DENK(T)RÄUME Mobilität: Bildung - Bewegung - Halt [1. Aufl.] 9783839403570

Das Thema Mobilität ist eine der zentralen Herausforderungen der Gegenwart. Seine Dynamik betrifft die Gesellschaft eben

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German Pages 176 [175] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einführung
Das niedersächsische Curriculum Mobilität
DENK(T)RÄUME Mobilität. Beiträge und Diskussionen
Prolog
Grußwort
»DENK(T)RÄUME Mobilität« als Wegmarke, Initial und Gedankenspeicher des Projektes Auto-Bio-Graphien
Mobilität als Haltung. Ein Garnierungsvorschlag für die Ausfaltung von Auto-Bio-Graphien und Mobilität – 22 Momente
Mobilität. Verkehr und Kommunikation als Faktoren der zivilisatorischen Evolution
Mobilität szenisch. Spiel- und Lernraum Theater
Ist Mobilität ein Kraftakt?
Mobilität nach innen
Zusammenfassung und Ausblick
Die praktische Umsetzung des Curriculums Mobilität
Interdisziplinäres Lernen vermittels Sinneswahrnehmungen. Der Einsatz des Curriculums Mobilität in der Schule – ein Projektbericht
Lust am Lernen. Umsetzung und Weiterentwicklung des Curriculums Mobilität am außerschulischen Lernort Autostadt
Das Gefühl zu leben als Gefühl von Bewegung. Anregungen zum transdisziplinären Didaktik-Diskurs
Autorinnen und Autoren
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DENK(T)RÄUME Mobilität: Bildung - Bewegung - Halt [1. Aufl.]
 9783839403570

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Autostadt GmbH (Hg.) DENK(T)RÄUME Mobilität

2005-07-20 18-02-57 --- Projekt: T357.päd.wiesmüller_scher / Dokument: FAX ID 00b089879148962|(S.

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) T00_01 schmutztitel.p 89879149106

Die Autostadt in Wolfsburg: Kooperationspartner des Niedersächsischen Kultusministeriums

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) T00_02 autor.p 89879149210

Autostadt GmbH (Hg.) unter wissenschaftlicher Mitarbeit von Karl-Josef Pazzini und Christian Wiesmüller Kreativdirektion Maria Schneider Projektleitung Carmen Scher

DENK(T)RÄUME Mobilität Bildung – Bewegung – Halt

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) T00_03 innentitel.p 89879149306

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2005 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Picabia, Francis: »Parade amoureuse«. © VG Bild-Kunst, Bonn 2005 Projektassistenz: Ruth Fischer, Wolfsburg Herstellung: more! than words, Bielefeld Abbildungen: Autostadt GmbH, Lars Landmann, Wolfsburg, Helge Mundt, Hamburg Lektorat: Kai Reinhardt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-357-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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) T00_04 impressum.p 89879149402

Inhalt

Maria Schneider Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einführung Erwin Curdt, Bodo Lindenberg, Klaus Peter Ulbrich Das niedersächsische Curriculum Mobilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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DENK(T)RÄUME Mobilität. Beiträge und Diskussionen Carmen Scher Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Horst Roselieb Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christian Wiesmüller »DENK(T)RÄUME Mobilität« als Wegmarke, Initial und Gedankenspeicher des Projektes Auto-Bio-Graphien . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Karl-Josef Pazzini Mobilität als Haltung. Ein Garnierungsvorschlag für die Ausfaltung von Auto-Bio-Graphien und Mobilität – 22 Momente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hermann Lübbe Mobilität. Verkehr und Kommunikation als Faktoren der zivilisatorischen Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wolfgang Sting Mobilität szenisch. Spiel- und Lernraum Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lydia Murmann Ist Mobilität ein Kraftakt?

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Michael Plattig Mobilität nach innen

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Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die praktische Umsetzung des Curriculums Mobilität Irene Briese Interdisziplinäres Lernen vermittels Sinneswahrnehmungen. Der Einsatz des Curriculums Mobilität in der Schule – ein Projektbericht

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Uwe Ladwig, Cord Völkening Lust am Lernen. Umsetzung und Weiterentwicklung des Curriculums Mobilität am außerschulischen Lernort Autostadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Herbert Bickel Das Gefühl zu leben als Gefühl von Bewegung. Anregungen zum transdisziplinären Didaktik-Diskurs . . . . . . . . . . . . . . .

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Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Vorwort Jede Bewegung hat eine Ursache. Alles, was sich bewegt, wird bewegt: Maschinen durch Menschen; Menschen durch Wünsche, Prägungen und Visionen – und diese wiederum durch Einflüsse aus Psychologie, Evolution, Gesellschaft und Pädagogik. Unter welchem Blickwinkel man das Phänomen der Bewegung betrachtet, ist gleichsam eine Frage des Treibstoffs. Mit den Mitteln einer rein beschreibenden Wissenschaft lässt sich Bewegung jedenfalls kaum erschöpfend erforschen. Denn so verschieden Bewegung begründet sein mag, stets hat sie ein Ziel. Einige dieser Ziele sind vorherbestimmt – so fällt ein Stein, den man loslässt, stets zu Boden. Es gibt jedoch Ziele, die man sich selbst setzt. Manchmal bestehen sie in einem konkreten Urlaubsort, manchmal in einem neuen Leben. Beweglichkeit, Unterwegssein, das Zirkulieren von Dingen und Daten – die menschliche Mobilität in all ihren Erscheinungsformen ist das Thema der Autostadt. Eröffnet wurde sie am 1. Juni 2000 als Kommunikationsplattform des Volkswagen-Konzerns. Das weltweit einzigartige Projekt geht auf einen Vorschlag des damaligen Vorstandsvorsitzenden der Volkswagen AG, Dr. Ferdinand Piëch, zurück. Die Autostadt erstreckt sich über ein 25 Hektar großes Areal, das als weitläufige Park- und Lagunenlandschaft angelegt wurde und in das sich die zeitgenössische Architektur der einzelnen Gebäudekomplexe und Markenpavillons harmonisch einfügt. Mit Attraktionen wie der Familienwelt »MobiVersum« oder dem »ZeitHaus«, das Meilensteine aus der über hundertjährigen Geschichte des Automobils zeigt, entwickelt sich die Autostadt immer stärker zu einer Destination, die Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen gleichermaßen neue Eindrücke, Erlebnisse und Erfahrungen bietet. Im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung hat die Autostadt eine eigene Abteilung gegründet: Sie heißt »Inszenierte Bildung« und bietet ein umfassendes Repertoire ständig laufender und aktualisierter Kurse und Workshops. Die Angebote richten sich an alle Altersstufen von der Vorschule bis zum berufsbildenden Bereich. Nach dem Motto der Autostadt »Menschen, Autos und was sie bewegt« führen die Angebote der Inszenierten Bildung zwei wesentliche Aspekte von Mobilität zusammen: die technisch-naturwissenschaftlichen und die sozialgesellschaftlichen. Die pädagogische Abteilung der 7

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Maria Schneider

Autostadt arbeitet mit der Methode des fächerübergreifenden Lernens. Sie geht vom Wissen und den Fertigkeiten der Schülerinnen und Schüler aus und macht exemplarisch Fragen zum Gegenstand des Forschens der Lernenden, die in Bezug zu ihrer Lebenswelt stehen. In vielen Installationen und Workshops der Autostadt spielt das Automobil eine wichtige Rolle – gemäß seiner gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutung. Die Autostadt betrachtet das Auto nicht isoliert, sondern bettet es in den umfassenderen Kontext menschlicher Mobilität ein; Autofahren und physische Fortbewegung im Allgemeinen sind ja nur eine von vielen Dimensionen menschlicher Beweglichkeit. So hat beispielsweise die menschliche Kommunikationstechnik völlig neue Formen von Mobilität entstehen lassen. Informationen, Kapital, Ansichten, Güter und Ideen zirkulieren in immer feiner aufeinander abgestimmten Rhythmen und auf immer vielfältigere Weise. Mobile Computer, Telefone und Büros sind feste Bestandteile unseres Alltags, sie haben die Menschen ortsunabhängig gemacht; die Distanzen zwischen den entlegensten Gebieten der Welt schwinden zunehmend, die Menschen kommen einander näher, die klassische Trennung zwischen den Sphären – wie zum Beispiel die zwischen Privatheit und Öffentlichkeit – löst sich auf und macht neuen Zwischen- und Mischformen Platz. Diese umfassende Änderung der allgemeinen Mobilität blieb nicht ohne Auswirkung. Ein vielfältiger Umdenk- und Anpassungsprozess setzte ein, dem sich unter vielen anderen auch die Wirtschaft, der Staat und die Länder stellten. So überarbeitete das Niedersächsische Kultusministerium in mehrjähriger Arbeit seine Verkehrserziehung grundlegend; gemeinsam mit Lehrkräften aus allen Schulformen entwickelte es das Curriculum Mobilität, welches das Thema in fächerübergreifender Weise zum Gegenstand des Unterrichts macht. In diesem Sinne sieht das Curriculum Mobilität auch vor, den entsprechenden Unterricht nicht nur in der Schule anzubieten, sondern – seiner Vielgestaltigkeit gemäß – auch in Kooperation mit außerschulischen Partnern. Auf Basis dieser Überlegungen begann im Jahr 2003 die Zusammenarbeit zwischen dem Niedersächsischen Kultusministerium und der Autostadt; sie soll den Wandel von der traditionellen Verkehrserziehung hin zu einer umfassenden Mobilitätsbildung nachhaltig fördern.

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Vorwort

Mit dieser Kooperation haben zwei Partner zueinander gefunden, die über ganz verschiedene kulturelle und wirtschaftliche Hintergründe verfügen. Ihre Verschiedenartigkeit ermöglicht es den Lernenden, ihr Differenzierungsvermögen zu schulen, zwischen öffentlichen und privaten Sphären zu unterscheiden, die je eigene Sichtweise kennen zu lernen und schließlich in einer Synthese zum Einklang zu bringen bzw. da, wo dies nicht möglich ist, in ihrer je eigenen Wertigkeit einzuschätzen. Voraussetzung für diesen Prozess ist freilich, dass in den unterrichtsbegleitenden Prozessen die Unterschiede der kulturellen und wirtschaftlichen Hintergründe zwischen den Partnern bewusst und gegebenenfalls zum Thema gemacht werden. Nur so ist gewährleistet, dass alle Beteiligten in jener weiten Welt der Mobilität mit ihren vielen Mitspielern eine eigene, selbstverantwortliche Position einnehmen können. Wo es zu unterschiedlichen Ansichten kommt, sollen diese auch explizit benannt werden. Als Forum dieser konstruktiven Debatte sollen Konferenzen ebenso dienen wie deren Publikation. In diesem Zusammenhang ist das Symposium »DENK(T)RÄUME« zu sehen, das am 9. Dezember 2004 in Wolfsburg stattfand und dessen Ergebnisse nunmehr mit diesem Buch vorliegen. Das Ziel der Konferenz war es, ein innovatives, multiperspektivisches Brainstorming zu einer zeitgemäßen Mobilitätserziehung abzuhalten – und zwar aus grundlegend-philosophischer Perspektive ebenso wie aus fachspezifischer, also aus jener der für die Mobilitätserziehung relevanten Schulfächer. Im Weiteren soll dieses Brainstorming Anstöße für die zukünftige Beschäftigung mit dem Thema geben, und zwar in Form von Kampagnen, aus denen sich konkrete Workshops (Autostadt) und Unterrichtsmaterialien (Schule) ergeben – und nicht zuletzt Publikationen wie die vorliegende. Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Der einführende Teil gibt Auskunft über das oben bereits erwähnte Curriculum Mobilität. Der Hauptteil enthält die Dokumentation der Konferenz sowie wichtige Passagen aus den Diskussionen. Ein abschließender Praxisteil schließlich informiert darüber, wie die konkrete Realisierung bestimmter Themen aussehen könnte, und zwar an der Schule, an der Hochschule und im Seminarbetrieb sowie am außerschulischen Lernort Autostadt. Wir freuen uns sehr, gemeinsam mit dem Niedersächsischen Kultusministerium und den Teilnehmern der Konferenz »DENK-

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Maria Schneider

(T)RÄUME« diesen Schritt in eine neue Form der Zusammenarbeit und Mobilitäts-Pädagogik getan zu haben und wollen allen Beteiligten – ob genannt oder nicht genannt – sehr herzlich für ihr Vertrauen und ihre Kooperation danken. Wolfsburg, im April 2005

Dr. Maria Schneider, Kreativdirektorin der Autostadt GmbH

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7- 10) T01_01 einleitung.p 89879149578

Einführung

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Das niedersächsische Curriculum Mobilität

Das niedersächsische Curriculum Mobilität Erwin Curdt, Bodo Lindenberg, Klaus Peter Ulbrich

1. Ausgangslage Im Oktober 2002 hat das Niedersächsische Kultusministerium das Curriculum Mobilität in allgemein bildenden und berufsbildenden Schulen eingeführt.1 Mit diesem Erlass haben die Rahmenrichtlinien für Verkehrserziehung ihre Gültigkeit verloren. Im Juni 2004 hat der Kultusminister alle Schulen noch einmal auf die Bedeutung des neuen Lernbereichs hingewiesen.2 Niedersachsen ist damit das erste Bundesland in Deutschland, das die tradierte Verkehrserziehung aufgegeben hat und neue Wege geht. Die Ursachen für den konzeptionellen und begrifflichen Neubeginn sind in der unbefriedigenden Situation der Verkehrserziehung in der Schule zu suchen. Die Erfahrungen mit der tradierten Verkehrserziehung in den vergangenen Jahrzehnten haben Defizite deutlich werden lassen. Zwei grundlegende Ursachen sind auszumachen: 1. Die KMK-Empfehlungen zeigen – aus heutiger Sicht – konzeptionelle Schwächen: •



Die Leitgedanken der KMK-Empfehlungen konzentrieren sich auf Fragen, die primär die Verkehrssicherheit und das Verkehrsverhalten thematisieren. Es fehlt ein umfassendes Leitbild, welches das Phänomen Verkehr in einen globalen Zusammenhang einordnet und den Ursachenund Wirkungskomplex des Lernbereichs thematisch tiefer ausleuchtet.

1

Schulverwaltungsblatt für Niedersachsen, 10/2002, S. 384 und S. 396399. 2 A.a.O., 6/2004, S. 251/252.

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Erwin Curdt, Bodo Lindenberg, Klaus Peter Ulbrich

Unverbindliche und vage formulierte Integrationsempfehlungen für die Fächer haben den Ländern zu wenig Orientierungshilfen für didaktische Entwicklungskonzepte gegeben. So hat sich die Empfehlung, möglichst viele Fächer an der Integration verkehrserzieherischer Lerninhalte zu beteiligen, für die Schulen als realitätsfremd erwiesen. 2. Die föderative Verfassungsstruktur der Bundesrepublik hat den Bundesländern die Hoheit im Bildungswesen übertragen. Die Autonomie der Länder in Bildungsfragen erschwert die Umsetzung der KMK-Empfehlung und verhindert ein einheitliches Gesamtkonzept. Die Empfehlungen der KMK hatten zwar eine Signalwirkung für die Länder; diese entschieden und entscheiden jedoch sehr unterschiedlich, in welcher Weise (auf welchem Niveau) sie Beschlüsse der KMK umsetzen. Bestimmte Ansprüche und Perspektiven sind seit 1972 nicht einmal ansatzweise realisiert worden. Beispielhaft seien genannt: • • •

die nicht erreichte Etablierung der tradierten Verkehrserziehung in den Lehramtsstudiengängen deutscher Hochschulen; die fehlende Systematik und Kontinuität bei der Integration von Lerninhalten in die Fächer; die fehlende didaktische Vernetzung der Verkehrserziehung mit der Sozial-, Gesundheits- und Umwelterziehung.

2. Lernbereich Mobilität – Neubeginn Schulen erhalten mit dem Curriculum Mobilität zum ersten Mal ein innovatives Gesamtkonzept für einen fächerübergreifenden Lernbereich. Das Curriculum integriert die Empfehlungen der KMK in der Fassung von 1994, weist aber zugleich mit seinem Leitbild und seinen inhaltlichen Ansprüchen konzeptionell neue Wege. Im Kern geht es um folgende Punkte:

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Das niedersächsische Curriculum Mobilität







Inhaltliche Erweiterung der tradierten Verkehrserziehung zu »Mobilität« mit dem Leitbild »Bildung für eine nachhaltige Entwicklung« (Agenda 21).3 Integration von Lerninhalten der »Mobilität« in ausgewählte Fächer (repräsentatives Integrationsprinzip). Die Lerninhalte von Mobilität bestimmen die jeweils zu beteiligenden Fächer.4 Orientierung an einem Bausteinkonzept, in dem curricular relevante Lerninhalte zur »Mobilität« vom Primarbereich bis zu den Sekundarbereichen I, II und berufsbildenden Schulen erfasst werden (Spiralcurriculum). Damit strebt dieser Lernbereich eine den Fächern vergleichbare Systematik und Kontinuität an.

2.1 Leitbild Inhaltlich orientiert sich das Verständnis von Mobilität im Curriculum an dem Leitbild »Bildung für eine nachhaltige Entwicklung«. Es beschreibt die bildungspolitischen Konsequenzen, die sich aus den lokalen, regionalen und globalen Dimensionen von Mobilität ergeben. Daraus leitet sich die gesellschaftliche Verpflichtung ab, soziale, ökonomische und ökologische Grundlagen für eine zukunftsorientierte Existenz der Menschheit zu bewahren. Auf dem Weg zu einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung steuern wir so als übergeordnete Zielsetzung den Erwerb von Gestaltungskompetenz an. Nach de Haan ist damit gemeint: das Vermögen, die Zukunft von Gemeinschaften in aktiver Teilhabe im Sinne nachhaltiger Entwicklung zu modifizieren und zu modellieren. Er differenziert Gestaltungskompetenz in die folgenden acht Teilkompetenzen, von denen ein erheblicher Teil durch die Bausteine umgesetzt werden kann: • • • • •

die Kompetenz zu weltoffener Wahrnehmung, transkultureller Verständigung und Kooperation; die Kompetenz, vorausschauend zu denken; die Kompetenz, interdisziplinär zu arbeiten; Partizipationskompetenzen; die Planungs- und Umsetzungskompetenz;

3 Vgl. Strukturschema 1 im Anhang, S. 25. 4 Vgl. Strukturschema 3 im Anhang, S. 27

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Erwin Curdt, Bodo Lindenberg, Klaus Peter Ulbrich

• • •

Fähigkeit zur Empathie, zum Mitleiden und zur Solidarität; die Kompetenz zur distanzierten Reflexion über individuelle wie kulturelle Leitbilder; die Kompetenz sich und andere motivieren zu können.5

Aus pädagogischer Sicht ergibt sich daraus das Ziel, bei heranwachsenden Menschen die Fähigkeit auszubilden, ein verantwortungsbewusstes Mobilitätsverhalten im Sinne von Gestaltungskompetenz zu leben. Ohne dieses Bewusstsein für Verantwortung und ohne die Bereitschaft, entsprechend zu handeln, lassen sich gesellschaftliche Probleme langfristig nicht verbessern oder lösen.

2.2 Bezugsfelder und Themenbereiche Dem Curriculum Mobilität wurde mit den Bezugsfeldern Mensch – Verkehr und Mensch – Umwelt ein didaktischer Rahmen gesetzt. Streng genommen sind es die grundlegenden Bereiche Mensch – Verkehr – Umwelt, die sich aufeinander beziehen, inhaltlich überschneiden und sich so zu diesen Bezugsfeldern verdichten. Diese Beziehungen werden bereits im Logo verdeutlicht. Diese Setzung lenkt bewusst die Blickrichtung auf einen anthropozentrisch-ökologischen Strukturierungsansatz.6 Immer steht jedoch die Existenz des Menschen im Mittelpunkt. Der Mensch als Individuum und Teil der Gesellschaft steht im Spannungsverhältnis zwischen seinem Grundbedürfnis nach Mobilität und den daraus resultierenden Auswirkungen auf seine Umwelt und ihn selbst. In diesem Gefüge sozialer und ökologischer Beziehungen werden ökonomische Faktoren nicht ausgeblendet. So entwickeln sich im Sinne von Nachhaltigkeit bedeutungsvolle Zusammenhänge und inhaltliche Vernetzungen. Jeder der folgenden fünf Themenbereiche charakterisiert ein Problemfeld von Mobilität.

5

Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung/BLK Bund-LänderKommission/BLK-Programm 21 – Bildung für eine nachhaltige Entwicklung/Projektleitung de Haan (Hg.): Orientierungshilfen für die Erstellung einer Präambel und Empfehlungen/Richtlinien zur »Bildung für eine nachhaltige Entwicklung« in allgemein bildenden Schulen. Berlin 2003, S. 10-12. 6 Vgl. Strukturschema 2 im Anhang, S. 26.

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Das niedersächsische Curriculum Mobilität

Zwar können die einzelnen Themenbereiche für sich bereits wesentliche Zielsetzungen des Curriculums abbilden, sie sind jedoch inhaltlich vernetzt. Dabei gibt es immer verschiedene Sichtweisen der Betrachtung (z.B. technologische, ökonomisch-ökologische, soziale und Wahrnehmungs- bzw. Verhaltenssichtweisen), die aber bei Gesamtbeurteilungen nicht isoliert bewertet werden können. Im Folgenden werden die Themenbereiche charakterisiert. Mobilität und Sicherheit Dieser Themenbereich nimmt vorrangig Inhalte der traditionellen Verkehrserziehung auf. Die Sicherheitserziehung steht im Mittelpunkt. Wesentliche Handlungsfelder sind vorbildliches Verkehrsverhalten als Teilnehmer im Verkehr, Gefahren durch Unfälle, Verletzungen und Gesundheitsschäden, Regeln, Normen und Ordnungsprinzipien. Sie werden z.B. konkretisiert durch Radfahr-, Mofa- und ErsteHilfe-Kurse. Mobilitätssysteme Der Themenbereich setzt sich mit den Mobilitätsmöglichkeiten auseinander. Er berücksichtigt dabei technische wie ökonomische und ökologische Gesichtspunkte (z.B. Verkehrsmittelwahl und Raumplanung). Durch visionäre Strategien für Mobilitätskonzepte und Verhaltensweisen bleiben Aspekte der Nachhaltigkeit immer im Blickwinkel. Mobilität und Gesellschaft Hier liegt der Schwerpunkt auf sozialen und ökonomischen Aspekten der Mobilität. Damit sind u.a. Lebensstile, eigen- und sozialverantwortliches Handeln gemeint (z.B. Tourismus und Mobilität in der Freizeit). Dazu zählt auch das gesamte Sucht- und Drogenproblem mit seinen Auswirkungen auf das Mobilitätsverhalten. Mobilität und Umwelt Dieser Themenbereich beinhaltet die Auswirkungen von Mobilität auf Lebensräume, Ressourcenverbrauch, Schadstoffemissionen und gesundheitliche Risiken. Vorwiegend ökologische Sichtweisen werden mit ökonomischen und sozialen Bezügen aus den anderen Themenbereichen vernetzt. Dabei spielt auch die Entwicklung von Alternativen bis hin zu visionären Lebenswünschen eine wichtige Rolle.

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Erwin Curdt, Bodo Lindenberg, Klaus Peter Ulbrich

Mobilität und Medien Auch dieser Themenbereich zeigt erhebliche Überschneidungen mit den anderen Themenfeldern, weil hier Mobilitätsverhalten und Auswirkungen auf Lebensstile, Konsum und Kommunikation untersucht werden. Dazu gehört die Darstellung von Mobilität in den Medien und damit verbunden der Einfluss von Medien auf das Mobilitätsverhalten; auch moderne Strategien zur Verkehrsvermeidung können medienwirksam aufbereitet werden (z.B. durch innovative Informations- und Kommunikationstechnologien).

2.3 Baustein-Konzept Im Mittelpunkt des Curriculums stehen zehn Bausteine. Die Curriculum-Kommission hat sich für dieses Baustein-Konzept entschieden, weil es auf der Basis der curricularen Grundsatzentscheidungen wichtige Fragen der »Mobilität« bündelt und sie bis zur Ebene von »Schwerpunkten« und »inhaltlichen Vorschlägen« für die Praxis konkretisiert. Gleichzeitig bietet das Baustein-Konzept den Schulen die notwendige Offenheit, Schulpläne und Unterrichtseinheiten auf die örtlichen Gegebenheiten und Voraussetzungen auszurichten und sie daran anzupassen. Mit den Bausteinen werden zwei Prinzipien in modellhafter Weise verfolgt: • •

Sie zeigen exemplarisch, wie ein fächerübergreifender Lernbereich in eine repräsentative Auswahl von Fächern integrierbar ist. Sie zeigen die inhaltlichen Vernetzungsmöglichkeiten innerhalb der Bausteine und bausteinübergreifend auf.

Dieser curriculare Ansatz ist neu. Die Bausteine umkreisen wie eine Spirale das komplexe Problem »Mobilität« vom Primarbereich bis zum Sekundarbereich II. Schüler/Schülerinnen werden also im Laufe ihrer Schulzeit in verschiedenen Fächern und Unterrichtszusammenhängen mit Fragen der »Mobilität« konfrontiert. Damit erhält dieser Lernbereich durch seine Ansprüche an Systematik und Kontinuität eine neue Qualität. Die Bausteine bzw. ihre Schwerpunkte können didaktisch-methodisch über unterschiedliche Wege erschlossen werden:

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Das niedersächsische Curriculum Mobilität

• • • •

über einzelne Fächer (fachbezogen); unter Beteiligung mehrerer Fächer (fächerübergreifend); durch Projekte oder projektorientierte Vorhaben; durch geschlossene Lehrgänge.7

Die Inhalte der Bausteine lassen sich mit allen Unterrichtsformen und Lehr- und Lernmethoden erschließen; besonders bieten sich problemlösende und handlungsorientierte Lernmethoden an. Im Folgenden werden die Bausteine charakterisiert. »Regeln und geregelt werden« behandelt ein Themenspektrum von Regeln und Regelerfahrungen aus verschiedenen Lebensbereichen. Verkehrsregeln und regelgerechtes Verhalten werden nicht nur auf Verkehrsverhalten bezogen; Regelverhalten wird generalisiert, d.h. in verschiedenen Lebensbereichen thematisiert und damit in einen Gesamtkontext gestellt. »Einsteigen – Umsteigen – Aussteigen« thematisiert die Verkehrsmittelwahl und setzt sich u.a. zugleich auch mit Fragen des Reisens, Arbeitsortes und der Siedlungsentwicklung (z.B. Wohnortwahl) auseinander. Dabei spielen auch wirtschaftliche Zusammenhänge eine wichtige Rolle. »Miteinander – Gegeneinander« behandelt das Spektrum sozialer Einstellungen und sozialen Verhaltens und verknüpft damit Fragen der Verantwortung. In diesem Baustein haben die Schlüsselqualifikationen »Kommunikations-« und »Sozialkompetenz« einen besonderen Stellenwert.

7 Damit sind die seit Jahrzehnten erprobten und unverzichtbaren Themen der Verkehrserziehung gemeint, die wegen ihrer festgelegten Inhalte und methodischen Schritte Lehrgangscharakter haben. Dazu zählen z.B.: Schulwegsicherheit, Frühradfahren/Radfahrprüfung, Mofakurse. Zu diesen Themen haben Verlage und Verbände Unterrichtsmodelle erstellt, nach denen in den Schulen weitgehend unterrichtet wird. Das Curriculum hat sie unverändert übernommen.

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Erwin Curdt, Bodo Lindenberg, Klaus Peter Ulbrich

»Tourismus – Unterwegs und zu Hause« setzt sich mit dem Ferntourismus und dem Urlaub in der heimatlichen Region auseinander. Es geht um das Spannungsverhältnis zwischen überzogenen individuellen Mobilitätsansprüchen und einem verantwortungsbewussten Mobilitätsverhalten i.S. der Agenda 21. »Verdammt in Rausch und Drogen« problematisiert Phänomene und Ursachen des Suchtverhaltens. Die Vermittlung der Schlüsselqualifikation »Kommunikationskompetenz« soll den Heranwachsenden Wege aufzeigen, wie Missbräuchen und Fehlentwicklungen begegnet werden kann. Die Schwerpunkte konzentrieren sich auf Fragen, die die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen betreffen. »Lebensräume – Lebensträume«: Menschliche Bedürfnisse spielen sich in Lebensräumen ab; hier entwickeln die Menschen auch Lebensträume. Die Bezüge zur Mobilität ergeben sich aus der Gestaltung und Nutzung von Lebensräumen. Sie werden in Gegenwart und Zukunft von einem anderen Aktionsradius der Menschen bestimmt, als das in früheren Zeiten möglich war (Beispiel Mittelalter). »Lokal – Global – Egal?« zeigt die Interdependenzen zwischen lokalem Handeln und globalem Denken auf. Die ausgewählten Schwerpunkte bzw. inhaltlichen Vorschläge konzentrieren sich konkret auf das Leitbild des Curriculums (Bildung für eine nachhaltige Entwicklung). »Führerschein im Kopf« bündelt Schwerpunkte und Inhalte aus verschiedenen Bausteinen. Es geht um die Vorbereitung Jugendlicher (junger Erwachsener) auf die motorisierte Teilnahme am Straßenverkehr (Alter des Führerscheinerwerbs). Der Baustein beginnt in den Klassen 9-10; in diesem Alter ist der Erwerb der Mofa-Fahrerlaubnis möglich. Jugendliche müssen frühzeitig sensibilisiert werden, also Jahre vor dem Führerscheinerwerb. Es ist zu spät, erst im Führerscheinalter damit zu beginnen, den motorisierten Individualverkehr zu problematisieren bzw. die Wahl alternativer Verkehrsmittel zu diskutieren. Zwei Bausteine konnten noch nicht bearbeitet werden: »Im Takt der Zeit« und »Verbrauchen – Verbraucht werden«.

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Das niedersächsische Curriculum Mobilität

3. Lernbereich Mobilität im Fokus von Nachhaltigkeit Der neue Lernbereich umfasst das Phänomen Mobilität mit seinen vielfältigen Facetten wirtschaftlicher, soziokultureller und ökologischer Dimensionen. Er orientiert sich an realen Lebensbereichen und arbeitet kontinuierlich interdisziplinäre Systemzusammenhänge heraus. Je nach Schulart und Alter der Schüler bestimmen dabei konkrete aus den Bausteinen abzuleitende Handlungsanlässe die Auswahl der zu beteiligenden Fächer. Im Folgenden werden Beispiele von Handlungsfeldern genannt, die den Wechsel der Perspektive von Verkehrserziehung zu Mobilität verdeutlichen: • • • • • • • • •

Gefahren für Natur und Gesundheit; Regeln und Normen; Ressourcen- und Landschaftsverbrauch; Konsumverhalten und persönlicher Lebensstil; alternative Produkte und Produktionstechniken; Medien und Werbung mit ihrem Einfluss auf Mobilität; fairer Handel und Distribution von Gütern; internationale Wirtschaftsverflechtungen und globale Mobilitätsnetze; Lebensträume und Werte.

Damit ist Mobilität als gesamtgesellschaftliche Herausforderung ein ideales Lernfeld, das die drei Säulen der Nachhaltigkeit – Ökologie, Soziales und Ökonomie – in sich vereint und vernetzt. Dabei ist der Weg in Richtung Nachhaltigkeit als kontinuierlicher Lernprozess zu verstehen. Durch die Bearbeitung individueller und gesellschaftlicher Problemfelder, verknüpft mit Fachwissen aus unterschiedlichen Disziplinen, kommen die Lernenden zu umfassenden Erkenntnissen. Sie erarbeiten eine durch Fakten gestützte Gesamtsicht für gegenwärtige und zukünftige Fragestellungen zu Aspekten von Mobilität und leiten daraus rational begründete Urteile und Handlungen ab. Neben dem Fachwissen konzentriert sich »Bildung für nachhaltige Entwicklung« aber auch auf Bereiche von Mobilität, die unmittelbar das Interesse und die reale Lebenswelt der Lernenden berühren, z.B. eigene Mobilitätsbedürfnisse, Angebote der Kommune, Einschränkungen und Gefahren sowie Angebote und Nutzen von Waren. Auch visionäre und zukunftsfähige Technologien aus der Luft- und Raum21

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fahrt, aus dem Schiffbau, der Fahrzeugindustrie oder die Freizeitgestaltung können interessante Anlässe für Mobilitätsprojekte bieten (z.B. Raketenantriebe – Windkanalmessungen – Brennstoffzelle – Hybrid-Fahrzeuge – Sun Fuel Lab der Autostadt – elektronische Leitsysteme, Toll Collect u.a.). Dabei wird der Blick nicht nur auf die Produkte, sondern auch auf die Bedingungen und Auswirkungen der Produktion gerichtet. Im weiteren Verlauf des Lernprozesses lassen sich an diesen Handlungsanlässen die Handlungsfelder aufzeigen und analysieren. Diese Arbeitsweise sollte dann zu eigenständigen Strategieansätzen und Lösungsvorschlägen für erkannte Problemlagen und Konfliktsituationen führen. Aktive Partizipation an realen, gesellschaftlich relevanten Fragestellungen sowie divergierende Sichtweisen und das Fachwissen von Experten sind unverzichtbare Unterrichtselemente bei der Umsetzung des Curriculums in die Praxis. Nachhaltig gebildet zu sein heißt dann, nicht nur zukunftsorientierte, sozial- und umweltverträgliche Formen von Mobilität zu kennen, sondern den Erkenntnissen entsprechend Handlungsprodukte zu erarbeiten. Solche aus der Schule heraus zu realisierende Handlungsprodukte können z.B. sein: • •



• • • •

Planungen von Klassenfahrten mit regionalen Zielen und alternativen Verkehrsmitteln; Beteiligungen an Bürgerinitiativen (z.B. gegen Fluglärm, Ressourcen- und Landschaftsverbrauch, für eine nachhaltige Siedlungsentwicklung); Schließen verbindlicher Verträge zum eigenen Mobilitätsverhalten innerhalb von Klassen, Kursen oder der gesamten Schule (z.B. Verabredungen zur Vermeidung von Verkehr, Fahrradnutzung, Absprachen für ein verändertes Konsumverhalten und für einen nachhaltigen Lebensstil); Einrichten von Schülerfirmen (z.B. Fahrradwerkstatt, MitfahrerBörse, Büros für lokalen Tourismus und Stadtführungen); Patenschaften für Fahrzeuge des ÖPNV; Entwicklung von Simulationsmodellen für eine nachhaltige Mobilität; Zusammenstellung von Indikatoren für eine zukunftsfähige Mobilität;

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Das niedersächsische Curriculum Mobilität

• •

Erarbeiten von Strategien zur Vermeidung von Verkehr; Eingehen von Lernpartnerschaften mit externen Kooperationspartnern.

4. Kooperationen Neue Formen externer Kooperation zwischen Schulen und außerschulischen Partnern sind für den Lernbereich Mobilität ein wesentlicher Aspekt auf dem Wege zu einer »Bildung für eine nachhaltige Entwicklung«. Polizei und Landesverkehrswacht als wichtige und bewährte Kooperationspartner der Verkehrserziehung unterstützen das niedersächsische Curriculum Mobilität. Sie haben jene Schwerpunkte und inhaltlichen Vorschläge aus den Bausteinen ausgewählt, zu denen sie den Schulen kompetente Hilfen im Unterricht anbieten können. Mit der »Autostadt GmbH« in Wolfsburg unterstützt ein weiterer attraktiver und exzellenter Kooperationspartner die Umsetzung des Konzepts. Sie bringt mit der von ihr propagierten »Inszenierten Bildung« vielseitige und faszinierende Elemente in das Baustein-Konzept ein und bereichert es. Die Autostadt identifiziert sich mit dem pädagogischen Leitbild »Bildung für eine nachhaltige Entwicklung«. Die Lernstationen, die entwickelten Module und die initiierten Aktionen (die sog. »Events«) gehen von einem hohen Anspruchsniveau aus (z.B. Globenfeld, Sun Fuel Lab). Diese Kooperation ist Ausdruck einer Synthese, in der ein curriculares Leitbild und die Ziele eines Weltkonzerns eine enge Verbindung eingehen.

5. Anregungen für die Arbeit der Schulen • •

Schulen wird empfohlen, in Fachbereichskonferenzen Planungsgruppen einzurichten. Die Planungsgruppen entwickeln und entscheiden über die Auswahl der Unterrichtsbeispiele bzw. die fächerübergreifenden Unterrichtseinheiten.8

8 Anregungen dazu können dem Internet (www.curriculum-mobilitaet.de)

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• • • •

• •

Die Planungen sollten an bestehende Unterrichtsinhalte der Fächer anknüpfen. Bei der Planung sollten möglichst verschiedene Bausteine berücksichtigt werden. Die Unterrichtseinheiten sollten ortsbedingte und schulspezifische Bedingungen berücksichtigen. Die Angebote externer Kooperationspartner können dabei hilfreich sein und sollten ggf. in die Planungen einbezogen werden (z.B. Polizei, Verkehrswachten und Autostadt). Die vorgeschlagenen Planungsprinzipien können auch auf die Gestaltung von Projekttagen bzw. -wochen übertragen werden. Aus der Erprobung der Unterrichtsbeispiele können schulinterne Jahrespläne entstehen.

6. Veröffentlichungen Bislang ist das Curriculum auf verschiedenen Wegen in der Öffentlichkeit präsentiert worden: •

• •

Curriculum-Mappe: Sie enthält die Erlasse, alle fertig gestellten Bausteine und einen Reader, der die Prinzipien und Zielsetzungen des Konzepts darstellt. Internet-Adresse www.curriulum-mobilitaet.de: Dort wird das gesamte Curriculum mit Hintergrund-Informationen vorgestellt. Präsentations-CD: Seit Juni 2004 verfügt jede niedersächsische Schule über eine Präsentations-CD. Sie soll Lehrkräfte bzw. Kollegien in die Lage versetzen, sich mit den Prinzipien von Mobilität und den Möglichkeiten der Umsetzung der Bausteine vertraut zu machen.

und dem Reader der Autostadt (Autostadt GmbH [Hg.], Inszenierte Bildung, Wolfsburg 2004, Kap. 10.11 und 10.12) entnommen werden.

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Das niedersächsische Curriculum Mobilität



Info-Reader der Autostadt in Wolfsburg für Lehrkräfte: Seit August 2004 stellt die Autostadt allen Schulen in Niedersachsen einen Reader zur Verfügung, der alle Angebote der Inszenierten Bildung der Autostadt zum Thema Mobilität im Zusammenhang mit dem Curriculum Mobilität enthält.

Anhang

Strukturschema 1: Intentionale Struktur Leitbild

Mobilität als menschliches Bedürfnis und zentrale Herausforderung einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung

Epochaltypisches Schlüsselproblem

Mobilität als gesellschaftliche Verpflichtung zur Erhaltung und Entwicklung sozialer und ökonomisch-ökologischer Grundlagen

Schlüsselqualifikation

Fähigkeit zu reflektiertem und verantwortungsbewusstem Mobilitätsverhalten Mobilität als globales und komplexes System erfassen

Allgemeine Intention

Um die Bedingungen alltäglich erlebter Mobilitätswirklichkeit wissen Auswirkungen und Folgen von Mobilität auf Umwelt und Gesundheit kennen Konsequenzen für das eigene Verhalten ziehen und sich an gesellschaftlichen Problemlösungen beteiligen

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Strukturschema 2: Didaktische Vernetzung Bezugsfelder

Mensch – Verkehr

Mensch – Umwelt

Themenbereiche

Mobilität und Sicherheit

Mobilität und Gesellschaft

Mobilitätssysteme

Mobilität und Umwelt

Mobilität und Medien

Aspekte, unter denen die Themenbereiche betrachtet werden können

technologische Aspekte

ökonomischökologische Aspekte

Wahrnehmungs-/ Verhaltensaspekte

soziale Aspekte

Bausteine Regeln und geregelt werden

Einsteigen – Umsteigen – Aussteigen

Miteinander – Gegeneinander

Verdammt in Rausch und Drogen

Lebensräume – Lebensträume

Tourismus – Unterwegs und zu Hause

Lokal – Global – Egal?

Führerschein im Kopf

Im Takt der Zeit

Verbrauchen – Verbraucht werden

Schwerpunkte

Inhaltliche Vorschläge

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Das niedersächsische Curriculum Mobilität

Strukturschema 3: Fächerstruktur, Lehr- und Lernstrategien Fachbezogene und fächerübergreifende Elemente des Curriculums Mobilität Traditionelle und innovative Lehr- und Lernstrategien Primarbereich:

Deutsch, Sachkunde, Sport, Kunst

5./6. Schuljahr:

Sport, Welt- und Umweltkunde (beinhaltet die Fächer Erdkunde, Geschichte und Politik), Deutsch, Naturwissenschaften

Sek.-Bereiche I und II:

Politik, Erdkunde (an Haupt- und Realschulen sind die Fächer Erdkunde und Politik in den Fachbereich Geschichtlich-soziale Weltkunde [GSW] integriert, in den Klassen 7 bis 10 der Gesamtschulen in den Fachbereich Gesellschaftslehre), Deutsch, Englisch, Biologie, Physik

Berufsbildende Schulen

Politik

Bausteine und Projekte Lehrgangsorientiert • Schulwegsicherheit • Frühradfahren/Radfahrprüfung • Mofa-Kurse • Erste-Hilfe-Kurse

Fachbezogen/ fächerübergreifend • Regeln und geregelt werden • Einsteigen – Umsteigen – Aussteigen • Miteinander – Gegeneinander • Verdammt in Rausch und Drogen • Lebensräume – Lebensträume • Tourismus – Unterwegs und zu Hause • Lokal – Global – Egal? • Führerschein im Kopf • Im Takt der Zeit • Verbrauchen – Verbraucht werden

Projektorientiert • Kooperation Schule-Fahrschule in ausgewählten Gymnasien, Gesamtschulen und BBS • Projektbeispiel Mobilität in ausgewählten Lebensbereichen

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DENK(T)RÄUME Mobilität. Beiträge und Diskussionen

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Prolog

Prolog

»Was tun Sie«, wurde Herr K. gefragt, »wenn Sie einen Menschen lieben?« »Ich mache einen Entwurf von ihm, und sorge dafür, dass er ihm ähnlich wird«, die Antwort. »Wer? Das Bild?« »Nein, der Mensch.«

Diese Geschichte von Bert Brecht möchte ich gerne an den Anfang unseres Fachgesprächs DENK(T)RÄUME stellen, da ihr Inhalt einen Anlass zu dieser Veranstaltung in der Autostadt gegeben hat: Wir haben einen Entwurf, das Curriculum Mobilität, und wir beschäftigen uns mit Menschen, den Schülern. Wir wollen nun so sicher wie möglich stellen, dass der Entwurf den Schülern entspricht – und nicht, dass sich erst die Schüler, denen der Entwurf, also das Curriculum Mobilität dienen soll, verändern müssen. Die Autostadt, ein »Raum«, der sich dem Motto »Menschen, Autos und was sie bewegt« entsprechend stets neu definiert, dient uns als Denkraum zum Thema Mobilität, in dem auch geträumt werden darf, ja eigentlich sogar geträumt werden muss, wenn innovative Ansätze verfolgt oder entdeckt werden sollen. Der Ansatz, auf dem das Curriculum basiert, sieht in der Mobilität ein grundlegendes menschliches Bedürfnis, das gesellschaftlichen Verantwortungsprozessen unterliegt. Diese Sichtweise liegt auch der Autostadt nicht fern. Auf der Basis dieses Konsenses konnte der Boden bereitet werden für eine der sicher ungewöhnlichsten Kooperationen zwischen dem Kulturbereich und der Wirtschaft: zwischen dem Kultusministerium und der Autostadt, zwischen Bildungsauftrag und Inszenierung. Die Kooperation unterstützt die Umsetzung und die Weiterentwicklung des Curriculums Mobilität auf verschiedenen Ebenen. Beides, Umsetzung und Weiterentwicklung, kann meines Erachtens in einem derartigen Spannungsfeld trefflich gelingen. Die Auseinandersetzung mit Mobilität in der Schule und im außerschulischen Lernort Autostadt eröffnet bisher kaum genutzte Chancen, Lernen in Zusammenhängen zu ermöglichen, problemlösendes Denken und Handeln zu fördern und unter hohem Anspruch an fachliche Qualität globale Sichtweisen zu vermitteln. Den Anfang haben wir schon gemacht: Auf dieser Tagung arbeiten 31

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Carmen Scher

sich hier Hochschule und Schule, Kunst und Physik, Theorie und Praxis, das Kultusministerium und die Wirtschaft auf Augenhöhe gegenseitig zu. Dass dies unbestritten sehr divergierende Denk- und Arbeitsmodelle evoziert, die auch keinesfalls alle die Haltung der Autostadt repräsentieren, ist selbstverständlich und gewünscht. Eine meiner Aufgaben wird gegebenenfalls auch darin bestehen, die Diskussion im Sinne eines Advocatus Diaboli zu entfachen, oder im Sinne des kleinen Brecht-Zitates wieder zu erden, sollten wir uns zu weit von unserem wichtigsten Ziel, der Nähe zum Schüler, in der Schule oder an einem außerschulischen Lernort wie der Autostadt, entfernen. Bevor ich das Wort nun meinem Mitstreiter und Kollegen aus dem Kultusministerium übergebe, Herrn Ministerialrat Horst Roselieb, wünsche ich uns allen spannende, bewegende und anregende Vorträge – ganz besonders jedoch rasante und einfühlsame Diskussionen, zu denen wir uns wünschen, dass jeder der Anwesenden sein »Auto(s)«, sein Selbst, einbringt. Carmen Scher, Leiterin »Inszenierte Bildung« der Autostadt GmbH

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Grusswort

Grusswort Mobilität spielt für unsere Gesellschaft eine herausragende Rolle. Sie greift in alle Bereiche unseres Lebens ein. Mit ihr verbinden sich u.a. wirtschaftliche Zusammenhänge, Sicherheits- und Umweltfragen sowie Chancen und Probleme, die sich aus der Begegnung unterschiedlicher Kulturen ergeben. Die Zukunft unserer Gesellschaft wird entscheidend mit davon abhängen, inwieweit Lösungen für die mit Mobilität verbundenen Probleme entwickelt und umgesetzt werden können. Heutige und künftige Schülergenerationen werden sich mit derartigen Herausforderungen auseinander zu setzen haben. Unsere Aufgabe ist es, die Heranwachsenden bestmöglich darauf vorzubereiten. Mobilität ist ein äußerst komplexes und widersprüchliches Phänomen, das die Schule bis 2002 vorwiegend im Rahmen der Verkehrssicherheitserziehung aufzugreifen versuchte. Dabei blieben die große Aspektvielfalt, die Möglichkeiten, aber auch die Spannungen und Widersprüche, die sich auftun, wenn man Mobilität als Bildungsaufgabe begreift, weitgehend unbeachtet. Seit 1998 nun hat eine CurriculumKommission im Auftrag des Niedersächsischen Kultusministeriums unter der Leitung von Erwin Curdt auf der Grundlage der Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zur Verkehrserziehung von 1994 die »Quadratur des Kreises« versucht. Sie hat begonnen, einen fachbereichsübergreifenden Lehrplan zur Mobilität zu erstellen. Es ist der Kommission gelungen, einen auf Verkehrssicherheitserziehung ausgerichteten Lernbereich an der Jahrtausendschwelle für zukunftsfähige, umfassende, globale Betrachtungs- und Behandlungsweisen zu öffnen und neu zu positionieren. Für die Bewältigung der Herkulesaufgabe, für ihre verantwortungsvolle, fundierte und erfolgreiche Arbeit möchte ich im Namen des Ministers der Curriculum-Kommission nochmals Dank und Anerkennung aussprechen. Für die Umsetzung des Konzepts können viele Fächer einen Beitrag leisten – nicht nur als Solisten, sondern im Konzert – als Duo, Trio oder als Orchester. Die Arrangements werden erst geschrieben, durch die Akteure, durch Sie, die Sie heute hier sind, um sich inspirieren zu lassen oder selber zu inspirieren. Lassen Sie Ihrer Experimentierfreude freien Lauf, nutzen Sie die Kraft der Situation, die Kreativität, die eine äußerst ungewöhnliche Kombination von Fächern freizusetzen vermag. 33

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Horst Roselieb

Meine sehr verehrten Damen und Herren, heute schlagen wir mit dem Symposium »Auto-Bio-Graphien« ein neues Kapitel in der belegbar fruchtbaren Kooperation zwischen der Autostadt und dem Kultusministerium auf. Ich für meinen Teil bin am heutigen Tag voller Spannung auf den Verlauf eines Experiments, das manche auch als ein Abenteuer bezeichnen würden. Eines Experiments, das uns Möglichkeiten für neue Zugänge zu Mobilitätsfragen eröffnen kann und durchaus von revolutionärem Charakter ist. Lassen Sie sich ein auf Denkträume in oder außerhalb von Denkräumen und überwinden Sie vermeintliche oder tatsächliche Grenzen. Ich hoffe, Sie sind ebenso wie ich voller Erwartung auf das Kommende. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns eine traumhafte Zeit und eine ebensolche Veranstaltung, für deren Verlauf ich die besten Wünsche von Herrn Minister Busemann überbringen darf. Horst Roselieb, Ministerialrat Niedersächsisches Kultusministerium

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»DENK(T)RÄUME Mobilität« als Wegmarke

»DENK(T)RÄUME Mobilität« als Wegmarke, Initial und Gedankenspeicher des Projektes Auto-Bio-Graphien Christian Wiesmüller

I. Unter Biographie (spätgriech. biographía) versteht man die Beschreibung (oder »das Schreiben«) der Lebensgeschichte einer Person bzw. den Lebenslauf eines Menschen. Das dreigliedrige Kompositum »Auto-Bio-Graphie« verweist im allgemeinen Verständnis darauf, dass ein Verfasser selbst (auto, zu griech. autós) seine Lebensgeschichte schreibt. Das »Auto« im Leitbegriff im Rahmen der Fachtagungsreihe ist allerdings äquivok, ist wenigstens dreifach auslegbar. Prima facie könnte es als ein Indiz dafür verstanden werden, dass das Projekt auf der Kommunikationsplattform eines Automobilherstellers stattfindet. Dies ist in der Tat ein spannungsförderndes Konnotat. Die eigentliche Betonung des »Auto« im Rahmen des Projektes liegt jedoch darauf, dass jedes Individuum seine eigene Mobilitätsgeschichte schreibt. Es selbst ist die Schreiberin/der Schreiber. Und es wird geschrieben, eingeschrieben in eine Mobilitätsgeschichte, ohne dass es das zunächst weiß oder präsent hat. Und es selbst wird sie weiterschreiben. Dies in den Blick zu bekommen, in wahrnehmbare Äußerungen zu übersetzen, dies in den und durch die unterschiedlichen Dimensionen von der Biologie bis zu den Künsten, vom Darstellenden Spiel bis in die Physik deutlich zu machen und zu begleiten, ist eine Herausforderung für die Pädagogik, aber auch für die anderen beteiligten Professionen, welche die Fachtagungsreihe zusammenführt. Als dritte Deutungsmöglichkeit bietet sich schließlich das Artefakt Auto selbst, die Fahrmaschine an, die in den Biographien vieler Menschen in der industrialisierten Welt eine je spezifische Rolle spielt. Über das Fahrzeug in seiner Nutzfunktion hinaus ist es ein kultureller Gegenstand, gesellschaftlich und individuell prägend für Bewusstseinsinhalte und Stimmung. Automobile sind Lebensstil, Signifikant, Abkürzung, Metapher: Käfer, Bulli, Golf oder der New Beetle, die Ente, die Badewanne, der Barockengel usw. Nicht alle, aber auch nicht 35

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wenige Automobile sind fest im individuellen und kollektiven Gedächtnis, sind untrennbar mit der eigenen Lebensgeschichte oder der Geschichte von Gruppen, Sozietäten oder sogar Nationen verbunden und hinterlassen Spuren in menschlichen Lebensläufen. Der Reiz des Leitbegriffs liegt im Ineinanderübergehen von Bedeutungen des Kompositionsgliedes »Auto«, das dabei zu einer Art Synonym für Mobilität wird – so wie das Auto im Laufe der Zivilisationsgeschichte zum Vorstellungsbild des Menschen für seine Bewegungsfreiheit und auch Auto-Nomie wurde. Im Fokus steht das einzelne (auto)mobile Individuum: Wie ist es von der Mobilität geprägt, wie geht es damit um und was kann es daraus in seinem Leben machen? Inwieweit definiert sich sogar das Selbst, das autós über die einzelnen Mobilitätsarten und -formen? Inwieweit tut es das über artefaktische Erweiterungen, über das Schuhwerk, über das Dreirad, das Zweirad, den Rollstuhl oder die Inlineskates, über den Bus (der spezifische Formen des Reisens hervorbringt), das Kreuzfahrtschiff oder das Flugzeug (die zum Massenphänomen geworden sind). Als Massenphänomen sind sie dem vierrädrigen Gefährt(en) nicht mehr unähnlich, dem Auto also, das aber als Einzelobjekt in hohem Maße individualisierbar ist und damit einiges aussagen kann über das Individuum selbst. Sich der Mobilität in diesen exemplifizierten und weiteren Facetten bewusst zu werden und sie als Gestaltungsraum und -möglichkeit im persönlichen Leben zu begreifen, gibt den Bildungshorizont an, der mit zu schaffenden Erlebnis-, Erfahrungs- bzw. Lerneinheiten, die aus dem Projekt hervorgehen sollen, ausdifferenziert und inhaltlich konkretisiert werden soll. Pädagogische Bezüge zur Mobilität werden mehr oder weniger innerhalb bestimmter Fächer oder auch Wissenschaftsdisziplinen sichtbar oder können mit Hilfe letzterer herausgearbeitet werden. Interessanter noch sind vielleicht Bereiche zwischen den Fächern, die neue Sichtweisen auf Mobilität ermöglichen. In den ›Zwischenräumen‹ Elemente zu finden und didaktisch verfügbar zu machen, um damit das Curriculum Mobilität weiterentwickeln zu können, ist eine wichtige Zielsetzung, die auch in der Autostadt selbst schließlich in Praxisbausteine übersetzt werden soll – mit der Möglichkeit des Transfers in die Schulen hinein. Dies stellt einen ganz eigenen Weg der Lehrplanentwicklung dar, der von Beginn an als transparent und partizipativ beabsichtigt ist, wie er einer demokratischen Gesellschaft auch zukommt. Insgesamt handelt es sich um ein Experiment, das in der Bil36

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»DENK(T)RÄUME Mobilität« als Wegmarke

dungslandschaft ohne Vorbild sein dürfte, sich in jedem Falle aber auch offen zur Diskussion stellt. Das Symposium »DENK(T)RÄUME Mobilität« ist eine hervorgehobene Wegmarke im Gesamtprojekt »Auto-Bio-Graphien«. Die Wegmarke ist wichtig, weil sie funktional erstens in einem Brennpunkt die Vorplanungen abschließt, zweitens den Startzeitpunkt darstellt, zu dem es öffentlich wird, und drittens inhaltlich das Thema Mobilität weit aufspannt, um genau der Spannbreite des Blickes zu entsprechen, die dem Gesamtansatz des Curriculums Mobilität zugedacht ist. Dieser Weite bedarf es als Gedankenspeicher für innovative Arbeit, bevor man über die bereits bestehenden Praxisbeispiele hinaus konkrete weitere didaktische Einheiten konzipiert. Es sollen Aspekte in den Blick kommen, an die man bei der Mobilität nicht sofort denkt, die aber die einzelne fachliche Zugangsweise, die das, was in einem Fach oder im fachlichen Übergriff im Bezug auf Mobilität sinnvoll thematisiert werden kann, ergänzen und bereichern sollten. Die Referenten des Symposiums »DENK(T)RÄUME« öffnen mit ihren Beiträgen in diesem Buch vornehmlich den Blick nach vorne. Ausgehend von vielleicht Bekanntem zu Unbekanntem oder auch noch nicht Erkanntem legen sie Denklinien aus, öffnen dadurch DenkRäume. Sie inspirieren auch dazu, Dinge neu zu denken, dabei an Horizonte zu stoßen und gedanklich darüber hinauszugehen … Sie reizen damit vielleicht sogar zu DenkTräumen der Mobilität. Wer sich auf die Lektüre der einzelnen Beiträge einlässt, sollte sich durchaus auch aufgerufen fühlen, den Titel in einer dritten Variante auszulegen: Denkt! Räume (der) Mobilität – ein freundlicher Imperativ. »Auto-Bio-Graphien« soll eine nachhaltige Wirkung entfalten, und auch deswegen ist es als eine Art ›Zeitraumsymposium‹ konzipiert. »Auto-Bio-Graphien« ist in so genannten Kampagnen angelegt, die jeweils zwei Schulfächer über mehrere Monate zusammenführen, damit sie sich gegenseitig befruchten können. Bereits in den »DENK(T)RÄUMEN« sollte der experimentelle Charakter des Versuchs zum Tragen kommen. Deshalb wurden für das Startsymposium neben den allgemein ausgerichteten Referaten exemplarisch zwei Fächer für didaktische Perspektivnahmen ausgewählt, auf die man beim Thema Mobilität nicht auf den ersten Blick kommt: Physik als ein Fach, das im Curriculum Mobilität als Bereichsfach angegeben ist, und Darstellendes Spiel, das in diesem Lehrplan explizit nicht aufscheint, aber mutmaßlich viele Gestaltungsoptionen eröffnet und in das Bewusstsein rückt, 37

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die zu einer gelingenden persönlichen Mobilitäts-Bio-Graphie in pädagogischen Situationen und Zusammenhängen beitragen können. Insgesamt sind vier bis sechs solcher Kampagnen mit wechselnden Fächertandems geplant. Für jede Kampagne ist vorgesehen, dass sich Didaktiker der Praxis, also Lehrer, und Didaktiker der Wissenschaft, also Hochschullehrer, zusammenfinden, um unter eventueller Beteiligung von Studierenden Praxiselemente zu konzipieren und mit Schülern auszuprobieren. Aus diesem Material schließlich sollen Mustereinheiten entstehen, die der Praxis in der Schule dienen.

II. In diesem zweiten Teil des Beitrages soll nun noch eine Gedankenlinie zur Mobilität im Eigentlichen referiert werden. Sie hat die Funktion, einen ersten inhaltlichen Anstoß zu geben und eine der Sichtweisen des Verfassers zur Mobilität offen zu legen. Das Lineament setzt grundlegend philosophisch-anthropologisch an, um über diesen Weg einen ausgewählten technischen Aspekt der Mobilität zur Sprache zu bringen. Dieser Aspekt betrifft das Zusammenwachsen des organisch-geistigen Wesens Mensch mit technischen Elementen, das in der Literatur mit dem Begriff des Cyborg belegt wurde1, eines Hybridwesens, das auch maßgeblich durch seine spezifischen Formen und Potentialitäten bezüglich der Mobilität gekennzeichnet ist. Was ist das Universum mit den darin existierenden Menschen? Ob es – weitschweifig gedacht – Bewegung als nicht aufhaltbare Entropie ist (Zunahme von Unordnung mit einhergehender Minderung energetischer Verwertbarkeit), in die alle Lebewesen als Energieumsetzer eingebunden sind und die ein natürliches Ende hat, oder ob es – noch grundlegender angesetzt – das Resultat einer universellen und ewigen Vakuumpumpe ist, die über Vortexe (Spiralbewegungen) die Materie erzeugt, die uns zwischenzeitlich den ständig in Veränderung begriffenen Lebensraum gibt: Bewegung ist sein Prinzip. Die Gattung Mensch ist sich vielleicht einzig oder auch nur als ers-

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Beispielhaft seien folgende Autoren genannt: Haraway, Donna J.: Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, London 1998; Rötzer, Florian, Die Cyborgs kommen, in: Die Woche vom 22.12.1995.

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te bewusst, dass sie mit einem gewaltigen Geschehen verwoben ist, das sich der Erkenntnissicherheit und der Gewissheit entzieht. Die Schärfe der Unausweichlichkeit allerdings nimmt der Mensch über die unaufhaltsam fortschreitende Zeit, über den psychologischen Zeitpfeil wahr. Als Energieumsetzer oder physikalisches Ergebnis des Umsatzes ist der Mensch von Anfang an ein Lebewesen, das sich bewegt. Diese Beweglichkeit ist sein Schicksal, weil das Gegenteil, der Stillstand, das Ende jedes höheren und komplexeren Lebens bedeutet. Er muss diese Bewegung mitmachen, aber er will sie bewusst mitmachen, will etwas von den bewegenden Gründen und von der bewegenden Ursache wissen – und will sogar selbst Beweger sein. Damit ist er schon ein Technit unter den Lebewesen, der absichtsvoll Bewegungsabläufe manipuliert und einsetzt. Er entwickelte sehr früh schon das, was von GottlOttlilienfeld in weiter Fassung des Technikbegriffs die Individualtechnik nannte.2 Damit meinte er z.B. das Verbessern der Bewegungen, das Gehen, das Laufen, das Springen, das Menschen z.B. im Sport oder im Tanz zur höchsten Vervollkommnung kultivieren. Menschen sind in diesem Sinne bimobile Wesen. Schon die einfachsten Zellfunktionen vollziehen sich als Austauschprozesse. Das uns bekannte höhere Leben ist ohne Stoffwechsel nicht möglich. »Wir sind oszillierende Geschöpfe in einem oszillierenden Universum. Die Rhythmizität ist uns angeboren.«3 Der ganze Körper ist physische Bewegung, die dann im steuerbaren muskulären Bereich zum bewussten Ausdruck des Menschen wird; wobei »bewusst« bedeutet, dass ein Wille dahinter steckt, der Bewegung im Raum-Zeit-Kontinuum umsetzt und gestaltet. Das Denken des Menschen selbst hat einen physischen bzw. materialen Anteil, die elektrochemischen Vorgänge sind äußerer und messbarer Ausdruck nichtstofflicher gedanklicher Abläufe. Resultierende oder damit einhergehende oder damit verwobene geistige Bewegung ist Denken, und Denken ist das Bewegen von Gedanken. Virtualität – Gedankenbewegung in einem künstlichen wie doch auch realen Hyperraum – ist nur eine vorerst letzte Konsequenz gedanklicher Bewe-

2 Gottl-Ottlilienfeld, Friedrich von, Wirtschaft und Technik, Tübingen 1923. 3 Schwartz, Tony/Loehr, Jim, Die Disziplin des Erfolgs, München 2003, 46.

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Christian Wiesmüller

gung, die immer wieder die Grenzen eigener Beschränktheit zu überschreiten versucht, die so auf Transzendenz angelegt ist. Lange hat sich der Mensch mit seinen Händen und Beinen als Bewegungsorganen bescheiden müssen, bis sie ihm für die Beschleunigung seiner ehrgeizigen Pläne nicht mehr genügten. Der Homo habilis setzte Werkzeuge ein, mit denen die Eingriffe in die Welt effektiver wurden. Dies blieb so lange harmlos, wie die Natur gegenüber dem Menschen so übermächtig blieb, dass sie geschlagene Wunden und Ausbeutung mehr als ausgleichen konnte. Die Gattung Mensch konnte sich selbst nicht in Gefahr bringen, denn ihre einzelnen Vertreter waren trotz ihrer Technik nicht schnell und effektiv genug, wenn sie den Lebensraum umgestalteten. Die gattungsgefährdende Verschärfung dieses Aspektes der Mobilität – ein Ver- und Missbrauch an und von Umwelt – trat zu dem Zeitpunkt ein, als der Techniker es schaffte, seine eigene und die tierische Kraft durch maschinelle zu ersetzen und vor allem unermesslich zu steigern. Ein materielles Ensemble, geschickt gefügt, geschraubt und geschmiert, versorgt mit Stoffen, deren Energie man künstlich umzusetzen verstand, brachte eine Entwicklung in Gang, die den bis dahin bewegten Beweger vom bimobilen zum trimobilen transformierte. Dessen drittes Bestimmungsmerkmal im bewegten Dasein sollte ein Bewegungsapparat werden, der sich zu einem umspannenden System auswuchs und vernetzte, das ohne jedes Vorbild in der Natur ist. Dieses System hat Guardini einmal die »zweite Wildnis« genannt.4 Zu Lande, zu Wasser, in der Luft und vereinzelt im Weltall kann er sich von nun an bewegen, wohin er räumlich sich hinzubegeben gedenkt. Und schon lockt der Gedankenraum als technisch manipulierbares Territorium. Der künstliche, der virtuelle, der Hyperraum stellt die Möglichkeit dar, die Grenzen des Gegenständlichen hinauszuschieben; in eine »räumliche« Tiefe, die dem Universum darin ähnlich zu sein scheint, dass der Raum, ob der nicht fassbaren Ausdehnung, dimensionslos im uns bekannten Sinne wird. Dies bedeutet eine gefühlte Transdimensionalität. Die Möglichkeiten der informationsverarbeitenden Maschine für diese Vorgänge sind noch lange nicht ausgereizt. Der in seinem Bewegungswollen inzwischen unauflösbar Trimobi-

4 Guardini, Romano, Das Ende der Neuzeit, Würzburg 1950.

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le ist von nun an mehr noch als bisher ein Imagonaut, ein in technisch generierten Vorstellungsbildern wandernder, dessen Gehirn binär kodiert und – vielleicht mit unabsehbaren Folgen – selbst kodiert wird. »Strom ein/Strom aus« ist der Grundtakt, mit dem er die vielfältigsten Imaginationen zustande bringt. Kulturskeptisch formuliert erhebt sich die Frage, ob und wie er dem selbst gewachsen ist, ob er in der selbst geschaffenen Welt in einer Hypertrophie unterzugehen droht, ob er von ihr letztlich vereinnahmt wird. In der makrokosmischen und transweltlichen Ausdehnungsrichtung wird die Physis zum schwachen Glied des geistig bereiten Entdeckers und Erfinders. Dies garantiert – wenigstens zwischenzeitlich – der Virtualität den Zulauf einer wachsenden Gemeinde von Enthusiasten, die sich zeitweise nach einer parallelen Realität sehnen. Allein: Vielen vermag dieser Ausschnitt an Realität, der in der Palette an Sinnesempfindungen bisher und absehbar doch immer eingeschränkt bleibt, nicht wirklich zu genügen. Der Mensch ist ein geistiges, körperliches und wahrscheinlich auch seelisches Wesen – nicht zuletzt auch in seiner Mobilität. Welche Formate und Modi der Mobilität will der Trimobile im tiefen Bewusstsein verwirklichen? Was sind diese Formate und Modi, die seine geistig-körperlich-seelische Einheit als Individuum, die seine Sinnlichkeit nicht derart zu überfordern drohen, dass ihm die menschliche Dreieinigkeit verloren geht? Und anders gefragt: Welche Wunschformen der Mobilität gibt es für ihn, und welche Mobilität erträumt er sich?

III. Die Gedankenlinie lässt sich so zusammenfassen: Menschen sind auf der aktuellen Entwicklungs- und Zivilisationsstufe erstens Wesen, die selbst in Bewegung sind, ohne dass sie sich bewusst bewegen – sie sind schlicht dauernder Stoffwechsel. Sie sind zweitens bewusst körperlich und geistig bewegliche Wesen, die Ortswechsel vornehmen und sich in Vorstellungsräumen zwar nicht absolut, aber doch relativ frei bewegen können. Drittens sind sie Wesen, die sich Maschinen und Apparaturen zugelegt haben, um ihren Wirkkreis auszudehnen, um mit und in technischen Systemen mobil zu sein, um Grenzen der eigenen Beschränkung auszudehnen. 41

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Christian Wiesmüller

Wie tief gehend muss eine Bildung hinsichtlich der Mobilität vor diesem Hintergrund sein? Podiumsteilnehmer: Prof. Dr. Karl-Josef Pazzini, Carmen Scher, Prof. Dr. Wolfgang Sting, Prof. Dr. Hermann Lübbe, Horst Roselieb (vorne, v.l.n.r.), Dr. Christian Wiesmüller, Prof. Dr. Lydia Murmann, Prof. Dr. Michael Plattig (hinten, v.l.n.r.)

Literatur Gottl-Ottlilienfeld, Friedrich von, Wirtschaft und Technik, Tübingen 1923. Guardini, Romano, Das Ende der Neuzeit, Würzburg 1950. Haraway, Donna J., Simians, cyborgs, and women. The reinvention of nature, London 1998. Rötzer, Florian, Die Cyborgs kommen, in: Die Woche vom 22.12.1995. Schwartz, Tony/Loehr, Jim, Die Disziplin des Erfolgs, München 2003.

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Mobilität als Haltung

Mobilität als Haltung Ein Garnierungsvorschlag für die Ausfaltung von Auto-Bio-Graphien und Mobilität – 22 Momente Karl-Josef Pazzini

1 Es wird sicher schon aufgefallen sein, dass in der Überschrift zu meinem Beitrag widerstrebende Momente eingebaut sind. Mobilität spricht von Bewegung und Beweglichkeit. Die Haltung spricht hingegen vom Halt, der Zusammenfassung von Beweglichkeit, vielleicht schlussendlich vom Aufhören der Mobilität – zumindest von einer Pause. Es geht in Bildungsprozessen in unterschiedlichen Formen genau darum: ein Vorwärtstreiben aus eigenem Antrieb, ein Vorwärts-getrieben-werden, von Anderen und von Anderem – und beides zusammen zu einer Disposition zu machen, immer wieder.

2 Disposition – da haben Sie es wieder: Eine Position, also ein Ort, eine Lage, die verschoben wird, verschoben werden kann, verschoben werden soll – nach Möglichkeit.

3 An dieser Stelle oder in der Fahrt wird deutlich, dass Mobilität in der Tatsache ihre Grenze findet, dass nicht zwei Objekte, zwei Menschen an einem Ort zugleich sein können – nur in der Phantasie oder Maskerade oder symbolisiert im Beischlaf. Mobilität ist raumgreifend, kolonisiert zwangsläufig, ist Aggressivität in Fahrt – manchmal mit dem Ideal, überall zugleich zu sein. Größenphantasien spielen hier eine Rolle. Mobilisierung muss also parallel mit Aufwand an Kultivierung betrieben werden, sonst bekommt sie den Namen »Unfall« oder »Verdrängung« oder »Imperialismus«.

4 Die Autostadt und mit ihr das MobilitätsDeck beginnen mit dieser Tagung ein Programm: »Auto-Bio-Graphie«. Das Auto als Gefährt(e) in 43

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unserer Kultur: Es wächst mit – mit dem Selbst. Wachsen ist Bewegung. Manche bleiben klein(-geistig) oder werden klein gehalten – aber eben: gehalten. Beabsichtigt ist, Mobilität zum Thema und zum Verfahren zu machen: mit allen Umwegen und Umleitungen und auf der Direttissima, zwischen den Schulfächern und darinnen, in äußerer und innerer Bewegung. Dabei werden Themen, Ausstattungen, Ziele, Schüler sowie Lehrer sich bewegen und sich halten.

5 Mobilität als Punkt der Aufmerksamkeit für ganz unterschiedliche Bildungsprozesse oszilliert. Um was herum? Künste beschäftigen sich z.B. genau mit diesem Hin und Her – fast zweckfrei. Wie kommt man in Bewegung? Wie kommt man an einen Halt? Wie mobilisiert man ungeahnte Kräfte, wie erschüttert man Standpunkte (Gesichtskreise mit dem Radius »Null«)? In den Künsten wird handlungsentlastet im Sinne einer noch nicht oder nie klaren Vermarktung geforscht. Natürlich wird da gehandelt und es wird auch Zeit und Energie verbraucht – aber erst mal ›nur so‹, nur weil jemand bemerkt zu haben glaubt, dass da etwas ist, das auch andere erfahren sollten, und das bisher mit dem konventionalisierten Symbolisierungssystem nicht mitgeteilt werden konnte. Es bringt vielleicht zum Stehen. Es gibt natürlich auch auf der Fahrt zum Kunstmarkt Engpässe, die von vielen nicht durchfahren werden können.

6 Der Glaube kann Berge versetzen. Von der Physik solcher Ereignisse wird die Rede sein.

7 Deshalb ist es zu begrüßen, wenn ein Unternehmen den Mut hat, Räume und Zeiten erzeugen zu helfen, in denen man mobil sein muss und kann – mit Leitplanken und Luftsäcken. Vielleicht wird dies eine Forschungsstation für Bewegung. Es ist ja auch allzu bekannt, dass der reine Funktionalismus kaum zum Erwerb einer Ware geführt hat. Und wenn, dann war ein nicht unwesentlicher Teil der Funktionalität die emotionale Energie, die das

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Mobilität als Haltung

Objekt der Begierde zum Tanzen brachte. Ornamente sind Spuren von Bewegungen, von Mobilität.

8 Sprechen und Denken lernt man nicht, weil immer jemand da ist, unbeweglich – sondern wegen der Bewegung: Mal ist etwas fort, mal ist es wieder da. Das Abwesende reizt zum Sprechen und Worte stützen die Passage, bis wieder etwas da ist. Die Abwesenheit kann man aushalten durch geistige Bewegung.

9 Ethik taucht nur dann auf, wenn alles festgefahren ist, Ethik verlangt eine plötzliche Bewegung und aus dieser heraus einen Entschluss, ein Losreißen von Ketten, die uns an nicht mehr greifende Regeln binden. Solche Beweglichkeit will vorbereitet sein, trainiert durch Moral.

10 Mobilität ist oder führt zum Verkehr, zum Nahverkehr, zum Fernverkehr, öffentlich und privat. Darin steckt auch: Kehre, Abwendung und Anwendung. Verkehr entsteht, weil man da, wo man ist oder so, wie man ist, nicht zurechtkommt, nicht zufrieden wird, nach etwas sucht. Von einem Psychoanalytiker wird erwartet, dass er an dieser Stelle sagt: »Geschlechtsverkehr«.

11 Der Verkehr entsteht aus einer mehr oder weniger starken Not, aber auch als Luxus, so wenn man das Heimische verlässt, also keine Standortpolitik betreibt, eine Politik, die sozusagen zum Stehen gekommen ist. Dabei muss man mit verfehlten Treffen rechnen. Und eben auch, dass man auf Unheimliches stößt. Will man Erfahrungen machen, kann Gefahr nicht ausgeschlossen werden.

12 Mit der Gründung von Städten wird der vorläufige Endpunkt der Sesshaftigkeit erreicht. Ein Territorium wird besetzt. Orte bekommen Bestimmungen. Bestimmte Verrichtungen dürfen nur an bestimmten Orten stattfinden. Ansonsten stinkt es nachher überall. Die Kanalisation von Wasser und Ausscheidungen ist die erste Vernetzung durch

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Leitungen – Mobilitätsersatz. Kanalisationen machen Verkehrswege sauberer und sind selber welche. Die Verkehrswege brauchen Flächen und verändern Siedlungsstrukturen, schreiben in die Topographie eine Topologie ein, ein zweites Netz, das Kulturen ungleich schnell und mobil macht. Mit Kilometern und Geschwindigkeit lässt sich das kaum messen und vergleichen. So verringern sich Entfernungen mit den Mobilitätsmitteln und entstehen auch zugleich. Das verändert das Denken und das Fühlen – manchmal extrem.

13 So könnte man meinen, dass manchmal, insbesondere an Feiertagen, eine Art Verkehrsopferkult stattfindet. Die Zahl der Toten und Verletzten steigt an solchen Tagen – absehbar, und die Automobilbesitzer reihen sich in über 20 km langen Schlangen im Freien auf, um dort eine Zeit lang zu verweilen. Die Zahl der Toten insgesamt sinkt zur Zeit. Die Verweildauer steigt. Ruhender Verkehr.

14 Die Sesshaftigkeit führt zu Gründungen, – als Fremdwort – zu »Fundamenten«. So stehen alle hoch differenzierten Kulturen in der Gefahr des Fundamentalismus. Je höher sie entwickelt sind, umso gefährlicher und schwerer wahrnehmbar ist dies. Nomaden sind selten fundamentalistisch. Terror setzt oft an den Verkehrswegen an, dort, wo die Zielobjekte des Terrors weniger geschützt und instabil sind. Fundamentalismus ist die Seuche des Stillstands, die Aufgabe des Differenzierungsvermögens aus Angst, Faulheit und Dummheit. Territorium und Terror sind nicht weit voneinander entfernt. Das christliche Abendland hat das über Jahrhunderte zuletzt im Nationalstaatsdenken exerziert.

15 Standorte brauchen Standards. Und es waren sogar einmal dieselben Worte. Standard leitet sich vom altfränkischen »standord« ab und meint den Aufstellungsort, später markiert durch eine Fahne (die Standarte), dann das Normalmaß. Mobilität als Element und Inhalt pädagogischer Aktionen könnte Standards angreifen. 46

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16 Mobilität braucht Führung, Verführung und Umleitungen – wegen der Hindernisse braucht es Pädagogen, die die Kinder, die Zöglinge führen. (In der Jugendbewegung zog man aus grauer Städte Mauern in die Globalisierung bzw. in die Welt. Da ging auch »Hänschen Klein« hin, kam aber wieder zurück, weil er die mit der Mobilität verbundene Trauerarbeit nicht leisten konnte. Sie erinnern sich an diese Hymne der Symbiotiker?)

17 Nicht auf alles, was (sich) bewegt, kann man intentional zugreifen. Und brisanter noch: Jede Bewegung erzeugt Erfahrungen, die wir noch nacharbeiten müssen, sie bewegen uns noch, wenn wir z.B. schon lange im Bett liegen. Im Schlaf ist die Motilität des Körpers, seine Beweglichkeit, entkoppelt von den Produktionen des Gehirns. Ein Glück! Wir müssten ansonsten im Schlaf alle fixiert werden. Träume enthalten ungeheure Mobilität der Gedanken und auch nachher bringen die erzählbaren Inhalte die Darstellungsmöglichkeiten in Bewegung. Im Traum bekommt man eine Ahnung von dem, was der Mobilität noch nachläuft, wenn wir lange angekommen sind. Und von dem, was schon woanders ist. Wünsche könnte man das nennen. Und das, ohne dass wir uns auch nur ein Stückchen gezielt bewegt hätten. Vielleicht haben wir im Bett gewühlt oder den schlafenden Partner geboxt. Traum und Mobilität hängen eng zusammen.

18 Ein anderer Ideen gebender Ausgangspunkt für pädagogische Näherungen an Mobilität – auch autobiographische – ist der Stoffwechsel. Wir sind in ständigem Austausch, das Blut bewegt sich durch die Verkehrsadern, wir nehmen Luft auf und stoßen sie wieder aus (in unterschiedlichen Richtungen). Mitten durch uns hindurch geht ein Kanal. Da sind wir innen außen. Ich möchte das nicht vertiefen, für die Beschäftigung damit gibt es auch eigens Orte. Jedenfalls: Wenn sich nichts mehr bewegt, bringen viele Leute, gerade bei relativem Wohlstand, sich selber nur noch in Bewegung, indem sie sich Nahrung zuführen – dann spüren sie sich von innen … werden aber unbeweglich. Andere geben Zeugnis ihrer Mobilität, die ja Energie verbraucht, durch tatsächliche oder künstlich errungene Schlankheit. 47

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19 Autobiographien lassen sich als Roadmovies erzählen, als bewegte Bilder. Dies ist manchmal so bewegend, dass sie zum Aufspringen führen. Bewegung ist der Test auf die Realität. Man denke nur an Karussells oder Panoramakinos. Virtuelle Räume werden mit einem Helm auf dem Kopf durchkreuzt.

20 Die Medienentwicklung lebt von Bewegung und Geschwindigkeit. Sie macht Teile von uns mobil, Körperteile, Augen, Ohren, Hände. Der Rest bleibt zu Hause. Das fing mit der Schrift an. Es scheint, dass die einen Empfindungen mit der Mobilität schwinden und andere Empfindungen erst wach werden – neu hinzukommen. Dies führt bis zum Rausch. Der mobile Mensch sucht.

21 Kaufleute waren die Vorbilder der modernen Mobilität. Sie ließen Waren, Geld, Briefe und sich selber zirkulieren. Sie mussten dazu neue Verhaltensweisen ausbilden, neue Denkweisen und Gefühlskonfigurationen.

22 Institutionen sind von der Mobilität gegenwärtig überfordert. Institutionen als Einrichtungen leben von relativ konstanten Bezügen, so die Institution Familie, die Schule, die religiösen Gemeinschaften. So werden mittlerweile einige Funktionen bekannter Institutionen von automobilen Konzernen wahrgenommen. Ein gewaltiger Umbau ist im Gange. Für Pädagogen ist dies das Hauptgeschäft. Sie müssen dann aber auch ausgestattet werden, Ausstattung vorfinden, zur Verfügung haben. Man schickt ja auch keine mobile Einsatztruppe in Freizeitkleidung, mit Trillerpfeifen und Fahrrädern zu Brennpunkten. Und noch mal sei den Einladenden gedankt, dass hier vielleicht eine bessere Ausstattung und vor allem Achtung gegenüber Pädagogen gepflegt wird – nicht uneigennützig. Gemeinnützig kann es erst durch eine gemeinsame Nutzung werden.

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Mobilität

Mobilität Verkehr und Kommunikation als Faktoren der zivilisatorischen Evolution Hermann Lübbe Kulturen lassen sich aufschlussreich unter dem Aspekt ihrer Ausbreitungsdynamik vergleichen – die großen monotheistischen Religionen zum Beispiel, unter denen der Islam von der Eroberung Mekkas durch den Propheten über die Vernichtung des Christentums in Nordafrika hinweg nur gut 100 Jahre benötigte, um bis nach Tours und Poitiers in die Mitte Frankreichs zu gelangen, wo dann Karl Martell diesen Vormarsch stoppte und die christliche Kultur diesseits der Pyrenäen rettete. Das Christentum seinerseits hatte demgegenüber 350 Jahre gebraucht, bis es im römischen Weltreich unter dem Kaiser Theodosius den Status einer politisch verbindlichen Kirche erlangte. Es sind aufschlussreiche Fragen, die sich an solche Unterschiede knüpfen lassen, und so auch an den singulären, inzwischen global gewordenen Ausbreitungserfolg der herkunftsmäßig in Europa entstandenen und dann zunächst im ganzen Westen prägend gewordenen wissenschaftlichtechnischen Zivilisation. Unter dem speziellen Stichwort »Mobilität« soll uns die wissenschaftlich-technische Zivilisation hier beschäftigen, und entsprechend sei zunächst die Frage nach den Gründen des singulären globalen Ausbreitungserfolgs dieser Zivilisation beantwortet. Ich lasse dabei den Gewaltaspekt der Sache, der historisch auch zu dieser Erfolgsgeschichte gehört, beiseite, beschäftige mich also nicht mit dem Kolonialismus, der ja alsbald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zusammenfiel, und lasse auch die Expansionsgeschichte des real existent gewesenen Sozialismus unerwähnt, nachdem dieser inzwischen nur noch in traurigen Relikten auf Cuba oder in Nordkorea präsent ist. Alsdann lässt sich ohne Fahrlässigkeit sagen: Es hat vor allem zwei Gründe, dass die westliche Zivilisation mit ihrer Wissenschaft und Technik sich global auszubreiten, nachhaltig festzusetzen und fortzuentwickeln vermochte. Der erste Grund ist die bezwingende Evidenz der Lebensvorzüge, die einzig in Nutzung der modernen Zivilisation zu haben sind – von den Erfolgen im Kampf gegen Hunger und Krankheit und damit im Sieg über die Armut bis hin zu den Gewinnen an individueller und kollektiver Selbstbestimmungsfähigkeit über elementare Bildung so49

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wie soziale und räumliche Mobilität. Der zweite Grund der globalen Akzeptanz der wissenschaftlich-technischen Zivilisation ursprünglich westlicher Herkunft ist deren Herkunftsneutralität. Anders als noch der aggressive Sozialismus mutet die technische Zivilisation den Angehörigen außerchristlicher Herkunftswelten keinerlei Bildersturm zu. Die Errichtung von Staumauern zur Verbesserung der Energieversorgung wird nicht durch Erweckungspredigten von Zivilisationsmissionaren ausgelöst. Der Straßenbau erfolgt nicht gemäß den Maßgaben Heiliger Schriften, zu denen man bekehrt worden wäre. Auch die MaoBibel ist ja längst abgetan. Das bedeutet mit Blick auf die jeweils eigene Herkunftskultur: Ihre heiligen Stätten bleiben unversehrt, und wo sie doch einmal technischen Großbauten weichen müssen, geschieht das mit konservatorisch-denkmalpflegerischer Professionalität und so mit einem Aufwand, wie er erst über Modernisierungsvorgänge verfügbar wird. Wohlfahrtsgewinne sind mit Autarkieverlusten verbunden. Je moderner wir leben, umso abhängiger werden wir, zumeist zu unserem Vorteil, von den Produkten und Dienstleistungen aus der Arbeit sozial und regional weit entfernter anderer, die ihrerseits an den Resultaten unserer eigenen Tätigkeit partizipieren. Uns soll hier der technische Aspekt der Sache beschäftigen. Stets sind unsere expandierenden wechselseitigen Abhängigkeiten technisch in Netzen realisiert. Netze, die uns verbinden, gibt es viele. Zwei Netze sind die mit Abstand wichtigsten – Verkehrsnetze einerseits und Kommunikationsnetze andererseits. Um nicht zu vergessen, dass es andere Netze auch noch gibt, erinnere man sich zum Beispiel an jene Netze mit dem Zweck mobilitätsfreien Gütertransfers. »Mobilitätsfreier Gütertransfer« – das hört sich änigmatisch an, ist aber ja nichts anderes als die genaue Charakteristik dessen, was wir »Leitungen« nennen – vor allem Energieleitungen, aber auch Leitungen für Energieträger, Wasser- und Abwasserleitungen etc. Experten haben ausgerechnet, dass je nach regionaler Industriestruktur bis zu zehn Prozent des Gütertransferbedarfs statt über Verkehrswege über Leitungen abgewickelt wird. Das bedeutet: Es gibt das Verkehrssystem nicht, das dem Verkehrsbedarf gewachsen wäre, der entstünde, wenn wir uns vorstellten, alle Güter, für die bislang Leitungen verfügbar waren, wären plötzlich über Straßen, Eisenbahnwege oder Kanäle zu bewegen. So oder so: Die beiden wichtigsten Netze sind zweifellos Ver-

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kehrsnetze einerseits und Kommunikationsnetze andererseits. Metonymisch, also in einem signifikanten Detail, lässt sich der Zivilisationsprozess als Prozess der Netzverdichtung beschreiben. Das kann man anschaulich machen, und im Kontext unserer aus nahe liegenden Gründen überaus museumsfreudig gewordenen Zivilisation geschieht das überall in unseren Verkehrsmuseen und speziell in den Schauhäusern für Straßenbaugeschichte – im pfälzischen Germersheim zum Beispiel. Vergleicht man die Straßenkarten verschiedener Jahrhunderte und legt diese Karten transparent gemäß dem Ablauf der Zeit hintereinander, so wird die Zivilisationsgeschichte als Netzverdichtungsgeschichte optisch präsent. Beim flüchtigen Blick über sehr große Zeiträume hinweg glaubt man netzverdichtungshistorisch Kontinuitäten zu erblicken. Fasst man kleine Zeiträume genauer ins Auge, so erkennt man Schübe. Drei dieser Schübe seien hier exemplarisch erwähnt – in Erinnerung an Schulwissen, das uns in einem guten Geschichts- oder auch Geographieunterricht zuteil geworden ist. Einen markanten Schub also brachte die Straßenbaugeschichte des Hochund Spätmittelalters. In Großteilen Europas werden ja in unserer Gegenwart in zahllosen Städten und Dörfern Feiern der Erinnerung an die Gründung dieser Plätze vor 700 oder auch 900 Jahren ausgerichtet. Die Errichtung so vieler neuer Siedlungen, auch Stadtsiedlungen wäre natürlich ohne eine lange Reihe von Innovationen, die die Technikgeschichte gerade des Mittelalters prägen, nicht möglich gewesen. Es bedurfte der Dreifelderwirtschaft, um die Ertragskraft der Böden bis zu Überschüssen zu steigern, ohne die der wachsende Stadtbevölkerungsanteil nicht hätte ernährt werden können. Auch das leistungsfähigere Zugtiergeschirr, insbesondere das breite Brustband der Ochsen oder Pferde, war ernährungswirtschaftlich wichtig. Es erlaubte, tiefer zu pflügen und so die Ertragskraft der Äcker zu steigern. Und innerhalb der Städte selbst wäre die Errichtung von Bauten mit jener Dynamik, die den mittelalterlichen Städtebau tatsächlich prägt, ohne die Erfindung der Schubkarre kaum möglich gewesen, die ja die Kapazität der Bauarbeiter, Steine zu bewegen, um das Vielfache steigerte. Was dann in den Städten erwirtschaftet wurde, vom Handwerk zum Beispiel, war seinerseits über Land zu bringen. Kurz: Weit über das sehr dünne Netz von Römerstraßen hinweg, die Europa bis hin zum Limes durchzogen, verdichtete sich jetzt das Netz der Handelswege zwischen der großen Zahl neuer Plätze rasch, und jede Regionalhistoriographie

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macht uns auf jene Trassen mittelalterlicher Herkunft aufmerksam, die ihrer topographischen Vorteile wegen auch unserem heutigen Straßennetz noch hier und da zu Grunde liegen. Ein zweiter Schub in der Verkehrswegeverdichtung ereignete sich in der von der Nutzung der Dampfkraft abhängig gewordenen Industriegesellschaft, nämlich im Eisenbahnbau seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts. Erst der Eisenbahnbau hat mit seiner dramatischen Steigerung von Transportkapazität und -geschwindigkeit die Entwicklung unserer Städte zu Millionenstädten möglich gemacht. Im Avantgarde-Land der Frühindustrialisierung, in England also, entwickelte sich damals London zur ersten europäischen Millionenmetropole. Auf einen wichtigen Unterschied zwischen Eisenbahnwegen einerseits und Straßen andererseits ist später noch zurückzukommen. Drittens sei noch exemplarisch ein Netzverdichtungsschub erwähnt, an den die Alten unter unseren lebenden Zeitgenossen sich noch aus ihren eigenen Jugendjahren lebhaft erinnern können. Die Sache ist die, dass noch über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus etwa die Hälfte zwar nicht der Dörfer, aber doch der Siedlungen noch nicht an ein ganzjährig störungsfreies, Lkw-fähiges Straßensystem angeschlossen war. Die Siedlungen waren an Sandwegen oder an Schotterstraßen gelegen, und es bedarf nur geringer Phantasie, um sich vorzustellen, was das für die Präsenz von Gebrauchsgütern des alltäglichen oder auch höheren Bedarfs über die Fläche bedeutete – und desgleichen für die Erreichbarkeit von Arbeits- oder Ausbildungsplätzen für pendelnde Berufstätige und Schüler. Es war ein Zeitraum von zehn bis fünfzehn Jahren, innerhalb dessen dann in Nutzung der hochentwickelten technischen Instrumentarien, wie sie die moderne Baumaschinenindustrie zur Verfügung zu stellen vermochte, auch die Verwandlung fast aller Wege in feste Straßen abgeschlossen werden konnte – mit etlichen kulturellen, auch politischen Folgen, von denen noch die Rede sein muss. Verkehr und Kommunikation interagieren, und deswegen muss unter dem Stichwort »Netzverdichtung« nun auch noch speziell von den Kommunikationsnetzen die Rede sein. In den Jahren der Frühindustrialisierung und weit darüber hinaus waren ja Verkehrsnetze und Kommunikationsnetze streckenmäßig identisch. Das bedeutete: Noch zur Goethe-Zeit musste eine jede private Botschaft, jeder Brief, jede kaufmännische Bestellung und jede Rechnung, überdies jede Verwal-

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tungsanordnung und jeder militärische Befehl auf Verkehrswegen transportiert werden – in eins mit dem reisenden Publikum in Kutschen und später dann mit der Eisenbahn. Allein das genügt schon fürs Erste, um zu erkennen, dass anfänglich schwerlich absehbare Folgen mit einer technischen Innovation verbunden waren, die, wenn man sie in ihrer Quintessenz schlicht beschreibt, uns zunächst kaum aufregend vorkommen wird. Ich meine den Vorgang der technischen Ablösung der Kommunikationsnetze von den Verkehrsnetzen. Technikhistorisch begann das bereits in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit der Installation der Überseekabel, die in der Tat eine außerordentliche Bedeutung für die Entwicklung des Personenverkehrs und des Warentransports über sehr große ozeanische Distanzen hinweg hatte – nämlich durch die dramatische Verkürzung der für den Informationstransfer benötigten Zeiten in Relation zu den Zeiten, die man für die Abwicklung des Verkehrs brauchte. Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts begann dann bei wenigstens einem Teilnehmer auf 100 Einwohnern die Installation des Telefonnetzes. Über die Zeit des von mannigfachen politischen und wirtschaftlichen Katastrophen geprägten Halbjahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs vervielfachte sich die Anschlussdichte um das Sechsfache, hier und da auch um das Zehnfache. Die Zeit der informationstechnischen Vollintegration der Bewohner hoch entwickelter Länder einschließlich einer noch immer nicht abgeschlossenen Differenzierung der technischen und sozialen Netznutzungsfolgen fiel dann in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und setzt sich in das neue Jahrtausend hinein fort. Man darf die skizzierte Ablösung der Informationsnetze von den Verkehrsnetzen eine Revolution nennen. Diese Revolution ist die Konsequenz einer Eigenschaft, die für die technisch von den Verkehrsnetzen abgelösten Informationsnetze erreichbar ist, nicht hingegen für die Verkehrsnetze: Informationsnetze lassen sich schließen – jeder Netzteilnehmer ist direkt mit jedem anderen Netzteilnehmer umwegfrei verbunden, und Netze genau dieser Struktur sind zentrumslos. Sie wirken entsprechend dezentralisierend. Sie verteilen die Zugangsmöglichkeiten zu Informationen und damit deren Austauschmöglichkeiten homogen über die Fläche. Die ökonomischen, kulturellen, ja sogar die politischen Folgen dieses Vorgangs der Gleichverteilung von Partizipationschancen über die Fläche vergegenwärtige man sich in eins mit den bereits erwähnten, nämlich verkehrsnetzverdichtungsabhängig

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bewirkten Vorgängen der modernen Mobilität von Personen sowie der dezentralisierten Zugänglichkeit nicht aller, aber doch fast aller Güter zur Bedienung unserer elementaren und auch gehobenen Ansprüche. Von den kulturellen Konsequenzen dieses Vorgangs möchte ich eine einzige, aber signifikante anschaulich machen, nämlich das aktuelle und sehr rasch ablaufende Verschwinden einer sehr alten Differenz, die alle Hochkulturen von ihren Anfängen an über Jahrtausende hin bis fast in unsere Gegenwart hinein geprägt hat: die Differenz von Stadt und Land. Bevor ich in der gebotenen Knappheit diese Veranschaulichung versuche, möchte ich zunächst auch noch die dezentralisierenden Wirkungen von Netzverdichtungsvorgängen anschaulich machen. »Alle Weg führen nach Rom« – so lernten wir in der Schule, und beabsichtigt war damit, die singuläre Stellung, zu der die Stadt Rom im antiken mediterranen Weltreich gelangte, behaltbar zu machen. Überdies mochte man dann mit dem zitierten Spruch den universellen Anspruch der römischen Kirche bis in die Zeiten des kulturkämpferisch so genannten Ultramontanismus hinein verbinden. Man kann »Alle Wege führen nach Rom« aber auch verkehrswegehistorisch hören. Dann meint man das zentrumsorientierte System der Eisenbahnstrecken, die aus allen Himmelsrichtungen auf große Zentren und so auch auf Rom zuzulaufen pflegen. Die kleinen Ortschaften Fiumicino oder Civitavecchia, auch Castelgandolfo oder Frascati verhalten sich größenordnungsmäßig zu Rom wie Satelliten, und die Eisenbahnstrecken, durch die sie mit dem Zentrum verbunden sind, führen wie Radialen in dieses hinein. Analoges gilt für München und Münster, für Wien und Moskau und für Paris oder Warschau. Zentrumsbildende Kräfte gibt es viele. Aber die Pragmatik des Verkehrs in dünnen Netzen verstärkt diese Kräfte wirksam. Man vergegenwärtige sich das noch einmal am Beispiel Roms. Wer von Fiumicino aus, wo sich heute der Flugplatz Roms befindet, mit der Eisenbahn einmal sich nicht nach Rom selbst begeben möchte, vielmehr nach Castelgandolfo, was ja immer wieder einmal vorkommt, muss den Umweg über Rom nehmen. Man erkennt: Ein Zentrum ist, verkehrstechnisch gesehen, der Platz, den man umwegehalber passieren muss, wenn man, statt ins Zentrum selbst, in einen wegetechnisch gesehen untergeordneten Nachbarort reisen möchte. Ort des unvermeidlichen Umsteigens und damit der Ort unvermeidlicher Zwischenaufenthalte zu sein – das macht das Zentrum natürlich für die Anlagerung zahlloser ökonomischer und kultureller Funktionen interessant 54

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und optimiert damit zugleich deren Zugänglichkeit. Das also ist die Pragmatik, die, wie schon erwähnt, London als erste europäische Metropole im Zeitalter des Eisenbahnbaus zur Millionenstadt sich hat entwickeln lassen. Eisenbahnnetze sind nun aber, noch einmal, dünne Netze, nämlich in Relation zu den inzwischen extrem dicht gewordenen Straßennetzen. Und eben diese Netzverdichtung ist es, die in Kombination mit der Wirkung der ihrerseits sehr viel dichteren, nämlich sogar geschlossenen Kommunikationsnetze für fortschreitende Gleichverteilung der Chancen des Zugangs zu Gütern und Informationen über die Fläche hin sorgen. Eben damit nimmt die relative ökonomische und kulturelle Bedeutung der alten Zentren ab. Siedlungstechnisch bedeutet das, dass sich die Regionen zwischen den alten Zentren mit so genannten Zwischenstädten füllen, in denen man nicht nur wohnt, vielmehr vom Gymnasium bis zur Fachhochschule auch Ausbildungsmöglichkeiten findet, überdies in zahllosen Gewerbegebieten Arbeitsplätze und Märkte für Güter aller Art. Diesen verkehrsnetzverdichtungsabhängigen Vorgang der Dezentralisierung kann man sich sogar anschaulich machen, nämlich durch die Nachtansicht unserer Erde aus Raumfahrerdistanz gesehen, wie sie uns heute durch Satellitenfotos vermittelt wird. Gewiss: Die Lichtemission des riesigen Moskau ist unzweifelhaft die eines Zentrums. In London hingegen oder auch in den bevölkerungsreichen Siedlungsräumen der Benelux-Länder, die sich über Rhein und Ruhr und Main und Neckar hinab über einige Alpenpässe hinweg bis nach Oberitalien oder weiter östlich auch die Donau hinab erstrecken – überall dort sind die alten Zentren in diffuse Lichtbänder hinein aufgelöst. In dieser diffusen Lichtverteilung spiegelt sich der von sehr dicht gewordenen Verkehrs- und Kommunikationsnetzen ausgehende Effekt der Gleichverteilung zivilisatorischer Partizipationschancen über die Fläche. Das damit verbundene Verschwinden des Unterschieds von Stadt und Land als einer Kulturdifferenz möchte ich noch mit einem Vergleich aus der Universitätsgeschichte anschaulich machen. Die großen und erfolgreichen Universitätsneugründungen des 19. Jahrhunderts, also im Jahrhundert des Eisenbahnbaus mit seinen dünnen Netzen, waren in der Tat metropolitane Gründungen – so in Berlin oder dann auch durch die Verlagerung der altbayerischen Universität zu Ingolstadt nach München. Auch die Universität zu London wurde bekanntlich erst im frühen 19. Jahrhundert errichtet. Die am Beispiel Roms 55

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erläuterte Vorzugsstellung der Metropolen in Räumen, die durch relativ dünne Netze zusammengebunden werden, macht das plausibel. Heute lassen sich stattdessen Universitäten buchstäblich im Walde gründen, sehr erfolgreiche Universitäten sogar – so im Teutoburger Wald einerseits und in den Wäldern des Bodanrücks andererseits. Ich habe damit die Universitäten Bielefeld und Konstanz erwähnt. Das sind doch, so hätte man im 19. Jahrhundert gedacht, Plätze tiefer Provinz in Relation zu Berlin oder Wien. Indessen: Das allerwichtigste studienpraktische Arbeitsmaterial, nämlich die Information, ist ja netzverdichtungsabhängig omnipräsent geworden, und einzig noch, wer die alten Papyri als Paläograph im Original studieren müsste, kommt nicht umhin, sich in die alte Kulturmetropole, wo sie gelagert und konserviert sind, zu begeben. Für Studien hingegen, wie sie heute im Regelfall ablaufen, genügt Pendlermobilität, um rechtzeitig im Hörsaal oder am Labortisch zur Stelle zu sein. Im Parkraumbedarf moderner so genannter Provinzuniversitäten spiegelt sich das. Stadt und Land – dieser Unterschied hat, gewiss, auch heute noch Realität, aber eben nicht mehr als ein Unterschied von Siedlungsräumen, zwischen denen ein markantes Gefälle von Chancen der Partizipation an Gütern und Informationen und damit ein Unterschied von Kompetenz- und Kulturniveaus auffällig wäre. Je höher unser Wohlfahrtsniveau liegt, umso empfindlicher werden wir gegenüber allerlei unangenehmen Nebenfolgen der technischen Voraussetzungen unserer Wohlfahrt. Im historischen Vergleich heißt das: Im Unterschied zu den Zeiten des Smogs der Frühindustrialisierung, als in Großbritannien Dickens schrieb, leben heute die Londoner geradezu unter den Bedingungen einer atmosphärischen Sommerfrische. Nichtsdestoweniger hat sich ihre Empfindlichkeit gegenüber residualen oder auch neu hinzugekommenen Beeinträchtigungen ihrer atmosphärischen Wohlfahrt bedeutend gesteigert. Das sollte man nicht beklagen. Ganz im Gegenteil: Den Fälligkeiten moderner Umweltpolitik kommt das zustatten und auch das Verkehrsverhalten wird durch diesen Effekt günstig beeinflusst. An unserem Umgang mit den Lästigkeiten des Staus auf Autobahnen und anderen Straßen lässt sich das ablesen. Dass wir es mit den fraglichen Staus überhaupt zu tun bekommen haben, beruht natürlich auf einem außerordentlichen Vorzug, den unter den Verkehrswegen die Autostraßen gegenüber den Eisenbahnen aufzuweisen haben. Welcher Vorzug ist gemeint? Es handelt sich um den Unterschied, dass die vergleichsweise relativ dünnen 56

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Eisenbahnnetze nur gemäß zentral konzipierten und exekutierten Fahrplänen genutzt werden können, auf die wir uns als Nutzer einzustellen haben. Pünktlichkeit auf die Minute ist uns abverlangt, und in der Tat hat nichts so sehr wie der Eisenbahnverkehr die zivilisatorische Omnipräsenz der Uhr erzwungen. Autoverkehrsstraßen hingegen kennen im Regelfall zentral konzipierte und veranstaltete Verkehrsbewegungen nicht. Millionen Pkw-Eigner entscheiden nach ihren individuellen Präferenzen, ob und wann sie ihr Fahrzeug in Bewegung setzen, ob sie die Vorzüge von Fahrgemeinschaften nutzen möchten oder ihrer Nachteile wegen lieber auf sie verzichten, ob und bei welcher Gelegenheit sie das eigene Auto in Anspruch nehmen oder ein Taxi rufen etc. Die Verkehrseffekte, die sich gesamthaft ergeben, resultieren nicht aus der Exekution eines Plans. Es handelt sich vielmehr um Effekte der Kumulation individueller Entscheidungen, die sich einzig statistisch verarbeiten lassen, die in individuellen Reaktionen auf erfahrungsgemäß sich wiederholende Lästigkeiten wie die besagten Staus nach Auswegen suchen lassen, deren Kapazität alsbald ihrerseits in Gestalt verstopfter Schleichwege erschöpft zu sein pflegt, was dann schließlich die zumeist öffentlichen Verkehrswegeträger zu prognostisch kalkulierten Ausbaumaßnahmen veranlasst. Der besagte Stau, der, noch einmal, ein Phänomen in Verkehrsnetzen ist, auf denen die Verkehrsmittel, anders als bei der Eisenbahn, gemäß individuellen Entscheidungen der Verkehrswegenutzer bewegt werden, ist nichts anderes als ein besonders auffälliges Detail aus der Fülle lästiger Nebenfolgen, die mit der individuellen Pkw-Mobilität verbunden zu sein pflegen. Es erübrigt sich, mit der Aufzählung solcher lästigen Nebenfolgen fortzufahren – von den ruhestörenden Fahrgeräuschen, die sich in wohlrestaurierten alten Dorfzentren aus nostalgisch erneuerten Kopfsteinpflasterungen ergeben müssen, bis hin zu den weniger harmlosen Neigungen Jugendlicher, in schulkinderreichen Wohnstraßen zu schnell zu fahren. Die Mittel der Gegensteuerung beschäftigen unsere Räte und zuständigen Verwaltungsinstanzen alltäglich – vom Verzicht auf das erwähnte Nostalgiepflaster zu Gunsten einer neuen Straßendecke aus Flüsterasphalt bis hin zur Verlegung der als Rennstrecke missbrauchten Wohnstraße mit Schwellen, die zum Langsamfahren zwingen, ihrerseits aber die unangenehmen Motorgeräusche eines »Stop-and-go«-Verkehrs auslösen etc. So oder so: Auf die Vorzüge moderner Pkw-Mobilität möchte und kann fast niemand verzichten, aber die Empfindlichkeit gegen die Beeinträchtigun57

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gen unserer Wohlfahrt durch Nebenfolgen moderner Mobilität wächst wohlfahrtsabhängig auch. Das sind die Zusammenhänge, die seit langem schon darüber haben nachdenken lassen, ob es denn nicht Sektoren moderner Lebensverbringung gäbe, in denen wir es uns zu unserem eigenen Vorteil leisten könnten, Pkw-Mobilität durch etwas anderes zu substituieren. Wir lebten nicht in einer dynamischen und somit innovationsreichen Zivilisation, wenn auf die gestellte Frage nicht längst zahllose Antworten, produktive wie unproduktive, wichtige und marginale, gefunden wären – von der Findigkeit der Studenten, die in etlichen mittelgroßen Universitätsstädten wie Erlangen oder Münster den innerstädtischen alltäglichen Mobilitätsbedarf mittels Fahrrad bedienen, bis hin zur Einrichtung großer Pendlerparkplätze in Regionalbahnhofsnähe, die ihrerseits im Taktverkehr von komfortablen, freilich subventionsbedürftigen Vorortbahnen bedient werden. Als Generalidee einer solchen Automobilverkehrssubstitution beschäftigt uns inzwischen auch der Gedanke, Verkehr durch Informationstransfer zu ersetzen. Von der kulturrevolutionär wirksam gewordenen technischen Ablösung der Informationsnetze von den Verkehrsnetzen war ja die Rede, und der Gedanke ist in der Tat nahe liegend, aus dieser Ablösung partiell eine Ersetzung zu machen. Wozu reisen, wenn ich, was ich einem anderen zu sagen hätte, ihm statt an Ort und Stelle auch telefonisch sagen oder mailen könnte? Es genügt, diese Frage zu stellen, um zu erkennen, dass, im Wesentlichen nämlich, die Ersetzung des Verkehrs durch Information, soweit sie tatsächlich möglich ist, längst schon stattgefunden hat. Die fragliche Substitution ist ein Teil, ja ist der wesentliche Sinn der technischen Revolution, die mit der Ablösung der Informationsnetze von den Verkehrsnetzen von Anfang an verbunden war. Lediglich in schmalen oder dann und wann auch einmal etwas breiteren Sektoren finden zusätzliche Substitutionen von Verkehr durch Informationstransfer statt – in jenen Telefonkonferenzen zum Beispiel, die ja nun auch schon mehr als ein Vierteljahrhundert alt sind. Jeder Talkshowliebhaber kennt das aus der virtuellen Präsenz von Diskussionsteilnehmern, die als telekommunikativ zugeschaltete Subjekte zu uns sprechen. Ungleich wichtiger als solche Substitutionen sind die technischen Interaktionen von Verkehr und Kommunikation – zum Beispiel in Gestalt der altvertrauten Verkehrsnachrichten, die uns vor Staus warnen und Ausweichstrecken offerieren, oder auch in jenen noch in Entwicklung befindlichen Systemen elektronisch vermittelter aktueller Verkehrszählung, auf die mit 58

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gleichfalls elektronisch gesteuerten Systemen kapazitätsoptimierender Verkehrslenkung reagiert werden kann. Es gibt also Substitution von Verkehr durch Information und Verkehrsoptimierung mittels Information gleichfalls. Ungleich wichtiger bleibt, dass die informationstechnische Integration moderner Gesellschaften Verkehr nicht nur substituiert und optimiert, vielmehr Verkehr zugleich zusätzlich erzeugt. Dafür möchte ich noch abschließend zwei Beispiele bringen, die uns diese Zusammenhänge anschaulich machen, und zwar ein Beispiel aus dem privaten Lebensbereich und ein weiteres Beispiel öffentlichen politischen Charakters. Die fraglichen Beispiele sind durchaus marginaler, aber signifikanter Natur, und in ihrem Kumulationseffekt mit anderen exemplarischen Vorgängen analoger Art sind sie zu einem prägenden Teil zivilisatorischen Alltags geworden. Also: Die Großfamilie sei abgestorben, meint residuale Kulturkritik. Wahr ist, dass drei oder gar vier Generationen höchst selten noch familiär unter einem Dach wohnen. Aber in unsere modernen Kommunikationsnetze sind wie nie zuvor großräumige familiäre Beziehungen eingehängt. Das alles bleibt nicht virtuell, wird vielmehr dann und wann oder sogar regelmäßig in Familientreffen umgesetzt, zu denen man einschließlich aller noch mobilen Onkel und Tanten, Vettern und Kusinen sogar zweiten und dritten Grades sich an amönen Plätzen versammelt, die mit der Familiengeschichte verbunden sein mögen. Analog gibt es die Klassentreffen, Alumnenversammlungen aller Art, und auch das moderne Vereinswesen hat seine mobile Seite. Und die Politik? Der Informationsbeschaffungsbedarf der öffentlichen Verwaltung, gewiss, lässt sich ja überwiegend auch über Aktentransfers bedienen und in wachsendem Umfang überdies elektronisch. Aber selbst ein schlichter Kreisparteitag ist gerade in unserer medial integrierten Gesellschaft auf machtvolle, das heißt zahlreiche leibhaftige Präsenz der Parteifreunde angewiesen. Einzig dadurch nämlich wird aus der Veranstaltung schließlich ein medienfähiges Ereignis, von dem damit auch die Bürger des Kreises Kenntnis nehmen. Und hat man, nämlich in Wahlkampfzeiten, ausnahmsweise einmal sogar den Besuch des Bundesparteichefs zu erwarten, so ist allein schon aus Gründen der massenmedialen Bedeutung eines solchen Ereignisses ein maximaler Einsatz von Bussen verpflichtet, der die Parteifreunde kostenlos zur medial relevanten Großveranstaltung bringt. Für Gewerkschaftstage, Großverbandsjahrestreffen und auch Staatsbesuche 59

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gilt Analoges. Das bedeutet: Das Informationssystem, das in der Tat Verkehr substituiert, evoziert ihn zugleich. Im Resümee heißt das: Die Menschheit ist seit ihrem Übergang zur Sesshaftigkeit mobil, und selbst noch die mannigfachen Formen der Substituierung der Mobilität sind im Endeffekt stets nur Beiträge zu ihrer Optimierung. Prof. Dr. Lydia Murmann, Prof. Dr. Wolfgang Sting, Prof. Dr. Hermann Lübbe (vorne, v.l.n.r.)

Diskussion Annette Rauterberg-Wulff, Umweltbundesamt: Die dargestellte Netzwerkverdichtung klang sehr positiv: je dichter die Netze, desto höher der Entwicklungsstand. Allerdings hat so ein Netz, zumindest das für den Straßenverkehr, für den wirklich materiellen Transport, auch einen hohen Flächenbedarf. Gibt es da ein Optimum, eine Grenze, bis wohin sich so ein Netz verdichten lässt? Müssten wir uns nicht auch darüber Gedanken machen? Wie viel Mobilität brauchen wir eigentlich und führt es irgendwann zu negativen Effekten? Nicht immer muss es positiv sein, alles kreuz und quer durch die Gegend zu tragen: die Kar-

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toffeln zum Waschen nach Italien und wieder zurück … Das hat sicherlich keinen richtigen Wohlstandseffekt, sondern wird durch andere Bedingungen hervorgerufen. Wie kann man damit umgehen? Hermann Lübbe: Diese Frage betrifft gleich einen entscheidenden Punkt und ich habe sie insbesondere bei Verkehrskongressen im Detail immer wieder behandelt. Was ich geschildert habe, sieht zunächst aus wie ein sich ständig fortsetzender Prozess, bei dem man gar nicht sieht, wo er enden soll. Aber wir haben doch schon im Mathematikunterricht gelernt, dass Exponentialkurven eben nur in der Mathematik so laufen – in der Wirklichkeit muss irgendwann zur Landung angesetzt werden. Und das ist selbstverständlich auch in der Entwicklung der Netze und insbesondere des Verkehrs der Fall. Die nicht erträglichen Nebenfolgen des Verkehrs sind die wirksamsten Faktoren für eine Regelung eines verkehrsabhängig gewordenen Zivilisationssystems. Der Stau ist hierbei nur eine beliebige dieser Nebenfolgen. Es gibt daneben zahllose andere. Kurz gesagt: Es ist eine wunderbare prästabilisierte Harmonie – als sei die Schöpfung schon vom Schöpfer einschlägig wohltätig eingerichtet – dass je besser es uns schon geht, je größer die Wohlfahrt ist, derer wir uns erfreuen, umso empfindlicher wir zugleich für unangenehme Nebenfolgen werden. Bernd Schwarz, Schulleiter in Dörpen: Ein Beispiel für eine Folge: Ich denke an einen typischen Schüler, der morgens direkt vom Internetchatten mit seinem Fahrrad zur Schule fährt und trotz Dunkelheit aus Bequemlichkeit seinen Dynamo nicht anstellt – und sich damit selbst in Gefahr bringt. Er chattet jeden Tag weltweit im Internet, kennt sämtliche Verkehrswege – und bringt sich doch durch sein persönliches individuelles Verhalten in Gefahr. Das kann man auch auf andere Beispiele übertragen … Karl-Josef Pazzini: Dies weist auch darauf hin, dass es auf der einen Seite eine technische Entwicklung und damit Möglichkeiten gibt und auf der anderen Seite dies dann auch in eine Art Mobilität umgesetzt werden muss – in der Emotionalität, im Denken und in den daraus resultierenden Handlungen. Ich verstehe das so, dass der Schüler diese beiden Bewegungsräume nicht zusammenbekommt. Es fällt eine gan-

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ze Menge an Arbeit und Differenzierungsnotwendigkeit an. Es braucht seine Zeit – die Leute müssen sich daran gewöhnen. So hat Heinrich VIII. bekanntlich 40.000 Leute an den Straßen hängen lassen, die nicht pünktlich oder unregelmäßig zur Arbeit gekommen sind. Pünktlich zu sein, ist nicht einfach so ein Entschluss, den man fasst – es ist ein langwieriger Erziehungsprozess. Und so hat Heinrich VIII. diese vielen Menschen hängen lassen – an den Verkehrswegen, damit sie auch alle gesehen werden. Daran kann man sehen, was das für eine Arbeit ist. Hermann Lübbe: Heute wirkt sich dann der Kostenfaktor aus. Es ist für ein modernes Arbeitssystem hinderlich, wenn die Menschen nicht aus Mangel an Tugend, sondern aus Mangel an Gelegenheit unpünktlich kommen. Das ist unerträglich und da treten dann die Effekte ein – sozusagen der Zusammenstoß mit der Realität, von dem immer der wirksamste pädagogische Erziehungseffekt ausgeht. Heinz-Dieter Brandt, Schule am Gutspark in Salzgitter-Flachstöckheim: Wir haben uns an der Schule in den vergangenen Jahren auch sehr intensiv mit all den Fragen zur Mobilität beschäftigt. Aber ich muss Ihnen doch noch eines sagen: Wir müssen dafür unsere ganz einfache »deutsche« Verkehrserziehung und den Verkehrsunterricht nicht aufgeben. Einem Schüler in der ersten Klasse kann ich all die Dinge so nicht vermitteln, die sicherlich ganz richtig und wichtig sind. Dem muss ich nämlich das vermitteln, was Herr Schwarz sagt: Ich muss meinen Dynamo anschalten; ich muss Sachen anziehen, die in der Dunkelheit leuchten; ich muss vernünftig auf dem Fußweg und nicht auf der Straße spazieren gehen und auf der Landstraße auf der richtigen Seite laufen. Diese Sachen muss ich vermitteln! Es ist zu hoffen, dass durch das neue Curriculum, Herr Roselieb, das Sie hier vorstellen, diese Informationen nicht verloren gehen. Das sollten wir höchstens als Ergänzung nehmen, aber wir müssen die einfache Verkehrserziehung weiterhin aufrechterhalten. Denn diese ist die grundlegendste Aufgabe von uns Lehrern. Carmen Scher: Natürlich ist es ganz wichtig, das signalisieren sämtliche Lehrer, die in die Autostadt kommen, dass es auch die traditionelle Verkehrserziehung gibt. Natürlich muss ein Kind auch lernen: »Da ist

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rechts, da ist links und das ist ein Zebrastreifen«. Das Curriculum Mobilität bleibt dabei aber nicht stehen, sondern geht darüber hinaus. Das Curriculum will kein Verlust, sondern ein Gewinn sein. Man kann schlecht einem 16-jährigen Menschen beibringen: »Okay, du guckst rechts und links und gehst über einen Zebrastreifen über die Straße« – der ist dann beleidigt. Der braucht etwas anderes, wenn er im Thema bleiben soll. Ich denke, Herr Roselieb, und das habe ich doch immer richtig verstanden, dass wir da an einem Strang ziehen, oder? Horst Roselieb: Herr Brandt, ich gebe Ihnen völlig recht. Die Elemente der Verkehrssicherheitsarbeit sind im Curriculum enthalten, die sind nicht irgendwie verschwunden, sondern gehören dazu. Und wir bewegen uns immer auf verschiedenen Ebenen, und – wie eine Werbung so schön sagt – wir öffnen Horizonte oder wir machen den Weg frei. Das ist etwas, was das Curriculum auch leisten soll: aus einem Erziehungsprozess, der sich im Wesentlichen darauf beschränkt hat, sich anzupassen an bestehende Verhältnisse, in einen Prozess zu gelangen, der eine partizipatorische und eine gestalterische Seite hat. Und wir und unsere Schülerinnen und Schüler sind diejenigen, die die Zukunft und die Welt gestalten müssen und werden. Und sie sollen, denke ich, auf diese Aufgabe sehr umfassend vorbereitet sein. Dazu gehört natürlich auch, dass sie an ihre eigene Sicherheit denken und dazu müssen wir ihnen gelegentlich auch den einen oder anderen Hinweis geben. Insofern widerspreche ich Frau Scher, was den 16-Jährigen betrifft. Auch dem muss man manchmal sagen: »Pass mal ein bisschen besser auf dich auf!« Hermann Lübbe: Ein kleiner Vorschlag zur Verkehrssicherheit: Die Philosophen sind in gewisser Weise nur Spezialisten für das Allgemeine und wissen nichts Bestimmtes sehr genau. Aber dafür haben sie eine gewisse Kunst, Fragen zu stellen, entwickelt – und diese kann dann und wann nützlich werden. Deshalb ist zu fragen, ob man einen der Hauptmängel insbesondere auch im elterlichen Beitrag zur Verkehrserziehung sehen kann – der Beitrag der Eltern ist für elementare Bewegungen ungleich wichtiger als alles, was die Schule leisten kann. Denn eines haben die Eltern im Regelfall lange nicht getan: die Kinder hinten im Auto anzuschnallen. Diese Bewegung ist großmächtig im Gang. Mein Vorschlag dazu ist: Könnte nicht die Autoindustrie dazu

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übergehen, durch eine sehr einfache elektronische Vorrichtung dafür zu sorgen, dass erst nach Anschnallen das Fahrzeug überhaupt gestartet werden kann? Ursula Tiedemann, Koordinatorin am Gymnasium Winsen-Reudorf: Der Faktor Eigenverantwortung ist ein ganz wesentliches Merkmal, der in den curricularen Vorgaben unbedingt beachtet werden muss und auch diskutiert werden sollte. Ich habe da einen 18-Jährigen vor meinem geistigen Auge, der mit seinem Auto mit 220 PS auf dem Schulhof parkt … Horst Roselieb: Das passt sehr gut zum Thema des Symposiums: Das »Auto« – das Selbst – muss das leisten. Hermann Lübbe: So ist es: Je moderner wir leben, desto wichtiger wird die Selbstbestimmungsfähigkeit und umso geringer wird auf lange Sicht gesehen unsere Betreutheit. Da muss auch unser Staat noch vieles lernen. Welche ungeheure Wirkung hätte es, wenn wir unser Versicherungssystem so umstellen würden, dass bestimmte Unfälle mit evidenter Selbstverschuldung gar nicht oder zu geringerem Anteil unter Versicherungsschutz fielen. Aber so etwas zu sagen, ist nicht sehr populär. Matthias Knobloch, ACE Auto Club Europa: Ein Beispiel sei genannt, das die Eigenverantwortung, Verkehrssicherheit und das Curriculum zusammenführt. Man stelle sich eine Schule und ganz viele Autos jeden Morgen vor der Schule vor. Was die eigentliche Verkehrssicherheitsarbeit angeht – da geht man in die Schule hinein und sagt: »Ja, liebe Schüler, ihr müsst aufpassen, morgens um acht sind ganz viele Autos vor der Schule. Da müsst ihr nach links gucken und da müsst ihr nach rechts gucken« usw. usf. Wenn ich eine Stufe weitergehe, dann stelle ich mir natürlich die Frage, warum denn die Autos vor der Schule sind. Doch deswegen, weil die Eltern ihre Kinder morgens um acht dahin bringen. Da ist der Punkt, wo das Curriculum einsetzt – denn mit der klassischen Verkehrssicherheitsarbeit komme ich da nicht weiter. Damit wird nur auf das Problem reagiert, aber nicht versucht, es aktiv anzugehen. Und das ist ein Punkt, da kann man über dieses relativ einfache Beispiel auch in das Thema der Eigenverantwortung einsteigen. Dies kann auf einer 64

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ganz großen ethischen Ebene versucht – oder auf ein relativ kleines Beispiel gebracht werden. Und da passt es auch, wenn man mit diesem plakativen Beispiel direkt bei der Schule, direkt vor Ort anfängt. In Bezug auf die Eigenverantwortung gesehen: Wenn man solche einfachen Beispiele bis zur Moral vernetzen kann und wenn man das Ganze zusammenbringt, dann kann das Curriculum auch gelingen. Erwin Curdt: Ich verantworte dieses Curriculum mit und will Ihnen deshalb auch gern eine Antwort geben. Erstens, wir wollen bewusst einen Abstand zur tradierten Verkehrserziehung nehmen, weil wir der Auffassung sind, dass die bisherige Konzeption höchstens für den Grundschulbereich gereicht hat, aber niemals bis zum Abitur – im fächerübergreifenden Lernbereich. Zweitens ist es richtig beobachtet, dass im Primarbereich Verkehrssicherheitsthemen dominieren. Wenn wir es etwas zuspitzen, könnten wir es in den Klassen eins bis vier vielleicht noch »Verkehrserziehung« nennen, weil es zwei Standardthemen gibt, die auch im Curriculum verankert sind – nämlich die Schulwegsicherheit und das Thema Radfahren. Aber dann, spätestens in der siebten und achten Klasse, hört es auf. Und da darf ich an noch etwas erinnern: Obwohl wir in der ganzen Bundesrepublik diese Themen wie Schulwegsicherheit und Radfahren durchführen – man schaue sich an, wie das ganze Radfahrverhalten später in der neunten Klasse aussieht: Die Wirkungen im Hinblick auf die Nachhaltigkeit sind gleich Null. Wenn wir dieses Phänomen Verkehr nur auf Verkehrssicherheit reduzieren, kommen wir mit dem Thema nie in den Interessenhorizont der Schülerinnen und Schüler hinein und deshalb ist dieses Symposium auch dafür geeignet, den Blick zu weiten. Ich bitte darum, nicht den Blick zu verengen – mit Tunnelblick auf den Primarbereich.

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Mobilität szenisch

Mobilität szenisch Spiel- und Lernraum Theater Wolfgang Sting

Performance »Faszination Mobilität« Die Performer A, B und C sitzen im Zuschauerraum. Sie halten jeweils einen Satz Autoquartettkarten in der Hand. Als der Vortrag zum Thema »Mobilität szenisch« angekündigt wird, stehen sie von ihren Plätzen auf, gehen durch die Reihen Richtung Podium und sprechen auf dem Weg dorthin einzelne Zuschauer an. A: Auf das futuristische Design steh ich nicht, aber die Beschleunigungszeit ist faszinierend. B: Der hier wurde nur zwei Jahre lang produziert. In den Jahren 1971 und 1972. Ein klasse Sammlerstück. C: Kennen Sie den? Der stellt alle anderen in den Schatten. A: Der Ferrari »Mythos« Pininfarina. Sieht zwar gut aus, bringt es aber nicht. B: Einmal in dem Ferrari 365 GTC mit Vollgas auf der Autobahn, das ist mein Traum! C: Der Supertrumpf! Ferrari Enzo Ferrari, Baujahr 2002! B hat das Podium erreicht und ruft A und C zu sich. B: Los, Mädels, spielen wir ’ne Runde? B mischt die Quartettkarten und verteilt sie. Spielrunde 1 wird eröffnet. Sie wird realistisch dargestellt. A: Ferrari 512 Spider, Baujahr 1971. Hubraum: 4994 ccm. B: Ferrari 456 M GT, Baujahr 1998, Hubraum: 5474 ccm. C: Ferrari GTO, Baujahr 1984, Hubraum: 2855 ccm. B erhält als Gewinner der Spielrunde die eingesetzten Karten, nach einem Freudensprung beginnt er im Kreis zu rennen. A und C rennen hinter ihm her. Währenddessen startet Spielrunde 2: 67

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Wolfgang Sting

B: Ferrari Enzo Ferrari. Baujahr 2002. Tempo: 350 km/h. C: Ferrari 365 P Special. Baujahr 1967. Tempo: 245 km/h. A: Ferrari 230 GT SWB. Baujahr 1960. Tempo: 230 km/h. B stoppt in Siegerpose, C prallt auf B, A prallt auf C. A, B und C formieren sich zu einer Reihe. A,B,C:

PIEP!

A, B und C ziehen jeweils einen Zettel aus der Hosentasche und verlesen in Artikulation und Tonation einer Nachrichtensprecherstimme gleichzeitig folgende Notizen: A: A3 Frankfurt, Richtung Köln, zwischen Dreieck Heumar und Kreuz Köln-Ost 2 km Stau. B: A3 Würzburg, Richtung Nürnberg, zwischen Höchstadt-Nord und Pommersfelden Baustelle, 2 km Stau. C: A27 Bremen, Richtung Walsrode, zwischen Raststätte Langwedel-Daverden und Verden-Nord Unfall, 2 km Stau. Start der Spielrunde 3. Die Körperbewegungen von A, B und C vollziehen sich in Zeitlupe, auch die Aussprache ihrer Worte ist verlangsamt. A: Ferrari S12 Spider. Baujahr 1971. Beschleunigung von 0 auf 100 km/h: 3 sek. B: Ferrari Dino 246 GT. Baujahr 1969-1973. Beschleunigung von 0 auf 100 km/h: 7,2 sek. C: Ferrari 641/2. Baujahr 1990. Beschleunigung von 0 auf 100 km/h: 2,9 sek. A,B,C:

PIEP!

A, B und C formieren sich zu einer Reihe, ziehen wieder jeweils einen Zettel aus der Hosentasche und verlesen in Artikulation und Tonation einer Nachrichtensprecherstimme gleichzeitig folgende Notizen:

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Mobilität szenisch

A: A3 Köln, Richtung Frankfurt, zwischen Lohmar und Siebengebirge 14 km Stau, hier ist die Fahrbahn stellenweise immer noch vereist. B: A73 Feucht, Richtung Nürnberg, zwischen Kreuz Nürnberg-Süd und Nürnberg-Zollhaus 2 km Stau. C: Im Landkreis Hameln-Pyrmont ist mit Straßenglätte zu rechnen. Start der Spielrunde 4. Sie wird realistisch dargestellt. A: PIEP! A2 Köln, Richtung Frankfurt, 20 km Stau. B: PIEP! A2 Dortmund, Richtung Hannover, 36 km Stau. C: PIEP! A7 Hamburg, Richtung Hannover, 64 km Stau. C erhält die eingesetzten Karten. Start der Spielrunde 5. A, B und C haben eine hektische Aussprache, ihre Stimmen überschlagen sich, mit großen Gesten unterstreichen sie jeweils das Gesagte. C:

PIEP! PIEP! PIEP! Achtung! Auf der A2 zwischen Lohmar und Siebengebirge befindet sich ein Geisterfahrer auf der Fahrbahn. B: PIEP! PIEP! PIEP! PIEP! Frau Karin Kluck wird seit gestern vermisst. Sie ist 82 Jahre alt und trägt einen grauen Mantel. Zuletzt gesehen wurde sie auf der Autobahnraststätte Herleshausen Nord. Sie benötigt dringend ärztliche Hilfe. A: PIEP! PIEP! PIEP! PIEP! PIEP! A3 – zwischen Dreieck Heumar und Kreuz Köln-Ost befinden sich Wildschweine auf der Fahrbahn. Die Autobahn ist in beide Richtungen gesperrt. A erhält die eingesetzten Karten. A, B und C formieren sich zu einer Reihe. A,B,C:

PIEP!

A, B und C verharren kurz, dann gehen sie zielstrebig zurück auf ihre Sitzplätze im Zuschauerraum. Der Vortrag beginnt. (Performance konzipiert und dargestellt von Nele Trpin, Sören Buchheim [Studierende des Lernbereichs Darstellendes Spiel] und Norma Köhler [wissenschaftliche Mitarbeiterin von Prof. Dr. Sting])

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Norma Köhler, Nele Trpin, Sören Buchheim (v.l.n.r.)

Die eingangs gezeigte Spielszene und Performance gibt einen kleinen Eindruck, wie Aspekte des Themas Mobilität szenisch umgesetzt werden können. Vielen Dank an Norma Köhler, Nele Trpin und Sören Buchheim, die diese Szene konzipiert und gespielt haben. Mein Vortrag diskutiert die Spiel- und Lernmöglichkeiten der Kunstform Theater und des Fachs Darstellendes Spiel in einem Curriculum Mobilität in drei Schritten.

1. SpielMobil Der Begriff »SpielMobil« deutet an, dass sich Spiel und Mobilität aufeinander beziehen lassen. Spielmobile sind in der Spiel- und Kulturpädagogik mobile Spieleinheiten, meist Fahrzeuge, die Spielaktionen an wechselnden Orten ermöglichen. Nun zu der vorgestellten Szene: An dieser konkreten Spielszene lässt sich induktiv zeigen, wie Theater bzw. Darstellendes Spiel mit seinen Gestaltungsmöglichkeiten und das Thema Mobilität in eine produktive Auseinandersetzung treten können. Unsere Aufgabenstellung und Versuchsanordnung war zweigeteilt: Zum einen sollten unterschiedliche Ausdrucksmittel des Medi70

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ums Theater vorgestellt werden. Zum anderen sollten thematische Aspekte des Lernbereichs Mobilität, wie die Faszination und Erlebnisqualität von Mobilität und Automobilen, aber auch die Grenzen und Probleme der Mobilität (am Beispiel des Staus), spielerisch bearbeitet werden. Was macht das Medium Theater aus? Theater heißt hier und jetzt erleben und spielen. Theater lebt von seinem Live-Charakter. Unmittelbarkeit und Einmaligkeit des Theaterereignisses erzeugen Spannung, Emotionalität und Gemeinschaft. Theaterspielen heißt sich bewegen, sich zeigen, Geschichten erzählen, Ansichten verhandeln, Stimmungen und Bilder, Modelle und Szenarien entwickeln – von realistisch bis utopisch, mit allen Schattierungen der Verfremdung, Übertreibung und Irritation. Folgende Überlegungen flossen in die Inszenierung ein: Zuerst ging es darum, die Trennung von Zuschauer und Spieler aufzuheben und Nähe herzustellen. Dies geschah durch den Auftritt im Zuschauerraum und die direkte Ansprache der Zuschauer. Das Autoquartett diente als Metapher und zentrales Spielprinzip. Jeder – zumindest jeder Junge – hat früher Autoquartett gespielt, so unsere Annahme. Inhaltliche und spielerische Momente greifen hier ineinander. Bewegen, Laufen und Stillstehen sind primäre Bühnenhandlungen und charakterisieren Mobilität. Brechungen und Kommentare sind ästhetische Stilmittel, die als Staumeldungen die Faszination Auto und Mobilität kontrastieren und auch entlarven. In der Überzeichnung – »Wer hat die auffälligste Staumeldung?« (wie Falschfahrer, Personensuchmeldung und tote Tiere auf der Fahrbahn) – zeigen sie auch die Kehrseite und die negativen Auswirkungen von Mobilität. Dies geschah – das war ganz wichtig – nicht in moralisierender Weise, sondern als groteske Überzeichnung, die dann abbricht und dem Zuschauer die einordnende Wertung überlässt. Dazu kommen chorische Elemente, Rhythmus- und Tempovariationen sowie Spielwitz als Gestaltungsmittel, denn letztlich muss Theater immer auch Vergnügen bereiten, sonst (be)wirkt es nicht(s). Schon Brecht betonte den Unterhaltungswert. Ohne ästhetisches Vergnügen stellt sich wenig Erkenntnis ein. Oder anders gesagt: Mit dem Vergnügen steigt der Erkenntnisgewinn. Beides gehört zusammen. Am Rande bemerkt: Die Gestaltung dieser Szene gelingt natürlich nicht in einer einmaligen Improvisation. Diese fünf Minuten Spiel 71

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kosteten einige Stunden Probe, in der alle Beteiligten gleichermaßen konzeptuell und spielerisch beteiligt und gefordert sind. Denn solche Szenen entstehen nicht als Regietheater, sondern nur als Gruppenleistung. Diesen ersten Teil möchte ich mit folgender These zusammenfassen: Spielen macht mobil, äußerlich und innerlich, körperlich und geistig. Mobilität als vitales Prinzip und thematische Klammer lässt sich im Spiel subjektiv, emotional und diskursiv durchdringen, veranschaulichen, versinnbildlichen.

2. LernMobil Theater Theater ist ein komplexes Kommunikations- und Lernmedium. Wenn es dann noch auf den vielschichtigen Lernbereich Mobilität bezogen wird, ergeben sich in der szenischen Durchdringung des Themas vielfältige Schnittmengen. Dass Theater und insbesondere das aktive Theaterspielen Lern- und Bildungserfahrungen ermöglicht, ist unbestritten und durch viele Praxisbeispiele belegt. Ohne das hier ausführen zu können, finden sich von der Antike bis heute unzählige Zuschreibungen, wie und dass Theater Lern- und Bildungsprozesse unterstützt und vermittelt. So bezeichnete z.B. Walter Benjamin 1928 in seinem »Programm zum proletarischen Kindertheater« das Theater als den idealen Ort der Erziehung: »Weil das ganze Leben in seiner unabsehbaren Fülle gerahmt und als Gebiet einzig und allein auf dem Theater erscheint […]«.1 Theater als Spiel- und Interaktionsform kann alle Themen des Lebens abbilden und sinnlich-ästhetisch erfahrbar darstellen – also den ganzen Menschen ansprechen, ohne den Rahmen »Theater« verlassen zu müssen. Es ist besonders durch die Dialektik ausgezeichnet, unendlich und überschaubar zugleich zu sein. Ob Spiel und Theater in der Schule überhaupt etwas zu suchen haben, ist somit eine rhetorische Frage. Allerdings ist Spiel ein ambivalenter und mehrdeutig besetzter Begriff. Wir finden Spiel pädagogisch wichtig, für Kleinkinder und in der Vorschule zumindest, aber ganz vertrauen wir ihm doch nicht. Vor allem dann, wenn das Spiel in die

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Benjamin, Walter, Über Kinder, Jugend und Erziehung, Frankfurt/M. 1969, 80.

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Ernsthaftigkeit des Alltags, auch des Schulalltags Einzug hält. Denn Spiel steht in Opposition zu Alltag, Arbeit und Ernst. Nicht zuletzt deshalb sind die ästhetischen Fächer als »Kuschelfächer« verschrien. Dennoch sind Kinder und Schauspieler in der Lage, sehr ernsthaft zu spielen. Spiel, das sich zum szenischen und darstellenden Spiel verdichtet, und Szenen, die sich zur Inszenierung verdichten, nennt man Theater. Präziser gefragt gilt es also zu erörtern: Was erfahren die Spieler jenseits des zweckfreien Spiels, welche Lernerfahrungen lassen sich beim Theaterspielen beobachten? Was bringt das Darstellende Spiel in der Schule an inhaltlichen und didaktischen Anregungen? Der Rahmenplan der Stadt Hamburg für das Fach »Darstellendes Spiel«, der inzwischen für alle Schulstufen vorliegt, nennt als Hauptziele des Faches: »Die Entfaltung eigener Kreativität in der Gruppe, die Entwicklung der Kritikund Urteilsfähigkeit im Umgang mit theatralen Situationen und Gestaltungen und die Förderung der aktiven Teilhabe am kulturellen Leben sind zentrale Ziele des darstellenden Spiels. Darstellendes Spiel fördert […] die sinnliche Wahrnehmung, das ästhetische Empfinden und Verstehen. Sein Schwerpunkt liegt auf der praktischen Erprobung theatraler Möglichkeiten und Wirkungen.«2

In der bereits 1990 vorgelegten Landeskunstkonzeption des Landes Baden-Württemberg findet sich folgende Begründung zur Förderung des Schultheaters: »Theaterspiel kann wie keine andere Kunstform viele Bereiche vereinigen. Es dient der ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung des Schülers, indem es gleichermaßen seine rationalen wie emotionalen, intellektuellen wie kreativen, physischen wie musischen, individuellen wie sozialen Fähigkeiten fördert. Schultheater […] trägt zur kulturellen Entwicklung des Schülers bei und bereichert zugleich das kulturelle Angebot der Schule. In einer von raschem technologischem Wandel und von elektronischen Medien geprägten Welt gewinnt das Schultheater zunehmend Bedeutung. Es kann junge Menschen erlebnis-

2 Freie und Hansestadt Hamburg, Rahmenplan Darstellendes Spiel, 2003, 4.

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Wolfgang Sting fähiger machen, was sich positiv auf die gesamte Schulleistung und das Freizeitverhalten auswirkt. Der Schüler lernt, mit anderen auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten und selbstbewusst vor die Öffentlichkeit zu treten.«

Auch wenn das Darstellende Spiel noch lange nicht in allen Schulen und Schulstufen verankert ist, erscheint es aus dieser Perspektive sinnvoll, die betonten Wahrnehmungs- und Lernmöglichkeiten, die sich über das Theaterspielen eröffnen, in das Curriculum Mobilität zu integrieren und konzeptionell zu entwickeln. Deshalb möchte ich im Folgenden den Blick auf die Charakteristika richten, die das Theater als Lernmedium auszeichnen. Der Pädagoge Hartmut von Hentig stellt in seinem Essay »Bildung« Theater und Theaterspielen als zentrales Lern- und Bildungsmedium heraus.3 Er sagt, er traue sich zu, eine Schule einzurichten, in der es nur zwei Fächer, zwei Sparten von Tätigkeiten gibt: Theater und Science. Dies seien die beiden Grundformen, in denen sich der Mensch die Welt aneigne: nämlich subjektive Auseinandersetzung und objektivierende Feststellung – über den vermenschlichenden und den versachlichenden Blick. »Ja, ich behaupte […], dass das Theater eines der machtvollsten Bildungsmittel ist, die wir haben: ein Mittel, die eigene Person zu überschreiten, ein Mittel der Erkundung von Menschen und Schicksalen und ein Mittel der Gestaltung der so gewonnenen Einsicht.«4

Theater ermöglicht demnach Lernen auf dreierlei Ebenen: • • •

Lernen über sich selbst (Selbsterfahrung); Lernen über andere und von anderen (Differenz- und Welterfahrung); Lernen, gestalterisch zu kommunizieren (Gestaltungs- und Kommunikationserfahrung).

Diese Lernmöglichkeiten durch das Theaterspielen gilt es genauer zu betrachten. Dazu möchte ich vier zentrale Elemente des Theaterma-

3 Hentig, Hartmut von, Bildung, München/Wien 1996. 4 A.a.O., 119.

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chens beleuchten, die dann wiederum als Lernerfahrung gedeutet werden können. So lassen sich letztlich künstlerische Praxis und mögliche Lernerfahrungen in Beziehung setzen – interessanterweise fallen hier künstlerische und didaktische Aspekte zusammen: 1. 2. 3. 4.

Körper als zentrales Ausdrucks- und Gestaltungsmittel; Gruppe als elementare Arbeitsform; Experiment als wichtiges Arbeitsverfahren; Präsentation/Aufführung als besondere Kommunikation.

Der Körper ist das zentrale Ausdrucks- und Gestaltungsmittel des Theaters. Im konventionellen Theaterkontext repräsentiert der Körper die spezifische Doppelheit von Spieler und Figur, von Sein und Darstellen. Der Begriff der Darstellung als schauspielerisches Handeln hat sich seit den achtziger Jahren enorm erweitert. Mit dem Begriff »Performance« verbindet sich dieses veränderte Verständnis von Darstellung. Selbst- und Rollendarstellung, Spiel und Repräsentation vermischen sich. Im Zentrum steht nicht mehr das Drama, sondern das Ereignis der Aufführung und die ästhetische Erfahrung des Zuschauers, nicht die Darstellung einer Rolle, sondern die Präsenz des Darstellungsaktes. Auch der Spielbegriff erfährt im Verständnis der Performance eine Ausweitung, ohne dass dies hier ausgeführt werden kann. Im Spiel wird dann nicht nur fiktive, sondern auch wirkliche Welt geschaffen.5 Unbenommen bleibt, dass es in der kindlichen Entwicklung ein bedeutsames Experimentierfeld und eine wichtige Lernerfahrung ist, im Spiel eine Rolle einzunehmen oder eine Figur darzustellen. Die Grenzen zwischen Spieler und Figur werden durchlässig, die Übernahme einer anderen Perspektive (der Figur) erweitert und reflektiert die Selbstwahrnehmung. In der Entwicklungspsychologie, u.a. bei Jean Piaget, wird die Entwicklung des Kindes von diesem Spielen abgeleitet. Erste Bewegungen sind spielerische mimetische Antworten auf Wahrnehmung. Kinder orientieren sich über ihre Wahrnehmung, deren spielerisches Erproben und die Nachahmung. Das Kind, sagt Felix Rellstab, »deutet seine Spiele als Welt und verwandelt die Welt in Spie-

5

Vgl. Turner, Victor, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt/M. 1995.

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le. Sein Spielen ist eine Vorstufe des Denkens.«6 Der Kinderpsychologe Donald W. Winnicott7 betrachtet das Spiel als einen »intermediären Raum« mit einer Brückenfunktion zwischen Innenwelt und Außenwelt, Ich und Du. Über die Körperlichkeit, das gleichzeitige Spieler- und Figursein, erschließen sich zwei Erfahrungs- und Reflexionsebenen: Selbst- und Fremdwahrnehmung. Diese beiden Erfahrungsmöglichkeiten – die spielerische Identifikation und die Rollendistanz – hat Hans Robert Jauß als vorrangige Qualität der ästhetischen Erfahrung herausgestellt.8 Im Gegensatz zu anderen Künsten wird diese Selbstwahrnehmung beim Theaterspiel dadurch intensiviert, dass das Rollenspiel nicht nur imaginativ im Kopf abläuft (wie z.B. beim kreativen Schreiben), sondern mit dem ganzen Körper. Es wird mit Stimme, Gestik, Haltung vollzogen – meist auch als Gruppenaktion. Körperlichkeit und Kognition gehören hier in idealer Ergänzung zusammen. Die Gruppe als soziale Einheit prägt die Arbeits- und Kommunikationsform im Theaterprozess eindeutig. Der Regisseur Peter Brook beschreibt diese Gruppenqualität so: »Im Theater kann man zum Glück nichts alleine machen. Vorbereiten heißt zusammenarbeiten, spielen heißt teilen.«9 Das gemeinsame Gestalten im und als Ensemble ist im heutigen kindlichen Alltag – als Einzelkind mit allein erziehenden Eltern – eine kaum noch gegebene konzentrierte Form des sozialen Lernens. Verbindlichkeit, Solidarität, Aufeinandereingehen, Toleranz und Akzeptanz der anderen Meinung und Person werden beim Theaterspiel selbstverständlich geübt. Die individuellen Wahrnehmungsund Ausdruckserfahrungen verbinden sich mit sozialem Lernen und Differenzerfahrung. Das Experiment als spielerische Herangehensweise an eine Gestaltungsaufgabe ist typisch für den kreativen und ergebnisoffenen Theaterprozess. Improvisation, ›trial and error‹ oder ›learning by doing‹ – also das Prinzip »Ausprobieren als Lernform« – charakterisieren einen

6 Rellstab, Felix, Theaterpädagogik, Wädenswil 2000, 48. 7 Vgl. Winnicott, Donald W., Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart 1997 (9. Aufl.). 8 Vgl. Jauß, Hans Robert, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt/M. 1991. 9 Brook, Peter, Qui est là. Programmheft, hrsg. von den Berliner Festspielen, Berlin 1996, 5.

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in den Künsten selbstverständlichen, im Unterricht eher unüblichen Lernmodus. Erst durch das erlaubte Fehlermachen, Korrigieren und Suchen entdeckt man die beste Lösung. Theater ist wie jede künstlerische Arbeit »ein Prozess des Tuns, Sehens, Auswertens, Kritisierens und erneuten Tuns«,10 sagt der Theaterforscher Richard Schechner. Das Wahrnehmen, das das Tun verändert, und das Tun, das die Wahrnehmung erweitert, kennzeichnen die Gegenbewegung des ästhetischen Gestaltens. Beobachten, Beschreiben, Analysieren, Kritisieren, Beurteilen sind Momente des innehaltenden Wahrnehmens. Ausprobieren, Variieren, Improvisieren, Üben, Einstudieren sind Arbeitsschritte des gestaltenden Produzierens, wobei sich im fortschreitenden Arbeiten beide Momente vermischen. Dieses permanente Wechselspiel von Wahrnehmen und Gestalten ist typisch für ästhetische Bildungsprozesse.11 Die Präsentation ist der Abschluss eines Arbeitsprozesses. Der Reformpädagoge John Dewey behauptet sogar, dass erst mit einer Präsentation als Zusammenfassung und Reflexion des Erlebten und Gemachten eine ästhetische Erfahrung gespeichert wird.12 Die in der ästhetischen Gestaltung angelegte Arbeits- und Lernintensität, Ernsthaftigkeit und Motivation werden durch die Präsentation gebunden, da das Tun nicht Selbstzweck bleibt, sondern mit der Aufführung öffentliche Kommunikation herstellt. Die Lernerfahrungen im ästhetischen Gestaltungsprozess sind intensiver, wenn es nicht nur um das Spiel, sondern auch um das Gestalten und Verstehen eines Kunstprodukts geht, das wiederum Mitteilungscharakter hat. Das Konzipieren und Inszenieren eines Theaterproduktes erfordert neben Spiellust und Ausdrucksfähigkeit ein hohes Maß an Kritik-, Analyse- und Abstraktionsfähigkeit. Das wird oft vergessen, wenn man die künstlerisch-ästhetischen Fächer in die vermeintliche Kuschelecke stellt. Der Arbeitsprozess auf ein Ziel hin ist pädagogisch-didaktisch und künstlerisch wichtig; neben der individuellen Motivation und ästhetischen Kompetenz erhöht sich die Verbindlichkeit und Ernsthaftigkeit der Gruppenarbeit

10 Schechner, Richard, Theateranthropologie. Spiel und Ritual im Kulturvergleich, Reinbek 1990, 38. 11 Vgl. Mollenhauer, Klaus, Grundlagen ästhetischer Bildung, Weinheim/ München 1996. 12 Vgl. Dewey, John, Kunst als Erfahrung, Frankfurt/M. 1980.

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und schafft letztlich die künstlerisch wichtige Distanzierung von sich selbst und der Probenarbeit. »Die Produktion bedeutet Heraustreten aus der eigentlichen Arbeits-Innenwelt in den öffentlichen Handlungszusammenhang.«13 Wenn wir uns die herausgestellten Qualitäten erneut anschauen, dann wird deutlich, dass einzelne Lernerfahrungen auch durch andere Aktivitäten und Fächer vermittelt werden können. Bei Sport oder Erlebnispädagogik werden Körper- und Gruppenerfahrungen, bei Musik und Kunst auch Gestaltungserfahrungen möglich. Aber in der Komplexität der Lernerfahrungen ist Theater und Darstellendes Spiel einzigartig. Die im Wechselspiel von Körperlichkeit und Kognition oder Darstellung und Gestaltung ablaufende Selbstreflexion sowie die Gruppenarbeit, die zur öffentlichen Kommunikation wird, kennzeichnen das besondere bildende Potential. Viele der hier in der Theaterarbeit herausgestellten konkreten Lernformen und Lernerfahrungen weisen Bezüge zu allgemeinen Lernzielen und didaktischen Grundsätzen des schulischen Lernens auf. So finden sich z.B. folgende Lernziele im Positionspapier »Ästhetische Erziehung in der Grundschule« des Bundes deutscher Kunsterzieher oder im Hamburger »Rahmenplan Darstellendes Spiel«: Wahrnehmung und Ausdruck, persönliche Entfaltung, Spiel- und Kommunikationsfähigkeit, soziale und sprachliche Kompetenz, Differenzerfahrung oder kreatives Problemlösen, Ausprobieren, ästhetische Gestaltung und Reflexion. Die Art und Weise, wie im Theaterprojekt gearbeitet wird, entspricht weitgehend den didaktischen Grundsätzen, die für eine neue Lernkultur angeführt werden: Lernen mit allen Sinnen; Projektcharakter; Handeln und Reflektieren (Praktisches Handeln im Mittelpunkt); Ausprobieren und ästhetisches Lernen als Unterrichtsprinzip; Schülerorientierung; offene Lernsituationen; Präsentation. Folgendes Schema fasst das noch einmal zusammen:

13

Ritter, Hans Martin, Das gestische Prinzip, Köln 1984, 96.

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Mobilität szenisch Körper

Gruppe

Experiment

Präsentation

Spiel, Versuch, Improvisation Suchen und Finden

Produktion, Kritik, Argumentation

entdeckendes Lernen Kreativität

ästhetische Gestaltung öffentliche Kommunikation

Lernerfahrungen Körper, Stimme, … GemeinschaftsSpieler – Rolle arbeit KörperwahrnehGruppenintermung aktion Selbstwahrnehmung Lernziele Wahrnehmungs-, soziales Lernen Ausdrucksschu- Differenzerfahlung rung persönliche Entfaltung Spiel- und Kommunikationsfähigkeit Didaktische Grundsätze Lernen mit allen SchülerorientieSinnen rung Körperlichkeit und offene LernKognition situation

praktisches Lernen Handeln und ReAusprobieren und flektieren ästhetisches Ler- Projektcharakter nen als Unterrichtsprinzip

Fachübergreifende Lernbereiche (Geschlechter-) Rollenverständnis

Interkulturelles Lernen

Mobilität

Medienkompetenz

Weil der Arbeitsprozess im Theater – anders als bei den anderen Künsten – durch eine intensive soziale Kommunikation geprägt ist, wird Theater als die soziale Kunst bezeichnet. Theaterarbeit in der Schule ist zu verstehen als eine künstlerische Arbeit, aber nicht – und das ist elementar – als eine eitle Kunst oder Imitation des Kunstbetriebs. Theater ist eine angewandte Kunst, die die beteiligten Spieler zum Sprechen bringt und daraus, falls überhaupt notwendig, ihre soziale und pädagogische Berechtigung bezieht. Das heißt: Theaterpädagogik und Darstellendes Spiel sind eine künstlerische Gruppenarbeit, die das Ausdrucksvermögen und den Blick der Beteiligten (auf das Material, das Thema, sich selbst, die Welt) schult und inszeniert. Dabei bleibt festzuhalten, dass das Pädagogische nicht vom Ästhetischen zu trennen ist. Nur durch die ästhetische Praxis ergeben sich die am Theaterspielen gelobten Lernprozesse. Die beschriebenen sozialen und ästhetischen Lernprozesse beim Theatermachen lassen sich nur integrativ 79

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vermitteln: Ausdrucks-, Wahrnehmungs- und Gestaltungserfahrung sind nie losgelöst von Selbst-, Gruppen- und Fremderfahrung. Inhaltlich-thematische und ästhetische Fragen sind immer mit sozialen Bezügen und individuellen Erfahrungen verknüpft.

3. Mobilität szenisch: Theaterspielen als Mobilitätstraining Theater in der Schule hat mit seinem schüler- und körperorientierten, experimentellen und ästhetischen Projektcharakter Auswirkungen auf Lernformen, Lernintensität, Lernmotivation (auch für andere Fächer) und nicht zuletzt auf die Lern- und Schulkultur im Allgemeinen. In Verbindung mit dem neuen Lernbereich »Mobilität« ergibt sich eine viel versprechende innovative Allianz. Doch dabei ist eine realistische Einschätzung der Chancen und Möglichkeiten von Theater in der Schule – ob als Fach oder Lernform – essentiell. Theater kann vieles, aber nicht alles. Theater ist ein animierendes Lernmedium, mehr noch ein Kommunikationsmedium, das öffentliche Artikulation einübt. Hier lassen sich alle Stoffe, Konflikte, Ansichten und Zukunftsszenarien thematisieren. Ich kann mir z.B. vorstellen, dass man die Straßenverkehrsordnung spielt, wie ein Auto entsteht oder wie unsere Verkehrslandschaft in 20 Jahren aussieht. Die besondere Qualität liegt in der Art und Weise, wie dabei subjekt- und erfahrungsbezogen untersucht, gestaltet und gelernt wird. Das Medium Theater und das Fach Darstellendes Spiel als Methodenlieferanten auszuschlachten, wäre nicht nur eine verkürzende Instrumentalisierung, sondern reduzierte auch die Lernchancen in diesem Medium. Pädagogische Theaterarbeit funktioniert nur, wenn die beteiligten Spieler und das Medium ernst genommen werden. Wenn Theater nur kurzsichtig didaktisch eingesetzt wird, um gewisse Lernziele zu erreichen, und die Schüler durchschauen das, dann ist jegliche Motivation dahin. Dieses didaktische Dilemma ist bekannt. Ein bisschen Rollenspiel, um die Situation der Führerscheinprüfung zu simulieren, oder eine Gerichtsszene, mit der die Fatalität von Drogen im Straßenverkehr verdeutlicht wird, ist mir zu wenig. Denn Spiellust, thematische Durchdringung und Motivation entstehen erst durch das SichEinlassen auf den nicht planbaren, offenen, gemeinsam zu gehenden Prozess. 80

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Das heißt abschließend: Theaterspielen vermittelt ein intensives Mobilitätstraining, das didaktisch wichtige Lernprämissen bündelt. Es ist subjektbezogen, situationsbezogen, erfahrungsbezogen und praxisbezogen, aber es verspricht keine Lern- oder Mobilitätsgarantie.

Literatur Benjamin, Walter, Über Kinder, Jugend und Erziehung, Frankfurt/M. 1969. Brook, Peter, Qui est là. Programmheft, hrsg. von den Berliner Festspielen, Berlin 1996. Dewey, John, Kunst als Erfahrung, Frankfurt/M. 1980. Freie und Hansestadt Hamburg, Rahmenplan Darstellendes Spiel, 2003. Hentig, Hartmut von, Bildung, München/Wien 1996. Jauß, Hans Robert, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt/M. 1991. Mollenhauer, Klaus, Grundlagen ästhetischer Bildung, Weinheim/ München 1996. Rellstab, Felix, Theaterpädagogik, Wädenswil 2000. Ritter, Hans Martin, Das gestische Prinzip, Köln 1984. Schechner, Richard, Theateranthropologie. Spiel und Ritual im Kulturvergleich, Reinbek 1990. Turner, Victor, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt/M. 1995. Winnicott, Donald W., Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart 1997 (9. Aufl.).

Diskussion Hermann Lübbe: Eine erste Anfrage ist rein sprachlicher Natur: Als ich Deutsch lernte, unterstützt natürlich auch durch die Sprachschulung in der Grundschule und später auch auf dem Gymnasium, habe ich – das ist in lebhafter Erinnerung und prägt mein Sprachverhalten bis heute – das Wort »Körper« nie so gebraucht, wie Sie, Herr Sting, es an zentraler Stelle in Ihrem Vortrag verwenden. »Körper« gebrauchten wir nur in den Zusammenhängen, wenn Chirurgen zum Beispiel et81

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Diskussion

was befinden oder behandeln. Das, was sie vorgeführt haben und was im Theaterspiel in besonderer Weise in Anspruch genommen wird und sich darstellt, wurde immer »Leib« genannt. Die Frage ergeht auch an den Erziehungsfachmann: Hat sich das Sprachverhalten so verändert, dass diese Unterscheidung von Körper und Leib, die doch ihren evidenten Sinn hat, verschwunden ist? Aber das ist eine rein das Sprachverhalten betreffende Frage. Das Wichtigere ist Ihre These, dass Theater immer gruppenbezogen sei und damit die besonderen Anforderungen an uns richtet, die sich aus unseren Zugehörigkeiten zu Gruppen ergeben. Nun ist eine der wichtigsten Sparten des modernen Theaterlebens hervorragend auch für die Massenmedien geeignet, für das Fernsehen: das so genannte Monodrama. Pkw-Fahrer sind im Grunde Monodramatiker, die bei etwa 50 Prozent aller Autobewegungen das Fahrzeug allein fahren. In einer Kapsel abgeschlossen von allen kommunikativen Beziehungen, eine ungewöhnliche Beziehung von hohem, dramatischem Interesse und deswegen ein Drama-Stoff des allerersten Ranges! Es braucht Genies wie Minetti, um diese sonderbare Situation darzustellen und daher die mannigfachen Formen, dieser Komik zu entkommen – mit Radios, denn da muss das Motorgeräusch übertönt werden. Und dann sieht man die Jugendlichen an sich vorbeifahren, mit Bassgeräuschen, die man noch nach 500 Metern hört! Nach drei Jahren ist das Gehör zertrümmert … Also: Ist die Gruppe nicht etwas zu idealisiert, ist die Mobilität nicht etwas, was vielmehr zum Monodrama und zur monodramatischen Vergegenwärtigung drängt? Wolfgang Sting: Ein Aspekt beim Theater ist, dass selbst ein Schauspieler wie Minetti, der einen Dialog auf die Bühne bringt, nicht alleine spielt. Er hat einen Regisseur, er hat einen Techniker. Und der Gruppenprozess beim Theatermachen bezieht sich natürlich nicht nur auf den Darsteller, sondern auf die anderen Figuren und auf die anderen Rollen – etwa Beleuchter –, die den Theaterprozess genauso gestalten. Natürlich gibt es viele monodramatische Stücke und Minetti ist sicherlich ein grandioser Einzeldarsteller, ein Ausnahmeschauspieler. Aber: Mein Beitrag handelt vom Schultheater. Dort geht es nicht um den Protagonisten und um Protagonistenkunst, sondern um die Gruppenkunst. Es geht nicht um den Einzeldarsteller, der sich – vielleicht auf Kosten der anderen – profiliert, wie die so genannte »Rampensau«, sondern es geht darum, dass man gemeinsam einen Stoff durchdringt, 82

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Mobilität szenisch

gemeinsam eine szenische Form findet, gemeinsam ein Konzept entwirft. Ich bin in keiner Weise dafür, dass die Kunst demokratisiert wird. Es müssen Entscheidungsprozesse ablaufen, die dann auch manche Sachen herauswerfen. Aber dieser gemeinsame Arbeitsprozess, der in seiner ästhetischen und in seiner sozialen Bedeutung, wie ich ausgeführt habe, nur im Theater stattfindet, kennzeichnet eben die Lernmöglichkeiten durch das Theaterspiel. Und natürlich kann man in neuen Theaterformen auch monodramatische Stücke als chorisches Theater spielen. Die Möglichkeit, die das chorische Theater für das Schultheater eröffnet, ist, dass jemand, der nicht die Qualität des Protagonisten hat, eine Spielform findet, die eine Figur mit ganz vielen Facetten in verschiedene Darsteller aufsplittet. Das sind dann wieder Stilmittel, die diese Qualität – und das ist unbenommen der Monolog und das Monodrama –, unsere Welt und unsere Sicht, unsere Innensicht charakterisieren. Zur Frage des anderen Begriffs zum Körper: Es wird sehr viel über Körper-Theater gesprochen, als eine Wahrnehmung und als ein Ausdrucksmittel des Körpers – und eben nicht in einer Leib/Geist-Gegenüberstellung. Vielmehr geht es darum, dass der Körper offensiv in den neuen Theaterformen (vom Tanztheater und vom Bewegungstheater kommend) in den Mittelpunkt gestellt wird. Herbert Bickel: Eine kurze Frage an den Dramaturgen: Ich habe gesehen, dass die Aufführung recht stark mit Beschleunigung zu tun gehabt hat bzw. sehr schnell war. Woher kommt die Furcht, langsame Stücke zu präsentieren? Ich denke dabei an ein Zitat von Peter Handke, der die absolute Langeweile bzw. den absoluten Stillstand produzieren wollte. Ich denke, bis dahin, wo es um ein Experiment geht, ist Langsamkeit noch erlaubt; wenn es aber um die Präsentation bzw. um die Aufführung geht, da entsteht etwas, das zu tun hat mit der Angst vor dem Publikum – und dort wird Geschwindigkeit und Beschleunigung notwendig. Wolfgang Sting: Sie haben dramaturgisch ganz richtig erkannt, dass mit Beschleunigung gearbeitet wurde, aber wenn man genau hinguckt, dann merkt man auch, dass es Elemente des Stillstands gibt, nämlich das »Freeze«, bevor die »Beep-« und die Staumeldung kommt. Hier ging es natürlich auch um das Zeigen dessen, was das Repertoire des Theaters ausmacht. Uns ging es darum, Bewegung als langsame Be83

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wegung zu zeigen – wie in der Anfangsszene: das Austeilen beim Kartenspiel. Das wurde als stille Szene ausgehalten. Da wurde nicht »Gas gegeben« oder Text oder gleich Musik darüber gelegt, was sonst ganz oft gemacht wird, wenn es zu still wird. Dies wird natürlich auch gemacht, um das Element der Beschleunigung und des Auflaufens und des Unfalls zu charakterisieren. Es wurde mit dem Tempo gespielt. Rhythmisierung ist zudem ein ganz wichtiges dramaturgisches Mittel. Es geht daher nicht darum, dass wir keinen Stillstand zeigen wollen, denn der war sichtbar, sondern wir haben verschiedene dramaturgische Verfahrensweisen von Beschleunigen, Bewegen, Stillstehen und Tempo zeigen wollen. Ich denke nicht, dass das Theater Angst hat vor dem Stillstand, sondern man muss dann immer überlegen, was das im Gesamtkonzept für eine Bedeutung hat. Herbert Bickel: Die schlechte Kritik des Publikums argumentiert oft mit: »Die Handlung ist zu langsam, die Handlung ist zu eintönig oder die Handlung steht still.« Vielleicht besteht aus anthropologischer Perspektive ein Bedarf nach Geschwindigkeit und Beschleunigung, der das gesamte Leben umfasst. Den könnte man auch philosophisch hinterfragen. Wolfgang Sting: Das zeitgenössische Theater arbeitet gerade am Beispiel des Regisseurs Marthaler mit Verlangsamung, um den Zuschauer auf sich selbst zurückzuwerfen. Wenn auf der Bühne nicht mehr viel passiert, was ich entschlüsseln kann, dann fange ich doch an, Bilder zu produzieren und versuche, das in Bezug zu mir selbst zu setzen. Das wird ganz bewusst eingesetzt. Man denke nur an Robert Wilson: Der hat Gänge auf der Bühne entwickelt, wo siebenmal dasselbe passiert, um einen Rhythmus aufzubauen, der mich als Zuschauer aktivieren soll. Und dann wird der Rhythmus gebrochen … Harald Hilpert, Hochschullehrer an der HBK Braunschweig: Den umfassenden Ausführungen ist noch hinzuzufügen, dass es eine Neuerscheinung (»Schule kann gelingen«, so der Titel) von Enja Riegel gibt. Das ist die Schulleiterin der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden. Frau Riegel hat Methoden und Experimente entwickelt – ein großes Kapitel ist dort auch das Theaterspiel, das da in großen Sequenzen durchgeführt wird. Dabei geht es um Wahrnehmung, um »Erfahrungen machen«. Experimentieren heißt nichts anderes als Erfahrungen 84

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machen. Das wird dann umgesetzt auf die anderen Fächer. Und dort wird auch wie in dem berühmten Zitat von Hentig behauptet: Wer viel Theater spielt, hat auch in Mathematik eine Eins. Das hat eine Schülerin so formuliert und ist dann die Überschrift dieses Kapitels geworden. Ich kann hier nicht den Inhalt des ganzen Buches wiedergeben, aber ich empfehle es jedem, weil es alles unterstreicht, was auf dieser Tagung besprochen wird. Eine kurze Anekdote noch zur Wahrnehmung: Im Braunschweiger Theater »Spielplatz« fand kürzlich ein Stück statt, bei welchem die Schüler danach auf der Bühne saßen und mit den Schauspielern diskutieren konnten. Da entdeckte einer der Schüler einen Schauspieler, den er aus dem Fernsehen wieder erkannte, und sagte zu ihm den folgenden Satz: »Sie sehen ja lebendig ganz anders aus als in Wirklichkeit.« Da müssen Sie einmal überlegen, welche Wirklichkeiten das sind. Welche Wirklichkeiten gibt es: inszenierte Wirklichkeiten und die realen mit sich selbst. Und dieses Ursprüngliche, dieses nach Ausdruck und Selbsterfahrung fahnden, ist ganz wesentlich für eine mobile Theaterpädagogik. Und dann erst können auch – für meine Begriffe: physikalische – Versuche fruchten: wenn man überhaupt an sich selbst gearbeitet hat. Dafür ist der Vortrag von Wolfgang Sting richtungsweisend. David Reuter, HBK Braunschweig: Ich finde es spannend, noch einmal darüber nachzudenken, ob die gezeigten und die eben erwähnten Formen (wie von Wilson oder Marthaler) nicht alle aus einem fundamentalen Theater kommen – aus einem starren Theater. Ist dann nicht vielleicht das mobile Theater, also das Wandertheater und die modernen Formen wie Karneval und Umzüge, eine interessante Bereicherung und Erweiterung? M.E. führt dies sogar dazu, dass wir bestimmte Methoden und Techniken hinterfragen müssen: Können diese zum Thema Mobilität wirklich das spiegeln oder zumindest alles abdecken, was wir unter Darstellendem Spiel und Theater begreifen? Wolfgang Sting: Wichtig ist der Hinweis, dass da die Entgrenzung des Theaters stattfindet. Über den Performance-Begriff und über die freie Theaterszene hat sich das Theater schon längst außerhalb des Theaters als Ort, als Institution etabliert. Es gibt so viele Theaterinszenierungen und Theaterformen, die außerhalb des bekannten Theaterspielortes stattfinden: auf Straßen, in Fabriken, in der U-Bahn und auf Plätzen. 85

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Diese Spielmobil-Bewegung geht auch an die Orte, wo Kinder sind. Da entstehen sicherlich – und dann noch zusätzlich über die Performance – Diskussionen. Es wird dann ein anderer Begriff von Darstellung geprägt, bei dem es nicht mehr um die Verkörperung einer Rolle geht, sondern um das Spiel, um neue Formen des Spiels. Dies ist sicherlich auch für das Schultheater und für die theaterpädagogischen Zusammenhänge wichtig. Carmen Scher: Ich wurde in der Pause von mehreren Journalisten gefragt, warum das Darstellende Spiel noch nicht Bestandteil des Curriculums Mobilität ist. Es gibt Integrationsfächer, es gibt Auswahlfächer. Wir haben es dennoch als potenzielle erste Kampagne ausgewählt, da wir immer noch hoffen, dass wir Darstellendes Spiel und Physik verbinden können. Der Beitrag von Herrn Sting und die vielen Reaktionen hierauf regen dazu an: Selbst wenn es kein Schulfach ist, plädiere ich dringend dafür, dass man darüber nachdenkt, das Darstellende Spiel als achtes Integrationsfach aufzunehmen. Ich würde hierzu auch gern wissen: An welcher Schule gibt es kein Theater? Hans-Herbert Lenz, Niedersächsisches Landesamt für Lehrerbildung und Schulentwicklung (NiLS): Nur zur Information: Darstellendes Spiel wird an ungefähr 90 Schulen in Niedersachsen unterrichtet, dort ist es als Schulfach eingeführt. Es ist nicht im Curriculum Mobilität enthalten, aber von Herrn Curdt und mir im Nachhinein beantragt worden. Wolfgang Sting: Ergänzend noch der für die Region sicherlich wichtige Hinweis, dass in Niedersachsen der einzige Studiengang für das Darstellende Spiel als Lehramtsstudiengang angeboten wird. Das Darstellende Spiel sollte sich deshalb auch in der Schule und im Zusammenhang mit dem Thema Mobilität etablieren.

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Ist Mobilität ein Kraftakt?

Ist Mobilität ein Kraftakt? Lydia Murmann

I. Mobilität und Physik Ich bin gebeten worden, zu diesem Fachgespräch physikdidaktische Gesichtspunkte zum Thema »Mobilität« beizutragen und damit im Hinblick auf das Darstellende Spiel eine kontrastive Perspektive einzunehmen. Neben didaktischen Überlegungen hat mich zunächst die Frage beschäftigt, was Physik mit Mobilität zu tun hat, und umgekehrt, was Mobilität mit Physik zu tun hat. Es gibt natürlich jede Menge spontane bzw. assoziative Bezüge. Zum Fliegen beispielsweise assoziiere ich Aerodynamik, Strömungsgesetze, Auftrieb usw. Zu jeglicher Art von Rollbewegungen, wie bei der Rad-, Auto- oder Zugfahrt, assoziiere ich verschiedene Konzepte aus der klassischen Mechanik, wie Kräfte, Impulse, Drehmomente, Geschwindigkeit und Beschleunigung sowie Energieumwandlung. Spätestens Verbrennungsmotoren schicken mich gedanklich mitten in die Thermodynamik – und Straßenlärm und Schallschutz unmittelbar in die Akustik. Es gibt also zwischen Aspekten von Mobilität und physikalischen Theorien jede Menge Bezüge. Letztlich handelt es sich bei einem physikalischen Zugang zu Mobilität offenbar einerseits um allgemein bewegungsbezogene Aspekte und andererseits um solche, die an die konkreten Realisierungsformen alltäglicher Mobilität in unserer Gesellschaft anknüpfen. Mobilität ist notwendiger Ausdruck von gesellschaftlicher Arbeitsteilung; von Zielen sowie Mitteln, diese zu erreichen. Neben physischer Mobilität kann Mobilität auch ein geistiges Phänomen sein, sie prägt unser räumliches Erleben usw. Physikalische Aspekte scheinen also nur einen kleinen Ausschnitt von Mobilität zu betreffen. Für die Aussagen der Physik als einer Wissenschaft, die Phänomene der unbelebten Natur theoretisch deutet, quantifiziert und als regelhaft konzeptualisiert, spielen gesellschaftliche Phänomene nur eine mittelbare Rolle. Die Fragestellungen, auf die physikalische Antworten gesucht werden, sind gesellschaftlich bestimmt, die Antworten deutlich weniger.

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Lydia Murmann

Allgemeine Assoziationen zu Mobilität: Fortbewegung, Ziele, Wege, Entscheidungen, Regeln, Technik, Sicherheit, Nachhaltigkeit, gesellschaftliche Arbeitsteilung, Ballungsräume, ländliche Regionen. Physikalische Assoziationen zu Mobilität: Kinematik, Dynamik, Thermodynamik, Akustik (als mobilitätsrelevante Teilgebiete); Bewegung, Kraft, Energie, Impuls, Geschwindigkeit, Beschleunigung (als mobilitätsrelevante Konzepte). Diese Assoziationen klären nicht das Verhältnis von Physik und Mobilität. Sie klären auch nicht, inwiefern Mobilität als Rahmenthema für den Physikunterricht fungieren kann oder in welcher Weise physikalische Aspekte einen fächerübergreifenden Unterricht zu Mobilität bereichern können. Bewegung scheint zunächst der größte gemeinsame Nenner zu sein, der sowohl Mobilität grundsätzlich kennzeichnet als auch als Gegenstand physikalischer Betrachtung ausgesprochen zugänglich ist. Aber ist Bewegung gleich Bewegung? Meint eine Physikerin, die eine Bewegung physikalisch beschreibt, mit Bewegung eine Bewegung im Sinne von Mobilität? Im folgenden Dialog gibt es auf der einen Seite eine Person, die versucht, der Physik Beiträge zum Thema Mobilität abzuringen und auf der anderen Seite eine personifizierte Physik, die darauf reagiert. Der erste Teil des Dialoges ist wegen seiner Sperrigkeit und um die Leser(innen) nicht unnötig zu strapazieren, zusammengefasst wiedergegeben. Versuch Nr. 1, der Physik einen Beitrag zum Thema Mobilität abzuringen: Nach ihrem Beitrag zum Thema Mobilität gefragt, wechselt die Physik als Erstes das Thema und behauptet, Mobilität sei eine sehr ungenaue Begrifflichkeit, eigentlich sei »Bewegung« treffender. Mit Bewegung, so behauptet die Physik als Zweites, sei es so: Wenn Bewegungen einmal angestoßen sind, hören sie nie wieder von alleine auf. Alles bewegt sich ganz mühelos immer weiter, ohne schneller oder langsamer zu werden und ohne abzubiegen. Einmal mobil, immer mobil. Die Physik fährt fort: Man könne außerdem gewinnbringend über Bezugssysteme nachdenken. Am elegantesten und tatsächlich befrie88

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digend seien relativistische Betrachtungen von Bewegungen. Davon abgesehen gebe es noch Ausnahmen, sagt die Physik, nämlich Bewegungen, die nicht unbegrenzt und mit konstanter Geschwindigkeit geradeaus verlaufen. Als Drittes behauptet sie, dass sie Recht hat. Und als Viertes ergänzt die Physik: Bei den erwähnten Ausnahmen werde es für Anfängerinnen und Anfänger kompliziert und man müsse das Thema »Bewegung« auf »Bewegung und Kräfte« ausdehnen. Das hätte allerdings den Vorzug, auch über Geschwindigkeitsund Richtungsänderungen sprechen zu können. Eigentlich will ihr niemand mehr zuhören. Schade. So ist es mit der Physik. Versuch Nr. 2, der Physik einen Beitrag zum Thema Mobilität abzuringen: Da die Physik es nicht besser weiß, als die Welt mit ihrem beschränkten Blick zu erfassen, bekommt sie eine Erläuterung: »Dass Sie davon ausgehen, Bewegung sei mühelos, wundert mich. Erfahrungsgemäß kommt alle Bewegung irgendwann zum Stillstand. Alles, was rollt oder rutscht, wird langsamer und kommt am Ende zum Stehen. Fast alles, was ohne Antrieb fliegt, fällt über kurz oder lang auf die Erde. Beim Fallen wird es schneller und prallt dann mit einiger Wucht auf den Boden. Es gibt also weit und breit keine mühelose Mobilität. Überall wird Energie aufgewendet, um voranzukommen. Es werden Motoren betrieben, es wird in die Pedale getreten, Schwung geholt, Anlauf genommen. Und doch bleibt alles irgendwann auch wieder stehen.« »Aha«, sagt die Physik, »ich verstehe. Bei Ihnen ist der Normalfall schon sehr kompliziert. Das sind übrigens genau die Ausnahmen, von denen ich sprach. Na, da sollten Sie Newton kennen lernen, Isaac Newton. Von ihm habe ich gelernt, dass bei Bewegungen nur Veränderungen vorkommen, wenn Kräfte wirken. Das heißt, Bewegungen werden nur schneller, langsamer oder verändern die Richtung, wenn Kräfte wirken. Wenn das bei Ihnen also der Normalfall ist, dann wirken bei Ihnen wohl im Normalfall Kräfte. Hilft Ihnen das weiter?« (Nicht sehr hilfreich … Eigentlich ging es doch darum, was die Physik zu Mobilität zu sagen hat. Eine Nachfrage noch …)

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»Das hilft nur ein bisschen. Warum kommt denn nun alles zum Stillstand oder fällt? Dazu brauchen wir keine Kraft. Die Kraft brauchen wir schließlich gerade, um in Bewegung zu kommen und in Bewegung zu bleiben. Deswegen heißt es beim Tanken ›Kraftstoff‹, deswegen brauchen wir Kraft beim Laufen, Radfahren, Treppensteigen usw.« »Ja, ja«, sagt die Physik. »So sieht die Welt für Sie aus. Sie scheinen mit ›Kraft‹ eher so etwas wie ›Anstrengung‹ zu verbinden. Vermutlich, weil Sie sich anstrengen müssen, um Kraft zu erzeugen. Wissen Sie, mit den Kräften ist es wie beim Balancieren. Oder wie bei einer Waage. Weil schon Reibungskräfte da sind, müssen Sie Antriebskräfte in die Waagschale werfen, um in Bewegung zu bleiben. Das wissen Sie doch eigentlich, oder? Sie kennen doch Ihre Kräfte auf der Erde, oder? Also für die Mobilität vielleicht am wichtigsten: die Gravitationskraft und Reibungskräfte – Sie wissen schon: Luftwiderstand, Rollreibung, Gleitreibung usw. Die kennen Sie aber, oder? Na, und weil die schon da sind, müssen Sie eben auch Kraft aufwenden, um dagegen anzukommen. In anderen Worten: Sie müssen Energie zur Verfügung haben und daraus Kraftwirkungen erzeugen. Nur: Sobald Sie damit aufhören, Kraft aufzuwenden, nehmen die Reibungskräfte über kurz oder lang überhand und Sie kommen zum Stehen. Schade. Aber so ist das. Wenn Ihnen das mit den Kräften auf der Erde zu viel wird, könnten Sie zumindest gedanklich auch ins All ausweichen. Die Gravitationswirkung lässt ja nach, je weiter Sie sich von Ihrem Planeten entfernen.« Ich fasse noch einmal zusammen: Im Hinblick auf Kräfte und Bewegungen verfügen Menschen in der Regel über die Erfahrung, dass sich nichts von alleine und auf Dauer fortbewegt und sie verfügen über die Erfahrung, dass Kraft etwas mit Anstrengung zu tun hat. Diese sehr vereinfacht dargestellten Vorerfahrungen stehen im Widerspruch zu Konzepten der Physik. Physikalisch lässt sich zwischen kräftefreien Bewegungen einerseits und beschleunigten Bewegungen andererseits unterscheiden. Kräftefreie Bewegungen entziehen sich allerdings unserer Erfahrung. Somit beziehen sich sämtliche unserer Bewegungserfahrungen auf beschleunigte Bewegungen. Selbst ein rollender Ball, ein gleitender Schlitten oder ein Papierflieger vollziehen gebremste, d.h. (negativ-)beschleunigte Bewegungen, weil Reibungskräfte im Spiel sind. Nicht nur Geschwindigkeitsänderungen oder Richtungsänderun90

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gen sind auf Kräfte zurückzuführen, sondern schon der Stillstand oder eine gleichförmige Bewegung beruhen auf der Erde auf Kräftegleichgewichten. Die Physik konzeptualisiert Bewegungen im Allgemeinen jedoch ausgehend von kräftefreien Bewegungen. Wer also Physikalisches über Bewegungen lernen möchte, muss sich damit anfreunden, dass der gedankliche Ausgangspunkt jeglicher physikalischen Beschreibung von Bewegungen die Vorstellung einer unbegrenzten und ungebremsten Geradeausbewegung ist. Sämtliche weitere Beschreibungen von Bewegungen bauen auf dieser Grundvorstellung von Bewegung auf. Mobilität ist im Gegensatz zu Bewegung kein Thema der Physik. Die Physik kann lediglich dazu beitragen, regelhafte Naturphänomene konsistent und mathematisiert zu beschreiben. Im gesellschaftlichen Mobilitäts-Alltag kommen für physikalische Deutungen insbesondere gewollte und ungewollte Bewegungen in Frage, z.B. als Rollbewegungen, nämlich beim Rad-, Rollschuh-, Rollstuhl-, Auto- und Zugfahren, oder auch beim Fliegen und Schwimmen als Bewegungsformen in der Luft und im Wasser. Neben Bewegungen steht Mobilität auch mit temperaturabhängigen Vorgängen, Lärm oder Stille und Materialeigenschaften in Beziehung, die ebenfalls physikalisch erschlossen werden können.

II. Didaktische Überlegungen I: Zum Verhältnis von Physiklernen und Erfahrung Man könnte nun sagen, der erste Schritt zum Physiklernen ist, von der eigenen Erfahrung zu abstrahieren und sich gedanklich dem fachsystematischen Ausgangspunkt zu nähern – in Bezug auf Bewegungen eben der kräftefreien Bewegung. Dies ist im traditionellen Physikunterricht durchaus üblich. Solche und ähnliche Herangehensweisen an physikalisches Wissen sind aber für viele Lernende unattraktiv. Zudem ist damit der Bezug zur Mobilität als erfahrbarem und gesellschaftlichem Phänomen in weite Ferne gerückt. Es hieße: erst Physik lernen, dann Physik anwenden – vielleicht. Das wäre der fachsystematische Weg zu physikalischen Konzepten und Theorien. Eine zweite Variante wäre Physikunterricht im Rahmenkontext von »Mobilität«. Es würde bedeuten, Bewegungen nicht physikalisch unter Beifügung von Anwendungsbeispielen zu erschließen, sondern 91

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das Themenfeld der Mobilität zu wählen, um aus diesem Kontext heraus Fragestellungen zu entwickeln sowie Beispiele und Situationen zu beziehen, entlang derer physikalische Konzepte erschlossen werden. Dies bietet eine lebensweltliche Verankerung und ermöglicht Querbezüge zwischen verschiedenen Situationen sowie zwischen verschiedenen physikalischen Konzepten im selben Kontext. Mobilität könnte ebenso im fächerübergreifenden Unterricht allgemein, mehrperspektivisch und intentional thematisiert werden. Für verschiedene Aspekte ließen sich dann unterschiedliche fachliche bzw. alltägliche Annäherungen thematisieren. Das hieße, zu Fragestellungen, die eine physikalische Betrachtung nahe legen, bedarfsorientiert Physik zu treiben. Offen bleibt hier zunächst, wodurch sich diese physikalische Betrachtung von der eingangs geschilderten fachsystematischen Struktur unterscheiden müsste. Ein wesentlicher Faktor für didaktische Entscheidungen sind lernpsychologische Einsichten und Überlegungen. Auch aus physikdidaktischer Perspektive ist es nicht mehr zeitgemäß, Erfahrungen als Hindernisse für fachbezogenes Lernen zu begreifen und in der Folge Wege zu suchen, wie Erfahrungen als Denkhindernisse relativiert, überwunden oder kuriert werden können, um physikalische Einsichten hervorzubringen. Es ist aber aus einer physikalisch geprägten Perspektive auf die Lerngegenstände keinesfalls einfach, Wege zu finden, mit denen sich Vorerfahrungen und fachliche Einsichten miteinander vermitteln lassen. Bezogen auf die Unterrichtspraxis besteht davon abgesehen durchaus ein Fortschritt darin, dass sinnliche Vorerfahrungen als relevante Voraussetzung für Physiklernen mittlerweile nicht nur zur Kenntnis, sondern auch ernst genommen werden, statt fachsystematisch strukturierten »Stoff« zu vermitteln. Im Rahmen der Physikdidaktik als Wissenschaft, die sich mit dem Lernen und der Lehre der Physik befasst, wurden daher in den vergangenen 30 Jahren international eine Vielzahl von Studien durchgeführt, die darauf abzielten, die Vorverständnisse von Lernenden zu erfassen und fachdidaktische Konzeptionen auf diese Vorverständnisse abzustimmen. Die Bibliografie »Schülervorstellungen und naturwissenschaftlicher Unterricht« enthält mittlerweile mehr als 6300 Artikel.1 Im Folgenden wird es weder um die umfangreichen Ergebnisse

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Vgl. http://www.ipn.uni-kiel.de/aktuell/stcse/stcse.html.

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der physikdidaktischen Lehr- und Lernforschung zur Mechanik noch um didaktische Detailfragen gehen. Stattdessen werde ich einige Kontexte, in denen physikalische Betrachtungen angemessen sein können, und einige Grundkonzepte der Physik in Zusammenhang bringen, die weitere didaktische Überlegungen anregen sollen. Von Interesse ist dabei, dass physikalische Konzepte das verfügbare Erfahrungswissen deuten und insofern bereichern und ergänzen können. In der Konsequenz geht es für Unterrichtskonzeptionen darum, erschließendes Wissen aus den Fachwissenschaften, z.B. der Physik, für Schülerinnen und Schüler verfügbar zu machen. Um erschließendes Wissen handelt es sich meines Erachtens dann, wenn das erarbeitete Wissen den Lernenden ermöglicht, ihre Vorerfahrungen mit Phänomenen neu und schlüssig zu deuten, d.h. dass der Unterricht das Erleben bereits vertrauter Gegenstände erweitert und systematische Strukturierungen ermöglicht.

III. Didaktische Überlegungen II: Welche Aspekte von Mobilität kann die Physik erhellen? Eingangs wurde der Gedankengang verfolgt, dass Bewegungen sowohl zentraler Aspekt von Mobilität als auch geeignet sind, umfassend physikalisch beschrieben zu werden. Was stimmt daran? Angenommen, jemand bewegt sich von A nach B, verlässt also beispielsweise in Düsseldorf zu Fuß das Haus, geht zu seinem/ihrem Fahrrad, radelt damit zum Bahnhof, fährt mit dem Zug nach Bremen, läuft währenddessen noch im fahrenden Zug zum Bistrowagen und zurück, nutzt am Bremer Bahnhof den Fahrstuhl, um vom Bahnsteig ins Erdgeschoss zu kommen und lässt sich dann am Bahnhof mit dem Auto abholen. Lässt sich diese Bewegung physikalisch beschreiben? Und warum sollte man das versuchen? Wäre es interessant? Es sind eher Details der Gesamtbewegung, die sich mit elementarer Physik erhellen lassen, wie z.B. Beschleunigungs- und Bremsvorgänge von Zug, Fahrrad, Pkw und Fahrstuhl – einschließlich des merkwürdigen Gefühls im Magen, falls der Fahrstuhl schnell beschleunigt und bremst –, Kurvenfahrten und ihre Auswirkungen auf die Passagiere der jeweiligen Fahrzeuge, die Relativbewegungen beim Fußweg zum Bistrowagen in und entgegen der Fahrtrichtung des Zuges usw. Mobilitätsbezogene Physik muss sich aber nicht auf die Beschrei93

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bung von Bewegungen beschränken. Weitere Fragen, die physikalisch beantwortet werden können, sind z.B.: • • • •

• • • •

Warum wird man in Kurven nach außen gezogen? Warum friert die Brücke zuerst ein? Warum kann ein Fahrrad schneller anfahren als ein ICE? Warum »verbraucht« man bei höheren Geschwindigkeiten auf derselben Strecke mehr Energie? Warum im Stadtverkehr mehr als auf der Landstraße? Warum kriegt man keinen Schlag, wenn man eine Straßenbahn anfasst? Warum ist Straßenverkehr auf Asphalt leiser als auf Kopfsteinpflaster? Warum müssen Bremsen hitzebeständig sein? Warum flimmert Asphalt an heißen Sommertagen, als wäre er nass?

Ausgehend von den bisherigen Überlegungen werden nun vier mögliche Unterrichtsmodule skizziert, die sowohl Erfahrungen aus dem »Mobilitätsalltag« betreffen als auch geeignet sind, physikalische Konzepte sinnstiftend zu erschließen und zur Deutung der Erfahrungen zu nutzen.

IV. Unterrichtsmodule: Physik im Kontext von Mobilitätserfahrungen Beispiel A: »Die Kurve nicht kriegen und über den Lenker fliegen« Gegenstand dieses Moduls sind ungewollte und gewollte Bewegungen sowie die physikalischen Konzepte Trägheit und Reibungskraft. Jede Person, die schon einmal beim Anfahren in den Autositz gedrückt wurde, eine Kurve nicht gekriegt hat, über den Fahrradlenker geflogen ist oder im Gang eines bremsenden Busses auf jemand anderen gefallen ist, hat schon unbeabsichtigte bzw. ungezielte Bewegungen vollführt. Ebenso alle, die mit Ihren Inlineskates nicht so schnell bremsen konnten, wie sie wollten. Wirken hier Kräfte? Wie war das noch mit der Zentrifugalkraft? Nein, es handelt sich in allen diesen Fällen um sinnliche Erfahrungen mit Trägheit. Nämlich eben der Trägheit, die die Physik im obigen Dialog zu der Aussage bringt, dass 94

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eine einmal in Gang gesetzte Bewegung nie wieder aufhört, solange keine Kräfte wirken. Die beschriebenen Phänomene illustrieren, dass ein Bewegungszustand oder der Stillstand die Tendenz haben, beibehalten zu werden. Wer plötzlich abbiegen will, stellt fest, dass das Fahrzeug oder der eigene Körper in die ursprüngliche Bewegungsrichtung »gezogen« werden. Trotz der auf der Erde allgegenwärtigen Reibungskräfte und der Schwerkraft machen wir also Erfahrungen, die sich durch die Idee der kräftefreien Geradeausbewegung erhellen lassen. Trägheit bemerkt man daran, dass ein bewegter Körper sich Änderungen von Richtung oder Geschwindigkeit gewissermaßen widersetzt. Gelernt werden kann hier, dass auch das, was sich wie eine Kraftwirkung anfühlt – in den Sitz »gedrückt« werden, aus der Kurve »gezogen« werden, auf den Busnachbarn »geworfen« werden – nichts anderes ist als eine Tendenz, die ursprüngliche Bewegung oder Ruhe beizubehalten. Da unsere Erfahrung mit solchen Bewegungen aber auch ist, dass sie schlussendlich zum Stillstand kommen, statt tatsächlich endlos fortgesetzt zu werden, gehört das Konzept der Reibung ebenfalls in dieses Modul. Es ist die Reibung zwischen Autoreifen und Fahrbahn, die ermöglicht, überhaupt eine Kurve fahren zu können, und es ist die Reibung zwischen Schuhen und Boden, die uns im Bus eher umkippen oder einen Schritt machen als ausrutschen lässt. Für einen erfahrungsnahen Unterricht, in dem Trägheit und Reibung erschlossen werden, können eine Turnhalle und die dort verfügbaren Matten und Rollbretter gute Dienste leisten. Reibung kann sowohl hilfreich als auch hinderlich sein. Ein Fahrrad hat Kugellager – und zwar mit geschmierten, harten, glatten Kugeln, weil Reibung hier unerwünscht ist. Der Reifen allerdings hat ein Profil und ist aus einem weichen Material hergestellt, weil die Haftreibung, die Rutschen und Gleiten verhindert, hier hochgradig hilfreich ist. Erwünschte Reibung ist bei jeglichen Bremsvorgängen zu finden und Unterschiede zwischen Haft- und Gleitreibung lassen sich zum Beispiel mittels der Antiblockiersysteme in Bremsen thematisieren. Beispiel B: »Was hat Mobilität mit Energie zu tun?« Gegenstand dieses Moduls sind die Zusammenhänge zwischen Energieressourcen und Mobilität sowie das physikalische Konzept Energie (insbesondere Energieformen und Energieumwandlung). Sportler(innen) wissen, dass durch Bewegung Energie verbraucht 95

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wird. Physiker(innen) würden einwenden: Energie kann man nicht verbrauchen, sondern nur umwandeln. Ob das gefrühstückte Brötchen Energie für einen Spurt zum Bus und der getankte Treibstoff Energie für eine Fahrt mit dem Pkw bereitstellt oder ob die Bahn elektrische Energie aufnimmt: All diese Energieformen werden in Bewegung(senergie) und Wärme(energie) umgewandelt. Die Wärmeenergie (bei heißen Bremsen und Reifen, schwitzenden Körpern oder dampfenden Füßen) ist zwar nicht mehr gut zu nutzen, aber auch nicht »verbraucht«. Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, sich im Rahmen des Themas Mobilität aufschlussreich mit Energieformen und Energieumwandlung zu befassen, unabhängig davon, ob es um Solarautos, Inlineskates, Spaceshuttles oder Ruderboote geht. Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die hierbei gewonnen werden können, lassen sich auf viele andere Kontexte jenseits von Mobilität übertragen. Immer wenn Energie aufgewendet wird, um Bewegungen zu bewirken, wird Energie in einer Form, die mit Bewegung zunächst nichts zu tun hat (z.B. Brennstoff, Solarenergie, elektrische Energie), genutzt, um auf die eine oder andere Weise eine gerichtete Kraft zu erzeugen. Gerichtete Kräfte lassen sich zur Fortbewegung nutzen. Technische Geräte, die eine andere Energieform in gerichtete Kräfte und damit in gerichtete Bewegungsenergie (und Wärmeenergie) umwandeln können, nennt man Motoren. Die Beziehung zwischen Mobilität und hochwertiger Energie, die als Ressource dafür verwendet wird, um Mobilität zu ermöglichen, eröffnet ein breites Feld an Lernanlässen. Es ist wenig sinnvoll, dabei physikalische Betrachtungen isoliert anzustellen. Stattdessen ist eine Verbindung von technischen, physikalischen, biologischen, chemischen und gesellschaftlichen Fragestellungen aufschlussreich und weiterführend. Beispiel C: »Geschwindigkeit« oder »Beschleunigung«? Gegenstand dieses Moduls sind Geschwindigkeitsänderungen und die physikalischen Konzepte Geschwindigkeit und Beschleunigung. Geschwindigkeit und Beschleunigung zu unterscheiden, ist für die Mechanik grundlegend und für Schüler(innen) erfahrungsgemäß eine Herausforderung. Gerade dass die Begriffe auch in der Alltagsprache verwendet werden, erleichtert ihre Unterscheidung keineswegs. Neben einer Klärung der Bedeutung muss hier vor allem eine Umgewöhnung stattfinden, wenn man Geschwindigkeitsaspekte auch begrifflich auf 96

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den Punkt und in Zusammenhang bringen will. Dies wird nur gelingen, wenn die begriffliche Klärung explizit und anhand ausreichend vieler Beispiele erfolgt. Im Alltag werden sowohl »Geschwindigkeit« als auch »Beschleunigung« häufig mit Schnelligkeit assoziiert. Geschwindigkeit bedeutet im Alltagsverständnis gewissermaßen »schnell sein« und Beschleunigung bedeutet »schnell werden«. Physikalisch kommt man mit diesem Begriffsverständnis nicht aus. Selbst der Stillstand hat eine Geschwindigkeit – nämlich vom Werte Null – und negative Geschwindigkeiten sind nichts Merkwürdiges, sondern sagen etwas über die Richtung der Bewegung aus. Ebenso gibt es neben positiver Beschleunigung (schneller werden) auch die negative Beschleunigung (langsamer werden). Bremsen ist in der Physik also dasselbe wie negative Beschleunigung und Beschleunigung eben nur ein anderes Wort für Geschwindigkeitsänderung. Die Module B und C hängen physikalisch eng zusammen, denn Energie, Kräfte, Geschwindigkeit und Beschleunigung sind bei Bewegungen nicht zufällig immer gleichzeitig vorhanden: Braucht man mehr Energie, wenn man besonders schnell sein will? Klar! – sagt die Erfahrung. Aber eigentlich muss ein Fahrzeug, das sich unverändert schnell bewegt, doch nur Reibungskräfte überwinden, z.B. Luftwiderstand oder Rollreibung. Für die Geschwindigkeit selbst braucht es keine Energie. Nehmen also vielleicht die Reibungskräfte bei höheren Geschwindigkeiten zu? Die Zusammenhänge zwischen Energie, Kräften, Geschwindigkeit und Beschleunigung können begründen, warum langsame und gleichmäßige Bewegungen in der Regel »energiesparender« sind oder wieso ein Fahrrad schneller anfahren kann als ein ICE. Wer den physikalischen Zusammenhang zwischen Beschleunigung und Kraft sowie den physikalischen Unterschied zwischen Geschwindigkeit und Beschleunigung gedanklich in den Griff bekommen hat, hat jede Menge Physik gelernt, die für die physikalische Strukturierung von Bewegungsphänomenen wesentlich ist. Beispiel D: »Krachmacher & Schallschlucker« Gegenstand dieses Moduls sind akustische Aspekte von Mobilität. Straßenlärm, Schallschutz, akustische Eigenschaften verschiedener Straßenbeläge, Signale wie Hupen, Martinshorn oder Fahrradklingel bieten Anlässe, sich physikalisch mit Schall, seiner Entstehung, Ausbreitung und Messung zu befassen – sowie mit seiner Rolle als 97

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Umweltbelastung. Verstehen kann man hier zum Beispiel, wodurch Schallschutzmaßnahmen wirksam werden oder warum ein Krankenwagen in dem Moment die Tonlage zu ändern scheint, in dem er an uns vorbei fährt. Und natürlich gibt es eine physikalische Begründung, warum der nahende Zug früher zu hören ist, wenn man das Ohr an die Schiene drückt als wenn man es einfach in die Luft hält.

V. Schluss An Bezügen zwischen Mobilität und physikalischen Fragestellungen mangelt es nicht. Auch thermische Erscheinungen gibt es im Kontext von Mobilität reichlich. Dehnungsfugen in Brücken, Frostschutzmittel im Kühlwasser, Anforderungen an die Hitzebeständigkeit von Bremsen bzw. Bremsflüssigkeiten oder auch die Frage, warum Brücken zuerst einfrieren, können physikalische Überlegungen im Bereich der Thermodynamik anregen. Ob Jugendliche oder Kinder allerdings physikalische Fragestellungen im Kontext von Mobilität interessant finden und einen Sinn darin sehen, sich physikalisch mit ihren Mobilitätserfahrungen auseinander zu setzen, hängt nicht in erster Linie davon ab, ob der ein oder andere Bezug zu ihrem Alltag besteht. Entscheidend ist eher, ob ihnen das physikalische Wissen dabei nützt, Fragen zu klären, die sie interessieren, oder Phänomene zu verstehen, die sie überraschend finden. Dies ist sicherlich umso eher der Fall, wenn es im Unterricht gelingt, die Schüler(innen) zur Entwicklung eigener Fragestellungen anzuregen und ihre Aufmerksamkeit auf Phänomene zu lenken, die erst bei näherer Betrachtung merkwürdig sind, wenn ihre eigenen Erfahrungen aufgegriffen werden und wenn neben gedanklicher Arbeit auch die Vertiefung von Erfahrungen und praktische Untersuchungen Raum finden. Es ist sicherlich interessanter, selbst Schallpegelmessungen durchzuführen als darüber zu lesen. Und es ist sicherlich interessanter, Trägheit und Reibung in der Turnhalle auf die Spur zu kommen als in einem Gedankenexperiment. Physik kann informativ, interessant und attraktiv sein, wenn Anliegen, d.h. das Wollen und Wünschen und diesbezügliche Erfahrungen der Lernenden, im Zentrum der Überlegungen oder am Anfang und Ende von Fragestellungen stehen.

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Diskussion Erwin Curdt: Als jemand, der beim Curriculum mitgearbeitet hat, möchte ich mich bei Frau Murmann entschuldigen. Wenn man sich das Curriculum danach durchschaut, wie oft denn die Physik mit Beispielen auftaucht, kann man aus den Bausteinen nicht viele entnehmen. Ich will dies aber erklären. Als wir das Curriculum entworfen haben, haben wir uns von der Maxime leiten lassen, eine möglichst repräsentative Auswahl von Fächern zu integrieren – mit dem Ziel, eine größere Verbindlichkeit zu erreichen, indem das in den Standards oder Rahmenrichtlinien festgeschrieben wird. Und wenn wir für einen Lernbereich wie Mobilität das Ziel haben, dass wir einen Bildungsanspruch erfüllen – wie etwa bei den Fächern der Allgemeinbildung –, dann müssten wir darauf achten, dass alle vier Lernfelder erfasst werden. Deshalb haben wir uns im naturwissenschaftlichen Bereich auf Physik und Biologie festgelegt. Die Physik kommt allerdings tatsächlich schlechter dabei weg. Deshalb ergeht ein Appell an alle, die dieses Curriculum mit dem Baustein in der Schule praktizieren: Wir sehen die Bausteine, die wir vorgelegt haben, nicht als einen Endzustand an, sondern als Vorschläge, die weiterentwickelt werden müssen. Nach dem, was Frau Murmann dargelegt hat, besteht die Aufgabe bezüglich der Physik darin, den Baustein weiterzuentwickeln und nach Beispielen zu suchen, die noch mehr Fleisch an das Curriculum bringen. Herbert Bickel: Bei philosophischen Überlegungen zur Mobilität habe ich irgendwann behauptet, dass in der Physik alles über Mobilität zu verstehen ist. Nun habe ich von Ihnen, Frau Murmann, gehört, dass es dennoch Schwierigkeiten gibt und ich wollte rückfragen, ob ich mit dieser Behauptung wirklich so schräg liege. Sie haben gesagt, dass, wenn es um Wärme geht, der Zugang schwer zu finden ist. Ich habe mir damals überlegt, wenn es um Wärme geht – ich assoziiere einen Kochtopf, bei dem sich der Deckel hebt –, hat das mit Ausdehnung und also mit Mobilität zu tun. Ich war in Engpässen, irgendeinen Bereich innerhalb der Physik zu finden, der nichts mit Mobilität zu tun hat. Lydia Murmann: Von der »Fachdenke«, vom Fachstudium her bin ich zugestandenermaßen automatisch in der Mechanik gewesen mit meinen ganzen Gedanken. Und letztlich hat sich das dann in eine Belie99

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bigkeit aufgelöst, so dass ich dachte, man kann alles machen. Was heißt das? Es bleibt die Schwierigkeit bestehen, eine Struktur hineinzubringen, die noch in einem thematischen Sinn mit Mobilität zusammenhängt. Das Feld ist sehr weit und groß und die ganzen Aspekte, die ganzen Phänomene der unbelebten Natur, die darin vorkommen, oder das Wissen, was technisch genutzt worden ist – da ist natürlich ganz viel Physik drin. Allerdings weiß ich nicht, wie viele junge Menschen im Alter zwischen 10 und 20 beim Verbrennungsmotor und der Berechnung der unterschiedlichen Volumina und Temperaturunterschiede (und dann ist es eine isotherme Ausdehnung) noch mit »Mobilität« beschäftigt sind. Gleichzeitig ist es jedoch nicht nur die Mechanik, mit der wir es hier zu tun haben. Carmen Scher: Damit tut sich ein weiteres Aufgabenfeld auf. Wir stellen zusammen mit denjenigen, die jetzt schon mit dem Curriculum Mobilität gearbeitet haben, fest, dass dieses noch in den Kinderschuhen steckt. Es wurde auf dieser Tagung mehrfach betont: Wir sind genau deswegen zusammengekommen, um Defizite aufzuzeigen, damit wir im Interesse der Sache gemeinsam weiterarbeiten können. Frau Murmann, mich würde Ihre Einschätzung interessieren: Halten Sie es nach den Tagen, in denen Sie darüber nachdenken konnten, für sinnvoll, das Darstellende Spiel und die Physik in einer ersten Kampagne zusammenzuführen? Lydia Murmann: Das ist sehr sinnvoll – schon allein deswegen, weil man denkt, es sei ganz einfach, Mobilität und Physik zusammenzubringen. Es ist dann ein Leichtes, der Mobilität einfach die physikalische Fachsystematik überzustülpen. Das geht ganz schnell. Da muss man nicht nur von außen thematisch eine Eingrenzung bringen, sondern auch methodisch. Hermann Lübbe: Lässt sich auch das Phänomen des Staus im Physikunterricht behandeln? Oder ist das schon für schulische Zwecke für schwierig zu halten? Lydia Murmann: Wenn man versucht, Stau im Sinne von Strömungslehre zu bearbeiten, dann ist man bei kompressiblen Flüssigkeiten – also das ist wirklich eine zu krasse Zuspitzung. Das ist schwer zu realisieren. 100

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Anke Spies, Universität Oldenburg: Mein Arbeitsschwerpunkt liegt im Bereich Kinder und Jugendliche und ihre Familien in sozial benachteiligten Lebenslagen. Ich möchte auf Ihre Frage, Frau Scher, ob man die beiden Bereiche Physik und szenisches Spiel zusammenbringen kann, eingehen. Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen und auf die Symposiumsfrage »DENK(T)RÄUME« Bezug nehmen: Wenn man es systematisch angeht, lassen sich Wege aufzeigen, um soziale Probleme, die wir und vor allem Kinder und Jugendliche haben, anzugehen. Denen, die keine Lust mehr haben, zur Schule zu gehen, die aktiv und passiv Schule und Lernen verweigern, könnten wieder Lernanlässe im weitesten Sinn geboten werden. Dies müsste noch etwas ausführlicher ausgearbeitet werden. Das sind die Assoziationen, die ich im Laufe des Symposiums gesammelt habe. Im ersten Vortrag ist das Stichwort Gemeinnützigkeit und im zweiten Vortrag das Stichwort Wohlfahrt angeklungen. Dies bedeutet für mich, dass wir das Problemfeld auch aus der sozialen Perspektive betrachten und auf biographische Risiken und Probleme, die die nachwachsende Generation mit Mobilitätsanforderungen hat, mit Lernanlässen reagieren. Ich kann mir Beispiele vorstellen, die das auch umsetzbar machen und nicht nur träumen lassen. Klaus Taubert, AG Mobilität: Zum Thema Stau lässt sich noch ein Beispiel des Mathematiklehrers anführen, das man vielleicht auch in der Physik machen kann: Es geht um die Baustelle an der Autobahn. Da sagen Schüler immer, je schneller ich fahre, umso schneller komme ich durch. Dieses mathematisch anzugehen und die optimale Geschwindigkeit festzustellen, warum statt 180 nur 60 steht, ist sicherlich für Schüler eine hervorragende Erkenntnis. Und zum Thema des Darstellenden Spiels: Ich weiß nicht, ob das Herrn Sting so angenehm ist, aber: Wie schnell kommt man aus der Klasse raus, wenn es klingelt? Vielleicht könnte man so etwas auch darstellen. Ich denke, es gibt eine Menge Möglichkeiten, Verbindungen herzustellen. Dirk Wilkening, Rinteln Gymnasium: Ich unterrichte seit einigen Jahren Darstellendes Spiel und ich habe beim Vortrag von Frau Murmann einige Begrifflichkeiten wieder gefunden, die in meinem Unterricht eine große Rolle spielen, wie z.B. Energie. Wenn ich die Schüler nach vier oder sechs Stunden Unterricht in der 7. oder 8. Stunde habe, muss 101

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ich zuerst ein paar Aufwärmübungen machen, damit sie wieder in der Lage sind, ihren Fokus zu finden, d.h. ihre Energie zu sammeln. Vorher kann ich mit ihnen nämlich nicht spielen. Und wenn ich eine Klausur mit ihnen schreibe, stehen in meinem Gutachten Begriffe drin, die im Vortrag auch vorkamen, nämlich Geschwindigkeit, Beschleunigung, Impulse aufnehmen, Impulse weitergeben, Bewegung im Raum. Die werden zwar auf andere Art und Weise verwendet, aber da gibt es viele Verknüpfungen. Ich denke, das ist auch eine Brücke. Herr Sting hat das mit seiner Abschlussübung deutlich gemacht. Das war im Prinzip ein physikalisches Experiment – dieses Fallenlassen –, das hatte auch mit Kräften und Mobilität zu tun. Lydia Murmann: Es ist wichtig, dass das angesprochen wird, weil das auch immer wieder im Physikunterricht passiert. Wenn es um Energie geht, dann möchte man auch gern an Assoziationen zu Energie anknüpfen, an das, was durch Energie alles möglich wird und was Energie alles freisetzt und wie Energie selbst freigesetzt wird usw. Die Tücke ist nur, dass der alltagssprachliche Gebrauch der Wörter häufig genau verhindert zu verstehen, was in der Physik damit gemeint ist. Deswegen ist man, wenn man versucht, über die Wörter die Brücke zu schlagen, ganz schnell dabei, Deutschunterricht zu machen und zu definieren. Aber das wäre eigentlich schade. Denn eigentlich ist der Hinweis wichtiger, dass die Sprache trotz des gleichen Wortes unterschiedlich ist. Dann kann man in den jeweiligen Feldern die Begriffe erarbeiten, sie mit Bedeutung füllen und feststellen, wo die Unterschiede liegen. Aber die Wörter selbst oder die Begriffe, die verwendet werden, sind nicht wirklich die Brücken, die man gehen sollte. Publikumsbeitrag: Es geht doch sicherlich in der Physik auch darum, Findungen zu machen – also etwas neu zu finden: Wenn ein leerer Raum und sonst noch nichts da ist, aber immerhin eine Möglichkeit. Diese ist auf jeden Fall vorhanden – ob es sich nun um Physik oder Theater handelt. Wenn zunächst nichts da ist, dann macht man nichts, von dem man weiß, wo es enden soll. Sondern man gibt sich wirklich diese Mühe, in einem leeren Raum etwas zu finden, mit Peter Bucks leerem Raum anzufangen beispielsweise. Ich glaube, es war Picasso, der gesagt hat: »Ich suche nicht, ich finde.« Das heißt, Findungen macht man in der Physik, und man sollte es auch mit Schülern so machen – ihnen das Gefühl geben, dass sie Findungen machen. Dass sie 102

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nicht schon vorher wissen, was nachher das Ergebnis werden wird. Und diese Bemühungen dienen ganz selbstverständlich auch zur wissenschaftlichen Arbeit. Dieselbe Situation ist auch in der Theaterpädagogik vorhanden. Dorothee Kirsch, Theodor-Heuss-Gymnasium Wolfsburg: Es gibt wohl Schwierigkeiten, die Begrifflichkeiten zusammenzubringen. Ist denn die Kreativität vielleicht eine Annäherung? Das spielt doch in der Physik auch eine große Rolle. Lydia Murmann: Ich versuche mitnichten zu sagen, dass das nicht zusammengeht, weil die Unterschiede zu groß sind – überhaupt nicht! Kreativität ist allemal eine Annäherung, aber worin genau besteht diese Annäherung, wenn man sagt, Kreativität ist das Bindeglied? Ist Kreativität als ein Thema bei der Beschäftigung mit Mobilität, Physik und Darstellendem Spiel etwas Verbindendes? Dabei wird es zum Thema, wie mir scheint. Man müsste auch in beiden Feldern kreativ sein. Wir neigen manchmal dazu, Brücken zu schlagen, die eher gedankliche Brücken sind, als dass es auch erfahrbare Brücken wären, als dass man auch wirklich den direkten Weg findet. Noch etwas zu den Findungen: Das finde ich spannend – natürlich werden in der Physik Dinge gefunden. Aber die Physik beschäftigt sich eher mit Dingen, die sie vorfindet – und dann erfindet sie etwas dazu. Dann macht sie gedankliche Konstruktionen, die das, was schon vorgefunden wurde, noch einmal in eine ganz andere Ordnung rücken. David Reuter, HBK Braunschweig: Ein ganz wichtiges Mittel ist der Kontrast. Ich habe – vom Darstellenden Spiel kommend – meine Examensarbeit hauptsächlich mit einem Zitat von einem Physiker, nämlich von Palágyi, begründet: Jede menschliche Bewegung ist in ihrem Ursprung nichts anderes als eine Bewegungsphantasie. Ich habe bei dem Vortrag von Herrn Sting festgestellt, dass dieser wirklich sehr physikalisch war. So gab es sehr viele Komponenten wie beispielsweise das Experiment. Es lässt sich festgestellen: Wir brauchen vom Darstellenden Spiel her oft die Bezugswissenschaft, z.B. die Physik, und wir sind ein bisschen neidisch, denn Physiker wissen immer: »a, b, c und d und dann steht ein Strich darunter und dies ergibt y« usw. Ich kann mich da dem Vortrag nur anschließen. Das Spannende war, dass es nicht so strukturiert war, sondern anders, und dass das 103

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kreative Potenzial für uns alle in dem »Hmm« drinsteckte, dass wir plötzlich eine Idee entwickelt haben in diesen kleine Ruhepausen. Die Physik lebt für mich in der Schule leider oft nicht davon, dass die Zeit bleibt, »Hmm« zu machen oder etwas auszuprobieren. Mein Plädoyer – zumindest für diese beiden Fächer – lautet, das andere Fach mit hineinzunehmen, also in interdisziplinärer Form, um dieses Schlagwort aus den Neunzigern zu bemühen. Ich bin immer ein bisschen sprachlos beim Darstellenden Spiel, denn die Akteure sind das alle gewohnt, sie turnen eben. Da fehlt mir das Griffige. Ich bin froh, wenn ich mit Physikern zusammenarbeite. Aktuell zum Beispiel erlebe ich dies in einem Projekt zusammen mit einer Fachhochschule. Alle bekommen dort leuchtende Augen, wenn sie etwas berechnen können und wenn sie etwas kreativ anwenden können. Davon lebt auch insbesondere dieser Bereich: von dem Kontrast, von dieser ganz anderen Arbeitsweise. Gerd Bruderreck, Universität Lüneburg: Ich erlebe eine zunehmende Unzufriedenheit mit dem Verlauf der Diskussion. Immer stärker ist der Aspekt der räumlichen Bewegung in Bezug auf die geistige und soziale Mobilität hinten heruntergefallen. Ich stimme deshalb mit Frau Murmann überein, wenn sie sagt, Physik beschäftigt sich damit, was da ist, und dann erfindet sie noch etwas dazu. Ich finde diesen Aspekt, also die geistige Mobilität und die Entwicklung neuer Deutungen und Konzepte, um unsere Welt besser zu verstehen, wichtig. Den sollten wir mit dem Mobilitätsbegriff noch einmal zusammendenken. Hermann Lübbe: Das, was wir gerade gehört haben, würde ich gerne aufnehmen und mit ein paar Sätzen zu einem signifikanten kulturgeschichtlichen Vorgang, der sich im eben abgelaufenem Jahrhundert abgespielt hat, illustrieren. Bei dem Schweizer Psychoanalytiker Jung, ein Antipode und zugleich Kampfgenosse von Sigmund Freud, gibt es folgende Bemerkung, die zusammenhängt mit der Präsenz des Themas Mobilität in der Spielzeugwelt: Es gehöre zu den Archetypen, zu den unveränderlichen Orientierungsgrößen des menschlichen Erwachsenwerdens, die er auch nie loswird – das Pferd. Es war tatsächlich noch in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts in jedem Kinderspielzeugladen und in den Kinderzimmern präsent. Die Charakteristik des Pferdes ist eine Art Archetypus, es war ein zivilisationskritischer Impuls gegen die technische Welt, der dahinter steckte. Heute kann man sagen, dass sich in der Spielzeugwelt an die Stelle des Pfer104

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des das Auto gesetzt hat. Und dann ist es eine Frage der geistigen Mobilität zu erkennen, dass das archetypisch Unveränderliche nicht das Pferd, vielleicht auch nicht das Auto ist, sondern die Mobilitätsangewiesenheit des sesshaft gewordenen Menschen. Edith Burghardt, Studienseminar Helmstedt: Erfreulich ist es, dass es in die Turnhalle geht, um spielerisch mit den Schülerinnen und Schülern physikalische Gesetzmäßigkeiten zu erarbeiten. Die Kinder im Grundschulalter können es natürlich noch nicht so fassen, aber es ist eine ganz wichtige Voraussetzung, dass auch später spielerisch mit Gedanken an andere physikalische Themen, auch im Bereich der Mobilität, umgegangen werden kann. Und vielleicht ist auch dieses spielerische Element eine Klammer, die zum Darstellenden Spiel eine Verbindung schafft.

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Mobilität nach innen

Mobilität nach innen Michael Plattig

Einleitung »Auf der Überholspur bleiben: vital und unternehmungslustig, fit und kompetent, selbstbewusst und kaufkräftig das Leben genießen – dazu fordert unsere Gesellschaft ohne Unterlass auf […]. Nur nicht innehalten und verweilen, nur nicht den Anschluss verpassen. ›Mobilität‹ – dieses Zauberwort unserer Zeit animiert junge und alte Menschen, kreativ und ungebremst die Welt zu erleben, in die Nähe und in die Ferne zu reisen, alte und neue Kontakte zu knüpfen, ein noch schnelleres Auto zu kaufen und, und, und … Die äußere Rastlosigkeit ist nur eine Seite. Die innere Unruhe des modernen Menschen scheint mindestens genauso groß zu sein.«1

Dieser tendenziell negativen Beschreibung gesellschaftlicher Trends bzw. der Mobilität wird dann die »Reise nach innen« als beruhigende, bremsende und identitätsstiftende Alternative gegenübergestellt. Dies ist ein relativ willkürlich herausgegriffenes Beispiel für einen Trend in »frommen« Büchern, nämlich Mobilität negativ zu bewerten und ihr christliche oder allgemeiner: spirituelle Einkehr als positive Bewegung entgegenzuhalten. Ohne grundsätzlich auch negative Auswirkungen von Mobilität zu leugnen, möchte ich mich nicht an dieser etwas durchsichtigen Schwarz-Weiß-Malerei beteiligen, sondern das Phänomen einer »Mobilität nach innen« in Beziehung zu Mobilität überhaupt differenzierter betrachten, denn, so möchte ich im ersten Schritt zeigen, Mobilität ist ein Charakteristikum jüdisch-christlicher Spiritualität. Im zweiten Schritt soll dann eine »Mobilität nach innen« näher charakterisiert werden, um dann abschließend im dritten Schritt einen kritischen Dialog zwischen Mobilität und Mobilität nach innen zu führen. Wenn in diesem Beitrag die (jüdisch-)christliche Spiritualität im

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Knollmeyer, C.M./Ketteler, E.M., Die Reise nach innen. Geistliche Übungen im Advent, Würzburg 2003, 7.

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Michael Plattig

Vordergrund steht, sagt dies nichts über mögliche ähnliche Beispiele oder Bezüge in islamischer, buddhistischer oder anderer religiöser Tradition aus, es ist lediglich die Begrenzung des Themas durch den Autor.

1. Mobilität ist ein Charakteristikum jüdisch-christlicher Spiritualität Wo Gott begegnet bzw. ruft, gerät menschliches Leben in Bewegung, geschieht Aufbruch (vgl. Abraham [Gen 12,1-9], Israel [Ex 3,7-10 u.a.], Jünger [Mk 1,16-20 u.a.], Wüstenväter und -mütter2, Ordensgründer[innen]3 etc.). Mobilität ist deshalb ein Charakteristikum des jüdischchristlichen Verständnisses von Spiritualität. Im Rahmen der Unterscheidung der Geister wird Mobilität zum entscheidenden Kriterium für die Identifizierung des Wirkens des Geistes Gottes. Aufstieg, Weg, Reifung, Wachstum, Unterwegssein, Fortschreiten, Pilgerschaft etc. sind Begriffe, die im Rahmen jüdisch-christlicher Spiritualität geistliches Leben als eine geschichtliche bzw. biographische Entwicklung charakterisieren. Teresa von Avila begründet dies mit folgenden Worten: »Wenn ihr nicht nach Tugenden trachtet und euch nicht tätig darin übt, werdet ihr immer Zwerge bleiben. Ja, Gott gebe, daß das Wachstum nimmer stockt; denn ihr wisst doch: Wer nicht wächst, schrumpft ein. Ich halte es für unmöglich, daß die Liebe sich damit begnügt, ständig auf der Stelle zu treten.«4

Im Lauf der Geschichte finden sich unterschiedliche Bilder und Vergleiche, verschiedene Systematisierungen, um diesen Reifungsprozess zu beschreiben.5

2 Vgl. z.B. Athanasius, Vita Antonii. 3 Vgl. Weismayer, J. (Hg.), Mönchsväter und Ordensgründer. Männer und Frauen in der Nachfolge Jesu, Würzburg 1991. 4 Teresa von Avila, Seelenburg VII,4, zitiert nach: dies., Die innere Burg, hrsg. und übers. v. F. Vogelgsang, Zürich 1979, 210f. 5 Vgl. dazu die prägnante und übersichtliche Darstellung in: Weismayer,

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Mobilität nach innen

Allen gemeinsam ist die Beschreibung einer positiven Entwicklung im Sinne einer persönlichen Vervollkommnung bzw. im Sinne einer Intensivierung der Begegnung mit Gott. Dabei geht es nicht um glatte, stets aufsteigende Biographien. Im Gegenteil: Zum jüdisch-christlichen Wachstumsverständnis gehören notwendigerweise Brüche, Sprünge, Umwege, Krisen, ja oft sind diese erst Auslöser eines nächsten Reifungsschrittes.6 »Im geistlichen Wachstum kann nichts erzwungen werden. Mit Wachstumsschüben ist ebenso zu rechnen wie mit schöpferischen Inkubationszeiten – einschließlich regressiver Wachstumsverweigerungen und progressiver Überhastungen.«7

Der Führer auf diesem Weg, auch das ist allen Entwürfen christlicher Spiritualität gemeinsam, ist Gott selbst bzw. der Heilige Geist (vgl. Mt 28,20; Gal 4,6; 5,18-25; Röm 8,15f. u.a.). Daraus ergibt sich allerdings die Frage nach der Unterscheidung der Geister: »Liebe Brüder, traut nicht jedem Geist, sondern prüft die Geister, ob sie aus Gott sind; denn viele falsche Propheten sind in die Welt hinausgezogen.« (1 Joh 4,1) Daher mahnt Paulus: »Prüft alles, und behaltet das Gute!« (1 Thess 5,21) und zählt die Gabe der Unterscheidung der Geister zu den Charismen (vgl. 1 Kor 12,10), den Gnadengaben. Wachstum bzw. Mobilität an sich ist also noch kein Kriterium des Geistlichen, dieses Wachstum ist näher zu qualifizieren als vom guten Geist Gottes geleitetes. Im Lauf christlicher Spiritualitätsgeschichte entwickelten sich verschiedene Kriteriologien der Unterscheidung der Geister, deren Darstellung den Rahmen des Artikels sprengen würde.8

J., Leben in Fülle. Zur Geschichte und Theologie christlicher Spiritualität, Innsbruck/Wien 1983, bes. 54-67. 6 Vgl. dazu: Plattig, M., Die ›dunkle Nacht‹ als Gotteserfahrung, in: Studies in Spirituality 4 (1994), 165-205. 7 Fuchs, G., Rhythmen der Christwerdung. Aus dem Erfahrungsschatz christlicher Mystik, in: Katechetische Blätter 116 (1991), 245-254, hier 245. 8 Eine umfassende Darstellung findet sich bei Guillet, J./Bardy, G. u.a., Discernement des esprits, in: Dictionnaire de Spiritualité III, 1222-1291;

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Michael Plattig

Der Aspekt, der hier interessant ist, ist die Beschreibung christlichen Wachstums als ein Erwachsen-Werden, als Wachsen in der Freiheit, die Charakterisierung also des Wirkens des Geistes als einen Prozess zunehmender Befreiung von unterschiedlichen Abhängigkeiten und Knechtungen, als Befreiung zum Leben. »Der Weg des Glaubens führt zu mehr Leben in Fülle und zur größeren Freiheit vor Gott und den Menschen, denn mit jedem Ruf Gottes sind positive Lebensmöglichkeiten verbunden.«9 Das Anfängerstadium ist oft gekennzeichnet durch ein Leiden am bestehenden Leben, die gegenwärtige Not-, Mangel- und Abhängigkeitssituation wird angesichts der Sehnsucht nach dem Leben in Fülle (vgl. Joh 10,10) nicht länger verdrängt. Der Mensch macht sich auf den Weg, er bricht auf. Die Führung Gottes dabei beschreibt Johannes vom Kreuz so: »Die Umgangsform der Anfänger auf dem Weg zu Gott ist noch sehr von Unzulänglichkeit, Eigenliebe und Wohlgeschmack durchsetzt. Gott aber will sie weiterführen und aus dieser unzulänglichen Liebe zu einer höheren Stufe der Gottesliebe heraufholen […]. Er möchte sie in die Übung des Geistes stellen, wo sie sich ausgiebiger und schon mehr befreit von Unvollkommenheiten mit Gott austauschen können. […] Da Gott spürt, dass sie bereits ein klein bisschen gewachsen sind, nimmt er sie von der süßen Brust weg, damit sie nun erstarken und aus den Windeln herauskommen, lässt sie von seinen Armen herab und gewöhnt sie daran, auf eigenen Füßen zu gehen. Dabei verspüren sie etwas ganz Neues, denn für sie hat sich alles auf den Kopf gestellt.«10

Der Säugling an der Mutterbrust Gottes ist Bild für Stabilität, Sicherheit und Versorgung, das ist für den Anfänger, für das Baby im geistlichen Leben wichtig, jedoch kein Dauerzustand, denn es soll ja erwachsen werden. Gott selbst ergreift die Initiative, damit Dynamik ins Ge-

Switek, G., »Discretio spirituum«. Ein Beitrag zur Geschichte der Spiritualität, in: Theologie und Philosophie 47 (1972), 36-76. 9 Schneider, M., Gott will meinen Dienst. Geistliche Begleitung, in: Falkner, A./Imhof, P. (Hg.), Ignatius von Loyola und die Gesellschaft Jesu 1491-1556, Würzburg 1990, 185-188, hier 187. 10 Johannes vom Kreuz, Die Dunkle Nacht I,8,3; zitiert nach: ders., Die Dunkle Nacht. Vollständige Neuübersetzung, Freiburg 1995, 59f.

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schehen kommt. Das Kind muss mobil werden, es soll daran gewöhnt werden, nicht nur auf eigenen Füßen zu stehen, sondern auf ihnen zu gehen. Im Verhältnis zu Gott muss der Mensch sich bewegen und erwachsen werden, und das bedeutet, sich von der Versorgung trennen, die Sicherheit der Mutterbrust aufgeben und sich auf den Weg machen von der Versorgung zur Verantwortung. Die Tradition, für die Johannes vom Kreuz stellvertretend steht, unterscheidet regressive, gleichsam an die Mutterbrust sich zurücksehnende Infantilität in der Frömmigkeit von schöpferischer Gestaltung des Erwachsenwerdens im rechten Verhältnis von Abhängigkeit, Freiheit und Selbstständigkeit. Johannes vom Kreuz gebraucht für diese Prozessbeschreibung die Worte »librar« und »más libres«, beschreibt also den von Gott initiierten und damit geistgeleiteten Prozess als befreiend. Im Bezug also auf Mobilität ist zu konstatieren, dass geistliches Leben immer einen Prozess des ganzheitlichen Wachsens und Reifens meint, den man auch als Prozess zunehmender Befreiung beschreiben kann, ja dessen Kriterium für Fortschritt die wachsende Freiheit des Menschen darstellt.

2. Mobilität nach innen Das Institut für Spiritualität verwendet in seinem »Grundkurs Spiritualität« folgende Definition: »Spiritualität ist die fortwährende Umformung (transformatio) eines Menschen, der antwortet auf den Ruf Gottes.«11 Der Begriff der fortwährenden Umformung (transformatio) beschreibt dabei die Dynamik von Spiritualität und unterstreicht, dass es sich um ein prozesshaftes Geschehen handelt. Die Rede von der Antwort auf den Ruf Gottes betont das Stehen in einer Beziehung. Damit umfasst die Definition des Instituts ein Element von Mobilität und ein Element von Stabilität. Stabilität ist dabei nicht an einen Ort, an die Zugehörigkeit zu einer politischen oder ethnischen Gemeinde gebunden, auch nicht durch verwandtschaftliche Beziehungen bestimmt, sondern hängt an

11

Institut für Spiritualität (Hg.), Grundkurs Spiritualität, Bd. 1, Stuttgart 2000, 10.

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der Beziehung zu Gott. So hat sich christliche Spiritualität immer als Pilgerbewegung von Menschen verstanden, die letztlich auf Erden heimatlos sind bzw. bleiben: »Unsere Heimat aber ist im Himmel.« (Phil 3,20) Das Bild des Wanderers diente auch Augustinus dazu, in seinem Werk »De civitate Dei« (Vom Gottesstaat) zwei Staaten bzw. Städte12 voneinander abzugrenzen: »Es steht nun geschrieben von Kain, dass er einen Staat gründete, Abel dagegen als Fremdling gründete keinen. Denn der Staat der Heiligen ist jenseitig, obwohl er hienieden Bürger erzeugt, in denen er in der Fremde pilgert, bis die Zeit seines Reiches herbeikommt, […].«13

Die jüdisch-christliche Kultur hat es von Beginn an mit Erfahrungen der Ort- und Heimatlosigkeit zu tun. Hinzu kommt, was R. Sennett im Blick auf Augustinus beschreibt: »Für Augustinus indessen war mit der Suche nach dem Glauben eine Erneuerung des Wahrnehmungsvermögens des einzelnen Menschen verbunden; der Mensch musste neu sehen lernen. Aber es gab keine in der Schule, durch das Gebet oder durch das sokratische Beispiel erlernbare Formel, die zur religiösen Vision verhalf. Jeder Christ musste für sich selbst den Weg dorthin finden, von wo das Licht erstrahlte.«14

Dem ist prinzipiell zuzustimmen, mit dem Verweis allerdings, dass der einzelne Mensch als Christ nicht allein unterwegs ist, sondern als Glied einer Gemeinschaft, der Kirche. Dies ersetzt nun gerade nicht die Suche nach dem eigenen Weg, hilft aber bei dieser. Die Gemeinschaft der Kirche versteht sich selbst nicht als eine Gemeinschaft von Sesshaften, zumindest nach ihrem Ideal, sondern als eine Weggemeinschaft. Immer dann, wenn Kirche sich zu sehr eingerichtet und arrangiert hat mit der Welt, kam und kommt es zum Niedergang kirch-

12 13

Bei Augustinus fließen die Begriffe Staat und Stadt ineinander. Augustinus, Gottesstaat, XV,1, zitiert nach: Bibliothek der Kirchenväter, Augustinus II, Kempten/München 1914, 361f. 14 Sennett, R., Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds, Frankfurt 1994, 23.

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lichen Lebens bzw. werden Reformen evoziert. Die Kirche versteht sich als ecclesia semper reformanda – als eine in ständiger Reform und damit in ständiger Bewegung befindliche. Ob sie das tatsächlich ist, muss natürlich jeweils kritisch hinterfragt werden. Individualisierung und Pluralisierung werden gegenwärtig als wichtige Tendenzen gesellschaftlicher Entwicklung angesehen. Die Wertigkeiten und Gewichte haben sich vom Wir zum Ich verschoben, was neben dem Bedeutungsgewinn für das Individuum die Vermehrung der Lebensentwürfe, Sinnkonzepte etc., also eine Pluralisierung bedingt. In Kirchenkreisen wird diese Entwicklung oft von vornherein mit einer negativen Wertung versehen – man spricht von Individualismus und dem Verlust gemeinsamer Werte, der damit einhergehe. W. Schaupp unterstreicht in seinem Artikel »Identitätsfindung in Gemeinschaft« zu Recht: »Das oft so ungebremst in Erscheinung tretende Verlangen des modernen Menschen nach Freiheit und Selbstmächtigkeit darf nicht einfach als Ausdruck von Willkür und Verantwortungslosigkeit angesehen werden, wie dies oft von Kulturpessimisten unterstellt wird, sondern ist Ausdruck eines gültigen moralischen Ideals, das in unserem Wissen um die Einmaligkeit und Würde eines jeden Menschen gründet. Würde besagt unter anderem, dass jeder Mensch sein eigenes und einmaliges Leben lebt, dass er eine unverwechselbare Identität besitzt und dass er die Verantwortung hat, seinem Selbst und seinem Gewissen zu folgen.«15

Dies sind durchaus auch in der Tradition des Christentums wichtige Grundwerte, wenn diese auch darin anders verankert werden, nämlich in der originären und unvertretbar existentiellen Gottesbeziehung des einzelnen Menschen, in seiner unverwechselbaren Berufung. In den Berufungsgeschichten des Alten und Neuen Testaments geht es um ganz konkrete Menschen. Berufung wird als ein individuell geprägtes Geschehen verstanden. Der jüdisch-christliche Gott zeichnet sich dadurch aus, dass er einzelne Menschen ruft und beruft für bestimmte Aufgaben, zum Führer

15

Schaupp, W., Identitätsfindung in Gemeinschaft, in: Schaupp, K./Kunz, C.E. (Hg.), Erneuerung oder Neugründung? Wie Orden und kirchliche Gemeinschaften lebendig bleiben können, Mainz 2002, 41-59, hier 43.

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des Volkes wie Mose, zum Propheten wie Jesaja und viele andere oder zum Stammvater seines Volkes wie Abraham. Ähnliches gilt z.B. auch für die Entstehung von Ordensgemeinschaften. J. Weismayer stellt in seinem Versuch einer Ordenstheologie »von unten« in dem von ihm herausgegebenen Buch über Ordensgründer und -gründerinnen fest: »Am Anfang dieser Wege stand nicht eine Reflexion darüber, wie sich diese ›neue‹ Lebensform zu der der anderen Christen verhält. Nicht die Umrisse einer ›Ordenstheologie‹ waren die bewegenden Momente, sondern der Ruf Gottes, einen konkreten Weg der Nachfolge zu gehen. Die Berufungen dieser Männer und Frauen haben ihre je eigene Geschichte, aber sie zeigen, dass Gott den einzelnen in einer einmaligen und unverwechselbaren Weise anspricht. Das Abwägen, das Prüfen, das Sich-Vergewissern, ob wirklich Gott auf diesen Weg ruft, war oft mühevoll und langwierig, von manchen Zweifeln und Dunkelheiten begleitet.«16

Damit wird deutlich, dass die Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit der Gestalten und Ausformungen des Ordenslebens zuerst und zunächst begründet sind in der Vielgestaltigkeit der Gottesbeziehungen von Menschen in ihrer Zeit und des darin ergehenden Rufes – und damit begründet sind in der Vielgestaltigkeit der Spiritualität von Menschen. Individualität und Pluralität sind daher in der Einmaligkeit der Berufung des Menschen durch Gott sich gründende Werte. Damit wird eine weitere Überzeugung christlicher Spiritualität deutlich, dass nämlich Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis untrennbar zusammengehören. Das Ich erfährt sich als Teil dieser Welt und damit auch als unvollkommen, unfertig, angefochten, begrenzt, endlich – und gleichzeitig erlebt das Ich sich darin von Gott angenommen. Das ist die Basis für das oben beschriebene Wachstum und das Erwachsen-Werden. Clemens von Alexandrien hatte bereits deutlich gemacht, dass der Mensch von der Selbsterkenntnis zur Gotteserkenntnis aufsteigt: »Es

16 Weismayer, J., Lebensbilder der Mönchsväter und Ordensgründer – Versuch einer Ordenstheologie »von unten«, in: ders. (Hg.), Mönchsväter und Ordensgründer. Männer und Frauen in der Nachfolge Jesu, Würzburg 1991, 385-389, hier 385.

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ist also, wie es scheint, die wichtigste von allen Erkenntnissen, sich selbst zu erkennen; denn wenn sich jemand selbst erkennt, dann wird er Gott erkennen.«17 Ähnlich schreibt Nilus in einem Brief an einen jungen Mönch: »Vor allem erkenne dich selbst. Denn nichts ist schwieriger, als sich selbst zu erkennen, nichts mühevoller, nichts verlangt mehr Arbeit. Doch wenn du dich selbst erkannt hast, dann wirst du auch Gott erkennen können.«18

Der »Ort« für die Selbsterkenntnis ist das Herz des Menschen. Abbas Pambo sagt: »Wenn du ein Herz hast, kannst du gerettet werden.«19 Ein Herz zu haben meint, sein Herz zu finden, Person zu werden, zu sich selbst zu finden, um dort, im Herzen, Gott zu entdecken. Im Barock schreibt Angelus Silesius: »Wie ist meins GOtt gestalt ? Geh, schau dich selber an / Wer sich in GOtt beschaut, schaut Gott wahrhafftig an.«20 Dies macht deutlich, dass es keine »weltlose«, ja nicht einmal eine generelle, allgemein gültige Spiritualität gibt. Der Ruf Gottes trifft immer auf einen konkreten, biographisch und historisch geprägten Menschen, der seine unverwechselbare und nicht kopierbare Antwort gibt. Damit ist die Grundgestalt von Spiritualität beschrieben, sie ist nämlich die konkrete Antwort eines Menschen auf den Ruf Gottes. Wer nun auf den Ruf Gottes zu antworten versucht, beginnt einen Prozess der Umformung und Verwandlung und mit ihm und von ihm beeinflusst verwandelt sich seine Umgebung, verwandelt sich Kirche und Welt. Dieser Zusammenhang gründet in der Berufungsdynamik, wie sie etwa im Blick auf Abraham vom Hebräerbrief beschrieben wird: »Auf-

17

Clemens von Alexandrien, Der Erzieher III;1, zitiert nach: ders., Der Erzieher, übers. v. O. Stählin, München 1934, 134. 18 Nilus, Epist. III, 314 (PG 79, 536 C), deutsche Übersetzung zitiert nach: Grün, A., Gebet und Selbsterkenntnis, Münsterschwarzach 1979, 9. 19 Pambo 10 (Apo 771), zitiert nach: Weisung der Väter, Einleitung W. Nyssen, Übersetzung: B. Miller, Trier 31986. 20 Angelus Silesius, Cherubinischer Wandersmann, 157, zitiert nach: ders., Cherubinischer Wandersmann, kritische Ausgabe, hrsg. v. L. Gnädinger, Stuttgart 1985, 94.

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grund des Glaubens gehorchte Abraham dem Ruf, wegzuziehen in ein Land, das er zum Erbe erhalten sollte; und er zog weg, ohne zu wissen, wohin er kommen würde.« (Hebr 11,8) Gott beruft einen konkreten historischen Menschen und mit dieser Berufung ist ein Auftrag und eine Verheißung verbunden. Die Antwort Abrahams ist, dass er tut, was Gott ihm aufgetragen hat, dass er Gott glaubt, ihm vertraut. Die Berufung bedeutet für Abraham, sich zu bewegen, aufzubrechen, einen Weg zu gehen, der Veränderung mit sich bringt. Wachstum und Entwicklung brauchen die Auseinandersetzung mit den eigenen Grenzen und die Beschäftigung mit eigenen Unzulänglichkeiten.21 In den Apophthegmata Patrum hat daher Selbsterkenntnis mit Demut zu tun und mit der Anerkenntnis der eigenen Versuchbarkeit und Schwäche. Dies geschieht im Dialog mit Gott, in der Antwort auf seinen Ruf. Im Gebet wenden sich die Wüstenväter Gott zu und erfahren immer wieder, dass Gott den Betenden auf sich selbst zurückwirft, er soll sich zuerst mit dem eigenen Herzen beschäftigen. Das Gebet ist kein Fluchtweg. Deshalb tauchen gerade beim Gebet immer wieder die ver-

21

Die Auseinandersetzung mit eigenen Grenzen wird nach Meinung mancher Autoren heute zunehmend zum Problem. »Viele Zeitgenossen suchen scheinbar jene gefährlichen Höhepunkte, um ihren an Höhepunkten armen Alltag besser zu verkraften. Es geht ihnen immer wieder darum, ihre Grenzen zu erfahren und sie zu überwinden. Wie sollte es anders zu verstehen sein, dass immer mehr Menschen zu Fuß die Alpen überqueren oder an Gletschern und in Felswänden frei-klettern? Hinter dieser Abenteuerlust verbirgt sich die Frage, wie man mit den gesetzten Grenzen umgeht. In einer Zeit, in der mittels Flexibilität und Mobilität alles möglich scheint, ist es für viele unfassbar, dass ihnen Grenzen gesetzt sind. Die Suche nach Grenzerfahrungen drückt die Sehnsucht aus, Grenzen zu überwinden und dadurch selbst Herr über das Leben zu werden. Daher begeben sich viele Personen in ihren Urlauben und Freizeiten immer wieder in Gefahren, um auszuloten, wo ihre Grenzen sind und bis zu welchem Punkt sie überwindbar sind. In dieser vermeintlich absoluten Selbstsetzung meinen sie, das Glück und den Sinn des Lebens selbst produzieren zu können.« (May, C., Pilgern. Menschsein auf dem Weg, Studien zur systematischen und spirituellen Theologie 41, Würzburg 2004, 214.)

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sucherischen Gefühle und Gedanken auf und legen den eigenen inneren Zustand bloß. Abbas Nilos sagt vom Gebet: »Alles, was du aus Rache gegen einen Bruder tust, der dich beleidigt hat, wird in der Stunde des Gebetes in deinem Herzen auftauchen.«22 Und ein Altvater hält alles Beten, das nicht mit der eigenen Wirklichkeit konfrontiert, für zwecklos: »Wenn sich ein Mensch in seinem Gebet nicht an seine Handlung erinnert, bemüht er sich mit seinem Beten ins Leere.«23 Evagrios Pontikos meint: »Wenn du betest, wie es sich ziemt, erwarte, was sich nicht ziemt, und halte tapfer stand!«24 Es ist also eine Erfahrung des alten Mönchtums, dass Gebet zur Selbsterkenntnis führt. Die Untersuchung der Gedanken, die die Mönchsväter immer wieder fordern, geschieht nicht vor oder nach dem Beten, sondern im und durch das Gebet. So besteht die Kunst des verständigen Gebetes in der Selbstbeobachtung während des Betens. Indem der Mensch über sich nachdenkt und seine Gedanken von Gott hinterfragen lässt, betet er. So versteht es auch Evagrios Pontikos, wenn er einem Mönch rät: »Er soll die Gedanken beobachten, ihre Dauer wahrnehmen, ihr Nachlassen, ihre Verwicklungen und Zusammenhänge, ihre Zeiten und welche Dämonen sie bewirken. […] Und von Christus verlange er ihre Ursachen und Gründe zu erfahren.«25

Zwar ist das Ziel des Gebetes die Gottesschau; damit der Mensch aber als der, der er ist, Gott begegnen kann, darf er sich selbst nichts vormachen, sondern muss erst seine Gedanken und Gefühle vor Gott erforschen. Gebet verändert und setzt in Bewegung nach innen, wenn sich der Beter der Herausforderung stellt. Es geht nicht um fromme Selbstbe-

22 Nilos 1; zitiert nach: Weisung der Väter, Einleitung W. Nyssen, Übersetzung: B. Miller, Trier 31986, Nr. 546. 23 Weisung der Väter, Einleitung W. Nyssen, Übersetzung: B. Miller, Trier 3 1986, Nr. 1125. 24 Evagrios Pontikos, De oratione XLVIII (PG 79, 1177A). Übers. v. Verf. 25 Evagrios Pontikos, Capita practica ad Anatolium XXXI (PG 40, 1229C), deutsche Übersetzung zitiert nach: Grün A., Gebet und Selbsterkenntnis, Münsterschwarzach 1979, 19.

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stätigung oder Leistung, sondern um die Aufforderung zu Wachstum und Änderung der inneren Haltungen. Evagrios Pontikos »definiert« die zu erwerbende Haltung des Mönches in seiner Schrift »De oratione«: »Ein Mönch ist ein Mensch, der sich von allem getrennt hat und sich doch mit allem verbunden fühlt.«26 Das Getrenntsein des Mönches bedeutet gerade nicht Isolation, sondern höchste Aufmerksamkeit, der Weg nach innen ist nicht die Flucht ins Seelengärtlein, sondern die Auseinandersetzung mit sich selbst, der Welt, dem Nächsten und Gott. Es geht den Altvätern nicht einfach um einen spirituell überhöhten, weltabgewandten Prozess, sondern dieser Prozess muss zu einem sozialen Verhalten der Nächstenliebe führen27, soll er der Reifung des Menschen dienen. Die Nächstenliebe, der Bezug und die Haltung anderen gegenüber wird zum Maßstab der Reife eines Menschen, zum Prüfungskriterium für die positive Fortentwicklung eines Mönches.28 Evagrios Pontikos: »Selig ist der Mönch, der in allen Menschen Gott sieht.«29

26 Evagrios Pontikos, De oratione CXXIV (PG 79, 1193C), deutsche Übersetzung zitiert nach: ders., Praktikos. Über das Gebet, Münsterschwarzach 1986, 117. 27 Vgl. Viller, M./Rahner, K., Aszese und Mystik in der Väterzeit. Ein Abriss der frühchristlichen Spiritualität, unveränderte Neuausgabe, Freiburg 1989 [1939], 121. 28 Einschränkend ist hier darauf zu verweisen, dass allerdings der Impuls zur Nächstenliebe der Prüfung und Unterscheidung bedarf, er kann nämlich auch Flucht vor sich selbst sein und eine Wirkung der Akedia. »Der Geist des Überdrusses [der Akedia] vertreibt den Mönch aus seiner Zelle, wer aber Ausdauer besitzt, wird allzeit Ruhe haben. Besuche von Kranken schützt der Überdrüssige vor, tatsächlich aber befriedigt er nur seinen eigenen Zweck. Ein überdrüssiger Mönch ist flink zu Diensten und hält für ein Gebot seine eigene Befriedigung. Eine schwache Pflanze biegt ein leichter Hauch, und die Vorstellung des Weggehens zieht den Überdrüssigen mit.« (Evagrios Pontikos, De octo spiritibus malitiae XIII [PG 79, 1157D-1160A], deutsche Übersetzung zitiert nach: ders., Über die acht Gedanken, eingel. u. übers. v. G. Bunge, Würzburg 1992, 68.) 29 Evagrios Pontikos, De oratione CXXIII (PG 79, 1193C), deutsche Übersetzung zitiert nach: ders., Praktikos. Über das Gebet, a.a.O., 117.

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Von Abbas Agathon erzählt man: »Er kam einmal in die Stadt, um Ware zu verkaufen. Da fand er einen Fremden, der auf die Straße geworfen war. Er war ohne alle Kraft, und niemand nahm sich seiner an. So blieb denn der Greis bei ihm, suchte für ihn eine Mietwohnung und bezahlte von seiner Handarbeit die Miete, und den Rest verwendete er für den Bedarf des Kranken. Vier Monate blieb er bei ihm, bis der Kranke gesund war. Dann kehrte der Alte in sein Kellion zurück, in Frieden.«30

Die Mobilität nach innen ist im Alten Mönchtum ein sehr nüchterner, unaufgeregter, alltäglicher Prozess, dessen Frucht die Demut ist. Die Demut lässt zu, das Mögliche zu erkennen und zu tun und das Unmögliche zu lassen. Sie vermeidet dabei, sich selbst oder andere ständig zu überfordern. Im Verhältnis zu den Mitmenschen führt sie zu einem sanftmütigen Umgang mit ihnen. Im Blick auf eigene Unzulänglichkeiten werden die des anderen nach wie vor als Unzulänglichkeiten erlebt, aber es ist ein barmherzigerer Umgang damit möglich. Eine weitere Frucht dieses Prozesses ist Gelassenheit – nicht zu verwechseln mit Apathie oder frommer Faulheit. Gelassenheit aufgrund der Mobilität nach innen ist das realistische Erkennen der Möglichkeiten, der positiven Ansätze, der partiellen Erfolge, der schon möglichen Bruchstückerfahrung von Himmel – gleichzeitig aber auch das Erkennen der Bruchstücke von Himmel und deren Mangel an Ganzheit, die für den Menschen nicht machbar ist. Darin besteht schließlich die Spannung, in der diese Gelassenheit steht. Es ist nicht völlig entspannte Gelassenheit, nicht gänzliches Abfinden mit der Welt, denn es bleibt die bis zum Schmerz und Leiden an der Welt sich steigernde Sehnsucht nach Gott, denn nichts in dieser Welt ist Gott, und »Allein Gott genügt«31, wie es Johannes vom Kreuz

30 Agathon 27, zitiert nach: Weisung der Väter, Einleitung W. Nyssen, Übersetzung: B. Miller, Trier 31986, Nr. 109. 31 Der ganze Text lautet: »Nichts soll dich verstören, nichts dich erschrecken. Alles geht vorüber. Gott ändert sich nicht, Geduld erlangt alles. Wer Gott hat, dem fehlt nichts. Allein Gott genügt.« (Eigene Übersetzung des spanischen Originals: Terese de Jesu, Obras completas, Edicion Manual, Madrid 1967, 511.)

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auf einem kleinen Zettel, den er Teresa von Avila schenkte, ausgedrückt hat. Nach einer Betrachtung der Confessiones des Augustinus, die hier im Einzelnen nicht nachgezeichnet werden kann, kommt H. Luther zu dem Ergebnis, dass eine die Transzendentalität des Menschen einbeziehende Selbstreflexion die Chance zu radikaler Selbsterkenntnis in sich birgt, weil all das Ungewisse und Rätselhafte, das Differente Platz darin hat und auf- bzw. angenommen ist. »In den Augen Gottes«, so H. Luther, »der um sein Alles weiß, ahnt das Ich seine vollständige Individualität, in der auch das Widersprüchliche und Differente aufgehoben ist.«32 »Am Ende einer (implizit) religiös angelegten Autobiographie steht also nicht eine (fiktiv hergestellte) Identität, nicht die Aufhebung der Differenz, sondern die erkannte und angenommene Differenz.«33 H. Luther plädiert für eine fragmentarische Ich-Identität, die einerseits die Gebrochenheiten menschlichen Lebens ernst nimmt und andererseits sich aufgrund dieser Gebrochenheiten die Fähigkeit zu Veränderung und Entwicklung, zu Trauer, Hoffnung und Liebe bewahrt. Jedes Stadium der Ich-Entwicklung stellt immer auch einen Bruch und Verlust dar (und nicht nur Wachstum und Gewinn). Insofern sind wir immer auch die Ruinen unserer Vergangenheit. In Krisen wird dieser normale Tatbestand nur dramatisch erfahrbar. In jedem Stadium der Ich-Entwicklung sind wir aber immer auch Baustellen der Zukunft, Baustellen, von denen wir nicht wissen, ob und wie an ihnen weitergebaut wird; wir wissen immer nur, dass der Bau noch nicht vollendet ist. Gegen die Erstarrung steht die Sehnsucht, die Bewegung der Selbsttranszendenz.34 In Schmerz und Sehnsucht sieht H. Luther die Triebkräfte menschlicher Entwicklung, die Kräfte, die den Menschen unterwegs sein lassen, ihn mobil machen.

32 Luther, H., Das unruhige Herz, in: ders., Religion und Alltag, Stuttgart 1992, 123-159, hier 144. 33 Luther, H., a.a.O., 149. 34 Vgl. Luther, H., Identität und Fragment, in: ders., Religion und Alltag, Stuttgart 1992, 160-182, hier 170.

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Mobilität nach innen »Das Ich erfährt sich als Differenz. Das Ich wird sich fraglich. Diese Differenzerfahrung macht das einzelne Subjekt entweder im Modus des Schmerzes oder im Modus der Sehnsucht. In beiden verspürt das Subjekt ein Ungenügen am Hier und Jetzt. In beidem kündigt es das Einverständnis mit dem, was es real ist und geworden ist, und hält die Treue zu einem möglichen anderen, sei es in Treue zu seiner Trauer über Verlorenes, sei es in Treue zu seiner Hoffnung auf Ausstehendes.«35

Die geistliche Bewegung des Menschen, die Mobilität nach innen, ist geprägt von Selbsterkenntnis einerseits, die die Erkenntnis des Fragmentarischen einschließt, und andererseits von der Sehnsucht nach Ganzheit, die aber für den Menschen nicht machbar ist. Der Weg der »transformatio«, der Umgestaltung, beschreibt deshalb einen Weg der Befreiung von den Bedürfnissen, die immer nur auf Endliches zielen. Dabei bedeutet Befreiung nicht das Abschaffen oder Unterdrücken der Bedürfnisse, sondern den freien und souveränen Umgang damit. Dem Menschen auf dem geistlichen Weg wird alles genommen und alles geschenkt. Genommen wird ihm alles, was ihn unfrei macht, ihn versklavt, der Bedürfnisbefriedigung unterwirft; geschenkt wird ihm ein neues, befreites Verhältnis zu allem. Dieses neue Verhältnis ist auch der Grund, warum der gewandelte Mensch alles mit Ehrfurcht und Respekt gebrauchen und genießen kann, ohne sich von den Dingen, den Bedürfnissen und Leidenschaften gebrauchen zu lassen. Wirklich genießen kann ein Mensch doch nur etwas, von dem er grundsätzlich frei ist. Die Freiheit von oder besser die Freiheit gegenüber den Bedürfnissen bewirkt eine »Entschleunigung« des Lebens und schafft den Raum für Genuss und Muße. Demgegenüber führt die sog. Erlebnismobilität, die Genuss pur durch Befriedigung von (manchmal erst erzeugten) Bedürfnissen verspricht, zu einer steten Beschleunigung des Lebens und letztlich zu tiefer Verunsicherung. Keine Bedürfnisbefriedigung ist endgültig. Die Befriedigungen werden von Mal zu Mal kürzer und oberflächlicher. Daher »tritt immer neue Enttäuschung ein, die suchtartig durch erneu-

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Luther, H., Schmerz und Sehnsucht, in: ders., Religion und Alltag, Stuttgart 1992, 239-256, hier 249.

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te, womöglich noch stärkere Reize überdeckt wird«.36 Dieser Erlebensbeschleunigung sind allerdings Grenzen gesetzt, denn mit zunehmendem Lebensalter kann der Mensch das Tempo nicht mehr halten und es verdichtet sich das Gefühl, nicht mehr lebenstauglich zu sein, oder es bricht sich die Überzeugung Bahn, dass es eigentlich nichts mehr gibt, was das Leben noch interessant macht, weil schon alles erreicht scheint und jedes weitere Erlebnis nur eine Wiederholung bedeuten würde. Eine Mobilität nach innen, die Lebensqualität nicht an der Quantität des Erlebens misst und nicht an der Außergewöhnlichkeit desselben, sondern die mit sich selbst weitgehend versöhnt an der Tiefe und der Qualität des Erlebens interessiert ist und nach seiner Deutung und Bedeutung fragt, macht den Menschen freier, gelassener, weniger verhaftet, beweglicher, stabiler und beziehungsfähiger.

3. »Die Einschätzung hoher Mobilitätsraten ist sehr ambivalent.« 37 Hohe Mobilität macht einerseits wandlungs- und anpassungsfähiger bzw. erlaubt stärker die Entfaltung persönlicher Fähigkeiten, führt jedoch auch zu Anpassungsproblemen, Entwurzelung, depressiven Zuständen und Identifikationsproblemen. Eine unkritische, ständige Steigerung von Mobilität ist daher für die persönliche Entwicklung des Menschen und die Entwicklung der Gesellschaft gefährlich. Im Sinne des aristotelischen Tugendbegriffes ginge es um die Entwicklung einer »Tugend Mobilität«, denn die Tugend vermeidet die Extreme, auf der einen Seite ständig Beschleunigung und auf der anderen Seite allmähliche Erstarrung. A. Comte-Sponville präzisiert dies noch: »Die Tugend eines Menschen ist das, was ihn menschlich macht […]. Tugend beginnt also da, wo Hominisation (als biologische Tatsache) und Humanisie-

36 Kessler, H., Erfüllung – augenblicklich erlebt und doch schmerzlich vermisst? Erlebnisorientierung und Heilserfahrung, in: Concilium 35 (1999), 490-499, hier 493. 37 Peuckert, R., Artikel »Mobilität«, in: Schäfers, B. (Hg.), Grundbegriffe der Soziologie, Opladen 82003, 245.

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Mobilität nach innen rung (als kulturelle Tatsache) zusammenkommen: Sie ist unsere Art und Weise, menschlich zu sein und zu handeln, das heißt (weil Menschlichkeit in diesem Sinne ein Wert ist), sie ist unsere Fähigkeit, gut zu handeln.«38

Mobilität, soll sie human und gesellschaftlich verantwortet gestaltet werden, braucht eine mönchische Tugend, nämlich die Mäßigung, das stete Bemühen um das rechte Maß, das nicht einfach vorgegeben ist oder gesetzlich festgelegt werden kann. In der Regel des Hl. Benedikt, Kap. 64, heißt es vom Abt: »Er hasse die Fehler, er liebe die Brüder. Muss er aber zurechtweisen, handle er klug und gehe nicht zu weit; sonst könnte das Gefäß zerbrechen, wenn er den Rost allzu heftig auskratzen will. Stets rechne er mit seiner eigenen Gebrechlichkeit. Er denke daran, dass man das geknickte Rohr nicht zerbrechen darf. Damit wollen wir nicht sagen, er dürfe Fehler wuchern lassen, vielmehr schneide er sie klug und liebevoll weg, wie es seiner Ansicht nach jedem weiterhilft; […]. Er suche, mehr geliebt als gefürchtet zu werden. Er sei nicht stürmisch und nicht ängstlich, nicht maßlos und nicht engstirnig, nicht eifersüchtig und allzu argwöhnisch, sonst kommt er nie zur Ruhe. Bei seinen Befehlen sei er vorausschauend und besonnen. Bei geistlichen wie bei weltlichen Aufträgen unterscheide er genau und halte Maß. Er denke an die maßvolle Unterscheidung des heiligen Jakob, der sprach: ›Wenn ich meine Herden unterwegs überanstrenge, werden alle an einem Tag zugrunde gehen‹. Diese und andere Zeugnisse maßvoller Unterscheidung, der Mutter aller Tugenden, beherzige er. So halte er in allem Maß, damit die Starken finden, wonach sie verlangen, und die Schwachen nicht davonlaufen.«39

Der Abt als Leiter eines Klosters hat nach Benedikt von Nursia vor allem maßvoll zu sein und zu handeln. Das setzt eine hohe Aufmerksamkeit für den anderen, den anvertrauten Bruder voraus, aber auch einen guten Umgang mit sich selbst. Das rechte Maß lässt sich nicht vorher bestimmen, es lässt sich auch in einer Ordensregel nicht festlegen, sondern muss je neu gesucht und gefunden werden in steter Ori-

38 Comte-Sponville, A., Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben. Ein kleines Brevier der Tugenden und Werte, Reinbek 1996, 14f. 39 Puzicha, M., Kommentar zur Benediktusregel, St. Ottilien 2002, 546548.

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entierung an den beteiligten Personen, am Ziel der Gemeinschaft und den Gegebenheiten des Ortes und der Zeit. Deshalb ist die »Tugend maßvoller Unterscheidung« eine stetige Herausforderung, die Entwicklungen und Prozesse lebendig hält und verhindert, dass Gemeinschaften erstarren oder Personen festgelegt werden. Das 64. Kapitel der Regel des Hl. Benedikt unterstreicht – auf unser Thema hin formuliert –, dass das rechte Maß der Mobilität von einzelnen Menschen und Gemeinschaften nur gefunden werden kann, wenn eine Mobilität nach innen zu einer Sensibilisierung für die eigenen Möglichkeiten führt und zu einer wohlwollenden Aufmerksamkeit für die Möglichkeiten der anderen. Eine weitere Unterscheidungslinie bezieht sich auf menschliche Wachstumsprozesse, die Zeit brauchen; Krisenerfahrungen, die durchlitten werden müssen; Trauerprozesse, die zu bestehen sind. Hier hilft oft nur Unterbrechung der Bewegung und Geduld. Eine Erhöhung der Mobilität und Beschleunigung ist hier nicht nur keine Hilfe, sondern macht Menschen krank. Dazu nur eine Zahl: Über 60 Prozent der steigenden depressiven Erkrankungen in der BRD haben ihre Ursache in unabgeschlossenen Trauerprozessen.40 Es gilt also gut zu unterscheiden, welche Geschwindigkeit angemessen ist, ansonsten droht die Erhöhung von Mobilität zu ihrem Ende und zu depressiver Erstarrung zu führen. Damit hängt der letzte Punkt dieser Überlegungen zusammen, nämlich die Beschäftigung mit dem Ende jeglicher Mobilität, dem Tod. Wird das Ende menschlichen Lebens nicht als Teil des Lebens integriert, sondern abgespalten, wird Mobilität leicht zum Ausdruck der Angst, etwas zu verpassen. »Die Welt bietet uns unendliche Möglichkeiten, aber unsere Lebenszeit ist zu kurz. Darum geraten viele in Panik, sie könnten etwas versäumen, und beschleunigen ihr Lebenstempo. Modern ist die Utopie der Überwindung von Raum und Zeit durch Hochgeschwindigkeitszüge, Fax und E-mail, Internet und Video. Wir wollen überall, wie unsere Sprache verrät, ›auf dem Laufenden sein‹. Wir wollen im Raum allgegenwärtig und in der Zeit gleichzeitig werden. […] Die Differenz zwischen Lebenszeit und Weltmöglichkeiten verführt uns

40 Vgl. Psychologie heute 31 (2004), Heft 1, 68-69.

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Mobilität nach innen zum ›Wettlauf mit der Zeit‹. Wir wollen Zeit gewinnen, um mehr vom Leben zu haben, und versäumen es gerade dadurch.«41

Das potentielle »Alles« wird begrenzt durch die eigene Vergänglichkeit. »Das Grundproblem eines befristeten Lebens besteht in der Nötigung, es möglichst schnell in diesem Leben zu etwas zu bringen, will man etwas vom Leben haben. Man hat je mehr vom Leben, desto besser jenes ist, wozu man es gebracht hat.«42 Der einzelne Mensch spürt immer mehr, wie die Schere zwischen eigener Lebens- und allgemeiner Weltzeit auseinander geht. Das Ganze der Welt ist nun einmal für den Menschen nicht erfahrbar. Das meiste bleibt übrig, wenn der Tod kommt. Ein Grundärgernis ist dabei, dass die Welt danach einfach weitergeht, sie legt nicht einmal eine Pause ein. Die Folge konsequenter Diesseitigkeit ist ein schier unersättlicher Hunger nach Abenteuer, nach Erleben, letztlich nach Leben. Die Verlängerung des biologischen Lebens um jeden Preis droht sich in einen Fluch zu verwandeln, denn die Menschen verlernen zu sterben. Die Zunahme des Glaubens an eine Wiedergeburt, auch unter Christen, deutet der Tübinger Pastoraltheologe O. Fuchs in diesem Rahmen, er nennt es eine typische Konsumvorstellung, denn alles, was ich in diesem Leben wegen seiner Endlichkeit nicht schaffe, kann ich dann im nächsten Leben und im nächsten und im nächsten schaffen.43 Die Wiedergeburt, die in den östlichen Religionen, woher sie kommt, als Fluch verstanden wird, dem man entkommen will, wird bei uns im Westen als konsumistische Paradiesvorstellung verkauft. Die christliche Tradition prägte die ars moriendi, die Kunst zu sterben, aus, die sie als ars bene vivendi, als die Kunst, gut zu leben verstand, in dem Bewusstsein, dass nur ins Leben integriertes Sterben das

41 Moltmann, J., Gott im Projekt der modernen Welt, Gütersloh 1997, 85. 42 Höhn, H.-J., Auf dem Weg in eine postsäkulare Kultur? Herausforderung einer kritischen Phänomenologie der Religion, in: Zulehner, P.M. (Hg.), Spiritualität – mehr als ein Megatrend, Ostfildern 2004, 15-28, hier 28. 43 Vgl. Fuchs, O., Die Pastoral im Kontext der religiösen Zeitzeichen, in: Isenberg, W. (Hg.), Emotionalität erlaubt? Bensberger Protokolle 91, Bergisch Gladbach 1998, 9-39, hier 26.

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Leben wirklich lebendig macht. Ein »unverdächtiger« Zeuge dafür, nämlich Wolfgang Amadeus Mozart, schrieb als 31-Jähriger am 4. April 1787 in Wien einen Brief an seinen kranken Vater: »Da der Tod der wahre Endzweck unsres Lebens ist, so habe ich mich seit ein paar Jahren mit diesem wahren Freunde des Menschen so bekannt gemacht, dass sein Bild nicht allein nichts Schreckendes mehr für mich hat, sondern recht viel Beruhigendes und Tröstendes! Und ich danke meinem Gott, dass er mir das Glück gegönnt hat, mir die Gelegenheit zu verschaffen, ihn als den Schlüssel zu unserer wahren Glückseligkeit kennen zu lernen. Ich lege mich nie zu Bette ohne zu bedenken, dass ich vielleicht (so jung als ich bin) den andern Tag nicht mehr sein werde – und es wird doch kein Mensch von allen, die mich kennen, sagen können, dass ich im Umgange mürrisch oder traurig wäre […].«44

Das Anliegen der ars moriendi ist es, das Loslassen von vorläufigen Dingen zu üben, um sich für die je größere Fülle des Lebens zu öffnen. Diese Einübung ist damit immer schon eine Einübung in das Sterben, in das kleine, alltägliche Sterben, in welchem bestimmte Teile und Dimensionen des Lebens durch den angenommenen Verlust in die Umformung einbezogen werden. Hier übt sich der Mensch bewusst oder unbewusst ein in sein letztes, alles einbeziehendes Sterben, das ihn nach christlichem Verständnis endgültig für das von Jesus Christus verheißene »Leben in Fülle« (Joh 10,10) öffnet. Die Mobilität selbst, wird sie wirklich reflektiert, birgt die Chance, die ars moriendi zu üben, Sterben zu lernen, denn Mobilität verlangt das immer neue und hoffentlich bewusste Abschiednehmen und Hintersichlassen vergangener Lebensabschnitte, Orte, Menschen, Ideen etc., d.h. sie verlangt viele »Tode« und die Integration des Sterbens als Teil eines wirklichen, reichen und lebenswerten Lebens. Mobilität und Mobilität nach innen sind aufeinander bezogen und stehen in Spannung. Die Mobilität nach innen, wird sie ernst genommen und zu einem Exerzitium, einer Übung, könnte wichtige Kriteri-

44 Zitiert nach: Harnancourt, P., Die Vorbereitung auf das eigene Sterben. Eine verlorene Dimension spiritueller Bildung, in: Becker, H./Einig, B./ Ullrich, P.-O. (Hg.), Im Angesicht des Todes. Ein interdisziplinäres Kompendium, Bd. 2, St. Ottilien 1989, 1371-1389, hier 1372.

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Mobilität nach innen

en und Impulse liefern zur humanen und verträglichen Gestalt der Mobilität in biographischen und gesellschaftlichen Kontexten. Horst Roselieb, Prof. Dr. Karl-Josef Pazzini, Prof. Dr. Michael Plattig (v.l.n.r.)

Literatur Angelus Silesius, Cherubinischer Wandersmann, kritische Ausgabe, hrsg. v. L. Gnädinger, Stuttgart 1985. Bibliothek der Kirchenväter, Augustinus II, Kempten/München 1914. Clemens von Alexandrien, Der Erzieher, übers. v. O. Stählin, München 1934. Comte-Sponville, A., Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben. Ein kleines Brevier der Tugenden und Werte, Reinbek 1996. Evagrios Pontikos, Praktikos. Über das Gebet, Münsterschwarzach 1986. Evagrios Pontikos, Über die acht Gedanken, eingel. u. übers. v. G. Bunge, Würzburg 1992. Fuchs, G., Rhythmen der Christwerdung. Aus dem Erfahrungsschatz christlicher Mystik, in: Katechetische Blätter 116 (1991), 245-254. 127

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Fuchs, O., Die Pastoral im Kontext der religiösen Zeitzeichen, in: Isenberg, W. (Hg.), Emotionalität erlaubt? Bensberger Protokolle 91, Bergisch Gladbach 1998, 9-39. Grün, A., Gebet und Selbsterkenntnis, Münsterschwarzach 1979. Guillet, J./Bardy, G. u.a., Discernement des esprits, in: Dsp III, 12221291. Harnancourt, P., Die Vorbereitung auf das eigene Sterben. Eine verlorene Dimension spiritueller Bildung, in: Becker, H./Einig, B./Ullrich, P.-O. (Hg.), Im Angesicht des Todes. Ein interdisziplinäres Kompendium, Bd. 2, St. Ottilien 1989, 1371-1389. Höhn, H.-J., Auf dem Weg in eine postsäkulare Kultur? Herausforderung einer kritischen Phänomenologie der Religion, in: Zulehner, P.M. (Hg.), Spiritualität – mehr als ein Megatrend, Ostfildern 2004, 15-28. Institut für Spiritualität (Hg.), Grundkurs Spiritualität, Bd. 1, Stuttgart 2000. Johannes vom Kreuz, Die Dunkle Nacht. Vollständige Neuübersetzung, Freiburg 1995. Kessler, H., Erfüllung – augenblicklich erlebt und doch schmerzlich vermisst? Erlebnisorientierung und Heilserfahrung, in: Concilium 35 (1999), 490-499. Knollmeyer, C.M./Ketteler, E.M., Die Reise nach innen. Geistliche Übungen im Advent, Würzburg 2003. Luther, H., Religion und Alltag, Stuttgart 1992. May, C., Pilgern. Menschsein auf dem Weg, Studien zur systematischen und spirituellen Theologie 41, Würzburg 2004. Moltmann, J., Gott im Projekt der modernen Welt, Gütersloh 1997. Peuckert, R., Artikel »Mobilität«, in: Schäfers, B. (Hg.), Grundbegriffe der Soziologie, Opladen 82003, 245. Plattig, M., Die ›dunkle Nacht‹ als Gotteserfahrung, in: Studies in Spirituality 4 (1994), 165-205. Puzicha, M., Kommentar zur Benediktusregel, St. Ottilien 2002. Schaupp, W., Identitätsfindung in Gemeinschaft, in: Schaupp, K./ Kunz, C.E. (Hg.), Erneuerung oder Neugründung? Wie Orden und kirchliche Gemeinschaften lebendig bleiben können, Mainz 2002, 41-59. Schneider, M., Gott will meinen Dienst. Geistliche Begleitung, in: Falkner, A./Imhof, P. (Hg.), Ignatius von Loyola und die Gesellschaft Jesu 1491-1556, Würzburg 1990, 185-188. 128

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Mobilität nach innen

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Diskussion Carmen Scher: Der Vorschlag, in der Autostadt einen Raum der Stille zu errichten, ist wunderschön. Ich glaube, es ist nicht nur in der Autostadt wichtig, ab und zu zu schauen, wo das Herz geblieben ist. Bernd Bethmann, AG Mobilität: Ich finde mich in dem, was Sie zur Demut gesagt haben, teilweise wieder und möchte diesen Weg begehen. Meine Frage hierzu: Wenn ich diesen Weg konsequent gehe, bin ich dann nicht für dieses Wirtschaftssystem überflüssig? Ich bin doch dann nicht anfällig für die Anreizsysteme, die angeboten werden, weil ich meine Kraft aus mir selbst schöpfen kann. Wäre das nicht kontraproduktiv für die Wirtschaft?

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Diskussion

Michael Plattig: Ich gebe Ihnen da durchaus Recht. Das ist ein Grundproblem – deshalb habe ich mich auch gewundert, wieso ich von der Autostadt eingeladen werde. Die Bewegung, die ich beschrieben habe, ist die Befreiung von Bedürfnissen. Dies nicht in dem Sinne, dass ich keine Bedürfnisse mehr habe oder auch keine Bedürfnisse mehr befriedige, sondern dass ich dieses bewusst tue oder lerne, bewusst zu tun. Genau das widerspricht doch dem Trend unserer Wirtschaft, die eigentlich ständig damit beschäftigt ist, Bedürfnisse zu erzeugen und sie möglichst so zu erzeugen, dass es auch einen Anreiz gibt, sie zu befriedigen. Bei jeder Bedürfnisbefriedigung entsteht dann im Grunde ein Gefühl des Ungenügens: »Das reicht noch nicht«. Man kann fast sagen, dass jede Bedürfnisbefriedigung ein neues Bedürfnis erzeugt, wenn es eben auch nicht reflektiert und bewusst ist, wenn es sich sozusagen auf Anreize und Reizreaktionsmechanismen bezieht. Ich glaube, dass der von mir vorgestellte Weg traditionellerweise einen gewissen Kontrapunkt darstellt. Auf der anderen Seite darf man es aber auch nicht »auf die Spitze treiben«. Allerdings wäre natürlich auch die Wirtschaft gut beraten, sich über dieses Verhältnis vom ständigen Schaffen neuer Bedürfnisse und den Auswirkungen auf das Lebensgefühl und auf die Lebenswirklichkeit der Menschen Gedanken zu machen. Denn die Auswirkungen sind durchaus spürbar: 14 Prozent der Menschen in Deutschland leben unterhalb des Armutsniveaus. Wir haben eine steigende Verschuldung der privaten Haushalte. Viele wissen einfach nicht mehr, was sie sich noch leisten können. Ob das letzten Endes der Wirtschaft wirklich hilft, ist zu bezweifeln. Und an dieser Stelle wird es ein Stück kritisch – oder politisch. Die Frage ist, was wir in Zukunft wollen und wie weit sich die Wirtschaft mit dem Menschenbild auseinander setzen muss, das sie selber voraussetzt. Karl-Josef Pazzini: Da möchte ich anknüpfen: Wenn zum Wirtschaften wirklich nur die Herstellung von Produkten und die gleichzeitige Erzeugung von Bedürfnissen gehört, dann ist das eine sehr eingeschränkte Form des Wirtschaftens. Und vielleicht ist es auch eine Folge einer eindimensional verstandenen Mobilität, von der wir hier jedoch auf dieser Tagung bereits mehrere Dimensionen mitbekommen haben, die Folge davon, dass Verbindungen abgerissen sind, die nicht mehr neu mitproduziert werden. In dieser ganzen Entwicklung, wie sie Herr Lübbe in seinem Vortrag geschildert hat – die mir wie eine

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Mobilität nach innen

eindeutig zum Positiven hin vorkam –, ist ein anderer Rohstoff verbraucht worden. Man könnte ihn als einen symbolischen oder imaginären Rohstoff bezeichnen, der nicht nachproduziert worden ist und von daher auf gewalttätige Weise ortslos macht. So sind zum Beispiel in Folge der Mobilität und Disponibilität sowie Flexibilität Verwandtschaftsstrukturen zerbröselt – dafür brauchen wir nun Versicherungen und ähnliches. Ganze Rituale sind als Rohstoffe verbraucht worden. Diese werden dann notdürftig installiert. Aber die Kosten, die damit entstanden sind, sind nicht in die Wirtschaftsrechnung eingegangen. Ich sehe eine solche Veranstaltung wie diese hier als ein kleines Moment, wo das aufleuchtet: dass Wirtschaftsunternehmen noch etwas anderes mitproduzieren müssen als diese sozusagen abgrenzbaren kleinen Produkte, die es zu kaufen gibt. Wirtschaften muss man, indem man eben das Symbolische, das Imaginäre mitproduziert und dafür Ort und Raum und Zeit schafft. Das empfinde ich als große und hochspannende Herausforderung, welche jetzt hoffentlich anfängt. Also: Wenn jemand keinen Arbeitplatz hat, heißt es, er ist aus dem symbolischen Imaginären der Gesellschaft, aus dem sozialem Band, aus dem Diskurs ausgeschlossen – Punkt. Und das ist sozialer Tod. Kathinka Isbruch-Thiel, Grundschule Adenbüttel: Der Vortrag von Herrn Plattig schließt für mich eine Lücke der Tagung – bei aller Wertschätzung den anderen Vorträgen gegenüber. Ich denke, die Mobilität nach innen steht in direktem Zusammenhang zum Thema Wirtschaft und Produktivität. Das wird heute zum Teil übersehen. In einer Gesellschaft, die vorgibt, eine hohe Kultur zu haben, wird zu wenig darauf geachtet, dass die seelische Entwicklung mithalten kann mit der äußeren Mobilität, die über viele Medien, über viele hektische Mobilitäten in unserer Gesellschaft davonläuft. Unsere Jugendlichen, aber auch viele Erwachsene, haben auf der seelischen Ebene gar nicht mehr die Stabilität, den Weg nach innen zu beschreiten. Es ist zu wünschen, dass das Thema Mobilität mit allen Bereichen, die wir auf dieser Tagung angesprochen haben, begleitet wird, damit es für unsere Kinder und Jugendlichen seelisch den Raum eröffnet, sich zu entwickeln – dass sie sicher stehen können, dass sie ihre wertvollen Kräfte, die sie innen haben, mobilisieren können, um dann auch Leistung zu zeigen. Es wurde Teresa von Avila angesprochen, eine Frau, die zu ihrer Zeit große Leistungen vollbracht hat, weil sie mit dem Göttlichen so tief in

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Diskussion

Verbindung stand und auch den politischen Menschen dieser Zeit gezeigt hatte, wie stark sie war. Und so stark hätte ich gern auch unsere Jugendlichen und Kinder. Christian Wiesmüller: Herr Plattig hat die Autostadt als einen Ort der Ablenkung, vielleicht auch als einen Ort der Beschleunigung charakterisiert. Nun war er erst einige Stunden hier. Wenn man sich länger in der Autostadt aufhält, dann tritt etwas ein – und das lohnt es auszuprobieren: Sie werden auch entschleunigt. Denn dort geht man zu Fuß, dort wird man gezwungen, Umwege zu gehen durch die Lagunenlandschaft, so dass man sich manchmal denkt, warum man nicht einen direkteren Weg nehmen kann. Aber das ist durchaus erzieherisch, tut gut und entschleunigt. Auch das kann man in der Autostadt lernen. Hermann Lübbe: Ich unterstelle einmal, dass alles, was Pater Michael Plattig vorgetragen hat, wahr und richtig ist. Dann muss es zugleich eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür geben, dass das nicht nur ihm und seinen Mitbrüdern im Orden nicht verborgen geblieben ist, sondern auch großen Teilen der Bevölkerung. Wenn man mit dieser Hypothese in unsere gegenwärtige Welt blickt, dann schwächt sich die eigene kulturkritische Neigung ab und man sieht, dass die produktiven Antworten auf die Herausforderungen der Lebensführungsprobleme, die Plattig vorgetragen hat, auch in unserer Gesellschaft erprobt und versucht werden. Dies geschieht dann auch in Reaktion auf die destruktiven Folgeprobleme einer – dann gern auch zugegebenen – überbordenden Mobilität. Ich gebe nur ein paar Hinweise darauf, dass dies so ist, dass die Welt nicht nur aus dem Munde des Mönches, sondern auch aus der Perspektive des christlich erzogenen Commonsense solche Antworten findet. Die Auto- und Mobilitätsspezialisten auf dieser Tagung können das zwar genauer sagen als ich, aber wenn ich mich – auch als alter Autofahrer – recht erinnere, gab es im Autobahnsystem, wie es aus der Nazi-Zeit und den wenigen Vorjahren in die Zeit der Bundesrepublik übernommen worden ist, genau zwei Autobahnkapellen. Inzwischen dürfte ihre Anzahl wenigstens bei einem Dutzend liegen, vielleicht sind es schon zwanzig. Ein anderer beliebiger Hinweis zu den Zwecken der Autobahnfahrten, die Hunderttausende, wenn nicht Millionen Urlaubsreisende alljährlich unternehmen, ist die Anfahrt zu Netzen im Raum, von de132

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Mobilität nach innen

nen aus man das reine Gegenteil der eben noch praktizierten Mobilität sucht. Man bricht z.B. zu Bergwanderungen auf, so wie ich kürzlich. (Ich wollte als Ostfriese schon immer einmal den attraktivsten Berg in der Nähe von Ostfriesland sehen. Dies hatte ich zu meiner Kinderzeit nie getan. Dann bin ich zum Torfhaus und dann zum Brocken gelaufen und zurück – leider traf man oben kein Kreuz. Wenn Sie in meiner österreichischen Wahlheimat wandern, gibt es keinen Berg, auf dem Sie kein Kreuz fänden.) Es sind in ständig wachsender Zahl Millionen Menschen, die mit dem Auto angefahren kommen und damit Mobilität erzeugen – zu diesem und keinem anderen Zweck, um die Berge zu besteigen. Zu welchem Zweck geschieht dies? In letzter Instanz ist es doch, je nach Grad der eigenen religiösen Sozialisation (um dieses schnöde Soziologen- und Pädagogenwort zu gebrauchen), das Ziel der Bewunderung der Schöpfung – das ist der Sinn. So kommt man zur Ruhe und der Kreislauf ist auch auf eine wunderbare Weise entschleunigt und stabil geworden. Allein wegen solcher Unternehmungen lebt man dann im sozial-statistischen Durchschnitt sogar einen Monat länger. Ein letztes Beispiel noch: die Amerika-Auswanderer. Und wenn man fragt, warum bei den Auswanderern, wo es auch Arme gab, die auch aus den Gründen der Armut auswanderten, doch der Anteil der Frommen so groß war, dann doch deswegen, weil ihre Mobilität sich ungeheuer erhöht, wenn sie der wichtigen Orientierung im Leben ganz sicher sind. Buchstäblich und anschaulich gesprochen heißt das: Wenn das Allerwichtigste in dem kleinen Buche steckt, das man als Bibel mit unter den Arm nehmen und ins Reisegepäck tun kann, dann ist man ungeheuer mobil. Carmen Scher: Das ist angekommen. Dennoch ist ganz wichtig zu betonen, dass es nicht nur das Christentum und das Judentum gibt, sondern auch den Islam und den Buddhismus – ganz unterschiedliche Glaubensformen. Professor Plattig hat einen spirituellen Aspekt aus einer bestimmten Tradition heraus beleuchtet. Mir geht es darum, nicht andere Glaubensformen auszuschließen oder in den Vordergrund zu stellen, sondern die ganz allgemeine Spiritualität zu fördern, die den Weg nach innen verwirklicht, den alle Menschen aller Glaubensformen annehmen können.

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Matthias Knobloch, ACE Auto Club Europa: Ich sehe es nicht so, dass die Soziologen die Wahrheit sehen können oder etwas ersetzt haben. Was beobachten wir als Soziologen? Herr Lübbe hat es schon mit dem Stichwort der »religiösen Rückkehr« angesprochen: Wir stellen – gerade in den entwickelten, den modernen Gesellschaften – fest, dass die Leute anscheinend zunehmend ein Bedürfnis haben, das durch die moderne Konsumgesellschaft nicht mehr gedeckt werden kann. Und das heißt, wir bekommen dann in der Konsumgesellschaft, die Bedürfnisse erweckt, bei genauerem Hinschauen Probleme, aber keine Antworten mehr. Dieses kann die Soziologie dann beschreiben, ohne selbst Antworten liefern zu können – das ist eher das Metier von Herrn Plattig. Michael Plattig: Das mit der Soziologie war zugegebenermaßen eine kleine Spitze. Ich habe hohe Achtung vor der Soziologie. Was ich damit nur andeuten wollte, ist, dass wir heute auch eine gewisse Statistikund Zahlengläubigkeit entwickelt haben. Beispiel PISA-Studie: Alle laufen wie die Hühner durcheinander und überall werden uns deren Ergebnisse präsentiert. Fragt jemand, ob wir überhaupt dahin wollen, wo die PISA-Studie hin will? Wollen wir überhaupt wie die Finnen werden? Ich glaube, Finnland hat eine der größten Alkoholikerraten in Europa. Ich würde mir einen kritischeren Umgang mit solchen Ergebnissen wünschen. Man muss doch prüfen, was dahinter steckt. Ich will nicht behaupten, bei uns sei alles gut und recht und schön, aber ich wünsche mir einen differenzierten Umgang mit den PISA-Ergebnissen. Sie werden uns – jedenfalls in den Medien – als absolute Wahrheiten präsentiert. Da wird dann nichts mehr dazu gesagt, sondern nur noch abgenickt. Das war früher bei den Theologen so und ist dort jetzt Gott sei Dank nicht mehr so. Erwin Curdt: Ich möchte eine Brücke schlagen zu den Bausteinen des Curriculums. Die im Vortrag referierten ethisch-religiösen Probleme finden sich in zwei Bausteinen wieder, nämlich in »Tourismus – Unterwegs und zu Hause« und in »Lebensräume – Lebensträume« sowie in einem dritten, den wir noch nicht bearbeitet haben, »Verbrauchen – Verbraucht werden«. Bei der Diskussion, welche Fächer sich als Integrationsfächer eignen, wurde auch die Religion thematisiert. Wir haben uns dann aus pragmatischen Gründen dagegen entschieden, weil wir die Zustim134

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Mobilität nach innen

mung beider Kirchen hätten erreichen müssen. Sie können sich vorstellen, was das für ein Procedere ist. Deshalb möchte ich eine Bemerkung machen für alle, die diese Bauchschmerzen auch bei anderen Fächern haben. Selbstverständlich können Sie andere Fächer genauso einbeziehen wie die vorgeschlagenen. Wichtig ist dabei nur – und das haben wir mit diesen Fächern vor –, dass sie nach einer Erprobung mit empirisch gesicherter Basis in die Standards und in die Rahmenrichtlinien der Fächer eingeführt werden sollen. Dies nur für den Fall, dass manche vielleicht auch nach Werten und Normen und anderen Fächern fragen. Publikumsbeitrag: Ich sehe die Mobilität nach innen nicht an ein Fach, sondern an eine Haltung gebunden. Ich würde mir wünschen, dass dies eine Haltung von uns Pädagogen, aber auch von uns Menschen überhaupt in unserer Gesellschaft ist, die bestimmt, wie wir unsere Jugendlichen begleiten – völlig unabhängig von irgendeinem Fach. Weiter würde ich mir wünschen, dass diese Begleitung kontinuierlich wäre. Es wurde so schön das Beispiel von dem Rohr genannt, das brechen kann. Ich denke da an weitere Beispiele: diese Massen von Jugendlichen, die zurzeit die Schule ohne Abschluss verlassen; das Bedürfnis nach Gewaltprävention; das Suchtproblem. Das sind alles Jugendliche, bei denen es irgendwo gekracht hat, bei denen die Belastung sehr groß war, bei denen das Vertrauen verloren gegangen ist, bei denen Trauer entstanden ist – nicht ohne Grund ist die Zahl der depressiven Jugendlichen ungeheuer hoch. Ich glaube, wir unterschätzen unsere Möglichkeit und unsere Verantwortung, die jungen Menschen bei diesem Weg nach innen zu begleiten, das heißt: Stabilität zu geben, in kleinen Schritten zu arbeiten, so dass genau dieser Halm nicht bricht. Wolfgang Sting: Diese Qualität des Innehaltens, die Herr Plattig herausgestellt hat, kann man nicht hoch genug veranschlagen. Diese Qualität bezieht sich, wie Herr Plattig ausgedeutet hat, auf Spiritualität. Aber ich sehe das in allen Wachstumsprozessen; in allen Beschreibungen von Bildungs- und Gestaltungsprozessen wird immer wieder darauf hingewiesen: Man muss dieses Wechselspiel zwischen Innehalten und Gestalten, zwischen Sich-Bewegen und Innehalten und Schauen und Sich-Überlegen, wohin die nächste Bewegung geht, ablaufen. Das kann ich für alle ästhetischen Prozesse übernehmen. Wenn ich immer nur gestalte, dann kann ich die Wahrnehmung über135

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Diskussion

haupt nicht schulen, denn die wird erst durch das Innehalten möglich. Daher denke ich, dass das, was Plattig ausgedeutet hat, ein Prinzip aller ästhetischen und pädagogischen Prozesse und sehr wichtig ist. Publikumsbeitrag: Ich war eine Zeit lang geistlicher Rektor im Cusanuswerk, dem geistlichen Stipendiatenwerk der Bischöfe, dort gab es eine Künstlerförderung. Ich habe immer die Gespräche mit den Künstlern geführt und dabei ist mir aufgefallen: Im Grunde genommen ist das künstlerische Schaffen ein spiritueller Prozess in diesem Sinne – es gelingt nur, wenn es ein spiritueller Prozess ist. Ich war auch in der Jury, die die Stipendiaten auswählte, dabei dachte ich am Anfang, die gehen da durch, gucken und entscheiden anschließend nach ihrem Geschmack. Aber das stimmt nicht. Sondern man sieht am Kunstwerk (das habe ich dankenswerterweise von den Künstlern gelernt), ob dahinter ein spiritueller Prozess steht oder ob es einfach eine Kopie oder irgendetwas anderes ist. Deshalb würde ich die Verwandtschaft auch unterstreichen. Irene Briese, AG Mobilität: Es wurde das Wort des erwachsenen Verhaltens angesprochen. Erwachsenwerden ist nun nicht mehr unbedingt von der Gesellschaft gewünscht. Eine Autowerbung lautet: »Tu nicht so erwachsen«. Andererseits ist aber Erwachsensein ein Regulativ für nachhaltiges Mobilitätsverhalten. Dieser Begriff des Erwachsenverhaltens ist also von Bedeutung. Herbert Bickel: Die Diktion, dass Mobilität ein Ziel braucht, stelle ich nicht in Abrede, nenne aber das Gegenteil dazu. Mobilität bedarf auch einer gewissen Getriebenheit. Überspitzt formuliert: Wenn es um Bildungsprozesse geht, zerstören oft die Zielsetzungen der Ausbildung die Bildung. Es ist wichtig, das Ziel beiseite zu lassen, um Entwicklungen zulassen zu können.

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Mobilität nach innen

Dr. Christian Wiesmüller, Carmen Scher, Prof. Dr. Wolfgang Sting, Prof. Dr. Lydia Murmann (v.l.n.r.)

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Zusammenfassung und Ausblick

Zusammenfassung und Ausblick Karl-Josef Pazzini: Ich werde versuchen, die Ergebnisse der Tagung kurz zusammenzufassen. Dann können Sie das »abpacken« und mit nach Hause nehmen. Mir ist eben, als ich zuhörte, eine Geschichte eingefallen: Die jüdisch-christliche Kultur wäre beinahe im Beginn schon zu Grunde gegangen. Sie können das in der Tora bzw. im Alten Testament nachlesen. Die Juden zogen durch die Wüste und sehnten sich danach, doch zu sein wie die anderen. Sie wollten endlich auch einen stabilen Gott haben. Da haben sie dann das goldene Kalb angefertigt und begonnen, mitten in der Wüste darum zu tanzen. Sie wären umgekommen, wenn sie dort geblieben wären. Dann mussten sie erst lesen lernen – mindestens zehn Gebote – und konnten dann weiterziehen. Und dann wären sie beinahe verhungert. Zudem gab es dieses berühmte Mana. Nun ist es im Hebräischen so, dass man die Vokale immer hinzufügen muss. Buber und Rosenzweig haben dann nicht »Mana« gelesen, sondern »Manu« – das sind aber dann nicht diese klebrigen Sachen, die zur Ernährung, zur unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung vom Himmel fallen. Wenn man das als »Manu« liest, dann heißt dies: »Was ist das?« Sie konnten also weiterziehen, weil es Fragen vom Himmel regnete. Eine weitere Anmerkung: »Schule« leitet sich von »scholae« ab und das heißt ursprünglich »Muße«, also von unmittelbarer Effizienz entlastete Zeit. Da wurde nichts Nützliches produziert – eine Zeit lang, um es dann nützlich zu machen. Zudem hat Herr Plattig von der Aufmerksamkeit ohne Urteil gesprochen. Die liegt mir als Psychoanalytiker nahe, das heißt in der Psychoanalyse die gleichschwebende Aufmerksamkeit. Und das ist wohl angebracht, wenn man sich mit den verschiedenen Facetten von Mobilität, die auf dieser Tagung aus ganz unterschiedlichen Richtungen thematisiert wurden, befasst. Dass dies nicht so schnell zum Abschluss kommt, ist wichtig, denn dann wäre auch alle Mobilität dahin. Ich glaube, wir haben es mit vielen parallel laufenden Vorstellungen von Mobilität zu tun – nicht nur bei denen, die sich wissenschaftlich oder in Fächern formulieren lassen, sondern auch solchen, die lebensweltlich nebeneinander existieren. Die Konzepte von Mobilität sehen sicher im Leben von Schülern anders aus als jene, die sich in den Disziplinen widerspiegeln. Im ersten Teil der Tagung wurde ein ganz pointiertes Beispiel genannt, in dem 139

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DENK(T)RÄUME Mobilität

dieser Junge zu Hause im Internet surft und dann auf die Straße kommt. Er ist dann mit zwei unterschiedlichen Formen von Mobilität konfrontiert, die er unter Umständen nicht gleichzeitig bewältigen kann oder auf die er mit einer gewissen Unaufmerksamkeit reagiert. Wir haben aus verschiedenen Disziplinen etwas gehört, aus der Politik, der Philosophie, aus der politischen Fernsicht, aus dem Theater und aus der Physik. Für mich war interessant, dass da in ganz verschiedenen Sprachen geredet und in ganz verschiedenen Diskursen sozusagen »gelaufen« wird. Es besteht dann die Versuchung, dass man das doch zusammenschiebt: in eine Sprache oder in eine Aktion oder in eine Unterrichts- und Lernform. Ich bin eigentlich sehr beeindruckt, dass etwas entsteht – so wie auf dieser Tagung im Kleinen –, wenn diese verschiedenen Sprachen gesprochen werden und diese Spannung, diese Differenz durchgehalten wird. Erst dies führt im Weiteren dann zur Mobilität – nämlich, indem man sich von einem Ort zum anderen begeben muss und vielleicht an einen fremden Ort kommt. Das ist auch ein Motiv, um sich zu bewegen: Da kommt man an einen Ort, wo eine fremde Sprache gesprochen wird. Ich glaube, das ist es, was man sich nicht ersparen darf. Sonst gehen alle Anreize verloren, sich zu bewegen. Man könnte auch das pädagogische Problem der Faulheit so übersetzen, das jemand an einem Ort bleiben will. Und das pädagogische Problem der Dummheit liegt darin, dass man ein schnelles abschließendes Urteil gefunden hat – und dann kommt nichts mehr durch. Insofern ist diese Andeutung von kombinierten Projekten aus Physik und Theater wichtig, weil da nämlich so etwas wie ein Transfer notwendig wird. Das ist auch ein Verkehrswort. Oder sagen wir »Übertragung«: Man trägt etwas von hier nach da. Nun kann ich mir doch nicht verkneifen, etwas über PISA zu sagen. Wenn man das diskursanalytisch anguckt: Versuchen Sie einmal, da so etwas wie eine Lehrerpersönlichkeit auszumachen! Ich glaube, da werden Sie dergleichen nicht finden. Bei dieser technizistischen Sprache, die da herrscht, auch in den Reaktionen verschiedener Ministerien, die dazu Stellung genommen haben, bekommen Sie eine Fehlanzeige. Der »Fährmann«, der den Transfer initiiert, kommt da eigentlich gar nicht mehr vor, sondern wird wegrationalisiert. Also: Wir brauchen diese kontrastiven, diese formal unterschiedlichen Sprachen, diese Fremdsprachen, um ins Reden und in die Bewegung zu kommen. Damit meine ich nicht nur das verbale Reden, sondern die verschiedenen Sprachen: von der Körper- oder Leibsprache bis 140

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Zusammenfassung und Ausblick

zu den Sprachen, die sich auch in Gebäuden äußern oder in Produktionseinrichtungen. Zur Erholung kann man dann wiederholen, was die Kinder machen, die noch nicht sprechen können: Sie fahren Karussell. Das ist die beruhigende Bewegung, da man immer wieder am selben Ort ankommt. Auch das braucht man zwischendurch zur Entspannung. Insofern – manche Mobilität sehe ich nicht anders als Karussell fahren. Das geht dann zwar geradeaus, aber das ist dann die Bewegung um der Bewegung willen. Man schämt sich natürlich auch, als Erwachsener Karussell zu fahren. Aber dies ist manchmal nötig. Das führt auch dazu, dass man den eigenen Körper wieder spürt. Ich bin also sehr gespannt, ob das, was wir angedacht haben – die Kombination von verschiedenen Disziplinen –, dann auch etwa so, wie sich das auf der Tagung angedeutet hat, funktionieren wird. Dies nicht nur zwischen dem Theater und der Physik, sondern eben auch in der Kombination mit den anderen Fächern. Daraus sollen sich Spannungen ergeben, die zum Sprechen führen. Christian Wiesmüller: Ich danke Herrn Professor Pazzini für den Hinweis zur PISA-Studie: Der pädagogische Bezug scheint mir auch sehr wichtig und insgesamt untergewichtet in der PISA-Studie. Die Tagung »DENKT(R)ÄUME« hat aus meiner Sicht das Kampagnenkonzept bestätigt: Grundlegend ist dafür, dass sich zwei Fächer begegnen sollen – über ein Jahr lang. Nur so ist die Komplexität in den Griff zu bekommen. Das wurde in den Vorträgen und Diskussionen sichtbar. In Personen ausgedrückt würde das bedeuten, dass diese zwei Fächer jeweils einen didaktikwissenschaftlichen Leiter oder Mentor bekommen, der im Idealfall mit einer Gruppe von Lehrern und Studenten über diesen Zeitraum von einem Jahr die praktische Umsetzung entwickeln soll. In einer ersten Phase würde man sich kennen lernen, würde überhaupt Aufgaben entdecken und verteilen, würde diese Aufgaben bearbeiten. Dann sollten in einer zweiten, »heißen« Phase, die auch präsentierbar ist, vielleicht in der Autostadt oder auch an den Schulen selbst, die Umsetzungen erfolgen, sozusagen die Praxiserprobung durchgeführt werden. In einer dritten Phase sollten dann diese Materialien so zusammengestellt werden, dass sie veröffentlicht werden können und dass alle Lehrer sie nutzen können. Das wäre die Idee. Dazu sind die Wissenschaftler und vor allem auch die Lehrkräfte, die Ausbilder, die Seminarausbilder zur Kooperation aufgerufen. Ansprechpartner sind Herr Roselieb im Ministerium oder wir in der Au141

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DENK(T)RÄUME Mobilität

tostadt. Wir haben das MobilitätsDeck, das mit Pädagogen bestückt ist. Interessenten können auch eine Sitzung der AG Mobilität besuchen und darüber den Kontakt finden und dann daraus etwas entwickeln. Das wäre also der Wunsch, den wir hätten – dass Sie auf uns zukommen. Horst Roselieb: Ich habe zu Beginn der Tagung bei meinen einleitenden Worten gesagt, dass die Arrangements, was Solisten oder Duos oder Trios oder ganze Orchester vollführen sollen oder wollen, erst geschrieben werden. Und genau hierum geht es mit diesem Spannungsbogen, der auf der Tagung erzeugt worden ist. Gelingt es auch, Sie oder Interessierte, die von Ihnen vielleicht auch noch angesprochen werden, zu gewinnen, an einem solchen Unternehmen mitzuwirken? Einen Versuch ist es wert. Für diese etwas ungewöhnliche Kombination müssen praxistaugliche Beispiele in die Hände anderer Kolleginnen und Kollegen gegeben werden. Es ist eine einmalige Chance, wieder eng mit der Lehrerausbildung der ersten und zweiten Phase sowie mit der Praxis in der Schule zusammenarbeiten zu können. Hier könnte sich etwas verwirklichen, was wir immer wollen: diese einzelnen Phasen enger zusammenrücken zu lassen, um etwas Gutes für die Schule dabei zu produzieren. Also meine Bitte und meine Hoffnung: Geben Sie sich einen Ruck und machen Sie mit! Carmen Scher: Es ging auf der Tagung öfters darum, dass wir gemeinsam denken wollten und es auch getan haben. Es ging darum, dass wir gemeinsam träumen wollten. Auch das haben wir getan. Im Zuge dessen fiel auch öfters das Wort »beheimatet sein«. Etwas muss irgendwo beheimatet sein, muss auch in sich ruhen können, damit es sich entwickeln kann. Ich denke, dass diese Veranstaltung so möglich war, hat einen ganz klaren Grund. Die Fachtagung »DENK(T)RÄUME«, die zukünftigen »Auto-Biographien« überhaupt, die gesamte Kooperation seitens der Pädagogik haben eine Heimat, einen Ort, ein Zuhause. Und das ist in diesem Fall die Kreativdirektion der Autostadt GmbH.

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Die praktische Umsetzung des Curriculums Mobilität

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Der Einsatz des Curriculums Mobilität in der Schule

Interdisziplinäres Lernen vermittels Sinneswahrnehmungen Der Einsatz des Curriculums Mobilität in der Schule – ein Projektbericht Irene Briese

1. Projektanlass Als Programmschule des Programms »21« der Bund-Länder-Kommission (BLK) »Bildung für eine nachhaltige Entwicklung« befasst sich die »Nibelungen Realschule« in Braunschweig schon seit längerem mit dem neuen Lernbereich Mobilität. Es wird erprobt, wie Inhalte des Curriculums Mobilität in den Regelunterricht integriert werden können. Die Unterrichtseinheit »Sinneswahrnehmungen, Reizverarbeitung und Reizreaktion« im Fach Biologie war Anlass, Mobilität und ihre Auswirkungen im Anschluss an den Curriculums-Baustein »Einsteigen – Umsteigen – Aussteigen« projekt- und handlungsorientiert zu untersuchen. Die Bedeutung des räumlichen Sehens, des Farbensehens, der Hell-Dunkel-Adaptation und der Akkomodation waren den Schülern leicht zu vermitteln, ebenso die entsprechende Funktionalität der Augen. Ein Problem ergab sich bei der Frage: »Welche Bedeutung hat für uns die Wahrnehmung von Bewegungen?« Die Fähigkeit, Geschwindigkeiten richtig einzuschätzen, hat für Auto- und Radfahrer, Fußgänger und überhaupt alle Beteiligten eine besondere Bedeutung für die sichere Teilnahme am Straßenverkehr. Emissionen wie Lärm und Abgase werden z.T. ebenfalls über die Sinne wahrgenommen und lassen sich am Beispiel Verkehr für Umwelt und Mensch problematisieren. An den im folgenden Abschnitt beschriebenen, gemeinsam mit Schülern und Studenten geplanten Lernstationen wurden die Problembereiche Geschwindigkeit, Abgas und Lärm analysiert und dazu Daten erfasst.

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Irene Briese

2. Station »Geschwindigkeit« »Pass auf, der fährt mindestens 70!« – »Glaube ich nicht.« – »Was habt ihr gemessen?« Mit großem Eifer schätzen und messen die Schüler der achten Klasse die gefahrenen Geschwindigkeiten auf der Hauptverkehrsstraße. An zwei Stationen werden – unterstützt von zwei Polizeibeamten1 – mit der Stoppuhr und mit der Laserpistole Daten erfasst und mit den geschätzten Werten verglichen. Ein Beamter führt die Schüler in die Methode der Messung durch das Stoppen der Zeit ein. Zunächst wird eine Strecke von 100 m abgemessen und die Anfangs- und Endpunkte werden mit zwei Pylonen markiert. Eine Markierung befindet sich am Fahrbahnrand, die andere rechtwinklig zum Fahrbahnrand auf dem Fußweg. Hier steht der Signalgeber, der den Arm hebt, wenn sich ein Fahrzeug nähert. Er senkt den Arm, wenn das Fahrzeug die Markierung durchfährt und betätigt gleichzeitig die Stoppuhr. Am Ende der Messstrecke steht ein weiterer Signalgeber, der den Arm hebt, wenn das Fahrzeug die Strecke verlässt. Jetzt wird die Zeit gestoppt. In einer Tabelle kann man ablesen, wie hoch die gefahrene Geschwindigkeit war. Eine Kontrollgruppe hat vorher die Geschwindigkeit geschätzt. Gleichzeitig wird beobachtet, ob am Fahrzeug Bremslichter aufscheinen, ob also der Fahrer bemerkt, dass seine Geschwindigkeit gemessen wird. Viel aufregender ist der Einsatz der Laserpistole unter Anleitung eines weiteren Polizisten. Hier werden Fahrzeuge schon in größerer Entfernung anvisiert, doch nicht immer gelingt die Messung. Bei Überschreitung der vorgegebenen Geschwindigkeit werden die Fahrzeuge nicht gestoppt, sondern nur durch Handzeichen zum Langsamfahren ermuntert. Diese Einschränkung der realen Situation wurde von den Beamten damit begründet, dass sie Schüler nicht gefährden

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Da die Polizei als Partner im BLK-Programm gewonnen werden konnte, war die Kooperation mit dem Verkehrssicherheitsberater unproblematisch. Zwei Mitarbeiter standen am Projekttag als Experten bereit. Als Gegenleistung für die freundliche Unterstützung boten die Schüler an, für das in unmittelbarer Nachbarschaft der Schule liegende Polizeirevier eine Ausstellung zu dem Projekt zu entwickeln.

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Der Einsatz des Curriculums Mobilität in der Schule

wollten und dass Schüler bei einer polizeilichen Handlung nicht anwesend sein dürften. Falls Autofahrer stoppen, würden Schüler Informationsmaterial zu Geschwindigkeitsbegrenzungen ausgeben. Zusätzlich wird überlegt, welchen Einfluss Verlauf und Zustand der Fahrbahn, Witterung und Fahrzeugtyp, Alter und Geschlecht des Fahrers auf die gewählte Geschwindigkeit haben.

3. Station »Abgase« »Weshalb ist der CO2-Gehalt im Abgas des Golfs mit Benzinmotor fast dreimal so hoch wie der vom Golf Diesel und weshalb sind die Rußemissionen deutlich geringer?« Diese und weitere Fragen stellen die Schüler und Schülerinnen an der Abgasstation. Hier wird gemessen, in welcher Zeit ein Abgassack mit dem Fassungsvermögen von 100 Litern durch die Abgase eines im Leerlauf betriebenen Fahrzeugs gefüllt wird. Es stehen drei verschiedene Fahrzeuge zur Verfügung: ein Golf Diesel, Baujahr 1991, ein Golf mit Benzinmotor und ein neuer schadstoffarmer Audi Diesel. Im Anschluss wird mittels einer Sonde der CO2-Gehalt im Abgas gemessen. Zum Vergleich werden zusätzlich der CO2-Gehalt der Außenluft und der der Atemluft eines Schülers, der dazu fünfmal in eine Plastiktüte atmet, gemessen. Außerdem wird bei den drei Fahrzeugen der Rußgehalt der Abgase beim Anlassen und im Betrieb ermittelt, indem die Schüler ein Papiertaschentuch vor den Auspuff halten. Die Ergebnisse werden protokolliert, verglichen und mittels einer Komparatorkarte vom Schornsteinfeger bewertet.

4. Station »Lärm« Mit Hilfe von Schallpegelmessgeräten werden an einer weiteren Station die Emissionen verschiedener Schallquellen gemessen. Anfahrende Lkw an der Ampel, Motorräder, startende und beschleunigende Pkw, Busse und eine haltende Straßenbahn – aber auch Fahrräder – werden erfasst. Eine Kontrollgruppe bewertet die subjektive Wahrnehmung der Schallemissionen nach »laut und leise« bzw. »störend und nicht störend«. Die Immissionsabnahme in Entfernung zur Schallquelle wird 147

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Irene Briese

ebenfalls untersucht. Ein Vergleich der Schallintensitäten bzw. Lautstärken unterschiedlicher Schallquellen mit Lärmgrenzwerten für Siedlungsgebiete und Immissionsgrenzwerten der TA Lärm2 ermöglicht eine Einordnung der Messergebnisse.

5. Dokumentation der Ergebnisse An der Nachbereitung der Untersuchungen waren die Fächer Biologie, Chemie, Erdkunde, Physik und Kunst beteiligt. Zur Dokumentation sollten drei Ausstellungstafeln zu den oben genannten Problemfeldern entstehen. Dazu gingen die Schüler dreischrittig vor: 1. »Wir messen«: Hier wurden die Mess- und Untersuchungsergebnisse in Tabellen, Säulendiagrammen und als Abbildung (Ruß) dargestellt. 2. »Die Folgen«: Hier wurden im Fachunterricht erarbeitete mögliche Folgen dokumentiert. 3. »Lösungen?«: Hier wurden mögliche Lösungen schlagwortartig genannt. Die Gestaltung der Tafeln wurde im Kunstunterricht festgelegt.

6. Bewerten der Ergebnisse und Suche nach Lösungen Geschwindigkeit Ausgehend von ihren eigenen Messungen recherchierten die Schüler durch Text- und Videoanalysen sowie mittels Befragungen die Ursachen für Geschwindigkeitsüberschreitungen. Das Video des Projektes zur Suchtprävention der Niedersächsischen Landesstelle gegen die Suchtgefahren »Junge Männer im Straßenverkehr – Voll – im Griff!«

2 Sechste Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Bundes-Immissionsschutzgesetz TA Lärm – Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm.

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Der Einsatz des Curriculums Mobilität in der Schule

zeigte, dass Alkohol die Einschätzung der eigenen Fahrgeschwindigkeit beeinflusst. Des Weiteren entnahmen die Schüler einem Informationstext das Ergebnis, dass Autofahrer mit verminderter Tagessehschärfe bei höheren Geschwindigkeiten deutlich häufiger in Unfälle verwickelt sind als Kontrollgruppen. Ihnen fällt es schwer, Entfernungen zu anderen Wagen und deren Geschwindigkeit richtig einzuschätzen, was insbesondere zu Überhol-, Vorfahrts- und Dunkelheitsunfällen führen kann. Hier werden also zwei Unterrichtsthemen vertieft: die Einwirkung von Alkohol sowie Augenanomalien und Sehstörungen. Außerdem befragten die Schüler Autofahrer nach weiteren Gründen für nicht angepasste Geschwindigkeiten. Imponierverhalten besonders bei jungen Fahrern, Unaufmerksamkeit und fehlende Geschwindigkeitsüberwachung wurden genannt. Die Schüler fanden als mögliche Lösungen Geschwindigkeitsbegrenzungen an Unfallschwerpunkten, Geschwindigkeitskontrollen »mit saftigen Geldbußen und Führerscheinentzug« bei Überschreitung, Tempodrosselung für Fahrzeuge von Fahranfängern und schließlich »die Entdeckung der Langsamkeit« sowie die Forderung, das Auto sozial und rational zu nutzen. Hier wäre es wünschenswert, ein Handlungsprodukt abzuleiten, z.B. »den kritischen Mitfahrer«, der für sich selbst und als zukünftiger Autofahrer auf Geschwindigkeitsbeschränkungen und das Einhalten von Regeln achtet.

Abgas In der Auswertungsphase der Abgasstation wurde die Entstehung von CO2 bei Verbrennungsprozessen verdeutlicht. Zudem erhielten die Schüler zu dem Thema »Energie und Klima« in einer Multivisionsschau Informationen über die Rolle von CO2 beim Treibhauseffekt. Als Umweltschule in Europa ist die »Nibelungen-Realschule« am Energiesparprojekt »Nessi« beteiligt und erwirtschaftet im Schnitt pro Jahr etwa 6000 Euro. Die Teilnahme am »SONNEonline«-Projekt, also die Betreibung einer Fotovoltaik-Anlage von 1 KW, stellt ebenfalls einen Beitrag zur CO2-Reduktion dar und wird den Schülern als Lösungsansatz vorgestellt, der auch im privaten Bereich immer mehr Bedeutung gewinnen soll. Im Physikunterricht lernten die Schüler zukünftige Lösungen des Abgasproblems durch die Autoindustrie kennen. Sie bauten mit 149

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Irene Briese

Brennstoffzellen betriebene Modellfahrzeuge und lernten ihre Funktionalität kennen. Durch Internetrecherchen fanden sie heraus, dass Dieselruß heute der problematischste innerstädtische Luftschadstoff ist und in Deutschland über 8000 Lungenkrebsfälle pro Jahr durch den Kraftfahrzeugverkehr verursacht werden. Sie informierten sich auch über den Zusammenhang der Rußschadstoffe mit Atemwegserkrankungen wie Bronchitis und Asthma sowie über die in der Bundesimmissionsschutzverordnung festgelegten Grenzwerte der Rußbelastung der Luft. Der sparsame Verbrauch von Treibstoffen (Drei-Liter-Auto), Abgasfilter (Filterpflicht für Pkw und Lkw) und Verkehrsvermeidung bzw. Verlagerung auf umweltverträglichere Verkehrssysteme wurden als Lösungsmöglichkeiten erkannt. Dazu beschafften die Schüler – ebenfalls mittels Recherche im Internet – vertiefende Information. Ein Schüler stellte sogar den Einsatz von Atemfiltern wie in Asien zur Diskussion und schloss den Einsatz von Gasmasken nicht aus.

Lärm Die Schüler bewerteten ihre Untersuchungen und die Messergebnisse der Lärmstation anknüpfend an die vorausgegangenen Unterrichtsinhalte. Dabei kommt der Hörvorgang selbst (im Innenohr) ebenso zur Sprache wie der Fakt der irreversiblen Schädigung der Hörsinneszellen durch Dauerlärm ab 90 dB und kurz einwirkende Geräusche von über 100 dB. Die Schüler diskutierten auch die körperlichen Stressreaktionen auf Lärmbelastungen, die von der verstärkten Ausschüttung der Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin bis zu Beeinträchtigungen des Herzkreislaufsystems führen können. Die Expertenbefragung eines Bauingenieurs ergab als mögliche bauliche Lösungen zur Verringerung des Lärms am Entstehungsort schallschluckende Straßenbeläge (z.B. offenporiger »Flüsterasphalt«) und veränderte Verkehrsführungen und -lenkungsmaßnahmen. Weitere Lösungsvorschläge waren Schallschutzmaßnahmen am Fahrzeug, Geschwindigkeitsbegrenzungen und Verkehrsvermeidung durch ein verändertes Mobilitätsverhalten. Eine Behinderung der Schallausbreitung kann durch bauliche Maßnahmen an Gebäuden und durch Schallschutzwände erreicht werden. Persönlicher Lärmschutz wurde als letzte und am wenigsten befriedigende Maßnahme gesehen.

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Lust am Lernen

Lust am Lernen Umsetzung und Weiterentwicklung des Curriculums Mobilität am ausserschulischen Lernort Autostadt Uwe Ladwig, Cord Völkening

»Im Namen des Volkes …« Der Richter steht hoch hinter seinem eichenen Richtertresen und verkündet das Urteil. Zuvor hatte die Verteidigung das letzte Wort geführt. Grundlage für die Wahrheitsfindung des Gerichts war neben den Aussagen der Prozessbeteiligten und dem Polizeibericht ein verkehrstechnisches Gutachten und die Befragung des gutachtenden Sachverständigen – mit dem Ziel der Rekonstruktion eines Unfallhergangs.

1. Erleben – Erfahren – Erinnern Wir befinden uns im MobilitätsDeck innerhalb der Fachabteilung Inszenierte Bildung in der Autostadt in Wolfsburg. Die skizzierte Szenerie entstammt dem Modul »Nachspiel«, in dem Schulklassen der allgemein bildenden und der berufsbildenden Schulen ab der 10. Jahrgangsstufe exemplarisch mögliche Auswirkungen und Folgen von Mobilität in einer Gerichtsverhandlung inszenieren und nachspielen. Die Schüler übernehmen dabei verschiedene Rollen, auf die sie sich mit authentischen Unterlagen vorbereiten. Dabei ziehen sie physikalische Prinzipien für die Beurteilung des Unfallhergangs heran, üben den Aufbau einer Kausalkette für die Argumentation vor Gericht und gelangen schließlich in gemeinsamer Arbeit zu einer Lösung des Falles. Das Modul ist eines der vielen Lehr- und Lernangebote, die in Erfüllung des Kooperationsvertrags zwischen der Autostadt GmbH und dem Kultusministerium Niedersachsen auf der Grundlage des Curriculums Mobilität im Einklang mit den niedersächsischen Rahmenrichtlinien entwickelt wurden. Es verdeutlicht die Zielsetzung der pädagogischen Arbeit in der Autostadt: über das Erleben, Erfahren und Erinnern die Schüler dabei zu unterstützen, in die gesellschaftliche Verantwortung hineinzuwachsen. Und es zeigt den fächerübergreifen151

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Uwe Ladwig, Cord Völkening

den Ansatz der Inszenierten Bildung, da die Schulfächer Physik, Deutsch und Politik einbezogen werden. Die realitätsnahe Inszenierung erfolgt auf Basis der Zivilprozessordnung. Dabei begünstigt der Einsatz hochwertiger Requisiten die Schaffung einer wirklichkeitsnahen Gerichtsatmosphäre, deren Wirkung sich niemand entziehen kann. Das Erleben steht im Vordergrund – nicht die Imagination. Das »Nachspiel« ermöglicht den Teilnehmenden über vielfältige Rückkopplungen zu tatsächlich erlebten Ereignissen oder Erfahrungen Dritter eine persönliche Identifikation mit der Inszenierung. Dieser Motivationsschub und die Vernetzung der Fachinhalte innerhalb der authentischen Rahmenhandlung kommen der schulischen Unterrichtspraxis für die integrierten Fächer zugute.

2. Fächerintegration und Unterrichtszusammenhang Die Möglichkeiten der Schulen werden durch die pädagogischen Angebote in der Autostadt erweitert und ergänzt, aber ein optimales Lernergebnis entsteht erst durch die Weiterarbeit in der Schule. Deshalb erhalten die Schüler im Anschluss an das Modul eine Materialsammlung mit Polizeibericht, Klageschrift, Klageerwiderung, dem gerichtlich bestellten verkehrstechnisch-physikalischen Gutachten und einer schriftlichen Fassung des Urteils. Dies eröffnet Anknüpfungspunkte für die Bearbeitung in den einzelnen Fächern und gewährleistet eine sinnvolle Integration des Moduls in den Unterrichtszusammenhang. Über das gesamte Gerichtsschauspiel existiert zudem ein Videodokument, das die Schüler selbst anfertigen und das ihnen anschließend zur Verfügung steht. So haben sie eine Grundlage für die Analyse ihres Kommunikations- und Sozialverhaltens sowie ihrer Arbeitsweise. Es bietet sich an, diese fachübergreifenden Aspekte in den Fächern Deutsch oder Politik zu vertiefen. Zahlreiche Variationsmöglichkeiten erleichtern die fachliche Vertiefung. Schon eine geringe Veränderung der Ausgangsbedingungen – oft durch die Schüler selbst angeregt – erlaubt jederzeit eine Verlagerung des Schwerpunkts und damit eine weiter gehende Beschäftigung in einem ausgesuchten Fach oder in mehreren Fächern. Im Fach Physik dient das Unterrichtsmodul »Nachspiel« der Ein152

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Lust am Lernen

führung in die Mechanik (Jahrgangsstufe 11.1) oder der Anwendung der Gesetze der Mechanik in einer gesellschaftlich relevanten Situation (Jahrgangsstufen 11.2, 12.1). Es ergeben sich Bezüge vor allem über das physikalisch-technische Gutachten. So kommt bei diesem Beispiel zur Unfallmechanik die Newton’sche Mechanik zur Anwendung. Für die Verifizierung der dabei verwendeten Formeln können die konventionellen Methoden des Physikunterrichts verwendet werden – mit dem Vorteil des Bezugs zu einem real erlebten Fall. Dadurch erhalten Bewegungsgleichungen und Erhaltungssätze einen sinnstiftenden Nutzwert. Ähnliches gilt für das Fach Deutsch einschließlich des Darstellenden Spiels. Denn eine Gerichtsverhandlung lebt, wie kaum eine andere lebensnahe Situation, von Formulierungen in Sprache und Schrift. Auf Rahmenrichtlinien bezogene Schwerpunkte sind hier die Beschäftigung mit nichtfiktionalen Texten, mit Sprache und Kommunikation. Gegenstände der Diskussion können dabei Gesetzestexte, die Bestimmungen der Zivilprozessordnung, das Gerichtsgutachten, Anwaltsverträge oder der erstellte Film sein. Auch die Einbindung und Weiterentwicklung in einer Theater-AG oder im Darstellenden Spiel ist denkbar. So könnte ein Projekt oder Schauspiel »Gerichtsverhandlung« ins Leben gerufen werden, in das Elemente der verschiedenen Fächer einfließen würden, mit dem Ziel, den Ablauf der Gerichtsverhandlung zu optimieren oder die dabei gemachten Erfahrungen auf andere Themenfelder zu übertragen. Im Fach Politik schließlich erfolgt die Einordnung unter dem Rahmenthema »Demokratie in Deutschland« und dem Schlüsselproblem »Frieden und Gewalt«. Das übergreifende Kursthema könnte lauten: »Rechtsstaat – Recht und Gerechtigkeit in der Demokratie«. Als Unterthemen wären denkbar: »Ausübung staatlicher Gewalt«, »Garantie der Grundrechte«, »Die Freiheit des Einzelnen«, »Recht als Instrument der friedlichen Konfliktaustragung« u.a.

3. Curriculum-Bezug Die Einbindung des Unterrichtsmoduls »Nachspiel« in das Curriculum Mobilität erfolgt über die Bausteine »Regeln und geregelt werden« und »Einsteigen – Aussteigen – Umsteigen«. Als Beispiel sei der Bezug zum Baustein »Regeln und geregelt werden« aufgeführt, mit sei153

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Uwe Ladwig, Cord Völkening

ner Integration der Fächer Politik, Deutsch und – im Curriculum nicht dezidiert genannt, aber mittelbar mit einbezogen – dem Fach Physik. Baustein-Schwerpunkte sind »Ordnungen und Normen« und »Aufgaben des Gesetzgebers im Straßenverkehr«. Zu den im Modul realisierten inhaltlichen Vorschlägen zählen »Auflehnen gegen Konventionen«, »Verkehrssicherheit«, »Verkehrsdynamik«, »Nachhaltigkeit der angestrebten Wirkungen« und viele mehr. Bei der Entwicklung der Unterrichtsmodule im MobilitätsDeck erfolgt eine Wechselwirkung zwischen den Notwendigkeiten einer thematischen fachbezogenen Schwerpunktsetzung und den Anforderungen an die Umsetzung im Unterricht. Dem Curriculum Mobilität kommt dabei die Funktion des integrierenden Moments zu. Dabei ist das Curriculum selbst nicht statisch zu verstehen, sondern als flexibles Werkzeug, das nach Maßgabe des Mobilitätsbezugs und der Nachhaltigkeit des Inhalts mit neuen Elementen und Anregungen angereichert und so jederzeit weiterentwickelt werden kann. Ergebnis ist eine fachübergreifende und Fachinhalte verbindende Struktur.

4. Lernen auf dem MobilitätsDeck Durch die Einbindung in das Curriculum Mobilität geht das Angebotsspektrum der Inszenierten Bildung weit über die Standardthemen der tradierten Verkehrserziehung hinaus, bezieht diese allerdings dort, wo es sinnvoll ist, mit ein. So erfahren die Schüler Mobilität als ein globales und komplexes System und werden dabei unterstützt, Fähigkeiten hinsichtlich der Verbesserung oder Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen zu entwickeln und auszubauen. Das MobilitätsDeck, Schauplatz des Gerichts-»Nachspiels«, wurde eigens für die Erarbeitung und Durchführung pädagogischer Module (meist etwa dreistündige Unterrichtseinheiten, aber auch Ganztagskurse) für Schülergruppen der Sekundarstufen I und II und der berufsbildenden Schulen errichtet. Die Ausstattung ist auf diese Zwecke hin optimal abgestimmt. Die Räume sind größenvariabel und verfügen über bewegliches Mobiliar sowie ein modernes technisches Equipment mit mehreren PlasmaBildschirmen sowie Beamern für Großprojektionen auf Leinwand. Eine IT-Bench mit Videoschnittplätzen und Computerarbeitsplätzen inklusive Internetanbindung rundet die Ausstattung ab. 154

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Lust am Lernen

Betreut werden die Lerngruppen von wissenschaftlich und pädagogisch ausgebildeten Mitarbeitern, die jeweils zu zweit einen der drei fachlichen Schwerpunkte abdecken: den gesellschaftswissenschaftlichen Bereich, den naturwissenschaftlich-technischen Bereich sowie den musisch-künstlerischen Bereich. Diese Konstellation und die enge Zusammenarbeit innerhalb des Teams ermöglichen thematische Vielfalt und eine große didaktische und methodische Bandbreite der Module, für die im Folgenden weitere Beispiele kurz vorgestellt seien. »Szene, Schnitt, Film ab« und »Vor laufender Kamera« sind Kamera-Workshops, die sich an Teilnehmende mit unterschiedlichem Vorwissen wenden. Dabei drehen diese einen eigenen Kurzfilm und lernen die Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten von Filmsprache und Montagetechnik kennen. »Wa(h)re Mobilität« vermittelt bzw. vertieft in der Vorbereitungsund Recherchephase (mittels Internet und ausgewählter Print-Materialien) Kenntnisse zum Themenfeld Gütermobilität und schult die Lernenden im Rahmen einer selbst inszenierten Podiumsdiskussion in ihrer Argumentations- und Kommunikationskompetenz. Die Module »WerteBalance« und »Raum erFahren« thematisieren – mit sehr unterschiedlichen didaktisch-methodischen Schwerpunkten – Mobilität in all ihren Facetten, von der »nahe liegenden« physischen über die geistig-psychische bis hin zur wirtschaftlichen und virtuellen Mobilität. »Kaffee macht mobil« und »Der Weg des Diamanten« beleuchten auf verschiedenen Ebenen Mobilitätsaspekte von Wirtschaftsgütern: die des Kaffees unter chemischen, geographischen und hauswirtschaftlichen Gesichtspunkten; die des Diamanten hinsichtlich Mythos, Chemie, Fundorte, Exploration, Handel und Verarbeitung – in diesem Falle mit dem Ziel, eine eigene »Power-Point«-Präsentation zu erstellen und vorzuführen.

5. Workshops Ein weiterer »Sub«-Lernort innerhalb des Lernortes Autostadt ist die WerkStadt im ZeitHaus mit vielen Hands-on-Stationen in einem offenen Objektbereich und dem geschlossenen Workshopbereich. Das Angebot richtet sich an Gruppen aller Altersstufen, vorwiegend aber an Lerngruppen des Primarbereichs und der Sekundarstufe I. 155

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Geschultes Fachpersonal mit sozialpädagogischem und handwerklich-technischem Hintergrund betreut hier die Schüler an fünf »Arbeitsinseln«. Die Workshops orientieren sich an den Prinzipien des handlungsorientierten Lernens, wie sie sich auch in den Bausteinen des Curriculums Mobilität wiederfinden – mit konkreten Ergebnissen des Lern- und Arbeitsprozesses. Die Themenpalette der Workshops umfasst die Entwicklung eigener Automodelle (»AutoDesign«, »Die Sonne macht’s« u.a.), das Erkunden physikalischer Grundlagen der Mobilität (»Antrieb durch Wasser, Luft und Erde«), aber auch spannende, altersgerechte Rallyes durch die Autostadt (»Die Autostadt-Piraten«, »Die Detektive«) und vieles mehr. Für Familien sowie Gruppen im Vorschulalter und in der Primarstufe schließlich wurde die Erlebniswelt des MobiVersum geschaffen, mit zahlreichen Attraktionen und Veranstaltungen für Kinder und Erwachsene – und mit Workshops speziell für Schulklassen, Kinder-Geburtstagsgesellschaften und andere Gruppen. Hier werden die Kleinsten mit spielerischen Mitteln auf die realen Situationen im Straßenverkehr vorbereitet (»Aufgepasst! Verhalten im Straßenverkehr« u.a.), unternehmen angeleitete Phantasiereisen in die Wüste, in den Weltraum oder in Zauberwelten und reisen in der »MärchenTour« einen Tag lang durch die Welt von Prinzen und Prinzessinnen, Feen und Hexen. Zum MobiVersum gehören auch verschiedene Fahrerlebnis-Inszenierungen, zum Beispiel ein Rallyeparcours mit pedalangetriebenen Flitzekisten und der FahrradParcours. Eine besondere Kinderverkehrsschule schließlich befindet sich im LernPark außerhalb des KonzernForums. Von April bis Oktober erlernen hier Fünf- bis Elfjährige in einer Verkehrsschulung zunächst den theoretischen Hintergrund, bevor sie dann im elektrisch angetriebenen »Mini New Beetle« das Gelernte praktisch erproben und dabei einen KinderFührerschein mit Lichtbild erwerben. Ergänzend zu den erwähnten Modulen und Kursen gibt es eineinhalbstündige Schülerführungen durch die Autostadt mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten, zahlreiche Kombi-Angebote (Projekttage) für Lerngruppen, die einen ganzen Tag in der Autostadt verbringen wollen, sowie die Schüler-Rallye »MobiTrack« für Schüler und Jugendliche, die die Autostadt zum ersten Mal besuchen.

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Lust am Lernen

Lernen in der Autostadt: Schüler während eines Workshops der Inszenierten Bildung

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Uwe Ladwig, Cord Völkening

6. Beitrag zur Lernkultur Aus den Rückmeldungen der Schulklassen und Lehrkräfte wird ersichtlich, dass die Lehr- und Lernangebote der Autostadt eine willkommene Ergänzung für die Schulen darstellen. Der Wandel und die Flexibilisierung der Lernkultur zeigen sich u.a. dadurch, dass die Schulen sich öffnen und die Schüler verstärkt außerschulische Lernorte aufsuchen. Die Autostadt liefert einen spezifischen Beitrag zu dieser Lernkultur: mit der Vernetzung von Inhalten innerhalb von Lernmodulen oder von Workshops, der Bezugsetzung zum Curriculum Mobilität und der Erlebnisorientierung. So erfahren die Schulen die Autostadt als einen innovativen Ort des Lernens, an dem ihnen auch aktiv zugearbeitet wird. Uwe Ladwig und Cord Völkening sind pädagogische Mitarbeiter der Autostadt GmbH.

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Das Gefühl zu leben als Gefühl von Bewegung

Das Gefühl zu leben als Gefühl von Bewegung Anregungen zum transdisziplinären Didaktik-Diskurs Herbert Bickel

Der folgende Beitrag ist als Teil eines erfahrungs- und reflexionsorientierten Studienmaterials zum Thema »Anthropologische Dimensionen von Mobilität« konzipiert, das gemeinsam mit Univ.-Prof. Dr. Helmwart Hierdeis entwickelt und im Rahmen unterschiedlicher Lehrangebote an der Universität Innsbruck sowie im Rahmen eines Studiengangs der FernUniversität Hagen erprobt werden konnte. Die Arbeitsund Reflexionsanregungen, die jedem Abschnitt beigefügt sind, besitzen exemplarische Funktion und sollen die Aufmerksamkeit Lehrender und Studierender auf das innovative Potential eines inter- und transdisziplinären Didaktik-Diskurses lenken. Der Begriff des menschlichen Lebens ist – was seine Handhabung betrifft – überaus ambivalent. Es handelt sich um einen jener Begriffe, die – wird nicht nach ihrer Bedeutung gefragt – den Eindruck von Klarheit vermitteln und dem Menschen bereitwillig gestatten, sich ihrer ein ganzes Leben lang in durchaus sinnvoller Weise zu bedienen. Wird jedoch nach ihrer Bedeutung gefragt, entziehen sie blitzartig ihre Funktion und die gesamte Realität, die gerade noch im (Be-)Griff zu sein schien, entschwindet. An der Grenze des – explizit – Sagbaren scheinen Begriffe insgesamt nur in diffusem Halbdunkel überleben zu können und auf der Stelle zu Staub zu zerfallen, wenn man versucht, sie ans Licht zu zerren. Es ist das Reich der Vampire unter den Begriffen – das Reich jener Begriffe somit auch, die davon leben, über die Faszination des Geheimnisvollen ein kreatives Vakuum, einen kreativen Sog zu schaffen und den Menschen dazu zu zwingen, über sie nachzudenken. Die Frage, was Leben an sich und was menschliches Leben als solches bedeutet, lässt sich somit auf herkömmliche Weise nicht beantworten. Der folgende Beitrag ist als Versuch zu sehen, sich aus gebührendem Respekt vor Begriffen, die sich an der Grenze des Sagbaren bewegen, einer emotionalen anstatt einer rationalen Intelligenz anzuvertrauen und dabei – konkret – durch sukzessiv fortschreitende Annähe159

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Herbert Bickel

rung an das Gefühl, das im Kontext von Bewegung entsteht, eine erfahrungsorientierte anthropologische Perspektive zu eröffnen, die es erlaubt, erfahrungsorientiert nach Indizien für einen korrelativen Zusammenhang zwischen Lebensgefühl und Mobilitätsgefühl zu suchen.

Arbeits- und Reflexionsanregung Nehmen Sie einen Schreibstift und ein Blatt Papier. Skizzieren Sie mit dünnem Strich zwei gleiche Figuren auf das Blatt Papier – Figuren, die beide das anthropologische Rätsel des menschlichen Lebens bedeuten sollen. Wählen Sie eine der beiden Figuren und malen Sie mit Ihrem Schreibstift langsam und penibel den Innenraum aus. Sind Sie mit Ihrem Ergebnis zufrieden, konzentrieren Sie sich auf die zweite Figur, die Sie ebenso langsam und penibel von außen her schattieren. Schließen Sie Ihre Augen und prägen Sie sich beide Figuren ein. Wenn Sie glauben, beide Figuren mit geschlossenen Augen vor sich zu haben, stellen Sie sich vor, es handle sich bei beiden Figuren um ein Schlüsselloch. Entscheiden Sie jenes Schlüsselloch, durch das Sie den Blick auf das anthropologische Rätsel werfen würden. Verfassen Sie einen kurzen Text, in dem Sie den Symbolgehalt Ihres zeichnerischen bzw. malerischen Handelns sowie die Wahl Ihres Schlüssellochs zu erläutern versuchen.

Erste Annäherung: Es bewegt sich, also muss es leben Wer vom Phänomen des Lebens spricht, denkt wohl kaum im ersten Zugang an den Begriff einer so genannten toten Materie – auch wenn das Adjektiv des Toten in linguistischer Logik eine Brücke zum Adjektiv des Lebendigen markiert. Eine kurze Episode jedoch mag einen kaum sichtbaren Einstieg in die Welt des Lebendigen bezeichnen: Ein Mann blickt lange starr und traumverloren durch das Fenster seines Zimmers. Ein Kind beobachtet ihn nachdenklich und fragt, ob die Scheibe denn lebt – worauf der Mann zunächst verblüfft und skeptisch, nach hartnäckigem Insistieren des Kindes jedoch mit zunehmendem Nachdruck zu erklären versucht, dass es sich bei Glas doch eindeutig und selbstverständlich um totes Material handle – worauf das Kind seinen Widerspruch verstärkt und sich auf einen Film über Kuriositäten aus dem Bereich Physik beruft, der eine Fensterscheibe – was im Zeitraffer sehr eindrucksvoll zu sehen sei – als extrem langsam 160

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Das Gefühl zu leben als Gefühl von Bewegung

fließende Masse gezeigt habe. Das Fensterglas sei eine Masse, die über Jahrzehnte hindurch – wenn auch nicht wahrnehmbar – im oberen Bereich immer dünner und im unteren Bereich immer dicker werde – worauf der Mann mit einem achselzuckenden »Na ja« die Diskussion beendet. Zu den wahrhaft so genannten toten Materialien zählt ohne Zweifel wohl Metall in all seinen Varianten – erst recht jedoch als Eisen und als Stahl. Ein Motorblock etwa bleibt immer derselbe, auch wenn er Verschleiß und Abrieb produziert – doch plötzlich geschieht Folgendes: Ein Mann folgt dem Rat eines Experten und lässt für teures Geld die Zylinder seines alten und geliebten Sportwagens neu bohren und die Kolben ersetzen – doch der positive Effekt bleibt aus: »Das kann man nicht vorhersehen – da kann man nichts machen«, entgegnet der Experte: »Materialermüdung« – worauf der Mann sich fragt, was denn angesichts eines toten Materials (wenn auch nur auf Basis rhetorischer Wahrheit) zur Diagnose einer irreversiblen »Ermüdung« führen kann. Der Experte scheint wohl mit dem animistischen Bild eines Motors zu argumentieren, der sein Leben damit verbringt, brav seinen Dienst zu tun – bis sein Organismus »müde« wird. Der Motor ist ein alter, braver Junge wie das altersschwache Arbeitspferd des Großvaters – oder auch der Großvater selbst –, der keine Anstrengung mehr zu erleiden vermag. Auf einer weiteren Stufe so genannter toter Materialien ist totes Holz zu nennen – totes Holz, das immerhin einst gelebt hat – das allerdings auch immer noch lebt, indem es knackt, knarrt, sich dreht und biegt – so, als würde es nicht aufgeben bzw. sich nicht ergeben wollen. Doch auch der Berg lebt – indem er sich hebt und senkt, in cholerischer Wut Feuer und Lava speit, sich versöhnen lässt und sich beruhigt, sich durch Steinschlag und Lawinen bemerkbar macht – und indem es ihm gelingt, Bergsteiger und Kletterer anzulocken und sie zum Kampf zu fordern, um sie schlussendlich abzuschütteln und in den Tod zu stürzen. Hier kann auch das Faktum, dass zahllose Berge Menschennamen tragen oder in Mythologien von Göttern bewohnt werden, als weiteres Indiz für sein Leben gelten. Das geheimnisvolle Leben der Kristalle, die zum einen Feuer in sich tragen und zum andern nach einem genau festgelegten Bauplan wachsen, befindet sich bereits an der Schwelle zur Lebenskategorie der Pflanzen. Diese ernähren sich, drehen sich nach der Sonne, entwickeln unter harten Lebensbedingungen raffinierte Überlebensstrate161

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gien, benutzen Insekten zur Fortpflanzung und stellen ihnen durchaus auch Fallen, um sie zu verzehren. Manche Zimmerpflanzen sind hoch sensibel und scheinen bisweilen neurotisch auf Menschen zu reagieren – sie benötigen Zuspruch und menschliche Wärme, wenn sie gedeihen sollen. Es wird von Gärten der Fleischhauer behauptet, dass sie ihre Pflanzen mit Tierblut düngen, wodurch sie sich – dem kannibalistischen Mythos entsprechend – besonders kraftvoll entwickeln. So ist auch das Faktum zu verstehen, dass ein ehemaliges Schlachtfeld bei Bauern als besonders fruchtbarer Boden gilt. Zu erwähnen bleibt, dass Schnittblumen Todesnähe signalisieren, dass das Fällen eines gesunden Baumes in die Nähe eines meuchelhaften Mordes rückt – und dass der Wald (in gewohnter Rhetorik) nicht nur zu leiden und zu sterben vermag, sondern auch – seinen Tod vor Augen – in allerhöchster Panik so genannte »Angsttriebe« produziert. Es ist kaum ernsthaft zu leugnen, dass all das Genannte auf jenes Phänomen verweist, das aus psychoanalytischer Perspektive unter der Formel einer projektiven psychischen Mobilität zu beschreiben ist. Doch projektive psychische Mobilität kann nur gelingen, wenn sich eine Projektionsfläche als Projektionsfläche eignet, wenn totes Material somit als minimale Bedingung das äußere Kennzeichen des Lebendigen trägt. In diesem Sinn fällt es nicht schwer, das notwendige Kennzeichen des Lebendigen in der Bewegung zu sehen.

Arbeits- und Reflexionsanregung Schließen Sie Ihre Augen und stellen Sie sich vor, Sie befinden sich auf einer großen Parkfläche eines Einkaufszentrums. Gemächlich überqueren Sie den Platz und haben das Gefühl, dass Ihnen ein Auto folgt. Sie drehen sich um – doch Sie können nichts Ungewöhnliches bemerken. Sie setzen Ihren Weg fort – doch Ihr Gefühl bleibt. Sie drehen sich erneut um – und plötzlich bemerken Sie ein Auto, das – obwohl es steht – seinen Standort gewechselt haben muss. Es war Ihnen unmittelbar beim Betreten der Parkfläche in der ersten Parkreihe aufgefallen und es muss Ihnen wohl – während Sie die Parkfläche überquerten – in eine näher gelegene Parkreihe nachgerückt sein. Sie gehen zurück und betrachten das Auto – es ist leer, abgesperrt, und auch der Motor ist kalt. Sie schütteln den Kopf, lachen, begeben sich schnellen Schrittes zu Ihrem Parkplatz und verlassen das Areal. Verfassen Sie einen kurzen Text, in dem Sie die Geschichte als Geschichte einer Beziehung fortzuschreiben versuchen, ohne dabei der 162

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Das Gefühl zu leben als Gefühl von Bewegung

Verlockung einer Horrorgeschichte oder der Verlockung einer rationalen Erklärung zu erliegen – wobei es Ihnen offen steht, sich an Ihrer eigenen Biographie zu orientieren und Ihre Beziehung zu einem konkreten Auto, zu einem konkreten Autotyp, zu einer konkreten Automarke oder zu einem konkreten Modell ins Spiel zu bringen.

Zweite Annäherung: Es soll leben, also muss es sich bewegen Wenn das, was lebt, sich durch eine Art von Bewegung als lebendig deklariert, muss in logisch umgekehrter Konsequenz das, was leben soll, in Bewegung gesetzt werden. Wer etwa Erfahrung in der Lektüre von Comic-Heften besitzt, wird vielleicht das eigenartige Gefühl kennen, das entsteht, wenn sich die gezeichneten Helden eines Printmediums plötzlich in einem Zeichentrickfilm zu bewegen beginnen – das Gefühl, das etwa »Asterix der Gallier« oder »Fritz the Cat« auf der Kinoleinwand zu vermitteln vermag, und das sich in der Tatsache spiegelt, dass in französischer Sprache Zeichentrickfilme »dessins animés« – zum Leben erweckte Zeichnungen – genannt werden. Ein ähnliches Gefühl entsteht, wenn im Rahmen einer Filmvorführung eine Panne passiert – wenn der Film sich plötzlich ruckartig verzögert, in ungewollter Standbildposition steckt und sich dann langsam wieder in Bewegung setzt – bis die Bilder erneut zu laufen beginnen. Als Parabel könnte dieser Effekt durchaus auch zu tiefgründigen Deutungen verleiten – wenn etwa – in einem Experimentalfilm vielleicht – ein stehendes Bild einen Menschen zeigt, der rücklings auf dem Boden liegt – wenn der Film sich langsam zu bewegen beginnt und der Mensch sich langsam vom Boden erhebt – der Film beschleunigt und der Mensch zu laufen beginnt – der Film weiter beschleunigt und der Mensch strauchelt und zu Boden stürzt – um dann – in eingangs beschriebener Haltung – wiederum regungslos am Boden zu liegen – worauf der Film in endloser Schleife stets wieder von vorne beginnt – so, als habe der Mensch in all seinen Zyklen nichts gelernt und müsse nun (einem Wiederholungszwang gleich) in unendlicher Wiederkehr desselben ein selbes Leben nach dem anderen absolvieren. In diesem Zusammenhang ist auch auf das Genre jener Filme hinzuweisen, die – ganz in der Tradition eines Homer, eines Ovid, eines Goethe, einer Mary Shelley – die Erschaffung eines künstlichen 163

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Menschen thematisieren. Bei diesen Filmen ist das Epizentrum des Horrors dort zu spüren, wo der Protagonist – bei Vorlagen aus dem 19. Jahrhundert in tiefem Glauben an die magische Kraft des Stroms und somit meist mittels Elektroschock – versucht, das Lebendigwerden seiner Kreatur zu erzwingen. Das dramaturgische Kalkül einer solchen Szene besteht darin, dass das Publikum – das ja aus Menschen besteht, die sich per Identifikation in das Geschehen auf der Leinwand einzuschleusen pflegen – seine geballte Aufmerksamkeit in panischer Erwartung darauf fokussiert, woran Leben zu erkennen ist, um den noch so geringsten Anflug eines Hinweises auf Leben in Bruchteilen einer Sekunde wahrzunehmen und sich blitzschnell in die Büsche schlagen zu können. Genau an dieser Stelle beginnt der Regisseur, seine Dramaturgie des Horrors in einem minutiösen Spiel mit Bewegung zu entfalten: Der Protagonist jagt einen Stromstoß in den Körper seiner Kreatur – der Körper bäumt sich auf: ein Indiz für Leben – der Körper fällt in sich zusammen: ein Indiz für Leblosigkeit. Das Spiel beginnt immer und immer wieder von vorne, bis der Protagonist schlussendlich resigniert: Entwarnung. Er wendet sich ab und verlässt enttäuscht den Raum, doch die Kamera – das Beobachtungsorgan des Publikums – bleibt auf die Kreatur gerichtet: Misstrauen entsteht: vielleicht doch keine Entwarnung. Und dann plötzlich der Höhepunkt des Horrors: eine allerkleinste, kaum wahrzunehmende Bewegung des kleinen Fingers; ein allerkleinstes Zucken des Augenlids; ein Hauch einer Bewegung des Mundwinkels: Die Kreatur lebt. Das Spiel des Regisseurs ist perfekt und die Tragödie eines vom Menschen geschaffenen und vom Menschen zum Leben erweckten Wesens kann beginnen. Das Medium Film arbeitet damit, Dramatisches zu inszenieren – und Dramatisches bewegt sich, wie nicht zuletzt auch aus der Poetologie der griechischen Tragödie bekannt, an einer hauchdünnen Grenze zwischen Leben und Tod. Wenn der Film damit – was nicht zu leugnen ist – auch den Voyeurismus seines Publikums bedient, ist dennoch zu fragen, inwieweit Voyeurismus – als Beschaffung von Lust durch die Tätigkeit des Beobachtens – sein minutiöses Spiel mit allerkleinsten Details nicht auch im Sinne eines – wenn auch wenig bewussten – de- und rekonstruierenden Erkenntnisprozesses betreibt. Doch wie dem auch sei: Das Medium Film ist als reichhaltiges Reservoir an szenischem Material zu schätzen, das darauf zielt, den Menschen durch Identifikation mit Figuren auf der Leinwand in ein Spiel um Leben und Tod zu verstricken und ihn dadurch mit seinen anthro164

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Das Gefühl zu leben als Gefühl von Bewegung

pologischen Wurzeln zu konfrontieren. Äußeres bzw. sichtbares gemeinsames Kennzeichen all dieser Szenen ist das Spiel mit Bewegung als Signal für Leben.

Arbeits- und Reflexionsanregung Erinnern Sie sich an das so genannte Daumenkino. Nehmen Sie ein Heft zur Hand, zeichnen Sie mit Bleistift auf mindestens 30 aufeinander folgende Seiten in die rechte untere oder obere Ecke den Bewegungsablauf eines Strichmännchens nach, das liegt, seinen Körper aufrichtet, die Flucht ergreift und – immer kleiner werdend – am Horizont verschwindet. Legen Sie das Heft auf einen Tisch und lassen Sie die Seiten so schnell wie möglich zwischen Zeigefinger und Daumen durchlaufen. Spielen Sie mit Ihrem Daumenkino, bis in Ihnen das Gefühl entsteht, das Strichmännchen nach Belieben zum Leben erwecken zu können. Verfassen Sie einen kurzen Text, in dem Sie die subjektive Wirkung jener beiden Augenblicke zu beschreiben versuchen, in dem Ihr Strichmännchen sich in Bewegung setzt – und in dem es Ihnen entwischt.

Dritte Annäherung: Bewegung anhalten, um das Leben betrachten zu können Wenn zu Beginn des Beitrags davon die Rede war, dass es nicht möglich erscheint, das Phänomen des Lebens explizit in Sprache zu fassen, dann ist die vorliegende dritte Annäherung als weiteres Argument für diese Hypothese zu werten. Es gibt unzählige Versuche, die auf einer zugleich wissenschaftlichen als auch libidinösen Verlockung beruhen, das Leben in seinem vollen Lauf, in seiner vollen Bewegung anzuhalten – und zwar, um es in Ruhe studieren zu können. Sollte Leben jedoch tatsächlich aufgrund einer dunklen Analogie mit Bewegung korrelieren, muss sich dieses Unterfangen als ebenso abstrus erweisen wie der Versuch, Dunkelheit zu studieren, indem man sie beleuchtet – um sie exakt sehen und einer minutiösen Analyse unterziehen zu können. Wie grotesk der Anspruch ist, Leben (Bewegung) anhalten und dennoch am Leben (in Bewegung) belassen zu wollen, zeigt das Dilemma des in der Luft stehenden bzw. im Flug angehaltenen Pfeils – 165

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Herbert Bickel

denn – auch wenn es noch so banal erscheint – Ein Pfeil ist nur so lange in Bewegung, solange er sich bewegt, solange er fliegt. Es ist nicht möglich, seine Bewegung zu studieren, indem man seinen Flug stoppt. Es könnte zwar der Einwand gelten, dass es durchaus möglich ist, Bewegung zu studieren, indem man sie anhält – wie dies etwa eines jener bekannten Fotos beweist, die als Poster an unzähligen Wänden hängen und einen Apfel oder Kürbis zeigen, aus dem ein Pfeil oder das Projektil einer Schusswaffe tritt und auf dem – so die Überzeugung mancher Fotoexperten – durchaus eine fotografische Darstellung von Bewegung gelungen ist. Auch die Sportfotografie lebt davon, Bewegung auf stehende Bilder zu bannen, indem sie Bewegung über ein wohldosiertes Verhältnis aus Brennweite zu Tiefenschärfe einzufrieren versteht – und es wird auch tatsächlich suggeriert, dass hier Bewegung (obwohl sie ruht) die Ingredienzien des Lebendigen enthält – und dass immerhin auf Ebene einer einfühlenden Phantasie die Option besteht, eingefrorene Bewegung wieder auftauen zu können. Doch der Gegeneinwand könnte lauten: Es handelt sich hierbei in analoger Weise nicht um Bewegung, wie es sich bei der abgestreiften Haut einer Schlange nicht um eine Schlange handelt – denn das, was als Bewegung zu gelten hat, hat sich ohne Rücksicht auf den Tatbestand des Fotografiertwerdens weiterbewegt – d.h., die Bewegung hat das, was auf der Fotografie zu sehen ist, im nächsten Bruchteil einer Sekunde bereits abgestreift. Sie hat sich durch den Gegenstand, der auf der Fotografie zu sehen ist, einfach hindurchbewegt. Und um die Argumentation noch ein Stück weiter zu treiben: Vielleicht ist es auch bereits vom logischen Ansatz her falsch, Bewegung – wie dies mittels Filmstreifen geschieht – aus einer Serie stehender Bilder zusammenzusetzen und sie dadurch in den Status einer optischen Täuschung zu bringen. Die tatsächliche Tragweite des Bemühens, Leben anhalten und dennoch am Leben erhalten zu wollen, zeigt sich in drastisch-metaphorischer Weise dort, wo ein Biologe des 19. Jahrhunderts – um exakte Wissenschaftlichkeit bemüht – den Balg eines sogenannten Königsparadiesvogels zur Datenerhebung festzuhalten versucht und ihn dadurch tötet. Sie ist auch dort zu beobachten, wo ein Authentizitätsfetischist des 20. Jahrhunderts zappelnde und sich windende Insekten und Kriechtiere in flüssiges Acryl taucht, um sie in vollem Leben anzuhalten und sie in Kunststoff erstarrt von allen Seiten betrachten zu können, wobei sein Lohn – entgegen seiner Hoffnung, Leben sogar in seiner gesteigerten, weil bis zum ultimativsten letzten Sekundenbruch166

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Das Gefühl zu leben als Gefühl von Bewegung

teil um Über-Leben kämpfenden Lebendigkeit dokumentieren zu können – sich darauf beschränkt, einen geschmacklosen Briefbeschwerer in Händen zu halten. Das einzige, was ihm gelungen scheint, ist die makabere Inszenierung seiner Faszination, den allerletzten Sekundenbruchteil eines Lebens zu konservieren – jenen Sekundenbruchteil, in dem das Leben sowohl gerade noch als auch gerade nicht mehr am Leben war. Auf der anderen Seite ist es die poetische Literatur, die in besonderem Maße versucht, sich an dieser oder jener Grenze zwischen Leben und Tod als einer Grenze zwischen Bewegung und Bewegungslosigkeit aufzuhalten. An dieser Stelle soll jedoch der bloße Hinweis auf zwei poetische Bilder aus der französischen Literatur des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts genügen: der Hinweis auf Mallarmé und sein Bild des Schwans, der – in einem Teich festgefroren – vor das Rätsel stellt, ob die leichte und gespenstische Bewegung seines Gefieders dem eisigen Wind zuzuschreiben ist oder als unheimliches Indiz für das Aufflackern eines in kristalliner Schönheit erstarrten Lebens gelten kann, und der Hinweis auf Rimbaud und sein Bild des Soldaten, der friedlich neben einer Quelle auf einer Frühlingswiese liegt und zu schlafen scheint – wenn da nicht Blut durch seine Uniformjacke sickern würde, das in kleinen und schwach pulsierenden Rinnsalen sogar im Tod noch das Zeichen des Lebens trägt. Das noch so engagierte und ausgeklügelte Unterfangen, Leben anzuhalten, um es studieren oder vielleicht auch nur besitzen zu können, mag nicht darüber hinwegtäuschen, dass an dieser äußersten Grenze, an der Bewegung innehält und Leben zum Stillstand kommt, die kleinsten Hinweise darauf, dass das Leben gerade noch anwesend war und dem Tod eben erst die Türklinke in die Hand gegeben hatte, die äußersten Orientierungspunkte des rationalen Erkenntnisvermögens bezeichnen. Diese Orientierungspunkte erfüllen die Funktion, Lebende in den Bann einer heuristischen »rêverie« zu setzen, um ihnen in dunkler Ehrfurcht einen wenn auch noch so kleinen Schritt über das Rationale hinaus zu gewähren. Dies mag in unheimlicher Weise dort zu spüren sein, wo etwa bei einem völlig zertrümmerten Unfallfahrzeug auf einem entlegenen Autofriedhof der Blick durch das zersplitterte Seitenfenster auf den Tachometer fällt, der so plötzlich aus der Halterung gerissen wurde, dass er nach wie vor die Geschwindigkeit zeigt, die im Augenblick des Aufpralls einen allerletzten Bruchteil einer Sekunde noch bestanden haben musste; wo der Tourenzähler eine 167

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Herbert Bickel

Drehzahl markiert, die den längst schon erkalteten Motor noch immer in voller Bewegung zeigt; wo am Boden vielleicht noch ein Gegenstand liegt, der die letzte Sekunde der Insassen suggeriert: eine Zigarette, die nicht mehr zu Ende geraucht werden konnte; ein Stück Schokolade, das vielleicht gerade angeboten wurde, als es krachte; eine Tonbandkassette, die aus dem zertrümmerten Abspielgerät ragt.

Arbeits- und Reflexionsanregung Denken Sie an die Funktionsweise so genannter isometrischer Übungen – setzen Sie sich auf einen Sessel, schließen Sie Ihre Augen und stellen Sie sich vor, in einem Nebenraum sei eine Situation entstanden, die Ihr unmittelbares Eingreifen erfordert. Halten Sie Ihre Augen weiterhin geschlossen. Pressen Sie Ihre Handinnenflächen auf ihre Oberschenkel und bemühen Sie sich, mit synchron verteilter äußerster Kraft zugleich aufzustehen und sich am Aufstehen zu hindern – so, dass Ihnen keine Bewegung mehr gelingt. Verfassen Sie einen kurzen Text, in dem Sie Ihr subjektives Erlebnis einer isometrischen Nullsumme zu beschreiben versuchen, die durch die Wirkung von zwei gleich starken, jedoch entgegengerichteten Kräften entsteht – und berücksichtigen Sie dabei die Überlegung, woran ein unbekannter Augenzeuge, der Sie aus dem Fenster eines gegenüberliegenden Hauses beobachtet hatte, am äußersten Punkt Ihrer Anstrengung erkennen hätte können, dass Sie am Leben sind.

Vierte Annäherung: Das Gefühl zu leben als Erlebnis eines Bewegungsgefühls Was den drei vorangehenden Annäherungen gemeinsam ist, bezieht sich auf die Perspektive – auf den Standort der Beobachtung. Es handelt sich durchweg um die Präferenz eines Blickes von außen, der Bewegung registriert und Bewegung als Indiz für Leben deutet. Als Orte besonderer – und zugleich geheimnisvoller – Bedeutung kommen dabei all jene Grenzbereiche in Betracht, in denen Leben auf beabsichtigte oder auf schicksalhafte Weise zum Stillstand gekommen war und in denen zum Stillstand gebrachtes Leben noch die Spuren, die Relikte jener Bewegung trägt, die ihr abruptes Ende finden musste. Die Atmosphäre des ausgegrabenen Pompeji mag dies noch nachhaltiger illustrieren als das bereits erwähnte Kleintier in Acryl. 168

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Das Gefühl zu leben als Gefühl von Bewegung

Mit der vierten Annäherung richtet sich die Aufmerksamkeit nicht mehr auf Leben an sich als vielmehr auf dessen Spezifikation im Sinne eines Lebens des Menschen – und um diese Spezifikation effizient ins Spiel bringen zu können, wird die Perspektive explizit auf das Innere des Menschen gelenkt: auf seine Gefühle. Allerdings bedeutet dies den Einstieg in ein weiteres Problem: nicht nur nicht genau zu wissen, was Leben an sich ist, als zudem nicht zu wissen, was das Menschliche des menschlichen Lebens ist – und auch nicht zu wissen, wie das Menschliche des menschlichen Lebens im Kostüm menschlicher Lebensgefühle – über Analogie – mit dem Kostüm menschlicher Bewegungsgefühle in Korrelation zu denken ist. Aus heuristischer Perspektive jedoch scheint eine Annäherungsstrategie sowohl auf einer deskriptiven als auch auf einer normativen Ebene angebracht. Auf deskriptiver Ebene fällt es recht schwer, in differenzierter Weise von Lebensgefühlen zu sprechen. Es muss somit vorerst genügen, sich auf die sachliche und karge Feststellung eines Menschen zu beziehen, der plausibel zu behaupten weiß, dass er am Leben ist und sich nicht im Zustand des Todes befindet. Denn das Interesse gilt nunmehr – auch um den Preis eines spärlichen Informationsgewinns – der Innen- und nicht mehr der Außenansicht des Lebens und somit der Mitteilung und nicht mehr der Inszenierung eines Repräsentanten jenes Phänomens, das als Leben gilt. Aus zahlreichen Filmkomödien etwa sind Episoden bekannt, in denen – meist aufgrund komödiantischer Tölpelhaftigkeit – ein Unfall passiert, eine Lawine losgetreten wird, eine Bootsfahrt in einem Wasserfall endet und sich die Akteure nach überstandener Gefahr zu fragen haben, ob sie sich noch im Diesseits oder bereits im Jenseits wähnen sollten. Das Problem wird meist ganz einfach und ganz im Sinne vorliegender Abhandlung gelöst: Sie bewegen das rechte Bein, sie bewegen das linke Bein, sie heben und drehen den Kopf und stellen fest, dass sie am Leben sind – weil sie sich bewegen können. Auf normativer Ebene fällt es – im Unterschied zur deskriptiven Ebene – ungleich schwerer, nicht von Lebensgefühlen zu sprechen. Denn auf dieser Ebene handelt es sich um Bewertung von Lebensqualität, die auch die eigene Betroffenheit stimuliert. Es ist somit leicht, sich unzählige – und zwar detaillierte – Situationen auszumalen, in denen das Gefühl entsteht: »Das ist ein Leben!« – ein paradiesisches nämlich. Oder in denen im Gegenzug Resignation sich auszubreiten beginnt: »Das ist doch kein Leben!« – und dennoch: Die normative Frage, was 169

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Herbert Bickel

Leben – lebenswertes Leben – bedingt, ist mit gebührender Vorsicht zu stellen. Immerhin hat nicht nur eine nationalsozialistische Vergangenheit gezeigt, was die Frage nach lebenswertem Leben (und damit auch die stets implizit mitlaufende Frage nach lebensunwertem Leben) in dem Moment bewirkt, in dem politische, soziale, kulturelle, intellektuelle, ethische Standards einer Gesellschaft – und nicht zuletzt auch ihre aktuellen psychischen Prämissen – nicht mehr genügen, Respekt vor Abweichung zu wahren und sich angesichts fremder Biographie hinreichend abstinent zu zeigen. Ein von außen zu beobachtender Grad an Beeinträchtigung psychischer oder physischer Mobilität kann weder als Kriterium noch als Legitimation für die Beurteilung zureichender oder unzureichender Lebensqualität gelten. Was zählt, ist der subjektiv erlebte Wert der eigenen Existenz – auch wenn damit nicht bestritten wird, dass dieser Wert mit psychischen und physischen Bewegungsspielräumen korreliert. Ohne die Gültigkeit des letztgenannten Arguments schmälern zu wollen, ist jedoch aus Perspektive einer Psychoanalyse als Aufklärungsund somit auch als Befreiungspsychologie – ganz im Sinne eines »Wer sich nicht bewegt, der spürt auch seine Fesseln nicht« – darauf hinzuweisen, dass die eigene Einschätzung eigener psychischer und auch eigener physischer Mobilität – und damit auch eine eigene Einschätzung eigener Lebensqualität – dennoch einer komplementären kritischen Einschätzung von außen bedarf – einer komplementären jedoch, die sich am Wert möglichst möglicher Freiheit orientiert und dabei zudem sowohl eine körperliche als auch eine emotionale sowie eine intellektuelle Mobilität zu unterscheiden vermag. Ein Mensch, der den Vorwurf erhebt, er fühle sich an einem bestimmten Ort wie eingesperrt und könne keinen freien Schritt mehr tun, verweist auf einen Zusammenhang zwischen einem beeinträchtigten Lebensgefühl und der Einschränkung seiner körperlichen Bewegungsfreiheit. Ein Mensch, der behauptet, er würde in einer engen Beziehung ersticken, auch wenn es ihm durchaus erlaubt sei, zu kommen und zu gehen, wann immer er wolle, verweist auf einen Zusammenhang zwischen einem ebenso beeinträchtigten Lebensgefühl und der Vorstellung, emotionale Spielräume nicht in ausreichendem Maße nutzen zu können. Und er könnte seine Behauptung damit begründen, dass er sich verpflichtet fühlt, unablässig dankbar und höflich zu sein; dass er sich schuldig fühlt, wenn er seinen Freundeskreis frequentiert; dass er sich schämt, wenn er seine Klamotten herumliegen 170

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Das Gefühl zu leben als Gefühl von Bewegung

lässt. Ein Mensch, der erzählt, er werde sich nach langem Überlegen aus einer wissenschaftlichen Institution entfernen, weil er sich dort nicht entfalten könne, verweist auf einen Zusammenhang zwischen einem gleichfalls beeinträchtigten Lebensgefühl und einer Situation, die es ihm nicht erlaubt, seine intellektuelle Beweglichkeit zu nutzen – und seine unangenehme Stimmung könnte darauf beruhen, dass er seine intellektuellen Spielräume spürt; dass er keine Möglichkeit sieht, sich mit seiner wissenschaftlichen Kompetenz nach seinen Vorstellungen zu engagieren – und dass er glaubt, nicht mehr viel Lebenszeit zur Verfügung zu haben. In allen der genannten Fälle und bei allen der genannten Betroffenen könnte eine glückliche Wendung das Gefühl bewirken, wie neu geboren zu sein – d.h. ein Zuwachs an Spielräumen körperlicher, emotionaler und intellektueller Mobilität hätte einen Zuwachs an positivem Lebensgefühl zur Folge. Und ohne Zweifel würde ein Zuwachs an positivem Lebensgefühl wiederum einen Zuwachs an körperlicher, an emotionaler und an intellektueller Mobilität bewirken.

Arbeits- und Reflexionsanregung Erinnern Sie sich an eine Phase Ihrer Biographie, in der Sie das Gefühl hatten, in vollen Zügen gelebt zu haben. Konzentrieren Sie dieses Gefühl auf eine konkrete und exemplarische Episode. Markieren Sie in dieser Episode Indizien, die einem fiktiven Spötter beweisen könnten, dass Sie zu diesem Zeitpunkt Ihr Leben tatsächlich in vollen Zügen gelebt haben. Ordnen Sie diese Indizien nach Kriterien einer körperlichen, einer emotionalen und einer intellektuellen Mobilität. Verfassen Sie einen kurzen Text, in dem Sie einen Forderungskatalog zu erstellen versuchen, der als allgemeine Direktive all derer gelten könnte, die anderen vermitteln wollen, was das Leben braucht, um in vollen Zügen gelebt werden zu können.

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) vak 172.p 89879151418

Autorinnen und Autoren

Autorinnen und Autoren Bickel, Herbert, Dr. phil., lehrt an der Universität Innsbruck und an der Freien Universität Bozen Forschungssupervision und in freier Praxis Studiencoaching. Er ist Gründungs- und Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Psychoanalyse und des Sigmund Freud-Archiv Innsbruck und ordentliches Mitglied der Assoziation für die Freudsche Psychoanalyse. Briese, Irene, geb. 1948, unterrichtet Biologie an einer Realschule. Weitere Tätigkeitsgebiete sind die Mitarbeit im Regionalen Umweltbildungszentrum, in der Curriculum-Kommission Mobilität und der AG Mobilität. Curdt, Erwin, Dezernent i.R., war Leiter der von ihm initiierten und vom Kultusministerium einberufenen Curriculum-Kommission zur Entwicklung des Rahmenkonzepts für das fächerübergreifende Curriculum-Modell Mobilität (Curriculum-Kommission Mobilität), das an niedersächsischen Schulen 2002 eingeführt wurde. Er ist Mitglied der AG Mobilität. Lindenberg, Bodo, geb. 1939, lehrte an Grund-, Haupt- und Realschulen. Er war langjährig Lehrbeauftragter an der Universität Lüneburg. Seit 1998 arbeitet er an der Entwicklung des Curriculums Mobilität mit. 1998-2002 engagierte er sich in der Curriculum-Kommission Mobilität, seit 2002 ist er Mitglied der AG Mobilität. Lübbe, Hermann, geb. 1926, Prof. em., Dr. phil., Dr. theol. h.c., lehrt als Honorarprofessor Philosophie und Politische Theorie an der Universität Zürich, Seniorfellow an der Universität Essen, zahlreiche Mitgliedschaften und Ehrenmitgliedschaften in wissenschaftlichen Gesellschaften des In- und Auslands, beschäftigt sich u.a. mit Trends kultureller und politischer Evolution. Wichtige Veröffentlichungen: Im Zug der Zeit (1992), Modernisierung und Folgelasten (1997), Modernisierungsgewinner (2004).

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2005-07-20 18-03-26 --- Projekt: T357.päd.wiesmüller_scher / Dokument: FAX ID 00b089879148962|(S. 173-175) T99_01 autoren.p 89879151474

DENK(T)RÄUME Mobilität

Murmann, Lydia, geb. 1969, Dr. rer. nat., ist Juniorprofessorin für Sachunterrichtsdidaktik an der Universität Hamburg. Ihr Arbeitsschwerpunkt sind Lernerperspektiven im Rahmen naturwissenschaftlicher Grundbildung. Pazzini, Karl-Josef, geb. 1950, Prof. Dr. phil., lehrt Bildungstheorie und Bildende Kunst an der Universität Hamburg und ist Psychoanalytiker in eigener Praxis. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Psychoanalyse, Ästhetischer Bildung, Bildender Kunst, Medien und Museum. Gerade erschienen im transcript Verlag zus. mit Marianne Schuller und Michael Wimmer »Wahn, Wissen, Institution« sowie zus. mit Susanne Gottlob »Einführungen in die Psychoanalyse I«. Plattig, Michael, geb. 1960, Karmelit, Prof. Dr. theol., Dr. phil, lehrt Theologie der Spiritualität an der Phil.-Theol. Hochschule Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind die mystische Tradition des Christentums, Geistliche Begleitung und die Unterscheidung der Geister. Roselieb, Horst, geb. 1953, Ministerialrat, unterrichtete seit 1977 in verschiedenen Schulformen und hatte Funktionen in Schulleitung und -aufsicht. Seit 1989 ist er mit wechselnden Aufgabenschwerpunkten im Niedersächsischen Kultusministerium tätig. Derzeit ist er stellvertretender Leiter des Referates 23. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen die Bereiche Schulpsychologie, Prävention sowie die Entwicklung und Implementation des Lernbereichs Mobilität. Sting, Wolfgang, Prof. Dr. phil., lehrt Theaterpädagogik und Darstellendes Spiel am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte sind Theaterpädagogik, Kinderund Jugendtheater, Theater in der Schule, Kulturelle Bildung. Ulbrich, Klaus Peter, geb. 1945, Dr. rer. nat., ist Oberstudienrat und lehrt am Abendgymnasium und an der TU Braunschweig, Abt. Biologiedidaktik. Er ist Leiter des Regionalen Umweltbildungszentrums Braunschweig und arbeitet am BLK-Programm »Bildung für eine nachhaltige Entwicklung« mit. Er ist Mitglied der AG Mobilität.

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2005-07-20 18-03-26 --- Projekt: T357.päd.wiesmüller_scher / Dokument: FAX ID 00b089879148962|(S. 173-175) T99_01 autoren.p 89879151474

Autorinnen und Autoren

Wiesmüller, Christian, geb. 1957, Dr. phil., lehrt seit 2000 am Institut für Technikdidaktik an der PH Karlsruhe. Er beschäftigt sich mit der Umsetzung technischer Inhalte im Rahmen der Allgemeinbildung, mit außerschulischen Lernorten und berät die Autostadt in Fragen der Mobilitätsbildung. Er ist Mitglied der AG Mobilität.

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2005-07-20 18-03-26 --- Projekt: T357.päd.wiesmüller_scher / Dokument: FAX ID 00b089879148962|(S. 173-175) T99_01 autoren.p 89879151474