmen. So ist nach den Befunden von Scherf (1988) die Rose für Kinder die bekannteste und beliebteste Pflanze. Auch die Studie zur Bedeutung von Naturerfahrungen von Bögeholz (1999) ergibt im Hinblick auf die Ästhetik, dass Jungen in allen Altersstufen nur wenig Sinn für diesen Naturzugang haben, bei Mädchen steigt dagegen die Bedeutung der Ästhetik mit dem Alter an. Nach Lude (2001) dagegen spielt die ästhetische Dimension der Naturerfahrungen (Schönheit der Natur: Bewegungen, Formen, Farben, Gerüche, Geräusche) von Jugendlichen eine geradezu zentrale Rolle (vgl. auch Lindemann-Matthies 2005), übertroffen nur von der sozialen Dimension (Heimtiere). Auch in den Gesprächen mit Jugendlichen von Früchtnicht (2020, siehe Kapitel 5) wurde die „Schönheit“ der Natur ausgesprochen häufig erwähnt. In eigenen Untersuchungen zur ästhetischen Dimension von Naturerfahrungen (ausführlich Billmann-Mahecha/Gebhard 2004, 2009) konnten wir in Kindergesprächen ästhetische Argumente in mehrfacher Hinsicht finden. So wird die „Schönheit“ der Natur von Kindern und Jugendlichen häufig als Argument genutzt, vor allem um die Attraktivität des Spielens im Freien hervorzuheben. Der handelnde Umgang mit Natur, der häufig als Gegensatz zum ästhetischen Zugang zur Natur charakterisiert wird, steht insofern durchaus in Verbindung mit ästhetischen Empfindungen. Auch Gabriel (2007) konnte ästhetische Aspekte in einer Gruppendiskussion mit achtjährigen Kindern deutlich und auch relativ häufig rekonstruieren: Der Spaziergang durch den Wald ist ein „Genuss“, und Pflanzen werden mit Glück assoziiert: „Damit man glücklich ist, sonst gäbe es ja nur Erde. … Und dann säh’s auch voll traurig aus.“ Schönheit als klassisches Konzept der Ästhetik wird dabei regelmäßig erwähnt, wobei unter „schön“ nicht nur das Gefällige, Romantische, sondern auch das Spannungsreiche, Ambivalente zu verstehen ist. Retzlaff-Fürst (2008) zeigt sogar, dass Bodenlebewesen, die zunächst gar nicht als schön empfunden wurden, bei längerer Beschäftigung sogar als ästhetisch und schön interpretiert werden können. Die (philosophische) Ästhetik hat sich von jeher mit dem Begriff des Schönen auseinandergesetzt und ihn in wechselnder Weise zu bestimmen versucht. Wegen der Relativität und Geschichtlichkeit dessen, was aus welchen Gründen als „schön“ bezeichnet wird, versuchen moderne Ästhetik-Konzeptionen, auf den Begriff oder die Idee des Schönen ganz zu verzichten. Da aber sowohl im alltäglichen Verständnis von Ästhetik als auch in den ästhetischen Urteilen von Kindern die Kategorie Schönheit nach wie vor eine zentrale Rolle spielt, ist es sinnvoll, bei kindlichen Naturbeziehungen auch die Attributierung von „schön“ zu berücksichtigen. Hilfreich könnte hierfür die psychologische Differenzierung sein, die Neumaier (1999, S. 150) vorschlägt und die nicht auf äußere Objektmerkmale, sondern auf unterschiedliche Mensch-Objekt-Beziehungen abhebt: Danach bezeichnen wir etwas als „schön“, wenn entweder der betreffende Gegenstand etwas an sich hat, weshalb wir ihn begehren, oder wenn wir die Anziehung, die der Gegenstand auf uns ausübt, als etwas Reizvolles erleben. Eine dritte Möglichkeit der Zuweisung von „schön“ besteht darin, dass wir den Gegenstand – in Distanz zu unserem Begehren – allein aufgrund seiner Merkmale schätzen.

6.2 Ästhetisierung als Moralisierung

119

Einige Beispiele: „Und Blumen, und dann da die Tiere, und daß das auch schön aussieht, und daß die Tiere da auch Freiheit haben.“ (Mädchen, 9 Jahre) „Natur ist für mich, das sieht gut aus, und wenn da keine Natur wäre, dann wäre das nicht schön, dann wären keine Tiere da.“ (Mädchen, 10 Jahre) „Wir haben überall Pflanzen, auch im Wintergarten, und wir haben auch drei Apfelbäume. Das sieht auch viel schöner aus, wenn man Pflanzen hat. Sieht hässlich aus, wenn nicht.“ (Junge, 8 Jahre) „Meine Oma hat Brennesseln, meine Oma hat alles. Weißt du, wie schön das ist?“ (Junge, 10 Jahre) „Natur ist für mich, das sieht gut aus, und wenn da keine Natur wäre, dann wäre das nicht schön, dann wären keine Tiere da.“ (Mädchen, 10 Jahre)

6.2 6.2

Ästhetisierung als Moralisierung Ästhetisierung als Moralisierung

Insbesondere die dritte Bedeutungsrichtung im Sinne von Neumaier (1999) impliziert auch eine ethische Ebene, in der die Achtung und Anerkennung des Anderen eine zentrale Rolle spielt. Das „Andere“ ist in unserem Falle die Natur; angesprochen ist hier also der – sicherlich nicht ausreichende, aber auch nicht zu vernachlässigende – Aspekt der Achtung der Natur aufgrund der ihr zugeschriebenen Schönheit. Auch hierfür einige Beispiele: „Da wo ich reiten gehe, da sind auch so schöne Bäume, und da wird auch gebaut […], und die werden jetzt alle nach und nach abgeholzt, und ich denke, man sollte sich freuen, wenn noch was da ist.“ (Mädchen, 10 Jahre) „Und ich hab gemerkt, dieses Blatt war echt schon heftig eigentlich, ich würde es sogar einrahmen so. Der Wald hat mich schon an dem Tag verändert, muss ich ganz ehrlich sagen.“ (Junge, 12 Jahre) Ästhetische Argumente sind also auch bereits bei Kindern eine Argumentationsfigur, um die Natur als eine schützenswerte herauszustellen (siehe Kapitel 8). Die Ästhetisierung von Natur kann insofern auch als eine Moralisierung von Natur fungieren. Bei der Frage, ob ein Baum, der auf ein Wohnhaus zu stürzen droht, gefällt werden soll, kommen elfjährige Kinder auf die Idee, den Baum abzustützen. Als Begründungen führen die elfjährigen Mädchen unter anderem an: 119

120

6 Zur Bedeutung der Naturästhetik

„Weil er schön ist.“ „Weil er sowieso gut ist […] zum Picknicken und zum Klettern.“ „Ja und auch, ich mein, es sind ja auch Erinnerungen und so. Und mit jedem Baum, den wir absägen, kriegen wir weniger Sauerstoff.“ Dass mit ästhetischer Naturwahrnehmung moralische Aspekte berührt werden, kann in zwei Richtungen gedacht werden: Zum einen ist da der auf Kant zurückgehende Gedanke, dass das Naturschöne die Moralität des Menschen selbst befördere. Zum anderen kann in der ästhetischen Wahrnehmung von Natur ein zentrales Argument für den Erhalt der Natur gesehen werden. In dieser Hinsicht wird also die Natur moralisiert, indem sie durch die ästhetische Interpretation gewissermaßen zu einem Moralobjekt wird. Kants Überlegungen zum Naturschönen und damit in Verbindung zum Erhabenen finden wir in der „Kritik der Urteilskraft“ (1790). Kant behauptet einen Zusammenhang zwischen der Hochschätzung des Naturschönen und einer moralischen Gesinnung: Das ist die These, „daß ein unmittelbares Interesse an der Schönheit der Natur zu nehmen […] jederzeit ein Kennzeichen einer guten Seele sei; und daß, wenn dieses Interesse habituell ist, es wenigstens eine dem moralischen Gefühl günstige Gemütsstimmung anzeige, wenn es sich mit der Beschauung der Natur gerne verbindet“ (Kant 1977, 395). Dagegen ist allerdings immer wieder eingewandt worden, dass das Naturschöne nicht nur von edlen Menschen genossen wird (vgl. Lesch 1996, 37). Im Einzelnen mutmaßt Kant in der „Kritik der Urteilskraft“ (§ 86), dass der Mensch, wenn er sich „umgeben von einer schönen Natur, in einem ruhigen heitern Genusse seines Daseins befindet“, das Bedürfnis hat, „irgend jemand dafür dankbar zu sein“. Diese Dankbarkeit könnte – auch wenn dabei religiöse Gefühle beteiligt sein mögen – durchaus in moralische Gefühle oder Motivationen transformierbar sein. Passend hierzu ist auch Nortons Unterscheidung von „demand values“ und „transformative values“. Letztere ermöglichen es, höherstufige Werturteile über eigene und fremde Präferenzmuster zu fällen. Das Naturschöne ist für Norton ein zentraler „transformative value“, wobei das Erleben und der Genuß des Naturschönen dazu führen kann, ein sinnvolleres und auch moralisch besseres Leben zumindest anzustreben. Insofern erscheint die Natur als eine moralische Ressource, nämlich „als Möglichkeit für uns, ein eigenes Wertsystem zu entwickeln, zu verändern und zu verbessern“ (Norton 1992, S. 223). Das Kantische Argument, dass der Mensch selbst durch das Naturschöne veredelt würde, ist allerdings im heutigen Naturästhetikdiskurs eher nachgeordnet. Vielmehr wird häufig mit der ästhetischen Naturwahrnehmung die Hoffnung verbunden, dass damit die Natur als schützenswert erscheint. Es geht also in dieser Hinsicht um eine Moralisierung von Natur selbst und nicht des Menschen. Tragend ist dabei die Auffassung, dass – da die ökologischen, ökonomischen, ethischen Argumentationen für den Naturschutz allesamt logisch widerlegbar seien – einzig die Schönheit der Natur als Argument für deren Erhalt übrig bleibe. So ist im Bundesnaturschutzgesetz §1(1),4 zu lesen, dass „die Vielfalt, Eigenart und Schönheit von Natur und Landschaft […] als Voraussetzung für seine [des Menschen] Erholung in Natur und Landschaft nachhaltig“ zu sichern seien. Allerdings gibt es außerhalb des Naturethikdiskurses natürlich auch verschiedene Ansätze, die die

6.2 Ästhetisierung als Moralisierung

121

Bedeutung von Naturerfahrungen für die Entwicklung von Identität und einem „guten Leben“ als zentral ansehen. Diese eher psychologischen Zusammenhänge sind für dieses Buch sehr zentral und werden ausführlich in Kapitel 2 (im Hinblick auf die Identitätsentwicklung), in Kapitel 5 (im Hinblick auf die seelische Entwicklung von Kindern) und in Kapitel 7 (im Hinblick auf Gesundheit und Wohlbefinden) betrachtet. Die ästhetischen Argumente werden jedenfalls für die gewichtigsten (anthropozentrischen) Argumente für den Naturschutz gehalten (z. B. Birnbacher 1980, Lesch 1996). Das gilt auch dann, wenn die naturästhetische Erfahrung als „bloßer Schein“ eingeschätzt wird. Die Natur wird also bei einer derartigen naturästhetisch unterfütterten Moralisierung als eine schützenswerte interpretiert. Trotz der damit verbundenen anthropozentrischen Perspektive erscheint hier die Natur als ein moralisches Objekt, das auch einen eigenwertigen moralischen Status hat, der mit der ästhetischen Perspektive evident wird. So lässt Habermas die „Erläuterungen zur Diskursethik“ mit dem Hinweis enden, dass sich in der ästhetischen Erfahrung der Natur „die Dinge gleichsam in eine unnahbare Autonomie und Unberührbarkeit“ zurückzögen und dann ihre „versehrbare Integrität so deutlich“ hervorkehrten, „daß sie uns um ihrer selbst willen – und nicht bloß als erwünschter Bestandteil einer präferierten Lebensform – unantastbar erscheinen“ (Habermas 1991, S. 226). Auch Landschaftsplaner und Ökologen vertreten die Auffassung, dass die Zerstörung landschaftlicher Natur „zuerst ästhetisch bewußt“ wird (Erhardt 1996, S. 143, Nennen 1991, S. 103). Auf ein Problem sei noch hingewiesen: Wenn nämlich die Ästhetik als „bloßer Schein“ beurteilt wird, wird auch eine auf ästhetischer Erfahrung beruhende Argumentation für den Naturschutz brüchig und trügerisch (so Birnbacher 1980, S. 131, Seel 1991, Krebs 1997). Das Problem dabei ist, dass der Sinn für das Naturschöne stark kulturrelativ ist. „Wir können naturästhetische Ideale kulturgeschichtlich rekonstruieren, aber kaum prognostisch antizipieren“ (Ott 1998, S. 226). Von der Pfordten (1996, S. 70 f.) zeigt, dass und wie der naturästhetische Zeitgeschmack ständigem Wandel unterworfen war und hält vor diesem Hintergrund die naturästhetischen Argumente für den Naturschutz für schwach. Die Relativität dessen, was an der Natur als „schön“ bezeichnet wird, scheint auch Kindern schon bewusst zu sein. So diskutierten in einem Kindergespräch z. B. vier Zehnjährige eine ganze Zeit lang darüber, ob bzw. welche Unterschiede man zwischen Unkraut und Blumen machen sollte. Hier ein kleiner Gesprächsausschnitt: „Warum kann man Unkraut nicht als schöne Blume bezeichnen, die sehen doch gar nicht häßlich aus?“ […] „Was ist der Unterschied zwischen einer Blume und Unkraut? Gar nichts, beide sind wie Bäume.“ „Oder wenn da eine Blume steht, letztens wollte ich eine abreißen, dann sagst du: ,Laß’ doch, die sieht doch schön aus‘. Warum sagst du das nicht, wenn ich Unkraut rupfe?“ […] „Ich rupf ’ das so aus. Jeder hat einen anderen Geschmack. Soll ich jetzt einfach die Rosen rausrupfen, damit das Unkraut wachsen kann, oder das Unkraut rausreißen, damit die Rosen wachsen können?“ „Nein!“ 121

122

6 Zur Bedeutung der Naturästhetik

„Man rupft gar nichts raus, dann wächst beides.“

6.3 6.3

Kulisse und Atmosphäre Kulisse und Atmosphäre

Die Atmosphären, die wir bei Naturerfahrungen erleben können, sind Ausdruck der emotionalen Bedeutungen, die wir als Folge unserer Beziehung zur Natur mit dieser verbinden. Subjektive Bedeutsamkeit und phänomenale Wahrnehmung sind in der sympathetischen Atmosphäre – so habe ich in Kapitel 2.1 bereits argumentiert – vereint. Das Erleben von Atmosphären findet danach in einem Übergangsbereich zwischen wahrnehmendem Subjekt und den objektivierbaren Phänomenen der Natur statt (vgl. Hauskeller 1995). Der u. a. von Böhme (2014) in naturästhetischer Hinsicht ausgearbeitete Begriff der Atmosphäre eignet sich sehr gut, den Moment der Erfahrung, in dem die Beziehung zu äußeren Objekten und die Beziehung zu sich selbst (bzw. entsprechender Deutungen) zusammengehen, zu fassen. In der ökologischen Naturästhetik im Sinne von Böhme geht es nicht primär um Urteile wie in der traditionellen Ästhetik, die fast ausschließlich um die Entwicklung von Beurteilungskriterien von Kunstwerken kreiste. Wir erleben und empfinden bei Naturerlebnissen nicht die Natur (an sich), sondern Atmosphären, in der und in die Naturaspekte und Selbstanteile zusammenfließen. Damit trifft Böhme von einer anderen Perspektive genau den Aspekt, den ich bei meinen Überlegungen zur psychischen Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt herausgearbeitet habe. Die Atmosphären „befinden“ sich sozusagen im intermediären Bereich im Sinne von Winnicott (siehe Kapitel 2.4), sie nehmen Aspekte der subjektiven Verfassung des Wahrnehmenden auf, ebenso wie sie etwas mit dem Objektbereich zu tun haben. Diese Paradoxie ist das, was die Atmosphären kennzeichnet. Die Argumentation von Böhme im Hinblick auf die Naturästhetik ist analog zu den im 2. Kapitel entfalteten symboltheoretisch inspirierten Überlegungen, dass und wie in Atmosphären Selbst und Welt zusammenkommen. Auch das ozeanische Gefühl, wie Freud es als Folge der Verschmelzung von Subjekt und Objekt beschrieben hat, ist in diesem Sinne als eine ästhetisch zu fassende Atmosphäre zu verstehen. Das Atmosphärische wird besonders deutlich, wenn Natur zu riechen ist. Dadurch verbreitet sie Atmosphäre. Ein echter Tannenbaum zum Beispiel „riecht dann nach Wald. Das ist dann mehr weihnachtlich, irgendwie“ (Junge, 10 Jahre). „Und der große, also der echte Tannenbaum riecht auch viel besser, dann riecht die Wohnung viel besser, weil man am Heiligen Abend die Weihnachtsgeschenke auspackt, dann hat man immer noch den Geruch dazu, dann riecht man den noch.“ (Junge, 10 Jahre) „Die riechen ja auch ganz, die Pflanzen und wenn man denn nun so ’n muffiges Heim hat, und denn, und denn tut man da ’n paar Pflanzen rein und denn, und das riecht auch also ’n bisschen. Und wir haben nämlich ganz viele.“ (Mädchen, 9 Jahre)

6.3 Kulisse und Atmosphäre

123

Durch die Unmittelbarkeit, gewissermaßen die „Aufdringlichkeit“ des Atmosphärischen ergibt sich auch ein Bezug zur moralischen Dimension des Naturschönen. „Es wäre schöner, wenn jetzt mehr Leute nach der Natur achten würden, weil diese Bäume, die machen alles so schön, und man riecht die Bäume auch. Die Tannen und so, das riecht ganz schön manchmal, und das riecht viel besser als Autoabgase.“ (Junge, 11 Jahre) Die Atmosphären werden also nicht einsinnig von den Naturphänomenen verursacht, sondern sind ein Amalgam von Selbst und Welt. In die Atmosphäre fließen Selbstanteile und Weltanteile zusammen und dies kann man mit Böhme (2014) als eine ästhetische Erfahrung interpretieren. „Es ist einfach die ganze Atmosphäre und man riecht ja auch den Wald. Du stehst da drinnen und du kriegst eigentlich gar nicht so viel mit. Du hörst die Vögel. Du nimmst eigentlich alles ganz anders wahr.“ (Junge, 13 Jahre) Durch das Atmosphärische ist im subjektiven Empfinden die Trennung von Mensch und Natur in gewisser Weise aufgehoben, weil wir uns eben in einem Zwischenbereich befinden. Das kann dann etwas mit einem Gefühl von Unentfremdetheit zu tun haben: „Da braucht man auch nicht irgendwie viel reden oder so oder auch mit anderen irgendwie kommunizieren, weil die Natur ist da in dem Moment einfach alles, was man braucht oder was einen irgendwie erfüllt. Das klingt jetzt so kitschig, aber das ist, es ist so.“ (Mädchen 13 Jahre) Das Atmosphärische bei Naturerfahrungen wird häufig mit dem Begriff der Kulisse abgewertet. Damit wird zugleich behauptet, dass Menschen, die die Natur „lediglich“ als Kulisse erleben, zu dieser keine wahrhaftige Beziehung entwickeln würden oder könnten (Brämer 2006, S. 38). Wie die Beispiele und auch die theoretischen Überlegungen in diesem Abschnitt gezeigt haben, greift diese Kritik zu kurz, weil im kontemplativen Erleben von Natur Kulisse und Atmosphäre sich zumindest sehr nahe kommen. Dies ist ein Plädoyer, das Kulissenhafte unserer Naturbeziehungen, wie es sicherlich häufig beim Wandern (Kreissl/Dittmer 2018) zu konstatieren ist, nicht als reine Äußerlichkeit zu diskreditieren. „Ich finde es interessant, dass es so verschieden ausschaut (…) Und dann gucke ich halt, was man so gut fotografieren könnte“ (Schülerin, 7. Klasse, Kreissl/Dittmer 2018, S. 75). Auch wenn sich diese Momente gewissermaßen beiläufig und ohne bewusste Hinwendung zur Natur vollziehen können, sind sie deshalb nicht gering zu achten. Im Gegenteil: Atmosphären sind eben nicht zielgerichtet herstellbar, sondern sind nur denkbar als absichtslose und gleichsam zugefallene Empfindungen ohne besonderen Intensitätsanspruch. 123

124

6 Zur Bedeutung der Naturästhetik

Atmosphärisch erlebte Naturkulissen sind in einem Übergangsraum (siehe Kapitel 2.4 und 2.5) angesiedelt, der eine Verbundenheit von Mensch und Natur ermöglicht, wenn auch nicht determiniert. Angesichts der Naturatmosphären vermengen sich dabei Selbst und Natur und auf diese Weise schwingen bei entsprechenden Resonanzen bei Naturerfahrungen immer auch Selbsterfahrungen mit, auch wenn uns das nicht immer explizit bewusst ist. Und auch in der Naturerfahrungspädagogik wird dieser potentielle Selbstzugang stark gemacht: Es geht um „Selbsterkenntnis und -stärkung und nicht um Naturerkenntnis und -verstehen“ (Maaßen 1994, S. 126). Dass die Ästhetik der Natur dabei nicht um ihrer selbst willen eine Bedeutung hat, sondern eher ein Anlass, geradezu eine „Bühne“ für Selbstbegegnungen ist, ist nicht als Geringschätzung der Natur misszuverstehen, sondern als ein exklusiver Naturzugang, der dem Menschen als „animal symbolicum“ adäquat ist. Und indem die Natur auf diese Weise zum symbolischen Spiegel des Menschen wird, ist sie mehr als bloße Ressource, sondern gewinnt eine geradezu humane Qualität, was Weber (2014) in einer überindividuellen Lebendigkeit begründet: Wir erfahren uns selbst als lebendig angesichts der Erfahrung der lebendigen Natur um uns herum.

6.4 6.4

Das Naturschöne als Element eines guten Lebens Das Naturschöne als Element eines guten Lebens

Durch die Anbindung der Naturästhetik an ein gelingendes, ein gutes Leben wird die Naturästhetik Seels zu einer eudämonistischen Ethik der Natur. Natur sei deshalb zu erhalten oder zu schützen, weil schöne Natur ein Raum für freie und nicht-instrumentelle menschliche Lebensweisen ist. Ein gutes Lebens erfordert also die Möglichkeit der Erfahrung des Naturschönen. Naturschutz wird so „ein Gebot der sozialen und politischen Rücksicht gegenüber der Möglichkeit individueller Entfaltung“ (Seel 1991, S. 341). Diese mit Ästhetik verbundene naturethische Argumentation stellt den Menschen in das Zentrum der Moralisierung: Die Natur ist um des guten Lebens der Menschen willen zu erhalten, nicht um ihrer selbst willen. Auch bei den Überlegungen zum Naturbegriff (Kapitel 3) haben ästhetische Dimensionen eine besondere Rolle gespielt. Wie dort dargelegt, unterscheidet Seel (1991) drei Weisen der ästhetisch-sinnlichen Wahrnehmung von Natur: die „Kontemplation“ als Modus sinnfremder Naturbegegnung, die „Korrespondenz“ als Modus sinnhafter Naturbegegnung und die „Imagination“ als Modus bildhafter Naturbegegnung. Das ungehinderte und beglückende Zusammenspiel dieser Komponenten macht das „Gute“ an der naturästhetischen Wahrnehmung bzw. eines entsprechenden Lebens aus. Eine derartige Erfahrung ist subjektiv beglückend und ist deshalb um ihrer selbst willen wertvoll. Der Einfluss auf die subjektive Verfassung ist sehr deutlich: Der beglückende Effekt stellt das Selbst in den Mittelpunkt des Geschehens, die Naturphänomene nehmen als ästhetische Einfluss auf die subjektive Selbst- und Weltinterpretation.

6.4 Das Naturschöne als Element eines guten Lebens

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„Die kontemplative Wahrnehmung verweilt bei den Erscheinungen, die ihr Gegenstand aufweist, sie ergeht sich in den Unterscheidungen, die sie ihrem Gegenstand abgewinnt, ohne darüber hinaus auf eine Deutung zu zielen“ (Seel 1991, 39). Diese Art der Wahrnehmung zielt auf das in gewisser Weise sinnfreie Spiel der Naturphänomene und ist nicht zu verwechseln mit irgendeiner Art von mystischer oder magischer Naturauffassung. „Ich mein’, du findest das doch auch schön, wenn da hundert Wildgänse über dir fliegen.“ (Junge, 13 Jahre) „Und wenn die Äste (eines dicken Baumes) richtig dick sind, … kannst Du auf ihnen liegen, lesen und den Vögeln zuhören.“ (Junge, 13 Jahre) Das Kontemplative zielt im Sinne des Wortes auf das „Betrachten“: „Da, wo es so beibehalten ist, so die unberührte Natur und … das kann man dann auch mal betrachten und bewundern.“ (Junge, 14 Jahre) „Wir waren einfach so. Man hat, man ist reingegangen und man ist plötzlich ein ganz anderer Mensch geworden.“ (Mädchen, 13 Jahre) In gewisser Weise kann der Genuss von Stille in der Natur als eine Art von kontemplativer Naturinterpretation verstanden werden. „Also, sagen wir jetzt, in der Menschenwelt ist es ein bisschen lauter. So. Und wenn man in den Wald geht, hörst du Vögel zwitschern oder keine Ahnung was, aber es ist einfach leise.“ (Junge, 14 Jahre) „…. also ich hab eigentlich über gar nichts nachgedacht. Das war einfach nur so die Stille, einfach nur kurz genießen und fertig.“ (Junge, 13 Jahre) „Ja ich glaube ich habe ein bisschen Ruhe gefunden, und nicht nur diese lauten Geräusche von der Stadt, also das hat mir besonders gefallen, und dass ich, ich war schon sehr lange nicht mehr im Wald und schon seit langem nicht mehr, und das war schon gut.“ (Mädchen 13 Jahre) Bei der korresponsiven Naturwahrnehmung wird die Natur im Lichte des eigenen Selbst interpretiert und erscheint insofern fast wie ein Spiegel des Selbst. Durch diese selbstbezogene Deutung der Natur finden wir uns natürlich in der Natur wieder: Die Natur erscheint vertraut, geradezu uns selbst ähnlich und kann insofern Anlass für Selbstdeutungen werden. Diese Art der Wahrnehmung verbindet die wahrgenommene bzw. erlebte Natur mit Sinn und Bedeutung, indem Korrespondenzen zur eigenen Lebenswelt konstruiert werden. „[…] denn wovon die Natur hier ‚spricht‘, was in ihr Gestalt wird, ist etwas, was 125

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6 Zur Bedeutung der Naturästhetik

die Menschen von ihrer Natur aus bewegt: das äußere Erscheinen der Aussichten ihres Entwurfs, ihrer Idee vom Leben. Nur wer solche Entwürfe hat, kann die Natur als positive oder negative, überraschende oder erschreckende Antwort auf Möglichkeiten der eigenen Existenz erfahren“ (Seel 1991, S. 103). Landschaften beispielsweise können lieblich oder düster werden, Tiere können treu oder feindlich sein, Natur kann zum Ort gelingenden Lebens werden oder eben auch nicht. Die korresponsive Naturwahrnehmung zeigt sich am deutlichsten in anthropomorpher Naturinterpretation (Kapitel 4). Die Natur wird korresponsiv interpretiert als Spiegel des Menschen und auf diese Weise auf symbolische Weise anthropomorph verstanden (Gebhard et al. 2003). Im folgenden Beispiel aus einem Gespräch zwischen Zehnjährigen wird die analogisierende Korrespondenz explizit benannt, indem angenommen wird, dass Bäume eben „gar nicht so anders wie wir“ sind. „Ich finde die gar nicht so anders wie wir. Ich mein’, wir wachsen, und die wachsen auch.“ „Bloß, dass die viel älter werden.“ „Ja, wir haben hier Eichen, die sind sehr schön, über hundert Jahre alt.“ „Hm, ja. Die sterben ja auch so wie wir.“ Das Korresponsive findet sich nicht nur in anthropomorphen Naturdeutungen, sondern auch in der Möglichkeit, sich in der Natur zu spiegeln: „Ich merke gerade, das spiegelt mich wieder, weil im Wald war ich auch bisschen wie ein kleines Kind so ne, weil ich hab so ein Käfer gesehen. Ich hab noch nie so ein Käfer… diese Farben! Ich hab das noch nie gesehen.“ (Mädchen, 14 Jahre)

Indem die ästhetische Naturerfahrung zu einem essentiellen Element eines guten Lebens wird, lässt sich die Wahrnehmung des Naturschönen der Bedürfnisstruktur des Menschen zuordnen, nämlich dass der Mensch auch höhere Bedürfnisse hat, nach deren Befriedigung er strebt, wenn die unmittelbar vitalen Bedürfnisse befriedigt sind (Maslow 1970). „Ich wollte auch noch mal sagen, wenn die ganzen Bäume und so abgeholzt werden und wenn wir nur gelb haben, wenn wir nur Sand hätten, dann würden wir ja irre werden. Den ganzen Tag, ganzen Tag nichts anderes sehen würden, nicht grün, nicht blau, nicht rosa, nicht orange. Würden wir ja irre werden. Würden wir ja ausflippen.“ (Mädchen, 11 Jahre) „Ja, und dann täte es den Menschen leid, die so was Schlimmes gemacht haben. Und dann erst würde denen ein Licht aufgehen, dass sie was falsch gemacht haben.“ (Mädchen, 10 Jahre)

Naturerfahrung und Gesundheit 7 Naturerfahrung und Gesundheit

7.1 7.1

7

Natur als Therapie? Natur als Therapie?

Bereits Alexander von Humboldt hat in seinem Hauptwerk „Kosmos“ die kathartische Funktion von Naturerfahrungen erwähnt: Naturerfahrung „stärkt und erfrischt den ermüdeten Geist, besänftigt oft das Gemüt, wenn es schmerzlich in seinen Tiefen erschüttert oder vom wilden Drange der Leidenschaften bewegt ist“ (Humboldt 1845, S. 3). Jedenfalls werfen die günstigen Effekte von Naturerfahrungen, wie sie in Kapitel 5 zusammengetragen wurden, nicht erst in letzter Zeit die Frage auf, ob eine Entfremdung von Natur sich in psychischer und somatischer Hinsicht negativ auswirkt, also krank macht. Bei Kindern wird sogar schon von einem „Nature Deficit Syndrom“ gesprochen (Louv 2011, Taylor et al. 2001). Die Annahme einer Korrespondenz zwischen Gesundheit und natürlicher Umwelt entspricht auch den grundlegenden Annahmen über den Einfluss der nichtmenschlichen Umwelt auf die seelische Entwicklung, wie sie in Kapitel 2 dargelegt wurden. Hunziker et al. (2012) konnten zeigen, dass der Zusammenhang von Naturerfahrung und Gesundheit wesentlich in der frühen Kindheit angebahnt wird. Wer also als Kind die Gelegenheit zu Naturerfahrungen hatte, kann eben dies als Ressource gleichsam ein Leben lang nutzen (vgl. auch de Keijzer et al. 2016, Pensini et al. 2016). Eine besondere Rolle spielt dabei die sogenannte Naturverbundenheit (Mayer et al. 2009, siehe Kapitel 8.1). So schreiben Ryan und Deci (2019) der Erfahrung von Natur eine energetisierende und vitalisierende Wirkung zu, was zu einem subjektiven Gefühl von Lebendigsein führen kann (Martela et al. 2016, vergl. auch Weber 2008). Baxter und Pelletier (2019) vermuten sogar, dass eine positive Beziehung zur Natur ein psychologisches Grundbedürfnis des Menschen sei. Für die vitalisierenden Wirkungen von Naturerfahrungen gibt es inzwischen viele empirische Hinweise (Stilgoe 2001, Ryan et al. 2010, Zelenski/Nisbet 2014). So gibt es zunehmend konkrete Überlegungen, ob die Möglichkeit oder geradezu das Angebot von Naturerfahrungen auch ein Beitrag zur Gesundheitserhaltung bzw. Gesundsheitsförderung sein können (Gebhard 2009b, 2015c). So gibt es seit einiger Zeit nicht nur therapeutische Angebote mit Tieren (siehe Kapitel 10.7), sondern auch entsprechende Versuche mit Pflanzen und Gärten (Bertig-Hünecke et al. 2007, Ulrich 1999). Dabei wird auch von „Therapeutischen Landschaften“ (Gebhard/Kistemann 2016a) gesprochen, die

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Gebhard, Kind und Natur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21276-6_7

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7 Naturerfahrung und Gesundheit

Wohlbefinden durch kontemplatives und aktives Naturerleben erzeugen (s. u.). Auch in die Public-Health-Debatte und -forschung haben naturnahe Grünräume v. a. im Hinblick auf die Stadtplanung (BMUB 2017, Böhme et al. 2014, Claßen 2018, Fehr 2016, Fehr/Hornberg 2018, Hornberg et al. 2016, Rittel et al. 2014, Rind et al. 2017, Schlicht 2018, Shanahan et al. 2015, WHO Europe 2016) Einzug gehalten, ebenso in die Nachhaltigkeitsdiskussion. Die empirischen Befunde zu den belebenden und gesundheitsfördernden Wirkungen von Natur sind in der Tat bemerkenswert (Kapitel 7.2). Naturerfahrungen haben einen positiven Einfluss auf subjektives Wohlbefinden und Gesundheit (z. B. Hartig et al. 2014, Tam 2013, Howell et al. 2011, Mayer et al. 2009) und können damit ein präventiver Faktor sein. Gesundheitsargumente werden bei politischen Entscheidungen im Hinblick auf die Stadt- und Landschaftsplanung immer wichtiger (Health Council of the Netherlands 2004). Auch nach der Europäischen Landschaftskonvention, die am 20. Oktober 2000 in Florenz beschlossen wurde, ist Landschaft ein „Schlüsselelement des individuellen und sozialen Wohlbefindens“ und damit der Gesundheit. In der neuen Fassung des Bundesnaturschutzgesetzes wird erstmals explizit benannt, dass Natur einen besonderen Raum mit Erlebnis- und Erholungscharakter darstellt: „Die Landschaft ist in ihrer Vielfalt, Eigenart und Schönheit auch wegen ihrer Bedeutung als Erlebnis- und Erholungsraum des Menschen zu sichern. … Vor allem im siedlungsnahen Bereich sind ausreichende Flächen für die Erholung bereitzustellen“ (BNatSchG 2002, §2, Absatz 13). Naturräume mit Wiesen, Feldern, Bäumen und Wäldern haben eine belebende Wirkung bzw. bewirken eine Erholung von geistiger Müdigkeit (S. Kaplan 2001) und Stress. Auch wenn die meisten diesbezüglichen Studien sich auf Erwachsene beziehen, gilt dies natürlich auch für Kinder (vgl. Faber Taylor/Kuo 2006). Der Zusammenhang von Naturerfahrungen und Gesundheit wird häufig mit evolutionären Annahmen in Verbindung gebracht, wonach eine Präferierung von naturnahen Umwelten und vor allem entsprechende Wirkungen von Natur auf die seelische und körperliche Befindlichkeit mit biologisch fundierten Dispositionen zusammenhänge („Biophilie“, Wilson 1984, siehe ausführlich Kapitel 9). Am prominentesten ist in diesem Kontext die sogenannte „psychoevolutionäre“ Theorie von Ulrich (1985), nach der Menschen Naturumwelten präferieren, die in der Phylogenese des Menschen gewissermaßen überlebenswirksam gewesen sind. Solche Umwelten zeichnen sich durch eine Kombination von sicherheitsinduzierenden Merkmalen (Schutz, kleine Baumgruppen, Wasser, Gras) einerseits und Explorationsanreizen andererseits aus (siehe Kapitel 9: Prospect-Refugebzw. Savannen-Theorie). Diese Kombination sei in natürlichen Umwelten eher gegeben als in bebauten Umwelten. Nach der „Attention Restoration Theory“ von Kaplan und Kaplan (1989) wirken sich Naturräume deshalb günstig auf die Gesundheit aus, weil sie eine Erholung verbrauchter Aufmerksamkeitskapazität bewirken. Zudem ermöglichen Naturerfahrungen einen Abstand zum Alltagsleben bzw. Alltagstrott und sie provozieren Aufmerksamkeit, die nicht anstrengt. Danach sind in Naturräumen folgende Attribute, die sich günstig auf die Gesundheit auswirken (Kaplan 1995a, b), möglich:

7.2 Ausgewählte empirische Befunde

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1. Weg sein (being away): Abstand zum Alltagsleben bzw. Alltagstrott 2. Faszination: Natur provoziert Aufmerksamkeit, die nicht anstrengt. 3. Ausdehnung: In der Natur ist es möglich, ständig Neues zu entdecken und dieses Neue mit Bekanntem zu verbinden. 4. Vereinbarkeit (compatibility): Natürliche Umgebungen ermöglichen oft das, was eine Person tun möchte. „Natürlich“ wirkt „Natur“ nicht automatisch entlang von biologisch-anthropologischen Konstanten. Die jeweiligen Bedeutungen von Natur und Landschaft werden nämlich vor dem Hintergrund kultureller Rahmungen subjektiv erzeugt. Insofern werde ich auf die Bedeutung der bereits mehrfach angesprochenen kulturellen und symbolischen Valenzen unserer Naturbeziehungen, wie sie in den Überlegungen zum Naturbegriff bereits angeklungen sind (Kapitel 3), auch im Hinblick auf die gesundheitlichen Wirkungen von Natur in Kapitel 7.4 noch eingehen.

7.2 7.2

Ausgewählte empirische Befunde Ausgewählte empirische Befunde

Die Vielzahl der empirischen Studien, die den Zusammenhang von Naturerfahrung und Gesundheit insgesamt sehr gut belegen, kann hier natürlich nicht ansatzweise vorgestellt werden. Deshalb sei auf einige Übersichtswerke verwiesen (Claßen/Bunz 2018, Gebhard/ Kistemann 2016a, Hartig et al. 2014, Raith/Lude 2014, Späker 2017). Die meisten Untersuchungen beziehen sich auf die seelische Gesundheit (Gebhard 2018c): Stress, Erholung von geistiger Müdigkeit, kognitive Entwicklung, Konzentration, Induzierung positiver Gefühle (Freundlichkeit, Interessiertheit, Ruhe, Zufriedenheit), Abbau von Ärger und Frustration, kontemplative Stimmung, Kreativität, Vergessen von Sorgen, bessere Bewältigung von bedeutsamen Lebensaufgaben, Selbstwertgefühl, Symptomminderung von chronischen Aufmerksamkeitsstörungen. Aber auch Effekte auf die körperliche Gesundheit sind nachweisbar, z. B. Herz-Kreislauf-System, Diabetes, motorische Entwicklung. Landschaftsräume mit natürlichen Elementen werden als gewünschte Orte für Erholung und Selbstregulation (Herzog et al. 2003) betrachtet. In einer Studie an Studierenden (Korpela/Hartig 1996, Korpela et al. 2001) werden zu 48 % solche Orte (Strand, See, Park, Wald, Berge) genannt, während in nur 19 % der Fälle Orte der städtischen Wohnumgebung genannt werden. Diese favorisierten Naturorte ermöglichen danach das Vergessen von Sorgen und eine kontemplative Stimmung. Ebenfalls an Studierenden zeigt Berto (2005), dass bereits das Betrachten von Bildern natürlicher Landschaften eine Erholung von geistiger Müdigkeit bewirke, und zwar schon nach zehn Minuten. Dieser Bildeffekt zeigt sich in anderen Studien nicht so eindeutig (z. B. Hartig et al. 1996). Dagegen ist der Aufenthalt in natürlicher Umgebung in mehreren Hinsichten wirksam: So zeigen Hartig et al. (2003) Effekte auf die Konzentrationsfähigkeit bei einem Waldspaziergang. Diese verbesserte Konzentration (vgl. Tennessen/Cimprich 1995, Kuo 2001) soll auch zu einer 129

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7 Naturerfahrung und Gesundheit

besseren Bewältigung von bedeutsamen Lebensaufgaben verhelfen (Staats et al. 2003, Staats/Hartig 2004). Das Erleben von Natur ist im Lichte dieser Ergebnisse offenbar eine gute „Kulisse“ für das freischwebende, gleichsam kontemplative Nachdenken über das eigene Leben. Auf diese Weise klären und ordnen sich die Gedanken, es erneuert sich die Aufmerksamkeit, und neue Lösungen auch für persönliche Ziele und Probleme werden möglich (Herzog et al. 1997). Auch positive Einflüsse auf kognitive Fähigkeiten scheint es zu geben (Berman et al. 2008). Durch „schöne“ Landschaften wird zudem ein Gefühl von Wohlbefinden induziert (Augenstein 2002). Es entsteht eine emotionale Bindung an den Raum (Parsons/Daniel 2002), die zudem identitätsstiftend ist. Unter anderem wurde dies für Migranten festgestellt (Rishbeth/Finney 2006). Aber das Wohlbefinden wird auch bei Jugendlichen durch naturnahe städtische Erholungsgebiete positiv beeinflusst (Eder et al. 2016). Allerdings ist bei Jugendlichen dieser Effekt nicht so deutlich (Kaplan/Kaplan 2002, Korpela et al. 2002), was daran liegen wird, dass Jugendliche den Kontakt zu Gleichaltrigen suchen und Orte, die zu Aktivität animieren, bevorzugen. Das Bild vom einsamen, kontemplativen Wanderer in der Natur passt in der Tat nicht so gut zum jugendlichen Lebensstil. Bei Kindern sind die Befunde uneinheitlich (s. u.). Zahlreiche Befunde gibt es im Hinblick auf positive Wirkungen, was die Erholung von Stress angeht. Ulrich et al. (1991) haben diesen Effekt von Naturerfahrungen bei Erwachsenen direkt untersucht. Er legte erwachsenen Patienten unterschiedliche Bilder vor: Stadtszenen (Hochhäuser) und Naturszenen (Pflanzen und Gewässer). Es zeigte sich, dass die Betrachter bei den Naturszenen wesentlich langsamer ermüdeten und sich auch entspannter fühlten als bei den Stadtbildern. So wirken Naturerfahrungen weitgehend unbewusst auf unsere emotionale Verfasstheit, was allerdings sekundär die Aufmerksamkeit und auch die bewusste Verarbeitung von Problemen und Gedanken positiv beeinflussen kann. Naturnahe Umwelten (im Unterschied zu Stadtumwelten) sind in mehrfacher Hinsicht geeignet, Stresssymptome zu reduzieren. Ebenfalls in der Untersuchung von Ulrich et al. (1991) wurde den Versuchspersonen (N=120) ein stressinduzierender Film gezeigt, um sie im Anschluss daran mit sechs verschiedenen Umwelten zu konfrontieren (ebenfalls als Film). Die Effekte wurden mittels physiologischer Messungen (Herzfrequenz, Puls, Muskelspannung, Blutdruck) und verbaler Selbstauskünfte der Versuchspersonen bezüglich der affektiven Gestimmtheit erfasst. Die Ergebnisse dieser Studie sind eindeutig: Naturumwelten sind am ehesten in der Lage, zu einer Erholung beizutragen. Das betrifft sowohl die physiologischen Messwerte, was mit einem Einfluss von Naturumwelten auf das parasympathische Nervensystem in Verbindung gebracht wird, als auch die emotionale Gestimmtheit. „Natur“ ist in den Untersuchungen wirksam vor allem im Hinblick auf die Auslösung von „positiven Affekten“, aber auch auf die Fähigkeit, negative Affekte wie Angst oder Ärger zu kompensieren. Die Annahme des stressmindernden Effekts von Naturerfahrungen wird inzwischen von einer Vielzahl von empirischen Studien nahegelegt. Interessant in diesem Zusammenhang sind auch die Untersuchungen in Kliniken (Verderber 1986), in Zahnarztpraxen (Heerwagen 1990) und auch die Wirkungen der Heimtierhaltung (siehe Kapitel 10). Die stressreduzierende Wirkung ist im Übrigen auch physiologisch messbar. Hartig et al. (2003) zeigten, dass der Blutdruck während eines

7.2 Ausgewählte empirische Befunde

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Waldspaziergangs niedriger ist als bei einem Spaziergang durch die Stadt. Für die Stressreduktion reicht interessanterweise auch virtuelle Natur in Filmen aus. Der stressmildernde Effekt ist auch bei Kindern zu beobachten (Wells/Evans 2003, Stigsdotter/Grahn 2004, Grahn/Stigsdotter 2010): Eine vegetationsreiche Umgebung wirkt als Puffer für stressige Lebensereignisse und ist zudem förderlich für das Selbstwertgefühl. Aufenthalte in „green settings“ (besonders im Wald) mildern die Symptome von chronischen Aufmerksamkeitsstörungen (Faber Taylor/Kuo 2009, 2011, Faber Taylor et al. 2001, Kuo/ Taylor 2004, van den Berg/van den Berg 2011) und verbessern zugleich die Konzentration und die „Selbstdisziplin“ (Faber Taylor et al. 2002). Zudem zeigen sich Auswirkungen auf die psychosoziale Entwicklung, Kreativität, Konzentration und die Wahrnehmungsfähigkeit (Bixler et al. 2002, Faber Taylor et al. 1998, Wells 2000). In vielen Studien wird auch ein positiver Effekt auf die subjektive Gefühlslage gezeigt: Aggression und Ärger nehmen ab, positive Gefühle zu (Korpela et al. 2002, Korpela 2003, Lohr/Pearson-Mims 2006), wobei man natürlich auch positive Gefühle in urbanen Umgebungen (Pretty et al. 2005) und negative Gefühle in der Natur haben kann. Jedoch ist der Anblick und das Erleben von Natur geeignet, die negativen Affekte im Umkreis des Stresses durch positive Affekte wie Freundlichkeit und Interessiertheit (Hartig et al. 1996) zu ersetzen. Es ist anzunehmen, dass der generelle Zusammenhang von Naturerfahrung und Wohlbefinden auch andere Detailaspekte von (seelischer) Gesundheit moderiert, wie z. B. Selbstwertstützung (Zhang et al. 2014 a und b, Wells/Evans 2003), Selbstwirksamkeit (Schwiersch 2009), Vitalität (Ryan et al. 2010, Cervinka et al. 2012), Bewältigung von Stress oder auch eine gewisse antidepressive bzw. frustrationsreduzierende (Aspinwall 2013) Wirkung, indem positive Gefühle begünstigt werden und negative Gefühle abnehmen. Die Funktion als „Stimmungsaufheller“ klingt auch in biographischen Interviews von Wilke (2004) an: Es wird deutlich, dass die Erfahrung von äußerer Natur auch zu einer Erfahrung der inneren, psychischen Natur werden und damit auch zu einem besseren Verständnis von sich selbst führen kann. Ebenso zeigen die Interviews, dass und wie Naturelemente symbolisch aufgeladen (s. u.) sind (Wilke 2004, S. 340f.) Vor allem die Natur in der unmittelbaren Wohnumgebung beeinflusst die Gesundheit. Menschen, die in Gegenden mit einem hohen Grünanteil leben, beurteilen ihre physische und mentale Gesundheit höher als Menschen in einer Umgebung mit wenig Grünflächen (de Vries et al. 2003, Maas et al. 2006). So gestatten Parkanlagen einen Abstand zum Alltag (Krenichyn 2006). Bei einer Auswertung von 400.000 Krankenakten konnten Maas et al. (2009b) zeigen, dass Menschen in fußläufiger Nähe zu naturnahen Freiflächen ein höheres seelisches Wohlbefinden haben und auch objektiv gesünder sind: Sie haben weniger Kopfschmerzen, haben einen normaleren Blutdruck und leider weniger an Atemwegserkrankungen und Allergien. Vor dem Hintergrund einer sehr großen Datenmenge (Sozio-ökonomischer Panel, 20000 Personen) konnten Krekel et al. 2016 ebenfalls zeigen, dass mit der Nähe zu Grünanlagen die Lebenszufriedenheit steigt und Gesundheitsrisiken abnehmen. Dieser Zusammenhang von Erreichbarkeit von naturnahen Freiflächen und Wohlbefinden ist sehr gut belegt (Beyer et al. 2014, Cox 2017, Fitzpatrick/LaGory 2000, Wild-Eck 2001, Takano et al. 2002, Maas et al. 2006). 131

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7 Naturerfahrung und Gesundheit

Was sind nun die konkreten Elemente, die Naturumgebungen in der persönlichen Wahrnehmung so attraktiv machen? Gemäß den vorliegenden Befunden wirken sich folgende Attribute natürlicher Landschaften günstig aus: Wasser, Vegetation, Aussicht und moderate Komplexität. Außerdem darf die Natur nicht bedrohlich wirken. Wasser und „blue spaces“ (Völker 2012) werden häufig als ein wichtiges Element bei der positiven Bewertung von Landschaften hervorgehoben (Kaplan/Kaplan 1989, Kaltenborn/Bjerke 2002, Dramstad et al. 2006, Ogunseitan 2005). Bäume, Wiesen und Wälder tragen zur persönlichen Zufriedenheit bei (Kaplan/Austin 2004, Kaplan 2001), wodurch sich die Bewältigung von Lebensaufgaben verbessert (Kuo 2001), Aggression und Ärger werden bewältigbar (Kuo/Sullivan 2001, Korpela 2003). Im Angesicht einer als schön empfundenen Naturlandschaft werden stressige, negative Gefühle ersetzt durch angenehme Gefühle wie Freundlichkeit, Ruhe, Interesse (Hartig et al. 1996). Durch „schöne“ Landschaften wird zudem eine Gefühl von Wohlbefinden induziert (Augenstein 2002). Nicht unwesentlich scheint bei der beruhigenden Wirkung von Natur die Ruhe („tranquility“) in der Natur zu sein, die mit Stille („calmness“), Klarheit („serenity“) und Frieden assoziiert wird (Herzog et al. 2003). Schroeder (1991, S. 245) qualifiziert insofern die Natur, genauer eine bestimmte, nämlich savannenähnliche (siehe Kapitel 9) Natur, als „natural tranquilizer“. Unklar ist freilich, ob dieser Effekt wirklich ursächlich mit Naturattributen zusammenhängt oder ob dieser Effekt auch mit anderen Mitteln (z. B. Computersimulation) zu erzielen ist (vgl. Kaplan/Kaplan 1989). Ein geradezu beglückender Effekt von Bäumen wird in einer Studie von Lohr und Pearson-Mims (2006) gezeigt, besonders wenn diese nicht gestutzt sind. Es scheint einen Zusammenhang von urbanen Grünflächen mit Bäumen und gesundheitlicher Verfassung zu geben (Maas et al. 2006, 2009a). Ähnliche Befunde zeigt eine japanische Untersuchung (Todorova et al. 2004). Mehr oder weniger naturnah angelegte Parks („naturalistisch“) wirken sich günstig aus: Sie induzieren ein Gefühl von Freiheit und Natürlichkeit und bahnen eher soziale Kontakte an (Özgüner/Kendle 2006). Auch Wälder haben diese Wirkung (s. Kapitel 5.2). Kaźmierczak (2013) unterstreicht, dass Grünflächen einen Kontrast zu gebauten, städtischen Lebensumwelten bilden. Außerdem nehmen soziale Kontakte zu (Coley et al. 1997). Gemäß Untersuchungen von Armstrong (2000) in New York sei dies v. a. für benachteiligte Bevölkerungsgruppen relevant. Die bereits genannten sozialen Effekte sind v. a. für alte Menschen (Booth et al. 2000, Milligan et al. 2004) und Kinder (Sullivan et al. 2004, Kuo et al. 1998) gut belegt: Es zeigt sich, dass begrünte Plätze und Bäume (gerade in ärmeren Stadtteilen) Möglichkeiten für soziale Interaktion schaffen, v. a. die Kontaktmöglichkeiten zwischen Kindern und Erwachsenen werden begünstigt (Taylor et al. 1998). Auch bei Wäldern wird diese sozialintegrative Funktion hervorgehoben (Nicolè/Seeland 1999, Seeland 2003). Auch Gärten und das Gärtnern scheinen günstige Effekte auf Gesundheit und Wohlbefinden zu haben (Literaturübersicht: Brown/Jameton 2000). Menschen, die gärtnern, haben nach einer Befragung von Waliczek et al. (2005) deutlich höhere Werte bei der Einschätzung ihrer Gesundheit, ihrer Zufriedenheit und ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit. Kaplan und Kaplan (1989) vermuten, dass das Gärtnern zum einen durch die Faszination

7.3 Synergien von Naturerfahrung und Bewegung

133

für die Natur und zum anderen durch die in der Natur induzierte Ruhe und Friedlichkeit die positiven Effekte bewirke. Schrebergärten schaffen (v. a. für alte Menschen) soziale Netzwerke (Milligan et al. 2004). Das Gärtnern stützt das Selbstbewusstsein durch die damit verbundene Tätigkeit und Verantwortung und nicht zuletzt durch die unmittelbare Sichtbarkeit des Wachsens und Gedeihens (Lewis 1992). Vor diesem Hintergrund haben sich seit geraumer Zeit auch gartentherapeutische Konzepte entwickelt (Haubenhofer et al. 2013). Ulrich (1999) spricht in diesem Zusammenhang von „heilenden Gärten“. So glaubte bereits Graebner (1907 S. 5), dass Gartenarbeit das „beste Nervenstärkungsmittel“ sei (siehe auch Blume 1989, Schwertl 1989). Erste Untersuchungen zeigen positive Wirkungen in allen Altersgruppen. So zeigen z. B. Sherman et al. (2005) eine günstige Wirkung eines Aufenthalts in Gärten auf Schmerzen, Emotionen und Müdigkeit. Gartenaufenthalte wirken gleichsam als Therapeutikum gegen Stresssymptome: Angst, Bluthochdruck, Verwirrtheit, Schmerzen, Aggressivität. Mentale Fähigkeiten, Selbstwertgefühl und emotionale Befindlichkeit werden verbessert (Ulrich 1999, ähnlich auch bei Neuhauser 2007 und Niepel 2007), ebenso soziale Kompetenzen (Strohmeier 2007). Im Garten kann man sowohl aktiv sein und gestalten als auch passiv den Bedingungen der Natur ausgeliefert sein. Diese Dialektik von aktiver Gestaltung und passiver, geradezu demütiger Haltung des Geschehenlassens wird bei den belebenden Effekten des Gärtnerns beteiligt sein.

7.3 7.3

Synergien von Naturerfahrung und Bewegung Synergien von Naturerfahrung und Bewegung

Es gibt auch einen Zusammenhang von Naturerfahrung und körperlicher Entwicklung. Grüne Freiflächen sind auch ein Anreiz zu physischer Aktivität. Und die umgekehrte Logik trifft oft noch mehr zu: Viele Menschen gehen ins Grüne, weil sie sich dort bewegen wollen. Wie genau die Synergien zwischen Bewegungs- und Naturerfahrungen zu erklären sind, ist allerdings noch offen (Maas et al. 2008 Dadvand et al. 2016). Bei Naturerfahrungen und bei den entsprechenden gesundheitlichen Effekten spielt also auch die Bewegung eine nicht unerhebliche Rolle (Bucksch/Claßen 2012, Liedtke 2005, Schäffer 2016, zum Konzept der Walkability siehe Bucksch/Schneider 2014). Dabei sind die unreglementierten naturnahen Freiflächen gegenüber den vorbestimmten Flächen (wie Sportplätze oder Spielplätze) favorisiert (siehe Kapitel 5.4). Oft lässt sich insofern das Bedürfnis nach Natur und das nach Bewegung kaum trennen. Es geht bei Naturerfahrungen – wenn man so will – um „(Bewegungs-) Abenteuer“ (Späker 2017) und damit zugleich um Gemeinschaftserlebnisse und freizügige Erfahrungen (Kleine 2003, S. 73f.). Naturräume sind gewissermaßen „natürliche Bewegungslandschaften“ bzw. „informelle Bewegungsräume“ (Scherler 1979). Draußen zu sein, ist ein Bewegungsanlass (Schwarzer/ Renne 2008), was in einer zypriotischen Untersuchung im Stadt-Land-Vergleich deutlich wurde (Loucaides et al. 2004). In einer schwedischen Studie (Pagels 2016) wurden Kindern der 2., 5., und 8. Klassen Sensoren-Armbänder appliziert, um ihr Bewegungsverhalten zu erfassen: An Schultagen verbrachten die Kinder über zwei Drittel in Gebäuden mit wenig 133

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7 Naturerfahrung und Gesundheit

Bewegungsmöglichkeiten, die Zweitklässler noch am meisten (zwischen 17 und 129 Minuten). Besonders interessant ist der Befund, dass alle Kinder sich nicht am häufigsten im Sportunterricht bewegen, sondern beim freien Spiel draußen. In einer dänischen Studie (Mygind 2007) mit Grundschulkindern wurde herausgefunden, dass die durchschnittliche Bewegung an einem Schultag im Wald mehr als doppelt so hoch ist wie im normalen Schulalltag. Insofern werden gerade von Kindern und Jugendlichen Naturräume v. a. im Hinblick auf ihren Spiel- und das heißt v. a. Bewegungswert beurteilt (Klettern, Laufen, Bauen etc.). Es gibt also einen Synergieeffekt von Naturerfahrung und Bewegung. Bei der Kombination beider Aktivitäten potenzieren sich gewissermaßen die Effekte. Nach Zimmer (2014) sind Bewegungserfahrungen in der Natur v. a. wegen ihres adaptiven und explorativen Potentials bedeutsam. „Die Natur bietet situative Bewegungsanlässe, die die Kinder herausfordern, die ihr Bewegungskönnen auf die Probe stellen und erweitern. Gleichzeitig lernen sie die räumliche und gegenständliche Umwelt in einer ungewohnten Art kennen“ (Zimmer 2014, S. 226). Man muss sich den Anforderungen der jeweiligen Naturumgebung anpassen und es findet z. B. bei einem unebenen Walduntergrund ein ständiges Koordinationstraining statt (Späker 2017, S. 239). Zu diesen psychomotorischen Effekten (ausführlich Späker 2017, S. 167f.) gehört auch die Entwicklung der Gleichgewichtskontrolle. In diesem Zusammenhang ist auch ein oft gar nicht beachteter Unterschied der Waldkindergärten zu konventionellen Kindergärten wichtig: Bei Waldkindergärten gibt es angesichts des eher kleinen Innenraums und der viel größeren Außenflächen ein um den Faktor 10 größeren Bewegungsraum für die Kinder (vgl. Schwarz 2013, Späker/Ulrich 2015, Späker et al. 2018). Kinder, die immer wieder in naturnahen Freiflächen oder im Wald spielen, haben insgesamt also eine bessere Motorik, sind fitter und sind übrigens auch weniger unfallgefährdet (vgl. Bell et al. 2008, de Vries et al. 2007, Fjoertoft 2004, Scholz/Krombholz 2007, Lovell 2009). Die motorische Entwicklung wird bei Kindern durch Naturerfahrung positiv beeinflusst. So zeigt sich in einer norwegischen Studie (Fjørtoft/Sageie 2000) eine günstige Wirkung vor allem des Spielens im Wald. In Waldkindergärten in der Schweiz konnte ein Effekt von Naturerfahrungen auf die psychomotorische Entwicklung festgestellt werden (Lettieri 2004,), und zwar v. a. auf die Grobmotorik, weniger auf die Feinmotorik (Gasser/ Kaufmann-Hayoz 2004, Gugerli-Dolder et al. 2004). Es wird auch kein Zufall sein, dass der Body-Mass-Index bei Kindern sehr deutlich mit dem Ausmaß der Begrünung im Wohnumfeld zusammenhängt (Bell et al. 2008). Es gibt auch einen Zusammenhang zwischen bebauter Umwelt, physischer Aktivität und Übergewicht bei Kindern (Molnar et al. 2004, Sallis/Glanz 2006). Die Kopplung von Natur- und Bewegungsbedürfnis zeigt sich auch bei Erwachsenen. Das Wandern ist ein sehr gutes Beispiel, wobei sich die ästhetische Wahrnehmung von Natur auf eine sehr harmonische Weise mit den positiven Wirkungen von anhaltender Bewegung verbindet. Brämer (2008) spricht von einem physischen Breitbandtherapeutikum. Und gerade beim Wandern sind die bereits erwähnten Wirkungen auf unsere Stimmungslage und Stress sehr ausgeprägt (vgl. Kreissl/Dittmer 2018). Das kontemplative Sein in

7.4 Natur als salutogener Faktor

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der Natur verbunden mit Bewegung und körperlicher Anstrengung ist sehr lustvoll und damit auch wirkungsvoll. Die mit dem Wandern verbundene Bewegungserfahrung wird auch zunehmend in sportpädagogischen Kontexten thematisiert (Liedtke 2005, Jakob 2014, Jakoby 2010), z. B. in den von der Deutschen Sporthochschule Köln veranstalteten Natursportcamps „ticket2nature“ (Roth et al. 2012). Bemerkenswert ist die geringe Dosis, die für gesundheitliche Wirkungen auszureichen scheint: Bereits eine halbe Stunde in einem Park spazieren gehen, bringt bereits messbare Effekte: Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, die dies nicht tut, hat die Parkspaziergängergruppe positive Wirkungen auf das Herz-Kreislaufsystem. Zudem erweist sich der Aufenthalt im Park als eine Prävention gegen Depression und Ängste. Bemerkenswert bei dieser Studie (Shanahan et al. 2016) ist, dass sich bereits die geringe „Dosis“ von einer halben Stunde in der Woche auswirkt. Im Übrigen setzen auch die norwegischen Konzepte der Uteskole (Draußenschule, Barford/Daugbjerg 2018) oder Friluftsliv (Liedtke/Lagerstroem 2007) gleichermaßen auf Bewegung, Draußensein und Naturerfahrung. Im deutschsprachigen Raum gibt hier bereits einige Versuche (von Au/Gade 2016, SILVIVA 2018). Und auch die bereits mehrfach angesprochene Selbsterfahrung wird bei der Synergie von Natur- und Bewegungserfahrung im Spiel sein, denn natürlich erfahren wir bei Naturerfahrungen auch uns selbst in unserer leiblich-körperlichen Existenz (Kronbichler/ Kuhn 2000). Intensive, auch anstrengende Naturerfahrungen führen mit Liedtke (2005, S. 177) zu einer „lebendigen Selbstbegegnung“ und das wird z. B. bei wildnispädagogischen Settings, beim Wandern oder Bergsteigen ausdrücklich angestrebt. Die Grenzerfahrungen, die dadurch bisweilen möglich werden, sind v. a. Grenzerfahrungen des Selbst. Das liegt auch daran, dass bei der Begegnung mit Natur stets auch „Prinzipien wie Hervorbringen, Wachstum, Veränderung, Einzigartigkeit, Bewegung und Konstanz“ (Späker 2010, S. 101) mitschwingen. Um diese symbolische Ebene geht es im nächsten Abschnitt.

7.4 7.4

Natur als salutogener Faktor: Symbolische Valenzen von „Natur“ Natur als salutogener Faktor

Insgesamt lässt sich sagen, dass Erfahrung von Natur zwar nicht Gesundheit determiniert, aber eine Ressource für Gesundheit ist sie allemal (Maller et al. 2006). Aus Sicht des Konzepts der Salutogenese (Antonovsky 1997) könnte man Natur und Landschaft als einen wirksamen Faktor betrachten, der uns in der Polarität zwischen Gesundheit und Krankheit in Richtung des Gesundheitspols orientiert. So betont die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrem Programm „Umwelt und Gesundheit“ den präventiven Charakter eines naturbezogenen Gesundheitsschutzes. Das gilt für Grünräume in der Stadt ebenso wie für naturnahe Landschaften zur Erholung und auch für Wälder. Gemäß der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung geht es im Rahmen eines präventiven Paradigmas um die Befähigung der Menschen, Gesundheit gewissermaßen selbst zu erzeugen. Dieser Gedanke ist in der Folge davon zum Leitbild des Publik-Health-Ansatzes geworden. Diese gesund135

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7 Naturerfahrung und Gesundheit

heitspsychologische Perspektive (Faltermaier 2017, 2018) ist an den Ressourcen der Menschen orientiert und versucht diese zu aktivieren. Es geht also um Gesundheitsförderung und nicht um Krankheitsbeseitigung (Hurrelmann 2010). Durch diese salutogenetische Perspektive auf das Naturerleben gewinnen die subjektivierenden Interpretationen und symbolischen Bedeutungen von Natur ein besonderes Gewicht. Diese Zusammenhänge sollen im Folgenden betrachtet werden. Wir haben gesehen, dass die psychischen Wirkungen von Natur vielfältig sind und sich auch vielfältig verstehen lassen (siehe Kapitel 7.1 und auch 9). Die Erklärungsansätze gehen von evolutionären Ansätzen über soziologische Betrachtungen bis hin zu psychologischen Theorien wie z. B. der „Attention Restoration Theory“ von Kaplan und Kaplan (1989). Ein Aspekt wird dabei meistens vernachlässigt bzw. nur am Rande erwähnt. Es handelt sich um den Gedanken, dass die „Natur“ in gewisser Weise einen Metaphernvorrat darstellt, die dem Menschen für Selbst- und Weltdeutungen zur Verfügung steht (Kellert 2002, Gebhard 2016a). Natur und Landschaft sind natürlich zunächst und auch unmittelbar in ihrer phänomenalen „Tatsächlichkeit“ ein konkreter Lebensraum für den Menschen. Landschaftsformationen, Pflanzen, Tiere, Wälder, Wiesen etc. spielen eine nicht unerhebliche Rolle für die Lebensqualität, das Wohlbefinden, die Gesundheit (ausgewählte Beispiele bzw. Belege in Kapitel 7.2). Zusätzlich und durchaus damit im Zusammenhang stellen Natur und Landschaft einen Symbolvorrat dar, der dem Menschen für Selbst- und Weltdeutungen zur Verfügung steht. Diese symbolische Dimension unserer Naturbeziehungen (siehe Kapitel 2.3) ist für den Menschen als „animal symbolicum“ (Cassirer 1969) nicht unbedeutend, ist es doch gerade der symbolische Weltzugang, der es uns gestattet, unser Leben als ein sinnvolles zu interpretieren (Gebhard 1999). Im Verhältnis des Menschen zur äußeren Natur wird nämlich stets auch sein Verhältnis zu sich selbst sichtbar beziehungsweise aktualisiert (Gebhard 2005b), was übrigens auch in erlebnispädagogischen bzw. -therapeutischen Ansätzen gesehen und genutzt wird (Fengler 2007, Sachon 2018). „Selbstsein und Natursein stehen sich gegenüber als zueinander gehörig“ (Jaspers 1973, S. 174). Das gilt historisch insofern, als die jeweilige Auffassung von Natur als ein Ausdruck des Selbstverständnisses des Menschen interpretiert werden kann. Und das gilt ebenso für die einzelnen Subjekte: Die Erfahrungen, die wir in und mit der Natur machen, sind auch Erfahrungen mit uns selbst – nicht nur, weil wir es sind, die diese Erfahrungen machen – sondern weil Naturerfahrungen und Naturphänomene Anlässe sind, uns auf uns selbst zu beziehen. „Natur“ kann neben vielen anderen Wirkungen auch zu einem Merkzeichen, zum Symbol von Aspekten des eigenen Selbst werden. Dieser Zusammenhang ist mit den humangeographischen Begriffen „sense of place“ und „place identity“ sehr passend bezeichnet (Lengen 2016, Relph 1976, Rose 1996, Tuan 1974, siehe Kapitel 5.4). Die Natur wirkt – wie bereits in den Ausführungen zum Naturbegriff erwähnt – als eine „Membran subjektiver Erfahrungen und Leiden“ (Caspar David Friedrich, zitiert nach Altner 1991, S. 9). In einem ähnlichen Kontext spricht Rose (2012) davon, dass in der Wahrnehmung bzw. Begegnung mit Natur und Landschaft gleichsam eine Art von Mentalisierungsprozess angestoßen werden könne, wodurch wir uns in gewisser Weise in der äußeren Natur und Landschaft „spiegeln“ können. Die Umgebung ist damit parado-

7.4 Natur als salutogener Faktor

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xerweise gleichzeitig so wie wir selbst und zugleich äußeres Objekt. Diese Mentalisierung und deren paradoxe Struktur ist nur symboltheoretisch zu verstehen. Dieser Zusammenhang wird bei der heilsamen Wirkung von Naturerfahrungen eine zentrale Bedeutung haben. Der Begriff der „therapeutischen Landschaften“ (Gesler 1991, 1992, 2003, Williams 2008, Gebhard/Kistemann 2016a, Kistemann 2016, Wilson 2003) zielt insofern nicht vor allem auf die physischen und biologisch-materiellen Attribute von Natur und Landschaft, sondern v. a. auf deren symbolische und kulturelle Bedeutung, die v. a. bei Williams (2010) auch spirituelle Dimensionen einschließt. Natur und Landschaft sind vor diesem Hintergrund nicht nur gleichsam „wirkliche“ Gebilde in der äußeren Welt, sondern „landscapes of the mind“ (Williams 2008), ein Amalgam von „Maßeinheit und Gestimmtheit“ (Ipsen 2006, S. 17). Entscheidend bei diesen Landschaften des Geistes ist eben die symbolische Aufladung. „… they could exist as spaces and places created by, and located in the mind“ (Andrews 2004). Die „Gestimmtheiten“, die Atmosphären (Böhme 2014, siehe Kapitel 6), die bei Naturerfahrungen möglich sind, wären ohne besagte Symbolisierungen leer bzw. klischeehaft. Die Atmosphäre, die zwischen Subjekt und Natur aufgespannt ist, ist gewissermaßen der symbolisierende Resonanzraum (Rosa 2016), in dem und durch den die psychischen und mentalen Wirkungen „in Schwingung“ geraten und auch „verkörpert“ werden können. „And in the originary expression of words the gesture is a property of the sensory object, an attunement in the body schema, which provides a felt resonance“ (Backhaus/Mrungi 2009, S. 17). Die Nähe von Symbolisierungen und „Verkörperungen“ ist gut verstehbar vor dem Hintergrund der Metapherntheorie der kognitiven Linguistik (Lakoff/Johnson 1998), nach der v. a. elementare körperliche Erfahrungen (z. B. innen – außen) eine, wenn nicht die wesentliche Quelle für Symbolisierungen darstellen. Es kommt auch eher auf die symbolisierende subjektive Bedeutung („inner meaning“, Gesler 1992) von Natur und Landschaft an und nicht nur auf deren gleichsam objektiven Attribute. Es geht um die dialektische Beziehung zwischen realer äußerer Natur und deren symbolischer und sozialer Konstruktion (vgl. Abraham et al. 2010, S. 60). Natur und Landschaft sind nicht ein gleichsam objektives Gegenüber des Menschen, sondern Schöpfungen des Menschen, in die kulturelle und biographische Bedeutungen einfließen. „Indem wir den Raum wahrnehmen, erzeugen wir ihn. … Erst wenn man ein Stück Wald rodet, entsteht Raum um uns. Erst wenn wir Muster entwickeln, die Rodung als Lichtung oder als Siedlung wahrzunehmen, entsteht Raum in uns“ (Ipsen 2006, S. 19). Diese Muster sind symbolisch chiffriert. Sowohl in der philosophischen Symboltheorie (siehe Kapitel 2.3) als auch in der empirischen Psychotherapieforschung (Buchholz 1996) wird angenommen, dass Symbole die Funktion haben, Sinnstrukturen zu konstituieren. Danach gibt es einen Zusammenhang von psychischer Gesundheit und dem Reichtum an symbolischen Bildern. Bei Naturerfahrungen wird dieser symbolische Aspekt besonders deutlich bei animistischen Naturinterpretationen (Kapitel 4) und bei der ästhetischen Dimension (Kapitel 6). Beispielhaft sei im Folgenden diese symbolische Ebene für Waldlandschaften und im Anschluss daran für sogenannte „blue spaces“ herausgearbeitet. Diese symbolische 137

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7 Naturerfahrung und Gesundheit

Dimension hat Graf Dürckheim (1993, S. 7) als eine „Transzendenz in der Immanenz“ bezeichnet und dafür die Metapher von der „Stille des Waldes“ gewählt. Der Wald wird häufig für den Inbegriff von „Natürlichkeit“ (Wild-Eck 2001, Groß 2007, Park et al. 2013) gehalten und mit Wohlbefinden und Erholung (Braun 2000) assoziiert. In der LBS Studie (2005) wird von den befragten Kindern auch am häufigsten (86 %) der Wald genannt, in dem sie in der Natur sein wollen (gefolgt von Wiesen und Feldern mit 85 %, Garten mit 76 %, fremder Garten mit 69 %, und 62 % im Park). Ungeachtet der Tatsache, dass der Wald natürlich ein Kulturphänomen ist, wird er oft als „reine“ Natur interpretiert, und zwar nicht in erster Linie wegen ökologischer und biologischer (Stichwort Sauerstoff) Zusammenhänge, sondern wegen seines ideologischsymbolischen Gehalts. „Wenn ich Erholung brauche, suche ich den dunkelsten Wald, den undurchdringlichsten, ausgedehntesten Sumpf. Ich betrete ihn wie einen heiligen Ort. Dort ist die Kraft, das Mark der Natur“ (Thoreau 2004, S. 46). Für den Wald gibt es außerdem auch viele Hinweise auf physiologische Effekte (Park et al. 2013, Imai 2013). Danach verringern sich aggressive, ängstliche und Erschöpfungszustände, was mit kardiovaskulären Verbesserungen einhergeht. Außerdem wird die Immunabwehr durch Erhöhung der Anzahl und Aktivität von natürlichen Killerzellen gestärkt. Interessant sind auch Studien mit Diabetikern, wonach während eines Waldspaziergangs der Blutzuckerspiegel gesunken ist. Die Blutzuckersenkung tritt allerdings auch ein – und das ist in den dem symboltheoretischen Kontext durchaus bedeutsam – wenn die Versuchspersonen kontemplativ lediglich im Wald sitzen oder liegen (Ohtsuka 2013). Es handelt sich also nicht um einen reinen Bewegungseffekt. Bei der Empfindung der Natürlichkeit spielen die Lichtverhältnisse im Wald eine besondere Rolle: das gedämpfte, nicht eintönige und damit ermüdende Licht im Wald löst ein Gefühl der Geborgenheit aus (Leibundgut 1975). Es gibt auch Hinweise dafür, dass die Erholung im Wald etwas mit seiner Gepflegtheit zu tun hat (Martens et al. 2011). Der Wald kann Symbol sein für Ruhe, Freiheit, Schönheit, wird mit Lebendigkeit, Entspannung, Entlastung und Zufriedenheit assoziiert (O’Brien 2005, Buwal 1999, zitiert nach Gasser/Kaufmann-Hayoz 2004). Dadurch bewirkt er Wohlbefinden und trägt zur Erholung von Stress bei (Rauch-Schwegler 2001). Nicht umsonst ist ein sehr verbreitetes projektives Testverfahren der so genannte Baumtest (Koch 2003). Natürlich fungiert hier der Baum als symbolische Projektionsfläche, was allerdings mit den Erlebnisqualitäten, die wir bei der Beziehung zu Bäumen haben können, zusammenhängt. Koch (2003) fasst den Wald als ein Symbol für das Unbewusste auf, er sei typisch für das menschliche Leben, weil sich in ihm Verfall, Tod und Leben in analoger Weise wie beim Menschen ereignen. Bäume haben Individualität und damit gewissermaßen Persönlichkeit. Einer schweizerischen Untersuchung (Reichert/Zierhofer 1993) zufolge überwiegen dabei positive Konnotationen: Man geht gern in den Wald, fühlt sich geborgen und gut. Und der Wald wirkt identitätsstiftend. Man ist mit sich allein, kann gewissermaßen endlich seine eigenen Gedanken denken. Der Wald im Allgemeinen und einzelne Bäume im Besonderen können eine persönliche Bedeutung erlangen und damit in Geschichten, Mythen und Legenden eingebaut werden.

7.4 Natur als salutogener Faktor

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Auch das ist identitätskonstituierend. Zudem werden bei Waldaufenthalten eigene (schöne) Erinnerungen an Kindheit und Unbeschwertheit aktiviert (Henwood/Pidgeon 2001). Der Wald steht allerdings nicht nur für positiv getönte Gedanken und Gefühle. In vielen Märchen und Mythen werden geheimnisvolle und auch bedrohliche Aspekts des Waldes betont (Vollichard 1992). Das gilt nicht nur für die Welt der Geschichten, sondern kann auch in aktuellen Befragungen zur Wirkung des Waldes bestätigt werden. Wild-Eck (2002) zeigt, dass der Wald (insbesondere für Frauen) ein Raum der Angst sein kann (siehe Kapitel 5.3). Diese ambivalenten Bedeutungen von Wald und Baum machen sie geradezu für eine psychodynamische Verwendung in besonderer Weise geeignet, weil widersprüchliche psychische Zustände einen symbolischen Anker finden können. Auch das in den letzten Jahren immer populärer werdende „Shinrin-Yoku“ bzw. auf Deutsch „Waldbaden“ (Adamek 2018, Schuh/Immich 2019, Li et al. 2008) wird in seinen inzwischen empirisch gezeigten Effekten nicht nur auf die physiologische Ebene (HerzKreislauf, Killerzellen etc.) zu reduzieren sein, sondern spricht ausdrücklich die meditative und symbolische Dimension an, die etwas mit „Natur als Sinninstanz“ (Gebhard 2014) zu tun hat. Ambivalente Bedeutungszuschreibungen gelten gleichermaßen auch für sogenannte „blue spaces“. „Blau“ in der Stadt, in Küstenregionen, in Fluss- und Seenlandschaften wird im Kontext der Diskussion um Therapeutische Landschaften häufig erwähnt (z. B. Finlay et al. 2015, Foley/Kistemann 2015, Windhorst/Williams 2015), und zwar vor allem wegen der Fähigkeit von blue spaces, symbolische Bedeutungen zu transportieren. Die besagte Ambivalenz wird auch durch das Symbol Wasser in geradezu zugespitzter Weise symbolisch chiffriert: man kann vom Wasser ebenso getragen und gehalten sein wie man ertrinken kann. Man kann beim Blick aufs Wasser in kontemplative Stimmungen geraten oder sich auch verlieren. Völker (2012) weist darauf hin, dass und wie der Mensch in seinem alltäglichen Sprachgebrauch wasserassoziierte Redewendungen verwendet, wie „flüssige Ausdrucksweise“ oder „die Informationen sprudelten aus ihm heraus“. Wasser fließt und kann damit Wandel symbolisieren; zugleich kann der Blick auf das unendliche und ewig gleiche Meer Konstanz, sogar Identität symbolisieren. Wasser sieht stets anders aus, ist beweglich und reflektiert auf immer neue Weise (Strang 2004). Im Vergleich zu grünen Räumen hält Völker (2012) die symbolische Valenz von blauen Räumen sogar für noch ausgeprägter. Möglicherweise ist es gerade die soeben am Beispiel Wald und Wasser durchbuchstabierte Ambivalenz, die Naturerlebnisse für Menschen so anziehend macht. Die Natur in ihren widersprüchlichen, ambivalenten Eigenschaften ist so für die nie von Ambivalenzen freie menschliche Seele ein Ort, wo die inneren Ambivalenzen ihr bedrohliches oder auch krankmachendes Potential verlieren können. Indem die Natur sozusagen mit größter Selbstverständlichkeit Widersprüchliches, Ambivalentes, Spannungsreiches sowohl ist als auch symbolisch repräsentiert, kann sie zum symbolischen Hoffnungsträger dafür werden, dass sich Widersprüche, auch innerseelische Widersprüche, dialektisch „aufheben“ lassen. So kommt in der Natur das „Eine in sich selbst Unterschiedene“ (wie es Heraklit zur Kennzeichnung von Dialektik formuliert hat) zum Ausdruck. Ästhetisch oder schön 139

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7 Naturerfahrung und Gesundheit

ist dann weniger das Gefällige, sondern eher das Spannungsreiche, das Ambivalente, das Widersprüchliche. Auch im Hinblick auf psychische Gesundheit gilt, dass krank bzw. pathologisch nicht die Ambivalenz ist, sondern eher die scheinbare Notwendigkeit, sich auf eine Seite der Ambivalenz zu schlagen. „Gesund“ wäre dann, die Spannung zwischen Widersprüchen auszuhalten. So kennzeichnet Bauriedl (1984) die psychoanalytische (und auch die künstlerische) Haltung wesentlich damit, dass in ihnen die Ambivalenzspannung aufgenommen und ausgehalten werden kann. Victor von Weizäcker hat bereits im Jahre 1930 Gesundheit folgendermaßen definiert: „Die Gesundheit eines Menschen ist eben nicht ein Kapital, das man aufzehren kann, sondern sie ist überhaupt nur dort vorhanden, wo sie in jedem Augenblick des Lebens erzeugt wird. Wird sie nicht erzeugt, dann ist der Mensch bereits krank.“ Die Frage in unserem Zusammenhang wäre dann, ob Naturerfahrung ein wirksamer Faktor sein könnte, der bei der Erzeugung von Gesundheit von Bedeutung ist. Im Rahmen des Konzepts der Salutogenese (Antonovsky 1997) wäre diese Frage auch einer empirischen Erforschung zugänglich. Antonovsky geht davon aus, dass Gesundheit und Krankheit keine puren Entgegensetzungen sind. Menschen bewegen sich danach stets in einem Kontinuum zwischen den Polen Gesundheit und Krankheit. Wo wir uns hier befinden, wird wesentlich durch das sogenannte Kohärenzgefühl („sence of coherence“) gesteuert. Es drückt die subjektive Überzeugung aus, dass das Leben verständlich, beeinflussbar und bedeutungsvoll ist. Je stärker das Kohärenzgefühl ausgeprägt ist, desto besser sind die Chancen für das Subjekt, sich in Richtung des Gesundheitspols zu bewegen. In unserem Zusammenhang ist die These nicht unplausibel, dass das Kohärenzgefühl durch Naturerfahrungen, durch Aufenthalte in der freien Natur, beim Wandern, im Garten, im Kontakt mit Tieren zu unterstützen ist und damit die Möglichkeiten stärkt, die uns in Richtung des Gesundheitspols wandern lassen. Natur eignet sich offenbar dazu, innere Seelenzustände in äußeren Gegenständen zu symbolisieren. Das gilt – jedenfalls z. T. – auch umgekehrt: Das Erleben von äußerer heiler Natur kann eben heilsam auch für die innere Natur sein. „Der Stoff, an dem ich meine Seele übe“, sagte Alexander von Humboldt dazu. So kann eine naturnahe und zugleich symbolisch bedeutungsvolle Umwelt dazu beitragen, das besagte Köhärenzgefühl zu entwickeln. Eine solche naturnahe Umwelt hat zudem den Vorteil, dass sie relativ unerschöpflich ist und damit immer wieder zum Symbol eines geglückten, eines guten Lebens (Seel 1991, siehe auch Kap. 6 zur Bedeutung der Naturästhetik) werden kann.

8

Naturerfahrung und Umweltbewusstsein 8 Naturerfahrung und Umweltbewusstsein

8.1 8.1

Naturbeziehung und Naturverbundenheit Naturbeziehung und Naturverbundenheit

Neben den günstigen Wirkungen auf die seelische Entwicklung und auch davon unabhängig wird häufig in umweltpädagogischen Konzepten davon ausgegangen, dass Naturerfahrungen auch eine Bedingung dafür sind, sich für den Erhalt der Natur und Umwelt einzusetzen. Die Grundannahme dieses Ansatzes lautet, dass nur dann, wenn Kinder eine Beziehung zur Natur entwickeln, sie ihre Zerstörung auch wahrnehmen können. „Nur was ich schätze, bin ich bereit zu schützen.“ Wer immer auf asphaltierten Plätzen gespielt hat, wird sich kaum am Sterben der Wälder stören oder gar darunter leiden. Die Wirkung von Naturerfahrungen auf das Umweltbewusstsein wird dann auch entsprechend in umweltpädagogische Konzeptualisierungen umgesetzt: Naturerfahrung schaffe danach „a predisposition to take an interest in learning about the environment, feeling concern of it, and acting to conserve it, on the basis of formative experience“ (Chawla 1998, S. 19). Naturerfahrungen haben in diesem Zusammenhang die Funktion, die Menschen in ihren Einstellungen gegenüber der Natur und auch zu anderen Menschen zu beeinflussen. Viele Beispiele einer auf die Verbindung von Naturerfahrung und Umweltbewusstsein (vgl. Bögeholz 2006, Palmberg/Kuru 2000) zielenden „Erlebnispädagogik“ finden sich in Unterbruner/Forum Umweltbildung (2005). Wir wissen aus der umweltpsychologischen Forschung, dass eine entscheidende Einflussgröße auf das Umweltbewusstsein und v. a. das Umwelthandeln die sogenannte „Naturverbundenheit“ ist (Kals et al. 1999b). Dieses subjektive Gefühl von „Naturverbundenheit“ (Mayer/McPherson Frantz 2004, DeNeve 1999, Nisbet et al. 2009, Zelenski/Nisbet 2014, Pensini et al. 2016) kann durch Naturerlebnisse gefördert werden, und zwar sowohl bei Kindern als auch – wenn auch weniger ausgeprägt – bei Jugendlichen (Sothmann/Menzel 2016). Die Naturverbundenheit kann einerseits als Persönlichkeitsmerkmal (Nisbet et al. 2009) und als Teil des Selbstkonzepts (Schultz 2002) betrachtet werden, ist andererseits aber auch das Ergebnis positiver Erfahrungen in und mit der Natur, ist also veränderlich. Naturverbundenheit meint nicht lediglich eine oberflächliche Regung, wie dem Gefallen an Schmetterlingen oder Schneeflocken (Nisbet et al. 2009), sondern eine mehr oder weniger tiefe emotionale Beziehung, wobei psychologische Konstrukte von zwischenmenschlicher

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Gebhard, Kind und Natur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21276-6_8

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Nähe, Perspektivenübernahme und Altruismus auf die Beziehung zwischen Mensch und Natur übertragen werden (Mayer/McPherson Frantz 2004, S. 504). Nicht nur das subjektive Wohlbefinden in der Natur wird durch Naturverbundenheit begünstigt (siehe Kapitel 6), sondern – wahrscheinlich damit verbunden – auch eine gewisse Wertorientierung. Das Eintauchen („immersion“) in eine naturnahe Umgebung führt zu einem Anstieg prosozialer Orientierungen und im Gegenzug zu einer Abnahme selbstbezogener Bestrebungen (Ryan und Deci 2019, Weinstein et al. 2009). Vor dem Hintergrund der Selbstbestimmungstheorie der Motivation nehmen die Autoren an, dass besagtes Eintauchen in die Natur das Autonomieerleben fördert. Das auf diese Weise gesicherte Autonomieerleben macht es dann auch eher möglich, von sich selber abzusehen. Diese mit der Naturverbindung einhergehende soziale Werteorientierung ist im Hinblick auf die Entwicklung von natur- und umweltbezogenen Einstellungen von Bedeutung. So ist das Gefühl der „Naturverbundenheit“ (Mayer/McPherson Frantz 2004) ein wichtiges Element des Selbstkonzepts und hängt mit der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, mit dem Umweltbewusstsein und auch dem Umweltverhalten zusammen. Zugleich wissen wir auch von der umweltpsychologischen Forschung, dass die Kausalkette von Umweltwissen–Umweltbewusstsein–Umweltverhalten als ausgesprochen unsicher gelten muss (de Haan/Kuckartz 1998, Mandl/Gerstenmaier 2000, Kaiser/Fuhrer 2000, Lange 2000). Allenfalls 15 bis 20 Prozent der Varianz des tatsächlichen Umweltverhaltens lassen sich mit Modellen erklären, die auf dieser Kausalkette beruhen. Auch diesbezügliche Befunde und theoretische Ansätze der Sozialpsychologie (Vogelsang/Buchholz 2019) stützen eine entsprechende skeptische bzw. vorsichtige Haltung. Der sogenannte „actionknowledge-gap“ (Barth et al. 2012, Knutti 2019), also die Schere zwischen Umweltwissen bzw. -bewusstsein auf der einen Seite und entsprechendem Verhalten auf der anderen Seite ist insofern eine zentrale Herausforderung für die Umweltbildung (siehe auch Kapitel 14). Insofern ist es folgerichtig, bei der Genese von Umweltbewusstsein auch die Bedeutung von Naturerfahrungen zu bedenken. Dass mit dem Erleben von Natur auch moralische Aspekte berührt werden, ist ein Gedanke, den wir in dem Kapitel zur Naturästhetik (Kapitel 6) unter Bezugnahme auf Immanuel Kant schon behandelt haben. Das ist die These, „daß ein unmittelbares Interesse an der Schönheit der Natur zu nehmen […] jederzeit ein Kennzeichen einer guten Seele sei; und daß, wenn dieses Interesse habituell ist, es wenigstens eine dem moralischen Gefühl günstige Gemütsstimmung anzeige, wenn es sich mit der Beschauung der Natur gerne verbindet“ (Kant 1977, S. 395). Eben an dieser Stelle könnten sich die freizügigen Spiel- und Streifmöglichkeiten in der Natur als wirkungsvoll erweisen. Neben den günstigen Wirkungen auf die psychische Entwicklung (Kapitel 5), geradezu auf die Gesundheit (Kapitel 7) sind solche Naturerfahrungen auch ein Element einer positiv getönten Beziehung zur Natur, die ich in den Überlegungen zur Bedeutung der Naturästhetik bei Kindern auch als eine ästhetische Erfahrung charakterisiert habe (Kapitel 6). Die persönliche, subjektivierende Bedeutung von Naturerfahrungen hat dann etwas mit Wohlbefinden, Glück und sinnhaftem Leben zu tun. So erfüllt Natur nicht nur konkrete Bedürfnisse, sondern Natur wird zum Symbol eines „Sinnes, der dem Menschen als etwas ebenso Vor- wie Aufgegebenes erscheint

8.1 Naturbeziehung und Naturverbundenheit

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und dessen Nichtfunktionalität die Achtung“ (Honnefelder 1993, S. 262) vor der Natur begründet. So ist die symbolische Bedeutung von Natur, in der Erlebnisse in und mit der Natur und deren sinnstiftende Valenz zusammenfließen, ein wichtiger Aspekt von Naturerfahrungen. In diesem Kontext ist auch bedeutsam, dass Kinder (und übrigens auch Erwachsene) die Umwelt bzw. einzelne Elemente in ihr beseelen und damit auch animistisch und anthropomorph interpretieren. In Kapitel 4 ist ausführlich dargelegt worden, dass sich in dieser anthropomorph-animistischen Interpretation der Natur zugleich eine affektive Beziehung zur Natur offenbart, die auch im spielerischen Umgang mit der Natur aktualisiert wird (vgl. Meske 2011, S. 103). Der zentrale Gedanke ist dabei, dass mit der Anthropomorphisierung zum einen eine Moralisierung von Natur und zum anderen eine identitätsstiftende Funktion verbunden ist. Anthropomorphe Interpretationen erweisen sich – jedenfalls bei Kindern – als eine zentrale Argumentationshilfe bei dem Versuch, den Umgang mit nichtmenschlichen Objekten im Allgemeinen und Naturobjekten im Besonderen ethischen Kriterien zu unterziehen. Das konnten wir in naturethischen Gesprächen mit Kindern inhaltsanalytisch rekonstruieren (Gebhard et al. 2003, siehe auch Kapitel 4.6). Die Natur wird aufgrund der anthropomorphen Interpretation gar nicht ausschließlich als nichtmenschlicher Objektbereich angesehen. Menschliche Maßstäbe werden auf diese Weise auch zu Maßstäben im Umgang mit Naturobjekten. Oder zugespitzt formuliert: Auf diese Weise wird der menschliche Naturbezug ein humaner. Auch in der Umwelt- und Sozialpsychologie gibt es Überlegungen, ob und wie anthropomorphe Interpretationen genutzt werden können, um die Naturschutzkommunikation zu unterstützen (vgl. Waytz et al. 2010a, S. 425, Waytz et al. 2010b, siehe genauer Kapitel 4). Danach „wird den anthropomorphisierten Entitäten der Wert zuteil, beschützt und entsprechend respektvoll behandelt zu werden“ (Reese 2017, S. 38). Eben diesen Zusammenhang konnten wir in den besagten Kindergesprächen qualitativ rekonstruieren (siehe auch das Baumhausgespräch in Kapitel 15). Die Verwendung von Anthropomorphismen kann auch nützlich sein in der Informationsvermittlung bezüglich umweltgerechten Verhaltens. So hat sich gezeigt, dass eine anthropomorphisierte Glühbirne mit Mund, Augen und Nase eher umweltbewusstes Verhalten anbahnt als sachliche Darstellungen (Ahn et. al. 2014). Es gibt auch Studien, die das für die Anthropomorphisierung überhaupt von Natur belegen: Anthropomorphe Bilder des Planeten Erde konnten eher Verhaltensintentionen in Richtung eines nachhaltigeren Konsums auslösen als realistische Bilder (Tam et al. 2013). Auch der Erfolg der Bestseller von Peter Wohlleben (z. B. 2015, 2016), bei dem Anthropomorphisierungen als das wesentliche Stilmittel angesehen werden müssen, ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Insgesamt wird damit die Argumentation aus Kapitel 4 gestützt, nach der Anthropomorphismen nicht vorschnell als irrationales „Bambi-Syndrom“ abgetan werden dürfen. Freilich ist bei dieser emotionalen Unterfütterung unserer Umwelt- und Naturbeziehungen ein symboltheoretisches Verständnis grundlegend, wie es in Kapitel 2 und 4 mit dem didaktischen Postulat der „Zweisprachigkeit“ entfaltet wurde. In Interviews mit Kindern verschiedener Länder bzw. Kulturen (Brasilien, Portugal, USA), fand Kahn (2002) zwei – wie er sagt – universale moralische Orientierungen in 143

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8 Naturerfahrung und Umweltbewusstsein

Bezug auf die Umwelt: die biozentrische Orientierung, die der Natur einen intrinsischen Wert zubilligt, als die ontogenetisch frühe Form und die anthropozentrische Orientierung, die die Natur im Hinblick auf das vielfältig zu verstehende Wohl des Menschen bewertet, als eine spätere Form (Kahn 1999). Er stellt Überlegungen an, wie die biozentrische Perspektive in die anthropozentrische Orientierung integriert werden kann. Es komme darauf an, die frühe intuitive biozentrische Perspektive gewissermaßen durch reife Denkstrukturen zu transformieren. Dadurch würde zum einen die biozentrische Perspektive, die von einer Isomorphie von Mensch und nicht-menschlicher Natur ausgehe, gleichsam auf eine rationale Grundlage gestellt und zugleich würde die anthropozentrische Perspektive humanisiert (Kahn 2002, S. 97f.).

8.2 8.2

Naturerlebnisse und Umweltbewusstsein Naturerlebnisse und Umweltbewusstsein

Eine Reihe von empirischen Studien belegt nun in der Tat eine Korrelation von positiven Naturerlebnissen und umweltpfleglichen Einstellungen (z. B. Aguirre-Bielschowsky et al. 2012, Bexell et al. 2013, Collado et al. 2013, Nützel 2007). Nach den bereits in Kapitel 5 ausführlich dargelegten qualitativen Forschungen von Meske (2011, S. 270f.) scheinen vielfältige, intensive Naturerfahrungen die Genese eines Naturbildes zu fördern, in dem der Mensch als Teil der Natur und die Natur als bedroht wahrgenommen wird. Ein solches Naturbild sei zwar kein hinreichender, aber ein notwendiger Faktor für umweltgerechtes Handeln. Das Wissen um die Einheit „Mensch-Natur“ (Meske 2011, S. 270) wirke positiv auf umweltgerechte Handlungsweisen. Befunde im Umkreis der sogenannten „significant life experiences“ aus den USA, Australien und Großbritannien zeigen, dass Naturerfahrungen in der Kindheit einer der wichtigsten Anregungsfaktoren für späteres Engagement für Umwelt- und Naturschutz sind (Tanner 1980, Palmer/Suggate 1996, Palmer et al. 1998, Sward 1999, Wells/Lekies 2006). Persönliche Vermittlungen (Vorbilder) und Medien sind natürlich nicht unbedeutend, aber der unmittelbaren Naturerfahrung nachgeordnet (Zusammenfassung in Gebauer 2007, S. 126ff.). In einer neueren Studie (Pensini et al. 2016) bestätigt sich dieser Zusammenhang und ist interessanterweise verbunden mit einem erhöhten Wohlbefinden (siehe Kapitel 7). Sogar biologische Vielfalt geht mit Wohlbefinden einher (Schröder/Menzel 2015). Nach der Untersuchung von Hallmannn et al. (2005) (im Rahmen des LBS-Kinderbarometers NRW 2003 und 2004, N=4707, 9–14 Jahre) zeigt sich ein positiver Zusammenhang zwischen der Häufigkeit des Aufenthalts in der Natur und der subjektiven Wichtigkeit von Naturschutz. Noch mehr korreliert diese Naturerfahrung mit den Kenntnissen von Tierund Pflanzennamen. Bereits bei Grundschulkindern zeigt sich, dass eine positiv getönte Beziehung zur Natur mit Kenntnissen darüber zusammenhängt (Pohl 2006, Pohl/Schrenk 2002). Naturerfahrungen in der Kindheit prägen zudem auch die erwachsene Beziehung zur Natur einschließlich naturschützender Einstellungen und auch Handlungsbereitschaften. Eigner und Schmuck (1998) konnten bei erwachsenen Umweltaktivisten zeigen,

8.2 Naturerlebnisse und Umweltbewusstsein

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dass deren Engagement im Naturschutz mit positiven Naturerfahrungen in der Kindheit in Zusammenhang zu bringen ist. Lekies et al. (2015) beobachteten Jugendliche bei monatlichen Naturabenteuerunternehmungen über mehrere Jahre und konnten feststellen, dass eine respektvolle Haltung gegenüber der Natur mit der Zeit ausgeprägter wurde. Die Bereitschaft zum Naturschutz scheint mit dem Alter (von der sechsten zur neunten Klasse) (vgl. Brämer/Koll 2017, S. 10) zu sinken. Walderfahrungen korrelieren dabei signifikant mit aktivem Naturschutz: So sei feststellbar, „dass Jugendliche, die sich häufig im Wald aufhalten, eher naturschutzaktiv sind und junge Naturschützer zugleich mehr in der Natur erleben“ (Brämer/Koll 2017, S. 10). Auch in der Untersuchung von Liefländer (2013) ergab sich bei Kindern zwischen 9 und 13 Jahren eine ausgeprägtere Naturverbundenheit als bei Jugendlichen am Anfang der Pubertät. Bixler et al. (2002) zeigen in einer Befragung, dass Jugendliche, die als Kinder viel in der Natur gespielt haben, dies auch als Jugendliche gern tun. Zudem haben sie eine größere Vorliebe für natürliche Landschaften, Freizeitaktivitäten in der Natur und für Berufe, die etwas mit Natur zu tun haben. Dies scheint auch mit einem ausgeprägteren ökologischen Verhalten zu korrespondieren (Hartig et al. 2001, NÖ-Jugendstudie 2006). Langeheine und Lehmann (1986) haben schon in den 80er Jahren gezeigt, dass Naturerfahrungen in der Kindheit als ein wesentlicher Bedingungsfaktor für die Genese umweltbewusster Einstellungen und v. a. Handlungsbereitschaften anzusehen sind. Andere Faktoren (Schule, Massenmedien) müssen als ausgesprochen nachgeordnet angesehen werden. Freilich ist dieser Zusammenhang von Naturerfahrung und Umweltbewusstsein oder gar Umwelthandeln nicht zwingend, auch wenn er inzwischen durch eine Reihe von empirischen Studien (allerdings an Erwachsenen) aufgezeigt werden konnte (Chawla 1998, Dennis/ Knapp 1997, Grob 1991, Kals et al. 1998), worauf sich letztlich erlebnisorientierte umweltpädagogische Konzepte stützen (Chawla 1998, Göpfert 1988, Maaßen 1994, Unterbruner/ Forum Umweltbildung 2005, Heckmair/Michl 2012). Hervorzuheben ist zum einen, dass sich der besagte Zusammenhang vornehmlich auf alltägliche Naturerfahrungen in der Kindheit und weniger auf pädagogisch initiierte Erfahrungen bezieht. Zum anderen wurde er vor allem aus der Erinnerung von Erwachsenen rekonstruiert; es gibt also zumindest weniger Untersuchungen an Kindern und Jugendlichen. In diesem Zusammenhang sei die Studie von Bögeholz (1999) etwas ausführlicher dargestellt: Bögeholz unterscheidet fünf Naturerfahrungsdimensionen (vgl. Bögeholz/Mayer 1998), und zwar die ästhetische, die erkundende, die instrumentelle, die ökologische und die soziale Naturerfahrungsdimension (Bögeholz 1999, S. 22). In einer Befragung von Kindern und Jugendlichen wurde zum einen nach der Häufigkeit von Naturerfahrungen gefragt und zum anderen auch nach der subjektiven Wertschätzung von Naturerfahrungen. Das Erhebungsinstrument umfasste außerdem Umweltwissen und v. a. die Umwelthandlungsdimension. Befragt wurden 1243 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 10 und 18 Jahren, die zur einen Hälfte in natur- und umweltbezogenen Gruppen (z. B. BUND, NABU oder Pfadfinder) und zur anderen Hälfte nicht in solchen Gruppen organisiert waren. Für den in diesem Kapitel interessierenden Zusammenhang der Bedeutung von Naturerfahrungen sind die folgenden Befunde bedeutsam: 145

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8 Naturerfahrung und Umweltbewusstsein

• Die Häufigkeit von Naturerfahrungen ist bei den Mitgliedern naturbezogener Gruppen signifikant höher. • Die Naturaktiven verfügen auch über größeres Umweltwissen (Artenkenntnisse, ökologische Konzepte). • Auch die Handlungsintentionen bezüglich Naturschutz sind bei den Naturaktiven ausgeprägter. • Der Anteil der Mädchen am ästhetischen Typ ist höher als der Anteil der Jungen, dagegen ist der Anteil der Jungen am instrumentell-erkundenden und ökologisch-erkundenden Typ größer. • Häufige Naturerfahrungen werden positiv erlebt. • Besonderen Einfluss auf Handlungsintentionen hat die erkundende, gefolgt von der ästhetischen und ökologischen Naturerfahrungsdimension. • Relativ unbedeutend in dieser Hinsicht ist die soziale Dimension, womit der soziale Kontakt zu Haustieren erfasst ist. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Lude (2001). Auch hier konnte ein Zusammenhang von Naturerfahrung und Umwelthandeln nachgewiesen werden, wobei zusätzlich die Art der Naturerfahrung einbezogen wurde. Am wichtigsten ist danach die soziale Dimension (Beziehung zu Heimtieren), gefolgt von der ästhetischen, erholungsbezogenen, der medialen, der erkundenden, der instrumentellen, der ernährungsbezogenen und der naturschutzbezogenen Dimension. Insgesamt zeigen die dargestellten Untersuchungen, dass Naturerfahrungen das Umweltbewusstsein und zum Teil auch das Umwelthandeln im Alltag (Verkehr und Abfall) positiv beeinflussen. Für die Umweltbildung fast noch entscheidender ist allerdings die Frage, ob auch pädagogisch initiierte Naturerfahrungen ähnliche Effekte haben. Hier sind vor allem die methodisch sehr sorgfältig evaluierten Untersuchungen von Bogner von Interesse: Aufenthalte in pädagogisch betreuten Nationalparkaufenthalten führen zu einer positiveren Einstellung zum Naturschutz (Bogner 1998, 1999, Bogner/Wisemann 2004, vgl. auch Bittner 2003, Maack-Rheinländer 1999). Der Aufenthalt in der Natur verlangt offenbar auch nach Wiederholung; es tritt kein Sättigungseffekt ein (Bogner 1998, Lude 2001). Vor allem die längeren Interventionen (möglichst fünf Tage) sind wirksam. Überhaupt scheinen die kompakten längeren Angebote wirksamer zu sein als viele kürzere Angebote (Stern et al. 2008), allerdings ist nach Collado et al. (2013) ein zweiwöchiger Campaufenthalt nicht wirksamer als ein einwöchiger. Außerdem ist ein biographisch frühzeitiger Beginn für die Genese von Natur- und Umweltbewusstsein zumindest sehr sinnvoll (Meske 2011, Ernst/Theimer 2011), wie überhaupt die Menschen, die schon als Kinder positive Naturerfahrungen machen konnten, auf diese ein Leben lang zurückgreifen können (Hunziger et al. 2012). In einer Evaluationsstudie über die Effekte der Erfahrung von verwilderter Natur konnten Langenhorst und Lude (2014) zeigen, dass umweltpädagogisch begleitete längere Wildnisaufenthalte sowohl das Nachdenken der Schülerinnen und Schüler über ihren mehr oder weniger nachhaltigen Lebensstil als auch die Intensität ihrer Naturerfahrungen

8.2 Naturerlebnisse und Umweltbewusstsein

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fördert (Langenhorst/Lude 2014, S. 248). Ein wesentlicher Wirkfaktor ist dabei nicht nur die Erfahrung von Wildnis, sondern auch deren Reflexion (siehe Kapitel 8.3). Es gibt auch Hinweise, dass Naturerfahrungen, die mit modernen Medien wie Smartphone oder Tablet kombiniert werden, ebenfalls Einstellungsmuster speziell zu Biodiversität (Schaal et al. 2018), aber auch zu allgemeinen Nachhaltigkeitsfragen (Schaal/Lude 2015) positiv beeinflussen können. Auch mit Geogames gibt es diesbezüglich evaluierte Erfahrungen (Schaal et al. 2015, Schuler et al. 2019). Ein tiefer Zusammenhang zwischen der Art unserer Naturerfahrung und der Art unserer (auch moralisch konnotierten) Naturbeziehung wird sehr komplex von Gebauer (2007) hergestellt: Er untersuchte in einer Kombination von quantitativen (Fragebogen, N=364) und qualitativen (Interviews, N=32) Methoden die Naturkonzepte von Grundschulkindern und vor allem, ob diese mit spezifischen Naturerfahrungen zusammenhängen. Vor dem Hintergrund seiner empirischen Befunde unterscheidet er drei Naturkonzepte bei den Kindern (vgl. auch Lude 2001): Das biozentrisch-naturaffine Konzept (38,0 %): Dieser Typ ist „durch ein großes naturbezogenes Wissen, positive naturbezogene Affekte und eine Affinität zu unberührter Natur“ auf „der Basis eines biozentrischen Mitweltkonzepts“ (Gebauer 2007, S. 240) zu charakterisieren. Das anthropozentrisch-naturaffine Konzept (38,6 %): Natur hat zwar einen hohen Stellenwert, Vertreter dieses Typs haben jedoch ein „unterdurchschnittliches Wissen, ambivalente Affekte und eine Affinität zu Kontrolle, Beherrschung und Nutzung der Natur“ (Gebauer 2007, S. 240). Das anthropozentrisch-naturferne Konzept (23,4 %): Dieser „beziehungslose“ Typ ist durch „überwiegend negative Affekte, teilweise aversive naturbezogene Einstellungen und ein weitgehendes Desinteresse an Phänomenen, Organismen und Naturvorgängen in Folge mangelnder sozialer und kultureller Ressourcen“ (Gebauer 2007, S. 240) zu kennzeichnen. Gebauer (2007, S. 244f) bringt diese Typen ursächlich in Verbindung mit bindungstheoretischen Ansätzen: Ein sicherer Bindungsstil prädisponiere danach zu einer „biozentrischen Persönlichkeit“, der vermeidende Bindungsstil hänge mit einer anthropozentrischen Weltsicht zusammen und schließlich entspricht der desorganisierte Bindungsstil dem „beziehungslosen Typ“. Das Interessante an dieser These ist, dass hier Naturbeziehungen und Beziehungsmuster zu Menschen entsprechend des in Kapitel 2 eingeführten dreidimensionalen Persönlichkeitsmodells zusammengedacht werden und damit Naturbeziehungen nicht als gleichsam naturwüchsige konzeptualisiert werden. Zudem trägt diese Zusammenschau dem Umstand Rechnung, dass Naturkonzepte stets historische und kulturelle Konstrukte sind. Natürlich wirken dabei Naturerfahrungen nicht gleichsam deterministisch auf das Umweltbewusstsein; weitere biographische, kulturelle und soziale Bedingungen greifen hier entscheidend modifizierend ein (Gough 1999), sind möglichweise für die Natur- und Umweltbeziehung sogar entscheidender als die unmittelbaren Naturerfahrungen (Cheng/ Monroe 2012). Diese individuellen Sozialisationsbedingungen wurden im Hinblick auf das Umweltbewusstsein unter dem Stichwort „Lebensstile“ genauer untersucht (Rink 147

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8 Naturerfahrung und Umweltbewusstsein

2002, Schuster et al. 2008, Zubke 2006). In diesem Kontext muss auch erwähnt werden, dass sogenannte bildungsbenachteiligte Menschen sowohl im Hinblick auf ihren Naturzugang als auch im Hinblick auf umweltpflegliche Einstellungen geringere Werte haben. Bei Erwachsenen ist das sehr eindeutig von den Naturbewusstseinsstudien des Bundesamts für Naturschutz (BMUB/BfN 2016, 2018) belegt und auch bei Kindern zeigt sich dieser Befund (Fisman 2005).

8.3 8.3

Naturerlebnis und Reflexion Naturerlebnis und Reflexion

Unsere Verbundenheit mit der Natur ist eher von positiven Erlebnissen und von Intuitionen als von rationalen Argumenten geprägt (Montada 2000, Schultz et al. 2004). Zudem ist bekannt, dass Wissen allein kein Prädiktor für umweltpflegliche Einstellungen oder gar Verhaltensweisen ist (siehe ausführlich Kapitel 14.4.4). Natürlich ist Wissen bei der Bewältigung der Umweltsituation nicht unwichtig und vor allem die Notwendigkeit der Reflexion ist in ausgesprochener Weise zu betonen. Darum geht es im Folgenden. Jedenfalls ist es vor dem Hintergrund der dargelegten Befunde „vernünftig“, bei Naturerlebnissen bzw. überhaupt in der Naturdebatte die erlebnisbezogene und intuitive Ebene wieder salonfähig zu machen (vgl. z. B. Schemel 2004, Theobald 2003). Im Anschluss insbesondere an Haidt (2001) ist davon auszugehen, dass Naturerlebnisse vor allem und primär die Intuition beeinflussen und erst im zweiten Schritt bzw. nachträglich und nicht notwendig die Reflexion (Gebhard 2007, 2015a). Der intuitiv-emotionale und auch ästhetische Zugang zur Natur wird allerdings bei der Aufklärung über Natur- und Umweltschutz nur wenig „bedient“, was eine der zentralen Ursachen für das Kommunikations- und Akzeptanzproblem des Naturschutzes sein könnte (vgl. Meier/Erdmann 2004). Bisherige eher rationalistische Ansätze in der Moralpsychologie gehen mit Piaget und Kohlberg davon aus, dass der Mensch zu moralischem Wissen und moralischem Urteilen primär durch einen Prozess des rationalen Denkens gelangt. In neueren intuitionistischen Ansätzen der Moralpsychologie wird dagegen angenommen, dass zunächst eine moralische Intuition vorhanden ist und diese direkt das moralische Urteil verursacht. Das rationale Denken findet überwiegend nach dem intuitiven Urteil, also als post-hoc-Rechtfertigung statt. Dabei wird in der Regel überwiegend nach Pro-Argumenten für das intuitiv bereits gefällte Urteil gesucht. Haidt zufolge gleicht die moralische Argumentation eher dem Plädoyer eines Rechtsanwalts (bei dem die zu vertretende Position durch den Auftrag bereits feststeht) als der Argumentation eines wahrheitssuchenden Wissenschaftlers (bei dem die Lösung offen ist). Somit bleibt das am Anfang intuitiv gewonnene moralische Urteil auch nach dem rationalen Denken unverändert (Haidt 2001). Selbstverständlich sind Intuitionen nicht die besseren Urteile. Aber – weil sie maßgeblich auf Denken und Handeln Einfluss nehmen – müssen sie in Reflexionsprozessen berücksichtigt werden. Darum geht es hier. Naturerfahrungen und die dabei aktualisierten Naturbilder werden also, betrachtet man sie vor dem theoretischen Hintergrund des sozial-intuitionistischen Modells, in der Tat eine

8.3 Naturerlebnis und Reflexion

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Funktion im Hinblick auf unser Naturverhältnis und auf unser Naturbewusstsein haben. Der pädagogisch-didaktische Ansatz der Alltagsphantasien (Gebhard 2015a, 2016c und d) akzentuiert in diesem Kontext die Bedeutung der Reflexion der intuitiven Vorstellungen, die auch, vielleicht sogar gerade bei Naturerfahrungen eine wichtige Rolle spielen. Dabei geht es um die bereits (in Kapitel 4) benannte Fähigkeit der „Zweisprachigkeit“, nämlich zwischen rationalen und intuitiven Vorstellungen (über Natur) hin- und her zu pendeln, beide Seiten zu kultivieren, ohne sich auf eine Seite schlagen zu müssen (vgl. Wiegelmann/ Zabel 2020). Damit verbunden ist ein Verzicht auf jegliche Form von Moralisierung. Das Wesentliche ist dabei, dass die Naturerlebnisse zum Gegenstand von expliziter Reflexion gemacht werden. Durch reflexive Prozesse im Kontext von Naturerlebnissen denken Kinder und Jugendliche nicht nur über die Natur nach, sondern auch über sich selber. Derartige Bildungsprozesse verstanden als eine Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen (Koller 2012) können eine persönlichkeitswirksame Dimension entfalten. Im Ansatz der Alltagsphantasien wird versucht, das Spannungsverhältnis von Reflexion und Intuition fruchtbar zu machen – auch wegen der eklatanten Diskrepanz zwischen Naturbewusstsein und tatsächlichem Verhalten. Im Hinblick auf Umweltbildungsprozesse lautet dabei die zentrale These, dass ein Wandel der Naturbeziehungen inklusive entsprechender Handlungsbereitschaften dann eine Chance hat, wenn die erlebnisbezogenen, intuitiven Bilder und Phantasien zu Natur einerseits und die ökologischen, politischen, kulturellen usw. Argumente im Hinblick auf Natur andererseits miteinander in Beziehung gebracht werden. Die Argumentation folgt dabei keinem antirationalen, naturschwärmerischen Duktus, sondern der Überzeugung, dass es rational ist, auch irrationale Anteile zum Gegenstand der Reflexion zu machen. Die Wirkungen von Natur und Landschaft lassen sich wie gesagt nicht ohne ihre kulturelle Prägung und symbolische Aufladung verstehen. Deshalb sind bei Naturerlebnissen auch reflexive Naturinterpretationen nötig, die gut durch die Methode des Philosophierens mit Kindern und Jugendlichen angebahnt (Gebhard/Michalik 2017, Michalik 2010) werden können. Theoretisch gründet dieser Gedankengang in dem Ansatz des Erfahrungslernens (Combe/Gebhard 2007, 2012). Die zentrale Bedeutung von Reflexion wird auch in dem Erfahrungskonzept von Dewey (2000/1916) hervorgehoben. Dewey beschreibt den Beginn des Erfahrungsprozesses als ein krisenhaftes Geschehen, das aus der Zeit und Kontinuität herausrückt. Eine solche Situation enthält eine Fremdheitszumutung, einen Moment des „Widerfahrnisses“ (Waldenfels 2002). Die Öffnung eines Vorstellungs- und Phantasieraumes ist dann der entscheidende Schritt für die Produktivität der Erfahrung. Dieser Schritt führt über die Irritation hinaus und macht verstehbar, warum man den Anspruch von Erfahrungen und den damit verbundenen Irritationen auf sich nimmt. Schließlich – und das ist bei der Begründung der Notwenigkeit von Reflexion der entscheidende Punkt – geht es bei Erfahrungen auch um die Suche nach einer Sprache, in der Erlebnisse, Wünsche, Phantasien und Emotionen artikuliert werden können, die bislang keinen Ausdruck finden konnten und die zudem Bezug nimmt nicht nur zur inneren Phantasieebene, sondern auch zur äußeren Realität. Erst durch die Reflexion wird das Er149

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8 Naturerfahrung und Umweltbewusstsein

lebnis zur Erfahrung. Reflexion kann zwar auch im Inneren, also ohne Versprachlichung, stattfinden. Doch die Sprache bzw. ein Gespräch hilft dabei, das Gedachte zu ordnen, es zuzuspitzen und sich vielleicht auch manchen Dingen erst bewusst zu werden. Bei diesen sprachlichen Reflexionen über Naturerlebnisse wird stets auch unser Verhältnis zu uns selbst sichtbar, weil Naturphänomene Anlässe sind, uns auf uns selbst zu beziehen. Diese Verbindung von Natur-Erfahrung und Selbst-Erfahrung ist symbolisch zu verstehen und sprachlich vermittelt. Ein äußeres Phänomen (z. B. die Natur) wird zu einer besonderen, subjektiv bedeutsamen inneren Erfahrung. Dabei ist es mehr eine Sache der Atmosphäre als eine Sache der zielgerichteten Entscheidung, ob diese Erfahrung eintritt. Es geht also vor allem um diesen atmosphärischen Akzent des Erlebnisses, in dem Selbst und Welt irgendwie atmosphärisch korrespondieren, ja wo man gar nicht mehr genau bestimmen kann, ist es nun eine Erfahrung von Natur oder eine Erfahrung von mir selbst. Es wird im Natur-Erlebnis dasselbe. Diese Verbindung von Innen und Außen, von Subjekt und Objekt, von Selbst und Welt (siehe ausführlich Kapitel 2) ist deshalb wichtig, als durch Naturerlebnisse eine Änderung der Subjekte im Hinblick auf den Umgang mit Natur erhofft wird. Auch die in Kapitel 8.2. erwähnten wildnispädagogischen Befunde von Langenhorst und Lude (2014) zeigen, dass nicht nur die Erlebnisse selbst in der Wildnis von Bedeutung sind, sondern vor allem deren Reflexion. Auch in der bereits erwähnten qualitativen Studie über jugendliche Naturerfahrungen in schulischen Kontexten (Früchtnicht 2020) wurde deutlich, dass die Versprachlichung von Erlebnissen und das dabei stattfindende Aufgreifen subjektiver Anteile von den Jugendlichen durchgehend positiv bewertet wird. Zudem zeigte sich, dass die Versprachlichung in Gruppengesprächen zu vertieften und zu weiterführenden Erfahrungsprozessen führen kann. Insgesamt wird die Annahme eines positiven Zusammenhangs von Naturerfahrungen und Umweltbewusstsein von den dargestellten empirischen Forschungen (Kapitel 8.2) gestützt. Bereits Thoreau (1988) hat dies zugespitzt und emphatisch formuliert, nämlich dass in der Natur, genauer „in wilderness“ die „preservation of the world“ angelegt sei. Trotzdem soll am Ende dieses Kapitels noch eine relativierende Anmerkung angefügt werden: Bei meinen Überlegungen zur Bedeutung von Naturerfahrungen in der seelischen Entwicklung von Kindern ist die Förderung von Umweltbewusstsein nämlich nicht der zentrale Punkt. Im Gegenteil: Meine Argumentation zielt eher darauf ab, dass Naturerfahrungen Kindern in vielen Hinsichten gut tun (ausführlich Kapitel 5), dass sie hier geradezu Glücksmomente erleben können (Gebhard 2015b), und weniger auf eine Moralisierung der Kinder. Außerdem ist es die Frage, ob diese moralisierende Funktion zielgerichtet angesteuert werden darf. Es spricht viel dafür, dass die Wertschätzung von Natur eher das Ergebnis von beiläufigen, gelungenen Erfahrungen in der Natur ist, unabhängig von deren umweltpädagogischen Intentionen. So konnten Collado et al. (2013) zeigen, dass Naturerfahrungen in einem Campaufenthalt die emotionale Verbundenheit zur Natur gefördert haben – und zwar völlig unabhängig von umweltpädagogischen Programmen. Auch Meske (2011, S. 270) will in ihrem pädagogischen Vorschlägen Kindern lediglich die Möglichkeit eröffnen, „ihre je eigenen Naturbilder zu entwickeln, diese aber zu reflektieren und durch eigene Erfahrungen zu erweitern und zu ergänzen.“

8.3 Naturerlebnis und Reflexion

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Die Erhöhung der Wertschätzung von Natur wäre dann ein geradezu unbeabsichtigter Nebeneffekt von Naturerlebnissen. Es bleibt der Freiraum und die eigene Aktivität, die die Natur attraktiv machen. Dass derartige Erfahrungen auch in pädagogisch gerahmten Veranstaltungen eröffnet werden können, zeigen viele gelungene Beispiele, die weniger lehrerzentriert, sondern vielmehr erfahrungsorientiert sind (Ballantyne/Packer 2009, Nadelson/Jordan 2012). Deshalb ist im Blick zu behalten, dass und inwiefern Naturerlebnisse einfach nur gute Erlebnisse sind, die freilich auch eine Wirkung auf unsere Naturbeziehungen haben.

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Anthropologische Aspekte des Mensch-Natur-Verhältnisses

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Die Frage, welche Natur der Mensch schön findet oder geradezu, was der Mensch an Naturerfahrung „braucht“, wird häufig als eine Frage nach seiner biologischen Ausstattung diskutiert. Es gibt einige Ansätze, die ein quasi angeborenes Naturbedürfnis mit der biologischen Evolution des Menschen in Verbindung bringen und daraus auch soziokulturelle Verhältnisse abzuleiten versuchen. Sehr verbreitet und prominent werden solche Positionen in der naturbezogenen Gesundheitsforschung vertreten (siehe Kapitel 7, kritische Zusammenfassung Völker 2016). Aber auch in der Natur- und Umweltpädagogik sind solche biologischen Begründungen unseres Naturbedürfnisses und darauf bezogene normative Positionen sehr verbreitet. „Die sich selbst steuernde Natur in ihrer ganzen Fülle, Vielfalt und Unfassbarkeit ist eine Quelle für ethische, geistige, emotionale und ästhetische Anregung, die uns dafür zur Verfügung steht. Natur ist ein Lehrmeister, weil der Mensch und seine Kulturalität körperlich, sozial und psychisch aus der Naturgeschichte hervorgegangen ist und immer noch in Grundzügen ihren Regeln folgt“ (Jung 2012, S. 10). Für diese anthropologisch und evolutionär fundierte Naturverbindung benutzt Jung den Begriff des „Psychotops“ (Jung 2017, 2020/21). Natürlich lassen sich keine sozialen, kulturellen, subjektiven Phänomene denken, die im Gegensatz zur biologischen Ausstattung des Menschen stehen, aber ob unsere Naturorientierungen und auch andere Werte und Normen vorwiegend als Ergebnis natürlicher, also auch evolutionärer Prozesse zu verstehen sind, ist damit natürlich noch nicht geklärt, auch wenn dies einer weit verbreiteten und auch verständlichen Intuition entsprechen sollte (Daston 2018). In Kapitel 3 über den Naturbegriff ist ein damit in Verbindung stehender (ethischer) Naturalismus bereits kritisch angesprochen worden und so sind auch die im vorliegenden Kapitel vorgestellten anthropologischen Zusammenhänge in dem dort diskutierten dialektischen Spannungsverhältnis von Natur und Kultur zu verstehen. Driver und Greene (1977) behaupten, dass es eine angeborene Tendenz des Menschen gibt, möglichst naturnahe Stimuli zu „suchen“. Das sind solche Reize, die in relativer Übereinstimmung mit der psychischen Ausstattung des Menschen sind, welche ihrerseits als ein Ergebnis evolutiver Anpassungsmechanismen an die jeweils natürliche Umwelt verstanden werden müssten. Am deutlichsten zugespitzt wird diese Annahme in der sogenannten „Biophiliehypothese“ von Wilson (1984). Diese Hypothese besagt, dass es

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Gebhard, Kind und Natur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21276-6_9

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ein fundamentales und genetisch fundiertes Bedürfnis des Menschen sei, eine besondere Nähe zur lebendigen Natur zu haben (siehe ausführlich in Kellert/Wilson 1993). Diese umstrittene und auch bestreitbare Hypothese (vgl. Kahn 1999, Kirchhoff 2018) wird häufig in Zusammenhang gebracht mit der Annahme einer evolutionär entstandenen besonderen Bevorzugung von savannenähnlichen Landschaftstypen und dem Nachweis besonders heilsamer Wirkungen von Naturerfahrungen. Dabei spielt sowohl der bereits in Kapitel 7 behandelte gesundheitsförderliche Effekt von naturnahen Landschaften eine Rolle, aber auch die tiergestützte Pädagogik und Therapie ist hier zu nennen (s. Kapitel 10.7). Die Biophiliehypothese ist so auch leitend für eine Vielzahl von psychologischen Untersuchungen zur Bedeutung von Naturerfahrungen in den USA. Ein fundamentales, genetisch bedingtes Bedürfnis nach Naturnähe wird in diesem Kontext auch als das stärkste Argument dafür angesehen, dass Kinder Natur brauchen. Verbeek und de Waal (2002) verweisen zur biologischen Fundierung von Naturbedürfnissen im Kontext der Biophiliehypothese auf vergleichende ethologische Studien mit nicht-menschlichen Primaten, die zeigen, dass und wie sehr beispielsweise Schimpansen auch emotional an ihre natürliche Umgebung gebunden sind. Ähnlich wie Searles aus der Sicht der Psychoanalyse (siehe ausführlich Kapitel 2) sprechen Verbeek und de Waal (2002, S. 16) von einer gewissen Verwandtschaft („kinship“) zwischen Mensch und nicht-menschlicher Umwelt (vgl. auch de Waal 1999). In diesem Kontext resultiert die Resonanz des Menschen auf Natur aus Überlebensanforderungen der frühen Menschheitsgeschichte. Die Bevorzugung von savannenartigen Naturlandschaften hängt danach mit der Aussicht auf Nahrung, Schutz und Zuflucht zusammen (Appleton 1975), indem sie das Überleben von Jägern und Sammlern begünstigen (Orians 1980). Sie bieten gleichzeitig Kohärenz, Komplexität, Lesbarkeit und Rätselhaftigkeit (Information-Processing Theory von Kaplan/Kaplan 1989) und provozieren mit erholungsfördernden Eigenschaften (Komplexität, Struktur, Fokalität, Weiträumigkeit, Textur, Gefahrenpotential, Wasser) ungerichtete Aufmerksamkeit (Ulrich 1983). Zudem ermöglichen sie Abwechslung, Faszination und zur Exploration anregende Ausdehnung (Kaplan/Kaplan 1989). Nach der besagten Biophilie-Hypothese haben Menschen grundsätzlich eine emotionale Affinität zu Leben und Lebensprozessen, wodurch die beruhigenden, erholsamen und sogar heilenden Effekte lebendiger Natur zu erklären seien. Nach der Prospect-Refuge Theory (Appleton 1975) wird diejenige Naturumgebung bevorzugt, die existenziellen Bedürfnissen des Menschen entgegenkommt. Im Wesentlichen geht es dabei um die Möglichkeit zu sehen, ohne gesehen zu werden, also zum einen um das Bedürfnis nach Erkundung (‚prospect‘) durch einen gewissermaßen freien Blick (z. B. Panorama-Blicke) und zum anderen aber auch um Rückzugsmöglichkeiten (‚refuge‘). Im Kontext entsprechender Habitattheorien spitzte Orians (1980) diese Überlegungen in der sogenannten Savannen-Theorie zu. Savannenähnliche Landschaften erfüllen genau diese Anforderungen: Sie gewähren einen guten Überblick durch Orientierungs- und Erkundungsmöglichkeit und zugleich bieten sie Rückzugmöglichkeiten durch Strauchund Baumgruppen. Mit dieser Ausrichtung seien auch ästhetische Vorlieben verbunden. Weitere Landschaftselemente, die in dieser theoretischen Perspektive das Überleben sichern, sind Nahrungsquellen und insbesondere die Aussicht auf Wasser. Auch hier

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konnten zahlreiche Studien einen positiven Zusammenhang zwischen der Aussicht auf Wasser und der ästhetischen Bewertung der Landschaft nachweisen (Falk/Balling 2010, Han 2007). Lückmann et al. (2013) konnten in einer Feldstudie mit jungen Menschen nachweisen, dass sie zwei ihnen unbekannte Landschaften nach dem Muster der Habitattheorien bewerteten, indem Aussichtspunkte positiver bewertet und exponierte Tallagen negativer bewertet wurden als das übrige Gelände. Dasselbe galt für Aussicht auf Wasser. Gegen diese Art von „evolutionärem Intuitionismus“ (Bourassa 1991, Paden et al. 2012) gibt es eine Reihe von Einwänden, die Kirchhoff (2018, S. 87ff) in den folgenden zwei Punkten zusammenfasst: Erstens seien unsere Vorfahren nicht alle in den Savannenlandschaften Afrikas genetisch geprägt worden, auch in anderen Regionen der Erde habe es evolutionäre Prägungen gegeben. Zweitens sei die große Diversität naturästhetischer Ideale mit der Savannentheorie nicht erklärbar: Nicht nur savannenartige Landschaften werden präferiert, sondern auch beispielsweise Gebirge und wilde Wälder. Auch der oft kurzfristige Wandel naturästhetischer Vorlieben sei nur mit „kulturalistischen Ästhetiktheorien“ verstehbar: „Nun mag es zwar durchaus angeborene Referenzmuster geben, die für die menschliche Naturwahrnehmung von Bedeutung sind – historischen Wandel und kulturelle Besonderheiten ästhetischer Vorlieben können sie freilich nicht erklären“ (Kleeberg 2003, S. 177). In den Ausführungen zum Naturbegriff in Kapitel 3 ist diese kulturwissenschaftliche Version unserer Naturbeziehungen bereits ausgeführt worden und natürlich müssen die anthropologischen Mutmaßungen, die im Folgenden noch genauer begründet werden, in einem spannungsvollen relationalen Verhältnis zu diesen naturphilosophischen Überlegungen gesehen werden. Denn „natürlich“ wirkt „Natur“ nicht gleichsam automatisch entlang von biologisch-anthropologischen Konstanten. In diesem Kontext ist dann auch die symboltheoretische Interpretation unserer Naturbeziehungen zu sehen, wie ich sie in Kapitel 7.4 entfaltet habe. In der Tat kann man, was das Natur- und Landschaftsgefühl des Menschen angeht, mit Sieferle (1986) bezweifeln, ob „die ästhetische Plastizität des Menschen so weit geht, dass er keinen qualitativen Unterschied zwischen dem Altmühltal vor und nach dem Bau des Main-Donau-Kanals mehr sieht.“ Sieferle nennt als Beispiel für das menschliche Bedürfnis beziehungsweise seine Sehnsucht nach Natur die Tendenz des neuzeitlichen Menschen, „schöne“ und „natürliche“ Landschaft aufzusuchen, die im Gegensatz zur industriell überformten und auch zerstörten Landschaft steht. Und konsequent fragt er, ob möglicherweise das Landschaftsgefühl zur „anthropologischen Grundausstattung“ gehören könnte. Dagegen spricht freilich, dass es die „Naturlandschaft“, die jetzt Ziel der Natursehnsüchte des gestressten Städters ist, erst einige Jahrhunderte gibt. Insofern ist diese Naturlandschaft eigentlich Kulturlandschaft, die wohl kaum anthropologisch festgeschrieben sein dürfte (vgl. die Ausführungen zum Naturbegriff in Kapitel 3). Trotzdem erscheint es mir sinnvoll, über mögliche anthropologische Aspekte zumindest versuchsweise nachzudenken, ehe sich die Menschen an jede nur mögliche Ausprägung von Natur „anpassen“ oder gewöhnen. Dabei ist allerdings im Auge zu behalten, dass die Anthropologie zur Frage des menschlichen Naturverhältnisses allzu viel (noch) nicht zu sagen hat, wie der Anthropologe Baitsch (1982, S. 10) wohl zutreffend formuliert: 155

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Nur ganz selten fragte der Anthropologe danach, was die Umwelt uns Menschen bedeutet, welchen Sinn sie uns vermittelt, nie ist das gemeinsame Eingebundensein von Mensch, Tier und Pflanze zum Gegenstand von anthropologischer Forschung geworden.

Geiler (1973, S. 46) begreift den Urlaub (in der Natur) „als eine Art Reminiszenz an das Nomadendasein des zwangsweise sesshaft gewordenen Menschen“ (vgl. auch Grimm 1970). Allerdings weist Geiler nachdrücklich darauf hin, dass es keine eindeutig ökologisch erfassbare Umwelt gibt, auf die der Mensch optimal adaptiert ist, da die Umwelt des Menschen immer schon kulturell überformt ist. Er nennt die komplexe Umwelt des Menschen, in der sich natürliche und künstliche Elemente geradezu unentwirrbar kombinieren, „Biotopoid“. Diese Einschränkung ist im Blick zu behalten, wenn in den nun zu diskutierenden anthropologischen Ansätzen von „natürlicher Umwelt“ des Menschen gesprochen wird. Eine Argumentation, die die phylogenetische Gewordenheit des Menschen auch in psychologischen und soziologischen Kontexten reflektiert, wird bisweilen als „biologistisch“ kritisiert. Der Biologismusvorwurf trifft sicherlich dann zu, wenn allzu umstandslos Fakten oder Theorieelemente aus der Biologie auf den Menschen übertragen werden, ohne dabei genügend die kulturellen, sozialen und psychischen Besonderheiten des Menschen und seiner Geschichte zu beachten. Jedoch kann auf der anderen Seite mit dem Biologismusvorwurf jegliche Überlegung bereits im Keim erstickt werden, die unter Beachtung der Besonderheit des Menschen (nämlich als Natur- und Kulturwesen) auch biologische und stammesgeschichtliche Details in die Argumentation mit einbezieht. Eine solche biologische Argumentation hat natürlich nicht die Reichweite, etwa abschließend menschliches Verhalten zu erklären (das wäre in der Tat biologistisch), jedoch kann sie als eine Ebene des Verstehens durchaus sinnvoll sein. So ist keineswegs eine Position, nach der auch psychische und soziale Phänomene in einen Zusammenhang mit der biologischen Ausstattung des Menschen gebracht werden, notwendigerweise biologistisch. Im Gegenteil: die psychischen, sozialen und kulturellen Eigenschaften des Menschen können gar nicht im Gegensatz zur biologischen Natur des Menschen gedacht werden. Kultur (einschließlich seelischer und sozialer Phänomene) ist eine Äußerungsform menschlicher Natur. Denn selbstverständlich ist die Natur des Menschen nicht auf das Somatische und dessen physiologische Funktionen beschränkt, und ebensowenig läßt sich die Natur des Menschen eingrenzen auf das, was er „angeborenermaßen“ in diese Welt mitbringt, auf das, was genetisch determiniert ist. Ganz unbrauchbar ist auch die Gegenüberstellung von „biologisch“ versus „soziokulturell“, denn zum einen ist das „Soziale“ etwas eminent „Biologisches“ und auch das „Kulturelle“ enthält enorm viel „Biologisches“; zum anderen nimmt das „Kulturelle“ immer wieder unmittelbaren Einfluß auf die Biologie und damit die Natur des Menschen (Vogel 1989, S. 70).

Dithfurth (1987) verweist in einem ähnlichen Zusammenhang auf die Schichtenontologie Nicolai Hartmanns (1964): Auf der untersten, materiell-anorganischen Seins-Schicht gründet die Schicht des Organischen und Lebendigen, darüber eine seelische und über dieser als oberste eine geistige Seinsebene.

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Die (inhaltlich relativ armen) Kategorien der unteren Schichten gelten im wesentlichen als Seinsgrund auch der darüber liegenden, die ihrerseits jedoch jeweils neue Eigenschaften aufweisen und von einer Stufe zur nächst höheren inhaltlich immer reichhaltiger werden. […] Gegen diesen Aufbau der realen Welt verstößt nun nach Hartmann jede Auffassung, die glaubt, das Wesen der Wirklichkeit aus den Gesetzen einer einzigen dieser Schichten ableiten zu können: Wer mit den Kategorien der untersten Seins-Schicht allein auskommen zu können glaubt, denkt „materialistisch“, wer das ganze aus der Sicht des Organisch-Lebendigen allein erklären will, „biologistisch“ usw. Die ideologische Blickverengung der damit gekennzeichneten jeweiligen „ismen“ ist also die Folge einer Reduktion der Erklärungsgrundlage auf eine einzige, willkürlich aus dem Kontext der realen herausgegriffene Seins-Kategorie. Der Biologismusvorwurf wäre also ausschließlich einer Auffassung gegenüber berechtigt, die sich etwa anheischig machte, das Wesen des Menschen aus biologischer Gesetzmäßigkeit allein vollständig erklären zu können (Dithfurth 1987, S. 674).

Auf der Grundlage dieser kurzen Klärung zum Wert und den Grenzen biologischer Argumentation für das Verständnis auch menschlichen Verhaltens können wir uns wieder der Frage zuwenden, ob in der biologischen, „inneren“ Natur des Menschen ein Bedürfnis nach „äußerer“ Naturerfahrung prädisponiert ist. Dazu gehört auch die Frage, ob es Präferenzen für bestimmte Naturerfahrungen oder Landschaftstypen gibt. Die eingangs erwähnte „Savannentheorie“ geht von dieser Annahme aus, nämlich dass die Bevorzugung besonderer Umweltausschnitte stammesgeschichtlich prädisponiert sei (zum Beispiel Balling/Falk 1982, Driver/Greene 1977, Kaplan/Kaplan 1989, Ulrich 1993). Driver und Greene (1977) untersuchen die Stammesgeschichte des Menschen im Hinblick auf angeborene Determinanten daraufhin, ob und wie Menschen auf ihre (natürliche) Umgebung reagieren und welche Folgen dies jeweils hat. Dabei gehen sie von zwei Prämissen aus: Erstens: Zur Natur des Menschen gehört die Fähigkeit, Stimuli in der natürlichen Umwelt zu finden, die erstens zu seiner physiologischen Ausstattung passen und die zweitens der natürlichen Umwelt entsprechen, in der die entscheidenden stammesgeschichtlichen Schritte in der Evolution zum neuzeitlichen Menschen stattfanden. So haben sich die Sinne in ihrer spezifisch menschlichen Ausprägung in einer Umgebung entwickelt, die relativ „naturnah“ war – im Gegensatz zu heutigen Großstädten jedenfalls. Vor diesem Hintergrund kann die Annahme gewagt werden, dass sich im Rahmen der evolutionären Selektion eine Kombination von Sinnesleistungen entwickelt hat, die genau einer solchen Umwelt optimal angepasst ist. Driver und Greene behaupten, „that the process of natural selection has given human beings a sensory system that is well equipped to handle the normal range of stimuli encountered in natural settings“ (Driver/Greene 1977, S. 64). Die zweite Prämisse betrifft die kognitiven Fähigkeiten des Menschen: zu denken, zu erinnern und auch die Zukunft gedanklich vorwegzunehmen. Mit diesen Fähigkeiten begegnet der Mensch auch der natürlichen Umwelt, in der er nicht instinktgesichert funktioniert, sondern die er auch gedanklich bewältigen muss. Dazu braucht der Mensch auf der Grundlage seiner kognitiven Fähigkeiten sowohl emotionale Vertrautheit mit als auch Wissen über seine Umgebung. „The premise is that man needs a certain amount of familiarity with, or knowledge about, his surroundings before he can function effectively in them“ (Driver/Greene 1977, S. 64). 157

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Daraus ergibt sich logisch die Notwendigkeit, Erfahrungen mit der jeweils natürlichen Umwelt zu machen. Die These von Driver und Greene ist, dass diese Notwendigkeit sich im Verlaufe der Evolution in einer angeborenen Disposition niedergeschlagen hat: „[…] modern man has a strong innate predisposition toward nature, which is activated by familiarity with, or understanding of, natural settings“ (Driver/Greene 1977, S. 64). Vom Cro-Magnon-Menschen wird angenommen, dass er genetisch mit dem heute lebenden Menschen identisch ist (vgl. Baitsch 1982). Wenn man dessen Eigenschaften auch (!) als biologische Anpassungen an die von ihm bewohnte Umwelt ansieht, so kommt man zu plausiblen Hypothesen darüber, in welcher Weise einige menschliche Verhaltensweisen auch als Antwort auf die natürliche Umgebung verstanden werden können. „His eyes and ears, his brain and heart, even his psyche are the evolutionary adaptations of the human organism to nature“ (Iltis 1966, zitiert nach Driver/Greene 1977, S. 64). So ist es sinnvoll, sich ein Bild darüber zu machen, wie die Umwelt des Frühmenschen – die ostafrikanische Savanne – aussah. Nach Driver und Greene lebte „the primitive man“ in sehr engem Kontakt mit der Natur, wodurch er auch den Naturphänomenen sehr ausgesetzt war (Wechsel von Hell und Dunkel, Jahreszeiten, Gefahren usw.). Beispielsweise sind die äußeren Tages-, Mond- und Jahreszeitenzyklen in somatischen und mentalen Funktionen des Menschen repräsentiert. Ein weiteres Beispiel ist der hormonell gesteuerte Flucht- und Angriffsmechanismus, der zum Überleben in der Natur entscheidend war. Zwar sei der heutige Mensch psychisch in der Lage, sich auch an viele Bedingungen anzupassen, die nicht in der ursprünglichen Umwelt enthalten waren. Jedoch darf er sich – so Driver und Greene – nicht zu weit von seinem phylogenetisch prädisponierten Umweltbedürfnis entfernen, ohne Schaden zu erleiden. Als ein Beleg für diese These kann eine ethnologische Studie über einen sudanesischen Volksstamm, den Mabaanern, angeführt werden (Rosen et al. 1962). Es handelt sich dabei um einen Volksstamm, der in steinzeitlicher Art und Weise in einer ostafrikanischen Landschaft lebt, in der es ausgesprochen ruhig ist. Angehörige dieses Stammes wurden medizinisch untersucht. Sie seien „extrem gesund“; Krankheiten, wie sie in den westlichen Industrieländern häufig vorkommen (erhöhter Blutdruck, Coronalthrombose, Colitis, Asthma), fehlen völlig. Zwei Befunde sind besonders interessant: Erstens bleibt der Blutdruck das ganze Leben lang konstant und erhöht sich nicht mit zunehmendem Alter. Zweitens nimmt die Empfindlichkeit des Gehörs für hohe Frequenzen mit zunehmendem Alter nur geringfügig ab. Wenn nun die Mabaaner in eine lautere städtische Umgebung gelangen, ändern sich die physiologischen Befunde relativ schnell: Sie neigen zu hohem Blutdruck und zu Herzgefäßerkrankungen. Auch die Gehörempfindlichkeit für hohe Frequenzen nimmt fast schlagartig ab. Sicherlich darf eine solche Einzelstudie nicht überbewertet werden, doch liegt die Interpretation nahe, dass die psychosomatische Ausstattung (zumindest der Mabaaner) besonders gut für die ruhige, naturnahe Steppenlandschaft geeignet ist. Fehlt diese vertraute, natürliche Umwelt, kommt es zu zivilisatorischen Stresserscheinungen. Driver und Greene formulieren diese Aussage freilich nicht (nur) als psychologische, sondern vor allem als biologische: Das Bedürfnis nach Vertrautheit mit der natürlichen Umwelt sei evolutionär entstanden und gehöre sozusagen zur anthropologischen Grundausstattung des

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Menschen, dessen Nichtbeachtung (analog zur Nichtbeachtung des fundamentalen Bedürfnisses nach Bezugspersonen) zu psychischen und körperlichen Beeinträchtigungen führe. Die Notwendigkeit der Vertrautheit mit der natürlichen Umgebung steht in Zusammenhang – nach Driver und Greene – mit einem wesentlichen Aspekt der „Natur“ des Menschen, nämlich dass er seine jeweilige Umwelt innerlich repräsentiert, gewissermaßen mentale Landkarten („cognitive maps“ oder „mental representations“) seiner Umwelt bildet. Um diese inneren Landkarten entwickeln zu können, muss er natürlich intime und vertraute Erfahrungen mit der Umwelt machen. Angeboren sind demnach also nicht die Repräsentanzen, sondern die Notwendigkeit, sie zu bilden. Die Notwendigkeit ergibt sich daraus, dass die Vertrautheit mit der Umgebung, in die man hineingeboren wird, und entsprechende innere Repräsentanzen davon eine wesentliche Grundlage dafür sind, sich in dieser Umgebung orientieren und zurechtfinden zu können. „In circumstances that man could not comprehend, or where he could not form a cognitive map, he probably felt anxious and uncomfortable“ (Driver/Greene 1977 S. 66). Daraus würde freilich noch nicht folgen, dass Menschen vertraute Erfahrungen mit natürlicher Umwelt machen müssen; kognitive Landkarten können von jeder Umgebung – auch von noch so zivilisierter oder naturferner – gebildet werden. Driver und Greene leiten jedoch aus der Tatsache, dass der Mensch beziehungsweise seine Vorläufer Jahrmillionen in relativ natürlicher Umgebung (Wälder, Klippen, fließendes Gewässer, wilde Tiere etc.) gelebt hat, ein entsprechendes Bedürfnis ab, eben eine solche Umgebung als Stimulus zu suchen. Wenn auch die These, dass der Mensch zur psychischen Entfaltung „Natur“ geradezu braucht und auch ein entsprechendes Bedürfnis hat, durchaus bedenkenswert ist (siehe hierzu Kapitel 5), so ist doch dieser Argumentationsgang nicht ganz stichhaltig. Er enthält nämlich implizit die Annahme, dass die ontogenetischen Erfahrungen mit natürlicher Umgebung sich in phylogenetischem Erbe niederschlagen und dass so aus vielen ontogenetischen Naturerfahrungen sich ein genetisch fixiertes Bedürfnis nach Natur ergibt, was reiner Lamarckismus ist. Eher könnte man so argumentieren, dass angesichts der ökologischen Lebensbedingungen in der frühen Menschheitsgeschichte diejenigen Individuen einen Selektionsvorteil hatten, die dieser Umwelt (Natur, Wälder, Klippen, fließende Gewässer, wilde Tiere, s. o.) durch ihre Sinnes-, Kognitions- und sonstige Ausstattung besonders gut angepasst waren. Die längste Zeit seiner Stammesgeschichte lebte der Mensch in unmittelbarer Nähe zur Natur beziehungsweise war dieser Natur ausgesetzt. Da ist der Gedanke nicht ganz absurd, dass der evolutionäre Selektionsdruck in eine Richtung gewirkt hat, die Individuen, die mit diesen Naturbedingungen besonders gut zurecht kamen, begünstigt. Eine Projektion der phylogenetischen Menschheitsgeschichte auf einen individuellen Lebenszyklus macht dieses Argument bildhaft deutlich: Wenn man die gesamte Menschheitsgeschichte auf das Leben eines 70-jährigen Individuums bezieht, so hat dieses erst einen Tag unter den Bedingungen der technischen Zivilisation gelebt. Um im Bild zu bleiben: Es ist nicht verwunderlich, dass dieses Individuum sich bisweilen nach den Bedingungen sehnt, in denen es das ganze bisherige Leben gelebt hat. Möglicherweise lässt sich so auch verstehen, dass in den Geschichten und Mythen der Völker entsprechende Natursehnsüchte enthalten sind. 159

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Es muss allerdings betont werden, dass dieses Bild eher eine psychohistorische Sichtweise veranschaulicht als eine anthropologische oder gar biologische. Kaplan und Kaplan (1989) weisen darauf hin, dass die (evolutionär entstandenen) menschlichen Naturbedürfnisse auch in der Gegenwart Bedeutung haben. Kaplan und Wendt (1972) machten hierzu eine psychologische Untersuchung, um Hinweise für das behauptete beziehungsweise erschlossene Naturbedürfnis zu bekommen. Sie legten Versuchspersonen eine Reihe von Bildern vor (Naturbilder einerseits und Stadtbilder andererseits) und fanden heraus, dass die Versuchspersonen in besonderer Weise von den Naturszenen angesprochen waren. Diese Bevorzugung „natürlicher“ Szenen gegenüber gebauten Umwelten ist durch eine Vielzahl von empirischen Untersuchungen gut belegt (Zusammenfassung bei Kaplan/Kaplan 1989, Schroeder 1988, vgl. jedoch Holcomb 1977). Auch kulturvergleichende Studien kommen zu analogen Ergebnissen (Ulrich 1993). Hiss (1992) berichtet zusätzlich von Untersuchungen, nach denen beim Menschen eine besondere Vorliebe für Graslandschaften bestehe. Er bringt dies ebenfalls in Zusammenhang mit dem Leben der menschlichen Vorfahren in der ostafrikanischen Savanne, wodurch diese Präferenz für Gras- und Parklandschaften evolutionär entstanden sei. So ist die „Savannentheorie“ der Ausgangspunkt für eine Reihe von Untersuchungen und sie ist auch eine zentrale Variante der eingangs erwähnten Biophiliehypothese von Wilson. Im Kern wird mit der Savannentheorie also behauptet, dass der Mensch eine generelle und universale Tendenz habe, savannenähnliche Naturumwelten zu bevorzugen, auch dann, wenn er keine eigene Erfahrungen mit solchen Umwelten gemacht hat. Da diese Bevorzugung evolutionär entstanden sei, ist sie natürlich genetisch fundiert. What we are suggesting … is that people have a generalized bias toward savanna-like environments. If this bias does, indeed, exist, then people should react positively to savannas even in the absence of direct experience. (Orians/Heerwagen 1992, S. 560)

Orians und Heerwagen erhielten eine Bestätigung dieser Vermutung durch eine Photo-Fragebogen-Untersuchung. Noch direkter wurde die Annahme der angeborenen Bevorzugung savannenähnlicher Landschaften in einer groß angelegten Untersuchung (n=548) überprüft (Balling/Falk 1982), die von der Hypothese ausging, dass vor allem jüngere Kinder (8 bis 11 Jahre), die noch wenig Gelegenheit hatten, auch mit andersartigen Landschaften (wie zum Beispiel Laubwald, Regenwald, Wüste) vertraut zu werden, die Savannenlandschaft bevorzugen. Diese Hypothese wurde in der Studie von Balling und Falk bestätigt und vor dem Hintergrund der Savannentheorie erklärt: Bei jüngeren Kindern komme die angeborene Tendenz, Savannenlandschaften zu bevorzugen, noch relativ ungebrochen zum Ausdruck, während bei Jugendlichen und Erwachsenen zusätzlich das zunehmende Wirksamwerden der Vertrautheit mit der jeweils heimatlichen Landschaft sichtbar werde. Insofern wird die Bevorzugung bestimmer Landschaftstypen nicht einfach als genetisch determiniertes Verhalten verstanden, sondern auch als Ausdruck von Erfahrung, die allerdings nur vor dem Hintergrund der besagten angeborenen Tendenz wirksam werde.

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Die Präferierung bestimmter Natur- und Landschaftstypen muss den Individuen natürlich nicht notwendig bewusst sein, sondern wird implizit wirksam zum Beispiel in der bereits angesprochenen heilsamen Wirkung von Natur (Kapitel 7) oder im unmittelbaren Sich-Wohlfühlen in bestimmten Umwelten. Die damit verbundene Vorliebe für Bäume, Blumen, fließende Gewässer und relativ freie, parkähnliche Landschaften ist zugleich auch eine Prädisponierung für ästhetische Werturteile, womit auch bisweilen Entwürfe für eine „evolutionäre Ästhetik“ verbunden werden (Kaplan 1987). „Verschiedene Menschen neigen dazu, auf natürlich vorkommende ästhetische Kategorien auf ähnliche Weise zu reagieren, aber sie reagieren sehr individuell auf (…) vom Menschen geschaffene Werke“ (Vessel et al. 2018). Die evolutionäre Sicht im Umkreis der Savannentheorie wird von Heerwagen und Orians (2002) auch auf die psychische Entwicklung und die „ökologische Welt“ von Kindern bezogen, zum Beispiel, was das Bedürfnis nach freier Landschaft angeht (siehe Kapitel 5) oder bezüglich der Angst vor bestimmten Naturphänomenen (siehe Kapitel 5.3 und 11). Die besagte Vertrautheit führt dazu, dass sich der Mensch in seiner jeweiligen Naturund Landschaftsumgebung zurecht findet und sie verstehen kann. Die Vertrautheit und auch Verstehbarkeit der unmittelbaren Umgebung ist also ein fundamentales menschliches Grundbedürfnis, das häufig mit dem Begriff der „Lesbarkeit“ (legibility) beschrieben wird. Für Blumenberg (1981, S. 10) ist die „Lesbarkeit der Welt“ Ausdruck des „Sinnverlangens an die Realität“. Die Lesbarkeit ist die Möglichkeit, in gegebenen Szenen Sinn und Struktur zu finden; der Grad der Lesbarkeit ist sowohl eine Eigenschaft von Situationen als auch eine des Betrachters. Und eben diese Lesbarkeit ist verschiedenen Untersuchungen zufolge bei Naturszenen höher als bei Szenen aus der Stadt. Die Lesbarkeit und damit Überschaubarkeit schafft zugleich ein Gefühl von Sicherheit und Vertrautheit, vermindert Angst. This need to know what is happening to us is common to everyone. As complex problem-solving and information-processing organisms, we need reasonable understanding of, or familiarity with, our many surroundings (whether they be play, work, or other environments) before we can function effectively in them (Driver/Greene 1977, S. 66).

Interessanterweise arbeiten auch Landschaftsplaner mit der Dimension Lesbarkeit. Hard und Pirner (1988) entwickeln ein Modell zur „Lesbarkeit eines Freiraums“ in Bezug auf Spielplätze für Kinder. Solche Freiräume sind infolge ihrer Lesbarkeit benutzerfreundlich und nur wenig pflegeintensiv. Ein Freiraum wird allerdings nicht umso lesbarer, je mehr „Natur“ in ihm enthalten ist. So betonen die Autoren ausdrücklich, dass die Forderung nach Lesbarkeit […] kein Plädoyer für „Natur“ und schon gar nicht für „spontane Vegetation“ [ist], sondern vielmehr ein Plädoyer für nutzbare Freiräume und für nachhaltig nutzbare Freiraumvegetation, die im Prinzip durch die Freiraumnutzung selbst stabilisiert wird (Hard/Pirner 1988, S. 29).

Nun ist das Bedürfnis nach Sicherheit und Vertrautheit, nach Lesbarkeit, nicht das einzige, dem durch Naturnähe entsprochen werden kann. Außerdem gibt es nämlich – darauf wurde in Kapitel 5 bereits verwiesen – angesichts des komplexen menschlichen Wahr161

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nehmungsapparats und vor allem seiner kognitiven Möglichkeiten ein Bedürfnis nach Komplexität und Neuigkeit. Auch dieses Bedürfnis nach ständig neuen Erfahrungen kann in Verbindung mit der Lebensumwelt des Frühmenschen gebracht werden. Außerdem lässt es sich gut belegen durch die Untersuchungen zu den Folgen einer reizarmen Umgebung (siehe Kapitel 2 und 5). Franke (1982, S. 13) nimmt demzufolge an, dass der Mensch „sicher entwicklungsgeschichtlich bedingt auf das in seinem Lebensraum ursprünglich bereitgestellte Ausmaß der Variabilität eingestellt“ sei. Im Hinblick auf das Natur- und Landschaftserleben hebt Berlyne (1958) deutlich den Stellenwert der Neugierde hervor: Komplexität, Neuheit, Inkongruenz und Überraschung mache den Reiz von Landschaft und Natur aus. In der Auswertung zahlreicher empirischer Studien zur menschlichen „preference for nature“ formulieren auch Kaplan und Kaplan (1989) die Kriterien Komplexität und Geheimnis („mystery“), die neben der Lesbarkeit und der „Kohärenz“ mit den menschlichen Grundbedürfnissen nach Verständnis („understanding“) und Erforschung („exploration“) der Umwelt korrespondieren. Wir begegnen hier also wieder dem Doppelcharakter menschlichen Naturerlebens: dem Bedürfnis nach Vertrautheit und dem nach ständiger Neuigkeit zugleich (vgl. Kapitel 5.2). Und auch aus Sicht der Humanethologie gibt es beim Menschen zum einen den grundlegenden Wunsch nach Vertrautheit und zum anderen ein ebenso grundlegendes Neugierverhalten. Diese kontrastierenden Grundbedürfnisse werden auch von der Psychoanalyse zu den „basalen Beziehungswünschen“ (König 1988) des Menschen gezählt. Ob freilich diese Grundbedürfnisse nach Vertrautheit und Neuigkeit – unabhängig von der Frage, ob sie nun zur „anthropologischen Grundausstattung“ des Menschen gehören oder nicht – nur durch Natur oder Naturerfahrung befriedigt werden können, halte ich für eine offene Frage. Deshalb sind auch radikale zivilisationskritische Positionen zumindest mit Vorsicht zu genießen, die sich an biologische und humanethologische Argumentationen anschließen und insgesamt auf die (freilich empirisch wohl kaum zu belegende) These hinauslaufen, dass die Art „homo sapiens“ nicht oder zumindest nur schlecht an die ökologischen Verhältnisse der Großstadt angepasst sei, was vielfältige psychische Probleme zur Folge habe (vgl. Eibl-Eibesfeldt 1984, Lorenz 1986). So lassen sich zwar inzwischen sehr viele psychologische Hinweise für die Notwendigkeit von Naturerfahrungen anführen (siehe Kapitel 5), doch sollten diese Hinweise redlicherweise eben auch als Hinweise betrachtet und nicht vorschnell zu anthropologischen Konstanten umgedeutet werden, so überzeugend sich dies auch in umweltpolitischen oder -pädagogischen Argumentationen ausnehmen würde. Freilich sind die im 5. Kapitel zusammengetragenen Hinweise reichhaltig genug, um die Bedeutung von Naturerfahrungen zu unterstreichen; und auch die hier dargestellten anthropologischen Überlegungen sind zumindest bedenkenswert. Insgesamt lässt sich sicherlich sagen, dass die Natur den eigentlich widersprüchlichen Forderungen nach sicherer Vertrautheit einerseits und ständiger Neuigkeit andererseits sehr gut entspricht: Sie vermittelt die Erfahrung von Kontinuität und Sicherheit (jedenfalls solange sie nicht im Übermaß zerstört ist) und ändert sich doch ständig.

Kinder und Tiere 10 Kinder und Tiere

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Die emotionale Bedeutung von Tieren Die emotionale Bedeutung von Tieren

Der Wunsch nach einem Tier gehört zu den tiefsten Kindersehnsüchten. Über Zweidrittel der 9- bis 14-Jährigen notieren auf ihren Geburtstagswunschzetteln ein Heimtier (Brämer 2015a). Ob damit wirklich nur ein Tier gemeint ist, ob damit nicht auch andere Sehnsüchte – nach Beziehung, nach Vertrautheit, nach Verstandenwerden beispielsweise – symbolisch chiffriert sind, sei zunächst offen gelassen. Jedenfalls erbrachte eine soziologische Untersuchung, bei der acht- bis zehnjährige Kinder nach ihrem größten Wunsch gefragt wurden (Lang 1985), das folgende bemerkenswerte Ergebnis: Neben einer Vielzahl von Wünschen, die sich nicht systematisieren oder kategorisieren lassen, fällt als einziger Wunsch der nach einem Tier besonders heraus: Ein Viertel der Kinder wünscht sich ein Tier. Dieses Ergebnis ist umso bedeutsamer, als in der Untersuchung nur ein einziger Wunsch geäußert werden durfte. Kinder, die kein Heimtier besitzen, wünschen sich zu 82 % ein Tier und beneiden Leute, die ein Heimtier haben. Der häufigste Grund, dass sie kein Heimtier haben, ist, dass die Eltern es nicht wollen (Hartmann/Rost 1994). Bei Mädchen ist der Wunsch nach einem Tier noch ausgeprägter als bei Jungen (vgl. Brämer 2015a, Fölling-Albers 1995, Hartmann/Rost 1994, Osswald/Krappmann 1985, Winkley 1982). Auch nachträglich äußern sich Kinder sehr positiv über ihre Beziehung zu Heimtieren. In einer Befragung von 300 Kindern (3-13 Jahre) sagen nur 10 Prozent, dass sie keine Vorteile in der Heimtierhaltung sehen würden. 90 % sagen, sie hätten viel von den Tieren gelernt, sprechen von Glück und schätzen vor allem die bedingungslose Liebe der Tiere (Kidd/Kidd 1985). Zugespitzt lässt sich sagen: Kinder brauchen Tiere (Gebhard 2010b, Klimke 2002, Krowatschek 2007, Ludwig 2000, Elschenbroich 2005, S. 93f.). Aber es geht nicht nur um Heimtiere. Insekten (Löwenberg 2000), Schnecken, Frösche, Vögel, Tiere auf dem Bauernhof – Kinder gehen in der Regel zunächst relativ angstfrei auf Tiere zu und möchten mit ihnen spielen. Wer kennt nicht den sehnlichen Wunsch von Mädchen nach einem Pferd, der oft Jahre lang bestehen bleibt, die Zimmerwände mit Pferdebildern anfüllt und schließlich meist unerfüllt in Vergessenheit gerät? Viele Kinder wünschen sich einen Hund, eine Katze, einen Goldhamster – oder, wenn solche Wünsche (aus zum Teil berechtigten Gründen) nicht erfüllt werden können, wenigstens

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Gebhard, Kind und Natur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21276-6_10

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ein Aquarium. Viele Eltern befürchten, dass die Begeisterung für ein Tier schnell erlahmt und dann sie selbst für das Tier verantwortlich sein müssen. Tausende von ausgesetzten Tieren vor den Sommerferien sind ein Zeichen für dieses Dilemma. Die (kindlichen) Wünsche nach Tieren erwachsen natürlich nicht nur, vielleicht nicht einmal in erster Linie, eigenen Erfahrungen. Kinder kennen Tiere nicht nur aus der unmittelbaren Erfahrung, sondern auch aus Märchen, Tiergeschichten oder Comics. Die Medien spielen bei der kindlichen Tierbeziehung sicherlich eine zentrale Rolle: Fernsehserien mit Tieren erfreuen sich bei Kindern sehr großer Beliebtheit, werden ständig wiederholt, beeinflussen natürlich das Verhältnis zu Tieren und tragen wohl auch nicht unwesentlich zu illusionären Hoffnungen bei, die bei dem Wunsch nach einem Tier zumindest mitschwingen (Kämpf-Jensen 1986, Karrenbrock 1999). Besonders beliebt (vor allem bei Mädchen) sind die Pferdeserien. Die Druckmedien unterstützen diesen TV-Effekt: Zum Teil hängen sie sich an Fernsehserien an, zum Teil entwerfen sie davon unabhängig eine Vielzahl von mehr oder weniger kindgerechter Tierliteratur: von Abenteuerbüchern über Bücher, in der von einer besonders engen Beziehung zu Tieren die Rede ist, bis zu Sachbüchern. Wenn auch die Medien sicherlich einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das kindliche Tierbild haben, so sind trotzdem die direkten Erfahrungen mit Tieren nicht unbedeutsam. Das zeigen jedenfalls demographische Daten, nach denen in Haushalten mit Kindern deutlich häufiger Tiere gehalten werden als in Haushalten ohne Kinder (Messent/ Horsfield 1985). Offenbar empfinden viele Eltern Haustiere als eine „Erziehungshilfe“. In einer Befragung von 316 Familien mit Hund erfuhr Rehm (1993), dass in der Tat 90 % der Eltern den Hund als eine Art „Miterzieher“ betrachten, und zwar im Hinblick auf Sozialverhalten (89 %), Verantwortungsgefühl (89 %) und Naturverständnis (77 %). Im europäischen Vergleich nimmt die Bundesrepublik bei der Heimtierhaltung übrigens eine mittlere Stellung ein. Nach einer Studie des Industrieverbands Heimtierbedarf (IVH) von 2016 besitzen 44 % aller Haushalte in Deutschland ein Heimtier und sogar 61 % aller Familien mit Kindern, 2018 haben sich die Zahlen noch erhöht: 45 % aller Haushalte und 65 % der Familien mit Kindern. Es handelt sich dabei v. a. um Hunde (in 18 % der Haushalte), Katzen (18 %) und Kleintiere (7 %) (IVH 2018a, b). In einer früheren Befragung von Grundschülern (n=426) besaßen sogar 80 % ein Tier (Hartmann/Rost 1994). Konrad Lorenz glaubt, dass der Wunsch nach einem Tier der „Sehnsucht nach der ‚Bindung‘ zur Natur“ entspringe (IEMT 1985, S. 178) und auch die vergleichende Kulturanthropologie zeigt, dass bei allen Völkern der Erde Tiere zusammen mit Menschen leben, und zwar nicht nur als Nutztiere, sondern als Beziehungspartner und zum Zwecke der Freude und Erbauung (Brown 1991). In der Tierbeziehung verdichtet sich mit Körner (2017, S. 167) die „Trauer um die eigene verlorene Kindheit und die Sehnsucht nach der verlorenen Natürlichkeit.“ Die Verbundenheit zwischen Mensch und Tier könnte angesichts der technischen Lebenswelt immer mehr an Bedeutung gewinnen wird (vgl. Bruckner et al. 2015). Es scheint so, dass Kinder besonders leicht eine Beziehung zu Tieren herstellen können und dass auf der anderen Seite auch Tiere zu Kindern besonders zutraulich sind. Kinder haben eine intuitive Nähe zu Tieren und zum Teil auch zu Pflanzen (Kellert 1997). Bisweilen wird sogar von einer besonderen Verwandtschaft bzw. Nähe (Weber 2007, S. 140)

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von Tier und Kind gesprochen. So meint Teutsch (1980), dass Tiere und Kinder „verwandte Triebe und Neigungen“ haben; als Beispiele nennt er das „spielerische Üben ihrer Kräfte“, „neugieriges Erkunden der Umwelt“ und „Liebebedürftigkeit“. Dazu kommt, dass Kinder ähnlich wie Heimtiere in einer relativ existenziellen Abhängigkeit leben. Nach Myers und Saunders (2002, S. 156) teilen bereits sehr junge Kinder mit Tieren folgende Eigenschaften: Aktivität, Affektivität, Bezogenheit und Kontinuität. Das daraus erwachsende Beziehungspotential macht die besagte „Verwandtschaft“ aus, die auch dazu führt, dass sich Kinder um ihre Tiere kümmern (Myers 1998) und auf diese Weise soziale Fähigkeiten erwerben. Diese emotionale, fürsorgliche Beziehung zu Tieren kann auch zu einer fürsorglichen Einstellung überhaupt zu Naturphänomenen werden (siehe Kapitel 8). So zeigen Myers und Saunders (2002, S. 153), „that animals provide a bridge to caring about the natural world in general.“ Ob man nun in der Tat von „Verwandtschaft“ sprechen kann, scheint angesichts der Unterschiedlichkeit von Mensch und Tier fraglich. In der Tat belegt jedoch eine Vielzahl von Studien (siehe unten), dass Kinder in ihrem Verhältnis zu (bestimmten) Tieren besondere Fähigkeiten entfalten. Aufgrund von phänomenologischen Studien spricht Margadant-van Arcken (1984) von einer „Horizontverschmelzung“, zu der es im Verhältnis von Kind und Tier – allerdings nach anfänglicher Ängstlichkeit – kommen kann. Nach ihren Beobachtungen imitieren sich beispielsweise Hunde und Kinder gegenseitig. „They share one reality, participate in one game, and give an analogic meaning to the activity“ (Margadant-van Arcken 1989, S. 18). Im Hinblick auf Heimtiere kann auch von der sogenannten „Du-Evidenz“ (Geiger 1933, Lorenz 1965, Greiffenhagen 1991) gesprochen werden, die die emotionale Bedeutung von Tieren für den Menschen (Kinder wie Erwachsene) gut beschreibt und auch in der spontanen Tendenz zur Anthropomorphisierung zum Ausdruck kommt (siehe Kapitel 4). So ist der erlebte Unterschied gering (Pohlheim 2006, S. 16) und zugleich nehmen Kinder Tiere als eigenständige Wesen wahr und ahmen sie nach (Pohlheim 2006, S. 18). Unter Verweis auf das biogenetische Grundgesetz Haeckels vermutet Rüdiger, dass Kinder Tieren näher stehen als Erwachsene, jedenfalls sich ihnen „inniger verbunden“ fühlen (vgl. Rüdiger 1956, S. 8). Auch Katz betont, dass das Verhalten von ausgewachsenen Tieren und das von Kindern vergleichbar sei. „Je jünger das Kind, um so mehr ist es noch Naturwesen, um so näher steht es seelisch dem Tier“ (Katz 1948, S. 60). Graber (1946, S. 35) begreift das Kind in einer „Zwischenstellung zwischen dem Tier und dem erwachsenen Kulturmenschen“ und berichtet von Beobachtungen, wonach zumindest das jüngere Kind „in seinen Sympathien eher zum Tier als zum Erwachsenen – mit Ausnahme der Mutter – neigt.“ Das gilt möglicherweise auch umgekehrt; jedenfalls kann man oft beobachten, dass Tiere sich von Kindern weitaus mehr gefallen lassen als von Erwachsenen. Wichler (1931) spricht sogar von einem „Urtrieb zum Tier“, dem zumindest Jungen folgen und insofern Tiere als „wesensgleich“ betrachten. Auch Freud äußerte sich entsprechend: Das Kind zeigt noch keine Spur von jenem Hochmut, welcher dann den erwachsenen Kulturmenschen bewegt, seine eigene Natur durch eine scharfe Grenzlinie von allem anderen 165

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Animalischen abzusetzen. Es gesteht dem Tier ohne Bedenken die volle Ebenbürtigkeit zu; im ungehemmten Bekennen zu seinen Bedürfnissen fühlt es sich wohl dem Tier verwandter als dem ihm wahrscheinlich rätselhaften Erwachsenen (Freud 1912/13, S. 154).

Offenbar sind sich Kinder (noch) nicht des Unterschiedes von Mensch und Tier klar bewusst und können zu Tieren Beziehungen wie zu Menschen knüpfen. Im positiven Fall, nämlich wenn die Liebe zum Tier nicht menschliche Nähe und Beziehung ersetzen muss, kann dies eine Bereicherung sein. Diese Einschränkung ist allerdings wichtig: Heimtiere als Ersatzobjekte für fehlende menschliche Bezugspersonen sind natürlich nur ein sehr notdürftiger Ersatz. So positiv die Heimtierhaltung gerade für Kinder auch ist, es ist auch zu bedenken, dass sie ein Symptom der Vereinsamung der Menschen in unserer Gesellschaft sein kann. So stimmt die resignierende Äußerung Schopenhauers zumindest nachdenklich: „Seit ich die Menschen hasse, liebe ich die Tiere.“ Kinder können die positiven Chancen im Kontakt mit Tieren nur nutzen, wenn die Tiere keinen Ersatz für die eigentlich fehlende Beziehung zu Menschen darstellen; so verwandt sind sich Tier und Kind nun wieder auch nicht. So ist auch der problematische Fall möglich, soziale Bedürfnisse vorwiegend mit Tieren zu realisieren, was zu sozialem Rückzug und Isolierung führen kann (Cameron/ Mattson 1972). In einer Untersuchung an Kindern alleinerziehender Mütter und Väter (Bodsworth/Colemann 2001) zeigt sich, dass Kinder mit nur einem Elternteil signifikant stärkere Bindungen zu ihrem Hund haben als Kinder mit Mutter und Vater. Dies gilt insbesondere für jüngere Kinder. Diese Befunde zeigen zum einen die mögliche emotionale Untersützung durch eine nahe Beziehung zu Hunden, zeigt aber zugleich auch die Kehrseite, nämlich die Gefahr, dass Tiere auch Ersatz für fehlende soziale Beziehungen sein können. Wenn Tiere zum Ersatz sozialer Beziehungen werden (was natürlich nicht nur bei Kindern so sein kann), ist die Sehnsucht nach einem Tier eigentlich als ein Hilferuf zu verstehen. Wenn Tiere „menschlicher als Menschen“ (Poppe 1991) werden, wirft das ein grelles Licht auf die Menschen. In einer Studie über das Tierverhältnis von 8- bis 10-jährigen Kindern stellte Bergeler (1986) fest, dass Kinder an ihrem Hund Eigenschaften erleben, die sie im Grunde von ihren Eltern oder anderen Erwachsenen erhoffen. Kinder sind in diesem Fall im wahrsten Sinne des Wortes „auf den Hund gekommen“. Auch bei Kindern bisweilen zu beobachtende Formen von grausamer Tierquälerei sind meistens in diesem Zusammenhang zu verstehen. Die Aggression und Destruktivität gilt eigentlich der menschlichen Umwelt, in der das Kind nicht genügend aufgehoben ist. Auch hier sind Tiere Ersatzobjekte (siehe Kapitel 10.6). Trotzdem konnte in amerikanischen Studien gezeigt werden, dass Tiere, in erster Linie Hunde, aber auch Katzen, von Kindern, die viel für sich selbst sorgen müssen, als ausgesprochen hilfreich empfunden wurden. Das Alleinsein kann auf diese Weise besser ertragen und sogar z. T. bewältigt werden (Guerney 1991). Doch sind die positiven Effekte der Heimtierhaltung auf jeden Fall ausgeprägter, wenn Tiere im Zusammenhang mit menschlichen Beziehungen und einer guten häuslichen Atmosphäre gehalten werden. Poresky (1996) konnte zeigen, dass die intellektuelle und soziale Entwicklung von Vorschulkindern (3-6 Jahre) durch Tierhaltung positiv beeinflusst wurde, allerdings in enger

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Abhängigkeit von der Qualität der häuslichen Umwelt (vgl. Rost/Hartmann 1994). So werden die mannigfachen positiven Wirkungen der Heimtierhaltung auf die Persönlichkeitsentwicklung und auch auf soziale Kompetenzen (siehe Kapitel 10.2) sicherlich nicht allein auf die Tierbeziehung zurückzuführen sein. Eine haltende häusliche Umgebung und Eltern, die geneigt sind, kindliche Bedürfnisse wahrzunehmen und diese zu unterstützen, sind bei der Wirkung der Tierbeziehung unbedingt beteiligt. Und solche Eltern „stimmen offensichtlich auch eher dem Wunsch ihrer Kinder nach einem Haustier zu und entscheiden sich (möglicherweise intuitiv) für ein besonders geeignetes Haustier“ (Rost/ Hartmann 1994, S. 246). Bergmann (1988) zeigt in einer interaktionsanalytischen Fallstudie, dass Heimtiere in Familiensystemen die Funktion von „kommunikativen Ressourcen“ haben können. Anwesende Hunde fungieren in gewisser Weise als „lebendige Interaktionsstaffage“. Tiere geben der Familie Gesprächsstoff und stecken gewissermaßen selbst voller Geschichten, die sie zu „biographiefähigen Akteuren“ machen. Nach ethnologischen Studien war im Unterschied zu Nutztieren das „Schoßtier“ stets auch ein vermenschlichtes Tier: Es durfte ins Haus, hatte einen Namen und wurde nicht gegessen (vgl. Levi-Strauss 1968). „Wie heißt es?“, ist dementsprechend auch eine der ersten Kinderfragen angesichts eines neuen oder fremden Tieres (vgl. Margadant-van Arcken 1984). Wenn die anthropomorphisierende Besetzung der Haustiere auch oft an der Eigenart der jeweiligen Tiere vorbeigeht und insofern problematisch sein kann (siehe Kapitel 10.9), bietet sich jedoch gerade dadurch die Möglichkeit, menschliche Fähigkeiten sozusagen zu „üben“. Das Kind lernt dabei die Aufnahme und Pflege von kontinuierlichen Bindungen und die Verantwortung dafür, es lernt in der Konfrontation mit der Eigenart und Eigenwilligkeit des Tieres sich selbst besser zu verstehen (vgl. Rüdiger 1956, S. 257). Das Tier kann im Zusammenhang mit animistischen Projektionen zur Erweiterung des Ichs werden. Der Umgang mit Tieren kann das Denken fördern, außerdem ein Gefühl der Sicherheit und Vertrautheit unterstützen (siehe unten). Tiere bieten Beziehung und auch taktile Kontaktmöglichkeiten an, ohne dass Kinder dabei bewertet werden. Nach Katcher (1983, S. 526) werden vier grundlegende Bedürfnisse des Menschen durch die Beziehung zu vor allem Hunden realisiert: Sicherheit, Intimität, Freundschaft und Kontinuität. In psychologischer (Shepard 1996) und auch in kulturhistorischer (Oeser 2007) Perspektive kann man geradezu von einer humanisierenden Wirkung von Hunden sprechen. Die Schaffung von Sicherheit und Vertrautheit, die tabulose Möglichkeit körperlichen Kontakts und vor allem die Konstanz durch das immer gleich bleibende Wesen des Hundes sind die Momente der Mensch-Hund-Beziehung, die auch die Hauptgründe für deren therapeutische Verwendung sind. So ist es eben diese im Sinne des Wortes bedingungslose Beziehung ohne Bewertung und Kritik, die den heilsamen Effekt von Tieren ausmacht (siehe Kapitel 10.7). Diese Bedürfnisse werden in der Beziehung von Kindern zu Tieren auch oft realisiert. Nach Befunden von Hartmann und Rost (1994) haben Grundschulkinder ein vertrauensvolles Verhältnis zu ihren Tieren: 66 % der befragten 426 Kinder geben an, mit den Tieren täglich zu sprechen, zu spielen oder zärtlich zu sein. 79 % sind am liebsten mit ihrem Heimtier zusammen, wenn sie traurig sind und 69 % vertrauen ihnen ihre Geheim167

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nisse an. Fast alle kindlichen Heimtierbesitzer bezeichnen ihr Tier als einen „besonders guten Freund“. Fast die Hälfte der Kinder (48 %) sind sogar lieber mit ihrem Tier zusammen als mit anderen Kindern. Mädchen bewerten die emotionale Qualität der Beziehung zu ihren Tieren etwas höher als Jungen, was sich aber interessanterweise nicht auf den verantwortlichen Umgang und auf das Pflegeverhalten auswirkt. Für Mädchen wie Jungen gleichermaßen ist nach der Untersuchung von Hartmann und Rost (1994) das Umsorgen und Pflegen ihrer Heimtiere eine hoch bewertete Tätigkeit (vgl. dagegen Kidd/Kidd 1990a, Melson 1988). Sehr wichtig für die Verantwortlichkeit ist übrigens, ob das Kind auch als „Besitzer“ des Tieres gilt (Salmon/Salmon 1983). Diese Befunde aus den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts werden von neueren Studien (Cassels et al. 2017, Hawkins/Williams 2017) bestätigt: Danach haben Kinder mit ihren Heimtieren weniger Konflikte als mit ihren Geschwistern, wobei Mädchen die deutlich intimere Beziehung bzw. Bindung haben. Die Beziehung zu einem Tier spricht also tiefe Persönlichkeitsschichten an und trägt damit auch zu einer Integration von intuitiven, emotionalen und reflexiven Prozessen bei (vgl. Beetz 2003, S. 81, Olbrich 2003). Damit ist die Annahme verbunden, dass Naturbeziehungen im Allgemeinen und die Tierbeziehung im Besonderen primär das implizite, intuitive System aktiviert und hier auch ihre Wirkung entfaltet. Zu diesen Wirkungen gehören die gut belegten Effekte im Hinblick auf soziale und kommunikative Fähigkeiten (siehe Kapitel 10.2) und sicherlich auch die tier-therapeutischen Anwendungsmöglichkeiten (siehe Kapitel 10.7). Bei dem Zusammenhang von Umweltbewusstsein und Naturerlebnissen sind bereits ähnliche Mechanismen im Hinblick auf die Bedeutung der Intuition herausgearbeitet worden (siehe Kapitel 8). Tiere haben neben ihrer sozusagen „tatsächlichen“ Bedeutung, die im nächsten Abschnitt durch einige empirische Hinweise belegt werden soll, auch eine symbolische Bedeutung. Unsere Kultur ist reich an Tiersymbolen; und auch Kinder finden in Tieren eine Möglichkeit, innerseelische Vorgänge symbolisch zu verdichten. Dass ein in vielen pädagogischen und psychologischen Institutionen gebräuchlicher Test das kindliche Verhältnis zu Tieren zum Ausgangspunkt macht („Familie in Tieren“ von Brem-Gräser 1975), wird auch daran liegen, dass Tiere eben in der kindlichen Phantasie eine Rolle spielen und sich insofern als Projektionsträger besonders anbieten. Der Projektionscharakter wird besonders deutlich in einer vergleichenden Studie, die das Verhalten von 3- bis 6-jährigen Kindern gegenüber einem „AIBO“ (Sony Computer Dog) und einem gleichgroßen lebendigem Hund vergleicht (Ribi et al. 2008). Immerhin 10 der 14 untersuchten Kinder bevorzugten den lebendigen Hund, doch AIBO wurde mehr angefasst und es wurde auch mehr mit ihm gelacht. Überhaupt interagierten die Kinder mehr mit AIBO. Selbst der technische Hund fungierte offenbar als Beziehungsobjekt, wobei natürlich der Neuigkeitseffekt nicht zu vernachlässigen ist. Welche Tiere bevorzugt als Symbole verwendet werden, hängt natürlich davon ab, mit welchen Tieren Kinder in Berührung kommen, sei es durch unmittelbare Erfahrung oder vermittelt durch Medien. Insofern fließt in der Tiersymbolik sowohl kulturelle Überlieferung (Römhild 1999) als auch die eigene Erfahrung mit Tieren zusammen. Jedenfalls ist die symbolische Bedeutung von Tieren im Allgemeinen und Heimtieren im Besonderen nicht zu unterschätzen, wahrscheinlich ist die damit verbundene emotionale Funktion der

10.2 Empirische Hinweise zu den Wirkungen von Heimtieren auf Kinder

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Heimtierhaltung ein wesentlicher Grund für die Zähmung und Domestikation von Tieren, der den natürlich auch vorhandenen ökonomischen Zusammenhängen nicht nachsteht. Die Heimtierhaltung kann auch als eine „charakteristisch urbane Auseinandersetzung mit der Natur“ (Rheinz 1994) interpretiert werden. Zum einen bedeutet die Beziehung zum Haustier eine „Auseinandersetzung mit der äußeren Natur, von der sich der Stadtbewohner entfernt hat“ (Rheinz 1994, S. 5). Zum anderen wird dadurch aber auch die innere Natur des Menschen insofern berührt, als dadurch Emotionen ausgelebt werden können, die ansonsten zurückgehalten werden müssen. Der Mensch jagte, fesselte und zerlegte, bändigte und dressierte das Tier. Schließlich entdeckte er das Tier als Bindungsfigur. Die Rolle, die der Mensch auf den verschiedensten Stufen seiner Kulturentwicklung dem Tier zuwies, gibt Aufschluß über seine eigene seelische Entwicklung (Rheinz 1994, S. 29).

So fungieren Haustiere gewissermaßen als Bindeglied zwischen Kultur und Natur. Folgerichtig vergleicht Savishinsky (1983) das Halten von Haustieren in den westlichen Industriegesellschaften mit der Funktion, die Totemismus, Rituale und Mythen für archaischen Kulturen haben. My pet theory about pets is that their ambiguity as cultured, nonhuman creatures who share our intimate lives allows them to mediate in this manner. In keeping pets, we combine the conscious und the unconscious in the same way that we do when observing rituals, telling myths and respecting categories. The bonding and reconciliation of culture with nature that pets symbolize is one of the most important of these meanings (Savishinsky 1983, S. 129).

10.2 Empirische Hinweise zu den Wirkungen von Heimtieren auf Kinder 10.2

Empirische Hinweise zu den Wirkungen von Heimtieren auf Kinder

Eine Reihe von empirischen Studien zeigt sehr deutlich, wie sehr durch Kontakt zu Heimtieren und überhaupt zu Tieren in der Kindheit bestimmte Fähigkeiten gewissermaßen „geübt“ werden können (vgl. Melson 2001, Purewal et al. 2017). Darüber hinaus werden auch Bedürfnisse, die unabhängig von Tieren bestehen, befriedigt. So verweist Turner (1989, S. 110) auf eine Befragung bei Katzenhaltern, nach der „menschliche Grundbedürfnisse“ (wie beispielsweise soziale Anregung, Abwechslung, Freundschaft, Ästhetik u. v. m.) durch eine Katze erfüllt werden können. In einer französischen Studie wurde das Verhalten von zwei- bis fünfjährigen Kindern gegenüber Haushunden untersucht. Die Autoren (Filiatre et al. 1985) analysierten Videoaufnahmen, die innerhalb von Familiensituationen aufgenommen wurden. Insgesamt stützt die Untersuchung die Vermutung, dass eine Beziehung zwischen Hund und Kind die Gefühlsentwicklung und die Beziehungsfähigkeit positiv beeinflusst. Von einigen interessanten Details soll im Folgenden berichtet werden: 169

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10 Kinder und Tiere

Die Kommunikationshandlungen zwischen Kind und Hund, die vom Kind ausgehen, dauern in der Regel länger als die, die der Hund initiiert. Ein wichtiges Kriterium ist dabei das Alter des Hundes: Die Initiative des Kindes gegenüber dem Hund ist größer und auch unbefangener, wenn der Hund älter als das Kind ist. Am besten ist es, wenn der Hund schon vor der Geburt des Kindes in der Familie war, was u. a. daran liegt, dass ältere Hunde das Kinderspiel eher zulassen. Das Geschlecht des Kindes spielt keine Rolle, wohl aber die Anzahl der Geschwister. Es scheint so, dass die Funktion des Hundes als Spielkamerad geringer wird, wenn Geschwister da sind. Bei Einzelkindern wird der Hund sogar zum bevorzugten „Freund“ (vgl. dazu auch Rüdiger 1956). Wenn es in einer Familie mehrere Kinder gibt, „so verhält sich der Hund so, als ob er seine Kommunikationshandlungen unter den einzelnen Kindern aufteilen würde“ (Filiatre et al. 1985, S. 56). Die Autoren versuchten auch, die kindliche Gefühlsqualität im Kontakt zu einem Hund zu erfassen, wobei sie v. a. auf verschiedene Gebärden achteten. So ist es auffällig, dass ausgesprochen wenige Kinder die Hunde besonders aggressiv behandeln. Dieses Phänomen wird in Zusammenhang mit humanethologischen Befunden gebracht, nach denen die relative Häufigkeit von Aggressionsgebärden bei Kleinkindern ab etwa 24 Monaten abnimmt; danach sinkt die Aggressionsbereitschaft beziehungsweise -häufigkeit zwischen dem 3. und 5. Jahr noch einmal deutlich ab (vgl. Montagner 1981). Wahrscheinlich braucht man für dieses Phänomen gar nicht humanethologische Erklärungsansätze heranzuziehen; die Beherrschung von aggressiven Impulsen und auch entsprechender Gebärden ist wohl eher ein kulturspezifischer Sozialisationsprozess in der frühen Kindheit, innerhalb dessen gelernt wird, dass aggressive Handlungen tabuisiert sind. Interessant ist freilich in unserem Zusammenhang, dass dieses Tabu auch gegenüber Hunden eingehalten wird. Das trifft begreiflicherweise insbesondere auf große Hunde zu. Beschwichtigungs- und Liebkosungsgebärden (Streicheln) werden häufiger Hündinnen gegenüber angebracht. Wahrscheinlich hat das etwas mit dem geschlechtsspezifischen Verhalten von Hunden zu tun. Interessant ist allerdings der Befund von Levinson (1972, S. 18), dass Tiere im Allgemeinen von Kindern als männlich angesehen werden. Beobachtungen zum Körperkontakt haben erbracht, dass Kinder ihre Hunde überwiegend (etwa zu 90 %) mit den Händen, vor allem an Hals, Vorderpfoten, Flanken und Bauch berühren. Im Lichte dieser Ergebnisse zeigen sich somit die Eigenschaften jenes Hundes, der am besten geeignet ist, das Kleinkind zu beschwichtigen, ihm Sicherheit zu vermitteln und mit ihm zu kommunizieren. Ein solcher Hund wäre eine nicht zu junge und nicht zu kleine Hündin, die bereits vor der Geburt des Kindes in der Familie war (Filiatre et al. 1985, S. 56).

Die Autoren betonen ausdrücklich, dass es aufgrund ihrer Befunde sehr wahrscheinlich ist, dass der Kontakt zu Hunden die Gefühlsentwicklung und die Beziehungsfähigkeit von Kindern positiv beeinflusst und dass Kinder dadurch ein „besser strukturiertes und sozial wirksameres Verhaltensrepertoire“ entwickeln. Guttmann et al. (1985) zeigen, dass auch die nonverbale Kommunikationsfähigkeit durch den Kontakt mit Tieren gefördert wird. Sie untersuchten Kinder und Jugendliche im Alter

10.2 Empirische Hinweise zu den Wirkungen von Heimtieren auf Kinder

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von 11 bis 16 Jahren (n=455). Die Autoren gehen von der Annahme aus, dass die nonverbale Kommunikation für das menschliche Sozialverhalten eine bedeutende Funktion hat, die jedoch oft vernachlässigt wird, da sie zum einen unbewusst sei und zum anderen auch nur wenig beeinflusst werden könne. Die Fähigkeit, die Mimik eines anderen Menschen richtig zu deuten, wurde getestet erstens bei Kindern, die in ihrer Kindheit ein Heimtier (Hunde, Katzen, Vögel u. a.) besessen haben, und zweitens bei Kindern, die nie ein Heimtier gehalten haben. Das Verständnis für (nonverbale) Ausdruckserscheinungen wurde durch eine standardisierte Testmethode überprüft, die vor allem affektive Qualitäten von Glück, Trauer, Furcht, Ärger, Überraschung und Abscheu erfasst. Das entscheidende Ergebnis dieser Studie ist, dass Kinder, die längere Zeit Kontakt mit einem Heimtier  hatten, signifikant bessere Leistungen im Verstehen nonverbaler Kommunikationssignale haben als Nichtheimtierhalter. Dabei gibt es eine deutliche Geschlechtsspezifik: Mädchen sind der Untersuchung zufolge begabter im mimischen Dechiffrieren; insofern ist der fördernde Effekt im Hinblick auf die nonverbale Kommunikationsfähigkeit, der sich im Kontakt mit Tieren einstellt, insbesondere bei Jungen zu beobachten, während bei Mädchen diese Fähigkeit nicht mehr wesentlich (jedenfalls nicht durch Heimtierkontakt) zu fördern ist. Interessant ist auch der Befund, dass diese Effekte nahezu unabhängig von der Art der jeweiligen Heimtiere sind. Ob also Hunde, Katzen, Nager, Vögel oder Fische gehalten werden, scheint – was die nonverbale Kommunikationsfähigkeit angeht – gleichgültig zu sein. Dies steht freilich in einem Widerspruch zu einer von den Autoren erwähnten verhaltensbiologischen Besonderheit gerade von Hunden und Katzen: Die Besonderheiten der nichtverbalen Kommunikation werden vielfach sogar für eine wesentliche Wurzel der Domestikation von Katze und Hund gehalten. So hat […] der Wolf nicht nur von allen Kaniden die größte Streubreite an Ausdruckserscheinungen, sondern zeigt in den Ausdruckssignalen auch eine ganz besondere Ähnlichkeit mit Primaten und insbesondere dem Menschen (Guttmann et al. 1985, S. 62).

Jedenfalls wird offenbar die nonverbale Kommunikationsfähigkeit durch den Kontakt mit Tieren gesteigert. Nach Olbrich (2003) verbessert der Kontakt mit Tieren die Feinabstimmung von digitaler und analoger Kommunikation. Poresky (1990) zeigt in einer Untersuchung mit Kindern zwischen drei und sechs Jahren zusätzlich, dass überhaupt die empathischen Fähigkeiten von Kindern, die eine enge Beziehung zu Tieren haben, differenzierter sind. Er untersuchte Kinder mit einem eigens entwickelten Testinstrument („The Young Children’s Empathy Measure“) und erhielt im Hinblick auf vier Gefühlsqualitäten (Traurigkeit, Angst, Ärger und Glück) zum einen den Befund, dass empathische Fähigkeiten mit dem Alter, der sozialen Entwicklung, jedoch nicht mit der Intelligenz korrelieren. Zum anderen – und das interessiert hier – zeigte sich sehr deutlich, dass die Empathie Kindern gegenüber mit derjenigen gegenüber Heimtieren korreliert und dass außerdem Kinder mit einer engen Bindung an Tiere höhere Empathiewerte haben (vgl. Beetz 2004, Dali/Morten 2006, Levinson 1978, Poresky 1990, Poresky/ Hendrix 1990). Die (zumindest versuchte) Einfühlung in ein Tier geschieht angesichts des 171

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10 Kinder und Tiere

Fehlens expliziter verbaler Kommunikation. Das macht offenbar die Entwicklung nonverbaler, intuitiver und auch empathischer Kommunikationsarten in besonderer Weise notwendig. Tiere reagieren auf die nichtsprachlichen, analogen Aspekte der Interaktion (Otterstedt 2003 S. 95) und damit „verlangen sie von der Person, die mit ihnen in Beziehung steht, eine echte, eine stimmige Bezogenheit“ (Olbrich 2003 S. 87). Beetz (2004) stellt die Befunde zur Empathie in einen bindungstheoretischen und in einen neurobiologischen Kontext (vgl. auch Julius et al. 2014), wobei davon auszugehen ist, dass sichere Bindungsmuster sowohl die eigene Regulationsfähigkeit als auch das Hineinfühlen in andere begünstigt. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass offenbar auch die Bindung an Tiere entsprechende Wirkungen hat. In neurophysiologischer Hinsicht hängen positive Bindungserfahrungen und vor allem Empathie mit den sogenannten Spiegelneuronen und der Ausschüttung des „Bindungshormons“ Oxytozin zusammen. Dies gilt offenbar auch für die Tierbeziehung (vgl. Bauer 2006): Odendaal (2000) konnte zeigen, dass es bei einer positiven Beziehung zwischen Mensch und Hund bei beiden (!) zu einem Anstieg von Oxytozin kommt und wertet diesen Befund als Hinweis für „social attachment on an intraspecies basis“ (Odendaal 2000, S. 278). „Positive Effekte einer bindungsähnlichen Mensch-Tier-Beziehung auf Empathie und emotionale Intelligenz sind vorstellbar“ (Beetz 2004, S. 10). Besonders wichtig scheinen dabei folgende Faktoren zu sein: Sicherheitsgefühl, Emotionsregulation und das Bedürfnis nach Versorgen (Beetz 2003). Auch der Grad der sozialen Integrationsfähigkeit kann in eine Beziehung zur Heimtierhaltung gebracht werden (Pohlheim 2006, S. 18). Bei verschiedenen soziometrischen Tests schnitten die Kinder, die ein Heimtier halten, signifikant günstiger ab, das heißt, sie wurden besonders häufig als Vertrauenspersonen und auch als Spielkameraden gewählt. Besonders deutlich ist das bei dem Kriterium „Vertrauen“. Das lässt sich so interpretieren, „daß das Übernehmen einer Verantwortung soziale Verhaltensweisen fördert, die auch in der mitmenschlichen Bezugsgruppe in höherem Maße dafür prädestiniert, Probleme anvertraut zu bekommen“ (Guttmann et al. 1985, S. 66). Außerdem sind die Heimtierbesitzer nicht nur sozial attraktiver und beliebter, sondern auch von sich aus kontaktbereiter und weniger geneigt, sich innerhalb von Gruppen zu isolieren. Vor allem Hunde wirken zudem als soziale Katalysatoren (Veevers 1985) und ermöglichen als Begleiter schnellen zwischenmenschlichen Kontakt (Messent 1983). Diese Funktion von Tieren als „soziales Gleitmittel“ wird auch von einigen anderen Studien belegt (Bergeler 1986, 1994, Hyde et al. 1983, Kidd/Kidd 1990b, Melson 1991, Messent 1983, Poresky 1996). Diese sozialen Wirkungen der Heimtierhaltung beziehen sich auch auf die Fähigkeit, sich in andere Kinder einzufühlen (Levinson 1978, Poresky 1990, 1996). Allerdings können Heimtiere auch als soziale Barrieren wirken (Veevers 1985). Das gilt vor allem für gefährliche und ekelerregende Tiere (Schlangen, Spinnen, Kampfhunde). Lebendige Dinge, vor allem Tiere, aber auch Pflanzen (siehe Kapitel 12) scheinen ein Gefühl der Sicherheit und Vertrautheit zu vermitteln, was mit zu den Hauptgründen gehört, dass sich Menschen Tiere halten oder sich auch mit Pflanzen umgeben (vgl. Rüdiger 1956, S. 257). Katcher und Beck (1983) führten Experimente durch, in denen der beruhigende Effekt von Aquarien untersucht wurde: Sie stellten fest, dass bei Versuchspersonen mit

10.2 Empirische Hinweise zu den Wirkungen von Heimtieren auf Kinder

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normalem und erhöhtem Blutdruck das Betrachten eines Aquariums (gängige tropische Fische) zu einer Senkung des Blutdrucks führt. Zusätzlich untersuchten sie den Effekt eines Aquariums auf besonders ängstliche Menschen, denen bei lokaler Narkose ein Zahn gezogen werden sollte. Verschiedene Methoden (Aussagen des Zahnarztes, unabhängiger Beobachter, Fragebogen) führten jeweils übereinstimmend zu dem gleichen Ergebnis, dass das Betrachten eines Aquariums eine ausgesprochen beruhigende und entängstigende Wirkung auf die Versuchspersonen hatte, die der von hypnotischer Beeinflussung nahekommt. So konnte beispielsweise die Entspanntheit der Personen, die eine gewisse Zeit ein Aquarium betrachteten, durch Hypnose nicht mehr erhöht werden. Es ist natürlich möglich, dass dieses Ergebnis lediglich auf einen Ablenkungseffekt zurückzuführen ist, die Autoren formulieren jedoch, daß die Gegenwart ungestörter Lebewesen deshalb beruhigend wirkt, weil in der menschlichen Evolution jahrtausendelang, wenn nicht sogar immer, der Anblick und das Geräusch ungestörter Tiere und Pflanzen ein wichtiges Zeichen für Sicherheit waren. Wir wissen, daß infrahumane Primaten das Fluchtverhalten anderer Tiere, die schärfere Sinne besaßen, als Gefahrensignale werteten. Die plötzliche Unruhe einer grasenden Antilopenherde, die einen Leoparden wittert, ist ein gutes Beispiel für ein derartiges Warnsignal. Wenn sich also ein Tier ruhig verhält, das in Gegenwart eines für die Primaten gefährlichen Tieres gewöhnlich flieht und erkennbares Fluchtverhalten zeigt, so kann dies als Sicherheitssignal gewertet werden (Katcher/Beck 1985, S. 132).

Damit wollen die Autoren nicht die Annahme nahelegen, dass sich Menschen, die ein Aquarium betrachten, an das Leben in der afrikanischen Savanne gewissermaßen „erinnern“, vielmehr gehen sie von der Annahme aus, „daß Unterschiede in der Art, sich gegenüber Umweltsignalen zu orientieren, ein Teil der Varianz der angeborenen Verhaltensmuster bei Tieren wie bei Menschen ist“ (Katcher/Beck 1985, S. 132). Die beschriebene Verhaltensweise, nämlich das eigene Verhalten (was das Fluchtverhalten und das Gefühl von Sicherheit angeht) an dem von anderen Arten zu orientieren, ist als ein Selektionsvorteil zu bewerten, der im Laufe der Evolution eher Träger dieser Verhaltensweise begünstigt (zum Stellenwert solcher evolutionstheoretischer Argumentation siehe Kapitel 9). Auffällig ist zusätzlich, dass auch in literarischen Darstellungen die ungestörte Natur oft als eine Metapher für Sicherheit verwendet wird. Das Aquarium hat vor dem Hintergrund dieses theoretischen Zusammenhangs dann wohl genau deshalb einen beruhigenden Effekt, weil die Fische ruhig und ungestört schwimmen und auch die Pflanzen sanft im Wasser schwingen. Nun zeigen zwar demographische Umfragen, dass Aquariumsfische für Kinder keine sehr beliebten Tiere sind. Analoge Versuche wurden aber auch in Bezug auf die Anwesenheit von Hunden gemacht, wobei die Versuchspersonen den Hund nur zusammen mit einem anderen Menschen (dem Versuchsleiter) sahen, nicht jedoch mit ihm in direkte Interaktion traten. Kinder wurden in ein gemütliches Zimmer gebracht, in dem sich ein (weiblicher) Versuchsleiter zusammen mit einem Hund befand; in einem Kontrollversuch war die Versuchsleiterin ohne Hund. Die Gegenwart des Hundes senkte den Erregungsstand beziehungsweise die Angst der 173

174

10 Kinder und Tiere

Kinder merklich, was in diesem Experiment anhand von physiologischen Messungen (Blutdruck, Herzfrequenz) nachgewiesen wurde. In einer anderen Studie mit Kindern (Poresky/Hendrix 1990) wird allerdings gezeigt, dass durch die reine Anwesenheit von Tieren allein ein solcher stressmindernder Effekt noch nicht eintritt; entscheidend sei vielmehr die Beziehung des Kindes zu dem Tier. Oft lässt sich beobachten, dass Heimtiere in Familien behandelt werden wie menschliche Familienmitglieder, geradezu wie Bezugspersonen (Ettl 1997, S. 130, Zinnecker et al. 2003, S. 33), die aber keinen Stress und Ärger machen. In einer Fragebogenuntersuchung in den USA ist dies sogar häufig explizit geäußert worden (Katcher et al. 1983, Katcher 1981, Ganster/Voith 1983). Auch eine qualitative Studie mit Grundschulkindern (21 Einzelinterviews, Rohlfs 2006) zeigt, dass Tiere wie Familienmitglieder betrachtet werden, die gewissermaßen magische Züge aufweisen. Dabei ist es für unseren Zusammenhang von Bedeutung, dass Familien mit Kindern weitaus häufiger Tiere halten. Menschen, die ein Heimtier als Familienmitglied bezeichnen, tendieren auch dazu – und das gilt wohl insbesondere für Kinder – mit dem Tier zu sprechen, zu schlafen, seinen Geburtstag zu feiern oder ein Bild von ihm aufzustellen. Heimtiere werden auch oft, wenn sie sterben, intensiv betrauert (Kamerman 1988, S. 117f.) und im Garten beerdigt (siehe Kapitel 13). Sie werden innig geliebt, werden zu Lebewesen gemacht, die denken und fühlen wie Menschen. Vor allem Hunde und Katzen werden als Familienmitglieder betrachtet. Kinder sprechen auch mit Tieren, wenn sie traurig sind (Melson 2003). Nach einer Untersuchung (Voith 1985) an der Tierklinik der Universität Pennsylvania in Philadelphia (n=1500) zeigt sich die „Familienzugehörigkeit“ unter anderem in folgenden Phänomenen: • • • • • • • •

56 % der Hunde durften im Bett der Befragten schlafen 72 % der Befragten nahmen ihren Hund auf Reisen mit 64 % der Hunde bekamen Essen vom Tisch ab 45 % der Befragten sprachen mindestens einmal im Monat mit ihrem Hund über wichtige Angelegenheiten 99 % der Befragten glaubten, die Stimmungen ihres Hundes zu erkennen 98 % der Befragten glaubten, dass der Hund ihre Stimmungen erkennt 91 % der Befragten haben Fotos von ihrem Hund 54 % feiern den Geburtstag ihres Hundes

Diese Befunde, die ein normales Familienleben charakterisieren, werden auch von anderen Studien bestätigt (vgl. Cain 1985, Veevers 1985, Rehm 1993). Rehm befragte 316 Familien mit insgesamt 555 Kindern und erhielt dabei für die Eltern analoge Befunde wie die aus Pennsylvania. Die Kinder betrachten den Hund in den meisten Fällen als Freund oder Spielkameraden, der sie auch verstehen kann. Einen besonderen Wert erhält der Hund zusätzlich dadurch, dass man ihn „ärgern“ kann (Rehm 1993, S. 124). Eine solchermaßen vertraute Beziehung zu Heimtieren ist natürlich ausgesprochen anthropomorph getönt: „Man kann sagen, daß diese Menschen dem Haustier gegenüber

10.2 Empirische Hinweise zu den Wirkungen von Heimtieren auf Kinder

175

gewisse gesellschaftliche Verhaltensmuster anwenden, die normalerweise für Artgenossen reserviert sind, mit denen sie eine enge und freundschaftliche Beziehung verbindet“ (Katcher/ Beck 1985, S. 134). Katcher und Beck beobachteten Personen, die eine derartige Beziehung zu Tieren unterhalten, bei Berührungen und „Gesprächen“ mit Tieren. Die Gestik, die dabei analysiert werden konnte, entsprach der Gestik, die eigentlich der Kommunikation von sehr vertrauten Menschen vorbehalten ist. Besonders interessant ist, dass es dabei keine Geschlechtsspezifik gibt. Männer zeigen also solche Vertrautheitsgesten gegenüber Tieren genauso häufig wie Frauen, obwohl dies in ihrem sonstigen Verhalten zumindest in der Öffentlichkeit nicht zutrifft (vgl. Goffman 1976). Dieser „Vertrautheitseffekt“ wurde von Katcher (1981) auch noch durch physiologische Messungen bestätigt: Er stellte fest, dass der Blutdruck von Personen (es wurden auch Kinder untersucht), die mit anderen Menschen sprachen oder sie berührten, deutlich ansteigt, jedoch nicht bei Personen, die dies mit ihren Haustieren tun. Im Gegenteil: der Blutdruck (als Maß für die physiologische Erregung) blieb konstant, der systolische Blutdruck wurde sogar gesenkt. Die Entspannung, die sich im Kontakt mit Tieren einstellt, vermittelt sich auch in einem entspannteren Gesichtsausdruck und in einer wärmeren Stimme (siehe auch Jenkins 1986). Levi-Strauss (1968) behauptet sogar, dass der Umgang mit Tieren das Denken anregen und fördern könne (vgl. auch Melson 2003). Tiere fungieren oft als Metaphern für menschliche Eigenschaften, Gedanken und Gefühle und können so im Denken eine Hilfe sein. Die vielen in diesem Kapitel zusammengetragenen Befunde legen zusätzlich die Vermutung nahe, dass der psychologische Wert von Tieren über ihre symbolische Funktion weit hinausgeht: Die Ergebnisse zum Kontaktverhalten, zu den Affekten von Sicherheit und Vertrautheit und auch zum therapeutischen Wert von Tieren (siehe Kapitel 10.7) sprechen jedenfalls dafür. Direkte Beobachtungen von Kindern in ihrem Verhältnis zu verschiedenen Tieren gibt es insgesamt nur wenig. Deshalb sei hier noch zusätzlich auf die allerdings recht alte Beobachtungsstudie von Krüger (1934) zurückgegriffen, die jedoch immer noch ergiebig ist. Krüger beobachtete Kleinkinder (zwischen 5 und 16 Monaten) in einem Kinderheim dabei, wie sie zum ersten Mal (!) mit Tieren (Frösche und Meerschweinchen) in Kontakt kamen, um damit deren unmittelbares (und nicht durch Erziehung beeinflusstes) Verhältnis zu Tieren zu erforschen. Die ganz jungen Kinder (6-7 Monate) verhalten sich völlig passiv, reagieren überhaupt nicht auf das Tier (wohl aber auf Menschen). Ab dem 7./8. Monat greifen die Kinder nach den Tieren, allerdings so, wie sie auch nach anderen Gegenständen greifen; das Tier ist noch ein Gegenstand wie jeder andere. Hierzu ein Beispiel aus den Beobachtungsprotokollen: Ein elf Monate alter Junge greift nach dem Tier, fasst ins Fell, zaust es, hält es fest; im nächsten Augenblick fällt sein Blick auf einen Pappkarton, und er wendet nun die gleiche Greiflust, das gleiche Interesse diesem Gegenstande zu, dann einem Teddybären, und so fort. Das ganze Verhalten des Kindes läßt deutlich erkennen, daß das Tier für es in keiner Weise aus der übrigen Dingwelt herausfällt. Das Bewußtsein nimmt zwar Notiz von einem „Etwas“, nicht aber von der Eigenart dieses „Etwas“ (Krüger 1934, S. 16). 175

176

10 Kinder und Tiere

Ab dem 11. Monat beobachtete Krüger unterschiedliche Reaktionen, die auf eine spezifische und differenzierte Beziehung zu dem jeweiligen Tier schließen lassen: Die Kinder reagieren unterschiedlich, und zwar entweder ablehnend (Angst) oder mit Zuwendung. Das Tier erscheint im Bewußtsein des Kindes zum ersten Mal ausgezeichnet vor den übrigen umgebenden Objekten durch seine Bewegungsmöglichkeit aus einer eigenen inneren Kraft heraus, deren Quelle dem Kinde unverständlich ist und damit – vor allem bei einer plötzlichen Bewegung auf das Kind zu – instinktiv als eine Gefahr für das eigene Selbst, als eine Bedrohung der Souveränität des Kindes aufgefaßt wird (Krüger 1934, S. 16).

Krüger interpretiert dieses primäre Furchtverhalten als einen angeborenen „Schutzinstinkt“, den sie auch bereits im Tierreich vermutet. Ebenso wie die primär ablehnende beruht nach Krüger auch die zugewandte Haltung zu Tieren auf einer angeborenen Disposition, nämlich dem Neugierverhalten, das allerdings dem „Schutzinstinkt“ nachgeordnet sei. „In den Fällen, wo eine Hinwendung zum Tier erfolgt, ist also das Motiv der Furcht übertönt von dem Motiv der Neugier“ (Krüger 1934, S. 18). Auch hierzu ein Beispiel: Ein Junge (2;3 Jahre) hatte niemals während der Versuche Furcht vor dem Tier gezeigt. Plötzlich während eines Versuches gelingt es dem Tier (Meerschweinchen), sich aus seinen haltenen Händen zu befreien. In diesem Moment, wo das Tier seinem Machtbereich entkommt, flößt es dem Kinde Furcht ein, das Kind weint, weicht zurück, zeigt alle Zeichen von Furcht. Es dauert eine Weile, bis es, sehr zaghaft, wieder zu greifen beginnt (Krüger 1934, S. 18).

Im Gegensatz zu vielen anderen Autoren, die das primäre Verhältnis des Kindes zu Tieren eher als angstfrei, geradezu als „verwandtschaftlich“ charakterisieren (siehe oben), ist nach Krügers Befunden das primäre Verhältnis zu Tieren ein eher ängstliches, das allerdings sehr schnell durch Neugier und auch durch Rationalisierung eine andere Tönung erhält (vgl. auch Margadant-van Arcken 1989). Untersuchungen mit Kindern verschiedenen Alters zeigen, dass die positiven Reaktionen mit fortschreitendem Alter zunehmen und zwar vor allem im 3. und im 6. Lebensjahr. Wenn auch oft zunächst trotzdem eine angstgetönte Schwelle überwunden werden muss, kann somit bei Kindern ab dem 3. Lebensjahr in der Tat von einem eher zutraulichen Verhältnis zu Tieren gesprochen werden. Beobachtungen an Schulkindern zeigen, dass die primäre Angst noch weiter in den Hintergrund getreten ist, was Krüger mit einem zunehmenden Realitätsbewusstsein in Zusammenhang bringt. Es spricht allerdings auch viel dafür, dass die allgemeine Persönlichkeit des Kindes auch sein Verhältnis zu Tieren bestimmt: Ein eher ängstliches Kind wird auch eher Angst vor Tieren haben. Das wird wahrscheinlich nicht in erster Linie dem Wirksamwerden eines „Schutzinstinktes“ entstammen, sondern eher den bisherigen Lebenserfahrungen (zum Thema „Angst und Ekel vor Tieren“ siehe ausführlich Kapitel 11). Krüger stellte auch eine deutliche Geschlechtsspezifik fest: Die Mädchen seien in der Tendenz eher zärtlich-liebevoll, die Jungen eher sachlich interessiert, wobei allerdings auch angemerkt werden muss, dass viele Kinder relativ indifferent auf Tiere reagierten, also sich weder ängstlich noch ausgesprochen zugewandt zeigten. Auf Beispiele für die

10.3 Welche Tiere werden von Kindern besonders geschätzt?

177

geschlechtsspezifischen Unterschiede sei hier verzichtet, da sie deutlich Geschlechtsrollenstereotypen aus den 30er Jahren entstammen. Krüger fasst ihre diesbezüglichen Beobachtungen folgendermaßen zusammen: Der Knabe im Alter von über drei Jahren ist mehr sachlich interessiert am Tier, ihn beschäftigen die Leistungen und Fähigkeiten der Tiere. Das Küken kann fliegen und imponiert ihm damit ungeheuer, der Frosch kann so weit springen und ähnliches mehr. Das Mädchen dagegen ist in diesem Alter liebevoll-zärtlich, die Erkenntnis des Tieres als Lebewesen erweckt vielleicht in ihr einen mütterlichen Instinkt, der sich in Achtsamkeit und liebevollem Besorgtsein äußert. Ihr Interesse am Tier beruht nicht auf seinen Leistungen, sondern auf Liebe zum Tier. Diese Verschiedenheit der Geschlechter prägt sich mit fortschreitendem Alter der Kinder (Schulkinder bis 11 Jahre) immer mehr aus (Krüger 1934, S. 26f.).

10.3 Welche Tiere werden von Kindern besonders geschätzt? 10.3

Welche Tiere werden von Kindern besonders geschätzt?

Zoologische Interessen sind bei der Vorliebe für bestimmte Tiere relativ nachgeordnet. So verbirgt sich hinter dem kindlichen Bezug zu Tieren eher ein Beziehungswunsch als ein Interesse an Tieren, auch wenn das natürlich kein Widerspruch sein muss. Bezeichnenderweise erbrachte Föllings-Albers (1995) Studie zu den Interessen von Grundschulkindern den Befund, dass sich (bei einer offenen Frage) lediglich 2,7 Prozent für Tiere interessierten. Bei den Beziehungswünschen ist das ganz anders. Tiere nämlich, zu denen man eine Beziehung herstellen, die man streicheln kann, die dem Bedürfnis nach Hautkontakt und Zärtlichkeit entgegenkommen, werden sehr geschätzt. Das sind Katzen, Hunde, Meerschweinchen weitaus mehr als beispielsweise Fische oder Schildkröten. Letztere kann man zwar auch beobachten und versorgen, aber eben keine „richtige“ (das heißt wohl auch anthropomorph getönte) Beziehung zu ihnen entwickeln. Am beliebtesten sind also Tiere, die dem Menschen in irgendeiner Weise ähnlich sind, was natürlich anthropomorphe Interpretationen begünstigt. Nach Morris (1981, S. 379) ist ein Tier umso beliebter, je mehr es sich für anthropomorphe Interpretationen anbietet. Besonders wichtig sind die folgenden Eigenschaften: Haare, ein flaches Gesicht, ausgeprägtes Mienenspiel, mehr oder weniger aufrechte Körperhaltung, Fähigkeit, kleine Objekte mit den „Händen“ zu manipulieren (Morris 1968, S. 215). Die Beziehung zu Tieren hängt auch davon ab, ob, in welchem Alter und mit welchen Tieren in der Kindheit Kontakt bestanden hat. Dabei ist der bereits berichtete demographische Befund bedeutsam, dass in Familien mit Kindern vermehrt Heimtiere gehalten werden, wobei das für Landfamilien naturgemäß deutlich mehr zutrifft. Allerdings ist das Halten von Tieren auf dem Land zweckgebundener, was nicht unbedingt immer eine liebevolle Beziehung nahelegt. So betonen auch Landkinder mehr den Nützlichkeitsaspekt von Tieren als Stadtkinder (Kellert 1996). In Norwegen ergab sich in einer großen Befragung an Kindern und Jugendlichen (Bjerke et al. 1998), dass Stadtkinder sogar ein größeres Bedürfnis nach Tieren haben als Landkinder. Das trifft insbesondere für die jün177

178

10 Kinder und Tiere

geren Kinder zu, wie überhaupt die Tierliebe mit zunehmendem Alter eher abzunehmen scheint (Bjerke et al. 1998). Die Befragungen im Hinblick auf die Beliebtheit von Tieren bei Kindern kommen überwiegend zu den gleichen Ergebnissen, jedenfalls was die beliebtesten Tiere angeht: Hund, Katze, Hase und Pferde. Zwei Drittel der 10- bis 18-Jährigen haben ein Haustier (Zinnecker et al. 2003, S. 35). Der Hund ist mit 41 % am beliebtesten gefolgt von Katze (32 %), Vogel (22 %), Hase und Kaninchen (22 %) und Fischen (21 %). Aber es gibt auch Wünsche nach Exoten wie Ratten, Schlangen oder Spinnen. Auch bei jüngeren Kindern finden sich ähnliche Vorlieben: In einer italienischen Studie (Borgi/Cirulli 2015) mit 3- bis 6-jährigen Kindern sind die beliebten Tiere ebenfalls „higher-order“ Arten. Wirbellose sind am wenigsten beliebt, v. a. bei Mädchen. Das wesentliche Kriterium ist die Nähe zum Menschen. Auch ästhetische Vorlieben sind wichtig. Ähnliche Befunde zeigen sich in einer schweizerischen Studie (Schlegel et al. 2015): Insekten sind keine beliebten Tiere. Ausgesprochene Ausnahme ist allerdings der Schmetterling (Holt 2008). Das ist gerade im Kontext der Biodiversitätsdebatte besonders bedenkenswert, weil ja gerade das Aussterben der Insektenarten ein zentrales Problem darstellt. Interessanterweise beeinflusst das Wissen über Insekten die diesbezüglichen Einstellungen positiv (Randler 2008, Schlegel et al. 2015). Ähnliche Ergebnisse erhielt bereits 1903 Bucke bei einer Befragung von Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 6 und 17 Jahren in den Vereinigten Staaten. Der Hund steht hier mit 43 % an der Spitze, gefolgt von der Katze mit 28 %. Diese Befunde wurden mehrfach repliziert (Bart 1972, Collins 1976, Kellert/Westerveld 1983). Bemerkenswert in diesen Studien ist, dass Mädchen weniger Tierarten mögen und dass insgesamt die domestizierten Tiere beliebter sind als die Wildtiere (zu Wöflen siehe Herrman/Menzel, 2013). Allerdings zeigt sich, dass diejenigen, die Heimtiere halten, auch positive(re) Einstellungen zu Wildtieren haben (Bjerke et al. 1998, Bowd 1984). In der Studie von Kellert und Westerveld (1983) werden als beliebte Tiere noch Schmetterlinge, Schwäne und Robben genannt. Eine interessante Geschlechtsspezifik erbrachte eine italienische Studie (Rusca/Tonucci 1992) an Kindern im Alter zwischen 6 und 12 Jahren. Die Jungen aus der Stadt nannten in erster Linie den Tiger, den Löwen und den Hund, während die Mädchen aus der Stadt Hund und Katze nannten. Landkinder mochten mehrheitlich und ohne signifikante Geschlechtsspezifik Pferde, Hunde und Katzen. Die Beliebtheit dieser Tiere bei Kindern findet sich auch in anderen Studien bestätigt (vgl. Zilligs 1961, Schanz 1972, Hartmann/Rost 1994). Die Vorliebe für bestimmte Tiere scheint auch einer entwicklungspsychologischen Dynamik zu unterliegen. Mit zunehmendem Alter nimmt die Vorliebe für Hunde zu (Tab. 10.1). Vor allem die jeweiligen Motive folgen einer Altersdynamik: Während jüngere Kinder noch vorwiegend „Liebe und Sicherheit“ als Motive für die Vorliebe für Tiere angeben, sind sie für ältere Kinder Mittel und Anlass für Selbständigkeit und Unabhängigkeit (Tab. 10.2).

10.3 Welche Tiere werden von Kindern besonders geschätzt?

Tab. 10.1

Bevorzugte Tierarten bei Kindern zwischen 5 und 13 Jahren (n=216, Angaben in Prozent, Salomon 1982)

Welches Tier magst du am liebsten? Katze Pferd Hund Andere Tiere

Tab. 10.2

179

(durchschn. Lebens­ alter 6,5 Jahre) 21,7 19,5 17,3 41,5

(durchschn. Lebens­ alter 9,5 Jahre) 30 16 29,9 24,1

(durchschn. Lebens­ alter 11,5 Jahre) 12,5 17,5 35 35

Motive für die Wahl eines Tieres bei Kindern zwischen 5 und 13 Jahren (n=216, Angaben in Prozent, Salomon 1982)

Liebe und Sicherheit Selbständigkeit und Unabhängigkeit Selbstsicherheit und Aggressivität Keine Zuordnung möglich

(durchschn. Lebens­ alter 6,5 Jahre) 41,7 23,8

(durchschn. Lebens­ alter 9,5 Jahre) 18 54,5

(durchschn. Lebens­ alter 11,5 Jahre) 28,3 59,2

19,4

23,8

9,8

15,1

3,7

2,7

In einer Befragung aus Norwegen (Bjerke et al. 1998) werden explizit auch wildlebende Tiere einbezogen. Es wurden 562 Kinder und Jugendliche zwischen 9 und 15 Jahren nach ihren drei Lieblingstieren befragt. Die Ergebnisse: 75 % geben den Hund an erster Stelle an, 55 % die Katze, 39 % das Pferd und 13 % den Hasen. Insgesamt 54 % geben Heimtiere an, aber immerhin 15 % in Norwegen wildlebende Tiere, 14 % wildlebende Tiere aus anderen Ländern, 13 % Pferde und 4 % Nutztiere. Unter den Nutztieren wurde die Kuh am häufigsten genannt, bei den Wildtieren der Wolf, der Adler, kleine Vögel und der Tiger. Hier gibt es eine deutliche Geschlechtsspezifik: 42 % der Jungen nennen Wildtiere, aber nur 19 % der Mädchen. Bei Pferden ist das Verhältnis umgekehrt: 20 % der Mädchen, aber nur 5 % der Jungen nennen Pferde als Lieblingstier. Interessanterweise ist diese besondere Vorliebe der Mädchen für Pferde, die in Deutschland ähnlich deutlich ist (siehe Kapitel 10.4), in den USA (Collins 1976) oder in Italien (Rusca/Tonucci 1992) nicht zu finden.

179

180

Tab. 10.3

10 Kinder und Tiere

Beliebtheit von 20 Tieren (nach Bjerke et al. 1998) (n=562, 286 Mädchen, 276 Jungen, Mittelwerte 1=sehr große Abneigung, 4=sehr große Zuneigung)

Tierarten Hund Katze Eichhörnchen Pferd Schwan Bachstelze Fuchs Kuh Wale Adler Elch Bär Wolf Maus Dachs Krähe Wurm Hummel Ameise Spinne

beide Geschlechter 3.85 3.70 3.60 3.48 3.27 3.18 3.05 2.94 2.91 2.88 2.85 2.81 2.59 2.55 2.44 2.10 2.07 2.03 1.88 1.82

Mädchen 3.87 3.79 3.67 3.70 3.40 3.27 2.98 2.95 2.82 2.54 2.73 2.64 2.44 2.49 2.29 2.12 1.85 1.90 1.77 1.54

Jungen 3.83 3.61 3.53 3.25 3.12 3.07 3.12 2.92 3.01 3.23 2.97 2.99 2.75 2.61 2.60 2.08 2.3 2.16 1.99 2.12

Die Einstellung zu fünf Tieren wurde mittels des semantischen Differentials genauer untersucht (Tabelle 10.4). Die Befunde passen zu der Präferenzskala. Zusätzlich wurde noch nach der Bereitschaft beziehungsweise nach dem Interesse gefragt, bestimmte Tierarten vor dem Aussterben zu retten. Das bemerkenswerteste Ergebnis bei dieser Frage ist, dass das Interesse, Tiere vor dem Aussterben zu bewahren, signifikant mit dem Alter der Kinder abnimmt, ein Befund, der uns noch in Kapitel 14, in dem es um die Wahrnehmung und Verarbeitung der ökologischen Krise geht, beschäftigen wird.

10.3 Welche Tiere werden von Kindern besonders geschätzt?

Tab. 10.4

181

Tiereigenschaften im Urteil von Kindern und Jugendlichen (5-stufige Skala, 1=sehr positiv, 5=sehr negativ, N = 562) (nach Bjerke et al. 1998)

Tierarten Hund

Eigenschaftsskala schön – hässlich interessant – langweilig schlau – dumm nicht gefährlich – gefährlich nützlich – nicht nützlich

9-10 J. 1.59 1.86 1.76 1.99 1.65

12-13 J. 1.30 1.84 1.59 2.19 1.52

14-15 J. 1.57 2.09 1.93 2.26 2.04

Wolf

schön – hässlich interessant – langweilig schlau – dumm nicht gefährlich – gefährlich

2.96 2.07 2.25 3.67

2.44 1.81 1.96 3.99

2.41 1.83 2.06 3.86

Elch

schön – hässlich interessant – langweilig schlau – dumm

2.53 2.10 2.48

2.72 2.18 2.79

2.95 2.79 3.04

Adler

schön – hässlich interessant – langweilig schlau – dumm

2.52 1.95 2.10

1.98 1.62 1.74

2.12 1.92 1.98

Spinne

schön – hässlich schlau – dumm

3.81 3.10

4.13 3.32

4.27 3.47

Zur empirischen Fundierung des Tests „Familie in Tieren“ untersuchte Brem-Gräser (1975) auch, welche Tiere im kindlichen Erleben überhaupt eine Rolle spielen. Sie forderte 2000 zehnjährige Kinder auf, drei Tiere zu zeichnen. Das Ergebnis zeigt natürlich nicht, welche Tiere die Kinder mögen, es zeigt jedoch, welche Tiere in kindlichen Vorstellungen besonders häufig vorkommen, weshalb die entsprechende Tierliste auch abgedruckt sei (Tab. 10.5). Interessanterweise zeichnen die Kinder weitaus mehr Tiere, nämlich 108, wenn sie aufgefordert werden, ihre Familie in Tieren zu zeichnen. Das lässt sich so verstehen, dass offenbar der symbolische Wert von Tieren in der kindlichen Phantasie recht hoch einzuschätzen ist. Auch hierbei kommt die Schlange am häufigsten vor und überhaupt ist auffallend, dass die 20 am häufigsten gewählten Tiere bis auf vier identisch sind. Nach Rüdiger (1956, S. 116) scheinen Kinder eher Jungtiere zu bevorzugen; das gilt sogar, wenn die adulten Tiere eigentlich Angst- und Ekeltiere sind. Das wird zum einen mit dem sogenannten „Kindchenschema“ zusammenhängen, zum anderen mit der relativen Ungefährlichkeit der Jungtiere. So berichtet Rüdiger von Beobachtungen im Zoo, wo Kinder sich von jungen Löwen, Bären, Wildschweinen, sogar Schlangen ausgesprochen angezogen fühlten. Aufgrund seiner umfangreichen Beobachtungen von Grundschulkindern in zoologischen Gärten und Befragungen zu Heimtieren entwickelt Rüdiger weiter die Annahme, dass Kinder (und 181

182

10 Kinder und Tiere

auch Erwachsene) insbesondere solche Tiere schätzen, die biologisch dem Menschen am nächsten stehen; das sind vor allem Säugetiere. „Die biologische Nähe eines Tieres zum Menschen ist die wesentlichste Vorbedingung echter Kontaktfindung zwischen Mensch und Tier. Biologische Ferne dagegen führt zu Versachlichungen“ (Rüdiger 1956, S. 133). Tab. 10.5

Tierliste (nach Brem-Gräser 1975, S. 30)

1. Schlange 2. Hase 3. Fisch 4. Vogel 5. Pferd 6. Hund 7. Elefant 8. Katze 9. Igel 10. Ente 11. Schwan 12. Schmetterling 13. Schwein 14. Giraffe 15. Maus 16. Eichhörnchen 17. Schildkröte 18. Schaf 19. Schnecke 20. Storch 21. Gans 22. Kamel 23. Käfer 24. Esel 25. Löwe 26. Krokodil 27. Henne 28. Hirsch

716 464 378 362 336 288 258 202 166 152 152 152 144 140 108 104 100 98 98 88 96 96 66 64 31 32 28 25

29. Fuchs 30. Kuh 31. Hahn 32. Wurm 33. Reh 34. Affe 35. Kreuzotter 36. Spinne 37. Taube 38. Nashorn 39. Strauß 40. Adler 41. Eule 42. Walfisch 43. Raupe 44. Spatz 45. Haifisch 46. Gemse 47. Amsel 48. Bär 49. Fliege 50. Huhn 51. Stier 52. Ziege 53. Maikäfer 54. Kängeruh 55. Tiger 56. Zebra

48 46 40 40 38 36 36 36 32 28 28 26 24 24 22 20 18 18 16 14 14 14 14 14 12 12 12 12

Im Vergleich zu Säugetieren ist die Beziehung zu Vögeln, Fischen, Amphibien, Reptilien oder gar Insekten weitaus distanzierter. In der Tat bieten Säugetiere auch weitaus mehr Möglichkeiten, auf anthropomorphe Weise eine Beziehung zu ihnen zu entwickeln. Ob das vor allem an der biologischen Nähe zum Menschen liegt, sei dahingestellt; dabei wird sicherlich auch eine Rolle spielen, dass man mit Hunden oder Katzen beispielsweise Körperkontakt haben kann, dass Säugetiere eher (als beispielsweise Fische) die Kontaktangebote

10.3 Welche Tiere werden von Kindern besonders geschätzt?

183

von Kindern beantworten, weil sie gesellig sind und auch mimisches Ausdrucksvermögen haben (vgl. die Befunde zur nonverbalen Kommunikationsfähigkeit in Kapitel 10.2). Auch von anderen Studien (Margadant-van Arcken 1989) wird die Vorliebe für Säugetiere eindeutig bestätigt. Stückrath (1965) nennt ebenfalls als die beliebtesten Tiere an erster Stelle Säugetiere und an zweiter Stelle Vögel. Offenbar ist mit Säugetieren eher ein Gefühl von Vertrautheit und Sicherheit zu erreichen, was wahrscheinlich auch, aber nicht nur mit ihrer Menschenähnlichkeit zu tun haben wird. Die ästhetische Qualität eines Aquariums wird von Kindern in der Regel nicht so sehr wahrgenommen; auch ist es auffällig, dass Kanarienvögel eher von alten Menschen bevorzugt werden. Ein weiteres Kriterium für die Hinwendung zu bestimmten Tierarten ist nach Rüdigers Beobachtungen die „flinke und geschickte“ Beweglichkeit eines Tieres. Katze, Hund oder Pferd stecken eben zu Bewegung und Toben an, Schildkröten oder Aquariumstiere eher nicht. Krüger machte bereits 1934 einige differenzierte Studien zum Wert verschiedener Tierarten. Dabei stellte sich heraus, dass das Tier einen gewissen „Spielwert“ haben, das heißt kuschelig, eigenaktiv, beweglich und zutraulich sein muss. Ein Igel, eine Schnecke oder eine scheue junge Katze erfüllen beispielsweise diese Kriterien nicht. Nach Krügers Beobachtungen ist der Hund besonders beliebt. Überhaupt seien Tiere mit einem Fell in besonderer Weise für Kinder geeignet, was ihrer Meinung nach daran liegen wird, dass das weiche, warme Fell taktil besonders angenehm ist. Außerdem mutmaßt Krüger, dass die „Pelztiere“ auch die am höchsten entwickelten und insofern in ihrem Verhalten dem Kind am ehesten verständlich sind. Vergleichsuntersuchungen zwischen verschiedenen Tierarten (Frosch, Schnecke, Regenwurm einerseits und Meerschweinchen, Maus, Hund, Katze andererseits) bestätigen jedenfalls den Befund der Vorliebe für Pelztiere, ohne freilich begründete Hinweise auf die Ursachen zu geben. Auf die geringe Vorliebe oder gar Abneigung gegenüber bestimmten Tieren wird in Kapitel 11 (Angst und Ekel vor Tieren) noch genauer eingegangen. Hier soll nur festgehalten werden, dass in jungen Jahren keine prinzipielle Aversion gegen bestimmte Tierarten festzustellen ist, dass vielmehr spezifische Aversionen erst später, oft erst während der Schulzeit auftauchen – ein Hinweis auf deren kulturelle Bedingtheit. Kinder scheinen also spontan eher zutraulich auf Tiere zuzugehen. (An anderer Stelle spricht Krüger allerdings, wie bereits erwähnt, von einem angeborenen „Schutzinstinkt“ gegen Tiere.) Oft werden Überlegungen darüber angestellt, welche Tiere für welches Alter oder auch für welchen Persönlichkeitstyp besonders geeignet sind (siehe z. B. Adrian 1982, Winkel 1987). So ist es wahrscheinlich in der Tat so, dass Hundeliebhaber und Katzenliebhaber durchaus unterschiedliche Persönlichkeitstypen sind, was sich auch in der Vorliebe für ein bestimmtes Tier symbolisch ausdrücken kann (vgl. Turner 1985, S. 158). Inwieweit beispielsweise Hunde als „Spiegel der Persönlichkeit“ angesehen werden können, ist im wissenschaftlichen Sinne eine offene Frage (vgl. Bergeler 1986, S. 43f., Edel 1996, Serpell 1996, S. 28f., Veevers 1985). Allerdings sind bestimmte identitätsstiftende Funktionen von Haustieren oder auch die Funktion als Statussymbol in der Tat nicht auszuschließen. Lorenz (1993, S. 44f.) spricht in diesem Zusammenhang von „Resonanzhunden“ und „Komplementärhunden“. 183

184

10 Kinder und Tiere

Allerdings ist vor pauschalisierenden Ratschlägen („Welches Tier passt zu mir?“) eher zu warnen. Solche Zuweisungen instrumentalisieren die Tiere meist und stellen den Menschen allzu egozentrisch beziehungsweise anthropozentrisch in den Mittelpunkt. Trotzdem ist es natürlich so, dass bestimmte Tiere einfach einen höheren Aufforderungscharakter haben und dass Kinder auf bestimmte Tierarten leichter zugehen können, beispielsweise solche mit einem Fell.

10.4 Die besondere Beziehung von Mädchen zu Pferden 10.4

Die besondere Beziehung von Mädchen zu Pferden

Der Hengst war gesattelt. Der lief mir immer hinten nach. Als ich daheim war, legte er sich in den Garten. So wurde er mein bester Freund. (Zillig 1961, S. 70)

Es sieht einfach toll aus, wenn durch das glänzende Haar die Muskulatur und das Adernetz sichtbar werden, wenn das Pferd warm wird. (Vogt 1992) Wenn du deine Arme um einen Pferdehals schlingst und die Wärme spürst, dann ist das schon ein tolles Gefühl. (Vogt 1992)

Besonders bemerkenswert ist die Beziehung von Mädchen zu Pferden – ein Phänomen, das mehrfach Gegenstand einer Reihe von Untersuchungen und auch populärwissenschaftlichen Abhandlungen (Midkiff 2002, Pierson 2001) war. Auf der Phänomenebene ist die Vorliebe von Mädchen für Pferde unstrittig, viel unklarer und v. a. strittiger ist die Aufklärung der zugrundeliegenden Motive, die der Pferdebegeisterung vieler Mädchen zugrunde liegen könnten. „Die Liebhaberei für Pferde ist so auffallend, dass es wundert, warum sich die Entwicklungspsychologie dieser Thematik noch nicht ausführlich gewidmet hat“ (Fend 1990, S. 75). Auf den Stellenwert der Medien bei der kindlichen Beziehung zu Tieren ist bereits hingewiesen worden; in diesem Zusammenhang besonders interessant ist, dass fast die gesamte Pferdeliteratur Mädchenliteratur ist. Hier erleben Mädchen mit ihren Pferden Abenteuer, haben in Pferden Partner bei der Bewältigung von persönlichen Problemen, vor allem Pubertätskonflikten. Dieses Phänomen gibt es seit langem: Während in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts „Black Beauty“, „Flicka“ oder „Britta“ angesagt waren, hat sich diese Literatursparte eindeutig entwickelt: Im Rahmen der Kinder-Medien-Studie (KMS) 2019 wurden Kinder (6- bis 13-Jährige) bzw. deren Erziehungsberechtigte (4- bis 5-Jährige) gefragt, welche der erhobenen Magazine sie im letzten Jahr gelesen haben (insgesamt 7,32 Mio. Kinder) (vgl. KMS 2019, S. 6). Bei den erhobenen Pferdemagazinen zeigt sich eine deutliche Geschlechterpräferenz: Eine Ausgabe des Magazins „Bibi und Tina“ lesen im Durchschnitt 260.000 4- bis 13-Jährige. Dabei bilden Mädchen mit durchschnittlich 254.000 Leserinnen pro Ausgabe den weitaus größeren Teil (97,7 %) der Leserschaft (vgl.

10.4 Die besondere Beziehung von Mädchen zu Pferden

185

KMS 2019, S. 11). Beim Magazin „Lissy“ sind 98,7 % der insgesamt 225.000 monatlichen Leserinnen und Leser Mädchen. Bei „Pferd&Co“ (6-wöchentlich, gesamt 271.000) sind es 95,6 %. Auch das seit Jahrzehnten etablierte Pferdemagazin „Wendy“ (3-wöchentlich, gesamt 444.000) wird fast ausschließlich von Mädchen gelesen (98,9 % weibliche Leserinnen) (vgl. KMS 2019, S. 11). Die Pferdeabenteuer von „Bibi und Tina“ erfreuen sich nicht nur als Magazin, sondern auch als Hörspiele, Bücher, Computerspiele und Kinofilme großer Beliebtheit. Mit den „Ostwind“-Filmen und Büchern hat sich zudem in den letzten Jahren eine neue Reihe zum Thema Pferde als Kassenschlager bei den Mädchen etabliert (vgl. Martens 2018). So stimmt nach wie vor die Einschätzung des Literaturwissenschaftlers Hengst (1980, S. 189): „Die Pferdeliteratur im engeren Sinn ist […] zur Mädchenliteratur schlechthin avanciert“ (Hengst 1980, S. 189). Einige Beispiele: Mon Dieu preschte mit mir durch den peitschenden Regen. Seine Mähne wehte mir ins Gesicht und der Sturm riß mich fast von seinem Rücken. Ich wußte nicht, wohin wir ritten, nur, daß ich mich frei und glücklich fühlte. (J. Löhr: Glückliche Tage mit Mon Dieu. In: Wenn ich ein Pferd hätte. Ravensburg 1988, S. 11) Mit der Zeit entstand zwischen Berry und mir eine seltsame, immer engere Verbindung. Es war etwas anderes als Zuneigung, obgleich ich die Kleine innig liebte und sie ein außergewöhnlich anhängliches Pferd war. Es war eine Seelenverwandtschaft. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber es war da. (Lynn Hall: Berry, meine Rotschimmelstute. Ravensburg 1989, S. 42) „Meine Feine“, flüsterte ich und lehnte mich über ihren Rücken. Ich spürte ihre Wärme. Lady Lou war mein Pferd. Niemals konnte einer kommen und sie mir wieder wegnehmen. Wir gehörten zusammen, für immer Lady Lou und ich. (M. Stoffers: Nie wieder ohne Pferde. Reutlingen 1986, S. 159).

Fast ebenso erfolgreich wie diese Pferde-Mädchen-Literatur sind Fachbücher und sogar Fachzeitschriften über Pferde, die, wie Studien zum Leseverhalten gezeigt haben, auch tatsächlich gelesen beziehungsweise geradezu durchgearbeitet werden (vgl. Hengst 1980). So gibt es auch Berichte von Lehrkräften, nach denen sonst eher unmotivierte Schülerinnen freiwillig größere Arbeiten über Pferde geradezu perfekt und mit größter Motivation erstellen. Aber die Pferdeliebe der Mädchen bleibt nicht reine Fiktion. Zunehmend gibt es Ponyund Pferdehöfe, und diese werden in der Tat auch vorwiegend von Mädchen genutzt. Dabei handelt sich in erster Linie um Mädchen in der Pubertät. Gemäß des Jahresberichts der Deutschen Reiterlichen Vereinigung 2018 gab es bei den unter 14-Jährigen 137.429 Mädchen gegenüber nur 13.652 Jungen. Dieses Verhältnis ändert sich bis 16 Jahren nicht, auch wenn die Gesamtzahl sinkt: 66.878 Mädchen und 5.929 Jungen. In der Schweiz sind es 8.3 Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 16 Jahren, die regelmäßig reiten (Lamprecht et al., 2015, S. 33), davon sind 93 % Mädchen. Bei Erwachsenen (über 24 Jahre) ist das Verhältnis ausgeglichener, aber immer noch gibt es doppelt so viele Frauen (242.966) wie Männer (117.085). Im Übrigen ist dies ein relativ neues Phänomen, wie überhaupt das Pferd erst seit den 60er Jahren von einem landwirt185

186

10 Kinder und Tiere

schaftlichen Nutztier zum Freizeittier geworden ist. Noch 1960 war zudem der Pferdesport eine eher männliche Domäne, das trifft auch auf Kinder und Jugendliche zu. Bei den unter 14-Jährigen gab es 1960 2.649 Mädchen und 3.383 Jungen (Statistisches Bundesamt 1961). Schönhammer (1993) befragte Hauptschülerinnen und -schüler (5., 7. und 9. Klasse, n=55) nach ihrem liebsten Fortbewegungsmittel: Während bei den Jungen das Fahrrad (32 %), das Mitfahren mit dem Motorrad (18 %) oder mit dem Auto (15 %) neben dem Skateboard (12 %) beliebt sind, steht das Pferd bei den Mädchen mit 48 % mit Abstand an der Spitze (Fahrrad 19 %, Rollschuhe 10 %). Das Pubertätsalter der Mädchen wird nicht zufällig sein, auch wenn die besondere Beziehung von Mädchen und Pferden weit früher anfängt (Schönhammer 1993) und nicht als ein reines Pubertätsphänomen bezeichnet werden kann. Allerdings können zentrale Pubertätsthemen in der Beziehung zu Pferden ihren Niederschlag finden: Einsamkeit, Freiheit, (sexuelle) Triebstärke (vgl. Bettelheim 1980), Ablösung von den Eltern, Schönheit. Die Zügel können sozusagen selbst in die Hand genommen werden. Kusztrich (1988, S. 104) zufolge können Mädchen im Umgang mit Pferden den „pubertätstypischen Problemen“ wie Unsicherheit, Minderwertigkeitsgefühl und Selbstzweifel entgehen. Die Ablösung von den Eltern wird noch zusätzlich durch die „Aushäusigkeit“ der Pferde (anders als andere Haustiere wie Hunde oder Katzen) zumindest begünstigt. In diesem Zusammenhang ebenfalls bedeutsam sind Berichte und Phantasien von Mädchen, nach denen sich „auf dem Pferderücken Freiheitsgefühle einstellen“ (Hengst 1980, S. 193). Pferde bieten auf diese Weise offenbar eine (phantasierte) Möglichkeit zur Flucht aus der (unter Umständen konfliktreichen) Realität. Insofern handelt es sich bei entsprechenden Phantasien auch unabhängig von spezifischen Pubertätsproblemen um eine „Sehnsucht nach einem lebendigen, warmen, urwüchsigen Tier, von dessen Regungen und Gefühlen man träumt, dessen Zuneigung man erringen möchte, auf dessen Rücken man buchstäblich in eine ‚andere Welt‘ hineinreitet“ (Bruns/Hoffmann 1976, S. 12). Neben Freiheitsgefühlen vermittelt das Reiten zugleich auch Gefühle von Beziehung und Geborgenheit. Pferde werden gewissermaßen als „Freunde“ (Wagenmann/Schönhammer 1994, S. 18) betrachtet. Die enge persönliche Bindung zeigen auch empirische Befunde, denen gemäß das Pferd im Vergleich zu Mutter, Vater, beste Freundin oder Geschwister die jeweils höchste Bindungshierarchie der Mädchen einnahm (Adolph/Euler 1994). Viele Mädchen kümmern sich auch sehr konkret und handgreiflich um ihre Pferde: Pflegen, Säubern, Streicheln usw. Oft scheint es, dass dieser pflegerische Aspekt geradezu der entscheidende und das Reiten eher Nebensache ist. Folgende Aussage ist dafür typisch: Das Reiten an sich fand ich gar nicht so toll, ich hatte nämlich ganz schön Angst vor Pferden. Aber das „Drumherum“, das „Betüddeln“ und so weiter hat mir Spaß gemacht (Vogt 1992, S. 8).

Offenbar steht für viele Mädchen die Interaktion, die persönliche Beziehung zum Pferd im Vordergrund, innerhalb derer sie sich verstanden und geschützt fühlen können (siehe die Beispiele aus den Mädchenbüchern oben). Insofern ist Fürsorge ein wichtiges Motiv für Mädchen (Euler 2002, S. 167). Jungen scheinen nach Baum (1991) eher Fahrräder zu bevor-

10.4 Die besondere Beziehung von Mädchen zu Pferden

187

zugen, „weil diese im Hinblick auf Fürsorge und Pflege kaum persönliche Verantwortung fordern und vor allem ihren Reiter niemals der peinlichen Situation des Herunterfallens aussetzen“ (Baum 1991, S. 217). Oft hört die intensive Zuwendung zu Pferden dann auf, wenn sich die Mädchen real dem anderen Geschlecht zuwenden, ein Phänomen, dass – bisweilen in vulgärpsychologisierender Weise – die Annahme einer erotisch getönten Projektion begründet. Diese Annahme soll allerdings nicht den Umstand schmälern, dass die Beschäftigung mit Pferden auch eine ganz pragmatische und reale Bedeutung hat, nämlich tätiger, motivierter und wohl auch lustvoller Umgang mit Tieren. Nicht umsonst werden Pferde auch mit offenbar großem Erfolg in therapeutischen Zusammenhängen eingesetzt (zur Reittherapie vgl. z. B. McCulloch 1985, Heipertz 1972; siehe Kapitel 10.7). Die These der sexuell getönten Motivation der Pferdebegeisterung vieler Mädchen wird überwiegend von psychoanalytisch orientierten Autoren vertreten (Bettelheim 1980, Freud 1968, Schowalter 1983). Bettelheim beispielsweise interpretiert die Beziehung von Mädchen zu Pferden eindeutig als erotische Projektion: Viele etwas ältere Mädchen begeistern sich für Pferde; sie beschäftigen sich mit Spielpferden und errichten kunstvolle Phantasiegebäude um sie herum. Wenn sie größer werden und die Möglichkeit dazu haben, wenden sie sich lebendigen Pferden zu; sie pflegen sie sehr zuverlässig und sind unzertrennlich von ihnen; ihr Leben scheint um diesen Mittelpunkt zu kreisen. Die psychoanalytische Forschung hat ergeben, daß die übermäßige Begeisterung für Pferde viele verschiedene emotionelle Bedürfnisse, die das Mädchen zu befriedigen sucht, umfassen kann. So kann das Mädchen durch die Herrschaft über das starke Tier das Gefühl gewinnen, es beherrsche das Männliche oder das sexuell Triebhafte in sich selbst (Bettelheim 1980, S. 68).

Auch Jung verweist auf den „sexuellen Charakter der Reitphantasie“: „Das Wesentliche daran dürfte der Rhythmus sein, der erst sekundär sexuelle Bedeutung annimmt“ (Jung 1952, S. 427). Allerdings ist eine Interpretation, die die Pferdeliebe der Mädchen in erster Linie als erotische Projektion deutet, allzu pauschalisierend. So sieht Baum (1991, S. 124) diese Erklärung der Pferdeliebe von Mädchen als eine männliche Unterstellung an. Auch warnt Bettelheim ausdrücklich davor, die erotische Komponente bei der Begeisterung für Pferde bewusst zu machen: „Man stelle sich vor, was mit der Freude am Reiten und mit der Selbstachtung eines Mädchens geschähe [….]“ (Bettelheim 1980, S. 68). Aus psychoanalytischer Perspektive ist zusätzlich auf Verschmelzungsphantasien beim Reiten hinzuweisen, die gut zu den bereits genannten Beziehungswünschen und ebenso zu den Freiheitsgefühlen passen. Die Beziehung zum Pferd ist bedingungslos, ohne Kritik und Bewertung (Gravenstein 1999, S. 11). Der Umgang mit Pferden eröffnet darüber hinaus auch die Möglichkeit, sowohl männliche als auch weibliche Rollenvorschriften auszuleben. Nach dem Androgyniekonzept Bierhoff-Alfermanns (1989) haben beide Geschlechter sowohl expressive (eher „weibliche“) als auch instrumentelle (eher „männliche“) Bedürfnisse. Zu dem expressiven Modus kann die Fürsorge, die Pflege und die emotionale Beziehung zum Pferd gerechnet werden. Reiten, Abenteuer erleben, Unabhängigkeit erlangen, Wettkampf sind dagegen eher Motive des instrumentellen Modus. Das eröffnet die Teilhabe an männlicher Aktivität und Unabhängigkeit (vgl. Wagenmann/Schönhammer 1994, 187

188

10 Kinder und Tiere

S. 108). So umgibt das Pferd eine „kraftvolle Symbolik von Freiheit, Macht und Abenteuer“ (Klimke 2001, S. 12) oder, wie der Aufsatz von Klimke (2001) in der „Reiterrevue“ heißt: „Pferde machen Powerfrauen.“ Damit verbunden ist ein „Ausbruch aus der traditionellen Frauenrolle“ (Hengst 2000, S. 9, vgl. auch Rose 2002): „Es darf nicht nur geliebt und sich bescheiden gegeben werden, wie es ein Mädchen tun soll, sondern auch befohlen und beherrscht werden, wie es ein Junge darf“ (Adolph/Euler 1994, S. 29). Mädchen können also im Umgang mit Pferden „männliche“ Abenteuer erleben, ohne ein typisch männliches Spielzeug zu benutzen. Das Pferd ist „Geliebter und Baby zugleich“ (Schmidt-Dumont 1992, S. 25) und symbolisiert sowohl Stärke als auch Geborgenheit (Adolph/Euler 1994, S. 38). „Für die Pferdeliebhaberinnen verwandelt sich Empathie vom Korrelat weiblicher Schwäche zur Ressource für eine Steigerung des Selbstwertgefühls, …, gewährt der Einsatz traditionell weiblicher Attribute wie Fürsorge und Empathie die Teilhabe an traditionell männlichen ‚Privilegien‘ wie Unabhängigkeit und Stärke. Das bedeutet nichts weniger als die mädchenhafte Überwindung der Mädchenrolle“ (Wagenmann/Schönhammer 1994, S. 108). Dabei wird das Gefühl der Macht über ein so großes, körperlich eigentlich überlegenes Tier zusätzlich von Bedeutung sein: „Es ist ein tolles Gefühl, wenn ein Pferd mitkommt, weil du das willst.“ – „Es ist ein tolles Gefühl, wenn du spürst, wie ein so großes Tier dir so gehorcht.“ (Vogt 1992, S. 14)

Zugleich können an einem nicht unbedingt typischen „weiblichen“ Objekt weibliche Rollenvorschriften (Pflege, Fürsorge u. ä.) erfüllt werden. Diese Möglichkeit im Umgang mit Pferden und ihrem Umfeld könnte man vielleicht als „Amazoneneffekt“ bezeichnen. Warum freilich nicht im selben Maße auch die Jungen diesen gleichsam androgynen Bedürfnissen im Umgang mit Pferden nachgehen, bleibt weiterhin eine offene Frage. Möglicherweise übernehmen Jungen die „weiblichen“ pflegerischen Aufgaben (Putzen, Füttern, Pflegen, Trocknen, Longieren u. v. m.) nicht so ohne weiteres. Darüber hinaus erfordert der Umgang mit einem Pferd und auch das Reiten selbst viel Einfühlungsvermögen, Rücksichtnahme und Anpassung, worauf sich Mädchen offenbar eher einlassen als Jungen. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, dass Frauen in der Pferdedressur oft erfolgreicher als Männer sind. Überhaupt ist es in diesem Zusammenhang auffällig, dass es im Pferdesport keine Geschlechtertrennung gibt. Betrachtet man zusätzlich Pferdedarstellungen in der darstellenden Kunst, so fällt auf, dass es überwiegend Männer sind, die zusammen mit Pferden abgebildet sind (vgl. Mitscherlich 1983). Könige, Herrscher, Jäger thronen stolz auf edlen Pferden. Treten weibliche Personen gemeinsam mit Pferden auf, so erscheinen diese Mädchen und Frauen häufig als vom Pferd beherrscht: Das Pferd in der Kunst steht „seit je her für männliche Kraft, für den entfesselten Instinkt“ (Hofmann 1986, S. 129, vgl. Steinmaier/Wegner 1998). Vor diesem Hintergrund betrachtet ist die besondere Beziehung von Mädchen zu Pferden vielleicht auch als ein (beginnender) Einbruch in eine klassische Männerdomäne anzusehen. Jedenfalls scheint das Pferd – und zwar bei beiden Geschlechtern – zahlreiche menschliche Wunsch-

10.5 Welchen Begriff haben Kinder vom Tier?

189

und Phantasievorstellungen befriedigen zu können (Scheidhacker 1992). „Als Symbol der ‚Freiheit‘, im Sinne einer Ausflucht vor der hochgradig industrialisierten Lebenswelt, ist es sehr lebendig. Erwähnenswert ist auch sein Prestigecharakter“ (Lang 1992, S. 38). Insgesamt zeigen die in diesem kurzen Kapitel zusammengetragenen Mutmaßungen zur besonderen Beziehung von Mädchen zu Pferden, dass die häufig kolportierte erotische Komponente als sinnliches Angezogensein vom Pferdekörper zwar nicht zu ignorieren ist, aber keineswegs so zentral ist, wie es bisweilen den Anschein hat. So wird zwar von erwachsen gewordenen „Ex-Pferde-Mädchen“ die erotische Qualität des Verschmelzungserlebnisses beim Reiten und auch der ästhetischen Wahrnehmung der Schönheit von Pferden durchaus benannt (Schönhammer 1993), jedoch ist damit nicht der psychodynamische Kern der Pferdebegeisterung erfasst. Freiheit, Beziehung, Geborgenheit, Verschmelzungsphantasien, Pflegebedürfnis und Rollenintegration sind ebenso in dem sicherlich sehr komplexen (und noch nicht verstandenen) Bedingungsgefüge zu nennen. In Anbetracht der Thematik dieses Buches möchte ich abschließend auch darauf verweisen, dass die Beziehung zu Pferden natürlich auch ein Naturerlebnis ist, und zwar in doppelter Weise: Zum einen ist die Beziehung zum Pferd an sich schon eine Erfahrung von Natur und zum anderen ist das Ausreiten mit Pferden oft verbunden mit intensiven Naturerfahrungen. Die spezifischen Naturerfahrungen, die mit Pferden möglich sind, entsprechen im Übrigen genau den Kriterien, die in Kapitel 5 als die spezifischen Kennzeichen für den Wert von Naturerfahrungen herausgearbeitet wurden: Durch die Erfahrung von Natur ist sowohl die Erfahrung von Sicherheit und Kontinuität als auch die von ständiger Neuigkeit und Freiheit möglich. Die Beziehung zu Pferden, in der das Bedürfnis nach Freiheit und das nach Beziehung und Geborgenheit zusammenkommen, ist dafür zumindest ein Beispiel.

10.5 Welchen Begriff haben Kinder vom Tier? 10.5

Welchen Begriff haben Kinder vom Tier?

Bisher wurde das kindliche Verhältnis zu Tieren v. a. unter affektiven Aspekten betrachtet. Es ist jedoch zusätzlich auch ein Phänomen der kognitiven Entwicklung: Was denken Kinder über Tiere? Welche Bedeutung hat der Begriff „Tier“ für Kinder? Anglin (1977) hat gezeigt, dass bei Vorschulkindern der Begriff „Tier“ eine andere Bedeutung hat als bei Erwachsenen: Kinder um sieben Jahre fassen unter den Begriff „Tier“ nicht Menschen, aber auch keine Insekten. Unbelebte Gegenstände werden nicht als Tiere klassifiziert, obwohl sie in der kindlichen Vorstellungswelt zum Teil sehr wohl als lebendig gelten (vgl. Kapitel 13.2). Das wird auch durch weitere Untersuchungen (Gelman et al. 1983, Dolgin/Behrend 1984) bestätigt, die zeigen, dass bestimmte tierische Eigenschaften (physiologische Funktionen, Verhaltensweisen usw.) nicht auf unbelebte Gegenstände angewandt werden. Das trifft bereits auf dreijährige Kinder zu (vgl. Krüger 1934). „Tier“ ist also einerseits keineswegs synonym mit „lebendig“; andererseits werden von Kindern nicht alle Tiere als „Tiere“ bezeichnet beziehungsweise verstanden.

189

190

10 Kinder und Tiere

Es gibt mehrere Bedeutungen des Begriffs „Tier“ (vgl. Carey 1985, S. 75), die bei Kindern noch nicht klar getrennt sind, wobei der zentrale Bezugspunkt für den Tierbegriff (wie übrigens auch für den Pflanzenbegriff, siehe Kapitel 12) der Vergleich zum Menschen ist (vgl. Herrmann et al. 2012). • Tier im Unterschied zu Pflanzen und unbelebten Gegenständen. • Tier im Unterschied zu Menschen. („Iss nicht wie ein Tier!“) • Manchmal werden auch unter Tieren im engeren Sinne nur Säugetiere verstanden. In einer Untersuchung an Grundschulkindern (Mintzes et al. 1991, S. 184) zeigt sich, dass bei der Aufforderung, Tiere aufzulisten, nur Wirbeltiere, und zwar v. a. Säugetiere und auch einige Vögel genannt wurden. Carey (1985) untersuchte genauer, welche Vorstellungen Kinder von Tieren haben und vor allem, welche Bedeutung das begriffliche Konzept „Tier“ in ihrem Denken hat. Sie fragte Kinder verschiedenen Alters danach, ob verschiedene Objekte (Tiere, unbelebte Gegenstände, Pflanzen, Menschen) bestimmte Fähigkeiten und Eigenschaften haben: Atmen, Schlafen, Schmerzempfindung, Besitz eines Herzens, Denken, Essen usw. Den Kindern wurden verschiedene Objekte auf Bildern gezeigt, um sie jeweils eine Zuordnung zu den genannten Eigenschaften vornehmen zu lassen. Die Ergebnisse (Abb. 10.8) zeigen, dass analog zu den Befunden von Gelman et al. (1983) und Dolgin und Behrend (1984) die Kinder jedes Alters wissen, dass unbelebte Gegenstände keine tierischen Eigenschaften haben. Außerdem werden tierische Eigenschaften auch Menschen zugesprochen. Auffällig sind die Befunde bei den jüngeren Kindern: So scheinen beispielsweise fünfjährige Kinder nicht zu wissen, dass alle Tiere atmen und essen müssen. Carey interpretiert diese Befunde dahingehend, dass jüngere Kinder noch kein klares begriffliches Konzept vom „Tier“ besitzen. Diese Offenheit, jedenfalls was die Begriffsbildung angeht, erlaubt einerseits, Tiere wie unbelebte Gegenstände zu behandeln, andererseits natürlich auch, sie anthropomorph zu interpretieren. Neuere Befunde relativieren allerdings zumindest den Aspekt der Unterscheidungsfähigkeit von Tieren und unbelebten Gegenständen: Danach haben zwar Kinder noch keine reife biologische Theorie von Lebewesen, aber sie haben eine Vorstellung davon, dass sich Tiere von unbelebten Dingen unterscheiden. „Children’s early theory of biology is organized around the animate-inanimate distinction, with an abstract causal understanding (i. e. energy endorsed) appropriatly only for animals“ (Gottfried/Gelman 2005, S. 156). Die Ergebnisse zeigen, dass jüngere Kinder noch keine Einsicht in innere biologische beziehungsweise physiologische Prozesse haben. Ein Unterschied zwischen Wirbeltieren und Wirbellosen wird kaum gesehen. Beispielsweise werden Insekten mehr tierische Eigenschaften zugesprochen als Fischen. Carey nimmt an, dass Kinder keine Vorstellung davon haben, dass bestimmte biologische Probleme von allen Tieren gelöst werden müssen (beispielsweise Atmen und Essen). So ist es auch nicht überraschend, dass jüngere Kinder den Unterschied zwischen Menschen und anderen Säugetieren eher überbewerten. Mit zunehmendem Alter wächst jedoch das (abstrakte) Verständnis grundlegender biologischer Prozesse – wahrscheinlich im Zusammenhang mit entsprechender Unterweisung, worauf Carey nicht hinweist.

10.5 Welchen Begriff haben Kinder vom Tier?

Tab. 10.6

Zuweisung von tierischen Eigenschaften bei Kindern und Erwachsenen bei verschiedenen Objekten (nach Carey 1985, S. 84/85, Angaben in Prozent)

Alter Eigenschaft 4

5

7

191

atmet schläft empfindet Schmerzen hat ein Herz isst Mittelwert

Objekt Menschen

Erdferkel

Dron- Stinkte käfer

Hammerhai

Re- Orchi- Affengendee brotwurm baum

Wolke

Vulkan

Mähmaschine 0 0 11

Knoblauchpresse

100 100 100

78 100 67

67 78 67

33 67 56

89 44 56

0 0 22

0 0 22

0 0 11

0 0

100

89

56

56

44

0

11

0

0

100 100

78 82

89 71

78 58

67 60

0 4

11 9

0 2

0 0

0 3

0 0

atmet schläft hat ein Herz denkt isst Mittelwert

100 89 100

89 100 67

89 89 56

78 89 78

78 67 78

44 33 33

0 11 0

0 11 0

0 11 0

0 11 0

0 0

0

100

56

67

44

97

78

75

56 (100)a 75

67

22 (89)a 33

4

4

3

4

0

0

Atmet schläft hat ein Herz denkt isst Mittelwert

100 100 100

100 100 89

100 100 89

100 100 89

89 78 78

78 78 56

22 78 0

22 11 0

0 0 0

0 0 0

0 0

0

100

89

78

56 (100)a

56

44 (89)a

100

100

100

100

89

89

100

100

100 100

100 100

100 89

100 100

89 89

100 89

56 44

11 44

100

100

89

89

100

56

0

100 100 100

89 100 98

89 89 93

67 100 93

67 100 89

44 100 80

0 56 43

Er- atmet wachsener schläft empfindet Schmerzen hat ein Herz denkt isst Mittelwert

0

0

0 0

0

56 11

0 0

0 0 56 53

0 6

23

0

0 0

191

192

10 Kinder und Tiere

Carey wiederholte diese Befragung mit einigen Modifikationen. Um den Vertrautheitsgrad der Objekte, die getestet wurden, mit zu berücksichtigen, führte sie zwei Befragungen durch: einmal mit vertrauten und relativ bekannten Objekten und einmal mit nicht so sehr vertrauten Objekten. Zusätzlich nahm sie noch einen mechanischen Affen hinzu. Neben den jüngeren Kindern untersuchte sie jetzt auch Zehnjährige. Die Ergebnisse sind in Tabelle 10.7 zusammengefasst. Folgende Einzelheiten sind hervorzuheben: Im Wesentlichen werden die Befunde aus der ersten Befragung bestätigt. Es zeigt sich zusätzlich, dass die Zehnjährigen einen ähnlichen Tierbegriff haben wie die Erwachsenen. Interessant ist auch, dass der mechanische Affe von den Vierjährigen, zum Teil auch noch von den Siebenjährigen, durchaus noch mit tierischen Eigenschaften ausgestattet wird. Tab. 10.7

Zuweisung von tierischen Eigenschaften bei unvertrauten und vertrauten Objekten (nach Carey 1985, S. 90ff.; Angaben in %) Tiere Hammerhai Stinktier 90 90 80 70 80 70 70 50 60 70 40 60 70 68

Alter 4

Eigenschaft ißt schläft hat Knochen hat ein Herz bekommt Junges denkt Mittelwert

Menschen 100 100 100 90 90 100 97

Erdferkel 90 70 70 70 80 70 75

Regenwurm 70 90 50 60 40 50 60

10

ißt schläft hat Knochen hat ein Herz bekommt Junge denkt Mittelwert

90 100 100 100 100 100 98

100 100 100 80 100 80 93

100 60 100 90 100 80 88

90 80 40 70 100 70 75

80 40 50 50 60 40 53

Erwachsener

ißt schläft hat Knochen hat ein Herz bekommt Junge denkt Mittelwert

100 100 100 100 100 100 100

100 100 100 100 100 70 95

100 80 90 100 100 60 88

100 90 20 30 100 40 63

100 90 10 50 90 40 63

10.5 Welchen Begriff haben Kinder vom Tier?

Alter

Eigenschaft

4

ißt schläft hat Knochen hat ein Herz bekommt Junge denkt Mittelwert

10

Erwachsener

Pflanze Orchidee

Sonne

10

30

0 20 0 8

0 20 17

10

10

0 0 0 3

0 0

Wolke

50 10

0

30 30

ißt schläft hat Knochen hat ein Herz bekommt Junge denkt Mittelwert

23

ißt

10

schläft hat Knochen hat ein Herz bekommt Junge denkt Mittelwert

Affenbrotbaum

193

20 10 10

Unbelebtes Objekt MähmaKnobRollschine lauchschreibpresse tisch 10 10 0 0 0 10 10 10 0 7 3 7

60

0

0

0

10

10

3

0 0 0

0

0 0 0 0 3

10

10

0 0 0

3

0

5

10 0 3

0

10

0 10 0

10

0

20

0

0 0 0 10 0 0 2

0

0

0 0 0 0

Mechanischer Affe 40 30 30 10 20 20 25

0 0

0

3

0

10 0 0 0 0 2

Tiere Alter 4

Eigenschaft ißt schläft hat Knochen hat ein Herz bekommt Junge denkt Mittelwert

Menschen 100 100 80 90 100 90 93

Hund 90 90 80 60 60 60 73

Fisch 90 70 60 60 50 20 58

Fliege 40 50 30 30 60 10 37

Wurm 80 90 40 40 60 60 62

7

ißt schläft hat Knochen hat ein Herz bekommt Junge denkt Mittelwert

100 100 100 100 100 100 100

100 100 100 80 100 70 92

100 90 90 90 90 70 88

100 90 60 80 90 50 78

100 90 40 70 80 80 77

193

194

10 Kinder und Tiere

10

ißt schläft hat Knochen hat ein Herz bekommt Junge denkt Mittelwert

Alter

Eigenschaft

4

ißt schläft hat Knochen hat ein Herz bekommt Junge denkt Mittelwert

7

10

ißt schläft hat Knochen hat ein Herz bekommt Junge denkt Mittelwert ißt schläft hat Knochen hat ein Herz bekommt Junge denkt Mittelwert

100 100 100 100 100 100 100 Pflanze Blume

100 100 100 100 100 90 98

Baum

Sonne

20

20

20

20 30

20 10

17

20 23

17

0

10

0 10

10 0

100 80 90 90 90 90 90

Wolke

100 70 20 90 90 50 70

Unbelebte Objekte Auto Hammer

0

10

30

10

0 10

20

Mechanischer Affe 50 70 40 50 50

10 13

0 3

7

10

50 52

10

10

0

0

10 10

0

0

20

0

10

0

10

50

0

0 10

Tisch

0

0

0

60 0

0

10

0 20

0 10

23

10 8

3

0

80 70 20 90 80 70 68

0

50 0 10 0 10 0 12

0

0

0

0

0

0 0

0

0

0 0 0 10 0

0 0

0

0

0

0 2

0 0

Kinder begreifen in dem Maße Tiere als Tiere (mit inneren Organen und biologischen Prozessen), wie sie auch Menschen als Wesen mit inneren Organen und biologischen Prozessen begreifen. Demnach vergleichen Kinder die zu beurteilenden Objekte mit dem Menschen, und je nach Ähnlichkeit im Hinblick auf den Menschen werden den Tieren tierische Eigenschaften auch zugesprochen. Das „Tierbild“ ist insofern eine Funktion des „Menschenbildes“. Das entspricht in gewisser Weise der Position von Piaget (1978, S. 195), der zufolge Kinder dann aufhören, Tiere und auch unbelebte Gegenstände egozentrisch

10.5 Welchen Begriff haben Kinder vom Tier?

195

beziehungsweise animistisch zu interpretieren, wenn sie ein relativ gesichertes und realistisches Bild von sich selbst besitzen (vgl. Kapitel 4). Der Begriff beziehungsweise das Konzept „Tier“ ist nach Carey eine ontologische Kategorie („ontologically basic concept“) im Unterschied zum von ihr sogenannten „natural kind concept“, wozu einzelne Spezies wie Löwe, Hund oder Katze zählen. Den Begriff „Tier“ als Kategorie im Verhältnis zu „Lebewesen“ oder „physikalische Objekte“ oder auch im Unterschied zu „Pflanzen“ verwenden zu können, setzt eine kognitive Abstraktionsfähigkeit voraus, die erst im Laufe der Grundschulzeit entwickelt wird (vgl. Carey 1985, S. 162f.). Nach Careys Experimenten ist die kognitive Konzeptualisierung des Begriffs „Tier“ erst mit etwa zehn Jahren abgeschlossen (ähnlich wie auch „living thing“, „Person“ und „Pflanze“). Auch Carey nimmt an, dass Tiere in der Entwicklung der Kinder eine nicht unbedeutende Rolle spielen (im Unterschied zu Pflanzen). Insbesondere weil Kinder mit Tieren konkrete Erfahrungen machen (können), ist auch das kognitive Konzept „Tier“ oft bereits relativ früh konsolidiert und ähnlich dem der Erwachsenen. Although young children map a different concept onto the word ‘animal’ than do adults, there is no doubt that a concept animal with the same extension as the adult’s plays an important role in their thought (Carey 1985, S. 183).

Allerdings werden die Kenntnisse, die bereits junge Kinder von einigen Tieren (vor allem Heimtieren) haben, nicht generalisiert auf alle Tiere. So denken jüngere Kinder eben nicht, dass beispielsweise alle Tiere atmen, Nahrung zu sich nehmen oder sich fortpflanzen. Auch die Identität eines Tieres steht noch nicht ganz fest: Beispielsweise denken junge Kinder noch, dass ein Käfer durch kosmetische Veränderungen in einen Waschbären verwandelt werden kann. Die Objekte der äußeren Welt sind also noch nicht als Konstanten psychisch und kognitiv repräsentiert. Krüger nimmt sogar an, dass bereits dreijährige Kinder eine Vorstellung vom „Lebewesen Tier“ haben. Das entscheidende Kriterium ist die Eigenbewegung des Tieres. Später erst nimmt das Kind weitere „Kennzeichen des Lebendigen“ am Tier zur Kenntnis. Es lernt, daß das Tier auch essen muss, genau wie das Kind und die Erwachsenen, dass es beißen kann, daß es in seinen Funktionen und seinem Verhalten eine gewisse Beziehung, eine Ähnlichkeit zum Kind und zum Erwachsenen zeigt (Krüger 1934, S. 57).

Durch die Erfahrung, dass Tiere auch Absichten haben können, werden anthropomorphe Vorstellungen ausgesprochen bestärkt. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass Tiere jeweils einen individuellen Namen erhalten. „Nur diese Tierindividuen sind vollwertige Wesen, die einen Charakter haben, über die man nachdenken muss, die Beachtung und Rücksichtnahme erfordern; man kann sie nicht einfach töten, wie zum Beispiel eine Spinne“ (Krüger 1934, S. 59). So wird auch von Kindern implizit angenommen, dass Tiere verstehen, wenn man mit ihnen spricht. Genauso sind Kinder davon überzeugt, dass Tiere sprechen können.

195

196

10 Kinder und Tiere

10.6 Tierquälerei 10.6

Tierquälerei

Aries zitiert in seiner Geschichte des Todes de Sade, der auf die „natürliche Grausamkeit“ des Menschen gegenüber der Natur hinweist. Diese Grausamkeit trete beim Kinde, das „dem Naturzustand noch am nächsten“ sei, am unverhülltesten zu Tage: Bietet das Kind uns nicht das Beispiel dieser Wildheit, die uns umgibt? Es beweist uns, daß sie in der Natur ist. Wir sehen es auf grausame Weise einen Vogel erwürgen und an den Zuckungen des armen Tieres seinen Spaß haben (de Sade, zitiert nach Aries 1982, S. 499).

Bei aller Liebe zum Tier, bei allen positiven Effekten der Heimtierhaltung, die natürlich unzweifelhaft bleiben, gibt es jedoch auch das Phänomen, dass Kinder Tiere quälen, absichtlich verletzen oder grausame Versuche mit ihnen machen. Nicht immer ist dies bedenkenlos oder geschieht nur aus Unkenntnis, wie bisweilen behauptet wird. Neugier (Ascione et al. 1997) und „Erkenntnisstreben, das den Schmerz des Tieres nicht beachtet“ (Hansen 1965, S. 446) spielen bei der Tierquälerei von Kindern sicherlich eine Rolle. Currie (2006) unterscheidet aufgrund empirischer Daten zwischen „neugieriger und explorativer Tierquälerei“ (eher bei jüngeren Kindern) und „pathologischer Tierquälerei“ (eher bei älteren Kindern). Aber mit dieser Unterscheidung ist das Phänomen der kindlichen Tierquälerei nicht erledigt. Man muss wohl davon ausgehen, dass Kinder sich des aggressiven Gehalts bei tierquälerischen Akten oft auch bewusst sind (Wochner 1988). Allerdings – darauf ist schon hingewiesen worden – sind Tiere meistens bei dieser Äußerungsform kindlicher Aggressivität Ersatzobjekte; die Aggression gilt letztlich Menschen und wird auf Tiere verschoben. Sperling (1952) zeigt in einer psychoanalytischen Fallstudie, dass und wie sadistische Impulse, die eigentlich der Mutter gelten, auf Tiere externalisiert werden. Insgesamt gibt es nicht sehr viele Forschungsarbeiten zu kindlicher Tierquälerei. Das mag auch daran liegen, dass überhaupt Tierquälerei als ein eher unbedeutendes Phänomen betrachtet wird. So ist es immerhin auffällig, dass in der Bundesrepublik erst im Jahre 1972 Tiere gesetzlich geschützt wurden: Nach §17 des Tierschutzgesetzes wird die Tötung eines Wirbeltieres ohne vernünftigen Grund und das Zufügen von Schmerzen oder Leiden unter Strafe gestellt. Kriminalstatistische Erhebungen weisen freilich aus, dass es angezeigte entsprechende Delikte von Kindern gar nicht und von Jugendlichen kaum gibt (Wiegand 1979). Kriminologisch und auch juristisch wird Tierquälerei meist als eine Form von Vandalismus (Füllgrabe 1997) behandelt und im Übrigen strafrechtlich als relativ unerheblich eingestuft (Ennulat/Zoebe 1972, Göppinger 1986). Nach Ascione (2005) ist Tierquälerei ein sozial nicht akzeptiertes Verhalten, das intentional ausgeführt wird, einem Tier Schmerz oder Angst bereitet und zu seinem Tod führen kann. Eine Reihe von empirischen Studien zeigt, dass in der Anamnese von Tierquälern regelmäßig zerrüttete Familenverhältnisse auftauchen (Andry 1960, Brauneck 1969, Luk et al. 1999, Tapia 1971, Wochner 1988). Das unterstreicht, dass in der Tat die aggressiven Handlungen Tieren gegenüber anderen Zusammenhängen gelten. In den Untersuchungen

10.6 Tierquälerei

197

wird gezeigt, dass in den Familien die Eltern als Aggressionsvorbild den Kindern eine entsprechende Lösung von inneren Konflikten nahelegen. Eine besondere Bedeutung scheint dabei der Rolle des Vaters zuzukommen: Eine fehlende oder gestörte Vaterbeziehung taucht in der Ätiologie von kindlichen Tierquälern besonders häufig auf (Felthous 1980). Das erklärt zumindest zum Teil das ansonsten sehr erstaunliche Phänomen, dass Tierquälereien fast nur (80-90 %) vom männlichen Geschlecht begangen werden (Dadds et al. 2004, Luk et al. 1999, Wochner 1988, Wiegand 1979). Angesichts der problematischen Familienverhältnisse, die zu aggressiven Reaktionsformen offenbar prädisponieren, ist es natürlich nicht erstaunlich, dass Tierquälerei oft mit anderen aggressiven Symptomen (Felthous 1980, 1981, Luk et al. 1999, Wax/Haddox 1974, Wochner 1988) und auch anderen Verhaltensauffälligkeiten (Luk et al. 1999) verbunden ist. Auffällig ist in diesem Zusammenhang eine von mehreren Autoren berichtete Verknüpfung von Enuresis, Brandstiftung und Tierquälerei (Lion 1972, Wax/Haddox 1974). Wenn auch eine regelhafte Verbindung dieser Symptome wohl bezweifelt werden muss, so zeigt sie dennoch die Verknüpfung von depressiven und aggressiven Verhaltensformen und damit die psychische Not der Kinder an. Immer wieder wird auf die zentrale Rolle eines gewalttätigen familiären Umfeldes hingewiesen. Eigene Erfahrungen mit Gewalt prädisponieren offenbar zu Tierquälerei (Ascione et al. 2004, Dadds et al. 2004, Currie 2006, Becker/French 2004), nicht zuletzt durch die Vorbildfunktion der Eltern, v. a. der Väter. Dieser Zusammenhang wird durch eine Studie in Frauenhäusern belegt (Ascione 1998): 32 % der Frauen, die mit ihren Kindern Schutz in Frauenhäusern gesucht haben, berichten davon, dass ihr Kind ein Familienhaustier verletzt oder getötet hat. Currie (2006) stellte zudem fest, dass kindliche Tierquäler aus gewaltbereiten Familien eher dazu neigen, neidisch zu sein, sich ungeliebt zu fühlen und zudem Tiere fürchten. Hier wird der Ersatzcharakter von Tierquälerei auch empirisch fassbar. Zudem haben Kinder aus gewalttätigen Familien oft ein geringes Empathievermögen und sind eher in der Lage, Sichtweisen zu konstruieren, die ihren Gebrauch von Gewalt rechtfertigen. Neben dem Zusammenhang zu häuslicher Gewalt wird auch bisweilen eine Verbindung zu sexuellem Missbrauch hergestellt (Ascione et al. 2004, Becker/French 2004). Tiere bieten sich als Ersatzobjekte für aggressive Handlungen in gewisser Weise besonders an: Man kann sie gewissermaßen ungestraft aggressiv behandeln, weil sie sich (oft) nicht wehren (können), weil sie keine Rechte haben, weil sie nicht „petzen“. Aggressive Handlungen gegenüber Tieren sind insofern relativ ungefährlich, weil man die Folgen der Aggression meist nicht tragen muss. Dabei können oft Gefühle von Angst und Ekel, die gegenüber bestimmten Tieren möglicherweise ansonsten vorhanden wären (siehe Kapitel 11), angesichts des aggressiven Impulses überspielt werden. Die Verschiebung auf Tiere findet jedoch nicht nur aus Angst vor Vergeltung, die von den Eltern (beispielsweise) drohen könnte, statt. Zugleich werden die menschlichen Partner dabei auch „geschont“, da sie als Liebesobjekte, selbst wenn sie keine oder zu wenig Liebe zu geben haben, gebraucht werden. Natürlich sind solche Verschiebungsmechanismen in der Regel unbewusst. Bewusst ist freilich der aggressive Akt bei der Tierquälerei, unbewusst (geworden) ist das Objekt. 197

198

10 Kinder und Tiere

Der psychische „Gewinn“ jedoch ist sehr ambivalent: Zwar ist das Leiden und der Schmerz vieler gequälter Tiere (gerade bei Heimtieren) durchaus sichtbar beziehungsweise fühlbar, jedoch kommt der aggressive Akt sozusagen an die falsche Adresse. Die Lebensrealität, die aggressiv gemacht hat, wird durch Tierquälerei in keiner Weise geändert; die Aggressionsentladung, die in tierquälerischen Akten zum Ausdruck kommt, ist nur ein momentaner Gewinn. Tierquälerei ist insofern nicht nur als eine Fehlverarbeitung kindlicher Aggressivität zu sehen, sie wirft zugleich ein beklemmendes Licht auf die seelischen Nöte von Kindern, die sich auf diese Weise ein (vergebliches) Ventil suchen. Gemäß der „American Psychiatric Association“ (2000) gilt Tierquälerei als ein „Risikomarker für psychische Probleme“ und als ein „frühes Symptom schwerwiegender Verhaltensstörungen“. Tierquälerei ist danach ein signifikantes Symptom von psychologischen Fehlfunktionen bzw. Verhaltensstörungen und ein wichtiger Indikator für ernste psychische Probleme (Ascione et al. 2004, Dadds et al. 2004, Tallichet et al. 2005). Allerdings soll auch hervorgehoben werden, dass Kinder Tieren gegenüber oft ein besonderes Ausmaß an Mitleid empfinden. Stern (1928, S. 331) meint sogar, dass sich Mitleidsäußerungen von Kindern oft in besonderer Weise auf Tiere beziehen. Besonders bemerkenswert ist die Beobachtung, dass Mitleid mit Tieren geradezu der emotionale Zugang bei der Wahrnehmung der Umweltzerstörung ist (siehe ausführlich hierzu Kapitel 14). Das Mitleid mit Robben oder mit ölverschmierten Vögeln ist danach ein sehr sensibler Anzeiger für die affektive Beteiligung der Kinder angesichts der Umweltzerstörung. Von einer amerikanischen Untersuchung (Kellert/Felthous 1985) soll ausführlich berichtet werden, weil sie zum einen die vielfältigen Formen von kindlicher Tierquälerei zusammenträgt und zum anderen auch eine Übersicht über die (psychischen) Motive liefert. Die Autoren versuchen zu zeigen, dass bei aggressiven Kriminellen Tierquälerei in der Kindheit besonders häufig vorkommt. Sie verglichen 32 aggressive Kriminelle, 70 gemäßigt aggressive und nichtaggressive Kriminelle und auch 50 Nichtkriminelle im Hinblick auf tierquälerische Akte in der Kindheit. Natürlich ist die Studie nicht ganz unproblematisch, da sie ein tendenziell reduziertes Bild von Kriminellen entwirft; außerdem gibt es Tierquälerei selbstverständlich nicht nur bei Kriminellen (vgl. auch von Hentig 1967, S. 74f.). Folgende Formen von tierquälerischen Handlungen in der Kindheit stellen die Autoren aufgrund von Fragebogenanalysen und Interviews mit ihren 152 Versuchspersonen zusammen: • • • • • • • • •

einem Haustier absichtlich Schmerzen zufügen und es quälen wildlebende Tiere oder Vieh quälen ein Haustier boshaft lange schlachten einem gefangenen, wilden Tier bei lebendigem Leib die Haut abziehen ein Tier absichtlich verwunden einen Hund für einen Hundekampf anmelden ein Tier aus großer Höhe hinabwerfen einem Tier die Flügel ausreißen zwei Tiere mit dem Schwanz zusammenbinden

10.6 Tierquälerei

• • • • • • • •

199

ein Tier durch einen Stromschock töten ein Tier verbrennen ein Tier blenden ein Tier verstümmeln ein Tier absichtlich verhungern lassen ein Tier erhängen einem Tier die Knochen brechen ein Tier mit chemischen Reizmitteln anschütten (nach Kellert/Felthous 1985, S. 80).

Aufgrund von Interviews versuchen die Autoren eine Klassifikation der Motive für Tierquälerei zu erarbeiten. Dabei ist natürlich zu beachten, dass die Motive für konkretes tierquälerisches Verhalten in aller Regel mehrdimensional sind und insofern die folgende Auflistung verschiedener Motive eben eine kategorisierende Übersicht ist. 1. Ein Tier beherrschen: Dabei ist es das Ziel, das Verhalten eines Tieres zu beeinflussen oder zu verändern, indem übertriebene und manchmal grausame körperliche Züchtigung eingesetzt wird. 2. Es einem Tier heimzahlen: Aufgrund eines – jedenfalls subjektiv so empfundenen – Fehlverhaltens irgendeines Tieres wird Rache geübt oder das Tier extrem bestraft. Oft wird dabei Freude empfunden. 3. Ein Vorurteil gegenüber einer Tiergattung oder Tierart befriedigen: Bestimmte Tiergruppen (z. B. Schlangen, Ratten, Spinnen, Frösche) gelten bisweilen – kulturspezifisch natürlich – als besonders unsympathisch. Tierquälerei diesen Tiergruppen gegenüber wird oft durch entsprechende Vorurteile rationalisiert beziehungsweise legitimiert. 4. Aggression durch ein Tier ausdrücken: Tierquälerei als Mittel, um aggressives Verhalten gegenüber anderen Menschen oder Tieren auszudrücken. 5. Die eigene Aggressivität erweitern: Dabei werden Tiere getötet oder missbraucht, um eigene aggressive Tendenzen zu verstärken. 6. Menschen aus Spaß erschrecken: Dabei ist nicht nur wichtig, andere zu erschrecken, Tierquälerei zum Zwecke von Spaß und Unterhaltung dient auch dazu, sich in den Mittelpunkt zu stellen. 7. Sich an jemandem rächen: Tierquälerei wird oft genutzt, um Rache oder Revanche gegenüber einer anderen Person zu üben, für die das jeweilige Tier besonders wichtig ist. 8. Feindschaft von einem Menschen auf ein Tier verschieben: Die eigentliche Aggression ist bei diesem Motiv meist gegen Autoritätspersonen gerichtet, die man sich aber nicht anzugreifen getraut (siehe oben). So berichteten viele, dass sie Tiere gequält haben, um „für meine Kränkung quitt zu werden“, um sich „für die erhaltenen Prügel zu rächen“. 9. Unspezifischer Sadismus: Damit ist das „Vergnügen“ gemeint, einem Tier ohne besondere Provokation oder ohne spezielle feindselige Gefühle einfach wehzutun, es leiden zu lassen und zu töten. (Nach Kellert/Felthous 1985, S. 84f.)

199

200

10 Kinder und Tiere

Auch in dieser Untersuchung wird allerdings sehr deutlich, dass Tierquälerei in aller Regel Symptom gewalthafter Familienverhältnisse ist (Kindesmisshandlungen, Alkoholprobleme). Insofern wird der eingangs bereits erwähnte Gedanke, dass bei kindlichen Formen von Tierquälerei die Tiere in der Regel Ersatzobjekte sind, deutlich bestätigt: Aus den Daten kristallisieren sich zwei Arten von Familiensituationen heraus, die für die Ätiologie von Tierquälerei bei aggressiven Versuchspersonen im Verlaufe ihrer Kindheit potentiell bedeutsam sind. In einem Fall mißbrauchte das Kind Tiere, um die Feindseligkeit, die es infolge elterlicher Kränkung vor allem gegen den Vater empfand, zu übertragen. Das Tier dient bei diesem familiären Umfeld als ein Ersatzobjekt für Rachehandlungen gegen die Eltern und wird zu einem Mittel zur Abreaktion von Zorn und Frustration, die durch elterliche Mißhandlung ausgelöst werden. Das zweite oft berichtete familiäre Spannungsfeld liegt dann vor, wenn die Familienmitglieder miteinander aggressiv umgehen und die Eltern, vor allem der Vater – zu gewalttätigem Verhalten und zur Mißhandlung von Tieren neigen. In dieser letzteren Situation dürfte die Tierquälerei des Kindes den sozialen Lernprozeß des aggressiven Verhaltens widerspiegeln (Kellert/Felthous 1985, S. 87).

In einer weiteren Studie ebenfalls an männlichen Strafgefangenen werden diese Beobachtungen bestätigt (Tallichet et al. 2005). Allerdings zeigt sich hier kein Zusammenhang zwischen kindlicher oder pubertärer Tierquälerei und späterer Gewaltbereitschaft gegen Menschen. In einigen weiteren amerikanischen Studien sind die Motive für tierquälerische Akte im Kindesalter noch differenzierter untersucht worden. Von Ascione et al. (1997) ist ein spezielles Analyseinstrument hierfür entwickelt worden: das „Children and Animals (Cruelty to Animals) Assessment Instrument“ (CAAI). Bestätigt hat sich in diesen Untersuchungen der Zusammenhang von Tierquälerei in der Kindheit und der späteren Bereitschaft zu gewaltsamen Handlungen (Ascione 1993, Felthous/Kellert 1987). Als Motive haben sich neben der bereits erwähnten Neugier und dem Explorationsdrang, die allerdings besonders bei jüngeren Kindern auffällig sind, noch einige weitere Motivgruppen herausgestellt (Ascione et al. 1997): Eine wichtige Rolle scheint die Bestätigung in der Gleichaltrigengruppe zu spielen; bisweilen gibt es tierquälerische Akte gleichsam als Initiationsritus. Damit hängt das Bedürfnis zusammen, die eigene Gruppenrolle „aufregender“ zu machen, jedenfalls zu verbessern. Nachahmung spielt eine große Rolle, ebenso eine Tendenz zur Selbstbestrafung, und schließlich ist die bereits genannte Funktion des Hilferufs sehr plausibel.

10.7 10.7

Therapie mit Tieren Therapie mit Tieren

Die Erfahrung, dass der Umgang mit Tieren die seelische Entwicklung (nicht nur) von Kindern positiv beeinflusst, geradezu seelische und auch körperliche Heilungskräfte aktiviert, legt den Gedanken nahe, Tiere pädagogisch zu nutzen (Strunz 2018) bzw. sie geradezu als „Therapeutikum“ zu verwenden (Ameli et al. 2016, Fine 2000, Bergeler 2000, Friedmann 2000, Katcher/Wilkins 2001, Otterstedt 2001, 2007). Zu betonen ist auch in diesem

10.7 Therapie mit Tieren

201

Zusammenhang, dass ohne die bereits diskutierten anthropomorphen Interpretationen (ausführlich in Kapitel 4) die positiven Wirkungen der Beziehung zu Tieren gar nicht zu verstehen sind (Waytz et al 2010a, S. 425). In vielen heilpädagogischen Einrichtungen, in Krankenhäusern und in psychotherapeutischen Institutionen werden Tiere gehalten, weil der therapeutische Effekt, auch wenn er nicht immer wissenschaftlich eindeutig fundiert ist (Brasic 1998), offenbar relativ hoch ist. In Bethel bei Bielefeld wurden bereits im letzten Jahrhundert zur Behandlung von Epileptikern Tiere eingesetzt. Auch in der Sozialarbeit werden Tiere eingesetzt (Buchner-Fuhs/Rose 2012). Lachner (1979) berichtet von einem Jungen, bei dem gewissermaßen ein Hund „verschrieben“ wurde. Zunehmend werden auch Katzen in psychotherapeutischen Kontexten verwendet. Zur Behandlung von (v. a. körperlichen) Behinderungen wird seit geraumer Zeit die Reittherapie erfolgreich eingesetzt (Gäng/Bär 2003, Prothmann 2006, Burkel 2007), wobei sich allerdings das therapeutische Reiten auch zunehmend in psychotherapeutischer Hinsicht als wirksam erweist (Fachgruppe Arbeit mit dem Pferd in der Psychotherapie 2005, Landert 2018, Klüwer 1994, Kupper-Heilmann 1997, Kupper-Heilmann/Kleemann 1997, Papke 1997, Romanczuk-­Seiferth/Schwitzer 2019), beispielsweise bei Traumapatienten (Yorke et al. 2013). Es gibt auch Erfahrungen mit Delphinen, vor allem im Hinblick auf kognitive Förderung (Nathanson/de Farja 1993), oder auch mit Eseln (Schmidt 2019). Oft ist die Kostenüberübernahme nicht sicher, auch wenn die Akzeptanz gegenüber tiergestützen Therapieformen relativ hoch ist. In einer amerikanischen Untersuchung wurden diesbezüglich Eltern von verhaltensauffälligen Kindern befragt. Danach werden tiergestützte Interventionsformen eindeutig gegenüber medikamentöser Therapie bevorzugt, allerdings nicht im Vergleich zur Psychotherapie (Rabbitt et al. 2014). Aus dem Schulbereich gibt es Studien, wonach ein „Klassentier“ die Kommunikation und das Lernverhalten in der Klasse erheblich verbessert hat (Hergovich et al. 2002, American Humane Association 2015, Beetz 2013, 2015, Brelsford et al. 2017, Gee et al. 2017). Hunde werden sogar für das Lesetraining erfolgreich eingesetzt (Kirnan et al. 2016, Hall et al. 2016, Humer 2018) und überhaupt sind Lern- und Entwicklungsfortschritte mehrfach nachgewiesen (Julius et al. 2014, S. 186ff., Müller 2015, S. 19). Das IEMT hat zur Wirkung der Schultierhaltung in einer ersten Klasse ein Projekt mit einem geprüften Therapiehund durchgeführt (Monshi et al. 2001, vgl. Heyer/Kloke 2011). Im Vergleich zur Kontrollklasse waren die Effekte des Hundes eklatant. Zum einen wurde das Interesse an Hunden und überhaupt an Tieren noch weiter gesteigert, zum anderen ergab sich eine Reihe von psycho-sozialen Lerneffekten, die im Vergleich zur Kontrollgruppe sehr deutlich ausfallen: Lebhafte Kinder wurden verträglicher, ruhige Kinder kamen mehr aus sich heraus. Die Empathiefähigkeit steigerte sich. Außerdem ergab sich eine Abnahme des Streit- und Aggressionspotentials. Interessanterweise konnten die Jungen noch mehr von der Anwesenheit des Hundes profitieren als die Mädchen (vgl. Kotrschal/Ortbauer 2003). Der Hund führte zudem auch zu einer Verbesserung des Klassenklimas und die Arbeitszufriedenheit wuchs, und zwar sowohl die der Schülerinnen und Schüler als auch die der Lehrkräfte (Keller 2002). Auch Kinder mit Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten profitieren von Hunden im Klassenzimmer. Esteves und Stokes (2008) konnten zeigen, dass negativ 201

202

10 Kinder und Tiere

getönte Verhaltensweisen abnehmen und im Gegenzug positive Interpretationen von verschiedenen Situationen zunehmen. In einer Untersuchung des Einflusses von Heimtieren auf das schulische Leistungs- und Sozialverhalten (Hoff/Bergeler 2006) wurden 200 Mütter von Söhnen auf die entsprechenden Wirkungen hin befragt. Die Befunde zeigen, dass eine enge Bindung an Hunde gewissermaßen co-pädagogische Wirkungen entfaltet: Die Jungen werden als offener, beliebter und ausgeglichener bezeichnet. Dieser Einfluss zeige sich auch in den Schulleistungen. Auch innerhalb der Waldorfpädagogik nimmt der Umgang mit Tieren eine nicht unwichtige Stellung ein (Pfefferkorn/Tschörtner 2006). Hier kann es nicht darum gehen, die verschiedenen Formen der Therapie mit Tieren ausführlich darzustellen und zu begründen (siehe Agsten 2009, Greiffenhagen 1991, National Institutes of Health 1988, Serpell 1991, 1996, Shepard 1996, Otterstedt 2007, Greiffenhagen/Buck-Werner 2012). Vielmehr sollen im Folgenden auf der Grundlage der bereits berichteten Befunde zum psychischen Wert von Tieren einige Gedanken dazu entwickelt werden, worin die spezifische therapeutische Wirksamkeit von Tieren liegen kann. Levinson (1969, 1972), einer der Pioniere der Erforschung der therapeutischen Effekte von Heimtieren („Pet Faciliated Therapy“), behauptet, dass Tiere sozusagen Katalysatoren für menschliche Beziehungen sein können. Levinson betrachtet Haustiere als „Übertragungsobjekte“, an denen menschliche Interaktionsweisen durch Übertragung wiederholt und gleichsam geübt werden. Die Nähe dieser Begrifflichkeit zum psychoanalytischen Übertragungsbegriff ist auffallend: Auf Haustiere könnten demnach (unbewusste) seelische Anteile übertragen werden, die eigentlich Menschen gelten. Spielerisch und auch ohne sonstiges therapeutisches Setting können somit menschliche Beziehungsweisen wiederholt und unter Umständen auf eine sehr eigene Weise auch durchgearbeitet werden. Natürlich reagieren Tiere nicht auf menschliche Weise, insofern ist der psychoanalytische Übertragungsbegriff nicht ganz zutreffend. Dafür ist es bei Tieren oft möglich, dass Kinder zu ihnen eine relativ angstfreie Beziehung eingehen und diese positive Erfahrung später auf die Beziehung auch zu Menschen „übertragen“ können. Brüch (1988) berichtet von derartigen Erfahrungen auch in psychoanalytisch orientierten Therapien: „Ein Hund und ein Kater in der Kinderpsychotherapie“ spielen danach eine zentrale Rolle, die Kinder zu motivieren und ihr Vertrauen zu erlangen. Tiere sind auch Levinson zufolge sehr geeignete „Übertragungsobjekte“. Die Projektionen und Übertragungen auf das Tier können dann für diagnostische Zwecke und therapeutische Interventionen genutzt werden. Nach Levinsons Erfahrungen sind Haustiere besonders hilfreich bei autistischen Kindern (vgl. auch Redefer/Goodman 1989, Smith/Dale 2016). Der unkomplizierte Umgang, das bedingungslose Akzeptiertwerden durch das Tier und der relativ tabufreie körperliche Kontakt ermöglichen erstaunliche psychische Entwicklungsschritte. Neben einer Stabilisierung des Selbstwertgefühls können Kinder so „einen Sinn für Kontrolle lernen, indem sie eine Beziehung aufbauen, in der sie Herr der Lage sind (McCulloch 1985, S. 26). Es scheint so zu sein, dass unsicher gebundene Kinder von tiergestützten Hilfestellungen in besonderer Weise profitieren können (Julius et al. 2013). Vermutlich werden die unsicheren Bindungsmuster nicht oder zumindest weniger auf Tiere übertragen.

10.7 Therapie mit Tieren

203

Der Begriff „Übertragung“ meint in diesem Zusammenhang das Phänomen, dass positive Erfahrungen mit Tieren zunächst auf den Therapeuten und dann auch auf andere (menschliche) Objekte „übertragen“ werden können. Von ähnlichen Beobachtungen berichten auch Corson et al. (1975) im Hinblick auf Hunde. Sie führen solche und ähnliche Effekte auf den Umstand zurück, dass die Hunde Liebe und taktile Beruhigung ohne Kritik boten und eine Art fortwährender, kindlicher Abhängigkeit aufrecht erhielten, die möglicherweise unsere natürliche Neigung zur Hilfeleistung und zum Beschützen anregt (Corson et al. 1975, zitiert nach McCulloch 1985, S. 27).

Die Tiere haben in der Therapie gewissermaßen eine „katalytische Wirkung“, die sich allerdings am ehesten entfaltet, wenn man die Patienten mit den Tieren nicht einfach allein lässt; die besten therapeutischen Erfolge können erzielt werden, wenn ein Mensch (Therapeut) mit einem Tier zusammen agiert. Nur so kann nämlich die Übertragung der Beziehung zum Tier auf eine Beziehung zum Menschen erfolgen. Oft wird die Rolle des Tieres insofern als die eines „Co–Therapeuten“ beschrieben. Entscheidend ist also nicht allein das Tier, sondern das in einem entsprechenden Setting entstehende Dreieck, innerhalb dessen Patienten offenbar auf dem Umweg über das Tier Kontakt zu Menschen herstellen können (vgl. Redefer/Goodman 1989). Von einem solchen Dreieck berichtet auch McCulloch (1985) unter Hinweis auf Beobachtungen von Kane: In Familien sei zu beobachten, dass die einzelnen Mitglieder oft nur über das Tier Kontakt zueinander aufnehmen, dann jedoch auch eine Interaktion unabhängig vom Tier aufrechterhalten. Eben diese Funktion hatte Bergmann (1988) mit dem Begriff „kommunikative Ressourcen“ umschrieben. Genauere Beobachtungen ergaben, dass die Förderung der Beziehungsfähigkeit nicht der einzige wirksame therapeutische Effekt ist. Oft wird beispielsweise berichtet, dass Patienten durch Tiere „humorvoller“ werden und zum Lachen angeregt werden. Sicherlich wird dies auch ein Ablenkungs- und Zerstreuungseffekt sein, jedoch ist eben dies auch eine Bedingung dafür, sich auf andere Möglichkeiten und Kräfte zu besinnen. So dienen Tiere auch als therapeutische Hilfe im Hinblick auf Selbstwertgefühl und Selbstsicherheit (Covert et al. 1985, Levinson 1978). Allerdings verwischt dieser Effekt wieder, wenn mehrere Tiere zugleich eingesetzt werden. Das verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass dadurch eben die Exklusivität der Beziehung durchbrochen ist. Tiergestütze Therapie ist wirkungsvoll z. B. im Hinblick auf Autismus, ADS und aggressiv getönte Symptomatiken (Katcher 2002). Kooperatives Verhalten und Konzentration werden gefördert und aggressives Verhalten nimmt ab. Katcher „erklärt“ die günstigen Wirkungen der tiergestützten Therapie vor dem Hintergrund der Winnicottschen „Übergangsphänomene“ (vgl. Kapitel 2.4) und der Anthropologie Victor Turners (1969). Turner nimmt an, dass Tiere uns in einen „liminal state“ versetzen, der gute Gefühle, Bindung und Gemeinschaftserleben induziere. Dass der Kontakt zu Lebendigem eine psychische Wirksamkeit gewissermaßen in einem Bereich des Übergangs entfaltet, ist ein Gedanke, der uns im Kontext der Überlegungen zur Bedeutung der nicht-menschlichen Umwelt (Kapitel 2) schon begegnet ist, der zudem bei dem Verständnis von Naturerfahrungen in 203

204

10 Kinder und Tiere

Landschaften (Kapitel 7) hilfreich ist und der demzufolge nicht nur für therapeutische Settings zutrifft. Hutton (1985) untersuchte den Wert von Heimtieren in Pflegefamilien. Unter anderem bemerkte er dabei, dass sich die Pflegeeltern sehr wohl bewusst darüber waren, dass und wie sehr die Heimtiere für die Pflegekinder einen therapeutischen Wert hatten. Im Einzelnen erbrachte die Analyse von 60 Pflegefamilien, dass Heimtiere in folgenden Dimensionen einen therapeutischen Effekt hatten: Entspannung, Bewegung machen, Vergnügen, Schutz, emotionelles Ventil, Kameradschaft, Aufmerksamkeit/Zuneigung, Kommunikationshilfe, verbesserte Beziehungen, erzieherische Wirkung, Liebe, Toleranz/Beständigkeit (siehe Hutton 1985). Natürlich sind das relativ pauschale Kategorisierungen; so ist auch zu betonen, dass jede Familie natürlich eine eigene Beziehung zu dem jeweiligen Heimtier hat. Einige erhellende Äußerungen seien deshalb im Folgenden noch zitiert: „Man kann die Frustrationen an ihnen abreagieren, die man anderswo nicht loswerden kann.“ „Ist etwas, worüber wir alle miteinander sprechen können.“ „Trägt bei Streß und Überanstrengung zur gegenseitigen Verständigung bei.“ „Sie (die Kinder) können zuerst Beziehung zu den Heimtieren knüpfen, dann fällt es ihnen leichter, sich einzugewöhnen und zur Familie eine Beziehung aufzubauen.“ „Er hat die Kinder mit dem Thema Tod bekannt gemacht.“ „Heimlich lehren sie sie, wie nur sie es können: ein wenig zu lieben und ein wenig zu teilen.“ „Sie lernen, Liebe zu zeigen, ohne sich dabei albern zu fühlen.“ „Auf den Hund kann man sich auch in schwierigsten Situationen verlassen.“ „Er ist tolerant, läßt sie es aber wissen, wenn sie zu weit gehen.“ (nach Hutton 1985, S. 70).

Nicht nur in Pflegefamilien werden Tiere eingesetzt; es gibt auch viele positive Erfahrungen in Kinder- und Jugendheimen mit Tieren (vgl. z. B. Podgornik 1974). Mader et al. (1989) fanden beispielsweise, dass behinderte Kinder, die einen (Service-) Hund haben, sozial besser beachtet werden und integriert sind. Zudem verbessert sich im Umgang mit Hunden die Feinmotorik (Gee et al. 2007). Tiere werden natürlich nicht nur bei Kindern therapeutisch eingesetzt. Weitere „tiertherapeutische“ Möglichkeiten sind jedoch nicht Gegenstand dieses Buches und sollen hier nur benannt werden: Tiere spielen im Strafvollzug eine Rolle und werden auch in der Psychiatrie eingesetzt. Lago et al. (1985) weisen auf die „Wirkung von Heimtieren auf ältere, daheim lebende Personen“ hin und belegen dies in einer empirischen Studie. Pethes (1985) zeigt einen Zusammenhang von dem Halten von Wellensittichen bei alten Menschen und einer deutlichen Reduzierung der Selbstmordrate. Nicht zuletzt kann in diesem Zusammenhang auch noch auf die Funktion von Blindenhunden verwiesen werden. Tiere scheinen nicht nur einen Einfluss auf die psychische Befindlichkeit zu haben, auch physiologische Effekte sind nachgewiesen worden. So zeigte beispielsweise Friedmann (2000) bei Menschen mit Herzkranzgefäßerkrankungen, dass diese eine deutlich bessere Überlebenschance haben, wenn sie ein Heimtier halten. Möglicherweise kann dieses Phänomen mit dem stressmindernden Effekt, der mit der Beziehung zu Tieren verknüpft ist (vgl. Katcher/Beck 1985, siehe Kapitel 10.2), erklärt werden. Zwar sind bei

10.8

Kinder und Nutztiere

205

Friedmanns Untersuchung methodische Zweifel angebracht, da natürlich Menschen nach einem Herzinfarkt ohnehin gesünder leben, jedoch gelten physiologische Effekte beim Umgang mit Tieren inzwischen als gesichert (Serpell 1996). So zeigten auch Beck und Katcher (1996), dass die Sterblichkeitsrate bei Herzinfarktpatienten bei Haustierbesitzern deutlich geringer (etwa ein Drittel) als bei Nicht-Haustierbesitzern ist. Auch das „therapeutische Reiten“ (Heipertz 1972) setzt neben dem Bewegungstraining durchaus auch auf derartige Effekte. Für die physiologischen Wirkungen sprechen auch Befunde, nach denen sich bei Menschen, die gerade ein Tier streicheln, der Blutdruck senkt (vgl. Jenkins 1986, Katcher 1981, siehe Kapitel 10.2). Katcher nennt insgesamt sieben Faktoren, die die gesundheitsfördernden Wirkungen von Tieren ausmachen sollen: • • • • • • •

Gefährtenschaft etwas zur Pflege etwas zum Berühren etwas, das einen in Trab hält Mittelpunkt der Aufmerksamkeit sein tägliche Bewegung das Gefühl von Sicherheit.

Diese Liste lässt sich im Anschluss an Chen und Grifford (2016, S. 28) noch um folgende Faktoren ergänzen: • • • •

Soziale Unterstützung Entwicklung des Selbstkonzepts Selbstwertstärkung Sinn für Wunder und Ehrfurcht

10.8 Kinder und Nutztiere 10.8

Kinder und Nutztiere

Ein spezielles Thema der Kind-Tier-Beziehung ist die Beziehung zu Nutztieren (ausführlicher in Gebhard 2013a), wobei diese Thematik angesichts der in letzter Zeit aufkommenden Pädagogik auf dem Bauernhof (Haubenhofer/Strunz 2013, Schockemöhle 2011) an Bedeutung gewinnt, auch wenn der Lernort Bauernhof im Vergleich z. B. zum Wald deutlich weniger aufgesucht wird, was Hepper (2016) zu einem diesbezüglichen Paradigmenwechsel auffordern lässt. Der Bauernhof ist nach der Jugendstudie „Fokus Naturbildung“ (Kleinhückelkotten et al. 2017) kein besonders beliebter Ort. Gemäß des Jugendreports Natur 2016 (Brämer/Koll 2017) nimmt das Wissen über Landwirtschaft eher ab. So ist – zumindest im Vergleich der Befundlage hinsichtlich der Beziehung zu Heimtieren – die Beziehung zu Nutztieren verhältnismäßig wenig erforscht. Die wenigen Ergebnisse seien im Folgenden skizziert: Tiere nehmen bei Vorstellungen zur Landwirt205

206

10 Kinder und Tiere

schaft eine durchaus zentrale Stellung ein: Im Naturreport 2012 (Brämer 2012) werden als Einfälle zur Tätigkeit von Bauern an erster Stelle Tiere (43 %) genannt, dicht gefolgt von Pflanzen (38 %). Zu ähnlichen Befunden kommt auch eine TS-Emnid-Studie (2012), wonach ebenfalls Tiere mit 29 % die Spitzenstellung einnehmen. In einer Untersuchung über Schülervorstellungen zur Landwirtschaft im Kontext von Bildung für nachhaltige Entwicklung (Hamman 2004) sind Tiere in den Vorstellungen von Kindern und Jugendlichen sogar noch zentraler (58,9 %) gefolgt vom Traktor (40,2 %). Auch die Haupttätigkeiten des Bauern gelten in der Vorstellungswelt der Kinder und Jugendlichen v. a. den Tieren: Tiere füttern (50,1 %), Melken (39,3 %), Tiere betreuen (33.2 %) und Stall säubern (28,9 %). Lediglich das Ernten kann mit 34,6 % an die zentrale Bedeutung der Tiere heranreichen (Hamman 2004). Entsprechend werden auch die Kompetenzen von Landwirten gesehen: er muss wissen, wie die richtige Futtermenge für Tiere berechnet wird (54,7 %) und wie kranke Tiere behandelt werden (42,8 %). Wie ein Mähdrescher funktioniert (42,1 %) oder wie Pflanzen gepflegt werden (36,8 %), ist zwar auch nicht unwichtig, aber gegenüber dem Wissen über Tiere nachgeordnet. Entsprechend gilt auch auf dem Bauernhof das Interesse v. a. den Tieren. Nach der TS-Emnid-Studie (2012) sind von besonderem Interesse die Qualität von Lebensmitteln (95 %) und der Umgang mit Tieren (87 %). Vor diesem Hintergrund kann es durchaus als sinnvoll betrachtet werden, wenn eine Pädagogik auf dem Bauernhof einen besonderen Akzent auf die Betrachtung und Behandlung von Tieren legt. Zumindest das Interesse von Kindern und Jugendlichen wird damit wohl erreicht. Allerdings: So reichhaltig und gut belegt die Effekte der Beziehung zu Heimtieren auch sein mögen, offen bleibt die für die Pädagogik auf dem Bauernhof sehr wichtige Frage, ob und inwieweit diese Effekte auch auf die Beziehung zu Nutztieren übertragbar sind. Untersuchungen zum Verhältnis von Kindern zu Nutztieren gibt es allerdings nur wenig. Mit dieser Thematik wurde sich vor allem im Kontext der tiergestützten Pädagogik mit Nutztieren befasst; hier liegen aber lediglich einige Erfahrungsberichte über gelungene pädagogische Praxis vor (siehe z. B. Konya 2011, Otterstedt/Schade 2011, Schade 2011, Simantke/Stephan 2007, vgl. Greiffenhagen/Buck-Werner 2012, S. 191), wobei die Beziehung von Kindern und Nutztieren jedoch nur wenig empirisch erforscht wurde. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch ein Versuch, die Beziehung zu Nutztieren mit theaterpädagogischen Methoden zu vertiefen (Gebhard et al. 2017b, 2019). Jedenfalls erwarten oder besser hoffen Simantke und Stephan (2007), dass auch aus der Beziehung zu Nutztieren einfühlsames Verhalten resultiere und dieses auch auf andere Lebensbereiche übertragbar sei. Und Schade glaubt angesichts von Beobachtungen pädagogischer Praxis auf dem Bauernhof, „dass auf Schulbauernhöfen mehrdimensional gelernt wird“ (Schade 2011), nämlich ästhetisch, erkundend, instrumentell, ökologisch und sozial. Insbesondere könnten die Motorik, das Körpergefühl, die Lernfähigkeit, die Wahrnehmungsfähigkeit, die Emotionalität und das Sozialverhalten positiv beeinflusst werden (vgl. Schade 2011). Insgesamt ist jedoch die Befundlage zu den Effekten der Beziehung zu Nutztieren sehr schmal bzw. unsicher und ob der „Umgang mit Nutztieren […] das Seelenleben (nicht nur) von Kindern positiv beeinflussen“ (Simantke/Stephan 2007)

10.8

Kinder und Nutztiere

207

kann, muss insofern zumindest noch mehr zum Gegenstand von empirischer Forschung und auch theoretischer Betrachtung gemacht werden. Als Ausnahme sind hier Untersuchungen aus Österreich (Gupta et al. 2012) zu nennen, nach denen die Arbeit mit Ziegen zu einer Steigerung von Aufmerksamkeit und dem Ausdrücken von positiven Affekten geführt hat. Ebenfalls konnte gezeigt werden, dass die Arbeit mit Schweinen und Rindern das Sozialverhalten von (aggressiven) Jugendlichen positiv beeinflussen können. Eine besondere Möglichkeit ist gerade auf dem Bauernhof die Arbeit mit Pferden, wobei ohne explizit therapeutisches Setting gleichsam beiläufig Entwicklungsmöglichkeiten angebahnt werden können (Chardonnens 2009). Diese vielversprechenden Studien können durchaus als erste Hinweise auf die Möglichkeiten tiergestützter Pädagogik und Therapie auch mit Nutztieren betrachtet werden. Allerdings weisen die Autoren auf einen wesentlichen Unterschied zu der tiergestützten Therapie mit Hunden oder Katzen hin: Danach sind es nämlich nicht nur die Tiere, sondern vor allem das dauerhafte „Erleben des gesamten Umfeldes eines Bauernhofes“, welches zu psychischen und sozialen Veränderungen führen kann (siehe auch Grall et al. 2007). Insbesondere bei Stadtkindern wird bisweilen gemutmaßt, dass sie zumindest nur wenig von Nutztieren wissen, z. B., dass Milch von der Kuh kommt (vgl. Greiffenhagen/ Buck-Werner 2012), überhaupt welche Produkte von Tieren kommen (Jaudas 2000). Das könnte auch damit zusammenhängen, dass die prekären Bedingungen der Massentierhaltung (nicht nur) von Kindern ausgeblendet werden (Schmidt 2011). Die Vorstellungen über Nutztiere, die auf einem idyllischen Kleinbauernhof gehalten werden, sind natürlich andere als die über die Massentierhaltung. Die wenigen Befunde deuten darauf hin, dass Nutztiere zumindest nicht zu den Lieblingstieren von Kindern gehören. Nach einer norwegischen Studie von Bjerke et al. (1998) haben lediglich 4 % der befragten Kinder und Jugendlichen ein klassisches Nutztier als Lieblingstier. Auch bei einer Untersuchung von Grundschulkindern sind Nutztiere auf dem letzten Platz der Beliebtheitsskala (vgl. Krohn 2000), am beliebtesten sind die Kuh auf Platz 28, das Huhn auf Platz 29 und das Schwein auf Platz 33. Das verwundert letztlich nicht: Heimtiere und Nutztiere haben eben eine unterschiedliche Bedeutung für den Menschen. Während Heimtiere – wie in Kapitel 10.2 gezeigt wurde – eine hohe emotionale Bedeutung haben können, müssen Nutztiere oft geradezu entemotionalisiert werden, eben um sie nutzen zu können. So zeigen auch die bereits erwähnten ethnologischen Studien (Levi-Strauss 1968), dass im Unterschied zu Nutztieren das ‚Schoßtier‘ stets auch ein vermenschlichtes Tier war: es durfte ins Haus, hatte einen Namen und wurde nicht gegessen. Alle diese Attribute treffen auf Nutztiere nicht zu. Auch die in Kapitel 4 vorgestellte vergleichende ethnologische Studie zur menschlichen Beziehung zu Hunden von Serpell (1983) zeigt, dass emotionale Beziehungen zu Tieren kulturell eher unerwünscht sind, wenn die wirtschaftliche Nutzung im Vordergrund steht. Das wird natürlich nicht nur auf Hunde zutreffen, sondern auch die Beziehung zu den klassischen Nutztieren beeinflussen. Zusätzlich sollen nun in diesem Kapitel einige ausgewählte Befunde aus zwei kleinen Forschungsarbeiten an der Universität Hamburg dargestellt werden. Mareike Webers Arbeit 207

208

10 Kinder und Tiere

befragt Grundschulkinder nach ihrer Beziehung, nach ihrem Interesse und auch nach ihrem Wissen im Hinblick auf Nutztiere (Weber 2012). In einer Fragebogenuntersuchung konnte Weber bestätigen, dass in der Tat Nutztiere nicht zu den Lieblingstieren der Kinder gehören. Auf der anderen Seite kennen die Kinder die wichtigen Nutztiere (Kuh, Schwein, Huhn, Schaf) und wissen auch um den jeweiligen ‚Nutzen‘. Woher die Milch oder das Fleisch kommt, wissen die Kinder mehrheitlich sehr genau. Die Arbeit von Freia Andresen beschäftigt sich mit der Beziehung von Jugendlichen zu Nutztieren (Andresen 2015). In den von ihr geführten Gruppendiskussionen wird deutlich, dass die meisten Schülerinnen und Schüler selten bis überhaupt keinen direkten Kontakt zu lebenden Nutztieren sowie zu deren Lebensweise haben. Viele Aspekte, wie die Agrarökonomie, Wertvorstellungen, kulturelle und gesellschaftliche Normen, schulische Institutionen sowie Prägungen durch Personen aus dem Umfeld der Jugendlichen nehmen in unterschiedlicher Intensität Einfluss auf die Beziehung zu Nutztieren. In den Mittelpunkt will ich hier allerdings Gruppengespräche mit Kindern über Nutztiere stellen, weil damit die komplexe Beziehung der Kinder zu Nutztieren am besten eingefangen werden kann. Im Folgenden kommen also die Kinder selber zu Wort. Kinder machen in der Regel einen deutlichen Unterschied zwischen Heimtieren und Nutztieren: Heimtiere haben es aus Sicht der Kinder besser, werden lieb gehabt, nicht geschlachtet, werden verwöhnt, entspannen sich, sind zum Vergnügen und Kuscheln da, leben bei den Menschen zu Hause. Nutztiere dagegen müssen arbeiten, werden geschlachtet, ausgenutzt und gezwungen, Fell, Fleisch, Eier oder Milch zu geben. Einige Beispiele: • „Die Nutztiere, die arbeiten ja oft. Und die Heimtiere entspannen sich.“ • Aber: „Ich glaube, das Nutztier ist wichtiger, sonst könnten wir nicht überleben. Wir brauchen das Fleisch.“ Deutlich wird auch, dass Nutztiere nur selten zum alltäglichen Erfahrungsbereich gehören: • „Die Schweine fand ich auch interessant. Ich dachte nicht, dass sie so groß sind…. Also, ich hab‘ noch nie echte Schweine gesehen.“ • „Ja früher haben die Kinder halt auf dem Bauernhof mitgeholfen und haben Hühner gefüttert und Eier gesammelt. Und ich habe jetzt gerade das erste Mal Hühner gefüttert. Oder ein Ei da so weggenommen.“ Massentierhaltung wird sehr kritisch beurteilt, sei „Tierquälerei“, „ein Leben ohne Tageslicht“. • „Ich möchte, dass die ein schönes Leben haben.“ • „Eigentlich sollten Tiere in Freiheit leben, finde ich.“ • „Also wenn ich schon Fleisch konsumiere, dann möchte ich, dass die Tiere vorher ein gutes Leben hatten und nicht so eng gepfercht und mit Antibiotika vollgepumpt werden, weil die sich da sonst was für Krankheiten einholen.“

10.8

Kinder und Nutztiere

209

Einige wenige Beispiele gibt es auch, bei denen Nutztiere ähnlich anthropomorph und emotional interpretiert werden wie Heimtiere: So kann das Schwein beispielsweise ein Freund sein, „weil es auch Dreck macht, so wie ich. Und dann könnte ich immer im Schlamm baden mit dem.“ In diesem Zusammenhang können Nutztiere auch eine emotionale Bedeutung bekommen: • „Also wenn ich Eier legen würde und man mir meine Eier wegnehmen würde, wäre ich … ein bisschen sauer.“ • „Also, man baut ja schon irgendwie, glaub‘ ich, ‚ne Bindung zu ‚nem Huhn auch auf.“ • „Die Hühner haben ein bisschen ähnlich reagiert wie Menschen, also wenn einer wo hinläuft, folgen ganz oft andere, um zu gucken, was da ist.“ • „Man schließt die Tiere ja wirklich schnell ins Herz, find ich, und wenn man dann immer vom Bauernhof nach Hause fährt, dann sieht man die nie wieder.“ Vor diesem Hintergrund wird der Fleischkonsum zu einer ambivalenten Angelegenheit. Einige ausgewählte Kinderäußerungen: • • • • •

„Was will man noch tun? Es in den Müll schmeißen? Wäre ja auch schade.“ „Manche Menschen sagen: ‚Ich möchte lieber Fleisch haben als die Tiere zu haben.‘„ „Wenn man Fleisch isst, denkt man: ‚Was für arme Tiere, die da leiden mussten.‘“ „Wenn man das Schwein da so sieht, dann denkt man, ach, du … das hab ich gegessen?“ „Ja, aber weil diese ganze Presswurst und so gar nicht mehr nach Fleisch aussieht.“

In der Vorstellung einiger Kinder ‚wissen‘ Tiere irgendwie, dass sie geschlachtet werden: • „Hühner und Schweine, die kommen ja erst zur Welt und dann denken die: ‚Ja, okay, es ist alles in Ordnung‘.[…] Und dann haben sie irgendwie so ein Gefühl, dann denken die irgendwie: ‚Was passiert? Da muss doch irgendwas bald passieren.‘ […] Und dann wissen sie: ‚Ja, oh, oh, jetzt werden wir geschlachtet.‘“ • „Eigentlich sollte die ganze Welt ein Naturschutzgebiet sein. Dann werden keine Tiere geschlachtet.“ • „Also, zu Nutztieren, wie Kühe oder Schweine, benimmt sich der Mensch eher so: Ich freu mich schon drauf, wenn wir die später schlachten […] Ich will die ja später auch essen.“ • „Wenn man das Fleisch fertig auf seinem Tisch sieht, dann ekelt man sich nicht davor.“ • „Weil, letztendlich ob das Schwein oder das Schwein, es kommt so oder so auf den Tisch, weißt du.“ • „Aber guck mal es gehört ein bisschen zum Kreislauf des Lebens, also Tiere essen einander ja auch.“ • „Ich hab Mitleid, wenn Tiere sterben. […] Aber auf zum Beispiel Fleisch kann ich jetzt nicht so verzichten. Also, das ist zwar traurig, aber irgendwie hab ich mir das so angewöhnt.“ • „Jedes Tier hat ein Recht auf Leben.“ 209

210

10.9 10.9

10 Kinder und Tiere

Zum Problem der Anthropomorphisierung von Tieren Zum Problem der Anthropomorphisierung von Tieren

Auf die Tendenz von Kindern, Tiere zu anthropomorphisieren, ist bereits mehrfach hingewiesen worden. Außerdem ist diesem Phänomen auch ein eigener Abschnitt gewidmet (siehe Kapitel 4), in dem diese Tendenz von Kindern (und übrigens auch Erwachsenen) eher positiv bewertet wurde. Deshalb sei an dieser Stelle in Bezug auf das Verhältnis zu Tieren auch auf einige problematische Punkte eingegangen. Einerseits eröffnet die Tatsache, dass Kinder Tiere oft behandeln, als seien sie Menschen, die Möglichkeit der nahen Beziehung zu Tieren mit allen genannten positiven Möglichkeiten. Andererseits kann aber gerade dadurch das Eigenrecht des jeweiligen Tieres aus dem Blick geraten. Tiere sind keine Menschen. Sie haben ein je arteigenes Verhaltensrepertoire und auch eigene Lebensbedürfnisse. Manchmal sind Anthropomorphismen für die Kinder sogar gefährlich. Zu „Missverständnissen“ kann es kommen, wenn die menschliche Gebärdensprache umstandslos auch auf Tiere angewandt wird. Der Hund zeigt beispielsweise durch die erhobene Vorderpfote Spielbereitschaft an, was man unmittelbar versteht. Bei der Katze allerdings bedeutet dieselbe Geste Angriffslust und wird ihr bei entsprechenden „Missverständnissen“ als Falschheit ausgelegt, was eben nicht stimmt. Es gibt auch Studien, die die Fähigkeiten von Hunden untersuchen, menschliche Gesichtsausdrücke zu dechiffrieren, z. B. Lachen, bei dem die Zähne gezeigt werden (Müller et al. 2015). Nicht nur wegen solcher Beispiele, sondern vor allem wegen des Eigenrechts von Tieren ist es wichtig, die Eigenart des jeweiligen Tieres achten zu lernen. Allerdings ist es (nicht nur) bei Kindern gar nicht zu vermeiden, dass sie Tiere auch anthropomorph wahrnehmen; es ist jedoch zu vermeiden (durch eine entsprechende Haltung und auch durch biologische Kenntnisse), dass sie Tiere auch anthropomorph behandeln (vgl. Bergmann 1988, S. 307). Dass dies möglich ist, ist in Kapitel 4 ausführlich begründet worden: Danach sind Kinder in der Lage, anthropomorph-animistisch getönte Beziehungen zu Tieren zu unterhalten und gleichzeitig und nur in scheinbarem Widerspruch dazu biologische Kenntnisse über sie zu haben. Dazu passt auch der empirische Befund, dass bereits zehnjährige Kinder, die ein Heimtier besitzen, gewissermaßen ein „objektiveres“ Bild von Tieren haben, das auch interessanterweise nicht durchgängig, manchmal sogar weniger anthropomorph getönt ist (Nolte 2002). Den Tieren geht es nämlich bei der menschlichen „Liebe“ und Fürsorge nicht immer gut. So gehören beispielsweise Hunde eben nicht in den fünften Stock eines Großstadthochhauses, da sie als Lauftiere viel Bewegung brauchen. Der Wellensittich dürfte als Schwarmtier eigentlich nicht allein gehalten werden. Der Goldhamster wird als Nachttier entgegen seinem natürlichen Lebensrhythmus als „Tagesspielzeug“ benutzt, um nur einige Beispiele zu nennen. Nicht artgerechte Tierhaltung ist jedoch objektiv Tierquälerei, so liebevoll (oder liebebedürftig) die Menschen, die die Tiere halten, auch sein mögen. Kämpf-Jensen (1986) verweist in einem ähnlichen Zusammenhang auf die Gefahr der „allmählichen Verkuschelung der Welt“. So gehört zur Tierhaltung auch viel Wissen um die arteigenen Bedürfnisse der Tiere. Tiere sind kein Spielzeug, das nach Belieben angeschafft und eben auch weggeschmissen

10.9 Zum Problem der Anthropomorphisierung von Tieren

211

werden könnte. Das bedeutet, dass beispielsweise Lehrkräfte und Eltern Kindern dabei helfen müssen und dass auch nicht jedes Tier für jedes Kind und jedes Alter geeignet ist. Eine Fülle von Informationsliteratur, die z. T. recht gelungen und auch kindgerecht ist, kann hier durchaus hilfreich sein. Die Schule hat an dieser Stelle sicherlich eine Verantwortung, aber auch eine Chance, biologische Kenntnisse über Tiere zu vermitteln, ohne dabei die Beziehung zu den jeweiligen Tieren zu unterhöhlen.

211

Angst und Ekel vor Tieren 11 Angst und Ekel vor Tieren

11

Beobachtungen an (vor allem kleinen) Kindern lassen den Eindruck entstehen, sie hätten keine oder zumindest nur wenig Angst vor Tieren (vgl. Kapitel 10). Auch sogenannte typische Angst- oder Ekeltiere wie Spinne, Maus oder Frosch lösen nur höchst selten panische oder hysterische Reaktionen aus, wie man sie von älteren Kindern und vor allem von Erwachsenen gut kennt. Heerwagen und Orians (2002) vermuten, dass die Angst vor Spinnen und Schlangen in der Regel frühestens mit etwa drei Jahren beginnt (vgl. Muris et al. 1997). Die Angst vor größeren Tieren (Hunde, Bären, Wölfe) beginne noch später (King et al. 1997, Muris et al. 1997). Bereits Watson (1925) behauptet, dass Kinder zunächst angstfrei allen Tieren begegnen und nach ihnen greifen. Entsprechend dem behavioristischen Modell sei nämlich Angst und Ekel vor Tieren erworben, ein Produkt falscher Erziehung. Andere Autoren (z. B. Krüger 1934) gehen dagegen von einem „angeborenen Schutzinstinkt“ aus, der sich gegen Ende des ersten Lebensjahres entwickele und sich auch auf Tiere beziehe. Stückrath (1965) spricht in diesem Zusammenhang von einer primären „Sorge um die eigene Existenz“, die angesichts des Erstkontakts mit Tieren auftrete. Die Psychoanalyse schließlich interpretiert die Angst vor Tieren als eine Verschiebung: Die eigentliche Angst sei eine andere, die durch die Verschiebung auf ein neues Angstobjekt, nämlich das Tier übertragen werde, jedoch nicht mehr bewusst ist. Ein Beispiel dafür ist eine der berühmtesten Fallgeschichten von Freud über die Pferdephobie des „kleinen Hans“ (Freud 1909). Bevor wir allerdings daran gehen, die (kindliche) Abneigung gegenüber Tieren theoretisch zu erklären, seien zunächst einige Beobachtungen und Befunde darüber zusammengetragen, gegenüber welchen Tieren Kinder eigentlich bevorzugt Angst und Ekel empfinden.

11.1 11.1

Bei welchen Tieren verspüren Kinder Angst und Ekel? Bei welchen Tieren verspüren Kinder Angst und Ekel?

Die Frage, vor welchen Tieren Kinder Angst haben oder sich ekeln, könnte suggerieren, dass diese Phänomene erstens notwendig und zweitens relativ häufig vorkommen. Das ist wohl eher nicht so. Im Gegenteil: Wie die Ausführungen über das kindliche Verhält-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Gebhard, Kind und Natur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21276-6_11

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11 Angst und Ekel vor Tieren

nis zu Tieren gezeigt haben, ist wohl das ursprüngliche Verhalten Tieren gegenüber eher zutraulich und jedenfalls relativ angstfrei. Dass Kinder (und selbstverständlich auch Erwachsene) beispielsweise vor stechenden Insekten oder vor bellenden Wachhunden Angst haben, steht hier nicht zur Diskussion. Solche Realängste, die als adäquate Reaktionen auf die Wirklichkeit verstanden werden müssen, bedürfen hier keiner weiteren Erläuterung. Wenn auch Krüger von einem „angeborenen Schutzinstinkt“ spricht, zeigen ihre Untersuchungen an kleinen Kindern, dass diese zumindest nur sehr wenig Angst vor Tieren haben und vor allem, dass diese durch den Kontakt zu Tieren noch geringer wird. Auch ihre Beobachtungen im Zoo bestätigen diesen Eindruck: Die Kinder sind sehr interessiert, betrachten die Tiere gewissermaßen als Spielzeug, haben kaum Angst. „Je kleiner die Kinder sind, desto sorgloser gehen sie vor“ (Krüger 1934, S. 43). Bei einer vergleichenden Untersuchung von 45 Heimkindern und 65 Familienkindern beobachtete sie zwar vereinzelte Furchtreaktionen, die jedoch durch korrigierende Erfahrung zumindest stark reduziert werden konnten. Der Grund für die Furchtreaktionen lag weniger in bestimmten Eigenarten der Tiere, sondern eher an der subjektiv erlebten Unüberschaubarkeit von Situationen mit Tieren. So lösten plötzliche, schnelle Bewegungen (vgl. Spindler 1959) am ehesten Furchtreaktionen aus. In dem Maße, wie das Kind solche zunächst nicht überschaubaren Situationen erfasst und ihre reale Bedeutung einschätzen kann, schwindet auch die Angst. Sehr deutlich zeigt das der Vergleich zwischen den Heim- und Familienkindern, wobei eben die Familienkinder weitaus mehr Erfahrungen mit Haustieren gehabt haben und insofern deutlich weniger Angst vor Tieren hatten. So muss man wohl annehmen, dass die fixierte Angst vor bestimmten Tieren meist phobischen Charakter hat (vgl. das psychoanalytische Verständnis der Angst vor Tieren in Kapitel 11.3). Auf jeden Fall scheint die Angst vor Tieren mit zunehmenden Alter abzunehmen. Das bestätigen auch Zahlen von Loosli-Usteri (1948), die die wichtigsten kindlichen Angstobjekte zusammenstellt: Unabhängig vom Alter sind das im Durchschnitt: übernatürliche Ereignisse (21 %), Tiere (17 %) und Dunkelheit (14 %). Die Rangfolge der Angstobjekte verändert sich nun mit zunehmendem Alter: Mit 5 bis 6 Jahren sind die Tiere als Quelle von Angst mit 27 % noch an erster Stelle, mit 7 bis 8 Jahren mit 22 % an zweiter, ab 9 Jahren mit ca. 11 % an unterster Stelle von möglichen Angstobjekten. Koch (1968) ermittelte, dass sich die tierischen Angstobjekte mit zunehmendem Alter verschieben: Während in der Vor- und Grundschulzeit noch vor allem fremde und exotische Tiere (beispielsweise Löwen) gefürchtet werden, sind es etwa nach der Pubertät einheimische Tiere (wie zum Beispiel Spinnen). Nach diesen eher relativierenden Vorbemerkungen können wir uns nun der Frage zuwenden, welche Tiere in besonderer Weise Objekte von Angst und Ekel sind oder werden können. Allerdings gibt es nur wenige empirische Studien darüber, gegenüber welchen Tieren Kinder besondere Abneigung empfinden. Sie kommen vor allem aus dem Bereich der Biologiedidaktik (Schanz 1972, Wendel 1980); psychologische Autoren versuchen eher, die Gründe für die Abneigung zu reflektieren. Schanz (1972) führte eine Befragung bei 236 Schülerinnen und Schülern (105 Jungen und 131 Mädchen im Alter von 10 bis 15 Jahren) durch, wobei er sowohl Furcht als auch

11.1 Bei welchen Tieren verspüren Kinder Angst und Ekel?

215

Ekel berücksichtigte, wenn sich auch eine Differenzierung zwischen beiden Phänomenen als ausgesprochen schwierig erwiesen hat. Außerdem wurde bei dieser Untersuchung die regionale Herkunft (165 Stadtkinder und 71 Landkinder) mit in Betracht gezogen. Wendel (1980) wiederholte diese Untersuchung acht Jahre später (n=139, 11 bis 13 Jahre). Die Ergebnisse: Mädchen geben insgesamt mehr Tiere an, gegenüber denen sie Abneigung empfinden, was vor allem daran liegt, dass sich Mädchen offenbar mehr vor Tieren ekeln. Bei der Angst ist dieser Befund eher umgekehrt. Die Anzahl der Tiere sinkt mit zunehmendem Alter; mit 14 Jahren steigt die Zahl allerdings wieder, vor allem bei den Mädchen bezüglich Ekeltieren. Die Stadtkinder nennen weitaus mehr Tiere als die Landkinder, was sicherlich daran liegen wird, dass letztere weitaus häufiger und vor allem selbstverständlicher mit vielen Tieren zusammen sind, vor denen Stadtkinder Angst haben oder sich ekeln. Sowohl, was den Einfluss der Umwelt (Stadt, Land) angeht, als auch bezüglich der Geschlechtsspezifik kommt Wendel zu völlig analogen Ergebnissen. Allerdings nimmt in Wendels Untersuchung die Angst mit zunehmendem Alter nicht ab. Die Befragungen zeigen insgesamt, dass es so gut wie kein Tier gibt, gegenüber dem nicht irgendein Kind Abneigung empfindet. Die genannten Tiere reichen vom Aal über den Marabu bis zur Ziege. Eine Ausnahme sind vielleicht solche Tiere, auf die das sogenannte „Kindchenschema“ zutrifft. Tiere mit der Verkleinerungssilbe „chen“, die eben die Niedlichkeit, die Gefahrlosigkeit dieser Tiere kennzeichnet, kommen in der Zusammenstellung so gut wie nicht vor. Aber auch hier gibt es vereinzelte Ausnahmen: So hat beispielsweise ein zwölfjähriger Junge Angst vor Eichhörnchen, „weil es sehr arg beißen kann“, und einem ebenfalls zwölfjährigen Mädchen sind Meerschweinchen unangenehm, weil „sie im Jahr sehr oft und viele Jungen bekommen“ (Schanz 1972, S. 55). Die Vielfalt und auch die hohe Anzahl der genannten Tiere legt die Annahme nahe, dass es zumindest keine angeborene Disposition für die Abneigung gegenüber bestimmten Tierarten gibt, allenfalls eine Disposition für einen generellen Angstaffekt (siehe unten), der sich natürlich auch auf Tiere beziehen kann. Allerdings gibt es Häufungen: Die meisten Nennungen konzentrieren sich auf 20 Tierarten. Im Folgenden sollen nun die Einzelergebnisse für die Tiere, denen gegenüber die Kinder in besonderer Weise Abneigung empfinden, dargestellt werden. Die abgedruckten Tabellen zeigen die Befunde von Schanz, und zwar differenziert nach Angst und Ekel, Stadt- und Landkindern, Mädchen und Jungen. Insgesamt ist es immerhin auffällig, dass die typischen Angst- und Ekeltiere in der Tat an erster Stelle stehen: Schlange, Spinne, Ratte. Bei Wendel ergibt sich eine ähnliche Häufung, allerdings mit einer etwas modifizierten Reihenfolge: Spinnen rangieren danach als Angst- und Ekeltiere noch vor den Schlangen, wobei allerdings der Ekel deutlich überwiegt. Anders als bei Schanz sind bei der Spinne auch keine geschlechtsspezifischen Unterschiede festzustellen. Als Grund für das Ekelgefühl werden in Einzelgesprächen immer wieder die Spinnenbeine genannt, „weil sie häßlich, haarig und entsetzlich lang sind“ (Wendel 1980, S. 15). (Wendel führte übrigens dieselbe Befragung nach einer Unterrichtseinheit über Spinnen noch einmal durch und stellte fest, dass die Abneigungsgefühle deutlich reduziert waren. Dieser Effekt bezieht sich nicht nur auf Spinnen, sondern ist offenbar auf andere Ekel- und Angsttiere übertragbar.) 215

216

Tab. 11.1

11 Angst und Ekel vor Tieren

Angst- und Ekeltiere bei Stadtkindern (Schanz 1972, S. 57/58)

Mädchen (n=96)

1. Schlangen u. ä. Kobra Kreuzotter Ringelnatter (Blindschleiche) 2. Spinne Kreuzspinne Vogelspinne 3. Ratte 4. Wurm Regenwurm 5. Krokodil 6. Maus 7. Schnecke Weinberg schnecke 8. Laus 9. Frosch 10.Heupferd Heuschrecke Kröte – Unke Krebs Löwe Schwein Hornisse Fledermaus Stinktier Tiger Floh Wanze

1 Nennungen

2 mehr Ekel

3 mehr Furcht

4 Furcht u. Ekel

87

18

33

36

73

44

8

15

61 43

28 39

12 -

41 37 33

4 17 28

30 26 23 22 17 17 16 15 14 14 14 13 13

5 weder Furcht noch Ekel -

Zahl der Kinder, die gegenüber dem Tier Abneigung haben 6 7 Absolut in % 78

81

6

71

74

21 2

2

61 43

64 45

16 5 2

21 8 -

7 3

41 37 33

43 39 34

13 23 18

3 1

1 1 1

13 2 3

30 26 19

31 27 20

20 5 12 2 7 8 7 11

1 4 16 12 3 1 13 -

3 1 4 2 1 1

1 5 1 3 1 3 6 1

21 17 17 16 15 14 14 14 13 13

22 18 18 17 16 15 15 15 14 14

11.1 Bei welchen Tieren verspüren Kinder Angst und Ekel?

217

Jungen (n=69)

1. Schlangen u. ä. Brillenschlange Klapperschlange Kreuzotter Kobra Mamba Ringelnatter (Blindschleiche) 2. Spinnen Krabbenspinne Kreuzspinne Vogelspinne 3. Ratten Wasserratte 4. Stinktier 5. Krokodil 6. Kröte – Unke 7. Wurm Regenwurm 8. Affe Gorilla Orang-Utan Pavian 9. Krebs 10. Wespe Löwe Frosch, Laubfrosch Hai Maus Saurier Schnecke (Nacktschnecke) Hornisse Krake Skorpion Tiger

1 Nennungen

2 mehr Ekel

3 mehr Furcht

4 Furcht u. Ekel

70

14

31

23

32

15

4

6

28

21

1

21 20 19 17

19 17 16

16

5 weder Furcht noch Ekel 2

Zahl der Kinder, die gegenüber dem Tier Abneigung haben 6 7 Absolut in % 47

68

7

31

45

3

3

28

41

15 -

1 4 1 -

1 1 1 1

21 20 18 17

30 29 26 25

4

4

2

6

12

17

15 13 12 11 11 10 10 10

8 2 10 7 2 9

2 6 11 9 6 -

2 1 1 2 -

3 1 3 2 1

15 12 12 11 11 10 10 10

22 17 17 16 16 14 14 14

9 9 9 9

2 -

8 2 6 9

5 3 -

1 -

9 9 9 9

13 13 13 13

217

218

Tab. 11.2

11 Angst und Ekel vor Tieren

Angst- und Ekeltiere bei Landkindern (Schanz 1972, S. 59/60)

Mädchen (n=36)

1 Nennungen 1. Schlangen u. ä. Kobra Kreuzotter Blindschleiche 2. Frosch 3. Ratte 4. Igel 5. Maus 6. Wurm Regenwurm 7. Spinne Kreuzspinne Wasserspinne 8. Biene 9. Laus 10. Schnecke Krebs Wespe Hummel Ameise Blutegel Eidechse Hornisse Maulwurf Kröte – Unke Fledermaus Floh Kaulquappe Molch

2 mehr Ekel

3 mehr Furcht

4 Furcht u. Ekel

26

2

12

12

22 20 20 18 16

21 8 2 5 14

2 11 8 -

10 2 5 2

16

13

1

14 11 10 7 7 7 6 6 5 5 5 5 4 4 4 4

6 10 2 2 4 3 2 4 2 1 4 3

13 2 2 7 6 2 5 2 1 1 3 -

5 weder Furcht noch Ekel -

Zahl der Kinder, die gegenüber dem Tier Abneigung haben 6 7 Absolut in % 22

63

1 5 -

22 20 20 18 16

63 57 57 51 46

2

-

15

43

1 2 3 1 1 2 1 1 1

1 1 2 -

14 11 10 7 7 7 6 6 5 5 5 5 4 4 4 4

40 31 29 20 20 20 17 17 14 14 14 14 11 11 11 11

11.1 Bei welchen Tieren verspüren Kinder Angst und Ekel?

219

Jungen (n=36) Zahl der Kinder, die gegenüber dem Tier Abneigung haben

1. Schlangen u. ä. Boa Klapperschlange Kreuzotter Python Ringelnatter (Blindschleiche) 2. Spinne Kreuzspinne 3. Ratte Wasserratte 4. Stinktier 5. Kröte Erdkröte 6. Krebs 7. Wurm Regenwurm 8. Maus 9. Fledermaus 10. Igel Frosch Schnecke Ameise Blutegel Skorpion Stachelschwein Stier

6 Absolut

7 in %

20

56

-

13

36

4

1

11

31

2 1

1 -

-

11 9

31 25

2 7

5 -

1 -

-

8 7

22 19

5 5 2 5 5 2 -

2 2 2 1 2 3

2 2 4 3 1 -

1 1 -

7 7 7 5 5 5 5 3 3 3

19 19 19 14 14 14 14 8 8 8

1 Nennungen

2 mehr Ekel

3 mehr Furcht

4 Furcht u. Ekel

27

5

12

9

13

9

-

4

12

3

4

11 9

8 8

8 7 7 7 7 5 5 5 5 3 3 3

5 weder Furcht noch Ekel 1

Diese Befunde werden von vereinzelten psychologischen Studien in der Tendenz bestätigt: So zeigen Jersild und Holmes (1935), dass Schlangen und große Hunde für Kinder bis zu 5 Jahren besonders angstauslösend sind. Auch die im Vergleich zu Jungen größere Abneigung von Mädchen gegenüber Spinnen wird mehrfach bestätigt (Bjerke et al. 1998, Cornelius/ Averill 1983). Nach den Untersuchungen von Bjerke et al. (1998) wird die Spinne zwar nicht als gefährlich, aber als hässlich eingeschätzt. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung von Angst vor Tieren, durch die eine reale körperliche Verletzung 219

220

11 Angst und Ekel vor Tieren

droht, und Angst vor Tieren, die mit Ansteckung und Schmutz verknüpft werden (Davey et al. 1993). Auch in vielen Befragungen zur Beliebtheit von Tieren (siehe Kapitel 10.3) rangieren die typischen Angst- und Ekeltiere an den letzten Stellen: Ratten und Spinnen (Collins 1976), Schlangen, Wespen, Ratten und Skorpione, aber auch (etwas weniger) wilde Tiere wie Bären und Wölfe (Kellert/Westerveld 1983). Bei Bögeholz und Rüter (2004, S. 87) werden bei Kindern ab 11 Jahren bezüglich Ekel zusätzlich Zecke, Assel, Qualle, Tausendfüßler, Käfer und Ameise genannt. Bullen, Schlangen, Wespen, Zecken, Ratten, Bienen, Hunde und Spinnen sind die größten Angstauslöser. Nach Klingenberg (2012, S. 125) werden Spinnen, Regenwürmer, Schnecken und Hornissen nicht als niedlich empfunden, sondern eindeutig als eklig. In der Studie von Nolte (2002) über „Lieblings- und Hasstiere“ gehören die Ratte und die Spinne zu den unbeliebtesten Tieren. Nach Krohn (2000) sind in der 4. Klasse die unbeliebten Tiere entweder Nutztiere oder Wirbellose. Die Ablehnung gegenüber den meisten Insekten ist gut belegt (Prokop et al. 2010, 2011, Prokop/Fančovičová 2012), was im Übrigen für die Diskussion um Biodiversität durchaus ein Problem darstellt. Als Gründe stellt Hillmann (1988) die folgenden Attribute zusammen: Insekten gelten oft als Krankheitserreger, sie seien „monströs“, sie treten in großen Massen auf und sie sind auf eine bestimmte Art unabhängig. Menschen können nicht mit ihnen in Kontakt treten, was Kellert (1993) als fünftes Attribut noch hinzufügen lässt, dass Insekten als „mindlessness“ gelten (vgl. Prokop/Tunnicliffe 2008). Natürlich sind diese Zusammenhänge nicht notwendig bewusst (Klein 2012, siehe Kap. 11.3). Eine sehr deutliche Geschlechtsspezifik ergibt sich beim Widerwillen, einen Regenwurm anzufassen. Dieses Ekelgefühl ist bei Mädchen (64 % aus der Stadt und 53 % aus dem Land) sehr viel höher als bei Jungen (7 % aus der Stadt und 5 % aus dem Land). Das kann allerdings auch so verstanden werden, dass Jungen eher gelernt haben, einen entsprechenden Ekelaffekt zu beherrschen und die Abneigung auf diese Weise nur überspringen. Im Folgenden nun einige Begründungen der Kinder, warum sie einen Regenwurm nicht anfassen möchten (aus Schanz 1972, S. 81f.): „Weil der schmierig ist und rutschig. Er rutscht einem aus der Hand. Und die Hände werden klebrig.“ (Mädchen 11;2 Jahre) „Ich habe Abscheu vor den Würmern. Sie sind auch glitschig, und manche sind so dick. Es ekelt mich an.“ (Mädchen 12;8 Jahre) „Ich mag ihn einfach nicht leiden.“ (Mädchen 11;11 Jahre) „Weil der Regenwurm dünn und kalt ist. Weil er in die Erde kriecht.“ (Mädchen 11;7 Jahre) „Der Regenwurm ist so schlüpfrig und naß. Außerdem sieht er aus wie eine kleine Schlange. Er ist meistens bei einer Pfütze, wo Schlamm drin ist, darum ist er schmutzig.“ (Mädchen 12;2 Jahre) „Er ist ein ekelhaftes Tier. Es sieht so rot aus. Es ekelt mich. Der Wurm ist auch dreckig und glatt.“ (Junge 11;4 Jahre)

11.1 Bei welchen Tieren verspüren Kinder Angst und Ekel?

221

Es gibt allerdings auch positive Haltungen: „Er ist nicht groß und giftig. Er ist harmlos.“ (Junge 12;5 Jahre) „Das ist so ein schönes Gefühl, und weil ich keine Angst vor ihm habe.“ (Mädchen 10;10 Jahre) „Er ist nicht gefährlich, sondern nützlich. Ich brauche mich nicht vor ihm zu ekeln.“ (Junge 12;5 Jahre) „Man kann ihn ja gleich wieder fallen lassen und die Hände waschen. Er ist auch nicht gefährlich.“ (Mädchen 12;0 Jahre) „Ich finde, man braucht vielleicht ein wenig Mut. Aber wenn man einen Wurm schon einmal in der Hand hatte, macht es einem nichts mehr aus. Zuerst hat es mich furchtbar geekelt, aber jetzt, wenn man weiß, daß es halb so schlimm ist, kann man ihn ruhig in die Hand nehmen.“ (Junge 12;7 Jahre) „Er beißt ja nicht. Ich sterbe ja nicht davon. Er tut mir ja nichts.“ (Mädchen 11;9 Jahre) „Weil er ein furchtvolles Tier ist. Er hat mehr vor uns Menschen Angst, als wir vor ihm. Ich habe schon mit ihm geangelt.“ (Junge 12;7 Jahre) Die glatte Haut des Wurms ist nun trotzdem nicht die Eigenschaft von Tieren, die in besonderer Weise von Kindern als ekelerregend empfunden wird, wie die folgende Zusammenstellung von ekeleregenden Körpermerkmalen zeigt: Tab. 11.3

Ekelerregende Körpermerkmale (nach Axthelm, in Gahl 1973)

Eigenschaften viele lange Beine nasse glitschige Haut kalte Haut Stacheln Chitinkörper/ Panzer glatte Haut

Jungen (n=54) 46 42 40 42 23 13

Mädchen (n=61) 57 54 51 43 38 13

gesamt (n=115) 103 96 91 85 61 26

% 90 84 79 74 53 23

Auch die Beobachtungen von Koch (1968) zeigen, dass sich Mädchen deutlich mehr als Jungen vor Tieren ekeln. Die besonderen Ekeltiere sind fast dieselben wie die Angsttiere (vgl. auch Schanz 1972 und Wendel 1980): Spinne, Schlange, Regenwurm, Kröte, Frosch, Ratte, Schnecke. Als Grund für die Ekelreaktionen […] darf vor allem die Nacktheit des Körpers, bei Berührung noch durch den Eindruck des Weichen, Kalten, Schleimigen verstärkt, angesehen werden. Außerdem wird die tief an den Boden gebundene, schlängelnde Bewegung als abstoßend empfunden. Tiere, die durch ihre

221

222

11 Angst und Ekel vor Tieren

Kleinheit und Undifferenziertheit keine echte Kontaktaufnahme ermöglichen, die keine menschlichen Ausdrucksformen haben, „gesichtslose“ Tiere, wirken ekelerregend (Koch 1968, S. 44).

Angst und Ekel liegen überhaupt dicht beisammen, wie die Aussage eines siebenjährigen Jungen zeigt: „Vor Spinnen habe ich Angst, weil es mich ekelt.“ Um auch unbewusste Anteile der Abneigung gegenüber Tieren zu erfassen, fragte Koch zum einen nach Träumen, in denen Tiere vorkommen, und zum anderen auch danach, in welches Tier sie einen Menschen verwandeln würden, den sie nicht mögen. Die Analyse der Träume ergibt, dass dieselben Angsttiere, die in den bewussten Befragungen vorzugsweise genannt wurden, auch oft als Angsttiere in Träumen erscheinen. Interessant ist noch zusätzlich, dass die Spinne nicht genannt wird, dass darüber hinaus jedoch häufig Tiere vorkommen, die deutlich aus Märchen und Sagen entlehnt sind (Drache, Wolf) beziehungsweise die die Kinder wohl vor allem aus den Medien kennen. Einige Beispiele: „Ich träumte einmal von einer riesigen Schlange, die sich um mich ringelte und mich erdrücken wollte. Ich wollte schreien und fortlaufen, aber ich konnte nicht. Die Schlange umschlang mich immer fester, bis ich plötzlich aufwachte.“ (Mädchen, 14 Jahre). „Ich ging, als es schon dunkel war, in den Keller. Das Licht ging nicht. Ich hatte Angst. Auf einmal hörte ich hinter mir ein Brüllen, ich drehte mich um und schaute, was los ist, da sah ich einen Bär mit aufgerissenem Maul. Aber als er gerade zubeißen wollte, wachte ich auf.“ (Junge, 13 Jahre). „Ich ging im Wald spazieren und als ich an einem Baum vorbeiging, sprang ein Löwe runter. Ich rannte so schnell ich konnte, dann fiel ich hin, und der Löwe wollte mich fressen.“ (Junge, 11 Jahre). „Mir ging einmal ein Wolf nach und ich kletterte auf einen Baum. Er sprang immer wieder auf den Baum. Ich hatte mich nicht richtig festgehalten und flog runter. Als er mich fressen wollte, wachte ich auf.“ (Junge, 11 Jahre). „Ein brüllender Löwe rannte hinter mir her. Ich konnte nicht fortlaufen, meine Füße waren wie angenagelt. Der Löwe kam immer näher und ich wachte auf.“ (Junge, 10 Jahre). Bei dem Verwandlungstest wurden folgende Tiere genannt: Tab. 11.4

Verwandlungstest: „In welches Tier würdest du einen Menschen verwandeln, den du nicht magst?“ (n=130, 7- bis 11-jährige Kinder; nach Koch 1968, S. 38) Schlange Maus Spinne Wurm Fette Kröte Affe

28 18 12 7 6 8

Kamel Drache Krokodil Wolf Bär Ziege

5 3 3 3 3 2

11.2 Angeborene Dispositionen für Angst vor Tieren

223

Bemerkenswert ist, dass die Schlange nur für weibliche Personen angewandt wird. Oft allerdings verwandelten die Kinder einen abgelehnten oder gefürchteten Menschen in ein kleines und harmloses Tier (Floh, Vogel), wahrscheinlich, um so besser mit der Angst fertig zu werden. „Unseren Nachbarn verwandele ich in eine Maus, dann kann ihn die Katze fressen.“

11.2 11.2

Angeborene Dispositionen für Angst vor Tieren Angeborene Dispositionen für Angst vor Tieren

Dass Angst als ein adaptiver Mechanismus verstanden werden kann, der auch biologische beziehungsweise genetische Wurzeln hat, kann kaum bezweifelt werden. Die somatischen Begleiterscheinungen (Puls, Blutdruck, Gesichtsrötung, Schweiß, Atmung) und auch vergleichbare Reaktionsmuster bei Tieren legen nahe, dass es sich bei der Angst um eine biologisch fundierte Reaktionsform handelt, die den Organismus in Alarm- und Handlungsbereitschaft versetzt. Angst ist so als ein Signal zu verstehen, das auf Gefahren aufmerksam macht und zugleich zu deren Bewältigung vorbereitet. In dieser adaptiven Funktion ist die Angst vergleichbar mit der gleichfalls biologisch verankerten Schmerzreaktion. Als biologisch sinnvolle Verhaltensweise erhöht Angst die Überlebenschancen eines Individuums und hat sich insofern im Evolutionsgeschehen etabliert. Krause (1983) verweist darauf, dass es in der Phylogenese der Säugetiere einen eindeutigen Trend hin zur Entwicklung eines komplexen Affektsystems gebe, der mit anderen phylogenetischen Trends (aufrechter Gang, Mimik, Hauptlebensaktivitäten am Tag, soziale Beziehungssysteme) korrespondiere. Krause geht von einigen Grundaffekten aus, zu denen auch Angst und Ekel gehören: • Soziale Affekte: Trauer, Freude, Wut, Scham • Informationsverarbeitungsaffekte: Überraschung, Interesse • Notfallaffekte: Angst, Ekel. Einige Ethologen begreifen die Angst sogar als einen Instinkt oder zumindest als etwas Analoges hierzu (vgl. Lorenz 1965, Leyhausen 1967). Demzufolge gebe es auch einen eigenen Angstantrieb, der sich gewissermaßen Objekte „sucht“, die den Angstinstinkt „auslösen“. Nur so könne das Phänomen der „Angstlust“ verstanden werden (gefährliche Sportarten, Gruselfilme; auch Umgang mit gefährlichen Tieren). Dass Angst also zur biologischen Ausstattung des Menschen gehört und insofern angeboren ist, soll in diesem Kontext nicht weiter diskutiert werden. Viel wichtiger für das hier interessierende Problem der Angst vor Tieren ist die Frage, ob auch die Objekte der Angst angeboren sind. Gibt es bestimmte Objekte oder Situationen, vor denen Menschen angeborenermaßen und notwendig Angst haben? Leyhausen (1967) behauptet beispielsweise, dass es eine angeborene Angst beim Menschen bei folgenden Phänomenen gibt: Plötzlicher Verlust der Lageorientierung, Dunkelheit, Drohmimik und große, auf das 223

224

11 Angst und Ekel vor Tieren

Individuum zukommende Objekte. Als weitere angeborene Ängste werden noch laute Geräusche, helles Licht, Gleichgewichtsverlust und schnelle, unvorhersehbare Bewegungen angesehen (Bower 1974, Jersild/Holmes 1935). Entsprechend der Auffassung von Angst als Instinkt wirken diese Phänomene als „Auslöser“ in einem AAM-ähnlichen Mechanismus. Es gibt auch einige Untersuchungen (vor allem aus dem Bereich der Humanethologie), die die Annahme angeborener Momente bei der Furcht vor bestimmten Tieren nahelegen, wobei es natürlich keine Frage ist, dass auch solche angeborenen Furchtdispositionen durch Erfahrung modifizierbar sind. Für biologisch fundierte Dispositionen bei der Abneigung gegenüber bestimmten Tierarten sprechen kulturübergreifende Studien. In einer Befragung (Davey et al. 1998) in sieben westlichen und asiatischen Ländern (Japan, Großbritannien, USA, Niederlande, Indien, Korea und Hongkong) ergab sich ein kulturunabhängiges Muster bezüglich der Einteilung der Tiere in die Kategorien angstrelevant und angstirrelevant. Besonders auffällig sind in dieser Befragung die Befunde zum Ekel: Hier scheint es eine kleine Gruppe von Tieren zu geben, die offenbar ausgesprochen kulturunabhängig Ekelgefühle auslösen, und zwar bei Frauen mehr als bei Männern (Ausnahme Korea). Hierzu gehören vor allem Spinnen und Schlangen, aber auch Würmer und Ratten. Wenn auch derartige kulturübergreifende Befunde durchaus von Interesse sind, ist damit der gleichsam biologische Kern solcher Abneigung noch nicht erwiesen. So ist auch im Blick auf evolutionsbiologische Erklärungen, nach denen Angst- und Ekelaffekte angesichts bestimmter Tierarten ein Selektionsvorteil seien (z. B. Seligman 1971), Vorsicht geboten. Zwar erscheint diese Argumentation für Giftschlangen oder -spinnen durchaus logisch, doch bleibt dann ausgesprochen unklar, warum es nicht ähnlich verbreitete phobische Reaktionsformen gegenüber Löwen, Bären oder Wölfen gibt. Prechtl (1949) beobachtete in einem Kinderheim kleine Kinder (1;6 bis 3;6 Jahre) im Hinblick auf ihre Reaktion Schlangen (Ringelnatter) gegenüber, wobei er von der Vermutung ausging, dass der Furcht vor Schlangen eine angeborene Disposition zugrunde liegt. Bei der Untersuchung stellte er sicher, dass die Kinder zuvor keinerlei Erfahrung mit Schlangen gehabt haben, und konfrontierte sie mit folgenden Situationen: • Die sich intensiv schlängelnde Schlange wird dem Kind aus der Hand eines Versuchsleiters herabhängend vorgehalten. • Die Schlange wird vor dem Kind auf den Boden gelegt. • Die Schlange wird vor dem Kind in eine Schachtel getan; das Kind soll die Schlange wieder herausholen. Bei seinen Beobachtungen konnte Prechtl drei Reaktionsweisen unterscheiden: 1. Bis ca. 2;6 Jahren griffen alle Kinder sofort und angstfrei nach der Schlange. 2. Mit ca. 2;6 Jahren waren die Reaktionen „verwaschen“; die Kinder waren unkonzentriert, wandten sich der Schlange zu und wieder ab.

11.2 Angeborene Dispositionen für Angst vor Tieren

225

3. Erst ab dem 3. Lebensjahr waren „deutliche Hemmungen“ zu beobachten, die Schlange anzufassen. Die Schachtel mit der Schlange wurde abgelehnt. Prechtl interpretiert seine Befunde dahingehend, dass es sich bei den drei Reaktionsformen um Reifungsstadien einer angeborenen Schlangenangst handele, wobei er darauf verweist, dass auch bei Tieren Instinktmechanismen erst einige Zeit nach der Geburt reifen. Die beobachteten Reifungsstadien seien „deutlich an das Alter und die psychische Entwicklungshöhe des Kindes gebunden, aber nicht erfahrungsbedingt“ (Prechtl 1949, S. 70). Zu ähnlichen Überlegungen gelangte auch Spindler (1959), der ebenfalls das kindliche Verhalten gegenüber Schlangen beobachtete (79 Kinder zwischen 1 und 12 Jahren). Bis zum dritten Lebensjahr konnte er keine ängstlichen Reaktionen gegenüber Schlangen beobachten. Etwa ab dem dritten Lebensjahr jedoch waren stereotype Angst- und Abwehrreaktionen zu beobachten. Am deutlichsten zeigte sich dies in der Mimik und in einer oft spontanen Fluchtbewegung. Während beim Kleinkind die Schlange offenbar als Spielzeug betrachtet wird, […] zeichnet sich im 3. Lebensjahr die Entwicklung eines differenzierten Verhaltens ab, das seinerseits wieder eine bestimmte Reihenfolge im zeitlichen Auftreten bestimmter Verhaltensanteile erkennen läßt: 1. Furchtsame Gestimmtheit, 2. Abwehrbewegungen der oberen und unteren Extremitäten, 3. Verlegenheitsverhalten, neugierige Zuwendung und dergleichen (Spindler 1959, S. 213).

Aus dem stereotypen und charakteristischen Ablauf dieser Furchtreaktionen und aus dem regelmäßigen Beginn mit drei Jahren schließt Spindler, […] daß es sich dabei um ein Geschehen handelt, das sich erst im Laufe der ontogenetischen Entwicklung in arttypischer Weise ausbildet und manifest wird. Gleichzeitig konnte aber festgestellt werden, daß diese Entwicklung primär nichts mit Erfahrung zu tun hat (Spindler 1959, S. 216).

Insofern interpretiert er seine Beobachtungen als „Ausdruck einer Erbkoordination“. Allerdings gibt es keine Hinweise, dass die Schlange der „Auslöser“ für die beobachteten Furchtreaktionen ist. Vielmehr ist zu vermuten, dass für die spezifischen Furchtreaktionen eher die Tatsache der schnellen Bewegung und die der Unbekanntheit der Objekte verantwortlich ist. Spindler verweist dabei auch auf entsprechende Tierversuche, die zum Beispiel bei Pongiden zu analogen Ergebnissen kommen (Yerkes/Yerkes 1943). Insofern sei zu vermuten, „daß es sich beim Verhalten gegenüber Schlangen nicht um eine spezifische Reaktion (‚Schlangenfurcht‘) handelt, sondern daß dieses Verhalten als eine Reaktion auf bewegtes Unbekanntes anzusehen ist“ (Spindler 1959, S. 215). Auch Spindlers eigene vergleichende Untersuchungen an Schimpansen zeigen, dass diese umso ängstlicher reagierten, je mehr die Schlange sich bewegte. „Bewegtes Unbekanntes“ – das sind natürlich nicht nur Schlangen; es können andere Tiere oder auch Gegenstände sein. Lorenz spekuliert, dass möglicherweise die Angst vor 225

226

11 Angst und Ekel vor Tieren

bestimmten Tieren etwas mit der von ihm so genannten „Gespenstreaktion“ zu tun hat. Danach ist ein „Gespenst“ etwas, dem mindestens ein wesentliches Merkmal fehlt (vgl. Spindler 1959, S. 214). Bei der Schlange beispielsweise fehlen die Beine, bei der Spinne ist der Körper im Verhältnis zu den Beinen sehr klein. Auch Ohmann (1986) mutmaßt, dass es für die Angst insbesondere vor Schlangen und Wirbellosen eine „biologisch fundierte Bereitschaft“ gebe, die sich vor allem in der frühen Kindheit zeige. Auffällig sei nämlich, dass kleine Kinder insbesondere vor gefährlichen Tieren Angst hätten. Röhl et al. (2017) behaupten vor dem Hintergrund von Untersuchungen an sechsmonatigen Säuglingen eine genetische Disposition der Angst vor Spinnen. Für Schlangen zeigen dies Tierney und Connolly (2013). Unzweifelhaft dagegen ist die Fähigkeit, solche Ängste kulturell überformen zu können (Davey 1994). So sind spezifische Ängste vor Tieren wie Schlangen oder Spinnen (ähnlich auch Gewitter, Dunkelheit oder Blut) zwar nicht genetisch determiniert, allerdings gibt es inzwischen Positionen, die annehmen, dass sie besonders leicht erlernt werden können (Marks/ Nesse 1994). Und dabei könnten dann natürlich auch genetische Dispositionen im Spiel sein. Dass Phobien nicht immer einen erlernten oder psychodynamischen Hintergrund haben müssen, behaupten auch Poulton und Menzies (2002), wenn sie vor dem Hintergrund vielfältiger empirischer Daten einen nicht-assoziativen Modus der Angstentstehung postulieren, der auch genetisch fundiert ist. So gibt es bei der Einschätzung der von einem Hund ausgehenden Gefahr durchaus Regelmäßigkeiten: Die Angst bezieht sich weniger auf die Mimik des Hundes, sondern eher auf die Rassezugehörigkeit und die äußere Erscheinung. Wuschelige und weiße Hunde gelten eher als harmlos, dagegen führen Merkmale wie fixierende Augen, blutunterlaufene Bindehäute und paarweise nebeneinander liegende Augenflecken zu Abwehrreaktionen (Nordhaus 2001, S. 61). Seligman (1971) schlägt in diesem Kontext die so genannte „Prepared-Theorie“ vor, nach der bestimmte angstgetönte Wahrnehmungsmuster leichter gelernt werden, weil sie evolutionär vorbereitet sind. Das bedeutet, dass im Laufe der Stammesgeschichte Angstreaktionen auf bestimmte Objekte oder Situationen, die für das Überleben bedrohlich waren, besonders schnell und nachhaltig gelernt wurden (vgl. auch Merckelbach/de Jong 1997, Höhl et al. 2017). Dazu gehören auch gefährliche Tiere oder Organismen, die mit Krankheitsübertragung konnotiert werden. Die Angst vor Krankheit hat allerdings eher etwas mit der Genese von Ekelgefühlen zu tun (siehe Kapitel 11.4). Heerwagen und Orians (2002) fassen eine Reihe von Untersuchungen im Umkreis der Biophiliehypothese in diesem Sinne zusammen, nämlich dass die Angst vor bestimmten Tieren wie Schlangen oder Spinnen zwar nicht genetisch determiniert sei, aber eine biologische Basis habe. Diese besteht darin, dass es ein Selektionsvorteil gewesen sei, bestimmte gefährliche Naturphänomene eher zu meiden. So ist die Angstreaktion gegenüber Schlangen oder Spinnen nicht so einfach abzutrainieren wie die gegenüber anderen Angstobjekten (McNally 1987). Insgesamt kann also die Diskussion „angeboren versus konditioniert“ bei Phobien als unabgeschlossen gelten (McNally 2002). Auch Bowlby, der mit ausführlichen Studien zum kindlichen Bindungs- und Trennungsverhalten bekannt geworden ist, nimmt an, dass die Angst vor Tieren bei Kindern

11.3 Psychoanalytische Ansätze

227

drei „natürliche“, auch genetisch fixierte Ursachen hat: Objekte, die sich schnell annähern, die sich plötzlich bewegen und die ein plötzliches Geräusch machen, sind nach Bowlby (1976) geeignet, Angstreaktionen auszulösen. Alle drei Attribute haben gemeinsam, dass sie unübersichtlich und vor allem unvorhersehbar sind. Vor einem ähnlichen Hintergrund erklärt Bowlby übrigens auch die Angst vor der Dunkelheit und vor dem Alleinsein. Diese Art von Angst, die sich natürlich auch auf Tiere richten kann (aber nicht muss), ist nach Bowlby evolutionär entstanden und für das menschliche Verhalten charakteristisch. Angst vor plötzlichen Bewegungen und Geräuschen und vor Objekten, die sich schnell annähern, sei eine adäquate und überlebenssichernde Reaktionsform in einer Umwelt, in der viel Unübersichtliches und Unvorhersehbares geschieht, womit Bowlby auf die Umwelt der Frühmenschen anspielt (vgl. auch Kapitel 9).

11.3 11.3

Psychoanalytische Ansätze Psychoanalytische Ansätze

Ähnlich wie in den ethologisch orientierten Angsttheorien ist auch in der Psychoanalyse die Angst als ein Signal zu verstehen, das vor äußeren und inneren Gefahren warnt und entsprechende Reaktionen und Vorkehrungen gegen die Gefahr vorbereitet. Das „Angstsignal“ ist ein psychodynamisch wichtiger Faktor, der auf Widersprüche zwischen verschiedenen Ansprüchen (der Außenwelt, der Triebe, der inneren Normen) hinweist und sie reguliert. Die Angst ist insofern auch aus Sicht der Psychoanalyse ein sinnvoller Mechanismus, der der Selbsterhaltung dient, indem er das Subjekt in die Lage versetzt, sich auf Gefahren einzustellen (vgl. Freud 1916/17, S. 445f.). Die Psychoanalyse unterscheidet zwischen Realangst und irrationaler (neurotischer) Angst. Während die Objekte der Realangst eine „wirkliche“ Entsprechung in der äußeren Realität haben (beispielsweise gefährliche Tiere oder Bedrohung durch andere Menschen), gelten die irrationalen Ängste unbewussten, in der Regel konflikthaften Regungen. Wesentlich an der Psychoanalyse ist nun, dass sie beide Angstformen gleichermaßen ernst nimmt. Sie geht davon aus, dass, wenn sich jemand ängstigt, ein Grund für die Angst da sein muss, auch wenn die äußeren Anlässe noch so unbedeutend sein mögen. Die inneren Konflikte, die Angst machen, können auch als internalisierte äußere Situationen aufgefasst werden, die unter Umständen durch geringfügige äußere (oft symbolische) Anlässe aktiviert werden können. Insofern kann die Psychoanalyse zum Verständnis der (irrationalen) Angst vor Tieren durchaus hilfreich sein. Viele psychische Krankheitsbilder, Symptome und neurotische Persönlichkeitsentwicklungen haben aus Sicht der Psychoanalyse den „Sinn“, eben solche irrationalen, aber trotzdem sehr akuten Angstzustände zu vermeiden beziehungsweise zu überdecken. Sie decken sie gleichsam ab, und dort, wo Angst oder auch Schuldgefühle die Symptomatik, wie etwa beim Angstanfall, bei der Angstneurose oder bei melancholischen Verstimmungen, beherrschen, heißt das, Kompensationsmechanismen, sogenannte Abwehrmechanismen, 227

228

11 Angst und Ekel vor Tieren

haben versagt, so daß nunmehr Angst beziehungsweise Schuld unmittelbar manifest wird (Loch 1979, S. 43).

Freud war der erste, der sich bereits in seinen frühen Schriften mit der Psychodynamik der Angst befasste. Er nahm zunächst an, dass sich aufgestaute Triebenergie (Libido) direkt in Angst verwandele (Freud 1895). Somatische Spannungszustände verwandeln sich nach diesem Modell im Falle ihrer Hemmung in (neurotische) Angst. ‚Die Verdrängung macht Angst‘, kann man diese erste Angsttheorie Freuds formelhaft umreißen. Diese Vorstellung hat Freud im Laufe seiner psychoanalytischen Theoriebildung in das genaue Gegenteil verkehrt, nämlich: ‚Die Angst verursacht die Verdrängung.‘ Dieses Modell hat sich in der Psychoanalyse bis heute erhalten und bietet auch einen Rahmen für das Verständnis der (irrationalen) Angst vor Tieren. In Freuds zweiter Angsttheorie, die er wesentlich in „Hemmung, Symptom und Angst“ (Freud 1926) entwickelte, wird die Angst als das zentrale Phänomen der (neurotischen) Persönlichkeitsentwicklung begriffen. Angst ist danach ein Gefahrensignal, das auch von somatischen Sensationen begleitet sein kann. Der Gefahr kann nun auf unterschiedliche Weise begegnet werden: Ist die Ursache der Angst in der äußeren Realität angesiedelt (Tiere, Dunkelheit, Angriff, Autos, Krach usw.), kann das Subjekt dieser Gefahr relativ einfach entgehen. Es kann flüchten, angreifen, jedenfalls sich der jeweiligen Gefahr tatsächlich entziehen. Bei Gefahren, die von innen drohen – Triebansprüche, Über-Ich-Normen – kann jedoch das Subjekt nicht fliehen, jedenfalls nicht tatsächlich. Die Fluchtbewegung ist eine andere: die Verdrängung. Seelische Konflikte sind also eine Gefahr, die sich ebenfalls durch einen Angstaffekt ankündigen. Dieser Affekt ist jedoch unangenehm; deshalb werden die Ursachen für die entstandene Angst oft verdrängt, ohne sie dabei freilich zu beseitigen. Insofern droht die Angst eigentlich ständig; entsprechend müssen die Abwehrbemühungen auch permanent aufrechterhalten werden. Eben das prägt die Persönlichkeit (je nachdem, welche Konflikte und Angstgründe abgewehrt werden) beziehungsweise prädisponiert unter Umständen zu einer neurotischen Entwicklung. Die auf diese Weise auftretenden Symptome binden dann die Energie, die sonst als Angst auftreten würde. Das Ich ist in dieser Version die „alleinige Angststätte“. Die Angst des Ichs kann nun in drei verschiedene Richtungen gehen: Angst vor der äußeren Realität, vor den Triebansprüchen des Es und vor den strengen Normen des Über-Ichs. Entsprechend kann man auch drei verschiedene Angstformen unterscheiden: • Die Realangst hat eine deutliche und klare Ursache in der Außenwelt; sie entspricht in ihrer Ausrichtung und in ihrem Ausmaß dem gefürchteten Objekt oder der ängstigenden Situation. • Die neurotische Angst resultiert aus den nicht auslebbaren und deshalb der Verdrängung verfallenen Triebansprüchen.

11.3 Psychoanalytische Ansätze

229

• Die moralische oder Über-Ich-Angst entsteht infolge der Strenge und Unerfüllbarkeit internalisierter Normen. Letztere zeigt sich allerdings in der Regel nicht als Angst, sondern als Schuld- und Schamgefühl. Eine weitere (zwar umstrittene, aber für unseren Zusammenhang sinnvolle) Unterscheidung ist die Differenzierung in Angst und Furcht. Angst ist diffus, ungerichtet, objektlos (Ängstlichkeit, frei–flottierende Angst), während Furcht sich auf ein konkretes Objekt beziehungsweise eine klare Gefahr (beispielsweise Tiere) bezieht. Mentzos (2010) macht diese begriffliche Differenzierung zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zum Verständnis von Angstreaktionen, die auch zur Erklärung von Tierphobien nützlich sind. Er geht davon aus, dass auch die Reaktion auf Gefahren in der ontogenetischen Entwicklung einem Reifungsprozess unterliegt. Diese Entwicklung führt von der Angst zur Furcht, also von der diffusen, wenig organisierten, ungerichteten zu der mehr strukturierten Reaktionsform. Aus diesem Grunde ist das Auftreten diffuser, grundloser Angstzustände beim Erwachsenen im allgemeinen als eine Regression von dem höher organisierten Modus der Furcht auf den weniger strukturieren Modus der Angstreaktion anzusehen (Mentzos 2010, S. 31).

Weil der Säugling und auch das kleine Kind oft noch nicht die genaue Quelle der Angst ausmachen können, ist die Angst eben diffus und ungerichtet. Dazu ist sie oft sehr intensiv, weil dem Kind Möglichkeiten fehlen, der Gefahr zu begegnen und damit die Angst zu binden. Insofern ist der relativ unselbständige Säugling auf die primären Bezugspersonen bei der Bewältigung von Angstsituationen angewiesen, weshalb auch die Trennungs- und Verlustangst zu den tiefsten Kinderängsten gehört. Dagegen ist das reife Individuum, das die Gefahr lokalisieren kann, in der Regel in der Lage, mehr oder weniger angemessen zu reagieren. Das gilt natürlich nur dann, wenn es den Mut hat, die (äußeren und inneren) Gefahren wahrzunehmen. Furcht ist insofern eine in der Tat sehr reife Reaktionsform, die genaue Wahrnehmungsfähigkeit und vor allem die Bereitschaft dazu (d. h. eben nicht zu verdrängen) impliziert. Wenn dies nicht der Fall ist, droht eine Regression in einen diffusen Angstzustand. Genau dies ist die These von Mentzos, nämlich, daß die Verdrängung dazu führt, daß aus der konkreten Furcht eine diffuse, grundlose Angst entsteht. Eine Furchtreaktion verliert durch die Verdrängung ihren konkreten Inhalt und verwandelt sich dadurch regressiv zu einer diffusen Angstreaktion (Mentzos 2010, S. 32).

Diese These ist im Grunde eine Fortführung der Freudschen Signaltheorie der Angst. Seelische Gefahren (wie zum Beispiel Verlust, Trennung, Scham, Schuldgefühle, Selbstwertprobleme oder Ablehnung) werden gleichsam angekündigt und zunächst als Signal wahrgenommen, wegen der Unerträglichkeit sowohl solcher Situationen als auch der Furcht davor jedoch dem Bewusstsein entzogen, verdrängt. Weder wird damit die Gefahr gebannt noch lassen sich die Gefahrenmomente durch diese Flucht nach innen wirklich eliminieren. Lediglich wird der Furcht ihr konkreter Gegenstand entzogen, indem die 229

230

11 Angst und Ekel vor Tieren

Vorstellung davon abgewehrt wird. Der Affekt freilich, nämlich die Angst, bleibt erhalten und äußert sich in scheinbar grundlosen, diffusen Angstzuständen. Diese Zusammenhänge betreffen nun keineswegs nur die neurotische Entwicklung; sie gelten auch für die ganz normale, alltägliche Ängstlichkeit. So werden sie auch bei der Frage, wie Kinder ihre Angst angesichts der Umweltzerstörung verarbeiten, wieder aufgenommen (siehe Kapitel 14). Und sie bieten auch einen theoretischen Hintergrund, die (meist relativ harmlose) Furcht vor Tieren zu verstehen, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Der diffuse Angstzustand, der durch die Verdrängung der konkreten Furchtursache wieder neu entstehen kann, ist oft noch schwerer auszuhalten als die Furcht; man kommt sozusagen vom Regen in die Traufe. Vor das Dilemma unerträglicher konkreter Befürchtungen oder unerträglicher diffuser Angst gestellt, gelingt es einem einigermaßen reiferen Ich unter Umständen, einen Kompromiß zu schließen: Dieser heißt Phobie (Mentzos 2010, S. 33).

Der diffuse Angstzustand sucht sich gewissermaßen ein neues Objekt; dabei wird freilich die Verdrängung nicht aufgehoben, vielmehr findet eine Verschiebung auf eine andere Gefahr, eine „Scheingefahr“ statt. Eine solche „Pseudoobjektivierung“ kann auch im Fall der Furcht vor bestimmten Tieren vorliegen. Die Furcht vor der Spinne beispielsweise steht dann eigentlich für eine andere Angst, die jedoch nicht bewusst ist. „Eine Phobie ist die Abwehr gegen Angst. Eine Form der Angst wird als Abwehr gegen eine andere Angst benutzt“ (Greenson 1959, S. 663). Deshalb sind auch rationale Beschwichtigungen (beispielsweise, dass Spinnen in Deutschland nicht gefährlich seien) meist nicht sehr wirkungsvoll, weil sie die eigentliche Angst ohnehin nicht berühren. Allenfalls findet eine weitere Verschiebung auf ein neues Objekt statt. Immerhin haben phobische Reaktionsformen den Vorteil, dass die Objekte der Furcht gemieden werden können, so dass das Subjekt relativ angstfrei ist. Insofern ist zu überlegen, ob die Angst vor Tieren immer überwunden werden sollte, da sie durch den Mechanismus der Pseudoobjektivierung auch ein psychisches Gleichgewicht herbeiführt oder garantiert. Die Menschen brauchen wohl solche Objekte, an die sie ihre Ängste hängen können, um sie aushalten zu können; vielleicht sind bestimmte Tiere (wie Spinnen, Schlangen, Kröten, Würmer) dazu besonders geeignet. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass praktisch alle Gegenstände zu phobischen Objekten werden können. Die verschiedenen Formen von Phobien – wie Agoraphobie, Klaustrophobie, Höhenangst u. v. m. – deuten darauf hin. Freud (1909) hat in der berühmten Fallgeschichte über den „kleinen Hans“ gezeigt, wie die Furcht vor dem Vater auf die Furcht vor Pferden verschoben wird. Während Freud entsprechend seiner triebtheoretischen Auffassung die eigentliche Angst noch ödipal interpretiert hat, vermuten heute viele Autoren, dass hinter Phobien zumindest häufig die Angst vor Objektverlust und Liebesentzug steht (vgl. z. B. Loch/Jappe 1974). Es bleibt schließlich noch die Frage, ob die Wahl des phobischen Objekts in irgendeiner Beziehung zu der verdrängten Furcht steht, also ob die gefürchteten Tiere einen bestimmten symbolischen Wert haben. Hier ist keine eindeutige Aussage möglich, obwohl es sicherlich

11.3 Psychoanalytische Ansätze

231

so ist, dass bestimmte Eigenschaften von Tieren oder jedenfalls die den Tieren anthropomorph zugesprochenen Eigenschaften sich für eine spezifische Verschiebung und damit Symbolisierung anbieten. Es gibt jedoch auch Beobachtungen, dass bei der Entstehung von Phobien einfache Konditionierungsprozesse erfolgen können. Die symbolische Verschiebung auf Tiere ist übrigens bei Kindern insgesamt häufiger anzutreffen als bei Erwachsenen. Wenn Erwachsene Tierphobien haben, reicht die Angst meist in die Kindheit zurück (Marks 1970). Es erscheint plausibel, diesen Befund mit der animistischen und anthropomorphisierenden Tendenz in Zusammenhang zu bringen, die bei Kindern noch ausgeprägter ist (vgl. Kapitel 4). Eine anthropomorphe Auffassung von Tieren erleichtert es zweifellos, sie auch als bedrohliche Angstobjekte zu interpretieren. Freud (1912/13) glaubte, dass Tierphobien mit zu den „häufigsten psychoneurotischen Erkrankungen“ bei Kindern gehören – und das trotz des „ausgezeichneten Einverständnisses zwischen Kind und Tier“. Die Phobie betrifft in der Regel Tiere, für welche das Kind bis dahin ein besonders lebhaftes Interesse gezeigt hatte, sie hat mit dem Einzeltier nichts zu tun. Die Auswahl unter den Tieren, welche Objekte der Phobie werden können, ist unter städtischen Bedingungen nicht groß. Es sind Pferde, Hunde, Katzen, seltener Vögel, auffällig häufig kleinste Tiere wie Käfer und Schmetterlinge. Manchmal werden Tiere, die dem Kind nur aus Bilderbuch und Märchenerzählung bekannt worden sind, Objekte der unsinnigen und unmäßigen Angst, welche sich bei diesen Phobien zeigt; selten gelingt es einmal, die Wege zu erfahren, auf denen sich eine ungewöhnliche Wahl des Angsttieres vollzogen hat. (Freud 1912/13, S. 154)

Sehen wir uns zum Abschluss noch einige psychoanalytische Studien an, die die Symbolbedeutung eines Tieres als Angstobjekt beleuchten und die allesamt aus dem klinischen Bereich stammen. Sterba (1935) vermutet bei einer Analyse einer Hundephobie, dass Hunde die Bedeutung des aggressiven Vaters haben. Nach Deutsch (1931) steht die Katze für sadistische und masochistische Impulse gegenüber der Frau. Die Spinne wird als Symbol für die „phallische Frau“ oder die „phallische Mutter“ (Abraham 1922) gedeutet. Nach Little (1967, 1968) repräsentiert dagegen die Spinne orale Phantasien. An fünf Spinnenphobien zeigt er, dass die Spinne am ehesten ein Symbol für die oral–verschlingende Mutter ist. Sperling (1971) bestätigte in der Analyse von kindlichen Spinnenphobien, dass sich in der Spinne oft die Mutterbeziehung verdichtet. Nach Stiemerling (1973) zeigt die Spinne verschiedene Themen an: Oralität, Aggressivität, Besitz, Wahnsinn. Und in der Tat gilt in vielen Kulturen die Spinne als verwandelte böse Frau. Zlotowicz (1983, S. 86) betont ebenfalls die symbolische Bedeutung der Spinne als böse gewordene Mutter. Der Wolf oder das Krokodil – Tiere, mit denen Kinder in unserer Kultur kaum in direkten Kontakt kommen, die sie vor allem aus Märchen oder anderen Medien kennen – verkörpern nach diesem Autor die Angst vor dem Verschlungenwerden. Manchem Leser werden diese klinischen Beobachtungen unwahrscheinlich vorkommen. In ihrer Widersprüchlichkeit zeigen sie auch eher, dass der Symbolwert eines Tieres ein individueller ist, in den allerdings kulturelle Konventionen einfließen. Außerdem können Eigenarten von Tieren für eine phobische Symbolisierung verwandt werden, die für andere 231

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11 Angst und Ekel vor Tieren

völlig unauffällig und harmlos sind. So lässt sich insgesamt sagen, dass oft das Angsttier symbolisch für eine konkrete andere Angst steht, jedoch diese Symbolbedeutung nicht verallgemeinerbar oder gar übersetzbar ist.

11.4 11.4

Bemerkungen zum Ekel Bemerkungen zum Ekel

Das Problem des Ekels ist, soweit unsere Kenntnis reicht, bisher arg vernachlässigt worden. Allenfalls wird er abgehandelt als „gesteigerter Grad des Mißfallens“, als „Brechreiz“ oder als „Reaktionsbildung im Gefolge einer Triebverdrängung“. Allein das Gefühl, die Haltung des Ekels besitzt eine derart eindeutig und einheitlich gekennzeichnete, wohl identifizierbare Qualität, die dabei so schwer begrifflich sich erläutern läßt und trotzdem so wenig als eine Urgegebenheit der Natur (wie etwa Anziehung und Abstoßung) angesprochen werden kann, daß hier ernstliche phänomenologische Nachforschung durchaus angebracht zu sein scheint (Kolnai 1929, S. 515).

Diese Äußerung des Wiener Philosophen Kolnai aus dem Jahre 1929 in einem glänzenden Essay und in einer der erhellendsten Abhandlungen über den Ekel ist noch immer zutreffend. Die Objekte des Ekels sind zwar zum Teil mit denen der Furcht (z. B. Spinne und Schlange) identisch, jedoch ist die Reaktion eine völlig andere. Überhaupt hängt die Abneigung gegenüber Tieren, die den Menschen normalerweise nicht angreifen oder verletzen (wie Spinnen, Kakerlaken oder Würmer), mit einer besonderen Ekelempfindlichkeit zusammen (Oßwald/Reinecker 2004). Interessant ist auch, dass sowohl bezüglich Ekelempfindlichkeit als auch Spinnenangst Frauen höhere Werte aufweisen (Oßwald/Reinecker 2004). Gemäß dem „Disease-Advoidance-Modell“ (Davey 1994) werden bestimmte Lebewesen deshalb vermieden bzw. auch phobisch besetzt, weil sie als eklig empfunden werden. Ein wesentliches Element des Ekelgefühls ist nach diesem Modell die Angst vor Krankheitsübertragung. Ekel als „Alarm- und Ausnahmezustand“ (Menninghaus 1999, S. 7) gehört als „Basisemotion“ (Rozin et al. 2008) zu den intensivsten Abwehrgefühlen des Menschen, ein Gefühl des Sichabwendens, des Abscheus, des Nicht-in-Berührung-Kommen-Wollens, des Abgestoßenseins, der Abneigung (Kluitmann 1999, Rozin et al. 2008, Vogt 2010), eine besondere Abscheu bei der Aussicht auf orale Aufnahme eines widerwärtigen Objekts. Krause (1983, S. 1028) betrachtet den Ekel als das „frühestmögliche agonistische“ Gefühl. Entsprechende Verhaltensprogramme seien bereits bei der Geburt entwickelt. Das betrifft in dieser Absolutheit allerdings, wie noch zu zeigen sein wird, lediglich den Ekelaffekt, nicht die Objekte des Ekels. Jedenfalls gibt es (nach Gabe einer bitter schmeckenden Flüssigkeit) den Gesichtsausdruck für Ekel bereits unmittelbar nach der Geburt (Rosenstein/Oster 1988). Ekel hat eine deutlich körperliche Komponente: Kontraktion der Rachenmuskulatur, Sekretion von Speichel und Brechreiz. Im deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm wird Ekel als „sinnlicher Widerwillen“ und „Abscheu bis zum Erbrechen“ bezeichnet. Nicht nur bestimmte Tiere, auch andere Naturobjekte lösen häufig Ekelreaktionen aus: Innereien

11.4 Bemerkungen zum Ekel

233

(beispielsweise beim Sezieren oder Ausnehmen von Tieren), Speichel, Kot, Schimmel, Gestank, bestimmte Speisen u. v. m. (vgl. Rozin et al. 2008 S. 641). Man kann auch Ekel vor anderen Menschen empfinden. Oft reicht für die Ekelreaktion schon die Vorstellung des Ekelobjekts. Ekel verbindet sich bereits mit dem Gedanken eines „vorweggenommenen oder vorgestellten Kontakts“ (Zlotowicz 1983, S. 83). Als stark körperliches Gefühl, das eng an verschiedene Sinne (Geschmacks-, Geruchs-, Gesichts-, Temperatur-, Tastsinn) geknüpft ist, ist der Ekel mit der Lust verwandt. Was Quelle von Lust sein kann, kann auch potentiell Quelle von Ekelgefühlen sein. Insofern liegt der Ekelreaktion meist eine ambivalente Gefühlseinstellung zugrunde, vergleichbar mit dem Phänomen der bereits angesprochenen „Angstlust“ (siehe Kapitel 5.3). Auf diese „Paradoxie“ des Ekels weist auch Kolnai hin, wenn er betont, dass „namentlich dem Ekel eine Abwendung nicht nur von seinem Gegenstande, sondern auch von einem supponierten Angezogensein des Subjekts durch denselben eigen ist“ (Kolnai 1929, S. 526f.). Die im Ekel liegende Herausforderung heißt nämlich etwas ganz anderes als eine Bedrohung oder etwa eine kraftlose, lächerliche Drohung oder eine pure Störung. Unzweifelhaft steckt im Anekeln als Teilelement auch ein gewisses Einladen, ein, ich möchte sagen, makaberes „Anlocken“ (Kolnai 1929, S. 526).

„Es lockt bis zum Erbrechen“ (Kluitmann 1999). Ekel ist gewisser Weise noch ambivalenter als die Angst: „Ekel setzt sozusagen ex definitione eine – unterdrückte – Lust an seinem Erreger voraus“ (Kolnai 1929, S. 527). Das heißt natürlich nicht, dass Ekel eigentlich im Kern Lust sei. Mit der Betonung der Lustkomponente des Ekels wird lediglich auf die prinzipielle Ambivalenz des Ekelgefühls hingewiesen. Das wird bei der Frage, wie mit Ekelgefühlen umzugehen sei, zu bedenken sein. Die Nähe zum Körperlichen, die „Leibgebundenheit“, wie Kolnai es ausdrückt, ist ein zentrales Bestimmungsmerkmal des Ekels. Das betrifft auch die Objekte des Ekels. Ekeltiere wie beispielsweise Frosch, Schnecke, Kröte, Wurm werden als nass, klebrig, schleimig, schmierig und schmutzig wahrgenommen. Körperflüssigkeiten rufen oft Ekelgefühle hervor. Kafka nimmt an, dass besonders solche Attribute, die „Provenienzen des Organischen“ entstammen, Ekel provozieren. Rozin et al. (2008) interpretieren dies als eine Art „Erinnerung“ an „our animate nature“. Dabei handelt es sich nicht um eine theoretische und noch viel weniger um eine theoretisch richtige Unterscheidung zwischen Organischem und Anorganischem, sondern um den Unterschied der instinktiven Einstellung gegenüber dem Lebendigen – und zwar dem aktuell und dem privat Lebendigen, also auch dem Toten (Kafka 1929, zit. n. Schanz 1972, S. 98).

Dass Ekel also eine Reaktion ist auf Phänomene, die mit „Provenienzen des Organischen“ zu tun haben oder zumindest subjektiv assoziiert werden, ist wohl eine zutreffende Charakterisierung des Ekels, und zwar sowohl, was die Objekte angeht, als auch, was das ausgesprochen sinnlich–körperliche Gefühl betrifft. Ob es sich dabei allerdings um eine „instinktive Einstellung gegenüber dem Lebendigen“ handelt, muss zumindest angezweifelt 233

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11 Angst und Ekel vor Tieren

werden, wenn auch bisweilen eine biologische Funktion des Ekels diskutiert wird. Danach sei der Ekel analog zur Angst als ein „biologischer Schutzreflex“ (vgl. Schultz 1949, S. 196) anzusehen, durch den eine Distanz zu Faulem, Schmutzigem, Schmierigem und damit auch zu Krankheitserregendem und Gefährlichem hergestellt wird (vgl. Wendel 1980, S. 6). Oft wird dabei auch auf vergleichbare Reaktionen im Tierreich verwiesen, die jedoch in ihrer Gesamtheit keine eindeutigen Schlüsse zulassen (vgl. Schultz 1949, Steiniger 1937). Immerhin ist es auffällig, dass Tiere, die als schmutzig, klebrig und schleimig gelten, in der Tat oft als eklig empfunden werden, ebenso Tiere, die als Krankheitsüberträger angesehen werden beziehungsweise es auch waren (Läuse, Flöhe, Ratten). Auch Kolnai (1929, S. 536) nimmt an, dass der „Urgegenstand des Ekels … der Erscheinungskreis der Fäulnis“ sei. Oft wird auch Ekel empfunden, wenn ein (kleines) Tier in besonderer Häufigkeit auftaucht: Kribbeln und Wimmeln von Insekten, Würmern oder Maden beispielsweise mit ihrer „ruhelosen, nervösen, sich windenden, zuckenden Vitalität“ (Kolnai 1929, S. 540). Kolnai nennt dieses Phänomen „Sehekel“, der einsetzt, „wo der Gegenstand wesenhaft als Vielheit auftritt“ (Kolnai 1929, S. 534). Überhaupt seien vor allem die Insekten die bevorzugten Ekelobjekte. Am besten spräche man im weitesten Sinne von „Kriechtieren“, womit auch schon das Hauptmotiv des diesbezüglichen Ekels aufgewiesen erscheint. Höher organisierte Tiere erregen selten einen spezifischen Ekel, außer man denke an ihre zufällige Unsauberkeit, ihren manchmal peinlichen Geruch, ihre „tierische Wärme“, die einige Menschen anekeln mag – alles Dinge, die u. U. auch den Menschen zum Gegenstand des Ekelns machen können (Kolnai 1929, S. 539).

Auch wenn es, wie die gerade angeführten Beispiele zeigen, typische Situationen und Objekte gibt, die Ekel erregen, so ist es doch sehr wahrscheinlich, dass es sich beim Ekel, jedenfalls bei der Auswahl der Ekelobjekte, um ein in hohem Maße kulturbedingtes Phänomen handelt (vgl. Rozin et al. 2008). Dafür spricht schon, dass sich kleine Kinder nicht oder nur sehr wenig ekeln – im Gegenteil, wie die Notwendigkeit einer sogenannten Sauberkeitserziehung zeigt. Ekelreaktionen treten meist erst mit vier bis fünf Jahren auf und sind am ehesten als Ausdruck einer spezifischen kulturbedingten Reinlichkeitserziehung zu verstehen. Kulturvergleichende Betrachtungen zeigen allerdings, dass es möglicherweise ein kulturübergreifendes Muster im Hinblick auf Ekelgefühle gegenüber Spinnen und Schlangen gibt. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die kulturübergreifende Studie von Davey et al. (1998), die auch in Kapitel 11.2 erwähnt wurde (vgl. auch Muris et al. 1999). Katz verweist dagegen darauf, dass die Vanijamwesi sehr gern von Maden wimmelnde Fische essen, sich allerdings vor dem Genuss von Eiern ekeln. Die Mongolen ekeln sich ausgesprochen vor dem Verzehr von Enten beziehungsweise überhaupt Wasservögeln, essen jedoch problemlos ungewaschene Hammeldärme (vgl. Katz 1932, S. 33). Der Nachweis des Phänomens kulturübergreifender Ekelobjekte sagt im Übrigen auch noch nicht viel über die zugrunde liegenden, möglicherweise biologischen, Mechanismen aus. Jedenfalls wird die kulturelle Überformbarkeit und Modizifierbarkeit von Ekelaffekten nicht unerheblich sein. So hatte auch in unserem Kulturkreis der Ekel keineswegs immer dieselbe Ausprägung beziehungsweise dieselben Objekte wie heute. Elias (1976) zeigt den diesbezüglichen „Pro-

11.5 Zum pädagogischen Umgang mit Angst und Ekel

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zess der Zivilisation“ sehr deutlich, nämlich dass die Scham- und Ekelgrenzen mit zunehmender Zivilisationshöhe und vor allem -dichte immer enger gezogen wurden. Hygiene und Distanzierungswünsche der Menschen untereinander führten zu entsprechenden Tabus, die die Provenienzen des Organischen (beispielsweise Körperausscheidungen) in besonderer Weise betrafen. Das gilt eben auch für Tiere, die daran erinnern oder als Krankheitsüberträger galten (kleine Insekten, Würmer, Kröten, Frösche, Ratten). Elias (1976) bezieht sich bei seinen Überlegungen zum Prozess der Zivilisation auch auf die psychoanalytische Kulturtheorie, nach der die Triebansprüche des Subjekts zur Entwicklung und Aufrechterhaltung der Kultur zum Teil aufgegeben werden müssen, verdrängt oder sublimiert werden, was nicht zuletzt das von Freud (1930) so genannte „Unbehagen in der Kultur“ ausmacht. Die „Kultivierung“ von Ekelgefühlen hat also auch etwas zu tun mit der Abwehr von (libidinösen) Triebansprüchen. Ekel wäre in diesem Verständnis ein psychischer Mechanismus, der die libidinöse Besetzung von möglichen Lustobjekten zumindest behindert. Die Ursprünge dieser Abwehrformen entwickeln sich gemäß der psychoanalytischen Entwicklungslehre vor allem in der sogenannten „analen Phase“, in der es vornehmlich um Sauberkeit, Anpassung, Trotz und Durchsetzung geht. Doch geht es beim Ekel nicht nur um eine Äußerungsform der Libido. Lust ist eben nur die eine Seite des Ambivalenzphänomens Ekel. Ekel hat offenbar – unabhängig von der Frage, ob es sich dabei um einen biologisch fundierten Schutzmechanismus handelt – durch seine Nähe zu Fäulnis, Schleimigkeit, eben den „Provenienzen des Organischen“, etwas mit der Grenze zwischen Leben und Tod zu tun (vgl. auch Rozin et al. 2008). Sie bezeichnen dies als „the delicate boundary between disgust and pleasure.“ Die Art, wie uns der Gegenstand im Ekel anspricht und anzüngelt, ist nicht die einer – wenngleich unerwiderten oder sonst irgendwie irrenden – Liebe, vielmehr steckt darin etwas Ungutes, Liebloses, ein Trachten nach unserem Sein, ein höhnisches Grinsen über unsere unabstreifbare Affinität zu diesem „ekelhaften“ Gebilde da. Es geht hier nicht um Vereinigung und feste Bindung, sondern um ein hemmungsloses Mit- und Durcheinander, dessen Kehrseite Zerfall, Verstauben, universelle Gleichgültigkeit sind (Gewimmel). Der vollen Intention nach ist es Tod und nicht Leben, was sich uns im Phänomen des Ekelhaften ankündigt (Kolnai 1929, S. 555).

11.5 11.5

Zum pädagogischen Umgang mit Angst und Ekel Zum pädagogischen Umgang mit Angst und Ekel

Abneigung, Angst, Ekel und ein entsprechendes Vermeidungsverhalten gegenüber Tieren sind, wie wir gesehen haben, alltägliche Erscheinungen. Sie sind am ehesten als individuelle Phänomene beziehungsweise auch Lösungen zu verstehen, die ihren Grund zum einen in der eigenen Biographie und zum anderen auch in kulturellen Gepflogenheiten haben. Angeborene Furcht- und Ekelreaktionen gegenüber konkreten Tierarten müssen als eher unwahrscheinlich oder zumindest als sehr nachgeordnet gelten.

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11 Angst und Ekel vor Tieren

Natürlich kann man Anstrengungen unternehmen, den Kontakt zu Angst- und Ekeltieren weitgehend zu meiden. Ein Mensch mit einer Pferdephobie wird sicherlich nicht in einen Reitstall gehen, und jemand mit besonderer Angst vor Spinnen wird vielleicht keinen Campingurlaub machen. Darin besteht ja gerade der „psychische Gewinn“, den die „Pseudoobjektivierung“ bei der phobischen Verwendung eines bestimmten Tieres bietet, nämlich dass das Angstobjekt anders als bei diffusen Angstzuständen gemieden werden kann (siehe Kapitel 11.3). Dies ist sicherlich ein individuell gangbarer Weg, mit der Angst und auch mit phobisch gebundener Angst umzugehen, wenn es auch hier sicherlich Grenzen geben wird: Wenn beispielsweise jemand mit einer Agoraphobie nicht mehr seine Wohnung verlassen kann, schränkt das sein Leben erheblich ein. Jedoch kann eine konsequente Vermeidungsstrategie keine sinnvolle pädagogische Haltung beispielsweise im Biologieunterricht sein. Eine solche Vermeidungshaltung würde nämlich bedeuten, nahezu alle Tiere aus dem Unterricht zu verbannen, da eben fast alle Tiere, wie die Untersuchung von Schanz (1972) gezeigt hat, zu Objekten der Furcht oder des Ekels werden können. So gibt es auch eine Reihe von Argumenten, die für einen Einsatz sogenannter Angst- und Ekeltiere im Unterricht sprechen: Dass erst durch möglichst viel „originalen“ Kontakt mit der lebendigen Natur sinnvoll über die Natur unterrichtet werden kann, ist unbestritten. Exkursionen, Experimente, direkte Beobachtungen, Hegen und Pflegen, eben die Natur erleben – all diese Annäherungsformen an Natur sind zweifellos eine Bedingung dafür, dass Naturphänomene auch emotional „begriffen“ werden können. Dass direkte Naturerfahrungen zusätzlich auch die Chancen von Umwelterziehung erhöhen, ist in Kapitel 8 gezeigt worden. Wenn jedoch die allerorten geforderte „originale Naturbegegnung“ wahrhaftig eine Naturerfahrung sein soll, lassen sich die ängstigenden, ekeligen, negativ erscheinenden Seiten der Natur nicht „weginszenieren“. Eine ausschließlich schöne, gefällige Natur gibt es nur im stilisierten romantischen Sehnsuchtsland, nicht jedoch in der Realität. Allerdings gehört es zum Zivilisationsprogramm des Abendlandes, die Natur zum Zwecke der Beseitigung oder Beherrschung von Bedrohungs- und Angstmomenten, die in ihr lauern, zu verändern. Durch Naturwissenschaft und Technik sind in der Tat viele Bedrohungsaspekte der Natur (wilde Tiere, Krankheiten, Unwetter, Hitze, Kälte und viele mehr) zumindest sehr entschärft worden. Die Angst der Menschen ist jedoch geblieben, hat sich vielleicht verlagert, neue Objekte gesucht – beispielsweise im Inneren oder in Form von kleinen harmlosen Tieren –, sich in eine allgemeine Ängstlichkeit verwandelt. Angst gehört zu den Grundbedingungen menschlicher Existenz, sie kann weder durch eine entsprechende Zurichtung der äußeren Welt eliminiert noch kann sie durch noch so geschickte Pädagogik oder Psychotherapie gänzlich wegdiskutiert werden. Das gilt auch für die Angst und den Ekel vor Tieren beziehungsweise überhaupt vor Natur (zur kindlichen Angst in und vor „wilder“ Natur siehe Kapitel 5.3). Die Vorstellung, der Mensch könne, um seine Angst aufzuheben, alle Angstmomente in der Natur kontrollieren, ist eine Illusion, wie die ökologische Entwicklung deutlich zeigt, die nämlich selbst zu einem neuen und sehr grundsätzlichen Angstgrund geworden ist (zur Angst vor der Umweltzerstörung siehe Kapitel 14). In der Kulturgeschichte der Menschheit gab und gibt es wohl nur zwei Strategien, mit der grundsätzlichen Angst

11.5 Zum pädagogischen Umgang mit Angst und Ekel

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vor der äußeren Natur umzugehen: die naturwissenschaftlich–technische Strategie und die Religion. Beide Strategien befinden sich in einer grundsätzlichen Krise. Es käme darauf an, die Angst (vor Tieren) aushaltbar zu machen. Dazu gehört zunächst die Anerkenntnis, dass weder die Angst noch die Angstobjekte letztlich „ausrottbar“ sind, dass die Angst eben zu den Bedingungen menschlicher Existenz gehört, die nicht „abgebaut“ (wie beispielsweise Wendel es vorschlägt) oder durch Desensibilisierung aberzogen werden kann beziehungsweise muss. Das ist wohl der wichtigste (pädagogische) Grundsatz im Umgang mit Angst und Ekel (vor Tieren): Solche Affekte dürfen sein, sind kein unpassendes Verhalten, müssen nicht mit zusammengebissenen Zähnen beherrscht werden. Nur so kommen diese Affekte zum Vorschein und können auch bearbeitet werden. Nur in einer solchen Atmosphäre wird sich die Angst nicht verselbständigen und radikalisieren, zum Beispiel in der Anwendung von Bioziden zur Beseitigung von ekligen und ängstigenden Insekten und Würmern. Das Ziel ist nämlich: Nicht das Angstgefühl oder das Ekelgefühl abbauen, sondern es in eine Form bringen, die aushaltbar ist. Eine solche (pädagogische) Haltung wird nicht die Angst beseitigen (wollen), jedoch Bedingungen dafür schaffen, dass die Begegnung mit sogenannten Angst- und Ekeltieren nicht zu hysterischen Angstanfällen und vor allem aggressiven Reaktionen gegenüber den Objekten der Angst führt. Außerdem – das ist hier jedoch nicht das Thema – gibt es ja auch genügend Situationen, in denen eine Angst- und Ekelreaktion durchaus adäquat ist: fremde Hunde, stechende Insekten, verschimmelte Speisereste, Kot, Tierkadaver usw. (vgl. Gropengießer/Gropengießer 1985, S. 40). Es ist wichtig, sich den Angst- und Ekelobjekten zu stellen. Die nicht ausgehaltene und somit verdrängte Angst könnte nämlich allzu leicht dazu führen, die Objekte der Angst und des Ekels nicht nur zu meiden, sondern bedenkenlos zu töten beziehungsweise im großen Maßstab auch auszurotten. So diente beispielsweise das Roden und Kultivieren der Wälder zumindest auch der Angstbeseitigung beziehungsweise -bewältigung (vgl. Valentien 1989). Insofern ist es durchaus ein Anliegen auch des Biologieunterrichts, die Schülerinnen und Schüler mit ekligen und ängstigenden Objekten zu konfrontieren. Dazu gehört allerdings ein hinreichendes Verständnis für die Gefühle, die dabei auftauchen können. Erfahrungsberichte aus der Schule (Beispiele in Schanz 1972, Wendel 1980, vgl. auch Hoenisch-Niggemeyer 1982) haben gezeigt, dass der einfache Umgang mit (zunächst) ängstigenden und ekligen Tieren oft die anfangs heftigen Reaktionen reduziert (Bauhardt 1990) (zur verhaltenstherapeutischen Version der Ätiologie von Phobien siehe Schneider 2004). Bisweilen kann der Umgang mit Tieren, die „eigentlich“ Ekeltiere sind, zu einer ästhetischen Erfahrung werden (Retzlaff-Fürst 2001). Am Beispiel der Schnecke ist das empirisch gezeigt worden (Schomaker 2006). „Einfacher Umgang“ heißt natürlich, dass einem entsprechenden Unterricht kein „Desensibilisierungsprogramm“ zugrunde liegen darf. Die Objekte von Angst und Ekel werden lediglich nicht ausgespart, nicht vermieden. Vermeidung führt nämlich letztlich nur zu einer Erhöhung der Angst. Einen einfachen, alltäglichen Umgang, der zugleich die Angst und den Ekel nicht ausblendet oder gar sanktioniert, kann man am ehesten als „Gewöhnung“ bezeichnen. Dass der Gewöhnungseffekt wichtig ist, zeigen beispielsweise die in Kapitel 11.1 berichteten Befunde, nach denen Landkinder weniger Angst237

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11 Angst und Ekel vor Tieren

und Ekelgefühle gegenüber Tieren haben als Stadtkinder. Auch Angler haben sich an die schlängelnden Würmer, die oft Ekelgefühle verursachen, gewöhnt, ebenso Schlangenfarmer an das Angst- und Ekelobjekt Schlange. Auf der Basis eines solchermaßen gewöhnlichen Umgangs mit Angst- und Ekeltieren haben dann Lernprozesse, die auf Einsicht – zum Beispiel die Einsicht, dass Spinnen in unseren Breitengraden nicht gefährlich sind – zielen, wahrscheinlich bessere Chancen. „Einsicht“, die nicht die affektiven Bedingungen der Lernenden berücksichtigt und anerkennt, ist gerade bei so fundamentalen Gefühlen wie Angst und Ekel wirkungslos. Informationen, die das Angst- oder Ekelgefühl als überflüssig erscheinen lassen, können das psychodynamische Abwehrsystem bedrohen und werden bestenfalls emotionslos auswendig gelernt und schnell wieder vergessen oder gar in einen komplexen Abwehrmechanismus integriert. Einsicht kann insofern erst dann wahrhaft sich vollziehen, wenn die Angst (beispielsweise vor Spinnen), biologische Informationen und die Gewöhnung in eine spannungsreiche Beziehung treten, wobei sowohl die z. T. unbewusste Dynamik der Spinnenangst sich inszeniert und damit etwas bewusster wird als auch die sachlichen Kenntnisse dann sozusagen mit Neugier aufgenommen werden. So zeigen auch viele Unterrichtsstudien, dass sich die Einstellungen gegenüber Tieren durch den aktiven Umgang mit diesen positiv verändern (z. B. Binngießer et al. 2013) Dass die unbewusste Dynamik sich inszeniert, heißt natürlich nicht, dass die Lehrperson dabei psychotherapeutisch wirksam werden soll. Im Gegenteil: Damit wäre die unterrichtliche Situation überfordert, und es wäre auch gar nicht sinnvoll. Die Lehrperson soll die Angst- und Ekelgefühle nicht abbauen. Kinder haben ein Recht auf ihre affektive Reaktion, und jede therapeutische Attitüde demgegenüber wäre vermessen. Allerdings kann die Lehrperson durch eine entsprechende Haltung die Bedingungen dafür schaffen, dass die Schülerinnen und Schüler selbst und freiwillig eine neue Lösung finden. Dazu gehört wohl auch, dass sie eigene Ängste nicht verbirgt, sondern zeigt und „zugibt“. Wendel (1980, S. 23) schlägt vor, die Lehrperson müsse durch eine besonders neutrale, emotionslose Haltung gegenüber Angst- und Ekeltieren ein „Vorbild“ sein und damit zeigen, wie überflüssig die Angst sei. Ich halte eine solche Haltung geradezu für schädlich. Auch wenn die Lehrperson sich noch so sehr bemüht, spüren die Schülerinnen und Schüler in jedem Fall ihre emotionale Haltung und werden durch den Widerspruch, der sich aus der neutralen Fassade der Lehrperson und ihrem eigenen Gespür ergibt, zusätzlich verwirrt. Ein „Vorbild“ kann die Lehrperson vielleicht insofern werden, indem sie vorlebt, dass man sich und anderen die Angst zugestehen und dabei trotzdem beziehungsweise gerade deshalb handlungsfähig und lernfähig werden und bleiben kann. Sehr zutreffend sind insofern die folgenden Bemerkungen zum Umgang mit Ekel: Das Ziel kann nur sein, die Bedingungen dafür zu schaffen, daß Schüler mit ihren Gefühlen und denen anderer behutsam und reflektierend umgehen lernen. Dies wird nur in einem Unterricht möglich sein, in dem die beteiligten Personen ihre Gefühle und Empfindsamkeiten äußern dürfen und auf Verständnis hoffen können. Wer als Lehrer seinen eigenen Ekel eingestehen kann, kann auch glaubhaft Verständnis zeigen. Mit seiner eigenen Abneigung umzugehen und dies auch erlebbar und nachvollziehbar zu machen, hilft Schülern viel mehr als Vermeidung und defensive Abwehr (Gropengießer/Gropengießer 1985, S. 41).

11.5 Zum pädagogischen Umgang mit Angst und Ekel

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Natürlich bleibt es trotzdem wichtig, dass sich die Lehrperson neben dieser Grundhaltung auch ein Unterrichtsarrangement überlegt, das auch äußerlich ein Gefühl von Sicherheit garantiert. Dazu gehört zunächst, dass die Schülerinnen und Schüler die Objekte der Furcht oder des Ekels auf Distanz halten können, beziehungsweise dass sie die relative Nähe zu ihnen selbst bestimmen können. So macht beispielsweise eine Spinne in einem Glas viel weniger Angst als direkt auf dem Tisch. Es müssen also genügend Möglichkeiten der äußeren Distanzierung als Korrelat der inneren Abwehrhaltung vorhanden sein, damit die Angst aushaltbar wird. Ausgehend nämlich von dem Grundsatz, dass Angst und Ekel keine unerwünschten Verhaltensweisen sind, ist es nicht nur berechtigt, sondern geradezu sinnvoll und geboten, nach äußeren Umgangs-, Distanzierungs- und Abwehrstrategien zu suchen. In Anlehnung an Devereux (1984) haben Gropengießer und Gropengießer (1985) hierzu drei verschiedene Grundstrategien vorgeschlagen und im Hinblick auf den Unterricht erläutert: • stellvertretende Vorerfahrung, • professionelle Haltung und Abwehr durch Aktivität, • methodologische Positionen und technische Manöver. Dabei ist wichtig zu betonen, dass es sich hier um Abwehrstrategien handelt, die, wenn sie sich verselbstständigen, problematisch sind und die Angst eher fixieren. Trotzdem ist es wichtig, solche Distanzierungstechniken zu kennen, eben, um die Angst aushalten zu können. Stellvertretende Vorerfahrung heißt, dass Gelegenheit besteht, sich vor dem direkten Kontakt mit Angst- und Ekelobjekten auf solche Situationen einzustellen. Das kann mit Versuchsanleitungen, Filmen, Abbildungen oder Modellen geschehen. Diese Vorerfahrung soll vermeiden, dass sich Schülerinnen und Schüler erschrecken, soll garantieren, dass sie rechtzeitig die Möglichkeit haben, sich zu distanzieren. Ein vorausgegangenes Durchspielen kann unangenehme Gefühle in der realen Situation durchaus mildern, so dass ein Kontakt vielleicht erst möglich wird. Eine Ankündigung ist auch deshalb wichtig, damit Angst- und Ekelreaktionen nicht gerade erst durch den Unterricht entstehen oder verstärkt werden (zum Beispiel durch eklige Experimente, Sezieren von Fischen oder Rinderaugen, Kontakt zu besonderen Angsttieren). Die professionelle Haltung ist sehr eindeutig eine Abwehrstrategie, die auf Ausblendung der Gefühle zielt und nicht unproblematisch ist. Sie besteht in einer betont sachlichen Atmosphäre, in der Konzentration auf das Erkenntnisinteresse, in der Verwendung einer Fachsprache. Besonders gebräuchlich ist sie bei Tierversuchen und vor allem in der Medizin. Auch Schülerinnen und Schüler können bei biologischen Versuchen, die potentiell eklig sind, eine solche Haltung einnehmen: Beobachten, Beschreiben, Protokollieren, Zeichnen, Messen, Abtupfen usw. Die Ausblendung der Gefühlsseite wird bei Fachtermini (zum Beispiel „Dekapitieren“) besonders deutlich, wobei natürlich zu fragen ist, wo letztlich diese abgewehrten Affekte bleiben beziehungsweise in was sie sich verwandeln. Eine solche professionelle Haltung kann noch unterstützt werden durch bestimmte methodologische Positionen (zum Beispiel: „Insekten spüren keinen Schmerz.“). Descartes eröffnete beispielsweise dadurch 239

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11 Angst und Ekel vor Tieren

methodologisch die Möglichkeit zu Tierversuchen, indem er „definierte“, das Brüllen oder Kreischen von Tieren sei vergleichbar mit dem Quietschen eines Wagenrades. Insgesamt sind diese Abwehrstrategien jedoch nur zu rechtfertigen zum Zwecke des Aushaltens von Angst und Ekel, nicht zu deren vollständigen Vermeidung. Doch dazu ist es wichtig, diese Affekte erst einmal zuzulassen, um dann in einem zweiten Schritt die genannten Abwehrstrategien bewusst und reflektiert – und zwar immer wieder neu – einzusetzen. Nur so kann eingelöst werden, was als Zielvorstellung zum Umgang mit Angst und Ekel formuliert werden kann, nämlich diese Gefühle in einem dialektischen Sinne aufzuheben: Erstens nicht zu scheitern an der Intensität und Ambivalenz seiner Gefühle; die Macht dieser Gefühle über sein Verhalten aufzuheben, d. h. hier zu beenden und in einen sachgerechten Umgang mit dem Gegenstand zu kommen; zweitens sich seiner Gefühle klar zu sein, sie in einem neuen Sinn zu akzeptieren und damit aufzuheben, d. h. hier auf einer höheren Ebene zu bewahren (Gropengießer/Gropengießer 1985, S. 42).

Abschließend sei noch hervorgehoben, dass es jenseits aller Abwehrbemühungen oder -notwendigkeiten auch noch einen eigenen Antrieb gibt, sich mit Angst- und Ekelobjekten zu befassen. Dräger und Vogt (2007) zeigen sogar in einer Interventionsstudie, dass Angstund Ekelgefühle vor dem Hintergrund der starken emotionalen Beteiligung in Motivation und Interesse transformiert werden können (vgl. Klingenberg 2012, Randler et al. 2012). Auch in einer Interventionsstudie von Hummel et al. (2012) werden Angst‐ und Ekelgefühle nachhaltig abgebaut. Retzlaff-Fürst (2008) betont in diesem Zusammenhang, dass ehemals als eklig empfundene Bodenlebewesen bei behutsamer, längerer Betrachtung sogar als ästhetisch wahrgenommen werden können. Auch im Zuge der aktiven Beschäftigung mit ehemals abgelehnten Tieren erworbenes Wissen wirkt angstbindend (Hummel/Randler 2010, Randler et al. 2008, Schlegel et al. 2015). Auch Wissen über die Angst- und Ekelobjekte hilft dabei, mit der Ablehnung umgehen zu können. Nützel (2007) konnte zeigen, dass Kinder, die mehr Wissen haben, sich beispielsweise angesichts von Regenwürmern oder Asseln weniger ekeln. Das Wissen hängt wahrscheinlich auch mit einer höheren Vorliebe für Naturerfahrungen zusammen (vgl. Bixler/Floyd 1999). Wie wir gesehen haben, gibt es bei der Angst auch das Phänomen der Angstlust, und der Ekel ist als ein sehr intensives körperliches Gefühl zumindest verwandt mit der Lust. Hieraus ergibt sich oft genug hinreichend Motivation, Neugierde, nicht selten eben auch Lust, sich vorsichtig und sozusagen abgesichert mit Abwehrstrategien den Objekten der Angst und des Ekels zu nähern. So ist Ekel eben „Einladung und Abschreckung, Lockung und Drohung“ zugleich (Kolnai 1929, S. 558). Diese Einladung und diese Lockung sollten auch in pädagogischen Kontexten stattfinden, aber eben nur, wenn darauf verzichtet wird, Ekel und Angst zu unterbinden oder gar abzuerziehen. Alle Neugierde und Lust würde auf der Strecke bleiben.

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Kinder und Pflanzen 12 Kinder und Pflanzen 12 Kinder und Pflanzen

Die Beziehung von Kindern zu Pflanzen ist ein schwieriges Thema. Es liegen nur vereinzelte Befunde dazu vor, diese sind widersprüchlich, und in der Schule gilt Pflanzenkunde als unbeliebt und langweilig. Pflanzen scheinen im Unterschied zu Tieren nicht so sehr das Interesse oder gar die Liebe der Kinder zu finden (vgl. Kapitel 10), möglicherweise deshalb, weil sie nicht im selben Maße als Individuen betrachtet werden können, weil Pflanzen nicht „biographiefähig“ sind. So sind Pflanzen weniger Beziehungspartner als Tiere (Lindemann-Matthies 2005). Eine Ausnahme ist vielleicht der Baum (siehe Kapitel 12.4 und 15). Trotzdem ist natürlich in einer Abhandlung über das Verhältnis von Kindern zur Natur auf die Behandlung der Frage, welche Beziehung sie zu Pflanzen haben, nicht zu verzichten. Es wird sich dabei herausstellen, dass das durchaus verbreitete Vorurteil, Pflanzen seien für Kinder nicht besonders interessant, bei genauerem Hinsehen zumindest differenzierter betrachtet werden muss. So betonen immerhin viele klassische Pädagogen – Rousseau, Salzmann, Fröbel, Zulliger – in ihren Schriften die besondere Bedeutung des Gartens für Kinder (vgl. Bittner 1990). Sehen wir uns zum Einstieg ein historisches Beispiel an, bei dem ein alter Mann seine Beziehung zu Pflanzen entdeckt: Jean Jaques Rousseau wurde nämlich in seinem Alter ein ausgesprochener Pflanzenliebhaber und wohl auch -kenner. In seinen „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“ schwärmt er: Anstatt mit traurigem Papierkram und all diesen Scharteken füllte ich mein Zimmer mit Blumen und Heu, denn ich befand mich in meiner ersten Begeisterung für die Botanik (Rousseau 1783, S. 84). Nichts ist sonderbarer als das Entzücken, die Begeisterung, die ich jedesmal empfand, wenn ich eine Beobachtung über den Bau und die Organisation des Pflanzenreiches und die Wirkungsweise der Geschlechtszellen bei der Befruchtung machte (Rousseau 1783, S. 85).

Rousseau entwickelt bei dieser „Grille“ – wie er sagt – Gedanken, die unseren psychologischen Überlegungen, welchen Wert und welche Funktion Pflanzen für Kinder haben, als Ausgangspunkt dienen können. Er mutmaßt, dass das Tierreich uns „näher liegt“ und insofern auch eher verdient, erforscht zu werden. Doch beobachtet Rousseau im mensch-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Gebhard, Kind und Natur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21276-6_12

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12 Kinder und Pflanzen

lichen Verhältnis zu Pflanzen bemerkenswerte Züge; Pflanzen seien nämlich geeignet, Geist, Seele und Sinne des Menschen zu beleben: Die Bäume, die Sträucher, die Pflanzen sind der Schmuck und das Kleid der Erde. Nichts ist so traurig wie der Anblick eines nackten, kahlen Feldes, das dem Auge nichts als Steine, Lehm und Sand zeigt. Doch belebt von der Natur […] bietet die Erde […] den Menschen ein Schauspiel voller Leben und Zauber, welches den Geist fesselt, das einzige Schauspiel auf der Welt, das sein Auge und sein Herz nie ermüdet (Rousseau 1783, S. 117).

Die Phantasie, die Lust an den Dingen und auch am Leben wird Rousseau zufolge durch die Beziehung zu Pflanzen (wieder) aktiviert: „Liebliche Blumen, Glanz der Wiesen, erquickende Schatten, Bäche, Büsche, grüner Rasen kommt und läutert meine Einbildungskraft“ (Rousseau 1783, S. 127). Und aus dieser Begeisterung, aus dieser seelischen Belebung, erwachse dann auch – didaktisch besonders interessant – ein botanisches Interesse: Angezogen von den reizenden Gegenständen um mich her, betrachte ich sie, beobachte und vergleiche ich sie, lerne sie schließlich einteilen und werde plötzlich so sehr zum Botaniker, wie derjenige es sein muß, welcher die Natur nur deshalb erforschen will, um unaufhörlich neue Gründe zu finden, sie zu lieben (Rousseau 1783, S. 127).

12.1 12.1

Das Interesse von Kindern an Pflanzen Das Interesse von Kindern an Pflanzen

Folgt man Erfahrungen und auch vereinzelten Untersuchungen aus dem Schulbereich und aus dem Kindergarten (Margadant-van Arcken 1989), haben Kinder nur ein nachgeordnetes Interesse an Pflanzen, und auch die von Rousseau so gerühmte Schönheit der Pflanzen bleibt ihnen verschlossen. Das scheint auch kein neues Phänomen zu sein; bereits eine sehr alte amerikanische Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass Kinder Pflanzen bestenfalls als Geschenke oder Dekorationen begreifen (Isaacs 1930). Es gibt eine Reihe von empirischen Studien, die zeigen, dass zumindest bei Grundschulkindern Tiere auf weitaus mehr Interesse stoßen als Pflanzen. Nach der Untersuchung von Danneel (1977) ist die Zoologie von allen Wissensgebieten, die in der Grundschule (im Sachunterricht) gelehrt werden, das beliebteste, Botanik ist am unbeliebtesten: Zoologie 31 %, Geschichte 24 %, Erdkunde 23 %, Technik 25 %, Botanik nur 7 % (Danneel 1977, S. 314). Die Beschäftigung mit Pflanzen scheint bei nur wenigen Kindern ein besonderes Interesse zu erwecken. Das bestätigen auch die Untersuchungen von Finke et al. (1999), Hesse (1999), Ruppolt (1967), Löwe (1977, 1992), Lazarowitz/Hertz-Lazarowitz (1979). Fünftklässler wollen zu 66 % etwas über Tiere, zu 50 % über den Menschen, jedoch nur 31 % etwas über Pflanzen wissen (Kögel et al. 2000). Typische Äußerungen: „An der Pflanze ist nichts zu beobachten.“ „Die Pflanzen stehen nur rum.“ (Kögel et al. 2000, S. 40) Ruppolt (1967) stellte in einer Schülerbefragung (7./8. Klasse; n=89) fest, dass sich nur 9 % für Pflanzenkunde interessieren. Einige Begründungen der Schülerinnen und Schüler:

12.1 Das Interesse von Kindern an Pflanzen

243

Wenn man eine Pflanze ansieht, so ist es uninteressant. Sie tut überhaupt nichts. Sie ist nur ein steifer Gegenstand, der aus der Erde ragt. Außerdem ist die Pflanze dem Menschen viel unähnlicher als ein Tier. Viele Pflanzen sehen zwar äußerlich schön aus, doch kann ihre Schönheit nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie „tote Lebewesen“ sind. Ich finde es fast langweilig, daß die meisten Pflanzen fast nur an einem Ort stehen und nur ihre obere Hälfte bewegen können. (Beispiele aus Ruppolt 1967, S. 366)

Dylla (1973) bestätigt diese Tendenz für Schülerinnen und Schüler der 5. und 6. Klasse. Die Unterrichtseinheiten „Blätter und Verdunstung“ und „Umfärbung und Laubfall“ erfreuten sich bei den Lernenden keiner großen Beliebtheit. Dabei wurde der deskriptivmorphologische Aspekt als besonders „langweilig“ und „altmodisch“ eingestuft. Dylla vermutet, dass die Betonung vor allem dieses Aspekts im traditionellen Biologieunterricht die geringe Motivierung, sich mit Pflanzen zu befassen, zumindest beeinflusst hat. Dagegen werden nämlich die mikroskopisch-anatomischen und vor allem die analytisch-physiologischen Aspekte von den Schülerinnen und Schülern besser bewertet. Diese äußerten sich dahingehend, sie hätten zwar gegen die Pflanzenkunde ein Vorurteil (gehabt), die (physiologischen) Versuche seien jedoch „klasse“ gewesen. Dass das Interesse an Pflanzen auch sehr viel mit der Art und Weise der Beschäftigung damit zu tun hat, zeigt eine Reihe von Untersuchungen (z. B. Tessartz/Scheersoi 2019, Klein 1990, Löwe 1992). Danach hängt das Interesse an Pflanzen in ausgesprochener Weise von der Form des Unterrichts (Sozialform, Möglichkeit zu Tätigkeit) ab. Auch Löwe (1992) stellte eine geradezu deutliche Interessenzunahme an pflanzenkundlichen Themen in der Grundschule fest, was aber eben deutlich mit einem entsprechend motivierenden Unterricht über Pflanzen (Samenkeimung, entdeckendes Lernen) zusammenhängen dürfte. Jedenfalls konnte in Kontrollklassen, die sich nicht mit Pflanzen beschäftigt haben, keine Interessenzunahme im pflanzenkundlichen Bereich festgestellt werden. Jedoch geht auch Löwe davon aus, dass die Schülerinnen und Schüler an Tieren – im Gegensatz zu Pflanzen – bereits von selbst so stark interessiert sind, dass eine positive Veränderung kaum noch möglich ist. Das Interesse an Pflanzen ist zunächst so gering, dass es sich durch motivierenden Unterricht eben positiv beeinflussen lässt. Das Interesse an Pflanzen nimmt dann jedoch im Alter von 7 bis 13 Jahren fast stetig ab (Löwe 1992). Jüngere Kinder scheinen sich also noch mehr für Pflanzen zu interessieren als ältere. Das entspricht auch Ergebnissen einer umfangreichen Untersuchung von Todt (1977), in der er nahezu 10 000 Schülerinnen und Schüler von Klasse 5 bis 9 nach ihren Interessen befragte. Das Interesse an Pflanzenkunde ist danach besonders bei Jungen bereits in der 5. Klasse sehr gering und nimmt danach noch weiter ab. Hier ist eine interessante Geschlechtsspezifik zu beobachten: Mädchen haben ab dem 8. Lebensjahr signifikant höhere pflanzenkundliche Interessen. Auch beim Obst- und Gemüseanbau ist das Interesse der Mädchen höher (Bickel/Bögeholz 2013). Das entspricht einem früheren Befund von Busemann (1955, S. 79), wonach beim sogenannten „Aufzähltest“ die Mädchen mehr Pflanzen und die Jungen mehr Tiere genannt haben. Diese Geschlechtsspezifik (vgl. 243

244

12 Kinder und Pflanzen

Tessartz/Scheersoi 2019) wird übrigens noch deutlicher, wenn man die unterschiedliche Beschäftigung mit Pflanzenpflege betrachtet (s. u.). Barker (1998) zeigt zum einen das geringe Interesse an Pflanzen bei 8- bis 17-jährigen Schülerinnen und Schülern und – wohl damit zusammenhängend – den geringen Kenntnisstand. So sind Kinder oft der Meinung, dass das Wasser in der Pflanze bleibt, weil sie nicht sehen, dass es verdunstet. Häufig ist auch die Meinung vertreten, dass Pflanzen mit den Blättern Wasser aufnehmen, weil die Pflanzen im Garten von oben gesprengt werden. Brämer (2006) zufolge hat sich zudem das Interesse von Jugendlichen am Bestimmen von Pflanzen gegenüber 1997 von 40 % auf 20 % halbiert. Entsprechend geringe Kenntnisse von Pflanzennamen werden auch durch weitere Untersuchungen bestätigt (Hesse 2002), unabhängig von Schulform und Alter (Grundschule bis 7. Klasse). In einer aktuellen Studie (Tessartz/Scheersoi 2019) zeigt sich, dass sich bezüglich des Pflanzeninteresses kaum etwas geändert hat, auch, was die Geschlechtsspezifik angeht. In einer Kombination von qualitativen und quantitativen Zugängen zeigt sich, dass Pflanzen einen eher geringen Aufforderungscharakter haben. So äußert ein 12-jähriger Schüler: „Die meisten Pflanzen, wenn nicht der Wind weht, sind eigentlich immer ganz ruhig. Und da bin ich jetzt nicht der Typ, der dahin geht und sich riesig dafür interessiert“ (Tessartz/Scheersoi 2019, S. 13). Sogar Bäume sind wegen ihrer Alltäglichkeit nicht sonderlich interessant, was sich allerdings ändert, wenn es um praktische und v. a. erkundende Tätigkeiten geht. Die Beschäftigung mit Flugfrüchten beispielsweise wurde als interessanter wahrgenommen. Zusätzlich gibt es allerdings besondere Pflanzen, die die Aufmerksamkeit erreichen. Zuallererst ist hier (v. a. bei den Jungen) die Venusfliegenfalle als fleischfressende Pflanze zu nennen, bei den Mädchen ist der Kirschbaum noch wichtiger. Es folgt die Sonnenblume: „Die sind so fröhlich. Ich mag gelb voll gerne“ (weiblich, 13 Jahre, Tessartz/Scheersoi 2019, S. 14). Interessanterweise ist auch Gras interessant, und zwar wegen des Fußballspielens. Fichte, Linde und Farn sind langweilig: „Farn macht nichts. Der ist weder besonders schön noch kann man damit irgendetwas anfangen“ (männlich, 13 Jahre, Tessartz/Scheersoi 2019, S. 16). Für das Interesse bedeutsam sind nach dieser Studie die Ungewöhnlichkeit wie bei der geradezu als tierähnlich interpretierten Venusfliegenfalle und die Ästhetik wie z. B. beim Kirschbaum. Dabei können Farben eine Rolle spielen (Strgar 2007). Auch persönliche Bezüge und besondere Alltagserlebnisse sind bedeutsam (Scheersoi 2015). Zudem kann der Nutzen von Pflanzen das ansonsten geringe Interesse an Pflanzen befördern. Bäume erscheinen dann auch wegen ihrer ökologischen Bedeutung interessant (Krosnick et al. 2018). Sehr zugespitzt charakterisieren Wandersee und Schussler (1999) insgesamt die Unkenntnis verbunden mit dem Desinteresse an Pflanzen als „plant blindness“. Dabei wird diese „Blindheit“ mit einem diesbezüglichen Wahrnehmungsdefizit begründet, der viele Menschen Pflanzen nicht mehr umfassend wahrnehmen lässt, wobei allerdings der Einfluss auf Artenkenntnis und v. a. Einstellungen uneinheitlich zu sein scheint (Fancovicova/ Procop 2011). So werden nach einer Studie von Lindemann-Matthies (2005) Pflanzen leicht übersehen und stellen gewissermaßen nur den Lebensraum von „lovable animals“ dar. Auch ist das Essen auf unseren Tischen oft mental losgelöst von seinem pflanzlichen

12.1 Das Interesse von Kindern an Pflanzen

245

Ursprung (Schneekloth 1989). Auf der anderen Seite spricht Wandersee sogar von einem sogenannten „botanical sence of place“. Das geringe Interesse an Pflanzenkunde muss natürlich vor dem Hintergrund gesehen werden, dass überhaupt die naturwissenschaftlichen Fächer, also die Beschäftigung mit Naturphänomenen, mit zunehmendem Alter unattraktiver zu werden scheinen, jedenfalls was ihre schulische Behandlung angeht. Insgesamt können die dargestellten empirischen Ergebnisse von vielen Pädagogen bestätigt werden und sie sind sicherlich unzweifelhaft, soweit es das kognitive Interesse an Pflanzen betrifft. Zusätzlich eignen sich in der Tat Pflanzen auch nicht so gut dazu, mit ihnen zu spielen. Beispielsweise findet Peter aus einer von mir erhobenen Fallstudie (Gebhard 1993) den Umgang mit Pflanzen eben „langweilig“. Seiner Meinung nach kann man mit Pflanzen „nichts machen“, „weil sie dann kaputtgehen“. Für die Einschätzung des Interesses an Pflanzen sind auch Informationen darüber bedeutsam, welchen inhaltlichen Begriff Kinder von Pflanzen haben. Für Carey (1985) ist – wie bereits erwähnt – der zentrale Bezugspunkt für den Tier- wie den Pflanzenbegriff der Vergleich zum Menschen. Zum Pflanzenbegriff gehört auch die Frage, ob, wann und in welcher Weise Kinder Pflanzen als Lebewesen begreifen (siehe ausführlich Kapitel 12.2). Klemm (1974) geht in einer Untersuchung der Frage nach, welchen Pflanzenbegriff Kinder der 2. Klasse und der 6. Klasse haben. Unter Pflanzen verstehen Kinder des 2. Schuljahres vorwiegend „Blumen“, nur 28 % rechnen auch die Holzgewächse dazu. Zu völlig analogen Ergebnissen kommt auch die Studie von Scherf (1988): Vorwiegend bestimmen die Blütenpflanzen das Pflanzenbild. Das ist bei älteren Kindern anders: Immerhin 80 % der 12-jährigen Schülerinnen und Schüler rechnen Holzgewächse zu den Pflanzen. Die folgende Tabelle zeigt, welche Objekte von den Schülerinnen und Schülern nicht als Pflanzen bezeichnet werden. Den Lernenden wurden Abbildungen vorgelegt mit der Aufgabe, die Bilder auszusortieren, auf denen keine Pflanzen abgebildet sind. Tab. 12.1

Untersuchung zum Pflanzenbegriff (nach Klemm 1974, S. 156) (Erläuterung im Text)

Pilze Moos Getreide Bäume Gras Astern und Rosen in der Vase Seerosen und Teichrosen Schnecken

2. Klasse N 27 21 17 21 15 6 5 34

(N=34) % 80 62 50 62 44 18 15 100

6. Klasse N 21 16 11 6 4 4 4 39

(N=39) % 54 41 28 15 10 10 10 100

245

246

12 Kinder und Pflanzen

Die Tabelle zeigt, wie sehr die jüngeren Kinder Pflanzen noch mit Blumen identifizieren. Moos, Getreide, aber auch Bäume und Gras werden erstaunlich oft nicht als Pflanzen begriffen. Bei Pilzen verwundert dies nicht so sehr. Pflanzen sind in der Vorstellung von Kindern zumindest auch ästhetische und dekorative Dinge aus der Welt der Erwachsenen. Das wird sicherlich auch ihr Interesse inhaltlich beeinflussen. Im 6. Schuljahr entspricht der Pflanzenbegriff weitgehend dem der Erwachsenen. Vor allem werden jetzt Bäume eindeutig zu den Pflanzen gezählt. In beiden Altersgruppen bestimmen die verbreitetsten Garten- und Schnittblumen das Pflanzenbild. Am häufigsten werden genannt: Tulpen, Rosen, Nelken, Stiefmütterchen, Maiglöckchen und Sonnenblumen. Pflanzen kennen die Schülerinnen und Schüler vorwiegend durch die Vermittlung von anderen Menschen. Ein privater Garten und die Zimmerpflanzen der Wohnung sind insofern die Hauptquellen für den Erwerb von Pflanzenkenntnissen (vgl. Johannsmeier 1985); Parks oder auch grünes Brachland spielen nur eine untergeordnete Rolle. Die Untersuchung von Klemm aus dem Jahre 1974 wurde 2007 wiederholt und zeigt in etwa die gleichen Ergebnisse: Pflanzen sind für Zweitklässler vor allem Garten- und Schnittblumen, weniger Pilze, Getreide und Moose. Das Wissen über Pflanzen haben die Kinder „aus dem familiären Umfeld erworben“ (Gabriel 2007, S. 48). Nur im Hinblick auf Bäume scheint sich etwas geändert zu haben. Während bei Klemm noch 62 % der befragten Zweitklässler Bäume nicht zu den Pflanzen zählten, sind es im Jahre 2007 weniger, aber immerhin noch 27 % (Gabriel 2007). In einer Studie zur Frage, wie Schülerinnen und Schüler Pflanzen ordnen (Krüger/Burmester 2005), wird ebenfalls die Wuchsform als zentrale Kategorie für die Betrachtung von Pflanzen herausgestellt. Ähnlich wie auch in der Untersuchung von Dougherty (1979) sind danach bei Kindern der 4. und auch noch der 6. Klasse große holzige Pflanzen „Bäume“, und kleine, krautige Pflanzen werden als „Pflanzen“ bezeichnet (vgl. auch Tunnicliffe/Reiss 2000). Auch bei Scherf (1988) lernen Kinder Pflanzennamen vorwiegend im „familiären Kreis“. Klee und Berck (1990) dagegen zeigen in einer Befragung von Erwachsenen, dass v. a. die eigene Erfahrung von Natur, und zwar im Kindes- und Jugendalter, das Interesse an Pflanzen und auch das Bedürfnis beziehungsweise die Kompetenz, sie zu benennen, bedingt. Eltern, Verwandte und Freunde spielen demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle. Bemerkenswert ist, dass die Schule im Hinblick auf Erfahrungen mit Pflanzen in beiden Altersgruppen nahezu unbedeutend ist. Nach neueren Befunden können allerdings die Eltern (jedenfalls mehr als die Schule) durchaus einen positiven Einfluss auf das Interesse an Pflanzen nehmen (Upmeier zu Belzen 2002). In Gesprächen mit Grundschulkindern von Hofmeister et al. (1982) zeigt sich, dass viele Kinder denken, Pflanzen wären herstellbar, auch wenn in diese Annahme viele biologische Detailkenntnisse eingeflochten werden. Da macht man in die Erde ein Loch, tut den Samen rein, macht das Loch wieder zu, gießt jeden Tag Wasser drauf und dann entwickelt sich eine Blume. (4. Klasse)

12.2 Zur Lebendigkeit von Pflanzen in der kindlichen Vorstellung

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Viele Kinder denken darüber nach, wie Samen und überhaupt Pflanzen entstanden sein können; dabei wird deutlich, dass die Annahme der Herstellbarkeit leicht ins Wanken geraten kann. „Wie entsteht eine Pflanze?“ – „Mit einer Blumenzwiebel.“ – „Woher habt ihr die Blumenzwiebel?“ – „Gekauft.“ – „Wo kauft ihr die?“ – „Im Blumengeschäft.“ – „Wo hat sie der Mann, der sie verkauft, her?“ – „Von einer anderen Blume.“ – „Und woraus ist die Blume entstanden?“ – „Von einem Korn.“ – „Woraus ist die erste Blume entstanden?“ – „Auch aus einem Korn.“ – „Und das erste Korn?“ – „Weiß ich nicht.“ (1. Klasse) „Die Blume kann man nicht selber machen. Wir haben zu Hause viele Blumen im Wohnzimmer, die waren erst alle so klein und dann wurden sie immer größer. Papierblumen kann man selber machen.“ (1. Klasse) „Die Blume kann man nicht selber machen. Da muß man die ja auseinandernehmen und vorsichtig wieder zusammensetzen, das hält ja nicht mehr.“ (4. Klasse) (Beispiele aus Hofmeister et al. 1982) Diese Beispiele zeigen, dass bereits Grundschulkinder durchaus auch biologische Kenntnisse über Pflanzen haben, was ja angesichts der Bemühungen des Sachunterrichts auch nicht verwunderlich ist. Allerdings ist wohl der Pflanzenbegriff, auf den diese biologischen Details treffen, nicht identisch mit dem erwachsenen oder zumindest nicht mit dem der Botanik. Möglicherweise liegt in dieser Diskrepanz ein Grund für das Desinteresse von Kindern an der Pflanzenkunde. Ein wichtiger Aspekt des Pflanzenbegriffs ist – darauf wurde oben schon verwiesen – die Frage, ob Pflanzen in der kindlichen Vorstellung eigentlich Lebewesen oder leblose Dinge, bestenfalls Spielzeug sind. Diese Frage wird in einem anderen Zusammenhang noch einmal im Kapitel über die kindlichen Vorstellungen vom Tod (siehe Kapitel 13) behandelt, im Folgenden werden jedoch bereits einige Ausführungen über die „Lebendigkeit von Pflanzen“ aus Sicht der Kinder angeschlossen.

12.2 Zur Lebendigkeit von Pflanzen in der kindlichen Vorstellung 12.2

Zur Lebendigkeit von Pflanzen in der kindlichen Vorstellung

In dem oben genannten Beispiel werden Pflanzen als „tote Lebewesen“ bezeichnet. Das ist eine recht treffende Formulierung, die den unsicheren Status von Pflanzen in der kindlichen Vorstellung charakterisiert. Nach Hansen (1968, S. 136) betrachten Kinder bis in die Grundschulzeit hinein Pflanzen nicht als Lebewesen, eher als Spielzeug. Kinder könnten mit Pflanzen nicht wie mit einem Gegenüber eine Beziehung aufnehmen, auch sich nicht mit einer Pflanze identifizieren. Hansen meint, während Tieren eher „zuviel“ an Lebendigkeit (wegen anthropomorpher Überinterpretation) zugesprochen werde, werde Pflanzen „zu wenig“ Lebendigkeit attestiert (vgl. auch Plötz 1970, S. 34f.). Die Pflanze wird vielfach

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als unlebendiges Objekt wie andere Dinge angesehen. Auch Piaget glaubt, dass sich das Bewusstsein der Lebendigkeit von Pflanzen erst relativ spät ausbildet: Ein 7jähriger: Ist eine Eidechse lebendig? – Ja. – Ein Nagel? – Nein. – Eine Blume? – Nein. – Ein Baum? – Nein. (Piaget 1978, S. 160) Ob Kinder Pflanzen als lebendig ansehen oder nicht, hängt natürlich mit dem kognitiven Konzept bezüglich des Unterschiedes zwischen lebendig und tot zusammen (siehe Kapitel 13.2). Je nachdem, in welchem Stadium sich die Kinder befinden (nach Piaget: 1. Leben ist Aktivität, 2. Leben ist Bewegung, 3. Leben ist autonome Bewegung, 4. das erwachsene Konzept von Leben und Tod), werden sie Pflanzen als lebendig einstufen oder nicht. Das ist nicht nur eine Funktion des Alters, sondern auch eine der kognitiven Entwicklung. Sehr deutlich zeigt das ein Experiment (Carey 1985, S. 33), in dem gezeigt wird, dass zumindest bei jüngeren Kindern das Urteil, ob Pflanzen lebendig sind, deutlich davon abhängt, ob sie denken, dass alles lebendig ist, was in irgendeiner Weise aktiv ist, oder ob sie denken, dass nur das lebendig ist, was über autonome Beweglichkeit verfügt. Carey befragte jüngere Kinder (4-7 Jahre) und 10-jährige Kinder nach ihren Urteilen über die Lebendigkeit von Pflanzen. Nach ihren Beobachtungen verläuft die Entwicklung so, dass Pflanzen von den jüngeren Kindern zunächst für lebendig gehalten werden (eben in dem Maße, wie alles für lebendig/beseelt angesehen wird, vgl. Kapitel 4), dass ihnen dann das Leben aber wieder abgesprochen wird. Schließlich – wahrscheinlich durch konkrete Erfahrungen – stufen sie Pflanzen wieder als lebendig im biologischen Sinne ein. Nach den Experimenten von Carey denken alle 10-Jährigen, dass Pflanzen lebendig sind. Zu ähnlichen Befunden kommt auch eine phänomenologische Studie von Margadant-van Arcken (1989): Erst mit 10 Jahren haben Kinder eine stabile Vorstellung davon, dass Pflanzen „wirklich lebendige Natur“ sind. In der Zwischenstufe sind Pflanzen nicht nur nicht lebendig (wie Tiere), ihnen werden auch grundlegende biologische Bedürfnisse oder Eigenschaften abgesprochen (Hunger, Krankheit u. ä.). Tiere und Pflanzen sind nach Carey in der kindlichen Welt völlig unterschiedliche ontologische Kategorien, die (noch) nicht zur Kategorie „Lebewesen“ zusammengefasst sind. Pflanzen werden bis in die Schulzeit hinein noch als sozusagen „dinghafte Wesen“ aufgefasst, die beispielsweise auch keine Identität besitzen: Sie können in der kindlichen Vorstellungswelt durch instrumentelle Eingriffe in andere Arten umgewandelt werden (vgl. Carey 1985, S. 184). Die zielgerichtete Bewegung ist nach Untersuchungen von Opfer und Gelman (2001) ein entscheidendes Kriterium für die Zuweisung von Lebendigkeit. So sehen 10-Jährige und Erwachsene Tiere und Pflanzen als teleologische Objekte an und klassifizieren sie dementsprechend als Lebewesen. Dagegen sprechen Fünfjährige v. a. den Tieren diese Fähigkeit zu, zum Teil auch Maschinen. Dieser Unterschied wird nicht auf die kognitive Leistung der älteren Kinder oder der Erwachsenen zurückgeführt, sondern auf deren Wissen (Opfer 2002). Den älteren Kindern sei nämlich inzwischen gelehrt worden, dass sich Pflanzen auf Licht oder Wasser zubewegen können.

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4- bis 11-jährige Kinder wurden im Hinblick auf ihren Begriff von „Samen“ befragt (Jewell 2002). Es zeigt sich, dass v. a. bezüglich der Lebendigkeit und der Pflanzenzugehörigkeit erhebliche Unsicherheiten bestehen. Nur etwa die Hälfte der Kinder bis zu acht Jahren erachten Samen als lebendig, die 11-Jährigen zu 75 %. Für die jungen Kinder gehören Samen auch nicht zu den Pflanzen, bei den 11-Jährigen wissen dies 75 %. Im Unterschied zu den dargelegten Befunden nimmt Keil (1991) an, dass sich biologisches Wissen von Anfang an sowohl auf Tiere als auch auf Pflanzen bezieht. Im Rahmen seiner Theorie vom angeborenen intuitiven Wissen bezüglich Biologie und Lebendigkeit (siehe Kapitel 10.2) ist diese Annahme zwar folgerichtig, steht jedoch im Widerspruch zu vorliegenden empirischen Befunden (Stavy/Wax 1989, Huang/Lee 1945). Dabei spielt möglicherweise eine Rolle, dass sich Menschen und Pflanzen kaum ähnlich sind (Carey 1985) und dass sich Pflanzen (zumindest in der Regel) nicht sichtbar bewegen können. Damit fehlt ein wesentliches Merkmal für die Zuweisung von Lebendigkeit (Mandler 1992, Richards/Siegler 1984, 1986). Zumindest gibt es bis zu etwa zehn Jahren eine Unsicherheit über die Lebendigkeit und die Eigenschaften von Pflanzen. Die Lebendigkeit von Pflanzen ist bis zum Ende der Grundschulzeit unsicher (Hatano et al. 1993). Nach Untersuchungen von Hanato und Ingaki (1994) nehmen Pflanzen beispielsweise für Schulanfänger eine Art Zwischenstellung ein; Pflanzen werden zwar durch die Kriterien Wachstum und Nahrungsaufnahme von unbelebten Gegenständen abgegrenzt, aber nicht eindeutig als Lebewesen eingeschätzt. Dieselben Autoren berichten allerdings von Untersuchungen, nach denen bereits Vierjährige Tiere und Pflanzen als Lebewesen charakterisieren und wichtige Merkmale erkennen. Die Kinder wurden befragt, ob und inwieweit bestimmte Attribute, die sie von sich selber kennen (Wachsen, Atmen, Essen, Krankheit) auch auf Tiere (Eichhörnchen, Krokodil, Grashüpfer) und Pflanzen (Tulpe, Löwenzahn, Kiefer) und unbelebte Objekte (Stein, Stift, Stuhl) zutreffen. Die Ergebnisse zeigen, dass bereits Vorschulkinder überwiegend die richtigen Zuordnungen vornehmen können und zwar auch für Pflanzen. Danach gibt es einen Begriff von „Leben“, der die Pflanzen mit einbezieht und sich auch auf mehrere Kennzeichen des Lebendigen bezieht. Nach einer weiteren Studie (Hickling/Gelman 1995) wissen Kinder dieses Alters beispielsweise auch um den Zusammenhang von Pflanze, Same und Frucht. So kann ein Samenkorn nicht nur deshalb keimen, weil es das will: „Pflanzen können nicht denken.“ Nach einer Studie von Margett und Witherington (2011) dagegen schreiben 3- bis 5-jährige Kinder Pflanzen weniger häufig die Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme zu als Tieren. Damit erscheinen ihnen Pflanzen weniger lebendig als Tiere. Bei den Untersuchungen von Bitter (2015) an Vorschulkindern wird herausgestellt, dass die Wurzeln als ein wichtiges Attribut der Lebendigkeit angesehen werden. Danach lebt ein Baum, weil er mit den Wurzeln das Wasser aus dem Boden saugen kann (Bitter 2015, S. 112). Ein weiteres wichtiges Attribut ist das Wachstum. Bei Blumen wird zudem häufig die Blüte genannt, außerdem der „Saft“, weil er in Analogie zum menschlichen Blut interpretiert wird. Auch bei Bitter wird insgesamt die Bewegung als das dominante Konzept für Lebendigkeit herausgestellt. Das geht sogar so weit, dass Pflanzen, die als lebendig angesehen werden, auch Bewegung unterstellt wird, z. B. die Bewegung von Baumästen im 249

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Wind (vgl. Bitter 2015, S. 120). Insgesamt gibt es eine große Unsicherheit hinsichtlich der Lebendigkeit von Pflanzen: Tiere werden zu 100 % als lebendig charakterisiert, Pflanzen dagegen nur zu 34 % und nicht lebende Objekte zu 93 % als nicht lebendig (Bitter 2015, S. 84). Die (biologischen) Todesvorstellungen im Hinblick auf Pflanzen wurden von Nguyen und Gelman (2002) bei 4- bis 6-jährigen Kindern differenziert untersucht. Sechsjährige haben danach ähnlich wie auch Erwachsene bereits ein Verständnis vom Tod: Sie wissen, dass der Tod allgemeingültig ist, zwangsläufig und endgültig und kennen auch die Ursachen für den Tod. Vierjährige dagegen sind bei der Universalität und Endgültigkeit unsicher (siehe ausführlich Kapitel 13.2). Bei Pflanzen gibt es einige zusätzliche interessante Befunde: So wissen zwar Sechsjährige, dass Blumen und Bäume sterben, bei Gras allerdings sind sie unsicher (vgl. Bitter 2015, S. 122). Das gilt interessanterweise auch für Erwachsene. In allen Altersstufen wird angenommen, dass der Tod einer Blume endgültiger sei als der von Gras. Auch wird geglaubt, dass Bäume und Blumen eher an Krankheiten sterben können als Gras. Auf jeden Fall sind nach Nguyen und Gelman (2002) Pflanzen auch schon für vierjährige Kinder lebendig: So können Pflanzen sterben, artifizielle Dinge jedoch nicht. Allerdings ist das entsprechende Urteil im Hinblick auf Tiere sicherer. Das ist nicht überraschend. Pflanzen stellen eben eine Herausforderung für Kinder dar: Einzelne Pflanzen sind fähig, über Jahrhunderte zu leben; einzelne Teile einer Pflanze können sterben. Zudem erscheinen Pflanzen im Winter leblos und erblühen im Sommer. Die Befundlage zur Lebendigkeit von Pflanzen kann also insgesamt noch als uneinheitlich gekennzeichnet werden. Auf den Punkt bringt die Unsicherheit bezüglich der Lebendigkeit von Pflanzen eine Oberstufenschülerin: „Eine Pflanze würde man im weiteren Sinne nicht als Lebewesen bezeichnen, sondern … als Lebendiges, aber nicht als Lebewesen, weil ein Wesen immer Charakter oder einen Willen voraussetzt“ (Brookmann 2000, S. 136). Bäume scheinen, wie bereits erwähnt, eine Ausnahme zu sein, jedenfalls werden sie früher als andere Pflanzen als Lebewesen charakterisiert (Klingberg 1957). Die Erkenntnis der Lebendigkeit von Pflanzen erwächst Kindern wohl am ehesten, wenn sie konkrete Erfahrungen mit dem Wachsen von Pflanzen machen können. Auch das Aussähen von Pflanzen bei Gartenarbeit setzt gewissermaßen voraus, dass Pflanzen als lebendig angesehen werden (Benkowitz 2014). Wachstum ist ein zentrales Kriterium für Lebendigkeit; das gilt für Tiere und Pflanzen gleichermaßen. Bereits 3- bis 5-jährige Kinder wissen, dass Pflanzen und Tiere wachsen, nicht jedoch Artefakte (Bitter 2015, S. 105, Inagaki/Hatano 1996, Rosengren et al. 1991). So denkt auch in der bereits benannten Fallstudie (Gebhard 1993) der siebenjährige Peter darüber nach, ob seine Feuerbohnen leben. Nachdem er sich mit ihnen wochenlang beschäftigt hat, kommt er zu dem Ergebnis: „Die sind lebendig – weil – die wachsen ja auch.“ Das Wachstum der Pflanzen wird oft geradezu zum Kriterium der Lebendigkeit gemacht, wie ein Beispiel aus Hofmeister et al. (1982) deutlich zeigt: Pflanzen, die wachsen auch. Wenn die nicht wachsen würden, dann würden die auch nicht lebendig sein. – Und wir haben zu Hause auch eine große Blume; die wächst, die wächst und wächst, bis sie platzt.

12.3 Die emotionale Bedeutung von Pflanzen

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Achtjährige finden es Gabriel (2007) zufolge geradezu „unverschämt“, den Pflanzen Leben abzusprechen: „Die leben, die haben ja auch ein Leben.“ Entscheidend dafür ist Nahrungsaufnahme, Laubfall und vor allem Wachstum. Und die wachsen ja auch, also müssen die ja leben. – Wenn sie wachsen, müssen sie ja leben. – Stimmt. – Es gibt ja keinen, der sie von unten immer hoch drückt. Nee, eben. (Gabriel 2007, S. 62)

12.3 Die emotionale Bedeutung von Pflanzen 12.3

Die emotionale Bedeutung von Pflanzen

Viele Kinder kümmern sich in irgendeiner Weise um Pflanzen. Nach Klemm (1974) waren bereits im zweiten Schuljahr 60 % der Mädchen und 50 % der Jungen mit Pflanzenpflege befasst, wobei folgende Einzeltätigkeiten genannt wurden: Gießen, Ein- und Umpflanzen, Umgraben, Blüten oder Blätter abschneiden, Pflanzen umstellen. Das Gießen ist natürlich bei den 8- bis 9-Jährigen die häufigste Tätigkeit, während die 11- bis 12-Jährigen dieser Untersuchung gemäß bereits regelmäßig und besonnen ihre Pflanzen pflegten. Besonders interessant ist, dass sich der Vorsprung der Mädchen in dieser Hinsicht deutlich vergrößerte; die älteren Mädchen waren weitaus häufiger und auch intensiver mit Pflanzenpflege befasst – ein weiterer Hinweis darauf, dass auch die Beziehung zu Pflanzen geschlechtsrollenspezifischer Sozialisation unterliegt (vgl. auch Pohl 2006). Auch verfügen Mädchen über bessere Pflanzenkenntnisse als Jungen (Bögeholz 1999, S. 88, Pohl 2006). Jungen kennen dagegen mehr Tiere. Bemerkenswert ist, dass auch Pflanzen (ähnlich wie Heimtiere) bei längerer Beschäftigung und Pflege durchaus individuelle Charakterzüge für die Pflegeperson erhalten. Vor allem bei älteren Kindern beobachtete Klemm in dieser Beziehung animistische Tendenzen (vgl. die allgemeinen Ausführungen zu Anthropomorphismen in Kapitel 4). Überhaupt ist es wohl so, dass v. a. solche Menschen Pflanzen haben, für die die Pflege von Lebendigem ein wichtiges Bedürfnis ist (vgl. Krampen 1982, S. 43). Dieses Bedürfnis gibt es wohl schon in der Kindheit; dass es allerdings auch schon hier bei Mädchen ausgeprägter sein soll, ist immerhin bemerkenswert. Bereits Heinrich Roth (1961) betont, dass über die Hälfte der zehnjährigen Kinder den Wunsch hat, Tiere und eben auch Pflanzen zu besitzen und zu pflegen. Roth begrüßt diesen kindlichen Wunsch sehr und hält seine Erfüllung für eine „notwendige pädagogische Kontrastbildung“ (Roth 1961, S. 119) angesichts der zunehmend technisierten verstädterten Umwelt. Im Übrigen hat bereits Comenius einen Schulgarten angelegt, und auch Pestalozzi und Fröbel hielten ihn für sinnvoll, um den „Fleiß der Schüler zu üben“. Winkel (1985) akzentuiert das „Pflegerische“ sogar als zentrale Erziehungsidee und räumt somit dem „Pflegen und Hegen“ eine Schlüsselrolle in einer ökologisch orientierten Erziehung ein. Freilich ist das Pflegen von Pflanzen dann ein hoffnungsloses und illusionäres pädagogisches Konzept, wenn es verordnet wird und nicht an entsprechende Bedürfnisstrukturen 251

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12 Kinder und Pflanzen

der Kinder anknüpfen könnte. Genau von dieser Prämisse geht Winkel (1984) jedoch aus, wenn er programmatisch formuliert: „Kinder brauchen Gärten.“ Die Schulgartenarbeit ist inzwischen ein sehr etabliertes Konzept (Lehnert 2018, Lehnert et al. 2016) und berücksichtigt in ausgesprochener Weise die motivationale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und auch das Bildungsziel einer nachhaltigen Entwicklung (Walder 2002). Benkowitz (2014) führte eine Längsschnittstudie über 14 Monate durch, in der die Effekte der Schulgartenarbeit nachgewiesen werden konnten: Im Anschluss an das sogenannte „Wiesenexperiment“ (Lindemann-Matthies 2002) wurde gezeigt, dass ein Sensorium für Biodiversität durch die Schulgartenarbeit gesteigert werden konnte, wobei – wie auch bei Lindemann-Matthies et al. (2004) – artenreiche Wiesen eher unterschätzt und artenarme Wiesen überschätzt wurden. Außerdem wurde die Formenkenntnis und auch das Interesse an Pflanzen durch die Schulgartenarbeit entwickelt. Oft geht es dabei nicht nur um den Schulgarten im engeren Sinne, sondern überhaupt um die naturnahe Nutzung des gesamten Schulgeländes (Haubenhofer/Wolf 2018, Köhler/Lehnert 2009, Lehnert/Köhler 2005). So kann bereits ein naturnaher Schulhof sich positiv auswirken: nach einer Untersuchung von Dyment und Bell (2008) sind Schülerinnen und Schüler auf begrünten Schulhöfen weniger aggressiv, kommunikationsfähiger und sogar höflicher. Bereits die Begrünung des Klassenzimmers kann das Wohlbefinden günstig beeinflussen (Han 2009): Auch wenn Pflanzen oft nicht bewusst wahrgenommen werden, verbessert sich die Grundstimmung der untersuchten Kinder (10-15 Jahre) und es gibt weniger Disziplinprobleme und auch Krankenzeiten. Am besten sei es, wenn die Pflanzen im direkten Blickfeld sind (Kaplan/Kaplan 1989). Seiwert (1987, S. 288) konnte übrigens empirisch zeigen, dass das Pflegen von Tieren und insbesondere Pflanzen positiv mit umweltbewussten Einstellungen korreliert, und zwar vor allem bei Frauen (siehe Kapitel 2 und 14). Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch Langeheine und Lehmann (1986, S. 115). Sie zeigen, dass vor allem in der Großstadt (Berlin) die pädagogische Betonung des Pflegerischen nicht unwesentlich zum Aufbau von umweltpfleglichen Einstellungen beiträgt (vgl. Lohr/Pearson-Mims 2005). Um die pädagogische Vorstellung des „Pflegerischen“ zu fundieren, bedarf es aber nicht nur der Anbindung an umweltpädagogische Intentionen, sondern auch der Klärung der Frage, warum Kinder eigentlich „Gärten brauchen“, ob und wenn ja, welchen psychischen Wert Pflanzen im Leben der Kinder haben (Bögeholz 2001). Denn natürlich ist es auch möglich, dass der belebende und ästhetische Wert von Pflanzen sich erst bei Jugendlichen oder gar erst bei Erwachsenen zeigt. Im zweiten Kapitel wurde im Kontext der Diskussion der Funktion von Übergangsobjekten (siehe Kapitel 2.4) auch auf Untersuchungen verwiesen, die die Art und Bedeutung „liebgewordener Gegenstände“ reflektieren. Während bei Kindern vor allem Haustiere und bei älteren Menschen Porzellan besonders „liebgewordene Gegenstände“ sind, werden Pflanzen vorzugsweise von der Elterngeneration genannt. Und auch hier gibt es eine deutliche Geschlechtsspezifik: Eine genauere Analyse ergab, dass Pflanzen insbesondere für Frauen bedeutsam waren, während die Männer häufig Werkzeuge und Trophäen nannten (Csikszentmihalyi/Rochberg-Halton 1978).

12.3 Die emotionale Bedeutung von Pflanzen

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Für Erwachsene jedenfalls haben Pflanzen eine hohe Bedeutung. Es wird kaum einen Haushalt geben, der keine Zimmerpflanzen besitzt. Blumen werden verschenkt, um Freude, Liebe und Anteilnahme auszudrücken. Gärten haben eine kaum zu überschätzende Bedeutung – und zwar sowohl im pragmatischen als auch im symbolischen Sinne. Das Urbild der „heilen“ Natur, das Paradies, ist ein Garten (vgl. Rombach 1990). R. Kaplan (1973) spricht geradezu von „psychological benefits of gardening“. Ein Ausflug ins Grüne (womit ja primär die Pflanzenwelt gemeint ist) ist synonym mit Erholung und Entspannung. Vielleicht ist es bei Kindern (noch) so, dass sich ihr Verhältnis zu Pflanzen noch viel mehr als bei Erwachsenen in ihrer Vorliebe für „naturnahe“ Spielräume, grüne Brachflächen (vgl. Kapitel 5.4) zeigt. Pflanzen wären so nicht primär Objekte direkter und quasi persönlicher Hinwendung (wie es sehr deutlich im Hinblick auf Tiere der Fall ist), sondern eher emotionaler Hintergrund, dessen Wirkung man nur negativ – nämlich wenn er fehlt – merkt. Nun ist auch bei Erwachsenen die Vorliebe für Pflanzen nicht etwa gleichzusetzen mit einem Interesse für Botanik. Vielmehr vermitteln (symbolisch) Blumen oft ein Gefühl von Leben und Schönheit, was nicht unwesentlich die Anziehungskraft von Pflanzen ausmachen dürfte. So zeigt eine Untersuchung von Krampen (1986) über die Bedingungen des Lebens in bepflanzten Räumen („grüne Archen“), dass sehr viele Menschen das Leben in derart begrüntem Wohnumfeld sehr schätzen (würden). Pflanzen scheinen einen „heilsamen“ Einfluss auf die seelische Verfassung zu haben, was Ulrich (1983) im Hinblick auf Bäume zeigen konnte: Vergleichbare Patientengruppen (bezüglich Alter, Geschlecht, Beschwerden) wurden in verschiedenen Krankenhauszimmern untergebracht. Die eine Gruppe sah beim Blick aus dem Fenster eine Baumgruppe, die andere eine braune Backsteinwand. Die Gesundung der Gruppe, die Bäume vor den Fenstern sehen konnte, verlief deutlich günstiger und auch schneller. Die Patienten brauchten weniger Schmerzmittel, riefen seltener nach dem Pflegepersonal und wurden auch eher entlassen. Umgekehrt zeigt eine Studie an jugendlichen Alkoholabhängigen, dass diese ausgesprochen wenig Bezug zur Natur, vor allem zu Pflanzen haben (vgl. Kemps 1986). Der Gedanke, dass Pflanzen und Gärten einen heilsamen Effekt auf die Psyche auch von Kindern haben, wird im Übrigen in Kinderheimen und therapeutischen Einrichtungen seit langem genutzt. Seit geraumer Zeit gibt es zudem Konzepte zur „Gartentherapie“ (siehe Kapitel 7). Bei der psychischen Wirkung von Pflanzen spielen natürlich kulturelle Übereinkünfte eine wichtige Rolle. Die Rose ist beispielsweise nicht per se ein Zeichen für Liebe, sondern nur deshalb, weil Menschen sich darauf verständigt haben. Dieser kulturell vermittelte Symbolwert wird Kindern möglicherweise in der Tat nicht so sehr verfügbar sein. Trotzdem lässt sich ihr Verhältnis zu Pflanzen nicht hinreichend mit ihrem relativen Desinteresse für „Pflanzenkunde“ beschreiben. Einige Hinweise, die darüber hinausgehen, seien im Folgenden zusammengestellt. Bei der Methode des katathymen Bilderlebens (Leuner 1980) gilt die Wiese als Symbol für eine kindgemäße, natürliche Umwelt. Wiesen mit Gräsern und Blumen werden jedenfalls oft in diesen „gelenkten Tagträumen“ entsprechend symbolisch benutzt. Das ist zumindest ein Hinweis auf die Wertigkeit von Pflanzen in der (frühen) Kindheit. In der Tat kommt 253

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die Wiese kindlichen Bedürfnissen durch ihre Dimensionen und Qualität ausgesprochen entgegen; die Blumen und Gräser sind in der Höhe der Arme von Kleinkindern und insofern direkt zugänglich. So ist der von Fröbel geprägte Begriff des „Kindergartens“ wohl nicht zufällig. Die Pflanzen sind hier allerdings nicht Objekte, mit denen sich Kinder gleichsam persönlich beschäftigen würden. Die Pflanzenwelt ist vielmehr beruhigender Hintergrund, dessen Einzelelemente nicht weiter bewusst werden müssen. Diese Einzelelemente können allerdings als Spielobjekte eine Bedeutung haben. In einer umfangreichen qualitativen Studie zur Funktion von Naturmaterialien für das kindliche Spiel zeigt Jannson (1984), dass gerade Pflanzenteile deshalb als Spielobjekte sehr gut geeignet sind, weil sie veränderbar sind, weil sie „lose Teile“ (Blätter, Äste, Früchte) liefern und sich auf diese Weise den manipulativen Aktionen der Kinder anpassen. „These natural elements seem to be able to provide sequential (with the age of a child) play aspects or experiences as part of a child’s cognitive development“ (Jannson 1984, S. 71). Vor allem Bäume und Sträucher liefern durch ihre Äste, Knospen, Blätter, Früchte und Blüten eine Vielfalt von Einzelerfahrungen, die gefühlt, gerochen und angesehen werden können. Pflanzenmaterialien werden gesammelt, gegessen, als Werkzeuge gebraucht. Außerdem werden in und auf Bäumen oder Sträuchern auch Buden gebaut. So lässt sich insgesamt die Bedeutung von Pflanzen als Spielobjekte mit der oben so genannten Hintergrundfunktion beschreiben. Grass, flowers, shrubs and trees are types of vegetation which can be seen as providing – with the increasing age of a child – changing intrinsic values for its play. Important aspects in this respect are physical dimensions of the plants, a differing diversity of small parts, and an increasing and decreasing degree of challenge and manipulation which these different types of vegetation offer children (Jannson 1984, S. 73).

Es gibt eine Reihe von Hinweisen, dass Kinder an Pflanzen vor allem pragmatische und nützlichkeitsorientierte (im weitesten Sinne, vgl. Tuan 1978) Aspekte interessieren. Die große Bedeutung des Pragmatischen betonte bereits Rousseau (1978), wenn er im Emile v. a. Obst-, Gemüse- und Kräutergärten als eine förderliche Naturumgebung für Kinder beschrieb. Diese pragmatische Dimension der kindlichen Beziehung zu Pflanzen muss übrigens nicht in einem Gegensatz zur ästhetischen Wahrnehmung von Pflanzen gedacht werden (Lindemann-Matthies 2005). Wie in Kapitel 6 zur Bedeutung der Naturästhetik ausführlich dargelegt, lassen sich beide Zugänge zu Pflanzen gut auf einander beziehen, jedenfalls wenn man einen weiten Ästhetikbegriff zugrunde legt, der nicht nur auf die „Schönheit“ oder die dekorative Funktion von Pflanzen zielt. Von Beobachtungen an 3- bis 6-jährigen Kindern berichten Jannson und Duhme (1978). Sie wollten bei einer Kindergruppe herausfinden, welche Möglichkeiten Kinder haben, einen Baum in ihren Erlebnisbereich einzubeziehen. Dazu ließen sie Kinder verschiedene Baumbilder (1. ein Baum und ein Erlebnis, 2. ein Baum und etwas aus der Umgebung des Baumes, 3. ein Baum beim Spiel, 4. Blätter, 5. ein Baum mit den vier Jahreszeiten, 6. ein Baum in der Stadt, 7. ein Wald) malen, die sie vergleichend analysierten, wobei noch Gespräche mit den Kindern hinzugezogen wurden. Die Ergebnisse: Die Kinder finden Zugang

12.4 Anthropomorphes Verständnis von Pflanzen

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zu Bäumen über die Früchte (pflücken, berühren, essen, werfen). So werden die Bäume auch nach den Früchten benannt: Nasenzwickerbaum (Ahorn), Eichhörnchenbaum (Eiche), Bucheckernbaum (Buche). Die direkten Berührungserfahrungen sind offenbar bestimmend: So sind beispielsweise die Nadelbäume im Unterschied zu Laubbäumen „Stachelbäume“. Am bekanntesten scheinen der Apfelbaum und die Kastanie zu sein, jedenfalls kommen diese Bäume auf den Bildern am häufigsten vor. Der Standort der Bäume in der Vorstellung der Kinder ist meistens eine grüne Wiese, obwohl dies sicherlich den unmittelbaren Erfahrungen der Kinder (Stadt München) nicht entspricht. Eine besondere Beziehung haben die Kinder zu den Frühlingsbäumen. Die an den Bäumen sich abspielenden Veränderungen (bunte Blüten, Knospen, frisches Grün) finden sich am häufigsten in den Bildern wieder. Ebenso ist der Herbst – durch die Farben und das Fallen der Blätter – Kindern offenbar bekannt und bewusst. So scheinen insgesamt Bäume im Leben von kleinen Kindern eine nicht unerhebliche Bedeutung zu haben. Trillitzsch (1975, S. 623) meint sogar, dass „mit der Zunahme ‚natürlicher Elemente‘, also Bäume und Sträucher, […] das aktive, schöpferische Spielverhalten zunimmt.“

12.4 Anthropomorphes Verständnis von Pflanzen 12.4

Anthropomorphes Verständnis von Pflanzen

Pflanzen „antworten“ nicht in derselben Weise wie Tiere und erfüllen deshalb die kindlichen Spiel- und Beziehungswünsche weniger. Schon Aristoteles (De anima) nahm an, dass sich Pflanzen lediglich ernähren und fortpflanzen; das Tier könne sich zusätzlich bewegen und vor allem empfinden. Vernunft hat in diesem System nur der Mensch. Pflanzen sind eben nicht „biographiefähig“ und kommen deshalb als Partner nicht so sehr in Betracht. So vermutet auch Plötz (1970, S. 33), dass Kinder Pflanzen relativ nüchtern und gleichsam „naturwissenschaftlich“ gegenüberstehen, „weil stärkere seelische Bindungen in der Regel nicht bestehen.“ Auffällig sind jedoch vereinzelte Beobachtungen, nach denen Kinder versuchen, auch Pflanzen menschliche, mindestens jedoch tierische Eigenschaften beziehungsweise Organe zuzuschreiben (Billmann-Mahecha et al. 1997, Klemm 1974). Oft tendieren sie dazu, Analogiebildungen vorzunehmen: Beine und Stängel, Kopf und Blüte, Haare und Blätter werden bisweilen als analoge Organe gesehen. So wird von „Blattadern“ oder „blutenden Pflanzen“ gesprochen (Barker 1998). Sehr sinnfällig wird diese Analogisierung in dem „Gespräch über Bäume“ in Kapitel 15, sie wird auch in den Gesprächen von Hofmeister et al. (1982) deutlich: Wir hatten eine Blume, da ist irgendwann mal ein Blatt abgegangen. Da kam – wir haben Blut – so was Weißes raus. Als wenn die Pflanze blutet. Die hat ja auch solche Organe, solche Adern, wo das Blut, dieser Saft rausfließt. Es ist immer das Gleiche; was lebt, ist alles das Gleiche. (4. Klasse)

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Häufig gibt es eine parallele Verwendung anthropomorpher, teleologischer Begriffe und wissenschaftlicher Konzepte bei Pflanzen (Tamir et al. 1991). Anthropomorphe Beschreibungen im Hinblick auf Pflanzen werden akzeptiert und in ihrer symbolischen Funktion richtig eingeschätzt. In der Untersuchung von Sieke (2005) finden sich viele Beispiele anthropomorphisierender Beschreibungen von Pflanzen: danach „merken“, „wissen“, „fühlen“, „wollen“ Pflanzen bisweilen etwas. In Anlehnung an Tamir et al. (1991, S. 58) werden solche anthropomorphen Interpretationen nicht als Realitätsverkennungen, sondern als Verständnishilfen für komplexe, unanschauliche Prozesse interpretiert (vgl. Kattmann 2005). Bäume scheinen sich für eine Anthropomorphisierung besonders anzubieten (Lehmann 1999, S. 101f., Tournier 1987). So stehen sie wie der Mensch aufrecht, sind „verwurzelt“, und die Teile des Baumes lassen sich gut mit menschlichen Körperteilen analogisieren. Oft erhalten sie Namen von berühmten Persönlichkeiten. In vielen Märchen gibt es mythische Anspielungen auf die Bedeutung der Bäume (Ward 1977). In östlichen Kulturen (Indien und Japan) gibt es die mythische Heirat zwischen einem Mann und einer Baumfrau. Die klassischen griechischen Sagen erzählen von Philemon und Baucis, die sich bei ihrem gemeinsamen Tod in zwei Bäume verwandeln, deren Äste verschlungen sind. Die vergleichende Kulturgeschichte bezeugt die besondere Bedeutung von Bäumen im Selbstverständnis des Menschen (Brosse 2001, Höhler 1985). So hält der Kulturwissenschaftler Lehmann (1999, S. 102) den „Identifikationsdrang des Menschen mit Bäumen“ für unbestreitbar, vergleichbar nur mit der Symbolkraft von Flüssen und historisch attraktiven Bauwerken. Und Elias Canetti (1960, S. 195) merkt an, dass die Vorliebe für Bäume eine spezifisch deutsche Eigenschaft sei: „In keinem modernen Lande der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland. … Die Deutschen suchen den Wald, in dem ihre Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlen sich eins mit den Bäumen.“ Literatur und Malerei bieten unzählige Beispiele. Die Analogisierung zum Menschen wird beispielsweise auch im sogenannten „Baumtest“, ein bekanntes und gebräuchliches psychodiagnostischen Verfahren, genutzt. Bäume erhalten oft lebensgeschichtliche Bedeutung: Man pflanzt Bäume zur Geburt eines Kindes oder bei der Hochzeit, man ritzt Herzen in Bäume und die Jahresringe werden zum Symbol für die Vergänglichkeit. Im Verlaufe dieses Kapitels gab es schon mehrfach vereinzelte Hinweise darauf, dass Kinder auch Pflanzen animistisch besetzen. Dass Blumen eine symbolische Bedeutung haben, ist angesichts der Tradition von Blumengeschenken und Zimmerpflanzen keine Frage; die Frage ist allerdings, ob sich dieser symbolische Wert auch bereits Kindern erschließt. Kächele (1982) zeigt an einem psychoanalytischen Fallbeispiel, dass und wie Pflanzen als Selbst- und Objektrepräsentanzen verwendet werden können. Er vermutet, „daß die Eigenschaften der Pflanzen, Lebensprozesse für uns sichtbar und handhabbar zu machen, eine besondere Möglichkeit bieten, sie im bewußten und unbewußten Erleben als Symbol für unser eigenes Leben zu benutzen“ (Kächele 1982, S. 28). Bittner sieht sogar „manche Parallelen von Pflanzenwelt und Kinderwelt“; danach sind Pflanzen „Symbolund Gleichnisträger für menschliche, insbesondere kindliche Lebensverhältnisse“ (Bittner 1981, S. 201).

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Aufschlussreich in der Hinsicht, welche affektive Beziehung und welche kognitive Vorstellung Kinder von Pflanzen haben und v. a., ob Kinder Pflanzen anthropomorph interpretieren, ist eine Diskussion von acht- bis zehnjährigen Kindern über die Frage, ob Blumen glücklich sein können (in Freese 2002, S. 97f.). Sie stammt von Matthews, der damit nicht das kindliche Verhältnis zu Pflanzen beleuchten, sondern vielmehr zeigen wollte, zu welchen philosophischen Denkleistungen Kinder in der Lage sind. Bevor ich abschließend eigene Beobachtungen zu der Frage, ob auch Pflanzen anthropomorph interpretiert werden, vorstellen werde, seien einige Abschnitte aus diesen „philosophischen Gesprächen mit Kindern“ ausführlich dargestellt. Das Gespräch zeigt die (kindliche) Ambivalenz zwischen animistischer und quasi biologischer Betrachtungsweise und auch, wie beide Haltungen nebeneinander bestehen können (vgl. Kapitel 4). Den Kindern wurde folgende Geschichte als Gesprächsanlass erzählt: „Tante Gertis Blumen sind wieder glücklich“, berichtete Freddi. „Blumen können nicht glücklich sein“, sagte Alice finster in der Ecke sitzend, über eine Schale Cornflakes gebeugt. „Tante Gerti spricht gern über Blumen, als ob es Menschen wären. Aber in Wirklichkeit haben sie gar keine Gefühle. Sie können nicht durstig, traurig oder glücklich sein“ (Freese 1989, S. 97). Dazu wurden von den Kindern folgende Gedanken entwickelt, die im Folgenden in Auszügen dargestellt werden sollen: Die Kinder dachten, es gäbe keinen Zweifel daran, daß Pflanzen durstig sein können, aber sie wollten darüber diskutieren, ob Pflanzen auch glücklich sein können. […] „Sie haben keinen Geist“, sagte Daniel schnell, klar und entschieden. Mit seinen achteinhalb Jahren war Daniel um einen Tag der jüngste der Klasse. „Sie haben keine Gefühle“, setzte er hinzu (Freese 1989, S. 98). (Die Kinder denken auch über die Venus-Fliegenfalle nach.) „Du berührst sie und sie rollt sich zusammen“, sagte Ise, neuneinhalb. „Das ist wie ein Schmetterling“, warf Esther ein. Mit elf war Esther die Älteste der Klasse. „Aber ist das nicht wie ein Reflex?“, fragte David-Paul. „Es funktioniert wie eine Feder, wenn du sie berührst, schnorrt sie zusammen.“ […] „Nun, sie muß aber doch etwas spüren“, sagte Esther. „Wenn sie sich aufrollen kann, muß sie etwas spüren.“ Es entwickelte sich eine Diskussion darüber, ob Blumen miteinander kommunizieren können. „Pflanzen könnten imstande sein, miteinander zu reden, mittels Radiowellen, nicht wahr, oder irgendetwas ähnlichem“, schlug David-Paul vor. „Oder mittels Staub, der von einer Pflanze zur anderen fliegt.“ […] „In gewisser Weise zeigt die Pflanze dadurch, daß sie blüht, an, daß sie glücklich ist“, sagte David-Paul. […] Ise beunruhigte der Gedanke, daß Blumen unglücklich sein müssen, wenn sie ihre Köpfe hängen lassen. „Es heißt nicht unbedingt, daß man unglücklich ist, wenn man seinen Kopf hängen läßt“, erklärte sie, „man kann auch mit erhobenem Kopf schlechter Stimmung sein.“ „Hat eine Pflanze ein Gehirn?“, fragte Daniel. „Ohne ein Gehirn könnte man nicht traurig 257

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12 Kinder und Pflanzen

oder glücklich oder irgend so etwas sein“, sagte Martin, der fast zehn Jahre alt war. „Ohne Gehirn würde man nicht einmal existieren.“ […] „Ich glaube wirklich nicht, eine Pflanze sagt zu sich selbst: ‚Ich bin glücklich‘, ‚ich bin traurig‘“, sagte David-Paul. „Es ist in gewisser Weise eine Maschine, die in Betrieb sein oder aussetzen kann, wenn es ihr an Treibstoff fehlt.“ „Haben Blumen Augen?“, fragte Daniel. „Nein“, sagten mehrere Kinder. „Aber innen drin, da gibt es etwas wie ein Auge“, beharrte Daniel. Offenbar dachte er an Stempel und Fruchtknoten wie an ein Auge auf einem Stengel. Die Vorstellung, eine Pflanze müsse umherblicken können, inspirierte David-Paul. „Eine Brennessel“, sagte er, „könnte fühlen, daß sie beschädigt wird und sich schützen muß“ (Freese 1989, S. 99). Diese Kinderdiskussion zeigt sehr deutlich das Pendeln zwischen gleichsam mechanistischem Weltbild und animistisch–anthropomorpher Interpretation von Pflanzen. Auch eigene Beobachtungen (Interviews mit 40 Grundschulkindern und Beobachtungen im Unterricht) bestätigen dies: So glauben immerhin 78 % der befragten Kinder (68 % Land, 88 % Stadt), dass Blumen Schmerz empfinden, wenn man ihnen ein Blatt ausreißt. 79,5 % der Kinder (87 % Land, 72 % Stadt) nehmen sogar an, dass Pflanzen Gefühle wie Trauer und Freude empfinden können. Angesichts der Tatsache, dass Pflanzen auf Menschen eine positive Wirkung haben können (s. o.), wundern diese Daten nicht. Die „heilsame“ Wirkung kann nämlich nur dann sich einstellen, wenn die Pflanzen auch affektiv besetzt werden, was – wie in Kapitel 4 über animistisches und anthropomorphes Denken deutlich geworden ist – immer auch einen anthropomorphen Kern hat. Auch in unseren Studien zu naturethischen Argumentationsfiguren bei Kindern (Gebhard et al. 2003) zeigt sich die Tendenz, auch Pflanzen anthropomorph zu interpretieren, wodurch die Pflanzen zugleich auch zu gewissermaßen „moralischen Objekten“ werden. Besonders deutlich wird das bei Bäumen (siehe Kapitel 15). Bei einer Unterrichtseinheit (2. Klasse) über die Samenkeimung weigerten sich die Kinder (die Mädchen übrigens nachhaltiger als die Jungen), einen gequollenen Bohnensamen aufzuschneiden: Das tut der Bohne weh. Das ist, als würde das bei uns passieren. Das ist wie bei Menschen, wenn man den Bauch aufschneidet. Für das Verständnis dieser Reaktionen ist es noch bedeutsam, dass die Schülerinnen und Schüler die gequollenen beziehungsweise gekeimten Bohnensamen bereits eine Woche beobachtet haben. In dieser Zeit ist wohl so etwas wie eine „Beziehung“ zu den Bohnen entstanden. Die gequollenen Bohnen wurden mit Vorstellungen von Schwangerschaft verbunden, was die Scheu, mit ihnen zu experimentieren, noch deutlich erhöhte. Vor allem die Mädchen waren sichtlich entsetzt, als einige Jungen sich daran machten, eine Bohne aufzuschneiden. Es zeigte sich sogar, dass die Scheu der Mädchen die Lust der Jungen, die

12.4 Anthropomorphes Verständnis von Pflanzen

259

Bohne aufzuschneiden, zusätzlich anstachelte. So wurde die Bohne nicht aus Interesse aufgeschnitten, sondern als Provokation für die Mädchen geradezu zerhackt. Die Aufregung machte es insgesamt auch unmöglich, noch irgend etwas von der Samenkeimung kognitiv zu verarbeiten. Auf der anderen Seite gingen die Kinder trotz dieser Scheu recht robust mit den Bohnen um, holten sich beispielsweise die gekeimten Bohnen aus der Erde. „Das ist wie, wenn wir das Haus verlassen und dann wieder nach Hause kommen.“ Die Kinder behandeln die Bohnenpflanzen fast wie Haustiere (vgl. Krosnick 2018), für die sie sorgen wollen, die ihnen jedoch bisweilen auch gleichgültig sind. Vielleicht können insgesamt diese vereinzelten Befunde und Beobachtungen zum kindlichen Verhältnis zu Pflanzen auch so verstanden werden, dass zumindest ein Grund für das geringe Interesse von Kindern an botanischen Themen darin liegt, dass ihre animistische Haltung dabei in der Regel übersprungen wird. Ob Pflanzen nämlich wirklich für Kinder ausschließlich Spielzeug sind, ist angesichts der hier dargestellten Beispiele zumindest eine offene Frage.

259

13

Kind und Tod 13 Kind und Tod 13 Kind und Tod

13

Kind und Tod

13.1 Tod, Verdrängung und lebendige Natur 13.1

Ich weiß nicht, ich kann mir da keine Vorstellung

Tod, Verdrängung undmachen. lebendige Natur ganz froh, daß man nicht Ich bin eigentlich

weiss, was passiert, wenn man tot ist. Keiner ist ja

ja gut, sonst würde der ja Ich bin Ich weißwieder nicht,auferstanden, ich kann mirdas daist keine Vorstellung machen. erzählen, wie daß es ist,man wenn manweiss, tot ist.was (Eva, 9 Jahre)wenn man eigentlich ganz froh, nicht passiert, tot ist. Keiner ist ja wieder auferstanden, das ist ja gut, sonst würde Das Bild (aus Andresen 1985, S. 199) und derder Text stammen wie vonessiebenjährigen ja erzählen, ist, wenn man tot ist. Grundschulkindern. Sie dokumentieren, dass der Tod zum Erfahrungsbereich von9 Jahre) (Eva, Kindern gehört, und auch, dass Kinder oft angesichts des Todes von geliebten Tieren sehr traurig sind. So zeigt auch eine Studie mit Grundschulkindern (21 Das Bild (aus AndresenRohlfs 1985,2006), S. 199)dass undder derTod Textvon stammen von siebenjährigen Einzelinterviews, Tieren eine bedeutsame – oftGrundschulkindern. Sie dokumentieren, dass der Tod zum Erfahrungsbereich von Kindern gehört, bedrückende – Erfahrung darstellt. Das gilt übrigens auch für Erwachsene, die den Tod eines Heimtieres verkraften müssen (Kamerman 1988, S. 112f.); auch die Praxis von Tierbestattungen und 261

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Gebhard, Kind und Natur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21276-6_13

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13 Kind und Tod

und auch, dass Kinder oft angesichts des Todes von geliebten Tieren sehr traurig sind. So zeigt auch eine Studie mit Grundschulkindern (21 Einzelinterviews, Rohlfs 2006), dass der Tod von Tieren eine bedeutsame – oft bedrückende – Erfahrung darstellt. Das gilt übrigens auch für Erwachsene, die den Tod eines Heimtieres verkraften müssen (Kamerman 1988, S. 112f.); auch die Praxis von Tierbestattungen und Tierfriedhöfen zeigt, dass der Tod von Tieren nicht nur ein Thema von Kindern ist (Wiedenmann 1993). Am Beispiel des Tieres werden Kinder oft erstmals mit der Härte und Endgültigkeit des Todes konfrontiert (Leist 1979). Die Beschäftigung mit lebendiger Natur schließt insofern auch die Konfrontation mit dem Tod ein. Das betrifft natürlich nicht nur den Tod von Tieren, sondern auch den Tod von anderen Menschen und die Angst vor dem eigenen Tod. So ist bezeichnenderweise in einer Studie zum Lebensbegriff (bei Jugendlichen) „Tod“ die meistgenannte Assoziation zum Begriff „Leben“ (Schaefer/Wille 1995, S. 69). Trotzdem stellt sich die Frage, warum in einem Buch, in dem das kindliche Verhältnis zur lebendigen Natur im Mittelpunkt steht, auch der Tod behandelt wird. Ich glaube, man kann sich nicht mit dem Leben befassen, ohne dass dabei das Gegenteil, die Kehrseite – nämlich der Tod – psychisch potentiell präsent ist. Insofern ist es wichtig, auch bei der Behandlung von Phänomenen des Lebens über Todesvorstellungen, -ängste und -verarbeitungsformen nachzudenken. Nun hat man sich beispielsweise im Biologieunterricht bislang sehr selten mit der Todesproblematik auseinandergesetzt (Gebhard 1990a, Kattmann 1972), obwohl nicht selten Kinder tote Tiere mit in die Schule bringen, obwohl gerade die Biologie ihre „Gegenstände“ zum Zwecke der Untersuchung oft tötet, obwohl in der Benennung von ökologischen Problemen das Sterben explizit vorkommt, z. B. Waldsterben, Robbensterben oder Insektensterben (zur kindlichen Wahrnehmung und Verarbeitung der Umweltzerstörung siehe Kapitel 14). Das ist freilich nicht nur ein spezifisches Versäumnis des Biologieunterrichts, sondern eher Ausdruck einer Tabuisierung und Verdrängung des Todes in unserer Gesellschaft. Nassehi und Weber (1989) sprechen in diesem Zusammenhang geradezu von einer „sozialen Verdrängung des Todes“ (vgl. auch Feldmann 1990b). Der Tod wird in Krankenhäuser und Altenheime ausgegrenzt und ist somit den Augen und Ohren der lebenden Menschen entzogen. Auf der anderen Seite werden in den Medien Todesbilder massenhaft produziert, was den Tod sozusagen konsumierbar macht. Bereits Kinder können den Tod im Fernsehen (Spielfilme, Nachrichten etc.) verfolgen, wobei freilich hier der Tod sehr mittelbar erscheint, da er eigentlich auf Knopfdruck wieder verschwindet. Ein realistisches Todesverständnis ist wohl auf dem Wege der Massenmedien nicht zu erwarten, zumal die Endgültigkeit des Todes auf diese Weise eher verschleiert wird. Angesichts von Idealen wie Jugendlichkeit und Gesundheit wird die Kehrseite, wozu neben dem Tod auch Krankheit, Behinderung und Alter gehört, von der öffentlichen Diskussion weitgehend ausgespart, was es dem Einzelnen natürlich erschwert, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen.

13.2 Tot oder lebendig? Zum Lebensbegriff von Kindern

263

Der Tod ist obszön und peinlich – und auch die Trauer wird es: Es gehört zum guten Ton, sie zu verstecken: Sie könnte die anderen in ihrem Wohlbefinden stören. Der Anstand verbietet jede Anspielung auf den Tod (Baudrillard 1982, S. 289).

Der Tod passt nicht zu den gesellschaftlichen Werthaltungen des Industriezeitalters wie Leistungsfähigkeit, Effektivität, Aktivität, Macht, Kraft. Das war historisch nicht immer so: Aries (1976) hat in seiner Studie zur Geschichte des Todes im Abendland gezeigt, dass die Tabuisierung des Todes früher angesichts viel größerer unmittelbarer Bedrohungen (zum Beispiel Kindersterblichkeit, Seuchen) keineswegs so ausgeprägt war wie heute. Memento mori – der „Gevatter Tod“ gehörte zum Leben. Das ist heute anders, und Kinder lernen sehr früh, dass der Tod totgeschwiegen wird beziehungsweise werden soll. Oft allerdings können Kinder noch relativ unbefangen über den Tod reden und bringen Eltern und andere Erwachsene bisweilen in peinliche und unangenehme Situationen. Die gesellschaftliche Verdrängung des Todes hat nämlich auch den Effekt, dass Erwachsene oft hilflos sind, wenn sie mit dem Tod von nahestehenden Menschen oder auch mit den Problemen von Hinterbliebenen konfrontiert sind. Dies wird besonders deutlich bei entsprechenden Kinderfragen, die in ihrer Unbefangenheit und Ehrlichkeit oft ratlos machen. Allerdings kann natürlich die Verleugnung des Todes den Tod nicht besiegen, eher im Gegenteil. Freud hat so auch den Menschen ein unaufrichtiges Verhältnis zum Tod bescheinigt und gemutmaßt, dass „im Unbewußten jeder von uns von seiner Unsterblichkeit überzeugt“ (Freud 1915c, S. 341) sei. Natürlich ist diese phantasierte Unsterblichkeit eine Illusion – eine gefährliche Illusion zudem, da sie es gestattet, angesichts persönlicher Gefahren (zum Beispiel Krankheiten) und auch gesellschaftlicher Gefahren („Sterben der Natur“, Klima, Krieg) die Hände in den Schoß zu legen. Insofern ist es wichtig, gerade in unserem Zusammenhang, in dem nach der Beziehung zur lebendigen Natur gefragt wird, gleichzeitig das Verhältnis zum Tod zu bedenken. Ein solches Vorgehen „unterläuft“ gewissermaßen die von Freud benannte Unsterblichkeitsphantasie – oder besser: Unsterblichkeitsillusion – und kann zugleich auch eine Grundlage dafür sein, im nächsten Kapitel die kindliche Wahrnehmung und vor allem Verarbeitung des „Natursterbens“ zu reflektieren (siehe Kapitel 14.3.5). Auch in umweltpädagogischen Kontexten wird neuerdings diese Thematik insofern aufgegriffen (Russell 2017), als der unauflösliche Zusammenhang von Leben und Sterben als ein grundlegender ökologischer Zusammenhang betrachtet wird.

13.2 13.2

Tot oder lebendig? Zum Lebensbegriff von Kindern Tot oder lebendig? Zum Lebensbegriff von Kindern

In seinen Animismusstudien (vgl. Kapitel 4) hat Piaget bereits 1926 Untersuchungen darüber durchgeführt, welche Dinge von Kindern als lebendig eingeschätzt werden. Allgemein beobachtete er, dass Kinder solche Objekte auch als lebendig ansehen, die ein Bewusstsein haben beziehungsweise denen sie ein Bewusstsein zusprechen. Die Begriffe 263

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13 Kind und Tod

„Leben“ und „Bewusstsein“ decken sich allerdings nicht vollständig. Ähnlich wie beim Begriff „Bewusstsein“ unterscheidet Piaget vier Stadien, wobei der Begriff „Leben“ den Kindern vertrauter zu sein scheint als der Begriff „Bewusstsein“. Piaget befragte Kinder, ob verschiedene Gegenstände lebendig sind und auch nach der jeweiligen (kindlichen) Begründung. Im Folgenden sollen die vier Stadien kurz benannt und charakterisiert werden: 1. Stadium (bis zu 6/7 Jahren): „Das Leben ist mit Aktivität im Allgemeinen verbunden.“

Alles, was irgendwie eine Aktivität aufweist, ist lebendig. Hinzuzufügen ist, dass von den Kindern die Aktivität stets im Hinblick auf den Menschen wahrgenommen wird: Es ist also eine „nützliche“ Aktivität, die ein Objekt aus der Sicht des Kindes lebendig macht. Aufgrund des egozentrischen Weltbildes denken die Kinder zugleich final. Die Gegenstände haben gleichsam eine innere Kraft, die ein bestimmtes Ziel (das dem Menschen nützlich ist) anstrebt. Der Begriff „Leben“ bezeichnet eben diese Funktion, nämlich die Vorstellung „einer zugleich materiellen und mit Absicht durchdrungenen Kraft“ (Piaget 1978, S. 165). Ist die Sonne lebendig? – Ja. – Warum? – Sie gibt hell. – Ist ein Fahrrad lebendig? – Nein, wenn es nicht fährt, ist es nicht lebendig. Wenn es fährt, ist es lebendig. – Ist ein Baum lebendig? – Nein; wenn er Früchte hat, lebt er. Wenn er keine hat, lebt er nicht. (aus Piaget 1978, S. 163)

2. Stadium (6-8 Jahre): „Das Leben wird mit Bewegung verbunden.“ Ist eine Katze lebendig? – Ja. – Eine Schnecke? – Ja. – Ein Fisch? – Nein. – Warum nicht? – Er bewegt sich nicht. – Ist ein Fahrrad lebendig? – Ja. – Warum? – Es rollt. – Ist eine Eidechse lebendig? – Ja. – Ein Nagel? – Nein. – Eine Blume? – Nein. – Ein Baum? – Nein. – Ist die Sonne lebendig? – Ja. – Warum? – Wenn es nötig ist, geht sie. (aus Piaget 1978, S. 166)

Piaget begreift dieses Stadium lediglich als ein Übergangsstadium, das bald dadurch überwunden wird, dass die Kinder zwischen passiver Bewegung und Eigenbewegung unterscheiden. 3. Stadium (9-10 Jahre): „Das Leben wird mit Eigenbewegung verbunden.“

Piaget begreift die Bindung des Lebens an die Eigenbewegung als die wichtigste Periode des kindlichen Animismus. Ist ein Regenwurm lebendig? – Ja, er kann gehen. – Ist eine Wolke lebendig? – Nein, denn der Wind stößt sie. – Ist ein Fahrrad lebendig? – Nein, es wird von uns bewegt. – Ist das Feuer lebendig? – Ja, es bewegt sich selbst. (aus Piaget 1978, S. 168)

4. Stadium: „Das Leben wird den Pflanzen und Tieren vorbehalten.“

Nach den Befunden von Piaget wird dieses Stadium erst mit etwa 11 bis 12 Jahren erreicht, vorher werden beispielsweise noch der Wind und die Gestirne als lebendig interpretiert. Ein Vergleich mit den Ergebnissen das Bewusstsein betreffend zeigt, dass der Begriff „Leben“ weniger umfassend ist als der Begriff „Bewusstsein“. Piaget nimmt an, dass Kin-

13.2 Tot oder lebendig? Zum Lebensbegriff von Kindern

265

der zunächst darüber entscheiden, ob ein Gegenstand lebendig ist und dann erst über die Verteilung des Bewusstseins befinden. Er fasst zusammen, dass die […] Extension des „Lebens“-begriffs darauf hinzuweisen scheint, daß es im kindlichen Universum ein Kontinuum von freien Kräften, Aktivitäten, Absichten gibt. Der Begriff Leben stellt ein Bindeglied zwischen der magischen Kausalität, für die sich alles um das Ich dreht, und der Dynamik der substantiellen Kraft her: Der Lebensbegriff, der aus der Vorstellung hervorgegangen ist, daß die Dinge einen Zweck haben und daß dieser Zweck, damit er erreicht werden kann, eine freie Aktivität voraussetzt, wird Schritt für Schritt zu einer Kraft oder zur Ursache der Eigenbewegung reduziert (Piaget 1978, S. 170).

Verschiedene Folge- beziehungsweise Kontrollstudien konnten zwar einerseits die Logik der Stadien von Piaget bestätigen, die Altersangaben andererseits jedoch müssen als sehr unsicher betrachtet werden. Insgesamt ist es wohl ähnlich wie beim animistischen Denken so, dass Kinder einer Altersstufe sich sehr stark voneinander unterscheiden können (vgl. Dennis 1957, siehe auch Kapitel 4.2). Studien von Klingberg (1957) und Klingensmith (1953) ergaben, dass auch jüngere Kinder schon relativ sicher zwischen lebendig und tot unterscheiden können. Laurendeau und Pinard (1962) kamen allerdings in einer ähnlichen Versuchsanordnung und Befragungstechnik wie Piaget auch zu vergleichbaren Ergebnissen, was die Altersstruktur angeht (500 Versuchspersonen zwischen 4 und 12 Jahren). Allerdings fanden sie keine signifikanten Unterschiede zwischen Stadium 1 (bei dem alles lebt, was irgendwie aktiv ist) und Stadium 2 (wo nur die bewegten Körper lebendig sind). In einer Untersuchung an Grundschulkindern konnten Hofmeister et al. (1982) die Altersangaben von Piaget nicht bestätigen. Jedoch findet sich auch hier die Beweglichkeit als Kriterium für Lebendigkeit wieder. Lebewesen, die bewegen sich. Wenn man jetzt zum Beispiel durch den Wald geht, und da liegt ein Blatt, das bewegt sich nicht. Dann merkt man eben, daß es kein Lebewesen ist. Ein Vogel oder eine Katze, die versuchen dann, daß die laufen, und die machen dann, was sie wollen. (4. Klasse) Entgegen den Befunden von Piaget behauptet beispielsweise Mahler (1958), dass das Kind vom ersten Lebenstag an zwischen belebt und unbelebt unterscheiden kann, dass dieser Fähigkeit also eine offenbar angeborene Disposition zugrunde liegt. Hartmann (1939) nimmt vom Standpunkt der Ichpsychologie diesen Zeitpunkt eher mit 3 Monaten an, Spitz (1946) mit dem 6. Monat, nämlich wenn das Kind sich selbst bewegen kann und seine Abhängigkeit von sozialen Beziehungen spürt. In diesen psychoanalytisch orientierten Studien ist allerdings eher ein Gefühl für die eigene Lebendigkeit und auch Angst vor dem Tod gemeint. Die kognitive Zuweisung des Lebendigseins zu verschiedenen Objekten ist noch ein anderer Aspekt, der unten unter dem Stichwort „naive biologische Theorien“ zu behandeln sein wird. Auch konzedieren die letztgenannten Autoren angesichts der Befunde von Piaget, dass das Bewusstsein von tot und lebendig zunächst noch sehr oberflächlich 265

266

13 Kind und Tod

sei. Freud (1919) betont im Übrigen, dass die Unsicherheit, ob etwas tot oder lebendig ist, eines der Merkmale für das Gefühl des Unheimlichen sei. Carey (1985) weist darauf hin, dass es selbst für Erwachsene bei der Zuweisung des Attributs „lebendig“ noch unklare Fälle gibt (zum Beispiel bei Bakterien und Viren). Auch Goldberg und Thompson-Schill (2009) berichten von diesbezüglichen Konfusionen bei Erwachsenen, die sie darauf zurückführen, dass Konzepte der frühen Kindheit niemals vollständig im Erwachsenenalter überschrieben werden könnten. Carey nahm die Befunde von Piaget und Laurendeau und Pinard auf und führte die Untersuchungen weiter mit der allerdings noch weitergehenderen Fragestellung, welche kognitiven Konzepte Kinder überhaupt von verschiedenen Phänomen haben. Die Konzepte von „Tier“ und „Pflanze“ haben uns in den entsprechenden Kapiteln schon beschäftigt. Einige ausgewählte Befunde zur Frage, „what is alive?“, die über die von Piaget hinausgehen, sollen jedoch auch hier vorgestellt werden: Insgesamt bezweifelt Carey aufgrund ihrer Studien die Piagetsche Kennzeichnung der Entwicklung der Bedeutung des Worts „lebendig“, wobei sie allerdings auch die Position vertritt, dass die Bedeutung der Begriffe „lebendig“ und „tot“ sich im Laufe der Kindheit ändert. Ähnlich wie Piaget betont auch Carey den Einfluss animistischer Tendenzen bei der Entwicklung des Lebensbegriffs, bezieht allerdings in ihre Überlegungen stärker die Kenntnisnahme von biologischem Wissen seitens der Kinder ein. Außerdem reflektiert sie mehr den Gegensatz zu „lebendig“, nämlich „tot“, ein Aspekt, den Piaget weitgehend vernachlässigt hat. In Careys Untersuchung unterscheiden jüngere Kinder weniger zwischen lebendig und nicht-lebendig (alive – inanimate), sondern eher zwischen lebendig und tot (alive – dead). „Tot“ bedeutet jedoch noch nicht das endgültige Erlöschen der Körperfunktionen. Der Kontrast zwischen lebendig und tot ist vielmehr vergleichbar mit dem zwischen real und imaginiert, existent und nicht-existent, heil und kaputt. Ein Knopf ist beispielsweise lebendig, weil er eine Bluse schließen kann, ein Tisch ist lebendig, weil man ihn sehen kann. Im Alter von 4 bis 7 Jahren sehen die Kinder noch nicht alle Tiere und Pflanzen als lebendig an, wohl aber einige leblose Objekte. Dabei werden allerdings Tiere insgesamt häufiger und auch eher als lebendig angesehen als Pflanzen. Kinder, die nicht (mehr) glauben, dass leblose Objekte lebendig sind, halten auch Pflanzen nicht für Lebewesen (vgl. Kapitel 12). Erst mit durchschnittlich 10 Jahren ist nach Carey ein stabiles kognitives Konzept bezüglich des Unterschieds zwischen tot und lebendig konsolidiert, ein Ergebnis, das wieder mit dem von Piaget übereinstimmt. By age 10 children display the adult patterns of responses. They judge animals and plants, but not inanimate objects, to be alive, and they judge many predicates to span both animals and plants without generating category errors. Thus, by age 10 children represent a concept with the same extension as the adult’s concept living thing (Carey 1985, S. 182).

Gemäß der Studie von Leddon et al. (2009) ist das Wort „alive“ nicht mit dem Konzept „Living Things“, sondern mit dem Konzept „Animate“ verbunden, was auf einen alltagspraktischen (im Unterschied zu einem biologischen) Gebrauch des Lebensbegriffs

13.2 Tot oder lebendig? Zum Lebensbegriff von Kindern

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zurückzuführen sei. Es gibt auch kulturelle Unterschiede: Für japanische Kinder sind mehr Phänomene belebt (etwa Berge) als für amerikanische Kinder, für israelische eher weniger (Hatano et al. 1993). Auch Anggoro et al. (2005) untersuchten den Lebensbegriff von 4- bis 10-jährigen Kindern im interkulturellen Vergleich und stellten dabei fest, dass das Sprachsystem (englisch/indonesisch) den Lebensbegriff beeinflusst. „Living thing“ umfasst etwa ab dem 6. Lebensjahr Pflanzen und Tiere, und mit „alive“ sind die Pflanzen oft nicht gemeint. „Living Thing“ wird auch durchgehend mit den Attributen Tod, Nahrungsbedürfnis und Wachstum verknüpft. Ähnliche Ergebnisse findet auch Geburzky (2007): Der Begriff „Leben“ hat eine umfassendere Bedeutung als „lebendig“: Es kann etwas lebendig sein, aber kein „Leben haben“. „Lebendig“ ist danach so etwas wie ein Pendant zu „ausgestorben“ und wird zudem stark mit einer aktuellen Aktivität des Objekts verbunden. Einige bemerkenswerte Befunde zum Lebensbegriff gibt es bei sehr jungen Kindern: Es scheint nämlich bereits in den ersten Lebensmonaten eine rudimentäre Unterscheidungsfähigkeit zwischen belebter und unbelebter Welt zu geben. Einige Autoren mutmaßen sogar, dass es entsprechende angeborene kognitive Strukturen gebe (zum Beispiel Keil 1991). In diesem Zusammenhang bedeutsam sind Befunde, die das intuitive biologische Wissen oder die „naive Biologie“ (Mähler 1999) betreffen. Die Annahme intuitiven Wissens impliziert die Annahme, dass „das kindliche Wissen ab einem sehr frühen Alter – möglicherweise im Kern schon bei der Geburt – in bereichsspezifischen Rahmentheorien organisiert ist“ (Mähler 1999, S. 61). Auch wenn die Kompetenz bereits sehr kleiner Kinder in vielen Bereichen in der Tat nach vielen neuen Befunden ausgesprochen beeindruckend ist, so muss doch darauf hingewiesen werden, dass wir über die Genese von naiven Theorien (neben naiven Theorien zur Biologie werden auch solche zur Physik und Psychologie diskutiert) nur wenig wissen. Im Folgenden einige ausgewählte Befunde zum intuitiven Wissen zu der Biologie: Sogar Neugeborene unterscheiden bereits zwischen Menschen und unbelebten Objekten (Dornes 1993, S. 68f., Gelman 1990, Mandler 1992, Premack 1990). Es gibt folglich ein naives Denken über die biologische Welt und im Zusammenhang damit einen frühen, aber nicht unbedingt biologischen Lebensbegriff (Hatano/Inagaki 2002, Fallstudien zu entsprechenden Konzeptwechseln bei Venville 2004). Neugeborene versuchen, mit lebendigen Menschen zu kommunizieren, mit unbelebten Objekten aber nicht (Wellman/ Gelman 1992, S. 359). Bereits mit sieben Monaten spielt die Fähigkeit zu autonomer Bewegung als ein Kriterium des Lebendigen eine Rolle: Kinder zeigen sich überrascht, wenn unbelebte Gegenstände sich scheinbar selbständig bewegen. So staunen Einjährige über das scheinbar aktive Verhalten von unbelebten Gegenständen, wohingegen die Aktivität von Lebewesen als normal hingenommen wird (Poulin-Duois/Shultz 1990). Auch nach einer Studie von Bertenthal et al. (1985) können bereits Säuglinge in einem Alter von fünf Monaten biologische von nicht biologischer Bewegung unterscheiden. Nach Jipson und Gelman (2007) ist die Unterscheidungsfähigkeit zwischen lebendig und nicht-lebendig bereits bei Dreijährigen relativ robust. Die Autoren konstatieren eine Kombination von ontologischer Festigkeit und konzeptueller Offenheit, was v. a. an einer Vermischung von biologischen und psychologischen Kategorien läge. 267

268

13 Kind und Tod

Interessant sind in diesem Zusammenhang Untersuchungen mit der sogenannten Objektexaminierungsaufgabe: Mandler und McDonough (1993) präsentierten Kindern zwischen neun und elf Monaten Spielzeugobjekte einer bestimmten Kategorie (zum Beispiel Fahrzeuge: Laster, Bus oder Traktor); im Anschluss daran präsentierten sie entweder ein neues Objekt derselben Kategorie (zum Beispiel PKW) oder ein neues Objekt einer anderen Kategorie (zum Beispiel Pferd für die Kategorie Tiere). Die Kinder reagierten deutlich mit stärkerer Aufmerksamkeitszuwendung bei der jeweils neuen Kategorie. So konnten sie sogar deutlich zwischen Vögeln und Flugzeugen unterscheiden, die so konstruiert waren, dass sie sich äußerlich in Form, Farbe und Größe kaum unterscheiden. Mandler und McDonough interpretieren diese Befunde dahingehend, dass Kinder bereits in diesem frühen Alter über eine offenbar konzeptuelle Unterscheidungsfähigkeit im Hinblick auf belebte und unbelebte Objekte verfügen. Ob es sich dabei um konzeptuelles Wissen oder um Ähnlichkeitsvergleiche handelt, ist noch eine offene Frage. Während für Carey (1985) ein konsistenter Lebensbegriff erst mit 10 Jahren möglich ist, gibt es andererseits Hinweise, wonach bereits Dreijährige einen rudimentären Lebensbegriff haben (Mandler/McDonough 1993, Pauen/Zauner 1999, Mähler 1995, Bitter 2015). Viele Studien an etwas älteren Kindern sprechen dafür, dass es bereits in sehr frühem Alter ein entsprechendes konzeptuelles Wissen gibt und dass die Unterscheidungsfähigkeit zwischen lebendig und nicht-lebendig schon bei Kleinkindern relativ fest etabliert ist: So wird eine sehr frühe Unterscheidungsfähigkeit zwischen tot und lebendig als kognitiver „Kern-Mechanismus“ (Barrett/Behne 2005) angenommen; entscheidend ist dabei die Fähigkeit zu agieren. In einem Experiment werden tote und schlafende Tiere miteinander verglichen; das Ergebnis zeigt, dass bereits vierjährige Kinder begreifen, dass mit dem Tod die Rolle des Körpers als Vehikel von Tätigkeit endet. In Interviews zeigten drei- bis vierjährige Kinder gute Kenntnisse über die Zuordnung biologischer Eigenschaften wie Bewegung, Atmung, Schlaf oder Nahrungsaufnahme (Gelman et al. 1983). Vierjährige Kinder fanden eine Übereinstimmung in biologischen Merkmalen eher bei verwandten Lebewesen. Das gilt auch dann, wenn die nicht-verwandten Lebewesen dem präsentierten Tier sehr ähnlich sahen und die verwandten Lebewesen fast gar nicht (Springer 1992). Siebenjährige können Eigenschaften eher von einem Tier auf ein anderes übertragen, als dies bei einem Artefakt gelingt (Gelman 1988). Darin zeige sich Gelman zufolge ein Bewusstsein für die Komplexität lebendiger Strukturen. Analoge Befunde gibt es auch bereits für vier- und fünfjährige Kinder (Pauen 1996). Dass man den ontologischen Status von Objekten nicht ändern kann, ist bereits Fünfjährigen selbstverständlich. Aus einem Teddy kann niemals ein Tier werden und aus einem Tier niemals ein Spielzeugtier. In einer Untersuchung über Vorstellungen über biologische Phänomene (Nguyen/Rosengren 2004) wurden die Eltern von 3- bis 6-jährigen Kindern befragt. Besonders verbreitet sind nach Auskunft der Eltern sogenannte „misconceptions“ im Bereich Reproduktion und Tod. Das liegt vor allem an der Zurückhaltung der Eltern, mit ihren Kindern über diese Themen zu sprechen. Das eingangs erwähnte Todestabu findet sich demnach auch

13.2 Tot oder lebendig? Zum Lebensbegriff von Kindern

269

auf der Ebene biologischer Zusammenhänge, wobei unsichere Erwachsene oft zu Missverständnissen beitragen. Bereits vierjährige Kinder wissen, dass „something inside“ Tiere im Unterschied zu Maschinen dazu bringt, sich zu bewegen und zu wachsen (Gottfried/Gelman 2005). Die damit einhergehende Unterscheidungsfähigkeit zwischen lebendig und nicht-lebendig ist jedoch noch nicht mit biologischem Denken verbunden, was ein Vergleich zu achtjährigen Kindern und Erwachsenen zeigt. Allerdings können die vierjährigen Kinder bereits die inneren Bestandteile von Tieren benennen, was im Hinblick auf Pflanzen noch nicht der Fall ist. Menschen, Elefanten, Katzen, Vögel und Mäuse haben innen Blut, Knochen und ein Herz, Artefakte jedoch „hartes Zeug“ oder auch „nichts“ (Gelman 1990, S. 97ff). Vor allem Tiere, aber nicht Artefakte und nur zum Teil Pflanzen haben in der Weltsicht der Kinder „something on the inside that governs their movement and change“ (Gottfried/Gelman 2005, S. 138, vgl. auch Gelman/Williams 1998, Massey/Gelman 1988), auch wenn die Kinder dies nicht immer kausal bzw. biologisch benennen oder gar erklären können (Strevens 2000). Einige Studien zeigen, dass vier- bis fünfjährige Kinder hierfür eine geheimnisvolle Essenz (Gelman 2003) oder eine vitalistische Energie (Slaughter/Lyons 2003) annehmen. Tab. 13.1

Begründungen für die Entscheidung lebend oder nichtlebendig (Angaben in %, verändert nach Tamir et al. 1981, S. 243)

Kriterium Bewegung Ernährung Atmung Anthropomorphismus Form & Struktur Wachstum & Entwicklung Selbstaktivierung Funktion Gruppenmitgliedschaft Reproduktion Tod Zustand & Ort Anderes Summe

Tiere 28,5 14,4 12,4 10,8 7,2 6,7 4,8 4,8 3,8 2,9 1,3 0,4 1,9 100

Pflanzen 5,2 16,5 6,8 4,5 3,9 37,8 2,6 3,5 9,1 1,6 2,8 1,2 3,5 100

Nichtlebendiges 14,4 6,2 7,2 6,7 11,2 7,0 9,0 8,4 10,7 0,7 0,3 5,4 12,8 100

Embryos (Samen, Ei) 0,9 5,3 5,0 2,1 2,9 20,2 1,6 2,6 18,7 1,1 0,2 24,4 6,0 100

Dass „Bewegung“ nicht das einzige Kriterium für die Zuweisung von Lebendigkeit ist, wie das die klassischen Animismusstudien von Piaget nahelegen, zeigt eine Reihe von Studien. Bereits Viertklässler geben in Interviews eine breite Palette von Begründungen dafür, ob ein gezeigtes Objekt lebendig ist oder nicht: Bewegung, Atmung, Ernährung, Wachstum, Wahrnehmung, Reproduktion, Zellen und Gene, Energie, Lauterzeugung, Nützlichkeit, 269

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13 Kind und Tod

Aufrichten vom Untergrund, Überlebensfähigkeit, Dauerhaftigkeit, Sprache, eigener Wille und Besitz von Organen. In einer Untersuchung von Tamir et al. (1981) werden diesbezügliche Begründungen kategorisiert und differenziert in Bezug auf Tiere, Pflanzen, Nichtlebendiges und Embryos. Die Befunde sind in Tabelle 13.1 zusammengefasst. Entfernte Objekte (wie Sonne, Mond und Sterne) werden eher für lebendig gehalten als Dinge des Alltags wie Fahrräder oder Autos (Buggle/Westermann-Duttlinger 1988, Dolgin/Behrend 1984). Die Vertrautheit mit den Dingen spielt also eine grundlegende Rolle (Berzonsky 1971, Laurendeau/Pinard 1962, Looft 1974, Madsen 1982, Russell et al. 1940). Bereits Vorschulkinder sollen einen naiven Begriff von Vererbung haben. Nach Springer und Keil (1989, 1991) glauben Kinder in diesem Alter, dass die Farbe von Lebewesen ererbt ist, die von Gegenständen dagegen nicht. Ebenso erwarten sie, dass Kinder ihren Eltern ähnlich sehen (Carey/Spelke 1994, Springer 1995), auch wenn natürlich noch kein Wissen über die Vererbungsmechanismen vorhanden ist. Kinder, die danach gefragt wurden, was aus einem Kalb wird, das unter Schweinen aufwächst, wissen, dass daraus eine Kuh wird (Gelman/Wellman 1991). Vorschulkinder wissen auch um die für Lebewesen charakteristischen Wachstums- und Alterungsprozesse: So denken vier- bis fünfjährige Kinder nur im Fall von Lebewesen, dass abgeschnittene Teile (Blätter bei Pflanzen oder Haare bei Menschen) nachwachsen können (Backscheider et al. 1993). Ebenso glauben sie nur von Tieren und Pflanzen, dass sie mit dem Alter wachsen und sich verändern können (Rosengren et al. 1991). Nach Keil (1992) mutmaßen Vorschulkinder bei Lebewesen sogar eine arttypische Entwicklung. Auch Bitter (2015, S. 165) betont vor dem Hintergrund ihrer Untersuchungen mit Vorschulkindern (Beurteilung von Bildkarten mit verschiedenen Tieren, Pflanzen und nicht lebendigen Objekten), dass Kinder nicht erst gegen Ende der Grundschulzeit sicher lebendige Objekte eindeutig kategorisieren. Sie fasst die Lebendigkeitsvorstellungen in fünf Kategorien zusammen: „Struktur (physiognomische Merkmale, Inhalt, Organe, Material), Prozess (Wachstum, Entwicklung, Stoffwechsel), Fähigkeit (Können, Bewegung, Lautäußerung, Reaktion), anthropozentrische Funktion und Lebensraum“ (Bitter 2015, S. 165). Es sei auch noch betont, dass Kinder den Begriff „Leben“ nicht nur im Sinn von biologischen Attributen verwenden. So wird beispielsweise die Sonne von 30 % der 10-Jährigen für lebendig gehalten, aber nur 5 % schreiben ihr auch biologische Attribute beziehungsweise Eigenschaften von Tieren zu (Carey 1985, S. 89). „Leben“ bzw. „Lebendigkeit“ ist neben biologischen Bedeutungsdimensionen auch ein umfassendes Symbol. Das zeigen auch Untersuchungen über die freien Assoziationen, die der Begriff „Leben“ bei Schülerinnen und Schülern und Studierenden (15-25 Jahre) evoziert (Schaefer/Wille 1995). Die häufigsten Assoziationen sind in absteigender Reihenfolge die folgenden: Tod, Freude, Tiere, Freiheit, Menschen, Liebe, Geburt, Bewegung, Pflanzen, Glück, Gesundheit, Sterben, Natur, Atmung, Entwicklung, Fortpflanzung, Stoffwechsel, Trauer, Sinn und Schule. Es zeigt sich hier sogar, dass Begriffe, die mit persönlichen Sinnentwürfen assoziiert sind (wie Tod, Freude, Freiheit, Liebe und Glück), zentraler sind als die biologischen Kennzeichen des Lebendigen wie Fortpflanzung, Stoffwechsel und Entwicklung.

13.3 Das kindliche Todesverständnis

271

Weber (2008, 2014) bezeichnet die Entfremdung vom bzw. gar den Ausschluss des Lebendigen aus unserem alltäglichen Leben als Hauptursache der ungelösten Natur- und Nachhaltigkeitsprobleme. Zentrale These seines Ansatzes ist, dass „Leben“ (life) und „Lebendigkeit“ (aliveness) nicht nur rein phänomenologisch betrachtet werden dürften; sie müssten zu grundlegenden Kategorien menschlichen Denkens werden.

13.3 13.3

Das kindliche Todesverständnis Das kindliche Todesverständnis

Oft ist es der Tod eines geliebten Tieres, oft sind es auch unmittelbare Erfahrungen mit dem Sterben wichtiger Bezugspersonen (Eltern, Großeltern), manchmal ist es die Konfrontation mit dem eigenen nahen Tod, die Kinder über den Tod nachdenken lassen. Gesell und Ilg (1962, S. 428) beobachten bei Kindern verschiedener Altersstufen, dass die Frage nach der Begrenzung des Lebens bisweilen dadurch ausgelöst wird, dass in der Familie ein Baby geboren wird. Dadurch scheint der Gedanke nahegelegt, dass es auch einen Zustand der Nicht–Existenz gibt. M. Stern berichtet von ähnlichen Beobachtungen und verbindet damit die Annahme eines „angeborenen Potentials“ der Vorstellung vom Tod. Er verweist auf viele Kinderanalytiker, die sagen, dass ungefähr zu der Zeit, in der das Kind sich nach dem Ursprung des Lebens fragt, es auch neugierig auf den Tod wird. Möglicherweise sind insofern auch die psychischen Verarbeitungsweisen dieser sozusagen gleichzeitigen „Entdeckung“ ähnlich (vgl. M. Stern 1983, Wangh 1985). Die Frage nach dem Ursprung des Lebens zieht offenbar auf beunruhigende Weise die Frage nach der Zukunft und auch nach dem Ende, jedenfalls nach der Begrenzung des Lebens nach sich. Sehr deutlich zeigt das die folgende Äußerung eines vierjährigen Jungen: „Nicht wahr, man ist schon tot, wenn man noch gar nicht auf der Welt ist?“ (aus Zlotowicz 1983, S. 109) Derselbe Junge hatte in der Folge dieser „Entdeckung“ ein lebhaftes Interesse an Fragen, die den Tod und das Sterben betreffen. Ich möchte gerne jemand sterben sehen; nicht wie die Leute aussehen, wenn sie tot sind, sondern wenn sie gerade sterben, und dann möchte ich auch sehen, wie das ist, wenn sie tot sind. Insgesamt scheint es so, dass Kinder dem Tod gegenüber unbefangener sind als Erwachsene. Das wird einerseits daran liegen, dass sie einem entsprechenden Tabu noch nicht so perfekt folgen; andererseits legen auch viele Untersuchungen die Annahme nahe, dass zumindest kleine Kinder noch keine realistischen Todesvorstellungen haben, wobei natürlich unterstellt wird, der Todesbegriff der Erwachsenen sei realistisch. Viele Studien, die sich mit Todesvorstellungen von Kindern befassen, sind relativ alt. Inzwischen hat sich allerdings die Forschung über das kindliche Todesverständnis ausgesprochen weiterentwickelt (Zusammenfassungen bei Speece/Brent 1984, Stambrook/Parker 1987, Wittkowsky 1990). Trotzdem müssen viele Fragen über kindliche Todesvorstellungen noch als ungelöst betrachtet werden (Plieth 2001), wie die folgende Darstellung zeigen wird.

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13 Kind und Tod

Eine entscheidende Frage in vielen Untersuchungen ist, wann ein Kind in der Lage ist, die Realität des Todes zu verstehen, wobei es oft unklar bleibt, was jeweils damit gemeint ist. Mit guten Grund wird deshalb neben Begriffen wie „Todeserleben“, „Todesbewusstsein“, „Einstellung zum Tod“ in den meisten Studien von sogenannten „Todesvorstellungen“ gesprochen, was offenbar impliziert, dass es möglich ist, alles oder jedenfalls viel über den Tod zu wissen (wie sicherlich viele Erwachsene), ohne ihn „verstanden“ zu haben. Besondere Uneinigkeit herrscht darüber, in welchem Alter Kinder einen Begriff vom Tod bilden können. Die meisten Autoren (zum Beispiel Gesell/Ilg 1962, Nagy 1948) nehmen einen relativ späten Zeitpunkt an; diese Position hat auch Eingang in die meisten gegenwärtigen todespsychologischen Abhandlungen gefunden. Einige Autoren vertreten demgegenüber die gegenteilige Position, nämlich dass schon sehr früh – in den ersten Lebensmonaten – ein Verständnis des Todes vorhanden sei (zum Beispiel Furman 1977, Bowlby 1983, A. Freud/ Burlinham 1943). Diese Position wird am Ende dieses Kapitels dargestellt werden. Wichtig ist noch die Einschränkung, dass die im Folgenden dargestellten Entwicklungsschritte bezüglich des kindlichen Todesverständnisses natürlich keine psychologischen oder gar anthropologischen Konstanten sind; sie gelten allenfalls für die mitteleuropäische und nordamerikanische Kultur des 20. Jahrhunderts. Angesichts dieser sozialen Bedingtheit (Feldmann 1997) auch des Todesverständnisses sind die zum Teil sehr auffälligen Differenzen bei den verschiedenen Studien, jedenfalls was die Altersangaben betrifft, nicht so sehr verwunderlich. In den meisten Studien wird angenommen, dass das Kind in den ersten drei bis vier Lebensjahren keine oder zumindest begrenzte Vorstellung vom Tod hat. Peller (1963) weist darauf hin, dass es für das kleine Kind schon sehr schwer sei, die Sexualität der Erwachsenen zu verstehen; völlig unmöglich sei es jedoch, den Tod zu verstehen. Es gibt in der egozentrisch–omnipotenten Welt des Kleinkindes keine Vorstellung einer Begrenzung. Das Kind kennt zwar schon den Tod betreffende Begriffe, jedoch verkennt es noch die Endgültigkeit und die Unumgänglichkeit des Todes (vgl. Alexander/Adlerstein 1958, Kane 1979). Der Tod als ein biologischer Vorgang wird erst später erkannt; Kinder in diesem Alter sehen den Tod nicht als notwendiges Ereignis im Leben jedes Lebewesens an. Darüber hinaus begreifen sie den Tod auch noch nicht als einen Abbruch biologischer, physiologischer Funktionen (vgl. Carey 1985, S. 61). Tod bedeutet eher Abwesenheit, Schlaf, Trennung, Lähmung, die jedoch als reversibel angenommen werden. Alle Gegenstände können als beseelt und damit auch als lebendig angesehen werden. Nagy, die in Ungarn ausführliche Untersuchungen durchführte, meint, dass für das Kind der Tod ein „Weiterleben mit veränderten Umständen“ bedeutet. Da den Toten aufgrund der animistischen Denkweise auch ein Bewusstsein zugesprochen werde, „leben“ sie insofern auch weiter. Zwar seien die Toten im Sarg vor allem in ihrer Bewegungsfreiheit behindert, könnten jedoch essen und auch noch wachsen (vgl. Nagy 1948). Nach Stern (1957, S. 74f.) ist der Zustand des Todes für das kleine Kind vor allem durch Bewegungslosigkeit gekennzeichnet.

13.3 Das kindliche Todesverständnis

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Ein Mensch, der seinem Lebens- und Erfahrungskreis angehört, stirbt. Auch da, wo das Kind Krankheit und Sterben selbst nicht miterlebt, erlebt es doch die Tatsache, daß der Mensch, mit dem es vorher zusammenlebte, für immer aus seiner Umgebung ausgeschieden ist und daß andere Menschen um ihn trauern. Aber auch hier versteht das kleine Kind die Zusammenhänge nicht; der Vater ist gestorben, und es fragt: Wann kommt er wieder? Wird ihm geantwortet „niemals“, so versteht es auch dies nicht, denn es kann sich von dem „niemals“ keine Vorstellung machen (Stern 1957, S. 76).

Tote werden daher Stern zufolge in diesem Alter auch nur wenig betrauert, da der Tod ja als reversibel angenommen wird, wobei allerdings die Getrenntheit schon als traurig oder schmerzlich erlebt wird (vgl. Nagy 1948, S. 11 und v. a. Bowbly 1983). Wenn kleinen Kindern also wichtige Bezugspersonen (zum Beispiel die Mutter) sterben, so betrifft das zwar das Leben der Kinder in geradezu existentieller Weise, sie haben jedoch nur sehr wenig Möglichkeiten, ein solches Ereignis emotional und kognitiv zu verarbeiten, da die Endgültigkeit des Todes (noch) nicht richtig verstanden wird. Damit ist zugleich die Frage angesprochen, ob und wie Kinder trauern können – ein Aspekt, der noch in Kapitel 13.5 ausführlicher diskutiert wird. Allerdings haben Kinder sehr wohl ein Empfinden für Trennung; insofern empfinden sie den Tod zum Beispiel eines Tieres als eine Art Fehlen, das auch traurig machen kann. Den Tod in seiner endgültigen und existentiellen Bedeutung begreift das Kind allerdings noch nicht (vgl. Nagy 1948). Bisweilen beobachtet man kindliche Todeswünsche gegen andere Personen (siehe zum Beispiel Stern 1957, S. 79), die jedoch nicht als reale „Morddrohungen“ zu verstehen sind; solche Wünsche meinen lediglich eine – zwar aggressiv gemeinte – jedoch nur momentane Distanzierung (siehe auch Anthony 1940). Oft verknüpfen sich mit dem Tod auch magische Vorstellungen: Toten wird weiterhin Gefühl, Bewusstsein und auch die Fähigkeit, in das Leben der Lebenden einzugreifen, zugesprochen. Ein vierjähriges Kind: Die Toten schließen die Augen, weil ihnen sonst Sand hineinkommt. Bei Beerdigungen darf man nicht singen, weil sonst der Tote nicht in Frieden schlafen kann (aus Nagy 1948). Freud hat vor jeder empirischen Untersuchung die frühkindlichen Todesvorstellungen bereits im Jahre 1900 sehr deutlich benannt: Das Kind weiß nichts von den Greueln der Verwesung, vom Frieren im kalten Grab, vom Schrecken des endlosen Nichts, das der Erwachsene, wie alle Mythen vom Jenseits zeugen, in seiner Vorstellung so schlecht verträgt. Die Furcht vor dem Tode ist ihm fremd, darum spielt es mit dem gräßlichen Wort und droht einem anderen Kind: „Wenn du das noch einmal tust, wirst du sterben, wie der Franz gestorben ist“, wobei es die arme Mutter schaudernd überläuft, die vielleicht nicht daran vergessen kann, daß die größere Hälfte der erdgeborenen Menschen ihr Leben nicht über die Jahre der Kindheit bringt. Noch mit acht Jahren kann das Kind, von einem Gang durch das naturhistorische Museum heimgekehrt, seiner Mutter sagen: „Mama, ich habe dich so lieb; wenn du einmal stirbst, lasse ich dich ausstopfen und stelle dich hier im Zimmer auf, damit ich dich immer, immer sehen kann!“ So wenig gleicht 273

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13 Kind und Tod

die kindliche Vorstellung vom Gestorbensein der unsrigen. Gestorbensein heißt für das Kind, welchem ja überdies die Szenen des Leidens vor dem Tode zu sehen erspart wird, soviel als einfaches „Fortsein“, die Überlebenden nicht mehr störend (Freud 1900).

Inwieweit diese Kennzeichnung des kindlichen Todeserlebens auch für das kranke beziehungsweise todkranke Kind gilt, wird angesichts klinischer Beobachtungen angezweifelt. So zeigt eine Untersuchung von Bluebond-Langner (1977) über drei- bis neunjährige Kinder, die Leukämie hatten, dass bereits die jüngeren Kinder die Endgültigkeit und die Irreversibilität des Todes klar sehen. Die Behauptung Eduard Sprangers, dass die Bedeutung des Todes auch dann nicht vom Kind verstanden wird, wenn es um das eigene Sterben geht, kann jedenfalls in dieser Absolutheit nicht aufrechterhalten werden (vgl. Larbig 1974, S. 245). Unabhängig vom klinischen Bereich legt jedoch auch eine Reihe von neueren Studien die Annahme nahe, dass Kindern unter fünf Jahren ein „reifes Todesverständnis“ fehlt (vgl. Wittkowski 1990), wobei jedoch noch einmal auf die Relativität eines solchen reifen Konzepts hingewiesen sei. Mit etwa 5 Jahren gerät dann jedenfalls die Vorstellung von der Umkehrbarkeit des Todes langsam ins Wanken. Kinder überlegen, was aus den Toten wird und übernehmen auch bereits – wenn auch noch nicht sehr überzeugt und nur sehr vage – Todesvorstellungen der Eltern. Auch der Tod wird von den 5-jährigen als eine natürliche Gegebenheit hingenommen. Das 5-jährige scheint das Endgültige des Todesdunkel zu erkennen und spricht von ihm als dem „Ende“. Die tote Person ist für das 5-jährige eine Person ohne lebendige Eigenschaften: „Er kann nicht gehen, er kann nicht sehen und er kann nicht fühlen“. Es interessiert sich für die Lage des Soldaten, der im Kriege fällt. – „Fällt er auf seinen Rücken oder auf sein Gesicht?“ Wenn man ihm sagt, tote Menschen kommen, nachdem sie gestorben sind, in den Himmel, ist es darüber erstaunt, daß sie nicht aus dem Himmel fallen (Gesell/Ilg 1962, S. 99).

Gesell und Ilg beobachten eine ausgeprägt sachliche Einstellung zum Tod, die ohne große gefühlsmäßige Belastung klar formuliert werden könne. Oft gibt es auch personifizierte Vorstellungen vom Tod (vgl. etwa Nagy 1948), zum Beispiel als Gerippe oder als Sensenmann. Mit 6 Jahren wird das kindliche Todesbild zunehmend realistischer. Das hängt nach Geuss (1984), der versucht hat, das kognitionspsychologische Modell von Piaget auf die Vorstellungen vom Tod zu beziehen, vor allem damit zusammen, dass erst jetzt in der Phase der konkreten Operationen das Denken vom Tode möglich sei: In der Stufe der konkreten Operationen (etwa 7. bis 11. Lebensjahr) werden Invarianz und Reversibilität entwickelt; im Denken vermag sich das Kind zunehmend von realen Gegebenheiten zu lösen sowie mehrere Aspekte eines Sachverhalts gleichzeitig zu berücksichtigen und zueinander in Beziehung zu setzen. In der Phase der formalen Operationen (etwa ab dem 11. Lebensjahr) kann dann das Kind von konkreten Vorstellungen abstrahieren und unterschiedliche Möglichkeiten mit Hilfe normaler Operationen durchdenken. – Aus dieser kurzen Analyse folgt, daß frühestens in der Stufe der konkreten Operationen (etwa ab dem 7. Lebensjahr) realistische Kognitionen über „Tod“ und „Sterben“ ausgebildet werden können, da das Kind sich erst in dieser Phase von der konkreten Wirklichkeit gedanklich zu lösen vermag und begreift, daß sich Entwicklungen auch umkehren können (Geuss 1984, S. 294).

13.3 Das kindliche Todesverständnis

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Todesgedanken werden nun emotional bedeutsam, werden auch mit Angst verknüpft. Langsam wird begriffen, dass man auch selbst sterben muss, wenn dies auch im Allgemeinen geleugnet wird (Gesell/Ilg 1962, S. 167). Gesell und Ilg beobachten zum Beispiel an 6-jährigen Kindern, dass sie fürchten, ihre Mutter könnte sterben. Stern (1957) allerdings berichtet auch in diesem Alter noch von Kindern, die dem Tod relativ gelassen und teilnahmslos gegenüberstehen. Die Reversibilität des Todes wird deutlich angezweifelt, wenngleich nach Gesell und Ilg im Denken von 6-jährigen Kindern noch häufig der Gedanke auftaucht, dass es einen Vorgang gibt, der den Tod rückgängig macht. Am ehesten kann es (das 6-jährige Kind) sich den Tod so vorstellen, daß irgendein anderer den Platz des Toten einnimmt: Puppen nehmen den Platz von Hunden und Kinder den Platz ihrer Eltern ein. Fühlt das 6-jährige die unmittelbar bevorstehende Möglichkeit, seine Mutter könne sterben, dann denkt es zwangsläufig an jemanden, vielleicht an eine Tante, als etwaigen Ersatz für seine Mutter (Gesell/Ilg 1962, S. 141).

Nach Nagy (1948) wird der Tod jetzt zwar als endgültig betrachtet, aber als etwas, was nicht jeden zwangsläufig treffen muss. Der Zusammenhang von Alter und Tod wird erkannt (Gesell/Ilg 1962, S. 446 und 141). Erstmals wird auch die Möglichkeit des gewaltsamen Todes, des Getötetwerdens ins Auge gefasst. Oft wird der Tod auch als Strafe für irgendwelche Vergehen angesehen beziehungsweise befürchtet (vgl. White et al. 1978). Nach einer Untersuchung von Orbach et al. (1987) bringen 7- bis 8-jährige Kinder den Tod sehr klar mit den Begriffen Endgültigkeit, Unwiderruflichkeit, Allgemeingültigkeit und Alter in Verbindung. Langsam nimmt auch das Interesse am Umfeld des Todes (Sarg, Begräbnis, Friedhof etc.) zu, die Frage nach den Ursachen gewinnt an Bedeutung (Gesell/Ilg 1962, S. 167). In der Arbeit von Orbach et al. (1987) wurde das Todesverständnis im Hinblick auf Menschen und im Hinblick auf Tiere miteinander verglichen. Zum einen zeigen die Ergebnisse, dass die Kinder dieses Alters den Tod von Tieren nicht oder zumindest weniger mit dem Alter verbinden, was wohl daran liegen wird, dass Alterserscheinungen bei Tieren nicht so ohne weiteres identifizierbar sind. Zum anderen – und das ist für unseren Zusammenhang interessant – scheint es nach diesen Beobachtungen nicht so zu sein, dass Kinder leichter und v. a. auch eher ein Verständnis für den Tod von Tieren erwerben als von Menschen, wie das einige andere Studien nahelegen (zum Beispiel Mitchell 1967). Orbach schließt daraus, daß unser Verständnis von dem Tod nicht notwendigerweise eine initiale Begegnung mit dem Tod von Tieren verlangt, die das Kind dann auf den Menschen ausdehnt. Eher scheint unser Begriffsvermögen vom Tod durch andere Erfahrungsprozesse gefördert zu werden, wie Schlaf- und Wachperioden, Trennung oder unterschiedliche Ängste (Orbach 1990, S. 103).

Die Unvermeidlichkeit des Todes wird mit etwa acht Jahren auch auf die eigene Person bezogen, verbunden mit der Übernahme magisch-religiöser Vorstellungen einerseits und realistisch-biologischer Informationen andererseits. In einer Studie von 1934 wird dagegen 275

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13 Kind und Tod

angenommen, dass Kinder bis zu 15 Jahren (!) recht selten Todesfurcht haben, zwar an den Tod anderer, jedoch nicht an den eigenen glauben (vgl. Schilder/Wechsler 1934). Insgesamt verstärken sich jedoch die Überlegungen darüber, was nach dem Tod sein wird. Der Tod wird jetzt auch als ein unumgänglicher biologischer Prozess angesehen (Koocher 1974, Nagy 1948, Safier 1964, Anthony 1940, Mitchell 1967, Kane 1979), der zudem endgültig und universell ist (Lazar/Torney-Purta 1991, Speece/ Brent 1984). In einer Studie von Koocher (1974) geben 12-Jährige als Gründe für den Tod vor allem biologische Zusammenhänge an: Herzstillstand, Atemstillstand, Blutkreislauf, Alter, Krankheit. Die Untersuchungen von Slaughter (2005) zeigen dagegen, dass Kinder bereits zwischen 4 und 8 Jahren beginnen, den menschlichen Körper als ein biologisches System zu verstehen (vgl. Hatano/Inagaki 2002). Indem Kinder den menschlichen Körper gewissermaßen als eine „Lebensmaschine“ (Slaughter 2005) interpretieren, können sie auch den Tod als einen biologischen Prozess deuten (Slaughter/Lyons 2003). Auch nach Gesell und Ilg können 10-Jährige den Tod als biologisches Phänomen sehen (Tod = kein Leben, keine Temperatur, kein Atem, kein Herzschlag). Das 10-jährige Kind […] tritt der Tatsache des Todes als einer Urerscheinung gegenüber; es beschränkt sein Interesse nicht auf die Begleiterscheinungen und die Folgen des Todes. Das Leben hat für das 10-jährige Kind eine physiologische Grundlage in der Ernährung, dem Wachstum, dem Blut und der Atmung. Der Tod tritt ein, wenn diese wesentlichen Voraussetzungen nicht erfüllt sind. […] Seinem Reifegrad entsprechend nähert sich das 10 Jahre alte Kind der Anschauung des Erwachsenen, auf die die Entwicklung hindeutet (Gesell/Ilg 1962, S. 430).

Stern berichtet, dass 11-Jährige in der Regel von dem Vorgang der Verwesung wissen und davor auch Angst haben (vgl. Stern 1957, S. 140f.). Das Kind weiß jetzt fast immer, daß der Tod die definitive Trennung bedeutet, daß er unwiderruflich ist, Trennung und Liebesverlust werden als schmerzlich empfunden. Die Angst vor dem Tod und vor dem Sterben ist allen Kindern dieser Altersstufe bekannt, aber viele weisen sie von sich, indem sie sich sagen, der Tod liege sehr fern, er betreffe sie nicht, er gehe nur die „Alten“ an. Religiöse Vorstellungen bringen, wo sie vorhanden sind, wenig Trost (Stern 1957, S. 142f.).

Während Gesell und Ilg annehmen, dass animistische und magische Haltungen gegenüber dem Tod abgelegt seien und in diesem Alter die Notwendigkeit und Endgültigkeit des Todes akzeptiert sei, mutmaßt Stern (1957, S. 112f.), dass animistische Anteile beim Todesbegriff erst sehr viel später – wenn überhaupt – abgelegt werden. Brocher vermutet in diesem Zusammenhang, dass religiös motivierte Unsterblichkeitsphantasien nicht nur ein Ausfluss frühkindlicher animistischer Tendenzen sind, sondern auch eine Reaktion auf die biologisch fundierte Erkenntnis des Todes (vgl. Brocher 1987, S. 19). Zu fragen ist mit Fuchs auch, „inwieweit sich […] die Animismen im Rahmen von Religion, Aberglauben oder Weltanschauung neu integriert haben“ (Fuchs 1969, S. 123).

13.3 Das kindliche Todesverständnis

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Im Weiteren wird dann der Todesbegriff im Laufe der Vorpubertät/Pubertät dem der Erwachsenen immer ähnlicher. Eine realistische Todesvorstellung markiert nach Stern (1957) geradezu das „Ende der Kindheit“. Dabei sei nochmals dahingestellt, wie realistisch, d. h. frei von Abwehr, Tabuisierung und Allmachtsphantasien das Todesbild von Erwachsenen ist. Jedenfalls verknüpft sich die Todesfrage ab der Pubertät auch mit der Frage nach dem Sinn des Lebens, mit der Frage nach einem möglichen Leben nach dem Tod, mit Philosophie und Religion. Zugleich werden die Todesvorstellungen auch abstrakter (vgl. Gesell/Ilg 1962, S. 480f). Die Frage nach dem Tod verknüpft sich auch mit dem Gedanken an Selbstmord, was ein eigenes Thema ist und hier nicht ausgeführt werden soll (siehe zu dieser Thematik zum Beispiel Heuer 1979, Ide 1992, Jochmus/Förster 1983, Orbach 1990). Die Anerkenntnis der Begrenztheit des eigenen Lebens hat zusätzlich weitreichende Auswirkungen auf die Art der subjektiven Biographiekonstruktion (vgl. Fuchs 1985). So begreift der Jugendliche […] zum ersten Mal, deutlicher als das über den Tod gelegentlich nachdenkende Kind, nicht nur, daß das Leben mit dem Tod endet, sondern darüber hinaus auch, daß sein eigenes Leben eines Tages seinen Abschluß erfahren wird (Bühler 1959, S. 31).

Mit der Anerkenntnis der Unvermeidlichkeit des Todes wird die Trauer und Betroffenheit bei Todesfällen von nahen Menschen oder auch bei Lieblingstieren ausgeprägter. So stellen Wittkowski und Schnell (1981) in einer Studie an 8- bis 14-jährigen Grund- und Hauptschülerinnen und -schülern (n=1180) bis zum 12. Lebensjahr nicht nur immer differenzierter werdende biologische Kenntnisse bei Kindern fest, sondern auch damit im Zusammenhang stehende „unlustbetonte Gefühle“. Die Kenntnis der Vorgänge und Fakten bezüglich Tod und Sterben ist Voraussetzung und auslösendes Moment in negative Emotionalität gegenüber der Todesthematik (Wittkowsky/ Schnell 1981, S. 310).

Jedenfalls werden Kinder und Jugendliche, nachdem sie von ihrem frühen Weltbild von der Nichtexistenz beziehungsweise zumindest Umkehrbarkeit des Todes Abschied genommen haben und über ihr Verhältnis zu Tod und Leben nachzudenken beginnen, von Erwachsenen (Eltern, Lehrer, Erzieher) oft im Stich gelassen, die den Tod lieber ausgrenzen, als darüber aufzuklären. Insofern übernehmen Kinder spätestens mit dem „realistischen“ erwachsenen Todesbegriff auch das Tabu, über den Tod zu reden beziehungsweise sich mit anderen darüber auszutauschen. Wenn man auch zusammenfassend sagen kann, dass die Entwicklung des Todeskonzepts sowohl mit der kognitiven Entwicklung als auch mit dem chronologischen Alter zusammenhängt, so muss doch relativierend angemerkt werden, dass die Entwicklung der Kognitionen über Tod und Sterben mit großer Wahrscheinlichkeit nicht so starr verläuft, wie es bei dieser Darstellung vielleicht den Anschein hat und wie es von vielen Autoren wohl auch angenommen wird. Bisweilen entsteht dabei der Eindruck, als seien die Vorstellungen vom Tod gewissermaßen Ausdruck einer endogenen Reifung, die relativ unabhängig vom kulturellen Umfeld und auch von persönlichen Erfahrungen sind. In 277

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13 Kind und Tod

einer Studie von Townley und Thornburg (1980) wird sogar zu zeigen versucht, dass der Tod von nahen Bezugspersonen kaum Einfluss auf die kindlichen Vorstellungen von Tod und Sterben hat. Dass dies angezweifelt werden muss, zeigt eine interessante Untersuchung von Geuss (1984): Danach sind sowohl die Art der Todesvorstellungen als auch der Zeitpunkt, an dem sie auftreten, abhängig von persönlichen Erfahrungen und vor allem vom Funk- und Medienkonsum. Diese Untersuchung legt ferner die Annahme nahe, dass Kinder, die sich mit dem Tod eines nahen Angehörigen auseinandersetzen mussten und vor allem dazu auch Gelegenheit hatten (d. h. nicht infolge fehlender Hilfestellung verdrängen mussten), ein verhältnismäßig realistisches Todesverständnis hatten, das nicht den oben dargestellten Altersangaben streng unterliegt. Ein weiteres interessantes Ergebnis ist, dass ein verstärkter Fernsehkonsum offenbar dazu führt, dass die Vorstellungen vom Tod unrealistisch werden. Das wird wohl auch daran liegen, dass in den Medien der Tod als etwas „Alltägliches“ erscheint, als ein „willkürliches Beseitigen und Austauschen von Menschen“ (Geuss 1984, S. 295f.). Wie subtil beispielsweise Disney-Filme die Todesvorstellungen beeinflussen, zeigt eine Studie von Cox et al. (2004–2005). Direkte Erfahrungen mit dem Tod beeinflussen den Todesbegriff sehr (Reilly et al. 1983, Speece/Brent 1984, Kastenbaum 1977). So verglichen Reilly et al. bei 5- bis 10-jährigen Kindern drei Gruppen: Kinder, die einen nahen Angehörigen durch Tod verloren hatten; Kinder von geschiedenen Eltern und Kinder, die keinen Verlust erlebt hatten. Die Analyse zeigt sehr deutlich, wie sehr die Einsicht in den Tod bei der Gruppe am ausgeprägtesten war, die auch mit ihm bereits Erfahrungen gemacht hat. Gerade die jüngeren Kinder hatten ein weitaus tieferes Verständnis, als kognitionstheoretische Erwägungen vermuten lassen würden (vgl. auch Orbach 1990, S. 119). So ist es wahrscheinlich, dass Sozialisationseinflüsse wesentlich die Todesvorstellungen von Kindern beeinflussen (vgl. Furman 1977, Brocher 1987 Kliman 1980, Fuchs 1969, S. 124f.). Hahn (1968) entfaltet sehr überzeugend und mit soziologischen Belegen, wie sehr die Todesvorstellungen „sozial bedingt“ und – worauf schon hingewiesen wurde – sehr durch das unsere Gesellschaft kennzeichnende Todestabu geprägt sind. Elias (1982) begreift sogar ausdrücklich die Art und Weise der Todesverdrängung als ein Strukturmerkmal des Zivilisationsprozesses. Analog hierzu werden auch die Todesvorstellungen, die in einer konkreten Zivilisation entstehen, Merkmal beziehungsweise Resultat des Sozialisationsprozesses sein, der für eben diese Zivilisation erzieht. Zu den Erfahrungen mit dem Tod, die Kinder machen können, gehört auch, wie die Eltern und die näheren Bezugspersonen mit der Todesproblematik umgehen, d. h., wie stark das Todestabu im familiären Bezugssystem aufrechterhalten wird, auch wenn Vater, Mutter oder Geschwister sterben. Die Probleme der Erwachsenen, mit dem Tod umzugehen, übertragen sich auf diese Weise auf die Kinder. Viele Eltern schicken ihre Kinder zu Verwandten oder Freunden, bis die Beerdigung vorbei ist. Kinder spüren jedoch am Benehmen der Erwachsenen, daß etwas Trauriges geschehen ist. Man kann ihnen den Todesfall auf die Dauer nicht verheimlichen. Wenn Kinder von der gemeinsamen Trauer ausgeschlossen werden, so wird ihr Vertrauen zu den Eltern schwer

13.3 Das kindliche Todesverständnis

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erschüttert. […] Erwachsene wollen Kinder vor Kummer bewahren, indem sie ihnen den Tod und die Traurigkeit vorenthalten. Die Auseinandersetzung mit dem Verlust können sie ihnen aber nicht ersparen. Vielleicht haben die Erwachsenen auch Angst vor der kindlichen Spontaneität, welche die eigene Abwehr gefährden könnte. Offene Gefühlsäußerungen würde die Selbstkontrolle der Erwachsenen in Frage stellen (Spiecker-Verscharen 1982, S. 50f.).

Bowlby (1983, S. 347) weist darauf hin, dass das „schwache Ich“ des Kindes oft als Vorwand missbraucht wird, um sich nicht mit den Kindern über den Tod auseinanderzusetzen zu müssen. Einige Gedanken zum (pädagogischen) Umgang mit dem Thema Tod und Sterben werden in Kapitel 13.6 noch dargelegt. Unabhängig von diesen relativierenden Überlegungen zur sozialen Bedingtheit kindlicher Todesvorstellungen stellt E. Furman (1977) überhaupt die Frage, ob Kinder erst so spät, wie es fast alle Untersuchungen nahelegen, die Realität des Todes erfassen. Bereits elf Jahre früher hatte ihr Mann R. A. Furman die Ansicht vertreten, dass sehr wohl bereits 2- bis 3-jährige Kinder den Begriff „Tod“ verstehen und auch trauern können. Allerdings seien diese seelischen Fähigkeiten nicht immer zugänglich, könnten jedoch bei entsprechenden Umständen gefördert werden (Furman 1966). Nach den Beobachtungen von E. Furman erfasst bereits ein zweijähriges Kind sehr wohl die Ernsthaftigkeit und Einzigartigkeit des Todes, hat dafür jedoch noch keine (verbale) Ausdrucksmöglichkeit. Bedingung dafür ist allerdings wohl, dass es bereits Erfahrungen mit dem Tod von Angehörigen und – übrigens weitaus häufiger – von Tieren gemacht hat. Aufgrund solcher Erfahrungen und im Zusammenhang mit der Unterscheidungsfähigkeit von tot und lebendig verstünden Kinder intuitiv schon sehr früh etwas vom Tod (vgl. auch Speece/Brent 1984). Der Erwachsene hat ein vollentwickeltes kognitives Konzept vom Tod, und dennoch kann es ihm unmöglich sein, ein totes Tier anzusehen oder dem Kind den konkreten Unterschied zwischen tot und lebendig zu erklären. Umgekehrt kann ein Kind im Kindergartenalter auf Befragung möglicherweise nicht in Worten definieren, was „tot“ ist; wenn es aber eine tote Fliege oder einen toten Vogel sieht, wird es den Zustand ganz richtig beurteilen (Furman 1977, S. 265).

Auch Anthony (1940) weist darauf hin, dass bereits zweijährige Kinder sich mit dem Tod beschäftigen und vor ihm Angst haben. Möglicherweise wird dieses intuitive Verständnis sogar durch entsprechende Tabus wieder verwässert. Diese Vermutung wird beispielsweise bestätigt durch differenzierte und einfühlsame Spielbeobachtungen von Rochlin (1967), nach denen Kinder erst dann den Tod verleugnen oder verzerren, nachdem sie erfahren haben, was der Tod bedeutet. Oft werden Kinder in ihrem Todesverständnis von den Erwachsenen auch unterschätzt (vgl. Brocher 1987). Abschließend sei noch auf Berichte von Anna Freud und Dorothy Burlingham verwiesen. Sie beobachteten „Kriegskinder“ im Zweiten Weltkrieg in London und bescheinigten ihnen ein erstaunlich frühes Verstehen des Todesphänomens, was natürlich etwas mit den Erfahrungen und Erlebnissen im Krieg zu tun haben wird. Zwar gehen auch sie von der Prämisse aus, dass „der Tod […] ein für dieses Alter gefühlsmäßig nicht fassbarer Begriff 279

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13 Kind und Tod

[ist], auch wo die Verstandesentwicklung des Kindes weit genug vorgeschritten ist, um andere komplizierte Zusammenhänge zu erfassen“ (A. Freud/Burlingham 1980, S. 508). Auf der anderen Seite berichten sie von vielen Beispielen, aus denen deutlich wird, dass bereits kleine Kinder ein sehr klares Verständnis von Tod und Kriegsereignissen haben: Kinder die während des Bombardements älter als zwei Jahre waren, verstehen fast ausnahmslos, was ein Fliegerangriff bedeutet. Sie horchen auf anfliegende Flugzeuge und unterscheiden, mehr oder weniger, zwischen dem Geräusch von fallenden Bomben und von Abwehrgeschossen. Sie wissen, daß gebombte Häuser zusammenfallen und daß Menschen unter ihnen verschüttet und getötet werden können (A. Freud/Burlingham 1980, S. 507). Ein 4jähriger Junge, der lange Zeit den Tod des Vaters verleugnet hat, sieht sehr klar: „Mein Vater ist tot und meine Mutter im Spital. Wenn der Krieg aus ist, kann sie zurückkommen, aber er kommt nicht wieder“ (A. Freud/Burlingham 1980, S. 546).

13.4 13.4

Angst vor dem Tod Angst vor dem Tod

Natürlich lassen sich die kindlichen Vorstellungen vom Tod nicht von der Angst vor dem Tod trennen, wie überhaupt kognitive und emotionale Prozesse immer aufeinander bezogen sind. Trotzdem geben die meisten der bisher referierten Studien vor, gewissermaßen nur den kognitiven Teil des kindlichen Todesverständnisses zu erfassen. Wie sich jedoch gezeigt hat, sind dabei zwangsläufig schon einige Bemerkungen zur kindlichen Todesangst gefallen. Trotzdem soll nun in diesem Abschnitt genauer und differenzierter auf das Phänomen der Todesangst eingegangen werden, um in einem zweiten Schritt die wenigen Befunde zur kindlichen Todesangst darzustellen. Zur Genese der Todesangst gibt es zwei unterschiedliche theoretische Positionen: Einmal wird die Todesangst als eine primäre menschliche Motivation angenommen, die vor jeder Erfahrung da sei. Diese ursprüngliche Todesangst wäre demnach Bestandteil des (zumindest menschlichen) Lebens schlechthin, verknüpft mit einer Disposition zur Selbsterhaltung. Max Scheler behauptet, dass der Tod als ein Wesensmerkmal des Lebens vor jeder Erfahrung vom Menschen auch bereits gewusst wird. Der Tod gehört zur Form und zur Struktur, in der uns allein jegliches Leben gegeben ist, unser eigenes wie jedes andere, und dies von innen und von außen. (Scheler 1957, S. 22)

Dieses „absolute Todesphänomen, das an das Wesen des Lebendigen geknüpft ist“ (Scheler 1957, S. 35), braucht in der individuellen Entwicklung auch nicht die Erfahrung oder gar Beobachtung der Sterblichkeit. Nach Scheler wissen die Menschen von ihrer Sterblichkeit von vornherein, vor jeder Erfahrung. Insofern ist nach dieser Position die Gewissheit des Todes völlig unabhängig von historischen und sozialen Gegebenheiten. Nach Scheler ist diese Gewissheit auch unabhängig von dem Phänomen der Todesangst. Erst im Verlaufe des Lebens nämlich wird die Todesgewissheit mit negativen Gefühlen verknüpft. Auch

13.4 Angst vor dem Tod

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Heideggers (1979) Position des „Seins zum Tode“ ist dieser Annahme einer ursprünglichen Todesgewissheit und Todesangst verwandt. Die andere Position nimmt die Todesangst als ein Sekundärphänomen an. Der Psychoanalyse zufolge entsteht sie als eine Umwandlung von frühkindlichen Trennungs-, Straf- und Gewissensängsten. Während das Kleinkind völlig ohne Todesangst sei, komme es im Gefolge des Ödipuskomplexes (4./5. Lebensjahr) als Umformung der Angst vor den strafenden Eltern, der Angst vor den nicht oder nur unzureichend zu erfüllenden Geboten des Gewissens, des Überichs, zur Todesangst. Da im Unbewussten „nichts vorhanden [sei], was unserem Begriff der Lebensvernichtung Inhalt geben kann“ (Freud 1926, S. 160), muss insofern auch die Todesangst eine sekundäre Umwandlung von anderen Ängsten sein. Dem Todesglauben kommt aber nichts Triebhaftes in uns entgegen. […] Die Todesangst, unter deren Herrschaft wir häufiger stehen als wir selbst wissen, […] ist etwas Sekundäres und meist aus Schuldbewußtsein Hervorgegangenes (Freud 1915c, S. 350).

Der Kern dieses Gedankengangs wird deutlich, wenn man sich die genannten Ängste genauer ansieht: Es ist die Angst, von der haltenden Gemeinschaft verlassen, nicht mehr geliebt, verstoßen zu werden. Danach ist die Angst vor dem Tod eine soziale Angst, nämlich von lebendigen Beziehungen ausgeschlossen zu sein, wenn man den herrschenden Werten und Normen nicht genügend entspricht. Todesangst wäre somit in der Substanz eine Angst vor Liebesverlust und absoluter Einsamkeit. Insofern können als ein Ursprung der Todesangst frühe Trennungserlebnisse angenommen werden (vgl. Muensterberger 1963/64), was im Ergebnis schon fast der ersten These von der primären Todesangst nahekommt, da in der Realität diese Trennungserlebnisse und die entsprechende Angst davor nicht zu vermeiden sind. In diesem Zusammenhang spricht M. Stern (1972) davon, dass alle Menschen im frühen Alter gewissermaßen Todesäquivalente als Folge ausbleibender Versorgung erleben und dass sich derartige Erfahrungen als „Todestrauma“ verdichten. Auch Bowlby (1983) weist darauf hin, dass Trennungsangst und Todesangst für das kleine Kind, das noch keine Vorstellung von Zeit hat, die gleiche Qualität hat, wobei natürlich keine letztlich sicheren Angaben für das kindliche Erleben in dieser frühen Zeit zu machen sind. McCarthy (1980) betont ebenfalls als eine Dimension der Todesangst die Trennung von den Eltern; allerdings sei es eher die Angst des Kindes, die Eltern zu verlassen. Es ist also hier mehr die Angst, die auftritt, wenn sich das Kind von den primären Bezugspersonen unabhängig machen will. Wittkowski (1978) unterscheidet zwischen dem eigenen Tod und dem Tod anderer Menschen, wobei in beiden Fällen auch hier Todesangst als eine Angst vor Beziehungsverlust verstanden wird: Angst vor dem eigenen Tod bezieht sich auf die irreversible Auslöschung und Vernichtung des Individuums, auf die Auflösung aller innerweltlichen Beziehungen und auf die damit einhergehende Unmöglichkeit, zielgerichtete Aktivitäten zu entfalten. […] Angst vor dem Tod anderer richtet sich auf den Verlust persönlicher Bedingungen und Beziehungen, auf

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282

13 Kind und Tod

das Fehlen von Anregungen und Bereicherungen, die vom Verstorbenen ausgegangen waren (Wittkowski 1978, S. 64).

Todesangst ist im Übrigen nicht die einzige mögliche Reaktion auf die Realität des Todes. Gleichgültigkeit, Negation, Akzeptieren sind weitere mögliche Reaktionsformen, die, wie Wittkowski (1978) zeigt, durchaus auch neben der Todesangst vorkommen. Ein weiterer Aspekt der Todesangst ist, dass man den Zustand des Todes nur denken, nicht aber erfahren kann. Der Tod, so sehr er inzwischen biologisch, medizinisch und psychologisch erforscht sein mag, bleibt trotzdem etwas prinzipiell Unbekanntes für die Lebenden und ist insofern ängstigend. Die Angst vor dem Tod ist so auch die Angst vor dem schlechthin Unbekannten, vor dem Nichts. Religiöse Jenseitshoffnungen oder Auferstehungsphantasien können als eine Abwehr oder auch als eine Bearbeitung dieser existentiellen Angst verstanden werden. Marchi (1988) betrachtet die Erkenntnis von der Gewissheit des Todes geradezu als „Urschock“ für den Menschen und interpretiert die menschliche Kulturentwicklung als einen groß angelegten Versuch, eben diesen Urschock zu bewältigen, indem der Tod beziehungsweise die Erkenntnis des Todes verdrängt wird. Zur Frage der kindlichen Todesangst gibt es nur wenige Hinweise und auch die sind widersprüchlich. Einige Studien lassen vermuten, dass es zumindest bei jungen Kindern bis etwa fünf Jahren keine Todesangst gebe (Halpern/Palic 1984, Gartley/Bernasconi 1967, Schilder/Wechsler 1934, Wittkowski/Schnell 1981). Natürlich hängt diese Position damit zusammen, dass in den genannten Untersuchungen den jüngeren Kindern überhaupt ein Verständnis des Todes abgesprochen wird. Insofern begünstige ein unreifes Todeskonzept auch einen zumindest relativ angstfreien Umgang mit dem Tod (vgl. Wittkowski 1990). Es ist jedoch die Frage, ob und wie bewusste Kognitionen über den Tod so einsinnig mit emotionalen Reaktionen wie zum Beispiel der Todesangst zusammenhängen. So gibt es auch einige gegenläufige Beobachtungen: Reed (1972) behauptet beispielsweise, dass ca. 80 % der Kinderängste den Tod betreffen. Die Kinder befürchten, zu sterben, getötet zu werden oder dass ein Familienmitglied sterben könnte. Leist (1979) berichtet von einer Studie an Grund- und Hauptschulen, nach der Mädchen deutlich mehr Angst vor dem Tod haben als Jungen. Nach Zeligs (1974) bezieht sich die Angst vor dem Tod bei jüngeren Kindern darauf, die Eltern zu verlieren, eine Leiche zu sehen, auf den eigenen Tod und auf das Verlassenwerden. Ähnlich äußert sich auch Anthony (1971), wobei noch die Angst, verletzbar zu sein und v. a. selbst wichtige Bezugspersonen zu verlassen, hinzukommt. In der Tat also scheint ein wesentlicher Inhalt der Todesangst die Angst vor Beziehungsverlust zu sein, wie das oben schon angedeutet wurde. Dabei scheint es zumindest sekundär zu sein, von wem der Verlust ausgeht (vgl. McCarthy 1980). Furman (1977) sagt, dass gerade für kleine Kinder der Tod eines Elternteils oft starke Angst auslöst, ebenfalls sterben zu müssen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die (scheinbar) sachliche und emotionslose Einstellung zum Tod, wie sie im letzten Abschnitt für jüngere Kinder oft beschrieben wurde, eigentlich der Abwehr von starken Todesängsten dient.

13.4 Angst vor dem Tod

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Je enger das Kind sich der verstorbenen Bezugsperson verbunden fühlte, um so größer ist sein Bedürfnis, sich selbst vom Schicksal des oder der Verstorbenen zu distanzieren, bevor es sich intellektuell damit auseinandersetzen kann. Jeder Mensch muß mit seiner Todesfurcht fertig werden, indem er sich vergewissert, daß das Schicksal des Toten nicht das seine ist, auch wenn er ihm nahestand und Empathie und Sympathie empfindet. Wenn Vater oder Mutter sterben, hat das Kind in dieser Hinsicht besondere Schwierigkeiten (Furman 1977, S. 23f.).

Todesangst gilt in solchen Situationen oft dem überlebenden Elternteil (vgl. Bowlby 1983, S. 456f.). Analog zu Scheler postulierte auch Weber eine ursprüngliche und genuine Todesangst bereits bei Kindern. Er beschreibt bei drei interessanten Fallstudien über neurotische Kleinkinder intensives Todeserleben und auch Todesangst bereits im Alter von 2½ Jahren. Seine Beobachtungen (vor allem die Bewusstheit der Unterscheidung von tot und lebendig und die kindliche Todesangst) führten ihn zu der Annahme einer „genuinen Angst von dem Tode“ (Weber 1943). Zusätzlich stützt sich diese Position auf Befragungen von 60 Kindern zwischen 5 und 15 Jahren, die nach seinen Interpretationen allesamt Todesangst hatten. Interessant ist seine Position, dass Emotionen vor entsprechenden Einsichten kommen, also dass Todesangst möglich sei, ohne dass klare Todesvorstellungen vorhanden sein müssen (Weber 1943, S. 195f., 215, 224). Todesängste können bei Kindern noch verstärkt werden, wenn sie nicht oder zumindest nicht vollständig über Fragen nach Tod und Sterben unterrichtet werden, zum Beispiel weil die Erwachsenen das bereits mehrfach angesprochene Todestabu nicht überwinden können. Gerade das Nichtinformiertsein über den Tod kann der Angst vor dem Tod noch einen spezifischen Akzent geben, nämlich wenn das Kind den Tod als eine Art der Bestrafung ansieht oder wenn er geradezu so vermittelt wird. Es wurde bereits mehrfach darauf verwiesen, dass Menschen angesichts des Todes und vor allem angesichts der Todesangst mannigfache Abwehrmechanismen entwickeln, um dieser Realität zumindest nicht ungeschminkt ins Auge sehen zu müssen. Solche Abwehrformen gibt es natürlich auch schon bei Kindern. Yalom (1989) hat sie aufgrund von Literaturrecherchen zusammengestellt: • Verleugnung von Tod: Der Tod wird als reversibel, als nur vorübergehend, als Leben unter veränderten Umständen angesehen. • Glaube an die Einzigartigkeit des Selbst. „Mir wird das nicht geschehen.“ Aufgrund einer kindlichen, egozentrischen Perspektive wird der Tod nicht auf sich selbst bezogen. • Glaube an einen Retter: Es werden mächtige Wesen phantasiert, die zur Not eingreifen können. • Verleugnung des Todes bei Kindern: Es gibt zwar den Tod, aber er trifft nur Erwachsene und alte Menschen. • Personifizierung von Tod: Diese Strategie nährt die Illusion, als könne man den Tod durch List oder durch Wohlverhalten beeinflussen. • Den Tod herausfordern.

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13.5 13.5

13 Kind und Tod

Formen kindlicher Trauer Formen kindlicher Trauer

Trauer ist eine emotionale Reaktion auf Verlust und Trennung (nicht nur durch Tod), die zum einen schmerzvoll ist, weil es nicht einfach ist, das Verlorene auch wirklich verloren zu geben, die zum anderen aber auch zugleich eine Bearbeitung des erlittenen Verlustes darstellt. Beide Aspekte – der ausgehaltene Schmerz und die bewusste Verarbeitung und damit Ablösung – machen fähig, sich auf neue Bindungen einzulassen. Voraussetzung für Trauer ist, dass eine emotionale Bindung bestanden hat (vgl. Wendt 1984, S. 352). Trauer braucht zwar Zeit, jedoch erlischt sie auch wieder, und der Trauernde kann den Verlust ertragen, ohne ihn vergessen oder verdrängen zu müssen. Dieser Prozess der Loslösung ist in verschiedenen Phasen beschrieben worden, an deren Ende jeweils die Fähigkeit zu erneuten Bindungen steht. So beschreibt Kast (1982) die Phase des Nichtwahr-haben-Wollens, die Phase der aufbrechenden Emotionen, die Phase des Suchens und Sich–Trennens und schließlich die Phase des neuen Selbst- und Weltbezuges. Bowlby beschreibt folgende Phasen: 1. Phase der Betäubung, die gewöhnlich einige Stunden bis eine Woche dauert und unterbrochen werden kann von Ausbrüchen extrem intensiver Qual und/oder Wut. 2. Phase der Sehnsucht und Suche nach der verlorenen Figur, die einige Monate und manchmal Jahre dauert. 3. Phase der Desorganisation und Verzweiflung. 4. Phase eines größeren oder geringeren Grades von Reorganisation (Bowlby 1983, S. 114). Der Prozess des Trauerns ist schmerzvoll und bisweilen auch anstrengend, weshalb von Freud dafür der nicht ganz glückliche Ausdruck der „Trauerarbeit“ eingeführt wurde. Diese Trauerarbeit […] bringt uns langsam dazu, die definitive Veränderung der Realität durch den Verlust des Objekts zu akzeptieren. In dieser Arbeit kann auch die Ambivalenz der Beziehung nacherlebt und anerkannt werden. Das hat zur Folge, daß am Ende der Trauerarbeit das Individuum verändert, d. h. gereift, mit einer größeren Fähigkeit, die Realität zu ertragen, aus ihr hervorgeht (Mitscherlich/Mitscherlich 1967, S. 80).

Eine wichtige Vorbedingung für das Trauern ist, die Realität adäquat wahrzunehmen, d. h. im Falle des Todes ein realistisches Todesverständnis zu haben. Solange der Tod oder der Verlust noch als reversibel angesehen wird, ist Trauer sozusagen gar nicht nötig, da das Objekt als nicht wirklich verloren angesehen werden muss. Schon dieser Gedanke erhellt, dass es als sehr umstritten gilt, ob, wann und inwiefern Kinder trauern können. Eine angemessene Realitätswahrnehmung beziehungsweise -prüfung ist jedoch auch bei Erwachsenen keineswegs selbstverständlich, wie die sozialpsychologische Analyse über die „Unfähigkeit zu trauern“ (Mitscherlich/Mitscherlich 1967) gezeigt hat. Sie ist jedoch die Voraussetzung für die Trauerarbeit, worauf bereits Freud verwies:

13.5 Formen kindlicher Trauer

285

Die Realitätspüfung hat gezeigt, daß das geliebte Objekt nicht mehr besteht und erläßt nun die Aufforderung, alle Libido aus ihren Verknüpfungen mit diesem Objekt abzuziehen. Dagegen erhebt sich ein begreifliches Sträuben – es ist allgemein zu beobachten, daß der Mensch eine Libidoposition nicht gern verläßt, selbst dann nicht, wenn ihm Ersatz bereits winkt. […] Tatsächlich wird aber das Ich nach Vollendung der Trauerarbeit wieder frei und ungehemmt (Freud 1917, S. 430).

Anstelle der Trauer kann allzu leicht die Verleugnung der Realität und damit auch die Verleugnung des Verlustes treten, was zum einen die Realität nicht bewältigt und zum anderen auch den Schmerz, der dadurch ja eigentlich vermieden werden soll, lediglich betäubt. Freud hat den Effekt der Trauervermeidung „Melancholie“ genannt. Die Melancholie ist seelisch ausgezeichnet durch eine tiefe schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung und durch die Herabsetzung des Selbstgefühls (Freud 1917, S. 429).

Die Schwierigkeit beziehungsweise eben die „Unfähigkeit zu trauern“ ergibt sich nun nicht nur aus der psychischen Schwäche oder Disposition des Einzelnen, sondern ist – ähnlich wie beim Tod – Ausdruck eines gesellschaftlich zu verstehenden Tabus. In dem Maße, wie die Leistungs- und Beziehungsfähigkeit des Trauernden eingeschränkt ist, ist Trauer in einer Leistungsgesellschaft unerwünscht. Nach dieser kurzen Charakterisierung der Trauer soll hier vor allem interessieren, ob und wie bereits Kinder trauern können. Furman fasst in Anlehnung an A. Freud die seelischen Fähigkeiten zu trauern folgendermaßen zusammen: Angewandt auf die Fähigkeit, den Begriff des Todes zu bewältigen, müßten Realitätsprinzip und Realitätsprüfung sich bereits auf folgender Entwicklungsstufe befinden: 1. Ausreichend stabile und differenzierte Selbst- und Objektrepräsentanzen in der Innenwelt, so daß die Integrität der Selbstrepräsentanz durch die Bedrohung, die im Tod eines anderen liegt, nicht erschüttert wird; 2. eine ausreichende Ich-Herrschaft über das Es, so daß der Begriff des Todes in die sich erweiternden Erfahrungen des Ichs integriert werden kann, statt Triebderivate aufzurühren; 3. die Fähigkeit, zwischen belebt und unbelebt zu unterscheiden und so einen Begriff des Lebendigen im Gegensatz zu dem des Unlebendigen zu haben; 4. eine gewisse Fähigkeit, die Zeit im Sinne von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verstehen und 5. ein ausreichendes sekundärprozeßhaftes Kausaldenken, um zu verstehen, daß etwas, was tot ist, gewisse Dinge nicht mehr tun kann (Furman 1966, S. 768f.).

Aus dieser Zusammenstellung ist schon zu entnehmen, dass Furman das kindliche Trauerverhalten zumindest anders einschätzt als das von Erwachsenen. Auf der anderen Seite allerdings folgen Kinder noch nicht entsprechenden Tabuvorschriften der Gesellschaft; sie können insofern weitaus offener, hemmungsloser und ungeschützter „traurig sein“. Kliman (1980, S. 39) behauptet auf der Grundlage von konkreten Kinderbeobachtungen, dass Kinder oft intensivere und auch länger andauernde Trauer empfinden als Erwachsene. 285

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13 Kind und Tod

Bowlby (1960) berichtet sogar von Fällen, bei denen Säuglinge mit 6 Monaten getrauert haben sollen. Wahrscheinlich wird die kindliche Fähigkeit zu trauern mit dem Hinweis auf den kognitiven und auch affektiven Entwicklungsstand des Kindes, den es noch zu schützen gelte, oft unterschätzt – ähnlich wie auch das kindliche Todesverständnis. Vor allem psychoanalytisch orientierte Autoren wie Deutsch (1937), Mahler (1961), Wolfenstein (1966) mutmaßen, dass notwendig die psychische Entwicklung gestört wird, wenn wichtige Bezugspersonen eines kleinen Kindes sterben, weil das schwache kindliche Ich noch nicht entwickelt genug sei, um „Trauerarbeit“ zu leisten. Möglicherweise sind solche Positionen auch Schutzbehauptungen mit dem Zweck, sich nicht der kindlichen Trauer stellen zu müssen. Aus solcher Sicht heraus werden Kinder oft scheinbar geschont und nicht mit schmerzlichen Wahrheiten konfrontiert. Es soll allerdings nicht bestritten werden, dass Kinder natürlich – übrigens wie Erwachsene auch – der Unterstützung beim Trauern bedürfen. Auch soll nicht gänzlich abgetan werden, dass es bestimmter kognitiver Fähigkeiten bedarf, um zu trauern. Beispielsweise haben Kinder ein anderes Zeitgefühl als Erwachsene, leben weitaus mehr im jeweils aktuellen Augenblick. Insofern können sie sich möglicherweise leichter als Erwachsene von einem anderen Inhalt ganz gefangen nehmen lassen, der jeweils von der Trauer ablenkt. Allerdings kann man daraus nicht schließen, Kinder würden das verlorene Objekt nicht vermissen (vgl. Bowlby 1983, S. 375f.). Bowlby vertritt überhaupt die These, dass Kinder sehr wohl trauern. Lediglich die Verlustreaktion von kleineren Kindern bezeichnet er als „Kummer“. Trauer, die die obengenannten kognitiven Merkmale enthält, sei jedoch spätestens in einem Alter von 4 bis 5 Jahren möglich. Und auch davor gibt es […] Grund zu der Annahme, daß sich die Reaktionen sogar von zweieinhalbjährigen Kindern wenig von denen älterer Kinder unterscheiden, vorausgesetzt, daß ihre Fragen und Erinnerungen nicht entmutigt werden (Bowlby 1983, S. 511).

Im Verlaufe der kindlichen Trauer sind auch Identifikationen mit dem verlorenen Objekt beobachtet worden, die, wenn sie übermäßig sind, eine eigenständige Entwicklung bisweilen behindern. In der Regel gehören solche Identifizierungen jedoch zum normalen Trauerprozess: Die Identifizierung trägt zum Aufbau des Ichs und zur Bereicherung der Persönlichkeit bei; sie hilft dem Ich, Vergangenheit und Zukunft zu integrieren, die Kluft zwischen dem Verlust des alten Liebesobjekts und den neuen Objektbeziehungen zu überbrücken. In vielen Fällen erleichtert sie die schmerzliche Überbesetzung und den Besetzungsabzug, indem sie das Liebesobjekt eine Weile ganz oder zu einem Teil festhält, bis sie mit der Zeit an Umfang und Stärke abnimmt (Furman 1977, S. 74).

Oft reagieren Kinder mit Wut, als ob der/die Gestorbene sie mit Absicht verlassen hätte. Umgekehrt gibt es bisweilen auch Schuldgefühle, so als ob man den Tod durch magische Kräfte selbst herbeigeführt hätte. Auch das zeigt, wie wichtig es ist, die Kinder über die wirklichen Todesursachen nicht im Unklaren zu lassen.

13.6 Zum pädagogischen Umgang mit dem Thema Tod und Sterben

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Die Position, dass man über eine hinreichend sichere Objektkonstanz verfügen muss, um ein verlorenes Objekt zu betrauern, ist natürlich plausibel (vgl. zum Beispiel Deutsch 1937). Jedoch muss dieser Zustand weitaus früher angesetzt werden, als das beispielsweise Mahler noch geglaubt hat. Empirische Säuglingsbeobachtungen (Stern 1998) zeigen nämlich, dass das Kind von vornherein auch auf Objekte hin orientiert ist. Insofern erlebt es deren Verlust natürlich auch als schmerzlich. Darüber hinaus wiegt der Verlust, den Kinder zum Beispiel beim Tod von Eltern erleiden, schwerer als bei Erwachsenen. So betont auch Furman: Der Erwachsene verteilt seine Liebe auf mehrere Beziehungen: Er liebt den Ehegatten, Kinder und Freunde, seine Arbeit, seine Freizeitbeschäftigung. Das Kind dagegen investiert seine gesamten Gefühle in seine Eltern. Außer in sehr ungewöhnlichen Fällen ist diese einfache Beziehung unermeßlich viel reicher und fester als noch so enge Bindungen des Erwachsenen. Nur in der Kindheit kann daher der Tod alle Möglichkeiten des Lebens und Geliebtwerdens auf einmal vernichten und ist der Mensch vor eine so schwere Aufgabe der Neuanpassung gestellt (Furman 1977, S. 23).

Die Angaben der verschiedenen Autoren zur kindlichen Trauerfähigkeit sind – wie wir gesehen haben – durchaus widersprüchlich. Möglicherweise lässt sich der Widerspruch so klären, dass es in der Tat Dreijährige gibt, die ein Verständnis vom Tod haben und auch trauern können, dass es jedoch auch Neunjährige gibt, bei denen das nicht der Fall ist. Auch Erwachsene sind nicht ohne weiteres in der Lage zu trauern; jedoch würde man nicht auf die Idee kommen, ihnen überhaupt die Fähigkeit zu trauern abzusprechen. So ist die „Unfähigkeit, zu trauern“ sicherlich nicht eine spezielle Eigenschaft der Kinder, eher ist sie wohl ein Problem der Erwachsenen, die dann auch das Trauern der Kinder nicht aushalten und in der Folge auch nicht zulassen. Wie sehr wünscht man doch, Kinder möchten vom Schmerz der Trauer verschont bleiben, und wie schwierig wird es dann, die Anzeichen dieses Schmerzes zu erkennen. Bestimmt bekommt jeder, der einem Kind in seiner Trauer helfen möchte, heftig zu spüren, was für eine starke Belastung damit verbunden ist. Nur wenn man ganz verstanden hat, von welch vitaler Bedeutung es für das Kind ist, diese Aufgabe zu lösen, kann man es durchstehen (Furman 1966, S. 774).

13.6 13.6

Zum pädagogischen Umgang mit dem Thema Tod und Sterben Zum pädagogischen Umgang mit dem Thema Tod und Sterben

Abschließend soll es um die Frage gehen, ob pädagogische Institutionen wie Schule oder Kindergarten einen Beitrag leisten können, auf rationale und zugleich einfühlsame Weise eine altersgemäße „Aufklärung“ über die Sterblichkeit des Menschen zu geben. So könnten – so zum Beispiel Maria Nagy und Erich Stern, zwei Klassiker der Erforschung des kindlichen Verhältnisses zum Tod – unter Umständen dramatische Erlebnisse und unvorbereitete Begegnungen pädagogisch vorbereitet werden. Das stellt natürlich nicht unbeträchtliche Anforderungen an die Pädagoginnen und Pädagogen, werden sie doch 287

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13 Kind und Tod

durch entsprechende Themen an eigene, sicherlich zumindest zum Teil ungeklärte Todesvorstellungen und -ängste erinnert, wobei es gilt, diese zumindest nicht unbedacht und unreflektiert an die Schülerinnen und Schüler weiterzugeben. Bislang war dies eher eine Domäne des Religionsunterrichts; jedoch ist die Zuweisung dieses existentiellen menschlichen Themas zu einem einzigen Fach auch bereits als eine Ausgrenzung zu verstehen und verstärkt insofern das Todestabu. Vielleicht hat beispielsweise der Biologieunterricht als die Lehre vom Leben auch eine Chance, den Tod zu thematisieren. Immerhin erbrachte eine Studie von Neulinger (1975), dass der Tod in den Schulen nicht ganz totgeschwiegen wird: In seiner Untersuchung an Grundschulen zeigt er, dass in 56 % der untersuchten Klassen der Tod wenigstens für einige Stunden im Jahr Thema war und dass die älteren Lehrkräfte dazu eher bereit waren (vgl. auch Rose/Schreiner 2008). Diese Untersuchung ist für unseren Zusammenhang deshalb besonders interessant, weil sie zu den wenigen gehört, die nicht im klinischen Bereich durchgeführt wurden. Als allgemeinen Hinweis zum Umgang mit dem Thema Tod kann man sicherlich sagen, dass Erwachsene ihren eigenen Umgang und unter Umständen eben auch Schwierigkeiten mit dem Tod nicht ganz verbergen sollten, soll nicht unter der Hand die beschriebene Tabuisierung eher verstärkt werden. Oft sind Erwachsene hilflos, wenn sie erfahren, dass Kinder sehr krank sind, dass Todesfälle in Familien vorgekommen sind oder auch nur, wenn Kinder tote Tiere mit in den Unterricht bringen. Gerade weil die Biologie als Lehre vom Lebendigen vielfältige Anlässe bietet, dem Tod zu begegnen, ist das Thema Tod zum Beispiel im Biologieunterricht eigentlich ständig präsent. Das zu Beginn dieses Kapitels abgedruckte Beispiel kindlicher Trauer über den Tod eines Tieres zeigt dies sehr eindrücklich. Insofern können die im Folgenden dargestellten Erfahrungen aus anderen Bereichen (Krankenhaus, psychologische Beratung) vielleicht auch für Pädagoginnen und Pädagogen hilfreich sein (ausführlicher dazu siehe zum Beispiel Brocher 1987, Kübler-Ross 1984, Strauss/Glaser 1974). Erfahrungen von Krankenhauspersonal mit kranken und sterbenden Kindern zeigen, wie wichtig es ist, Kindern die Wahrheit über ihren Zustand mitzuteilen. Natürlich ist die Situation im Krankenhaus nicht mit der Schule vergleichbar, in der sich ja in der Regel keine sterbenden Kinder befinden, trotzdem sind auch für die Pädagoginnen und Pädagogen diese Erfahrungen von Interesse, weil sie zeigen, was für Kinder in dieser Situation, die sie mit dem Tod konfrontiert, hilfreich ist. Nach Rosemeier und Minsel (1984), die sich auf amerikanische Forschungen beziehen, beschäftigen sich Kinder in dieser Situation mit folgenden Fragen: • Kann ich mich sicher fühlen? • Gibt es eine Person, der ich vertrauen kann und die mir beisteht, wenn ich mich hilflos, allein und voller Schmerzen fühle? • Kann ich mich bei einer vertrauten Person gut fühlen? Betreuerinnen und Betreuer (Ärztinnen und Ärzte, Pflegepersonal, Eltern und wohl auch Pädagoginnen und Pädagogen sowie Lehrkräfte) sollten deshalb

13.6 Zum pädagogischen Umgang mit dem Thema Tod und Sterben

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• für das Kind verfügbar sein; • ihm deutlich versichern, dass es geliebt wird und nicht überflüssig ist; • dem Kind auf Fragen ehrlich, den Tatsachen entsprechend, kompromisslos und für das Kind verständlich antworten; • selbst mit dem Gespräch beginnen, um das Kind zu ermutigen, die aktuellen Ängste, bedrückenden Phantasien und vorhandenen Gefühle auszudrücken, in Worten oder anderen Signalen (nach Rosemeier/Minsel 1984, S. 387). Natürlich ist es nicht die Hauptaufgabe von Lehrkräften, sterbenden Kindern zu helfen. Sie können jedoch Kinder bei ihren Fragen nach Tod und Sterben unterstützen. So zeigen die Untersuchungen von Schilder und Wechsler (1934), dass Kinder bei der Entwicklung ihres Sterblichkeitswissens gegenüber magischen und religiösen Bildern (Himmel und Hölle, ewiges Leben, Tote als freundliche Engel) und abergläubischen Traditionen (Totenengel oder schwarzer Mann beispielsweise) durchaus auf den realen, auch biologischen Aspekt von Tod und Sterben insistieren – jedenfalls solange sie noch fragen und nicht das Todestabu bereits übernommen haben. Dabei kann natürlich auch das Wissen um die Umstände und biologischen Bedingungen des Todes nicht die Angst vor dem Tod beseitigen. Eine Studie von Melear (1972) scheint sogar zu zeigen, dass zumindest die konkrete Angst vor dem Tod umso deutlicher wird, je differenzierter Kinder über den Tod informiert sind und je ausgeprägter ihr diesbezügliches begriffliches Vermögen ist. Sachliche und biologische Informationen sind jedoch trotzdem bedeutsam, weil Kinder oft aus vereinzelten aufgeschnappten Daten falsche Schlüsse ziehen oder sie falsch interpretieren. Die Schule kann insofern (natürlich begrenzt) dazu beitragen, erlittenen Verlust durch Tod erträglich zu machen. Sie kann auf diese Weise das Tabu des Todes aufweichen, kann durch Informationen ein realistisches Todesverständnis erleichtern und so auch die „Fähigkeit, zu trauern“ (vgl. Mitscherlich/Mitscherlich 1967) stärken. Das gilt um so mehr, als Kinder gerade mit Naturphänomenen auch Todeserfahrungen machen: Tote Tiere, abgestorbene Pflanzenteile, Experimente in der Schule sind Beispiele für Konfrontationen mit dem Tod, ohne dass gleich der Verlust geliebter Personen oder gar der eigene Tod konkret befürchtet werden müsste. Insofern braucht die Schule nicht zu warten, bis irgendein konkreter Todesfall eingetreten ist. Die „Aufklärung“ über den Tod hat in der Schule in erster Linie prophylaktische Funktion. Dadurch kann vielleicht zukünftigen schwierigen oder gar dramatischen Erlebnissen mit dem Tod, die ansonsten unvorbereitet wären, begegnet werden. So ist es wichtig, sich mit der Realität – und eben auch mit der des Todes – auseinanderzusetzen. Kliman spricht in diesem Zusammenhang zu Recht vom „immunisierenden Wert, die Wahrheit zu kennen“ und bezieht dies ausdrücklich auf die kindliche Auseinandersetzung mit Tod, Sterben und Krankheit. Ähnliche Positionen vertreten in ihren praktischen Empfehlungen auch Grollmann (2000), Finger (1998), Nagy (1948), Stern (1957), Hug (1956) und Furman (1977). Kliman (1980 S. 16f.) macht übrigens auch einige Vorschläge zur „psychologischen Immunisierung im Klassenzimmer“, zum Beispiel empfiehlt er, ausführlich die Umstände zu besprechen, wenn Lieblingstiere sterben. Dies geht auch bereits im Kindergarten (Franz 289

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13 Kind und Tod

2002). Kinderliteratur über den Tod gibt es auch schon für jüngere Kinder. Interessanterweise werden dabei die biologischen Aspekte eher in Bilderbüchern als in Geschichten gezeigt (Devereaux/Hupp 2008). Alle Erfahrungen zeigen, wie wichtig es ist, Kinder über die Wahrheit des Todes aufzuklären. Das gilt sowohl für den eigenen bevorstehenden Tod als auch über den Tod von anderen Menschen. Verschleiernde und beschönigende Beschwichtigungen sind nicht hilfreich, schüren eher irrationale Angst und erschweren die Trauerarbeit. Die Wahrheit zu Tod und Sterben vertragen Kinder natürlich dann am besten, wenn sie innerhalb einer gesicherten Beziehung aufgehoben sind. Die Berichte über die Kriegskinder von A. Freud weisen auf diesen Zusammenhang deutlich hin. Kinder konnten immer dann die Angst vor dem Tod, die Ankündigung von Bombenangriffen oder das Evakuieren aushalten, wenn vertraute Personen oder die Eltern bei ihnen waren. Schwierig oder gar neurotisierend wurden diese Umstände erst, wenn die Kinder allein gelassen wurden. Das gilt in doppelter Hinsicht: Zum einen gilt es für das ganz reale und konkrete Zusammensein mit erwachsenen Menschen, und zum andern gilt es aber auch dafür, dass Kinder mit ihren Fragen und Ängsten ernst genommen werden und nicht mit unklaren, tabuisierenden Antworten beschwichtigt und damit allein gelassen werden. P. und R. Schneider (1975) können an Beispielen zeigen, wie differenziert Kinder auf den Tod von nahestehenden Menschen und auch auf den Tod von Tieren reagieren können. Allerdings wird dabei sehr deutlich, dass entsprechende Fähigkeiten natürlich mit der Umgangsweise in der Familie zusammenhängen, zum Beispiel ob hier ehrliche Mitteilungen und ein Austausch über die Gefühle des Schmerzes und des Verlustes möglich sind. Auch Bowlby unterstreicht die Notwendigkeit einer tragenden Beziehung zur Verarbeitung von Tod und Sterben bei der Trauerarbeit: Erstens sollte das Kind vor dem Verlust eine verhältnismäßig sichere Beziehung zu seinen Eltern gehabt haben; zweitens sollte […] das Kind schnell und korrekt über das informiert werden, was geschehen ist, sollte alle möglichen Fragen stellen dürfen und darauf eine möglichst ehrliche Antwort erhalten und sollte an der Trauer der Familie teilnehmen, einschließlich aller Bestattungsriten, die die Familie beschließt; drittens sollte das Kind die tröstende Anwesenheit des überlebenden Elternteils genießen oder, wenn das nicht möglich ist, einer bekannten und vertrauten Ersatzperson; außerdem sollte ihm versichert werden, daß diese Beziehung bestehen bleibt (Bowlby 1983, S. 355).

Bowlby bezieht seine Empfehlungen eindeutig auf die Situation in Familien. Und natürlich begrenzt die Notwendigkeit einer haltenden Beziehung auch die Möglichkeiten der Aufklärung über den Tod in der Schule. Jedoch sollte auch hier der Tod nicht totgeschwiegen werden, zumal, wie gezeigt wurde, auch reine Informationen wichtig sind. Das gilt umso mehr, als fast alle Beobachtungen zeigen, dass Kinder nicht vor allem durch einen erlittenen Verlust (psychisch) geschädigt werden, sondern vielmehr durch den Umgang damit. Ein adäquater Umgang mit dem Tod wäre zum einen ehrliche Information und zum anderen emotionale Unterstützung. Wenn die Schule in einer entspannten emotionalen Atmosphäre diese ehrlichen Informationen übermitteln könnte, wäre schon viel gewonnen.

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Zur Wahrnehmung und psychischen Verarbeitung der Umweltzerstörung

14 Zur Wahrnehmung und psychischen Verarbeitung der Umweltzerstörung

„Also mich interessiert am meisten, wie das Problem zu lösen ist. Es gibt zwar keine Lösung, aber irgendwie interessiert mich das am meisten.“ (Jörg, 10 Jahre) „Wenn es keine Bäume mehr gibt, gibt es keine Luft mehr – und die Menschen müssen sterben.“ (Matthias, 7 Jahre) “Our House is on Fire.” (Greta Thunberg beim World Economic Forum in Davos am 22. Januar 2019)

14.1 14.1

Angst, Verdrängung, Gelassenheit, Verantwortung. Reaktionsweisen auf die ökologische Krise Angst, Verdrängung, Gelassenheit, Verantwortung

Wir sind bisher mit guten Gründen davon ausgegangen, dass auch die nichtmenschliche Umwelt (Kapitel 2) bzw. die „Natur“ (Kapitel 5) eine Bedeutung für die seelische Entwicklung von Kindern hat. Vor diesem Hintergrund erhält die Frage, ob und wie die Umwelt- bzw. Naturzerstörung von Kindern und auch Jugendlichen wahrgenommen und verarbeitet wird, ihren spezifischen Akzent. Die Wahrnehmung der Umweltzerstörung wird sich dabei aus zwei Quellen speisen: Zum einen handelt es sich um direkte Erfahrungen mit beziehungsweise Beobachtungen von zerstörter Natur und zum anderen um vermittelte Wahrnehmungen über Medien und das Verhalten von Erwachsenen. Täglich sehen und hören wir in den Medien neue Meldungen über den Zustand der Wälder, der Gewässer, Meldungen über Klimawandel, Artensterben, Ozonloch, tropischen Regenwald usw. usw. Auffällig ist die zumindest relative Gelassenheit, mit der solche Realitäten beziehungsweise Aussichten hingenommen werden. Zumindest die Industrienationen beziehungsweise deren Angehörige tun trotz genauer Kenntnis und Analyse der Umweltsituation nichts oder zumindest zu wenig, um den ökologischen Gefahren zu begegnen. Natürlich gibt es auch kleine Veränderungen, die angesichts der vielen Katastrophenmeldungen nicht gering geachtet werden sollen, zum Beispiel sind viele Gewässer sauberer © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Gebhard, Kind und Natur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21276-6_14

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als noch vor zwanzig Jahren. Nichtsdestotrotz scheint es, dass wir sehenden Auges, gewissermaßen bei vollem Bewusstsein die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen betreiben, ohne davon in besonderer Weise beunruhigt zu sein. Kohlenstoffdioxidreduktion beispielsweise oder Mülltrennung wirken angesichts der ökologischen Realität eher wie Beschwichtigungsgebärden. Wo bleibt bei vielen Menschen angesichts der realen Gefahren die Angst? Umweltängste werden zwar allenthalben bekundet, doch scheinen diese Ängste weder in besonderer Weise – jedenfalls bewusst – zu beunruhigen noch sind sie handlungsleitend. Geäußerte Kenntnis und bekundete Befürchtung angesichts der ökologischen Situation sind inzwischen geradezu eine gesellschaftliche Konvention. Offenbar wirken hier auch unbewusste Mechanismen, die es erschweren, die ökologische Realität wirklich wahrzunehmen und geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Dabei darf freilich auch nicht übersehen werden, dass solche „geeigneten Maßnahmen“ aus Sicht des einzelnen Individuums höchst begrenzt sind – und das gilt für Kinder und Jugendliche in besonderer Weise. Auch wenn sich der Einzelne – den Signalen der Angst entsprechend – umweltbewusst verhält, ändert er damit real nahezu nichts. In Anbetracht dieser Situation machen die seit über 40 Jahren immer wieder reproduzierten empirischen Befunde zu Umweltängsten gerade bei Kindern nachdenklich. Zumindest denkbar wäre ja auch, dass Kinder, die nie in einer intakten Umwelt gelebt haben, eine solche auch nicht besonders vermissen werden. Allerdings gibt jedenfalls ein Teil der jungen Generation in den letzten Jahren im Zuge der „Fridays for Future“-Bewegung andere und neue Signale. Keinesfalls dürfen Umweltängste von Kindern als von außen oktroyierte „Hirngespinste“ verharmlost und damit abgetan werden. Dies gilt umso mehr, als die Umweltzerstörung das Leben der nachwachsenden Generation weitaus mehr verändert als das der Erwachsenengeneration, die sich noch eher damit beruhigen kann, dass durch die ökologische Krise verursachte Einschränkungen der Lebensbedingungen sie nicht mehr betreffen (siehe Kapitel 14.3.6). So gibt es eine Reihe von empirischen Studien, die zeigen, dass Kinder und Jugendliche die Umweltzerstörung registrieren. „Fridays for Future“ ist im Hinblick auf den Klimawandel ein aktuelles und sehr eindrückliches Beispiel. Diese Studien sollen im Folgenden dargestellt werden. Allerdings haben sich die diesbezüglichen Befunde durchaus gewandelt beziehungsweise sind widersprüchlich geworden. Die Angst angesichts der Umweltzerstörung war gemäß der meisten Studien aus den 80er und beginnenden 90er Jahren das zentrale Thema bei Kindern und Jugendlichen. Die Vielzahl dieser Befunde und Studien habe ich ausführlich in der 2. Auflage dieses Buches zusammengestellt (2001). Diese werden hier nicht noch einmal breit wiederholt, sondern lediglich kurz zusammengefasst und akzentuiert (Kap. 14.2.1). Spätestens seit Ende der 90er Jahre scheint dagegen die Besorgnis angesichts der Umweltkrise kein besonders zentrales Thema mehr gewesen zu sein. Der Umgang mit der Umweltzerstörung war – wie es häufig ausgedrückt wurde – „entdramatisiert“ und pragmatisch (Kap. 14.2.2). Seit wenigen Jahren wird es allerdings

14.2 Empirische Befunde zur Wahrnehmung der ökologischen Krise

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wieder „dramatischer“: Neueste Ergebnisse werden in Kapitel 14.2.3 zusammengetragen. Sie kulminieren gewissermaßen in „Fridays for Future“.

14.2 Empirische Befunde zur Wahrnehmung der ökologischen Krise bei Kindern 14.2

Empirische Befunde zur Wahrnehmung der ökologischen Krise

14.2.1 Angst und Bedrohung: Wahrnehmung der Umweltsituation in den 80er Jahren Bei den Jugendstudien aus den 80er und beginnenden 90er Jahren gibt es im Hinblick auf die Umweltsituation drei Auffälligkeiten: Erstens und vor allem wird deutlich, dass Jugendliche die Umweltsituation registrierten und damit auch relativ große Zukunftsängste verbanden. Zweitens nahm die Umweltangst mit zunehmendem Alter eher ab, und drittens waren Befürchtungen im Hinblick auf die Umwelt bei Mädchen ausgeprägter. Die Annahme einer pessimistischen Grundtendenz bei Jugendlichen – bei den weiblichen noch mehr als bei den männlichen – wurde von fast allen einschlägigen Untersuchungen gestützt (Boehnke et al. 1991, Shell-Jugendstudie 1985, 1992, 1997, Petri et al. 1986, Petri 1992, Gebhard et al. 1994, Sohr 2000, Szagun et al. 1994, Mansel 1995, Waldmann 1992 u. v. m.). Diese Ergebnisse wurden zudem im Wesentlichen von einer Reihe internationaler Vergleichsstudien aus den USA, der Sowjetunion und verschiedenen europäischen Ländern bestätigt (Raundalen/Finney 1986, Thearle/Weinreich-Haste 1986, Unterbruner 1991). Die meisten Studien sind bis Mitte der achtziger Jahre durchgeführt worden, einer Zeit, in der die Abrüstungsfrage international im Vordergrund stand. Der 1985 durchgeführte Millandreport (Biermann/Biermann 1988) zeigt, dass 54 % der befragten Jugendlichen (14/15 Jahre) die Umweltzerstörung im Vergleich zu den Folgen eines Atomkriegs als das größere Problem ansehen. Diese Studie ist in siebzehn Ländern (BRD, DDR, Frankreich, Griechenland, Italien, Luxemburg, Spanien, Türkei, Jugoslawien, Polen, Ungarn, Finnland, Österreich, Schweden, Schweiz, Israel, Australien) durchgeführt worden, wobei insgesamt 4200 Versuchspersonen befragt wurden. Nach einer bundesweiten Befragung von 3499 Kindern und Jugendlichen von Petri et al. (1986) steht die Angst davor, dass die Umweltzerstörung noch schlimmer wird, mit 55 % an dritter Stelle, übertroffen nur von der Angst vor einem Atomkrieg (66 %) und der Angst vor dem Tod der Eltern (63 %). Wenn man die ersten beiden Skalenwerte addiert (viel Angst und etwas Angst), steht die Angst vor der Umweltzerstörung sogar mit 86 % an erster Stelle. Interessant ist auch, dass die politischen Ängste (zum Beispiel Krieg, Umweltzerstörung, Hunger in der Dritten Welt) deutlich höher sind als die persönlichen (zum Beispiel Krankheit oder Scheidung der Eltern). Der Altersvergleich zeigt, dass die Angst vor der Umweltzerstörung bei den jüngeren Versuchspersonen (bis 12 Jahren) am ausgeprägtesten ist.

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Gebhard et al. (1994) haben die Rolle untersucht, die die Gen- und Reproduktionstechnologie im Bewusstsein junger Menschen spielt. Im Rahmen dieser Studie wurde eine modifizierte Form der Angstskala von Goldenring und Doctor (1986) eingesetzt, die auch Petri et al. (1986) und Unterbruner (1991) benutzt haben. Bei dieser Untersuchung konnte die herausragende Stellung der Angst angesichts der Umweltzerstörung (85 %) im Spektrum der relevanten Ängste deutlich bestätigt werden, ebenso die Dominanz der politischen Ängste. In einer Untersuchung von Unterbruner (1989) wurden Kinder und Jugendliche auf eine „Phantasiereise“ geschickt: Sie stellten sich die Welt in 20 Jahren vor, malten von dieser Situation ein Bild und kommentierten es. Die Hauptergebnisse dieser Untersuchung: 55 % der Jugendlichen sehen im wahrsten Sinne des Wortes „schwarz“: Die Welt ist eingehüllt vom Rauch der Fabriken, die Wiesen mussten Asphalt und Beton weichen. Autos verpesten Stadt und Land. Bei manchen dieser Jugendlichen steht ein Atompilz im Zentrum ihrer Visionen. Nur 25 % der Jugendlichen glauben, dass die Welt in 20 Jahren lebenswert sein wird. Bei weiteren 20 % sind sowohl optimistische als auch pessimistische Details vorhanden (Unterbruner 1989, S. 36).

Interessant ist der Befund, dass 80 % bei ihrer Reise in die Zukunft Naturbilder sehen, und zwar war für 58 % die Natur zerstört und lediglich für 25 % intakt. „Natur“ spielt also in den Phantasien eine sehr zentrale Rolle, wobei zu betonen ist, dass die Versuchspersonen nicht aufgefordert waren, die Natur in 20 Jahren darzustellen. Offenbar ist es so, „dass in den meisten Fällen die Bewertung der Jugendlichen, ob das Leben später einmal lebenswert sein wird oder nicht, von der Intaktheit oder der Zerstörtheit der Natur abhängt“ (Unterbruner 1989, S. 37). Auch hier ist festzustellen, dass „Natur“ bei den jüngeren Kindern einen größeren Stellenwert zu haben scheint; jedenfalls erwähnen sie in ihren Zukunftsvorstellungen Natur und Umwelt häufiger. Dabei ist „Natur“ sehr deutlich symbolisch aufgeladen: Natur scheint ein umfassendes Symbol zu sein: Grüne, üppige, manchmal verwilderte Natur steht für eine insgesamt lebenswerte Zukunft. Manchmal sind diese Naturschilderungen gekoppelt mit glücklichen Menschen. […] Umgekehrt sind von Autos, Fabriken und Hochhäusern dominierte Visionen Ausdruck einer Lebensfeindlichkeit (Unterbruner 1989, S. 38).

Insgesamt zeigt sich in der Untersuchung von Unterbruner ein Zusammenhang zwischen optimistischen Zukunftsvorstellungen und der Vorstellung von heiler Natur, wobei allerdings weitaus mehr Kinder und Jugendliche pessimistisch im Hinblick auf die Zukunft und den Zustand der Natur sind. In einer inhaltsanalytischen Auswertung von 136 Aufsätzen von 9- bis 13-jährigen Schülerinnen und Schülern („Was ich in der Natur erleben kann.“) ebenfalls in Österreich wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit den verschiedensten Formen von Umweltzerstörung mit 50 Prozent das häufigste Thema in den Texten der Kinder ist (Fischerlehner 1992). Die Befunde aus den 80er Jahren zeigen insgesamt, dass die Besorgnis angesichts der Umweltzerstörung bei der jungen Generation sehr hoch war; gerade bei jüngeren Kindern

14.2 Empirische Befunde zur Wahrnehmung der ökologischen Krise

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und bei Mädchen ist diese Besorgnis besonders ausgeprägt. Im Laufe der 90er Jahre hat sich diese Situation jedoch verändert. Das ist Gegenstand des nächsten Abschnitts.

14.2.2 Zukunftsoptimismus und Pragmatik: Die Wahrnehmung der ökologischen Situation in den 90er Jahren und zu Beginn des neuen Jahrtausends Vor allem bei den großen Jugendstudien kommt die Besorgnis angesichts der Umweltsituation deutlich weniger vor. Bereits die Shellstudie aus dem Jahr 1992 konstatiert eine eher optimistische Zukunftsperspektive. 72 % der 13- bis 29-Jährigen (n=4005) sehen danach zuversichtlich in die Zukunft, wobei die Jugendlichen aus den neuen Bundesländern mit 76 % noch optimistischer sind (Shell-Jugendstudie 1992, S. 213f.). „Die düstere Zukunftssicht der westdeutschen Jugendgeneration 1981 hat sich lebensgeschichtlich nicht fortgesetzt. Zehn Jahre später, 1991, teilen ihre Angehörigen als junge Erwachsene den dominant optimistischen Zeitgeist der Jüngeren. Sahen damals 57 % düster in die Zukunft, sind es heute noch 29 %“ (Shell-Jugendstudie 1992 S. 216). „Düstere Zukunftsaussichten wurden verabschiedet – aber auch das damit verbundene Engagement“ (Shell-Jugendstudie 1992, S. 24). In der Shell-Jugendstudie 1997 sind es wieder 50 %, die die ökologische Situation mit Besorgnis wahrnehmen. Als das drängendste Zukunftsproblem wird die Arbeitslosigkeit genannt, dicht gefolgt von der ökologischen Krise. Nur 31,2 % sind der Auffassung, das Problem der ökologischen Krise sei „wahrscheinlich oder sogar bestimmt zu lösen“. In der Shell-Jugendstudie 2000 taucht die Umweltsituation gar nicht mehr auf. Insgesamt sehen die Jugendlichen sogar sehr zuversichtlich in die Zukunft; etwa die Hälfte aller Jugendlichen schätzt ihre persönliche Zukunft „eher zuversichtlich“ ein und auch die gesellschaftliche Zukunft wird von fast zwei Dritteln der Jugendlichen positiv beurteilt. Im neuen Jahrtausend setzt sich dieser Trend fort: Die Shell-Jugendstudien aus den Jahren 2002 und 2006 zeigen eine pragmatische Jugend, die sich mit Problemen befasst, die sie unmittelbar betreffen und die vor allem auch lösbar erscheinen. Und dies ist die Umweltzerstörung offenbar nicht, jedenfalls scheint die Umweltthematik von drängenderen Gegenwartsfragen überlagert zu sein. Nach den Befunden der Shell-Jugendstudie 2002 (n=2515, 12–25 Jahre) ist für Jugendliche die Wichtigkeit von umweltbewusstem Verhalten von 83 % in den 80er Jahren auf 59 % zurückgegangen. Damit steht die Bedeutung von Umweltthemen in der Wertehierarchie auf dem 12. Platz. Die Autoren der Studie charakterisieren dies als einen Wechsel „vom Primat ökologischen zum Primat ökonomischen Verhaltens“. Wichtiger als ökologische Fragen sind Arbeitsmarkt, Kinder und Familie sowie Bildung (Shell-Jugendstudie 2002). Trotzdem kann man nicht von einer Marginalisierung der Umweltthematik sprechen, allerdings einer, wie es häufig ausgedrückt wird, „Entdramatisierung“. „Null Bock ist out, aber ‚öko‘ ist (noch) nicht in“ (Schmidt-Jodin/ Boppel 2002). Die Shell-Jugendstudie 2006 (repräsentativ zusammengesetzte Stichprobe von 2532 Jugendlichen zwischen 12 und 25 Jahren) zeigt, dass „tolles Aussehen“, „Markenklei295

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dung“ und „neue Technik“ wichtig sind. Umweltbewusstes Verhalten ist kein zentraler Wert, Fleiß und Ehrgeiz sowie Sicherheit sind wichtiger; nur 34 % der Jugendlichen sind politisch interessiert. Diese pragmatisch-optimistische Grundstimmung wird in einer groß angelegten Untersuchung von Zinnecker et al. 2003 (N=6000, 10–18 Jahre) deutlich bestätigt. Allerdings wird dieser Zukunftsoptimismus von einer nach wie vor pessimistischen Sicht auf die globale Zukunft eingeschränkt. Die wichtigen Themen sind hier neben Arbeitslosigkeit nach wie vor Frieden und Umwelt. Familienwerte stehen trotz oft erlebter Brüche hoch im Kurs, außerdem die Suche nach persönlicher Chancenoptimierung und eine Erlebnisorientierung (Schulze 2000). Die pessimistische Sicht im Hinblick auf Umweltfragen, die in der Zinnecker-Studie deutlich wird, wird vom Jugendreport Natur (Brämer 2006) bestätigt: Etwa zwei Drittel der befragten Jugendlichen glauben, dass „wahrscheinlich“ oder „bestimmt“ Technik und Chemie die Umwelt zerstören werden. Zugleich erwarten diese Jugendlichen (ebenfalls zwei Drittel) nicht, dass es gelingen wird, die Umweltprobleme zu lösen. Nach Befunden von Schuster et al. (2008, N=429, 13–18 Jahre) ist zudem das Thema „Naturschutz“ in der Schule kein wichtiges Thema. Nur 18 % gaben an, dass Naturschutz in der Schule in nennenswertem Umfang thematisiert wird, im Elternhaus sind es immerhin 25 %. Dabei glauben lediglich 39 %, dass „die Natur immer wieder ins Lot“ kommt, und über 80 % beurteilen den Naturschutz als wichtige gesellschaftliche Aufgabe. Dagegen muss gestellt werden, dass für 40 % der Naturschutz „out“ ist, und 70 % finden ihn langweilig. Allerdings wird Naturschutzitems weitgehend zugestimmt, z. B. „Natur wäre in Frieden, wenn der Mensch sie in Ruhe lassen würde.“ „Mensch sollte Natur achten, da auch Pflanzen und Tiere ein Lebensrecht haben.“ Im Hinblick auf die Wertorientierung (Schuster et al. 2008, S. 112) zeigt sich in Übereinstimmung mit der Shell-Jugendstudie 2006, dass Natur- und Umweltschutz gegenüber Freundschaften und erlebnisorientierten Aktionen einen untergeordneten Stellenwert hat (vgl. auch Schmidt-Jodin/Boppel 2002). Auch in europaweiten Befragungen (Eurocard 2001) hat das Interesse für Umweltthemen und die Angst vor Umweltschäden signifikant abgenommen. Am wenigsten ängstlich sind übrigens die deutschen und österreichischen Kinder und Jugendlichen. Auch wenn man insgesamt von einer pragmatischen und weniger dramatischen Haltung gegenüber der Umweltzerstörung sprechen kann, ist es aber nicht so, dass die Umweltzerstörung im Bewusstsein von Kindern und Jugendlichen gar nicht mehr auftaucht. Das wird vor allem in qualitativen Studien deutlich: In qualitativen Interviews mit Jugendlichen aus Betrieben (n=141, 16–22 Jahre) zeigt sich, dass die Sorge um die Umwelt bis auf eine kleine Gruppe von Desinteressierten ein besonderes Anliegen ist. Besonders wichtig sind dabei das Klimaproblem und der zunehmende Müll. Auch die Gefährdung von Tieren, Waldsterben und Luftverschmutzung sind wichtige Themen. Dagegen sind Atomkraft oder andere Großtechnologien im Bewusstsein nachgeordnet. Lappe et al. (2000, S. 208) sprechen zusammenfassend von einer „naturorientierten“ Problemsicht, die zudem mit einer geäußerten Vorliebe des Aufenthalts in der Natur korrespondiert. So bleibt das Umweltthema eines der wichtigsten Zukunftsthemen.

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Etwa zwei Drittel der deutschen Jugendlichen glauben, dass wir auch in Zukunft mit erheblichen Umweltproblemen konfrontiert sein werden (Vogelsang 2001). Gmeiner (2003) hat im Auftrag der „Österreichischen Kinderfreude“ 1123 Kinder im Alter von 6 bis 15 Jahren nach ihren Ängsten befragt. Danach haben 38,3 % der Kinder Angst vor zunehmender Umweltverschmutzung. „Ich habe Angst, dass die Luft so schlecht sein wird, dass wir nicht mehr atmen können.“ Auch andere globale Ängste sind erwähnenswert: Krieg (60 %) und Aids (44,6 %). Interessant ist zudem ein Vergleich mit den persönlichen Ängsten: schlechte Noten (53,4 %), zu dick sein (38,3 %), Trennung der Eltern (32,2 %). Sohr (2000) zeigt in einer qualitativen Studie mit 20 Umweltgruppen zur Genese des „ökologischen Gewissens“, dass die Umweltsituation schon sehr früh wahrgenommen wird: Bereits Vorschulkinder erleben die ökologischen Bedrohungen bewusst, und mit der Zunahme von entsprechendem Wissen in der Grundschulzeit zeigen sich ausgesprochen negative Zukunftsvorstellungen. Das Problembewusstsein und damit zusammenhängend die Aufnahmebereitschaft für die Wahrnehmung der Umweltzerstörung sind in der Übergangsphase von der Kindheit zur Jugend (11-14 Jahre) am ausgeprägtesten. Reiß (1996) forderte Kinder zwischen 8 und 14 Jahren auf, ein freies, thematisch nicht festgelegtes Bild zu malen. In die Auswertung konnten 34623 Bilder aufgenommen werden, wobei inhaltlich das Thema Umweltzerstörung am häufigsten vorkam (17,5 %), aber auch Landschaften in einer heilen Natur (13,5 %) und Tierdarstellungen (8,1 %) werden von den Kindern nicht selten gemalt. Menschen kommen mit 2,8 % nur wenig vor. Die bereits in den 80er Jahren zu konstatierende Geschlechtsspezifik ist weiterhin auffällig. So zeigen Mädchen eine stärkere Umwelt- und Naturorientierung als Jungen (Brämer 2006, Lude 2001, Schuster et al. 2008, vgl. auch Shell-Jugendstudien 2002 und 2006). Dass Mädchen die Umweltgefahren sensibler wahrnehmen, wird von Gebauer (1994) auch für Grundschulkinder gezeigt und auch von amerikanischen Untersuchungen bestätigt (Flynn et al. 1994, Riechard/McGarrity 1994, Riechard/Peterson 1998). Die Geschlechtsspezifik gilt auch für Erwachsene (Diekmann/Preisendörfer 1992, Franzke/Kienle 1996, Matthies 1998 Schahn/Holzer 1990a, Stern et al. 2008). Häufig wird die traditionelle Rollenverteilung als Argument genannt. Stern et al. (2008) nehmen an, dass Frauen eher als Männer eine Bedrohung der für sie relevanten Werte bemerken. Dagegen schneiden Frauen in Wissenstests über Umweltfragen und ökologische Zusammenhänge eher schlechter als die Männer ab (Grob 1991, Langeheine/Lehmann 1986, Preisendörfer 1996, Schahn/Holzer 1990b, Steger/Witt 1989). Auch der bereits in den 80er Jahren konstatierte Alterseffekt findet sich wieder: In einer Metaanalyse über eine Vielzahl von Studien zum Umweltbewusstsein arbeiten Pinquart und Silbereisen (2007) heraus, dass bei jüngeren Kindern und Jugendlichen Sorgen und Ängste in Bezug auf die gegenwärtige und zukünftige Umweltzerstörung stärker ausgeprägt sind als bei älteren. Tendenziell gibt es einen negativen Zusammenhang des Lebensalters mit der Bereitschaft, etwas für den Erhalt der Umwelt zu tun (vgl. auch Bogner/Wilhelm 1996, Bogner/Wisemann 2004). Das scheint allerdings nicht für solche Erwachsene zu gelten, die sich in irgendeiner Weise für Umwelt- und Naturfragen engagieren. 297

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14.2.3 Aktivität: Umweltengagement in Zeiten von Fridays for Future Mit der „Fridays for Future“-Bewegung kam in den letzten Jahren Bewegung in die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an der öffentlichen Debatte um Umweltkrise und Klima, überhaupt in die Beteiligung am öffentlichen Leben. Die damit verbundenen Demonstrationen „werden in erster Linie von jungen, relativ gut ausgebildeten Menschen und überraschend stark von jungen Frauen getragen“ (Sommer et al. 2019). Diese Analyse belegt zusätzlich, dass die „Demonstrierenden keineswegs hoffnungslos und entmutigt sind, sondern handlungsbereit, politisiert und trotz aller Umstände zuversichtlich sind, dass ihr Protest gesellschaftliche und politische Veränderungen hervorrufen kann“ (Sommer et al. 2019). Auch wenn natürlich nicht alle Jugendliche damit Klimaaktivisten geworden sind, handelt es sich eher um eine Massenbewegung. So glauben nach einer Befragung von ZEIT CAMPUS (Kix 2019) immerhin 78 % von 1000 befragten Studierenden, dass jeder die Macht habe, im Alltag etwas zu bewegen, auch wenn nur 3 % sich an den Demonstrationen beteiligen. Jedenfalls ist dadurch überhaupt das Bewusstsein der Bevölkerung für den Klimawandel geschärft worden (Koos/Naumann 2019, S. 2), bei der jungen Generation allerdings deutlicher als bei Älteren. So haben junge Befragte „deutlich mehr Verständnis für die Klimaproteste und nehmen den Klimawandel insbesondere für sich persönlich sehr viel stärker als eine Bedrohung wahr, als dies bei älteren Befragten der Fall ist“ (Koos/ Naumann 2019, S. 2). Die jüngste Shell-Jugendstudie mit dem Untertitel „Eine Generation meldet sich zu Wort“ auf Grundlage einer Stichprobe von 2.572 Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 12 bis 25 Jahren bestätigt diesen Eindruck deutlich: Die besagte pragmatische Haltung aus früheren Jahren ist in gewisser Weise geblieben, bezieht sich jetzt allerdings auch auf die konkrete Lebensführung und auf mögliche Aktivität. Es geht nämlich jetzt auch um eine nachhaltige Gestaltung von Umwelt und Gesellschaft. Damit verbunden ist eine „zunehmende Sorge um die ökologische Zukunft“ und der „wachsenden Drang, sich für diese Belange aktiv einzubringen“ (Shell-Jugendstudie 2019, S. 13). Mädchen werden dabei als „Vorreiterinnen“ bezeichnet. Umweltverschmutzung (fast 75 %), Terror (66 %) und Klimawandel (65 %) sind die zentralen angstmachenden Probleme. 2015 war der Bereich „Umwelt“ noch mit 34 % deutlich unwichtiger für die Jugendlichen. Unabhängig davon sehen die Jugendlichen zu 52 % optimistisch in die gesellschaftliche Zukunft. Allerdings ist dieser Optimismus gegenüber 2015 um 11 % zurückgegangen (Shell-Jugendstudie 2015). In der SINUS-Jugendstudie 2016 ist dieser Optimismus geringer: Zwar sehen sich auch hier die Jugendlichen in der Verantwortung angesichts der Umwelt- und Klimasituation, doch „haben sie nur wenig Vertrauen, dass diese Aufgabe auch tatsächlich bewältigt werden kann. Man zeigt sich sehr besorgt, dass sich die Zerstörung des Planeten nicht aufhalten lässt“ (SINUS-Jugendstudie 2016, S. 267). Damit verbunden ist häufig eine selbstkritische Haltung (Nachlässigkeit, Bequemlichkeit), aber auch Skepsis gegenüber der Wirksamkeit von Umweltschutz. Trotz dieser Einsichten offenbart diese Studie auch Zweifel am Klimawandel, oft findet er in der Wahrnehmung der Jugendlichen nicht im eigenen Umfeld, sondern weit entfernt statt (SINUS-Jugendstudie 2016, S. 277f., vgl. auch Calmbach 2012).

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Doch nicht erst mit Greta Thunbergs Streik vor dem schwedischen Parlament am 20. August 2018 wurde die Besorgnis der jüngeren Generation manifest. Nach der OECD/ PISA-Studie Green at Fifteen (2009) sind 94 % der deutschen Jugendlichen für Umweltfragen stark sensibilisiert. Und auch nach der Umfrage „Jugend und Nachhaltigkeit“ der Bertelsmann-Stiftung (2009) sind über Dreiviertel besorgt über den Zustand der Welt in 20 Jahren und es gibt auch ein hohes Aktivierungspotential. Das bedeutet nicht, dass Jugendliche gleich in Panik verfallen, auch wenn das „Greenpeace-Nachhaltigkeitsbarometer“ (n=1070, 15- bis 24-Jährige) ergeben hat, „dass die Jugend offenbar begonnen hat, sich mit nachhaltiger Entwicklung zu befassen und sich auf dieses Konzept einzulassen“ (Michelsen et al. 2012, S. 23). 80 Prozent der jungen Menschen könnten mit nachhaltiger Entwicklung etwas anfangen (vgl. Michelsen et al. 2012, S. 23). Der Klimawandel wird zwar als ernstes Problem eingeschätzt, jedoch „eher unaufgeregt“ beurteilt (Michelsen et al. 2012, S. 100), was sich gegen Ende des Jahrzehnts im Zuge der „Fridays for Future“-Bewegung zu ändern scheint. Wichtiger scheint insofern „die Sorge um die eigene berufliche und finanzielle Entwicklung wie die erfolgreiche Ausbildung und das Finden eines Arbeitsplatzes“ zu sein (Michelsen et al. 2012, S. 23). Diese Thematik scheint in der Aufmerksamkeitsökonomie der Altersgruppe prioritär und damit in der Lage zu sein, andere Themen in den Hintergrund zu drängen – dies trifft insbesondere auf die Perspektive nachhaltige Entwicklung zu (Michelsen et al. 2012, S. 23). Vier Jahre später hat sich dies in Richtung einer höheren Sensibilität geändert: Das Greenpeace Nachhaltigkeitsbarometer 2015 zeigt nun eine noch breitere Zustimmung gegenüber einer nachhaltigen Entwicklung. „In der Diskussion darüber, wie die jüngere Generation am besten beschrieben werden kann, zeigen die Daten ein Bild, das die jüngere Generation nicht als desinteressiert, faul oder unpolitisch darstellt, sondern sich sehr wohl daran interessiert zeigt, einen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaft leisten zu wollen. Interesse ist da, nur ändern sich die bevorzugten Wege der Aktivität und sind für die ältere Generation mitunter unkonventionell, weil spontaner, aktionsorientiert, online-organisiert und verlangen nicht unbedingt nach festen Strukturen“ (Michelsen et al. 2015, S. 2). Für die große Mehrheit der in der Studie „Fokus Naturbildung“ (Kleinhückelkotten et al. 2017, S. 8) befragten Jugendlichen kann sich die Natur nicht selbst helfen und muss vom Menschen geschützt werden. Immerhin gut die Hälfte fühlt sich durch die Zerstörung der Natur in Deutschland bedroht. Nach einer Befragung von über 1000 jungen Menschen zwischen 14 und 22 Jahren des BMUB (2018) sind globale Krisen und Katastrophen im Bewusstsein dieser Jugendlichen sehr präsent. Um dieses Krisenbewusstsein auszubalancieren, sind verlässliche persönliche Beziehungen und soziale Netzwerke sehr wichtig. Zu einem guten Leben gehören Natur und eine intakte Umwelt unbedingt dazu (86 %), wobei angemerkt sei, dass zugleich eine Verschlechterung der ökologischen Situation befürchtet wird. Von Entdramatisierung kann keine Rede mehr sein. So ist es für die meisten (80 %) auch beunruhigend, „in welchen Umweltverhältnissen unsere Kinder und Enkelkinder wahrscheinlich leben müssen“ (BMUB 2018, S. 25). Die Jugendlichen „sind sich klar darüber, dass es um die Lebensgrundlagen ihrer eigenen Generation geht“ (BMUB 2018, S. 13). Weltweit wird sich aus ihrer Sicht 299

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die Situation sogar weiter verschlechtern (Klima, Luft, Artensterben), allerdings sei es zu Hause in Deutschland nicht so schlimm. Trotzdem sehen fast Dreiviertel der Befragten Einschränkungen ihres eigenen Lebensstandards für die Bewältigung der ökologischen Krise als notwendig an. Die Selbstwirksamkeit, auf diese Situation einzuwirken, wird gering eingeschätzt, deshalb wird auch dem Staat bzw. der Wirtschaft das Handeln zugewiesen. Bisweilen wird auch von diesbezüglichen Ohnmachtsgefühlen berichtet (Sellmann, 2012, S. 10, GruberMannigel et al. 2010, S. 12). Nach Schumm (2016, S. 8) gibt es einen Zusammenhang von Selbstwirksamkeit und positiven Umwelteinstellungen. Das geringe Zutrauen in eigene Möglichkeiten scheint sich angesichts von „Fridays for Future“ zumindest bei einem Teil der Jugend gewandelt zu haben. In der einschlägigen Analyse von Sommer et al. (2019) stimmen 83,7 % der Befragten tendenziell der folgenden Aussage zu: „Um den Klimawandel zu stoppen, bedarf es in erster Linie freiwilliger Änderungen des individuellen Lebensstils.“ So ist bei den befragten Jugendlichen die diesbezügliche Selbstwirksamkeit weitaus ausgeprägter als bei Erwachsenen. 59,4 % der Jugendlichen (gegenüber 36,3 % der Erwachsenen) glauben, dass ein Lebensstilwandel sich positiv auswirke. Auch in einer Befragung von 1012 Kindern im Alter von 6 bis 14 Jahren und ihren Eltern (GEOlino/Unicef 2014) zeigt sich wie bei Jugendlichen eine starke Orientierung an sozialen Beziehungen, aber auch die Umweltsituation ist für 76 % der befragten Kinder sehr wichtig (siehe auch Lüschen 2015) – im Übrigen in starkem Kontrast zu ihren Eltern, für die die Umweltsituation nur zu 20 % eine wichtige Bedeutung hat. Ulrike Unterbruner (2011) wiederholte ihre Untersuchung von 1988/89 (s. Kap. 14.2.1), bei der sie Jugendliche auf eine Phantasiereise in die Welt in 20 Jahren schickte, ein Bild malen und darüber eine Geschichte erzählen ließ (n=728, 13–17 Jahre). Immerhin 38 % sahen optimistisch stimmende Bilder, 44 % jedoch pessimistische. Dabei ist nach wie vor „Natur“ Inbegriff eines guten Lebens, wenn auch etwas weniger erwähnt als 1989. Die Möglichkeit, in einer heilen Natur zu leben, zählt zu den Bedingungen eines geglückten Lebens, was auch die persönliche Lebenssituation positiv beeinflusst. Ein Beispiel einer 14-Jährigen: „Überall waren da Vorgärten und Wiesen und die Häuser waren ganz aus Plexiglas. Alles war ur-hightech und ich hab da keine Autos gesehen, nur ein Fahrrad. Alle Leute waren urperfekt. Es gab nichts Böses dort, es war immer die urperfekte Familie. Niemand war geschieden oder so“ (Unterbruner 2011, S. 42).

Zu den größten Zukunftswünschen zählt Umweltschutz, v. a. Maßnahmen gegen den Klimawandel. Entsprechend hat die Angst vor der Umweltzerstörung im Vergleich zu 1989 deutlich zugenommen: von 40 auf 61 %. Dabei nimmt der Klimawandel die zentrale Stellung ein. Insgesamt haben die hier zusammengestellten empirischen Befunde eine deutliche Tendenz: die Besorgnis angesichts der Umwelt- und v. a. Klimasituation nimmt zu und findet

14.2 Empirische Befunde zur Wahrnehmung der ökologischen Krise

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ihren sichtbaren Ausdruck in der „Fridays for Future“-Bewegung. Trotz dieser deutlichen Tendenz sind die Befunde natürlich nicht einheitlich und offenbaren auch innere Konflikte, v. a. was die Bereitschaft angeht, entsprechend der nachhaltigkeitsrelevanten Einsichten zu handeln. In diesem Zusammenhang sind die subjektiven Bezüge und impliziten Vorstellungen im Hinblick auf Nachhaltigkeit und umweltgerechtes Handeln bedeutsam. Dazu hat Holfelder (2018) eine qualitative Studie (Gruppendiskussionen mit 15- bis 19-jährigen Jugendlichen) vorgelegt, die „die implizit wirksamen Aspekte, die bei Jugendlichen bei der Beschäftigung mit nachhaltigkeitsrelevanten Themen bestimmend sind“ (Holfelder, 2018, S. 383) rekonstruiert. Diese „Alltagsphantasien“ (Gebhard 2015a, 2016c) unterfüttern ganz wesentlich das Nachdenken über Nachhaltigkeit und entsprechende Handlungsbereitschaften und müssten bei diesbezüglichen Bildungsbemühungen berücksichtigt und zum Gegenstand der Reflexion gemacht werden (siehe ausführlicher Kap. 8 zur Genese von Umweltbewusstsein und Kap. 14.4.4. zur Bedeutung ökologischen Wissens). Die von Holfelder untersuchten Jugendlichen erwähnen nachhaltigkeitsrelevante Themen, zeigen jedoch zugleich eine Distanz zu ihnen. In diesem Kontext rekonstruiert Holfelder die folgenden implizit wirksamen Orientierungen: • Nahbereichsorientierung: Für die Jugendlichen ist das eigene Erleben im Hier und Jetzt zentral – und zwar räumlich wie zeitlich. Von der Lebenswelt entferntere Ereignisse, beispielsweise Folgen des Klimawandels, sind denen des Nahbereichs untergeordnet (vgl. Holfelder, 2018, S. 384f.). • Orientierung an einem dichotomen Nord-Süd-Verhältnis: Mit der Nahbereichsorientierung verbunden ist die „Orientierung an einem dichotomen Nord-Süd-Verhältnis“ (Holfelder, 2018, S. 386). Den Süden werten die Jugendlichen durch den Vergleich der Lebensbedingungen als defizitär ab. Das Potenzial für die Veränderung der dichotomen Weltordnung sehen sie außerhalb ihrer eigenen Macht (vgl. Holfelder, 2018, S. 386–388). • Zukunft der Welt: Hier gibt es einerseits eine pessimistisch-fatalistische Vorstellung und andererseits eine positive Orientierung, die sich aus Wissenselementen über positive Entwicklungen speist (vgl. Holfelder, 2018, S. 389). Interessant ist der Kontrast zur persönlichen Zukunft: Während die Jugendlichen sich hinsichtlich der weltweiten Zukunft als wenig wirksam erleben, fühlen sie sich hinsichtlich der persönlichen Zukunft dagegen sehr wohl selbstwirksam (Holfelder 2018, S. 389). • Nachhaltiges Handeln: Nachhaltiges Handeln sei zwar positiv, es gibt aber eine Diskrepanz zwischen moralischem Anspruch und dem eigenen nicht-nachhaltigen Handeln. Diese Diskrepanz wird entweder auf theoretisierender Ebene (vgl. Holfelder, 2018, S. 390) gelöst (v. a. von der Gymnasiumsgruppe) oder pragmatisch: Die Berufsschulgruppe verweist auf die Unwirksamkeit von individuellem Handeln (vgl. Holfelder, 2018, S. 391f.). • Orientierung an Konformität: Handlungsleitend ist die Orientierung an den Normen des Nahbereiches. Wenn z. B. nachhaltiges Handeln ins soziale Abseits führt, ist es trotz der eigentlich positiven Bewertung keine wirkliche Handlungsoption (vgl. Holfelder, 2018, S. 392). 301

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14 Zur Wahrnehmung und psychischen Verarbeitung der Umweltzerstörung

14.3 Kinder und Umweltzerstörung. Psychodynamische Überlegungen 14.3

Kinder und Umweltzerstörung

14.3.1 Die Wahrnehmung der Umweltsituation und die Angst davor werden oft abgewehrt Das öffentliche Bekunden von Angst ist nicht notwendig ein Indiz dafür, dass die Umweltzerstörung wahrhaftig ernstgenommen wird. So ist es zumindest auffällig, dass die allerorten bekundete Angst vor der Umweltzerstörung oft so wenig wirkungsvoll im Hinblick auf tatsächliche Handlungen ist. Angst gehört fast schon zum guten Ton, wenn die Sprache auf das Thema Umweltzerstörung kommt. Es ist inzwischen ein sozial geradezu erwünschtes Verhalten, sich der allgemeinen Besorgnis und „Betroffenheit“ angesichts der Umweltzerstörung mit einer ängstlichen, jedoch zugleich distanzierten Haltung anzuschließen. Diese Form von Angst ist freilich eine besonders subtile Art der Angstabwehr. Umgekehrt erlaubt es diese gesellschaftlich erwünschte Angst auch, dass andere Ängste sich hinter ihr verstecken können. Sehr zutreffend fordert Greta Thunberg geradezu zu Angst auf: „I want you to panic“, ruft sie dem World Economic Forum in Davos am 22.1.2019 zu. Neben der Frage, warum die Menschen überhaupt die sie umgebende Natur in einer derart lebensbedrohlichen Weise zerstören, ist für ein psychodynamisches Verständnis der ökologischen Krise das bereits angesprochene Problem zentral, warum die Menschen die ökologischen Gefahren so verhältnismäßig gelassen hinnehmen, warum sie gegen die Wahrnehmung und vor allem adäquate Verarbeitung der Umweltkrise psychische Abwehrmechanismen entwickeln, die es offenbar zumindest erschweren, die ökologische Realität wahrzunehmen und geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Nun ist die Gefahr in der Tat so überwältigend, dass psychische Abwehrformen dagegen durchaus funktional erscheinen. Die ökologische Situation ist nämlich in der Tat eine Gefahr, der – zumindest individuell – nicht mit Aussicht auf Erfolg wahrhaftig begegnet werden kann. Abwehrbemühungen, auf die im Folgenden eingegangen wird, sind insofern die fast logische Konsequenz, ebenso psychische und somatische Folgen (Chmielewski 2019). Diese psychische Abwehr bedeutet jedoch eine Blockierung verfügbarer Verhaltenspotentiale, die zwar kurzfristig sinnvoll sein kann, bei Fixierung aber eine realitätsgerechte Reaktionsweise eher beschränkt. Im Falle der Umweltsituation ist das Ziel der Abwehr die psychische Distanzierung von den Ursachen der ansonsten unerträglichen Angst. Dreitzel (1990) hat als Hauptmechanismen dieses Abwehrsystems die „psychische Selbstbetäubung“ und die „selektive Unaufmerksamkeit“ herausgestellt. Mit der „selektiven Unaufmerksamkeit“ (White 1988) gelingt es, die Gefahr in einer Weise psychisch zu entstellen, dass sie nicht mehr (bewusst) bedrohlich erscheint. In diese Abwehrorganisation fließen klassische Abwehrmechanismen (wie zum Beispiel Verleugnung, Intellektualisierung, Projektion, Verkehrung ins Gegenteil) zusammen. Dreitzel benennt […] diese Unaufmerksamkeit, dieses Übersehen, Nichtspüren, Nichtfühlen bei gleichzeitigem Wissen vor allem in vier Bereichen: gegenüber der realen Gefahr eines nuklearen Krieges,

14.3 Kinder und Umweltzerstörung

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gegenüber den Defiziten in der Qualität unserer Umweltbeziehungen, gegenüber der Menschlichkeit unserer Feinde und gegenüber den eigenen Schuldgefühlen (Dreitzel 1990, S. 38).

Gemäß der psychoanalytischen Abwehrlehre konstituieren sich Abwehrmechanismen in der (frühen) Kindheit und werden gegen alle möglichen (psychischen) Gefahren eingesetzt. Im Falle der psychischen Verarbeitung der Umweltzerstörung wird aber wohl später ein spezifisches Arrangement von Abwehrmechanismen ausgebildet bzw. aktualisiert, das im Ergebnis ein gleichsam „gemütliches“ Weiterleben sichert. Dass diese „Rechnung“ nicht aufgeht, zeigt unter anderem der Nachweis von Boehnke (1991), dass die Abwehr gegen die Angst vor der Umweltzerstörung lediglich zu einer Verschiebung führt, einer Verschiebung auf Objekte, vor denen man sich „scheinbar gefahrloser fürchten kann“ (Bauriedl 1986, S 29). (Zu diesem Verschiebemechanismus vgl. auch Kapitel 11.3 zur Psychogenese von Phobien.) Umgekehrt gibt es Hinweise, dass die Artikulierung politischer Ängste (wie Atomkrieg und Umweltzerstörung) eher psychischen Gesundheitsgefährdungen entgegenwirkt. Dagegen sei eine allzu rigide Abwehr eher als ein psychodynamischer Risikofaktor zu betrachten. Besonders bei ohnehin ängstlichen Kindern bestehe nämlich „die Gefahr, dass die Abwehr der politischen Ängste zu einer weiteren Erhöhung persönlicher Lebensängste und nachfolgend zu höherer manifester Angst und psychiatrisch relevanten Symptomen führt“ (Boehnke et al. 1989, S. 19). Eine Beschäftigung mit den ökologischen Bedrohungen und auch ein entsprechendes Wissen darüber schürt offenbar nicht, jedenfalls nicht notwendig, die Angst. In einer weiteren Untersuchung wird dieser Zusammenhang bestätigt (Meador/Macpherson 1987; 540 Kinder im Alter von 9–13 Jahren): Dabei wurde das Ausmaß politischer Ängste bei Kindern (vor allem Atomkriegsgefahr) in Beziehung gesetzt zu somatischen und psychosomatischen Beschwerden (zum Beispiel Kopfschmerzen, Stottern, Nägelkauen). Ein wichtiger Befund dieser Studie ist, dass bei hohen politischen Ängsten weniger kinderpsychiatrisch relevante Symptome auftreten. Das ist – jedenfalls vor dem Hintergrund der psychoanalytischen Abwehrlehre – auch nicht anders zu erwarten: Abgewehrte und damit unbewusst gewordene psychische Anteile entfalten eben vom Unbewussten aus eine höchst wirkungsvolle Dynamik. Die existentielle Bedrohung, die von der Umweltzerstörung ausgeht, wird auch durch noch so ausgefeilte Abwehrsysteme weder real noch psychisch aufgehoben, wohl eher im Gegenteil: Die „Wiederkehr des Verdrängten“ (Freud 1916/17) sorgt dafür, dass die abgewehrten Wahrnehmungen und auch Angstaffekte entstellt oder verwandelt fortleben. Die Verdrängung der Umweltsituation beziehungsweise deren Notwendigkeit wird erhellt durch stresstheoretische Modelle (Lazarus/Folkman 1984). Lazarus unterscheidet beim Bewältigen (coping) von Stress – und die Umweltsituation kann in der Tat als Stressor eingestuft werden – die sogenannte problemzentrierte Bewältigung und die emotionszentrierte Bewältigung. Während die problemzentrierte Bewältigung die Umweltsituation gewissermaßen direkt und situationsangemessen angehen und damit die stressauslösenden Faktoren beeinflussen würde, sind emotionszentrierte Bewältigungsformen „lediglich“ psychische Manöver, die zwar zu einem subjektiv besseren Befinden führen, aber die stressauslösenden Faktoren eben nicht beeinflussen. Die der Wahl der Bewältigungsstrategie vorausgehende 303

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Bewertung der (Umwelt-) Situation ergibt nun eine doppelte Einschätzung: Erstens ist die zu bewältigende Situation bedrohlich, angstauslösend und schlimm, zweitens aber – und das ist entscheidend – ist sie individuell kaum zu beeinflussen. Eine problemzentrierte Bewältigung kommt kaum in Betracht. So geht es vor allem darum, die emotionale Belastung angesichts der ökologischen Situation zumindest in Grenzen zu halten. Das bedeutet, die Wahrnehmung der Umweltsituation und vor allem deren emotionale Folgen müssen umgedeutet werden in eine Version, die das Subjekt nicht mehr auf unerträgliche Weise bedrohen. Diese subjektive Entlastung ist genau das, was Lazarus emotionszentrierte Bewältigung nennt und was aus Sicht der Psychoanalyse als ein komplexer Abwehrmechanismus verstanden werden muss. Sohr (2000) konnte zeigen, dass die Verdrängung im Falle der Umweltzerstörung also ein individuell durchaus sinnvoller Weg sein kann, um das „Symptom“ der „ökologischen Hoffnungslosigkeit“ in den Griff zu bekommen. Gesellschaftlich ist jedoch gerade diese individuell konstruktive Lösung im höchsten Maße destruktiv. Denn die innerpsychische Bewältigung schafft ein ausgesprochenes Dilemma: Auf der einen Seite ist das besagte Abwehrmanöver psychodynamisch notwendig, weil Menschen nicht ständig bewusst in Angstzuständen leben können, ohne psychisch und/oder somatisch krank zu werden. Auf der anderen Seite bewältigt die emotionszentrierte Bewältigung die reale Umweltsituation in keiner Weise, was sowohl zu einer Verschärfung der ökologischen Krise führen kann als auch die subjektiven (und wohl auch kollektiven) Abwehrstrategien immer raffinierter werden lässt. Es scheint also einen Zusammenhang von äußerer Gefahr und Ignoranz zu geben. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass häufig das persönliche Risiko weitaus geringer eingeschätzt wird als das allgemeine. Billig (1994) konnte zeigen, dass nur 42 % der Befragten das persönliche Risiko umweltbedingter Krankheiten hoch einschätzen, dagegen aber 65 % das allgemeine Risiko. Dabei wird jedoch die persönliche gesundheitliche Gefährdung durch Umweltbelastungen insbesondere von jüngeren Menschen (Matthies 1998) und Frauen (Davidson/Freudenburg 1996) durchaus gesehen. Trotzdem lässt sich sagen, dass wir offenbar für uns persönlich selektiv Faktoren heranziehen, die uns in einer eigentlich gefährlichen Situation subjektive Sicherheit geben. Diese irrationale Abwehrleistung ist als „unrealistischer Optimismus“ oder als „it won’t happen to me“-Phänomen bekannt (Weinstein 1984). Das allerorten konstatierte Umweltbewusstsein muss subjektiv eine harmlose Interpretation erfahren, es muss seine betroffen machende Potenz verlieren. Auf diese Weise bleibt das Umweltbewusstsein für die Subjekte ungefährlich, allerdings auch politisch unwirksam. Diese so charakterisierte Abwehrstrategie, die es fertig bringt, die Umweltsituation zwar genau zu sehen, jedoch die damit verbundenen Affekte abzuwehren, dürfte ein wesentlicher Grund für die geringe Wirksamkeit von Umweltwissen und Umweltbewusstsein für tatsächliches Umweltverhalten sein (siehe Kapitel 14.3.4). So ist also die emotionszentrierte Bewältigung, so notwendig sie individuell sein mag, ausgesprochen ambivalent: Einerseits untergräbt sie tatsächliches Handeln im Hinblick auf die Umwelt, andererseits darf auch bezweifelt werden, ob die Abwehr, Umdeutung und Abspaltung von Umweltängsten tatsächlich eine „Bewältigung“ darstellen. „Bewältigt“ wird nicht die Realität, sondern lediglich die Wahrnehmung der Realität: durch Nicht-

14.3 Kinder und Umweltzerstörung

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Wahrnehmung (der Abwehrmechanismus der Verleugnung), durch beschwichtigende Uminterpretation, durch illusionäre Hoffnungen in die menschlichen Fähigkeiten und schließlich durch mannigfache Formen der Rationalisierung und Intellektualisierung (Preuss 1991). Damit wird selbstverständlich die äußere Katastrophe nicht verhindert; verhindert wird allerdings, sie bewusst zu erleben. Zu erinnern ist noch einmal an das bemerkenswerte Ergebnis vieler empirischer Studien, wonach die Besorgnis angesichts der Umweltzerstörung mit zunehmendem Alter abnimmt und dass umgekehrt auch die umweltpfleglichen Einstellungen bei jüngeren Menschen ausgeprägter sind als bei älteren. Vor dem Hintergrund der Annahme, dass die erwachsene Gelassenheit zur Umweltsituation zumindest auch das Ergebnis einer komplexen Abwehrgeschichte ist, ist es plausibel anzunehmen, dass eben diese Abwehrmechanismen bei Kindern und Jugendlichen noch nicht so lückenlos funktionieren. „Fridays for Future“ ist vor diesem Hintergrund als ein ernstzunehmendes Zeichen der jungen Generation zu verstehen. Pinquart und Silbereisen (2007) bringen das mit einer entwickelteren Fähigkeit zur Emotionsregulation bei Jugendlichen und Erwachsenen in Beziehung, was jedoch genau die hier beschriebene Abwehrformation begleiten könnte. Den Jüngeren wird dagegen eine stärkere Intensität von Gefühlen bescheinigt. Dass Jugendliche sich nicht mehr affektiv auf die Umweltsituation einlassen, kann natürlich auch an wachsenden Konflikten zwischen umweltschonendem Verhalten und dem Verfolgen jugendtypischer Entwicklungsaufgaben (Pinquart/Silbereisen 2007) liegen. Auch sind die wachsenden Konsumwünsche geeignet, sich zumindest weniger auf die Umweltsituation einzulassen: Nach einer qualitativen Studie des Umweltbundesamts (2002) gibt es bei jungen Familien mit Kleinkindern das höchste Umweltbewusstsein (vgl. auch Kuckartz 2000). Wenn die Kinder älter werden, stehen die Konsumwünsche der Heranwachsenden dieser Orientierung entgegen. Die Umweltzerstörung beginnt nicht erst beim Sterben der Wälder oder beim Ozongehalt der Luft, sie beginnt letztlich in der sozialen und psychischen Organisation von Menschen, die diese Entwicklung der Natur betreiben oder zumindest zulassen. Die psychische Distanzierung von der Natur, die zumindest die abendländische Geschichte auszeichnet, hat bei aller Emanzipation von den Zwängen der Natur auch zur Folge, dass die Menschen die ökologischen Folgen und Kosten dieser Entwicklung nicht mehr wahrnehmen (können). Diese Distanzierung, die, wie in den Ausführungen zum Naturbegriff (Kapitel 3) gezeigt wurde, auch mit einer gegenüberstellenden Hierarchisierung des Mensch-Natur-Verhältnisses verbunden ist, führt dazu, dass wir die Zerstörung unserer natürlichen Umwelt zwar „kennen“, nicht aber konkret erleben. Ein toter Baum ist für uns Gegenstand abstrakten Wissens – keine sinnliche Erfahrung. Neben fehlendem Wissen über ökologische Zusammenhänge, geringer Kenntnis von Handlungsalternativen und dürftiger „Umweltethik“ trägt dieser Mangel dazu bei, unser umwelt-zerstörendes Handeln zu perpetuieren (Hemmati-Weber 1993, S. 28).

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Als ein zusätzlicher Abwehrmechanismus kann insofern noch die Einschränkung sinnlicher Wahrnehmungsfähigkeiten (nicht nur) im Hinblick auf die Natur benannt werden. Die „Zivilisierung zum Corpus“, wie Hemmati-Weber (1993) es ausdrückt, erschwert zumindest die sinnliche, leibgebundene Wahrnehmung von Natur und dementsprechend auch deren Zerstörung. Die „Natur, die wir selber sind“, unser Leib (vgl. Böhme 1992), bietet insofern kein zuverlässiges Sensorium (mehr), die Zerstörung der Natur wahrhaftig wahrzunehmen. Dies ist nun deutlich ein soziokulturelles Phänomen; insofern wird die Distanzierung von der Natur in der Sozialisation jeder neuen Generation wiederholt. So verwundert es nicht, dass Kinder und Jugendliche den Zustand der Umwelt noch relativ sensibel wahrnehmen und außerdem eine stärkere affektive Naturnähe haben (siehe Kapitel 5). Vor dem Hintergrund dieser Interpretation ist es dann auch plausibel, dass Kinder erst allmählich die erwachsene Abwehrorganisation gegen die Wahrnehmung der Umweltzerstörung übernehmen.

14.3.2 Die Umweltzerstörung hat psychische Folgen, auch wenn sie nicht bewusst wahrgenommen wird Eine der Grundeinsichten der Psychoanalyse ist, dass durch die Verdrängung das Verdrängte nicht unwirksam geworden, nicht eliminiert ist, sondern eine durchaus wirkungsvolle Dynamik entfalten kann. Die „Wiederkehr des Verdrängten“ führt zu oft unerwünschten und vor allem nicht verstandenen Folgen und Symptomen. Es ist anzunehmen, dass die Ängste und Konflikte, die sich aus der Wahrnehmung der Umweltsituation ergeben, im verdrängten Zustand ungelöst fortbestehen und die besagten „ökopsychosomatischen“ Symptome unterhalten können. Angesichts dieses Teufelskreises wird „der Umgang mit Angst und Unsicherheit biographisch und politisch zu einer „zivilisatorischen Schlüsselqualifikation“ (Beck 1986 S. 8). Außenweltzerstörung und Innenweltzerstörung würden sich auf diese Weise entsprechen, eine Annahme, die nicht unwahrscheinlich ist, betrachtet man die Psyche des Menschen weniger als das Ergebnis einer endogenen Reifung denn als Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit der äußeren Realität, zu der Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine usw. gehören. Wie in Kapitel 2 gezeigt wurde, ist die Konstituierung der (psychischen) Innenwelt eine Funktion der Außenwelt, und zwar der menschlichen wie der nichtmenschlichen. Wahrscheinlich nehmen Kinder den Zustand der Umwelt wahr, zumindest „merken sie etwas“, verbinden damit auch Ängste, die jedoch nicht immer benennbar sind. Vielleicht spüren Kinder, dass sie in eine Natur, in eine Welt hineinwachsen, die brüchig ist, die nicht völlig selbstverständlich ein basales Gefühl von Sicherheit, von Gehaltensein vermitteln kann. Denn auch die nichtmenschliche Umwelt spielt bei der Konstituierung eines solchen basalen Vertrauens in die Verlässlichkeit der bestehenden Verhältnisse eine grundlegende Rolle. So ist die psychische Entfremdung des Menschen von der natürlichen Umwelt einerseits eine Bedingung für ihre gedankenlose Zerstörung, andererseits wirkt die zerstörte Umwelt aber auch auf die psychische Verfassung zurück – ein Zirkel, der offenbar nur schwer zu

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durchbrechen ist, vielleicht noch am ehesten bei Kindern. Kinder haben möglicherweise im Blick auf die Umweltzerstörung in der Tat eine – wie Richter (1987) es ausdrückt – „seismographische Sensibilität“. Es geht – gerade bei Kindern – nicht nur um die bewusste Wahrnehmung des Zustandes der äußeren Welt. Die Zerstörung der äußeren Natur wird auch implizit wahrgenommen, wobei die inneren (symbolischen) Bilder als Abbilder der äußeren Welt zu interpretieren sind. Auf diese dialektische Verknüpfung von Innenwelt und Außenwelt ist bereits hingewiesen worden, wobei das Wechselverhältnis natürlich in beide Richtungen geht. Innenund Außenwelt spiegeln sich gegenseitig. So ergibt sich aus diesem Zusammenhang die beklemmende Frage, was aus der Organisation der Innenwelt wird, wenn die Außenwelt, die eigentlich Halt und Orientierung bieten sollte, nachhaltig zerstört ist. Im Übrigen ist die quantitative Verbreitung von Umweltängsten allein kein hinreichendes Indiz für die Triftigkeit des Angstgrundes. In jedem Fall – ob nun die Umweltsituation bewusst wahrgenommen wird oder nicht, ob es bewusste Angstaffekte gibt oder nicht – wirkt sich die Umweltzerstörung psychisch aus. Das Fehlen von haltenden Umweltelementen hat möglicherweise analoge Folgen wie das Fehlen von haltenden Bezugspersonen; jedenfalls ist diese Analogie nach den Überlegungen aus den Kapiteln 2 und 5 nicht unwahrscheinlich. Welcher Art diese Symptome allerdings sind, ist eine weitgehend offene Frage, auch wenn aus psychotherapeutischen und psychiatrischen Kontexten Hinweise dazu zu hören sind (Haemmerle 1998, Schärli-Corradini 1995). Allerdings ist natürlich ein kausaler Nachweis entsprechender Schädigungen schwer. Keupp (1994, S. 347) spricht von einem „wachsenden Demoraliserungspegel“ und nimmt an, dass die Umweltsituation geradezu ideale Bedingungen für „gelernte Hilf- und Hoffnungslosigkeit“ bietet. Es ist zu vermuten, dass die psychischen und sozialen Folgen der Umweltsituation schon bei geringerer Störung der natürlichen Umwelt einsetzen als die unmittelbar somatischen Auswirkungen (Miller 1998, S. 174). Cramer (1991) spricht allgemein vom „psychosozialen Leiden an der Umweltkrise“, wobei er allerdings nicht zwischen Kindern und Erwachsenen differenziert. Umweltbelastungen können unterschiedliche Auswirkungen haben, „angefangen von kaum definierbaren Unwohlsein über konkrete Störungen intendierten Verhaltens, massiven Belästigungen und Ängsten bis hin zu somatischen Erkrankungen“ (Guski 1993, S. 4). Von „ökopsychosomatischen“ Beschwerden spricht Preuss (1995), und Bullinger (1992) berichtet von „Befindlichkeitstörungen“. Wenn auch die ätiologischen Zusammenhänge solcher psychischen Folgen natürlich noch nicht aufgeklärt sind, ist zumindest die Existenz dieser Folgen, die durchaus auch Krankheitswert im medizinischen bzw. psychosomatischen Sinne haben, relativ unumstritten. Die krankmachende Wirkung von Umweltängsten hängt unter anderem sicherlich mit fehlenden Bewältigungsmöglichkeiten zusammen (vgl. Ruff 1993), ebenso mit der Unsicherheit in Bezug auf die Vertrauenswürdigkeit und Vollständigkeit von Informationen bezüglich der Gründe der Angst (vgl. Aurand et al. 1993). Wir wissen noch wenig über die Art und Qualität einer förderlichen nichtmenschlichen Umwelt. Die Hinweise aus Kapitel 5 und 7 deuten jedoch nachdrücklich darauf hin, dass (heile) Naturelemente dazugehören. In diesem Zusammenhang sei auch noch einmal an 307

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A. Mitscherlich erinnert, der auf die Folgen der Naturentfremdung vor allem für die Entwicklung von Kindern eindrücklich hingewiesen hat: Er (der junge Mensch, U. G.) überlebt es – doch man soll sich dann nicht wundern, wenn er später bestimmte soziale Grundleistungen nie mehr erlernt, zum Beispiel ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem Ort und Initiative. Um Schwung zu haben, muss man sich von einem festen Ort abstoßen können, ein Gefühl der Sicherheit erworben haben (Mitscherlich 1965, S. 24).

So konnte insgesamt durch viele Hinweise gezeigt werden, wie wichtig eine vielfältige, naturnahe und eben nicht zerstörte Umgebung für die seelische Entwicklung von Kindern ist. Die Entwicklung des Selbst hängt mit der Entwicklung der Beziehung zu „Objekten“ unauflöslich zusammen. Vor diesem Hintergrund hat die Tatsache, dass Kinder in einer zunehmend zerstörten Natur aufwachsen, fatale Konsequenzen. Die Beziehung zu (jedenfalls zum Teil) zerstörten Natur-Objekten hat dann geradezu notwendig auch die Entwicklung gestörter Selbststrukturen zur Folge. Dieser Zusammenhang trifft auch oder gerade dann zu, wenn die Zerstörung der Natur als solche gar nicht mehr (bewusst) wahrgenommen wird. Die seelische Innenwelt nimmt ihren Stoff sozusagen aus der kaputten Außenwelt und wird so zum gleichfalls gesprungenen Spiegel der äußeren Natur (vgl. Rohde-Dachser 1990). Eine zerstörte oder auch nur funktionalisierte Umwelt bietet für Kinder in der Tat nur wenige oder sogar destruktive Anregungen zur Belebung bzw. symbolischen Füllung der Innenwelt. Auf Dauer kann das dazu führen, „dass differenzierte und ästhetisch anspruchsvolle Strukturen heute gar nicht mehr verstanden und genossen werden können, weil ihnen kein seelisches Leben entspricht“ (Berndt 1978, S. 41, vgl. auch Lorenzer 1971, S. 71). Vielleicht hängt hiermit zumindest auch die auffällige Zunahme von narzisstischen Persönlichkeitsstörungen zusammen. Wenn die Selbstkonstitution nämlich in der Tat unauflöslich mit der Weltaneignung zusammenhängt, wenn jedoch die Objekte der äußeren Welt – eben, weil sie zum Teil zerstört sind – nicht mehr fraglos als positive Selbstobjekte fungieren können, so stellt sich die Frage, was eigentlich passiert, wenn aus der begegnenden Welt bestimmte Valenzen entweder herausfallen oder brüchig geworden sind (vgl. Bittner 1981). Zusätzlich machen die Wahrnehmung der ökologischen Situation und der daraus ableitbare Zweifel an der Möglichkeit zukünftigen Lebens auf der Erde resignative Reaktionsformen durchaus verständlich, beispielsweise die Zunahme aggressiver Gewaltbereitschaft und die Anfälligkeit für esoterische Heilslehren (vgl. Petri 1992).

14.3.3 Identifikation mit Naturphänomenen Die Besorgnis um die Umwelt artikuliert sich häufig durch Identifikationen mit Naturphänomenen. Am deutlichsten wird das im Mitleid mit Tieren (Billmann-Mahecha et al. 1997, Szagun et al. 1994, S. 65f.). Die Zerstörung der Welt wird erfahrbar an Stellen, wo man sich identifizieren kann, wo es besonders naheliegt, Mensch und Natur als etwas Analoges aufzufassen. In den Ausführungen über das kindliche Verhältnis zu Tieren (siehe Kapitel

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10) wurde deutlich, welchen zentralen Stellenwert Tiere im Leben der Kinder haben, und so verwundert es nicht, dass gerade Tiere zu Identifikationsfiguren werden, an denen sich die Umweltzerstörung im Denken und Fühlen der Kinder festmachen lässt. Wie in Kapitel 15 in einem „Gespräch über Bäume“ gezeigt wird, kann diese Identifikation sogar bei Pflanzen stattfinden. Jedenfalls kann eine fürsorgliche Beziehung zu Tieren (manchmal auch zu Pflanzen) gleichsam zum Modell für eine fürsorgliche Beziehung zu Natur und Umwelt im Allgemeinen werden. So konnte beispielsweise in einem Sommercamp in China eben dieser Zusammenhang bei 8- bis 12-jährigen Kindern in einer Interventionsstudie (Bexell et al. 2013) gezeigt werden: Nicht nur Wissen und Fürsorge für Tiere sind angewachsen, sondern auch das Umweltbewusstsein und sogar diesbezügliche Verhaltensbereitschaften. Als eine entscheidende Einflussgröße haben sich dabei empathische Fähigkeiten herausgestellt – ein Umstand, der die in Kapitel 8.2. zusammengestellten Befunde bezüglich der Steigerung von empathischen Fähigkeiten im Umgang mit Tieren noch einmal in einem besonderen Licht erscheinen lässt. So sei auch hier noch einmal an das Diktum von Myers und Saunders (2002, S. 153) erinnert, „that animals provide a bridge to caring about the natural world in general.“ Jedenfalls könnte die Beziehung zu Tieren eine Chance eröffnen, gewissermaßen am Stellvertreter Tier (Leske/Bögeholz 2008) die Kluft zwischen Umweltwissen und Umwelthandeln zu verringern (vergl. Klingenberg 2014). So wird noch einmal sehr deutlich, wie problematisch es ist, die animistische und anthropomorphe Besetzung von Naturphänomenen zu untergraben. Denn natürlich werden die Objekte des Mitleids auch anthropomorph interpretiert. Die Überlegungen aus dem 4. Kapitel, dass mit dem Abbau der Anthropomorphismen auch eine beziehungsstiftende und -erhaltende Qualität verlorengeht, gewinnen im Kontext des kindlichen Verhältnisses zur Umweltzerstörung noch zusätzlich an Gewicht. Die zumindest partielle Identifikation mit der Natur ist nämlich notwendig, um sich nachhaltig und wahrhaftig für ihren Erhalt einzusetzen. So kann die Übernahme eines sachlichen und naturwissenschaftlichen Weltbildes wohl auch ein Element des komplexen Abwehrsystems sein, das uns die Umweltzerstörung zwar wahrnehmen und analysieren, jedoch offenbar nur wenige Konsequenzen ziehen lässt, eben weil die beziehungsmäßige, identifikatorische, emotionale Seite abgespalten ist. Mitleid (mit Tieren) ist ein Beispiel dafür, dass bei Kindern diese Abwehrformation noch nicht perfekt ausgebildet ist. Diese Identifikation ist nicht nur als selbstloses Mitleid zu denken. Schon der Begriff der Identifikation zeigt, dass es sich dabei auch um eine Sorge um sich selbst handelt. Die identifikatorischen Mechanismen erlauben es vielmehr, die Besorgnis angesichts der Umweltsituation auch mental zu repräsentieren. Zur Illustration im Folgenden einige Kinderäußerungen aus Gruppendiskussionen in einer 4. Grundschulklasse: • Wenn man an den Stränden langgeht, sieht man überall verpestete Tiere. • Vor ein paar Jahren hat man den Wald abgebrannt. Da hat man einfach so Sachen reingeworfen. Da sind auch viele Tiere dran gestorben und ganz viele Bäume. • Ja, zur Umwelt, das Öl verklebt nämlich die Federn von Vögeln, wenn sie Fische fangen wollen und dann können sie nicht mehr fliegen und sich nicht mehr bewegen und dann stürzen sie ab. 309

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• Ich hab‘ mal im Film gesehen, da war ein Vogel, der hatte auch Öl an den Federn, da kam ein Junge, der wollte das abmachen, aber das ging nicht und der Vogel war in ein, zwei, drei Tagen tot. • In der Zeitung stand mal, da wo die Pinguine leben, da haben sie auch immer gesprengt, und da hatten sie Fotos, wie die Pinguine da tot lagen. • Ich hab in der Tagesschau gesehen, da hatten sie gesagt, es gibt wieder einen Ölteppich, es ist wieder in der Nähe ein Ölteppich entstanden, passiert. Sie haben versucht, alles zu retten, was noch zu retten ist. Und da sind sie ganz nah rangegangen und da haben sie noch ’ne Schildkröte gerettet.

14.3.4 Die Bedeutung von ökologischem Wissen Wissen über die Umweltsituation ist zwar einerseits eine Bedingung für eine wirkungsvolle Änderung dieser Situation, andererseits kann biologisches und ökologisches Wissen psychisch auch in eine komplexe Abwehrorganisation eingebaut werden, was die emotionale Besorgnis eher beschwichtigt. So hat die kindliche Sorge um die Umwelt nicht (vor allem) die Form von ökologischen Kenntnissen oder Analysen. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass die Schule sehr wohl zum Aufbau umweltrelevanten Wissens beiträgt, jedoch im Hinblick auf emotionale Orientierung oder gar Handlungsbereitschaft nicht so wirkungsvoll ist. In einer Metaanalyse über eine Vielzahl von Studien zum Umweltbewusstsein arbeiten Pinquart und Silbereisen (2007) heraus, dass Wissen über Umweltfragen bereits im Kindergarten vorhanden ist und im Grundschulalter deutlich anwächst, was v. a. an der Fähigkeit liegt, Zusammenhänge zwischen umweltbezogenem Verhalten und dessen Folgen zu erkennen. Zu diesem Wissen gehört auch Wissen über Umweltgefährdungen. Nach Schuhmann-Hengsteler und Thomas (1994) wissen bereits 6-jährige Kinder auch die Begründungen für ökologische Handlungsvorschriften. Bei Jugendlichen gibt es dann nur noch eine geringe Zunahme des Wissens über umweltschonendes bzw. -schädigendes Verhalten. Allerdings kann ständig über Ursachen, Erscheinungen, Folgen der Umweltzerstörung geredet und informiert werden, ohne dass nachhaltig Konsequenzen gezogen werden. So zeigt Dieser (2015), dass erlebnisorientierte Naturerfahrungen zwar zu einem Wissenszuwachs bei Schülern und Schülerinnen führen, nicht aber zu den erwarteten umweltfreundlichen Einstellungen. Bilharz (2004) verortet das ökologische Wissen „zwischen unendlicher Komplexität und faktischer Irrelevanz“. So bestehen zwischen Wissen und Handeln allenfalls schwach positive Korrelationen (Rode et al. 2001, Lehmann 1999, Martens/Rost 1998, Zimmermann 1996). Wissen um die Umweltzerstörung hat offenbar nicht – jedenfalls nicht notwendig – eine entsprechende emotionale Besorgnis zur Folge. Das Bewusstsein über die ökologische Situation hat oft die Form von in gewisser Weise isoliertem Katastrophenwissen. Wahrscheinlich erhöht dieses Wissen sogar die Notwendigkeit der Abwehr, so dass sekundär das Wissen in die Abwehrstruktur integriert wird. Dieses Wissen ist offenbar nicht auszuhalten und muss überführt werden in ein eher neutrales

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Urteil, bei dem das Wissen nicht weiter beunruhigt. So kann Wissen akkumuliert werden, ohne dass das Bedrohliche dieses Umweltwissens wirksam werden müsste. Auf der anderen Seite braucht es zur Bereitschaft von umweltschützenden Handlungen zumindest auch Einsicht in und Bewusstheit über die ökologischen Gefahren – und dazu gehören auch Kenntnisse. Denn natürlich ist Wissen über Umweltthemen damit nicht unwichtig, denn ökologisches Handeln ohne entsprechendes Wissen ist auch nicht denkbar (vgl. Lappe et al. 2000, S. 30, Kaiser/Fuhrer 2000). So ist es auch höchst interessant, dass sich die „Fridays for Future“-Bewegung bei ihren Forderungen ganz wesentlich auf die Empfehlungen der Wissenschaft im Allgemeinen und der Klimaforschung im Besonderen bezieht. Es könnte sogar sein, dass es eine „Unterschätzung des Wissenseinflusses in der Umweltbildungsforschung“ (Gräsel 2002, S. 63) gibt. Allerdings ist Wissen nicht gleich Wissen. Es kommt nämlich auf die Form und den Kontext des Wissens an. Und zum Wissen müssen noch andere Einflussgrößen dazu kommen, wie z. B. Werteorientierung oder Einstellungen (Bilharz/Gräsel 2006). Interessant in diesem Zusammenhang ist der Befund von Fisman (2010), dass es v. a. Kinder aus gehobenen sozial-ökonomischen Schichten sind, die von Naturerfahrungsangeboten profitieren. Die isolierte Ansammlung von zahlreichen Daten über die Umweltzerstörung eignet sich nicht schlecht für eine distanzierende Abwehr. So ist es kein Zufall, dass Jungen über höheres Wissen verfügen, den Mädchen dagegen in fast allen Studien eine ausgeprägtere Besorgnis angesichts der Umweltsituation bescheinigt wird. Zusätzlich zeigt Bögeholz (1999, S. 88), dass Mädchen trotz geringerer Kenntnisse stärkere umweltgerechte Handlungsintentionen in Bezug auf Umweltschutz und auch eine höhere interne Verantwortungszuschreibung haben (vgl. auch Grob 1991, Szagun et al. 1994). Vielleicht nährt das Anhäufen von erklärenden Informationen über die Umweltzerstörung auch die Illusion der Beherrschbarkeit über eben diese Situation; jedenfalls können unerträgliche Gefühle der Angst und Unsicherheit durch die rationale Analyse verringert werden. Wissen in diesem Sinne wäre gleichsam Macht über die Affekte. Zahlen, Daten, Fakten, so bedrohlich sie auch sein mögen, scheinen trotzdem diese angstbeschwichtigende Funktion zu erfüllen. Das Subjekt erlebt möglicherweise eine gefährliche Situation deshalb als weniger bedrohlich, weil es durch die Aneignung von Wissen darüber seine beunruhigenden Affekte kontrolliert. Im subjektiven Erleben wird dann die gelungene Affektkontrolle mit der Kontrollierbarkeit der Situation verwechselt. Eine derart rationale oder besser rationalisierende Auseinandersetzung mit der Umweltzerstörung bringt es fertig, sich konkret dem Problem zu stellen, ohne sich tatsächlich – das heißt emotional – von ihm berühren zu lassen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wäre es wichtig, dass das Wissen nicht isoliert bleibt, sondern die Chance hat, sich mit Emotionen und Phantasien zu verbinden. Nur Wissen, das nicht gleichsam emotional gesäubert ist, könnte auch handlungsleitend sein. Sehr interessant in diesem Zusammenhang sind analoge Befunde aus der Umweltbewusstseinsforschung. Auch hier zeigt sich, dass Wissen über Umwelt, über ökologische Zusammenhänge nur wenig mit Umwelthandeln zu tun hat. Dieses Ergebnis hat bereits 1986 311

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eine Metaanalyse über zahlreiche entsprechende empirische Untersuchungen erbracht (Hines et al. 1986/1987). In der Tat ist das Wissen über Umwelt und vor allem Umweltgefahren bei Kindern wie Erwachsenen deutlich angestiegen, ebenso ist „in überraschendem Ausmaß ein Umweltbewusstsein in den Psychen der Individuen entstanden“ (Kuckartz 1995, S. 76). Das gilt auch im internationalen Vergleich: Nach Dunlap et al. (1993) haben die Deutschen zusammen mit Süd-Korea das höchste Bewusstsein für Umweltprobleme im eigenen Land. Doch hat dies fast keinen Einfluss auf das tatsächliche Umweltverhalten, wie eine Reihe von Untersuchungen vor allem an Erwachsenen zeigt (Billig 1994, Diekmann/Preisendörfer 1992, Fuhrer 1995, Fuhrer/Wölfing 1997, Grob 1991, Krause 1993, Langeheine/Lehmann 1986, Schahn 1996, Scott/Willitis 1994, Urban 1991). Für 96 % zum Beispiel ist der Verlust der Artenvielfalt ein sehr großes Problem (Kuckartz et al. 2006). Allerdings kommt dieses Bewusstsein oft nicht im Alltag an: So glauben nämlich nur 25 % der Befragten, dass der Verlust der biologischen Vielfalt ihr eigenes Leben betrifft. Das zeigen auch die alle zwei Jahre seit 2009 durchgeführten Naturbewusstseinsstudien des Bundesamts für Naturschutz. Das Umwelt- und Naturbewusstsein ist ausgesprochen hoch; so finden über 90 % der Deutschen, dass die „Natur zu einem guten Leben dazugehört“, der sogenannte Gesellschaftsindikator für biologische Vielfalt, der neben Wissen auch Einstellungen und Verhalten erfasst, verharrt auf unter 30 % (BMUB/BfN 2018). So lässt sich in der Tat konstatieren, dass das Umweltbewusstsein in Deutschland ausgesprochen ausgeprägt ist, dass sich der Umweltschutz einer geradezu steigenden Wertschätzung erfreut, dass sich jedoch entsprechende Einstellungen oder das Bekunden von Werthaltungen weitgehend als folgenlose Absichtserklärungen entpuppen (vgl. Ajzen et al. 2004). In der Umweltbewusstseinsstudie des Bundesumweltministeriums (BMUB & UBA 2014) wird von einem „normativen Konsens gesprochen, „den inzwischen kaum jemand infrage stellt.“ Umgekehrt gibt es auch umweltgerechtes Verhalten ohne Umweltbewusstsein, beispielsweise ausgelöst durch ökonomische Anreize. Zu Recht sprechen Preisendörfer und Franzen (1996) vom „schönen Schein des Umweltbewusstseins“. Dazu kommt, dass Umweltbewusstsein inzwischen gewissermassen als politisch korrekt gilt, das man in direkten Befragungen kaum noch negieren kann. So ist das Umweltbewusstsein geradezu sozial erwünscht, ob es allerdings im Bewusstsein wirklich eine so zentrale Stellung einnimmt, ist fraglich. Die häufig implizit angenommene Kausalkette von Umweltwissen–Umweltbewusstsein– Umweltverhalten steht auf tönernen Füßen (siehe Kapitel 8.1). Allenfalls 15 bis 20 Prozent der Varianz des tatsächlichen Umweltverhaltens lassen sich mit Modellen erklären, die auf dieser Kausalkette beruhen. Diese also sehr begrenzte Wirksamkeit umweltbezogener Einstellungen auf das Umweltverhalten sollte nun nicht dazu führen, sich überhaupt nicht mehr um das Umweltbewusstsein oder das Umweltwissen zu kümmern. Doch ist dabei in besonderer Weise zu berücksichtigen, dass das Umweltwissen offenbar ein ausgesprochen geeignetes Beispiel für „träges Wissen“ (Gruber et al. 2000) ist, also ein Wissen, das zwar in inszenierten Lernsituationen akkumuliert werden kann, das auch irgendwie da ist, jedoch in neuen Situationen, in gewisser Weise im „Ernstfall“, nicht angewendet werden kann oder sogar vergessen ist (Gräsel 2002, 2003). Umweltbildung müsste also so angelegt sein,

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dass entsprechendes Wissen und auch die Ergebnisse von ethischen Reflexionsprozessen in Handlungssituationen anwendbar sind – ein Grundgedanke von ökologischer Bildung, der der allerorten geforderten „Handlungsorientierung“ zugrunde liegt, was jedoch offenbar nicht so einfach umzusetzen ist. So unterstreichen diese – gerade für die Pädagogik – ausgesprochen desillusionierenden Ergebnisse noch einmal, wie sehr sich unsere Naturbeziehung aus vorrationalen Quellen speist. Kulturell bedingte Deutungsmuster gegenüber der Natur, entsprechende Werthaltungen und vorbewusste affektive Beziehungsmuster (zum Beispiel Anthropomorphismen) zur Natur beeinflussen die Wahrnehmung von und den Umgang mit Natur. Diese dürfen im Hinblick auf umweltpädagogische ebenso wie auf umweltpolitische Maßnahmen nicht übersehen oder vernachlässigt werden. Außerdem – und nicht als Ersatz, sondern zusätzlich zu Aufklärungsbemühungen auf der Bewusstseinsebene – muss vermehrt über strukturelle Änderungen von Rahmenbedingungen, die umweltgerechtes Verhalten eher fördern, nachgedacht werden. Hierzu gehören dann wohl auch ökonomische Anreize für umweltpflegliches Verhalten (Diekmann 1995). Dass diese sich in der Tat auf der Verhaltensebene auswirken, zeigt die vieldiskutierte „Low-Cost-Hypothese“ nach der das Umweltbewusstsein sich vor allem in solchen Situationen in Verhalten umsetzt, die mit geringen Kosten und Verhaltenszumutungen verbunden sind (Diekmann/Preisendörfer 1992). Allerdings ist dabei wichtig, dass es nicht zu einer „Untergrabung von Moral durch Ökonomie“ (Preisendörfer/Franzen 1996, S. 237) kommt und dass vor allem strukturelle und bewusstseinsbildende Maßnahmen komplementär sind. Denn: „Aufklärerische und erzieherische Maßnahmen, die nicht von entsprechenden strukturellen Setzungen begleitet werden, laufen in der aktuellen Situation leicht Gefahr, dass sie eine zynische Haltung bei den Betroffenen provozieren“ (Preisendörfer/Franzen 1996, S. 237). Trotz der eher ernüchternden Effekte, was das Wissen für die Konstitution von Umweltbewusstsein angeht, ist natürlich zugleich das Wissen um ökologische Zusammenhänge eine wesentliche Bedingung für die Beschäftigung mit der ökologischen Situation, weil diese über direkte Wahrnehmung oft gar nicht bemerkbar wird. Denn ohne wissenschaftliche Analysen wüssten wir nichts über Artensterben, Ozonloch oder radioaktive Belastung. Besorgnis, Bewusstsein der Krise oder Betroffenheit muss sich demnach auf Wissenszusammenhänge stützen, jedoch – und dies ist ein ungelöstes Problem – werden deshalb Betroffene in Sachen ihrer eigenen Betroffenheit unzuständig. Sie verlieren ein wesentliches Stück Wissensouveränität. Das Schädliche, Bedrohliche, Feindliche lauert überall, ob es aber feindlich oder freundlich ist, entzieht sich dem eigenen Urteilsvermögen, bleibt den Annahmen, Methoden, Kontroversen der fremden Wissensproduzenten überlassen (Beck 1986, S. 70).

Das Wissen hilft also allein auch nicht weiter, da die ökologischen Zusammenhänge äußerst komplex und kaum zu übersehen sind. Giegel spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „Informationskatastrophe“: „Das Nichtwissen ergibt sich zwangsläufig schon aus der

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extremen Größenordnung und Komplexität der Tatbestände, die das Problem darstellen“ (Giegel 1992, S. 24). Kals et al. (1999) konnten zeigen, dass bereits bei neunjährigen Grundschulkindern sogenannte „Verantwortungsurteile“ eine zentrale Rolle bei der Genese umwelt- und naturschützender Handlungsbereitschaften spielen. Es lohnt sich also, die diskursive ethische Reflexionsfähigkeit im Sinne von Nachdenklichkeit und Selbstreflexion zumindest ebenso zu fördern wie das biologisch-ökologische Wissen. Kals et al. (1999) konnten nämlich zeigen, dass die besagten Verantwortungsurteile wirksamer sind als abstrakt-biologisches oder auch konkretes Wissen. Wissen, das nicht diskursiv eingebettet und das nicht persönlich bedeutsam ist, ist offenbar nicht anwendungsrelevant. In Umweltfragen handeln wir oft trotz besseren Wissens. Wie ist dieses Dilemma zu lösen? Eine erste Antwort bezieht sich auf die Bedeutung von Kontrollüberzeugungen, eine zweite Antwort auf die Bedeutung von Intuitionen, Phantasien und subjektiven Theorien. Flammer (1999) konnte in einer Reihe von Untersuchungen zeigen, dass sich Jugendliche deshalb gegenüber Umweltproblemen besonders hilflos fühlen, weil eigenes Handeln als besonders wirkungslos eingeschätzt wird. Entsprechende Kontrollüberzeugungen sind nur wenig ausgeprägt, bei Jungen noch geringer als bei Mädchen. Gleichzeitig schätzen die Jugendlichen jedoch die Umweltproblematik als sehr zentral ein. Die Folge ist, dass die Wichtigkeit heruntergespielt werden muss, um mit der Hilflosigkeit umgehen zu können. Jugendliche halten danach „Umweltfragen prinzipiell für sehr wichtig, nicht so wichtig aber den Umstand, selbst Macht zu ihrer Bewältigung zu besitzen“ (Flammer 1999, S. 88). Dagegen konnte Hauenschild (2002) in zahlreichen Interviews mit Grundschulkindern (aus umweltorientierten Schulen und Umweltgruppen) zeigen, dass bereits Kinder eigene Handlungsmöglichkeiten sehen und diese auch ausüben, mithin zumindest in einigen Bereichen Kontrollüberzeugungen haben (vgl. auch Lappe et al. 2000, S. 210). Das gilt vor allem in Bezug auf Energie, Wasser, Müll, Tiere und Pflanzen, bei denen auch direkte Handlungsmöglichkeiten offen stehen. Weniger gilt dies in Bereichen wie Klimawandel, Regenwälder oder Luftverschmutzung, in denen eher das Gefühl von Machtlosigkeit dominiert. In diesem Zusammenhang berichtet Hauenschild zudem von starken Affekten der Kinder im Hinblick auf die Umweltzerstörung, von der eine starke „Bedrohlichkeit“ (Hauenschild 2002, S. 111) ausgehe. Bei der Wirksamkeit des Umweltwissens kommt es wohl – darauf habe ich bereits hingewiesen – wesentlich auf die Art, auf die Form des Wissens an. Gräsel (2002) kritisiert in diesem Zusammenhang, dass es in den meisten Wissensstudien nur um „richtiges“ Wissen gehe. Damit würden die subjektiven Repräsentationen über Umweltthemen ausgeklammert. Gräsel untersucht vor dem Hintergrund dieser Kritik den Zusammenhang von subjektiven Theorien und ökologischem Handeln am Beispiel des Treibhauseffekts. Das Ergebnis dieser Studie (Fragebogen, n=408, 9.-12. Klasse) zeigt, dass die Benennung von subjektiven Theorien, unabhängig von deren fachlicher Korrektheit, umweltrelevantes Handeln begünstigt (vgl. Böhm/Mader 1998). Der „Wissenseffekt“ ist also ein „Kognitionseffekt“: Wenn man auf subjektive, intuitive Vorstellungen eingeht, wenn man also

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damit die Beschäftigung mit entsprechenden Themen verbreitert, wird entsprechendes Wissen bewusstseins- und offenbar auch handlungsrelevant. In der Studie von Gräsel gibt es übrigens keinen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß richtigen Wissens und umweltrelevantem Handeln. Es kommt nämlich nicht nur auf die Korrektheit des Wissens an, sondern vor allem darauf, wie die subjektiven Wissensstrukturen aussehen, wie das Wissen mental repräsentiert ist (Böhm/Mader 1998, Böhm/Pfister 2001) und ob das Wissen Kontakt zu intuitiven Vorstellungen (Gebhard 2007) und Emotionen (Kals et al. 1999, S. 195, Loewenstein et al. 2001) hat. So muss zum Beispiel zwischen Faktenwissen, Handlungswissen und Wirksamkeitswissen unterschieden werden (Kaiser/Fuhrer 2000, S. 53), wobei v. a. das Handlungswissen mit Umweltverhalten zusammenhängt (Rhein/Böhm 2002). Wichtig sind auch die subjektiven Theorien (Rieß 2005) und die vorbewussten, intuitiven „Alltagsphantasien“ (Gebhard 2007, 2009a, 2016c) über Umweltfragen, die entsprechend bei Umweltbildungsmaßnahmen „jenseits von Belehrung und Bekehrung“ (Eser 2016) mehr Berücksichtigung finden sollten (zur Bedeutung dieser intuitiven Dimension im Hinblick auf Umweltbewusstsein und -handeln siehe ausführlich Kapitel 8). Denn bedeutsamer als Wissen für die Steuerung sowohl des Bewusstseins als auch des Verhaltens sind tieferliegende „persönlich-philosophische Werthaltungen“ (Grob 1991), Deutungsmuster (Billmann-Mahecha et al. 1998), Lebensstile und Leitbilder, die kulturellen Einflüssen unterliegen (de Haan 1995, Wildavsky 1993). Solche allgemeinen Deutungsmuster und Werthaltungen wirken als sinnstiftende Muster und motivieren insofern eher – betrachtet man den Menschen als „sinnbedürftiges Wesen“ (Combe/Gebhard 2007, 2009, 2012) – zu entsprechendem Verhalten. In diesem Zusammenhang ist auch die Wertewandeldiskussion in der Folge von Inglehart (1990) bedeutsam: Die „postmaterialistischen“ Werte passen eigentlich ganz gut zu den Attributen des allseits zu konstatierenden Umweltbewusstseins. Bildung für eine nachhaltige Entwicklung ist nur dann nachhaltig, wenn unsere intuitiven, weitgehend unbewussten Bilder und Phantasien zu Natur im Allgemeinen und Umweltzerstörung im Besonderen einerseits und die biologisch-ökologischen Argumente im Hinblick auf Natur und Nachhaltigkeit andererseits miteinander in Beziehung gebracht werden. Das überwiegende rationalistische Menschenbild im Kontext von Bildungsbemühungen im Hinblick auf Natur, Umwelt und Nachhaltigkeit müsste also gründlich überdacht werden (Holfelder/Gebhard 2016). Ein derartiges Menschenbild geht letztlich davon aus, dass die Menschen nur oder zumindest v. a. vor dem Hintergrund ihrer rationalen bzw. wissensbasierten Einsichten handeln. Damit werden die in diesem Kapitel ausgebreiteten psychodynamischen Zusammenhänge ausgeblendet. Im Ansatz der Alltagsphantasien (Gebhard 2015a) wird in diesem Kontext vorgeschlagen, dass für „nachhaltige“ Lernprozesse unsere intuitiven, vorbewussten Vorstellungen zum Gegenstand expliziter Reflexion gemacht werden sollten. In diesem Zusammenhang sei an die rekonstruierten „Alltagsphantasien“ zum Thema Nachhaltigkeit von Holfelder (2018) in Kapitel 14.2.3 erinnert.

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14.3.5 Exkurs: Todesverdrängung und Umweltzerstörung In diesem Exkurs wird der Versuch unternommen, den Modus der Todesverdrängung, wie er in Kapitel 13 bereits angedeutet wurde, auf die Verdrängung der Umweltsituation zu beziehen (siehe ausführlicher Gebhard 1998). Meine Überlegung ist dabei, dass der Umgang mit der Umweltzerstörung zumindest in einigen Aspekten analog zu dem verdrängenden Umgang mit dem Tod ist. Dabei ist natürlich im Blick zu behalten, dass es sich beim „Sterben der Natur“ einerseits und bei der Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit andererseits zwar in beiden Fällen um einen Tod handelt, aber trotzdem beide Phänomene deutlich unterschieden werden müssen: Das Bewusstsein des eigenen Todes bzw. die Angst davor ist ein zutiefst individuelles, persönliches Problem, das allerdings insofern auch ein kollektives und gesellschaftliches ist, als es alle Menschen betrifft, denn alle Menschen sind sterblich und man begegnet dem Tod auch, indem man das Sterben anderer Menschen verarbeiten muss. Auf der anderen Seite ist die Umweltzerstörung ein ausgesprochen gesellschaftliches Problem, das allerdings insofern auch ein individuelles ist, als die zerstörte Umwelt auch das einzelne Individuum (freilich mehr oder weniger) betrifft. Im ersten Fall geht es um den persönlichen Tod und im zweiten Fall geht es um den allgemeinen „Tod der Natur“. Dieser Unterschied soll in den folgenden spekulativen Überlegungen nicht verwischt werden; individuelle psychische Abwehrmechanismen können nicht umstandslos in kollektive Reaktionsformen überführt werden. Deshalb spreche ich auch lediglich von einer Analogie, wenn ich die Verdrängung des Todes und den verdrängenden Umgang mit der Umweltzerstörung in Beziehung bringe. Mit Russell (2017) kann jedenfalls die Dialektik von Leben und Tod bzw. Sterben auch als ein basaler ökologischer Zusammenhang, dem wir alle unterliegen, betrachtet werden. Ich werde im Folgenden in einem ersten Schritt den Gedanken der Todesverdrängung vor allem vor dem Hintergrund der Psychoanalyse erläutern. In einem zweiten Schritt werde ich dann zu zeigen versuchen, dass und in welcher Weise sich im Umgang mit der ökologischen Krise die Verdrängung des Todes in gewisser Weise wiederholt. Zum Modus der Todesverdrängung Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das ein Bewusstsein vom Tod besitzt. Dies hat zur Folge, dass mannigfache Abwehrmechanismen entwickelt werden (müssen), dieses Bewusstsein vom Tod unbewusst zu machen, das heißt zu verdrängen. Der Tod, das Bewusstsein und die Angst vor dem Tod wirken gemäß dem italienischen Sozialpsychologen Marchi als ein „Urschock“, der die Menschen zur Verdrängung und in der Folge davon zu sehr differenzierten Kulturleistungen gleichsam nötigt. Die spezifisch menschlichen Eigenarten und Fähigkeiten des Bewusstseins – Selbstreflexion, Erinnerung, Einfühlungsvermögen und (für den Fall des Todes besonders wichtig) die Fähigkeit zur Antizipation – machen den Schrecken angesichts unmittelbarer Todesgefahr, der natürlich auch für Tiere gilt, zu einer psychisch ständig wirksamen Bedrohung. Marchi (1988) interpretiert die aus dieser Situation erwachsene Notwendigkeit der Todesverdrängung als den Ursprung aller

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Kultur, die letztlich die Funktion habe, das unabwendbare Schicksal des Todes aushaltbar zu machen. Die zentralen Erscheinungsformen der Kultur – Mythen, Religionen, philosophische und wissenschaftliche Systeme, Kunst, Alltagskonventionen – lassen sich so als eine Umformung bzw. Abwehr dieser zentralen menschlichen Angst verstehen. Jedoch ist diese Mühe letztlich umsonst – jedenfalls was die Lösung des Todesproblems angeht. Denn natürlich lässt sich der Tod nicht wirklich abdrängen. Die Menschen werden durch die Verdrängung nicht unsterblich. Was sich allerdings verdrängen lässt, ist die psychische Repräsentanz vom Tod, vor allem des eigenen Todes. Die Psychoanalyse hat sich bislang wenig mit der Problematik des Todes befasst, wenn man von der Annahme eines Todestriebes, der hier nicht zur Debatte stehen soll, einmal absieht. Die Todesangst gilt bei Freud als eine Umformung von anderen Ängsten (siehe Kapitel 14.4). Die Verdrängung des Todes mag auch nicht so recht in die (klassische) psychoanalytische Abwehr- und Verdrängungslehre passen. Freud selbst meidet den Begriff „Verdrängung“ bezeichnenderweise bei der Todesthematik. Trotzdem formulierte er bereits 1915 den „unaufrichtigen“ Umgang mit dem Tod sehr akzentuiert: Wenn man uns anhörte, so waren wir natürlich bereit zu vertreten, dass der Tod der notwendige Ausgang alles Lebens sei, […] dass der Tod natürlich sei, unleugbar und unvermeidlich. In Wirklichkeit pflegten wir uns aber zu benehmen, als ob es anders wäre. Wir haben die unverkennbare Tendenz gezeigt, den Tod beiseite zu schieben, ihn aus dem Leben zu eliminieren. Wir haben versucht, ihn totzuschweigen. […] Der eigene Tod ist ja auch unvorstellbar, so oft wir den Versuch machen, können wir bemerken, dass wir eigentlich als Zuschauer weiter dabeibleiben. So konnte in der psychoanalytischen Schule der Ausspruch gewagt werden: Im Grunde glaube niemand an seinen eigenen Tod, oder, was dasselbe ist: Im Unbewussten sei jeder von uns von seiner Unsterblichkeit überzeugt (Freud 1915c, S. 341).

Zumindest haben wir es hier mit einem Sonderfall von Verdrängung zu tun. Die Vorstellung (vom Tod) bleibt nämlich im Bewusstsein erhalten; das Bewusstsein leugnet nicht, dass es sterben wird, kann auch wahrnehmen, dass andere Menschen sterben. Verbal kann das Bewusstsein auch darüber Auskunft geben. Insofern kann auch die (verbale) Vorstellung vom Tod nicht abgewehrt worden sein. Verdrängt ist offenbar der dazugehörige Affekt: Angst, Bedrohung, Grauen angesichts des sicher bevorstehenden Todes. Das steht in einem bemerkenswerten Gegensatz zur klassischen psychoanalytischen Verdrängungslehre. Nach dieser wird nämlich genau die „Vorstellung, welche der Träger der unliebsamen Regung war, vom Bewusstsein abgehalten“ (Freud 1926, S. 118). Damit wird natürlich auch der mit dieser Vorstellung verbundene Affekt abgewehrt. Beide Anteile – die Vorstellung und der Affekt – bleiben psychisch wirksam und unterhalten mannigfache Prozesse bei der Persönlichkeitsbildung. Allerdings ist die triebtheoretische Begründung der Verdrängungslehre im Falle des Todes nicht sehr brauchbar. Abgewehrt werden nicht verpönte oder ängstigende Triebregungen beziehungsweise die Repräsentanzen davon, sondern die affektiven Folgen der unabweisbaren Erkenntnis des Todes. Unabhängig von der Triebdynamik gilt: Eine verdrängte psychische Repräsentanz ist unbewusst und eine nicht verdrängte psychische Repräsentanz ist bewusst. Die Ver317

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drängung besteht also darin, bestimmte Repräsentanzen vom Bewusstsein fernzuhalten. Freud kennzeichnet den Zustand einer bewussten Repräsentanz so, dass die sogenannte Sachvorstellung (als eine Art Bedeutung) und die dazugehörige Wortvorstellung verknüpft sind. Das Bewusstsein ist also sprachlich; ansonsten unbewusste Vorstellungen erhalten einen Namen und werden so bewusst (vgl. Freud 1915b, S. 300). Die Verdrängung besteht in dieser Version darin, dass die Sachvorstellung von den dazugehörigen Wortvorstellungen abgekoppelt wird. Im Falle der Todesverdrängung liegen die Verhältnisse jedoch etwas anders: Die Wortvorstellungen den Tod betreffend sind keineswegs abgewehrt. Wir können wort- und kenntnisreich über den Tod sprechen, ihn bewusst ernsthaft auch nicht verleugnen. Jedoch impliziert diese bewusste Rede vom Tod nicht notwendig die Bedeutung (die Sachvorstellung): die Erkenntnis der Endgültigkeit, der Irreversibilität des Todes, die Angst vor dem Tod, die Ratlosigkeit, das Grauen. Diese oder andere Affekte über den Tod belasten das Bewusstsein nicht (mehr), die bewussten verbalen Repräsentanzen den Tod betreffend sind dagegen affektiv verarmt und gestatten es, sich neutral gegenüber dem Tod zu äußern und auch zu verhalten. Diese Abwehr ist eine sehr subtile: Das Bewusstsein kann sich gewissermaßen einbilden, den Tod gerade nicht zu verdrängen, da entsprechende Wortvorstellungen verfügbar sind; unter diesem Schutz kann die existentielle Bedrohung, die mit dem Tod verbunden ist, in das Unbewusste eben abgedrängt werden. Der Verdrängungsmechanismus besteht offenbar darin, dass wir vermittels Wortvorstellungen über den Tod wortreich kommunizieren können, ohne wahrhaft vom Tod affektiv berührt zu sein. Diese Wortvorstellungen verdienen insofern gar nicht das Attribut „bewusst“, da sie der entsprechenden Bedeutung, eben der Sachvorstellung, beraubt sind. Sie sind im Sinne der Symboltheorie von Lorenzer (1970) Klischees. Die Gewissheit des Todes wird vom „modernen Menschen“ – so Scheler – „durch seine Lebensweise und Beschäftigungsart aus der klaren Zone seines Bewusstseins zurückgedrängt, bis nur ein bloßes urteilsmäßiges Wissen, er werde sterben, zurückbleibt“ (Scheler 1957, S. 5). Natürlich ist es die Frage, ob die Todesverdrängung eine zur Aufrechterhaltung alltagspraktischer Funktionalität oder auch Gesundheit notwendige Verdrängung ist, oder ob im Gegenteil das klare Bewusstsein vom Tod, von der Begrenztheit des Lebens, sinnhaftes menschliches Leben gerade erst ermöglicht. Auf jeden Fall sind die abgewehrten affektiven Anteile der Todesvorstellung mit der Verdrängung des Todes nicht etwa gebannt oder gar aufgehoben. Die unbewusst gewordenen Repräsentanzen sind höchst wirksam und nötigen das Bewusstsein infolge ihrer Tendenz, wieder bewusst zu werden, zu einem hohen psychischen Aufwand. Ob und in welcher Weise der die modernen Gesellschaften kennzeichnende Modus der Todesverdrängung für eben diese Gesellschaften funktional ist, bleibt eine offene Frage. Zumindest stellt sich jedoch die Frage, welche psychischen und sozialen Kosten ein solcherart verdrängender, jedoch glatter Umgang mit dem Tod für die Individuen und die Gesellschaft hat.

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Wäre es nicht besser, dem Tod den Platz in der Wirklichkeit und in unseren Gedanken einzuräumen, der ihm gebührt, und unsere unbewusste Einstellung zum Tod, die wir bisher so sorgfältig unterdrückt haben, ein wenig mehr hervorzukehren? (Freud 1915c, S. 354).

Todesverdrängung und Umweltzerstörung Die Tabuisierung und Verdrängung des Todes mag zwar irrationale Unsterblichkeitsphantasien beflügeln, aber natürlich kann gerade die Verdrängung und Leugnung mit dem Tod – und wie sich gezeigt hat: mit dem Leben – letztlich nicht fertig werden. Die mit der Todesverdrängung einhergehende Unsterblichkeitsphantasie ist zudem problematisch oder geradezu gefährlich, da sie erlaubt – darauf ist bereits in Kapitel 13.1 hingewiesen worden –, angesichts persönlicher Gefahren (zum Beispiel Krankheiten) und auch gesellschaftlicher Gefahren (zum Beispiel Umweltzerstörung) untätig zu bleiben. Das „Sterben der Natur“ soll nun vor dem Hintergrund der Verdrängung des Todes diskutiert werden. Wie gezeigt wurde (vor allem in Kapitel 14.3.1), ist auch der Umgang mit der Umweltzerstörung ein verdrängender. Nun ist auch diese Gefahr in der Tat so überwältigend, gewissermaßen so „tödlich“, dass psychische Abwehrformen dagegen nicht unverständlich sind – ähnlich wie beim Tod. Psychische Probleme im Umgang mit der Umweltzerstörung treten für Kinder vor allem dann auf – hier zeigt sich eine Analogie zum Umgang mit dem Tod –, wenn ihre reale Wahrnehmung und ihre reale Angst beschwichtigt und damit nicht geteilt wird (siehe Kapitel 14.3.6). Vieles spricht dafür, dass Kinder aufgrund ihrer besonders ausgeprägten intuitiven Fähigkeiten die Sorgen von Erwachsenen sehr wohl wahrnehmen, selbst wenn die Angst vor der Umweltzerstörung den Erwachsenen selbst nicht bewusst ist. Die Folge ist, dass die Angst auf andere Bereiche verschoben wird oder eine diffuse Angst vor allem und jedem entsteht. Das wird auch durch Beobachtungen darüber bestätigt, wie Kinder mit dem Tod umgehen (können). Auch hier zeigt sich nämlich, dass Kinder sehr wohl, und zwar schon sehr früh, begreifen, was Tod bedeutet, auch über erlittene Verluste trauern können, jedoch dann in Schwierigkeiten geraten, wenn ihnen entsprechende Fähigkeiten nicht zugetraut werden, sie scheinbar geschont werden (vgl. Kapitel 13). In der Realität bedeutet dies nämlich, dass sie mit ihren Sorgen, mit ihrer Angst, mit ihrem Realitätsbezug alleingelassen sind. Der Umgang mit der Umweltzerstörung zeigt hier einige Parallelen, vielleicht weil es auch um das Sterben geht – um das Sterben der Natur, um Waldsterben, um Robbensterben usw. Wahrscheinlich leiden Kinder auch hier nicht nur unter der realen Umweltzerstörung, sondern auch darunter, dass ihnen dieses Problem gleichsam ausgeredet wird, weil die Trauer darüber ihnen nicht zugetraut, weil sie nicht mit ihnen geteilt wird. Das geschieht natürlich nicht, weil die Erwachsenen so „herzlos“ sind und die Kinder allein lassen, sondern wohl deshalb, weil die Klarheit der Kinder die Abwehrorganisation von Erwachsenen gefährdet. Sich auf die Angst der Kinder einzulassen, hieße, auch selbst (wieder) Angst erleben zu müssen. Die Angst angesichts der Umweltzerstörung ist jedoch oft nicht mehr bewusst. Die gerade beschriebene Form der Todesverdrängung lässt sich nun in der Form der Verdrängung der Umweltzerstörung wiedererkennen. Freuds bereits zitierte Äußerung über 319

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Unsterblichkeitsphantasien trifft auch für die phantasierte Unzerstörbarkeit der Natur zu, die mit der Illusion verbunden ist, dass schon alles gut werden wird. In Abwandlung bzw. Übertragung der Äußerung von Freud (1915c, S. 341) kann formuliert werden: Wir haben die unverkennbare Tendenz gezeigt, die Umweltzerstörung beiseite zu schieben, sie aus dem Leben zu eliminieren. Wir haben versucht, sie totzuschweigen. – Die Zerstörung unserer Umwelt ist ja auch unvorstellbar, so oft wir den Versuch machen, können wir bemerken, dass wir eigentlich als Zuschauer weiter dabeibleiben. So kann der Ausspruch gewagt werden: Im Grunde glaube niemand an die Zerstörung der Natur, oder, was dasselbe ist: Im Unbewussten sei jeder von der Unsterblichkeit der Natur überzeugt.

So könnte der Umgang mit dem Tod gleichsam zum Vorbild auch für den Umgang mit dem „Tod der Natur“ (Merchant 1987) werden. Angesichts der sozialen Bedingtheit der Todesverdrängung ist es durchaus plausibel, dass auch dieser Tod in analoger Weise abgewehrt wird. Eine realistische Wahrnehmung und Verarbeitung der Umweltsituation ist offenbar äußerst schwierig. Dabei wäre gerade eine adäquate Realitätswahrnehmung eine Bedingung dafür, sich auf die (neue) Realität einzustellen. Das ist genau das, was (nicht nur) in der Psychoanalyse als ein wesentliches Element des Trauerns herausgestellt wird (siehe Kapitel 13.5). Die „Unfähigkeit zu trauern“ ist von Mitscherlich und Mitscherlich (1967) sehr akzentuiert auf soziale und politische Felder bezogen worden. Die Unfähigkeit, auch über das „Sterben der Natur“ zu trauern, ist dafür ein weiteres Beispiel. Dabei ist noch einmal an die Unterscheidung von Trauer und Melancholie zu erinnern: Die Melancholie ist seelisch ausgezeichnet durch eine tiefe schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung und durch die Herabsetzung des Selbstgefühls (Freud 1917, S. 429).

Die „Unfähigkeit zu trauern“ ergibt sich nun nicht nur aus der psychischen Schwäche des Einzelnen, sondern ist – ähnlich wie beim Tod – Ausdruck eines gesellschaftlich zu verstehenden Tabus. Eine Folge dieser Tabuisierung ist demzufolge auch die Unfähigkeit, über das Sterben der Natur zu trauern. Im Falle der Umweltzerstörung bedeutet es einen großen Unterschied, ob die Naturzerstörung betrauert wird, was eine erneute zielgerichtete Beschäftigung mit der Natur zur Konsequenz hätte, oder ob die Naturzerstörung melancholisch bejammert wird, was ja – um mit Freud zu reden – eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt zur Folge hätte. Der Mitleidsaffekt, den wir bei Kindern beobachten konnten, ist vielleicht als ein Merkzeichen von Trauer zu verstehen, in dem die Beziehung zur Natur noch enthalten ist. Ein lediglich melancholischer Umgang mit der Umweltzerstörung könnte auch erhellen, weshalb die allerorten bekundete Angst vor der Umweltzerstörung so wenig wirkungsvoll im Hinblick auf tatsächliche Handlungen ist. Angst gehört – wie gesagt – schon zum guten Ton, wenn die Sprache auf das Thema Umweltzerstörung kommt.

14.3 Kinder und Umweltzerstörung

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Es fällt kein negatives Licht auf den, der in „Krisen“ oder vor ökologischen Entwicklungen, Technikfolgen und dergleichen Angst hat, denn es gibt keine individuelle Tüchtigkeit, die man der Gefahr entgegensetzen könnte. Meinungsumfragen können deshalb ohne Schwierigkeiten Zunahme von Angst registrieren und ihre Ergebnisse in die öffentliche Kommunikation zurückleiten (Luhmann 1986, S. 241).

Es zeigt sich hier also ein analoger Abwehrmechanismus, wie wir ihn im Umgang mit dem Tod beschrieben haben: Die verbalen Repräsentanzen – die Wortvorstellungen gemäß Freud – sind ihrer affektiven Tiefe bzw. Bedeutung beraubt; die Worte bezüglich des Todes, bezüglich der Umweltzerstörung – so differenziert sie auch vorgebracht werden – beunruhigen nicht mehr und sind vor allem nicht handlungsleitend. Solche Form von gewissermaßen klischeehafter Angst ist eine ähnlich subtile Abwehr, wie wir sie im Hinblick auf die Todesangst kennengelernt haben. Letztlich hat sie eine weitere (melancholische) Abkehr von der Außenwelt zur Folge beziehungsweise ermöglicht diese psychisch. So lässt sich eben feststellen (siehe Kapitel 14.3.4), dass Wissen um die Umweltzerstörung nicht eine entsprechend emotionale Besorgnis zur Folge hat. Die Wortvorstellungen allein sind eben noch kein Merkzeichen von Bewusstheit. Wissen und Gefühl scheinen sorgsam voneinander getrennt, um das alltagspraktische Funktionieren – ähnlich wie beim Tod – nicht zu gefährden. Lifton (1986, S. 440f.) spricht in diesem Zusammenhang sogar von dem Muster des „Doppellebens“, zu dem der moderne Mensch angesichts nuklearer Bedrohung und Bedrohung der Natur gezwungen werde. Genau das habe ich oben als den Modus der Todesverdrängung beschrieben. Ähnlich wie beim Tod ist die Zerstörung der Natur und damit der Lebensgrundlagen ein so großes und komplexes Problem für den Menschen, angesichts dessen Abwehrmechanismen nur allzu verständlich sind. Die damit verbundene Realitätsverleugnung hat jedoch fatale Folgen. Eine realitätsgerechte Wahrnehmung bedrohlicher Situationen würde nämlich konkretes Handeln ermöglichen, das allein geeignet wäre, die Ursachen für die Angst zu beseitigen oder zumindest anzugehen. Hier besteht ein deutlicher Unterschied zur Todesverdrängung. Die Verdrängung der Todesangst kann in gewissen Grenzen als funktional angesehen werden, da die Signale, die in der Todesangst liegen, nicht in der Weise verarbeitet werden können, dass der Angstgrund, nämlich der Tod, letztlich beseitigt werden könnte. Das ist im Falle des Sterbens der Natur anders: Die Angstsignale angesichts dieses Todes könnten lebenserhaltend sein. Die Umweltkrise ist nicht eine Krise der Natur, sondern eine des Menschen. In unseren Naturbeziehungen und Naturvorstellungen spiegelt sich menschliches Selbstverständnis. In diesem Kontext ist auch die Reflexion bewusster und unbewusster Motivierungen menschlicher Verhaltensweisen im Hinblick auf die Natur zu sehen. Die hier eingeschlagene Argumentationslinie offenbart nun eine – vorsichtig formuliert – ausgesprochen schwierige Situation. Wenn nämlich in der Tat der Gedanke richtig ist, dass unser verdrängender Umgang mit der Umweltzerstörung (die ja wirklich und nicht nur metaphorisch tödlich ist) sich der Mechanismen und auch der Unbedingtheit der Todesverdrängung bedient, wäre die Verdrängung der Umweltkrise nämlich angesichts 321

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der dargelegten sozialen Verdrängung des Todes eine geradezu zwangsläufige und auch eine sehr erfolgreiche. Eine Aporie?

14.3.6 Die ökologische Krise beeinflusst das Verhältnis zwischen den Generationen “You are failing us. But the young people are starting to understand your betrayal. The eyes of all future generations are upon you. And if you choose to fail us, I say: We will never forgive you. We will not let you get away with this. Right here, right now is where we draw the line. The world is waking up. And change is coming, whether you like it or not.” (Greta Thunberg beim UN-Klimagipfel, 23.09.2019)

Der Zustand der Umwelt wirkt sich auf das persönliche psychische Befinden von Kindern aus. Dies zu sehen, nämlich dass Kinder auch seelisch angesichts der Umweltzerstörung beeinträchtigt sind, dass die ökologische Krise neben den ökologischen Gefahren auch psychische Belastungen zur Folge haben kann, hieße, die Kinder mit diesen Gefühlen nicht allein zu lassen. Dass dies gelingen kann, zeigen Überlegungen zum „Green Parenting“ (Blince 2016). Angesichts dieser Situation erscheint es nicht unangebracht, „ökologische Kinderrechte“ zu fordern bzw. deren Einhaltung einzuklagen. Immerhin hat die UNO im November 1989 nach zehnjähriger Beratung 54 Artikel über die „Grundrechte von Kindern“ festgeschrieben, in denen auch die Umweltsituation berücksichtigt wird: Die Vertragsstaaten bemühen sich, Krankheiten sowie Unter- und Fehlernährung auch im Rahmen der gesundlichen Grundversorgung zu bekämpfen, unter anderem durch den Einsatz leicht zugänglicher Technik und durch die Bereitstellung ausreichender vollwertiger Nahrungsmittel und sauberen Trinkwassers, wobei die Gefahren und Risiken der Umweltverschmutzung zu berücksichtigen sind. (Artikel 24, Absatz c)

Und in einer dazugehörigen „Deklaration zum Überleben, zum Schutz und zur Entwicklung von Kindern“, die immerhin von 71 Staatsoberhäuptern unterzeichnet wurde, wird ausdrücklich formuliert: „Die Situation der Kinder in der Welt in den 90er Jahren grundlegend zu verbessern, heisst auch, einen Beitrag zum Umweltschutz zu leisten.“ Im Januar 1996 wurde in Brüssel die „Europäische Charta der Rechte des Kindes“ beschlossen und dabei in Artikel 8.30 festgelegt, dass „jedes Kind ein Recht auf eine saubere Umwelt hat.“ Seit 2013 gibt es regelmäßige große Anzeigen in überregionalen deutschen Tageszeitungen, in denen ein sogenanntes „Generationen-Manifest“ (2019) proklamiert wird. Darin wird genau die Aufkündigung der „ältesten Übereinkunft der Menschheit“ vehement kritisiert und eine Neuauflage unter Einbeziehung von Klima, Umwelt und Gerechtigkeit gefordert. „Die Lage ist erschreckend. Unsere Leistungsgesellschaft mit ihrem Produktions- und Wachstumswahn ist dabei, die Erde für unsere Nachkommen unwirtlich und

14.3 Kinder und Umweltzerstörung

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unbewohnbar zu machen“. Komplementäre Forderungen gibt es auch in entsprechenden Anzeigen von Kindern und Jugendlichen (Jugendrat der Generationen Stiftung 2017). Wahrscheinlich treten für Kinder vor allem dann psychische Probleme auf, wenn ihre reale Wahrnehmung und ihre reale Angst beschwichtigt und damit nicht geteilt wird. Viele Beispiele und auch die Mehrzahl der empirischen Studien legen die Vermutung nahe, dass auch die jüngeren Kinder im Hinblick auf die Umweltzerstörung verhältnismäßig realistisch sind. Das zeigt auch eine internationale Zusammenfassung von BNE-Aktivitäten im Vorschulbereich: Es zeigte sich, „dass kleine Kinder ein signifikant großes Wissen über die Erde und wichtige Ideen zu Umweltbelangen besitzen sowie ein Bewußtsein über die Verantwortlichkeit der Individuen für die Nachhaltigkeit haben. Die Forschungsergebnisse zeigen zudem, dass Erwachsene häufig die Kompetenzen kleiner Kinder unterschätzen“ (Engdahl 2017, S. 111). Natürlich hat dieser Realitätssinn etwas zu tun mit dem sozialen Umfeld, in dem die Kinder leben. So wundert es nicht, dass sowohl ältere Kinder als auch solche mit höherer Schulbildung mehr über den Zustand der Umwelt wissen. Auch äußern sich keineswegs alle Kinder besorgt über die Umwelt. Das wird auch daran liegen, dass sie das implizite Gespür der Brüchigkeit der Welt (noch) nicht mit konkreten Wahrnehmungen, die auch benennbar wären, verbinden. Dazu gehört nämlich auch Wissen über die Situation der Umwelt. Trotzdem gewinnt man den Eindruck, dass Kinder mit der Angst vor Umweltzerstörung zumindest besser umgehen können, als es (scheinbar) besorgte Erwachsene glauben. Vieles spricht dafür, dass Kinder aufgrund ihrer besonders ausgeprägten intuitiven Fähigkeiten die Sorgen von Erwachsenen sehr wohl wahrnehmen, selbst wenn die Angst vor der Umweltzerstörung den Erwachsenen selbst nicht bewusst ist. Der Widerspruch zwischen Mitteilung und intuitiver Wahrnehmung belastet die Kinder sogar noch zusätzlich, weil erstens die Kinder mit der sie ängstigenden Wahrnehmung allein gelassen sind, zweitens sie an ihrer Wahrnehmungsfähigkeit zweifeln (müssen) und weil drittens auf diese Weise seelische Verarbeitungsweisen zumindest erschwert werden. Die Folge ist, dass die Angst auf andere Bereiche verschoben wird oder eine diffuse Angst vor allem und jedem entsteht. A. Freud und D. Burlingham haben diesen Zusammenhang bei ihren Beobachtungen über Kriegskinder während des Zweiten Weltkrieges deutlich herausgearbeitet: Kinder nehmen die reale Kriegsgefahr sehr wohl wahr und können sie auch psychisch verkraften. (Neurotische) Deformationen treten vor allem dann auf, wenn diese wirkliche Wahrnehmung und auch Angst beschwichtigt und damit eben nicht geteilt wird. Freud und Burlingham kritisieren die Praxis von Eltern und Erziehern, kleine Kinder von Unglücks- und Todesfällen fernzuhalten. Das sei überflüssig, weil die Kinder – jedenfalls in Begleitung naher Bezugspersonen – das Unglück sehr wohl aushalten; darüber hinaus sei es ohnehin nicht möglich, weil die Kinder in den Verhaltensweisen der Erwachsenen die (schlimme) Realität spüren würden (vgl. Kapitel 13.3). Dass sich – jedenfalls nach den empirischen Befunden aus den 80er Jahren – der Zustand der Umwelt bzw. überhaupt politische Faktoren (Krieg, Dritte Welt, Arbeitslosigkeit) mehr auf das psychische Befinden auswirken als die Bedingungen des alltäglichen und persönlichen Lebens (Familie, Scheidung der Eltern, Noten), ist eine Beobachtung, die für die hier 323

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diskutierte Thematik sehr zu bedenken ist. Klar zu sehen, wie sehr offenbar Kinder auch seelisch angesichts der Umweltzerstörung beeinträchtigt sind, hieße, die Kinder mit dieser Angst nicht allein zu lassen, die Angst mit ihnen zu teilen. Das wiederum allerdings würde für die Erwachsenen bedeuten, die offenbar wirkungsvoll entwickelte Abwehrorganisation gegen die Angst und auch gegen eine realistische Einschätzung der Umweltzerstörung aufzugeben, was freilich einfacher gesagt als getan ist. Denn die Zerstörung der Umwelt und damit der Lebensgrundlagen ist – wie bereits gesagt – ein so großes und komplexes Problem, angesichts dessen Abwehrmechanismen nur allzu verständlich sind. Hilflosigkeit, Angst, Verlassenheitsgefühle sind die durchaus adäquaten psychischen Folgen bei der Wahrnehmung des wirklichen Zustandes der Welt (vgl. Lifton 1986). Das sind freilich höchst unangenehme Affekte, die eben allzu leicht – und gerade wegen ihrer Heftigkeit – abgewehrt werden: „Der Zustand seelischer Betäubung setzt ein“ (Macy 1986, S. 25). Diese seelische Betäubung ist nicht nur Folge der bedrohlichen Wahrnehmung, sondern auch Ursache bzw. Bedingung für ständig rigider werdende Abwehrformen. Doch nur der Mut, sich der Realität zu stellen und damit auch die Angst zu spüren, kann auch zielgerichtet die Realität (wieder) verändern. Die Angst scheint jedoch im Falle der Umweltzerstörung ihre lebenserhaltende Wirkung verloren zu haben. Die Signale aus der Umwelt verlieren zunehmend ihre Signalfunktion und werden auf diese Weise zu Gegenständen von Zeitungsmeldungen, Unterricht u. ä., die nicht mehr weiter – zumindest bewusst – beunruhigen. Wie es scheint, ist bei Kindern diese komplexe Abwehr noch nicht so perfekt organisiert. Gerade in der Grundschulzeit lernen offenbar Kinder, ihrer Wahrnehmung nicht mehr zu trauen und lieber die ihnen von den Erwachsenen vorgeführten und vorgelebten Abwehrmechanismen zu übernehmen. Jedenfalls deuten die empirischen Hinweise, die wir haben, überwiegend in diese Richtung. Pädagogische Aufgabe von Eltern oder anderen Erwachsenen wäre es insofern, den Kindern Mut zu machen, die Augen offen zu halten, wachzubleiben und sich eben nicht seelisch zu betäuben bzw. betäuben zu lassen. Dazu gehört sicherlich in erster Linie, dass die (auch bisweilen diffuse) Angst der Kinder angesichts der Umweltzerstörung zugelassen wird, das heißt, dass sie auch innerhalb der Beziehung zu Erwachsenen einen Platz hat, da sie nur so von den Kindern ausgehalten werden kann. Die Wahrnehmung einer haltlosen Welt kann nur – wenn überhaupt – in der Sicherheit einer haltenden menschlichen Beziehung ausgehalten werden; nur so wäre auch eine auf Zukunft ausgerichtete konstruktive Lösung möglich, die die Signale der Angst einer realitätsadäquaten Handlungsweise zuführt. Wenn allerdings infolge eigener Angst und Hilflosigkeit solche Gefühle aus der Beziehung mit den Kindern ausgeschlossen werden, bleibt den Kindern eigentlich nur noch die Übernahme der erwachsenen Abwehrorganisation. Nun ist die Schwierigkeit von Eltern und Pädagogen, sich mit ihren Kindern über die Umweltzerstörung auseinanderzusetzen, durchaus verständlich. Auf die Aktivierung der eigenen Angst ist bereits hingewiesen worden. Dass und wie sehr gerade Pädagogen angesichts der Umweltsituation emotional belastet sind, zeigt eine Studie, in der 30 pädagogische Mitarbeiter aus außerschulischen Einrichtungen der Jugendarbeit nach ihrem Erleben der ökologischen Situation befragt wurden. In diesen Gesprächen zeigt sich das individuelle

14.3 Kinder und Umweltzerstörung

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Ausmaß der emotionalen Betroffenheit durch die Umweltkrise sehr deutlich, in der Mehrzahl der Fälle sogar „zu einem sehr starken Ausprägungsgrad“ (Volkert 2001, S. 209). Etwa zwei Drittel der Befragten bekunden deutliche Angstgefühle; auch andere Gefühlsqualitäten wie Zorn, Hilflosigkeit, Ohnmacht, auch Resignation und Trauer werden geäußert. Hinzu kommt noch, dass den Kindern natürlich die Angst nicht wirklich genommen werden kann, da es sich eben keineswegs um irrationale, sondern um realitätsgerechte Ängste handelt. Kinderängste, die angesichts der Realität nicht ausgeräumt, sondern „nur“ geteilt werden können, sind schwer auszuhalten (ähnlich auch bei Todesfällen, Unfällen oder Scheidung der Eltern). Zudem werden möglicherweise durch derartige Signale von Kindern auch unbewusste bzw. diffuse Schuldgefühle bei Erwachsenen provoziert – Schuldgefühle, die vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Erwachsenengeneration der nachfolgenden Generation eine zerstörte oder kranke Umwelt hinterlässt, auch nicht als irrational abgetan werden können. Die Tatsache, dass offenkundig die Zukunft der nachfolgenden Generation aufs Spiel gesetzt wird, muss das Vertrauen der Kinder gegenüber den Erwachsenen erschüttern. Man kann geradezu von einer neuen Qualität des Generationenkonflikts sprechen (vgl. Hilgers 1993, Petri 1992). Der drohende Verlust einer Zukunftsperspektive kündigt gleichsam den Generationenvertrag auf Kosten bzw. zu Ungunsten der Kinder (s. o.). Vor diesem Hintergrund ist die oben erwähnte Erklärung der UN-Vollversammlung bezüglich der Kinderrechte auf eine gesunde Umwelt vielleicht auch als ein Hinweis darauf zu interpretieren, dass der Generationenvertrag gewissermaßen eine Neuauflage erfährt. Denn natürlich ist trotzdem davon auszugehen, dass Eltern prinzipiell ihren Kindern eine unbeschwerte Zukunft wünschen und auch nach ihren jeweiligen Möglichkeiten versuchen, dafür zu sorgen. Das ist im persönlichen Bereich schon schwierig genug; für das komplexe Problem der Umweltzerstörung ist es im Grunde nicht möglich. Resignation und Abwehr sind angesichts dieser Situation geradezu konsequent, die eigenen Ängste und Schuldgefühle, verbunden mit dem Gefühl, persönlich versagt zu haben, sind nur schwer auszuhalten. „Als fürsorgliche Verantwortlichkeit wird eine Haltung ausgegeben, die in Wahrheit eher auf eine Abwehr eigener Ängste hinausläuft. Die Verweigerung eines partnerschaftlichen Austausches dient demnach weniger der Schonung der Kinder als der Selbstschonung der Älteren (Richter 1998, S. 182). Da liegt es nahe, um der Auseinandersetzung mit Kindern zu entgehen, eine Haltung einzunehmen, die vorgibt, man wolle den Kindern ihre Unbeschwertheit noch nicht nehmen. So projizieren Erwachsene ihr Sehnsuchtsbild kindlicher Unbekümmertheit auf die Kinder. Diese Projektion ist jedoch, wie die meisten empirischen Befunde zur kindlichen Wahrnehmung der Umweltzerstörung zeigen, illusionär. Es wäre wichtig, die Sensibilität der Kinder erstens zu achten und zweitens auch konkret aufzugreifen. Bei einer lebensstilorientierten Untersuchung zur Frage, welche Faktoren am ehesten die Handlungsbereitschaft für ökologisches Handeln beeinflussen, wird entsprechend die „Kultivierung emotionaler Kompetenzen“ herausgearbeitet (Degenhardt 2002). Diese Kultivierung wäre dann ein offener und eben nicht ein verdrängender Umgang mit den ängstigenden Affekten. 325

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Wie wichtig die Kommunikationsbereitschaft seitens der Erwachsenen für Kinder und Jugendliche im Hinblick auf die Umweltthematik ist, kann kaum überschätzt werden. Gefühlen von Hoffnungslosigkeit und Resignation kann nur so begegnet werden. Nach der Studie von Szagun et al. (1994) wird die Annahme, dass Kinder und Jugendliche mit ihren Eltern wenig über Umweltfragen kommunizieren, übrigens nicht bestätigt. Es zeigt sich hier auch, dass der diesbezügliche Austausch zwischen Kindern und Erwachsenen sich positiv auf das Umweltverhalten der Kinder und wahrscheinlich auch der Erwachsenen auswirkt. Das wird auch von einer neuen amerikanischen Studie bestätigt, wonach das Sprechen über Umweltprobleme in der Familie (neben dem Anschauen von Naturfilmen und dem Lesen zu Umweltfragen) zu einem der zentralen Einflussgrößen bei der Entwicklung umweltbezogener Einstellungen gerechnet werden kann (Eagles/Demare 1999). Der Hinweis auf die Notwendigkeit des Austausches zwischen Erwachsenen und Kindern über die ökologische Krise ist kein Plädoyer für eine Katastrophenpädagogik, die Kindern und Jugendlichen kenntnisreich die Schreckensszenarien der ökologischen Krise vorführt und damit geradezu auf Umweltängste bei Kindern setzt. Eine solche Katastrophenpädagogik, durch die die eigene (verdrängte) Angst auf die Kinder abgewälzt wird, würde eher die Angst und eben auch entsprechende Abwehrformationen mobilisieren. Kinder würden zusätzlich belastet, wenn man sie gewissermaßen als „Symptomträger“ der Umweltangst politisch funktionalisieren und damit missbrauchen würde. Angst ist nämlich in der Tat auf Dauer unerträglich und wird beziehungsweise muss geradezu abgewehrt werden. Auf der anderen Seite ist es jedoch ein Plädoyer, die Wahrnehmung der Umweltzerstörung und entsprechende Angstsignale nicht zu verleugnen, sondern den Mut zu stärken, die Realität – gemeinsam – anzusehen. Das ist eine sehr schmale Gratwanderung, übrigens nicht nur für die Pädagogik. „Wie können wir auf dem zivilisatorischen Vulkan leben, ohne ihn bewusst zu vergessen, aber auch ohne an den Ängsten – und nicht nur an den Dämpfen, die er ausströmt – zu ersticken?“ (Beck 1987). Die Beantwortung dieser Frage steht noch aus, und die Umweltvergessenheit scheint von Generation zu Generation anzuwachsen – ein Phänomen, das Kahn (2002) „environmental generational amnesia“ nennt und mit der gleichsam als normal erlebten Umweltzerstörung und mit einer wachsenden Naturentfremdung in Zusammenhang bringt. Vielleicht können wir von den Kindern lernen, die offenbar weniger getrübt durch psychische Abwehrmanöver einen Blick für die ökologischen Bedrohungen haben. Die Angst, die wir natürlich alle haben, tritt offenbar am klarsten zutage bei den Kindern. Das liegt nicht nur an der besonders sensiblen Wahrnehmungsfähigkeit der Kinder, es liegt auch daran, dass sie noch nicht so perfekt gesellschaftlichen Tabus folgen, dass sie noch nicht ihre Affekte – und dazu gehört eben auch die Angst vor der Umweltzerstörung – so gut im Griff haben. Die „Routinisierung der Affekte“ (Elias 1976) ist bei Kindern noch im Fluss, so dass die Affekte noch relativ klar und unverstellt zum Ausdruck kommen. Verantwortliche Erziehung hätte die Aufgabe, diese Klarheit nicht auf routinierte Weise zu verwässern. Dazu wäre es wichtig, die kindlichen Signale – die ängstlichen genauso wie die optimistischen – genau anzusehen und auch aufzugreifen. Erwachsene, die dergestalt die

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Kinder ernstnehmen, würden die Umweltängste der Kinder weder in übertriebener Weise pädagogisch oder auch im Hinblick auf politische Ziele ausschlachten noch würden die Angstsignale verharmlost. Es gilt, den einfühlsamen und genauen Blick auf die kindlichen Signale zu kultivieren – eine anspruchsvolle Aufgabe, die Beobachtungsfähigkeit, Mitgefühl und Reflexion gleichermaßen erfordert. Auf diese Weise bestünde vielleicht die Chance, die Signale der Angst zu einer abwägenden Nachdenklichkeit werden zu lassen und damit Aktivität zu ermöglichen.

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Ein Gespräch über Bäume 15 Ein Gespräch über Bäume 15 Ein Gespräch über Bäume

„Ein Baum ist wie ein Blinder, der gefesselt ist, der nicht hören kann.“ (Albert, 10 Jahre)

Zum Schluss dieses Buches über Kind und Natur sollen die Kinder selbst zu Wort kommen. Das folgende Kindergespräch über Bäume fand statt im Rahmen eines Forschungsprojekts über naturethische Argumentationsweisen bei Kindern (Billmann-Mahecha et al. 1998, Gebhard et al. 1997, 2003, Nevers et al. 2006). Die Gesprächsführung orientierte sich an der Tradition des „Philosophierens mit Kindern“ (Matthews 1989, Gebhard/Michalik 2017). Um das Gespräch zwischen den Kindern anzuregen, werden kleine Geschichten vorgelesen, die ein Dilemma beinhalten. In den Dilemmata stehen sich Interessen von Kindern und „Interessen“ von Natur (einer Pflanze, eines Tieres oder auch einer komplexen Lebensgemeinschaft) einander gegenüber. Ein Beispiel für eine den Kindern vorgelegte Geschichte ist „Das Baumhaus“. Das Baumhaus Peter und Sonja planen den Bau eines Baumhauses. Es soll ein besonders tolles Haus werden, in dem mehrere Kinder schlafen und essen können. Jedes Kind soll eine eigene Ecke bekommen, wo es Hefte und Bonbons unterbringen kann. Für den Bau haben sie eine große, alte Weide auf einem unbebauten Grundstück ausgesucht. Eigentlich ist es der einzige Baum, der dafür in Frage kommt. Die anderen in der Umgebung wachsen in privaten Gärten oder Parks. Außerdem sind sie zu klein. Begeistert erklärt Sonja ihren Plan: „Zuerst muss ein Weg bis zum Baum durchgeschlagen werden. Dazu müssen wir das Brombeergestrüpp weghacken und Steine hinlegen. Auch der Boden um den Stamm muss freigelegt werden. Dann müssen wir eine Leiter befestigen und zwei größere Äste absägen, damit wir Zwischenböden einbauen können. Überall müssen Geländer mit Nägeln befestigt werden.“ Beim Zuhören wird Peter zunehmend ernst. Er kennt das Grundstück und den Baum sehr gut, weil er sich dort öfters ganz still aufgehalten hat. Er weiß zum Beispiel, dass

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Gebhard, Kind und Natur, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21276-6_15

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Vögel jedes Jahr im Gestrüpp und im Baum brüten. Er kennt auch alle Pflanzen, die um den Baum herum wachsen. Zu Sonja sagt er: „Ich habe mir das anders überlegt. Ich will kein Baumhaus bauen, und ich will auch nicht, dass andere Kinder dort bauen. Ich finde, wir sollten die Natur in Ruhe lassen.“ Sonja hat dafür kein Verständnis. Verärgert antwortet sie: „Das sehe ich überhaupt nicht ein. Erstens ist das keine ‚Natur‘, sondern ein altes, vergammeltes Grundstück mitten in der Stadt. Den Besitzer habe ich nie gesehen. Außerdem haben Kinder ein Recht, spielen zu dürfen.“ In dieser Geschichte geht es um den Konflikt, ob für menschliche Bedürfnisse ein Stück Natur zerstört oder auch nur verändert werden soll beziehungsweise darf. Der Konflikt bewegt sich zwischen folgenden zwei Polen: • Die Interessen von Kindern, die ein Baumhaus zum Spielen haben wollen. • Die Natur-Schutzwürdigkeit eines Baumes, der beim Bauen des Baumhauses verändert oder sogar geschädigt werden könnte. Über diesen Konflikt diskutieren zwei Mädchen (Maria und Monika) und drei Jungen (Daniel, Albert und Fritz) aus Hamburg-Eimsbüttel. Alle fünf Kinder sind 10 Jahre alt. Viele thematische Schwerpunkten, die in diesem Buch behandelt wurden, klingen in der Diskussion zwischen den Kindern gewissermaßen als Motive an. Deshalb ist dieses Gespräch als eine Art von Schlusswort gut geeignet. Im Folgenden einige Diskussionsausschnitte: Albert eröffnet die Diskussion, indem er die besagten Pole benennt und sich beziehungsweise die eigenen Bedürfnisse an die erste Stelle setzt. Die Rechte der Natur werden zwar gesehen, jedoch ignoriert: „Peter hat zwar Recht, aber ich würde auch lieber ein Baumhaus bauen.“ Daniel ist ebenfalls für das Baumhaus und liefert auch eine Rechtfertigung dafür: „Wenn man aus Holz etwas baut, bleibt es ja noch Natur.“ Daniel ist im Laufe der Diskussion überhaupt der konsequenteste Verfechter einer anthropozentrischen Position, nämlich dass es nicht nur gerechtfertigt, sondern geradezu geboten sei, die Natur für menschliche Interessen zu nutzen. Die Bedürfnisse des Menschen, auch solche nach Spaß und Spiel, sind Bedürfnissen von Natur, über die man ja auch nur spekulieren könne, vorgeordnet. Die Mädchen, vor allem Maria, sind anderer Meinung (zur Geschlechtsspezifik von Umwelteinstellungen siehe Kapitel 14.2.). Sie billigen dem Baum, überhaupt der Natur, Rechte zu. Bemerkenswert ist, dass diese Argumentationsfigur, die auch nichtmenschliche Objekte zu Moralobjekten macht, oft mit einer anthropomorphen Interpretation dieser Objekte (in diesem Fall dem Baum) verknüpft ist (siehe Kapitel 4 und 8). Maria: Wenn wir Äste und das Gestrüpp abhacken, ist das für die Tiere nicht gut, die in der wilden Natur leben, weil ihr Zuhause auch kaputt geht. Das tut dem Baum genauso weh, als würden wir einen Arm abgerissen bekommen. Albert: Oder zwei Finger.

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Maria: So ist das für den Baum ja auch und der kann sich nicht wehren. Und wenn da andauernd Kinder sind, dann nutzt sich der Baum auch ab. Und der Baum kann ja auch krank werden, wenn ihm Sachen fehlen. Sowohl der Baum selbst als auch Tiere werden so interpretiert, dass sie menschliche Gefühle und Bedürfnisse haben (siehe Kapitel 4), über die man nicht hinweggehen darf. Das „Zuhause“ der Tiere geht kaputt und die Äste des Baumes werden analogisiert mit den Armen des Menschen. Diese Analogisierung geht bis zu physiologischen Funktionen (Blut), Schmerzempfindungen und Sinneswahrnehmungen (siehe Kapitel 12). Maria: Die Kinder wollen ihm auch große Äste abhacken und die sind für ihn ja auch wichtig, weil da ist ziemlich viel Baumsaft enthalten. Diese Analogisierung wird auch von Daniel nicht bestritten und geradezu übernommen; aber trotzdem hält er die Nutzung des Baumes für vertretbar: Daniel: Wenn dir der Arm abgerissen wird, dann tut es zwar weh, aber nach einer Weile tut es schon nicht mehr weh. Der Baum kann denken und hat Empfindungen; es kann ihm zum Beispiel etwas „egal“ sein: Maria: Wenn die einmal anfangen, da Nägel hineinzuschlagen, dann denken die Kinder, dass das dem Baum dann auch schon egal ist und ritzen da noch Namen rein.. Ich meine, wenn das ein alter, kranker Baum ist, ist das normal, also dann ginge es ja noch. (…) Maria: Nur, was ich befürchte, wenn die Kinder da nicht mehr auf das Baumhaus gehen, dann lassen sie es dran, anstatt es wieder weg zu nehmen. Daniel: Warum sollen sie es wegmachen, das würde dem Baum nochmal weh tun, weil sie die Nägel herausreißen. Albert: Das ist genauso, wenn wir eine Kugel abbekommen, dann holen wir sie doch auch wieder raus. Maria: Ja genau, das ist für den Baum viel besser. Albert: Wenn sie rein fliegt, tut das weh, dann näht man es zu, dann tut es nicht mehr weh, aber es tut immer noch ein bisschen beim Herausnehmen weh, aber es wächst dann doch wieder zu. Maria: Das ist besser für den Baum und auch für die Tiere, die trauen sich sonst nicht wieder an ihre Nester und so, wenn da so viele Menschen sind und so.

Dass ein Baum also schmerzempfindlich ist, wird unabhängig von sonstigen Positionen von allen Kindern in anthropomorpher Weise angenommen (siehe Kapitel 4). Das 331

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15 Ein Gespräch über Bäume

ist zwischen ihnen unstrittig. Auch Daniel, der die menschliche Nutzung von Bäumen am konsequentesten vertritt, bestreitet dies nicht. Allerdings wird die anthropomorphe Interpretation wieder zurück auf den Menschen bezogen und damit für ein Verständnis des Menschen genutzt, der jetzt im Lichte der Natur, also auf symbolische Weise physiomorph interpretiert wird (siehe Kap. 2.5). Als es um den Tod oder sogar um den „Mord“ von Bäumen geht, bemerkt er, dass die Natur eben so sei. „O.k., aber wir werden auch ermordet.“ Tiere, Bäume und eben auch Menschen haben ein gemeinsames Schicksal. Maria dagegen macht trotz der Anthropomorphisierung einen Unterschied, und zwar verweist sie auf das Machtgefälle zwischen Mensch und nichtmenschlicher Natur. So werden die Menschen eben nicht von Bäumen ermordet. Maria: Wir können uns wehren und wegrennen und die Bäume stehen da hilflos und können nur die Äste bewegen im Wind, aber sie können sich nicht wehren und dir mit dem Ast eine ditschen. Das einzige, was ihr Glück wäre, dass dich jemand dort erwischt und dem das nicht recht ist und der jagt dich dann. Aber die Bäume können sich nicht wehren. Wir warten auch nicht voller Glück und sagen: „Oh schön, da kommt ein Mörder und will mich ermorden.“ Die Bäume sehen das mit an und ein Baum hat auch Angst. Albert: Ein Baum ist so wie ein Blinder, der gefesselt ist, der nicht hören kann. Maria: …nicht hören und nicht sehen. Ja, ein Baum kann höchstens fühlen. Gerade das Fühlen, ein Baum spürt ja auch Schmerz. Hören kann ein Baum vielleicht gerade noch, aber riechen kann er nicht. Daniel: Woher willst du das wissen? Maria: Ich bin mir da ziemlich sicher, aber fühlen kann er klar. Daniel: Ja, aber woher willst du wissen, dass er nicht gucken kann und hören? Maria: Das macht es sogar noch schlimmer, wenn ein Baum sehen würde, wenn er abgeholzt würde. Albert: Das will ich nicht sehen. Maria: Ich würde mich auch nicht freuen, wenn ich sehen würde, wie mich jemand absticht. Wenn du sagst, jeder wird mal ermordet, da bin ich mir nicht so sicher, mehr als die Hälfte der Menschen sterben so. Daniel: Ja, mehr als die Hälfte der Bäume sterben so. Weißt du, wieviele Bäume es gibt? Sehr auffällig ist der Mitleidsaffekt. Die Anthropomorphisierung ist eine Bedingung dafür, für nichtmenschliche Objekte Gefühle zu haben, die normalerweise Menschen vorbehalten sind (siehe Kapitel 4 und 8). Bei Tieren gibt es das häufig (siehe Kapitel 10), aber – wie das Beispiel zeigt – gibt es den Mitleidsaffekt auch in Bezug auf Pflanzen (siehe Kapitel 12.4). Daniel argumentiert häufig auf eine ausgesprochen rationale Weise, indem er die Prämissen seiner Gesprächspartner konsequent anzweifelt. „Woher willst du das wissen?“, sind seine ständigen kritischen Fragen. Maria bringt diese kritische Haltung zu

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einer Radikalisierung ihrer Position, und sie stellt das Töten von Menschen und Pflanzen moralisch auf eine Stufe. „Du bist dagegen, dass Menschen getötet werden, aber du tötest Pflanzen, das ist nicht gerade gut.“ In diesen Grundsatz werden in einem weiteren Schritt alle Pflanzen einbezogen, vor allem auch „Unkraut“. Analog zu den Menschenrechten werden implizit allgemeine Pflanzenrechte proklamiert. Im folgenden Beispiel zeigt sich die Verschränkung von physiomorphen und anthropomorphen Deutungsmustern. Albert: Unkraut ist das gleiche wie ein Baum. Unkraut kann man auch mit einem Menschen vergleichen. Das wäre jetzt so, wenn ich zum Schwarzen sagen würde: „Du bist Unkraut – tschüß.“ Wie die Nazis das zu Ausländern sagen würden. Interessanterweise drehen sich jetzt die Positionen um. Maria ist durchaus geneigt, Unkraut zu entfernen, während der „Rationalist“ Daniel zum Streiter für Unkraut wird. Albert: Warum kann man Unkraut nicht als schöne Blume bezeichnen, die sehen doch gar nicht so hässlich aus? Maria: Ich finde das ja auch ganz schön, wenn da Unkraut ist, aber in der Mitte, ich mein am Rand kann man das ja wachsen lassen, da wächst es sowieso andauernd nach. In der Mitte, wenn du eine Schaukel aufbauen willst und du fällst von der Schaukel, dann fällst du voll in die Brennessel, ich meine, da kann man schon ein bisschen rupfen. Fritz: Was ist der Unterschied zwischen einer Blume und Unkraut? Gar nichts, beide sind wie Bäume. Daniel: Oder wenn da eine Blume steht, letztens wollte ich eine abreißen, dann sagst du: „Lass doch, die sieht doch schön aus.“ Warum sagst du das nicht, wenn ich Unkraut rupfe? Albert: Wenn ein Mann einer Frau Rosen schenkt, dann gibt sie ihm einen Kuss, wenn er ihr Unkraut gibt, dann ditscht sie ihm eine. Das verstehe ich nicht. Guck mal, eine Kuh frisst Rosen und Unkraut. Nee, eine Kuh frisst keine Rosen, weil da Dornen dran sind. Die Rose wehrt sich dagegen. Das ist genauso, weil eine Rose besser aussieht, sagen wir mal du, Maria, bist die Rose, du siehst besser aus und Claudia ist das Unkraut, weil sie nicht so hübsch aussieht wie du, aber im Inneren finde ich sie besser als dich. Sie hat ein besseres Herz als du. Maria: Woher willst du das wissen? Albert: Das merke ich. Maria: Aber guck mal, manchmal helfen sich Pilze und Bäume auch und Rosen und Unkraut auch, dass sie sich gegenseitig schützen. Albert: Aber machmal kämpfen sie auch, mit einem Säbel. Maria: Ich rupf das so aus. Jeder hat einen anderen Geschmack. Soll ich jetzt einfach die Rosen rausrupfen, damit das Unkraut wachsen kann, oder das Unkraut rausreißen, damit die Rosen wachsen können? Daniel: Nein. 333

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Albert: Man rupft gar nichts raus, dann wächst beides. Maria: Blumen gehen durch Unkraut kaputt. Daniel: Scheiß egal. Albert: Und Unkraut geht auch durch Blumen kaputt. Na gut. Häuser gehen auch manchmal durch Löwenzahn kaputt. Das kann sich durch alles durchfressen.

Sehr deutlich zeigt sich hier, dass und wie sehr die Natur gleichsam als Symbolvorrat fungiert (Kapitel 2.5), um menschliche Gefühle und menschliches Selbstverständnis auszudrücken. Auf diese symbolische Bedeutung von Natur ist ausführlich im Kapitel über die Bedeutung der nichtmenschlichen Umwelt eingegangen worden (Kapitel 2.3). Maria insistiert auf den Unterschied zwischen Unkraut und Bäumen. Vielleicht liegt das daran, dass Bäume eher anthropomorph beziehungsweise symbolisch gedeutet werden können (Kapitel 12.4). Unkraut wird von ihr dagegen aus dem Kreis der möglichen Moralobjekte exkommuniziert. Maria: Wieso sagt ihr, Baumhäuser können gebaut werden, aber so ein kleines Ding, was jede Woche nachwächst, und ein Baum, der über zehn Jahre braucht, damit er richtig groß wird, wie alle Riesenbäume … Also, was meint ihr, was würdet ihr nun lieber tun – Unkraut zupfen oder Baumhäuser bauen? Daniel: Baumhäuser bauen, das macht mehr Spaß. Maria: Ja, aber ihr tut dem Baum wesentlich mehr weh als dem Unkraut. Daniel: Nein, dem Unkraut tut das auch weh, nur dass es kleiner ist. Daniel erkennt die Widersprüchlichkeit in Marias Argumentation. So lehnt er auch ein allgemeines Verbot, Pflanzen zu nutzen, ab, indem er die Inkonsistenz der Haltung von Maria aufdeckt. Maria nimmt daraufhin eine noch radikalere (physiozentrische) Position ein, indem sie den Menschen vor allem als Bedrohung für die Natur hinstellt: „Wenn die Menschen nicht auf der Welt wären, wäre viel weniger zerstört.“

Albert widerspricht und verweist auf die Destruktivität, die es auch ohne den Menschen in der Natur gibt. „Das glaube ich nicht, Tiere zerstören auch ganz schön viel.“ Häufig wird in diesem Gespräch auf die Umweltzerstörung verwiesen (siehe Kapitel 14): Auf der einen Seite (Maria) ist die Umweltzerstörung das zentrale Thema: Mitleid mit Tieren und Pflanzen (siehe Kapitel 14.3.3), Verweis auf ökologische Zusammenhänge (zum Beispiel Regenwald, Sauerstoffproduktion) (siehe Kapitel 14.3.4), Angst angesichts der ökologischen Krise (siehe Kapitel 14.3.1). Bei dieser Bewertung der Umweltzerstörung

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erscheint der Mensch eher als Bedrohung der Natur als ein Teil von ihr, was in der gerade benannten physiozentrischen Position gipfeln kann, dass es der Natur eigentlich besser ginge, wenn es den Menschen nicht mehr gäbe. Auf der anderen Seite wird die Umweltzerstörung schlicht in Kauf genommen, da sie aufgrund der (legitimen) menschlichen Nutzung der Natur unvermeidlich sei. Außerdem gäbe es genug Natur und vor allem sei der Mensch auch Natur (vgl. Kapitel 3 über den Naturbegriff). Maria: Bäume geben Sauerstoff. Es werden schon so viele Bäume abgeholzt und durch Abgase vergiftet. Und wenn da noch Bäume wachsen, wo niemand drauf achtet und dann auch noch auf einem abgelegenen Grundstück, also nicht so dicht an einer Straße, und sich gehalten haben, dann würde ich die doch stehen lassen. Und es werden auch im Regenwald schon so viele Bäume abgeholzt. Fritz: Darüber reden wir doch gar nicht. Wir reden nicht über Regenwald. Albert: Und stell dir mal vor, alle Kinder würden Baumhäuser bauen. Daniel: Tun sie aber nicht. Aber es wachsen auch immer mehr Bäume. Zugespitzt kann man sagen, die Auseinandersetzung mit der Umweltzerstörung pendelt zwischen den Polen einer anthropozentrisch getönten, rationalisierenden Verharmlosung einerseits und einer physiozentrisch getönten, emotionalen Besorgnis um die Zukunft der Natur (weniger des Menschen, der in dieser Version interessanterweise nicht als Teil der Natur gedacht wird) andererseits. Anthropomorphe Vorstellungen finden wir in beiden Argumentationsweisen. Auffällig bei den Argumentationen zur Umweltzerstörung ist die fast regelmäßige Verknüpfung mit dem Thema Tod (Kapitel 13). Das ist bei den Bemerkungen zum „Morden“ von Bäumen und Menschen schon angeklungen. Der „Tod der Natur“ und der Tod von Menschen werden auf analoge Weise betrachtet (Kapitel 14.3.5). Albert: Was ist, wenn mal was kaputt geht? Da bleiben zum Beispiel nur noch die Nägel hängen und einzelne Bretter, dann ist der ganze kräftige Baum versaut. Maria: Ja, dann wird er krank und dann stirbt er auch. Fritz: Na und, Menschen sterben auch. Albert: Ja, aber wir bekommen noch Kinder und die wollen auch noch mit der Natur leben. Maria: Du willst auch so lange leben, wie du kannst, sagen wir 100 Jahre. Und ein Baum kann älter werden. Ein Baum will ja auch so alt werden wie er es schafft und nicht vorher sterben. Der Tod des Baumes erinnert an den eigenen Tod und der wird mit der ökologischen Krise verknüpft. Auch hierbei lässt sich allerdings eine gelassenere Haltung finden. Der Tod gehört zur Natur, lakonisch wird der Gang der Natur beschrieben. 335

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Maria: Die Rehe machen von den Bäumen die Rinde ab, das ist zwar auch nicht schön, aber man muss der Natur auch ihren Gang lassen. Damit kommen wir zum jeweils implizierten Naturbegriff (Kapitel 3). Natur wird als Totalität aufgefasst: Erstens ist alles Natur und zweitens muss man eben der „Natur auch ihren Gang lassen“. Diese Position wird einmal zur Begründung von „Rechten“ der Natur ausgeweitet und zum anderen zur naturalistischen Rechtfertigung menschlichen Verhaltens genutzt. Albert: Wir Menschen sind auch Natur … Steine, Wasser, Sand, das alles ist Natur. Pointiert könnte man sagen, Tiere und Pflanzen werden im Lichte des Menschen, also anthropomorph, interpretiert, und umgekehrt wird der Mensch im Lichte der Natur, also physiomorph, interpretiert. In beiden Fällen wird die Natur in komplexe Symbolsysteme eingebunden. Daniel führt in diesem Zusammenhang einen sehr umfassenden Naturbegriff ein; überhaupt alles sei Natur, auch das zerstörerische Verhalten des Menschen. Die Umweltzerstörung erfährt auf dem Umweg einer solchen naturalistischen Argumentation beziehungsweise einer Physiomorphisierung des Menschen fast eine Legitimation. Maria: Das war früher mal eine Wiese, das haben wir alles kaputt gemacht. Daniel: Na und, das haben wir gemacht, weil wir es brauchen. Wo sollen wir sonst wohnen? Im Baum? Albert: Tiere töten sich auch gegenseitig. Wir machen das, um zu überleben. Maria: Ihr habt euch selbst verraten. Wenn wir die Sachen brauchen, warum zerstören wir den Baum? Damit wir anderen Tieren das Nest zerstören? Daniel: Wir müssen doch auch irgendwie leben… Der Rückgriff auf die Gesetze der Natur, auf die gleichsam anthropologisch fundierte Notwendigkeit, die Natur als Ressource zu nutzen, ist eine wichtige Argumentationsfigur, mit deren Hilfe der ethische Konflikt, der sich aus der Anthropomorphisierung ergibt, ausgehalten werden kann. Die Anthropomorphisierung der Natur wird gewissermaßen durch eine Physiomorphisierung des Menschen kompensiert. Maria: Stell dir mal vor, wenn man deine Wohnung zerstört, was würdest du dann sagen? Albert: Ja, aber wenn es ein Riese brauchen würde, um zu überleben, dann würde ich es okay finden. Er kann ja nichts aus der Luft nehmen. Monika: Ja, aber ihr lebt doch nicht nur von Bäumen. Fritz: Ja, aber was ist, wenn du auf keine Wiese mehr gehen dürftest? Das würde dir auch den Spaß verderben.

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Daniel: Du hast gesagt, Unkraut zerstört Rosen, aber Unkraut hat eigentlich nur einen anderen Namen und manche finden es hässlich und so ist auch der Unterschied zwischen den Tieren. Ein Tiger tötet auch, wenn er Hunger hat. Albert: Aber wir haben doch keinen Hunger, wenn wir Baumhäuser bauen. Maria: Ja, genau. Daniel: Ja, aber es macht Spaß. Albert: Und das gehört mit zu unserem Leben. Der Tiger hat auch Spaß, wenn er sich im Dreck wälzt und dabei Blumen überrollt. Maria: Ja, aber ich finde, wir mischen uns schon genug in die Natur ein, um riesige Dinger zu bauen. Das brauchen wir auch nicht, um zu überleben. Aber dann brauchen wir doch die Natur, die noch übrig ist. Das ist nicht mal die Hälfte der Welt. Albert: Oh doch, es gibt noch so viel Natur. Vor diesem Hintergrund wird die Nutzung oder sogar die Zerstörung der Natur als unvermeidlich, als geradezu notwendig hingestellt. Im Grunde erübrigt sich so auch eine weitere ethische Legitimation. Daniel: Du würdest doch auch Blumen zur Hochzeit verschenken, oder? Aber wo kommen diese Blumen her? Vom Blumenladen und die von einer Fabrik und die aus der Natur. Maria: Sag ich doch, wir haben die Natur zerstört. Fritz: Aber so muss man doch leben. Wie gezeigt wurde, führt die Anthropomorphisierung zu Konflikten im Hinblick auf die Nutzung nichtmenschlicher Objekte, weil dadurch auch Tiere und Pflanzen zu potentiellen Moralobjekten werden, auf die menschliche Verpflichtungen anzuwenden sind. Die rückläufige Physiomorphisierung beziehungsweise Naturalisierung des Menschen führt dagegen zumindest in der Tendenz zu ethischer Indifferenz. Dabei kann es natürlich so sein, dass das, was als Natur zur Grundlage normativer Diskurse gemacht wird, ebenfalls anthropomorpher Projektion entspringt. Insofern wäre die Relativierung der Anthropomorphisierung nur eine scheinbare und dient dann – ebenso wie die Physiomorphisierung des Menschen – der Abwehr nicht auszuhaltender Konflikte, die sich aus der Anthropomorphisierung ergeben. Da „man eben so leben muss“, sind moralische Skrupel oder gar Mitleid auf Dauer zumindest störend. Dass hier durchaus ungelöste Konflikte existieren, zeigt der ironische und zugleich ratlose Schluss der Diskussion: Daniel: Guck mal, du sitzt gerade auf einem Baum. (Zeigt auf den Holzstuhl) Monika: Ja, aber das waren wir ja nicht. (Fritz, Daniel und Albert schreien durcheinander)

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Daniel: Ja, aber trotzdem, du sitzt doch drauf! Wenn wir ein Baumhaus bauen, das ist doch besser als abholzen. Stell dir vor, wir bauen ein Baumhaus und schlagen Nägel in den Baum. Das tut dem Baum weh, okay, aber ich würde lieber Schmerzen haben, als nicht mehr da zu sein. Albert: Ich nicht, ich will lieber tot sein, als vier, fünf Nägel drin haben. Maria: Wenn ihr nicht gut findet, dass Bäume gefällt werden, dann sollten wir verhindern, dass überhaupt Nägel in einen Baum geschlagen werden. Albert: Der arme Jesus, der tut mir leid. Maria: Das hier wurde aus einem Baum gemacht (zeigt auf die Pappe). Fritz: Da, wo wir die Bilder gemacht haben, das ist alles Papier, alles! Maria: Aber das meiste ist wiederverwendbar. Daniel (schreit und steigt auf seinen Stuhl): Aber der Baum ist tot! Tot!

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