Ordnung in Bewegung: Choreographien des Sozialen. Körper in Sport, Tanz, Arbeit und Bildung [1. Aufl.] 9783839411421

Wie stimmen Tänzer ihre Bewegungen aufeinander ab? Wie gelingt es Kampfkünstlern, augenblicklich den gegnerischen Angrif

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung: Zur Emergenz von Ordnungen in sozialen Praktiken
Praktische Intelligenz – Überlegungen zu einer interdisziplinären Systematisierung
Das sukzessive Beschreiben einer Bewegungsordnung mittels Variation
Körperwissen und Bewegungslogik. Zu Status und Spezifik körperlicher Kompetenzen
Bewegte Ordnungen: Kontingenz und Intersubjektivität im Tango Argentino
Erfahrungsgeleitete und leibliche Kommunikation und Kooperation in der Arbeitswelt
Körper im Spiel – Choreographien des Sozialen als Gegenstand des Theaters und der performativen Sozialforschung
Szenen des Lernens
Organisierte Körper. Eine Ethnographie des Referendariats
Lektionen in symbolischer Gewalt. Der Körper als Gedächtnisstütze
AUTORINNEN UND AUTOREN
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Ordnung in Bewegung: Choreographien des Sozialen. Körper in Sport, Tanz, Arbeit und Bildung [1. Aufl.]
 9783839411421

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Thomas Alkemeyer, Kristina Brümmer, Rea Kodalle, Thomas Pille (Hg.) Ordnung in Bewegung

Materialitäten | Hg. von Gabriele Klein, Martina Löw und Michael Meuser | Band 10

2009-05-04 12-48-43 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02eb209336400616|(S.

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Thomas Alkemeyer, Kristina Brümmer, Rea Kodalle, Thomas Pille (Hg.)

Ordnung in Bewegung Choreographien des Sozialen. Körper in Sport, Tanz, Arbeit und Bildung

2009-05-04 12-48-44 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02eb209336400616|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Volker Stock: directionless, © Photocase 2009 Lektorat: Thomas Alkemeyer, Kristina Brümmer, Rea Kodalle, Thomas Pille Satz: Thomas Pille Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1142-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt

THOMAS ALKEMEYER/KRISTINA BRÜMMER/ REA KODALLE/THOMAS PILLE Einleitung: Zur Emergenz von Ordnungen in sozialen Praktiken

7

KRISTINA BRÜMMER Praktische Intelligenz – Überlegungen zu einer interdisziplinären Systematisierung

21

LARISSA SCHINDLER Das sukzessive Beschreiben einer Bewegungsordnung mittels Variation

51

CHRISTIANE BERGER/SANDRA SCHMIDT Körperwissen und Bewegungslogik. Zu Status und Spezifik körperlicher Kompetenzen

65

MELANIE HALLER Bewegte Ordnungen: Kontingenz und Intersubjektivität im Tango Argentino

91

FRITZ BÖHLE/DIRK FROSS Erfahrungsgeleitete und leibliche Kommunikation und Kooperation in der Arbeitswelt

107

UTE PINKERT Körper im Spiel – Choreographien des Sozialen als Gegenstand des Theaters und der performativen Sozialforschung

127

BIRGIT ALTHANS/DANIELA HAHN/SEBASTIAN SCHINKEL Szenen des Lernens

141

THOMAS PILLE Organisierte Körper. Eine Ethnographie des Referendariats

161

MARKUS RIEGER-LADICH Lektionen in symbolischer Gewalt. Der Körper als Gedächtnisstütze

179

AUTORINNEN UND AUTOREN

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Einleitung: Zur Emergenz von Ordnungen in sozialen Praktiken THOMAS ALKEMEYER/KRISTINA BRÜMMER/REA KODALLE/THOMAS PILLE

Wie stimmen Tänzer ihre Bewegungen aufeinander ab? Wie lernen es Kampfsportler, augenblicklich einen gegnerischen Angriff zu kontern? Und warum kann selbst beim Umgang mit High-Tech-Anlagen in der industriellen Produktion nicht auf das verkörperte Erfahrungswissen der Arbeiter verzichtet werden? Diesen und ähnlichen Fragen wird im vorliegenden Band aus sozial-, kultur-, bewegungs- und sportwissenschaftlichen sowie (theater-)pädagogischen Perspektiven nachgegangen.1 Im Zentrum stehen Probleme des praktischen Hervorbringens sozialer Ordnungen im dynamischen Zusammenspiel verschiedener „Partizipanden des Tuns“ (Hirschauer 2004), wie menschlichen Körpern, Räumen, Dingen und Sprache. Ein solcher, gemeinsam erzeugter Verflechtungszusammenhang ist von keinem einzelnen Akteur vollkommen zu beherrschen. Vielmehr beeinflussen sich die Beteiligten stets gegenseitig. Immer wieder sehen sich Akteure mit Konstellationen konfrontiert, auf die sie – oft unter großem Zeitdruck – situationsadäquat reagieren müssen. Selbst dann, wenn ihr Handeln und die Abstimmung zwischen den einzelnen Tätigkeiten klar geregelt oder durch Choreographien, Raumordnungen, zeitliche 1

Die vorliegende Publikation geht auf die im Oktober 2006 gemeinsam von der Sektion Sportphilosophie der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs) und dem Arbeitsbereich Sport & Gesellschaft des Instituts für Sportwissenschaft an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg ausgerichtete Tagung „Ordnung in Bewegung – Choreographien des Sozialen“ zurück. Zusätzlich zu den für die Veröffentlichung ausgearbeiteten Vorträgen sind die Beiträge von Kristina Brümmer und Thomas Pille sowie der Beitrag von Birgit Althans, Daniela Hahn und Sebastian Schinkel aufgenommen worden. Die Herausgeber bedanken sich bei der EWE Stiftung, der dvs, der Universitätsgesellschaft Oldenburg sowie dem ASTA und dem Institut für Sportwissenschaft der Universität Oldenburg für ihre finanzielle Unterstützung, bei Vanessa Schwabe, Dirk Weisser und Mario Goldmann für ihre Hilfe bei der Tagungsorganisation. 7

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Vorgaben, Organisation und Technik festgelegt zu sein scheinen, bleiben formal nicht geregelte Leerstellen und Spielräume, die von ihnen ad hoc mit entsprechenden Handlungen ausgefüllt werden müssen.2 Das den in diesem Band versammelten Beiträgen gemeinsame Interesse gilt den Formen, der Weitergabe und dem Erlernen jenes Wissens und Könnens, die nötig sind, um diese Handlungsspielräume kompetent zu nutzen und das eigene Tun im Einklang mit den Regelmäßigkeiten des jeweiligen Feldes situationsadäquat und auf eine intersubjektiv akzeptierte Weise auf die anderen – menschlichen wie nicht-menschlichen – Handlungsträger3 abzustimmen. Mit diesem Interesse ist – teils explizit, teils implizit – das Anliegen verknüpft, in der Soziologie, aber auch in anderen Wissenschaften gängige Konzepte des Handelns, des Entscheidens und der Kooperation zumindest zu erweitern: Statt die interaktive Produktion sozialer Ordnungen exklusiv entweder auf subjektive Intentionen und geistige Planungen oder aber auf überindividuelle Normen, Strukturen oder Rollen zurückzuführen, wird sowohl der Kollektivität des Handelns als auch der Beteiligung von Räumen, Dingen und Körpern am Handeln und an der Koordination der Tätigkeiten eine besondere Aufmerksamkeit zuteil. Einem die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften lange Zeit prägenden, mentalistisch-intellektualistischen Denkstil wird mit einem Blick begegnet, der sich insbesondere für jene praktischkörperlichen Wissensformen und Handlungsdimensionen interessiert, die mit der – den Prozess der Moderne begleitenden – Privilegierung des wissenschaftlichen Wissens zunehmend de-thematisiert oder als irrational diskriminiert wurden.4 In den Praktiken des gemeinsamen Sporttreibens und Tanzens, die in mehreren Beiträgen dieses Bandes im Vordergrund stehen,5 werden in überwiegend stummen Austauschprozessen ‚von Körper zu Körper‘ flüchtige und damit labile Ordnungen produziert und aufgeführt. Hier tritt die Relevanz von praktischem Können, Erfahrungswissen und erlernten Intuitionen in prinzipiell störanfälligen Prozessen des Sich-Abstimmens besonders deutlich zutage 2 3 4

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Hatch (1999) und Ortmann (2001) zeigen dies beispielsweise für das Handeln in bürokratischen Organisationen auf. Zum Konzept der „verteilten Handlungsträgerschaft“ vgl. Rammert (2003). Wenn die hier interessierenden Dimensionen des Wahrnehmens, Erkennens, Beurteilens und (Zusammen-)Handelns in der Folge einer Verwissenschaftlichung des Denkens und der Wissensbegriffe überhaupt in den Blick geraten sind, dann allenfalls als vor-kommunikative, vor-soziale Phänomene: als leiblich-ästhetische Voraussetzungen oder Fundamente von Kommunikation, Intersubjektivität und Sozialität, nicht jedoch als der sozialen Welt zugehörige, für diese konstitutive Erscheinungen, die in den Prozessen der Hervorbringung sozialer Ordnungen ihrerseits gesellschaftlich geprägt, geformt und konstruiert werden. Vgl. so die Beiträge von Berger/Schmidt, Schindler und Haller.

EINLEITUNG

(vgl. auch Gehm/Husemann/von Wilcke 2007). Insofern körperliche Fähigkeiten in Sport und Tanz unmittelbar relevant für das Zusammenspiel der Akteure sind, kann die Bedeutung des Körpers als Ort eines impliziten Praxisund Erfahrungswissens hier besser plausibilisiert und beobachtet werden als in vielen anderen Sozialbereichen. Bereits durch ihre Forschungsgegenstände scheint Sport-, Tanz- und auch Theaterwissenschaftlern mithin eine besondere Sensibilität für die nicht-sprachliche, sondern sinnlich-körperliche sowie temporale Verfasstheit von Sozialität und Subjektivität nahegelegt zu werden. Diese Wissenschaften haben es mit gesellschaftlichen Veranstaltungen zu tun, in denen gleichsam idealtypisch Dimensionen der sozialen Praxis hervorgehoben und ausgestellt werden, die auch in anderen Sozialbereichen eine elementare, jedoch oft vernachlässigte Bedeutung für das Entstehen sozialer Ordnungen und die Positionierung der menschlichen Akteure in diesen Ordnungen haben. Gerade mit einem an ihren Gegenständen geschärften Blick lässt sich erkennen, dass nicht nur Fußballspieler, Boxerinnen oder Tennisspieler vor der Aufgabe stehen, eine Wettkampfsituation in Sekundenbruchteilen erfassen und das Verhalten ihrer Kontrahenten als Hinweise auf Zukünftiges lesen bzw. erspüren zu müssen, sondern dass sich etwa auch Schüler, Lehrer6 und Wissenschaftler mit dieser nur mittels eines gut trainierten, feldspezifischen „Spielsinns“ (Bourdieu 1987: 122) zu bewältigenden Aufgabe konfrontiert sehen. Auch in diesen Handlungskontexten ist keineswegs nur ein explizites, kognitives Wissen gefragt, um eine anerkannte Position einnehmen und „beim Spiel mitgehen“ (ebd.: 148) zu können. Vielmehr bedarf es auch hier einer durch praktische Mitgliedschaft erworbenen Vertrautheit mit den jeweiligen materiellen und symbolischen Bedingungen des Geschehens sowie einer in Fleisch und Blut übergegangenen Aufmerksamkeit für alle körperlichen und sprachlichen Äußerungen der Mit- und der Gegenspieler.7 Hier wie dort können Anordnungen und Bewegungen von Körpern und Dingen in Raum und Zeit, ein dezentes Nicken mit dem Kopf oder ein kaum merkliches Heben der Augenbraue den Gang des sozialen Spiels erheblich beeinflussen und soziale Positionen zuweisen. Damit haben – so unsere These – die (Körper-)Praktiken des Sports, des Tanzes und des Theaterspielens eine über ihren besonderen Gegenstand weit hinausreichende, allgemeine theoretische und empirische Relevanz: sie liefern den Ansatzpunkt für eine analytische Perspektive, die den sozialisierten, trainierten Körper als unabdingbare

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Vgl. den Beitrag von Pille in diesem Band. Umgekehrt käme es selbstverständlich ebenso darauf an, die geistigen, intelligenten Dimensionen der scheinbar rein körperlichen Praktiken des Sports oder des Tanzes auszuleuchten. Vgl. dazu Beitrag von Brümmer in diesem Band sowie Alkemeyer (2008). 9

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Voraussetzung eines intelligenten und kreativen Handelns auch in anderen Handlungskontexten begreift (vgl. Alkemeyer/Schmidt 2003). Mit diesem Interesse an im wissenschaftlichen Diskursuniversum lange Zeit de-thematisierten Handlungsdimensionen und Wissensformen platziert sich der Band auf dem vielstimmigen Terrain ihrer ausdrücklichen ReThematisierung in verschiedenen wissenschaftlichen Gegenwartsdiskursen: von der Psychologie mit ihrer Neuentdeckung von Bauchgefühl, Intuition und vermeintlich unmittelbarem Verstehen8 über das Wissensmanagement mit seiner Aufmerksamkeit für die sogenannten Communities of Practice, die berufliche Bildung mit ihrer Beachtung von informellem Lernen und der Förderung von Wissenserwerb durch praktisches Tun (learning by doing), die Forschungen zu Mensch-Technik-Interaktionen und künstlicher Intelligenz mit ihren Erkenntnissen über die Bedeutung körperlich-sinnlicher Wahrnehmung und verkörperten Wissens (embodied knowledge) bis hin zur Neuentdeckung von Räumen, Körpern und Dingen als Handlungsträgern in den Kultur-, Sozial- und Erziehungswissenschaften, um nur einige Beispiele zu nennen.9 Allem Anschein nach wird die „reflexive“, sich selbst thematisierende westliche Moderne (vgl. Beck/Bonß/Lau 2001) zunehmend von eben jenen körperlichmaterialen Dimensionen von Subjektivität und Sozialität eingeholt, deren Entwertung und Verdrängung für Jahrhunderte die conditio sine qua non ihres eigenen Selbstverständnisses war. Ein geradezu paradigmatischer Ausdruck dieser neuen Aufmerksamkeit für die verdrängten Dimensionen des Sozialen im geistes-, kultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Diskurs der Gegenwart ist die Bündelung verschiedener kulturwissenschaftlicher, soziologischer und philosophischer Theorien unter dem vereinheitlichenden Etikett „Praxistheorien“. In systematisierenden Überblicksarbeiten (vgl. Reckwitz 2003; kritisch auch Bongaerts 2007 sowie Nassehi 2006: 228ff.) werden als deren Vertreter oder zumindest Wegbereiter unter anderem Michel Foucaults (1978) Studien zur Gouvernementalität, die Strukturierungstheorie von Anthony Giddens (1984), verschiedene ethnome8

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10

Diese Form ‚empathischen‘ Verstehens wird derzeit vor allem in der neurophysiologischen Forschung über Spiegelsysteme (mirror systems) betont. Danach kommt es bei der Beobachtung der Bewegungsvollzüge anderer Personen auch beim Beobachter zur unmittelbaren und unwillkürlichen Aktivierung jener motorischen Areale, die zur eigenen Ausführung dieser Akte einbezogen werden: „Dank dieser Einbeziehung ist es [...] dem Menschen möglich, die Bedeutung der beobachteten ‚motorischen Ereignisse’ zu entschlüsseln, sie also als Handlungen zu verstehen, wobei das Verstehen keiner Vermittlung durch Denken, Begriffe und/oder Sprache bedarf, denn es beruht einzig und allein auf dem Wörterbuch der Akte und dem motorischen Wissen, von denen unsere Fähigkeit zu handeln abhängt.“ (Rizzolatti/Sinigaglia 2008: 131f.) Zu den entsprechenden Konzepten und Literaturangaben vgl. den Beitrag von Brümmer in diesem Band.

EINLEITUNG

thodologische Ansätze (z.B. Boltanski/Thévenot 2007), die Laborstudien von Karin Knorr Cetina (z.B. 1984) und vor allem die Arbeiten Pierre Bourdieus rezipiert (vgl. Burri 2008: 269). Eine Gemeinsamkeit dieses aus heterogenen Theorien geschnürten Bündels betrifft die – bereits angedeutete – Auffassung von sozialer Ordnung „as arrangement of people and organisms, artifacts, and things through which they coexist“, wie es Theodore R. Schatzki (2001: 43), einer der Protagonisten des sogenannten practical turn, ausgedrückt hat.10 Die Praktiken, in denen diese Ordnungen erzeugt werden, gelten in praxistheoretischer Perspektive als ein offener, in der Zeit sich entfaltender, „organized nexus of actions“ (Schatzki 2002: 71), der wesentlich auf der Grundlage eines praktischen Könnens der Akteure geknüpft wird. Schatzki (ebd.: 75) spricht von einer „practical intelligibility“ und meint damit ein kollektiv geteiltes, in die Körper der handelnden Akteure eingelassenes Wissen, das in aller Regel zu einem nahezu reflexionsfreien Tun befähigt. Es ermöglicht, die eigenen Handlungen wie schlafwandlerisch am Ablauf des Handelns der anderen zu orientieren. Dieses ‚eingekörperte‘ Wissen wird in der gemeinsamen Praxis selbst, also durch praktische Mitgliedschaft in einem Feld, erworben. Mit dieser Idee wird, darauf hat Armin Nassehi hingewiesen, eine ‚alte‘ Einsicht des Pragmatisten John Dewey „in die praktische Verschlingung von Motiv und Handlung und in die Subjekt konstituierende, nicht: voraussetzende Funktion der Erfahrung“ (Nassehi 2003: 228) wieder aufgegriffen: Die in sozialen Praktiken erzeugten Ordnungen und deren Subjekte konstituieren sich gegenseitig – und sie verändern sich damit auch in ein und demselben Prozess. Was sich auf der Folie des tief im neuzeitlichen europäischen Denken verwurzelten Konzepts eines rationalen, autonomen Subjekts wie auch „in der alltäglichen Beobachtung der Teilnehmerperspektive“ als ein souveränes Zentrum der Initiative und als „Quelle des Handelns“ darstellt, ist mithin in praxistheoretischer Sicht „das Ergebnis einer Praxis, die sich selbst bewirkt“ (ebd.). Das Subjekt wird in dieser Sicht nicht transzendental, also hinter der Praxis, angesetzt, sondern empirisch, das heißt in der Praxis (vgl. ebd.: 229). Das kollektive Hervorbringen eines Verflechtungszusammenhangs von Handlungen ist damit zugleich als eine Subjektivierungspraxis beschreibbar, in deren Verlauf sich die Akteure eine physische wie mentale Form geben, die es ihnen gestattet, aus ihrer jeweiligen Position heraus an dem jeweiligen sozialen Spiel teilzunehmen und von den Mitspielern als ein verantwortliches, mitspielfähiges Subjekt (an-)erkannt zu werden. 10 Weitere Kehren, Wenden oder Paradigmenwechsel, mit denen die Kultur- und Sozialwissenschaften auf aktuelle gesellschaftliche Veränderungen und deren Auswirkungen auf das Verhältnis von Körper und Gesellschaft reagieren, sind der „performative turn“ (vgl. z.B. Fischer-Lichte 2004), der „body turn“ (Gugutzer 2006) oder der „spatial turn“ (Döring/Thielmann 2008). 11

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Methodologisch bedeutet dies, dass sich die Aufmerksamkeit des praxeologischen Forschers weniger auf Umwelt- und Kontextbedingungen wie Opportunitätsstrukturen, Normen, Werte und Rollenverständnisse (von Sportlern, Musikern, Lehrern, Arbeitern etc.) richtet, als auf die Praxis des Sporttreibens, Musizierens, Lehrens oder Arbeitens selbst. Normativen Setzungen, wie den Vorstellungen der Norm- und Regelgeleitetheit sozialen Handelns oder seines Ursprungs in autonomen Subjekten, wird mit einem Interesse dafür begegnet, wie und auf der Basis welches Wissens und Könnens diese Tätigkeiten tatsächlich ‚gemacht‘ werden (vgl. auch Bergmann 2005). Zur Bezeichnung eines solchen, als „stumme Kompetenz der praktischen Durchführung“ (Hirschauer 2008: 981) in jedem menschlichen Verhalten steckenden Wissens sind in den Geistes- und Sozialwissenschaften bereits etliche Begriffe ausprobiert worden.11 Sie alle zielen auf nicht-sprachliche, der Reflexion weitgehend unzugängliche Kompetenzen, von denen oftmals behauptet wird, sie unterstützten vor allem Verhaltensroutinen und trügen darüber vornehmlich zur Reproduktion bestehender sozialer Strukturen bei.12 Die Praktiken des Sports und des Tanzes machen jedoch darauf aufmerksam, dass ein stummes, verkörpertes Wissen keineswegs ausschließlich Routinen erzeugt. Es befähigt vielmehr auch zu einem situationsgerechten Modellieren von und Improvisieren mit eingeschliffenen, für die jeweilige Sportart, Tanz- oder Arbeitsform typischen Körpertechniken und Bewegungsabläufen und ermöglicht es, ohne Überlegenssicherheit – aus der Not heraus – von antrainierten Spielweisen abzuweichen, etwa um in einem Fußballspiel den Gegner zu überraschen und dem Spiel eine neue Wendung zu geben (vgl. Alkemeyer 2006a). Dafür, dass ein derartiges, in den Spielen des Sports oder des Tanzes bisweilen bis zur Meisterschaft gesteigertes und ostentativ aufgeführtes Körperwissen (performed knowledge) seit einiger Zeit in den Kultur- und Sozialwissenschaften größere Beachtung findet als in der Vergangenheit, könnte auch die Ausweitung der Unsicherheitszonen in der sogenannten Zweiten Moderne (vgl. Beck/Bonß/Lau 2001) mitverantwortlich sein. Denn während ein rational abwägendes oder an Regeln orientiertes Vorgehen in berechenbaren Umwelten noch ausreichen mag, um den Anforderungen an das Handeln unter diesen Bedingungen gerecht zu werden, erweist es sich dann als wenig tauglich, wenn man nicht genau weiß, was einen erwartet und wenn keine Zeit bleibt, sich über die nächsten Handlungsschritte Gedanken zu machen. Das 11 Für eine Auflistung dieser Begriffe siehe Hirschauer (2008: 977) und Brümmer in diesem Band. 12 Reckwitz (2003: 294) zufolge dominiert diese Auffassung auch noch in neueren praxistheoretischen Arbeiten. Lediglich einige, an den cultural studies orientierte Ansätze betonen die Innovativität und Kreativität des Alltagshandelns (vgl. z.B. Hörning 2001; vgl. auch Joas 1992). 12

EINLEITUNG

erfolgreiche Agieren in labilen sozialen Konstellationen setzt vielmehr ein Handlungswissen und die Fähigkeit zu einem gleichsam präreflexiven Beherrschen der sozialen Welt voraus, die sich durch eine praktische Logik der Situationsbezogenheit, Prozeduralität und einen adaptiven Umgang mit Unsicherheit auszeichnet. Allerdings ist ein solches ‚eingekörpertes‘ Wissen nicht nur die Bedingung der Möglichkeit einer kompetenten Ausübung der Praxis, sondern es begrenzt die Handlungsmöglichkeiten auch, wie insbesondere Bourdieu in seinen Analysen des „praktischen Sinns“ immer wieder betont hat: Der Sinn für das Spiel ist immer auch ein „sense for one’s place“ (Erving Goffman) bzw. ein „Sinn für die Grenzen“ (Bourdieu 1979: 324), der eine Einrichtung im Bestehenden bewirkt.13 Je nach den Kontextbedingungen des jeweiligen Feldes sind die Konstitution sozialer Mikroordnungen und die diese fundierenden Prozesse der Abstimmung mehr oder weniger stark von Machtstrukturen und -spielen geprägt:14 Stets sind das kollektive Hervorbringen einer Ordnung und das kooperative Bewältigen einer sich stellenden Aufgabe durch die in Artefakten, objektivierten Gebrauchsmöglichkeiten und institutionalisierten Hierarchien sedimentierten Vorgaben sozial vorstrukturiert und geregelt (vgl. z.B. Preda 1999). In der theoretisch-empirischen Analyse von Abstimmungsprozessen kann mithin analytisch zwischen einer ‚funktionalen‘ und einer ‚politischen‘ Dimension unterschieden werden: Während in der funktionalen Lesart die Frage im Vordergrund steht, wie zusammen gespielt oder gearbeitet wird, um gemeinsam ein Problem zu lösen, geht es in der politischen Lesart desselben Geschehens um die Frage, wie in den Prozessen des Zusammenspielens oder -arbeitens Verhältnisse der Über- und Unterordnung stabilisiert, modifiziert oder auch generiert werden, wie sich die Akteure in der von ihnen praktisch erzeugten sozialen Ordnung selbst positionieren und wie sie darin positioniert werden. Mit dieser analytischen Unterscheidung wird zugleich der Gefahr begegnet, ein soziales Geschehen entweder nur – wie im Strukturalismus – als Ausdruck oder Ablauf eines dahinter liegenden Strukturprogramms oder – wie in der Ethnomethodologie mit ihrer Fixierung auf das unmittelbare setting – ausschließlich aus der beobachtbaren Situation heraus erklären zu wollen. Gegen den ersten Erklärungsansatz spricht, dass soziale settings in der Wechselseitigkeit praktischer Akteure hervorgebracht werden. Dem zweiten Erklärungs13 Damit überwindet Bourdieu die falsche Entgegensetzung von Konstruktion und Reproduktion: Die Einverleibung des Sozialen befähigt den Akteur dazu, in der sozialen Welt angemessen zu handeln, aber sie begrenzt zugleich auch die Handlungsmöglichkeiten. Je besser der Spielsinn entwickelt ist, umso größer sind die Chancen des Akteurs, die lebensweltlichen Vorgaben umzudeuten, zu verändern und aus ihnen auch kreativ neue Wirklichkeiten zu erzeugen. 14 Rieger-Ladich zeigt dies in diesem Band am Beispiel von Bildungspraxen. 13

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ansatz kann entgegengehalten werden, dass stets mit Kontexten und somit auch damit zu rechnen ist, dass die verschiedenen Handlungsträger bereits etwas in das unmittelbare setting einbringen – entweder als in der räumlichgegenständlich-technischen Ordnung „objektivierte“ Geschichte oder als in den Akteuren „inkorporierte“ Geschichte, das heißt – in der Terminologie Bourdieus – als Habitat und Habitus (vgl. Bourdieu: 1981; vgl. auch Schmidt 2006b). Die räumlich-gegenständlich-technische Ordnung eines settings ermöglicht das Zusammenspiel der Akteure und damit den Fluss des Figurationsgeschehens nicht nur, sondern formt und stabilisiert es auch. Damit entscheiden die in der individuellen Bildungsgeschichte bzw. Sozialisation einverleibten kulturellen Ressourcen und Dispositionen mit darüber, inwieweit und wie die vom räumlich-materiellen Kontext des settings bereitgestellten und aufbewahrten Formen, Gewährleistungen und Gebrauchsmöglichkeiten im eigenen Handeln praktisch umgesetzt und in diesem Sinne verlebendigt werden können. Es käme in theoretisch-empirischen Untersuchungen des Entstehens sozialer Ordnungen mithin, wie Nassehi (2006: 241) im Rekurs auf Bourdieu postuliert hat, über die Fixierung auf die beobachtbare Gegenwart der Praxis hinaus auch darauf an, der Frage nachzugehen, „wie sich konkrete operative Praxisgegenwarten zu ihren Kontexten verhalten“. Es war eine Leitidee der diesem Band vorausgehenden Tagung, über – im weitesten Sinne – praxeologische Untersuchungen von Sport, Tanz oder Theaterspiel zunächst einen genaueren Einblick in die materialen, körperlichsinnlichen sowie temporalen Dimensionen der praktischen Konstruktion sozialer Ordnungen und ihrer Subjekte zu erlangen, um den in der Untersuchung dieser ‚körperlichen‘ Universen geschulten Blick dann auch auf andere, vermeintlich rein geistige Sozialbereiche und Praktiken zu richten. Auf diese Weise sollte der intellektualistischen Illusion eines reinen, körperlosen Geistes ebenso begegnet werden, wie ihrem ‚materialistischen‘ Korrelat eines geistlosen Körpers. Durch diese Operation eines experimentellen, befremdenden Sehens sollten von den genannten ‚körperlichen‘ Praxisfeldern aus weitergehende Einsichten in die Konstitution und Darstellung sozialer Ordnungen durch wechselseitige, körperlich-praktische Angleichungen und Abstimmungen (attunements) der Akteure ermöglicht werden.15 Dass ein solches Vorge15 In Anlehnung an Rortys (1989) Konzept des rediscribing hat in vergleichbarer Weise auch Hatch (1999) das Handeln und die Entscheidungsprozesse in bürokratischen Organisationen so beobachtet und beschrieben, als ob es sich um Jazzimprovisationen handeln würde, um auf diese Weise zu neuen Einsichten in das Funktionieren von Organisationen zu gelangen. Weitere Inspirationsquellen sind bspw. Norbert Elias (1996: 75ff.), George H. Mead (1968), Pierre Bourdieu (1979: 145ff.), Loïc Wacquant (2003) oder Alfred Schütz (1972). Diese Autoren haben ihre Analysen des Fußballspielens, Boxens und Musizierens als Ansätze zu einer theoretisch-empirischen Erfassung auch anderer Formen der sozialen 14

EINLEITUNG

hen zu soziologisch gehaltvollen Neubeschreibungsgewinnen führen kann, deuten erste, noch überwiegend explorative Studien über die Praktiken des Programmierens (Schmidt 2006a)16, schulischer Bildungsprozesse (Alkemeyer 2006b) 17 oder auch der erfahrungsgeleiteten Anlagensteuerung in der industriellen Produktion (Böhle 2006) an. Sie sind, ebenso wie die Beiträge dieses Bandes, als Bausteine für eine Theorie des Sozialen gedacht, die die sinnlich-körperliche Dimensionen von Sozialität angemessen berücksichtigt. Die Gliederung des Bandes orientiert sich an der Reihenfolge der im Titel genannten Felder, also Sport, Tanz, Arbeit und Bildung. Eine, diese Einleitung komplettierende Hinführung zur Gesamtthematik leistet Kristina Brümmer mit ihrer Systematisierung verschiedener theoretischer Ansätze zu alternativen Wissensformen, von denen angenommen wird, dass sie konstitutive Bestandteile einer jeden Praxis seien. Im Zentrum des Beitrags stehen antiintellektualistische Konzepte wie „implizites Wissen“, „praktische Intelligenz“, „Gespür“ und „Intuition“. Über eine vergleichende Zusammenführung insbesondere praxissoziologischer mit sport- und bewegungswissenschaftlichen Überlegungen werden Unschärfen und blinde Flecken der jeweiligen Konzeptionen ebenso aufgezeigt wie Möglichkeiten ihrer wechselseitigen Befruchtung bzw. Behebung. Larissa Schindler widmet sich in ihrem Beitrag dem Problem einer soziologischen Beschreibung von „Ordnungen in Bewegung“. Sie nimmt den Ausdruck „Choreographie“ als Ausgangspunkt für eine ethnographische Exploration der Vermittlung von Bewegungsordnungen in einer FlamencoTanzstunde und einem Kampfsporttraining. In einer ethnomethodologischen Perspektive beobachtet sie, wie diese Ordnungen im Vollzug tänzerischer und sportlicher Tätigkeiten variiert werden und sich in diesem Prozess selbst darstellen, „beschreiben“ und damit erzählbar machen. Dem soziologischen Beschreibungsproblem wird so eine empirische Wende gegeben. Christiane Berger und Sandra Schmidt fragen in ihrem Beitrag nach der Bedeutung von „Körperwissen“ und „Bewegungsintelligenz“ sowohl für die Bewegungsausführung als auch für deren Beobachtung, Beschreibung und Analyse. Über die Verknüpfung von bewegungswissenschaftlichen mit kultursoziologischen Konzepten verkörperter Kompetenz kommen sie zu dem Verflechtung und der Konstitution einer „praktischen Intersubjektivität“ (Joas 1980) konzipiert, die sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass die Kontrahenten bzw. Mitspieler ihr Verhalten nicht bewusst strategisch, sondern auf der Grundlage (erlernter, sozialisierter) Instinkte und Intuitionen aneinander ausrichten. 16 Schmidt hat seinen Ansatz inzwischen in einem neueren Beitrag weiter ausgearbeitet (vgl. Schmidt 2008). 17 Vgl. auch den Beitrag von Pille in diesem Band. 15

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Ergebnis, dass Bewegungserfahrungen sowohl ein Wissen des Körpers als auch ein Wissen über den Körper hervorbringen und dass diese Wissensformen ihrerseits eine unabdingbare Voraussetzung für die (Re-)Produktion gelingender Bewegungen bilden. Melanie Haller versteht die Abstimmung im Tango Argentino als performative Intersubjektivität. Diese führt sie maßgeblich darauf zurück, dass die Akteure im Üben und Trainieren allmählich einen praktischen Sinn für die Bewegungsmuster und -ordnungen des Feldes erwerben. Ihre Forschung zu den Abstimmungsprozessen in diesem, zwischen Strukturierung und Improvisation sich aufspannenden Tanz gibt Aufschluss über die Emergenz bewegter Ordnungen und ihrer Subjekte. Wie wird in der Arbeitswelt kooperiert und kommuniziert? Dieser Frage gehen Fritz Böhle und Dirk Fross in ihrem Beitrag nach. Um zu beleuchten, wie Arbeitskräfte unmittelbar ‚vor Ort‘ handlungs- und gegenstandsvermittelt kooperieren, betonen die Autoren die unhintergehbare Bedeutung eines gemeinsam geteilten Erfahrungswissens sowie subjektiver Empfindungen. Im Rekurs auf das von dem Kieler Philosophen und Leibphänomenologen Hermann Schmitz entwickelte Modell der leiblichen Kommunikation erläutern sie vor allem die Relevanz eines „Spürsinns“ sowie leiblich vermittelter, subjektiver Empfindungen für das Gelingen kommunikativer Prozesse in verschiedenen Arbeitsfeldern. Der Beitrag von Ute Pinkert leitet den Teil über Bildung ein. Er thematisiert aus einer theaterpädagogischen Perspektive die Beziehungen zwischen Theaterkunst und sozialem Alltag. Am Beispiel der Brechtschen Lehrstückpraxis wird gezeigt, dass kulturelle Aufführungen (hier des Theaters) unter bestimmten Bedingungen als eine verkörperte Soziologie verstanden werden können, in denen die Choreographien des Sozialen praktisch-ästhetisch reflektiert werden. Pinkerts abschließende Überlegungen beziehen sich auf die Frage, inwiefern das szenische Spiel als Methode einer qualitativen und aktivierenden Bildungs- und Sozialforschung genutzt werden kann. Birgit Althans, Daniela Hahn und Sebastian Schinkel setzen sich anschließend mit den (Un-)Ordnungen des (Bewegungs-)Lernens auseinander. Sie fragen insbesondere nach der Rolle der Wahrnehmungslenkung in den das Bewegungslernen begleitenden Prozessen der Selbstformung. Auf der Basis empirischer Untersuchungen wird gezeigt, wie Spiegelbilder, der Körper des Trainers und dessen verbale Äußerungen für die Lernenden zu Ankerpunkten eines komplexen Aufmerksamkeitsmanagements werden. Im ständigen Wechsel von Konzentration und Zerstreuung, Disziplin und Spiel, (Selbst-)Kontrolle und Kontrollverlust bringen sich die Lernenden immer wieder in bewegliche Ordnungen und geben sich in diesen Prozessen eigenständig eine soziale Form. In seinem Beitrag „Körper in Organisation“ untersucht Thomas Pille anschließend das Verhältnis von Organisationen und ihren Akteuren am 16

EINLEITUNG

Beispiel der Schule. Er fokussiert die Praktiken der Subjektivierung, in denen sich Lehramtsanwärter nach und nach zu ‚Agenten‘ (agents) der Schule machen, so dass sie deren explizite wie implizite Organisationsziele durch ihr Verhalten, ihr Auftreten und ihre Gesten im Setting des Unterrichts immer ‚besser‘ verkörpern. Um Subjektivierungsprozesse geht es ebenfalls in dem abschließenden Beitrag von Markus Rieger-Ladich. Er zeichnet anhand einer Analyse von James Salters Biographie „Verbrannte Tage. Erinnerung“ detailliert nach, wie deren Protagonist in mimetischen, körperlich-praktischen Lernprozessen nach und nach zu einem anerkannten Mitglied einer Fliegerstaffel der Militärakademie Westpoint wird. Rieger-Ladich fragt in Anlehnung an Bourdieus Konzept der symbolischen Gewalt, aus welchen Gründen sich Männer wie Salter gerade jenen sozialen Gebilden gegenüber so loyal verhalten, die ihnen doch selbst Gewalt antun. Seine Analyse lässt deutlich werden, dass und wie in dieser Organisation die Stiftung sozialer Ordnung, die Freisetzung der Bindungskräfte männlicher „Institutionenkörper“, praktische Mitgliedschaft und Unterwerfung untrennbar miteinander verwoben sind. Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge beschäftigen sich also überwiegend entweder mit Phänomenen des Sports und des Tanzes oder aber mit Fragen der Abstimmung und Subjektivierung in anderen Sozialbereichen wie der Arbeit und der Bildung. Es liegt damit vor allem am Leser, die mit unserer Tagung ursprünglich verfolgte Idee zu realisieren, von der Analyse sportlicher und tänzerischer Praktiken aus das Entstehen, die Aufrechterhaltung und Veränderung sozialer Ordnungen auch in anderen Sozialbereichen zu beobachten, um dadurch zu neuen Einsichten zu gelangen. Wir hoffen, der Band bietet den Anreiz und die Möglichkeit dazu.

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THOMAS ALKEMEYER/KRISTINA BRÜMMER/REA KODALLE/THOMAS PILLE

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EINLEITUNG

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Praktische Intelligenz – Überlegungen zu einer interdisziplinären Systematisierung KRISTINA BRÜMMER

„Ich glaube, daß neben dem Tanz der Sport einer der Bereiche ist, in dem sich das Problem des Verhältnisses von Theorie und Praktik wie auch das von Sprache und Körper am schärfsten stellt. [...] Der Unterricht einer körperbezogenen Praktik [...] beinhaltet meiner Meinung nach eine Reihe höchstrangiger theoretischer Fragen, insofern die Sozialwissenschaften eine Theorie der Verhaltensweisen aufzustellen suchen, die weitestgehend jenseits des Bewusstseins vollzogen werden [...].“ (Bourdieu 1992: 205)

Einleitung Im Rahmen traditioneller Handlungstheorien wird menschliches Handeln überwiegend als ein intentionales Tun einzelner autonomer Akteure interpretiert, das auf der Grundlage expliziter Wissensbestände und rationaler Überlegungen vorbereitet, geplant, kontrolliert und evaluiert wird. Diese Ansätze widmen verstandesgeleiteten Prozessen, von denen sie annehmen, dass sie der manifesten Ausführung der Handlung zugrunde liegen, einen Großteil ihrer Aufmerksamkeit, abstrahieren jedoch weitgehend von körperlichen wie auch von vorbewussten, nichtplanmäßig-rationalen Komponenten des Tuns und Verstehens.

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KRISTINA BRÜMMER

Seit einigen Jahrzehnten verschiebt sich in verschiedenen Wissenschaften1 der Fokus jedoch auf eine nur begrenzt bewusstseinsfähige und formalisierbare, emotional regulierte, praktische Intelligenz, die sozial erlernt sowie hochgradig körperbezogen ist. Diese Intelligenz, so die These, ermöglicht es Akteuren, insbesondere unter unsicheren, zeitlich engen und sich schnell verändernden Bedingungen handlungsfähig zu sein. Mit dem in der Philosophie und der Soziologie als practice turn2 (Schatzki et al. 2001; Reckwitz 2003) bezeichneten Paradigmenwechsel erfahren praktische und implizite Vermögen, die der Mitwirkung eines gleichsam intelligenten Körpers bedürften, jedoch zuvor im Schatten hegemonialer Handlungstheorien lediglich randständig thematisiert wurden, in ihrer Bedeutung für die Praxis in verschiedenen sozialen Feldern eine grundlegende Aufwertung. In diesem Kontext dienen Beispiele aus dem Sport einer Reihe von Soziologen als beliebte Anschauungsobjekte, um Annahmen etablierter Handlungstheorien zu hinterfragen und die Bedeutung vorsprachlicher, körperlicher und impliziter Kompetenzen für die versierte Praxis zu erhärten.3 Einer besonderen Beliebtheit für die Veranschaulichung eines solchen Könnens erfreuen sich die Sportspiele oder Kampfsportarten mit Gegner- bzw. Partnerbezug. Ihre schnell sich verändernden Handlungs- und Entscheidungssituationen müssen unter Zeitdruck unmittelbar und flexibel praktisch bewältigt werden. Darüber hinaus beschwören sie Ungewissheiten – z.B. durch die Möglichkeiten des Fintierens und sportartspezifische Bewegungsreglements wie das Verbot, den Ball beim Fußball mit der Hand zu spielen – herauf und erhöhen so absichtlich das Risiko des Misslingens. Die Sportspiele und der Kampfsport dramatisieren somit Anforderungen an das Handeln und Entscheiden, denen wir auch im Alltag z.B. beim Autofahren in dichtem Verkehr oder bei der Arbeit an Computern oder anderen Maschinen begegnen und denen im Zuge der Diskussion um die zweite, „reflexive Moderne“ (Beck/ Bonß/Lau 2001) große Aufmerksamkeit zuteil wird (vgl. Alkemeyer 2009). Der Sport bietet also einen überschaubaren Rahmen, in dem in besonders prägnanter Weise Erkenntnisse über die Bedeutung einer praktischen Intelligenz für das Handeln und Entscheiden gewonnen werden können, die von interdisziplinärer, über den Sport hinaus reichender, Relevanz sind. Trotzdem 1 2 3

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Beispiele finden sich in der Hirnforschung, der Kulturwissenschaft, der Arbeitssoziologie, der Pädagogik oder der Psychologie. Weitere gängige Bezeichnungen für diesen Paradigmenwechsel sind body turn (Gugutzer 2006) oder somatic turn (Schroer 2005). Neben Bourdieu (1987: 122ff.), der in seinen Ausführungen zur Funktionsweise des praktischen Sinns auf ein Fußballspiel rekurriert, nutzen auch Elias (2004: 75ff.), Mead (2000: 81f.) und Luhmann (1995: 251 (FN 60)) Beispiele aus Spiel und Sport, um ihre Überlegungen zu sozialen Handlungs- und Entscheidungsprozessen jenseits geistiger Planung zu exemplifizieren.

PRAKTISCHE INTELLIGENZ

haben es die Sport- und Bewegungswissenschaft, aber auch andere Disziplinen bislang weitgehend versäumt, diese fächerübergreifende Bedeutung und das Forschungspotenzial des Gegenstandes anzuerkennen.4 Neben einer Nutzbarmachung der Resultate bisheriger Forschung zur „spezifischen Logik sportlicher Praktiken“ (Wacquant 2003: 21) für die Erschließung der „Logik einer jeglichen menschlichen Praxis“ (ebd.) mangelt es umgekehrt auch an einer systematischen Integration der in verschiedenen Wissenschaften (insbesondere der praxeologischen Soziologie) gewonnenen Einsichten zur praktischen und impliziten Intelligenz in sport- und bewegungswissenschaftliche Theoriekonzepte. Denn nicht nur stellen die zeitlich und räumlich begrenzten Interaktionskontexte von Spiel und Sport einen adäquaten Gegenstand dar, um etablierte Handlungstheorien in ihrer mentalistischen Verengung zu relativieren und vorbewusste, praktisch-körperliche Kompetenzen zu rehabilitieren. Vielmehr können die in verschiedenen anderen Wissenschaften erarbeiteten Erkenntnisse auch der Sport- und Bewegungswissenschaft dazu dienen, eigene Vorannahmen zu überprüfen sowie Forschungsdesigns und Perspektiven zu erweitern. Zumal eine interdisziplinäre Systematisierung vorhandener Ansätze zur praktischen Intelligenz bislang ein Forschungsdesiderat ist, jedoch einen wichtigen Erkenntnisfortschritt verspricht, werden hier erste Überlegungen zur Gestaltung und zum Ertrag einer solchen skizziert. Der Artikel beginnt, nachdem als eine Art Kontrastfolie zentrale Leitideen traditioneller Handlungstheorien der Soziologie, Psychologie und Sportwissenschaft erläutert wurden, mit einer skizzenhaften Darlegung grundlegender Paradigmen von Handlungs- und Entscheidungsmodellen, die in der Folge des practice turns in verschiedenen wissenschaftlichen Diskursen zunehmend an Einfluss gewinnen. Da eine Vielzahl dieser Diskurse in ihrem Bestreben, den etablierten Ansätzen innewohnenden Intellektualismus zu überwinden, mehr oder weniger explizit auf Grundannahmen soziologischer Praxistheorien Bezug nimmt, werden diese anschließend erläutert. Danach wird überblicksartig der Stand der bewegungswissenschaftlichen Forschung zum impliziten Wissen und zur praktischen Intelligenz dargelegt. Im Anschluss an diese Synopse werden die verschiedenen Ansätze aufeinander bezogen, um so neben Parallelen und Differenzen in der Thematisierung alternativer Wissensformen auch blinde Flecken der jeweiligen Konzeptionen sichtbar zu machen und ansatzweise aufzuzeigen, wie diese wechselseitig ausgeleuchtet werden können. Eine Zusammenschau von bislang noch offenen Fragen zu den Themen prak-

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Ausnahmen bilden z.B. die theoretischen Überlegungen von Davids et al. (2006), Sutton (2007), Alkemeyer/Schmidt (2006) sowie die autoethnographischen Studien von Wacquant (2003), Girton (1986), Allen Collinson (2008) oder – am Beispiel des Musizierens – Sudnow (1978). 23

KRISTINA BRÜMMER

tische Intelligenz und implizites Wissen beendet als Vorgriff auf weitere Forschung den Artikel.  Paradigmen traditioneller Handlungstheorien Es erfolgt zunächst ein kursorischer Überblick über grundlegende Leitideen klassischer Handlungstheorien in Soziologie, Psychologie und Sportwissenschaft, die sich unter verschiedenen Akzentsetzungen mit einer Analyse und Erläuterung der menschlichen Aktivität in überschaubaren Zusammenhängen beschäftigen. Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen, soll die Darstellung zentrale geteilte Annahmen über das menschliche Handeln offenlegen.

Soziologie Als einer der prominentesten Vertreter der soziologischen Handlungstheorie begreift Max Weber Handeln als einen Spezialfall des Verhaltens, der immer dann vorliegt, wenn ein Akteur mit seinem Tun einen subjektiven Sinn verbindet (vgl. Weber 1984: 19). Der Normalfall des Handelns sieht sich laut Weber neben dieser Sinnbezogenheit durch eine – in die Idealtypen des wertund des zweckrationalen Handelns mündende – rational-reflexive Ausrichtung gekennzeichnet (vgl. ebd: 44ff.), durch die sich Handeln konstitutiv von bloß reaktivem Verhalten unterscheidet. In Anlehnung an die Ausführungen Webers definieren auch Schütz und Parsons Handeln als ein intentionales und voluntaristisches Vorgehen, das willentlich und absichtsvoll auf ein bestimmtes Handlungsziel gerichtet ist und in das strategische Überlegungen, normative Werte, (Weil- und Umzu-) Motive, Beurteilungen und Wissensbestände einfließen (vgl. Schütz/Parsons 1977: 29ff.). Individuelles Handeln tritt als Ergebnis subjektiver Intentionen autonomer Akteure in den Mittelpunkt des Schützschen Interesses. Seine Analyse des sozialen Handelns setzt dementsprechend am Bewusstsein und den individuellen Interpretations- und Verstehensleistungen der einzelnen Akteure an, die diese zu einem mentalen Handlungsplan verdichten. In diesem Plan besteht wiederum der primäre und fundamentale Sinn des Handelns: „Der Begriff ‚Handeln‘ soll einen ablaufenden Prozess menschlichen Verhaltens bezeichnen, der vom Handelnden vorgezeichnet wurde, anders gesagt, der auf einem vorgefassten Entwurf beruht.“ (Schütz 1971: 77) Psychologie Mit ähnlicher Akzentuierung wird Handeln seit der kognitiven Wende in den 1960er Jahren, welche die Abkehr von behavioristischen Subjektmodellen begründete, in psychologischen Theorien modelliert. Seit der Überwindung 24

PRAKTISCHE INTELLIGENZ

des Behaviorismus dominieren hier Ansätze, die sich hauptsächlich auf Miller/Galanter/Pribrams Ausführungen zu den „Strategien des Handelns“ (1973) beziehen. Sie weisen den Menschen nicht länger als passiven Rezeptor von Umweltreizen aus, sondern als ein „aktiv auf seine Umwelt einwirkendes und zukunftsbezogenes Wesen“, „das sich selbst Ziele setzt und Hypothesen (Erwartungen) über seine Umwelt aufstellt“ (Werbik 1978: 11; Hervorhebungen im Original). Miller/Galanter/Pribram begreifen Handeln nicht als kausal durch Umweltreize verursacht, sondern definieren es als ein „geplantes und strukturiertes Gefüge zielgerichteter Operationen“ (Aebli im Vorwort zu Miller/Galanter/Pribram 1973: 8). Es beruht auf kognitiven Bewusstseinsprozessen, expliziten Wissensbeständen und Plänen, in denen es intern repräsentiert und organisiert ist. Menschliches Handeln erscheint aus dieser Perspektive als sichtbarer Vollzug eines ex ante entwickelten Handlungsplans, in dem die manifeste Ausführung gedanklich vorweggenommen ist (vgl. ebd.: 42). In der Folge der kognitiven Wende bemühen sich die psychologischen Handlungstheorien zudem um eine analytische Gegenüberstellung von Handeln und Verhalten. In Analogie zu Weber qualifizieren sie von nun an die menschliche Aktivität nur dann als Handeln, wenn sie Merkmale der Zielgerichtetheit und des Zielbewusstseins, der Intentionalität, der Sinnerfülltheit sowie der (zumindest partiell) bewussten Kontrolliertheit und Planung aufweist (vgl. z.B. Groeben 1986: 71; Werbik 1978: 18f.; Volpert 2003: 13).5

Sportwissenschaft Handlungstheoretische Konzepte der Sportwissenschaft, insbesondere der Sportpsychologie, greifen wesentliche Annahmen der allgemeinen Psychologie bezüglich der kognitiven Organisation von Handlungen auf und problematisieren das Bewegungshandeln entsprechend in erster Linie im Hinblick auf dessen psychische Strukturierung. In dieser Tradition entwickelt Kaminski (1973) mit dem differenzierten Handlungsgrundschema zur Bewältigung von Mehrfachaufgaben im Sport eine Konzeption, die an zentrale Leitmotive von Miller et al. anschließt. So geht Kaminski davon aus, dass Bewegungshandlungen aus einem Repertoire an bereits vorhandenen und im Gedächtnis gespeicherten Könnensmustern bestritten werden, deren Abruf plan- und absichtsvoll geschieht. Bewegungshandlungen werden durch verschiedene intellektuelle Operationen vorbereitet 5

Groeben entschärft diesen Kognitivismus, indem er dafür plädiert, als „Restkategorie zwischen ‚Handeln‘ und Verhalten‘“ (Groeben 1986: 163) das ‚Tun‘ zu lokalisieren. Diese Kategorie möchte er auf Situationen angewendet wissen, in denen eine Tätigkeit eines Menschen vorliegt, deren objektiven Sinn er selbst nicht (vollständig) einsieht bzw. der ihm im Tätigkeitsvollzug nicht vollständig bewusst ist (vgl. ebd.: 168). 25

KRISTINA BRÜMMER

und initiiert: Unter Zurateziehung bewusst verfügbarer Wissensbestände und durch die Wahrnehmung situativer Gegebenheiten entwickelt der Sportler ein antizipatives Handlungsraumkonzept, das ihm als geistige Grundlage für die Ausführung dient. Zwischen Planung und Ausführung ist im Verständnis Kaminskis eine kognitive Prüfinstanz geschaltet, die kontinuierlich überwacht, ob zwischen diesen eine Übereinstimmung besteht. Während im Falle ihres Vorliegens die Bewegungshandlung fortgesetzt wird, erfordert das Feststellen einer Inkongruenz die Modifikation des Handlungsplans. Das antizipative Handlungsraumkonzept, das sich aus expliziten Wissensbeständen, kognitiven Situationseinschätzungen, Zielsetzungen und Überprüfungen zusammensetzt, dient dem Sportler, so die Kernaussage der Theorie Kaminskis, als psychische Regulationsinstanz, ohne die ein gekonntes und sinnvolles Sich-Bewegen unmöglich erscheint. Auch der Sportpsychologe Nitsch interessiert sich primär für „die Entdeckung der ‚Logik‘ menschlichen Handelns, d.h. [für, K.B.] die Gesetzmäßigkeiten, die der Begründung, Planung, Ausführung, Bewertung und Veränderung von Handlungen unterliegen“ (Nitsch 1986: 189). Um diese zu erfassen, bemüht er sich um eine Analyse von Bewegungen gemäß ihrer „triadischen Grundstruktur“ (ebd.: 229). Damit sind die Phasen der Antizipation, der Realisation und der Interpretation gemeint, von denen angenommen wird, dass sie regelkreisartig miteinander verbunden sind (vgl. Nitsch/Munzert 1997: 124). In der Phase der Antizipation wird die auszuführende Bewegung unter Referenz auf vorhandenes Vorwissen gedanklich vorweggenommen, bevor dieser Plan in der folgenden Realisationsphase körperlich-praktisch umgesetzt wird. Die dritte Phase der Interpretation dient dem Vergleich von Antizipation und tatsächlichem Handlungseffekt. In ihr findet nicht nur eine Evaluation der Bewegungshandlung, sondern auch die Generierung neuer Wissensbestände und subjektiver Bezugsmaßstäbe statt, die der adäquateren Planung und sichereren Antizipation des zukünftigen Bewegungshandelns dienen sollen (vgl. Nitsch 1986: 262ff.).6 Im Rahmen ihrer Bewegungslehre begreifen Meinel/Schnabel (2006) geistig-intellektuelle Fähigkeiten als unentbehrliche Grundlage und notwendige Voraussetzung für sensomotorische Anpassungsprozesse im Sport. Sie betonen, dass das Bewegungslernen neben einer kognitiven Involviertheit ein Wissen um den Bewegungsvollzug sowie eine bewusste Kontrolle einzelner

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Die immer noch aktuelle Relevanz des Ansatzes von Nitsch im Feld der sportwissenschaftlichen Handlungstheorie wird auch von Roth/Willimczik betont, die diesen in ihrem bekannten Lehrbuch zur Bewegungswissenschaft im Kapitel zur Handlungstheorie als grundlegende Referenzquelle nutzen (vgl. Roth/Willimczik 1999: 131ff.).

PRAKTISCHE INTELLIGENZ

Bewegungsparameter erfordert.7 Eine entscheidende Aufgabe des Lehrenden besteht – so Meinel/Schnabel (ebd.: 148ff.) – darin, den Lernenden durch explizite Belehrungen bezüglich der Zieltechnik mit einem umfangreichen Detailwissen auszustatten. Dieses soll ihm vor der Bewegungsausführung als rationale Grundlage dienen, ein inneres Modell in Gestalt einer genauen Vorstellung der Zielbewegung aufzubauen und ihm während der Bewegungshandlung einen kognitiven Bezugsrahmen zur aufmerksamen, bewusst-rationalen Kontrolle und Regulation einzelner Bewegungsparameter bieten. Im Verständnis der zitierten Handlungstheorien gilt menschliche Aktivität ausschließlich unter der Prämisse als zielgerichtet, sinnerfüllt und bedeutungsvoll, dass vor der manifesten Ausführung, möglichst unter Ausschluss vermeintlich rationalitätsgefährdender Emotionen, mental Ziele gesetzt, Sinn gestiftet, Pläne entworfen, Wissen aktiviert und Probleme gelöst werden. Auf der Grundlage dieser Definition beschreiben und analysieren die skizzierten Theorien menschliches Handeln im Hinblick auf verstandesbasierte Bewusstseins-, Denk- und Planungsprozesse, die sich im Geiste eines autonomen Akteurs abspielen. Diejenigen (z.B. emotionalen und leiblich-sinnlichen) Fundamente des Handelns hingegen, die nicht rational-reflexiver Natur sind, klassifizieren sie als nicht erläuterungsbedürftige Epiphänomene, den materiell-körperlichen Vollzug als eine nachgeordnete, gewissermaßen belanglose Angelegenheit.

Thematisierung alternativer Wissensformen in verschiedenen Wissenschaften Im Zuge des eingangs angesprochenen Paradigmenwechsels werden Handeln und Entscheiden seit einiger Zeit nicht länger ausschließlich als Angelegenheiten des Geistes und Resultate rational-reflexiver Verstandesleistungen thematisiert. Obwohl dieser Paradigmenwechsel z.B. von Bongaerts (2007) in seiner Plausibilität, Fruchtbarkeit und tatsächlichen Wirkungskraft kritisch beleuchtet wird, ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich neben den Sozialwissenschaften auch in anderen Disziplinen eine zunehmende Aufmerksamkeitsverschiebung auf implizite, emotionale und verkörperte Fähigkeiten abzeichnet. 7

„Andererseits gelingt das Erlernen neuer Handlungen oder die Verbesserung und Verfeinerung bereits erworbener Bewegungsvollzüge nun umso besser, schneller und rationeller, je mehr Kenntnisse dem Lernenden [...] selbst zur Verfügung stehen.“ (Meinel/Schnabel 2006: 147) „Intellektuelle Voraussetzungen für das motorische Lernen bestehen zum einen im Wissen um den angestrebten richtigen Bewegungsverlauf, um motorische ‚Kniffe‘, Feinheiten und Regeln, die die jeweilige Technik betreffen, zum anderen im Denkvermögen des Sportlers.“ (Ebd.: 158) 27

KRISTINA BRÜMMER

Populärwissenschaftliche Veröffentlichungen der Psychologie Seit geraumer Zeit erscheint eine Vielzahl, zum Teil populärwissenschaftlicher, Veröffentlichungen aus dem Bereich der Psychologie im Fahrwasser von Pascals berühmter Aussage „Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.“ (Pascal zit. nach Gigerenzer 2007: 11) auf dem Buchmarkt. Diese Publikationen appellieren an ihre Leser, sich bei wichtigen Entscheidungen nicht nur auf den kühlen Kopf zu verlassen, sondern auch auf den Bauch und die Intuition zu hören. Sie zeichnen sich durch das gemeinsame Bestreben aus, diejenigen menschlichen Potenziale aufzuwerten, die in traditionellen Handlungstheorien vernachlässigt und mitunter gar als erkenntnishemmend stigmatisiert werden. Und sie versuchen, die tradierte cartesianische Dichotomie von Ratio und Intuition dadurch zu unterlaufen, dass sie letzterer eine eigene, dem Verstand manchmal sogar überlegene, Leistungsfähigkeit und Vernunft zuschreiben (vgl. z.B. Gigerenzer 2007; Goleman 2000; Kast 2007). Hirnforschung Parallel zu dieser Entwicklung thematisieren auch Vertreter der Hirnforschung die grundlegende Bedeutung von Intuitionen für das menschliche Handeln und Entscheiden. Ihnen gelingt es, das Phänomen der Intuition, das in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen oftmals als eine Art übernatürliche Eingebung erscheint, zu spezifizieren, indem sie es als Substrat des emotionalen Erfahrungsgedächtnisses zu verstehen geben. Intuition wird als erlernte Kompetenz und „rasche Kognition [definiert, K.B.], in deren Vollzug das dafür erforderliche Wissen dank des Gefühls und umfassender früherer Praxis teilweise unterschwellig bleibt“ (Damasio 2007: V). 8 Emotionen und Intuitionen – so die Aussage sowohl von Roth (2003) als auch von Damasio (2007) – sind nicht als vermeintlich irrationale Gegenspieler oder diametrale Gegensätze des vernünftigen Denkens, Handelns und Entscheidens zu verstehen, sondern bilden dessen integrale Bestandteile. Um diese These zu untermauern, schildern die Autoren Schicksale von Patienten, die unter einer Schädigung des präfrontalen Cortex leiden, in dem das emotionale Erfahrungsgedächtnis lokalisiert ist. Obwohl die Vernunft dieser Patienten intakt und in abstrakten Begriffen abrufbar ist, weist sie keinerlei Bezug zu realen Handlungs- und Entscheidungssituationen mehr auf. Damasio kennzeich8

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Obwohl die populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen mit Titeln, die auf die Entscheidungs- und Denkmacht des Bauches rekurrieren, ausdrücklich auf ein körperliches Vermögen verweisen, lassen sie die tatsächliche Bedeutung des Körpers weitgehend unberücksichtigt. Die Hirnforschung hingegen konkretisiert die enge Beziehung des emotionalen Erfahrungsgedächtnisses zum Körper. So betonen sowohl Roth (2003: 285ff.) als auch Damasio (2007: 213ff.), dass Emotionen unauflöslich mit dem Körper verbunden sind und das Erleben körperlicher Zustände ein konstitutives Moment von Emotionen darstellt.

PRAKTISCHE INTELLIGENZ

net dieses Phänomen der Dissoziation zwischen Wissen und Handeln als verantwortlich für das irrationale Verhalten der Hirngeschädigten und bezeichnet es als Problem des „Wissen[s] ohne zu fühlen“ (Damasio 2007: 78). Er gelangt zu der Schlussfolgerung, dass die Ratio allein keineswegs ein hinreichender Garant für die sinnvolle Praxis ist, sondern diese ohne den Einfluss und die Mitwirkung von Emotionen wertlos sei.

Pädagogische und psychologische Expertiseforschung und Kulturwissenschaft In den Bereichen der Pädagogik, der Psychologie und der Kulturwissenschaft werden alternative Wissensformen, also Phänomene wie Intuitionen, implizites Wissen oder praktische Intelligenz, häufig im Zusammenhang mit dem Versuch einer Erklärung des Handelns und Entscheidens von Experten thematisiert. So betonen Dreyfus/Dreyfus oder Bromme, dass ein durchdachtes und planmäßiges Vorgehen, das gemäß der Paradigmen etablierter Theorien als Prototyp des Handelns erscheint, allein für das nicht-versierte Tun von Novizen charakteristisch ist (vgl. Dreyfus/Dreyfus 1988: 46ff.). Experten hingegen handeln danach im Rückgriff auf ein professionelles Wissen, das sich durch praktische Erfahrungen im Feld entwickelt, in einverleibter und impliziter Form vorliegt sowie hochgradig verdichtet und fallspezifisch strukturiert ist. Dieses ermöglicht dem Könner ein unmittelbares Verstehen einer Vielzahl an Problemsituationen und ein intuitives Reagieren auf diese, ohne vorher ausgiebig und analytisch nachdenken zu müssen (vgl. Bromme 1992: 139ff.).9 Trifft der versierte Akteur jedoch auf Situationen, in denen seine Wahrnehmungs- und Handlungsroutinen zeitweilig außer Kraft gesetzt sind, setzt eine Form der Reflexion ein, die mit Schön (2005) als „reflection-in-action“ und mit Dreyfus/Dreyfus (1988: 62) als „besonnene Rationalität“ zu bezeichnen ist. Diese Form des Denkens-im-Tun ist ganzheitlich-holistischer Natur. Sie bildet eine Strategie praxisnahen Reflektierens, die in den konkreten Handlungsvollzug eingebettet ist und eher einem aufmerksamen Bei-der-SacheSein, einer konzentrierten Involviertheit, als einem auf explizite Wissensbestände zurückgreifenden, regelbefolgenden Planen oder abstrakten Schluss-

9

Im Gegensatz zum alltäglichen und populärwissenschaftlichen Sprachgebrauch ist das Phänomen der Intuition auch gemäß der Theorie von Dreyfus/Dreyfus nicht mit einer übernatürlichen und unerklärlichen Inspiration im Sinne des oft zitierten „Bauchgefühls“ gleichzusetzen, sondern als erworbene Fähigkeit zu einem als mühelos empfundenen Verstehen und Handeln zu interpretieren, die immer dann zum Tragen kommt, wenn Akteure in der Situation, in die sie aktuell involviert sind, Ähnlichkeiten zu vergangenen Ereignissen erkennen (vgl. Dreyfus/Dreyfus 1988: 52f.). 29

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folgern gleichkommt, das für das Vorgehen von Anfängern prototypisch ist (vgl. Dreyfus/Dreyfus 1988: 62). Ähnliche praktische Kompetenzen wie die pädagogische und psychologische Expertiseforschung betont der Kulturwissenschaftler Hörning, wenn er hervorhebt, dass für alltägliche Handlungsabläufe kein explizites Wissen vonnöten sei, sondern „Experten des Alltags“ (2001) über eine erworbene praktische Intelligenz verfügen, die ihr gekonntes Tun gleichsam stillschweigend anleitet.

Managementforschung und Arbeitssoziologie Auch in der Managementforschung wird zunehmend die Forderung nach einer Akzeptanz intuitiver Kompetenzen und emotionaler Entscheidungen laut. So betonen Weick/Sutcliffe (2001) am Beispiel sog. High Reliability Organizations (HROs), zu denen sie u.a. sich durch ein hohes Maß an betrieblicher Unvorhersehbarkeit auszeichnende Feuerwehreinheiten, Notfallärzteteams oder Flugsicherungssysteme zählen, dass das Managen und Organisieren von Störungen sowie die Bewältigung des Unerwarteten – noch dazu unter Zeitdruck – ein ex ante durchgeplantes Vorgehen verbieten. Um verlässlich und schnell auf das Unvorhersehbare reagieren zu können, komme es stattdessen darauf an, dass die Mitglieder dieser Organisationen aktuellen Handlungsanforderungen mit einer permanenten Sensibilität und Achtsamkeit begegnen. Hierunter verstehen Weick/Sutcliffe (ebd.: 41ff.) die grundlegende (Bereitschafts-)Haltung, im Handlungsvollzug eigene Erwartungen zu hinterfragen, zu aktualisieren und zu differenzieren sowie Situationen kontinuierlich neu zu deuten. Ähnlich unterstreicht Ortmann (2001), dass insbesondere in Situationen, in denen Innovations- und Risikobereitschaft sowie Kreativität gefordert sind und es auf Zusammenarbeit, Kooperation und damit auch Empathiefähigkeit ankommt, Entscheidungen nicht nur planmäßig-rational und im Rückgriff auf ein explizites Rezeptwissen getroffen werden können, sondern sich unter diesen Anforderungen rationale und emotionale Einschätzungen wechselseitig ergänzen sollten. Solche Situationen erfordern mitnichten das Befolgen objektiver Regeln und Pläne, sondern deren subjektive und kreative Modifikation. Diese Forderung Ortmanns findet im Bereich der Arbeitssoziologie Unterstützung durch Böhle et al. Mit ihrem Konzept des erfahrungsgeleitet-subjektivierenden Arbeitshandelns betonen die Autoren, dass für die schnelle und flexible „Bewältigung des Unplanbaren“ (Böhle/Pfeiffer/Sevsay-Tegethoff 2004) – als eine entscheidende Anforderung an das moderne Arbeitshandeln – weder ein regelbefolgendes und vorschriftliches Vorgehen, noch ein objektiviertes bzw. objektivierbares Wissen oder eine mentale Vorwegnahme und 30

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Planung der Arbeitsvollzüge hinreichend sind. Am Beispiel der industriellen Arbeit an Maschinen wird erläutert, dass es für die Entwicklung dieser Kompetenz vielmehr notwendig ist, in einem dialogisch-explorativen, spielerischen sowie subjektivierenden Vorgehen ein hohes Maß an praktischen Erfahrungen zu sammeln und eine enge, empathische Beziehung zur Maschine zu etablieren. Nur auf der Basis einer solchen Beziehung können die Arbeiter ein feines, differenziertes Gespür für die Maschine ausbilden, in dem diverse Sinneseindrücke transmodal miteinander verschmolzen sind. Dieses erlernte Gespür ermöglicht es ihnen, ohne präaktionale Planungen oder die Vermittlung objektivierbarer Wissensbestände situativ unvorhersehbare Unwägbarkeiten und Störungen bereits in ihrem Entstehungszustand zu erkennen und angemessen auf diese zu reagieren (vgl. Böhle 2004; 2006; s. auch Böhle/Fross in diesem Band).

Theorien zum Musizieren Neben dem Sport – um den es in einem späteren Abschnitt noch ausführlich gehen wird – ist die Musik ein weiteres Feld, in dem alternativen Wissensund Intelligenzformen eine große Bedeutung für die gekonnte Praxis zugestanden wird. Sowohl an sportlichen als auch an musischen Praktiken tritt in besonderer Deutlichkeit und Nachvollziehbarkeit zutage, dass ein planmäßigrationales Vorgehen zumindest nicht immer und ausschließlich den Königsweg zum Erfolg weist.10 Besonders eindringlich veranschaulicht Sudnow (1978) in einer autoethnographischen Studie, in der er schildert, wie er die Fähigkeit zur Jazzimprovisation am Piano erwirbt, die Unzulänglichkeit hegemonialer Handlungsmodelle. Zu Beginn seines Lernprozesses charakterisiert Sudnow sein Spiel als ein bewusst-kontrollierendes Vorgehen. Als Novize versucht er, einen umfangreichen Pool an theoretischem Wissen über den Aufbau von Akkorden und Harmonien anzuhäufen und überwacht sein Tun aufmerksam, indem er sich auf einzelne Noten und die Position der zu spielenden Tasten konzentriert. Allerdings Auf diese Art und Weise erlernt er zwar das noten- und vorgabenkonforme Spiel, macht jedoch kaum merkbare Fortschritte in der Entwicklung seiner Improvisationsfähigkeit. Die entscheidende Verbesserung tritt ein, als er seine Aufmerksamkeit von einzelnen Noten und Tasten auf die Antizipation der zu spielenden Melodie richtet und sich mit seinem gesamten Körper an der Musikproduktion beteiligt. In diesem Stadium erscheint es ihm, als folge sein Spiel nicht länger seinem reflektierenden Verstand; vielmehr hat er das Gefühl, als sei sein praktisches Wissen über das improvisierende Spiel somatisch verankert und in seinen Händen situiert: „It had become a hand

10 Vgl. hierzu z.B. auch Schütz Aufsatz zum gemeinsamen Musizieren (1972). 31

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knowing how to enter into the scope of a field, and do a line of shaped movement through the course as a course of particular keys.“ (Ebd.: 52) Sudnow setzt seine Musik in Bewegung um und erspürt sie körperlich, so dass eine rational-reflexive Überwachung seines Tuns obsolet wird und das Gespür auf dem Niveau der Expertise den entscheidenden Referenzrahmen für die Koordination und die Justierung seiner Musikproduktion bildet. Er illustriert, dass der Erwerb der Improvisationsfähigkeit auf einer körperlichsinnlichen Verwobenheit mit seiner Musik und seinem Instrument beruht, auf deren Grundlage sich sein versiertes Spiel jenseits der Interferenz bewusst-rationaler Kontrollmomente wie von selbst entfaltet.

Grundannahmen der soziologischen Praxistheorie Die im vorherigen Kapitel erläuterten Ansätze, welche die Bedeutung einer praktischen Intelligenz sowie impliziter Wissensformen für das gekonnte Handeln in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen rücken, zeigen Überschneidungen mit soziologischen und philosophischen Konzepten, die unter den Begriff der Praxistheorien subsumiert werden können. Diese – zu einem großen Teil phänomenologisch inspirierten11 – Theorien teilen einige Grundannahmen, die auch manchen der bereits vorgestellten Ansätze als Ausgangspunkte der Argumentation dienen. 1. Praxistheorien distanzieren sich von der Annahme, dass soziale Ordnungen in Normensystemen, Regeln oder Strukturen fixiert sind, die das soziale Handeln bestimmen. Sie gehen vielmehr davon aus, dass diese Ordnungen in Gestalt sozialer Praktiken immer wieder neu situativ konstituiert werden. 2. Soziale Praktiken wiederum werden durch ein kollektiv geteiltes, sozial erlerntes und verkörpertes Hintergrundwissen (vgl. z.B. Polanyi 1985 oder Schütz/Luckmann 1979) angeleitet und ein in die Praxis eingebettetes praktisches Verstehen organisiert. 3. Praktiken emergieren im ‚Dazwischen‘ sowohl menschlicher Akteure als auch nicht-menschlicher „Aktanten“ (Latour 1996). Sie sind damit kein individuelles Phänomen, das sich erschöpfend aus den Plänen und Kognitionen eines subjektiven Geistes erklären lässt, sondern eine relationale

11 Die wichtigste Referenzquelle bildet hierbei die Phänomenologie MerleauPontys (z.B. 2003). 32

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Erscheinung, die eine Art Resonanz zwischen mehreren Handlungsträgern voraussetzt.12 4. Das Hintergrundwissen ermöglicht unter bestimmten Resonanzbedingungen ein schnelles und zielgerichtetes Handeln jenseits bewusster Kognition. Der paradigmatische Fall eines solchen Handelns besteht im Ansprechen des Bourdieuschen Praxissinns: Trifft der Habitus auf Strukturen eines Feldes, die seinen Dispositionen homolog sind, funktioniert der Praxissinn ähnlich eines Instinkts und ermöglicht die unmittelbare Erzeugung von Praktiken, die „objektiv geregelt und regelmäßig sind, ohne das Ergebnis von Regeln zu sein“ (Bourdieu 1987: 99). Er leitet Entscheidungen, „die zwar nicht überlegt, aber doch durchaus systematisch und zwar nicht zweckgerichtet sind, aber rückblickend durchaus zweckmäßig erscheinen“ (ebd.: 122). 5. Das Hintergrundwissen bleibt in der Praxis implizit; es wirkt als eine Art „stumme Macht“ (Polanyi 1985: 15), ist damit nur schwer formalisierbar, objektivierbar und verbalisierbar und durchdringt das phänomenale Erleben der Akteure in actu als eine Art Gespür, ‚Riecher‘, Instinkt oder Spielsinn.

Alternative Wissensformen in der Bewegungswissenschaft Insbesondere im Zusammenhang mit dem Versuch, ein Bewegungshandeln zu modellieren, das unter starkem Zeitdruck stattfinden muss und an das noch dazu die Anforderung gestellt ist, eine Vielzahl an Informationen schnell und gezielt zu reduzieren, entdeckt auch die Bewegungswissenschaft die Eklärungskraft alternativer Wissens- und Intelligenzformen für sich. Ihr Feld sieht sich bis heute durch einen Dualismus von kognitivistischen Informationsverarbeitungsansätzen (Motor Approaches) sowie systemdynamischen und phänomenologischen Modellen der Selbstorganisation (Action Approaches) charakterisiert. Ansätze beider Strömungen machen alternative Wissens- und Intelligenzformen unter Zugrundelegung verschiedener, z.T. sogar widersprüchlicher Vorannahmen zum Gegenstand ihrer Theoriebildung. Die informationsverarbeitungstheoretisch orientierten Ansätze fußen auf der Annahme, dass Bewegungen über interne Repräsentationen in Gestalt hierarchischer Steuergrößen und durch Feedback reguliert sowie durch die Wahrnehmung 12 Zur Bedeutung von Resonanzphänomenen zwischen verschiedenen Akteuren für die gekonnte gemeinsame Praxis bzw. das gelingende Zusammenspiel vgl. auch Alkemeyer (2006). 33

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(in erster Linie visueller) Reize aktiviert werden. Konzepte der Selbstorganisation hingegen gehen davon aus, dass Bewegungen nicht in Form von vorgefertigten motorischen Programmen oder anders gearteten Repräsentationen intern abgebildet sind, sondern durch heterarchische Selbstorganisationsprozesse koordiniert werden bzw. im Mensch-Welt-Austausch und BewegungsHandlungszyklus emergieren und damit permanent neu entstehen (vgl. z.B. Birklbauer 2006: 14ff.; Pesce 2003).13

Bewegungspriming und implizites Wissen im Sport Kibele (2001; 2002) entwickelt mit seinem Konzept des Bewegungsprimings einen empirisch fundierten Ansatz, der die Bedeutung impliziten Lernens und Wissens thematisiert und dazu beiträgt, dass alternative Wissensformen zunehmend Eingang in Bewegungstheorien finden. Der Ansatz dient ihm zur Erklärung der Beobachtung, dass sportliche Könner in Situationen, die sich durch Zeitdruck und eine komplexe, schnell und permanent sich verändernde Reizumgebung auszeichnen, nicht nur unverzüglich, sondern auch angemessen und durchaus intelligent reagieren, jedoch im Nachhinein wenig über ihr Tun aussagen können, also „mehr wissen, als sie zu sagen wissen“ (Polanyi 1985: 14). Kibeles Theorie fußt auf drei grundlegenden Ideen: Erstens unterstellt sie unter Referenz auf Erkenntnisse der Lern- und Gedächtnisforschung die Existenz eines impliziten perzeptuellen Repräsentationssystems, das mit Tulving/Schacter (1990) als Priming bezeichnet wird. In diesem Repräsentationssystem werden durch die praktische Auseinandersetzung mit einer spezifischen Lernumgebung deren charakteristische Merkmale und Reizkonfigurationen in einem nicht-reflexiven (Lern-)Prozess als perzeptive Strukturen gespeichert. Zweitens konstatiert Kibele in Einklang mit der Common-CodingHypothese von Prinz (1997), dass diese perzeptiven Strukturen durch sportliche Praxis mit motorischen Repräsentationen neuronal gekoppelt, also nicht isoliert voneinander im Gedächtnis gespeichert, sondern über gemeinsame Merkmale kodiert werden. Je öfter ein spezifisch wahrgenommener Reiz mit einer bestimmten motorischen Reaktion beantwortet wird, desto fester wird die neuronale Kopplung, so dass die Wahrnehmung eines Reizmerkmals eine Bewegung, die sich in der Vergangenheit bewährt hat, unmittelbar induziert (vgl. Prinz 1997: 134ff.). Drittens unterstreicht Kibele unter Verweis auf die Theorie der direkten Parameterspezifikation von Neumann/Ansorge/Klotz (1998), dass die Wahrnehmung visueller Informationen sowie die Aktivierung interner Repräsentationen auf vorbewusster Ebene stattfinden können. Es ist 13 Kromer (2007) unternimmt erste Versuche, den Gegensatz von motor und action approaches zu unterlaufen und Kernannahmen beider Paradigmen fruchtbar zu machen. 34

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möglich, dass Reize auf sehr schnelle Weise – gewissermaßen ohne den zeitaufwendigen Umweg über das Bewusstsein nehmen zu müssen – prozessiert und verhaltensrelevant werden. Ohne phänomenal bewusst erlebt worden zu sein, können Reize demnach eine durch Praxis im Feld implizit erworbene perzeptive Repräsentation aktivieren. Dabei führt die neuronale Kopplung von perzeptiven und motorischen Strukturen dazu, dass die mit dieser verbundene motorische Repräsentation unmittelbar, d.h. ohne die Mediation von Bewusstseinsakten, ausgelöst bzw. geprimt wird (vgl. Kibele 2002: 56ff.). Vor dem Hintergrund von Kibeles Erkenntnissen kann bewussten Kognitionen und Denkprozessen nicht länger ein Voraussetzungscharakter für das Bewegungslernen und das gekonnte Bewegungshandeln beigemessen werden. Vielmehr erscheinen sie im Rahmen seines Ansatzes lediglich als eine Art Begleiterscheinung nicht-bewusstseinsfähiger handlungsverursachender Prozesse, die sich aus einer in der körperlichen Übungspraxis im Feld entstandenen Kovariationsbeziehung von Bewegen und Wahrnehmen ergeben. Indem Kibele zudem auf der Grundlage der Annahme einer gemeinsamen Kodierung von Wahrnehmungs- und Bewegungsrepräsentationen plausibel macht, wie der Übergang von Wahrnehmung zu Bewegung ohne eine dazwischengeschaltete Übergangs- bzw. Kodierungsstufe gelingen kann, distanziert er sich weiter vom Informationsverarbeitungsparadigma und vermeidet den für dieses charakteristischen und viel kritisierten Kategorienfehler14. Mit seiner grundlegenden These, dass Bewegungen durch interne, wenngleich implizite, Repräsentationen verursacht werden, fällt Kibele jedoch in das Informationsverarbeitungsparadigma zurück und scheint den diesem inhärenten Mentalismus lediglich in den Bereich des Vorbewussten bzw. Impliziten zu verschieben, anstatt ihn zu überwinden.

Intuitionen im Sport Ebenfalls den Informationsverarbeitungstheorien zuzurechnen sind diejenigen Ansätze, die in Anlehnung an den Psychologen Gigerenzer die menschliche Intuition als eigenständige und bedeutsame implizite Wissensform ins Feld führen und fordern, diese möge auch in Theorien des Bewegens Berücksichtigung finden. Gigerenzer (2007: 48) definiert Intuitionen als Ergebnisse komplexitätsreduzierender Heuristiken, die der Umwelt wenige entscheidende Informationen entnehmen und diese so bündeln, dass es dem Sportler möglich ist, innerhalb kürzester Zeit die dem Handlungskontext angemessenste Handlungsalternative zu erkennen. Am Beispiel der Einschätzung einer Flugkurve 14 Der Kategorienfehler der Informationsverarbeitungsansätze besteht darin, dass ungeklärt bleibt, wie ein physikalisch definierter Reiz in eine psychologisch definierte Reaktion in Form von Bedeutung übersetzt werden kann (vgl. Laucken 1989 sowie auch Loibl 2001: 35). 35

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zum Zweck des Fangens eines Balls erläutert er, dass Sportler nicht in einem aufwendigen Kalkulationsprozess Entfernung, Geschwindigkeit und Flugwinkel des Balles berechnen, sondern sich stattdessen auf eine sog. Blickheuristik verlassen, die Folgendes besagt: „Fixiere den Ball, beginne zu laufen und passe deine Laufgeschwindigkeit so an, dass der Ball aus deinem Blickwinkel mit konstanter Geschwindigkeit steigt.“ (ebd.: 19)15 Insbesondere in zeitlich engen Entscheidungs- und Handlungssituationen kommen diese Heuristiken zum Einsatz. Anhand eines Beispiels aus dem Handball erläutern Johnson/Raab (2003) die sog. Take-the-First-Heuristik, die ihnen als Phänomenbeschreibung dafür dient, dass Sportler die besten, d.h. die dem Kontext adäquatesten, Handlungswahlen treffen, wenn sie sich auf die ihnen zuerst aufscheinende Option, also ihre Intuition, verlassen und von einem rational-reflexiven und zeitlich unökonomischen Abwägen potenzieller Handlungsalternativen absehen. Im Handball müssen sich Spieler unter starkem Zeitdruck aus vielen Möglichkeiten schnell für eine bestimmte Aktion entscheiden. Um zu testen, ob Handballspieler bessere Entscheidungen treffen, wenn ihnen mehr Zeit zur Informationsbeschaffung und zum Nachdenken zur Verfügung steht, konfrontierten Johnson/Raab einige Spieler mit einer Videoaufnahme eine Handballspiels, die zu einem bestimmten Zeitpunkt gestoppt wurde. Die Versuchspersonen wurden daraufhin aufgefordert, sofort anzugeben, welche Aktion sie ausführen würden, wären sie in das Spiel involviert. Nach diesem ersten Durchlauf, in dem intuitive Urteile erfragt wurden, wurden die Versuchspersonen erneut mit der Videosequenz konfrontiert und – diesmal allerdings erst nach der vorherigen Aufforderung, das Standbild sorgfältig zu studieren und möglichst viele Handlungsoptionen zu benennen – nach ihren Handlungswahlen befragt. In 40% der Fälle entschieden sich die Spieler im zweiten Durchgang für eine vom intuitiven Urteil abweichende Aktion. Nach dem Einholen der Spielerentscheidungen wurden diese einigen Trainern der Profiliga zur Evaluation vorgelegt, die die intuitiven Handlungswahlen im Durchschnitt als erfolgsversprechender beurteilten, als diejenigen, die von den Spieler erst nach reiflicher Überlegung getroffen wurden (vgl. auch Gigerenzer 2007: 43f.). Die Handball-Studie Johnsons/Raabs deutet sowohl darauf hin, dass die erlernte Intuition durchaus erfolgversprechendere Entscheidungen zu generieren vermag als ein langes Nachdenken, als auch darauf, dass ausführliche 15 Der Versuch, Erklärungen für die Fähigkeit des Fangens eines Balles zu finden, ist keineswegs neu, sondern dem Time-to-Contact-Ansatz entlehnt (vgl. hierzu z.B. Lee et al. (1983). So erläutern Oudejans et al. (1996) bereits vor Gigerenzer, dass der Fänger seinen Lauf dem Ballflug so anzupassen hat, dass der Ball keine optische Beschleunigung aufweist. 36

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Denkprozesse das gekonnte Bewegungshandeln nachteilig beeinflussen können. Über diese Hinweise hinaus lässt die Studie die Frage nach der genauen Funktionsweise und dem Erwerb von Intuitionen allerdings unbeantwortet. Kritisch zu hinterfragen ist überdies, ob die in vom Handlungsdruck und Gegnereinfluss bereinigten Laborsituationen gewonnenen Erkenntnisse direkte Schlüsse auf das Handeln und Entscheiden in realen Spielkontexten zulassen.

Bewegungsgefühl I Neben den eher kognitivistisch geprägten Ansätzen forcieren auch phänomenologisch inspirierte Sportwissenschaftler die Integration alternativer Wissensformen in ihre Konzepte zum Bewegen und Bewegungslernen. Im Einklang mit den Erkenntnissen der Hirnforschung, welche die traditionelle Gegenüberstellung von Kognition und Emotion relativiert, weist eine Vielzahl an Bewegungswissenschaftlern – unter ihnen insbesondere solche, die sich in phänomenologischer Tradition primär für das Erleben der Sportler interessieren – Gefühlen sowie körperlich-sinnlichen Empfindungen eine unhintergehbare Bedeutung für das Bewegen zu. So betonen neben Lippens (z.B. 2004) auch Roth (1996), dass ein versiertes Sich-Bewegen und SichBewegen-Lernen weder auf einem mentalen Erfassen wissenschaftlich legitimierter Bewegungsvorschriften gründen, noch durch ein am sichtbaren Bewegungsverlauf orientiertes Feedback initiiert werden können. Vielmehr seien sie als Ergebnis einer z.T. impliziten und schwer formalisierbaren, aus verschiedenen Sinnesmodalitäten sich speisenden Sensibilität des Körpers für die richtige Bewegung zu deuten. Lippens demonstriert anhand einer Untersuchung an Ruderern, dass diese ihr Tun in erster Linie unter Referenz auf ein in der Übungspraxis erworbenes und sich durch diese differenzierendes, partiell implizites Wissen justieren, das neben kognitiven Inhalten erfahrungsabhängig sich entwickelnde, gefühlsmäßige Einschätzungen und Urteile umfasst (vgl. Lippens 1997: 178ff.). Die von Lippens per Kartenlegetechnik befragten Ruderer gaben bezüglich ihres gekonnten Tuns in den meisten Fällen lediglich an, einfach ein „Gefühl“ für die richtige Gesamtbewegung zu haben. In diesem Gefühl sind – wie sich aus einer Rekonstruktion ihrer Innensichten ergibt – eine Vielzahl an subjektiven Empfindungen und teilweise recht diffusen, körperlich-sinnlichen Eindrücken und Wahrnehmungen miteinander verschmolzen, die weder eindeutig benennbar oder objektiv begründbar, noch für Außenstehende rational nachvollziehbar sind (vgl. Hebbel-Seeger/Lippens 1995: 107).16 16 Vgl. hierzu auch das Konzept der perzeptiven Führung, unter dem Hossner/Raab/Wollny (1996: 95f.) und Künzell/Schipke/Pauer (1996: 125f.; 143) aus der Arbeitsgruppe um Klaus Roth Phänomene wie Körper-/Bewegungs-/ Ballgefühl etc. subsumieren. 37

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Lippens gibt zu bedenken, dass die Entwicklung eines solchen subjektiven Bewegungsgefühls durch ein am objektiv beobachtbaren Bewegungsverlauf orientiertes Feedback oder durch normierte und wissenschaftlich legitimierte Vorgaben behindert werden kann. Er kommt vor diesem Hintergrund in diametraler Umkehrung der Postulate traditioneller informationsverarbeitungstheoretischer Bewegungskonzepte17 zu dem Schluss, dass der Lehrende durch solche Rückmeldungen den motorischen Lernprozess gar im Sinne einer „Störgröße“ (Lippens 1993: 52) negativ beeinflussen kann. Entscheidend für die gezielte Schulung und Genese eines angemessenen Bewegungsgefühls scheint es, dass Trainer und Sportler eine gemeinsame, der Praxis zugewandte und in diese eingebundene Sprache finden, die sich durch Bildhaftigkeit und Metaphorik auszeichnet und so geeignet ist, nicht nur den abstrakten und kognitiven, sondern auch den emotionalen und den körperlichsinnlichen ‚Verstehenskanal‘ anzusprechen. Eine weitere wichtige Funktion übernehmen in diesem Zusammenhang für Dritte nur schwer verständliche Codewörter, die die Aufmerksamkeit des Sportlers auf Knotenpunkte und Schlüsselstellen der Bewegung lenken, um so deren Erwerb und die Wahrnehmung handlungsrelevanter Informationen zu erleichtern (vgl. z.B. Szymanski/Hossner/Künzell 1996: 44f.). Der Bewegungswissenschaftler Sutton (2007) illustriert am Beispiel des Crickets, wie ein durch Training erworbenes, implizites und verkörpertes Wissen (embodied mind) sowie eine antrainierte, situativ wirksame kinästhetische Sensibilität nicht nur zu flexiblen und adaptiven Handlungen unter zeitlichen Restriktionen, sondern auch zu einer Art praktischer Reflexivität und erspürter Fehlersensitivität befähigen, die externe Korrekturen überflüssig werden lässt: „[...] but even in the flowing melodic dynamics of successful stroke-play, there is a kinaesthetic awareness of movement as familiar revealed for example in an immediate feeling für something going differently or awry, [...]“ (ebd.: 775). Bestätigt durch Sportlerbefragungen und in Übereinstimmung mit Davids et al. (2006) sowie Montagne (2005) zieht Sutton in Zweifel, dass Bewegungen in Form von sich durch Übung festigenden Programmen oder Repräsentationen, die nach einer durch einen Reiz ausgelösten Vorprogrammierung in stereotyper Weise abgespult werden, intern abgebildet sind oder durch der manifesten Ausführung vorgeordnete Entscheidungen und wissensbasierte Planungen kausal verursacht werden.18 Könner, so die Entdeckung der Autoren, sind im Gegensatz zu Anfängern in der Lage, ihre Bewe17 Gemeint sind z.B. die Schematheorie Schmidts (1990) oder Teile der Bewegungslehre von Meinel/Schnabel (2006). 18 Im Rahmen phänomenologischer Bewegungstheorien wird internen Repräsentationen keine Berücksichtigung geschenkt, z.T. wird ihre Existenz sogar geleugnet (vgl. Birklbauer 2006: 116; Pesce 2003). 38

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gungen auf der Basis eines durch Übung erworbenen und sich in actu permanent aktualisierenden Praxiswissens selbst noch unter größtem Zeitdruck, der präaktionale Kalkulationen unmöglich macht, situativ an Umweltbedingungen anzupassen und flexibel sowie fehlersensitiv zu variieren.19 Wissen, Denken und Entscheiden scheinen dem Bewegen also keineswegs nur als verursachende Prozesse vorauszugehen, sondern in der Bewegungshandlung mitzuentstehen.

Exkurs: Das ökologische Affordanzkonzept Obwohl im ökologischen Ansatz im Gegensatz zu den bislang zitierten Theorien alternative Wissensformen nicht ausdrücklich thematisiert werden, soll er an dieser Stelle dennoch kurz skizziert werden. Insbesondere das Affordanzkonzept eröffnet nämlich interessante Einsichten, die Auskunft darüber geben könnten, wie und unter welchen Voraussetzungen implizites Wissen in praktisches Können umsetzbar ist. Vertreter des ökologischen Ansatzes begreifen Bewegungen als ein immer wieder aufs Neue hervorgebrachtes Ergebnis eines Austausches zwischen Akteur und Umweltbedingungen. In diesem Verständnis entstehen Bewegungen immer dann, wenn der Sportler Dinge und Geschehnisse in seiner Umwelt als Handlungsangebot begreift (vgl. z.B. Stoffregen 2000). Zumal Affordanzen als Gegebenheiten zu verstehen sind, denen nicht per se eine objektive Bedeutung zukommt, sondern deren Wahrnehmung subjektiv ist und sich durch Lernprozesse differenzieren und modifizieren kann, müssen auf Seiten der Akteure erfahrungsabhängig sich entwickelnde innere Anlagen angenommen werden, die zum Erkennen und zur Realisierung von Affordanzen befähigen. Da der ökologische Ansatz – wie die übrigen phänomenologischen Bewegungskonzepte auch – die Existenz interner Repräsentationen jedoch nicht in seine Überlegungen einbezieht, wird hier eine theoretische Leerstelle sichtbar, die möglicherweise mithilfe der Konzepte des impliziten Wissens oder der praktischen Intelligenz gefüllt werden könnte. Diese könnten einen genaueren Aufschluss darüber geben, wie die Resonanz- und Austauschbeziehung zwischen Akteur und Umwelt zu modellieren ist und die Bedingungen konkretisieren, unter denen implizites Wissen überhaupt erst zu gekonnter und intelligenter Praxis befähigt.

19 Der Bewegungswissenschaftler Schöllhorn (1999) formuliert im Rahmen seines Konzepts des differenziellen Lernens trainingspraktische Konsequenzen, um diese Vermögen zu schulen. Statt Bewegungen durch stereotype Wiederholungen einzuschleifen und zu automatisieren, sei es entscheidend, Suchräume zu eröffnen, in denen verschiedene Ausführungsvarianten erprobt und unter verschiedenen Rahmenbedingungen technisch-taktische Fähigkeiten variabel und flexibel eingeübt werden können. 39

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Bewegungsgefühl II Sowohl Sutton als auch Lippens thematisieren das Bewegungsgefühl als wichtigen Maßstab für die Anpassung des Sportlers an Umwelt- und Geräteigenschaften sowie als schnelle und sensible Bezugs- und Zielgröße, die zum einen der Bewegungskoordination und zum anderen der unmittelbaren Evaluation des eigenen Tuns noch während des Bewegungsvollzugs und damit auch der Selbstkorrektur dient.20 Die Soziologin Allen Collinson (2008) problematisiert im Rahmen einer autoethnographischen Studie das Bewegungsgefühl sowie körperlich-sinnliche Empfindungen über diese Perspektiven hinaus als wichtige Informationsquelle für die Abstimmung zwischen zwei Sportlern, die gemeinsam laufen. Sie hebt hervor, dass die Abstimmung ein durch ein gemeinsames Training erworbenes Körperwissen und ein sich aus visuellen und akustischen Eindrücken speisendes Gespür für die Laufumgebung und den Laufpartner voraussetzt. Auf der Basis einer fein differenzierten Wahrnehmung der Atmung, Mimik, Körperhaltung und des Laufstils des Einen sowie aufgrund von ritualisierten verbalen und nonverbalen Ausdrücken und Austauschprozessen entwickelt der Andere ein Gespür dafür, ob und wie die Laufweise geändert werden muss, um sich aufeinander abzustimmen. Das der Abstimmung zugrundeliegende Wissen über den anderen bleibt der gelingenden Praxis implizit und leitet diese gleichsam stillschweigend auf eine nicht-hinterfragte Art und Weise an. Erst im Falle einer z.B. durch eine Verletzung hervorgerufenen Störung, aufgrund derer die Abstimmung nicht mehr problemlos gelingt, wird es notwendig, das die Praxis anleitende Wissen zu explizieren und aus dem Verborgenen an die Oberfläche zu holen. Über die Relevanz des Zusammenhangs bewegungswissenschaftlicher und praxissoziologischer Forschung Insbesondere im Zuge eines als „reflexive Modernisierung“ (Beck/Bonß/Lau 2001) bezeichneten Gewahrwerdungsprozesses sind verschiedene Vertreter unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen der Ansicht, dass etablierte kognitivistische Erklärungsmodelle den an das Handeln und Entscheiden gestellten Anforderungen nicht hinreichend gerecht werden. Wie kaum ein an-

20 Schönhammer (1991: 259f.) unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Bewegungsgefühlen erster und zweiter Ordnung. Während ein Bewegungsgefühl erster Ordnung die Bewegung anleitet, wohnt ein Bewegungsgefühl der Bewegung im Sinne eines praktischen Reflektierens und Spürens betrachtend bei. 40

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derer Gegenstand eignet sich der Sport, um die im Selbstverständlichen verborgenen, stummen Seiten des menschlichen Tuns ans Licht zu bringen. Insbesondere die Sportspiele stellen an ihre Akteure die Anforderung, unter Zeitdruck Entscheidungen treffen, auf bewusst heraufbeschworene Ungewissheiten und risikoträchtige Unsicherheiten zu reagieren sowie sich schnell, kreativ und flexibel auf unvorhersehbare, permanent sich ändernde Handlungssituationen und Spielkonstellationen einzustellen. Sie lassen in besonderer Eindringlichkeit die Körperlichkeit des Handelns und die situative Konstitution von sozialen Ordnungen bzw. Spielmustern jenseits vorheriger Planungen und Festlegungen hervortreten. Der Sport bringt damit Momente des Handelns und Entscheidens unter Zeitdruck und Unsicherheit zur Aufführung, die zunehmend auch als Charakteristika der Praxis in anderen Feldern anerkannt werden. Eben deshalb scheint es für die soziologische Handlungsbzw. Praxistheorie hoch instruktiv zu sein, die Erkenntnisse der Sport- und Bewegungswissenschaft für die eigene Theoriebildung fruchtbar zu machen. Andererseits sollten auch die in anderen Disziplinen gewonnenen Einsichten von der Sport- und Bewegungswissenschaft dazu genutzt werden, eigene theoretische und empirische Perspektiven zu bereichern und einen Erkenntnisfortschritt anzuregen. Indem die sozial- und bewegungswissenschaftlichen Konzepte zur praktischen Intelligenz in einen Dialog gebracht werden, wird deutlich, dass sowohl in der Sport- bzw. Bewegungswissenschaft als auch in der Soziologie und in anderen Wissenschaften alternativen Wissensformen insbesondere für das Handeln von Experten und unter Zeitdruck ein hohes Maß an Erklärungskraft zugestanden wird. Ferner findet sich die Idee des Emergierens von Praktiken zwischen verschiedenen Akteuren bzw. zwischen Akteur und Umgebung unter anderem sowohl in der Bourdieuschen Habitus-Feld-Korrespondenz als auch im Affordanzkonzept der ökologischen Wahrnehmungs- und Bewegungstheorie. Voraussetzung dafür ist das Entstehen einer Resonanz: Ebenso wie materielle Gegebenheiten einer Umwelt (Feld) nur dann zu einer potenziellen Handlungsmöglichkeit für einen Akteur werden, wenn sie bei diesem auf Realisierungsdispositionen in Gestalt eines spezifisch geprägten Habitus bzw. Spielsinns treffen, existieren Affordanzen – verstanden als handlungsrelevante Eigenschaften der Umwelt bzw. der in ihr situierten Artefakte – für Akteure nur dann, wenn diese auf Grund einschlägiger praktischer Erfahrungen für diese prädisponiert sind (vgl. auch Schmidt 2006: 89f.; FN 15). Abgesehen von vereinzelten Ausnahmen (vgl. z.B. Stoffregen et al. 1999) vernachlässigt das Affordanzkonzept jedoch die Sozialität der Umwelt wie der Akteure und fällt in dieser Hinsicht hinter Bourdieus Überlegungen zurück. Neben Überschneidungen und Übereinstimmungen lässt eine Zusammenschau der Theorien auch Differenzen zwischen den jeweiligen Ansätzen deut41

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lich werden. Soziologische Praxistheorien nehmen mit der These der Emergenz von Praktiken im ‚Dazwischen‘ unterschiedlicher Handlungsträger deren kollektiven und relationalen Charakter in den Blick. Bewegungswissenschaftliche Programmatiken hingegen beziehen sich fast ausschließlich auf den einzelnen sportlichen Akteur und abstrahieren somit von dessen Beziehung zu anderen Aktanten bzw. Handlungsträgern. Eine Auseinandersetzung mit praxeologischen Ansätzen könnte die Bewegungswissenschaften demnach dabei unterstützen, ihren methodologischen Individualismus zu erkennen und dadurch zu überwinden, dass sie die Relationalität und Kollektivität als konstitutive Merkmale sportlicher Praktiken in ihre Konzepte integrieren.21 Soziologische Praxistheorien der jüngeren Vergangenheit thematisieren alternative Wissensformen primär im Kontext der Erläuterung des Vollzugs von Automatismen und Routinen (vgl. Reckwitz 2003: 294). In der Folge bleibt die Frage nach den Möglichkeiten einer nicht-routinierten Bewältigung unwägbarer und kritischer Handlungssituationen und einer kreativen Neuschöpfung von Praktiken unterbelichtet. Diese Leerstelle lässt sich insofern mit in der phänomenologisch orientierten Bewegungswissenschaft gewonnenen Erkenntnissen füllen, als sich diese die Erklärung eines nicht-stereotypen, adaptiven und umweltsensitiven Bewegungshandelns zur Aufgabe gemacht hat (vgl. Davids et al. 2006; Montagne 2005). Viele soziologische Praxistheorien zeichnen sich durch einen hohen Abstraktionsgrad aus und lassen eine empirisch fundierte Rekonstruktion der Entstehung und Funktionsweise der verkörperten, vorsprachlichen Wissensformen, die das Kernstück ihrer Argumentation bilden, vermissen. Eine Ergänzung der soziologischen Ansätze durch sport- und bewegungswissenschaftliche Studien verspricht in dieser Hinsicht einen wichtigen Erkenntnisfortschritt, zumal diese einen überschaubaren Forschungsrahmen bereitstellen sowie empirisch gesättigte Erkenntnisse über den Erwerb und das ‚Wesen‘ des in diversen Handlungskontexten bedeutsamen intuitiven Körperwissens liefern. Während z.B. Bourdieu (1987: 122) rein metaphorisch vom Wirken eines praktischen Spielsinns spricht, um ein schnelles, zielgerichtetes, gleichsam instinktives Handeln jenseits bewusster Kognitionen zu erklären, können bewegungswissenschaftliche Erkenntnisse zum Bewegungspriming oder Bewegungsgefühl einen genaueren Aufschluss über eben dieses Phänomen geben. Darüber hinaus könnte es gelingen, durch die Analyse von Kommunikationsformen, etwa der empraktischen Sprachverwendung, in Trainingsprozessen sowie die Untersuchung von 21 Vgl. hierzu auch Wilz (2009), die betont, dass auch Entscheidungen als relationale und kollektive Phänomene zu verstehen sind, zumal diese nicht in einem isolierten und isolierbaren Bewusstseinsakt von einem vereinzelten, autonomen Akteur getroffen werden, sondern im Strom des gemeinsamen Handelns, des sozialen Miteinanders, gewissermaßen geschehen. 42

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Trainingskonzepten einen genaueren Aufschluss über den Erwerb, die Weitergabe und Vermittlung impliziten Wissens und praktischer (Spiel-)Intelligenz zu erhalten.

Ausblick: Forschungsdesiderate Um die Menge an verschiedenen Begriffen handhabbar zu machen, wurden in den vorausgehenden Anschnitten Phänomene wie Bewegungsgefühl, Gespür, Intuition, implizites Wissen, praktische Intelligenz u. Ä. wiederholt undifferenziert und generalisierend unter den Begriff alternative Wissensformen subsumiert. Dies ist dem Problem geschuldet, dass es sich bei diesen Phänomenen um Interessensobjekte handelt, die lange Zeit im Schatten hegemonialer handlungstheoretischer Ansätze standen. In der Folge mangelt es bislang nicht nur an klaren Definitionen, sondern es bleibt auch offen, durch welche Merkmale und welchen Erklärungswert sie sich überhaupt auszeichnen. So werden die genannten Termini nicht nur begrifflich unscharf – in einigen Fällen als Synonyme, in anderen wiederum unterschiedliche Bedeutungen und Vermögen akzentuierend – gebraucht. Vielmehr scheinen sie mitunter auch als eine Art Universalerklärung für diverse bislang unbeantwortbare Fragen und ungeklärte Fähigkeiten eingesetzt zu werden. Aufgrund dieser semantischen Ambivalenzen und konzeptionellen Unschärfen besteht ein dringender Bedarf nach Begriffsklärungen sowie nach der Eingrenzung und klaren Formulierung des Problems, auf welches die verschiedenen Konzeptionen eine Antwort zu liefern vermögen. Insbesondere in der Bewegungswissenschaft sind der Status und der theoretische Mehr- und Innovationswert der Konzepte zu alternativen Wissensformen bisher nicht zufriedenstellend erschlossen. Unter Zugrundelegung einander widersprechender Vorannahmen beanspruchen sowohl Motor als auch Action Approaches diese Konzepte für ihre Theoriebildung. Kibele gebraucht das Konzept des impliziten Wissens als ein Erklärungsmodell für die von ihm beobachtete Dissoziation von praktischem Können und nachträglichem Verbalisieren. Gleichermaßen wäre es jedoch denkbar, es als ein Synonym für eine nicht-bewusstseinsfähige interne Bewegungsrepräsentation in den Diskurs einzuführen, es in phänomenologischer Tradition als eine Art ‚erspürtes Wissen‘ über die richtige Bewegung zu verstehen, oder es als Platzhalter für eine präreflexive Disposition einzusetzen, die zur Realisierung und Wahrnehmung von Affordanzen befähigt. Aufgrund der Tatsache, dass der Forschungsgegenstand in fast allen Ansätzen zum impliziten Wissen und zur praktischen Intelligenz der Könner bzw. der praktische Experte ist, sind außerdem auch der Erwerb und die Ent-

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stehung alternativer Wissensformen bislang nicht zufriedenstellend geklärt.22 Unter den wenigen Ansätzen, die diesen Fragen nachgehen, herrscht keine Einigkeit über den Charakter und den Prozess des Erlernens impliziten Wissens. Während einige Konzepte insbesondere in der Folge der kognitionspsychologischen Experimente von Reber (z.B. 1989) implizites Wissen als Ergebnis impliziter Lernprozesse konzeptualisieren23, begreifen es andere als Resultat einer Prozeduralisierung, in deren Verlauf ein bewusst erworbenes explizites Wissen ähnlich einer Automatisierung allmählich ins Unbewusste absackt und so in implizites Wissen überführt wird.24 Wacquant (2003: 103ff.) wiederum bringt aus der Perspektive der Bourdieuschen Soziologie zum Zweck der Erhellung impliziter Lernprozesse das Konzept der Mimesis ins Spiel und beschreibt in seiner autoethnographischen Studie zum Erlernen des Boxens, wie durch gemeinsames Training und Imitation implizites Wissen in stummen Prozessen von Körper zu Körper weitergegeben wird.25 Ob implizites Wissen durch implizite Lernprozesse, Prozeduralisierungseffekte oder Mimesis erworben wird, sich diese Lernwege wechselseitig ausschließen oder ergänzen und durch Instruktionen und eine empraktische Sprachverwendung befördert oder behindert werden, bedarf weiterer Forschung – nicht nur, um erstens diese Fragen theoretisch zu klären, sondern auch, um hieraus zweitens Konsequenzen für Lehr- und Vermittlungsprozesse ableiten zu können. Abgesehen von einigen Ausnahmen perpetuieren viele der zitierten Ansätze – trotz einer oftmals explizit geäußerten Kritik an diesen – etablierte Dichotomien. Gilt in kognitivistischer bzw. cartesianischer Tradition der Geist dem Körper, das Explizite dem Impliziten, das Bewusste dem Unbewussten und das (theoretische) Denken dem (praktischen) Handeln überlegen, neigen sie dazu, diese Hierarchisierungen schlicht umzukehren und das Vorbewusste, Körperliche, Implizite und Praktische zu ontologischen Prioritäten zu erheben. Anstatt jedoch eine Seite des menschlichen Seins als feindlichen Pol gänzlich aus den eigenen theoretischen Modellierungen und empirischen Vorhaben auszuschließen und sich hiermit gewissermaßen von vornherein eine Sehbehinderung aufzuerlegen, müsste es in der zukünftigen Forschung 22 Zu diesem Kritikpunkt vgl. auch Lave (1997), die in ihren Ausführungen zum Lernen durch praktische Teilhabe auf Bourdieu verweist, diesem allerdings vorwirft, im Rahmen seiner Habitustheorie dessen Erwerb und Internalisierung nicht hinreichend zu diskutieren und zu spezifizieren. 23 Prominente Vertreter sind z.B. Kibele (2001; 2002) oder auch Masters/Maxwell (2004). 24 Die Prozeduralisierungsthese wird beispielsweise von Bromme (1992) vertreten. 25 Zur „stummen Weitergabe“ körperlich-mentaler Schemata in Prozessen eines mimetischen, impliziten Lernens vgl. aus soziologischer Perspektive auch Schmidt (2008). 44

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darum gehen, derartige Gegenüberstellungen lediglich zu analytischen Zwecken beizubehalten. Fruchtbarer scheint es zu sein, ein Kontinuum des menschlichen Daseins und der menschlichen Handlungsfähigkeit anzunehmen, auf dem zwischen den Polen bewusst-unbewusst, implizit-explizit, KörperGeist und Denken-Handeln oszilliert wird, und in Betracht zu ziehen, dass stets beide Pole in die Praxis einfließen und – je nach Könnensstand – lediglich verschieden stark ausgeprägt sind. Auch hier besteht ein dringender Forschungs- und Theoretisierungsbedarf. Mit dem practice turn richten verschiedene Wissenschaften ihre Aufmerksamkeit auf zuvor vernachlässigte Dimensionen des Handelns und Entscheidens. Soll der diesem turn innewohnende Neuerungswert für die wissenschaftliche Theoriebildung voll ausgeschöpft werden, darf es nicht darum gehen, das in seiner Folge entstandene Bündel an Analyseansätzen zum Gegenspieler traditioneller Konzepte aufzubauen. Die zukünftige Aufgabe besteht in einer produktiven wechselseitigen Ergänzung des impliziten und des kognitivistischen Paradigmas, zumal vermutlich nur so ein angemessenes und ausgewogenes Verständnis der menschlichen Handlungs- und Entscheidungskompetenzen zu erreichen ist.

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Das sukzessive Beschreiben einer Bewegungsordnung mittels Variation LARISSA SCHINDLER

Setzt man sich mit Körpern als sozialen Agenten auseinander, so geraten nahezu zwangsläufig Bewegungen in den Blick. Sie sind neben der äußerlichen Erscheinung eines Körpers sein zentrales Interaktions- und Selbstdarstellungsmedium. Wie aber lassen sich Körper und ihre Bewegungen begrifflich fassen? Wie lassen sie sich empirisch erforschen? Lassen sich Ordnungen der Körper und ihrer Bewegungen zeigen? An dieser Stelle bietet es sich an, empirische Studien zunächst einmal in Feldern zu platzieren, in denen ohne wissenschaftliches Zutun Bewegungen und Bewegungsordnungen verhandelt werden. Sport und Tanz geraten in den Fokus kulturwissenschaftlicher Analyse, weil hier Bewegungen nicht nur vollzogen werden, sondern zusätzlich kategorisiert, reflektiert, diszipliniert.1 Sportarten und Tanzformen bilden eine jeweils spezifische Bewegungsordnung aus, die durch, für die jeweilige Sportart oder Tanzform typische, Bewegungen und Bewegungsabläufe hergestellt wird. Auch werden die beteiligten Körper in jeweils typischen Konstellationen (einzeln, in Paaren oder in größeren Einheiten wie Teams oder Ensembles) arrangiert und in spezifischen räumlichen Umwelten platziert: Braucht es ein Spielfeld, eine Bühne, einen Saal? Die soziologische Beschreibung von Bewegungsordnungen ist keineswegs trivial: Zwar lassen sich manche Parameter, wie die räumliche Umwelt oder die Körperkonstellationen einer spezifischen Sportart oder Tanzform, relativ leicht festhalten, die Vielfalt der Ordnung ihrer Bewegungen jedoch lässt sich oft nicht so ohne weiteres beschreiben, denn es handelt sich in vielen Fällen um flexible Ordnungen, die sich nicht in fixen Einzelbewegungen oder

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Ein Programm zur Verknüpfung von Körper- und Sportsoziologie findet sich bei Gugutzer (2006: 41ff.). 51

LARISSA SCHINDLER

Bewegungsabfolgen festhalten lassen, sondern immer wieder variiert werden. Man kann eine neue Figur „erfinden“ oder eine neue Spieltaktik entwerfen. Trotzdem kann man aber auch mit einzelnen Bewegungen einiges falsch machen. Man kann unter Umständen so weit außerhalb der Bewegungsordnung liegen, dass Kenner den jeweiligen Tanz oder Sport in diesem Tun nicht erkennen können. Es sind im doppelten Sinne „Ordnungen in Bewegung“: Zum einen sind sie Ordnungen für Bewegungen und zum anderen Ordnungen, die sich bewegen. Mit dem Vorschlag, die Ordnung von Bewegungen als „Choreographien“ zu beschreiben, kommt ein tanzwissenschaftlicher Ausdruck in den Sozialund Kulturwissenschaften zur Anwendung. Er bezeichnet in seiner Grundbedeutung eine Festlegung von Tanzbewegungen vor einer Aufführung. In einer weiteren Auslegung lassen sich darunter auch festgelegte Bewegungsabläufe beispielsweise für Filmproduktionen verstehen. In kultur- und sozialwissenschaftlichen Texten wird der Ausdruck „Choreographie“ teilweise eher metaphorisch (Westwood 2001), teilweise aber auch analytisch (Whalen et al. 2002, Foster 1998) genutzt. Diese Texte versuchen, soziale Prozesse außerhalb von Tanz oder Sport mithilfe des Ausdrucks „Choreographie“ zu beschreiben. Das Phänomen der Choreographien soll im Folgenden dagegen als Ausgangspunkt für eine ethnographische Exploration genutzt werden. Auf diese Weise kann dem soziologischen Beschreibungsproblem eine empirische Wendung gegeben werden. Im Fokus der Untersuchung steht damit die Frage, in welcher Form Sportler oder Tänzer Choreographien zur Darstellung der jeweiligen Bewegungsordnung nutzen. Dabei interessiert mich weniger der performative Aspekt von Darstellungen, als der selbstbeschreibende Aspekt im Sinne von Melvin Pollners Konzept der „explicative transactions“ (Pollner 1979). Dieses basiert auf der ethnomethodologischen Annahme, dass Tätigkeiten sich in ihrem Vollzug erkennbar und erzählbar, „accountable“ machen (Garfinkel 1967: 1). Ich spreche deshalb im Folgenden von der „Beschreibung“ einer Bewegungsordnung im Rahmen von sportlichen oder tänzerischen Tätigkeiten, jedoch nicht im Sinne einer Notation, sondern mit der Absicht die Selbst-Beschreibung im Vollzug einer Tätigkeit zu beobachten.2 Im Fokus der empirischen Fallstudien steht die Vermittlung von Bewegungsordnungen anhand von zwei Fällen: einer Flamenco-Tanzstunde und einem Kampfkunsttraining.3 2

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Notationen können zwar auch Teil der Selbstbeschreibung sein, sie zielen aber auf eine Beschreibung durch Verschriftlichung, nicht im Tun ab. Vgl. Kennedy (2007) zur Bewegungsbeobachtung mithilfe der Labanotation. Das verwendete empirische Material stammt zum einen aus dem Corpus einer sechsmonatigen ethnographischen Studie zur Vermittlung von Bewegungswis-

DAS SUKZESSIVE BESCHREIBEN EINER BEWEGUNGSORDNUNG MITTELS VARIATION

Diese Fallauswahl hat zwei Gründe: 1. Wie erwähnt stellen Bewegungsordnungen die Soziologie vor ein Beschreibungsproblem. In Sport- und Tanztrainings entsteht ein strukturgleiches Problem: Um die Bewegungsordnung an die Lernenden vermitteln zu können, muss sie im Zuge des Trainings dargestellt, im oben erwähnten Sinn „beschrieben“ werden. Ein Element dieses Darstellungsprozesses bilden Choreographien, vorab festgelegte Bewegungsabläufe. Die Frage lautet hier: In welcher Form leisten Choreographien eine Beschreibung einer spezifischen Bewegungsordnung? 2. In Flamenco-Tanzstunden lässt sich das Vorhandensein von Choreographien relativ leicht empirisch begründen: Die TeilnehmerInnen selbst sprechen von Choreographien, der Ausdruck ist hier also zumindest eine Kategorie der Ethnosemantik (Brosziewski/Maeder 1997). Bei Kampfkunsttrainings ist das nicht der Fall. Es finden sich jedoch auch hier in vielen Fällen vorab festgelegte Bewegungsabläufe und damit ein, den „Choreographien“ der Tanzstunde ähnliches Phänomen. Mithilfe dieses zweiten empirischen Falles lässt sich daher die Frage nach der Funktion von Choreographien erweitern. Die Frage lautet dann allgemeiner: Inwiefern beschreiben festgelegte Bewegungsabläufe die flexible Ordnung des Flamenco bzw. der Kampfkunst? Diese stark empirisch angelegte Auseinandersetzung mit dem Ausdruck „Choreographie“ verdeutlicht, dass die soziologischen Beschreibungsprobleme der Ordnung von Bewegungen nicht zuletzt auf Problemen der Versprachlichung von stummem Wissen (Hirschauer 2001) beruhen. Im praktischen Tun der Trainings- und Tanzstunden dagegen werden Bewegungsordnungen verhältnismäßig problemlos beschrieben und vermittelt. Choreographien, oder allgemeiner vorab festgelegte Bewegungsabläufe, bilden dabei nur eine unter mehreren Vermittlungspraktiken. Ihre besondere Leistung liegt zunächst darin, der Flüchtigkeit sozialer Prozesse (Bergmann 1986), hier der möglichen passenden Bewegungen, eine Fixierung in Form eines festgelegten Bewegungsablaufs entgegenzusetzen. Im weiteren Verlauf des Lernprozesses ist jedoch nicht eine einzelne Festlegung wichtig; die Vermittlung und mit ihr die Beschreibung der Bewegungsordnung geschehen vielmehr durch die Variation festgelegter Bewegungsabläufe. sen in einem Mainzer Kampfkunstverein, zum anderen aus einer dreimonatigen ethnographischen Begleitung einer Mainzer Flamenco-Tanzlehrerin. In beiden Fällen besteht der Corpus aus Beobachtungsprotokollen, Videomitschnitten und Interviews. 53

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Die Vermittlung von Bewegungsordnungen In Tanz- und Kampfkunststunden werden flexible Bewegungsordnungen nicht primär verbal, sondern im Tun vermittelt. Die Vermittlung von Bewegungsordnungen steht nämlich vor zwei grundlegenden Problemen: Das erste, weithin bekannte Problem betrifft die Verbalisierbarkeit von Bewegungsordnungen. Zwar lassen sich einige Teile der jeweiligen Bewegungsordnung verbal ausdrücken, der Großteil scheint sich jedoch der Verbalisierung zu entziehen. Man lernt, indem man zusieht und nachmacht, und man vermittelt, indem man zeigt. Auch Manuals setzen deshalb auf die Vermittlung durch Bilder. Das zweite Problem betrifft jedoch gerade die Möglichkeiten visueller Vermittlung. Auch diese sind strukturell eingeschränkt, weil sich der genaue Ablauf von einzelnen Bewegungen nicht so ohne weiteres beobachten lässt. Man kann zwar beobachten, dass jemand geht oder schwimmt, trotzdem entziehen sich bereits diese grundlegenden, gleichförmigen Bewegungsformen oder auch „Körpertechniken“ (Mauss 1934) dem Wissen, wie man es macht (Polanyi 1985). Bei komplexen Bewegungsabläufen, wie sie im Tanz oder im Sport typischerweise vorkommen, entstehen noch weitere Beobachtungsschwierigkeiten: Die einzelnen Bewegungen stehen nämlich oft im Zusammenhang mit Bewegungen anderer Körper und/oder im Zusammenhang mit Artefakten, wie Bällen oder Schlägern. Es reicht also nicht, eine einzelne Bewegung zu beobachten; man muss in der Lage sein, die Bewegung in Beziehung zu ihrer Umwelt zu sehen.4 Aus diesem Grund setzen „Bewegungsschulen“ auf Teilnahme. Sie erklären und zeigen nicht nur, sondern setzen die Körper ihrer TeilnehmerInnen der Bewegungsordnung aus. Die Körper der SchülerInnen produzieren Bewegungen, die sich im Zuge des Lernprozesses nach und nach zu „passenden“ Bewegungen entwickeln. Erfahrung entsteht jedoch nicht im luftleeren Raum, sondern wird vor allem durch Zeigen und Nachmachen hergestellt. Diese beiden Praktiken sind aber oft nicht direkt verknüpft, das heißt, es wird nicht immer direkt Gesehenes nachgemacht. Es kommt immer wieder zu Sichtbarrieren, die durch verschiedene Medien5 überwunden werden. Ein solches Me4

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Charles Goodwin macht deutlich, dass viele Formen menschlicher Aktivitäten nicht entweder sprachlich oder körperlich sind, sondern durch die Beziehung verschiedener Elemente, wie dem Körper des Handelnden, anderen Körpern, Dingen, Sprache und Strukturen der Umwelt entstehen (Goodwin 2003: 21ff). Bruno Latour plädiert dafür, Aktanten wie den Berliner Schlüssel als „Mittler“ von Sinn zu verstehen. Er betont, dass der Prozess des Mittelns jedoch nicht als Transport, sondern als Übersetzung, als „Verraten“ des Sinns verstanden werden soll (Latour 1996: 48). Mein Terminus der „Medien“ ist an diesem Konzept orientiert: ich verstehe Spiegel, Choreographien etc. als Kommunikationsmedien

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dium sind Choreographien, die im folgenden Abschnitt im Kontrast zu einem anderem Medium, dem Spiegel, beschrieben werden.

Festgelegte Bewegungsabläufe Flamenco besteht, wie viele Kunsttanzformen, nicht aus einem einzelnen Grundschritt und einigen wenigen Figuren, sondern erfordert von den TänzerInnen ein ganzes Repertoire an Schritten, Figuren und Körpertechniken. Es gibt für jedes Musikstück unendlich viele passende tänzerische Lösungen. „Flamenco“ gliedert sich in verschiedene Formen (z.B. Alegría, Tangos, Tanguillos,…), die häufig ungewöhnliche Taktmuster aufweisen. In einigen Formen, z.B. in der Alegría, werden 6/8- und 3/4-Takt abgewechselt, sodass die Alegría beispielsweise auf 3-6-8-10-12 betont wird. Flamenco-Tanzen erfordert also ein relativ komplexes Körpermanagement, das eine Passung der Bewegungen zur Bewegungsordnung des jeweiligen Tanzes, aber natürlich auch zur Musik voraussetzt. In Flamenco-Tanzstunden werden, wie erwähnt, die Körper der Bewegungsordnung ausgesetzt, oder anders: Die Bewegungen der Körper ordnen sich im Tun und durch das Tun. Im Verlauf der Tanzstunde lassen sich nun drei Varianten des Ordnens beobachten: 1. das zeitgleiche Vor- und Nachmachen, 2. in der jeweiligen Tanzstunde spontan festgelegte kurze Bewegungsabläufe, 3. längere, über viele Tanzstunden festgelegte Bewegungsabläufe, „Choreographien“. Diese drei Varianten kommen zu unterschiedlichen Abschnitten der Tanzstunde zum Einsatz. Betrachten wir zunächst das Protokoll des Anfangs einer Tanzstunde: Ana, die Lehrerin, betritt den Raum. Die SchülerInnen stehen bereits im Raum, sie plaudern, sind aber in Richtung Spiegel orientiert. Ana geht nach vorne und stellt sich mit dem Gesicht vor den Spiegel. Sie schaut in den Spiegel und darin in die Gesichter der SchülerInnen. Diese schauen ihrerseits in den Spiegel, zu Anas Blick. Stille. Einen Moment später beginnt Ana mit Armbewegungen. Sie hebt die Arme neben dem Körper hoch über ihren Kopf, dreht die Handgelenke, führt einen Arm in im Prozess der Vermittlung und damit auch der (Re-)Produktion der Bewegungsordnung. Diese Bewegungsordnung ist jedoch, wie oben erwähnt, ihrerseits in Bewegung, sodass es in der Vermittlung nicht um Festlegungen, um Transporte im strengen Sinne geht, sondern eben eher um ein „Verraten“ der flexiblen Ordnung. 55

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einem Bogen vor ihren Körper usf. Die SchülerInnen machen die Bewegungen mit geringer Verzögerung mit. Alle stehen vor dem Spiegel, schauen hinein. Ana schaut auf die SchülerInnen, die SchülerInnen auf Ana. Die Arme aller Anwesenden bewegen sich nun synchron. Nach einer kurzen Weile verändert Ana die Bewegungen. Wieder folgen ihr die Schülerinnen, koordiniert durch den Spiegel. Dieses ‚Spiel‘ wiederholt sich einige Male. Ana kombiniert im weiteren Verlauf die Armbewegungen mit Schulterbewegungen, Bewegungen des Oberkörpers, später der Hüfte und mit Schritten. Schlussendlich macht sie die Eingangsbewegung einer bestimmten Flamenco-Form, der Alegría.

Zunächst werden die Bewegungen von Ana, der Lehrerin, vorgemacht und von den SchülerInnen nachgemacht. Die visuelle Koordination dieser Bewegungen ermöglicht ein spezifisches Artefakt, der Spiegel. Durch ihn sieht die Lehrerin die Bewegungen der SchülerInnen, obwohl sie selbst mit dem Rücken zu ihnen steht. Die SchülerInnen wiederum haben aufgrund der Raumordnung zwei Blickgelegenheiten zur Verfügung: Sie können die Rückseite von Anas Körper direkt sehen und die Vorderseite durch den Spiegel. Armbewegungen lassen sich auch von hinten gut verfolgen, viele andere Bewegungen lassen sich besser von der Vorderseite des Körpers ablesen. Die Koordinationsleistung des Spiegels lässt sich als eine Art Re-Entry der Blicke beschreiben: Während sich die Körper nach einem kurzen Moment synchron bewegen, findet eine Art Rückkoppelung vermittelt durch Blicke statt. Die SchülerInnen sehen den Körper der Lehrerin und lassen ihre eigenen Bewegungen dem Gesehenen folgen. Die Lehrerin sieht umgekehrt im Spiegel die Bewegungen der SchülerInnen; sie kann korrigieren, indem sie sich selbst beispielsweise schneller oder langsamer bewegt, und so die Körper der SchülerInnen zu schnelleren oder langsameren Bewegungen animiert. Sie kann aber auch die eigenen Bewegungen einfach fortsetzen und auf diese Weise die synchrone Bewegung der Körper unterstützen. Das reine Nachmachen der Bewegungen der Lehrerin kann in einem stillen Raum stattfinden. Häufig macht die Lehrerin jedoch nach einiger Zeit Musik an. Die Bewegungen der Körper werden dann weiterhin von ihr vorgegeben, sie werden aber zusätzlich durch den Takt der Musik koordiniert. Das geschieht nicht automatisch: Viele SchülerInnen erlernen die Wahrnehmung des Taktes erst im Rahmen der Tanzstunde, indem sie den Bewegungen der Lehrerin folgen6. Sieht die Lehrerin, dass sich einige SchülerInnen außerhalb des Taktes bewegen, so beginnt sie mit den Händen den Takt der Musik mitzuklatschen, mit den Füßen zu steppen oder laut mitzuzählen. Die Vermittlung der Bewegungen findet so in einer gemeinsamen Tätigkeit von Spiegel, 6

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Eine weitere, häufige Übung zur Schulung der Wahrnehmung des Taktes ist das kollektive Mitklatschen der Hände.

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Musik und dem Körper der Lehrerin statt. Betrachten wir zum Vergleich einen späteren Abschnitt der Tanzstunde: Ana zeigt nun nicht mehr fortlaufend einzelne Bewegungen, sondern kurze Bewegungsfolgen von acht oder zehn Schritten. Sie macht die Abfolge vor, dann machen Ana und die SchülerInnen die Abfolge noch einmal gemeinsam, und schließlich machen die SchülerInnen sie allein. Ana sieht ihnen zu, sie klatscht laut mit den Händen den Takt. Dann nickt sie mit dem Kopf und macht eine weitere Abfolge vor. Irgendwann geht sie zum CD-Player. Die SchülerInnen bleiben an ihrem Platz. Sie stehen in zwei lockeren Reihen mit Blick auf den Spiegel. Schaut man in den Spiegel, so sieht man darin die Körper in einer bühnenähnlichen Formation. Die Musik geht an, die SchülerInnen beginnen gleichzeitig im Takt zu klatschen. Ohne weiteres Kommando beginnen sie wenige Takte später die ersten Schritte einer Choreographie. Diese beinhaltet auch die zuvor geübten kurzen Schrittfolgen, sie ist aber wesentlich länger. Die SchülerInnen tanzen den gesamten Ablauf ohne Unterbrechung, Ana sieht zu und klatscht immer wieder mit den Händen laut den Takt mit. Hin und wieder macht sie eine Figur mit den SchülerInnen mit, ihr Körper bleibt aber auch dann den SchülerInnen zugewandt.

Die Beschreibung zeigt vier Medien zur Koordination von Bewegungen: den Spiegel, die Musik, kurze Bewegungsabfolgen und eine Choreographie. Wie beim zeitgleichen Vor- und Nachmachen zeigt die Lehrerin auch beim Vermitteln einer Choreographie einzelne Bewegungen. Diese Bewegungen erfindet sie jedoch nicht jede Stunde spontan neu, stattdessen wird nach und nach im Laufe des Kurses ein Bewegungsablauf festgelegt. Dieser wird Stück für Stück im Laufe des Semesters erlernt: Die Lehrerin tanzt jeweils einige Takte vor, die SchülerInnen tanzen diese Takte mit, wie zuvor koordiniert durch den Spiegel. Sie lernen beim Mittanzen einen wiederholbaren, zur Musik passenden Ablauf. Diesen Ablauf werden sie in den nächsten Wochen immer wieder tanzen, wodurch die vorgemachten Bewegungen der Lehrerin erinnerbar und erwartbar werden. Irgendwann ist der Ablauf so gut in den Körpern der SchülerInnen verankert, dass sie ihn auch ohne Vormachen wiederholen können. Die Lehrerin kann sich umdrehen und den SchülerInnen beim Tanzen zusehen. Die Choreographie wird hier an Stelle des Spiegels zum Koordinationsmedium: Beim Vormachen dreht die Lehrerin den SchülerInnen den Rücken zu. Nur mit Hilfe des Spiegels können die SchülerInnen ihrem Tun folgen. Sobald die Choreographie ins Spiel kommt, muss die Lehrerin nicht mehr vormachen. Sie dreht sich um und sieht den SchülerInnen direkt zu. Der Spiegel verliert seine Funktion für die Koordinationsarbeit der Lehrerin, wird aber in einer ähnlichen Funktion von den SchülerInnen eingesetzt.

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Die SchülerInnen müssen an dieser Stelle ohne das Vormachen der Lehrerin gemeinsam tanzen. Diese gemeinsame Tätigkeit wird durch die Choreographie und die Musik geführt, eine weitere Koordinationsleistung übernimmt der Spiegel. Genau wie zuvor die Lehrerin, können die SchülerInnen sich gegenseitig nicht gut beobachten. Der Spiegel gibt ihnen Gelegenheit, nicht nur die jeweils eigenen Bewegungen zu verfolgen, sondern auch die Bewegungen der gesamten Gruppe im Blick zu behalten. Während die Choreographie den Ablauf der Bewegungen vorgibt und die Musik das Tempo bestimmt, erlaubt der Spiegel eine visuelle Kontrolle des Tempos und des „Fine-Tunings“ der Bewegungen. Im Gegensatz zum reinen Nachmachen bringt das Tanzen entlang einer Choreographie die SchülerInnen in Kontakt mit der Bewegungsordnung des Tanzes. Choreographien bilden ein Ganzes, eine Variante einer Flamencoform, das die Einzelteile der Bewegungen und der Schritte verbindet und in Beziehung zueinander setzt. Die Choreographie wird zudem für ein spezifisches Musikstück geschrieben. Sie lässt sich zwar auch zu einigen anderen Stücken tanzen, zu einem aber passt sie besonders gut. Die SchülerInnen lernen also mit der jeweiligen Choreographie eine Möglichkeit des Tanzens zu einem bestimmten Musikstück im Detail kennen, ähnlich wie man beim Erlernen von Musikinstrumenten einzelne Stücke spielt und auf diese Weise die für das jeweilige Musikstück notwendigen Körperbewegungen erlernt. Spielt man jedoch ein Instrument, so zielt man primär auf einen auditiven Effekt ab, die beobachtbaren Bewegungen des Körpers werden als sekundär wahrgenommen, solange der Klang stimmt. Es werden also Bewegungen produziert und geschult, die es ermöglichen, bestimmte Töne aus dem Instrument zu holen. Tanzen dagegen zielt in erster Linie auf beobachtbare Bewegungen ab. Es werden in der Regel7 nicht direkt Töne erzeugt, sondern Bewegungen. Sie müssen einer für die jeweilige Tanzform spezifischen Bewegungsordnung entsprechen und werden durch die Musik koordiniert. Flamenco tanzen zu „können“ bedeutet Bewegungsabfolgen zu produzieren, die als Flamenco-Tanzen erkennbar sind und zu einer bestimmten Musik passen. Im Tanzunterricht fungieren u.a. Choreographien, Spiegel, Klatschübungen als Medien der Koordination der Bewegungen der TanzschülerInnen. Sie stellen eine Passung zur Musik und zu den Bewegungen der anderen SchülerInnen her. Darüber hinaus vermitteln Choreographien einen Eindruck von der Bewegungsordnung des Tanzes. Das Tanzen einer Choreographie be7

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Eine Ausnahme bilden alle Klatsch- und Steppelemente. Diese entziehen sich einer strengen Trennung von Tanz als visuellem und Musik als auditivem Ausdruck. Hier werden gewissermaßen Körper zu Musikinstrumenten. Umgekehrt gibt es Musikinstrumente wie Kastagnetten im Flamenco oder Zimbeln beim Orientalischen Tanz, die häufig während des Tanzens gespielt werden.

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schreibt für die SchülerInnen eine mögliche und korrekte Variante der Bewegungsordnung, jedoch nicht die gesamte Ordnung. Die Bewegungsordnung des Tanzens ist nämlich geprägt von einer Gleichzeitigkeit von Ordnung und Variation: Es gibt zahlreiche „richtige“ Bewegungsabfolgen, es sind also weder Einzelbewegungen noch Bewegungsabfolgen eindeutig vorgegeben. Nichtsdestotrotz kann man vieles falsch machen. Mit einer einzigen Choreographie haben TanzschülerInnen die Bewegungsordnung des Flamenco noch keineswegs erlernt. Sie kommen dieser Ordnung aber näher, je mehr Choreographien sie kennenlernen. Bewegungsordnungen scheinen sich nur durch den Kontakt mit Variationen erlernen zu lassen. Das Variieren vorgegebener Bewegungsabläufe findet in der Tanzschule meiner empirischen Untersuchung in Semestertakten statt. Jeder neue Kurs hat seine eigene Choreographie. In einer anderen Bewegungsschule, in einem Kampfkunsttraining, ist das Variieren der vorgegebenen Bewegungsabläufe ein kurzzeitigeres Phänomen. Es lässt sich deshalb dort besser in situ beobachten.

Das Variieren festgelegter Bewegungsabläufe Kampfkunsttrainings vermitteln, ähnlich wie Flamenco-Tanzkurse, eine komplexe Bewegungsordnung. Auch sie beschränkt sich nicht auf einzelne Bewegungen oder Bewegungsabläufe. Geübt werden mögliche Bewegungsabläufe eines Kampfes, das heißt Bewegungen und die möglichen Reaktionen eines Gegners. Dabei sind im Folgenden drei Charakteristika des Kampfkunsttrainings wichtig: 1. Obwohl Kämpfen geübt werden soll, wird streng auf körperliche Sicherheit geachtet. Das für einen physischen Kampf charakteristische Verletzen des Gegners wird hier also systematisch vermieden.8

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Dieser Aspekt ist in einigen Kampfkunstrichtungen insofern besonders stark ausgeprägt, als man nicht paarweise trainiert, sondern für sich alleine Kampfbewegungsabfolgen übt. Die TeilnehmerInnen solcher Trainings gehen davon aus, dass der Körper auf diese Weise das notwendige Bewegungswissen erwirbt. George Girton erwähnt diese Teilnehmertheorie in einer ethnomethodologischen Studie über Kung Fu: „How this happens [to learn how to fight without fighting, Anm: L.S.] I’m not fully sure, but as Ark Wong [his teacher, Anm. L.S.] says, ‚When you are experienced, your body knows how to move‘“ (Girton 1986: 60). Im Gegensatz dazu liefen in der Antike selbst Wettkampfspiele wie Boxen oder Ringen noch deutlich gewaltbereiter ab als in der modernen Gesellschaft (Elias 2003: 239ff.). 59

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2. Kämpfen ist eine Tätigkeit, die zumindest zwei TeilnehmerInnen erfordert. Im Kampfkunsttraining meiner ethnographischen Studie werden Bewegungsabläufe deshalb hauptsächlich paarweise geübt. Nur Vorbereitungsübungen (Rollen, Fallen, Einzelbewegungen) werden ohne PartnerIn trainiert. 3. Es gibt keinen Spiegel. Während die TänzerInnen der Flamenco-Tanzstunde alle in die gleiche Richtung schauen, nämlich zum Spiegel, sind die Körperpaare des Kampfkunsttrainings einander zugewandt. Gerade das zweite Charakteristikum des Trainings, das paarweise organisierte Üben, bringt eine spezifische Sichtschranke mit sich: Während die FlamencoBewegungen zeitgleich vor- und nachgemacht werden können, lässt sich diese Vorgehensweise unter der Bedingung des paarweisen Übens nicht aufrecht erhalten. Man kann nicht gleichzeitig mit einem Partner üben und zusehen, was gezeigt wird. Aus diesem Grund findet Zeigen und Üben hier zeitversetzt statt: Der Trainer und sein Partner zeigen einen Bewegungsablauf, die TeilnehmerInnen finden sich in Paaren zusammen und üben anschließend gemeinsam, was sie zuvor gesehen haben. So ergeben sich Abfolgen von Schritten, Schlägen, dem Blocken von Gegenschlägen, gleichzeitiges Verdrehen von Gelenken, neue Schritte, jetzt die Hüfte verdrehen usf. Aus den übenden Paaren entwickeln sich in der Regel „Körper-Knäuel“, ähnlich einem Paartanz. Während der Paartanz jedoch fixe Tanzachsen hat, rollen die Körper-Knäuel des Kampfkunsttrainings auch schon mal über den Boden, dehnen sich aus oder ziehen sich zusammen. Von außen lässt sich schwer erkennen, was gerade geschieht. Man entwickelt im Training mit der Zeit einen Blick für solche Interaktionen und ihre Bewegungsabläufe. Die Bewegungsabläufe sind, wie das folgende Protokoll aus einem Kampfkunsttraining verdeutlicht, nicht ein für alle Mal festgelegt. Es werden immer wieder Variationen des jeweiligen Bewegungsablaufs gezeigt, die der Bewegungsordnung ebenso entsprechen: Es wird ein ähnlicher Ablauf geübt wie einige Tage zuvor. Das zentrale Element der Übung besteht darin, dass man den/die GegnerIn (im Training ‚PartnerIn‘) ohne größeren Kraftaufwand in die Luft hebt und danach auf den Boden wirft. Zwei Anfängerinnen üben und üben. Sie können sich zwar gegenseitig hochheben, benötigen dafür aber viel Kraft. Sie diskutieren, dass sie auf diese Weise kaum Menschen hochheben werden können, die zwanzig oder dreißig Kilo schwerer sind als sie selbst. Also suchen sie nach Lösungswegen. Muss der Rücken gerade sein? Liegt der Trick in der Positionierung der Schultern? Der Trainer kommt vorbei und bemerkt das Rätseln. Nachdem er den beiden die Bewegung noch zweimal gezeigt hat, 60

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geht er wieder. Sie scheinen aber nach wie vor viel Kraft zu benötigen beim Versuch, die andere hochzuheben. Das Rätsel des kraftlosen Hochhebens löst sich nicht an diesem Abend. Der Trainer zeigt kurz darauf in der nächsten Demonstration eine andere Variante. Die nächste Übung hat im Prinzip denselben Ablauf, das Element des Hochhebens fällt jedoch weg. Stattdessen soll das Gleichgewicht des/r PartnerIn geschwächt werden, indem man die Schultern festhält und mit einem schnellen Satz hinter ihn/sie springt. Dadurch gerät er/sie in eine Rücklage, die man für eine weitere Bewegung nützt: Man macht einen Schritt zur Seite und drückt seinen/ihren Körper auf den Boden. Statt den Körper des/r PartnerIn also hochzuheben und auf den Boden zu werfen, wird er in dieser Version auf den Boden gedrückt.

Das Protokoll zeigt zunächst einmal, wie ein bestimmter Bewegungsablauf geübt wird. Die beiden Teilnehmerinnen können den vorgegebenen Bewegungsablauf aber nicht problemlos nachmachen. Sie wiederholen das Gesehene zwar, aber es zeigen sich Lücken in der Durchführung. Die Lücken bleiben nicht nur an diesem Abend bestehen. Der Trainer versucht zwar, den Ablauf durch Korrektur ein wenig zu verbessern, er hält sich jedoch nicht mit dem Versuch auf, die Bewegungen der zwei Anfängerinnen zu perfektionieren. Stattdessen zeigt er eine weitere Übung. In dieser Übung fällt ein Element (Hochheben) weg, es tritt ein anderes Element an seine Stelle. Auf diese Weise wird nicht nur der Ablauf verändert, es wird auch deutlich gemacht, dass der Ablauf veränderbar ist. Nicht nur erklärt der Trainer beide Varianten für korrekt, sondern beide Varianten führen zum selben Ziel: zu einem/r am Boden liegenden GegnerIn. Derartige Variationen des Bewegungsablaufs finden sich im Kampfkunsttraining ständig. Immer wieder lassen sich einzelne Elemente im Rahmen eines anderen Bewegungsablaufs wiederfinden. Das Variieren von Bewegungsabläufen ist auch Teil des verbalen Diskurses. Immer wieder sagt der Trainer, man solle nicht einen bestimmten Ablauf nachmachen, sondern das „Prinzip“ erkennen. Die Ordnung der Bewegungen ist, so lässt sich schließen, in den vorgegebenen Bewegungsabläufen nur beispielhaft fixiert. Die Funktion der Bewegungsabläufe besteht nicht darin, einen bestimmten Ablauf als einzig richtigen festzulegen, sondern sie besteht eher darin, Raum für Variation zu schaffen. Die Bewegungsordnung wird hier in beispielhaften Variationen sukzessive beschrieben.

Resümee Im Zentrum dieses Beitrages stand ein Blick auf Choreographien mit einem empirischen Fokus: Ausgehend von den Choreographien einer Tanzstunde wurden vorab festgelegte Bewegungsabfolgen im Rahmen der Vermittlung 61

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von Bewegungsordnungen untersucht. Der Frage der Bewegungsordnungen wurde damit in Form einer prozessorientierten Untersuchung der Tätigkeit des Ordnens von Bewegungen nachgegangen. Dieses Herangehen zeigt Choreographien zunächst als ein Element der Vermittlung einer Bewegungsordnung neben anderen. Im Gegensatz zum zeitgleichen Vor- und Nachmachen ordnungsgemäßer Bewegungsabläufe schafft das Tanzen einer vorgegebenen Choreographie Erwartbarkeit und Wiederholbarkeit. Sobald die Choreographie einstudiert ist, kann sich die Lehrerin zeitweilig aus der Tätigkeit des Tanzens zurückziehen. Die Choreographie koordiniert dann das Tanzen der SchülerInnen und hält gleichzeitig eine mögliche Version der Bewegungsordnung in den Körpern der SchülerInnen fest. Durch das Erlernen mehrerer Choreographien wird die Bewegungsordnung Stück für Stück vermittelt. Gleichzeitig stellen die unterschiedlichen Choreographien die Bewegungsordnung nach und nach dar, sie wird gewissermaßen durch Bewegungen sukzessive beschrieben. Im Kampfkunsttraining werden ebenfalls festgelegt Bewegungsabfolgen zur Vermittlung der Bewegungsordnung eingesetzt. Im Vergleich zu den Choreographien der Flamenco-Tanzstunde werden die Bewegungsabfolgen des Kampfkunsttrainings sehr kurzfristig variiert. Man kann Variationen von Bewegungsabläufen normalerweise in jeder einzelnen Trainingsstunde beobachten. Das in der Einleitung dargestellte Problem der Beschreibung von Bewegungsordnungen wird in den beiden beschriebenen Fällen durch Rückgriff auf die Möglichkeiten der Variation gelöst. Solche Lernsituationen lassen sich infolgedessen nicht nur als Orte verstehen, wo, wie Goffman pointiert formuliert, „Schnitzer oder Versager ohne größeren Schaden und mit belehrender Wirkung eintreten können“ (Goffman 1980: 72), wo also eine Tätigkeit ohne die üblichen Konsequenzen geübt werden kann, zum Beispiel Kämpfen ohne Verletzungsrisiko. Es sind darüber hinaus Orte, wo etwas, was eigentlich bereits stattgefunden hat, gewissermaßen zurückgedreht und noch einmal oder auch ein wenig anders probiert werden kann. Der Sinn festgelegter Bewegungsabläufe liegt deshalb nicht primär im Fixieren einer flexiblen Ordnung, sondern im Variieren des Festgelegten.

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Körperwissen und Bewegungslogik. Zu Status und Spezifik körperlicher Kompetenzen CHRISTIANE BERGER/SANDRA SCHMIDT

„Die Vernunft handelt sich Schwierigkeiten ein, sobald sie versucht, der Bewegung Bedeutung oder Status zuzumessen.“ (Pfeiffer 1999: 579)

Einleitung Mit den Begriffen „Körperwissen“ und „Bewegungsintelligenz“, die den Rahmen dieses Bandes bilden, werden körperliche Kompetenzen markiert, deren Status und Spezifik wir in diesem Beitrag anhand von Tanz- und Turnbewegungen in den Blick nehmen wollen. Dabei werden wir sowohl nach dem Potenzial dieser Kompetenzen für die Bewegungsausführung als auch nach ihrer Bedeutung für denjenigen fragen, der Körperbewegung beobachtet, beschreibt und analysiert. Unsere These ist, dass die unbestrittene Bedeutung, die Körperwissen und Bewegungsintelligenz für die Bewegungsproduktion besitzen, für ihre Rezeption ebenso gilt. Das führt zu der Frage, welche Rolle körperliche Kompetenzen in der wissenschaftlichen Untersuchung von Körperbewegungen spielen. Sollte das in der kultur- und geisteswissenschaftlichen Forschung formulierte Desiderat darauf zurückzuführen sein? Die von Henri Bergson bereits 1911 konstatierte „Angst vor den Schwierigkeiten, die die Vision der Bewegung unserem Denken verursacht“ (Bergson 1993: 165), scheint anzuhalten, so könnte man aus der Tatsache schließen, dass Körperbewegungen in ihrer Dynamik als Forschungsgegenstand nach wie vor vernachlässigt werden. Wenn man, so unsere These, davon ausgeht, dass Körperbewegungen eine bewegungsspezifische Logik innewohnt, die senso-mo65

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torischem, das heißt körperlichem Erfahrungswissen1 folgt beziehungsweise sich ihm gemäß organisiert, bedarf es zu ihrer Untersuchung einer spezifischen Kompetenz – nämlich körperlicher Kompetenz. Damit kommt das inkorporierte Körperwissen der Wissenschaftlerin ins Spiel, was mit einem traditionellen Wissenschaftsverständnis, das sich an einer rein rationalen Logik orientiert, unvereinbar scheint. Die Frage ist also, wie körperliche Kompetenzen in den wissenschaftlichen Diskurs integriert werden können. Dieser Frage nähern wir uns, indem wir zunächst unter Bezugnahme auf tänzerische und turnerische Körperbewegungen vorstellen, was wir unter Körperwissen verstehen. Dabei betrachten wir die Turn- gleichermaßen wie die Tanzbewegungen explizit nicht ausschließlich unter sportlichen Gesichtspunkten von Training, Wettkampf, Sieg, Niederlage oder Regelwerk, sondern auch unter einem historisch-anthropologischen sowie kulturhistorischen Blickwinkel. Abschließend skizzieren wir dann unser Konzept einer Bewegungslogik. Aufgrund der Institutionalisierung der Tanzwissenschaft im deutschsprachigen Raum2 und der damit einhergehenden Entwicklung in den vergangenen Jahren gibt es hier heute einige Beiträge3, die sich mit den erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten befassen, die Körperbewegung als Untersuchungsgegenstand mit sich bringt. So wird konstatiert: „Die Nichtbeachtung der Bewegung in der abendländischen Wissenskultur und der Philosophie (mit Ausnahmen), sieht man von naturwissenschaftlichen Diskursen ab, ist erstaunlich.“ (Jeschke/Haitzinger 2005: 138) In vielerlei Variationen wird das Forschungsdesiderat aufgezeigt und die Notwendigkeit bekundet, diese Lücke zu schließen. Dabei wird „Tanzwissen“ (Klein 2007: 25) als „anderes, [...] sinnlich-dynamisches Wissen“ (Brandstetter 2007: 41) beschrieben, das kritisches Potenzial gegenüber gängiger Wissenschaft berge, denn es wende „sich gegen ein Wissen [...], das dynamische Vorgänge über statische Konzepte zu fassen versucht“ (Klein 2007: 33). „Tanz würde dann die Grenzen dessen, was wir für Wissen und Wissenschaft halten, verschieben und damit unser Verständnis von Wissen selbst in Bewegung setzen […].“ (Brandstetter 2007: 41) Derartige Äußerungen haben in erster Linie programmatischen Charakter. Neben 1

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Zur Unterscheidung von begrifflichem, sensorischem und motorischem Wissen vgl. Klatzky (1989). In diesem Sinne kann senso-motorisches Wissen (Erfahrungswissen) von begrifflich-semantischem Wissen abgegrenzt werden. In den letzten Jahren sind im deutschsprachigen Raum sowohl tanzwissenschaftliche Studiengänge als auch Professuren neu eingerichtet worden, die meisten davon an kunst- oder theaterwissenschaftlichen Instituten, eine an einem sportwissenschaftlichen Institut. Zum Tanz als „Wissenskultur“ vgl. zuletzt Gehm/Husemann/von Wilcke (2007) sowie Baxmann/Cramer (2005). Zur methodischen und theoretischen Fundierung der Tanzwissenschaft vgl. zuletzt Brandstetter/Klein (2007).

KÖRPERWISSEN UND BEWEGUNGSLOGIK

diesen methodologischen Überlegungen gibt es auch erste Forschungsansätze zur Untersuchung spezifischer Körperbewegungen. In diesem Zusammenhang ist vor allem Claudia Jeschke zu nennen, die in ihrer phänomenologischen Analyse den Blick auf die „dynamischen Anteile im Bewegungsablauf“ (Jeschke 2000: 52) lenkt, um die „ereignishafte, dynamische Eigengesetzlichkeit von Bewegung: den motorischen Prozeß“ (Jeschke 1999: 6) zu betonen. Zudem gerät die Körperbewegung im Zuge des sogenannten performative turn als Handlung, als performativer Akt, in den Blick. Diese Entwicklung wurde aus kulturwissenschaftlicher Perspektive maßgeblich vom theaterwissenschaftlichen Institut der Freien Universität Berlin unter der Leitung von Erika Fischer-Lichte vorangetrieben.4 In diesem Sinne stellt auch Gabriele Klein die Kategorie der Bewegung in ihrer Prozesshaftigkeit in den Mittelpunkt ihres Projekts einer „Soziologie der Bewegung“, der es um „die Herstellung von Praxis in der und durch die Bewegung [geht]. Damit rückt der Körper als Agens der Herstellung von Wirklichkeit in den Mittelpunkt.“ (Klein 2004: 138) Klein verlagert damit das Forschungsinteresse „stärker auf die Tätigkeiten des Herstellens, Produzierens, Machens und auf die Handlungen, Austauschprozesse, Veränderungen und Dynamiken, durch die sich bestehende Strukturen auflösen und neue herausbilden“ (Fischer-Lichte 2001: 9). Gegenüber einer hermeneutischen Herangehensweise, die sich in erster Linie mit den Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens beschäftigt und damit die (rationale) Bedeutungskonstitution in den Mittelpunkt stellt, wertet die „Ästhetik des Performativen“ (Fischer-Lichte 2004) den Prozess der ästhetischen Erfahrung methodisch auf. In den geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen der Sportwissenschaft steht die Beschäftigung mit derartigen Fragen bislang weitestgehend aus. In der deutschsprachigen Debatte haben sich die „Geschichte“ (1976) und die „Wiederkehr des Körpers“ (1982) sowie im Anschluss daran die Arbeiten des Berliner „Forschungszentrums für Historische Anthropologie“ dem Körper gewidmet, nicht aber seinen Bewegungen.5 Ebenso werden in der aktuellen sport- und körpersoziologischen Forschung primär die Körper (die sich bewegen), nicht aber die Bewegungen (des Körpers) verhandelt, was nicht zuletzt die Rede von Körperpraktiken und eben nicht von Bewegungs-

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Vgl. den Sonderforschungsbereich „Kulturen des Performativen“ an der FU Berlin (http://www.sfb-performativ.de/) sowie insbesondere Fischer-Lichte (2004). Zur Rezeption des Performativen in der Tanzforschung vgl. Klinge/Leeker (2003). Vgl. Kamper/Rittner (1976); Kamper/Wulf (1982) und die Reihe „Historische Anthropologie“, herausgegeben vom „Forschungszentrum für Historische Anthropologie“ der Freien Universität Berlin. 67

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praktiken anzeigt.6 Nur in einigen wenigen Veröffentlichungen wird in jüngster Zeit der Bewegung Vorrang vor dem Körper eingeräumt, so z.B. in dem Entwurf der „Sportwissenschaft als Kulturwissenschaft“ von Fikus/Schürmann (2004). In einigen naturwissenschaftlichen Teildisziplinen der Sportwissenschaft steht die Körperbewegung zwar im Zentrum des Interesses; die Fokussierung auf eine Optimierung der Bewegungstechniken schließt allerdings Erkenntnisgewinne für kulturwissenschaftliche Perspektiven weitgehend aus.7

Das Potenzial körperlicher Kompetenzen für die Bewegungsausführung In der Geschichte des europäischen und amerikanischen Bühnentanzes lassen sich unterschiedliche Körper- und Bewegungskonzepte sehr gut verfolgen. Entsprechend dieser unterschiedlichen Konzepte werden die zentralen Momente der Bewegungsausführung – Muskelkraft, Balance und Kontrolle auf der einen und Entspannung, Sensibilität und Kontrollabgabe auf der anderen Seite – im Verlauf der Tanzgeschichte sehr unterschiedlich gewichtet. Während das klassisch-akademische Ballett mit seinem Körperkonzept, das den Körper in erster Linie als mittels der Tanztechnik zu beherrschendes Instrument begreift, den einen Pol markiert, betont der zeitgenössische Tanz in der Regel den anderen Pol. Dessen Körper- und Bewegungskonzept ist hier von besonderem Interesse, da er das Potenzial der körperlichen Kompetenzen für die Bewegungspraxis hervorhebt. In der Sportart Kunstturnen hingegen herrscht seit ihrer Etablierung in der heutigen Form in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein Körperkonzept vor, das sich ausschließlich an den in den Wertungsvorschriften fixierten Kriterien orientiert. Diese stimmen mit jenen des klassischen Balletts, das zumindest für das Kunstturnen der Frauen nach wie vor ein wichtiges Element der Grundausbildung ist, überein und be6

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Der „Vorteil“ einer solchen Akzentverschiebung liegt darin, dass sie, obschon hierin häufig Körperbewegungen verhandelt werden, erlaubt, die methodischen Probleme zu übergehen, welche eine Beschäftigung mit Körperbewegungen mit sich bringt. Vgl. zum Beispiel Gebauer et al. (2004) oder Gugutzer (2006); hier weist der Herausgeber zwar einleitend darauf hin, dass „Sport [...] ohne Körper in Bewegung nicht zu denken [ist]“ (41f.), in den Beiträgen werden aber die damit einhergehenden methodischen Konsequenzen höchstens gestreift. Klein irrt, wenn sie verallgemeinernd behauptet, dass die wissenschaftlichen Entwürfe „[…] ob natur- oder geisteswissenschaftlich orientiert, auf einem singulären und statischen Körperverständnis [beruhen], das dem sich in Raum und Zeit bewegenden und interagierenden Körper keine Beachtung schenkt“ (Klein 2004: 131f.): In der Biomechanik steht sowohl in der retrospektiven (Video-) Analyse von ausgeführten Techniken als auch in der Computersimulation möglicher Techniken die Bewegung der Körper im Zentrum der Forschung.

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tonen ebenso wie dort die Bedeutung von Muskelkraft, Balance und Kontrolle.8

Bewegungswahrnehmung I Eigene körperliche Bewegungen werden mit Hilfe des kinästhetischen oder Bewegungssinns (auch Muskelsinn genannt) im Zusammenspiel von Propriozeptoren und den Gleichgewichtsorganen im Innenohr wahrgenommen. Diese innere, nicht-visuelle Wahrnehmung vermittelt uns Informationen über die räumliche Gestalt, das Ausmaß, den Ablauf und die Geschwindigkeit einer Bewegung sowie über die aufgewendete Kraft und den entstehenden Druck. Menschen, die in ihrer kinästhetischen Wahrnehmung beeinträchtigt sind, haben kein Wissen um die Lage ihrer Körperteile und können entsprechend die Körperhaltung nicht korrigieren. Sie wissen zum Beispiel nicht, ob ihr Arm gestreckt oder gebeugt ist, weshalb sie vermehrt auf optische Kontrolle angewiesen sind. Eine ständige und exakte Rückmeldung über Muskelspannung und Gelenkstellung ist vor allem für unbewusst ausgeführte Bewegungen notwendig. Diese kinästhetische Wahrnehmung rückt bei vielen postmodernen Tanztechniken9 im Unterschied zum klassischen Ballett ins Zentrum. Der Balletttänzer arbeitet über die äußere visuelle Form, die sein Körper einnimmt und die er über den Blick von außen kontrollieren kann. Er muss im Training über die Korrekturen des Lehrers bzw. Choreographen und die Kontrolle im Spiegel lernen, wie sich die von außen gesehen richtige Position anfühlt, um sie dann ohne diesen äußeren Blick wieder einnehmen zu können. Das Ballett richtet sich, als ehemals höfische repräsentative Aufführungspraxis, traditionell am Betrachter-Blick aus. Zugleich orientiert sich der Tänzer mit Hilfe seines Blicks nach außen im Raum. Postmoderne Tänzer hingegen verlagern 8

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Aus den Teildisziplinen der Sportwissenschaft gibt es so gut wie keine den tanzwissenschaftlichen Überlegungen äquivalenten Ansätze. In einer historischen Analyse könnte man unterschiedliche Körper- und Bewegungskonzepte bei F.L. Jahn, den Philanthropen und dem heutigen Sport und Turnen skizzieren. Die Sportpädagogik verhandelt zwar durchaus Körperkonzepte, betrachtet aber unter dieser Fragestellung nicht den Spitzen- und Zuschauersport. Unter „postmodernen Tanztechniken“ verstehen wir hier Tanz- und Bewegungstechniken, die seit den 1960er Jahren entstanden sind. Der Begriff des postmodernen Tanzes ist problematisch, denn er bezeichnet sehr heterogene Phänomene. Zudem weist der postmoderne Tanz in der Reflexion der eigenen Mittel und in seinem Formalismus Gemeinsamkeiten mit der Moderne in der Bildenden Kunst auf. Zu Begriff und Phänomen des postmodernen Tanzes beziehungsweise des (amerikanischen) Postmodern Dance vgl. Banes (1987; 1994), Huschka (2002: 49ff. sowie 246ff.), Jeschke (2001), den Artikel Post Modern Dance in Brauneck/Schneilin (1992: 752ff.) und das Kapitel Postmodern Dance in Dahms (2001: 170ff.). 69

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den Fokus nach innen. Denn für sie ist das Kriterium weniger die Erfüllung einer vorgeschriebenen, von außen zu betrachtenden Form, als die anatomisch und physiologisch für ihre individuellen Körper angemessene Ausführung der Bewegungen, was einer Schädigung des Körpers vorbeugen, den Energieaufwand für die Bewegungsausführung minimieren und zugleich das Bewegungsspektrum erweitern soll. Die in diesem Sinne richtige Ausführung der Bewegung nimmt der Tänzer dank seines (geschulten) kinästhetischen Bewegungssinns wahr. Von entscheidender Bedeutung ist dieser Bewegungssinn beim Paartanz Tango Argentino. Dort ermöglicht er die körperlich-nonverbale Verständigung der Tanzpartner, die sowohl kinästhetisch ihre eigenen Körperbewegungen als auch die Körperbewegungen des Gegenübers wahrnehmen. Genauer gesagt nehmen die Tanzpartner die Oberkörperbewegungen des Partners wahr, da die Oberkörper der beiden Tänzer in der Umarmung flexibel miteinander verbunden sind. Gelingt die Verständigung, können die Tänzer mit Hilfe ihrer erlernten Bewegungstechnik, die sozusagen die Übersetzungsregeln beinhaltet, die wahrgenommenen Oberkörperbewegungen in entsprechende Beinbewegungen umsetzen und so ihre Schritte aufeinander abstimmen. Dazu bedarf es sowohl eindeutiger Bewegungssignale als auch einer ausgeprägten Wahrnehmungsbereitschaft und -fähigkeit. Erst wenn beides gegeben ist, gelingt dem Tanzpaar die gemeinsame Bewegungskoordination: der Folgenden, den Bewegungsimpuls des Führenden in eine Bewegung umzusetzen, und umgekehrt dem Führenden, seine Führungsimpulse an den Bewegungen der Folgenden auszurichten. Auf der Grundlage dieser bewegungstechnischen Verständigung kann die darüber hinaus gehende Dimension der gemeinsamen Bewegung erreicht werden: das Gefühl, eine körperliche Einheit, ein „Tier mit vier Beinen, ‚un animal con cuatro piernas‘“ (Elsner 2000: 43), zu bilden, das die Tänzerinnen und Tänzern als Höhepunkt ihrer Tanzerfahrung beschreiben.10

Körpergedächtnis Ob eine Bewegung ausgeführt werden kann und wie sie ausgeführt wird, ist abhängig von der Bewegungsbiographie (im Tanz umfasst sie die getanzten Aufführungen, Proben und das Training, im Turnen Training und Wettkämpfe) des Tänzers bzw. Sportlers: Er kann nur diejenigen Bewegungen vollziehen, die er aufgrund seiner ausgebildeten körperlichen Konstitution zu vollziehen in der Lage ist; und er kann nur deshalb Bewegungen ausführen, weil der Körper die Fähigkeit besitzt, die einmal gelernten Bewegungen erneut auszuführen beziehungsweise gelernte Bewegungsprinzipien anzuwen-

10 Vgl. dazu ausführlicher Berger (2006). 70

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den. Durch den Vollzug von Bewegungen formt sich der Körper entsprechend dieser Bewegungen, das heißt die Bewegungsbiographie lässt sich buchstäblich an seiner Anatomie ablesen. Dies bedeutet, dass die Bewegungsmöglichkeiten der Tänzer sowohl an materiell-körperliche Vorgaben – ihre Anatomie mit Muskeln, Knochen, Bändern, Nerven sowie Eigenschaften der Materie wie z.B. Gewicht und Volumen – als auch an ihre motorischen Fähigkeiten gebunden sind. Körper und Bewegung sind also verbunden durch eine zirkuläre Struktur wechselseitiger Bedingtheit: Die Bewegung formt den Körper und der Körper ermöglicht und prägt die Bewegung. Training ist genau in diesem Sinne als Formung des Körpers zu verstehen, so dass er die gewünschten Bewegungen ausführen kann. Damit ist der Körper Vorgabe und Folge der Bewegung zugleich: Er ist die Verkörperung der Möglichkeiten und Grenzen der Bewegungen. Das menschliche Bewegungsgedächtnis, das sogenannte prozedurale Gedächtnis11, ermöglicht Körperbewegung, indem es ein Repertoire von Bewegungsmöglichkeiten zur Verfügung stellt. Hier sind Bewegungen inkorporiert, die in der Vergangenheit entweder selbst ausgeführt oder bei jemand anderem beobachtet wurden: „Das prozedurale Gedächtnis bezieht sich vor allem auf (motorische) Tätigkeiten (z.B. Fahrradfahren, Schwimmen, Tischtennisspielen), die durch Übung und Beobachtung von Modellen eher langsam gelernt und noch langsamer – teilweise überhaupt nicht – vergessen werden.“ (Pethes/Ruchatz 2001: 464) Motorische Fähigkeiten, Gewohnheiten und Bewegungsmuster werden also durch mehrmalige Wiederholung gelernt und können dann weitgehend unbewusst, das heißt ohne Kontrolle des Großhirns (subkortikal), in anderen Worten ohne Aufmerksamkeit und nachzudenken, reproduziert werden.12 Auf diese Weise eignen sich zum Beispiel Balletttänzer das Vokabular des klassischen Tanzes an. Das prozedurale Körpergedächtnis entsteht durch Wiederholung von Bewegungen und ermöglicht sowie befördert seinerseits deren Wiederholung. Teilweise geht dieses inkorporierte, prozedurale Wissen über bewusste Fähigkeiten und bewusstes Wissen hinaus, so dass es nur begrenzt verbalisierbar ist: Der Tänzer kann auf Nachfrage kaum erklären, wie er die Bewegung ausführt – doch die Ausfüh11 Vgl. auch Gilbert Ryles (1992) Unterscheidung zwischen deklarativem („knowing that“) und prozeduralem („knowing how“) Wissen: Das deklarative Wissen ist ein statisches Faktenwissen, das sich auf Tatsachen und Gegenstände bezieht und sprachlich als Proposition oder als bildliche Darstellung repräsentiert wird. Das prozedurale Wissen dagegen ist ein dynamisches Wissen im Sinne einer Fähigkeit, etwas zu tun, ein bestimmtes Ergebnis zu erreichen. 12 Im Gegensatz zum Reflex sind die Bewegungsmuster des prozeduralen Gedächtnisses erlernt. Beide laufen unterhalb der Bewusstseinsschwelle ab, der Tänzer trifft also keine willentlichen Entscheidungen, welche Bewegung er wie ausführt (vgl. Huwyler 1992: 52f.). 71

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rung gelingt ihm mühelos. Michael Polanyi (1985) hat hierfür den Begriff „implizites Wissen“ geprägt. Er bezeichnet damit ein wahrnehmungs-, entscheidungs- und handlungsorientiertes Wissen, Könnerschaft bzw. Können, das angewendet, jedoch nicht oder nur bedingt expliziert werden kann.13 Allerdings begrenzt das Bewegungsgedächtnis zugleich die Bewegungsmöglichkeiten, da die inkorporierten Bewegungsmuster und -gewohnheiten bei Bedarf nicht einfach ignoriert werden können.14 Der Körper greift unwillkürlich auf bereits eingeschliffene Bewegungen zurück; entsprechend werden gewohnte Bewegungsmuster bevorzugt ausgeführt. Da es vor-bewusst arbeitet, kann das Bewegungsgedächtnis kaum willentlich kontrolliert, unterlaufen oder ausgeschaltet werden. Dieser Aspekt spiegelt sich in den technischen Sportarten wie dem Kunstturnen in der trainingswissenschaftlichen Betonung einer sogenannten guten Grundschule. Damit ist gemeint, dass vorbereitende Elemente wie der Flickflack am Boden oder die Riesenfelgen am Barren oder Reck in der (biomechanischen) Idealform beherrscht und automatisiert sein müssen, um die daran anschließenden Elemente größerer Schwierigkeit ausführen zu können. Sind die Grundelemente einmal falsch automatisiert, treten diese Fehler trotz aller Korrekturen immer dann wieder auf, wenn sich die Turnerin innerhalb einer ganzen Übung auf die folgenden schwierigeren Elemente konzentriert – die dann entsprechend nicht gelingen. Diesen Beschränkungen der spontanen Bewegungsmöglichkeiten durch das Bewegungsgedächtnis arbeitet der Choreograph William Forsythe systematisch entgegen, indem er versucht, das Bewegungsgedächtnis seiner Tänzer weitestmöglich zu unterlaufen, die bekannten Muster zu durchbrechen und so das Bewegungsspektrum zu erweitern: „Ich verbringe viel Zeit damit, Aufgaben zu erfinden, die die Erinnerung behindern.“ (Forsythe zit. nach Schulze 1999: 224)15 Zum Beispiel arbeitet er mit Trance-Zuständen16, in denen die bewusste Bewegungskontrolle ausgeschaltet ist. Auf diese Weise können die Tänzer „sehr gefährliche Dinge tun“ (Forsythe/Odenthal 1994: 36), ohne sich

13 Das „tacit knowing“ ist zu unterscheiden vom sogenannten expliziten oder propositionalen Wissen (knowledge). 14 Wie schwierig es ist, automatisierte motorische Tätigkeiten zu verlernen bzw. zu vergessen, kann man eindrücklich bei Versuchen mit dem sogenannten Inversions-Fahrrad erleben. Dabei handelt es sich um ein Fahrrad, das nach links fährt, wenn man nach rechts lenkt, und rückwärts fährt, wenn man vorwärts in die Pedale tritt. Als Teil einer Probandengruppe war ich >SaS@ nach einigen Wochen geneigt, mein ‚normales‘ Fahrrad ‚falsch‘ zu lenken. Vgl. hierzu die Ergebnisse der Untersuchungen in Seiler (1995). 15 Zu weiteren Strategien der Irritation („Verschiebungsmethoden“) bei Forsythe vgl. Schulze (1997: 223ff.). 16 Vgl. seine Choreographie The Loss of Small Detail (1991). 72

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zu verletzen. Eine weitere Technik ist die des disfocus17, bei der die Tänzer versuchen sollen, „to look at the back of your head from the inside“ (Forsythe/ Siegmund 1999: 16). Indem die Tänzer ihre Wahrnehmung vom äußeren Raum nach innen verlagern, geben sie ihre gewohnte Orientierung auf. Denn der klassisch ausgebildete Tänzer hat gelernt, seine vertikale Achse und damit letztlich seine Balance durch die Fokussierung eines vor ihm im Raum liegenden Punkts zu erhalten. Damit verliert er bis zu einem gewissen Grad die Kontrolle über den Raum und die Raumrichtung, die er gewohnt ist, über den Blick herzustellen. Eine weitere Technik, um die Bewegungsmöglichkeiten zu erweitern, sind die „anatomical exercises“. Hier nutzt Forsythe die Vorstellungskraft des Tänzers und lässt ihn den Körper gedanklich zerlegen und mit einzelnen Körperteilen arbeiten. Diese Vorstellungen beeinflussen insbesondere die Qualität der Bewegungsausführung; je nach fokussiertem Körperteil kommt eine andere Assoziation und Bewegungsqualität ins Spiel: „Die Vorstellung eines Tänzers, er halte sein Herz in den Händen, kann dazu führen, daß alle Bewegungen, die er nun ausführt, behutsamer in der Qualität ihrer Motorik werden.“ (Schulze 1999: 237)

Körper als Movens William Forsythe nutzt den physikalisch-physiologischen Körper auf unterschiedliche Weise als Mittel zur Bewegungsfindung und -komposition: indem er, wie oben beschrieben, Vorstellungsbilder einsetzt, die sich auf den Körper beziehen; oder indem er den Körper durch Verschraubungen oder Ähnliches in Spannungszustände versetzt und den durch die Lösung der Spannung entstehenden Schwung für die Bewegungsfortsetzung nutzt. Hier greift er auf eine Entwicklung der späten 1960er bis 1980er Jahre zurück: Beeinflusst durch asiatische und südamerikanische Bewegungsformen wie Yoga, Aikido, Tai Chi Chu´an und Capoeira sowie durch Formen der Körperarbeit wie Alignment (Ausrichtung) und Release (Entspannung) findet eine Umorientierung in der Betrachtung des Körpers statt. In den entstandenen Bewegungstechniken werden sowohl der physiologische Körper, das heißt das Zusammenspiel von Skelett, Muskulatur und Reflexen, als auch der physikalische Körper, Schwerkraft, Impuls und Momentum, zum Ausgangspunkt der Bewegungsrecherche (vgl. Brinkmann 1990: 9). Diese Gesetzmäßigkeiten der Physik und Physiologie gelten nicht mehr wie insbesondere im klassischen Ballett als zu überwindende körperliche Beschränkungen, sondern als Möglichkeit, den muskulären Kraftaufwand für die Bewegungen zu minimieren, indem diese Gesetzmäßigkeiten bewusst genutzt und eingesetzt werden. Hintergrund ist die Tatsache, dass der Körper aufgrund seines Ge17 Vgl. ebd.: Ausführlich beschreibt diese Technik die Forsythe-Tänzerin Dana Caspersen (2004). 73

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wichts den physikalischen Gesetzen der Schwer- und Trägheitskräfte unterworfen ist, den „ultimate realities of physical laws – gravity, momentum, inertia“18 (Emily Ransom zit. nach Novack 1990: 180). Sie wirken im Sinne der Aufrechterhaltung des Bewegungszustands des Körpers und müssen, um eine Zustandsänderung zu erreichen, mit Hilfe der Muskelkraft überwunden werden. Entsprechend dieser zwei Antriebskräfte, Schwer- und Muskelkraft, lassen sich zwei Arten der Körperbewegung unterscheiden: Entweder kommt die Bewegungsenergie von außen und setzt den Körper in Bewegung (passive Bewegung) oder der Körper setzt sich aus eigener Kraft in Bewegung (aktive Bewegung). Der Tänzer bewegt sich also immer in Bezug auf die Schwerkraft: zwischen der Arbeit gegen sie und dem entspannten Nachgeben. Wie Forsythe die physikalischen Gesetzmäßigkeiten der Schwer- und Fliehkraft19 für seine Arbeit nutzt, wird am Beispiel des inszenierten Gleichgewichtsverlusts deutlich: Seine Choreographien spielen mit Gleichgewicht und Schwerkraft in einer spannungsreichen Gratwanderung zwischen Balance und Fall. Indem er die Tänzer ihren Körperschwerpunkt aus der Körpermitte verschieben lässt, bringt er sie absichtsvoll in eine Situation, auf die sie blitzschnell reagieren müssen: Wenn der Körper ins Ungleichgewicht gerät, muss der Tänzer reagieren, um eine Verletzung zu vermeiden. Die Tänzer überlassen ihren Körper in diesen Momenten der Gleichgewichtsstörung der Schwerkraft. Dank ihrer Technik und Erfahrung gelingt es ihnen, die Fallbewegung, den nicht vorgetäuschten, sondern tatsächlichen Verlust der Körperachse, im letzten Moment virtuos abzufangen und in die gewünschte Richtung umzuleiten, so dass sie sich nicht verletzen. Auf diese Weise können sie das Energiepotenzial zur mühelosen Beschleunigung nutzen und sich mit geringem Kraftaufwand bewegen. Die Bewegung entgleitet dem Tänzer also nicht vollkommen, sondern er öffnet durchaus kontrolliert und berechnet für einen Moment einen Möglichkeitsraum, in dem die Bewegung aus der intentionalen Bewegungsführung ausbrechen kann. Dieser Raum ist begrenzt und definiert, während das, was in diesem Raum geschieht, nicht oder zumindest nur teilweise der rationalen Entscheidung und dem Willen unterliegt. Der willentliche und intentionale Akt des Entspannens bestimmter Muskelpartien zum Beispiel ermöglicht es, 18 Schwerkraft ist die auf einen materiellen Körper wirkende massenabhängige Kraft, die aus der Gravitationskraft und der von der Rotation des Himmelskörpers herrührenden Zentrifugalkraft resultiert. Die Trägheit (inertia) ist der Widerstand eines Körpers gegen die Änderung der Bewegungsgeschwindigkeit oder Richtung der Bewegung; sie ist proportional zu seiner Masse. 19 Die Fliehkraft resultiert aus der Trägheit der Körper und hält einen rotierenden Körper auf seiner Kreisbahn. Es gibt zwei Fliehkräfte, die in entgegengesetzte Richtungen wirken: Die Zentrifugalkraft wirkt vom Drehmittelpunkt radial nach außen, die Zentripetalkraft nach innen. 74

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dass sich Bewegungen jenseits willentlicher Kontrolle entfalten, indem die Bewegungsfortführung der Schwerkraft folgt. Der Körper ist in diesen Momenten nicht mehr Instrument einer willentlichen Entscheidung, sondern gehorcht seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten, und die Bewegung verselbstständigt sich. Auf diese Weise begeben sich die Tänzer bewusst und geplant in eine Situation, innerhalb derer ihre Körper vorreflexiv und eigenständig reagieren (müssen). Im besten Falle, so Forsythe, wagt sich der Tänzer in Situationen, deren Ausgang er nicht vorhersagen kann: „For me, that would be truly successful dance, because then the body would take over and dance at that point where you had no more idea.“ (Forsythe/Haffner 1999: 24/26) Forsythe setzt den Körper Situationen aus, in denen die vorbewusste Automatik der Reproduktion bekannter und gelernter Bewegungen be- oder gar verhindert wird, so dass Reaktionen des Körpers möglich bzw. notwendig werden, die über die mechanische Reproduktion von gelernten Bewegungsmustern hinausgehen: Er nutzt die ‚körperliche Intelligenz‘ der Tänzer. Indem sie im Spiel mit dem Risiko des Gleichgewichtsverlusts den Sturz immer wieder abzufangen vermögen, zeigen sie, dass sie sich auf diese Bewegungsintelligenz ihrer Körper selbst in derart risikoreichen Momenten verlassen können.

Bewegungsintelligenz Die Idee, dass der Körper einen Sinn besitzt, der über die bloße Reproduktion von Bekanntem hinaus geht, findet sich schon 1937 bei Mabel Todd, die den Körper als „empfindsame[s] Instrument“ beschrieb, das „zu Fähigkeiten imstande ist, die weit über das hinausgehen, was Vernunft und bewusste Kontrolle bewerkstelligen können. Die neuromuskulären Teile von Skelett und Organen reagieren auf Grund eines gesammelten gemeinsamen Wissens, das permanent erweitert wird und dabei ständig von Gefühl und Verstand überprüft wird.“ (Todd 2001: 17) Die oben bereits erwähnten Bewegungstechniken und Strömungen waren stark von asiatischen Körperkonzepten des Zen Buddhismus und entsprechenden Bewegungstechniken wie Aikido oder Tai Chi Chu’an beeinflusst, die den Körper „as responsive and intelligent, acting best and most correctly with the least amount of conscious will or intention possible“ (Novack 1990: 184) verstanden. Die Tanztechniken übernahmen diese Vorstellung eines „responsive body“ (ebd.: 186ff.), eines „antwortenden Körper[s], der selbst Verantwortung übernimmt und instinktiv reagiert (responsibility = response-ability)“ (Kaltenbrunner 1998: 56). Sie gehen davon aus, dass der „menschliche Körper […] über eine eigene Bewegungsintelligenz [verfügt]: er kann eigenständig reagieren, verfügt über instinktive Reflexe und funktioniert daher am besten mit möglichst wenig Willensanstrengung“ (ebd.: 55; Herv. im Orig.). Auf diese Weise wird dem Körper 75

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eine eigene Entscheidungsfähigkeit und Verantwortlichkeit zugesprochen. Er besitzt die Fähigkeit zur Aktion und Reaktion auf Einflüsse seiner Umgebung. Spätestens mit William Forsythes Bewegungsforschung wurde allerdings offensichtlich, dass auch der „responsive body“ erworben und damit zwangsläufig historisch und kulturell beeinflusst ist. Er darf also nicht als letztes Residuum von Ursprünglichkeit und Authentizität verstanden und auf diese Weise gegen den Verstand ausgespielt werden; vielmehr gilt es, körperliche und geistige Intelligenz als komplementär zu begreifen. In diesem Sinne spricht Susan Leigh Foster von einer „theory of bodily agency“, um einen Körper beschreiben zu können, der „initiates, creates, and probes playfully its own physical and semantic potential. The thinking and creating body engages in action. [...] This body, instigatory as well as responsive, grounds the development of consciousness as a hyperawareness of relationalities.“ (Foster 2003: 8) Diese Fähigkeit des Körpers, „eine sinnhafte Antwort auf eine Situation [zu] finde[n]“ (Barkhaus 2001: 44), bezeichnet Annette Barkhaus als „Eigensinn des Körpers“. Sie betont mit diesem Konzept den „vorreflexiven Bezug des Körpers auf eine Situation“ (ebd.: 46; Herv. weggel.), bei dem es sich nicht um bloße Automatismen, um Reflexe, handelt, sondern – wie sich in der Wahl des Begriffes „Eigensinn“ andeutet – um sinnstiftendes Verhalten.20 Pierre Bourdieu hat hierfür den Begriff des praktischen Sinns „als Natur gewordene, in motorische Schemata und automatische Körperreaktionen verwandelte Notwendigkeit“ geprägt: er „[leitet] ‚Entscheidungen‘‚ die zwar nicht überlegt, doch durchaus systematisch, und zwar nicht zweckgerichtet sind, aber rückblickend durchaus zweckmäßig erscheinen.“ (Bourdieu 1997: 127, 122) Bourdieus folgende Ausführungen liegen auch unserem Verständnis des impliziten Körperwissens zugrunde: „Nie abgelöst von dem Leib, der es trägt, kann dieses Wissen nur um den Preis einer Art Leibesübung wiedergegeben werden, die es abrufen soll.“ (ebd.: 135) Als Beispiele für derart sinnvolle Praktiken führt er unter anderem aus dem Feld des Sports den sprichwörtlichen „Sinn für das Spiel“ (ebd.: 122) an und spricht davon, dass „Arme und Beine [...] voller verborgener Imperative [seien]“ (ebd.: 128). Zum Sinn für das Spiel führt Bourdieu aus: „Als Ergebnis der Spielerfahrung, also der objektiven Strukturen des Spielraums, sorgt der Sinn für das Spiel da20 Bei aller Betonung des Aktivitätspotenzials des Körpers gehe es jedoch, so Barkhaus, nicht darum, „dem Körper eine Art Subjekt- oder Akteursrolle mit einer höheren Rationalität zuzuschreiben. Die Wahl des Begriffs Eigensinn zielt zwar darauf, den Körper als eigene Sphäre im menschlichen Handeln und Erleben anzuerkennen, versucht jedoch zugleich, auf den Anschluss an die traditionellen Attribute der Akteursposition zu verzichten und dem Körper nicht eine höhere Vernunft oder größere Authentizität zuzuschreiben.“ (Barkhaus 2001: 41) 76

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für, dass dieses für die Spieler subjektiven Sinn, d.h. Bedeutung und Daseinsgrund, aber auch Richtung, Orientierung, Zukunft bekommt.“ (Ebd.: 122)21

Bedeutung körperlicher Kompetenzen für die Rezeption von Körperbewegungen Nachdem wir uns bis hierhin über das Körperwissen derjenigen, welche die Bewegung ausführen, verständigt haben, soll nun der Blick auf diejenigen gerichtet sein, welche die Bewegungen wahrnehmen. Das sind all diejenigen, die sich Darbietungen des Tanzes und des Turnens anschauen, sie verbalisieren, deuten und/oder analysieren. Es müssen nicht alle der genannten Schritte vollzogen werden; entsprechend sind Zuschauer ebenso gemeint wie Trainer oder Wissenschaftlerinnen, die das Wahrgenommene mit verschiedenen Zielsetzungen bewerten, einordnen und weiterverwenden.

Bewegungswahrnehmung II Nicht nur bei der Produktion, sondern auch bei der Rezeption von Bewegung wird die Bewegungswahrnehmung wesentlich durch eigenes Körperwissen beeinflusst. Auch bei der Wahrnehmung von Körperbewegungen anderer Menschen handelt es sich um eine der kinästhetischen analoge Form der Wahrnehmung: Wenn wir sehen, wie sich ein menschlicher Körper bewegt, nehmen wir diese Bewegung wahr als eine, die auch unser Körper potenziell ausführen könnte, und vollziehen die Bewegung in diesem Sinne körperlich mit, ohne sie selbst tatsächlich auszuführen.22 Das bedeutet zwar nicht, dass wir die Bewegungen auch tatsächlich selbst ausführen können müssten, um in der Lage zu sein, sie mitzuvollziehen; dennoch hat es einen Einfluss auf unsere Wahrnehmung, ob wir zumindest prinzipiell mit der Ausführung der Be21 Ein Beispiel für diesen Sinn und für die spezifische Zeit der Praxis, die Bourdieu von der Zeit der Wissenschaft abgrenzt, zeigt sich, wenn der Spieler „>...@ sich nicht auf das ein>stellt@, was er sieht, sondern auf das, was er vorhersieht, was er in der unmittelbar wahrgenommenen Gegenwart bereits vorausblickend erfasst, indem er nämlich den Ball nicht dorthin abgibt, wo sich sein Mittelstürmer gerade befindet, sondern an den Punkt, den dieser – vor dem ihn deckenden gegnerischen Verteidiger – sogleich erreichen wird“ (ebd.: 150). 22 Allerdings ist z.B. bei Turnwettkämpfen immer wieder zu beobachten, dass der betreuende Trainer oder (seltener) auch Zuschauer bestimmte Bewegungen körperlich mitvollziehen, so z.B. ein kreisendes Vor- und Rückbeugen des Oberkörpers und besonders des Kopfes bei der nachvollziehenden Betrachtung von Riesenfelgen am Barren oder Reck. Dieses Phänomen, dass die Vorstellung oder Wahrnehmung von Bewegungen in der Muskulatur Tonusveränderungen auslöst, die unwillentlich zum ansatzweisen oder sogar vollständigen Mitvollzug beziehungsweise zur Nachahmung der Bewegung führen können, beschrieb William B. Carpenter bereits 1874 in seinen Principles of Mental Physiology als „ideomotorische Bewegung“. 77

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wegungen vertraut sind, das heißt, ob wir die entsprechende körperliche Kompetenz besitzen. Obgleich wir die Bewegung nicht selbst ausführen, empfinden wir sie bis zu einem gewissen Grad mit. Diese Affizierung des Zuschauers durch das Tanzgeschehen wurde von John J. Martin (1893–1985) als „Metakinese“ bezeichnet: „There is a kinesthetic response in the body of the spectator which to some extent reproduces in him the experience of the dancer.“ (Martin 1972: 48) Martin nahm an, dass der Zuschauer die Bewegungen des Tänzers auf der Bühne in ähnlicher Weise wahrnimmt wie seine eigenen Bewegungen und sie entsprechend „through kinesthetic sympathy“ (ebd.: 23) mitvollzieht. Um dieses Phänomen der Vermittlung zu erklären, hatte Martin Ergebnisse der physiologischen und psychologischen Forschung zur Kinästhesie (Bewegungsempfindung) aufgenommen und auf die Wahrnehmung von Tanz übertragen.23 Dass wir auf wahrgenommene Fremdbewegung gleichsam mimetisch reagieren, besagt allerdings noch nichts darüber, wie wir die Fremdbewegung erleben; es ist vielmehr die Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt einen Zugang zu ihr gewinnen. Das konkrete Erleben ist verschieden, es hängt von unterschiedlichen Vorerfahrungen ab, die beispielsweise für den Zuschauer bedingen, welchen ‚Sinn‘ die Bewegungen für ihn tragen.

Kulturelle Bedingtheit des Sinns Auf diese Weise verknüpft sich der Sinn für Bewegung mit dem Sinn von Bewegung. Ersterer kann auch als Wahrnehmungssinn bezeichnet werden, der den Zuschauer in die Lage versetzt, die Körperbewegung in ihrer Dynamik mitzuvollziehen. Zweiterer ist eine spezifische Form von Sinn, die sich dem Zuschauer in der Körperbewegung zeigt.24 Für Körperbewegungen im Tanz 23 Der Übertragung neurowissenschaftlicher Forschungsergebnisse widmet sich auch Ivar Hagendoorn. Er beschreibt das Phänomen des empathischen Mitvollzugs von Fremdbewegungen als „motorische Einbildungskraft“, die auf neuronaler Ebene in den sogenannten Spiegelneuronen begründet liege: Sie verbinden die Wahrnehmung von Bewegungen und Handlungen mit ihrer Bedeutung im Sinne des Effekts dieser Bewegung beziehungsweise Handlung. Das führe dazu, dass bei der Beobachtung einer Bewegung dieselben Neuronen aktiviert werden wie bei der Ausführung der Bewegung. Allerdings werde die motorische Aktivität blockiert, so dass der Wahrnehmende die Bewegung nicht auch tatsächlich ausführe. Auf diese Weise vermittelt sich dem Wahrnehmenden die Empfindung der Bewegung, ohne dass er sich selbst bewegt (vgl. Hagendoorn 2002: 431f.). Daraus leitet Hagendoorn die Hypothese ab, dass „der Zuschauer (im Gehirn) virtuell mittanzt“ (ebd.: 439). 24 Für diesen Sinn von Körperbewegungen im Tanz und Sport gilt, was Matthias Vogel in Bezug auf die Bedeutung von Musik sagt: „Gleichwohl reden wir vom Verstehen von Musikstücken. Wenn wir ein Musikstück verstehen, dann wird 78

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und im Sport gilt, was allgemein für jede Wahrnehmung gilt: Alles Wahrgenommene ist sinnhaft, weil die menschliche Wahrnehmung immer schon darauf zielt, durch die Strukturierung des Wahrnehmungsmaterials Sinn zu stiften. Sinngenerierung ist damit die Bedingung der Möglichkeit von Wahrnehmung, und entsprechend ist Wahrgenommenes schon immer sinnhaft, „die sinnhafte Organisation gehört zu seinem Wesen, wird nicht erst nachträglich in ihm eingeführt“ (Strauss 1984: 29). Der Sinn einer Bewegung ist jedoch möglicherweise nicht begrifflich fassbar. So legt Elk Franke nahe, dass es „konkrete Erfahrungsmöglichkeiten gibt, die nicht erst durch eine begriffliche Einordnung ‚sinnvoll‘ werden und einen Bedeutungsgehalt erhalten [...]. Nach dieser Vermutung könnte es durchaus sein, daß Bewegungen zwar erfahrbar, aber nicht darstellbar sind, da die Darstellung einschließlich unserer gedanklichen Vorstellung immer ein räumlicher Vorgang ist, woraus folgt: eine ‚Philosophie der Veränderung‘ setzt eine Umkehrung der Aufmerksamkeit von Wahrnehmung und Darstellung voraus.“ (Franke 2001: 313) Der Bewegungssinn als bewegungsspezifische Form der Bedeutung ist untrennbar mit Vorstellungen, Traditionen und Geschichten der Bewegung verknüpft, das heißt letztlich auch mit dem sogenannten semantischen Wissen der rationalen Vernunft. Dabei sind das Wissen des Körpers, hier der Bewegungssinn, und das rationale Wissen über den Körper nicht voneinander trennbar. So ist zum Beispiel im modernen Tanz das Anspielen auf das klassische Ballett in den Überschreitungen der dort gültigen Regeln nur wahrnehmbar, wenn man diese (er-)kennt. Ebenso setzt das Wahrnehmen einer originellen, nie geturnten Verbindung von Elementen voraus, dass der Zuschauer darum weiß, dass diese Verbindung zuvor noch nicht gezeigt worden ist. Deutlicher wird diese, für die Wahrnehmung der Bewegung entscheidende Form des Körperwissens, wenn man Fehler betrachtet. Hier gilt, was Stephen Davies für den kompetenten Hörer von Musik formuliert: „Gewöhnlich können Hörer Aufführungsfehler als solche erkennen, und oft wissen sie, was stattdessen hätte gespielt werden sollen. Sie erfahren die Musik als ‚logische‘ Entwicklung, innerhalb deren Vorangegangenes Nachfolgendes rechtfertigt oder als angemessen erscheinen läßt.“ (Davies 2007: 31) Ganz ähnlich verhält es sich im Sport, zumindest in den technisch-kompositorischen Sportarten: Sieht die Zuschauerin zum Beispiel innerhalb eines WM-Finales in einer Barrenübung die Elementefolge Paksalto – Kippe – Handstand – Kippe – Handstand mit halber Längsachsendrehung – freie Felge mit Abhechten zum oberen Holm, dann kann sie einen Fehler bemerken. Wenn es sich um eine Zuschauerin ohne Fachwissen handelt, würde sie eine solche Elementefolge vielleicht als „nicht stimmig“ oder den Übungsverlauf als „nicht rund“ beuns ein Sinn zugänglich, den wir nicht angeben, anderen aber zugänglich machen können.“ (Vogel 2007: 334) 79

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schreiben, ohne dies argumentativ weiter begründen zu können. Ihre Seherfahrung vermittelt ihr den Eindruck, dass hier etwas nicht stimmt – ohne dass sie dieses Wissen explizieren könnte. Die kompetente Zuschauerin könnte in der doppelt ausgeführten Kombination Kippe – Handstand einen Fehler identifizieren, denn die „‚logische‘ Entwicklung“ einer Barrenübung besagt heutzutage, dass diese Elemente nicht zwei Mal hintereinander gezeigt werden dürfen.25 Es gibt daher ein explizites, rational-semantisches Wissen über die Wettkampfregeln, aus dem heraus dieser Fehler erkennbar ist. Es bedarf also – und dies ist in unserem Zusammenhang interessant – nicht unbedingt detaillierter Kenntnisse der Schwierigkeitselemente und Wertungsvorschriften, um einen Fehler zu erkennen. Gleichwohl gewinnt die Wahrnehmung durch derlei Kenntnisse, da der Eindruck der Unstimmigkeit der Übung zudem noch erlaubt, den Fehler konkret zu benennen. Dieses Beispiel weist nicht zuletzt darauf hin, dass die Wahrnehmung eines Fehlers kulturell und historisch bedingt ist, denn es sind die aktuellen Wertungsvorschriften und die Verortung im Bereich der Weltelite des Turnens, welche diese Kombination zu einem Fehler machen. Die kulturelle Bedingtheit des ‚Sinns‘ von Bewegungen wird besonders dann offenbar, wenn man diese in verschiedenen Perspektiven betrachtet: So kann zum Beispiel die Bewegung des Salto vorwärts, also eine 360-GradDrehung des Körpers um seine eigene Breitenachse, vielerlei ‚Sinn‘ erhalten. Drei Varianten seien hier skizziert: Erstens die Bewegung in der Sportart Kunstturnen, deren Wertungsvorschriften festhalten, dass der Salto am Boden (in gehockter oder gebückter Ausführung) in der Gruppe der Salti vorwärts und seitwärts das Element mit der Nummer 4.101, Schwierigkeitsstufe A, Wert 0,1 Punkte, ist. Die Ausführung eines solchen Saltos innerhalb einer Bodenübung hat zum Beispiel den ‚Sinn‘, eine der fünf Elementgruppen-Anforderungen zu erfüllen oder in der direkten akrobatischen Verbindung Doppelsalto rückwärts gestreckt – Salto vorwärts Punkte für den Verbindungswert zu erhalten. Zweitens die Bewegung des Saltos vorwärts in anderen Sportarten, deren Regelwerke ihn nicht vorsehen. Trotzdem erschließt sich auch innerhalb dieser Sportart ‚Sinn‘: Häufig erleben wir den Salto während eines Fußballspiels; er bedeutet hier die Freude über das soeben erzielte Tor, es ist

25 Zur Erläuterung: Den aktuellen Wertungsvorschriften zufolge sind die genannten Elemente solche niedrigster Schwierigkeit (Schwierigkeitswert A gleichbedeutend mit 0,1 Punkten), womit sie für den Schwierigkeitswert der Gesamtübung (A-Note), die sich aus den neun schwierigsten Elementen der Übung plus dem Abgang zusammensetzt, faktisch keine Rolle spielen. Sie sind lediglich als Verbindungselemente (zum Beispiel für den Richtungswechsel am Holm) innerhalb der Komposition der Übung notwendig. Vgl. Fédération Internationale de Gymnastique 2006, Art. 5 und Art. 9. 80

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ein „Freudensalto“.26 Drittens – und diese bislang wenig beachtete Perspektive sei hier besonders hervorgehoben – die Bewegung des Saltos vorwärts betrachtet auf einer historisch-anthropologischen sowie kulturhistorischen Folie, welche die sportlichen Rahmenbedingungen ignoriert. In dieser letzten Perspektive lassen sich in den drei Phasen der Bewegung drei Motive skizzieren, die kulturhistorisch äußerst traditionsreich sind. Die erste Phase der Bewegung ist der Absprung: Der gesamte Körper streckt sich darin nach vorwärts-aufwärts; zuletzt verlassen die Fußspitzen den Boden, der Körper hebt ab in die Luft, gen Himmel. In dem Aufstieg, der sogenannten Steigphase des Saltos, tritt das Unmögliche für einen Moment ein: Der Körper scheint zu fliegen. Das (menschliche) Fliegen ist in Form von Flugmärchen und Träumen bereits in den Hochkulturen Chinas, Mexikos und Altägyptens nachgewiesen, der griechischen Antike galt es als Eigenschaft und Privileg der Götter, und aus dem europäischen Mittelalter sind erste (gescheiterte) Flugversuche überliefert.27 In der Renaissance, die sich hauptsächlich auf den homerischen Mythos von Daidalos und Ikaros bezieht, beschäftigt sich Leonardo da Vinci in seinem „Codice sul volo degli uccelli“ eingehend mit dem Vogelflug und den Möglichkeiten des menschlichen Fluges; immer wieder werden vogelähnliche Flügel als technische Hilfsmittel für den Menschen konstruiert und verschiedenste Versuche unternommen, den Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Wie im daidalisch-ikarischen Mythos und der altchristlichen Legende gehören der Flug und der Sturz zusammen, der „Fliegende bewegt sich in der Vertikalen: zwischen Himmel und Abgrund“ (Macho 2003: 313). Der Sturz ist es denn auch, der sich in der zweiten Phase des Saltos andeutet. Am höchsten Punkt des Aufstiegs leiten die Arme und der Kopf die Rotation ein, anstatt flugähnlich aufwärts führt die Bewegung nun direkt kopfüber auf den Boden zu. Für den Beobachter ist dies der zentrale Moment, entscheidet sich doch hier, ob der Flug in den Sturz mündet oder nicht. Das Kopfüber-Stürzen hat wie der Flug eine lange mythologische Geschichte: Die Abwärtsbewegung des Kopfes symbolisierte in altägyptischer und vorhellenischer Zeit den Tod, wurde im Christentum als pathologische Bewegung jener, die dem Jenseits, also der Welt der Hölle, nahestanden, interpretiert und widersprach im Humanismus und der Renaissance den philosophischen Begründungen der Sonderstellung des Menschen in der Welt. Diese leitet nämlich, beispielhaft in den Entwürfen von Pico della Mirandola und Giannozzo Manetti, aus der aufrechten Haltung des Menschen den „sichtba26 So benannt in der Bildunterschrift der Süddeutschen Zeitung neben einem Photo von Miroslav Klose, das ihn kopfüber in der Luft zeigt (vgl. SZ 21.06.2006, S. 1). 27 Zur Geschichte des Fliegens vgl. Behringer/Ott-Koptschalijski (1991) und Gehring (2002). 81

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ren Ausdruck seiner Verbindung zum Himmel“ (Manetti 1990: 93) und daraus die Gottähnlichkeit des Menschen ab.28 Die Bewegung des ‚Kopfüberns‘ versetzt den Zuschauer in Erstaunen, sie birgt Gefahr und provoziert insofern Irritation, als sie die gewohnten Raumkoordinaten von Oben und Unten, von Himmel und Hölle, Gott und Teufel, auf den Kopf stellt. Zahlreiche Bezüge auf dieses Motiv bieten in der Literatur und in der Bildenden Kunst seit Jahrhunderten Folien für die Interpretation der Bewegung, welche den Sturz andeutet.29 Die dritte Phase des Saltos ist die Landung: In der vollendeten Breitenachsendrehung lösen sich Flug und Sturz auf, die Bewegung führt zurück auf die Füße, in genau jene Position, die auch ihr Ausgangspunkt war. In dieser letzten Phase können zwei Momente differenziert werden: Zum einen wird die zuvor umgekehrte Ordnung des Oben und Unten re-etabliert, der Mensch wird sozusagen in der kontinuierlichen Bewegung wieder vom Kopf auf die Füße gestellt. Zum anderen gilt es, die Form der Bewegung, das heißt die Form, die der Körper in die Luft ‚gezeichnet‘ hat, zu beachten: Es ist die Form eines Kreises, des wichtigsten geometrischen Symbols. Es steht über Jahrhunderte in der Tradition Platons für das Universum, die Erdkugel, den Sternenhimmel, allgemeiner formuliert für Einheit und Harmonie, für die Perfektion der Welt.30 In der Renaissance war in Anlehnung an antike Konzeptionen die Bewegung des Kreises den Himmelskörpern vorbehalten. Zuerst war es der höfische Tanz, der diese Bewegungen in seinen (Längsachsen-) Drehungen imitierte. Der Vollzug der Kreisform in einer Bewegung um die Breitenachse des Körpers hingegen wird noch bis Ende des 16. Jahrhunderts als eine Bewegung, die nur mit Hilfe „einer diabolischen Kunst“ (Tuccaro 1599: Êpistre) möglich wird, beschrieben. In der hier angerissenen kulturhistorischen Analyse der Motive von Flug, Sturz und Kreis zeigt sich ein dritter ‚Sinn‘, den der Salto für den Zuschauer erhalten kann. Die skizzierten Beispiele zeigen, dass sich dem Zuschauer im Sport und auch im Tanz ein ‚Sinn‘ erschließen kann, ohne dass er über explizites Detailwissen der Sportart oder des Tanzes verfügt. Geht man nun davon aus, dass es neben dem technischen Verstehen der Bewegung auch ein affektives Verstehen gibt, gilt es im Anschluss an unsere Skizze des Körperwissens und die verschiedenen ‚Sinn‘-Dimensionen die Frage nach der Faszination zu klären, die von tänzerischen und turnerischen Bewegungen für den Zuschauer aus28 Zur Geschichte der Abwärtsbewegung des Körpers vgl. besonders Deonna (1953). 29 Für die Kunst vgl. z.B. Traeger (2004). 30 Vgl. hierzu z.B. Poulet (1961). Nicht zufällig steht in der Symbolschrift der Sportart Kunstturnen, mit der Kampfrichter eine Übung mitschreiben, der Kreis für die Drehung. 82

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geht. Für das Feld des Sports hat sich unter anderem Hans Ulrich Gumbrecht diese Frage gestellt und den Aspekt der Präsenz hervorgehoben. Gumbrecht konstatiert, dass das Faszinierende „zu einer Phänomen-Dimension >gehört@, die zwischen dem Ereignis und der Bildung des Geschmacksurteils liegt. Die Gegenstände ästhetischen Erlebens sind Körperbewegungen in der unterschiedlichen Wahrnehmung und Beurteilung durch die Zuschauer.“ (Gumbrecht 2005: 98) Anschließend benennt Gumbrecht „sechs Faszinationen“: „schöne Körper vorführen, dem Tod ins Auge sehen, Anmut und Eleganz zeigen, die Möglichkeiten des Körpers erweitern, vorgegebene Formen verwirklichen, Epiphanien der Form produzieren“ (ebd.: 101). Abgesehen davon, dass diese Liste um weitere Beispiele ergänzt werden könnte, stellt sie Körperbewegungen im Sinne von Handlungen ins Zentrum. Das heißt, dass sie auch für Bewegungen jenseits sportlicher Wettkämpfe gelten kann.

Schluss: Zusammenfassung und Ausblick „Denn über Tanz zu sprechen heißt immer auch, ein spezifisches Verhältnis von Logos und Soma zu verhandeln; es heißt, in einer wortgeprägten Kultur die Fähigkeit zu verteidigen, andere, möglicherweise angemessenere Wege der Verständigung zu suchen und zu entwickeln.“ (Cramer 2005: 80)

Für den Begriff des Körperwissens schlagen wir abschließend folgende Definition vor: Körperwissen umfasst das Wissen des Körpers und das Wissen über den Körper, das heißt einerseits das bewusste Wissen über den Körper, das wortsprachlich einsetzbar ist, und andererseits das Wissen des Körpers, welches als implizites Wissen in der Regel nicht oder nur unzureichend verbalisiert werden kann. Diese beiden Anteile greifen grundsätzlich ineinander und sind demzufolge nicht klar zu differenzieren. Das heißt, auch die oben ausgeführten Parameter Bewegungswahrnehmung, -gedächtnis, -intelligenz und -sinn setzen sich immer aus dem Wissen des Körpers und dem Wissen über den Körper zusammen. Das Körperwissen ist historisch und kulturell bedingt, es ist kein ‚ursprüngliches‘ oder ‚authentisches‘ Wissen. Es basiert nicht auf der Annahme von anthropologischen Konstanten, sondern ist erlernbar und objektivierbar, was gleichwohl nicht bedeutet, dass es im Einzelfall immer wortsprachlich vermittelt werden kann. Für die Produktion und Rezeption von Bewegungen gilt im Grundsatz, dass einerseits das bewusste Wissen über den Körper einsetzbar ist, um diesen als Instrument zu nutzen bzw. das Geschehen nach bestimmten Parametern (zum Beispiel den Positionen des klassischen Balletts oder dem Regelwerk der Sportart) einzuordnen. Andererseits ermöglicht es das Wissen des Kör83

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pers, sich eigenmächtig situationsangemessen zu bewegen bzw. visuell wahrgenommene Bewegungen so mitzuerleben, als ob er sie selbst ausführte. Die wahrgenommene Bewegung wird dann folglich als explizit zeitlichdynamische und nicht als primär räumliche Struktur, das heißt als Abfolge von statischen Positionen, begriffen. Produktion und Rezeption von Bewegungen setzen daher Bewegungserfahrungen voraus, die sowohl durch eigene Praxis als auch durch Beobachtung von Bewegungen anderer erworben werden können, und die den Eindruck eines sinnvollen Geschehens begründen. Es ist dieses körperliche Erfahrungswissen, also das inkorporierte Wissen, das entscheidend bestimmt, wie sich der je spezifische Körper in einer konkreten Situation bewegen kann bzw. wie die Beobachterin eine bestimmte Situation wahrnimmt. Es beinhaltet auch und vor allem die Fähigkeit, vorreflexiv auf eine Situation zu reagieren bzw. in der Wahrnehmung körperliche Erfahrungen zu machen, die nicht verbalisierbar, aber dennoch sinnvoll sind. Unsere Ausführungen zu tänzerischen und turnerischen Körperbewegungen haben gezeigt, dass der Körper bei deren Ausführung und Beobachtung nicht nur als Objekt und Instrument des Willens zu verstehen ist, sondern durchaus eigensinnig agiert. Zugleich setzt die Analyse und Deutung dieser Körperbewegungen eine körperliche Kompetenz auch derjenigen voraus, die sich ihr reflektierend widmet. Damit reicht es auch in der Wissenschaft nicht aus, den menschlichen Körper nur als ein Untersuchungsobjekt unter anderen zu behandeln. Vielmehr plädieren wir dafür, ihn als ein Subjekt mit einer eigenen Vernunft bzw. Klugheit zu verstehen, die sowohl verstanden werden will als auch selbst in den Verstehensprozess hineinspielt. Entsprechend bedarf es auch beim wissenschaftlichen Umgang mit Körperbewegungen nicht nur einer rational fundierten Bewegungskompetenz, sondern vielmehr des Zusammenspiels von rational-semantischen und senso-motorischen, das heißt körperlichen Kompetenzen. Dieses Zusammenspiel von praktischem Bewegungssinn und theoretischer Reflexion überwindet die Cartesianische Dichotomie von Körper und Geist und verweist auf ein Konzept, das beide nicht gegeneinander ausspielt, sondern von ihrer gegenseitigen Bereicherung überzeugt ist. Bewegung als Untersuchungsgegenstand bereitet der traditionellen wissenschaftlichen Vernunft durch zwei Eigenarten besondere Probleme: (a) sie ist zeitlich-dynamisch und steht damit dem Streben nach dauerhaft gültigen Erkenntnissen entgegen; (b) ihre Bedeutungsaspekte weisen über das Feld von Semantik und Hermeneutik und damit die Sprache als traditionelles Medium der Wissenschaft hinaus. In dieser Beziehung spielt die Idee des impliziten Wissens die entscheidende Rolle, da auf diese Weise auch eine Form des Wissens als ein solches gelten kann, die sich nicht verbalisieren und explizieren lässt. Bourdieu behandelt diese Problematik folgendermaßen: „Alles weist 84

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darauf hin, daß der Handelnde, sobald er über seine Praxis nachdenkt und sich damit sozusagen theoretisch in Positur wirft, keine Chance mehr hat, die Wahrheit seiner Praxis und vor allem die Wahrheit des praktischen Verhältnisses zur Praxis zu formulieren; die wissenschaftliche Fragestellung verführt ihn, gegenüber seiner eigenen Praxis einen Standpunkt einzunehmen, der nicht mehr der des Handelns ist, ohne deswegen der Standpunkt der Wissenschaft zu sein.“ (Bourdieu 1997: 165) Als kritisches Moment beschreibt Bourdieu die Inkompatibilität von Körperpraxis und theoretischer Reflexion. Damit konstruiert er die beiden Praxisformen als zwei trennscharf geschiedene Systeme, zwischen denen kein Übergang existiert. Unser Vorschlag für eine Verknüpfung ist der Begriff der Bewegungslogik, der die Bewegungsausführung und ihre Rezeption verbindet.31 Angesichts der historischen Einschätzung, dass „[d]er Aufstieg der Idee des aufgeklärten Subjekts verbunden [war] mit einem Verlust an Körper- und Sinneswissen“ (Baxmann 2005: 16), möchten wir einseitig rational-bedeutungsorientierte Logikkonzepte durch das Konzept einer eigen-sinnigen, bewegungsspezifischen Logik ergänzen und erweitern. Logik meint dabei ein intellektuell nachvollziehbares, verstehbares Regelsystem zur Verknüpfung von Elementen und deren Bewertung. Sie ermöglicht das Verständnis, ‚warum etwas so und nicht anders ist‘. Norbert Servos spricht in diesem Zusammenhang von „Folgerichtigkeit, mithin eine>r@ physische>n@ Logik“ (Servos 2003: 23). Aufgrund dieser Logik werden „Zusammenhänge“ erkennbar, „die man unmittelbar als ‚Sinnzusammenhänge‘ bezeichnen kann, ohne je den Sinn des Ganzen oder seiner Glieder angeben zu müssen“ (Becker/Vogel 2007: 10). Den Begriff der Logik haben wir gewählt, um kenntlich zu machen, dass auch Körperbewegung einen „angemessenen Gegenstand geisteswissenschaftlicher Reflexion“ (ebd.: 12) darstellt. Denn auch Bewegungslogik ist wie die musikalische Logik „objektiv, sie steht nicht in der Verfügung des einzelnen Hörers [bzw. Zuschauers; CB u. SaS] oder Komponisten [bzw. Choreographen; CB u. SaS]; vielmehr liefert sie einen Maßstab, nach dem sich richtiges und falsches Komponieren [bzw. Choreographieren; CB u. SaS] unterscheiden lassen. Weiterhin können die Regeln und Gesetze einer Logik zwar explizit gemacht werden, aber wiederum zeigt das Beispiel der Sprache, daß dies zum Verstehen nicht notwendig ist.“ (ebd.: 11) Explizit gemacht werden können heißt, dies sei hier nochmals betont, nicht zwingend verbalisieren können: Die Bewegungslogik kann auch auf der Grundlage von Bewegungserfahrungen oder Beobachtungen von Bewegungen erfasst werden. Somit gäbe es einen

31 Vgl. die in einigen Punkten sehr ähnliche Konzeption einer „musikalischen Logik“ bei Becker/Vogel (2007), die seit den 1970er Jahren in der deutschen Musikwissenschaft eine Art Leitfunktion hat. 85

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Bereich, der von wortsprachlicher Übereinkunft ausgeschlossen, aber gleichwohl objektiviert und damit intersubjektiv teilbar ist. Unsere Überlegungen zum Körperwissen und unsere Skizze einer Bewegungslogik geben ohne Zweifel noch keine abschließenden Antworten, sie deuten jedoch mögliche Forschungsrichtungen an und werfen Anschlussfragen auf. So zum Beispiel die bereits angedeutete Frage nach der Faszination von Körperbewegungen in gesellschaftlichen Kontexten oder die methodologische Frage der Notwendigkeit einer ‚Übersetzung‘ der Bewegung, um sie wissenschaftlich greif- und erforschbar zu machen. Letztlich gilt es, das Verhältnis von Bewegen und Denken zu klären: Handelt es sich um ein Konkurrenzverhältnis, um ein gegenseitiges Intensivieren oder ist beides ineinander verschränkt und läuft gleichzeitig ab?

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Bewegte Ordnungen: Kontingenz und Intersubjektivität im Tango Argentino MELANIE HALLER

Seit Anfang der 1980er Jahre hat sich in Deutschland eine Tanzkultur des Tango Argentino herausgebildet und institutionalisiert. Es handelt sich dabei um eine eigenständige soziale Bewegungskultur mit eigenen Veranstaltungen, Orten, Lehrern, Ritualen, Konventionen und auch einer eigenen Bewegungsordnung.1 Im vorliegenden Text möchte ich diese Bewegungsordnung aus einem mikrosoziologischen Blickwinkel genauer unter die Lupe nehmen. Wenn man die beweglichen Ordnungen des Tango Argentino in einer bewegungswissenschaftlichen Perspektive anhand seiner Bewegungskultur und -praxis betrachtet und beschreibt2, wird deutlich, dass dazu Begriffe benötigt werden, die es gestatten, das Dynamische dieser Ordnungen zu fassen. Entsprechend hebt Gabriele Klein in einem Grundlagentext zur Tanzwissenschaft hervor: „Tanzwissenschaft ist aus dieser Perspektive Wissenschaftskritik insofern, als sie sich gegen ein Wissen wendet, das bewegliche Vorgänge über statische Konzepte zu fassen versucht.“ (Klein 2007a: 33)

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Hierbei handelt es sich um Ergebnisse des DFG-Forschungsprojektes „Transnationale Identität und körperlich-sinnliche Erfahrung. Lateinamerikanische Tanzkulturen im europäischen Kontext.“, welches an der Universität Hamburg unter der Leitung von Gabriele Klein durchgeführt wurde (www1.uni-hamburg.de/ gklein). Vgl. auch Klein/Haller (2006a; 2006b; 2006c). Hierbei beziehe ich mich auf empirisches Videomaterial, welches in dem von Gabriele Klein geleiteten DFG-Projekt (siehe vorherige Fußnote) erhoben wurde. Ich war an diesem Projekt als wissenschaftliche Mitarbeiterin beteiligt. Für die Überlassung dieses Materials zur Weiterverwendung in meiner Dissertation danke ich Gabriele Klein. 91

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Bewegungswissenschaftlich betrachtet ist Ordnung letztendlich immer kontingent.3 Das wirft aus einer handlungstheoretischen Perspektive die Frage auf, wie Ordnung überhaupt entsteht. Bereits Max Weber hob hervor, dass Ordnung erst Gesellschaft möglich macht und durch Handlungen produziert und erhalten wird (vgl. Weber 1985: 448). Die Ordnungsbildung erfolgt nach Weber in einem vermittelten Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft, das er von einer Dichotomie unterscheidet (vgl. Hahn 1995: 51). Somit „ist soziale Ordnung nicht primär unter der Perspektive des ‚Zwangs‘, sondern als Handlungsoption konzeptualisiert“, wie Kornelia Hahn (ebd.: 52) im Bezug auf Weber hervorhebt. Hahn betont darüber hinaus zum einen, dass soziale Ordnung „im gesellschaftlichen Prozess hergestellt“ wird, und zum anderen, dass sie auf „einer dialektischen Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft“ (ebd.: 55) beruht. Im folgenden ersten Abschnitt skizziere ich die Entstehung einer beweglichen sozialen Bewegungsordnung am Beispiel des Tango Argentino. Aus dieser Betrachtung ergibt sich die Fragestellung, wie Bewegungen zwischen Tanzenden vermittelt werden. Die Analyse des Entstehens einer beweglichen Ordnung erfordert die Betrachtung von Abstimmungsprozessen auf der Ebene von Bewegungen. Damit stellt sich zugleich die Frage nach dem Subjekt der Bewegung. Sie soll im Bezug auf die Subjektkonzeption des soziologischen Handlungsbegriffes aus einer körpersoziologischen Perspektive diskutiert werden. Darauf folgend werden Konzepte von Intersubjektivität in der Soziologie neu betrachtet und deren Möglichkeiten und Grenzen am Beispiel von Mead aufgezeigt. Die daran anschließende These lautet, dass Intersubjektivität in Bewegungskulturen als performative Intersubjektivität konzeptualisiert werden kann. In einem perspektivischen Ausblick wird am Ende kurz skizziert, was darunter theoretisch zu fassen wäre.

1. Bewegliche Ordnung: das Beispiel Tango Argentino Die Bewegungsordnung des Tango wird von Monika Elsner in ihrem Buch „Das vierbeinige Tier. Bewegungsdialog und Diskurs des Tango Argentino“ anhand von sieben Merkmalen analysiert. Diese lassen sich anhand von drei exemplarischen Bewegungsprinzipien im Tango beschreiben, die auf drei verschiedenen Betrachtungsebenen liegen:

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Dabei beziehe ich mich auf den Kontingenzbegriff von Niklas Luhmann: „Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist.“ (1984: 152)

BEWEGTE ORDNUNGEN R : KONTINGEN NZ UND INTER RSUBJEKTIV VITÄT IM TANGO ARGENT TINO

1. Das Bewegungsprinnzip des Grundschrit G ttes: auf diieser Ebenne werden die Bewegunggen des Eiinzelnen inn der jeweiiligen Tanzzrolle (führrend oder folf gend) them matisiert. 2. Das Beweegungsprinnzip der geeschlossenen Tanzhaaltung: auff dieser Ebene steht das Tanzpaar T im Vorderggrund. 3. Das Bewegungsprinnzip der Tanzpaare: T auf dieserr Ebene geeht es um die Gruppenddynamik auuf der Tanzzfläche.

1.1 1 Der Gru undschritt des Tang go Argentino Daas erste Beewegungspprinzip ist der Grund dschritt, diee so genannnte Base. Zu dieesem Grundschritt istt anzumerkken, dass err selten geenau im follgend gesch hilderrten Ablauuf getanzt wird. Vieelmehr werrden seinee einzelnenn Elemente – vorrwärts/rückkwärts Gehhen, Seitscchritt, Schließen der Füße undd Kreuzsch hritt fürr die Folgeenden – vaariabel aneeinandergereiht, wobbei das Gehhen selbst als einne bewegtee Grundorddnung des Tango T versstanden wirrd.

Abbildungg 1: Grundsschritt des Tango T Argenntino

So kann zum m Beispiel der d Abschllussschritt – die Resoolución – in einer erssten Vaariante des Grundschrrittes mit einer e Drehu ung nach reechts (folggend, rot) oder o linkks (führendd, schwarzz) getanzt werden w (sieehe Abbilduung 1). 93

MELANIE HALLER

Hier zeigt sich, was sich nach Elsner als ein erstes Merkmal des Tango Argentino beschreiben lässt: es gibt keine ununterbrochene Wiederholung eines Elementarschrittes. Vielmehr ist die Ordnung des Grundschrittes nur eine mögliche Ordnung, die immer wieder aufs Neue gestaltet werden muss. Der aus acht Schritten bestehende Grundschritt muss nicht notwendig auf einen Achtertakt zusammengesetzt werden und ist somit allein in seinen Variationsmöglichkeiten – ohne Figuren – äußerst vielfältig (vgl. Elsner 2000: 32). An den Grundschritten zeigt sich noch ein zweites Merkmal des Tango Argentino: Führende/r und Folgende/r realisieren die gleichen Schritte nicht nur spiegelbildlich versetzt, sondern auch über Kreuz, was mit der Konvention parallel getanzter Schritte in anderen Paartänzen bricht. Das ‚Überkreuztanzen‘ der Schritte durch Fuß- und Gewichtswechsel sowie eine ganze Reihe mit den Füßen getanzter Verzierungen und Figuren ermöglichen eine Vielfalt unterschiedlicher Schrittfolgen. Ein Beispiel einer solchen Figur sind die so genannten Ochos („Acht“): eine Kreuz- und Drehfigur, die vorwärts oder rückwärts getanzt werden kann und – metaphorisch gesprochen –‚mit den Füssen eine acht auf den Boden zeichnet‘. Ein Ocho kann sowohl von Folgenden als auch von Führenden getanzt werden, allerdings nur selten gleichzeitig von beiden Tanzenden. Der Ocho ist auch ein gutes Beispiel für das dritte Merkmal des Tango Argentino: Es gibt zwar eine Führungs- und eine Folgerolle, aber in der folgenden Position darf das Gewicht nie ganz an die führende Rolle abgegeben werden, denn sonst wäre eine solche Figur nicht tanzbar. Dies steht ebenfalls im Gegensatz zu anderen standardisierten Paartänzen wie dem Walzer, bei dem die folgende Rolle ihr Gewicht ganz an die führende Rolle abgibt. Als ein viertes Merkmal des Tango Argentino lässt sich nach Elsner festhalten, dass es im Tango keinen festen Ablauf der Schritte und Figuren gibt; diese sind vielmehr frei zusammensetzbar. Figuren können im Tango an jeder beliebigen Stelle zwischen den Grundschritten gesetzt werden; der Tanz kann im Anschluss wieder an einer beliebigen Stelle fortgesetzt werden. Das bedeutet, „daß die Ausführung eines Tango – in Kontakt mit der Musik – immer gebunden ist an ein Element von Improvisation“ (ebd: 33) – und damit vor allem auch an die Abhängigkeit der beiden Tanzpartner voneinander und ihre Abstimmung miteinander.

1.2 Die geschlossene Tanzhaltung Das zweite Bewegungsprinzip ist die enge und geschlossene Arm- oder Tanzhaltung, die das Tanzpaar als Einheit präsentiert. Daran lässt sich zunächst zeigen, was Elsner als fünftes Merkmal des Tango beschreibt: Er ist gleichzeitig ein Figuren- und ein Paartanz; alle Figuren werden in der Umarmung getanzt – was völlig im Gegensatz zu anderen Paartänzen und Figuren wie z.B. 94

BEWEGTE ORDNUNGEN: KONTINGENZ UND INTERSUBJEKTIVITÄT IM TANGO ARGENTINO

Drehungen im Salsa steht. In der Umarmung ändern sich nur die Nähe und Weite, nicht aber die Umarmung selbst. Sie ist jedoch – im Sinne Erving Goffmans (1980) – zeitlich gerahmt: Die Umarmung wird zu Beginn der Musik eingenommen und an deren Ende wieder aufgelöst. In der Tangoszene – und es spielt keine Rolle, ob es sich um die vorwiegend heterosexuelle oder die Queer-Tangokultur handelt – gibt es die Konvention, die Tanzhaltung ausschließlich beim Tanzen einzuhalten; alles andere wäre eine Grenzüberschreitung. Die inszenierte Innigkeit der Umarmung ist gebunden an den Beginn und das Ende von Musikstücken. Üblich ist auch, dass Tanzpaare drei Tänze miteinander tanzen. Dies richtet sich an der musikalischen Konvention der so genannten Tandas aus, bei der drei Musikstücke in Folge mit kurzen Pausen dazwischen gespielt werden. In diesen Pausen warten die Paare auf der Tanzfläche auf das nächste Lied und lösen sich aus der geschlossenen Tanzhaltung. Dabei wird vorwiegend ein Abstand von ca. ½ m eingenommen (vgl. Hall 1966). Die geschlossene Umarmung bleibt auf das gemeinsame Tanzen reduziert, sie lässt sich als eingeschränkte Interaktion verstehen. Diese Form der Interaktion ist, mit den Worten Robert Gugutzers, ein „Ort, an dem Strukturen und Handlungen aufeinander treffen“ (Gugutzer 2006: 32). Eine Umarmung als Handlung ist auf die feldinternen Regeln und Strukturen der Tanzkultur begrenzt und zeigt sich so ausschließlich als Haltung zum Tanzen – als Tanzhaltung. Sie ist ein Beispiel dafür, wie in individuellen körperlichen Handlungen eine vorgegebene Struktur bzw. Ordnung (re-)produziert wird. Die eingehaltene Nähe oder Weite der Tanzhaltungen und die Ausführung der Schritte sind dabei zum Teil von Tanz-Stilen4 abhängig, die ihre je eigenen Haltungen und Schritten ausdifferenziert haben. Aber auch die Ordnung der Tanzpaare im Raum fördert oder verhindert bestimmte Bewegungen.

1.3 Tanzpaare – Gruppendynamik Das dritte Element des Tango betrifft die Raumbewegungen während einer Tanzveranstaltung. Die Tanzrichtung ist im Tango sichtbar vorgegeben: Alle Tanzpaare bewegen sich in einer Kreisbewegung gegen den Uhrzeigersinn auf der Tanzfläche. Dabei variieren – ein sechstes Merkmal des Tanzes – die Positionen der Tänzer zueinander ständig. So gibt es die direkte Gegenüberstellung der Tanzenden, zwei seitliche Positionen rechts oder links nebeneinander mit derselben Blickrichtung oder verschiedenen Blickrichtungen. Die Tanzpaare tanzen nicht auf einer Linie, halten aber die Tanzrichtung gegen

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Es haben sich historisch in der Tangokultur verschiedene Tanzstile herausgebildet, die auch an verschiedene musikalische Stile gebunden sind, etwa Milonga, Tango de Salon, Vals, Milonguero oder auch Tango Nuevo. 95

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den Uhrzeigersinn ein und lassen vor allem in der Mitte der Tanzfläche, je nach Fülle der Veranstaltung, immer eine Fläche frei. In dieser gruppendynamischen Bewegungsordnung zeigt sich das siebte Merkmal des Tango Argentino: das ‚Stehenbleiben‘. Dieses Innehalten in der Fortbewegung (beider Tanzender oder nur des Führenden) ist ebenfalls ein besonderes Merkmal des Tango, welches in keinem anderen Paartanz vorkommt. ‚Stehende‘ Tanzpaare sind im Tango allerdings nicht völlig unbeweglich, sondern halten die Körperspannung aufrecht und bewegen oftmals leicht die Oberkörper im Rhythmus der Musik, bevor ein neuer Schritt getanzt wird. Als Ordnungselement lässt sich das Innehalten in der Bewegung auch sehr gut mit den Anforderungen bei einer überfüllten Milonga5 verbinden, wenn sich etwa mögliche Wege aufgrund anderer kreuzender Tanzpaare verstellen. Es ermöglicht mithin als Ordnungsprinzip die Anpassung aller tanzenden Paare aneinander und schafft bei jeder neuen Milonga wieder eine neue Bewegungsordnung auf der Tanzfläche. Die drei vorgestellten Bewegungsprinzipien – Grundschritt, Tanzhaltung, Gruppendynamik – und deren Merkmale belegen den Variationsreichtum des Tango Argentino. Stets setzen sich einzelne Bewegungen innerhalb komplexer Bewegungsprinzipien variabel zusammen. Monika Elsner spricht in diesem Zusammenhang von der coreografia del tango, die sie als „ein System der wichtigsten Bewegungsprinzipien“ (Elsner 2000: 53) versteht und nicht als eine festgeschriebene Choreographie6: „Wenn also dort von der Choreographie des argentinischen Tango die Rede ist, geht es nicht um eine einmal festgelegte Kreation in Bezug auf einen identisch wiederholbaren Bühnentango; sondern um Basiselemente eines populären und kreativen Tanzes, der immer wieder zur Musik neu entsteht.“ (Ebd.: 32)

Dies führt zu den zentralen Fragen, wie ein einzelner Tanz entsteht und wie die Bewegungen zwischen den beiden Tanzenden vermittelt werden. Elsner beantwortet diese Fragen, indem sie den Begriff der „zwischenleibliche[n] Dialogizität“ in den feldinternen Diskurs der Tangokultur einführt. Sie erklärt diesen Begriff im Bezug auf die tanzpädagogische Formel „to listen and respond“ (ebd.). Allerdings reichen dieser phänomenologische Ansatz und die metaphorisch übertragende Beschreibung nicht aus, um zu erklären, wie Be5 6

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Milonga ist der in der Tangokultur verwendete und aus Buenos Aires übernommene Begriff für die abendlichen Tanzveranstaltungen. Die Vorstellung der Choreographie als festgeschrieben ist vor allem eine Vorstellung des Alltagsbewussteins. In der Tanzforschung wird der Begriff der Choreographie weitaus vielschichtiger betrachtet. Zunächst ist die ältere Bedeutung von Choreographie allerdings die einer nachträglichen, schriftlichen Aufzeichnung eines Tanzes: der Tanzschrift (vgl. Lampert 2007).

BEWEGTE ORDNUNGEN: KONTINGENZ UND INTERSUBJEKTIVITÄT IM TANGO ARGENTINO

wegungen in der Interaktion der Tanzpaare und der Gruppe entstehen. Zur Erklärung des Entstehens solcher ‚Körperdialoge‘ ist vielmehr eine bewegungswissenschaftliche Beschreibung nötig. Es geht also darum, wie im Tanz eine Ordnung über gemeinsame Bewegungen hergestellt und damit Ordnung intersubjektiv vermittelt und verstehbar wird (vgl. Haller 2009a). Im Anschluss an Friederike Lamperts (2007) Entwurf strukturierter Improvisation lässt sich der Tango als ein strukturiert improvisierter Tanz beschreiben. Aber wie stimmen Tangotänzer ihre Bewegungen aufeinander ab und bilden so eine immer wiederkehrende bewegliche Ordnung, die in ihren Merkmalen als Tango Argentino erkennbar und doch gleichzeitig beweglich bleibt? Diese Frage nach Abstimmungsprozessen in Bewegungen lässt das Subjekt der Handlung bzw. der Bewegung in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken. Zu diesem Zweck soll zunächst das dem soziologischen Handlungsbegriff zugrunde liegende Subjektkonzept aus einer körpersoziologischen Perspektive betrachtet werden, um dieses Konzept dann in einem weiteren Schritt in ein Verhältnis zu setzen zu Konzeptionen von Intersubjektivität.

2. Das Subjekt der Bewegung – eine Frage von Intersubjektivität? Handlung wird in der Soziologie von Max Weber (1922: 1f.) beschrieben als ein Akt der Sinnstiftung intentionaler Subjekte. Diese Konzeption eines intentionalen Handlungssubjekts steht gegenwärtig in der Soziologie zur Diskussion, besonders aus der Perspektive einer Soziologie des Körpers. Diese gründet auf einer kritischen Haltung gegenüber einer Soziologie, die den Körper und dessen Beteiligung an Handlungssituationen weitgehend ausgeblendet hat. Handeln hat aber immer auch eine körperliche bzw. leibliche7 Dimension, was sich besonders auch an der Produktion einer beweglichen Ordnung im Tango Argentino zeigt. Wenn Tanzpaare zwischen Schrittelementen, Figuren und Tanzhaltungen spielend variieren und die Gruppendynamik auf sich bewegenden Körpern beruht, dann zeigt sich am Körper „die soziale Ordnung, an deren Herstellung er beteiligt ist“ (Hahn/Meuser 2002: 8). Zeitgleich steht auch der Subjektbegriff in der Soziologie zur Debatte (vgl. Keupp/Hohl 2006; Reckwitz 2006), der bis dato in der Soziologie im Gegensatz zu Konzepten von Individuum, Person oder Akteur (vgl. Klein 2007b: 190) kaum diskutiert wurde. In der Auseinandersetzung mit dem soziologischen Handlungsbegriff und der Frage nach einem Subjekt der Bewegung gilt es, die körpersoziologische und die subjekttheoretische Richtung miteinander zu verbinden. Handlungen, und dies schließt immer auch körper7

Zur Unterscheidung zwischen Leib und Körper im Anschluss an Helmuth Plessner und Merleau-Ponty vgl. bspw. Gugutzer (2002) und Meuser (2002). 97

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liche Handlungen und Bewegungen ein, sind sozial und kulturell bedingt: „Ebenso wie die Umwelt besitzt auch das körperliche Handeln eine regelhafte Struktur, eine Ordnung, die ohne den Umweg über den Kopf wirksam ist.“ (Gebauer/Wulf 1998: 27) Auch Erving Goffman hob bereits hervor, Körperexpressionen seien nichts „besonders Individualistisches“ (Goffman 1974: 192), sondern beträfen alle Handelnden in den entsprechenden Situationen. So lässt sich auch die Forderung für eine handlungstheoretisch fundierte Soziologie des Körpers verstehen, die Michael Meuser aufstellt: „Eine handlungstheoretisch fundierte Soziologie des Körpers muss über die gängige, die weitaus meisten Handlungstheorien prägende individualistisch-teleologische Deutung sozialen Handelns hinausgehen.“ (Meuser 2002: 20) Die Kritik an einer individualistisch-teleologischen Deutung von Handlung betrifft ebenso die Vorstellung eines intentionalen Subjekts. Sie kann darüber hinaus durch den Bezug auf die Kontingenz von Handlungen untermauert werden. So hebt der Sozialpsychologe Jürgen Straub hervor: „Handlungskontingenz ist ein universales Attribut des Handelns selbst.“ (Straub 2006: 62) In dieser Perspektive haben Handlungen eine eigene Temporalität (vgl. ebd.: 60); sie produzieren temporale, bewegliche Ordnungen, wie am Beispiel des Tango Argentino demonstriert wurde. Die Bewegungen in der Bildung von Bewegungsordnungen beruhen dabei auf einer legitimierten und anerkannten Ordnung dieses Paartanzes sowie auf Abstimmungsprozessen, deren Gelingen ein in die Körper eingeschriebenes ‚Wissen‘ voraussetzt. Nur ein inkorporiertes Wissen um potentielle Anschlüsse von Grundschrittelementen und Figuren ermöglicht das improvisierte Tanzen. Ein Beispiel für diese legitimierte, anerkannte und inkorporierte Ordnung sind die folgende und die führenden Rolle, die hauptsächlich einer heteronormativen Geschlechterordnung folgen, wie Paula Villa in ihren Publikationen zum Tango Argentino hervorgehoben hat (vgl. Villa 2003; 2006). Offen bleibt die Frage, mit welcher Subjektkonzeption sich korporale Abstimmungsprozesse in kontingenten Bewegungsordnungen erklären lassen. Das Subjekt der Bewegung im Tango kann nicht als intentionales Handlungssubjekt beschrieben werden, denn die Bewegungen werden von zwei tanzenden Körpern gemeinsam ausgeführt. Diese Bedingung erfordert ein Subjektkonzept, welches von einem Wechselverhältnis zwischen den Tanzenden ausgeht: das Konzept einer Inter-Subjektivität.

3. Intersubjektivität als Subjektkonzept Intersubjektivität spielt in verschiedenen Theorien eine Rolle, so bei Alfred Schütz, George Herbert Mead, Jürgen Habermas oder auch Maurice Merleau98

BEWEGTE ORDNUNGEN: KONTINGENZ UND INTERSUBJEKTIVITÄT IM TANGO ARGENTINO

Ponty. Diese Konzepte werden häufig einer Sozial-Psychologie – wie etwa im Falle Meads – oder aber einer Sozialphänomenologie – wie im Falle MerleauPontys – zugeordnet. Als soziologische Kategorie wird Intersubjektivität allerdings kontrovers diskutiert und in Frage gestellt. Die zentrale Kritik baut auf das auf „was Jeffrey Alexander treffend das ‚individualistische Dilemma‘ der interpretativen Soziologie nennt“ (Reckwitz 2006: 393). Darin zeigt sich nach Reckwitz das kaum lösbare Problem, „wie aus der strikt subjektiven Perspektive eine Kollektivität von Wissensordnungen identifizierbar sein soll, wenn das Soziale auf der Ebene des Fremdverstehens und der gegenseitigen subjektiven Vorstellung von Intersubjektivität verortet werden soll“ (Reckwitz 2006: 365).

Dieser Kritik folgend muss angenommen werden, dass ein geteiltes soziales Wissen „immer nur eine Vorstellung des Subjekts von einer solchen kollektiven Geteiltheit, eine Vorstellung der Reziprozität der Perspektiven sein“ kann (Reckwitz 2006: 391). Intersubjektivität zeigt sich hier als Problem des Solipsismus: als Unüberwindbarkeit der Teilhabe der eigenen Vorstellungen an den Vorstellungen des Gegenübers. Diese Perspektive baut allerdings auf einer Subjektkonzeption von ‚in sich geschlossenen‘, autonomen Subjekten auf, die voneinander getrennt existieren – also im Prinzip einem cartesianischen Subjektkonzept. Intersubjektivität ist aus dieser Perspektive unmöglich, da das Subjekt nicht „an der Stelle jedes andern denken kann“ (Kant 1974: 226). Subjekte stehen sich demnach voneinander isoliert in Handlungen gegenüber; sie sind autonome und intentionale Handlungssubjekte. Dabei ist es gerade die Aufhebung dieser Trennung, die etwa George Herbert Mead mit seinem Konzept von Intersubjektivität8 intendiert hat – auch wenn er den Begriff Intersubjektivität nie für sich verwendet hat: „Mit dem Nachweis des sozialen Charakters von Ich-Identität und Selbstbewusstsein richtet sich Mead gegen Bewusstseinstheorien, die introspektiv bei der Selbstgewissheit des Ich ansetzen und dann von ‚dieser eigenen Insel‘ nur per Analogieschluss zum Bewusstsein des Anderen gelangen.“ (Bergmann/Hoffmann 1989: 97)

Mead kehrt vielmehr dem Konzept eines intentionalen, autonomen Subjekts den Rücken, indem er, etwa in dem 1910 publizierten Aufsatz „Welche sozialen Objekte muß die Psychologie voraussetzen?“, „Identität als Vorbedin-

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Den Begriff der Intersubjektivität als Schlüsselbegriff der Meadschen Theorie führte Hans Joas in seiner Dissertation von 1979 ein: Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werkes von George Herbert Mead, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989. 99

MELANIE HALLER

gung des Bewußtseins“ (Mead 1980: 225) postuliert. Identität – self9 bei Mead – entsteht in einem Wechselverhältnis von Selbst und Anderem und ist Voraussetzung für die Entstehung des Selbstbewusstseins. In diesem Sinne ist das Subjekt bei Mead immer mit dem Anderen verbunden: es ist inter-subjektiv und nicht autonom und intentional. Eine Infragestellung von Autonomie und Intention findet sich auch in Bourdieus Habituskonzept. Mit seinem Konzept des sens pratique lässt sich zeigen, dass Verhaltensweisen an ein spezifisches Feld gebunden sind und nur innerhalb der Logik dieses Feldes verstehbar sind (Bourdieu 1987: 104 f.). Der sens pratique folgt damit keiner bewusst rationalen Strategie; er ist vielmehr ein den Situationen angepasstes Handeln, welches aus inkorporiertem Wissen entsteht und situativ erlernt und erprobt wurde (vgl. Bourdieu 1989: 397). Folgt man Bourdieus Konzept des sens pratique, dann müssen die Bewegungsprinzipien des Tango Argentino in die Körper der Tanzenden eingeschrieben werden, damit diese seine kontingente Bewegungsordnung produzieren können. Diese Inkorporierung macht es überhaupt erst möglich, über Führungs- und Folgesignale zu kommunizieren. Als Paartanz ist Tango eine Interaktionsordnung, welche auf erlernten Bewegungen beruht, die „auf einer vorreflexiven Ebene“ (Meuser 2006: 102) basieren. Wie jedoch Subjekte eine kontingente Ordnung des Tango durch korporale Abstimmungsprozesse produzieren, lässt sich auch mit dem Habituskonzept nur bedingt erklären. Abstimmungsprozesse lassen sich aus einer körpersoziologischen Perspektive – in Abgrenzung zu Konzeptionen eines intentionalen Subjeks und einem individualistisch-teleologischen Handlungsbegriff – mit einem Konzept von Intersubjektivität wie dem von George Herbert Mead erklären: „Mit dem Begriff der ‚Intersubjektivität‘ ist eine Struktur kommunikativer Beziehungen zwischen den Subjekten bezeichnet, welche geeignet ist, auf theoretischer Ebene die schlechte Alternative von individualistischer Handlungstheorie und handlungsloser oder subjektfreier Strukturtheorie zu überwinden.“ (Joas 1989: 19)

Korporale Abstimmungsprozesse zwischen Tänzern im Tango lassen sich als eine solche Struktur kommunikativer Beziehungen verstehen: Die ausgeführten Bewegungen sind weder rein individualistisch noch einer Struktur unterworfen; sie zeigen sich vielmehr als ein vermitteltes Spannungsverhältnis 9

Die Übersetzung von self in Identität wird sowohl in der Übersetzung von „Mind, Self and Society“ als auch in den Gesammelten Aufsätzen von Joas mit der Begründung einer Entsprechung des allgemeinen Sprachgebrauches und einer damaligen aktuellen Problemlage in der Psychologie und Soziologie gerechtfertigt. Ernst Tugendhat hat in seinem Buch „Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen“ (1979) darauf verwiesen, dass self mit Selbst übersetzt werden sollte.

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BEWEGTE ORDNUNGEN: KONTINGENZ UND INTERSUBJEKTIVITÄT IM TANGO ARGENTINO

zwischen den Tanzenden und der Struktur des Tango. Mit Mead lässt sich dieses „koordinierte oder interaktive Handeln“ (Joas 1985: 20) zwischen Tanzenden verstehen, wenn man wie Joas auch hier von Intersubjektivität spricht. Die Grundbedingung für Intersubjektivität lässt sich bei Mead in dessen Konzeption symbolvermittelter Interaktion finden: Handelnde lösen mit einer Geste bei sich selbst die gleiche Reaktion aus, die sie beim Anderen auslösen soll. Handeln ist in diesem Sinne immer intersubjektives Handeln. Intersubjektivität liegt in der Fähigkeit des Menschen, in der Interaktion sich selbst und dem eigenen Verhalten gegenüber die Haltung des Anderen einzunehmen. Eine Geste bekommt nach Mead ihren Sinn erst in der Handlungssituation in der Folge von Aktion und Reaktion. In diesem Sinne handeln Akteure die Bedeutung einer Geste erst in der Handlungssituation intersubjektiv aus; erst dann wird die Geste zum signifikanten Symbol. Mead fundiert damit „Intersubjektivität in Prozessen der Handlungskoordination“ (Meuser 2006: 102). Als Gesten im Tanz lassen sich die Bewegungsimpulse verstehen, die im Verhältnis von Führen und Folgen verhandelt werden. Das empirische Beispiel des Tango zeigt – etwa beim Grundschritt –, dass es mehrere Möglichkeiten innerhalb der dynamischen Struktur des Tanzes gibt, auf eine Geste bzw. einen Bewegungsimpuls zu reagieren. Im Tango gibt es sowohl eine Grundstruktur als auch vielfältige Möglichkeiten der Improvisation, aus denen jedoch immer wieder Tango entsteht. Aufgrund der Offenheit der Bewegungsvariablen gibt es eine Aushandlung von Gesten oder Bewegungsimpulsen in Abstimmungsprozessen, die auf aufeinander abgestimmten Habitus beruht. In diesem Sinne bleibt es zunächst nur bei der Annahme, mit einer Geste beim Anderen die gleiche Reaktion auszulösen; auch Gesten sind in diesem Sinne kontingent. Hier zeigt sich eine Grenze von Intersubjektivität bei Mead, die eben nicht ‚an sich‘, sondern aufgrund einer Wechselseitigkeit in Handlungssituationen gegeben ist. Um diese Grenze zu überwinden und das Konzept von Intersubjektivität zu präzisieren, schlage ich dessen Erweiterung um ein Konzept von Performativität (vgl. Butler 1998; Klein/Friedrich 2003; Wulf/Göhlich/Zirfas 2001) vor. Meiner Ansicht nach kann eine solche Erweiterung die Abstimmungsprozesse und die Entstehung einer kontingenten Bewegungsordnung des Tango besser fassen. Im Folgenden werde ich dieses für meine Dissertation geplante Projekt der Entwicklung eines Konzepts performativer Intersubjektivität in einem knappen Ausblick skizzieren.

4. Performative Intersubjektivität? Die Betrachtung einer kontingenten Bewegungsordnung wie die des Tango Argentino hat die Notwendigkeit gezeigt, soziologische Kategorien wie 101

MELANIE HALLER

Handlung, Subjekt oder Intersubjektivität zu diskutieren. Die Herstellung einer derartigen Ordnung setzt ein gemeinsam geteiltes, inkorporiertes Körperwissen und dessen Vermittlung über inkorporierte Führungs- und Folgesignale voraus. Mit dem Begriff eines solchen ‚Tanzhabitus‘ können die unvorhersagbaren, kontingenten Abstimmungsprozesse zwischen den tanzenden Subjekten im Tango jedoch nicht hinreichend erklärt werden. Das Gelingen einer gemeinsam produzierten beweglichen Ordnung wird beim Tanzen subjektiv als ‚dialogische‘ Erfahrung wahrgenommen, die sich in der Tangokultur auch in den Diskursen von ‚Verschmelzung’ widerspiegelt (vgl. Haller 2009b). Diese subjektive Erfahrung von gelingenden Abstimmungsprozessen erfordert ein Konzept, welches der Tatsache gerecht wird, dass auf der Grundlage geteilten Wissens nicht etwa statische, sondern dynamische und variable Ordnungen produziert werden. Dies setzt voraus, dass sich Tanzende bei jeder einzelnen Handlungsentscheidung neu auf einander beziehen und so die einzelnen Elemente des Tanzes immer wieder neu zusammensetzen. Wie stimmen sich also Subjekte im Tango ab, wenn der Tanz auf einer kontingenten Bewegungsordnung beruht? Um zu begreifen, wie Ordnungen in Bewegung entstehen und als solche weiter existieren können, ist ein Subjektkonzept nötig, welches das Subjekt nicht statisch und hermetisch versteht. Im Gegensatz dazu stellen Konzepte von Intersubjektivität das Subjekt in ein dauerhaft wechselseitiges Verhältnis zum Anderen. In diesem Verhältnis werden auch Handlungen wechselseitig aufeinander abgestimmt und ausgeführt. In diesem Sinne wird im Tango jeder einzelne Schritt von den Tanzenden intersubjektiv ausgehandelt; ein Tanz entsteht so im wahrsten Sinne des Wortes Schritt für Schritt. Eine kontingente Bewegungsordnung entwickelt sich mithin erst im Vollzug interaktiv aufeinander abgepasster und an die Handlungssituation gebundener Bewegungen. In der Handlungssituation des einzelnen Tanzes kommt ein inkorporiertes Wissen zur Wirkung (vgl. Reckwitz 2003; Hirschauer 2004), welches in einem reziproken Verhältnis zwischen den Tanzenden ausgehandelt wird. Dieser Aushandlungsprozess ist meines Erachtens mit einem Konzept von Intersubjektivität erklärbar, welches, da es erst in der Handlungssituation entsteht, als performativ bezeichnet werden kann. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass Intersubjektivität erst in Handlungssituationen entsteht und zur Wirkung kommt. Sie würde somit nicht immer ‚gelingen‘, sondern kann auch scheitern; eben dies ist ein zentrales Kennzeichen performativer Akte. Somit ließe sich Intersubjektivität „mit Hilfe der genetischen Analyse der Habitusbildung auf historisch objektive Strukturen“ (Wacquant 1996: 41) zurückführen und als eine sozial „begrenzte Ressource wechselseitigen Verstehens“ (Meuser 2002: 40) begreifen.

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BEWEGTE ORDNUNGEN: KONTINGENZ UND INTERSUBJEKTIVITÄT IM TANGO ARGENTINO

Da sich das Gelingen oder Scheitern von Intersubjektivität erst in sozialen Prozessen entscheidet, handelt es sich um keine ‚an sic gegebene Kategorie (wie es aus einer bewusstseinsphilosophischen Perspektive erscheint), sondern um eine praktische Intersubjektivität, wie bereits von Hans Joas (1989) postuliert. Mit der Erweiterung von Intersubjektivität um die Dimension des Performativen wird der Begriff zu einem Konzept, welches als theoretisches Modell die Dynamik einer kontingenten Bewegungsordnung zu erfassen und zu erklären vermag, wie eine dynamische, variable und kontingente Ordnung dennoch als Ordnung des Tango Argentino erkennbar bleibt.

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MELANIE HALLER

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Abbildungen Abbildung 1: Nau-Klapwijk, Nicole (1999): Tangodimensionen, München: Kastell, S. 225.

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Erfahrungsgeleitete und leibliche Kommunikation und Kooperation in der Arbeitswelt FRITZ BÖHLE/DIRK FROSS

1. Wandel von Kooperation in der Arbeitswelt Kooperation ist ein notwendiges Pendant zur Arbeitsteilung. Gleichwohl wurde in der Arbeitsforschung kooperatives Handeln in der Vergangenheit wenig beachtet. Dieser auf den ersten Blick paradox erscheinende Sachverhalt findet seine Erklärung in der besonderen Organisation von Kooperation in industriellen Arbeitsprozessen. Die Herstellung von Kooperation ist in der industriellen Betriebsorganisation traditionell die Aufgabe des Managements und nicht der einzelnen Arbeitskräfte. Die Abstimmung zwischen einzelnen Tätigkeiten und der Koordination einzelner Teil-Prozesse wird demnach durch die Organisation und Technik festgelegt. Soweit ergänzend dennoch von den Arbeitskräften selbständig kooperiert wird, erfolgt dies in Ausnahmesituationen – beispielsweise bei der Inbetriebnahme einer neuen technischen Anlage – oder ist eine offiziell nicht vorgesehene und honorierte, „unsichtbare“ Leistung (vgl. Wolf 1999). In der Arbeitssoziologie und -psychologie wurde dementsprechend unterschieden zwischen einer handwerklich geprägten vorindustriellen teamartigen Kooperation, bei der eine unmittelbare Zusammenarbeit besteht, und einer industriellen, technisch vermittelten „gefügeartigen Kooperation“ (Popitz et al. 1964: 189 ff.; Littek et al. 1983: 119). Seit Mitte der 80er Jahre vollziehen sich jedoch weit reichende Veränderungen in der Organisation von Arbeit, in deren Folge sich auch die Erscheinungsformen von Kooperation wandeln. Es kommt nun weit stärker als in der Vergangenheit zur Verlagerung von Managementaufgaben auf die Mitarbeiter. Seinen Ausdruck findet dies in einer organisatorischen Dezentralisierung und neuen Anforderungen an die Selbstverantwortung und Selbststeuerung 107

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von Arbeitsprozessen. In der neueren arbeitssoziologischen Diskussion wird diese Entwicklung als „Subjektivierung von Arbeit“ (Moldaschl/Voß 2003) bezeichnet. Betont wird damit, dass neben den fachlichen Anforderungen nun vor allem auch subjektive Leistungen wie Eigeninitiative und Selbstorganisation gefordert werden. Im Besonderen betrifft dies auch die Selbstabstimmung und -koordination der eigenen Arbeit mit anderen Arbeiten sowie zwischen dem eigenen Arbeitsbereich und anderen Arbeitsbereichen. Damit gerät auch in der Forschung kooperatives Arbeitshandeln neu in den Blick. Die Frage, wie kooperiert wird, erweist sich als ein „blinder Fleck“. Die Konzepte zur Analyse von Arbeit richten sich – entsprechend dem zuvor umrissenen Verständnis von Kooperation – primär nur auf die „individuell durchgeführte Arbeitstätigkeit“ (Weber 1999: 204). Im Folgenden seien Forschungsansätze und Überlegungen zur Analyse kooperativer Arbeit vorgestellt, in denen in besonderer Weise sinnliche, körperliche Wahrnehmungen und Aktivitäten thematisiert werden (Abschnitt 3 und 4). Eine solche Betrachtung kooperativen Handelns rückt im Unterschied zu den bisher vorherrschenden Konzepten der Analyse von Arbeit nicht nur kooperatives Handeln in den Blick, sondern weicht auch von der bisher vorherrschenden Betrachtung sinnlicher Wahrnehmung und des Körpers im Arbeitsprozess ab. Zur Verdeutlichung sei daher zunächst eine an die vorherrschenden Konzepte von Arbeit anknüpfende Betrachtung von Kooperation und Kommunikation als eine weitgehend „körperlose“ Angelegenheit vorangestellt (Abschnitt 2). Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich hier nicht nur um unterschiedliche wissenschaftliche Betrachtungsweisen handelt, sondern diese auch mit unterschiedlichen Formen der Organisation von Kooperation in der Praxis korrespondieren.

2. Diskursive Koordination – Kommunikation ohne Körper Obwohl industrielle Arbeit traditionell in weiten Bereichen körperliche Arbeit ist, orientieren sich die Konzepte zur Analyse von Arbeit überwiegend an geistiger Arbeit: Das, was Arbeit als „menschliche“ Tätigkeit ausmacht, sind primär ihre geistigen Anteile und dementsprechend die planenden und dispositiven Aufgaben. Je mehr eine Arbeitstätigkeit hierdurch geprägt ist, umso eher gilt sie als qualifiziert, höherwertig und letztendlich als „humane“ Arbeit. Das körperlich-praktische Tun ist in dieser Sicht lediglich die Ausführung des geistig Geplanten und Regulierten. Seinen organisatorischen Ausdruck fand dies in der wissenschaftlichen Betriebsführung und der Trennung sowie hierarchischen Zuordnung von planend-dispositiver, geistiger und ausführender, körperlicher Arbeit. Die sozialwissenschaftliche Kritik hieran richtete sich 108

ERFAHRUNGSGELEITETE UND LEIBLICHE KOMMUNIKATION UND KOOPERATION

primär auf die Entleerung der Arbeit von planend-dispositiven Aufgaben und weit weniger auf die Reduzierung körperlich-praktischen Tuns auf bloße Ausführung. Diese Sicht auf das Arbeitshandeln findet sich in der neueren Entwicklung auch bei der Betrachtung von Kooperation – sowohl in Wissenschaft als auch Praxis. Die neuen Formen der Selbstabstimmung werden in der wissenschaftlichen Diskussion als „diskursive Koordinierung“ (Bracyk/Schienstock 1996) im Unterschied zur hierarchischen Steuerung bezeichnet. Betont werden damit „diskursive“, sprachlich vermittelte Aushandlungs- und Abstimmungsprozesse. In der Praxis entspricht dem die Selbstabstimmung in Form von „Besprechungen“, den sog. „Meetings“. Diese finden getrennt von der eigentlichen Arbeit an besonderen Orten und zeitlich festgelegten Terminen statt. Die Kooperation und Kommunikation erfolgt hier überwiegend am „runden Tisch“. Sie orientiert sich – explizit oder implizit – am Modell eines planmäßig-rationalen Handelns und einer kommunikativen Rationalität. Beides sei kurz näher erläutert. Die diskursive Koordinierung bezieht sich primär auf die Planung von Arbeitsprozessen. Man bespricht, wie etwas gemacht werden soll, wohingegen die konkrete Durchführung an einem anderen Ort, zu einem anderen Zeitpunkt und teils auch von anderen Personen erfolgt. Wie empirische Untersuchungen zeigen, sind Meetings dann am ehesten erfolgreich, wenn sie sich hierauf beschränken (vgl. Bolte et al. 2008). Die gemeinsame Bearbeitung eines Problems und die Durchführung von Arbeitsprozessen werden bei dieser Form der Kooperation schwierig, da kaum ein gemeinsames „praktisches Tun“ möglich ist. Findet dies im Rahmen von Meetings dennoch statt, so verändern sich die Kooperation und Kommunikation. Die diskursive Koordination wird dann zu einer „erfahrungsgeleiteten“ Kooperation. Bevor dies weiter ausgeführt wird, zunächst noch einige Erläuterungen zur „kommunikativen Rationalität“ als Merkmal der Kooperation und Kommunikation in Meetings. Kommunikative Rationalität geht in Anknüpfung an Habermas (1981) von der Annahme aus, dass durch eine objektive, rationale Argumentation eine Verständigung erzielt werden kann. Dies mag theoretisch möglich und wünschenswert sein. In der Praxis besteht jedoch nicht nur die Gefahr, dass die Verständigung keineswegs – so wie vorausgesetzt – „herrschaftsfrei“ ist, sondern dass auch infolge von Zeitdruck und unzureichenden Informationen grundlegende Voraussetzungen für eine rationale Verständigung und Entscheidungsfindung fehlen. In der Organisationstheorie ist dies seit langem ein bekannter Sachverhalt und hat auf der Ebene individueller Entscheidungen zu dem Konzept einer „Bounded Rationality“ (March/Simon 1959) geführt. Es bestehen jedoch bisher wenige Erfahrungen dazu, wie diese Erkenntnisse für „kollektive Entscheidungen“ genutzt werden können. Eine 109

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Folge hiervon ist, dass sich Meetings nicht zur Steigerung der Effektivität der Koordinierung führen, sondern im Gegenteil zu „Entscheidungskillern“ werden. Entscheidungen werden vertagt, verzögert und anstelle der Lösung von Problemen werden beständig neue generiert (vgl. Bolte et al. 2008). Zur Diskussion steht damit, in welcher Weise Verständigungs- und Entscheidungsprozesse in Meetings neben rationalen, an objektivierbaren Informationen, Argumenten und Begründungen orientierten Verständigungen auch auf nicht-objektivierbare und nur begrenzt rational begründbare, subjektive Verständigungen und Einigungen angewiesen sind. Dies verweist auf die Rolle nicht-sprachlicher Kommunikation. Ihre Bedeutung zeigt sich im Rahmen diskursiver Koordinierung nicht nur an der unterstützenden Funktion von Gesten und Mimik im Sinne der Meta-Kommunikation, sondern auch an den Bestrebungen zur „Vergegenständlichung“ der in Frage stehenden Sachverhalte in Form von Dokumentationen, Zeichnungen, Modellen bis hin zu virtuellen Schilderungen realer Begebenheiten (vgl. Weber 1999). Im Folgenden seien vor diesem Hintergrund zwei Ansätze zur Analyse kooperativen Arbeitshandelns vorgestellt, die sich von der Kooperation und Kommunikation im Rahmen „diskursiver Koordinierung“ grundlegend unterscheiden. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass die Kooperation und Kommunikation weder getrennt von der eigentlichen Arbeit noch primär sprachlich erfolgt.

3. Erfahrungsgeleitete Kooperation und Kommunikation Das Konzept der erfahrungsgeleiteten Kooperation bezieht sich empirisch auf Formen der Kooperation zwischen Arbeitskräften, die unmittelbar „vor Ort“ stattfindet – entweder in dem gemeinsamen Arbeitsbereich oder bereichsübergreifend in einem der Arbeitsbereiche der beteiligten Kooperationspartner. Entscheidend ist dabei, dass der „Ort“, an dem die Kooperation stattfindet, in einem sachlichen Zusammenhang zu den Problemen, die es zu lösen gilt, steht. Hieraus ergibt sich als ein zentrales Element der Kommunikation nicht nur der Gegenstandsbezug, sondern auch, dass sie gegenstands- und handlungsvermittelt erfolgt. Die Verständigung erfolgt mithilfe und unter Beteiligung des Gegenstandes, auf den sich die Kooperation bezieht. Ein typisches Beispiel hierfür: Facharbeiter erläutern den Ingenieuren aus der Entwicklung Probleme, die in der Fertigung unerwartet auftreten, unmittelbar „vor Ort“ an den Produktionsanlagen. Sachverhalte werden durch praktische Demonstrationen – im Extremfall auch völlig ohne verbale Erläuterungen – dargelegt; unterschiedliche Sichtweisen und Kenntnisse werden auf dem Weg praktischen Handelns durch Ausprobieren und schrittweises Vorgehen ausge110

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tauscht und abgeglichen. Arbeitsmaterialen, gefertigte Produkte u.Ä. werden in die Hand genommen und anstelle verbaler Erläuterungen als selbsterklärende Artefakte benutzt. Wesentlich ist hierbei, dass sich die Wahrnehmung nicht nur auf die Kooperationspartner und deren nonverbale Mitteilungen richtet. Entscheidend ist vielmehr die Wahrnehmung der außerhalb der interpersonellen Interaktion liegenden Gegebenheiten. Eine wichtige Rolle spielt dabei eine sinnliche Wahrnehmung, die sich nicht nur auf exakt und objektiv definierbare Eigenschaften und Wirkungsweisen konkreter Sachverhalte richtet. Gerade in der Berücksichtigung nicht exakt beschreibbarer und definierbarer Gegebenheiten liegt der besondere Vorteil dieser Kommunikation (vgl. Böhle/Bolte 2002: 170 ff.). Einen besonderen Ausdruck findet dies in der sog. „empraktischen Kommunikation“. Sie wurde in empirischen Untersuchungen am Beispiel der Computernutzung festgestellt. Untersucht wurde hier die Zusammenarbeit an und mit Computern, wobei die Kommunikation nicht an verschiedenen Monitoren erfolgt, sondern sich auf die gemeinsame Betrachtung von Darstellungen auf einem Computer bezieht, etwa vergleichbar mit der Darstellung einer Tafel, eines Schaubildes u.a. (vgl. Habscheid 2001 sowie hierauf bezogen Porschen 2008). Dabei zeigt sich, dass die Kooperationspartner oftmals nur Andeutungen machen und unvollständige Sätze bilden, während sie auf den Computer deuten. Bei einem solchen „empraktischen Sprechen“ handelt es sich nicht immer um ganze Gesprächssequenzen, sondern oft nur um frei stehende Äußerungen, die in einen praktischen Kontext eingebettet sind. Ein weiteres Merkmal der erfahrungsgeleiteten Kooperation ist der Bezug auf ein gemeinsames Erfahrungswissen. Grundlegend hierfür sind gemeinsam geteilte Erfahrungen durch gemeinsam erlebte Situationen. Im Alltagsleben sind hierfür bekannte Beispiele gemeinsame Schul- oder Ferienerlebnisse. Es reichen hier oft nur einzelne Andeutungen und Hinweise, um sich zu verständigen. Ganz ähnlich führen auch in der Arbeitswelt gemeinsame Erfahrungen zur Verständigung ohne vollständige verbale Beschreibungen dessen, worauf sich Kommunikation bezieht. Damit wird auch eine Verständigung über Sachverhalte möglich, die sich nicht oder nur mit großem Aufwand exakt beschreiben lassen. Ein sehr anschauliches Beispiel hierfür findet sich in einer Untersuchung über Teleservice. Die Reparatur an einem technischen Gerät erfolgt bei Teleservice seitens der Hersteller nicht mehr unmittelbar „vor Ort“ durch die Servicekräfte, sondern mittels moderner Informations- und Kommunikationstechnologien über räumliche Distanz. Der Kunde muss hierzu im Störfall den Servicekräften die Störung beschreiben und die Servicekräfte geben entsprechende Anweisungen zur Störungsbehebung. In dem hier erwähnten Fall führten die verbalen Beschreibungen des Kunden für die Servicekraft nur zu unvollständigen Informationen. Schließlich forderte die Servicekraft 111

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den Kunden auf, die Hand auf den Motor zu legen und mitzuteilen, ob er starke oder schwache Vibrationen wahrnimmt. Diese Informationen führten schließlich zur richtigen Diagnose (vgl. Pfeiffer 2004: 226). Die hier beschriebene gegenstandsvermittelte Kommunikation beruht auf einer sinnlichen Wahrnehmung, die sich als eine „spürende“ Wahrnehmung bezeichnen lässt. Gerade auch die Wahrnehmung technischer Sachverhalte richtet sich dabei nicht nur auf exakt und objektiv beschreibbare Informationen, sondern ist mit subjektivem Empfinden und Erleben verbunden. Mittlerweile liegt eine Vielzahl empirischer Untersuchungen vor, die zeigen, dass eine solche sinnliche Wahrnehmung zur Bewältigung von Arbeitsanforderungen – gerade auch bei fortschreitender Technisierung und Verwissenschaftlichung von Arbeit – eine wichtige Rolle spielt. Ein sehr markantes Beispiel hierfür ist die Wahrnehmung von Geräuschen an technischen Anlagen. Geräusche sind für erfahrene Fachkräfte eine wichtige Informationsquelle, um Störungen zu identifizieren, ergänzend wie auch anstelle von technischen Anzeigen. Dabei werden Geräusche nicht primär in ihrer Frequenz und Lautstärke wahrgenommen und beurteilt, sondern in ihrer Qualität. Sie werden dementsprechend als „stimmig“, „rund“ oder „kreischend“ und „schmerzhaft“ beschrieben. Obwohl es sich um eine akustische Wahrnehmung handelt, ist hiermit zugleich ein körperliches Wahrnehmen und Empfinden insgesamt verbunden. In dieser Weise hat man beispielsweise bei einer sich anbahnenden Störung an technischen Anlagen ein „kribbliges Gefühl“. Ähnliches stellt sich auch bei abstrakten, scheinbar gegenstandslosen Sachverhalten ein. Projektleiter haben ein „mulmiges Gefühl“ und fühlen sich „unwohl“, wenn ein Projekt aus „dem Ruder“ läuft, aber dies (noch) nicht exakt sichtbar und nachweisbar ist. In der arbeitssoziologischen Forschung wurde hierzu das Konzept des erfahrungsgeleitet-subjektivierenden Arbeitshandelns entwickelt, womit das vorherrschende Verständnis von Arbeit als ein planmäßigrationales Handeln ergänzt und modifiziert wird.1 Die hierzu vorliegenden theoretischen und empirischen Untersuchungen zeigen, dass für das Erkennen und den Umgang mit praktischen Gegebenheiten so genannte subjektive Faktoren wie Erleben und Empfinden keineswegs – wie zumeist unterstellt – grundsätzlich Störfaktoren sind und zu subjektiven Verzerrungen führen. Sie ermöglichen vielmehr die Wahrnehmung von Eigenschaften und Wirkungsweisen konkreter Gegebenheiten, die sich nur begrenzt exakt definieren und objektiv beschreiben lassen. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass sie in gleicher Weise als berufliche Kompetenzen begriffen und entwickelt werden wie beispielsweise technisches Fachwissen und 1

Siehe ausführlicher zu den hierzu vorliegenden empirischen Untersuchungen und theoretischen Begründungen die Darstellung und Literaturverweise in Böhle et al. (2004) und Böhle (2009).

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ERFAHRUNGSGELEITETE UND LEIBLICHE KOMMUNIKATION UND KOOPERATION

abstraktes Denken.2 Die hier umrissene gegenstands- und handlungsvermittelte Kommunikation beruht wesentlich auf einem solchen erfahrungsgeleitetsubjektivierenden Umgang mit Gegenständen. Im Besonderen zeigt sich dies auch bei der Arbeit „an“ und „mit“ Menschen. Dies ist ein charakteristisches Merkmal von Dienstleistungsarbeit im Bereich der „Body Work“. Hierzu zählen ärztliche Dienstleistungen, Pflege, Frisöre, Kosmetik, Wellness u.a. (vgl. Wolkowitz 2002). Im Konzept von Arbeit als planmäßig-rationales Handeln erscheint der Mensch und insbesondere der Körper als Gegenstand der Arbeit wie ein „Objekt“. Dabei wird jedoch die Arbeit „am“ Menschen unzureichend erfasst. Untersuchungen zur Pflegearbeit zeigen beispielsweise, dass hier die unmittelbar körperlich vermittelte Kommunikation und Interaktion verbunden mit einer spürenden Wahrnehmung eine zentrale Voraussetzung ist, um die Bedürfnisse und Befindlichkeiten der Pflegebedürftigen zu erkennen (vgl. Weishaupt 2006). Auch bei Frisören ist eine körperlich-sinnliche Interaktion mit dem Haar notwendig, um dessen Beschaffenheit wahrzunehmen und den jeweiligen Besonderheiten gerecht zu werden (vgl. Dunkel 2006). Im Folgenden sei hieran anknüpfend eine Erweiterung des Konzepts der erfahrungsgeleiteten Kommunikation und Kooperation vorgestellt. Im Zentrum steht hier das auf die spürende Wahrnehmung Bezug nehmende Konzept der „leiblichen Kommunikation“.

4. Leibliche Kommunikation Das vom Kieler Philosophen Hermann Schmitz im Rahmen seines Systems der Philosophie3 entwickelte Konzept der leiblichen Kommunikation wurde bisher noch kaum auf die Analyse von Kooperation und Kommunikation in der Arbeitswelt angewendet.4 Es ergeben sich hieraus jedoch wichtige Erkenntnisse für eine körperlich vermittelte Kommunikation, die sich nicht nur unmittelbar auf „Body Work“ bezieht, sondern auch auf andere Formen kooperativer Arbeit. Hierzu soll zunächst das Konzept der leiblichen Kommunikation allgemein umrissen werden; daran anschließend folgt eine Anwendung auf Arbeit. Hermann Schmitz gilt als einer der Hauptvertreter gegenwärtiger Leibphänomenologie in Deutschland. Sein breit angelegtes philosophisches System versteht er insgesamt als Gegenentwurf zur „dominanten europäischen Intellektualkultur“ (Schmitz 2002: 23), welche durch ihre 2 3 4

Siehe zur Entwicklung der Kompetenzen für ein erfahrungsgeleitetessubjektivierendes Handeln Bauer et al. (2006), Böhle et al. (2004). So der Titel seines fünfbändigen, zehn Bücher umfassenden Hauptwerks. Eine Ausnahme bildet die Untersuchung von Charlotte und Michael Uzarewicz (2005). 113

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rationalistische und kognitivistische Tradition wesentliche Bereiche menschlichen Daseins ausgeblendet und übersehen habe. Im Kampf gegen die Ausdünnung menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten rückt Schmitz die Sphäre der unwillkürlichen, präreflexiven Lebenserfahrungen – den Bereich des „leiblich-affektiven Betroffenseins“ (Schmitz 2003: 25) – in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen. In Abgrenzung zu Husserls Bewusstseinsphänomenologie legt er damit eine „Neue Phänomenologie“ vor, in deren Zentrum nicht die konstitutiven Leistungen eines transzendentalen Bewusstseins, sondern die selbst- und welterschließenden Potenziale des eigenleiblichen Spürens stehen. Sein Anspruch ist es, diesem verschütteten Bereich menschlichen Selbst- und Weltbezugs eine Sprache zu verleihen und dem rationalen Diskurs damit eine Dimension zu erschließen, welche bis dato weithin ausgeklammert wurde. Im Gegensatz zur herkömmlichen Auffassung von Wahrnehmung als sinnliche Wahrnehmung, wonach der Mensch über die einzelnen Sinnesorgane Reize der Außenwelt empfängt, welche dann im Zusammenspiel mit dem zentralen Nervensystem in eine seelische Innenwelt transportiert und dort weiterverarbeitet werden, setzt Schmitz mit seiner Beschreibung der Wahrnehmung als leiblicher Kommunikation jenseits gängiger Dichotomien, wie der Innen/Außen-Differenz oder der Aufteilung des Wahrnehmungsvorgangs in einen rezeptiv-sinnlichen und einen verstandesmäßigsynthetisierenden Anteil, an. Wahrnehmung als „Gegebenheit oder Sichpräsentieren von etwas in leiblicher Kommunikation“ (Schmitz 1978: 36) ist laut Schmitz kein Registrieren von Sinnesdaten, welches allenfalls den Stoff für eine weitergehende erkenntnismäßige Bearbeitung im Gehirn liefert, sondern „von vornherein ein Bemerken, was los ist, d.h. ein Umgang mit Situationen“ (Schmitz 2005: 131) und muss in diesem Sinne als „intuitiv-spürendes“ Erfassen von impliziten Bedeutungszusammenhängen verstanden werden. Am eigenen Leib wird dabei etwas gespürt, das über ihn hinausgeht, man fühlt sich „eigentümlich berührt“ (Schmitz 1994a: 12), versteht, ohne das Verstandene erschöpfend in Worte fassen zu können. Nicht Sinnesorgane und Gehirnfunktionen, sondern die menschliche Leiblichkeit, „leibliche Resonanz“, macht laut Schmitz „das eigentliche, phänomenologisch faßbare Medium und Vehikel der Wahrnehmung“ (ebd.) aus. Zur Verdeutlichung sei im Folgenden zunächst auf einige Aspekte der Schmitzschen Beschreibung des eigenleiblichen Spürens eingegangen.

Leibliche Dynamik Unter eigenleiblichem Spüren versteht Schmitz in einer ersten Annäherung „das Wahrnehmen dessen, was jemand von sich in der Gegend seines Körpers finden kann, ohne sich auf das Zeugnis der fünf Sinne (Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken) und des perzeptiven Körperschemas […] zu stützen“ 114

ERFAHRUNGSGELEITETE UND LEIBLICHE KOMMUNIKATION UND KOOPERATION

(Schmitz 2002a: 429).5 Das so in teil- bzw. ganzheitlichen Regungen spürend Wahrgenommene – der eigene Leib – offenbart sich als eigentümliches dynamisches System. 6 Schmitz entwickelt zur Beschreibung dieser Dynamik ein Kategoriensystem von Grundzügen des Leiblichen, mit welchem er beansprucht, die charakteristischen Strukturen, die an jedem leiblichen Befinden in unterschiedlicher Intensität und Mischung nachweisbar sind, phänomenologisch angemessen zu kennzeichnen. Eigenleibliches Spüren zeigt sich laut Schmitz in Engung und Weitung, Spannung und Schwellung, Intensität und Rhythmus, in leiblichen Richtungen sowie in protopathischer bzw. epikritischer Tendenz. Im Folgenden seien diese Kategorien näher erläutert. Das entscheidende Kategorienpaar, welches die Dynamik des Leibes grundlegend gestaltet und das gesamte leibliche Erleben umgreift, ist in den gegenläufigen Tendenzen der Engung und Weitung gegeben. Wir spüren uns immer irgendwie eng oder weit und pendeln in unterschiedlichem Maße ständig zwischen diesen beiden Polen von Enge und Weite. Bei Angst, Schmerz, Konzentration oder Beklommenheit beispielsweise überwiegt die Engung, bei Lust, Erleichterung, Entspannung die Weitung (vgl. Schmitz 1985: 82). Leiblich-Sein bedeutet für Schmitz in diesem Sinn „zwischen reiner Enge und reiner Weite irgendwo in der Mitte zu sein und weder von Enge noch von Weite ganz loszukommen, solange das bewußte Erleben dauert“ (Schmitz 1998: 17).7 Engung und Weitung bilden als die Achse der leiblichen Dynamik den „vitalen Antrieb“ des Menschen, welcher es diesem grundlegend erst ermöglicht, Reize zu empfangen oder sich ihnen zuzuwenden (vgl. Schmitz 1999: 32). Nicht die „psychophysischen Bahnen der fünf Sinne“ (Schmitz 2005: 132), sondern diese im vitalen Antrieb durch Engung und Weitung gegebene leibliche Resonanzfähigkeit des Menschen stellt laut Schmitz den

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Das perzeptive Körperschema ist das habituelle Vorstellungsbild des Körpers, das dem Menschen durch Sehen und Betasten des Körpers gegeben ist. Von diesem ist das motorische Körperschema zu unterscheiden, welches die im motorischen Verhalten gegebene unwillkürliche Orientiertheit über Richtungen und Entfernungen der einzelnen Körperglieder gewährleistet (vgl. Schmitz 1990: 124). Beispiele für teilheitliche leibliche Regungen sind etwa Kribbeln, Jucken, Ausund Einatmen, Zug, Druck, Schmerz oder der Blick. Ganzheitlich werden zum Beispiel Müdigkeit, Frische, Behagen, Erleichterung, Beklommenheit oder Schreck gespürt. Menschliches Bewusstsein ist laut Schmitz an diesen grundlegenden Antagonismus von Engung und Weitung gebunden. Beim heftigen Erschrecken – dem einen Extrem im spürbaren leiblichen Befinden – zerreißt dieses grundlegende Band in Richtung Enge, beim Einschlafen – dem anderen Extrem – erschlafft es in Richtung Weite. In beiden Fällen schwindet das menschliche Bewusstsein (vgl. Schmitz 1978: 97). 115

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grundlegenden „Kanal für den Umgang mit Situationen“ (ebd.) in leiblicher Kommunikation dar. Engung und Weitung können sich im leiblichen Befinden unterschiedlich zueinander verhalten. Gewöhnlich sind sie in simultaner oder sukzessiver Konkurrenz antagonistisch aneinander gebunden. Schmitz bezeichnet die Engung dann als „Spannung“, die Weitung als „Schwellung“. Simultane Konkurrenz von Spannung und Schwellung erzeugt Intensität, zu spüren etwa beim tiefen Einatmen oder auf dem Gipfel sexueller Erregung, sukzessive Konkurrenz von Spannung und Schwellung ist – wie bei Angst oder Wollust – spürbar als leiblicher Rhythmus. Engung und Weitung können sich aber auch partiell voneinander lösen, was leiblich als privative Engung, zum Beispiel beim Erschrecken, bzw. privative Weitung, etwa bei Erleichterung, gespürt wird (vgl. Schmitz 1985: 82f.). Enge und Weite sind im spürbaren Leib aber nicht nur durch dieses dynamische Verhältnis, sondern außerdem durch leibliche Richtungen miteinander verbunden. Diese müssen nicht notwendig gerade oder eindimensional verlaufen, sie führen laut Schmitz aber immer unumkehrbar aus der Enge des Leibes in die Weite. Gestalten leiblich spürbarer Richtungen sind u.a. das motorische Körperschema und der Blick. Letzterer ist zudem in das motorische Körperschema als eine von dessen Richtungen eingegliedert. Neben den leiblich spürbaren Richtungen, welche den Ausführenden an ihren Gebärden, ihren zielgerichteten Eigenbewegungen und ihrem Blick wahrnehmbar sind, stellen auch gespürte Bewegungsanmutungen wie etwa das „Aufrichten bei Stolz“ oder das „Versinken in Scham“ solch leibliche Richtungen dar (vgl. Schmitz 1994: 83f.). Das letzte Kategorienpaar leiblicher Dynamik, protopathische und epikritische Tendenz8, ist - anders als sämtliche bisherigen Kategorien - unabhängig von der grundlegenden leiblichen Dimension der Engung und Weitung. Als protopathisch bezeichnet Schmitz „die Tendenz zum Dumpfen, Diffusen, Ausstrahlenden, worin die Umrisse verschwimmen“ (Schmitz 1990: 126), epikritisch meint im Kontrast dazu „die schärfende, spitze, Punkte und Umrisse setzende Tendenz“ (ebd.). Den stechenden Schmerz oder die Gänsehaut etwa spürt man in diesem Sinne epikritisch, wollüstiges „Dahinschmelzen“ protopathisch. Soviel zum Schmitzschen „Alphabet der Leiblichkeit“ (Schmitz 1990: 121).

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Die beiden Termini übernimmt Schmitz von dem Neurologen Henry Head, welcher sie zur Bezeichnung unterschiedlicher Schmerzarten eingeführt hat. Schmitz verwendet sie nicht nur zur Beschreibung des eigenleiblich Gespürten, sondern auch zur Charakterisierung der gleich zu erörternden „Bewegungssuggestionen“ und „synästhetischen Charaktere“ (vgl. Schmitz 1998: 22).

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Einleibung – spürende Wahrnehmung Wesentlich für das Verständnis leiblicher Kommunikation ist nun, dass sich die oben skizzierte Struktur leiblicher Dynamik laut Schmitz nicht nur auf das Spüren des eigenen Leibes beschränkt, sondern immer schon über den eigenen Leib hinausgreift und auf diese Weise den Schlüssel zur spürenden Wahrnehmung von Welt darstellt. Die eigenleibliche Dynamik ist so nicht solipsistisch in sich selbst versponnen und von der Umgebung abgeschottet; leibliche Kommunikation bewirkt vielmehr, „daß die in der Besinnung auf das eigenleibliche Spüren entdeckbaren, für Leiblichkeit spezifischen Strukturen die der menschlichen Erfahrung zugängliche Welt prägend durchziehen“ (Schmitz 1990: 116). Der Mensch befindet sich auf diese Weise in einem grundsätzlichen Schwingungsverhältnis mit der Welt, welches ihm bedeutungsvolle Situationen allererst eröffnet. Ein zentrales Element leiblicher Kommunikation ist laut Schmitz dabei die Einleibung. Sie stellt die Grundform menschlicher Wahrnehmung und aller Sozialkontakte dar und findet vorrangig beim optischen, akustischen und taktilen Kontakt zwischen Menschen und zwischen Menschen und Gegenständen statt. Die Kernidee der Einleibung besteht darin, dass im Wahrnehmungsvorgang der eigene Leib mit dem Wahrgenommenen (Menschen und leiblose Gegenstände) zu einem übergreifenden Gebilde vereinigt ist, welches die spezifische Struktur leiblicher Dynamik besitzt. Einleibung besteht so in der „beständige[n], großenteils flüchtige[n] Bildung, Umbildung und Auflösung übergreifender Leiber oder Quasi-Leiber“ (Schmitz 1994: 85).9 Sie beruht dabei auf der schon in sich dialogischen Dynamik des Leibes durch die im vitalen Antrieb gegebenen antagonistischen Grundtendenzen der Engung und Weitung und ist eine bei jeglicher Wahrnehmung sich abspielende erweiterte Form dieses Dialogs: Der spürbare eigene Leib verbindet sich dabei mit Begegnendem zu den oben erwähnten übergreifenden Einheiten, wobei die Impulse von Engung und Weitung jetzt auf die Partner verteilt sind. Durch Einleibung ist so „eine Subjekt und Objekt im Sich-einspielen und Eingespieltsein auf einander umgreifende Kooperation“ (Schmitz 1990: 66) entstanden. Die Verschmelzung des eigenen Leibes mit dem ihm Begegnenden vollzieht sich dabei durch Qualitäten des sinnlich Wahrgenommenen, welche mit den Kategorien leiblichen Spürens korrespondieren. Als „gemeinsamer Nenner“ (Schmitz 1985: 93) von äußerlich Wahrnehmbarem und eigenleiblichem Spüren verleihen sie den Gegenständen der Wahrnehmung unmittelbare Leibaffinität, durch welche der Leib „zur Einleibung von allen 9

Werden zwei oder mehrere menschliche Leiber in leiblicher Kommunikation zusammengeschlossen, spricht Schmitz von übergreifenden Leibern, vereinigt sich ein Leib mit Objekten, die nicht von sich aus leiblich sind, bezeichnet er die übergreifenden Einheiten als Quasi-Leiber. 117

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Seiten gleichsam eingeladen wird“ (Schmitz 1990: 140). Derartige „Brückenqualitäten“ sieht Schmitz in „Bewegungssuggestionen“ und „synästhetischen Charakteren“ gegeben. Unter Bewegungssuggestionen versteht Schmitz „Anmutungen oder Vorzeichnungen von Bewegung“ (Schmitz 2002: 186), die sowohl direkt an Gegenständen, Bewegungen, Musik etc. als deren Gestaltverläufe wahrgenommen, als auch – etwa in Form von „Als-ob-Bewegungen“ (ebd.) des Sinkens, Schwellens, der Erhebung oder Weitung bei Müdigkeit, Stolz oder Frische – am eigenen Leib gespürt werden können. Jede Gebärde ist mit Bewegungssuggestionen geladen, die dem Betrachter von außen wahrnehmbar und dem Ausführenden zugleich als leibliche Richtungen spürbar sind (vgl. ebd.: 185). Auch Gegenstände tragen durch ihre „runde“, „geschwungene“, „bauchige“ Gestalt Bewegungssuggestionen in sich, ebenso Haltung oder Bewegungen eines Menschen, welche „aufrecht“, „geduckt“, „straff“ oder „lässig“, „ausladend“, „kleinteilig“ oder „fahrig“ wirken können. Derartige Bewegungssuggestionen sind laut Schmitz außerdem durch jede Form von Rhythmus (etwa in der Musik oder auch als Versrhythmus von Gedichten) gegeben. Musik kann dem Menschen „in die Glieder fahren“, Gedichte können ihm „unter die Haut gehen“, weil die jeweilige Bewegungssuggestion unmittelbar „auf den hörenden Leib über[springt]“ (Schmitz 1998: 34). Weitere wichtige „Überträger der Einleibung“ (Schmitz 1994: 90) sind laut Schmitz die in den Sinnesqualitäten immer auch mitschwingenden synästhetischen Charaktere. Als leibbezogene Qualitäten des sinnlich Wahrgenommenen liegen die synästhetischen Charaktere dabei „quer“ zur gängigen Aufteilung der Wahrnehmung in unterschiedliche Sinnesgebiete. Das ihnen Gemeinsame lässt sich nicht im Hinblick auf getrennte Gegenstandsbereiche sinnlicher Wahrnehmung finden, sondern nur in ihrem Bezug zu leiblichem Spüren (vgl. Uzarewicz/Uzarewicz 2005: 164). Derartige intermodale Qualitäten sind etwa das „Warme“ oder „Sanfte“, das optisch an Farben, taktil an Stoffen und akustisch etwa an Stimmen wahrgenommen wird und auf leibliches Spüren – als Dämpfung des Antagonismus von Spannung und Schwellung – bezogen ist. Auch etwa das „Spitze“ einer „grellen Farbe“ oder eines „schrillen Tons“ erhält seine spürbare Basis und damit volle Bedeutung erst durch die epikritische Dimension leiblicher Dynamik.

Formen der Einleibung Schmitz unterscheidet zwei Formen von Einleibung: die antagonistische und die solidarische Einleibung. Antagonistische Einleibung findet sowohl zwischen Menschen als auch zwischen Menschen und Gegenständen statt und vereinigt die Partner der Einleibung polar, d.h. mit einem „Verhältnis der Über- und Unterlegenheit“ (Schmitz 1985: 87) der jeweiligen Partner. Die 118

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ausschließlich zwischen Menschen vorkommende solidarische Einleibung schließt im Gegensatz dazu die Beteiligten „summarisch, ohne polarisierende Einstellung aufeinander“ (Schmitz 2005: 172) zusammen. Zunächst zur antagonistischen Einleibung: Sie resultiert aus der Verteilung der beiden gegeneinander strebenden Tendenzen von Engung und Weitung auf die dadurch in ein dialogisches Verhältnis versetzten Partner, wobei jeweils einer der Partner die dominierende Rolle der Enge des übergreifenden Leibes innehat.10 Wenn die Enge als Orientierungszentrum der Wahrnehmung dabei bei einem der Partner verbleibt, ist die Einleibung einseitig, fluktuiert der Engepol zwischen den Partnern, ereignet sich die Einleibung wechselseitig, die Dominanzrolle pendelt dann in mehr oder weniger kurzen Phasen zwischen den Partnern hin und her (vgl. Schmitz 2003: 39). Einseitige Einleibung findet laut Schmitz immer dann statt, wenn man von etwas so stark in Anspruch genommen ist, dass man ganz von ihm fasziniert bzw. gefesselt ist. Die dominante Rolle einseitiger Einleibung kann dabei etwa dem Blick eines Hypnotiseurs, weniger drastisch aber auch dem Tennisball, dem die gebannten Zuschauer eines Tennisspiels aufmerksam folgen, zukommen. Überhaupt beruht laut Schmitz die selektive Wahrnehmung von Objekten hauptsächlich auf einseitiger Einleibung. „Sie ist dann eine mindestens schwache Fesselung des Wahrnehmenden“ (Schmitz 1980: 27), wobei das wahrgenommene Objekt zum Träger der Enge des übergreifenden QuasiLeibes wird. Ein von Schmitz häufig angeführtes Beispiel einseitiger Einleibung ist etwa die geschickte Ausweichreaktion vor einem heranfliegenden Gegenstand. Sie vollzieht sich unwillkürlich, ohne vorherige Berechnung der Flugkurve des Objekts und deren Abgleich mit der eigenen Körperposition. Planung und Analyse würden das optisch-motorische Koagieren in der Gefahrensituation vielmehr eher behindern. Das „instinktive“ Ausweichen gelingt laut Schmitz nur, „weil das Wahrnehmen im Sehen mehr ist als bloßes Sehen des Objekts, nämlich Einleibung“ (Schmitz 2005: 132): Am Objekt werden dabei auf leibliches Spüren bezogene Eigenschaften wahrgenommen, wodurch ein übergreifendes quasi-leibliches Gefüge entsteht. Die dominante Rolle verbleibt hierbei ausschließlich beim herannahenden Gegenstand, so dass der Blickende einseitig an diesem „hängt“. Der Bezug auf eigenleibliches Spüren erfolgt hier über Bewegungssuggestionen und den Blick als leiblich-spürbare Richtung. Da der Blick zugleich in das motorische Körperschema integriert ist, wird die Bewegung des Objekts unmittelbar in dieses über-

10 Die Enge des Leibes stellt als Quelle des den Leib durchziehenden Richtungsgefüges den Orientierungsnullpunkt der Wahrnehmung dar. „Nur von diesem Zentrum aus kann die Welt verortet werden. Die Verortung ist unhintergehbar an das leibliche Zentrum gebunden.“ (Uzarewicz/Uzarewicz 2005: 102) 119

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tragen, weshalb das Zusammenspiel von Blick und Motorik ohne Reaktionszeit gelingt. Wechselseitig und in größerem Rahmen findet derartige optischmotorische Einleibung nach Schmitz täglich in belebten Fußgängerzonen statt, wenn Menschen durch flüchtige Blicke ihre Bewegungen so aufeinander abstimmen, dass Zusammenstöße eher selten vorkommen. Auch hier greifen motorische Körperschemata, Blicke und Bewegungssuggestionen des Gesehenen im „Ballet der Einleibung“ (Schmitz 1994: 87) unmittelbar ineinander, so dass die planlose Abstimmung in der gemeinsamen Situation glückt. Wechselseitige Einleibung stellt laut Schmitz den „wichtigste[n] ‚Messfühler‘, wodurch Menschen ihr Verhalten aufeinander abstimmen“ (Schmitz 1985: 88), dar. Schon der einfache Blickkontakt – auch ohne motorische Abstimmung – ist laut Schmitz ein Fall wechselseitiger Einleibung. Als leibliche Regungen (und Richtungen) übertragen Blicke den antagonistischen Dialog von Engung und Weitung unmittelbar auf den jeweiligen Partner, so dass die einander Anblickenden unwillkürlich „in einen gemeinsamen vitalen Antrieb mit rhythmischem Wechsel der Dominanz im Konkurrieren“ (Schmitz 2005: 90) hineingezogen werden. Ganz ähnlich erfolgt wechselseitige Einleibung etwa auch über den taktilen Kontakt. Als Musterbeispiel dafür gilt Schmitz der Ringkampf, „wenn beide Leiber gegen einander schwellen und sich spannen, in rhythmischem Wechsel beide Tendenzen dem Partnerleib übertragend, wobei die Dominanzphasen von Spannung und Schwellung […] abwechseln“ (Schmitz 1994: 86). Auch der Händedruck, die Umarmung oder das zärtliche Liebesspiel gehören hierher. Die auf diese Weise taktil bzw. optisch vereinigten Partner spüren die Befindlichkeit des Anderen jenseits sprachlicher oder symbolischer Vermittlungen unmittelbar am eigenen Leib. Den zweiten Haupttyp neben der antagonistischen bildet laut Schmitz die solidarische Einleibung. Diese stellt sich ein, wenn zwei oder mehr Beteiligte in der Konzentration auf ein gemeinsames Bezugszentrum nicht antagonistisch, sondern gewissermaßen symmetrisch leiblich miteinander verschmelzen (vgl. Schmitz 1978: 96). Die dominierende Rolle der Enge fällt hier weder ein- noch wechselseitig einem der Partner zu, sondern wird von dem geteilten Bezugszentrum übernommen, welches auf diese Weise das Verhalten der solidarisch vereinigten Akteure führt. Die geteilte Enge kann dabei etwa durch eine Person, wie zum Beispiel den charismatischen Redner, der seine Zuhörer „magisch“ in seinen Bann zieht (vgl. Uzarewicz/Uzarewicz 2005: 152), oder einen Gegenstand, etwa dem von Spielern und Zuschauern aufmerksam verfolgten Ball während eines Fußballspiels, hergestellt werden. Sie kann aber auch ganz allgemein in der kollektiven Einstellung der dadurch solidarisch verbundenen Beteiligten auf ein gemeinsames Thema, Ziel oder Werk gege120

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ben sein.11 Solidarische Einleibung in diesem Sinne findet nach Schmitz etwa beim gemeinsamen Musizieren oder gemeinsamen Rudern statt (vgl. Schmitz 1980: 41f.). Im praktischen Handlungsvollzug, etwa bei Wettkämpfen im Mannschaftssport oder der Koordination gemeinschaftlichen Arbeitshandelns, werden sich häufig Mischformen zwischen solidarischer und antagonistischer Einleibung finden lassen; die Übergänge zwischen beiden sind fließend. Als grundlegende Beziehungsformen auf der Basis des eigenleiblichen Spürens sorgen sie sowohl für das motorische, als auch das sensible Erfassen und Verarbeiten von gemeinsamen Situationen. Die Partner der Einleibung koagieren dabei ohne merkliche Reaktionszeit, da nicht zuerst Reize empfangen werden und anschließend darauf reagiert werden muss, „sondern ein von vorn herein übergreifender vitaler Antrieb“ (Schmitz 2003: 41) für die unwillkürliche Abstimmung der Akteure sorgt. Koordinierung und Abstimmung erfolgen hierbei nicht durch die Orientierung an gemeinsamen Verhaltensmustern oder die Einübung bestimmter Handlungsschemata und Routinen. Ausschlaggebend und für das Gelingen maßgeblich ist vielmehr eine subtile leiblich-spürende „Vereinigung“ der Beteiligten. Schmitz bietet damit eine mögliche Erklärung für das empirisch beobachtbare Phänomen eines „spontanen“ gemeinsamen „situativen Handelns“ unter wechselnden und instabilen Handlungsbedingungen.

Leibliche Kommunikation im Arbeitsprozess Schmitz bezieht sich in seinen konkreten Beispielen zu den verschiedenen Spielarten leiblicher Kommunikation kaum auf Prozesse sozialer Interaktion und Kooperation in der Arbeitswelt; nur vereinzelt finden sich hier Hinweise. So verweist er etwa auf die kooperative Arbeitstätigkeit von Handwerkern, welche in ihrem Tun ganz „bei der Sache sind“, „Hand in Hand arbeiten“ und dabei als Einzelne gewissermaßen in der übergreifenden Arbeitssituation verschwinden. Er führt in diesem Zusammenhang das gemeinsame Sägen zweier Partner als mögliche Mischform von antagonistischer und solidarischer Einleibung an.12 Die Beteiligten sind dabei (durch die gemeinsame Konzentration auf die Aufgabe des Sägens) sowohl solidarisch, als auch (über Zug und Druck der Sägebewegung) wechselseitig-antagonistisch miteinander vereinigt: Beide Partner übernehmen dabei im Wechsel Initiative und Reaktion, das Tun des Einen wird vom Anderen unwillkürlich aufgenommen, unter11 Gemeinsame Konzentration ist laut Schmitz „leiblich so gut wie Beklommenheit, Schreck u. dgl. Engung“ (Schmitz 1978: 97). 12 Schmitz bezieht sich hier auf ein Beispiel, welches Paul Christian und Renate Haas als Modell handwerklicher Partnerarbeit in ihrer Analyse zu „Wesen und Formen der Bipersonalität“ näher untersucht haben (vgl. Christian/Haas 1949). 121

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stützt und erwidert. Im Handlungsvollzug existiert dabei keine bewusste Steuerung des eigenen Beitrags im Verhältnis zu dem des Partners; wenn das Ausmaß der Beteiligung des einen Partners sinkt, wird die Differenz unbemerkt vom anderen Partner ausgeglichen. Die leiblich kommunizierenden Akteure „tauchen“ sozusagen in den durch die Einleibung sich bildenden übergreifenden Leib „ein“ und heben sich so nicht mehr als Einzelne aus der gemeinsamen Arbeitsstation ab (vgl. Schmitz 1978: 96 sowie Schmitz 1980: 42). Im Unterschied zu rein mechanisch habitualisierten Abläufen ist es den Beteiligten durch die leibliche Kommunikation auch ohne explizite Absprachen und Unterbrechungen möglich, das wechselseitig aufeinander bezogene Handeln an die jeweils variierenden konkreten Gegebenheiten und Unregelmäßigkeiten (Beschaffenheit des Holzes, schwankender Krafteinsatz des Partners u.Ä.) situativ anzupassen. Das Konzept der leiblichen Kommunikation lässt sich jedoch nicht nur auf solche traditionellen Formen körperlicher Arbeit anwenden. Ein Beispiel hierfür ist die soziale Interaktion im Rahmen personenbezogener Dienstleistungen wie der Pflege: Sabine Weishaupt beschreibt in ihrer Untersuchung zum Arbeitshandeln in der Altenpflege, dass die Pflege älterer Menschen eine „in hohem Maße ereignis- und situationsabhängige Arbeit“ (Weishaupt 2006: 88) darstellt, die sich nur begrenzt planen bzw. standardisieren lässt. Auch bei scheinbar einfachen und alltäglichen Pflegehandlungen wie „Waschen, Duschen, Eincremen, Essen Reichen usw.“ (ebd.: 90) ist eine permanente situative Abstimmung mit den Befindlichkeiten und Reaktionen der Pflegebedürftigen notwendig. Die Pflegekräfte müssen „sehen, merken, spüren, was … los ist und wie (sie; Anm. d. Verf.) das heute am besten machen und hinkriegen“ (ebd.). Das Pflegehandeln erfolgt nicht nach einem festen Plan, sondern „dialogisch-interaktiv“ (ebd.: 99), wobei den Pflegebedürftigen mit „Zuwendung und Empathie in einem partnerschaftlichen Kooperationsverhältnis begegnet [wird]“ (ebd.). Wesentlich dabei ist, dass „durch Wahrnehmen von kleinsten Zeichen und Reaktionen des Bewohners und unmittelbares, jeweils NeuesDarauf-Reagieren“ (ebd.: 90) die richtige Vorgehensweise gefunden wird. Das „Gespür für Zwischentöne und Nuancen“ (ebd.: 93) richtet sich dabei auf Informationen, die „nicht messbar, nicht exakt definierbar und […] nicht eindeutig sind“ (ebd.: 91). Auch die hier beschriebene soziale Interaktion lässt sich mit Schmitz als Mischform aus antagonistischer und solidarischer Einleibung beschreiben:13 Pflegekräfte und Pflegebedürftige beziehen sich zum einen jeweils aktiv und reaktiv aufeinander: Über die Stimme, den Blick und/oder die Berührungen ist ihr leibliches Befinden wechselseitig antagonis13 Abhängig vom jeweiligen Gesundheitszustand der Pflegebedürftigen werden sich hier unterschiedliche Gewichtungen der beiden Einleibungsarten finden lassen. 122

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tisch miteinander verbunden. Die gemeinsame Konzentration bzw. Ausrichtung auf das Ziel der jeweiligen Pflegehandlung (Waschen, Essen, Eincremen, Umbetten etc.) sorgt zum anderen für ein übergreifendes Orientierungszentrum und somit zusätzlich für die symmetrisch-solidarische Einleibung der Akteure in die jeweilige Pflegesituation. Ähnlich wie Charlotte und Michael Uzarewicz dies u.a. am Beispiel der „Basalen Stimulation“ aufgezeigt haben14, kommt es „zwischen Pflegenden und zu Pflegenden“ auch hier zur „Bildung von Ad-hoc-Leibern in der Interaktion“ (Uzarewicz/Uzarewicz 2005: 173). Verhältnis und gemeinsames Tun von Pflegekräften und Pflegebedürftigen sind dabei wesentlich durch die Dimensionen und Kategorien des eigenleiblichen Spürens bestimmt. Haltung, Stimme, Blick und Bewegungen etc. der Pflegebedürftigen werden von den Pflegekräften unwillkürlich in ihren leibbezogenen Qualitäten spürend wahrgenommen. „Stockende“, „fahrige“, „flüssige“, „unruhige“ Bewegungen, der „gebrechliche“, „kräftige“, „volle“ Klang der Stimme, der „matte“, „ängstliche“, „ruhige“, „entspannte“ Blick uvm. stellen dabei nicht nur äußerliche Wahrnehmungen und Beschreibungen von Verhalten und Befindlichkeit der zu Pflegenden dar. Sie werden von den Pflegenden als Bewegungssuggestionen und synästhetische Charaktere direkt am eigenen Leib gespürt und dienen unmittelbar als „stillschweigende“ Kriterien für die situative Abstimmung in der jeweiligen Pflegesituation. Solche Formen einer von außen gesehen „stummen“ Koordination finden sich auch dort, wo kein unmittelbarer körperlicher Kontakt stattfindet. Auch hier vollziehen sich Abstimmungen über die leibbezogene Wahrnehmung des Verhaltens von Kooperationspartnern. Ein Beispiel hierfür sind subtile Abstimmungsprozesse, wie sie etwa bei der Koordinierung der Aktivitäten in einem OP-Saal auftreten. Cornelius Schubert und Werner Rammert beschreiben beispielsweise, wie in kritischen Situationen Probleme nicht „sequentiell abgearbeitet“, sondern durch die beteiligten Anästhesisten, Chirurgen und Pflegekräfte gleichzeitig beseitigt werden (vgl. Schubert/Rammert 2006: 326). Die komplexen Arbeitsabläufe sind in solchen Krisen „nicht vollständig ex ante organisiert“ (ebd.: 327), die Lösung des Problems entfaltet sich nicht entlang vorgegebener Handlungsmuster, sondern durch „situationale, zeitnahe und problembezogene Ausrichtungen von kollektiven Aktivitäten […], die keiner zentralen Steuerung unterliegen. Die [...] Handlungszusammenhänge werden in Aktion verknüpft“ (ebd.: 333). Die beiden Autoren vergleichen dies mit der Koordinierung einzelner Aktivitäten bei kollektivem Musizieren im „Kammerorchester oder einer Jam Session“(ebd.). Auch ohne eingehende Analyse solcher Formen der Interaktion unter Bezug auf die aufgezeigten Merkmale und Dimensionen leiblicher Kommunikation werden hier Über-

14 Siehe hierzu Uzarewicz/Uzarewicz (2005: 169-176). 123

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einstimmungen erkennbar. Zugleich wird aber auch deutlich, in welcher Weise es (erst) durch das Konzept der leiblichen Kommunikation möglich wird, zu entschlüsseln, worauf solche „nonverbalen“ Abstimmungsprozesse15 beruhen bzw. worüber sie sich vollziehen. Systematische empirische Untersuchungen hierzu liegen bisher kaum vor und sind eine neue Herausforderung an die Arbeitsforschung – gerade auch im Bereich „geistiger“ Arbeit.

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15 Siehe hierzu insbesondere auch die Untersuchungen im Rahmen der Workplace Studies (vgl. Luff/Hindmarsh/Heath 2000; Knoblauch/Heath 1999). 124

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Körper im Spiel – Choreographien des Sozialen als Gegenstand des Theaters und der performativen Sozialforschung UTE PINKERT

Wenn man unter Choreographie ganz allgemein die Inszenierung von Bewegungsabläufen versteht, dann liegt es nahe, dabei zuerst einmal an Tanz, Theater oder Film zu denken. So lässt sich erwarten, dass jemand aus dem Bereich der Darstellungskunst zum Thema „Choreographien des Sozialen“ etwas beizutragen hat. Mein Beitrag widmet sich der Beziehung zwischen Theaterkunst und sozialem Lebensalltag und steht unter der Fragestellung, unter welchen Bedingungen Theater als Arbeit mit und an der Choreographie des Sozialen begriffen werden kann. Mit der skizzenhaften Darstellung der Theaterästhetik Bertolt Brechts stelle ich ein Modell für eine ästhetisch-soziologische Praxis vor und gehe im Anschluss daran auf aktuelle Entwicklungen des Brechtschen Ansatzes in Pädagogik und Forschung ein.

Theater und die Choreographien des Sozialen Grundlage für eine wie auch immer geartete Beziehung zwischen sozialem Alltag und theatralem Spiel ist die anthropologische Konstante der Mimesis, die als grundlegende Praxis symbolischer Welterzeugung auch für die Konstitution theatraler Welten verantwortlich ist. Wie Gebauer & Wulf in Bezug auf Aristoteles herausgearbeitet haben, konstituiert Mimesis dabei keinen Sonderbereich innerhalb der Kunst, sondern „hängt mit dem Alltagshandeln zusammen, das selbst von mimetischen Zügen durchsetzt ist“ (Gebauer/Wulf 1998,17). Die Tatsache, dass „das Weltverhältnis der Kunst […] schon vorgängig zur künstlerischen Welt im alltäglichen praktischen Handeln [existiert]“ (ebd.), lässt sich an der Theaterkunst in besonderer Weise zeigen. Zu127

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mindest für das abendländische, neuzeitliche Theater gilt: Es ist Nachahmung menschlicher Handlungen.1 Zur Erzeugung der theatralen Symbolik werden damit im Gegensatz zu anderen Künsten keine spezifischen Materialien bzw. Zeichensysteme benötigt. Das Theater greift für seine Inszenierungen vielmehr auf menschliche Bewegungen im umfassenden Sinne und auf sprachliche Äußerungen zurück, die im jeweiligen kulturellen Alltag im Umlauf sind (vgl. Fischer-Lichte 1997: 987). Wenn diese – dem kulturellen Alltag entstammenden - körperlichen bzw. sprachlichen Äußerungen auf die Bühne gebracht werden, erfahren sie eine Transformation. Sie verlieren ihre primäre und pragmatische Funktion, für die sie in den unterschiedlichen kulturellen Systemen erzeugt worden sind, und werden zu Zeichen bzw. zu Zeichen von Zeichen.2 Wegen dieser Merkmale begreift man die theatrale Inszenierung auch als „Verdoppelung der Kultur“, in der sie sich ereignet (ebd.). Damit einher geht eine der jeweiligen Darstellungsabsicht entsprechende (Re-)Konstruktion des Materials. Auf die Dimension der Bewegung bezogen bedeutet dies die Gestaltung der nachgeahmten (und durch den Text vorgegebenen) Handlung durch den bewussten Einsatz gestischer, mimischer und proxemischer Zeichen. Denn im Prinzip3 wird die Handlung den körperlich anwesenden Zuschauern im Theater nicht erzählt, sondern vergegenwärtigend gezeigt. Die raum-zeitlich und ästhetisch verdichtende Vergegenwärtigung komplexer Handlungsabläufe, die auf Handlungen innerhalb der Alltagskultur verweisen, lässt sich verallgemeinernd als Arbeit mit und an den Choreographien des Sozialen beschreiben. Genauere Aussagen über die je spezifischen Gestaltungsweisen von Choreographien des Sozialen im Theater sind jedoch nur möglich, wenn man his1

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So definierte Aristoteles die Tragödie als „Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden. Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.“ (Aristoteles Poetik, Abschnitt 6) Ein Schrei auf der Bühne hat die gleiche materielle Beschaffenheit wie ein Schrei im sozialen Alltag, aber er ist nicht Ausdruck von Wut oder Angst, sondern er bedeutet Wut oder Angst. Die Schauspielerin, die diesen Schrei produziert, ist nicht wirklich in einer bedrückenden oder bedrohlichen Situation. Sie (re-)produziert diese mittels Erinnerung und Vorstellungsvermögen und konzentriert sich darauf, körperlich und stimmlich etwas zu produzieren, das von Zuschauenden als Schrei verstanden wird. Und diejenigen, die dieser Äußerung beiwohnen, haben nicht dem Impuls zu flüchten oder zu helfen. Sie sind nicht Beteiligte oder Zeugen, sondern Zuschauer, die außerhalb des Geschehens sitzen und dieses vornehmlich betrachten. Wie Peter Szondi gezeigt hat, gilt dieses Prinzip ungebrochen nur für das sog. „dramatische Theater“, wirkt aber in anderen (z.B. elisabethanischen oder auch epischen) Theaterformen dennoch fort.

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torisch und theaterästhetisch konkret wird. Denn innerhalb der Theatergeschichte differieren die Interpretationen des mimetischen Verhältnisses zwischen Theaterbühne und sozialem Alltag ebenso wie die Auffassungen von dem Charakter und der Bedeutung der körpersprachlichen Zeichen innerhalb der theatralen Kommunikation. Für den vorliegenden Zusammenhang soll deshalb auf eine Theaterästhetik Bezug genommen werden, die in besonderem Maße die Beziehung zwischen sozialem Alltag und Theaterkunst reflektiert und bearbeitet und dabei explizit und implizit auf soziologische Kategorien und Denkweisen Bezug nimmt: die Theaterästhetik Brechts.

Ästhetische Transformationen des Alltags: Bertolt Brechts Theater als Form ästhetisch-soziologischer Praxis Wie kein anderer Theatermacher vor ihm hat Brecht die Nähe zu gesellschaftswissenschaftlichen Theorien gesucht.4 Marx rezipierend, begriff Brecht die gesellschaftliche Wirklichkeit als Praxis und bezog die Theaterkunst dabei explizit mit ein (vgl. Mittenzwei 1986: 343). Unter dieser Perspektive wurde Theater sichtbar als ein „Theater-Machen“ und damit als eine historisch veränderbare Praxis, die, wie andere auch, „dem gesellschaftlichen Eingriff unterliegt“ (Brecht zit. nach Mittenzwei 1986, ebd.). Die sich aus diesem Zusammenhang ergebende entscheidende Frage war für Brecht: In welcher Weise kann das Theater als gesellschaftliche Praxis wiederum in gesellschaftliche Verhältnisse eingreifen und diese verändern? Die Antwort, die der Theatermacher in seiner Ästhetik des epischen Theaters und vor allem in den Überlegungen zur Dialektik auf dem Theater entwickelt hat, könnte man zusammenfassend so formulieren: Wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllt, befördert die symbolische Darstellung des Lebens auf der Bühne bei den Zuschauenden eine bestimmte Wahrnehmungs- und Denkweise, das „eingreifende“ oder das „dialektische Denken“. Wenn diese Denkweise von den Zuschauenden auch in ihrem sozialen Alltag angewandt wird - und dazu kann das Theater nach Brecht Impulse geben5 –, dann führt

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So waren die Arbeitszusammenhänge Brechts zu Beginn der 30er Jahre durch die Zusammenarbeit in heterogenen Gruppen geprägt. Zum Brecht-Kreis gehörten damals neben Künstlern wie John Heartfield und George Grosz der Literaturwissenschaftler Walter Benjamin, der Soziologe Fritz Sternberg, sowie Hermann Duncker und Karl Korsch (vgl. Mittenzwei 1986: 381). Diese Impulse ergeben sich durch Darstellungsinhalte wie Darstellungsweisen und betreffen im Wesentlichen die Aufdeckung von Zusammenhängen zwischen gesellschaftlichen Realitäten und der spezifischen „menschlichen Produktivität“ 129

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das zu einem kritischen Verhältnis gegenüber der außerkünstlerischen Wirklichkeit und damit letztlich zu einer Wirklichkeitsveränderung. Mit diesem Ansatz verzichtet Brecht im Unterschied zur historischen Avantgarde auf die Infragestellung der Repräsentationsfunktion des Theaters. Für ihn war Theater „immer ein Abbild der Welt“, in dem Schauspieler zeigen, „wie sich Menschen unter bestimmten Umständen benehmen“ (Brecht 1967: 430). Seine theoretische wie praktische Arbeit richtet sich auf die Entwicklung von Verfahren, mit deren Hilfe soziales Leben so in Theaterhandlungen transformiert wird, dass sich das „eingreifende Denken“ auch einstellen kann. Die Art und Weise, in der dabei ästhetische und soziale Lebenspraxis zueinander in Bezug gesetzt werden, hat Brecht zur Entwicklung von Begrifflichkeiten und Konzeptionen geführt, die es nahelegen, seine Arbeitsweise auch als eine Form ästhetisch-soziologischer Praxis zu betrachten. Im Folgenden sollen davon ausgehend Grundgedanken der Brechtschen Ästhetik in ihrer Beziehung zu soziologischen Begrifflichkeiten beleuchtet werden.

Brechts Begriff der Haltung Wie alle Begriffe wird auch der Haltungsbegriff von Brecht nicht systematisch gebraucht, sondern erschließt sich aus dem Kontext seiner Texte. Einer der signifikantesten ist die Keuner-Geschichte „Weise am Weisen ist die Haltung“, die wegen ihrer Prägnanz und Schönheit hier ganz zitiert werden soll: „Zu Herrn K. kam ein Philosophieprofessor und erzählte ihm von seiner Weisheit. Nach einer Weile sagte Herr K. zu ihm: ‚Du sitzt unbequem, du redest unbequem, du denkst unbequem.‘ Der Philosophieprofessor wurde zornig und sagte: ‚Nicht über mich wollte ich etwas wissen, sondern über den Inhalt dessen, was ich sagte.‘ ‚Es hat keinen Inhalt‘, sagte Herr K. ‚Ich sehe dich täppisch gehen, und es ist kein Ziel, das du, während ich dich gehen sehe, erreichst. Du redest dunkel, und es ist keine Helle, die du während des Redens schaffst. Sehend deine Haltung, interessiert mich dein Ziel nicht.“ (Brecht 1967: 375)

Die Haltung beschreibt bei Brecht also offensichtlich einen Zusammenhang zwischen einem sichtbaren Körperausdruck auf der einen Seite und inneren Einstellungen und Überzeugungen auf der anderen. Haltung erscheint als etwas, was die Beziehung der Person zur Welt bestimmt und sich demzufolge in all ihren Aktionen niederschlägt. Dabei scheint die Haltung etwas zu sein, das sich der Kontrolle der Person weitgehend entzieht und über eine Fremd(Mittenzwei 1986: 343f.), sowie die Ermöglichung von Einsichten in gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge. 130

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wahrnehmung der Aktionen der Person eher erschlossen werden kann als über die Selbstreflexion. Warum das so ist, erschließt sich aus dem nächsten Zitat, das aus dem Zusammenhang der Lehrstücktheorie stammt. Hier heißt es: „unsere haltungen kommen von unseren handlungen, unsere handlungen kommen von der not.“ (Brecht nach Steinweg 1972: 18). Haltungen werden demnach durch das Handeln der Person in konkreten historischen sozialen Zusammenhängen geprägt und sind entsprechend der jeweiligen Bedingungen verallgemeinerbar. Wie Bourdieu im Habituskonzept6, geht Brecht davon aus, dass die Herausbildung von Haltungen vorrangig über Prozesse körperlicher Nachahmung geschieht und damit weitgehend unabhängig vom Bewusstsein der Akteure: „Es wird oft vergessen, auf wie theatralische Art die Erziehung des Menschen vor sich geht. Das Kind erfährt, lange bevor es mit Argumenten versehen wird, auf ganz theatralische Art, wie es sich zu verhalten hat. Es lacht mit, wenn gelacht wird, und weiß nicht warum. […] Es sind theatralische Vorgänge, die den Charakter bilden. Der Mensch kopiert Gesten, Mimik, Tonfälle. Und das Weinen entsteht durch Trauer, aber es entsteht auch Trauer durch das Weinen.“ (Brecht 1967: 432)

Der Gestus In seiner Theaterästhetik spricht Brecht allerdings nicht mehr von Haltung, sondern findet dafür einen eigenen Begriff, denjenigen des Gestus. Der Gestus ist der „Knoten“, der im Brechtschen Theater den mimetischen Bezug zwischen soziokultureller Alltagswelt und Bühnengeschehen organisiert. Er ist damit sowohl eine heuristische wie auch eine ästhetische Kategorie. So lässt sich der Gestus nach Brecht zum einen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit finden:7 „Unter einem Gestus sei verstanden ein Komplex von Gesten, Mimik und für gewöhnlich Aussagen, welchen ein oder mehrere Menschen [an] einen oder mehrere 6

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Wenn ich den kritischen Vergleich der Kategorien auch schuldig bleiben muss, wird in diesen Zitaten deutlich, dass es eine große Übereinstimmung zwischen der soziologischen Ästhetik Bertolt Brechts und dem Habituskonzept von Pierre Bourdieu gibt. Eine vergleichende Untersuchung der beiden Kategorien steht jedoch noch aus. Das Finden des Gestus innerhalb der sozialen Realität ist mit der Anwendung einer Art „Denk-Schablone“ zu vergleichen, die die Wahrnehmung organisiert. Wie Hans Martin Ritter herausgearbeitet hat, geht es dabei um ein höchst komplexes Zusammenspiel von synthetisierenden (d.h. zu sinnhaften Handlungseinheiten zusammenfassenden), verallgemeinernden, analysierenden und konstruierenden Prozessen (Ritter 1986: 20 ff.; vgl. dazu auch Pinkert 2005: 180ff.). 131

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Menschen richten. Ein Mensch, der einen Fisch verkauft, zeigt unter anderem den Verkaufsgestus. Ein Mann, der sein Testament schreibt, eine Frau, die einen Mann anlockt, ein Polizist, der einen Mann prügelt […] – in all dem steckt sozialer Gestus.“ (Brecht 1967: 409)

Zum anderen ist das Gestisch-Machen ein von Brecht in vielfältiger Weise ausgearbeitetes schauspielmethodisches und dramaturgisches Prinzip, durch das sich „jeder Sachverhalt auf der Bühne in ein Zeichen menschlichen Verhaltens, also in Theater (verwandelt)“ (Wekwerth 1973: 94). „Das epische Theater ist hauptsächlich interessiert an dem Verhalten der Menschen zueinander, wo es sozialhistorisch bedeutend [typisch] ist. Es arbeitet Szenen heraus, in denen Menschen sich so verhalten, dass die sozialen Gesetze, unter denen sie stehen, sichtbar werden. […] Der Zuschauer soll also in der Lage sein, Vergleiche anzustellen, was die menschlichen Verhaltensweisen anbetrifft. Dies bedeutet, vom Standpunkt der Ästhetik aus, daß der Gestus der Schauspieler besonders wichtig wird.“ (Brecht 1967: 474ff.)

Die daraus sich ergebenden Konsequenzen für die Schauspielmethodik des epischen Theaters können hier nur kurz skizziert werden: • Betonung der Beobachtung innerhalb der schauspielerischen Tätigkeit, Material für die Darstellung wird bewusst aus Alltagsbeobachtungen gewonnen. Brecht begreift dabei den Beobachtungsprozess als „einen Akt der Nachahmung, welcher zugleich ein Denkprozess ist“ (ebd.: 686 f.). • Aufbau der theatralen Figur weniger über die Imagination, als über das praktische Handeln mit den Spielpartnern auf der Bühne (vgl. Brecht, 15: 395ff.), denn „es genügt nicht zu sein. Der Charakter eines Menschen wird durch seine Funktion erzeugt“ (Brecht 1967: 408). • Veräußerlichung aller inneren, vom Schauspieler gefühlten und gedachten Prozesse: „Alles Gefühlsmäßige muss nach außen gebracht werden, das heißt, es ist zur Geste zu entwickeln. Der Schauspieler muss einen sinnfälligen äußeren Ausdruck für die Emotion seiner Person finden, womöglich eine Handlung […]“ (ebd.: 345). • Aufbau der Szenen aus einzelnen „Vorgängen“, den (dramaturgisch interpretierten) meist unausgesprochenen Beziehungshandlungen zwischen mindestens zwei theatralen Figuren, die nach Brecht die „kleinste gesellschaftliche Einheit“ sind (ebd.: 688).

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Die Choreographie der Bühnenhandlung im Brechtschen Theater wäre damit als eine Art verkörperte Soziologie zu beschreiben: Auf der Bühne agieren theatrale Figuren mit einem in Körperhaltung, Mimik, Gestik und charakteristischen Handlungen ausgedrückten Grundgestus. Diese Figuren treffen aufeinander und zeigen mit den Mitteln der Verfremdung8 in gestischer Weise, wie ihre Handlungen aus gesellschaftlichen Bedingungen entspringen, aus Verhältnissen der „Not“ (Brecht zit. nach Steinweg 1972: 18). „Auch die Choreographie bekommt wieder Aufgaben realistischer Art. Es ist ein Irrtum jüngerer Zeit, dass sie bei der Abbildung von ‚Menschen, wie sie wirklich sind‘, nichts zu tun habe. Wenn die Kunst das Leben abspiegelt, tut sie es mit besonderen Spielregeln. Die Kunst wird nicht unrealistisch, wenn sie die Proportionen ändert […]. Jedenfalls kann ein Theater, das alles aus dem Gestus nimmt, der Choreographie nicht entraten. Schon die Eleganz einer Bewegung und die Anmut einer Aufstellung verfremdet, und die pantomimische Erfindung hilft sehr der Fabel.“ (Brecht 1967: 698).

Ästhetisch erinnert die gestische Spielweise an den „stummen Film“, dem sie „viel verdankt“ (ebd.: 238): Die Ebene der körperbezogenen theatralen Zeichen ist betont, jede mimische Äußerung, jede Geste, jede Handlung hat eine Bedeutung und ist gezielt gesetzt, oftmals gegen das im Text Behauptete. Ebenso erzählen die räumlichen Beziehungen zwischen den Figuren, wie Distanz und Nähe, Höhe und Tiefe etwas über deren ‚wahre‘ soziale Beziehung, die in den Absichtserklärungen der theatralen Figuren meist verschleiert wird.9 Die im Brechtschen Theater angestrebte Suche nach dem (dialektischen) Widerspruch findet ihre ästhetische Entsprechung damit auf einer Formebene auch in der Widersprüchlichkeit zwischen gesprochenem Text und körperbezogenen Zeichen. Die Bewegungsebene erscheint bei Brecht dabei als diejenige, auf der sich die den Erscheinungen zugrunde liegenden gesellschaftlichen Verhältnisse als ästhetisch organisierte Choreographie des Sozialen erkennen lassen.

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Hinter diesem Begriff verbirgt sich ein ganzer Kosmos künstlerischer Verfahren, die im Brechtschen Theater dazu dienen, naturalistische Rollenspiele zu vermeiden und auf spielerische Weise „praktikable Abbildungen der Gesellschaft“ (Brecht 1967: 672) zu produzieren. Grundlage der Brechtschen Ästhetik bildet die marxistische Kunstauffassung, nach der „die Kunst ‚Gesetzmäßigkeiten‘ – so Gesetzmäßigkeiten des Verhaltens der Menschen zueinander – in der besonderen Sprache künstlerischer Formen, hegelisch gesprochen: im Medium des ästhetischen Scheins zur Erscheinung bringt“ (Metscher 1978: 161; vgl. Pinkert 2005: 177ff.). 133

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Transformationen des Alltags mittels Theater: Brechts Lehrstücktheorie, Theaterpädagogik und action research Wie dargestellt, vertrat Brecht ein Mimesisverständnis, das „praktisches Machen und ästhetische Formung“ (Gebauer/Wulf 1998: 17) umfasst und damit voraussetzt, dass „der Kunst ein Weltverhältnis des Alltagslebens und dem praktischen Handeln ein Weltverhältnis ästhetischer Schöpfung zugrunde [liegt]“ (ebd.).10 Wenn man diesen Ansatz konsequent zu Ende denkt, stellt sich die Frage, wieso die forschende Auseinandersetzung mit dem „Weltverhältnis des Alltagslebens“ nur Spezialisten aus dem Bereich der Kunst vorbehalten sein soll, wenn doch im Prinzip alle – also auch „künstlerische Laien“ - in ihren praktischen Handlungen ästhetisch schöpferisch (mimetisch) tätig sind. Weiterführend geht es dabei um die Frage, wie in die Choreographie des Sozialen tätig eingegriffen und sie verändert werden kann. Theaterkunst kann dies strukturell nur über den ‚Umweg‘ des Bewusstseins von Zuschauern leisten, über die Förderung des „eingreifenden Denkens“ (ebd.) durch die ästhetische Gestaltung von sozialen Choreographien auf der Bühne. Gäbe es nicht auch einen Weg, der unmittelbar an praktischer Erfahrung ansetzt, an den Körpern, die (ohne sich dessen bewusst zu sein) tagtäglich mit der Produktion der jeweiligen Choreographie des Sozialen befasst sind? Es scheint nur folgerichtig, dass Brecht in den 1920/30er Jahren, den Zeiten des revolutionären Aufbruchs in Deutschland, eine Theaterform entwickelte, innerhalb derer nicht-professionelle Schauspielerkollektive Handlungszusammenhänge des sozialen Alltags theaterspielend erforschen, diese erkennen und verändern sollen. Es handelt sich hierbei um die bis heute umstrittenen Lehrstücke und die theoretischen Texte in deren Kontext.11 Das Lehrstück ist eindeutig pädagogisch konzipiert und zielt auf die unmittelbare Beeinflussung der zu Spielern werdenden Zuschauer: Es „lehrt dadurch dass es gespielt, nicht dadurch, dass es gesehen wird“ (Brecht 1967: 1024). 10 Als Schlüsseltext für diese Auffassung kann Brechts Text „Die Straßenszene. Grundmodell einer Szene des epischen Theaters“ gelten, in dem er die Theaterkunst ganz allgemein auf die Praxis „alltäglichen Theaters“ zurückführt, konkreter: auf die alltägliche Praxis des gestischen Demonstrierens, wie es z.B. in der kollektiven Verständigung über einen eben geschehenen Verkehrsunfall zu beobachten ist (vgl. Brecht 1967: 546 ff.). 11 Brecht selber konnte seine radikalen Ideen in den zwanziger Jahren nur ansatzweise umsetzen und in der Praxis weiter entwickeln. So blieben die Lehrstücke und vor allem deren konzeptionelle Texte bis zur (Wieder-)Entdeckung durch Steinweg in den 1970er Jahren ein weitgehend utopisches Konzept. 134

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Kernstück der Lehrstücke ist der Einsatz des Körpers als Medium sinnlicher Erkenntnis sozialer Prozesse. Dies wird ermöglicht durch die anthropologische Fähigkeit des Körpers, wie ein Speicher zu funktionieren, der Wahrnehmungs- und Denkweisen sowie Gefühle an körperliche Zustände bindet. Innere Haltungen sind damit untrennbar mit bestimmten äußeren Körperhaltungen, –bewegungen und –spannungen verbunden und stellen sich ein, wenn der Körper diese Haltungen und Bewegungen ausführt, wie sie umgekehrt zu diesem äußeren Ausdruck drängen (vgl. Bourdieu 1980: 127f.). In der Lehrstückarbeit geht es Brecht um die gezielte Auseinandersetzung mit modellhaften Situationen sozialer Widersprüche, die von den Spielenden auf der Grundlage eigener Erfahrungen über das Spiel erforscht und verändert werden sollen. „Es liegt dem Lehrstück die Erwartung zugrunde, dass der Spielende durch die Durchführung bestimmter Handlungsweisen, Einnahme bestimmter Haltungen, Wiedergabe bestimmter Reden und so weiter gesellschaftlich beeinflusst werden kann. Die Nachahmung hochqualifizierter Muster spielt dabei eine große Rolle, ebenso die Kritik, die an solchen Mustern durch ein überlegtes Andersspielen ausgeübt wird.“ (Brecht 1967: 1024)12

Begründung der zeitgenössischen Theaterpädagogik In den frühen 1970er Jahren, der Zeit erneuten gesellschaftlichen Aufbruchs, wurden die Lehrstücktexte wiederentdeckt und neu bewertet. Der Germanist Rainer Steinweg sammelte Brechts versprengte Texte zum Lehrstück und konstruierte daraus die Lehrstücktheorie als Konzept einer „politischästhetischen Erziehung“ (Pinkert 2005: 146f.). Auf der Grundlage von Steinwegs Publikation, die 1972 erschien, setzte eine regelrechte Lehrstückbewegung ein. Sie wurde von linken Intellektuellen und Künstlern getragen und fasste vor allem an den Universitäten und Hochschulen Fuß. Die Lehrstückarbeit führte zur Ablösung des bis dahin dominanten kulturpädagogischen Paradigmas der musischen Bildung und stellte die kulturelle Bildung im Medium des Theaters konzeptionell und praktisch auf eine neue Grundlage. Die Lehrstückbewegung bildet damit die Grundlage der Theaterpädagogik, wie sie sich seitdem zu einer eigenständigen Disziplin innerhalb der kulturell-ästhetischen Bildung entwickelt hat.

12 Diese „Muster“ sollten sicherstellen, dass in der Lehrstückarbeit nur solche Erfahrungen bearbeitet wurden, „die in den Machtbereich der Gesellschaft fallen“ (Brecht 1967: 346). 135

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Die Ansprüche an theaterpädagogische Arbeit, die in den 1970er Jahren formuliert worden sind, griffen auf den Brechtschen Ansatz des „eingreifenden Denkens“ zurück. Sie zielten darauf ab, Haltungen und Handlungen des sozialen Alltags im Schutzraum der Spielgruppe zu reproduzieren, bewusst zu machen und so zu bearbeiten, dass sich ein „eingreifendes Denken“ entwickelt, das im sozialen Alltag zu Verhaltensänderungen führt und diesen damit letzten Endes verändert. Selbstverständlich modifizierten sich in den letzten 40 Jahren die Vorstellungen von gesellschaftlicher Veränderung und damit auch die Akzentuierung, die diese Zielstellung innerhalb der Theaterpädagogik erfuhr. Der Anspruch auf eine Transformation des Alltagsbewusstseins und -verhaltens durch die spielerische Bearbeitung von sozialen Erfahrungen ist jedoch bis heute ein Bestandteil des Bildungsanspruches der Theaterpädagogik. Der Bezug zur Soziologie Bourdieus wird dabei explizit formuliert: „Ausgehend von den soziologischen Analysen Bourdieus zum Habitus ist zu erkunden, inwieweit der spielerische Umgang mit Haltungen und Haltungsroutinen und das Experimentieren mit verschiedenen Verfremdungsmöglichkeiten […] eine Einsicht in die grundsätzliche Konstruierbarkeit von körperlichen Haltungen ermöglicht. Damit könnten als natürlich und selbstverständlich erscheinende verleiblichte gesellschaftliche Verhältnisse als historisch gewachsen und veränderbar begriffen werden. Bourdieu selbst deutet diese Einsicht als Ergebnis von Spielerfahrungen jedenfalls an. Er vergleicht das Handeln im sozialen Feld mit dem Erlernen der Muttersprache, in die man in gewisser Weise hineingeboren wird, während er das spielerische (Als-ob-)Handeln mit dem Erlernen der Fremdsprache vergleicht, die als Sprache, d.h. als willkürliches Zeichensystem wahrgenommen wird. […] In der theatralen Gestaltung kann diese Einsicht ihre spezifische Evidenz dadurch gewinnen, dass die Wirklichkeit des Spiels von den Spielenden konstituiert und am eigenen Leib erfahren wird […].“ (Hentschel 1999: 20)

Action Research Die Lehrstückbewegung passte Brechts Konzeption an die politischen Programmatiken der 68er Bewegung an und entwickelte in der Folgezeit verschiedene Richtungen, die in unterschiedlicher Weise auf die gesellschaftlichen Bedingungen der späten 1970er und beginnenden 1980er Jahre reagierten (vgl. Pinkert 2005: 151 ff.). Der Anspruch, mit theatralen Verfahren Choreographien des Sozialen zu bearbeiten und zu erforschen, wird dabei am konsequentesten von Ingo Scheller mit seinem Konzept des „szenischen Spiels“ verfolgt. Scheller entwickelte auf der Grundlage des Brechtschen Haltungsbegriffes das szenische Spiel zu einem Verfahren, das über das Handeln in vorgestellten Situationen und des136

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sen Reflexion die sozialen Handlungsmuster der Beteiligten sowie deren Deutungsmuster aktiviert, erkundet und analysiert (vgl. Scheller/Nitsch 1997). Besonderes Gewicht liegt dabei auf der Aktivierung und Bearbeitung von unbewussten und abgespaltenen Anteilen der Haltungen und Handlungen der Akteure. Aus diesem Grunde legt Scheller großen Wert auf die Auseinandersetzung mit als „fremd“ interpretierten Verhaltensweisen, wie sie über Texte und Rollen vorgegeben und im Aufbau von Beziehungen auf der Bühne aktiviert werden. Im Gegensatz zur Suche nach wirkungsvollen theatralen Umsetzungsmöglichkeiten im Theaterspiel wird im „szenischen Spiel“ der Prozess der Rollenerarbeitung in den Mittelpunkt gestellt. Dies geschieht, indem durch Unterbrechungen und verschiedene Formen der Reflexion von außen den Spielenden die im Prozess der Rollenerarbeitung sichtbar werdenden unbewussten Haltungen gespiegelt und damit bewusst gemacht werden. Gemeinsam mit dem Bildungs- und Wissenschaftstheoretiker Wolfgang Nitsch entwarf und erprobte Scheller in den 1990er Jahren das szenische Spiel explizit als eine Methode qualitativer und aktivierender Sozial- und Bildungsforschung (vgl. ebd.). Wie die Wissenschaftler in einem Lehr- und Forschungsprojekt zum Thema „Haltungen und Wirkungen von Männern als Dozenten“ erprobten, lassen sich mit Hilfe dieses Verfahrens in spezifischer Weise „soziale Situationen in ihrer sozialen Dynamik“ (ebd.: 704) erschließen, wie sie sich aus der Wechselbeziehung der „inneren und äußeren Haltungen und Beziehungen der beteiligten Personen“ (ebd.) ergeben. Der Forschungsprozess innerhalb des exemplarischen Projektes orientierte sich an Prinzipien der Aktionsforschung und gliederte sich in drei Schritte: 1. Zu Beginn untersuchten die Mitglieder der Forschergruppe ihre eigenen Haltungen in Bezug auf das gewählte Forschungsthema und arbeiteten damit an der Vergegenwärtigung und Bewusstmachung eigener Vorannahmen und Projektionen. 2. In einem zweiten Schritt wurden von der Gruppe soziale Situationen im zu untersuchenden Feld beobachtet, szenisch rekonstruiert und mittels verschiedener Verfahren des „szenischen Spiels“ reflektiert. 3. Die dabei gewonnenen Einsichten in Haltungs- und Denkschemata der Untersuchten erfuhren schließlich im dritten Schritt in Interviews mit den untersuchten Hochschullehrern eine Abgleichung mit deren Sichtweisen. In Verbindung mit qualitativen Methoden wurde das „szenische Spiel“ damit zur Grundlage eines multidimensionalen Forschungsdesigns. Es bezog explizit auch die forschenden Subjekte in die Untersuchung ein und unternahm den Versuch, die Perspektive der Forschenden wie der Erforschten nicht nur in Bezug auf deren „mentale Konzepte“ oder „subjektive Theorien“ (Alkemeyer 137

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2005: 7), sondern auch hinsichtlich der unbewussten und automatisierten Haltungen und Handlungen zugänglich zu machen. Damit ermöglichte das „szenische Spiel“ eine methodische Triangulation zwischen unterschiedlichen Annäherungsweisen an den Gegenstand (Beobachtung, szenisches Handeln, Interview) (vgl. Scheller/Nitsch 1997: 709). Vor dem Hintergrund neuerer Entwicklungen einer Performative Social Science erscheinen die Erprobungen von Ingo Scheller und Wolfgang Nitsch als ein wertvoller Impuls. Sie konnten sichtbar machen, dass die Einbeziehung der Haltung aller am Forschungsprojekt Beteiligten über eine Arbeit mit dem Körper und die Aufmerksamkeit für die raumkörperliche Dimension des Sozialen die Chance bieten, andere Schichten des Verstehens zu eröffnen und über illustrative Verkörperungen wissenschaftlicher Thesen hinauszukommen. Angesichts der aktuellen Bemühungen von Sozialwissenschaftlern, Methoden der Künste in der Forschung selbst zu erforschen, tiefere – über den Text hinausgehende – Erkenntnis zu erlangen und ein breites Publikum in die Forschung einzubeziehen bzw. deren Ergebnisse weiter zu verbreiten (vgl. Yallop et al. 2008: 1), ist es sehr zu bedauern, dass der Ansatz, das szenische Spiel explizit zur Bearbeitung von Forschungsfragen einzusetzen, von den beiden Wissenschaftlern nicht weiter entwickelt worden ist. Wie die aktuelle Diskussion deutlich werden lässt, ist ein entscheidender Aspekt der Performative Social Science die historisch fundierte Kenntnis künstlerischer Verfahren und die Einsicht in ihr jeweiliges mimetisches Potential der symbolischen Konstruktion von Wirklichkeit (vgl. Gergen/Jones 2008: 2). Dazu gehört vor allem auch eine Auseinandersetzung mit Formen zeitgenössischer Kunst (vgl. Stutz 2008: 110 ff.). Die Erprobung des „szenischen Spiels“ als explizite Methode „aktivierender Sozial- und Bildungsforschung“, wie sie in den 1980er Jahren von Nitsch & Scheller erarbeitet worden war, war das Ergebnis einer interdisziplinären Zusammenarbeit, angesiedelt zwischen Theater und Pädagogik auf der einen und Soziologie und Wissenschaftstheorie auf der anderen Seite. Der Ausbau dieser Methode scheint im Sinne der Etablierung einer „kritischen Pädagogik“ als einer „angewandten kritischen Soziologie“ (Alkemeyer 2003: 55) unbedingt lohnenswert – wäre aber auf Interdisziplinarität angewiesen.

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Alkemeyer, Thomas (2005): „Lernen und seine Körper. Habitusformungen und -umformungen in Bildungspraktiken“. In: Barbara Friebertshäuser/Markus Rieger-Ladich/Lothar Wigger (Hg.), Reflexive Erziehungswissenschaft. Forschungsperspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 119-142. Aristoteles: Poetik. [online] http://www.digbib.org/Aristoteles_384vChr/De_Poetik (20.06.08) Bourdieu, Pierre (1980): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Brecht, Bertolt (1967): Gesammelte Werke in 20 Bänden, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Fischer-Lichte, Erika (1997): „Theater“. In: Christoph Wulf (Hg.),Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim, Basel: Beltz Verlag, S. 985996. Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph (1992): Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft, Reinbek: Rowohlt. Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph (1998): Spiel, Ritual, Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek: Rowohlt. Gergen, Mary/Jones, Kip (2008): „A Conversation about Performative Social Science“. In: Qualitative Research, 9, 2, Art. 43. [online] http://www.qualitativeresearch.net/index.php/fqs/article/view/376/819 (27.7.08) Hentschel, Ulrike (1999): „Was soll das Theater? Der Beitrag von Spiel und Theater zu einer intermedialen ästhetischen Bildung“. BDK-Mitteilungen 3. Metscher, Thomas (1978): Ästhetik als Abbildtheorie, Berlin: Argument Verlag. Mittenzwei, Werner (1986): Das Leben des Bertolt Brecht oder der Umgang mit den Welträtseln, Berlin, Weimar: Aufbau Verlag. Pinkert, Ute (2005): Transformationen des Alltags. Theaterprojekte der Berliner Lehrstückpraxis und Live Art bei Forced Entertainment. Modelle, Konzepte und Verfahren kultureller Bildung, Berlin, Strasburg, Milow: Schibri Verlag. Ritter, Hans Martin (1986): Das gestische Prinzip bei Bertolt Brecht, Köln: Prometh Verlag. Scheller, Ingo/Nitsch, Wolfgang (1997): „Forschendes Lernen mit Mitteln des szenischen Spiels als aktivierende Sozial- und Bildungsforschung“. In: Barbara Friebertshäuser/Annedore Prengel (Hg.), Handbuch qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft, Weinheim, München: Juventa Verlag, S. 704-710. Stutz, Ulrike (2008): „Erforschen performativer Räume in der Kunstpädagogik“. In: Ute Pinkert (Hg.), Körper im Spiel. Wege zur Erforschung theaterpädagogischer Praxen, Berlin, Strasburg, Milow: Schibri Verlag, S. 110-124. Steinweg, Reiner (1972): Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhe tischen Erziehung, Stuttgart: Metzler Verlag. Szondi, Peter (1970): Theorie des modernen Dramas, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Yallop, John J. Guiney et al. (2008): Editorial: Overview of the Performative Social Science Special Issue. [online] http://www.qualitative-research.net/index.php/ fqs/article/view/375/817 (27.07.08) Wekwerth, Manfred (1973): Schriften. Arbeit mit Brecht. Schriften der Sektion Darstellende Kunst, Berlin: Henschelverlag Kunst und Gesellschaft.

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Szenen des Lernens BIRGIT ALTHANS/DANIELA HAHN/SEBASTIAN SCHINKEL

Man stelle sich vor: eine Hütte am Rand einer Bühne. Im antiken Theater zunächst nur als Umkleideraum und Requisitenkammer genutzt, wandelt sich diese Bretterbude im Bühnenhintergrund – die Szene (von griechisch skene: Hütte, Zelt) – späterhin zu einem zentralen Schauplatz und Handlungsort (vgl. Girshausen 1996: 392f.; Girshausen 1999: 316ff.). Von hier tritt der Schauspieler aus den Kulissen auf die Bühne, das proskenion, und damit in die Sichtbarkeit eines Publikums. Was sichtbar ist – der Körper des Schauspielers und seine Bewegungen –, verweist auf das (bereits in der Vergangenheit liegende oder noch kommende) Geschehen im Inneren der Hütte, es stellt dieses Geschehen dar, zeigt darauf, ohne es selbst zu sein. Dieses Bild von etwas eigentlich Uneinsehbarem und dessen szenischer Darstellung soll in unserem Beitrag auf etwas bezogen werden, das selbst vermeintlich unsichtbar, wie in einer black box geschieht und sich dennoch zeigt, indem es durch Praktiken zur Aufführung gelangt: das Lernen von Kindern beim Break- und Streetdance-Training in einer Berliner Jugendeinrichtung. Dem Geschehen im Inneren der skene vergleichbar, kann Lernen als ein eigentlich nicht beobachtbarer Prozess begriffen werden, in welchem Wissen inkorporiert wird (vgl. z.B. Schaub/Zenke 2000: 352). Was jedoch in den Übungs- und Probensituationen während des Trainings aufgeführt wird, sind Praktiken des Erlernens (im Sinne eines „Erarbeitens“) von Bewegungen und ihrer „richtigen“ Ausführung, der Synchronisierung von Bewegungen (zu den anderen Mittänzern und zur Musik), in deren Rahmen eine tänzerische Choreographie – als ein Prozess der Kreation und gestaltenden Komposition von Bewegung – generiert wird (vgl. Brandstetter 2005). Dieses Erarbeiten einer Choreographie ist während des Trainings immer wieder durchsetzt von spontanen, spielerischen und scheinbar ungeordneten Bewegungspraktiken, die diese Choreographie umspielen, umdeuten, stören oder unterlaufen. Hervorgebracht wird also nicht nur eine tänzerische Cho141

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reographie im Sinne der Produktion einer gestalteten Bewegungsfolge, sondern es entstehen soziale Choreographien von komplexen Lernsituationen: situative bewegliche Netze aus verbalen Äußerungen und Bewegungen, Drehungen und Wendungen der beteiligten Akteure. Diese verweisen auf einen permanenten Aushandlungsprozess, in welchem eine Ordnung in Bewegung entsteht. In diesem Beitrag soll dabei ein Verständnis von Ordnung entfaltet und auf situierte Lernprozesse bezogen werden, das diese Ordnung als ein räumliches und zeitliches Arrangement von Dingen und Akteuren in Bewegung begreift, für das ein spezifisches Wahrnehmungsregime im Spannungsfeld zwischen Konzentration und Zerstreuung von Aufmerksamkeit konstitutiv ist.1 Als Szenen des Lernens wären demnach Situationen zu verstehen, die durch eine Ambivalenz zwischen Geregeltheit und Störung/Irritation, anvisiertem Trainingsverlauf und spontanen Abweichungen, Ausschmückungen, Umwegen und Umlenkungen charakterisierbar sind. Dieser Beitrag untersucht, inwiefern diese ambivalente Dynamik eine spezifische Herausforderung für Lernsituationen darstellt und wie eine „Kunst des pädagogischen Handelns“ zu begreifen wäre, die Aufmerksamkeit und Energien zu bündeln und zu konzentrieren versucht. Damit stellt sich zugleich auch die Frage, inwiefern eine so verstandene pädagogische Ordnung – im Sinne einer Konzentration von Aufmerksamkeit, die selbst wiederum Gegenstand eines Lernprozesses ist – als Voraussetzung für die Möglichkeit von zielgerichtetem bzw. angeleitetem Lernen verstanden werden kann. Dabei setzen wir, entgegen einem psychologischen Lernverständnis und dessen „Visualisierungsstrategien“, den Fokus auf die Prozessualität von Lernsituationen,2 wobei die entsprechenden Prakti1

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Vgl. in Hinsicht auf den Aspekt der Wahrnehmung den Begriff des Arrangements bei Schatzki: „[...] social order can be defined as arrangements of people and the organisms, artifacts, and things through which they coexist. An example is an arrangement of teacher, students, desks, chalkboard, plants, and seeing eye dog in a classroom. In this arrangement, the cited entities relate spatially, causally, intentionally (via mental states), and prefigurationally (roughly, by enabling and constraining one another’s activities).“ (Schatzki 2001: 43) In Hinblick auf ein pädagogisches Verständnis von „Lernen“ schreibt Jutta Wiesemann, dass „eine interpretative Perspektive auf Lernen als kulturelle Praktiken“ zu entwickeln wäre, die sich von einer letztendlichen „Orientierung an Verhaltensänderungen oder dem Testergebnis als handhabbaren Beweis für stattgefundene Lernprozesse“ absetzt (vgl. Wiesemann 2000: 14). Eine solche Perspektive auf Praktiken hat auch die spezifischen räumlich-gegenständlichen und institutionellen Begebenheiten zu berücksichtigen. Denn „Praktiken gehen nicht von einem autonomen intentionalen Subjekt aus, sondern entstehen situativ im Dazwischen von Akteuren und ihrer jeweiligen materiell-symbolischen Umgebung“, wie Thomas Alkemeyer schreibt. Das Gelernte ist in dieser Perspektive „nicht ausschließlich als subjektiver Besitz zu begreifen, sondern als ein relationales, emergentes Phänomen“ (Alkemeyer 2006: 122).

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ken in ihren sozialen Bezügen und aus einer Perspektive betrachtet werden, die nicht nur das Gelingen, sondern auch deren mögliches Misslingen in den Blick bringen soll. Wir beziehen uns in diesem Beitrag auf empirische Untersuchungen und daraus hervorgegangenes Material, das vorrangig durch videogestützte Beobachtungen im Rahmen eines Forschungsprojekts zu rituell geprägten Lernkulturen beim Street- und Breakdance-Training in einem Berliner Kinderclub erhoben wurde.3 Die Gruppe, an deren Training wir teilhaben durften, besteht während der Erhebungszeit im Kern aus 4-5 Jungen im Alter von 9-11 Jahren, deren Eltern aus dem Libanon stammen, die selbst jedoch in Berlin geboren und aufgewachsen sind. Zwei dieser Jungen sind Brüder. Ein weiterer Junge ohne Migrationshintergrund nimmt nur sporadisch am Training teil und hat eine erkennbar randständige Position in dieser Gruppe inne.4 Der Trainer, ebenfalls ohne Zuwanderungshintergrund, tanzt selbst seit mehreren Jahren in einer semi-professionellen Breakdance-Formation. Das Training findet zur Erhebungszeit zwei Mal wöchentlich abwechselnd im Kellerraum eines Kinderclubs und im ersten Obergeschoss des benachbarten Jugendclubs statt. Beide Räume sind hinsichtlich ihrer materialen Trainingserfordernisse mit Bodenmatte und großem Wandspiegel ähnlich ausgestattet, entfalten jedoch aufgrund ihrer unterschiedlichen Größe, Beleuchtung, ihres Klangs, Geruchs und der weiteren Ausstattung eine ganz unterschiedliche Atmosphäre. Der Trainingsraum im Obergeschoss des Jugendclubs, in dem die Jungen aufgrund ihres Alters nur zu Gast sind (die Gruppe gehört dem Kinderclub an), ist größer und wirkt durch zwei große Fenster heller, erscheint auch leerer und daher zugleich atmosphärisch „offener“. Die Wände sind schwarz gestrichen und zur einen Seite hin befindet sich eine podestartige Bühne. Im Kellerraum des Kinderclubs, der nicht durch Tages-, sondern Neonlicht ausgeleuchtet wird und in dem die Wände rundum holzvertäfelt sind, ist der Bewegungsraum eingeschränkter. Im Kinderclub sind die Jungen eher „zu Hause“; sie „nehmen sich mehr heraus“ und haben, als sie bei zu viel Trubel vom Trainer einzeln „vor die Tür gesetzt“ werden, eine Anlaufstelle im Haus, durch die sie sich z.B. mit frischem Gemüse versorgen können, das sie dann im Training weiter essen. In beiden Räumen wird als

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Dieses Forschungsprojekt fand im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Kulturen des Performativen“ an der Freien Universität Berlin statt (vgl. Wulf et al. 2007). Die interdisziplinäre Zusammenstellung der Autor/-innen zum vorliegenden Beitrag resultiert aus einer Kooperation mit dem Schwerpunkt „Bewegung – Rhythmus – Raum“ innerhalb dieses SFBs. Es wäre eine gesonderte Untersuchung für die Frage erforderlich, inwiefern sich diese „Randständigkeit“ an den Platzierungen, den Blickweisen und den verbalen und non-verbalen (Nicht-)Adressierungen zeigt. 143

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Musikquelle eine tragbare kompakte Musikanlage mit integriertem CD-Player genutzt, die zur Ausstattung des Kinderclubs gehört. Geht man von der räumlichen Gestaltung aus, so gibt diese jeweils einen Positionierungs- und Bewegungsraum sowie eine körperliche Ausrichtung der Tanzenden vor. Der Wandspiegel, jeweils in Nähe der einzigen Tür angebracht, empfiehlt den Übenden eine bestimmte Blickrichtung; die hellgrünen Judomatten vor dem Spiegel, über die jeweils ein glatter, hellbrauner Linoleumbelag ausgerollt ist, markieren mit ihren Kanten einen Übungsraum, dessen Umgrenzung auch durch die Höhe der Matten hervorgehoben wird. Nicht nur durch den Raum und die materiale Ausstattung, sondern auch durch den institutionell strukturierten Rahmen des settings wird das stattfindende Geschehen mitbestimmt. Die Jungen und der Trainer kommen zu regelmäßigen Terminen in den Räumen einer öffentlichen Jugendeinrichtung zusammen und diese Zusammenkunft ist wesentlich durch den vordergründigen Zweck bestimmt, gemeinsam, und auch in Hinblick auf öffentliche Auftritte (z.B. auf einem Jugendfest des Bezirks), Bewegungsabfolgen des Break- und Streetdance einzuüben.

Ordnungen zwischen Konzentration und Zerstreuung von Aufmerksamkeit – ein pädagogisches Problem Prozesse körperlichen Lernens sind im Anschluss an Norbert Elias und Michel Foucault häufig aus anthropologischer Perspektive als Disziplinierung des Körpers beschrieben worden, durch die Verhaltensweisen und Kulturtechniken inkorporiert werden sollen. „Es gibt keine pädagogische Veranstaltung und keine pädagogische Institution, in der es nicht auch – und zentral – um die Frage geht, wie die pädagogischen Körper, als Kinder- und Erwachsenenkörper, Lehrer- und Schülerkörper, lernende und arbeitende Körper, hilfesuchende und ratgebende Körper usw. Traditionen, Konventionen und Rituale aufgreifen oder wie sie als Körper in solche kulturellen Vorgegebenheiten eingepasst werden können.“ (Zirfas 2004: 86)

Das Ziel einer Regulierung der Körper zur Hervorbringung „sozialisierten“ Verhaltens wird dabei durch verschiedene Techniken der Beobachtung, Kontrolle, der Prüfung und des Strafens durchzusetzen versucht und basiert historisch allzu oft auf der Annahme einer scheinbar unbegrenzten Verfügbarkeit dieser Körper. Die kulturellen Erwartungsmuster und pädagogischen Regulierungsansprüche an das Verhalten z.B. von Kindern reiben sich dabei immer

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wieder an einer Ungebärdigkeit, ja Widerspenstigkeit der Körper und ihrer Sprunghaftigkeit.5 Ein grundlegendes pädagogisches Ziel – und ein zentrales pädagogisches Problem – besteht mithin darin, dass diese widerspenstigen Körper „sich den jeweiligen pädagogischen Zwecken gegenüber angemessen“ verhalten, „seien diese nun Aufmerksamkeit, Industriosität (Arbeitsamkeit), Diszipliniertheit oder lediglich nicht aggressives Verhalten“ (ebd.). Nach Jörg Zirfas hat sich an dieser pädagogischen Problematik seit dem ausgehenden Mittelalter kaum etwas geändert. Er zitiert Beispiele aus der Nordhäuser Schulordnung von 1583, nach der die Schüler u.a. „nicht über alle Bänke laufen, die Fenster zerbrechen, das, was der Lehrer an die Tafel geschrieben hat, auslöschen oder verderben, schreien, plärren, blöken, ‚rauschen‘, keine unanständige und unehrliche Kleidung tragen“ sollen etc. (ebd.: 87). Der historische Stich einer Dampfmaschine zur schnellen und sicheren Besserung der kleinen Mädchen und der kleinen Knaben vom Ende des 18. Jahrhunderts, dessen Abbildung sich bei Foucault finden lässt, präsentiert in überspitzter Form eine „zeitgemäße“ Perspektive auf den pädagogischen Umgang mit jenem Problem kindlicher Ungebärdigkeit. Die Dampfmaschine als neueste technische Erfindung der Zeit, angetrieben durch die Verbrennung des Spielzeugs ungezogener Kinder, wird hier genutzt, um „faule, gefräßige, ungelehrige, ausgelassene, unverschämte, zänkische, klatschsüchtige, geschwätzige, unfromme oder sonst wie fehlerhafte Kinder“ öffentlich mit Peitschenschlägen zu bessern (vgl. Foucault 1977: Abb. 29). In Szene gesetzt wird dabei das Ideal eines reibungslosen Funktionierens der Disziplinierung qua Maschine, die durch ihre öffentliche Ausstellung an verschiedenen Orten in Paris und auf dem Land über die Erziehungswirkung am Kind selbst eine Abschreckungswirkung auf andere Kinder entfalten soll. Das Foucaultsche Dispositiv einer „pädagogischen Maschine“ als Konditionierungsmechanismus, auf welchen dieser Stich verweist, funktioniert jedoch nicht reibungslos. Der Körper stellt kein passives Objekt der Zurichtung und Einschreibung dar, sondern ist zivilisationstheoretisch „als ,stummer Diener‘ mächtig gewesen“ (Kamper 1997: 407). „Der menschliche Leib ist als Arbeitskraft, als Befehlsempfänger, als Lernwilliger, als Beobachtungs- und Sexualobjekt, als Krankheitsherd usf. über die Grenzen des Zuträglichen hinaus in Dienst genommen. Er streikt, wird impotent oder frigide, 5

Eine solche Widerspenstigkeit der Körper kann theoretisch nicht einer (noch unkultivierten) Natur zugeschlagen werden (wodurch gesellschaftliche, u.a. auch pädagogische Effekte ausgeblendet werden), sondern ist im Bereich einer immer schon sozial durchwirkten Körperlichkeit anzusiedeln, die in einem fortlaufenden (biologischen und sozialen) Austausch „geformt“ wird (vgl. Butler 2001: 86ff.). 145

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produziert chronische Symptome, sendet immer hilflosere und unverständlichere Signale aus und entzieht somit dem gesellschaftlichen Organisationsprinzip, jener abstrakt-allgemeinen Instanz der Naturbeherrschung, nach und nach die Fundamente.“ (Ebd.: 409f.)

Im Blick auf diese Grenzen der Disziplinierung wird nachgerade ein Anderes offenkundig: die Subversivkraft des (organischen) Körpers, seine „Fähigkeit, das Einvernehmliche, Selbstverständliche und Normierte zu irritieren und zu destabilisieren“ (List 2001: 199). Dieses Problem betrifft in besonderem Maße das Feld der Pädagogik, stellt die Schule doch eine der paradigmatischen Disziplinierungseinrichtungen dar. Schulische Disziplinierung beruht insbesondere auf einer weit gehenden Ruhigstellung der (Schüler-)Körper – damit diese möglichst wenig „aus der Reihe tanzen“ und das Lehr-Lern-Arrangement nicht „stören“. Mit dieser ordnenden Strategie einer räumlichen Fixierung des Körpers korreliert zugleich jedoch eine andere Art der Herstellung von Ordnung: die Fixierung und Lenkung von Aufmerksamkeit. Der pädagogisch anvisierte, „sozialisierte“ Körper ist nicht nur ein durch Disziplin möglichst „bezähmter“, sondern auch ein aufmerksamer Körper, der selbst Aufmerksamkeit auf sich zieht, und Erziehung kann dementsprechend als ein Prozess der Bündelung und Ausrichtung von Aufmerksamkeit zu bestimmten pädagogischen Zielen und Zwecken mit Strategien der Minimierung von „Störungen“ begriffen werden. In diesem Sinne liegt pädagogischen Prozessen ein spezifisches Wahrnehmungsdispositiv zugrunde, das auf eine Regulierung bzw. Kanalisierung von Zerstreuung – im doppelten Wortsinn als Vergnügen und als Ablenkung der Wahrnehmungsausrichtung – zielt. Unter Aufmerksamkeit soll dabei das Vermögen verstanden werden, sich vermittels seiner Sinne auf bestimmte Gegenstände innerlicher und äußerlicher Natur unter Ausblendung gleichzeitig vorhandener Dinge auszurichten und diese über eine bestimmte Zeitspanne hinweg „festzuhalten“. Aufmerksamkeit ist ein Selektionsprozess, der ein Moment der Stillstellung und ein Moment der Beweglichkeit (als Steuerung/Lenkung und Steuerbarkeit/Lenkbarkeit) gleichermaßen umfasst. Dies gilt für das Sehen ebenso wie für das Hören und Tasten. Die Doppelnatur der Aufmerksamkeit von einerseits „attention“, das heißt einer (aktiven) willentlichen Lenkung der Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gegenstand bzw. dem Entzug von Aufmerksamkeit von einem Gegenstand weg, und andererseits einem unwillentlichen spontanen Anstoß zur Aufmerksamkeit – „admiration“ –, gleichsam durch Ab-Lenkung, die durch andere Eindrücke veranlasst wird (vgl. Neumann 1971), stellt dabei die Folie dar, auf der Aufmerksamkeit einerseits als eine von außen regulierbare Instanz von Disziplinierung

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und sozialer Kontrolle, andererseits aber auch als Instanz der Subversion einer solchen Regulation interpretiert werden kann. Wahrnehmungsregime – und das heißt hier die Lenkung und Bündelung von Aufmerksamkeit sowie die Regulierung von Zerstreuung durch die Autorität des Lehrenden, durch die räumliche Gestaltung und die Organisation der Zeit – strukturieren und ordnen das Lehr-Lern-Arrangement. Disziplinierung soll gleichsam in den gelehrigen Körpern eine wache und aufmerksame Sensorik hervorbringen, die auf die Lerninhalte, aber auch auf die Praktiken des Einübens ausgerichtet ist.

Training zwischen Übung, Zerstreuung und Spiel Nicht nur im Schulunterricht wird eine habituelle Disziplinierung der Kinder forciert, sondern auch in dem von uns beobachteten Freizeitangebot des Break- und Streetdance-Trainings. An der spezifischen Involvierung der Körper in die Bewegungspraktiken des Tanzens wird das Erfordernis einer multisensorischen Ausrichtung von Aufmerksamkeit offenkundig: sowohl als konstitutive Grundlage eines gelingenden Lehr-Lern-Arrangements wie auch als eigener Lerninhalt – etwas, das den Übenden im Training immer wieder auch verbal abgefordert wird. Denn im Gegensatz zum Schulunterricht tanzt hier bereits augenscheinlich aus der Reihe, wer mit seinen Sinnen nicht „voll dabei“ ist. Auf den ersten Blick wird in dieser außerschulischen Einrichtung vor allem informell gelernt (vgl. Overwien 2005). Es gibt keinen institutionell vorgegebenen Lehrplan, die Kinder duzen sich mit dem Trainer (der keine pädagogische Ausbildung hat), der Umgang miteinander ist als „brüderlich“ charakterisierbar, es gibt verglichen mit schulischen Einrichtungen einen großen Bewegungsspielraum und inmitten des Unterrichts wird immer wieder herumgealbert, einander geneckt und „gefrotzelt“ (Letzteres vorrangig durch den Trainer). Das Training changiert zwischen Disziplin und Zerstreuung, die der Trainer zulässt, aber auch selbst initiiert, um die Jungen zu motivieren und jenseits von Disziplinarmaßnahmen dazu zu bringen, ihre Aufmerksamkeit auf die Choreographie zu lenken. In der Figur des Trainers, der die Kinder seit knapp einem Jahr in dieser Einrichtung betreut, überlagern sich für die Beobachter unterschiedliche Bilder pädagogischer Anleitung, wie die eines Lehrers, „Vortänzers“, „großen Bruders“, „Animateurs“ und „Dompteurs“. Sowohl der Trainer als auch die Kinder bedienen sich ritueller Praktiken aus der Schule, aber auch des Sports: Der Trainer schickt einzelne Kinder gelegentlich vor die Tür – „damit du es lernst“6 – oder auch mit einem Finger6

So der begleitende Wortlaut des Trainers beim „Rauswurf“ des Jüngsten (und Quirligsten) am 11. November. 147

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zeig und knappen Worten auf die Übungsmatte: „zehn Liegestütze“.7 Die Kinder wiederum melden sich zum Beispiel mit ihren Zeigefingern wie in der Schule, wenn der Trainer zu Beginn der Übungsstunde nach bestimmten Schrittfolgen zum Anschließen an das Gelernte des letzten Trainings fragt, und werden dann von diesem, ebenfalls durch Zeigegesten, auch „dran genommen“. Wir möchten im Folgenden durch kurz gefasste Beschreibungen von zwei aneinander anschließenden Videoausschnitten8 und einige Abbildungen einen Einblick in eine Szene dieses Trainings geben.

Videoausschnitt (1/2), Jugendclub am 11. November, Datei 1, 44ǯ07˝-44ǯ34˝ Der Trainer Max* hat soeben mit dem 9-jährigen Ali kurz herumgealbert und mit ihm „Flugzeug“ gespielt. Die anderen Jungen, die dabei von der Matte vertrieben, quasi mit dem kreisenden Ali von der Matte „gefegt“ wurden, haben sich danach wieder auf der Matte eingefunden. Ali nähert sich vom hinteren Mattenrand (und dem Bildrand) lauthals lachend, sich im Gehen krümmend. Der Trainer Max klatscht in die Hände und sagt: „Los geht’s. Schulter – action.“ Außer Ali, der noch nicht wieder an seinem Platz ist und weiterhin lacht, nehmen alle, inzwischen auf der Matte verteilt und vor dem Spiegel stehend, die linke Schulter kreisend hoch und nach hinten. Der Trainer begleitet das Ende der Schulterbewegung nach hinten mit einem gesprochenen „Pak.“ Auch Ali hat inzwischen eine Übungsposition eingenommen und bewegt seine Schulter. Alle nehmen ihre linke Schulter wieder nach vorne; der Trainer sagt zum Spiegel gewandt: „Seid sauber! Gum’ma, [Fouad]. Guck dich an. Findest du das sieht gut aus?“ Der Trainer Max weist beim Sprechen vor dem Spiegel stehend auf sich selbst, während die im Bild sichtbaren Jungen die Schulterbewegung nochmals vor dem Spiegel wiederholen. Max: „Gum’ma, du bist zu weit, du gehst viel zu wenig mit deinem Oberkörper rum.“ Der Trainer wiederholt mit einer weiten Schulterdrehung die Bewegung, sagt am Wendepunkt: „Hop.“ 7

8

*

In einem gemeinsamen Interview am 30. November äußern sich die Jungen bezüglich dieser auferlegten Liegestütze positiv, da ihnen dadurch die Aussicht auf einen Stärkezuwachs vermittelt wird. Die Ausführung wird vom Trainer dann allerdings kaum beachtet, sodass die Jungen sich häufiger mit vier oder fünf angedeuteten Liegestützen an der Aufgabe „vorbeimogeln“. Unsere Untersuchung ist ethnografisch ausgerichtet. Die ausgewählten Ausschnitte für diesen Beitrag wurden gemeinschaftlich durch den Autor und die Autorinnen – von denen zwei auch teilnehmend beobachtend im Feld waren – interpretierend beschrieben, indem die Foki der verschiedenen Beobachtungsdurchgänge auf die verbalen Äußerungen, auf die Bewegungsverläufe der einzelnen Personen, deren non-verbales Interagieren sowie auf das räumlichzeitliche Zusammenspiel dieser Geschehnisse gerichtet wurden. Die vorliegenden Beschreibungen wurden für die Publikation zur besseren Lesbarkeit gestrafft und zeichentechnisch vereinfacht. Alle Personennamen wurden anonymisiert.

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Er fasst sich mit m rechts ann die linke Schulter. S „G Gum’ma“ [uunverständllich].“ Ein JunJ ge sagt: „Kannn mich aberr nich’ weitter bewegen n.“ „Ja, aberr wieso [unnverständlich h].“ Der Trainer drreht sich zu Fouad um, der schräg hinter ihm steht, und ffasst ihn an der Schhulter. „Dass is’, pass auf, a das is’ wie so’n, wie w beim Foootball.“ Deer Trainer fasst f sichh wechselnnd auf die liinke und diie rechte Scchulter, sagtt weiter: „D Diese Schullterpannzer. Stell dich d ganz [uunverständliich].“ Nach hdem er nahh vor dem O Oberkörper eine e Geste mit auf Schulterhöhhe erhobeneen Armen und u gespreizzten Händeen gemacht hat, fasst er Fouad an dessen Schulter, S drreht diese zu ur Seite undd spricht weeiter mit ihm m.

Abbbildung 1: Aufstellunng vor dem W Wandspiegel .

Abb bildung 2: Der D Trainerr wendet sicch Fou uad zu.

In der traininngsbedingteen Beansprruchung deer Aufmerkksamkeit bbilden die AbA lennkungen unnd Albereieen quasi Pooren bzw. Ventile, duurch die diie Kinder ihre i Auufmerksam mkeit zerstreeuen und anschließen a nd neu auf das Traininngsgescheh hen aussrichten köönnen. Dass Händeklaatschen dees Trainerss markiert das Ende der Zerrstreuung – hier auchh im Sinnee einer räum mlichen Verteilung dder Jungen n im Raaum – hin zum räum mlichen Zeentrum dess Trainings, der Mattte, die ein nen Raaum vor deem Spiegell umgrenztt und als eine e Art Bühne funggiert. Mit dem d Häändeklatschhen, untersstützt durcch ein „Lo os geht’s“, zieht der Trainer die Auufmerksam mkeit der Juungen wiedder auf sich. Die Plöötzlichkeit des Wechssels vonn Alberei zum z „ernstthaften“ Trraining verllangt von den d Jungenn eine Flexibilitäät in der Verschiebunng ihres Auufmerksam mkeitsfokuss sowie ihrres Reaktio onsverrmögens. Ihre I Sprunnghaftigkeiit, die son nst oft als Störung ddes Trainin ngs wirrkt, wird auf a diese Weise W heraausgeforderrt und zuglleich funkttional gew wendett. Die Aufsstellung voor dem Sppiegel zum m Zweck des d Einübenns wird zw war vom m Trainer forciert, inndem er die d Kinder immer wiieder auffoordert und zur Dissziplin erm mahnt. Docch zeigen die d Kinder auch ihrersseits Motivvation und ein berreits inkorpporiertes Positionieru P ungswissen n, indem siie sich unteer Umständ den geggenseitig auf a „ihren“ Platz schieben oder sich untereeinander errmahnen, sich s z.B B. von der Videokam mera in einner hinteren n Ecke dess Raums nnicht ablenk ken

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zu lassen.9 Die knappen Ansagen des Trainers werden entweder durch die Vertrautheit mit den Bewegungen verstanden, oder vom Trainer, der vorne ebenfalls frontal vor dem Spiegel steht und die Bewegungen vormacht, adaptiert. Die verbalen Äußerungen beschränken sich oft auf Stichworte, Kommandos und deren Wiederholung: „Los geht’s. Schulter – action“ bzw. verbale Bewegungsmarkierungen: „Pak“, die auf den spezifischen Einsatz von Energie bei der Ausführung einer Bewegung und damit auf eine Art energetisches Maß der Bewegung verweisen. Die Bewegungen, die tänzerische, akrobatische und pantomimische Bewegungsmuster kombinieren und welche die Jungen in diesem Training lernen, sind gemessen an ihrem Alter durch ein hohes Maß an Komplexität und Energie gekennzeichnet. Der Trainer probiert mit den Jungen neben den Grundschritten (wie Kicks, Slides) auch kraftaufwendige Elemente am Boden (z.B. Windmill), Überschläge (z.B. Wallflip) sowie Bewegungsstile wie Electric Boogie und Popping. Der Tanz fordert von den Jungen eine große Elastizität und Beweglichkeit, Koordinierungsfähigkeit (der Bewegung verschiedener Körperteile) und Kraft. Das Freisetzen der Bewegungsenergie verbindet sich dabei mit dem stilistischen Ideal eines entspannten, „coolen“ Auftretens, das zugleich auf eine Habitusausformung verweist, die mit Hip-Hop insgesamt verbunden wird (vgl. DJ KoolHerc 2005; Klein/Friedrich 2003: 43). Dieses energetische, aber dennoch unaufgeregte und „coole“ Treiben entspricht dem begleitenden Einsatz der Musik, die in der Regel ungestoppt weiterläuft10 und einen Bewegungsrhythmus vorgibt, die Bewegungen gleichsam antreibt. Als „energetisch“ kann ebenfalls der Trainingsstil bezeichnet werden – es wird nicht auf die Bereitschaft aller gewartet, sondern der Trainer zieht die Jungen durch seine eigene Aktion, dadurch dass er sich selbst in Bewegung setzt, mit in das Training hinein. Während des Trainings sind die Tanzenden die meiste Zeit frontal zum Wandspiegel ausgerichtet und der Trainer fordert die Jungen wiederholt auf, ihre Körperbilder im Spiegel zu fokussieren – als räumliche Anordnung in gewisser Weise vergleichbar mit dem Frontalunterricht in der Schule. Er nutzt 9

Am 31. August proben die Jungen das letzte Mal vor ihrem Auftritt auf einem Bezirksfest und haben sich für einen letzten Durchgang ihrer Tanzchoreographie mit dem Rücken zum Spiegel aufgestellt – womit die Videokamera allerdings unmittelbar ins Blickfeld geraten ist. Mahmoud wird von zwei Jungen in dieser Generalprobe „zur Ordnung gerufen“, weil er sich von der Videokamera ablenken lässt. Am 7. November hingegen – in der ersten Trainingsstunde nach einem weiteren, nach eigener Auskunft eher „missglückten“ Auftritt – löst die Kamera starke Irritationen aus, obwohl die Jungen eigentlich mit dem Rücken zur Kamera trainieren. Alle scheinen wenig konzentriert und der Trainer ringt um den Erfolg seiner Disziplinierungsversuche. 10 „Mehr als in jeder anderen Tanzsprache ist im Hip Hop das Schweigen der Musik eine Provokation [...].“ (Hahn 1996: 50) 150

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dabei das (tanz-)pädagogische Arrangement der Gegenstände (Übungsmatte und Spiegel), um das kollektive Lernen zu organisieren: den Spiegel als visuelles Feed-back, gewissermaßen als „Autorität“, um die Bewegungspraktiken der Kinderkörper dem kollektiven Rahmen, dem Gesamtbild der Gruppen-Formation, anzupassen und die individuellen Undiszipliniertheiten, das „Aus-dem-Rahmen-Fallen“ einzelner Körperglieder, zu korrigieren. „Seid sauber!“ ist eine Aufforderung, die der Trainer häufig wiederholt und die auf den Erwerb körperlicher Selbstkontrolle zielt. Sie kann zudem als ein Appell zur Inkorporierung von Verhaltenskonventionen verstanden werden (vgl. Douglas 1988). Die Aufforderung nimmt dabei ein erst noch zu entwickelndes Verständnis der Jungen dafür vorweg, was der Trainer in Hinsicht auf eine gemeinsame Choreographie genau als „Verunreinigung“ durch Bewegungen, die nicht „an ihrem Platz“ sind, versteht. Die Bewegung sieht dann „gut aus“, wenn die Körperspannung stimmt. Das ist etwas, was der Trainer stets „am eigenen Leibe“, am Beispiel der eigenen energetischen Präsenz in den vorgeführten Bewegungen demonstriert. Die Körperspannung zieht Aufmerksamkeit auf sich, da sie selbst Konzentration aufführt – davon gilt es die Schüler zu überzeugen und zur Aufmerksamkeit zu verführen. Der Blick in den Spiegel, das heißt der Blick auf sich, auf den Trainer und die anderen Mittänzer, wird zum Vermittler verschiedener auf Aufmerksamkeitsanforderungen bezogener Lernprozesse. Für die Jungen gilt es im Training nicht nur das eigene Spiegelbild und das Kollektivbild im Auge zu behalten, sondern auch das Spiegelbild des Trainers – denn gelernt wird vorrangig mimetisch durch ein Nachvollziehen und Adaptieren von Bewegungen (vgl. Gebauer/Wulf 1992; Gebauer/Wulf 1998). Die Möglichkeiten sprachlicher Explizierung scheinen den Bewegungspraktiken hingegen kaum genügen zu können (vielleicht auch hinderlich zu sein), sodass Detailfragen entweder visuell, vergleichend am Körperbild („Gum’ma“) und unter Zuhilfenahme z.B. eines verbalen bildlichen Verweises („Schulterpanzer“), oder aber durch körperlichen Kontakt und entsprechende „Markierungsversuche“ in einem taktilen „Körpergedächtnis“ (durch Anfassen, Drehen, Heben, Biegen, Drücken etc.) bearbeitet werden. In dem Wechselspiel zwischen Sagen und Zeigen tritt die performative Dimension des Körperlernens deutlich hervor: Durch Gesten, Berührungen und Sprachbilder wird auf etwas angespielt, wird etwas evoziert, das nicht gesagt werden kann.11 11 Die verbalen Äußerungen beziehen sich im Training nicht nur auf die Bewegungen, sondern bilden auch ein davon abgelöstes Parallelgeschehen, das inhaltlich um fiktionale Figuren der Popkultur oder ähnliches kreisen kann. Die Jungen und der Trainer lenken sich dementsprechend untereinander durch Alltagsfragen und Kommentare von den Übungspraktiken ab und die kollektiven Bewegungsmuster verlieren sich auch seitens des Trainers während den Proben immer wieder in abschweifenden Smalltalks, Scherzen, Ermahnungen. 151

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Am Umgang mit dem Spiegel wird offenkundig, dass die mimetische Aneignung von Bewegungen durch ein am Bild des Trainers orientiertes Nachmachen in keiner Weise voraussetzungslos ist, sondern durch ein komplexes Aufmerksamkeitsmanagement fundiert ist, das selbst erst eingeübt, habitualisiert werden muss. Äußerungen des Trainers wie „Gum’ma“, „Seid sauber!“ oder „Findest Du, das sieht gut aus?“ zielen auf eine körperliche Selbstkontrolle, die auf einem vergleichenden Sehen der eigenen Bewegung und der Bewegungen der anderen beruht: Eigenkontrolle, die über die Orientierung an einem Vor-Bild und einen Blick von außen auf sich selbst wirksam wird (vgl. Klein 2004: 142). Paradigmatisch kommt dieses Lernen von Eigenkontrolle über eine kritische Distanznahme zu sich selbst auch an einer anderen Stelle des Trainings zum Ausdruck, wenn der Trainer die Jungen auffordert: „Guckt Euch an, verdammt noch mal, ihr müsst Euch auch selbst korrigieren. Ich kann nicht die ganze Zeit mit meinen Augen bei jedem von Euch sein. Ihr müsst Euch auch selber korrigieren; ihr müsst gucken in dem Moment, sieht es bei mir jetzt genauso aus wie bei den anderen.“ (11. November, Datei 2, 01ǯ58˝-02ǯ11˝) Die Situation macht deutlich, dass sowohl die Trainierenden als auch der Trainer selbst ihre Aufmerksamkeit permanent „managen“ müssen. Die Unmöglichkeit für den Trainer, alle Jungen permanent zugleich im Auge zu behalten, wird in Hinsicht auf das Erfordernis von Selbstkontrolle und -korrektur aktivierend gewendet, indem er die Verantwortung der Jungen für das Erlernen der „richtigen“ Bewegungen betont. Die Flexibilität der Aufmerksamkeit, die zwischen dem eigenen Körper, den anderen Jungen und dem Trainer beständig hin und her pendeln und damit paradoxerweise konzentriert und zerstreut zugleich sein muss, wird zum zentralen Lerninhalt – ohne selbst im Fokus des Lernens zu stehen. Gelernt werden muss dabei jedoch nicht nur, mit dem umzugehen, was man sieht, sondern auch mit dem, was gleichzeitig nicht gesehen wird. Diese Anforderung wird vor allem dann offenkundig, wenn der Trainer die Choreographie mit dem Rücken zum Spiegel stehend übt. Hier gilt es ein Gespür für die Bewegung zu entwickeln, gleichsam einen Bewegungssinn zu schulen, der zunächst noch durch die Arbeit mit dem Spiegel(-bild) unterstützt wird: die räumlich-zeitliche Verortung und Bewegung des eigenen Körpers in Beziehung zu anderen Körpern (Akteuren und Dingen). Das „Sich-Anschauen“ im Spiegel zur disziplinierten Selbstkontrolle erweist sich im Training nicht nur als komplex, weil die Schwierigkeit besteht, dass der Fokus zwischen dem eigenen Körperbild zur Detailkorrektur und dem der Gesamtgruppe zur Synchronisierung changieren muss, sondern auch als ambivalent, weil es eine Art von „falschem“ Gebrauch des Spiegels gibt, in dem sich die Jungen in ihrem Spiegelbild verlieren, anstatt sich in ihren Bewegungen zu kontrollieren und zu korrigieren. So ist im Trainingsverlauf 152

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häufiger zu beobachten, wie einzelne Jungen vor dem Spiegel mit Blick auf ihren eigenen Oberkörperbereich posieren. Im Training lässt sich jedoch auch eine weitere Gebrauchsweise finden, indem sich die Jungen während des gemeinsamen Einübens von der Musik mitreißen lassen und ihre Bewegungen „ausschmücken“ – bis hin zu von der Gruppe nahezu abgekoppelten, eigenwilligen Bewegungssequenzen. Im Verlauf des Trainings emergieren mithin immer wieder Situationen „kreativer Unordentlichkeit“, in denen die Jungen nicht nur mit den im Training eingeübten Bewegungen, sondern auch mit Bewegungsfiguren spielen, die aus Videoclips – quasi „bewegliche BilderLehrbücher“ (Klein 2000: 38) – abgeschaut zu sein scheinen. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass das Training auf bestimmte Ziele, nämlich Auftritte vor Publikum, ausgerichtet ist und der Trainer deshalb immer wieder Konzentration auf die „Bewegungsarbeit“ einfordert, bilden diese Situationen des Spiels, der „Unordentlichkeit“ gewissermaßen Störungen der Trainingsordnung. Im Anschluss an Brian Sutton-Smith verstehen wir diese spontanen Choreographien jedoch nicht als Gegensatz zur Ordnung des Trainings, sondern – im Sinne einer umfassenden Struktur von Bewegungsreproduktion und spielerischer Innovation – als konstitutive Bestandteile eines Bildungsprozesses. In seinen Überlegungen zu Phänomenen der Ordnung und Unordnung übernimmt Sutton-Smith Victor Turners Begriff der „Anti-Struktur“ und sieht in spielerischen Phänomenen, die einer „normativen Ordnung“ auf den ersten Blick zuwiderlaufen, „das latente System potentieller Alternativen, dem Neuerungen entspringen, wenn Ereignisse im normativen System solche erfordern“. Er schließt: „Wir sind vermutlich deshalb in Spielen ‚unordentlich‘, weil wir entweder eine Überdosis an Ordnung haben oder weil wir etwas Bestimmtes durch das ‚Unordentlichsein‘ lernen müssen.“12 (Sutton-Smith 1978: 163) In diesem Sinne lässt sich auch die Beobachtung deuten, dass der Trainer in Bezug auf derartige „Bewegungsornamente“ und kurzzeitige eigenwillige „Abkopplungen“ von der sich gemeinsam bewegenden Formation keinerlei Ermahnungen ausspricht. Einerseits ist der Trainer in diesen Situationen zwar 12 Victor Turner wiederum nimmt später auf dieses Konferenz-Paper von Brian Sutton-Smith Bezug und teilt dessen Perspektive in seiner Konzeption „liminoider Phänomene“ (vgl. Turner 1982: 28). Indem Sutton-Smith schreibt: „Die antistrukturellen Phänomene [beim Spielen] machen nicht nur das kulturelle System, so wie es besteht, erträglich, sondern erhalten ihren Mitgliedern eine größere Flexibilität gegenüber ihrem System und damit auch eine größere Offenheit für mögliche Veränderungen“ (Sutton-Smith 1978: 163), fasst er – mit Rekurs auf System- und Rollenbegriff – auf kulturvergleichender, anthropologischer Ebene in Worte, was Thomas Alkemeyer et al. an einigen „Populär“-Sportarten der postindustriellen Gesellschaften detailliert herausgearbeitet haben: eine Flexibilisierung des Habitus durch spielerische Bewegungspraxen (vgl. Alkemeyer et al. 2003 sowie Alkemeyer 2004). 153

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häuufig vom Gesamtbild der Form mation abg gelenkt unnd mit seinner Aufmeerksam mkeit auf einen e Jungeen ausgericchtet: Es en ntstehen (A Aufmerksam mkeits-) LükL kenn, die die Jungen J miit ihren Beewegungen füllen könnnen, aberr auch ausn nutzenn, um sichh von der Trainingsdi T isziplin un nd ihrer Beeanspruchuung zu entllastenn. Anderersseits wird dieses d Expeerimentiereen mit Bew wegung, M Musik und dem d eiggenen Spieegelbild möglicherweeise aber auch a desw wegen vom m Trainer (der ( sellbst kein Päädagoge, sondern akttiver Break kdancer ist)) stillschweeigend akzzeptierrt, weil diee motorischhe Eigenw willigkeit der Jungen einer mim metischen TraT dieerung und Habitualissierung durrch selbstinszenatorische Prakttiken im HipH Hoop zutiefst entspricht e (vgl. Kleinn/Friedrich h 2003).

Vid deoausscchnitt (2/2 2), Jugend dclub am 11. Nove ember, Da atei 1, 44 4ǯ30˝-44ǯ5 52˝ Maahmoud undd Rafiq habben weiter mehrfach m ihre Schulternn zurück unnd wieder nach n vorrne bewegt. Rafiq hebtt den linkenn Arm über den Kopf, legt die Haand dort ab und trittt näher an den d Spiegel heran, fasst sich kurz an die Achsselhöhle. M Matthias begiinnt im hinteren Mattenberei M ich, Handsttand zu üb ben. Währenddessen ggreift Ali, von recchts hinter Rafiq R vorbeeigehend, mit m beiden Händen H auff dessen Poo; ein „Verp piss Dicch“ ist zu höören. Ali geeht weiter und u schlägt Mahmoud M m links ebbenfalls auf den mit Hinntern. Dieseer fasst sichh mit beidenn Händen dorthin, d drehht sich lachhend zu Ali um undd läuft hinteer ihm her, wobei ein zweites „V Verpiss Dichh“ zu hörenn ist und Raafiq, ebeenfalls lacheend, mit dem m Rücken zur z Spiegelw wand zurücckweicht. Dieser fasst dem d Traainer Max kurz k an denn Rücken, trritt zurück und u wieder vor, rutschht dann auf den Knnien über diie Matte, niimmt den Kopf K nach unten, u hebt ein Bein w wie zum Ko opfstannd, steht wiieder auf, wendet w sich zum z Spiegeel und hebt die d Arme übber den Kop pf.

Abbildung 3:: Ali und Mahmoud A M (im m Biild mit schw warzen T-Shhirts) spieleen „F Fangen“ Raafiq berührt den Trainerr am m Rücken.

154 4

Ab bbildung 4: Ermahnungg des Traineers an Mahmoud (befindet siich links außerrhalb des Bildrandes).

SZENEN DES LERNENS

Ali und Mahmoud hatten währenddessen die Bildfläche der Videoaufzeichnung verlassen, laufen beide nun wieder in diese hinein und über die Matte in Richtung Spiegel, Ali inzwischen hinter Mahmoud her. Der Trainer Max sagt zu Fouad, nun wieder vernehmbar: „Nutz es doch aus“, wendet sich zu Ali und Mahmoud, hebt den Zeigefinger, weist mit diesem auf Letzteren und sagt: „Gelbe Karte.“ Mahmoud zeigt in die Richtung von Ali, dann zum Trainer Max und sagt: „Der ärgert mich.“ Max zu Ali gewandt, die Hände nach oben geöffnet: „Ey, is’ mir egal, Jungs.“ Ali: „Ja, aber [unverständlich]“; Max unterbricht ihn: „Ey Jungs“, beugt sich runter zu Ali, auf die Knie gestützt: „Pass auf, pass auf. Stop. [Ali], wir ha’m keine Zeit.“ Ali wendet sich dabei zum Spiegel und vom Trainer ab. Gekicher ist zu hören. Der Trainer weiter: „Hörst Du? Jungs nein. Komm mal her. Komm’ mal beide her.“

Wie sehr der Trainer mit seiner Aufmerksamkeit das Netz von Bewegungen zusammenhält und koordiniert (ohne dieses vollständig kontrollieren oder gar planen zu können), wird deutlich, sobald er sich einem einzelnen Jungen zuwendet und dadurch den Fokus seiner Aufmerksamkeit räumlich verengt und verschiebt. Welcher Bezug lässt sich anhand dieser Szene zwischen der Verschiebung von Aufmerksamkeit und dem Aufbrechen der Bewegungsformation verdeutlichen? Warum zerstreuen sich die Jungen hier, nicht aber in Situationen, in denen der Trainer, wie oben angeführt, explizit sagt, dass er nicht alle gleichzeitig im Auge behalten könne? Auch wenn es dem Trainer – trotz des Spiegels als Visualisierungsinstrument – nicht gelingen kann, allen Jungen und ihren Bewegungen zugleich Aufmerksamkeit zu schenken, erzeugt der Blick des Trainers in den Spiegel – aus der Gruppe heraus – unseres Erachtens eine Art Blickregime, das die Übungsformation im gewöhnlichen Training mit zusammenhält. Die Jungen scheinen hingegen ein Gespür dafür zu haben, wann dieses Blickregime durch eine Verschiebung der Aufmerksamkeit kollabiert. Dass sich der Trainer zu Fouad umwendet, ist wie ein Signal für die anderen Jungen, dass für sie das Training unterbrochen ist. So löst sich die zum Wandspiegel ausgerichtete Übungsformation mit der Um- und Hinwendung des Trainers zu Fouad sukzessive auf und es entspinnt sich ein anderes, spontaneres Bewegungsnetz. Indem der Trainer den Fokus seiner Aufmerksamkeit verengt, wird den anderen Jungen Aufmerksamkeit entzogen – sie werden zumindest zeitweilig trotz ihres Raumgreifens ignoriert. Ali und in der Nachfolge auch Mahmoud und Rafiq entwickeln ihrerseits spontane Strategien, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, während Matthias Handstand übt oder das „Fangen“-Spiel zwischen Ali und Mahmoud mitverfolgt. Rafiq bringt diesen Aspekt, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, in gewisser Weise auf den Punkt, indem er Alis Übergriff nachahmt und den Trainer, wenn auch nicht sehr nachdrücklich, am Rücken berührt. Ali, Mahmoud und Rafiq haben offensichtlich Spaß in dieser Situation, die nicht nur eine spontane Ablen-

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kung, sondern auch ein Grenzgang, ein Spiel mit der Aufmerksamkeit und der Autorität des Trainers ist. Besitzt die Aufmerksamkeit des Trainers eine gewissermaßen organisierende Funktion, in dem Sinne, dass sie die räumliche Ordnung reguliert, diese zugleich durch die ihr eigene Bewegtheit, ihre „Sprunghaftigkeit“, aber auch aufzusprengen droht, so konstituieren die Zonen der Verschiebung und Ablenkung von Aufmerksamkeit Zwischenräume – die oben so genannten „Poren“ –, in denen sich auch die Koordinaten von Ordnung und „Unordnung“ am deutlichsten verschieben. Ohne zu unterstellen, dass bei einem dauerhaft durch den Trainer erzeugten Blickregime auch ein kontinuierliches Training möglich wäre (das würde die Dispositionen der Jungen auch kaum angemessen berücksichtigen), zeigt sich in dem Wechselspiel von Konzentration und Zerstreuung ein praktiziertes Trainings-Arrangement zwischen den Beteiligten. Die Jungen albern nicht beliebig herum, sondern nutzen dazu vorrangig bestimmte Zeitspannen, die sich aus den Ab- und Umlenkungen von Aufmerksamkeit im Trainingszusammenhang ergeben. Der Trainer beendet seine Erklärung für Fouad und öffnet anschließend seinen Blickhorizont, um die Aufmerksamkeit der Jungen für die anvisierte Choreographie wieder zu bündeln. Diese Wiederherstellung einer Trainingsformation – häufig mit rituellen „Scharnierhandlungen“ (wie Händeklatschen, Aufrufen „zur Ordnung“ oder auch Disziplinarmaßnahmen) verbunden – ist hier als Wiedereinsetzung seiner Autorität an eine Verwarnung gekoppelt. Die „Gelbe Karte“ ist dabei ein Verweis im doppelten Wortsinn: Einerseits eine Abmahnung mit der impliziten Aufforderung bestimmte, aber nicht weiter explizierte Verhaltensweisen zu unterlassen, andererseits eine sinnbildliche Referenz auf das Regelwerk im Fußballspiel mit definierten Sanktionen für Regelverstöße. Dieser knappe Verweis, der die im Training praktizierte Maßnahme des Ausschlusses durch einen „Rauswurf“ anklingen lässt, scheint durchaus auszureichen, damit alle Beteiligten wissen, was gemeint ist. Das Spiel mit der Zerstreuung wird hier mit einer „Gelben Karte“ geahndet, so als ob eine an kodifizierten Regeln gemessene Regelverletzung vorläge. Die Frage der Verantwortlichkeit für das Regelvergehen wird vom Trainer dann aber als letztendlich irrelevant abgetan gegenüber der Verantwortung aller Beteiligten für ein gelungenes Training. Wichtig ist nicht, wer angefangen hat, sondern dass jetzt wieder alle diszipliniert teilnehmen. Der Trainer versucht daher mit einem dringlichen Appell, die Jungen in die Trainingssituation zurückzuholen: „Pass auf, pass auf. Stop. [Ali], wir ha’m keine Zeit.“ In diesem Appell an die Eigenmotivation aller Beteiligten begibt er sich auch gestisch, durch seine Körperhaltung, auf gleiche Augenhöhe mit den Jungen. Auf Mahmouds Schuldzuweisung ist der Trainer indessen dennoch eingegangen, indem er sich zuerst an Ali gewendet hat (gewissermaßen ein 156

SZENEN DES LERNENS

Ausgleich für die vorherige Adressierung Mahmouds), bevor er beide Jungen wieder gemeinsam anspricht. Im nächsten Moment klingelt jedoch das Mobiltelefon des Trainers, was für eine weitere Ablenkung des Trainings sorgt. Die Durchsetzung des Trainings mit Phasen der Zerstreutheit und Ungeordnetheit, die einer „pädagogischen Ordnung“ zuwiderlaufen und zugleich die Basis für die Konzentration auf den Lerninhalt sind, stellt den Trainer immer wieder vor die Herausforderung, die Aufmerksamkeit der Jungen erneut auf das Erarbeiten der Choreographie zu lenken, zu konzentrieren. Im Trainingsverlauf entsteht auf diese Weise eine bewegliche Ordnung zwischen Disziplin und Spiel-Atmosphäre oder anders gesagt: eine Endlosschleife aus der Bündelung und Zerstreuung von Aufmerksamkeit, die der Trainer ebenso wie die Jungen zu steuern versuchen. Aufmerksamkeit ist dabei nichts, was latent, als Potential, vorhanden ist und sich dann zu bestimmten Zeitpunkten realisiert, sondern was in jedem Augenblick da ist und neu ausgerichtet, gelenkt werden muss. Die permanente Aushandlung, gleichsam das Werben um Aufmerksamkeit zwischen dem Trainer und den Jungen verlangt, wie gezeigt wurde, nicht nur von Letzteren, sondern auch vom Trainer eine Flexibilität im Umgang mit (Körper-)Ordnungen in Bewegung: eine „Kunst des pädagogischen Handelns“ – im Spannungsfeld von Mitherumalbern, Frotzeln, Ignorieren, verbalen und non-verbalen Ermahnungen, Appellen –, die es vermag, die Jungen immer wieder zur Aufmerksamkeit zu verführen, indem sie die Jungen „bei ihrem Interesse packt“. Wir haben aus unseren Beobachtungen geschlussfolgert, dass dieses Wechselspiel zwischen Konzentration und Zerstreuung, das die von uns so genannten Szenen des Lernens bestimmt, nicht einfach auf die Grenzen der Aufmerksamkeit (aller Beteiligten) verweist, sondern Trainingsphasen konzentrierter Aufmerksamkeit spielerisch umgrenzt und dadurch das gemeinsame Training – und damit (zielgerichtetes) Lernen – in diesem setting erst ermöglicht, jedoch auch immer wieder untergräbt. In diesen „Grenzgängen“ setzt der Trainer zum einen seine Autorität ein, die ihm nicht nur durch den Altersunterschied, sondern vor allem auch durch seine Tanzerfahrung zukommt, um die Aufmerksamkeit der Jungen zu binden. Zum anderen „taktet“ sich seine ihm eigene Sprunghaftigkeit mit der Sprunghaftigkeit der Jungen (eine habituelle Ähnlichkeit, die auch eine Kraft der Identifikation ist) zu einem rhythmisierten Wechselspiel von Trainingsordnung und „-unordnung“ ein, das in seiner Unwillkürlichkeit mal mehr und mal weniger erfolgreich erscheint, in jedem Fall aber ein lockeres Klima schafft,13 in das die Jungen gerne wiederkommen, um auch komplexe Bewegungsfolgen zu lernen. 13 Volker Schubert resümiert die verschiedenen erziehungswissenschaftlichen Konzeptionen einer „pädagogischen Atmosphäre“. Diese Atmosphäre werde maßgeblich durch den „Stil“ (Horst Friebel) bzw. die „habits“ (John Dewey) der 157

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Verführung zur Aufmerksamkeit Aufmerksamkeit, das heißt das Herausheben eines Gegenstandes aus einer Vielzahl anderer Tatsachen und die damit zugleich immer einhergehende Ausblendung eines Teils unserer Umgebung, ist kein gleichsam „natürlich“ gegebenes Phänomen, sondern ist zutiefst historisch strukturiert und in spezifischer Weise mit Machtdispositiven verbunden. Im Prozess einer „Modernisierung der Subjektivität“ seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, wie sie Jonathan Crary anhand des Begriffs „Aufmerksamkeit“ beschrieben hat, bilden Normen und Praktiken der Aufmerksamkeit dabei die andere Seite der Medaille, der die modernen Erfahrungen von Zersplitterung, Fragmentierung und Zerstreuung ihr Gepräge gegeben haben. Seine Durchsetzung findet der „Imperativ konzentrierter Aufmerksamkeit“ innerhalb der disziplinären Organisation von Arbeit, Erziehung und Massenkonsum als Teil institutioneller Kon-struktionen einer produktiven und lenkbaren Subjektivität (vgl. Crary 2002: 13). Hier wird offenkundig, inwiefern Aufmerksamkeit, deren Formung und Lenkung, mit Macht- und Disziplinierungstechnologien korrelieren, durch die über eine „stille Pädagogik“ (Bourdieu) die Körper „geschult“ werden. In dem von uns beobachteten Training zeigt sich nicht nur die Reziprozität von Zerstreuung und Aufmerksamkeit, sondern auch eine spezifische Technik der Disziplinierung durch eine Anregung zur Selbstdisziplinierung im Rahmen eines unseres Erachtens „zeitgemäßen“ Machtarrangements: die Verführung zu Aufmerksamkeit innerhalb eines Wahrnehmungsregimes, das zugleich kontrolliert und Freiräume lässt. Eine pädagogische „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (Franck 2007), das heißt spezifische Formen der Lenkung und zeitweiligen Bindung der knappen Ressource „Aufmerksamkeit“, beruht gleichsam auf dem gezielten Appell an Eigeninteressen und Bedürfnisse, ihrer Bedienung und Aktivierung. Anreize zur Inkorporierung des Bewegungswissens über eine lockere, interessegeleitete Selbstdisziplinierung sollen verführen und überzeugen. Sie kennzeichnen das von Sprunghaftigkeit durchsetzte Training, in dem die Aufmerksamkeit und die Disziplin der Jungen über ihr eigenes Interesse – auch über den Umweg der Ablenkungen – eingefangen und angestachelt wird. „Der Impuls der Lehre ist Überzeugen. Der Lehrer wirbt um Aufmerksamkeit, Zustimmung und, im besten Fall, um kooperative Einwände. […] Der Meister, der Pädagoge wendet sich an den Intellekt, an die Vorstellungskraft, das Nervensystem, das tiefe Innere seines Zuhörers. Beim Unterrichten von körperlichen Fertigkeiten, lehrenden Person mitbestimmt, die jedoch nur begrenzt verfügbar oder erlernbar seien (vgl. Schubert 2004: 122ff.). 158

SZENEN DES LERNENS

von Sport und musikalischen Darbietungen, wendet er sich an den Körper. Ansprache und Aufnahme, das Psychische und das Physische sind überhaupt nicht voneinander zu trennen (man beobachte eine Ballettklasse bei der Arbeit).“ (Steiner 2003: 39)

Eine „Kunst des pädagogischen Handelns“ konstituiert sich hier gleichsam als eine Art des Regieführens, die Blicke und Handlungen sich entfalten lässt und den sprunghaften Körpern auch Raum für spielerische „Unordnung“ gibt, diese (mit mehr oder weniger Autorität) lenkt, sich aber auch auf eine Kunst der Verführung versteht, die aus dem „hölzernen Verschlag“ des Lernens ein „Mehr“ herauszulocken vermag, indem sie die Lernenden in ihrem Lernpotential herausfordert und über sich hinauswachsen lässt.

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BIRGIT ALTHANS/DANIELA HAHN/SEBASTIAN SCHINKEL

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Organisierte Körper. Eine Ethnographie des Referendariats THOMAS PILLE

Als „professionelle Organisation“1 beschreibt Henry Mintzberg2 die Schule (vgl. Mintzberg 1992). In Organisationen, deren Arbeitsprozesse in „besonderer Weise vom Sachverstand, der Expertise und von der Motivation ihrer Mitarbeiterinnen abhängen“ (Gärtner 2007: 79), tragen die professionellen Mitarbeiter3 einen Großteil der Verantwortung für die Durchsetzung organisationsspezifischer Ziele. Ihre Arbeit ist „nur wenig von außen steuer- und kontrollierbar und daher wesentlich von Eigenmotivation und Selbstkontrolle bzw. Selbstevaluation abhängig“ (ebd.). Kontrolle und Steuerung scheinen in diesen Organisationsformen sogar der Produktivität entgegenzuwirken und eher einen demotivierenden Effekt zu haben (vgl. ebd.). Aus diesem Grund wird den professionellen Mitarbeitern ein hohes Maß an Autonomie zugestanden. Neben wenigen konkret formalisierten Arbeitsabläufen gewährt ihnen die Organisation Spielräume, die sie nach eigenem Ermessen gestalten können und müssen. Die Administration solcher Organisationen besitzt nur indirekt Einfluss. Ihre Aufgaben sind zum Beispiel die Behebung von Störungen, die Verbesserung der innerbetrieblichen Kommunikation und der Kontakt zur Außenwelt. Nur bei groben Verstößen der professionellen Mitarbeiter gegen die Regeln der Organisation sind disziplinierende Eingriffe vorgesehen. 1 2 3

Andere Beispiele für ‚professionelle Organisationen‘ sind Universitäten oder Krankenhäuser. Henry Mintzberg ist Professor für ‚Management Studies‘ an der McGill Universität in Montréal. Mintzberg bezeichnet Lehrer in Schulen oder Ärzte in Krankenhäusern als professionelle Mitarbeiter. Diese unterscheiden sich im Umfang ihrer Ausbildung und im Grad der zu tragenden Verantwortung vom Hilfsstab, dem beispielsweise Verwaltungskräfte und Pflegepersonal angehören. 161

THOMAS PILLE

Es stellt sich die Frage, wie es professionellen Organisationen gelingt, die Realisierung der Organisationsziele zu gewährleisten, obgleich sie über relativ geringe Kontrollmöglichkeiten verfügen und einen Großteil der Verantwortung auf den ‚betrieblichen Kern‘ übertragen.4 Mintzberg gibt eine Antwort auf diese Frage; er sieht die Sicherung der zielgerichteten Prozessgestaltung unter anderem in der Ausbildung der Akteure verankert: „Die Profiorganisation […] beschäftigt für die Ausführung der Arbeiten im betrieblichen Kern professionelle Mitarbeiter mit entsprechender Ausbildung und Indoktrination und gesteht ihnen dann ein erhebliches Maß an Kontrolle über die eigene Arbeit zu.“ (Mintzberg 1992: 256f.)

Mintzberg beschäftigt sich jedoch nicht mit den konkreten Praktiken, in denen die professionellen Mitarbeiter ausgebildet bzw. ‚indoktriniert‘ werden. Es schließt sich im Hinblick auf die Komplexität der von Lehrern zu meisternden Handlungsanforderungen die Frage an, wie diese Praktiken konkret aussehen. Im Rahmen einer praxistheoretisch fundierten5 ethnographischen Untersuchung von Schulkultur haben wir6 die vielschichtige Ausbildung von Lehrern in ihrer achtzehn Monate dauernden zweiten Ausbildungsphase, dem Referendariat, in den Blick genommen. Ziel war es zu untersuchen, wie die konkrete Welt beschaffen ist, in der die Referendare tätig sind, welche Angebote ihnen von der Organisation Schule gemacht werden und welche Rolle beispielsweise Mentoren, Seminarleiter, Schüler und Artefakte für die Ausbildung eines dem setting der Schule adäquaten Lehrerhabitus spielen. Aus praxistheoretischer Perspektive sind Subjekte nicht Ursprung und Zentrum der Praxis, sondern konstituieren sich in sozialen Praktiken.7 In mehr oder weniger konfliktreichen8 Auseinandersetzungen mit den spezifischen Ordnungen der Organisation geben sie sich im setting der Schule erkennbare Formen. Sie bringen sich selbst in historisch gewachsenen, organisationsspezifischen Pra-

4

5 6 7 8

Dies ist auch die zentrale Frage so genannter Agenturtheorien, die sich mit dem Verhältnis von „Prinzipal“ (zumeist Arbeitgeber) und „Agenten“ (zumeist Arbeitnehmer) aus ökonomischer Perspektive beschäftigen. (Vgl. Saam 2004) Für einen Überblick über praxistheoretische Perspektiven in den Sozialwissenschaften siehe Reckwitz (2000). Ich danke Anne Krause und Robert Niemeyer für die gute Zusammenarbeit. Siehe auch die Einleitung zu diesem Band. In Abhängigkeit von ihren habituellen Dispositionen weisen die Akteure unterschiedliche Passungen zu den Ordnungen der Organisation Schule auf. Einigen fällt es schwer, eigene Vorstellungen und Gewohnheiten mit den Anforderungen der Schule zu vermitteln, andere wiederum passen von Beginn an in die etablierten Ordnungen.

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ORGANISIERTE KÖRPER

xiskomplexen hervor und verkörpern zugehörige Eigenschaften, organisationsspezifische Vorstellungen und Ziele.9 Die Beobachtung der Praktiken des Unterrichtens sowie die systematische Untersuchung der hier etablierten Körpertechniken und der Formen ihrer Ausbildung ermöglichen einen Zugang zu den von Mintzberg konstatierten Mechanismen der ‚Indoktrination‘, die aus dieser Sicht an den Körpern der Akteure ansetzt. Möchte man sich den Praktiken der Subjektivierung empirisch nähern, so gilt es, diese Praxiskomplexe zu entschlüsseln. In diesem Beitrag werde ich mich auf einen kleinen Ausschnitt dieser Forschungen beziehen. Es werden Prozesse betrachtet, in denen Referendare einen bestimmten Umgang mit Unterrichtsstörungen10 erlernen. Ich versuche am Beispiel dieser in jeder Unterrichtsstunde wiederkehrenden Situation zu verdeutlichen, wie die Referendare als Novizen in etablierte (Körper-) Ordnungen eingeführt werden und sich selbst in Auseinandersetzung mit Schülern, Mentoren und dem spezifischen setting des Klassenraums zu Agenten11 der Organisation Schule machen und als solche die herrschenden Ordnungen perpetuieren.12 Zu diesem Zweck werde ich Ausschnitte aus videogestützten Beobachtungsprotokollen13 verwenden, die im Unterricht der Referendare und in den anschließenden Reflexionsgesprächen mit den Seminarleitern und Mentoren angefertigt wurden. Im I. Kapitel thematisiere ich die Komplexität des nur schwer definierbaren Lehrerjobs und versuche, die prekäre Situation von Referendaren zu Beginn des Referendariats am Beispiel von Unterrichtsbeobachtungen zu verdeutlichen. Daran anschließend zeige ich ebenfalls am empirischen Material, dass die Novizen durch die ‚Kräfte des Referendariats‘ systematisch dazu 9 Vgl. auch Alkemeyer/Pille (2008). 10 Den Begriff der Unterrichtsstörung verwenden Seminarleiter, Mentoren und Referendare alltagssprachlich auf der Basis eines eher normativen Verständnisses von Unterricht. Dies scheint insofern irreführend zu sein, als dass das Zusammenspiel oftmals gegenläufiger Aktionen sowie die Vermittlung unterschiedlicher Interessen und Standpunkte wesentliche Merkmale von Unterricht sind. Es wäre produktiver, die hier als Störungen ausgewiesenen Handlungen als Regelfall zu betrachten. 11 Bourdieu hat sich gegen die Begriffe „acteur“ und „sujet“ ausgesprochen und demgegenüber das Wort „agent“ verwendet. Dieser hat ein weites Bedeutungsspektrum: als Handelnder, wirkende Kraft, Bevollmächtigter oder als ‚Handels‘bzw. ‚Geheimagent‘ im Sinne eines „für eine Organisation oder (fremde) Macht Handelnden“ (Krais/Gebauer 2002: 84). 12 Zur Integration von organisationsspezifischem Wissen ins Lehrerhandeln siehe auch Bommes/Dewe/Radtke (1993) und Radtke (1996). 13 Je nach unseren zeitlichen Möglichkeiten und dem spezifischen Beobachtungsinteresse, welches sich im Verlauf des Projekts oftmals verschoben hatte, haben wir teilweise alleine am Unterricht teilgenommen und Beobachtungsprotokolle geschrieben oder waren zu zweit mit ein oder zwei Kameras im Feld. 163

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aufgefordert werden, sich etablierter organisationstypischer Gesten und Routinen zu bedienen (II.). Vor dem Hintergrund der Praxeologie Pierre Bourdieus lässt sich die Übernahme dieser körperlichen Ordnungen als Prozess der Habitustransformation beschreiben. Im III. Kapitel soll deutlich werden, dass die Novizen mit der Übernahme organisationsspezifischer Choreographien nicht nur ihre Körper in eine bestimmte Position den Schülern gegenüber bringen, sondern quasi unbemerkt im Zeichen bestimmter ‚politischer‘ Strategien agieren. In einem Fazit (IV.) hoffe ich, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie professionelle Organisationen die Durchsetzung solcher Strategien gewährleisten.

I. Es ist schwierig, für die vielschichtigen Aufgaben des Lehrers klare Ansprüche oder Ziele zu formulieren. Die Ordnungen des Unterrichts sind so komplex und situationsabhängig, dass es nur für wenige Situationen möglich ist, Richtlinien zu erstellen. Ortmann verdeutlicht, dass Spielregeln in Organisationen häufig nur implizit vorhanden sind, ohne exakt kodifiziert zu sein (vgl. Ortmann 1990: 58). Die Akteure haben zumeist nur ein diffuses Verständnis von den gültigen formalen und informalen Regeln, die sie verfolgen, was ihre Analyse, ihre „operationale Definition und intersubjektive Bestimmung“ (Ortmann 1992: 21) erschwert. Berechtigt erscheint die Frage danach, welche Wissensformen Lehrer zur Bewältigung der komplexen Aufgaben im Unterricht eigentlich benötigen (vgl. Rumpf/Kranich 2000; Bromme 1992). In Anlehnung an die „organisationssoziologisch inspirierte Wissenswerdungsforschung“ (Radtke 1996) beschreiben Combe und Kolbe diese schwer kategorisierbaren Wissensformen „als in der Zunft geteilte und für die Organisation funktionale Bestände, wie zu handeln sei“ (Combe/Kolbe 2004: 837f.). Lehrer können ihre Arbeit zumeist nur vage beschreiben. Die Aussagen der von uns beobachteten Seminarleiter und Mentoren bestätigen dieses Bild: In Gesprächen mit Referendaren forderten sie, „dass man einen Blick für die einzelnen Schüler bekommen müsse, um zu wissen, was als nächstes zu tun sei“ (Bp 11.06.08) 14, oder dass man ein „Gespür dafür entwickeln müsse, in welcher Lernphase sich ein Schüler gerade befindet“ (ebd.). Konkrete Verhaltensanweisungen gab es selten. Vielmehr wurde allgemein gefordert, „ein Ge14 Die folgenden kursiv gedruckten Passagen entstammen videogestützten Beobachtungsprotokollen (Bp), die im Unterricht und in Reflexionsgesprächen zwischen Referendaren und Mentoren oder Seminarleitern im Rahmen dieses Forschungsprojekts geschrieben wurden. Im Rahmen dieser Untersuchung wurden vier Referendarinnen und ein Referendar an unterschiedlichen Grundschulen in Niedersachsen über den Zeitraum von 18 Monaten von uns regelmäßig begleitet. 164

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fühl für die Situation“ (Bp 3.3.08), bzw. langfristig „eine authentische Lehrerpersönlichkeit auszubilden“ (ebd.). Viele Fragen der Referendare zum Lehrerverhalten im Unterricht konnten nicht konkret beantwortet werden. Es wurde darauf verwiesen, dass dies „von Fall zu Fall unterschiedlich sei“ (Bp 11.06.08) und man „immer die konkrete Situation betrachten müsse“ (Bp ebd). Selbst sehr erfahrenen Seminarleitern fiel es schwer, ihr berufliches Wissen in Worte zu fassen. Es scheint sich um eine spezifische Könnerschaft (vgl. Neuweg 1999) zu handeln, die sich nicht ohne Probleme verbalisieren lässt. Diese impliziten Wissensformen entsprechen keinem explizierbaren Wissen im Sinne rationaler Überzeugungen, sondern ähneln einem der Praxis zugewandten Verständnis bzw. einem praktischen Sinn für die je spezifischen Bedingungen des Feldes (vgl. Bourdieu 1999: 122). Die Referendare stehen zu Beginn ihrer Ausbildung dem komplexen Geschehen im Klassenraum oftmals ratlos und überfordert gegenüber. Insbesondere konkrete Verhaltensrichtlinien scheinen sie – wenn man betrachtet, wie häufig sie nach derartigen Sicherheiten in den begleitenden Seminaren fragen – zu vermissen. Für die Novizen ist es nicht immer einfach, die eingespielten Interaktionen und Rituale zwischen den Schülern und ihrer Lehrerin sowie deren implizite Regeln zu erkennen und zu deuten. Während der regelmäßigen Unterrichtshospitationen erhalten die Referendare die Möglichkeit, einen Blick für die Abläufe, Regeln und Spielräume zu entwickeln. Sie lernen, das ‚Spiel‘ des Unterrichts zu lesen und bekommen allmählich ein Gefühl dafür, was passend und was eher unangebracht sein könnte. Die ersten eigenen Unterrichtsversuche im Beisein der Mentorin sind als Annäherungen an die Ordnungen des Unterrichts zu verstehen. Sie scheitern oftmals daran, dass die Referendare nicht in der Lage sind, den vielfachen Anforderungen des Unterrichts gerecht zu werden und stets situationsadäquat zu reagieren. Obgleich der Unterricht minutiös von ihnen geplant wird, erreichen sie zumeist nur wenige der selbst gesteckten Ziele. Es fehlen ihnen das von den ‚Eingesessenen‘ – Mentoren und Schülern – vorausgesetzte Gespür und die von ihnen erwartete Aufmerksamkeit für variierende Situationen, Probleme und deren Lösungen. Es fällt ihnen offenbar schwer, das Geschehen aus der konventionellen Sicht eines Lehrers wahrzunehmen. Eine Mentorin brachte diesen Aspekt nach einem Beratungsgespräch mit einer Referendarin zur Sprache: „Wissen Sie, es ist als Mentorin auch schwierig, immer ruhig zu bleiben. Einem fallen sooo viele Kleinigkeiten auf – Schüler, die Unsinn machen, oder die ihr Buch gar nicht aufgeschlagen haben … Wissen Sie, wenn Kinder da vor den Heizkörpern am Kippeln sind oder so was, da… , naja, das bemerken Referendare einfach noch

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nicht. Die sind viel zu stark auf sich selbst und auf den Unterrichtsstoff konzentriert. Die müssen erst mal lernen, die Probleme zu sehen.“ (Bp 3.7.07)

Zum einen gelingt es den Referendaren noch nicht, alle Probleme und Anforderungen, die während des Unterrichts auftreten, wahrzunehmen; zum anderen fehlt ihnen Zeit, sich den erkannten Schwierigkeiten zu widmen. Während erfahrene Lehrer im Bruchteil einer Sekunde Entscheidungen treffen und den Unterricht wie nebenbei organisieren, stellen diese Aufgaben viele Referendare vor eine große Herausforderung. An den Beobachtungen der ersten Unterrichtsversuche einer Referendarin möchte ich die beschriebenen Probleme konkretisieren. Die Referendarin probierte sich in der folgend beschriebenen Situation als Lehrerin im Beisein ihrer Mentorin aus. Es handelt sich um den Deutschunterricht einer 3. Klasse, in dem sie bereits 10 Minuten mit dem Kontrollieren der Hausarbeiten verbracht hat. Es ging darum, für einen Lükkentext passende Adjektive auszuwählen und diese in korrekter Schreibweise einzutragen.

Aus dem Beobachtungsprotokoll vom 03.07.2007: Marike (die Referendarin15) erklärt inzwischen dem dritten Schüler dieselbe Aufgabe. Diese scheinen unterschiedliche Probleme zu haben. Es herrscht große Unruhe. Immer wieder spricht sie einzelne Schüler mit Namen an und versucht ihnen ruhig zu erklären, dass sich die Anderen bei dieser Lautstärke nicht konzentrieren können. Mehrfach sieht sie auf ihre Uhr und blickt immer öfter hinüber zu ihrer Mentorin. Viele Schüler scheinen die Hausaufgaben nicht verstanden zu haben. Nun geht sie von Heft zu Heft und bemerkt, dass die Aufgaben zum Teil gar nicht gemacht wurden. Die Blicke vieler Schüler wandern sofort hinüber zur Mentorin. Eine Schülerin kommentiert die Situation: „Frau Müller (die Mentorin) sagt immer vorher Bescheid, wenn sie die Hausaufgaben kontrolliert!“ Nachdem 12 Minuten vergangen sind, wird Marike sichtlich nervös: Ihre Stimme wird leiser; begonnene Sätze bricht sie vorzeitig ab und führt andere Sätze solange aus, bis ihr die Worte förmlich im Halse stecken bleiben. Schließlich beginnt sie, nur noch leise mit einzelnen Schülern über die Hausarbeiten zu sprechen. Die anderen Schüler werden immer unruhiger. Einzelne stehen sogar auf und laufen umher. Es ist inzwischen so laut, dass eine Schülerin zwei herumalbernde Jungen anherrscht, leise zu sein. Auch Marike bittet nun lautstark um Ruhe. Ihre Worte scheinen die gewünschte Wirkung zu verfehlen: Bereits nach wenigen Sekunden ist der Lärmpegel wieder genauso hoch wie zuvor. Sie überprüft die Aufgaben nur noch flüchtig. Ich selbst werde ebenfalls nervös und hoffe, dass diese angespannte Situation bald ein Ende finden wird. Inzwischen sind 17 Minuten vergangen und die Mentorin deutet auf ihre Armbanduhr. Resigniert

15 Um nicht immer wieder von ‚der Referendarin‘ sprechen zu müssen, wurden anonymisierte Namen eingesetzt. 166

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verkündet die Referendarin: „Ok, dann machen wir das ganz anders: Alle geben die Hefte am Ende der Stunde bei mir ab und ich sehe mir die Aufgaben zuhause in Ruhe an.“ Das Kopfschütteln der Mentorin bekommt sie nicht mit. Marike geht zurück zum Lehrerpult und versucht die Schüler mit einem lauten, langgezogenen „Hey“ zur Ruhe zu bringen, doch mehrere Schüler ignorieren sie. Meine Blicke wandern hinüber zur Mentorin, die ihren Platz im hinteren Teil des Klassenraums verlassen hat und nun zur Tafel geht. Mit verschränkten Armen steht sie dort und blickt in die Klasse. Ungefähr eine Minute lang verharrt sie in dieser Position, bis auch der letzte Schüler sie bemerkt hat. Er begibt sich allmählich auf seinen Platz. Eine letzte Dose wird mit einem Scheppern auf den Tisch gestellt, zwei Mädchen bringen noch Papierschnipsel zum Mülleimer, dann ist alles leise. Nachdem mehrere Sekunden Ruhe herrschte und sich eine gewisse Spannung aufgebaut hatte, beginnt die Mentorin mit scharfem aber ruhigem Ton zu sprechen: „Die Hefte braucht ihr nicht abzugeben, weil ihr da ja noch eure Hausaufgaben reinschreiben müsst und wenn ihr jetzt nicht besser mitarbeitet, werden das ziemlich viele sein!“ Sie geht wieder zurück auf ihren Platz und widmet sich ihren Notizen. Marike verteilt nun Übungszettel für die nächste Aufgabe und beginnt diese zu erklären.“ (Bp 3.7.07)

Die Referendarin hat zu Beginn des Referendariats die schwierige Aufgabe, einen Kosmos aufeinander abgestimmter Prozesse, Verhaltensweisen, Zeichen und Gesten zu entschlüsseln und an dessen routinisierten Spielweisen partizipieren zu müssen. Die im Klassenraum interagierenden Akteure sind mit dieser Welt bereits vertraut; sie kennen die spezifischen Ordnungen, Grenzen und Spielräume und folgen impliziten Regeln, die von Novizen (noch) nicht entziffert werden können. Die Disziplinierung und Beruhigung der großen Anzahl von Schülerinnen und Schülern, das Kontrollieren der Hausaufgaben sowie die Organisation der verschiedenen Unterrichtsphasen sind nur einige der im Unterricht parallel zu bewältigenden Aufgaben. Die Referendarin war nicht in der Lage, auf die einzelnen Schüler in einem Maß einzugehen, das angesichts der verfügbaren Zeit angemessen wäre. Von den 45 Minuten, die ihr im Rahmen der Deutschstunde zur Verfügung standen, benötigte sie 20 Minuten für das Vergleichen der Hausaufgaben, sodass sie im Anschluss nicht mehr genügend Zeit für die folgenden Aufgaben hatte. Im folgenden Beratungsgespräch sagte sie später, es sei ihr größtes Problem, „auf die vielen Fragen und Schwierigkeiten einzugehen“ (ebd.); alle hätten „so unterschiedliche Probleme, dass man gar nicht auf alles eingehen könne“ (ebd.). Je intensiver sie sich mit einzelnen Schülerinnen und Schülern beschäftigte, desto unruhiger wurden die anderen. Die Schwierigkeiten, die ihre spezifische Position als ‚Fremde‘ in der Klasse mit sich brachte, wurden ebenfalls in dieser Szene deutlich: Obwohl die Referendarin unterrichtete, war es doch die Mentorin, die sich in wichtigen Augenblicken einschaltete und die Entscheidungen der Referendarin revidierte. Marike schien bereits am Anfang der 167

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Szene in den Blicken der Mentorin nach Anhaltspunkten für ihr weiteres Vorgehen zu suchen. Je mehr Zeit verstrichen war, desto häufiger schaute sie zu ihr hinüber. Auch dies äußerte sie indirekt im anschließenden Gespräch. Auf die Frage der Mentorin, warum sie denn damit begonnen habe, alle Hefte einzeln nachzusehen, antwortete die Referendarin, dass sie nicht gewusst habe, wie sie die „kritischen Blicke“ (ebd.) der Mentorin „hätte interpretieren sollen“ und „irgendwie gemerkt“ (ebd.) habe, dass sie „was falsch mache“ (ebd.). Auch die Schüler schienen die herrschenden hierarchischen Ordnungen bestens zu durchschauen: Mehrere Schülerinnen drehten sich umgehend zur Mentorin um, als die Referendarin damit begann, die Hefte zu kontrollieren. Die in dieser Klasse unübliche Praxis der unangekündigten Hausaufgabenkontrolle wurde nicht nur verbal kritisch kommentiert, vielmehr forderten auch die Blicke der Schüler die Mentorin zum Eingreifen auf. Die Schüler zeigten sich als Profis für die in dieser Klasse herrschenden Ordnungen und positionierten sich gegenüber der ‚Fremden‘ als Etablierte. Bestätigt wurden sie in dieser Position durch die Mentorin, die kurze Zeit später auf ihre Uhr zeigte. Mit dieser – auch für die Schüler sichtbaren Geste – signalisierte sie der Referendarin, dass es höchste Zeit sei, mit dem Unterricht fortzufahren. Zugleich verhinderte sie damit die weitere Kontrolle der Hausaufgaben und verwies die Referendarin implizit auf ihre prekäre Position im Gefüge dieser Klasse zurück. Die Schüler reagierten kaum auf die zahlreichen Versuche der Referendarin, Ruhe im Klassenraum zu erzeugen und ignorierten sie schließlich demonstrativ. Erst nachdem die Mentorin aufgestanden war, sich mit verschränkten Armen vor die Tafel gestellt und in die Klasse geblickt hatte, kehrte allmählich Ruhe ein. Die Schüler wurden zu Verfechtern der ihnen im Laufe der vergangenen Jahre immer wieder auferlegten Ordnung und nutzten ihr spezifisches ‚Im-Spiel-Sein‘ gegenüber der Referendarin. Dieser gelang es auch in den folgenden Stunden nicht, die gewünschte Ruhe im Klassenraum herzustellen. In den Beratungsgesprächen wurde das Zeitmanagement immer wieder als ein zentrales Problem thematisiert: „Warum verschwendest Du so viele Worte? Du musst einfach klarmachen, was Du willst. Ich weiß gar nicht, warum Du immer soviel diskutierst.“ (Bp 10.7.07) In den begleitenden Studienseminaren wurde auch von den Seminarleitern festgestellt, dass die Disziplinierung der Schüler eines der größten Probleme für die Referendare sei. In einem begleitenden Fachseminar wurden die in den Hospitationsstunden beobachteten Praktiken zur Beruhigung von Schülern explizit von allen Seminarteilnehmern aufgelistet und in einer Art Rollenspiel im Rahmen des Seminars ausprobiert. In Gesprächen unter den Referendaren wurde „das Warten auf absolute Ruhe“ (Bp 4.10.07) als sehr wichtiges In168

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strument beschrieben, um „eine Klasse in den Griff zu bekommen“ (ebd.). Immer wieder verwies die Seminarleiterin auf einen der erfahrenen Referendare, der dies vorbildlich zu machen schien. Die Seminarleiterin erwähnte oftmals seine hervorragenden Fähigkeiten und machte ihn somit zu einem Vorbild für die anderen: „Guckt euch mal den Unterricht von Marko an: da ist es völlig klar, dass der Unterricht erst weitergeht, wenn alles ruhig ist. Das wissen auch die Schüler, aber das wird sich auch bei allen anderen mit der Zeit einspielen.“ (Ebd.) Weiterhin wurde thematisiert, dass viele der Referendare nicht ausreichend von den Mentoren in die Abmachungen, Regeln und Rituale ihrer Klassen eingewiesen worden seien. Man käme „sich oftmals überflüssig vor“ (ebd.) und wisse häufig gar nicht, „welche Regeln mit den Schülern vereinbart wurden und welche nicht“ (ebd.). Es scheint das Problem vieler Referendare zu sein, noch keine passende Rolle in ihren Klassen gefunden zu haben. Ihre Position gegenüber Mentoren und Schülern ist noch unklar; es herrscht kein Einverständnis über Befugnisse, Rechte und Pflichten. Während es einigen Referendaren recht schnell gelang, sich die zunächst fremden Routinen zu eigen zu machen, wies das Verhalten anderer Referendare so große Dissonanzen zu den üblichen Praktiken des Feldes auf, dass es ihnen noch nach mehreren Monaten kaum möglich war, nicht als irgendwie unpassend aufzufallen. Die Überforderung und Desorientierung der Neulinge spiegelten sich in den Reaktionen der Etablierten, die diese ausdrücklich oder unterschwellig immer wieder als ‚Fremde‘ entlarvten. Sowohl die freundlichen Ratschläge der Lehrer, als auch die auf etablierte Ordnungen bestehenden Schüler verwiesen die Referendare im wörtlichen Sinne auf ihre spezifische Position als ‚Lehramtsanwärter‘. Der Eintritt der Referendare in die Organisation Schule ist für sie erkennbar mit einem Ringen um „Sicherheit, Anerkennung und Gruppenbestätigung“ (Presthus 1962: 171) verbunden.

II. Die Unsicherheit der Referendare in den ersten Wochen ihrer Schulzeit scheint eine Empfänglichkeit für Ratschläge und Hilfestellungen der Mentoren und Seminarleiter zu unterstützen. So gewöhnen sich viele Referendare schnell daran, nicht zu viele Aufgaben in einer Stunde bewältigen zu wollen oder - im Gegensatz zu ihren ersten innovativen Unterrichtskonzeptionen - die den Schülern vertrauten Lehrbücher zu verwenden. Ebenso scheint die Verunsicherung vieler Referendare ihre Bereitschaft zu steigern, sich der üblichen Umgangsweisen dieser Klasse anzupassen.

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Bereits nach zwei Wochen zeigten sich deutliche Veränderungen im Verhalten der oben beschriebenen Referendarin:

Aus dem Beobachtungsprotokoll vom 17.07.2007: Es ist kurz vor Zehn, die dritte Stunde hat begonnen. Auf den meisten Tischen der Schüler liegen noch die Materialien der vergangenen Stunde. Die Referendarin ordnet noch einige ihrer Unterlagen, holt Dinge aus ihrer Tasche, die sie später wieder hineinlegt, und stellt sich dann vor die Tafel. „So, packt bitte zusammen!“, ruft sie in die Klasse und blättert in ihrem Deutschbuch. Die Schüler widmen sich unterschiedlichen Dingen: einige trinken aus ihren Trinkpäckchen, drei Mädchen stehen um einen Tisch herum und sehen sich kleine Bilder an – vermutlich Sammelbilder, die ich nicht kenne – andere packen ihre Sachen aus. Die Referendarin geht zu der Gruppe und ermahnt die Mädchen, sich zu beeilen. Diese begeben sich widerwillig auf ihre Plätze. Nach drei Minuten ist immer noch keine Ruhe eingetreten und die Referendarin wird sichtbar ungeduldig. Längst hat sie das Blättern im Deutschbuch aufgegeben und ruft noch einmal – nun wesentlich lauter und fordernder – „Hey! Beeilung, bitte!“ Wieder geht sie zu ihrer Tasche kramt darin herum, wirft aber keinen einzigen Blick hinein. Die Schüler sind weiterhin relativ laut. Schließlich begibt sich die Referendarin direkt vor die Tafel, schiebt diese etwas nach oben und verschränkt die Arme vor der Brust. Zunächst scheinbar unbeachtet, ruft sie kurz und harsch die Namen zweier Schüler: „Martin, Jonas!“ Schließlich sagt sie gar nichts mehr und sieht mit umherschweifendem Blick zugleich alle und keinen Schüler an. Auf die Frage einer Schülerin, welches Unterrichtsfach denn nun dran sei, antwortet sie gar nicht mehr, sondern blickt die Schülerin nur einmal scharf an. Auf die nächste Frage eines Schülers, ob er auch mit einem Füller schreiben dürfe, reagiert sie nicht einmal mehr mit Blicken. Die Arme weiterhin vor der Brust verschränkt und aufrecht stehend scheint sie nun über die Schüler hinweg aus dem Fenster zu blicken. In dieser Position verharrt sie nahezu regungslos. Die ersten Schüler beginnen, sich gegenseitig auf die vor der Tafel stehende Referendarin aufmerksam zu machen. Das eigentlich von anderen Lehrern häufig verwendete „Schscht“ wird nun von mehreren Schülerinnen zeitversetzt in die Klasse gezischt. Zuletzt werden die einzigen Schüler, die noch nicht ruhig auf ihren Plätzen sitzen, namentlich von ihren Mitschülern aufgerufen und nachdrücklich zum Stillsein aufgefordert. Einige Schüler holen noch Hefte aus ihren Ranzen, ein Junge spitzt seinen Bleistift an und blickt dann zur Tafel. Die einkehrende Stille wird plötzlich durch die lautstarke Simulation eines Schnarchens für kurze Zeit unterbrochen. Erst als absolute Ruhe einkehrt, gibt die Referendarin ihre Position und Haltung auf. Mit sehr ruhiger Stimme beginnt sie die Stunde: „Schlagt bitte das Übungsheft auf!“ (Bp 17.7.07)

Das Ordnen der Unterrichtsmaterialien ist auch für erfahrene Lehrer ein üblicher Beginn des Unterrichts, da sie in den Pausen nur wenig Zeit haben, um zwischen den unterschiedlichen Klassen zu wechseln. Sie sortieren Hefte, le170

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gen Zettel und Stifte bereit und säubern die Tafel zwangsläufig im Beisein der Schüler und stimmen diese und sich selbst im selben Prozess zugleich auf die folgende Stunde ein. Die Referendarin übernahm dieses Verhalten, obwohl sie bereits in der Pause alle Materialien auf den vorgesehenen Plätzen positioniert hatte. Die Praktiken des Ordnens wirken im Klassenzimmer routiniert und sind den Schülern ein gewohntes Zeichen für den allmählichen Einstieg in den Unterricht. Die Referendarin schien einen Moment abzuwarten, der es zuließ, die Aufmerksamkeit der Schüler zu gewinnen. Erst als einige Schüler ihre Bereitschaft zur Teilnahme signalisiert hatten, begann sie, die Aufmerksamkeit aller zu fordern. Sie schien ein Gespür für die Augenblicke entwickelt zu haben, in denen die Schüler bereit sind, Aufforderungen wahr- und anzunehmen.16 Die Szene lässt sich insgesamt als eine sukzessive Annäherung der Referendarin an die in dieser Klasse etablierten Praktiken zur Erzeugung von Ruhe und Konzentration beschreiben. Dabei übernahm sie Umgangsweisen, Körperhaltungen und bei dem Aufrufen der Schüler sogar identische Intonationen von ihrer Mentorin. In einem ersten Schritt begab sie sich auf einen bestimmten Platz vor der Tafel, den auch die Mentorin in solchen Situationen üblicherweise einnimmt. In einem zweiten Schritt hielt sie allmählich ihre verbalen Äußerungen zurück. Im Gegensatz zu ihren ersten Stunden verwendete sie nur wenige Worte und stellte das Sprechen im Verlauf dieser Szene schließlich ganz ein. Im dritten Schritt ahmte sie auch die Körperhaltung ihrer Mentorin nach: Sie nahm eine aufrechte Haltung ein und verschränkte die Arme vor der Brust. In einem vierten Schritt beherrschte sie schließlich ihre Blicke: Während sie zunächst noch einzelne Unruhstifter ansah, brach sie schließlich jede Form persönlichen Kontakts ab und blickte stattdessen über die Schüler hinweg bzw. durch sie hindurch auf die gegenüberliegende Fensterfront – ein unpersönlicher, entpersonalisierender Blick. Einem Akt des Ordnens folgte eine abwartend-überwachende Geste. Die Referendarin provozierte durch ihr Verhalten unterschiedliche Reaktionen der Schüler. Einige saßen aufrecht und sichtlich angespannt auf ihren Plätzen, andere nutzten die Situation, um durch kleine Späße auf sich aufmerksam zu machen. Beide Reaktionen zeugten gleichermaßen davon, dass die Schüler die Geste der Referendarin erkannt hatten und sie einzuordnen wussten. Über ihre Blicke lenkte sie zunächst das Augenmerk der Schüler auf die unterschiedlichen Unruhestifter, um sich dann der Situation als ansprechbare Person zu entziehen. Es entstand eine Situation kollektiver Anspannung, in der die Schüler begannen, sich gegenseitig zu ermahnen. Je länger die Situation

16 Interessante Parallelen zu diesen Beobachtungen sind im Beitrag von Althans, Hahn und Schinkel in diesem Band zu finden. 171

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anhielt, desto intensiver versuchte das Kollektiv der Klasse, auch die letzten Unruhestifter zur Räson zu bringen. Die Referendare lernen, ihren Körper auf bestimmte und wiedererkennbare Weise zu gebrauchen. Die Übernahme organisationsspezifischer (Ver-) Haltensweisen kann als eine Form körperlichen Trainings beschrieben werden (vgl. Alkemeyer/Pille 2008), bei dem eine Annäherung an die Gepflogenheiten dieser Klasse für die Referendare zugleich bedeutet, dem Gefüge der Klasse nicht länger fremd gegenüber zu stehen. Die Referendarin übernahm in der dargestellten Szene den anerkannten Umgang mit Ruhestörungen und wurde durch die Reaktionen der Schüler wortlos in ihrem Verhalten bestärkt. Die geglückte Performanz machte sie vorübergehend zu einem (an-)erkannten Mitglied der Klasse – ein erster Erfolg, der sichtlich Erleichterung bei ihr auslöste. Im anschließenden Gespräch zwischen Referendarin und Mentorin wurde diese Szene sofort thematisiert. Die Mentorin äußerte sich lobend und bemerkte, dass Marike nun „auf dem richtigen Weg“ (Bp 17.7.07) sei. Man könne sehen, „dass ein klares Lehrerverhalten auch den Schülern gut tue“ (ebd.). Fast euphorisch reagierte auch die Referendarin: „Ja, das war irgendwie ungewohnt, aber ein schönes Gefühl, wenn man das dann geschafft hat. Man merkt schon, dass das auch was bringt. Alle haben aufgepasst und ich musste gar nicht mehr schreien.“ (Ebd.) Der Abstand der Referendare zum eigenen Verhalten im Unterricht spiegelte sich in informellen Gesprächen, die sie im Anschluss an die Seminare führten. In Bezugnahme auf die ersten eigenen Unterrichtsversuche fielen Aussprüche wie: „Man macht sich da auch gerne mal zum Affen“ (Bp 4.10.07), oder es wurde allgemein im Hinblick auf die permanente Ruhigstellung der Schüler im Unterricht mit ironischem Unterton gefragt: „Wie mache ich mich als Dompteur?“ (Ebd.) Die Referendare bezeichneten es als sehr widersprüchlich, einerseits eigenständige Schüler ausbilden zu wollen bzw. zu sollen und sie andererseits immer wieder zum Schweigen bringen zu müssen. Insbesondere die „bedrohliche Stille“ (ebd.) wurde als „völlig strange“ (ebd.) oder auch als „unnatürlich“ (ebd.) bezeichnet. Sie signalisierten sich eine bestimmte, offenbar kritische Einstellung gegenüber den Ordnungen der Schule, denen sie sich dennoch, in Abhängigkeit ihrer je spezifischen Dispositionen, teils mit Selbstironie, teils ängstlich und überfordert annäherten. Um partizipieren zu können, ist es für die Referendare nicht notwendig, von Beginn an vollständig in ihre neue Rolle zu passen. Sie müssen jedoch in der Lage sein, in für die Schüler erkennbaren und damit verständlichen Formen zu agieren. Zusammen mit der Übernahme bestimmter körperlicher Haltungen und Gesten lernen die Akteure, den Unterricht aus einer bestimmten Perspektive wahrzunehmen. In der täglichen Einübung des Lehrer-Seins bilden sie allmählich feldspezifische Wahrnehmungs- und Denkweisen aus: Bei der Über172

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nahme typischer Gesten zur Erzeugung von Ruhe, wurde es offenbar auch für die Referendarin unmittelbar erstrebenswert, absolute Stille im Klassenraum quasi wortlos zu erzeugen; es wurde von ihr als „schönes Gefühl“ beschrieben, „es geschafft zu haben“. Mit ‚Haut und Haaren‘ verstrickte sie sich in die Praktiken des Unterrichts und begann im Sinne der bereits etablierten Spielregeln zu denken. Sie beschrieb die von ihr und anderen Referendaren zuvor ‚belächelten Praktiken‘ nun als sinnvoll und scheint erfreut über die erzeugte Ruhe und Konzentration im Klassenraum zu sein. Mit der Einverleibung der Bedingungen des Feldes geht, so lässt sich im Anschluss an Bourdieu (1999: 126) formulieren, die Ausbildung eines praktischen Glaubens an die Ordnungen, Hierarchien und Regeln des Spiels einher.17 Die Gewöhnung der Körper an die Ordnungen schulischer Praxis lässt sich als „heimliche Überredung durch eine stille Pädagogik“ (Bourdieu 1999: 128) beschreiben, in der auch bestimmte Bilder und organisationsstimmige Vorstellungen transportiert werden. Folgt man diesem Gedanken, so bilden die Akteure bei der Übernahme schulischer Gesten eine bestimmte Akzeptanz der bestehenden Ordnungen aus und erleben die hier vollzogenen ‚Spielweisen‘ allmählich als sinnvoll und stimmig. Indem sie sich in lehrertypischen Haltungen in die Organisation einbringen, partizipieren sie praktisch an den dort etablierten Choreographien und lernen, adäquat auf die komplexen, oftmals widersprüchlichen Anforderungen18 des Unterrichts zu reagieren. Ein wesentliches Merkmal dieser subtilen Formen körperlicher Gewöhnung ist der Effekt, dass die Antinomien der Praxis sowie die Distanz zum eigenen Handeln im körperlichen Vollzug oftmals aufgelöst werden (vgl. Bourdieu 1999: 93). Die Akteure lernen auf eine Weise am Unterricht teilzunehmen, die erwartbare Reaktionen und Antworten der Schüler provoziert. Wenn ‚alles passt‘, wenn das Verhalten der Novizen auf Resonanz stößt, greifen die Handlungen der Beteiligten gleichsam magisch ineinander und es entstehen ‚Momente des Spielflusses‘, die von den Akteuren augenscheinlich unmittelbar als sinnvoll erfahren werden (vgl. ebd.: 123). So wie ein Fußballspieler im 17 Bourdieu bezieht sich in seinen Ausführungen zum praktischen Sinn und zum Habitus zumeist auf ein spezifisches körperliches ‚Im-Spiel-Sein‘ in solchen Feldern, in die die Akteure gewissermaßen hineingeboren wurden. Er betont, dass die Akteure nicht einfach durch „spontane Willensentscheidungen“ (Bourdieu 1999: 125) in fremde Felder eintreten können, sondern dass dies „durch einen langwierigen Prozess von Kooptation und Initiation, der einer zweiten Geburt gleichkommt“ (ebd.), erfolgen müsse. 18 Die Anforderungen an den Lehrer im Unterricht bezeichne ich deshalb als widersprüchlich, weil viele der gleichzeitig zu bewältigenden Aufgaben sich kaum vereinen lassen. Der gleichzeitige Anspruch auf Selektion und Förderung der Schüler, ihre permanente Disziplinierung und die Unterstützung von Selbständigkeit und Mündigkeit sind nur einige der in der Praxis des Unterrichts kaum zu vermittelnden Ideen. 173

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Vollzug eines Doppelpasses den Sinn des Fußballspiels kaum grundsätzlich in Frage stellt – er wäre dann nicht spielfähig – scheint auch der kritische Blick der Referendare auf die Ordnungen des Unterrichts um so mehr zu verblassen, je erfolgreicher (im Sinne der herrschenden Sicht) sie in diesen agieren.

III. Die in dieser Klasse eingespielten Ordnungen19 lassen sich als Choreographien beschreiben, die im geschilderten Beispiel auch bestimmte (Körper-) Haltungen im Umgang mit ‚Unterrichtsstörungen‘ vorsehen. Mit dem Beziehen der Position zwischen Tafel und Schülern und dem Einnehmen einer spezifischen Körperhaltung, die von der Referendarin im Verlauf der ersten Wochen bis zur Kontrolle der eigenen Blicke perfektioniert wurde, bringt die Novizin bestimmte Saiten in den Schülern zum Mitschwingen (vgl. Alkemeyer 2006: 136). Im Zusammenspiel mit dem räumlich-materiellen setting des Klassenraums gelang es ihr, allmählich an die Routinen der Schüler anzukoppeln. Im Verlauf des Einübens der beschriebenen Choreographie nahm die Referendarin eine im Unterricht für Lehrer übliche Haltung gegenüber den Schülern ein. Mit deren Vollzug transformierte sich die lebendige Lehrperson temporär in eine erstarrte Machtpose und evozierte einen mit diesem Auftreten verknüpften, imaginären Raum an Erinnerungen, Assoziationen und Gefühlen; sie borgte sich gleichsam die von der Pose verbürgte Autorität, um im Kontext des Unterrichts performativ für Ordnung zu sorgen. Diese Praxis lässt sich einer Gruppe strukturähnlicher Praktiken zuordnen, deren Ähnlichkeit vor allem in ihrer Sprachlosigkeit, ihrer Effizienz und in der spezifischen Rolle, die die Lehrperson gegenüber den Schülern einnimmt, liegt. So wird beispielsweise ein Wechsel der Unterrichtsphasen nicht mündlich von der Lehrerin angekündigt. Stattdessen hält die Schule eine ganze Sammlung von Magnetschildern bereit, die unterschiedliche Choreographien symbolisieren: Hängt die Lehrerin die Abbildung zweier flüsternder Kinder an die Tafel, so gilt dies beispielsweise als Zeichen für die anstehende Stillarbeitsphase. Die Abbildung einer Tasse, eines Tellers und eines Apfels verkündet den Schülern hingegen, dass die Frühstückspause demnächst beginnen soll. Ein weiteres Beispiel ist der Einsatz von Glocken oder Klangschalen, die ebenfalls eingesetzt werden, um Ruhe zu erzeugen oder als Zeichen für das allmählich herbeizuführende Ende einer Unterrichtsphase gelten. Der Einsatz dieser Zeichen weist einen wesentlichen Unterschied zu konkreten verbalen Anweisungen auf: In all diesen Praktiken wird den Schülern ein bestimmtes – 19 Der geschilderte Umgang mit Ruhestörungen im Unterricht konnte von uns in allen fünf untersuchten Schulen beobachtet werden. 174

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wenn auch nur sehr geringes – Maß an ‚Freiheit‘ eingeräumt, das es ihnen ermöglicht und sie dazu verpflichtet, selbst zu entscheiden, wann genau sie sich hinsetzen, ob sie noch für kurze Zeit in ihren Tornistern kramen oder noch einmal zum Mülleimer laufen, bevor sie sich schließlich in die durch Zeichen vermittelten Ordnungen begeben. Sie werden angehalten, selbst Initiative zum Handeln nach den ihnen bekannten Regeln zu ergreifen. Ich verstehe diese Praktiken als subtile Übergänge und als Vorbereitung der Schüler auf sogenannte offene Unterrichtsformen, in denen Schülern vermehrt Handlungsspielräume eröffnet werden sollen. Unter den Aspekten der Offenheit, Freiheit und Eigenverantwortlichkeit wird vor allem im Unterricht der dritten und vierten Klassen oftmals in ‚Freiarbeit‘, ‚Teamarbeit‘ oder nach sogenannten ‚Wochenplänen‘ gearbeitet.20 Das führende Lehrersubjekt verschwindet in diesen Unterrichtsformen, „um als Projektberater oder Evaluationsmanager wieder aufzuerstehen“ (Pongratz 2004: 256). Die minutiöse Kontrolle der Handlungen und die direkte Einwirkung auf die Schüler werden abgelöst durch eine neue Form der Führung. Durch die sukzessive Zurücknahme verbaler Anweisungen und den verstärkten Einsatz organisationsspezifischer Zeichen werden die Schüler systematisch auf diese Umgangsformen vorbereitet. Wurden in der „alten Lern und Drillschule“ (Pongratz 2004: 252) noch Tugenden wie Ordnung, Pünktlichkeit, Gehorsam oder die korrekte Körperhaltung beim Schreiben unter direkter Führung des Lehrers, teilweise in unmittelbarem Körperkontakt, eingeübt, so werden in den hier beobachteten Praktiken erste Grundsteine für unternehmerische Tugenden wie Eigenverantwortung, Flexibilität und Selbststeuerung gelegt (vgl. Bröckling 2007). Es zeichnet sich ein Übergang „zu dynamischeren, innengeleiteten Arbeitsformen“ (Pongratz 2004: 252) ab, die darauf abzielen, „möglichst früh Fremd- in Selbstregulierung zu überführen“ (ebd.). Im Prozess der zeicheninduzierten Übernahme körperlicher Positionen und Haltungen werden mithin bestimmte Führungs- und Selbstführungstechniken im Unterricht installiert. In dieser kaum merklichen Autonomisierung der Schüler, in ihrer Entbindung von direkten Anweisungen und Befehlen, wird auf Dauer ein viel effektiverer Zugriff auf sie möglich. Es handelt sich um eine Form des Klassenmanagements um eine beginnende Effektivierung organisationsspezifischer Prozesse, die deshalb so stabil und effizient sind, weil sie die Verantwortung für die Erfüllung schulischer Regeln auf die Schüler selbst übertragen. Nach und nach übernehmen diese die Initiative und fordern im beschriebenen Beispiel schließlich von sich aus Ruhe und Ordnung von ihren Mitschülern ein.

20 Siehe zu diesen Formen des Unterrichts auch Jürgens (2002). 175

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IV. Die Organisation Schule gewährt ihren Akteuren im Vergleich zu anderen Organisationen ein hohes Maß an Verantwortung und verzichtet auf explizite Kontrolle. Voraussetzung hierfür ist eine umfassende Ausbildung, die von Mintzberg auch als ‚Indoktrination‘ beschrieben wird. Mein Ziel war es, an einem Beispiel zu zeigen, wie es der Organisation Schule gelingt, bestimmte Politiken bis in den Unterricht hinein zu verwirklichen. Dabei wurde deutlich, dass die Organisation Novizen in einer Art körperlichen Trainings an die etablierten Ordnungen heranführt und dass die konkrete Formung der Körper sowie ihre spezifische Positionierung im Raum eine entscheidende Rolle für die Reproduktion dieser Ordnungen spielen. Während sich tradierte organisationstheoretische Konzeptionen wesentlich um die „quasi-funktionalistische Zuordnung von Aufgaben, Rollen, Kommunikationen und Anweisungsbefugnissen“ (Janning 2002: 98) bemühen, wurde im Rahmen dieses Beitrags die Frage in den Mittelpunkt gerückt, in welchen konkreten Praktiken sich die Akteure zu Agenten der Organisation Schule formen. Das Referendariat wurde als Phase der Gewöhnung beschrieben, in der die Novizen ein Gespür für die Ordnungen des Unterrichts erwerben. An den Formungsprozessen einer impliziten praktischen Pädagogik (vgl. Bourdieu 1999: 128) sind in der hier vorgestellten Szene maßgeblich die Mentoren, Seminarleiter und Schüler beteiligt. Im Verlauf dieser Prozesse werden Verhaltensweisen entwickelt bzw. ausgebaut, an die die Organisation mit ihren Ansprüchen ankoppeln kann. Die Referendare formen sich sukzessiv zu Subjekten der Schule. Es zeigte sich, dass die Verunsicherung der Novizen und ihre spezifische Position als ‚Fremde‘ im Feld der Schule konstitutiv für den Prozess der schulischen Sozialisation sind. Die ‚Kräfte der Organisation‘ okkupieren die Novizen ebenso wie diese bestrebt sind, sich den herrschenden Ordnungen ‚anzuschmiegen‘. Der Anpassungsdruck sowie das Verlangen nach Handlungssicherheit und Gruppenbestätigung führen dazu, dass im Prozess der Übernahme organisationsspezifischer Ordnungen zum einen Ziele und etablierte Vorstellungen der Organisation verwirklicht und zum anderen das Bedürfnis der Novizen nach Zugehörigkeit und (An-)Erkennung befriedigt werden; in den ‚Praktiken der Indoktrination‘ werden die Strebungen der Akteure an die Ansprüche der Organisation herangeführt (vgl. Presthus 1962: 314). Die Übernahme organisationsspezifischer Choreographien ist ein Vorgang, der als geregelter Übergang in die Organisation bzw. als ein Einsetzungsritual (vgl. Audehm 2001) beschrieben werden kann. Die Novizen verlassen in diesem Augenblick kurzfristig ihre prekäre Position als ‚Fremde‘ im Setting der Schule; der beschriebene Kampf um (An-)erkennung trägt erste Früchte. Zugleich werden sie von allen Seiten in ihrem Verhalten bestärkt: sie 176

ORGANISIERTE KÖRPER

erhalten Lob von Mentoren und Seminarleitern und erfahren auch das Verhalten der Schüler als (An-)erkennung und Zustimmung. Über die Formung ihrer Körper werden sie unbemerkt in die ‚sozialen Spiele‘ der Schule hineingezogen. Durch die erfolgreiche Übernahme körperlicher Dispositionen und ihre Einbindung in die Praktiken des Feldes, verlieren die Referendare zunehmend ihre Distanz zur Organisation und damit den kritischen Blick für deren herrschenden Ordnungen und Regeln. Das eingangs thematisierte, größtenteils implizite Wissen der Lehrkräfte zur Bewältigung der komplexen Aufgaben im Unterricht wird aus der hier eingenommenen praxistheoretischen Perspektive wesentlich im Vollzug der Praxis selbst erworben. Dies erschwert den reflexiven Umgang mit den eigenen Formungsprozessen. Die Ausbildung der ‚professionellen Mitarbeiter‘ scheint gerade deshalb so effizient zu sein, weil sie in mimetischen Praktiken (vgl. Gebauer/Wulf 1998) von Körper zu Körper erfolgt, ohne dabei den Umweg über Ratio oder Vernunft zu nehmen. Ich habe zu zeigen versucht, wie über die Einübung organisationsspezifischer Choreographien, bestimmte Führungsformen im Unterricht installiert werden, in denen die Schüler systematisch zu Eigeninitiative und Selbstführung aufgefordert werden. Es bedarf spezifisch trainierter (Lehr-)Körper, die diese Strategien in der Organisation Schule zu verlebendigen in der Lage sind.

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Lektionen in symbolischer Gew alt. Der Körper als Gedächtnisstütze 1 MARKUS RIEGER-LADICH

Als Klaus Theweleit 1992 zu einem Symposium eingeladen wird, das den Titel trägt „Die Macht der Männerbünde einst und jetzt“, wirft er in seinem Vortrag eine Frage auf, die nichts von ihrer Brisanz eingebüßt hat. Nachdem er herausstellt, dass die Mitglieder sozialer Gruppen nur in den seltensten Fällen ahnen, in welch‘ hohem Maß ihr Wahrnehmen und Denken, Handeln und Erleben von den Institutionen gelenkt werden, denen sie angehören, und er die „institutionelle Herstellung des Männerkörpers“ als eine jener Praktiken identifiziert, deren Erforschung noch immer vernachlässigt werde (Theweleit 1995: 40), formuliert er, im Anschluss an Romane, welche die Erfahrungen des VietnamKrieges thematisieren, eine beklemmende Frage: „Warum“ – so Theweleit mit Blick auf das Leid, das die Soldaten nicht nur anderen zufügen, sondern eben auch am eigenen Leib erfahren – „scheren so wenige Männer aus ihren institutionellen Leibern […]“ (Theweleit 1995: 58) aus? Warum, so ließe sich die Frage variieren, verhält sich die Mehrzahl der Männer jenen sozialen Gebilden gegenüber so loyal, die ihnen doch selbst Gewalt antun? Wie ist jene Beziehung beschaffen, die Männer zu Institutionen unterhalten, die als Voraussetzung der Mitgliedschaft von ihnen Unterwerfung verlangen? Worin liegt die Anziehungskraft dieser Kollektive, die auch in anderen sozialen Feldern anzutreffen sind – in der Wissenschaft etwa, der Politik und der Ökonomie? Es ist diese Frage, zu deren Beantwortung ich etwas beizutragen suche. Auch wenn ich dabei in methodischer Hinsicht Theweleit durchaus folge – 1

Der vorliegende Text wurde bereits – bis auf einige geringfügige Details – in dem von Marie-Therese Wacker und Stefanie Rieger-Goertz herausgegebenen Sammelband „Mannsbilder. Kritische Männerforschung und theologische Frauenforschung im Gespräch, Münster 2006“ publiziert. Mein Dank gilt den beiden Herausgeberinnen, die dem Wiederabdruck gerne zugestimmt haben. 179

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ich setze ebenfalls auf die besonderen Erkenntnismöglichkeiten literarischer Texte –, klammere ich doch dessen psychoanalytisch instrumentierte These, wonach das Ausscheren durch den Hass auf die eigene Mutter verhindert werde (vgl. Theweleit 1995: 58ff.), ganz bewusst ein. Bevor ich mich den Erinnerungen James Salters zuwende, die unter dem Titel „Verbrannte Tage“ erschienen sind und Einblicke in militärische Körperübungen verschaffen, sei knapp der theoretische Hintergrund skizziert, vor dem ich jene Subjektivierungspraktiken interpretiere (vgl. Foucault 1992a: 283; Rieger-Ladich 2004), durch die nicht nur männliche Identitäten erzeugt werden, sondern eben auch Loyalität zu denjenigen Institutionen, die als Inkarnation patriarchaler Herrschaft gelten müssen. Das Geschlecht erscheint dabei als eine ambivalente Gabe, die ihren Empfänger in Tauschprozesse verstrickt, die einen verpflichtenden Charakter annehmen. Dieser Tausch hat längst begonnen, wenn die „Beschenkten“ das Licht der Welt erblicken: „Gender wird erworben, man bekommt es aufgebürdet, es wird eingesetzt, getauscht und gegeneinander aufgerechnet. Nach dieser Logik kann Gender auch ein […] Geschenk sein; ein Geschenk, dessen Annahme man zurückweisen oder das man annehmen […] kann oder vielleicht auch annehmen muss; eine Leihgabe, aber auch ein Auftrag.“ (Forster 2005: 53f.)

Interpretiert man Geschlecht als eine Gabe, die den „Beschenkten“ in ein Netz wechselseitiger sozialer Beziehungen verstrickt, weil sie auf Erwartungen verweist, auf Anforderungen und Gegengaben (vgl. Mauss 1996; Butler 2003), erscheint Männlichkeit nicht länger als widerspruchsfreie Größe. Männlichkeit gerät vielmehr in den Blick als Ergebnis eng verknüpfter sozialer Praktiken, deren künstliche Einheit durch ein Netz zahlreicher Diskurse gestiftet wird (vgl. Foucault 1992b). Diese regulieren durch die Etablierung von Dispositiven die Spielräume, innerhalb derer konkurrierende Entwürfe von Männlichkeit erprobt werden (vgl. Forster/Tillner 1998; Connell 2000). Untersucht man nun jene Verfahren, durch die Männlichkeit als relationale Größe markiert wird, entsteht unweigerlich der Verdacht, dass „Männlichkeit“ im Reich des Imaginären angesiedelt ist. Weil die erforderlichen Eigenschaften – Dominanz, Stärke, Heterosexualität etc. – in ihrer Summe von keinem Subjekt auf überzeugende Weise verkörpert werden, entpuppt diese sich als illusionäre Größe. Männlichkeit ist eine „patriarchale Fiktion. Der Mann existiert nicht. […] Der Patriarch ist […] jenseits der realen Erfahrung von Männern“ (Tillner/Kaltenecker 1995: 42). Männlichkeit – als „Phantom der Vollständigkeit“ – konfrontiert die Subjekte daher auf schmerzhafte Weise mit ihrer eigenen Unvollkommenheit, in dem es sie auf ein idealtypisches Profil verpflichtet. „Männlichkeit“ wird in der Folge zur Stimulanz einer 180

LEKTIONEN IN SYMBOLISCHER GEWALT

fortwährenden Arbeit am Selbst: „[D]as zwangsläufige Scheitern jeder vollständigen Identifikation mit dem Idealbild des Patriarchen liefert die Motivation, ihm beharrlich nachzueifern.“ (ebd.: 43) Um nun Einblicke in jene Subjektivierungspraktiken zu erhalten, welche die Ausbildung männlicher Identität regulieren, erweist es sich als unverzichtbar, die Berufswelt von Männern zu inspizieren (vgl. Meuser 2005: 373). In Reinkultur lässt sich die Konstitution von Männlichkeit jedoch allein in homosozialen Räumen beobachten: Nur wenn Männer sich den Blicken der Frauen entzogen wissen (bzw. glauben), können sie sich ungehemmt der Arbeit am „männlichen Ich“ hingeben (vgl. Meuser 2003): „[V]ollendet wird der männliche Habitus“ – so Bourdieu – „nur in Verbindung mit dem den Männern vorbehaltenen Raum, in dem sich, unter Männern, die ernsten Spiele des Wettbewerbs abspielen“ (Bourdieu 1997: 203). In der Folge gerät eine Reihe von Berufsfeldern in den Blick, in denen die „patriarchale Fiktion“ (Tillner/Kaltenecker 1995) ganz besonders intensive Bemühungen provoziert. Es spricht manches dafür, dass dies noch eindeutiger als für die Funktionseliten in Wissenschaft, Ökonomie und Politik für das Militär zutrifft. Erstaunlicherweise liegen im deutschsprachigen Raum jedoch hierzu bislang kaum entsprechende Studien vor. Obwohl die „kulturelle Konstruktion von Geschlecht“ – so die Militärsoziologin Ruth Seifert – „ohne die Berücksichtigung des Militärs kaum adäquat plausibilisiert werden“ könne, sei das Wissen um doing gender-Prozesse innerhalb des Militärs hierzulande erschreckend gering und der Stand der Erforschung militärischer Subjektivierungspraktiken mithin „desolater denn je“ (Seifert 2001: 135). Als empirisches Material, von dem ich mir einen Zugang zu jenen Subjektivierungspraktiken verspreche, die nicht nur für die Stiftung sozialer Ordnung, sondern auch für die Freisetzung der Bindungskräfte männlicher „Institutionenkörper“ verantwortlich sind, dienen mir die Erinnerungen an seine Militärzeit, die James Salter unter dem Titel „Verbrannte Tage“ publiziert hat (Salter 2000). Salter schildert hier nicht nur die Faszination, welche von der Welt des Militärischen ausgeht, sondern auch die persönlichkeitsformenden Kräfte, die dieser innewohnen. Obwohl er bereits relativ früh den Dienst quittiert – er tritt im Alter von nur 32 Jahren als hochdekorierter Kampfflieger ab –, nimmt die Schilderung der unterschiedlichen Etappen doch mehr als die Hälfte seiner Biographie ein. Bevor ich das Augenmerk auf einen Übungsflug lenke, sei jedoch kurz der Ausbildungsweg Salters skizziert. James Salter wird 1925 im Bundesstaat New Jersey geboren und siedelt nur kurze Zeit darauf mit seinen Eltern nach Manhatten um. Er verlebt eine unbeschwerte Jugend, bewirbt sich nach dem Besuch renommierter Schulen an unterschiedlichen Universitäten und wird im Frühjahr 1942 an der Stanford-University angenommen. Seinem Vater, der in jungen Jahren die Mili181

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tärakademie West Point besuchte und sich hier durch besondere Leistungen ausgezeichnet hatte, vermag er den Wunsch nicht abzuschlagen, sich hier ebenfalls zu bewerben. Salter, der nie eine militärische Karriere angestrebt hat (vgl. Salter 2000: 71), bereitet sich intensiv auf die Aufnahmeprüfungen vor – und wird auch hier angenommen: „Es war unglaublich, aber sowohl der eigentliche Kandidat als auch der erste Ersatzmann waren durchgefallen, einer bei der körperlichen Untersuchung, der andere bei der schriftlichen Arbeit, und nun teilte man mir mit, dass ich aufgenommen war. Ich wusste, was sich mein Vater mehr als alles andere von mir wünschte.“ (ebd.)

So tritt er im Alter von nur 17 Jahren in die Militärakademie West Point ein, die als Kaderschmiede gilt, welche den talentierten Nachwuchs auf die Übernahme verantwortungsvoller Aufgaben vorbereitet. Sie etabliert nicht nur strenge Auswahlverfahren und betreibt die Ausbildung überaus gewissenhaft; sie unterwirft ihre Mitglieder von Beginn an einem rigiden Kontrollsystem und verpflichtet sie auf einen strengen Ehrenkodex. Noch während seines Studiums in West Point, das Salter als eine Phase erlebt, in der sich seine Person durch den engen Kontakt zu den übrigen Soldaten, die straffe Organisation des Alltags und die Ausrichtung an peinlich genau überwachten Vorschriften grundlegend wandelt, wird sein Wunsch geweckt, Pilot zu werden. Es ist die Photographie des Bruders eines Zimmernachbarn, der bei einem Einsatz ums Leben kommt und ihm in der Folge zu einem fernen Vorbild wird. Nach dem Absturz bei einer Kampfhandlung umspielt die Aufnahme, die den Piloten mit seiner Frau zeigt, eine Aura des Heroischen: „Als er nicht lange darauf bei einem Feindflug ums Leben kam, empfand ich heimliche Begeisterung und Neid. Sein Leben, die Bruchstücke, die ich davon kannte, schienen mir erhaben, vollkommen. Er hatte etwas hinterlassen, eine Frau, die ihn nie vergessen würde; ich besaß ihr Bild. Der Tod schien der reinste Akt.“ (ebd.: 104)

Zwei Jahre später beginnt Salter die Ausbildung zum Piloten und tritt 1945 in die Air Force ein. Nach zahlreichen Einsätzen landet er schließlich bei jener Einheit, die er längst als seine geheime Bestimmung zu betrachten scheint. Das Kapitel, das dieser Zeit gewidmet ist und den Titel trägt „Der eine mutige Akt“, setzt mit folgenden Sätzen ein: „Im Spätsommer 1951 trat ich endlich in das Reich ein, nach dem ich mich lange gesehnt hatte: ich wurde nach Presque Isle in Maine versetzt, zur 75. Jagdflieger-Staffel“ (ebd.: 186). Hier, im Cockpit des Jagdbombers F-86, kommt es nun zu jener Prüfung, die vielleicht eine erste Antwort auf die von Theweleit aufgeworfene Frage erlaubt.

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Die 75. Jagdfliegerstaffel ist hierarchisch organisiert. Besonders geachtet werden die Kampfflieger des Koreakriegs. Diese Gruppe steht an der Spitze der Staffel – und diese Männer sind es, die mit einer besonderen Autorität ausgestattet sind und deren Anerkennung zu erwerben zu einem besonderen Ansporn wird. Als Salter an einem Spätnachmittag im November 1952 zu einem Übungsflug aufgefordert wird, zählt sein Fluglehrer zu jener Gruppe: „Rothaarig und mager war er, und er hatte bis dahin kaum ein Wort zu mir gesagt. Sein Name war Stewart. Ich wusste kaum etwas von ihm. Er hatte Einsätze in Korea geflogen, und jetzt war er Technischer Offizier. Ich wartete hinter ihm. Warum erinnert man sich an einige Dinge so viel deutlicher als an andere und an Männer, die kaum mit einem gesprochen haben? Ich war neu in der Gruppe und nervös. Ich war entschlossen enge Formationen zu fliegen, sein Schatten zu sein, ihn fast zu berühren. Wir starteten kurz vor Sonnenuntergang. Niemand sonst würde in der Luft sein.“ (ebd.: 189f.)

Nach dem Start gewinnen die beiden Maschinen rasch an Höhe. Keinerlei Zeichen deuten darauf hin, dass sich dieser Übungsflug von den vorherigen unterscheiden wird – bis der Fluglehrer plötzlich riskante Manöver vollzieht, die Salter zu Beginn noch nicht recht einordnen kann; die ihn dann jedoch den besonderen Charakter dieses Fluges begreifen lassen: „Damit flog er eine Rolle und stieß mit Vollgas senkrecht nach unten. Ich wusste nicht, was er vorhatte […]. Ich folgte ihm, hängte mich grimmig entschlossen hinter ihn, als beobachtete er mich. Die Fluggeschwindigkeit war im roten Bereich, Tausende von Fuß wirbelten auf den Höhenmesser herunter. Die Steuerung ging schwer, der Knüppel ließ sich nur noch mit großer Kraft bewegen, als wir Rollen und Kurven flogen, die so eng und schnell waren, dass ich spürte, wie mir das Herz aus der Brust gedrückt wurde. […] Es war fast unmöglich, in den Kurven bei ihm zu bleiben. Ich hatte beide Hände am Knüppel. Die ganze Zeit verloren wir Höhe. Es schien, als bewegten wir uns nicht. Wir klebten aneinander, bebend, in tödlicher Nähe. 500 Fuß, 300, noch niedriger, in, so schien es mir, unheilvoller Stille, wenn man das brennende, gleichmäßige Brüllen der Triebwerke ausnahm. Wir waren völlig allein, schlugen in jedem Moment gegen unsichtbare Luftwellen. Er führte uns ins Unbekannte. Mein Kombi war durchtränkt, der Schweiß lief mir über das Gesicht. Ein reiner bleicher Heiligenschein bildete sich hinter dem Kabinendach und blieb dort, strömend wie Rauch, stehen. Ich begann zu begreifen, worum es ging. Ohne mich anzublicken […], ergründete er, wie groß meine Sehnsucht war, zu ihnen zu gehören. Es war eine Taufe. Dieser schweigende Engel sollte mich dorthin bringen, wo ich, durchnässt und erschöpft, mit anderen vereinigt würde. Wenn meine Maschine auseinandergerissen würde wie ein Stück Papier, das man aus dem Fenster eines Schnellzugs hielt, wenn die Stücke wirbelnd und flatternd zurückblieben, wür-

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de er nur eine gelassene Kurve fliegen, um nachzusehen, was geschehen war, sein Gesichtsausdruck unverändert.“ (ebd.: 190ff.)

Kurz darauf geht der Übungsflug überraschend zu Ende: „Ich hatte mich alldem ergeben und auch dem, das noch kommen mochte, als er plötzlich den Flugplatz ansteuerte. Wir hatten ihn schon zwei oder drei Mal überflogen. Dieses Mal machten wir den Anflug, fuhren die Sturzflugklappen aus und wurden langsamer, als wir die Kurven flogen. Ich hatte ein Gefühl absoluter Kontrolle über die Maschine. Ich war gezähmt, gehorsam. Ich hätte seinen Flügel sanft mit meinem anstoßen können, meinte ich, ohne eine Spur zu hinterlassen. Ich hätte ihm überallhin folgen können, durch alles.“ (ebd.: 192)

Abbildung 1: Jagdbomber der US-Air Force F-86

Interpretiert man diese Passage nun nicht einfach als „unbestechliche“ Erinnerung, die das Erlebte „unverzerrt“ abbildet, und sucht statt dessen der narrativen Struktur auf die Spur zu kommen, welche diese literarisch komponierte sowie stilistisch ausgearbeitete Schilderung eines Übungsflugs organisiert, gerät schnell das Schema der Übergangsriten in den Blick. Arnold van Gennep hat damit jene Verfahren bezeichnet, die Gesellschaften ersinnen, um auch in solchen Phasen, die durch eine besondere Dynamik gekennzeichnet sind, den Erhalt ihrer Ordnung zu sichern. Übergangsriten antworten damit auf die besondere Herausforderung, trotz des fortwährenden Wandels Stabilität zu erzeugen.

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„Jede Veränderung im Leben eines Individuums erfordert teils profane, teils sakrale Aktionen und Reaktionen, die reglementiert und überwacht werden müssen, damit die Gesellschaft als Ganzes weder in Konflikt gerät, noch Schaden nimmt. Es ist das Leben selbst, das die Übergänge von einer Gruppe zur anderen und von einer sozialen Situation zur anderen notwendig macht. Das Leben eines Menschen besteht somit aus einer Folge von Etappen, deren End- und Anfangsphasen einander ähnlich sind: Geburt, soziale Pubertät, Elternschaft, Aufstieg in eine höhere Klasse, Tätigkeitsspezialisierung.“ (van Gennep 1999: 15)

Van Gennep unterscheidet drei Phasen eines Übergangsritus: Auf eine „Trennungsphase“, die den Betroffenen räumlich isoliert, folgt die „Umwandlungsphase“, in welcher er durch den Einsatz magischer Praktiken einer tiefgreifenden Veränderung seiner Person unterzogen wird. Abgeschlossen wird dieser Prozess durch die „Angliederungsphase“, in der er zurückgeführt und seinem neuen Status entsprechend wieder in die Gesellschaft integriert wird (ebd.: 21). In der Schilderung des Übungsflugs lässt sich das Drei-Phasen-Modell mühelos erkennen: Salter entwirft die Flugstunde als einen Übergangsritus, der ihn – am Ende einer unnachgiebigen Prüfung – zum „richtigen Piloten“ werden lässt. Die Verwandlung zum anerkannten Kampfflieger vollzieht sich mithin in drei Schritten. Zu Beginn wird er von seinem Fluglehrer aus dem Verbund der Staffel herausgelöst. Nach einem kurzen Wortwechsel mit der Flugüberwachung sind sie alleine. Unbehelligt von weiteren Anweisungen durch den Gefechtsstand, beginnen sie ihren Flug. Dass dieser Übungsflug einen besonderen Charakter besitzt, ahnt Salter zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Erst als Stewart kommentarlos zu waghalsigen Flugmanövern übergeht, begreift er, dass ihm eine besondere Prüfung abverlangt wird. In die „Übergangsphase“ tritt Salter ein, als er die Belastungsprobe als Herausforderung begreift und alles unternimmt, diese Prüfung zu bestehen. Der Zugang zum Kreis der anerkannten Kampfflieger wird offensichtlich nur jenen gewährt, die bereit sind, sich bedingungslos unterzuordnen. Freilich werden von dem Kandidaten keine Absichtserklärungen gefordert: Die Prüfung vollzieht sich in einem Modus hochintensiver Körperarbeit, in welcher der Flugschüler alle Energie darauf konzentriert, dem Lehrer im Wortsinne „zu folgen“, den „Kontakt“ nicht abreißen zu lassen und auf jedes Signal in einem mimetischen Prozess zu reagieren. Der Kandidat muss gleichsam zu einem Schatten des Prüfers werden – und auf eigene Regungen verzichten. Erst die völlige Überantwortung seinem Ausbilder gegenüber lässt ihn als würdig erscheinen, in die Gruppe der Kampfflieger aufgenommen zu werden: „Ich begann zu begreifen, worum es ging. Ohne mich anzublicken […] ergründete er, wie groß meine Sehnsucht war, zu ihnen zu gehören. Es war eine Taufe. Dieser 185

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schweigende Engel sollte mich dorthin bringen, wo ich, durchnässt und erschöpft, mit den anderen vereinigt würde.“ (Salter 2000: 192)

Der Ausbilder tritt somit in einer Doppelfunktion auf: Er agiert nicht nur als Prüfer, der den Kandidaten an eine neue Grenze seiner Belastbarkeit führt – er nimmt auch die Gestalt eines Begleiters an, der ihn schließlich zu einem neuen Ort und zu seiner neuen Bestimmung führt. In auffälliger Weise korrespondiert der Stille, die trotz des ohrenbetäubenden Lärms der Düsentriebwerke zu Beginn des Übungsflugs zu herrschen scheint, die Stille, in der die Flugzeuge zurückkehren (und die den Eintritt in die „Integrationsphase“ markiert). Nach den überstandenen Strapazen lenken sie die Kampfflieger auf die Landebahn zurück. Der Flugplatz, der zuvor als Ort lärmintensiver Verrichtungen beschrieben wird, erscheint nun in einem veränderten Licht. Er wird zur Projektionsfläche der Erleichterung, die Prüfung bestanden zu haben: „Jetzt, da das Geräusch unserer gewalttätigen Überflüge verschwunden war, lag der Platz in vollkommener Stille da. Eine ungebrochene Ruhe“ (ebd.). Allerdings wird der neue Status nicht öffentlichkeitswirksam markiert, nicht einmal durch eine Geste der Anerkennung bekräftigt. Die Aufnahme in den Kreis der Kampfflieger wird schmucklos vollzogen. Stewart hat seine Aufgabe erfüllt – und damit ist seine Mission beendet: „Danach sagte er kein Wort zu mir. Zu Trivialitäten lässt sich der Bote nicht herab. Er tut seine Pflicht, nimmt seine Sachen und verschwindet. Aber die schneebedeckten Felder, die unter uns vorbeizogen, der Schrecken, das Gefühl, für einen Moment ein wirklicher Pilot zu sein – diese Dinge blieben.“ (ebd.)

Was in dieser Passage deutlich wird, ist die intrikate Weise, wie innerhalb des Militärs Zugehörigkeit organisiert, Identität gestiftet, Loyalität erzwungen und der Subjektstatus verliehen werden. Der Hunger nach Anerkennung, der schon früh in Salters Erinnerungen zum Ausdruck kommt und der deshalb so leicht instrumentalisierbar ist, weil er stets nur von anderen befriedigt werden kann und diese mit einer gefährlichen Macht über die eigene Person ausstattet (vgl. Bourdieu 1995: 77f.), wird seinem Ausbilder zum Faustpfand, das es ihm ermöglicht, diesen auf bedingungslosen Gehorsam zu verpflichten. Die Perfidie besteht darin, dass Anerkennung hier an Selbstentsagung gekoppelt wird. Die schillerende Doppeldeutigkeit des Subjektbegriffs – sub-iectum verknüpft die Anerkennung eines Subjekts mit dessen Unterwerfung (vgl. Foucault 1994; Meyer-Drawe 2003) – zeichnet sich dabei deutlich ab: Um die Prüfung erfolgreich zu bestehen, ist es nicht nur notwendig, die Flugbewegungen des Ausbilders perfekt nachzuvollziehen – wegen der unvermeidlichen Zeitverzögerung, mit der das Reaktionsvermögen einsetzt, muss der

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Kandidat darüber hinaus versuchen, dessen Bewegungen zu antizipieren, sich dessen Handlungsmuster zu eigen zu machen und sich schließlich dessen Person anzuverwandeln. Es ist diese entwürdigende Übung in Selbstenteignung, die es erst ermöglicht, im Kreis der Kampfflieger jemand zu „sein“, hier als vollwertiges Mitglied wahrgenommen zu werden und einen eigenen Namen zu erhalten. Anerkennung im Kreis derer, die innerhalb der Fliegerstaffel die hegemoniale Position bekleiden, kann daher nur durch Unterwerfung errungen werden. Der Preis für eine Führungsposition scheint in der vorbehaltlosen Übernahme jener Regeln zu bestehen, die das Kollektiv diktiert. „Ich hätte ihm“ – so Salter voller Pathos – „überallhin folgen können, durch alles“ (Salter 2000: 192). Es hieße allerdings die transformativen Kräfte, die solchen Situationen offensichtlich innewohnen, zu überschätzen und Zuflucht zu einer machtkritisch erblindeten Theorie des Performativen zu suchen, interpretierte man Rituale dieser Art, ohne deren Rahmung in den Blick zu nehmen und ohne deren Vorgeschichte zu berücksichtigen. So haben Pierre Bourdieu und Judith Butler denn auch völlig zu Recht moniert, dass der Rückgriff auf die Sprechakttheorie performative Effekte solange nicht überzeugend zu erklären vermag, wie er die Genealogie und die Rahmung sozialer Praktiken vernachlässigt. Es gilt nicht nur die Voraussetzungen freizulegen, denen sich die sozialen Wirkungen von Sprachhandlungen erst verdanken (vgl. Bourdieu 1990; Butler 1998), sondern auch – dies lässt sich von Foucault lernen – mit der subjektkonstituierenden Macht von wiederkehrenden, ritualisierten Übungen zu rechnen, die unmittelbar am Körper ansetzen (vgl. Alkemeyer 2003; Menke 2003). Dies verändert auch die Interpretation der geschilderten Flugstunde. Obwohl er an zahlreichen Stellen erhellende Einblicke in die „militärische Zurichtung des Mannes“ (vgl. Fiegl 1994) gibt und die Vorgeschichte seiner „Initiation“ eindrücklich schildert, scheint Salter diese bei der Auskleidung seines Übungsfluges als eines Übergangsritus auszublenden. Interpretiert man die Übungsstunde jedoch allein im Rückgriff auf van Gennep, bleibt dies unbefriedigend, denn die Frage Theweleits kehrt in modifizierter Form wieder: Wie kommt es überhaupt zu der irritierenden Bereitschaft, sich zu unterwerfen? Wie lässt sich die Macht des Ausbilders erklären? Wie die Ergebenheit des Flugschülers plausibilisieren? Woher rührt dessen unbedingte Sehnsucht, „dazuzugehören“ und von genau diesen Männern als einer von ihresgleichen betrachtet zu werden? Und – mit einer Wendung Butlers – welche Rolle spielt der Körper bei Subjektivierungspraktiken dieser Art: Geht er in ihnen vollständig auf? Wird er zu ihrem Medium? Oder erweist er sich als widerständiger Rest (vgl. Butler 2003a: 62)?

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Um sich der Beantwortung dieser Fragen wenigstens annähern zu können, müssen die Praktiken genauer in den Blick genommen werden, die einer solchen „Verwandlung“ vorausgehen. Die Anziehungskraft, die von der Fliegerstaffel ausgeht, die Bereitschaft, sich den etablierten Regeln zu unterwerfen, und die Disposition, sich schnell in diesem Mikrokosmos orientieren zu können, sind sozial erzeugt. Sie werden allein durch soziale Praktiken generiert (vgl. Foucault 1994b; Reckwitz 2003; Hirschauer 2004) – und sind weder besonderen „Charaktereigenschaften“ geschuldet, noch außergewöhnlichen „Talenten“. Die Funktion der Übergangsriten besteht nach Bourdieu vielmehr gerade darin, „Eigenschaften sozialer Natur so zuzuschreiben, dass sie als Eigenschaften natürlicher Natur erscheinen“ (Bourdieu 1990: 85). Die besondere Qualität von Salters „Verbrannte Tage“ besteht nun nicht zuletzt darin, dass hier auch noch die Vorgeschichte des ungewöhnlichen Übungsflugs erzählt wird. Bemüht man sich etwa, die einzelnen Praktiken zu identifizieren, denen hierbei ein besonderes Gewicht zukommt, und schließlich auch die komplizierte Logik zu entschlüsseln, durch die Sehnsüchte formiert werden, Dispositionen und Subjektivitätstypen, fallen schnell die plastischen Schilderungen auf, in denen Salter den militärischen Alltag in den Ausbildungseinheiten beschreibt. Als orientierte er sich an den „Laborstudien“ (vgl. Knorr Cetina 2002), hält er die Regeln fest, welche die Ausbildung organisieren, die Rituale, die unter den Soldaten praktiziert werden, und die Ordnung des Zusammenlebens, die sich dergestalt herauskristallisiert. Dabei scheint sich Bourdieus These zu bestätigen, dass soziale Gruppen „ihr kostbarstes Vermächtnis dem Körper an[vertrauen], der wie ein Gedächtnis behandelt wird“ (Bourdieu 1990: 89). Als besonderer Vorzug erweist es sich, dass Salter auf die Welt des Militärs in keiner Weise vorbereitet ist und den Eintritt in die Militärakademie als das Betreten einer fremden Welt erlebt, deren Grammatik ihm zu Beginn völlig fremd ist. Sehr deutlich wird dabei, dass sich die Aneignung dieser Regeln – auch wenn die Rekruten fortwährend belehrt, unterwiesen und unterrichtet werden – in erster Linie auf einer körperlichen Ebene vollzieht. Hier wird eine grundlegende Transformation angeregt, die an den Grenzen des Körpers nicht halt macht und schließlich die ganze Person ergreift: „An diesem ersten Tag trat man in ein Inferno. Forderungen, viele davon unverständlich, prasselten auf einen herab. Immer in rigider Grundhaltung, das Haar frisch gestutzt, mit eingezogenem und zitterndem Kinn, von ungesehenen Stimmen angeschrien, standen oder rannten wir wie Insekten von einem Platz zum nächsten, zwei oder drei Mal zur Kleiderkammer, und kamen mit Türmen von Kleidern und Ausrüstung zurück.“ (Salter 2000: 72f.)

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Die „Bestenauslese“, an deren Ende eine kleine Gruppe Auserwählter steht, beginnt schon in diesem Moment: „Manche hatten den Mut, es sofort hinzuwerfen, andere gaben langsam auf.“ (ebd.) Von Beginn an werden die Rekruten somit Situationen ausgesetzt, die darauf ausgelegt sind, die militärische Logik in ihre Körper einzuschreiben und sie auf diese Weise zu einem Teil dieses Kollektivkörpers zu machen. Sie werden dabei zum Objekt eines eng verzahnten Geflechts von Vorschriften und Normen, Zeitplänen und Bekleidungsvorschriften, Verhaltenskodizes und Leitbildern, das an unterschiedlichen Stellen angreift: Die Formung des Soldaten wird somit nicht nur über jene Disziplinierungspraktiken betrieben, die Foucault in „Überwachen und Strafen“ analysiert und die Reglementierung so weit verfeinern, bis schließlich „ein kalkulierter Zwang jeden Körperteil durchzieht und bemeistert, den gesamten Körper zusammenhält […] und sich insgeheim bis in die Automatik der Gewohnheiten durchsetzt“ (Foucault 1994a: 173). Die Rekruten werden eben auch dazu angeleitet, die Ausarbeitung der eigenen Person selbst zu betreiben und die Formung ihres Charakters als das höchste Ziel der Ausbildung zu begreifen. So erfährt denn auch die Arbeit an der eigenen Person eine besondere Wertschätzung: „West Point bildete keinen Charakter, es feierte ihn“ (Salter 2000: 93).

Abbildung 2: US-Militärakademie West Point

Es kommt daher zu einer Verflechtung zweier Regierungstechnologien – jener, die auf die Herstellung eines „gelehrigen Körpers“ (Foucault) abzielen, indem sie besondere Energie darauf investieren, den Tagesablauf bis in das 189

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kleinste Details zu regulieren, und jener, die den einzelnen Soldaten auf normative Leitbilder verpflichten und ihn dazu verführen, sich an der Ausarbeitung der eigenen Person zu beteiligen und die Führung seiner selbst auch noch in jenen Momenten zu übernehmen, die von den Disziplinarpraktiken nicht erfasst werden. Die Praktiken der Disziplinierung werden von Salter eindrücklich beschrieben. Insbesondere die „sinnliche Qualität“ dieser Prozeduren, welche die Unterscheidung von Innen/Außen unterlaufen und die Inkorporierung des Militärischen betreiben, stellt er heraus: „Es sind die Geräusche, an die ich mich erinnere, das eiserne Orchester, die Stiefel auf der Treppe, die klirrenden Glocken, das Brüllen, Rufe, Jawohl! Nein, ich weiß es nicht, Sir! Das Krachen von sechzig oder siebzig Gewehrkolben, die fast zur gleichen Zeit auf den Boden schlugen. Das Leben bestand aus ängstlichen Minuten, ständigem Herumrennen, Aufstellen.“ (ebd.: 73)

In einer gegenläufigen Bewegung greift die Disziplin hier auf den Körper zu. Sie sorgt durch das permanente Training und die gezielte Spezialisierung zu einer beachtlichen Steigerung der Kräfte. Allerdings erzeugt sie auf diese Weise nicht nur bemerkenswerte Fähigkeiten – sie neutralisiert diese auch sogleich. Die Disziplin lockert ihren Zugriff in keiner Weise und unterwirft den soldatischen Körper im selben Moment einer immer weiter perfektionierten Kontrolle (vgl. Foucault: 1994a: 177). Folglich werden die ersten Monate von Salter als eine Zeit brutaler Überwältigungen erlebt: Ohne Rückzugsmöglichkeit – „Man war nie allein. Es war vor allem dieses, was das Leben kennzeichnete“ (Salter 2000: 79) – und ohne Auszeiten, sieht er sich mit einem Universum konfrontiert, das von ihm Besitz ergreift, indem es den Tagesablauf rhythmisiert, ihn auf Zeitpläne verpflichtet, die mit kleinsten Zeiteinheiten rechnen, ein hochentwickeltes System von Strafen etabliert sowie die Körperpflege und die Nahrungsaufnahme reguliert. Es ist diese Erfahrung, einem übermächtigen System ausgeliefert zu sein, das seine Kontrolle immer weiter perfektioniert und darauf abzielt, noch die geringste Regung einem strengen Regelwerk zu unterwerfen, die Salter West Point als „Fabrik“, als „Schmiede“ oder gar als „dämonische Maschine“ (Salter 2000: 89, 72, 87) beschreiben lässt. Ergänzt werden diese Disziplinartechonologien (vgl. Foucault 1994a) durch solche, die – im Rückgriff auf späte Arbeiten Foucaults – als „Selbsttechnologien“ bezeichnet werden können (vgl. 1993): Hier unternimmt der Einzelne den Versuch, das eigene Selbst zum Gegenstand von Praktiken unterschiedlicher Art zu machen. Ihren Rückhalt finden diese zum einen in der Einführung von Listen, Tabellen und kompetitiven Elementen, welche die

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einzelnen zu fortgesetzten Vergleichen provozieren, und zum anderen in der Etablierung eines fein differenzierten Systems von Rängen, Auszeichnungen und Privilegien, das neben den militärischen Rängen auch noch zahlreiche interne Differenzierungen kennt. Von besonderer Bedeutung sind neben sportlichen Wettkämpfen die Noten, die bei den Prüfungen erworben und öffentlich bekannt gemacht werden. So wenig eine Platzierung im Mittelfeld zählt, so wenig gilt der zweite Platz. Besonders gewürdigt werden nur die Extreme der Leistungsskala: „Der Erste eines jeden Jahrgangs wurde gefeiert; der Zweite nicht, noch irgendein anderer. Erst wenn man ans Ende kam, brannte sich wieder ein Name ein, der letzte Mann, das Schlusslicht, und der war stolz auf seine Rolle“ (Salter 2000: 85). Die Disziplinartechnologien werden somit verstärkt durch ein System von Anreizen, das die einzelnen dazu anleitet, die vorgegebenen Ziele aus eigenem Antrieb zu verfolgen und sich selbst fortwährend zu verbessern. Die „magischen Effekte“ verweisen daher auf Elemente einer Körperarbeit, die lange Zeit vor dem geschilderten Übungsflug einsetzt und ihn schließlich mit jenem Habitus ausstattet, der es ihm erlaubt, sich in der Flugstaffel schnell als „gelehriger Schüler“ zu erweisen, der nicht nur auf knappe Signale angemessen zu reagieren versteht, sondern auch verschlüsselte Botschaften rasch zu dechiffrieren vermag. Der Aufnahme in den Kreis der Kampfflieger geht somit eine Verkettung sozialer Praktiken voraus, die ihren Anfang in der Militärakademie nimmt, in die Salter bereits als Jugendlicher eintritt, und die den Körper als Gedächtnisstütze einsetzt. Hier beginnt die Formierung des soldatischen Körpers – und mit ihr: die Ausbildung spezifischer Formen des Wahrnehmens und Handelns, des Urteilens und Erlebens. Und so kommt es schon recht bald – am Ende des ersten Jahres der Ausbildung – zu jenem Moment, in dem Verachtung in Verehrung umschlägt, in dem sich der Hass auf die Vorgesetzen in Achtung und Respekt verkehrt. Die physische Enge, die sich in fortwährenden Berührungen niederschlägt, die Mitgliedschaft in einem großen Kollektiv, das durch die Zusammenarbeit in wechselnden Personenkonstellationen hergestellt wird, die Ausrichtung an gemeinsamen Regeln, auf welche die Auszubildenden verpflichtet werden, und die Verstrickung in Rivalitäten und Wettbewerbe, die einem besonderen Leistungsethos huldigen, lassen bei Salter früh das Bedürfnis entstehen, aus der Masse hervorzustechen, als identifizierbares Individuum zu gelten – und einen Namen zu erhalten. Noch während des ersten Ausbildungsjahres wird Salters Wunsch geboren, nicht länger „gesichtslos im Glied“ (Salter 2000: 76) zu stehen, sondern zu einem Mitglied der US-Army zu werden. Es ist ein Moment äußerst widersprüchlicher Gefühle, von dem er selbst überrascht wird, als er während des Exerzierens plötzlich in sich den Wunsch verspürt,

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zu einem Teil dieses monströsen Männerkörpers zu werden, den er in den ersten Monaten doch abgrundtief verabscheut hat: „Werde einer von uns, hatten sie gesagt, und mir war das nicht möglich gewesen. Das war es, was mich verfolgte, obwohl ich es mir nicht eingestand. Ich kämpfte gegen alles, so erscheint es mir heute, weil ich dazugehören wollte. Und dann, im Sonnenlicht, strömte die Musik über uns hinweg, und als sie endete – die unerreichbare letzte Parade als Frischlinge –, drehten wir uns um und schüttelten in einem erhebenden Moment, in dem wir alles vergaßen, unseren Peinigern die Hände. Sie gingen ruhig die Reihen ab, und mich selbst hassend, schloss ich mit Männern Frieden, denen ich niemals wieder die Hand reichen wollte.“ (ebd.: 98)

Nimmt man diese Schilderungen hinzu und interpretiert sie als notwendige Ergänzung zu dem geschilderten Übungsflug, wird deutlich, dass es sich hier um Akte symbolischer Gewalt handelt, die Salter – über Praktiken der Inkorporierung – schließlich dazu nötigen, sich genau jene Handlungsmuster anzueignen, die er zu Beginn seiner militärischen Ausbildung nicht zuletzt wegen ihrer unverhohlenen Brutalität verachtet. Die erzwungene Unterwerfung kommt zu einem logischen Ende, als er sich den Erwartungen und Forderungen nicht länger verweigern kann, er sich diese Handlungsmaximen zu eigen macht und sie schließlich als wertvoll und legitim anerkennt. Die ungehemmte Virilität, die ihn in den ersten Monaten noch abstößt, wird bald darauf zu einem Fluchtpunkt seiner Sehnsüchte, bis er sich schließlich den Wunsch eingesteht, „ein Mann zu sein“ (ebd.). Es ist dies jener Moment, in dem er – als Beherrschter – die Kategorien übernimmt, welche die Handlungs- und Bewertungsmuster der Herrschenden organisieren, und der hegemonialen Form von Männlichkeit nicht länger seine Zustimmung verweigert. Deutlich wird dabei nicht nur, dass Macht – wie Foucault notiert – ausschließlich „auf ‚freie Subjekt‘ ausgeübt [wird] und nur sofern diese ‚frei‘ sind“ (Foucault 1994b: 255); deutlich wird auch das Zusammenspiel von Anerkennung und Subjektivierung. Weil die Anerkennung innerhalb des Militärs nie vorbehaltlos gewährt wird, sondern stets an die Erfüllung von Normen geknüpft ist, auf deren Regulierung der Einzelne kaum Einfluss hat, wird er dazu verführt, sich genau diese Normen zu eigen zu machen – um auf diese Weise anerkennungsfähig zu werden. Auch wenn der Prozess der Unterwerfung kaum als Kette gewaltsamer Akte kenntlich ist und im Kleid freiwilliger Zustimmung erscheint, ist die Loyalität doch erzwungen. So gilt auch für die Welt des Militärs, was Butler Foucaults Plädoyer für Praktiken der Selbstkonstitution entgegenhält: „[W]as ich ‚sein‘ kann, ist für mich also ganz buchstäblich von vornherein durch ein Wahrheitsregime begrenzt, das von Anfang an entscheidet, was eine anerkennbare Form des Seins ist und was nicht“ (Butler 2003b: 31; Herv. im Orig.). 192

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Die Frage Theweleits, die meine Überlegungen provozierte, müsste nun freilich mit Blick auf die je spezifischen Logiken unterschiedlicher sozialer Felder beantwortet werden. Die Lektüre von James Salters „Verbrannte Tage“ sensibilisiert dafür, dass männlichen Institutionenkörpern deshalb eine besondere Macht zukommt, weil sie Identitäten stiften, Männlichkeit definieren und Macht verleihen. Loyalität erzwingen sie, indem sie Anerkennung gewähren und die Teilhabe an der Macht versprechen – und damit die einzelnen dazu verleiten, die eigenen Demütigungen zu verdrängen und sich stattdessen mit dem machtvollen Apparat zu identifizieren. Auch wenn die Interpretation von Salters Erinnerungen nur erste Aufschlüsse über den Komplex des Militärischen versprechen – genauer: über Subjektivierungspraktiken innerhalb der US-Air Force der 1940er und 1950er Jahre –, so spricht doch manches dafür, dass es eine ganze Reihe vergleichbarer Praktiken in anderen männlichen Institutionenkörpern gibt (vgl. Gebauer 2001; Hark 2001; Rieger-Ladich 2006). Bislang liegen hierzu – soweit ich dies überblicke – nur vereinzelte Studien vor; doch diese scheinen den Verdacht zu erhärten, dass etwa auch der Zugang zum akademischen Feld und die Formierung wissenschaftlicher Subjekte über durchaus vergleichbare Praktiken organisiert wird. Sobald hinreichend genaue Fallstudien zu Subjektivierungsformen und Initiationsriten in jenen sozialen Feldern vorliegen, denen bei der Definition von Männlichkeit eine besondere Rolle zukommt, müsste der Versuch unternommen werden, diese in einer vergleichenden Analyse in den Blick zu nehmen – und schließlich auch nach Maßnahmen zu fahnden, die geeignet wären, alternative Formen der Vergemeinschaftung zu stärken, neue Formen der Kooperation zu erproben, und die Entwicklung nicht-hegemonialer Formen der Männlichkeit zu unterstützen.

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Autorinnen und Autoren

Thomas Alkemeyer, Dr. phil., geb. 1955, ist Professor für „Sport und Gesellschaft“ an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Soziologie des Körpers und des Sports, Praktiken der Subjektivierung und die Körperlichkeit von Bildungsprozessen. Birgit Althans, Prof. Dr. phil., ist Professorin für Sozialpädagogik an der Universität Trier. Mitarbeit im Sonderforschungsbereich 447 ‚Kulturen des Performativen‘ an der Freien Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Gender und Cultural Studies, Historische und Pädagogische Anthropologie. Christiane Berger, Dr. phil., Tanzwissenschaftlerin und freie Tanzdramaturgin, Studium der Philosophie und Theaterwissenschaft, Promotion in Theaterwissenschaft, Dissertation: Körper denken in Bewegung. Zur Wahrnehmung tänzerischen Sinns bei William Forsythe und Saburo Teshigawara, Gastdozentur für "Kontext und Dramaturgie" im Masterstudiengang Choreo-graphie des Hochschulübergreifenden Zentrums Tanz Berlin/ Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" Berlin, Forschung in Theorie und Praxis zum Bühnen- und Gesellschaftstanz des 20. und 21. Jahrhunderts. Fritz Böhle, Prof. Dr., geb. 1945, lebt in München und forscht an der Universität Augsburg sowie am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V., München. Er hat mehrere Bücher und Aufsätze zum Thema sinnliche Wahrnehmung und Erfahrungswissen im Arbeitsprozess veröffentlicht.

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ORDNUNG IN BEWEGUNG

Kristina Brümmer, geb. 1981, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich „Sport und Gesellschaft“ der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Im Rahmen ihres Promotionsvorhabens beschäftigt sie sich mit dem Zusammenhang von Sportwissenschaft, soziologischen Praxistheorien und Konzepten praktischen Wissens. Dirk Fross, geb. 1972, ehem. wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozioökonomie der Arbeits- und Berufswelt der Universität Augsburg. Forschte im Rahmen des SFB 536 auf dem Gebiet der Leibphänomenologie unter besonderer Berücksichtigung der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz und ist seit 2008 an der Technischen Universität München tätig. Daniela Hahn, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich 447 ‚Kulturen des Performativen‘ an der Freien Universität Berlin. Sie arbeitet unter dem Titel ‚Anatomie der Bewegung. Raumdynamiken und Körpertechniken in Kunst und Wissenschaft um 1900‘ an einer Dissertation zum Verhältnis von Bewegungsexperimenten in Physiologie und historischer Avantgarde. Melanie Haller, dipl. Soz., Studium der Soziologie, Philosophie, Literatur und Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Sie arbeitete von 2004 bis 2007 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am FB Bewegungswissenschaft/Universität Hamburg im DFG-Projekt "Trans/nationale Identität und körperlich-sinnliche Erfahrung." unter der Leitung von Prof. Gabriele Klein. Zurzeit arbeitet sie an ihrer Promotion mit dem Arbeitstitel ‚Performative Intersubjektivität‘. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Subjekttheorien, populäre Tanzkulturen, qualitative empirische Sozialforschung und Körpersoziologie. Rea Kodalle, M.A., geb. 1979, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich „Sport und Gesellschaft“ an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte beziehen sich auf Sport in Globalisierungs- und Migrationsprozessen. Sie koordiniert das Oldenburger Aktionsbündnis „Migration & Mobilität – Für mehr Bewegung im sozialen Raum“.

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Thomas Pille, geb. 1976, lebt in Berlin und arbeitet als Lehrer am Albert Schweitzer Gymnasium in Neukölln. Er war langjähriger Mitarbeiter im Arbeitsbereich „Sport und Gesellschaft“ der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Im Rahmen seines Dissertationsprojekts untersucht er Praktiken der Subjektivierung in der Lehrerbildung. Ute Pinkert, Prof. Dr., geb. 1964, lebt in Berlin und lehrt dort an der Universität der Künste. Ihre Veröffentlichungen beschäftigen sich mit Theorien der Theaterpädagogik und der ästhetischen Bildung. Markus Rieger-Ladich, Dr., geb. 1967, lebt am Bodensee und vertritt derzeit an der PH Freiburg eine Professur für Allgemeine Pädagogik. Er hat zahlreiche Arbeiten zu einer von Michel Foucault und Pierre Bourdieu inspirierten Erziehungswissenschaft vorgelegt. Larissa Schindler, Dr. phil., geb. 1975, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich „Soziologische Theorie und Gender Studies“ an der Johannes-GutenbergUniversität Mainz. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Soziologie des Körpers und des Sports, Wissenssoziologie und Qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung. Sebastian Schinkel, Diplom-Soziologe, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Anthropologie und Erziehung an der Freien Universität Berlin. Mitarbeit im Sonderforschungsbereich 447 ‚Kulturen des Performativen‘ an der Freien Universität Berlin. Er forscht ethnographisch zu den Feldern Peerkultur und Familie. Sein Dissertationsprojekt verbindet unter dem Titel ‚Das Zuhause als gewohnter Zusammenhang‘ eine qualitativ-empirische Perspektive auf das Verhältnis von (Interaktions-) Praktiken, Artefakten und Raumkonstitution mit einer Anthropologie des Wohnens. Sandra Schmidt, Dr. phil./des., Studium der Italienischen Philologie, der Mittleren und Neueren Geschichte (M.A.) und der Sportwissenschaft (Diplomsportlehrerin) in Köln und Buenos Aires, Promotion in Sportwissenschaft FU Berlin. Dissertation: Kopfübern und Luftspringen. Bewegung als Wissenschaft und Kunst in der Frühen Neuzeit, lebt als freie Journalistin in Berlin und Köln. 199

Materialitäten Lars Frers Einhüllende Materialitäten Eine Phänomenologie des Wahrnehmens und Handelns an Bahnhöfen und Fährterminals 2007, 302 Seiten, kart., zahlr. Abb., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-806-3

Jürgen Funke-Wieneke, Gabriele Klein (Hg.) Bewegungsraum und Stadtkultur Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven 2008, 276 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1021-5

Gabriele Klein, Michael Meuser (Hg.) Ernste Spiele Zur politischen Soziologie des Fußballs 2008, 276 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-977-0

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Materialitäten Bastian Lange Die Räume der Kreativszenen Culturepreneurs und ihre Orte in Berlin 2007, 332 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-679-3

Lars Meier Das Einpassen in den Ort Der Alltag deutscher Finanzmanager in London und Singapur Februar 2009, 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1129-8

Imke Schmincke Gefährliche Körper an gefährlichen Orten Eine Studie zum Verhältnis von Körper, Raum und Marginalisierung April 2009, 270 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1115-1

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Materialitäten Robert Gugutzer (Hg.) body turn Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports 2006, 370 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-89942-470-6

Cedric Janowicz Zur Sozialen Ökologie urbaner Räume Afrikanische Städte im Spannungsfeld von demographischer Entwicklung und Nahrungsversorgung 2008, 438 Seiten, kart., zahlr. Abb., 42,80 €, ISBN 978-3-89942-974-9

Evelyn Lu Yen Roloff Die SARS-Krise in Hongkong Zur Regierung von Sicherheit in der Global City 2007, 166 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-89942-612-0

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