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German Pages 228 Year 2014
Melanie Haller Abstimmung in Bewegung
TanzScripte hrsg. von Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein | Band 31
Melanie Haller (Dr. phil.) lehrt am Fachbereich Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Subjekttheorien, populäre Tanzkulturen, Praxistheorie und qualitative Methoden.
Melanie Haller
Abstimmung in Bewegung Intersubjektivität im Tango Argentino
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Reihenfotografie von Melanie Haller aus Film-Stills des DFG-Projekt »Trans/nationale Identität und körperlich-sinnliche Erfahrung. Lateinamerikanische Tanzkulturen im europäischen Kontext. Das Beispiel Tango und Salsa« Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2523-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einleitung – Tango Argentino zwischen Empirie und Theorie Ein Schritt vor: Empirische Herausforderungen einer transkulturellen Praktik | 9 Ein Schritt zurück: Perspektiven auf den Tango – Tangoforschung | 18 Ein Schritt zur Seite: Theoretische Positionierung und Diskursverortung | 24 Ein Schritt zur Seite: Methodische und methodologische Herausforderungen | 30 Reflexion: Vorannahmen und Wissensbestände | 35 Selektion: Rohmaterial, Datenkorpus und Transkription | 38 Analyse: Videoanalyse und Videographie | 42
I. Was ist Tango? Kommunikation, Handlung oder Praktik? 1. Empirische Herausforderungen: „Haltung einnehmen“ | 47
1.1 Deskriptive Annäherungen: die Tanzhaltung | 48 1.2 Diskursive Annäherungen – Bewegungsdiskurse: Tango de Salon | 51 1.3 Analytische Annäherungen an das Einnehmen der Haltung | 54 2. Tango aus der Perspektive von Soziologie und Tanzwissenschaft | 59
2.1 Paradigma der Tanzwissenschaft: Tanz als Kommunikation | 61 2.2 Die soziologische Perspektive: Tanz als Handlung | 69 2.3 Paradigmenwechsel: Tango als Praktik | 75 3. Synergien: Tango als korrelierende Praktiken | 79
II. Wer tanzt? Tango und seine Körper-Subjekte 1. Empirische Herausforderungen: „Schritt für Schritt“ | 88
1.1 Deskriptive Annäherungen: der Grundschritt | 88 1.2 Diskursive Annäherungen: „der Mann führt, die Frau folgt“ | 92 1.3 Analytische Annäherungen an Schritte im Tango | 97
2. Subjekte, Körper und Technologien des Selbst | 106
2.1 Soziologische Subjekte: Prozessualität | 107 2.2 Relationen – körperlose Subjekte und subjektlose Körper? | 113 2.3 Bewegte Subjektivierungen: Technologien des Körpers | 116 3. Die Soziogenese von Körper-Subjekten | 123
3.1 Bewegungswissen: der Körper als Agens | 123 3.2 Körper-Subjekte zwischen Praxisfähigkeit und Unterwerfung | 131 4. Synergien: Körper-Subjekte und die Stilisierung von Körpern in Bewegung | 135
III. Was ist Abstimmung? Die Soziogenese von Inter-Subjektivitäten 1. Empirische Herausforderungen: „So nah und doch so fern“ | 143
1.1 Deskriptive Annäherungen: Gruppendynamik | 143 1.2 Diskursive Annäherungen: Nähe und Distanz | 145 1.3 Analytische Annäherungen an die Gruppendynamik | 154 2. Intersubjektivität: zwischen Konstitution und Fremdverstehen | 158
2.1 Das Problem der Intersubjektivität | 159 2.2 Intersubjektivität bei Alfred Schütz | 166 2.3 Interkorporalität im Tango – eine phänomenologische Lösung? | 170 3. Praktische Intersubjektivität und Interventionen | 173
3.1 Praktische Intersubjektivität – George Herbert Mead und Hans Joas | 174 3.2 Sprachwissenschaftliche und philosophische Interventionen | 182 4. Synergien: die praktische und bewegte Soziogenese von Intersubjektivitäten | 186
IV. Bewegte Intersubjektivitäten: korrelierende Praktiken und Körper-Subjekte Ausblick | 197 Literatur | 201 Internetreferenzen | 219 Abbildungen | 221 Glossar | 223
Vorwort und Dank
Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner 2012 im Fachbereich Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg eingereichten Dissertation. Eine solche Arbeit ist nur mit der Unterstützung und Zuversicht vieler Menschen zu bewältigen. An erster Stelle danke ich meiner Erstgutachterin Prof. Dr. Gabriele Klein, deren Motivation und konstruktive Kritik die Fertigstellung dieser Arbeit möglich gemacht hat. Meiner Zweitgutachterin Prof. Dr. Paula-Irene Villa danke ich für viele anregende Diskussionen. Als besonders konstruktiver und anregender Ort hat sich in all den Jahren das Qualifikationskolloquim von Prof. Dr. Gabriele Klein erwiesen. Hierbei sei vor allem Gitta Barthel, Malte Friedrich, Friederike Lampert, Heike Lüken, Imke Schmincke und Mica Wirtz für den regen Austausch gedankt. Und dann sind da noch die Menschen, denen ich neben langjährigem Zuspruch und nimmermüden Korrekturlesen so viel verdanke: Miriam Barnat, Rosa Haller, Esther Hestermann, Alexandra Klauß, Annette Weise und vor allem Ralf Arnold Walter.
Einleitung – Tango Argentino zwischen Empirie und Theorie
E IN S CHRITT VOR 1: E MPIRISCHE H ERAUSFORDERUNGEN EINER TRANSKULTURELLEN P RAKTIK Die bewegte Ordnung Tango Argentino Im Jahr 2009 wurde Tango Argentino 2 von der UNESCO auf die Repräsentative Liste als immaterielles Kulturerbe der Menschheit aufgenommen. Tango ist in den Beschreibungen der UNESCO ein immaterielles Kulturerbe, weil er keine stofflich-räumliche Beschaffenheit hat, keine „material manifestations, such as monuments and objects that have been preserved over time.“ 3 1
Im Grundschritt des Tango Argentino setzt der/die Folgende den ersten Schritt vor, während der/die Führende den ersten Schritt rückwärts setzt – danach folgt für beide der zweite Schritt zur Seite. Dieser Anfang der Bewegung im Tango soll hier als metaphorischer Einstieg für die Einleitung gesetzt werden, in welcher gedanklich und metaphorisch gesprochen Schritte vor, zurück und zur Seite gemacht werden.
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Die begriffliche Trennung vom Tango Argentino zum Tango liegt in seiner Differenz zum europäischen Standardtanz, der keine ausschließlich national territoriale Zuweisung hat. Der Standardtanz Tango ist in seinem Bewegungsmuster grundlegend verschieden vom Tango Argentino. In dieser Arbeit wird es ausschließlich um Tango Argentino gehen, auch wenn stellenweise aufgrund der Lesbarkeit nur der Begriff Tango verwendet wird.
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http://www.unesco.org/culture/ich/index.php?RL=00258 From this point of view the „functions and values of cultural expressions and practices“ like Tango are a „living heritage, known as intangible, provides each bearer of such expressions a sense of identity and continuity, insofar as he or she takes ownership of them and constantly recreates them“ (ebd.).
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Dies ist insofern unzureichend formuliert, da sich Tango Argentino – neben Musik, Dichtung und Literatur (vgl. Kap. 1.1) – vor allem auch in seiner körperlichen Materialisierung als Tanz zeigt und erst mit bewegten Körpern in Erscheinung tritt. Diese hier zunächst noch unbestimmte Materialität von Tango steht im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit. Die Materialität von Tango zeigt sich in seinen strukturellen Merkmalen als Paartanz, getanzt von Körpern. Tango ist ein Paartanz, den ein komplexer Bewegungscode auszeichnet, und vor allem die historisch gewachsene Bewegungskultur, die seit Anfang der 1980er Jahren global seine Renaissance feiert. Er thematisiert als Paartanz die Bewegungen zweier Tanzenden, die sich zur Erzeugung des gemeinsam produzierten Bewegungscodes aufeinander abstimmen müssen. Um sich der besonderen – weil kontingenten – Bewegungsordnung von Tango anzunähern, ist es notwendig diese Bewegungskultur und -praxis in ihrer Besonderheit zu beschreiben. 4 Dabei wird hier der Kontingenzbegriff des Systemtheoretikers Niklas Luhmann in eine Bewegungssoziologie überführt: „Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist“ (Luhmann 1987: 152). Diese kontingente Bewegungsordnung ist nur in ihrem historischen Kontext nachvollziehbar. Allerdings stellt der historische Kontext bei der Betrachtung von Tango Argentino eine Herausforderung für die wissenschaftliche Betrachtung dar: Tango Argentino, dessen Namen eine territoriale Herkunft verspricht, war und ist historisch immer schon ein kultureller Hybrid. Seine Entstehungsgeschichte ist ein stetiges Hin und Her zwischen Menschen und Kontinenten – und allein schon deshalb ist er auch von Anbeginn ein globalisierter Tanz. Die Entstehungsgeschichte von Tango Argentino ist in der Literatur umstritten – wie Marta Savigliano schreibt: „I have been struck by the very existence and magnitude of the controversy over the origins of tango. No other aspect of tango has received nearly so much local attention.“ (Savigliano 1995a: 159)
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Es ist als methodischer Vorteil anzusehen, dass die Autorin von 2004 bis 2007 in dem ersten von der DFG geförderten Projekt „Trans/nationale Identität und körperlichsinnliche Erfahrung. Lateinamerikanische Tanzkulturen im europäischen Kontext. Das Beispiel Tango und Salsa“ unter der Leitung von Prof. Dr. Gabriele Klein als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig war. Im Rahmen dieses empirisch ausgerichteten Projektes wurden verschiedene umfassende Methoden zur Untersuchung der beiden Tanzkulturen eingesetzt: Ethnographien, Experteninterviews, Bild- und Videoanalysen, Konsumentenerhebung. Vgl. dazu ausführlich Abschnitt 4.1 der Einleitung.
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So wurde Tango Argentino etwa auch für Nationalisierungsbestrebungen Argentiniens eingesetzt und instrumentalisiert (Barrioneuvo Anzaldi 2011). Heute dient Tango vor allem als nationales Kulturgut für den touristischen Konsum in Argentinien und auch als argentinischer Exportschlager in andere Länder. Dort zeigt er sich auch als mögliche Einnahmequelle von Migranten, die aus Argentinien oder anderen hispanischen Ländern emigriert sind und deren berufliche Situation in den Einwanderungsländern schwierig ist. Ein Bezug zum Ursprungsmythos Argentinien zeigt sich auch in der globalen Verwendung spanischer Begriffe innerhalb der Tangokultur, wie etwa Milonga 5 als Bezeichnung der abendlichen Tanzveranstaltung oder El Abrazo für die Tanzhaltung. Der Bezug auf die spanische Sprache und die tangointernen Begrifflichkeiten vermittelt dabei vermeintliche Authentizität und vor allem ein diskursives Wissen um den Tango. Bereits zu seinen Anfängen, die in der Literatur vor allem in ihrer territorialen Verortung umstritten sind, durchzog den Tango ein Wechselspiel verschiedener nationaler Herkünfte: entstanden am Rio de la Plata – in den Barrios von Buenos Aires und Montevideo, durch Immigranten verschiedener Ausgangsnationen – gelang er erst über seinen Export nach Europa – und der dortigen Anerkennung 6 der Oberschicht als exotischer Tanz – auch in der argentinischen Mittel- und Oberschicht zu Ruhm. Durch diesen Transfer wurde er zum Nationaltanz Argentiniens (Barrionuevo Anzaldi 2011, 2009), unter Ausblendung seiner uruguayischen Geschichte (Savigliano 1995a). Die unterschiedlichen Dimensionen von der Mythologisierung seines Ursprungs, bis hin zur Diskussion der weltweiten Genese von Tango sind in der Tangoforschung bislang am stärksten ausgearbeitet. All diese historisch ausgerichteten Arbeiten nehmen den größten Strang der Tangoforschung ein, welche sich in Arbeiten zu Musik, Lyrik, Literatur und Tanz ausdifferenzieren. 7 Der Materialität des Tango in seiner Bewegungsordnung in Relation zu den gut aufgearbeiteten Diskursen wird hingegen in der Tangoforschung bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt. 8
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Alle spanischsprachigen Spezialbegriffe, Tangostile oder Tanzelemente der TangoKultur finden sich mit weiteren Erläuterungen am Ende dieser Arbeit im Glossar.
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Wie Savigliano schreibt: „Although tango originated in the Rió de la Plata region (ca. 1880), it was only after it achieved success in the main capitals of the world (ca. 19111913 and again after world war I) that it gained full popularity in its original setting.“ (Savigliano 1995a: 137)
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Siehe den folgenden Abschnitt zum Forschungsstand.
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Als Ausnahme muss hier allerdings auf die Arbeit von Monika Elsner (2000) verwiesen werden, in welcher sie dezidiert diese Ebene anhand von verschiedenen Merkmalen des Tango aufzeigt (vgl. den anschließenden Abschnitt des Forschungsstandes).
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Im vorliegenden Text wird diese Materialität des Tango genauer unter die Lupe genommen, indem zunächst aus einem mikrosoziologischen Blickwinkel die Bewegungsordnung von Tango Argentino beschrieben und in einem makrosoziologischen Kontext gestellt und diskutiert wird. Tango wird in seinen strukturellen Merkmalen als Tanz beschrieben, der verbunden ist mit dem Regelwerk und den normativen Codes der Tanzkultur. Auf diese Weise wird hier eine Verbindung zwischen Praktiken und Diskursen aufgezeigt (Kap. II). Die Herausforderung der Erforschung von Tango Argentino – oder überhaupt von Tanz – liegt in der Notwendigkeit, Begriffe und theoretische Modelle zu finden, die es gestatten, die Dynamik von Bewegungen und Bewegungsordnungen zu fassen: „Tanzwissenschaft ist aus dieser Perspektive Wissenschaftskritik insofern, als sie sich gegen ein Wissen wendet, das bewegliche Vorgänge über statische Konzepte zu fassen versucht.“ (Klein 2007a: 33). Die gegenwärtigen Bewegungskulturen halten viele empirische Herausforderungen für die soziologische Forschungstätigkeit bereit, die sowohl in theoretischer, als auch in methodischer Hinsicht eine Bereicherung darstellen. Bewegungskulturen sind nicht zufällig in der Körpersoziologie häufig untersuchte Phänomene (vgl. etwa Schindler 2009; Gebauer u.a. 2004; Alkemeyer u.a. 2009; Gugutzer 2006a), sondern werden dabei immer auch als eine Infragestellung und Bereicherung der soziologischen Theoriearbeit verstanden. Bewegungswissenschaftlich betrachtet sind Bewegungsordnungen letztendlich immer kontingent und damit strukturell nicht einfach auf den Begriff zu bringen. Aus einer soziologischen – und hier vor allem bewegungssoziologischen Perspektive – wirft dies allerdings die Frage auf, wie Ordnung im Tanz dann überhaupt entstehen kann. Zur Beantwortung dieser Frage stehen der Soziologie verschiedene theoretische Konzepte zur Verfügung, die häufig im Dualismus von Struktur und Handlung, Subjektivismus und Objektivismus verharren. Diese Arbeit möchte hingegen verschiedene theoretische Konzepte der Soziologie (Kommunikation, Handlung/Interaktion, Praktiken) gegeneinander abwägen um zu klären, wie eine kontingente Bewegungsordnung möglich ist. Die Perspektive der Tanzwissenschaft stellt in dieser Hinsicht eine Bereicherung für die meist starre Begriffsbildung der Soziologie dar. Damit ist gleichzeitig gesagt, dass Tanz keine präsoziale Praxis des Körpers ist, sondern vielmehr gebunden ist an soziale und kulturelle Dimensionen des Körpers: „In dancing [...] individual embodied subjects/subjectivities enact and comment on a variety of taken-for-granted social and cultural bodily relationalities: gender and sexuality, identity and difference, individuality and community, mind and body and so on.“ (Thomas 2003: 215)
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Aus diesem Grund wird der Beschreibung des in jedem Kapitel einleitenden empirischen Abschnitts zugleich eine diskursive Annäherung zur Seite gestellt, als erste Analyse von feldinternen Regeln und Normen der Tangokultur im Bezug zu theoretischen Denkmodellen. Die Tanzwissenschaftlerin und Soziologin Monika Elsner hat die Bewegungsordnung von Tango sehr elaboriert in ihrem Buch Das vierbeinige Tier. Bewegungsdialog und Diskurs des Tango Argentino analysiert (Elsner 2000). Die Bewegungsordnung von Tango lässt sich demnach anhand von drei Bewegungsprinzipien – Tanzhaltung, Grundschritt, Gruppendynamik – beschreiben, die wiederum auf drei verschiedenen Betrachtungsebenen – Tanzpaar, Führende/Folgende Rolle, Gruppe – liegen: 1. Das Bewegungsprinzip der geschlossenen Tanzhaltung thematisiert auf einer
ersten Betrachtungsebene das Tanzpaar. 2. Das Bewegungsprinzip des Grundschrittes bezieht sich auf die Bewegungen
des Einzelnen in der jeweiligen Tanzposition (führend oder folgend). 3. Das Bewegungsprinzip der Gruppendynamik betrachtet das Verhältnis der
Tanzpaare zueinander auf der Tanzfläche. Die grundsätzlich kontingente Struktur des Tango wird in den drei Kapiteln (IIII) dieser Arbeit aufgezeigt, welche als Bewegungskultur eine besondere Herausforderung für empirisch/theoretische Fragestellungen darstellt. In Kapitel IV. werden die Ergebnisse dieser Kapitel zu einem eigenständigen theoretischen Entwurf zusammengefasst. Die im Folgenden untersuchten Bewegungsprinzipien (Haltung, Grundschritt, Gruppendynamik) und Betrachtungsebenen (Tanzpaar, einzelne Tänzer, Gruppe) werden im Verlauf der Arbeit so aufgenommen, dass anhand der Reihung der empirischen Beispiele in den einzelnen Kapiteln metaphorisch ein Tanz entsteht: Den Beginn macht das rituelle Einnehmen der Tanzhaltung des Tanzpaares, gefolgt vom komplexen Vollzug der Schritte der TänzerInnen und abgeschlossen wird Tango durch das Einnehmen von Abständen und das Auflösen der Tanzhaltungen in der Gruppe. Die drei vorgestellten Bewegungsprinzipien und deren strukturelle Merkmale zeigen den Variationsreichtum von Tango Argentino. Stets setzen sich einzelne Bewegungen innerhalb komplexer Bewegungsprinzipien variabel zusammen, was den Tango in seinen Bewegungsprinzipien von anderen Paartänzen, vor allem europäischen Standardtänzen, stark unterscheidet: „Distinctive choreographic elements of the tango have been similarly identified based on comparision with other dances: (1) enlace agarrado (clinching grip), the tight flexible em-
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brace, (2) quebrada (cleave), the movement of the hips, (3) corte (coupe), a halt or interruption of the dancing trajectory, and (4) figura (figure), a relativeley stable combination of movements led by the legs, recognizable by a name (eight, double-eight, short race, half-moon, hook etc.).“ (Savigliano 1995a: 161)
Die Tanzwissenschaftlerin und Soziologin Monika Elsner spricht in diesem Zusammenhang von der „coreografia del tango“ (Elsner 2000: 53), die sie als „ein System der wichtigsten Bewegungsprinzipien“ (ebd.) versteht und nicht als eine festgeschriebene Choreographie 9: „Wenn also dort von der Choreographie des argentinischen Tango die Rede ist, geht es nicht um eine einmal festgelegte Kreation in Bezug auf einen identisch wiederholbaren Bühnentango; sondern um Basiselemente eines populären und kreativen Tanzes, der immer wieder zur Musik neu entsteht.“ (Ebd.: 32)
In den folgenden vier großen Kapiteln der Arbeit wird die Entstehung dieser bewegten Ordnung am Beispiel von Tango Argentino skizziert, indem deren Merkmale, Regeln und Diskurse beschrieben werden. Denn aus der Tatsache, dass Tango als bewegter Paartanz in seinen strukturellen Merkmalen kontingent ist, ergibt sich die Fragestellung dieser Arbeit, wie in Bewegungen von Tanzenden Abstimmungsprozesse vollzogen werden. In diesen Abstimungsprozessen wird eine Bewegungsordnung produziert, die als Tango Argentino erkennbar ist und auf der Ebene von Bewegungen analytisch fassbar ist. Der Variationsreichtum, die improvisierte Struktur und die Kontingenz der Bewegungsprinzipien im Tango machen es unumgänglich, dass die Tanzenden sich in ihren Bewegungen aufeinander abstimmen. Dieses empirische Phänomen, welches in der Formulierung einer korporalen Abstimmung im Paartanz weit gefasst wird, steht im Mittelpunkt der Arbeit. Als Forschungsfrage formuliert: Wie lassen sich Abstimmungen 10 in Bewegungen im Tango Argentino erklären? 9
Die Vorstellung der Choreographie als festgeschrieben ist vor allem eine Vorstellung des Alltagswissens. In der Tanzforschung wird der Begriff der Choreographie weitaus vielschichtiger betrachtet. Zunächst ist die ältere Bedeutung von Choreografie allerdings die einer nachträglichen, schriftlichen Aufzeichnung eines Tanzes: der Tanzschrift (vgl. Lampert 2007).
10 Der Begriff der Abstimmung bürgt in sich die Problematik vor allem im Bezug zu Abstimmungen im Sinne einer Wahl verstanden zu werden, als Stimmabgabe. Gleichzeitig findet sich im Duden die weitere Wortbedeutung als ‚sich auf etwas abzustimmen‘, im Sinne eines In-Einklang-bringens. Auf diese Weise lässt sich der Begriff
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Es ist die Frage danach, als was Abstimmungsprozesse in Bewegungen im Tango beschreibbar sind (Kap. I), wer also Tango tanzt (Kap. II) und wie Abstimmungen in Bewegungen des Tango möglich werden (Kap. III). Die Tatsache von Abstimmungen im Tango erklärt dabei aber nicht nur die kontingente Bewegungsstruktur des Tanzes, sondern bietet vor allem ein alternatives Subjektkonzept jenseits von Descartschen Subjekten. Die Frage nach Abstimmungen in Bewegungen ist in der vorliegenden Arbeit mit der These verbunden, dass in diesen bewegten Prozessen neue Subjektivitäten als Intersubjektivitäten möglich werden (Kap. III). Diese bewegten Intersubjektivitäten zeigen sich in den körperlichen Prozessen der Bewegungen als ein Miteinander, als ZwischenSubjektivitäten welche erst mit und über die gemeinsam vollzogenen Bewegungen entstehen (Kap. IV). Aus dieser Perspektive der Fragestellung und der daran anschließenden These lassen sich Abstimmungsprozesse im Tango in den folgenden Kapiteln auf verschiedenen Ebenen thematisieren, welche als empirische Herausforderung jedes Kapitel dieser Arbeit einleiten sollen. Das erste Kapitel (I) wird mit dem Einnehmen der Tanzhaltung eingeleitet. Daraus lässt sich die phänomenologisch grundsätzliche Frage ableiten, mit welchem Phänomen wir es hier eigentlich zu tun haben: Was ist Tango? Die soziologische Theorie bietet hierfür verschiedene Konzepte an: von Handlung, Interaktion und Kommunikation und bis hin zu Praktiken. Es wird vorgestellt warum sich ein Konzept von Praktiken als tragfähiges Konzept zur Analyse von Tanz eignet und inwieweit es im Bezug zum Tanz transformiert werden muss. Gleichzeitig ist damit die Frage verbunden welche Art von Praxis 11 der Tango ist?
auch metaphorisch als Sinnbild dafür verstehen, eine körperlich, materielle Stimme zu haben. Ich verwende den Begriff der Abstimmung in Bewegungen auf diese metaphorische Art: Bewegungen als körperliche Stimmen, die sich in körperlich bewegten Prozessen aufeinander abstimmen müssen um das miteinander tanzen in Einklang zu bringen. Ich danke in diesem Zusammenhang Heike Lüken für Ihre konstruktive Kritik. 11 Im Laufe der Arbeit werden sowohl die Begriffe Praxis, als auch Praktik verwendet. Praxis ist dabei der Oberbegriff, welche sich aus einer praxistheoretischen Perspektive ableitet, welche „Kultur als Praxis“ (Hörning/Reuter 2004: 10f.) versteht, als konkreten Rahmen in welchem praktiziert wird. In dieser Kultur in der Praxis zeigt sich ein „Praktizieren von Kultur“ (ebd.: 11) an den konkreten Praktiken, den Techniken und Stilen (vgl. Kap. II, 3.2), welche im Mittelpunkt der folgenden empirischen Analysen stehen. Und mit diesen Praktiken wiederum lässt sich eine Praxis des Tangotanzens beschreiben.
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Zunächst erscheint es naheliegend, dass der Perspektive dieser Arbeit ein Konzept von Tango als ästhetischer Bewegung, bzw. ästhetische Erfahrung 12 zu Grunde liegt. Tanz als Thematik der Ästhetik betrifft vor allem den Großteil der tanzwissenschaftlichen Auseinandersetzungen um Tanz, da diese vorwiegend Bühnentanz unter Aspekten von Kunst und Ästhetik thematisieren (vgl. Thomas 2003: 79) 13. Mithin schließt eine solche Perspektive vor allem auch ein, die subjektiven Wahrnehmungen der Tanzenden zu analysieren (etwa in Interviewanalysen). Die Arbeit hat aber explizit nicht die egologischen und empirischen Selbstauskünfte von Tänzern und Tänzerinnen als Grundlage. Vielmehr richtet sich der Fokus auf das, was in dieser Arbeit die strukturellen Merkmale 14 von Tango Argentino genannt werden sollen. In der Perspektive auf den strukturellen Merkmalen von Tango liegt der Fokus auf der „Herstellung von Praxis in der und durch die Bewegung“ (Klein 2004a: 138) und weniger auf der Perspektive der Wahrnehmungen der Tanzenden. Aus diesem Grund spielt Tango als ästhetische Erfahrung in dieser Arbeit keine primäre Rolle. Im zweiten Kapitel (II) wird die Frage des Agenten der Situation aufgeworfen: Wer tanzt den Tango? Tanzen Subjekte, Akteure, Individuen oder Körper Tango? Die Frage nach Abstimmungsprozessen in Bewegungen rückt die Subjekte der Handlungen bzw. der Bewegungen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Zur Erklärung des Entstehens von Abstimmungsprozessen in Bewegungen wird auch hier eine bewegungswissenschaftliche Beschreibung herangezogen. 15 Soziologisch formuliert geht es darum, wie im Tanz eine Ordnung über Bewegungen hergestellt wird und damit Ordnung intersubjektiv vermittelt und verstehbar wird (Haller 2009a). Im Anschluss an Friederike Lamperts (2007) Entwurf „geregelter Improvisation“ (Lampert 2007: 122) lässt sich Tango als ein strukturiert improvisierter Tanz beschreiben. Aber wie stimmen Tangotanzende ihre Bewegun12 Weniger dabei im Sinne von Ästhetik als Lehre des Schönen und der Kunst, als vielmehr als Lehre der Aesthesis – der sinnlichen Wahrnehmung. 13 „While dance scholarship has tended to privilege the study of theatrical dance (high art) over social and and popular dance, anthropological studies which include dance have been in evidence for over a century.“ (Thomas 2003: 79) 14 Die Anthropologin Adrienne Keppler inkludiert Tanz aus einer anti-ethnozentrischen Perspektive, in das was sie radikal als „structured movement systems“ (Kaeppler 1985: 92f.) bezeichnet. Kaeppler will auf diese Weise, die ihrer Ansicht nach eurozentristisch gesetzten Grenzen zwischen Tanz und Bewegungsformen aufweichen. 15 Siehe auch im Folgenden die Kritik an phänomenologischen Arbeiten in der Tangoforschung.
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gen in dieser improvisierten Struktur aufeinander ab und bilden so eine immer wiederkehrende bewegliche Ordnung, die in ihren Merkmalen als Tango Argentino erkennbar und doch gleichzeitig beweglich bleibt? Diese Frage ergibt sich aus der soziologischen Denkrichtung dieser Arbeit, unter deren Perspektive deutlich werden wird, dass in der Zurechnung des Agens eine weitere Dimension des Tanzes erfasst werden kann. Gleichzeitig wird damit die Frage aufgeworfen, welche Rolle der Tango und die sich bewegenden Körper für Subjektivierungsprozesse spielen. Ein Verhältnis des Subjekts zum Körper in Bewegung ist in der Soziologie bisher wenig untersucht (II. 2.1/2.2), wenn sich auch theoretische Anschlüsse bei Michel Foucaults Hermeneutik des Subjekts finden lassen (II. 2.3). Erste theoretisch und empirisch ausgerichtete Studien zu diesem Themenkomplex wurden von Gabriele Klein in ihren drei großen Studien zur TechnoSzene, zum Hip-Hop und zur Tango- und Salsa-Kultur vorgelegt (Klein 2009b, 2009c, 2004a; Klein/Friedrich 2003; Klein/Haller 2009: 2008b; 2006a, 2006b). Weitere Anschlüsse im Bezug zur Frage des Körpers als Agens lassen sich in aktuellen körpersoziologischen Arbeiten finden, welche an Pierre Bourdieu anschließen (3.1). Diese werden hier um Michel Foucaults Hermeneutik des Subjekts und vor allem Judith Butlers Perspektive einer Subjektivation ergänzt (3.2). Das vorletzte III. Kapitel erläutert, wie mit den bis dato gesetzten Termini (Praktiken, Körper-Subjekte) Abstimmungsprozesse im Tango erklärt werden können, indem Intersubjektivitätstheorien als theoretische Modelle veranschlagt werden können. Wie ist Abstimmung im Tango möglich, wenn Tango als eine Praktik und Subjektivierungskultur verstanden wird? Dabei stehen phänomenologische Kontexte zur Diskussion, die in ihrer Konzentration auf die Tanzenden und deren Wahrnehmung nur einen Teil von Tango erfassen. Die korporale und kontingente Bewegungsbildung im Tango erfordert hingegen ein Subjektkonzept, welches von mehr als einem Wechselverhältnis zwischen Tanzenden ausgeht. 16 Um sich einer dichotomen Denkweise im Paartanz entgegenzustellen werden aus diesem Grund Theorien von Intersubjektivität hinzugezogen, die die Komplexität der Bewegungsordnungen und der Seinsweise im Tango erfassen können. Doch welcher Art ist diese Inter-Subjektivität? Hierzu werden zunächst soziologische Konzepte von Intersubjektivität vorgestellt, einer genaueren Überprüfung unterzogen und als Erklärungsmodell für den Tanz diskutiert. Es wird differenziert zwischen einer Diskussion des Problems der Intersubjektivität, der scheinbaren Alternative eines phänomenologischen Konzepts von Interkorporali16 Eine Konzeption von Wechselverhältnissen im Paartanz verbleibt auf der Ebene die einzelnen Tänzer als zwei getrennte Entitäten wahrzunehmen und nicht deren Verwobenheit in den Praktiken selbst.
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tät und soziologischen Klassikern und deren Entwürfen und Diskussion um Intersubjektivität. Abstimmungsprozesse mit einem ausdifferenzierten Konzept von Intersubjektivitäten zu erklären, ermöglicht es eine Verbindung herzustellen zwischen Subjektivität und Kollektivität als ein ‚Miteinander‘, ohne in einen Subjektivismus oder Objektivismus zu verfallen. Es ist das Ziel dieser Arbeit den Tango über Bewegungsanalysen aus einer Außensicht nach innen zu analysieren – ohne die körperlichen oder leiblichen Wahrnehmungen der Tanzenden zu berücksichtigen – also vielmehr eine Phänomenologie der Bewegungen des Tango zu entwerfen. Gleichzeitig schließt diese Arbeit aber nicht an phänomenologische Arbeiten an, die ihren Fokus auf die Wahrnehmung der Tanzenden legen, sondern möchte vielmehr eine Verbindung zwischen Praktiken und Diskursen aufzeigen. 17 Im Anschluss sollen im letzten Kapitel (IV) die hier entworfenen Fäden zusammengeführt werden, um ein theoretisches Modell zur Analyse der strukturellen Merkmale des Tango vorzuschlagen, mit welchem Abstimmungsprozesse im Tango erklärbar werden als bewegte Intersubjektivitäten.
E IN S CHRITT ZURÜCK : P ERSPEKTIVEN T ANGOFORSCHUNG
AUF DEN
T ANGO –
Die Tangoforschung hat sich – ganz im Sinne der Autonomie eines Feldes und dessen Etablierung und Institutionalisierung nach Pierre Bourdieu (Bourdieu 2001: 459) – vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten (1990-2011) parallel zur globalen Etablierung des Tangokultur entwickelt und nimmt stetig zu. Einen nicht unerheblichen Teil der in der Literatur zu findenden Auseinandersetzung mit Tango, nehmen zunächst populärwissenschaftliche Veröffentlichungen ein. Die AutorenInnen dieser Bücher – TänzerInnen, ChoreographenInnen, TanzlehrerInnen und auf jeden Fall durchweg Tangobegeisterte – arbeiten stetig an der Produktion des Mythos und der Diskursproduktion um den Tango Argentino mit, was sich etwa an den Titeln der Publikationen abzeichnet: Tango: Obsession Passion (Rappmann/Walter 1997); Tango: Nostalgie und Abschied (Allebrand 1998); Tango: Leidenschaft in Buenos Aires (Deininger/Jangstetter 1999); Tango - Die einenden Kraft des Eros (Sartori/Steidl 1999); Tango. Obsession – Passion (Albrecht/Rappman 1997); Tango – eine heftige Sehnsucht nach Freiheit (Dinzel/Dinzel 1999); Tango – Tanz der Herzen (Sartori 1999), Mit dem Tango im Herzen (Sauter 2004); Tango hautnah: in der Wiege
17 Siehe zu dieser Setzung auch den methodologischen Abschnitt 4 der Einleitung.
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der Sinne (Dudley 2006); Tango: Wehmut, die man tanzen kann (Salas 2010), Der Basar der Umarmungen (Abadi 2003), Tango passion and the rules of the game (Westergaard 2011). Die vor allem im deutschsprachigen Raum publizierten Bildbände, widmen sich hauptsächlich zum einen der Produktion der mythische Bildsprache des Tanzes Tango Argentino, zum anderen aber auch dem Versuch der historischen Rekonstruktion des Ursprungsmythos von Tango Argentino (exemplarisch: Azzi u.a. 1995; Künstlerhaus Bethanien 1982; Kraemer/Voß 1999; Sauter 2004; Aranibar/Siebert 2008; Allgaier 2009). Eine weitere Ausdifferenzierung der populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen ist im Rahmen dieser Arbeit und im Bezug zur Pragmatik für die Fragestellung leider nicht möglich, wenn auch später in Auseinandersetzungen mit den Diskursen zum Teil darauf Bezug genommen wird. 18 Weitaus wichtiger für diese Arbeit sind die wissenschaftlichen Publikationen zum Tango welche sich zunächst einteilen lassen in die Themenfeldern Geschichte (Tanz, Musik, Literatur, Politik, Kunst), Diskursanalysen (Geschlecht, Ethnizität) und Phänomenologie. 19 Im letzten Jahrzehnt hat sich eine differenzierte Tangoforschung entwickelt, welche hier kurz mit ihren wesentlichen Inhalten skizziert werden soll. Sie ist nicht an der Chronologie der Publikationen ausgerichtet, sondern an den inhaltlichen Schwerpunktsetzungen der Autoren. Neben diesen Publikationen waren für diese Arbeit vor allem die Ergebnisse des von der DFG geförderten Projektes von Relevanz (Klein 2009 a,b,c, 2007 a, b, c; Klein/Haller 2009; 2008 a, b; 2006 a,b), welche erst am Ende dieses Abschnittes detailliert aufgeführt werden, da sie in einem engen Verhältnis zur Fragestellung dieser Arbeit stehen. Der Großteil der wissenschaftlichen Auseinandersetzung befasst sich mit der Geschichte von Tango ausgehend vom Jahr 1880 bis in die 1990er Jahre. Dies betrifft sowohl die tanzhistorischen (Baim 2007), musikwissenschaftlichen (Torp 2007; Steingress 1998; Vila 1991, Feldmann-Bürgers 1996, Cámara de Landa 2002), literaturwissenschaftlichen (Reichardt 1984a, 1984b, 2009; Archetti 1994, 1999; Castro 1991, 1998), politikwissenschaftlichen (Barrioneuvo Anzaldi 2011,
18 Hierbei zeigt sich etwa, dass häufig Mythen wie der Ursprungsmythos Buenos Aires und etwa die Ausblendung von Uruguay nicht weiter in Frage gestellt werden, sondern ohne Verweise auf weitergehende Literatur reproduziert werden. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass die analytischen, methodischen und wissenschaftlichen Arbeitsweisen dieser Veröffentlichungen in Zweifel zu ziehen sind. 19 Dabei wurden hauptsächlich deutschsprachige und angloamerikanische Publikationen berücksichtigt.
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2009) als auch kunsthistorischen (Thompson 2006) Auseinandersetzungen um den Tango. Die sozialhistorische Arbeit von Jo Baim versteht sich als Tanzgeschichte, welche die frühen Anfänge des Tango der Jahre 1875-1925 in Musik, Geschichte, sowie einzelner Schritte in Tanzhandbüchern (Tanzanleitungen) sowohl für Argentinien als auch für Europa und die USA rekonstruiert und eine komplexe Tanzgeschichte des Tango schreibt. Die Motivation der literaturwissenschaftlichen und der politik-wissenschaftlichen Arbeiten liegt dabei in der Aufdeckung der verborgenen Strukturen und Diskursen hinter den Texten und der Lyrik von Tango: der argentinischen Geschlechterbilder (Castro 1994), des spezifischen Männlichkeitsbildes (Archetti 1994, 1999; Reichardt 2009), und des Nationaldiskurses (Barrioneuvo Anzaldi 2011, 2009), bis hin zu gesamtgesellschaftlichen Analysen (Castro 1991; Reichardt 1984a, 1984b). Die Arbeit des Kunsthistorikers Robert Farris Thompson thematisiert die afrikanischen Wurzeln im Bezug auf das Phänomen Tango in Film, Musik und Literatur (Thompson 2006). Die musikwissenschaftlichen Arbeiten zeigen ein umfassendes Forschungsinteresse, indem sie sich etwa der historischen Rekonstruktion der musikalischen Entstehung von Tango (Torp 2007) 20, seiner internationalen Ausdifferenzierung in verschiedene Stile (Pelinski 1995), seinem Verhältnis zu anderen Musikstilen (Feldmann-Bürgers 1996), der Tangomusik als Ausdruck hegemonialer Strukturen (Vila 1991) oder als Element transnationaler Kommunikation und Hybridisierung widmen (Steingress 1998, Cámara de Landa 2002). In all diesen akademischen Arbeiten spielt Tango Argentino als Tanz – wenn überhaupt – nur eine marginale Rolle, weshalb auf eine weitere Differenzierung an dieser Stelle verzichtet werden kann. Die sich explizit auf den Tanz beziehenden wissenschaftlichen Arbeiten lassen sich differenzieren in die Themenfelder Anthropologie, Geschlechterforschung, Diskursanalysen und Phänomenologie. Eine der ersten und zentralen zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Analysen zur Exotisierung von Tango liefert die Politikwissenschaftlerin Marta Savigliano. Sie analysiert zwar auch an historischem Material 21, hat dabei aber eine postkoloniale Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand. In ihrem zentralen Topos der Auto-Exotisierung argentinischer Tango-TänzerInnen spannt sie den Bogen einer sozialwissenschaftlichen Analyse der Erfahrungen des Tangotanzens – auch im Bezug zu Geschlechterrollen (Savigliano 1998) – hin zu einer 20 Jörgen Torp untersucht dabei auch seine Vorläufer vor der Popularisierung Anfang des 20igsten Jahrhunderts. 21 Sie wählt ihre historischen Beispiele im Vergleich des Verlaufes der Popularisierung und des Tangobooms in Argentinien, Europa und Japan.
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politikwissenschaftlichen Problematisierung der postkolonialen Ideologisierung, Vereinnahmung und Kommodifizierung des Tango Argentino durch Imperialismus und Kapitalismus (Savigliano 1995a, 1995b, 2003). In einer aktuellen Publikation zu Parodien des Tango (Savigliano 2009) liegt ihr Fokus auf der doppelten Bewegung, der gleichzeitigen Huldigung und des Unterlaufens einer globalisierten Ästhetik von Tango in Parodien, welche die sozialen Beziehungen und Versprechen des Tango in Frage stellen. Die leibliche Dimension von Tango nehmen phänomenologische Arbeiten zum Tango Argentino in den Fokus. Eine der ersten deutschsprachigen Arbeiten in diesem Kontext verbindet einen phänomenologische Ansatz mit einer historischen Perspektive. In Monika Elsners Arbeit Das vierbeinige Tier. Bewegungsdialog und Diskurs des Tango Argentino (2000) analysiert die Romanistin aus einer phänomenologischen Perspektive die historischen Körperbilder, Bewegungsformen und Choreographien der Jahre 1880 bis 1950, mit dem Ziel eines intersubjektiven Körperbildes im Tango Argentino (siehe Kap. III). Erin Manning nimmt unter den phänomenologischen Arbeiten eine herausgestellte Position ein, da sie ihre mikrophänomenologischen Analysen und Beschreibungen des Tango dem Projekt einer philosophischen Betrachtung und Politisierung von Bewegung unterordnet, Tango also nicht primär ihr Erkenntnisinteresse ist (Manning 2009). Die Tanzwissenschaftlerin Christiane Berger befasst sich in zwei Aufsätzen mit der Verständigung und Bewegungsskoordination im Tango Argentino. In einem gemeinsamen Aufsatz mit dem Soziologen Robert Gugutzer setzen die Autoren eine bewegungsanalytische mit einer leibphänomenologischen Perspektive ins Verhältnis. Ziel dieser Übung ist es Verständigung im Tanz als gleichzeitig leibliche Erfahrungen und körperliche Bewegungen zu fassen (Berger/Gugutzer 2006). Diese Grundlage weiterverfolgend, stellt Berger in einem weiteren Aufsatz anhand von Interviews heraus, dass diese „Vermittlung von körperlicher Bewegung und leiblichen Spüren“ (Berger 2006: 36) ebenso zwischen den Tanzpartnern geschieht (Berger 2006). In diesen phänomenologischen Arbeiten zeigt sich eine ähnliche methodologische Problematik: Es wird von diskursiven Äußerungen 22 auf körperliche, bzw. leibliche Erfahrung rückgeschlossen. Die in den Arbeiten als phänomenologische Erfahrungen formulierten Topoi von „zwischenleibliche[r] Dialogizität“ (Elsner 2000: 40) oder „leibliche[r] Kommunikation“ (Schmitz zitiert nach Berger 2006: 50) stellen dabei nur scheinbar die Erfahrungen der Tanzenden in den Mittelpunkt ihrer Analysen, denn diese körper22 Bergers Grundlage sind qualitative, leitfadengestützte und problemzentrierte Interviews mit Tango-TänzerInnen, während Elsner historische Analysen an Material zum Tango macht.
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lich-leiblichen Erfahrungen sind über Sprache gar nicht primär zugänglich. In diesen Formulierungen zeigt sich, was als feldinterner Diskurs der Tangokultur bezeichnen werden kann, der etwa auch in der häufigen Verwendung des Begriffes der Verschmelzung seinen Widerhall findet (vgl. Kap. III.). Außerdem blenden die Autorinnen in dieser Perspektive die Ebene des Diskurses über den Tango Argentino aus, indem sie – scheinbar – nur die Tanzenden in den Fokus nehmen. Im deutschsprachigen Raum war eine der ersten Autorinnen Paula-Irene Villa, welche vor allem mit ihren Arbeiten zur diskursiven Konstruktion von Vergeschlechtlichung im Tango Argentino einen wichtigen Beitrag für die Tangoforschung gesetzt hat (Villa 2001 bis 2010). Neben ihren Untersuchungen zur diskursiven Konstruktion im Tango und der damit einhergehenden Exotisierung von Tango Argentino, hat Villa vor allem auch auf die leibliche Erfahrungsdimension hingewiesen (Villa 2000, 2002). In ihren Analysen hebt sie die Verbindung einer leiblichen Dimension des geglaubten, inszenierten und außeralltäglichen Spiels im Tango als Verkörperungsprozesse durch diskursive Anrufungen hervor. Doch auch weitere Arbeiten widmen sich diesen, inzwischen sehr ausgefeilten Strang der Konstruktion von Geschlecht in der wissenschaftlichen Tangoforschung. Ein Teilgebiet dieser Forschungen befasst sich mit Arbeiten zu Männlichkeit, Machismo (Reichardt 2010, Tobin 2009) und vor allem Homo-Erotik (Salessi 1997; Tobin 1998; Saikin 2004) im Tango. Annette Hartmann (2002) befasst sich darüber hinaus mit bühnentänzerischer Inszenierung von Geschlechterdifferenzen. Die diskursive Verortung in der Tangokultur nicht nur von Geschlecht nimmt auch in der Arbeit der Sozialanthropologin Elia Petridou eine zentrale Rolle ein. Sie analysiert die Ausdifferenzierung der Diskurse in der griechischen Tangokultur im Hinblick auf ihre wirkungsmächtigen Machtrelationen in sozialen Beziehungen (Petridou 2009). Mit dem Phänomen des globalisierten Tango als Ritual und Symbol befassen sich zwei weitere aktuelle Aufsätze. Aus soziologischer Perspektive und unter dem Blickwinkel des Tango als Vergemeinschaftungsprinzip, befassen sich die beiden Autoren Dreher und Figueroa-Dreher mit den Symbolen 23 des Tango und der ritualisierten Praxis (Dreher/Figueroa-Dreher 2009; Dreher/Figueroa 2003). Der Forschungsstand um den Tango Argentino macht die Vieldeutigkeit dieses kulturellen Phänomens deutlich. Im Laufe dieser Arbeit wird auf einzelne dieser Arbeiten Bezug genommen, sofern sie inhaltlich zu den in dieser Arbeit disku23 Sie erfassen dabei einzelne Elemente wie Musik, die Umarmung oder auch differente Tanzstile.
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tierten Schwerpunkten beitragen. Entgegen der akteurszentrierten Problematik der phänomenologischen Arbeiten nimmt die hier vorliegende Arbeit eine andere Position ein. Sie möchte Tango zunächst in seinen strukturellen Merkmalen als Praktik analysieren und dessen Verflechtungen mit den Diskursen der Tangokultur aufzeigen. Aus diesem Grund sind die Forschungsergebnisse des DFG-Projektes dabei nicht nur mein theoretischer Hintergrund, – welche ich in einem separaten Kapitel über die Reflexion meiner Vorannahmen und Wissensbestände bearbeitet habe (Einleitung 4.1) –, sondern meine Arbeit lässt sich als ein spezifischer Beitrag zu diesen Ergebnissen lesen. Der Fokus des Projektes lag in der Frage nach körperlich-sinnlichen Erfahrungen und der Bildung von Identitäten der beiden Tanzkulturen Tango und Salsa. Das Projekt untersuchte einerseits die Tangokultur in der Verbindung vom globalen Phänomen zu lokalen Differenzierungen und Mystifizierungen (Klein 2009 a,b,c, 2007 a,b,c; Klein/Haller 2008a). Andererseits legte es jedoch auch den Fokus auf die körperlichen Erfahrungswelten der Tanzenden und deren Verkörperungsprozesse (Klein/Haller 2006a, 2006b). Diese Einzeluntersuchungen mündeten in dem von Gabriele Klein entwickelten Konzept von „kultureller Übersetzungen des Tangos“ (Klein 2009c: 17). Besonders das durch das Projekt angestoßene Verhältnis zwischen Körpern, Bewegungen und Subjektbildungsprozessen (Klein/Haller 2009, 2008b) wird hier als Fokus der Forschungsarbeit detaillierter aufgenommen und in Bezug zur Fragestellung der Arbeit nach Abstimmungsprozessen im Tango weitergeführt. Es sollte deutlich geworden sein, dass in der Forschungsliteratur die Bewegungsstruktur des Tanzes und eine Frage nach Abstimmungsprozessen in Bewegungen des Tango Argentino bislang keine große Rolle gespielt hat, während etwa Diskurse der Tangokultur als gut aufgearbeitet gelten können. Diese Lücke zu füllen ist das Anliegen dieser Arbeit, in welcher die empirische Bewegungsstruktur des Tango – als eine Phänomenologie von Tangobewegungen – das analytische Ausgangsmaterial ist, um ein Verhältnis von korporalen Abstimmungsprozessen und (Inter-)Subjektivierungen zu bestimmen und aufzuzeigen.
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E IN S CHRITT ZUR S EITE : T HEORETISCHE P OSITIONIERUNG UND D ISKURSVERORTUNG „In diesem Sinne ist das theoretisch gerahmte empirische Datum immer auch eine Herausforderung und ein Experiment mit offenem Ausgang.“ (Kalthoff 2008: 23)
Die Soziologie hat sich bereits in Ihren Anfängen als empirisch-theoretische Wissenschaft definiert, jedoch steht dahinter auch eine historisch gewachsene, fast klassische Auffassung des Verhältnisses von Theorie und Empirie als getrennte Sphären (Kalthoff 2008: 8) 24 und der gleichzeitigen Schwerpunktsetzung auf der Theoriebildung. Gerade in jüngster Zeit nehmen in der Soziologie Ansätze zu, die das Verhältnis von Empirie und Theorie dynamisch und stärker in Relation zueinander denken (Bereswill/Rieker 2008; Hirschauer 2008b; Lindemann 2008; Schindler 2011). In diesen Ansätzen bereichern sich Empirie und Theorie, da sie in ein dynamisches Wechselverhältnis gesetzt werden. Diese Position ist in der Soziologie nicht neu – haben doch bereits Klassiker des Fachs wie Georg Simmel und Max Weber immer auch in ihren Theorien auf empirische Beispiele zurückgegriffen. Neu ist jedoch, dass die Rolle der qualitativen Empirie von einigen Autoren – spätestens seit Interaktionisten wie Erving Goffman, Ethnographen wie Clifford Geertz oder Ethnomethodologen wie Harold Garfinkel – als gleichwertige Stimme wahrgenommen wird, die ihre eigenen Gesetze entwickelt, bzw. sogar die Theorien der Soziologie vor ihre Grenzen führt (vgl. Amann/Hirschauer 1997; Hirschauer 2010). Diese Ansätze sind nicht zufällig auch einer Kultursoziologie zuzuordnen, die sich im Anschluss an Arbeiten aus den Cultural Studies seit den 1980er Jahren auch in Deutschland etabliert haben (vgl. Reckwitz 2010, 2006a; Wohlrab-Sahr 2010). Kultursoziologie versteht sich dabei nicht als Soziologie von ausschließlich und spezifisch kulturellen Phänomenen (wie etwa Kunst, Theater, Musik oder Tanz) 25, sondern als Soziologie der Kultur, „die alles Soziale und Gesellschaftliche als Kulturelles, das heißt, als Sinnhaftes, als abhängig von kontingenten kulturellen Codes und Sinnhorizonten“ (Reckwitz
24 „Theorie und Empirie bilden ein Begriffspaar und stehen sich seit der Etablierung des Fachs antithetisch gegenüber.“ 25 Vgl. dazu die grundsätzlichen Positionierungen von Reckwitz 2010 und Hirschauer 2010.
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2010: 180) versteht. Kultursoziologie positioniert sich so grundsätzlich im Feld der Soziologie als eine Praxistheorie (Reckwitz 2006a: 556ff.) 26, die das Soziale als von Menschen gemachten, gestalteten Raum – oder theoretischer eingebettet – als sozial konstruiertes Feld versteht, welches durchdrungen ist von einer Verflechtung zwischen Strukturen und Handlungen, von Individuen und Gesellschaft. Diese sich aus der Praxistheorie ableitenden Prämissen sind es auch, die letztendlich die Perspektive dieser Arbeit dahingehend anleiten, aus der Empirie die Fragen zu entwickeln. Aus der Perspektive einer praxistheoretischen Kultursoziologie lassen sich mit den aus der Empirie generierten Fragen die Verbindungen zwischen „routinisierten körperlichen Verhaltensmustern, übersubjektiven Wissensschemata und routinisierten subjektiven Sinnzuschreibungen“ (ebd.: 559) aufdecken. Letztendlich liegt diesen Ansätzen der Anspruch einer Überwindung der Dichotomie zwischen Subjektivismus und Objektivismus zugrunde, dessen fehlen immer auch die Kritiken an Theorien durchzieht. Im Besonderen war es auch die an Pierre Bourdieu und Michel Foucault wiederholt gestellte Kritik, und zugleich deren eigenes Anliegen diesen soziologischen Dualismus zu überwinden (Bourdieu 1989; Foucault 1987). Was konkret unter einer Überwindung einer Dichotomie von Subjektivismus und Objektivismus vorstellbar ist, wird die Diskussionen in den Kapiteln I. (Kommunikation, Handlung, Praktiken), Kapitel II. (Subjekte, Akteure, Individuen, Körper) und Kapitel III. (Intersubjektivität) sowie Kapitel IV. durchziehen. In der Tanzwissenschaft scheint die Problemlage genau umgekehrt zu sein: es gibt eine große Anzahl empirischen, noch nicht untersuchten Materials von dem vielfältig berichtet wird. Eine tanzwissenschaftliche Theoriebildung steckt aber noch in ihren Anfängen, bzw. hat kein einheitliches theoretisches Fundament in einer Wissenschaft. Tanzwissenschaft ist immer interdisziplinär ausgerichtet. Die vorliegende Arbeit verortet sich sowohl in einem Schnittpunkt von Empirie und Theorie, als auch in einem Schnittpunkt von Kultursoziologie und Tanzwissenschaft. Die Blickrichtung geht dabei jedoch von der Soziologie aus: Sie versteht die Empirie – in diesem Fall des Paartanzes Tango Argentino und damit einem Feld der Tanzwissenschaft – als Herausforderung für die Kultursoziologie und deren Kategorien und Begriffsbildungen. Empirische Herausforderungen führen die Soziologie vor ihre Grenzen der Erklärbarkeit – empirisch, theoretisch und methodisch. In den empirischen Herausforderungen liegt jedoch das ungebrochene Potential für die Soziologie. Die Überprüfbarkeit und Weiterentwicklung ihrer Kategorien, Methoden und Theorien ist notwendig für eine 26 Andreas Reckwitz bettet diese Entwicklungen zu einer praxistheoretischen Kultursoziologie in die „Transformationslinien der Kulturtheorien“ (Reckwitz 2006a: 557) ein.
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umfassende Erfassung und Theoretisierung der Sozialwelt. Eine solche Vorgehensweise wird wissenschaftstheoretisch als induktives Vorgehen bezeichnet – vom besonderen Phänomen zu einer allgemeinen Erkenntnis gelangend. 27 Der Anspruch dieser Arbeit ist dabei weniger wissenschafts-theoretischer Natur, als vielmehr fachspezifisch: ein Ziel der Arbeit ist es, zu zeigen, auf welche Weise ein empirisches Phänomen soziologische Begriffe, Kategorien und Erklärungsmodelle herausfordert und erweitern kann: „Daraus folgt zum einen eine empirische Relativierung von Theorien, zum anderen die Kritik eines positivistischen Methodenbegriffs, denn beides führt zu einer gewissen Gängelung des innovativen Potentials von empirischer Forschung.“ (Kalthoff 2008: 24) Dieses Ziel ist gleichzeitig der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Fragen nach einem Verhältnis von Bewegungen, Körpern und Subjekten geschuldet, welche im Einzelnen in der Soziologie zwar gerade in den letzten Jahrzehnten vermehrt diskutiert werden (vgl. Kap. I & II), aber in ihrem Wechselverhältnis nur wenig diskutiert sind (siehe dazu Kap. II). Die Arbeit möchte einen Beitrag dazu leisten diese Themenkomplexe zusammenzuführen. In der Auseinandersetzung mit dem soziologischen Handlungsbegriff und der Frage nach einem Subjekt der Bewegung gilt es, körpersoziologische und subjekttheoretische Ansätze konstruktiv miteinander zu verbinden. Handlungen, und dies schließt immer auch körperliche Handlungen und Bewegungen ein, sind sozial und kulturell bedingt. 28 Wie das Verhältnis von Körpern, Bewegungen und Subjekten dabei fassbar wird, ist bisher noch nicht ausreichend ausgearbeitet. Die vorliegende Arbeit nähert sich daran an, wie ein Verhältnis von Subjekten – genauer Subjektivierungsprozessen –, Körpern und Bewegungen beschreibbar ist. Ausgangspunkt hierfür ist der sich in und über Praktiken bewegende Körper als Kulminationspunkt von Subjektivierungsprozessen, und damit überhaupt erst als Möglichkeit von Subjektivität. In diesem Sinne versteht sich diese Arbeit als ein Beitrag zu einer „kulturwissenschaftlichen Subjektanalyse“ (Reckwitz 2008a: 135), die in ihrem heuristischen Modell Subjektivierungsprozesse in einem Konglomerat von Bewegungen, Körpern, Praktiken und Diskursen untersuchen möchte. Den theoretischen Diskussionen und Reflexionen dieser Arbeit geht daher in jedem Kapitel eine Auseinandersetzung mit empirischem Material voraus. Die Arbeit ist so aufgebaut, dass aus dem empirischen Material Fragestellungen ent27 Im Gegensatz zum deduktiven Vorgehen bei welchem vom Allgemeinen auf das Besondere geschlossen wird. 28 „Ebenso wie die Umwelt besitzt auch das körperliche Handeln eine regelhafte Struktur, eine Ordnung, die ohne den Umweg über den Kopf wirksam ist“ (Gebauer/Wulf 1998: 27).
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wickelt werden (wie im letzten Abschnitt skizziert), welche im Anschluss mit theoretischen Konzepten und Begrifflichkeiten in ein Spannungsverhältnis gesetzt werden. Die theoretischen Konzepte werden dahingehend überprüft, inwieweit sie die empirisch beschriebenen Phänomene ausreichend erfassen oder sich ihnen annähern. Theorien und ihre Begriffe werden also nach ihren Reichweiten und Grenzen befragt – daher die durchgehende Formulierung der empirischen Herausforderungen. Im Mittelpunkt dieser empirischen Herausforderungen steht die theoretische Frage nach einem Verhältnis von Subjekten, Körpern und Bewegungen, die im Tango als einer transkulturellen Praktik vor ein spezifisches Problem gestellt ist. Subjekttheorien stehen aktuell in der Soziologie immer mehr zur Diskussion (Keupp/Hohl 2006; Reckwitz 2006; siehe auch Kap. II), obwohl der Begriff des Subjektes in der Soziologie bis dato eher ein Schattendasein fristete. In der aktuellen Debatte kristallisiert sich heraus, dass die Konstitution von Subjekten an Kulturen gebunden wird, wie es Andreas Reckwitz formuliert: Subjektkulturen. Nach Reckwitz entstehen Subjektkulturen in einem Spannungsverhältnis zwischen Praktiken und Diskursen, bzw. zwischen „diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken“ (Reckwitz 2010: 192). Dabei stehen aber wesentlich westliche Kulturen im Mittelpunkt der Analyse: „Die wichtigste Einschränkung besteht im Fokus auf den ‚Westen‘, das heißt auf die europäisch-nordamerikanische Kultur, auf Praktiken und Diskurse, die sich in Großbritannien, Frankreich, Deutschland sowie den Vereinigten Staaten ausbilden.“ (Reckwitz 2006: 30) Die folgende Arbeit fragt danach, wie sich eine Subjektkultur untersuchen lässt, die zwar auch im ‚Westen‘ zu finden ist, aber mit Praktiken verbunden ist, die keine territoriale abgrenzbare westliche Geschichte hat – wie im Fall des Tango Argentino. Dies stellt die über diese Arbeit weit hinausgehende Frage, welches Verhältnis zwischen transkulturellen Praktiken und Subjektkulturen besteht und inwieweit Subjektkulturen überhaupt als territorial begrenzt, im Sinne eines Kulturbegriffes zu verstehen sind. Eine Beantwortung dieser Frage kann im Rahmen dieser Arbeit nur zum Teil skizziert werden. Ein häufig zitierter Gewährsmann in der Körpersoziologie ist Marcel Mauss, der mit seiner Aussage Körpertechniken seien immer auch Kulturtechniken, die Körpersoziologie maßgeblich beeinflusst hat (Mauss 1975). Doch was geschieht, wenn eine Kulturtechnik global existiert? Wie kann es sein, dass Tango Argentino in New York, Hamburg, Istanbul, Tokyo, Seoul, Moskau, Beirut und Buenos Aires getanzt wird? Welche Subjektkultur, bzw. welche Subjektkulturen lassen sich darin ausmachen?
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Dies stellt die Soziologie vor die allgemeine Frage, wie sie Praktiken verortet: nach territorialem Verständnis (wie es die Arbeit von Andreas Reckwitz impliziert), als demnach in historisch gewachsenen nationalen Grenzen – oder vielmehr als transkulturelle und damit auch transnationale Praktiken? Diese Frage erwächst aus der Tatsache, dass Bewegungskulturen und ihre Praktiken sich zum Teil nur schwer einem klaren Territorium zuordnen lassen: Tango Argentino ist nur ein Beispiel dafür. Auch andere Tanzpraktiken wie Swing/Lindy Hop, Salsa, Samba, Bollywooddance – aber auch interkulturelle Sport- und Bewegungskulturen wie Yoga, Thai Chi/Qigong haben keine klaren kulturellen Grenzen – weder in ihrer Geschichte noch in ihrer zeitgenössischen Phänomenologie – wenn auch vielfältige, lokale und somit kulturelle Ausdifferenzierungen. Kulturelle Ausdifferenzierungen meint hier aber nicht Kultur im Sinne eines auf eine Nation oder regionale Geschichte territorial begrenztes Phänomen, sondern Kultur als geteilte, diskursive Wissensordnungen. Wissensordnungen sind in und mit Praktiken und Diskursen verwoben und deren Aufdeckung ist eine zentrale Aufgabe einer praxistheoretischen Analyse (Reckwitz 2008b: 202). Goffman nennt diesen Problemzusammenhang den „Distributions-Qualifikator“ 29 (Goffman 1971: 16), mit dem er gegen einen Ethnozentrismus vorgeht – indem er seine Untersuchungen auf westliche Gesellschaften begrenzt oder von „amerikanischer Mittelschicht“ (ebd.) spricht – als auch auf die Unbestimmtheit des empirischen Materials verweist, die nur selten „einer eindeutig abgrenzbaren Gruppe von Individuen“ (ebd.) zuzuweisen ist. Eine Differenzierung nach Kulturen in einem tradiert territorial begrenzten Sinne erscheint auch im Falle des Tango Argentino nicht sehr sinnvoll. Es bietet sich vielmehr an, Differenzen eher auf der Ebene von verschiedenen Bewegungskulturen, bzw. Praktiken zu untersuchen, die sowohl globale, als auch lokale Ausprägungen aufzeigen, so wie die Praktiken des Tangotanzens. Denn weder sind die Akteure in der Tangokultur mit einer klar territorialen Kultur verbunden, noch ist es Tango Argentino selbst. Die Tanzkultur des Tango Argentino ist als Kultur weltweit verbreitet und dabei regional ausdifferenziert, aber sie beinhaltet auch globale Ähnlichkeiten – Tango Argentino ist eine transkulturelle Praxis mit kultureller Differenz. Die theoretische These dieser Arbeit ist, dass in den zeitgenössischen Praxen der transkulturellen Tangokultur die körperlichen Praktiken des Tango Argentino eng verwoben sind mit den Diskursen der Tangokultur. 29 Der Distributions-Qualifikator ist bei Goffman die Verwendung des verallgemeinerten Terminus „in unserer Gesellschaft“ (Goffman 1971: 16), welchen er aber als „begrifflichen Skandal“ (Goffman 1971: 16f.) charakterisiert, da er zu sehr verallgemeinert.
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Tango Argentino ist historisch einerseits ein kultureller Hybrid und andererseits hängt die Konstruktion eines authentisch argentinischen Tango mit seiner Geschichte zusammen. So ist es die Leistung der Tangotheoretikerin Marta Savigliano auf die ideologisch ausgeprägten Differenzen in der Konstruktion authentischer Wurzeln oder einer wahren Geschichte des Tango zu verweisen (Savigliano 1995a: 159). Tango musste in diesen Konstruktionen für vieles herhalten: die Heroisierung von Unterschichten 30, afrikanischer, spanischer, französischer oder zumindest allgemein migrantischer Wurzeln 31 oder auch politischen Widerstand gegen (spanischen) Kolonialismus. Insgesamt also eine Vielzahl politischer Instrumentalisierungen bis hin zur Nationalisierung 32 eines authentisch-argentinischen Tango Argentino: „This complex, exhaustive, and exhausting narrative of the tango’s ‚origins‘ leads finally to a moment of apotheosis when The Tango, the ‚authentic‘ tango argentino, appears on the scene.” (Ebd.: 160) 33 Es sollte also in diesem kurzen Abriss deutlich werden, dass es nicht darum geht die Geschichte eines originären, authentischen Tango weiter mit Anekdoten zu füllen, die alle eine ideologische und politische Implikation haben. Es ist vielmehr von Interesse für diese Arbeit, die zeitgenössisch transkulturell beobachtbaren Praktiken zu analysieren und in ein Verhältnis zu den Diskursen der Tangokultur zu setzen mit dem Ziel ein Verhältnis von Subjekten, Körpern und Bewegungen zu skizzieren.
30 „dirt streets of slums […] brothels […] knife-fighters […] blacks […]“ (Savigliano 1995a: 158). 31 „origins in Andalusia […] Cuban habaneros […] lonesome habitants of our pampas […] liberated blacks […] newly arrived immigrants met the criollos“ (Savigliano 1995a: 158). 32 „These tango histories carried nationalistic political messages for the readers of the time.“ (Savigliano 1995a: 160) 33 Aber auch in anderen tangospezifischen Publikationen wird Tango als hybrides Kulturprodukt hervorgehoben (Archetti 1999).
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E IN S CHRITT
ZUR S EITE : M ETHODISCHE UND METHODOLOGISCHE H ERAUSFORDERUNGEN
Die im Einleitungsteil skizzierte empirische Herausforderung der Untersuchung einer Bewegungskultur zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie eine methodologische und methodische Herausforderung für die Sozialforschung ist. Methodisch dahingehend, mit welcher Methode sich Bewegungen als empirisches und dynamisches Material erfassen und analysieren lassen. Zeitgleich ist diese Erfassung und Analyse mit Fragen nach methodologischen Prämissen verbunden. Um überhaupt etwas über die untersuchte Bewegungskultur des Tango Argentino aussagen zu können, werden Informationen und empirisches Material benötigt, welches systematisch erfasst und analysiert werden muss. Da sich körperliche Bewegungen aber ausschließlich materialisieren, indem sie dynamisch und temporär auftreten, stellt sich die Frage, wie dieses empirische Material für Untersuchungen fassbar wird. Die Reflexion, Darstellung und Diskussion des Forschungsprozesses und der methodischen Vorgehensweise wird in diesem Kapitel daher auch auf mehreren Ebenen vollzogen: Erstens auf der methodologischen Ebene der Reflexion der Vorbedingungen und der Forscherposition in der Reflexion der vorhandenen Wissensbestände und damit eines Hintergrundwissens (3.1). Zweitens im Bezug zur methodischen Selektion des empirischen Materials und der Datensorten (3.2). Und drittens auf der Ebene der Analysen, die die methodologischen Prämissen und gleichzeitig die methodische Vorgehensweisen der Videographie aufschlüsseln (3.3). Einer der am häufigsten genannten Kritikpunkte an der qualitativen Sozialforschung in der deutschsprachigen Sozialwissenschaft liegt in der Sprachzentriertheit ihrer Methoden, die sich in der primären Analyse verbaler Daten wie Interviews und Texten zeigt (z.B. Keller 2008: 273; Knoblauch 2001: 123; Soeffner/Raab 2005: 168). Diese Kritik betrifft aber nicht nur das empirische Material und das methodische Vorgehen, sondern auch deren Perspektive auf die soziale Welt. Vielfach – etwa von Seiten der Körpersoziologie 34 – wurde daraufhin gewiesen, dass mit der Konzentration auf Sprache andere soziale Phänomene außer Acht gelassen werden. Es zeigt sich in der Konzentration auf Sprache eine
34 Für einen Überblick der Körpersoziologie vgl.: Gugutzer 2006, 2004; Hahn/Meuser: 2000; Schroer 2005.
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Dominanz des gesprochenen Wortes gegenüber Bildern 35, Körpern und Artefakten. Diese Lücke zu füllen, und mit ihr auch Methoden zur Analyse von Bildern oder Videos zu generieren, ist das Ziel verschiedener Autoren und Ausrichtungen 36 wie etwa der Körpersoziologie oder auch der Tanzwissenschaft. Methodologisch und methodisch setzt sich auch die, in Deutschland inzwischen etablierte, Tanzwissenschaft 37 mit diesen Problemen auseinander. Wie Bewegungen, bzw. Tanz operationalisierbar sind, bzw. wie sie erfasst werden können, steht dabei im Mittelpunkt dieser Fragen nach Methoden und Methodologien. Die Tanzwissenschaft greift in ihren methodischen Vorgehensweisen zu einem großen Teil auf Methoden anderer Wissenschaften zurück, aber diese müssen sie „ihrem ‚Gegenstand‘ entsprechend modifizieren“ (Brandstetter/Klein 2007b: 9). Entsprechend war das methodische und methodologische Vorgehen dieser Arbeit an der sozialwissenschaftlichen Methode der Videographie ausgerichtet und musste diese im Bezug zum Tanz und zu Bewegungen modifizieren (vgl. 4.3). Ein grundsätzliches Problem in der Untersuchung von Bewegungen liegt darin, dass Bewegungen in Sprache transformiert werden müssen, um sie analysieren, aufzuarbeiten und auch repräsentieren zu können: „Über Tanz zu schreiben, bedeutet grundsätzlich, etwas sprachlich ausdrücken zu wollen, für das es keine Begrifflichkeit gibt.“ (Klein 1994: 14) Bewegung in Sprache zu übersetzen (Klein 2009), heißt letztendlich zunächst Bewegungen in eine sprachliche Abstraktionen zu pressen: „‚Bewegung denken‘, d.h. eine Sprache für dynamische Vorgänge zu finden, ist auch immer eine Herausforderung an Wissen-Schaffende, die letztendlich scheitern muss, muss sich das diskursive Wissen doch immer des Mediums der Sprache bedienen.“ (Klein 2007: 33) Wie auch Bourdieu hervorhebt, zeigt sich darin besonders in der Untersuchung von Tanz „das Problem des Verhältnisses von Theorie und Praktik wie auch das von Sprache und Körper“ (Bourdieu 1992: 205):
35 Und dass in einer Zeit, in der die alltagsweltliche Dominanz von Medien vor allem auch Bilder von Körpern (als tatsächliche und methaphorische) produzieren, vgl. dazu Klein 2002. 36 Eine weitere ausgefeilte Methoden- und Theoriediskussion zeigt sich in den Science Studies um Bruno Latour, Katrin Knorr-Cetina etc., deren methodische und inhaltliche Prämissen aber hier zurückgestellt werden müssen. 37 Erste Ansätze verschiedene Methoden für die Probleme der Analyse von Körper, Bewegungen und Tanz zu diskutieren, finden sich in Klein 2004a, 2009a; Brandstetter/Klein 2007.
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„Der Grund dafür ist die fehlende Objektivierung in einer adäquaten Sprache (das fehlende Äquivalent für die Partitur, das die klare Trennung zwischen Partitur und Ausführung ermöglicht, führt dazu, daß das Werk mit der Performanz, der Tanz mit dem Tänzer identitifiziert wird).“ (Ebd.: 206)
Eine Versprachlichung von Bewegungen kommt also einer geistigen Reflexivität gleich, welcher sich Bewegungen letztendlich entziehen, denn „die Analyse von (audiovisuellen) Daten stützt sich auf reflexives Körperwissen“ (Meuser/Keller 2011b: 25). Besonders in der Tanzwissenschaft hat sich dazu eine Gegenbewegung formiert, die den Tanz als flüchtig versteht und dementsprechend als nicht fassbar. Gabriele Klein hat dieses Paradigma der Tanzforschung 38 im Verhältnis zu seiner politischen, sozialen und historischen Genese eingehend kritisch diskutiert und schlägt dagegen folgendes vor: „Diese [Suchbewegung. MH] läge darin, Tanz nicht als das Flüchtige, sondern als das beständig Dynamische zu erkennen, als eine Bewegung zu sehen, die permanent Ordnung errichtet und transformiert.“ (Klein 2009d: 206) Ganz entgegen eines Paradigmas des Flüchtigen bleibt aber auch in dieser Perspektive die Problematik bestehen, Tanz als Bewegung in ihrer Prozesshaftigkeit und Dynamik fassbar zu machen – welche jedoch letztendlich für alle Analysen des Sozialen gilt (Brandstetter/Klein 2007b: 13): „Tanzwissenschaftliche Methoden sind also konfrontiert mit der erkenntnistheoretischen Problematik, eine dynamische Form zu analysieren.“ (Ebd.: 12) Dies schließt bei der Frage an, die in sozialwissenschaftlichen Diskussionen um die Relevanz und Realität von Methoden seit ihren Anfängen immer schon diskutiert wurde – der Frage nach einem Realitätsbezug und der Konstitution von Wirklichkeiten durch ein methodisches Vorgehen: „Demnach machen Methoden Realitäten nicht in realistischer Weise sichtbar, sondern zeigen, wie sie – im Lichte der verwendeten Methoden – vorgestellt werden können. Hierdurch nimmt man den Umstand in den Blick, dass die qualitativen Forschungsmethoden mit ihren Produkten nicht Realität darstellen, sondern einen spezifischen Blick auf sie und auf sich selbst erzeugen.“ (Kalthoff 2008: 188)
Der Zugang zum empirischen Material über eine spezifische Methode bildet also keineswegs Realitäten ab, sondern ist vielmehr eine Annäherung an die für Tan-
38 „Im 18. Jahrhundert konstituiert sich die Idee des Flüchtigen im Tanz – und sie sollte das entscheidende Paradigma des Tanzes in der Moderne werden.“ (Klein 2009d: 201)
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zende realitätsgenerierenden Bewegungen, Wahrnehmungen, Symbole und Codes oder theoretisch zusammengefasst: Praktiken und Diskurse. Diese methodologische Komplexität soll sich im Aufbau der hier vorliegenden Gliederung widerspiegeln. Die jedes Kapitel einleitenden empirischen Abschnitte sind so aufgebaut, dass sie gestaffelt werden in drei Ebenen: eine deskriptive, eine diskursive und erst am Ende eine analytische Ebene, welche über theoretische Bezüge/bzw. Verortungen eine erste Begriffsbildung schafft. Mit dieser Struktur wird darauf verwiesen, dass eine Analyse immer auch von den Diskursen, dem Wissen um das Feld und dem theoretisch geleiteten Wissen des Forschers geprägt und durch woben ist. Eine Analyse ist nicht losgelöst von den Ebenen, die sich als deskriptiv – weil sie grundsätzliche Strukturen erläutert, die für ein Verständnis unabdingbar sind – und diskursiv – um auf die mit Bewegungen verbundenen sinnstiftenden Universen zu verweisen – bezeichnen lassen. Demnach ist das methodische Vorgehen in den Analysen immer auch geprägt von den Diskursen der Bewegungskultur und der Forschungsrichtung, bzw. die Diskurse sind gleichzeitig ein Teil der Praktiken. Erkennbar ist dies zum Teil an der Verwendung der Begrifflichkeiten in der Analyse: etwa wenn eine Pause im Tanz als Innehalten, Störung oder Unterbrechung bezeichnet wird. Alle Begriffe zur Analyse einer Bewegungssituation setzen unterschiedliche Maßstäbe und machen verschiedene Diskurse auf und theoretische Anbindungen möglich. Dennoch wird auf diese Weise vor allem aufgezeigt, wie Praktiken und Diskurse miteinander verbunden sind, bzw. wie diskursive und nicht-diskursive Praktiken in einem Verhältnis zueinander stehen: „Mittlerweile wird zunehmend deutlich, daß ein Gegeneinander-Ausspielen praxeologischer und diskursanalytischer Ansätze sich für die kultur- und sozialwissenschaftliche Forschungspraxis als wenig fruchtbar erweist.“ (Reckwitz 2008b: 190) Reckwitz unterscheidet in seiner Konstruktion von Praxis/Diskursformationen zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken: „Diskurse (diskursive Praktiken) unterscheiden sich dadurch, daß sie Praktiken der Repräsentation darstellen, das heißt Praktiken, in denen Objekte, Subjekte und Zusammenhänge auf eine bestimmte, regulierte Weise dargestellt werden und in dieser Darstellung als spezifische sinnhafte Entitäten erst produziert werden.“ (Ebd.: 203) „Diskurse sind damit nicht aus anderem Stoff gemacht als Praktiken, sie sind selber (Zeichen verwendende) Praktiken, und zwar solche, in denen die Dinge auf bestimmte Art und Weise repräsentiert werden.“ (Ebd.: 204)
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Aus dieser theoretischen Position heraus ergibt sich der methodologische und methodische Anspruch Praktiken und Diskurse in ihrer Verwobenheit miteinander aufzuzeigen. Die Untersuchung der Verhältnishaftigkeit von Praktiken und Diskursen als „Praxis/Diskurs-Formationen“ (ebd.: 190) ermöglichen die materielle „Existenz von kulturellen Wissensordnungen“ (ebd.: 202) 39 aufzudecken: 40 „Zwei scheinbar natürlicherweise differente Phänomene, das eine ein scheinbar ‚ideelles‘ [Diskurse], das andere ein scheinbar ‚materielles‘ [Praktiken], können als Bestandteile der gleichen Konfiguration deutlich werden.“ (Ebd: 202) Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Perspektive der empirischen Fragestellung dieser Arbeit, die aus einer theoretisch praxeologischen Perspektive gestellt wird. Sofern eine körperliche Praxis als Herausforderung angenommen wird, gibt es das Problem implizit körperliches Wissen aus abgefilmten körperlichen Bewegungen herauslesen zu wollen: „Aus methodischer Hinsicht kompliziert werden Praktiken somit durch ihre Doppelstruktur als materiale Körperbewegungen und als implizite Sinnstruktur, als Kombination einer Präsenz der Körper und Dinge, die der Beobachtung zugänglich sind, und einer Abwesenheit des impliziten Wissens, dessen indirekte Erschließung immer unvollständig bleiben muss.“ (Ebd.: 196)
Insofern verbindet die Forscherin dieser Arbeit, die von ihr analysierte Bewegungen mit sinnhaften Wissensordnungen – Praktiken und Diskurse – und vollzieht Rückschlüsse auf die von ihr analysierte Tanzkultur (ebd.: 196). Ein damit verbundenes methodisches Problem liegt dann auch in der Darstellbarkeit von diesen Ergebnissen. Diese Arbeit möchte daher den Vorschlag machen, Bewegungen auf verschiedene Arten und Weisen darzustellen. Einmal sollen Bewegungen auf der Ebene der Schriftsprache gefasst werden – als nachträglich, am Video produzierte Ethno-graphien der Bewegungssituationen –, welches die Möglichkeit beinhaltet, Bewegungen zu beschreiben und darin Prozesse und Abläufe zu erkennen, die sonst nicht fassbar wären. Gleichzeitig wird versucht kleinteilige Bewegungsabläufe aus den analysierten Videoaus-
39 „Alle sozialen Praktiken enthalten Wissensordnungen und Codes; die diskursiven Praktiken produzieren und explizieren selber – über den Weg von Argumenten, Narrationen, Montagen usw. – Wissensordnungen.“ (Reckwitz 2008b: 205) 40 Allerdings ohne den Fehler und die Annahme zu machen, Codes und Routinen seien reproduzierbar, sondern vielmehr „nach unterschiedlichen, miteinander, konkurrierenden Praxis/Diskurs-Formationen, sowie nach Instabilitäten innerhalb von Praxis/Diskurs-Formationen zu suchen“ (Reckwitz 2008b: 202).
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schnitten als Bilderfolgen 41 darzustellen, um dem Leser eine Teilhabe an den analysierten Bewegungsabläufen zu ermöglichen. Dieses Paradox eines medialen Rückschrittes – den aus einzelnen Frames des Videos geschnittenen Fotografien 42 – soll als eine Art Daumenkino der Imagination Bewegungsabläufe besser nachvollziehbar machen, als es allein Sprache ermöglicht. Diese Hilfskonstruktion in der Darstellung liegt die heuristische Perspektive zu Grunde, dass eine Analyse von Tanz versprachlicht und verbildlicht werden kann, um dessen Dynamik annähernd fassen und darstellen zu können. Reflexion: Vorannahmen und Wissensbestände „Das, was methodisch gefordert ist, geht von den Forschungsgegenständen aus, aber auch von den Forschungssubjekten, die ihre Theorien in Anschlag bringen. Die empirische Erforschung sozialer Wirklichkeit ist selbst eine theoriegeleitete Aktivität.“ (Kalthoff 2008: 24)
Es ist eine vielfache Forderung, dass auch die Reflexion des Forschers im Forschungsfeld als methodisches Vorgehen einzuordnen ist (Amann/Hirschauer 1997: 32f.; Schindler 2011: 24): „Aus diesem Grund erscheint mir der Versuch unumgänglich, die Intentionen und Prinzipien explizit zu machen, die wir in der vorliegenden Forschungsarbeit angewandt haben.“ (Bourdieu 1997: 779) Erst ein systematisch, methodisch gesichertes Vorgehen und Reflektieren des Forschungsprozesses ermöglicht es, Hypothesen und Thesen zu bilden und darüber die Angemessenheit von Methode und Theorie zu diskutieren. Der Spannungsbogen soll dabei von einer eher mikrosoziologischen und handlungstheoretischen Perspektive bis hin zu einer makrosoziologischen und strukturtheoretischen Perspektive gezogen werden. Eine Methode dient zunächst immer der Systematisierung des Materials, der Sicherung einer relativ objektiven Verfahrensweise und vor allem auch der Vergleichbarkeit verschiedener Materialien – gleichzeitig ist es unumgänglich „den
41 Angelehnt an die Tradition von Reihenfotografie oder auch des Daumenkinos, vgl. dazu Kirchmann 2004: 270ff. 42 Aus datenschutzrechtlichen Gründen wurden die Fotografien verfremdet. Es wurde die Bildschärfe verstärkt, die Bilder in schwarz-weiß umgewandelt und vor allem die Gesichter verpixelt.
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realitäts-konstituierenden Charakter soziologischer Methoden“ (Kalthoff 2008: 17) auch zu reflektieren. Jedes methodische Verfahren – auch das der Bild- und Videoanalyse – dient dazu, sich dem zu untersuchenden Gegenstand systematisch zu nähern. Die hier gewählten Methoden bieten die Möglichkeit umfangreiches Datenmaterial zu systematisieren, die Fragestellungen zu präzisieren und notwendig auch die eigene Perspektive zu reflektieren. Gleichzeitig möchte diese Arbeit vor allem in der Praxistheorie anschließen, deren Hauptanliegen es ist, nicht nur die Methode im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand zu reflektieren, sondern auch die Methode des Forschers selbst, um „im Interesse angemessener Beschreibungsverfahren beide sozialen Voraussetzungen, also nicht nur die der beobachteten Akteure, sondern zugleich auch die des Beobachters, soziologisch zu objektivieren“ (Schmidt 2006: 315f.). Diese Position dient einer „theoriekritische[n] Pointe praxeologischer Soziologie, die ihren analytischen Blick auf die sozialen Praktiken aus einer selbstreflexiven Wendung auf die intellektuellen Praktiken, auf deren implizite soziale Voraussetzungen, Verzerrungen und Blindheiten gewinnt“ (ebd.: 315). Eine solche Logik der Praxis (Bourdieu) 43 – am Beispiel der Herausarbeitung der strukturellen Merkmale des Tango – wird theoretischen Konzepten gegenübergestellt und hinterfragt deren Möglichkeitsspektrum zur Beantwortung des untersuchten sozialen Phänomens der Abstimmung im Tango Argentino. Das empirische Material dieser Arbeit wurde in dem von der DFG geförderten Projekt erhoben. 44 Die zu reflektierenden Vorannahmen und Wissensbestände speisen sich dabei sowohl aus der methodischen Vorgehensweise als auch aus den theoretischen Ergebnissen des DFG-Projektes. Dabei ist vor allem reflexiv zugänglich und temporär nachvollziehbar was an Material über das Forschungsprojekt vorliegt, bzw. welche Publikationen im Rahmen des Projektes entstanden sind (vgl. Klein/Haller 2006a,b; 2008a, b; 2009; Klein 2009 a,b,c). „Die zentrale Perspektive des Forschungsprojektes lag von daher darin, kulturelle Übersetzungen des Tangos auf verschiedenen Ebenen zu untersuchen. Einerseits wurden auf einer makrotheoretischen Ebene das Spannungsverhältnis zwischen globaler Ausbreitung und lokaler Kontextualisierung und die damit verbundene Produktion von Tradition und Ursprungsmythen des Tangos erforscht. Andererseits ging es auf einer mikrotheoretischen 43 So der Titel der englischen Übersetzung von Bourdieus Le sens pratique (1980; dt. Sozialer Sinn, 1993). 44 An dieser Stelle möchte ich Gabriele Klein für die Weiterverwendung und Überlassung dieses Materials und vor allem auch für die produktive inhaltliche Unterstützung danken.
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Ebenen darum, Lokalisierung nicht nur als soziale und räumliche Etablierung einer Tanzkultur sondern zugleich als Inkorporierung global zirkulierender kultureller Muster zu verstehen, die im Tangotanz intersubjektiv erfolgt und bestimmte Identitäten und Subjektentwürfe von Tangueras und Tangueros hervorbringt. “ (Klein 2009c: 17)
Besonders das durch das Projekt angestoßene Interesse am Verhältnis zwischen Körpern, Bewegungen und Subjektbildungsprozessen wird hier als Fokus der Forschungsarbeit detaillierter aufgenommen. Im Rahmen des theoretischempirisch ausgerichteten Projektes wurden verschiedene umfassende und qualitative Methoden zur Erforschung der beiden Tanzkulturen angewendet: „Literaturanalysen, feldspezifischen Analysen, Gruppendiskussionen, Expert/inneninterviews, Konsument/innenbefragungen, Film-,Bewegungs- und Bildanalysen“ (ebd.: 18). Im DFG-Projekt wurden zunächst aus einer ethnographischen Perspektive die beiden Tanzkulturen Salsa und Tango Argentino erfasst, indem teilnehmende und nicht-teilnehmende Beobachtungen an lokalen Veranstaltungsorten in lokalen Szenen durchgeführt wurden. Zudem wurden Beobachtungsprotokolle, szenespezifische Zeitschriften und auch das Internet in die Ethnographien miteinbezogen. Ethnographie – als offenes, wenig standardisiertes Verfahren der qualitativen Sozialforschung – eignete sich vor allem, da sie einen weitgefächerten Zugang zu den Tanzkulturen ermöglichte. Aus dieser Datensammlung wurden wiederum die Leitfäden für die Experten- und das Gruppeninterview entwickelt. Insgesamt lässt sich sagen, dass dieses Hintergrundwissen auch die Datenanalyse und Interpretationen dieser Forschungsarbeit maßgeblich beeinflusst hat. In diesem ethnografischen Rahmen sind auch die dieser Arbeit zugrundeliegenden Videos entstanden. 45 Ihr methodischer Zusammenhang entstand also zunächst in teilnehmenden und nicht-teilnehmenden Beobachtungen und war ein Teil von diesen. Aus diesem Grund wurde zeitlich sehr viel Videorohmaterial erfasst, welches nicht detailliert im Projekt analysiert werden konnte und von der Projektleiterin Gabriele Klein für diese Arbeit freigegeben wurde. Aus diesem Videomaterial wurde der dieser Arbeit zugrundeliegende Datenkorpus ausgewählt, systematisiert und analysiert (siehe die beiden folgenden Abschnitte zu Selektion und Analyse). Im Rahmen dieses ethnografischen Forschungsdesigns 45 Bei dem empirischen Material für diese Arbeit handelt es sich um Videomaterial, welches an zentralen Veranstaltungsorten in der Tangokultur, während des Projektes in den Jahren 2004 bis 2007 vor allem in Berlin und Hamburg gefilmt wurde. Die Videos wurden im Rahmen der ethnographischen Untersuchungen der Tanzkulturen gefilmt, welche die Ausrichtung hatte möglichst viel von den Tanzkulturen zu erfassen und auch filmisch festzuhalten.
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des Projektes wurde auch die Forschungsfrage dieser Arbeit entwickelt und später mit Videographien weiter ausgearbeitet. Die Vorkenntnisse der Tanzkultur Tango Argentino sind von diesen empirischen Untersuchungen und Ergebnissen des Projektes durchdrungen und eine objektivdistanzierte Position lässt sich wahrlich nicht mehr einnehmen. Im Rahmen des Projektes nahm ich an fast allen ethnografischen Erhebungen teil und habe die, dieser Arbeit zugrundeliegenden Videos alle selbst gefilmt. Ich verorte mich mit meiner persönlichen und auch wissenschaftlichen Überzeugung an den Grundlagen der Ethnographie, welche mich auch selbst als Soziologin betreffen. Nach diesen Paradigmen gibt es keine objektiv-distanzierte Position, nur die Möglichkeit einer künstlich hergestellten Distanz oder besser ‚Befremdung‘ (Amann/Hirschauer 1997) des Untersuchungsgegenstandes. Aus dieser Perspektive stellt sich Ethnographie als eine „Heuristik des Unbekannten“ (Amann/Hirschauer 1997: 9) dar. Die Arbeitsweise der Befremdung wurde dabei wesentlich für den Analyseprozess der Videodaten selbst eingesetzt: „Das weitestgehend Vertraute wird dann betrachtet als sei es fremd, es wird nicht nachvollziehend verstanden, sondern methodisch ‚befremdet‘: es wird auf Distanz zum Beobachter gebracht.“ (Ebd.: 12) Bei der Auswahl der Szenen und der empirisch-methodischen Struktur wurde jedoch auf das Kontextwissen um die Tangokultur zurückgegriffen, welches maßgeblich aus dem DFG-Projekt hervorgegangen ist. Dieses ethnografisch entstandene Hintergrundwissen wirkt zusammen mit den Videoanalysen gegenseitig befruchtend, auch wenn Ethnographie immer auch „Fiktion“ (Geertz 1993) ist. Selektion: Rohmaterial, Datenkorpus und Transkription Die Auswahl der Video-Sequenzen, die transkribiert und analysiert wurden, sind strukturell durch das Feld der Tangokultur bestimmt. Aus diesem Grund richtet sich die Selektion am zeitlichen Ablauf der rituellen Struktur der Entstehung eines Tanzes aus. Die inhaltliche Setzung bei der Auswahl der Szenen wurde allerdings nicht nur von idealtypischen Szenen abhängig gemacht: besonders waren auch solche Szenen von Interesse, welche Abweichungen, Scheitern oder Misslingen der Praktiken im Tango aufzeigen. In diesen Abweichungen zeigt sich die Instabilität von Praktiken und deren potentielle Orientierung an dem, was diskursive Praktiken genannt werden können. Denn in der Abweichung offenbart sich, was einer Praktik nicht zugehörig ist und darüber wiederum, was in dieser Exklusion ein Teil der Praktik ist. Wesentlich für die Auswahl waren au-
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ßerdem pragmatische Notwendigkeiten wie die Sichtbarkeit 46, die Perspektive der Kamera 47 und der Ablauf der Szenerien. So konnten einige interessante Sequenzen nicht verwendet werden, da entweder ein Tanzpaar überdeckt wurde oder schlicht und einfach ‚aus dem Bild tanzte‘. Die Bewegungsordnung des Tango mit seinen rotierenden Achsen und Richtungswechseln erschwerte diesen Prozess zusätzlich, da auch so im gefilmten Material Tanzpaare sich in eine andere Richtung drehten und nicht mehr in den Blick genommen werden konnten. Gleichzeitig musste die Selektion aber auch an der Qualität und Quantität des Rohmaterials ausgerichtet werden und an den darin verfügbaren, sichtbaren Szenen. Es handelt sich bei dem Rohmaterial um ethnographische Videos, die sich weitestgehend als „wissenschaftlich aufgezeichnete natürliche soziale Situationen“ (Knoblauch/Schnettler 2007: 590) beschreiben lassen, die zwar nicht die Wirklichkeit abbilden (Schindler 2011: 22), wohl aber als eine Repräsentation zu verstehen sind. Aus diesem Grund müssen allerdings auch noch folgende Einschränkungen gemacht werden: Da die Videos im DFG-Projekt bei Milongas gedreht wurden sind die Lichtverhältnisse oft eingeschränkt. Dieses Problem der Sichtbarkeit hängt mit den Lichtverhältnissen während einer Milonga zusammen, die wir im Projekt auch als „heimelnde Beleuchtung“ (Klein/Haller 2008a: 61) bezeichnet haben. Gleichzeitig ist die Sichtbarkeit von Details durch die Kameraperspektive beschränkt, die darin ausgerichtet war vom Rand der Tanzfläche aus zu filmen und die Tanzenden nicht in ihrem Tanz zu stören. Das vorhandene Material gibt also nur ausschnitthaft die Tanzkultur des Tango Argentino wieder. Aus pragmatischen Gründen im Bezug zur Fragestellung wurden darüber hinaus noch verschiedene Dimensionen ausgeblendet: räumliche Rahmungen wie Einrichtung, Beleuchtung, Setting; aber auch Bekleidung, Rituale, Symbole und auch Musik (vgl. zu diesen Themenkomplexen Klein/Haller 2008a). Die Ausrichtung der Fragestellung, die vor allem an den korporalen Abstimmungen im Tango interessiert ist, berücksichtigt daher folgende Ebenen bei der Selektion des Materials: Ritueller und zeitlicher Ablauf des Tanzes, Bewegungen der Tanzenden und zwischen den Tanzenden sowohl auf der Paarebene, als auch in der Gruppendynamik. Aufgrund der unüberschaubaren Menge des Datenmaterials stand an erster Stelle das Kriterium der Selektivität des aufgenommenen Materials, der Auswahl von bestimmten Videosequenzen für die Analyse. 46 Etwa die Frage ob möglichst viele Bewegungen beider Tanzenden gesehen werden, so dass sich überhaupt etwas über die Szenen aussagen lässt 47 Die Kamera hatte eine statische Position an der Seite der Tanzfläche und wurde auf die Tanzfläche ausgerichtet ohne einzelne Paare beim Tanzen zu verfolgen.
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Sequenzialität ist das grundsätzliche Prinzip der meisten qualitativen Videoanalyseverfahren in der Sozialwissenschaft (Knoblauch 2006). Die Sequenzialität des Materials liegt im Bezug zur Analyse von Videos vor allem daran, dass diese als „auswertungsextensiv“ (Knoblauch/Schnettler 2007: 591) gelten können. Diese bereits in der Analyse von Texten genutzte Vorgehensweise ermöglicht die Zergliederung des Materials in kleine zu untersuchende Einheiten. Dabei bedient sich dieses methodische Vorgehen daran, dass im Prinzip sowohl soziale Situationen, als auch Videos in ihrer zeitlichen Einteilung aus sequentiellen Einheiten bestehen. Die Selektion von Sequenzen kann an der zeitlichen Struktur der Szenerien, der Chronologie, dem Ablaufcharakter oder auch der technischen Manipulationsmöglichkeiten (wie slow motion, Standbild, Rücklauf, Wiederholung) ausgerichtet werden. Sequenzialität wird auf zwei Ebenen festgestellt: Erstens in der Sequenzialität des Mediums selbst – also der zeitlichen Aufeinanderfolge von Einstellungen in einem Video. Inkludiert sind dabei die Reflexion der Ausschnitthaftigkeit und der Produktionsbedingungen eines Videos – unabhängig davon ob die Videos vom ForscherInnen selbst oder anderen Personen gedreht und geschnitten wurden. Zweitens die Sequenzialität von sozialen Handlungen überhaupt. Wie Ullrich Oevermann hervorhebt – der Sozialwissenschaftler der in Deutschland die Methode der Sequenzanalyse für Texte entwickelt hat – ist ein Aufeinanderfolgen von Handlungen „für das menschliche Handeln konstitutiv“ (Oevermann 2004: 6). Diese beiden Ebenen der Sequenzialität sind ebenso fundamental und konstitutiv für die Video-Analyse und müssen mitbedacht werden. In Untersuchungen von Bewegungen bietet Sequenzialität sich an, da vor allem in Bewegungskulturen oder Sportarten meist (oder vermutet) eine Gleichzeitigkeit von Bewegungen stattfindet. Durch Videos und deren Bearbeitung in einem Videobearbeitungsprogramm ergibt sich beispielsweise die Möglichkeit einer Verlangsamung der empirischen, sonst kaum wahrnehmbaren Vorgänge. Auf diese Weise lassen sich mit der Videoanalyse auch Bewegungsabläufe im Detail untersuchen, etwa beim Beispiel Tango Argentino die Reihenfolge der Einnahme der Tanzhaltung, die nicht zwangsläufig den Tanzrollen von Führen und Folgen entspricht (siehe Kap. II. 1). Nach Knoblauch ist die „handhabbare Reproduzierbarkeit und Detailliertheit“ (Knoblauch 2004a: 131) von Videos, eine gute Möglichkeit Zusammenhänge in der Empirie zu erkennen, die sich nicht auf den ersten Blick erschließen. Funktionen von Videobearbeitungsprogrammen wie Zeitlupe, Aufhellung und Standbilder ermöglichen dabei kleinste Einheiten exemplarisch zu analysieren. In einer solchen Analyse steht aus sozialwissenschaftlicher Perspektive die Untersuchung von Handlung, bzw. Praktiken (siehe Kap. II) im Mittelpunkt und damit die genaue Beschreibung eines „wie“ von
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Handlung. Knoblauch spricht vom „intrinsischen Zusammenhang“ der Handlung selbst, welche „die aufgezeichneten Abläufe allein in ihrem systematischen Zusammenhang betrachtet“ (ebd.: 132) und den Kontext bei der Analyse zunächst außen vor lässt. In diesem Zusammenhang ist es zentral, dass das zu selektierende Material einer „Fokussierung im Analyseprozeß“ (Knoblauch/Schnettler 2007: 592) unterzogen wird. Am Beispiel des Tango Argentino zeigte sich vor allem das Einnehmen der Tanzhaltung zu Beginn des Tanzes, genauso wie die Auflösung zwischen den Musikstücken als ein konstitutives und rituelles Merkmal der Tanzkultur, da in dieser charakteristischen und für den Tango Argentino besonderen Tanzhaltung das Tanzpaar erst konstituiert wird. Dafür sprechen sowohl das Einnehmen unterschiedlicher Körperkontakte zwischen den Paaren in der Tanzhaltung und während der einzelnen Schrittfolgen als auch die Auflösung der Tanzhaltung in den kurzen Pausen zwischen den Musikstücken. Aus diesem Grund wurden für die Fragestellung nach einer korporalen Abstimmung im Paartanz Sequenzen für die Analyse ausgewählt, die den Anfangsmoment des Einnehmens der Tanzhaltung, die Generierung des Tanzpaares in den Schrittfolgen, sowie die Auflösung der Haltung zwischen und am Ende der Musikstücke zeigten. Die ausgewählten und dreifach verlangsamten Sequenzen 48 wurden in dem Datenauswertungsprogramm atlas-ti in den einzelnen Frames der Videos transkribiert und sequenzanalytisch codiert. Zur Fundierung der Ergebnisse aus den für diese Arbeit erarbeiteten Videoanalysen werden diesen außerdem Ergebnisse aus projektinternen Publikationen (Klein/Haller 2006a, b; 2008 a, b; 2009; Klein 2009a-c; Haller 2011, 2009a-c) aus Interview-, Bild- und Diskursanalysen zur Seite gestellt. Eine weitere Komplementierung durch empirisches Material erfährt die Arbeit durch ihrer Verweise zu anderen Autoren der Tangoforschung (vor allem Savigliano; Villa), welche, wie im Forschungsstand hervorgehoben, besonders gut die Diskurse der Tangokultur herausgearbeitet haben.
48 Die Sequenzen wurden vor der Bearbeitung in Atlas.ti durch ein Video-Bearbeitungsprogramm 3fach verlangsamt, so dass die kleinteilige Analyse in atlas.ti möglich wurde.
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Analyse: Videoanalyse und Videographie Die Autoren der visuellen Methodenforschung kommen aus unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Feldern und dementsprechend sind ihre Perspektiven auf Bild- und Videodaten unterschiedlich motiviert. Erste, in Deutschland seit den 1990er Jahren entwickelte Ansätze zur Analyse von Bild- und Videodaten in der Soziologie, wurden in den letzten Jahren weiterentwickelt. 49 Inzwischen erschien ein erster Sammelband zur Videoanalyse (Knoblauch/Schnettler/Raab/ Soeffner 2006) und auch erste Überblicksarbeiten (Raab 2008, Raab/Schnettler 2008), wenn auch „the development of adequate and convenient methods still remains in its initial phase“ (Raab/Schnettler 2008: 7). Innovativ auf diesem Gebiet war von Anfang an das sozialwissenschaftliche Internetportal Forum Qualitative Sozialforschung (FQS), bei welchem im September 2008 eine Sonderausgabe mit dem Titel Visual Methods. New Developments in the interpretative Analysis of Video and Photography (Knoblauch u. a. 2008) erschien und deren Aufsätze alle online erhältlich sind. 50 Zentral bei diesen soziologischen Arbeiten sind deren qualitative Ausrichtung und die interpretative Verfahrensweise. Die hier vorgestellten soziologischen Arbeiten zur Videoanalyse lassen sich als nicht standardisierte, qualitative Arbeiten charakterisieren, die einen hermeneutischen Zugang zum erhobenen Material wählen. Sie geben also ausschließlich einen Methodenstand der deutschsprachigen (und nur zum Teil der angelsächsischen) Soziologie wieder. An den Methodendiskussionen in der Soziologie ist auffallend, dass sich die häufigsten Auseinandersetzungen vor allem um die Reflexion der Methode und ihrer methodologischen Prämissen drehen. Die oftmals kleinteiligen, einzelnen methodische Schritte 51 hingegen werden häufig ausgelassen und sind bei den meisten Ansätzen nur zum Teil nachvollziehbar. Im Gegensatz dazu sind die Methoden der Analyse von Texten in der Soziologie sowohl in ihrer methodischen Reflexion, als auch in ihrer detaillierten Vorgehensweise besser aufgearbeitet. Für Bild- und Videoanalyseverfahren steht eine solch differenzierte Aus49 Diese Arbeiten bauen weitestgehend auf ältere etwa kunsthistorische, ikonographische Arbeiten (wie Panofsky 1975) und Arbeiten der angelsächsischen Konversationsanalyse und Workplacestudies aus den 1960/70er Jahren auf. 50 In dieser Sonderausgabe findet sich auch der differenziert ausgearbeitete Aufsatz von Bernt Schnettler und Jürgen Raab, in welchem sie die historischen Entwicklungen von visuellen Analysen nachzeichnen. 51 Wie etwa die Transkription visueller Daten, die im Zusammenhang der hermeneutischen Bildanalyse von Beginn an sehr gut veranschaulicht wurden (Bergmann/Luckmann/Soeffner 1993; Raab 2002)
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arbeitung und Diskussion noch aus, wenn auch erste Arbeiten einen Weg dahin aufweisen (Raab 2009; Knoblauch/Schnettler/Raab/Soeffner 2006; Knoblauch/ Schnettler 2007; Schindler 2011) und inzwischen „verschiedene Software“ (Knoblauch/Schnettler 2007: 593) für qualitative Datenanalysen zur Verfügung steht, die auch Transkriptionsverfahren extrem vereinfachen oder sogar überflüssig werden lassen (Hauptmann 2005). Erste zentrale Arbeiten in Deutschland zur Analyse von Bildern und später auch Videodaten sind der hermeneutischen Wissenssoziologie zuzuordnen: Bergmann, Luckmann und Soeffner haben bereits 1993 dazu detaillierte Studien vorgelegt. In Anschluss war es vor allem Hans-Georg Soeffner und Jürgen Raab, die dazu elaborierte Arbeiten geleistet haben (Soeffner/Raab 1998). Diese einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik zuzuordnenden Videoanalysen, schließen theoretisch bei Alfred Schütz und bei Berger und Luckmann an. Ihre inhaltliche Ausrichtung liegt darin, einen „subjektiven Handlungssinn der Akteure methodisch kontrolliert herauszuarbeiten“ (Raab 2002: 473). Das in dieser Arbeit eingenommene praxistheoretische Theorem, den Paartanz vielmehr als eine Praktik zu begreifen, schließt aber diesen subjektiven Sinnzusammenhang aus, da ein subjektiver Handlungssinn von Tanzenden nicht interessiert, bzw. hier nicht notwendig erfasst werden muss, um Tango als Paartanz und Praktik zu untersuchen. Ein weiterer Strang der Analyse von Video-Daten kann in erweiterten ethnographischen Arbeiten ausgemacht werden. Die Methode der Videographie, spezifiziert noch in der Form der Video-Interaktionsanalyse (VIA) wurde von Hubert Knoblauch erarbeitet, ausgehend von sogennanten Workplace Studies 52 in englischsprachigen Raum und in Anlehnung an Konversationsanalyse und Ethnographie. Knoblauch nennt seine Methode VIA (Video-Interaktions-Analyse). Den Begriff VIA entwickelte Knoblauch, da es trotz des zunehmenden Einsatzes
52 Bei den Workplace Studies handelt es sich um detaillierte Untersuchungen, die sich mit Arbeit, Technologie und Interaktion in komplexen Organisationen beschäftigen. Als Untersuchungsgegenstand steht bei den Vorläufern dieser Methode in den Arbeiten von Atkinson, Goodwin, Heath und Suchman seit den 1980er Jahren die Untersuchung von sozialen Interaktionen im Umgang mit Technologie im Vordergrund. Diese Studien entstanden aus den konvergierenden Interessen einerseits in den Bereichen Human-Computer Interaction (HCI), Artificial Intelligence (AI), Computer Supported Collaborative Work (CSCW), und, andererseits in der Konversationsanalyse, der Ethnographie und ähnlichen Richtungen in der Soziologie. Da die Workplace Studies hauptsächlich mit technischen Disziplinen zusammenarbeiten, sind sie in der Soziologie bislang noch wenig bekannt (Knoblauch/Heath 1999).
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von Videos in der empirischen Sozialforschung – „bislang an einer angemessenen Methodologie zum Umgang“ (Knoblauch 2004a: 125) mit Videodaten fehlt. Für Hubert Knoblauch ist die VIA eine Möglichkeit Video-Daten zu analysieren, die darüber hinaus in einen „umfassenden ethnographischen Erhebungsprozess eingebunden“ (ebd.: 124) sind. Die Video-Analyse ist also nach Knoblauch methodisch in das Feld einer „fokussierten Ethnographie“ (Knoblauch 2001) einzuordnen: sie ist eine Videographie. Insofern Beobachtung als ein methodischer Teil einer empirischen Untersuchung genutzt wird, müssen im methodischen Vorgehen auch die beiden Ebenen der Datenerhebung und der Datenauswertung kombiniert und reflektiert werden. Der Vorteil von Videodaten liegt in ihrer – wenn auch ausschnitthaften – Reproduzierbarkeit von Situationen, Handlungen und Bewegungen im Gegensatz zu Feldnotizen und Ethnographien, welche als solche nicht mehr die Handlungssituation reproduzieren können und in der Möglichkeit für „Detailanalysen“ (Schindler 2011: 120). Das Ziel der Videographie nach Knoblauch ist es, „den intrinsischen Zusammenhang der Interaktionen zu verstehen und diese Verstehen zu rekonstruieren“ (Knoblauch 2004a: 131). Knoblauch hebt dabei drei Kriterien eines intrinsischen Zusammenhangs hervor. Erstens zeigt sich ein intrinsischer Zusammenhang in der Methodizität: In der Interpretation geht es „nicht um das was, sondern auf das Wie von Handlungen“ (ebd.: 132) kommt es an. Zweitens sind Ordnungen ein Kriterium für intrinsische Zusammenhänge, welche die Handelnden erst in ihren Handlungen vollziehen, also „eine solche Geordnetheit [ist] in den aufgezeichneten Vorgängen zu finden“ (ebd.: 132). Eine Ordnung im Paartanz beruht demnach auf erlernten Praktiken, die reproduziert und neu kombiniert werden. Daraus wird deutlich, dass Handlungen aber nicht unabhängig von Kontexten stattfinden – Kontextabhängigkeit ist eine zentrale Kategorie nicht nur für das methodische Vorgehen, sondern auch als Kriterium von intrinsischen Zusammenhängen. Ein drittes Kriterium der Videographie liegt in einem Anspruch nach Reflexivität: in der Interaktionsforschung liegt der Fokus darauf, dass Handlungen immer auch darauf hinweisen, wie die Handlung verstanden werden soll. In den hier vollzogenen Videographien eröffnen sich damit neue Forschungsfelder, etwa die Erweiterung der Betrachtung von Bewegung als kommunikativer Praxis, die als „leibliche Dimension sozialen Handeln[s]“ (Meuser 2000: 20) verstanden werden kann und in aktuellen Diskussionen im Forschungsfeld einer Körper- und Bewegungssoziologie ihren theoretischen Anschluss findet.
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Spätestens hier wird deutlich, „dass es sich bei der VIA um ein hermeneutisches 53 Verfahren handelt“ (Knoblauch 2004a: 133), es also nicht nur um Beschreibungen von Verhalten geht. Ausschlaggebend ist vielmehr ein Wie von Handlungen, im Sinne der Wechselseitigkeit und der Kontextualisierung von Handlungen. Aus dem intrinsischen Zusammenhang einer Interaktion lassen sich nach Knoblauch die Ordnungen erschließen, die erst in den Handlungssituationen entstehen, was sich gut an der beweglichen Ordnung von Tango ablesen lässt. Erst im späteren Verlauf der Analyse wird der Kontext der Situation zur Interpretation hinzugenommen. Es ist das Ziel der Analyse diese beiden Ebenen aus dem empirischen Material zu erschließen. Dabei wurden in den ausgewählten Tangosequenzen (s.o.) kleinteilige Bewegungen der Arme, Hände, Finger, des Kopfes und des Rumpfes beschrieben und mit Hilfe des qualitativen Datenanalyseprogrammes atlas.ti transkribiert. Die sequenzierten, transkribierten und codierten Frames der Videos wurden in atlas.ti ähnlich einer in der Filmwissenschaft üblichen Frame-by-Frame Analyse in Form von Storyboards (Moritz 2011: 76) analysiert. Das methodische Problem in der Transkription liegt in der notwendigen Rückübersetzung von Bewegungen in Sprache und damit letztendlich auch immer in einen diskursiven Kontext. Die daran anschließende Codierung der einzelnen Sequenzen erschwert diese methodische Problematik insofern, als Codierungen von Bewegungssequenzen immer auch eine Verortung in Diskursen sind, da Sprache immer eine diskursive Verortung ist. So ist es von erheblicher Differenz ob eine Bewegungssequenz codiert wird als körperliche Nähe, Intimität, Verschmelzung oder etwa als Auflösung von Körperdistanzen. Im Anschluss wurden aus diesen transkribierten Bewegungsdetails und Codierungen wiederum detaillierte ethnographische Berichte verfasst. Diese ethnographischen Berichte, die auf den Transkriptionen in atlas.ti beruhen, lassen sich als „kleinteilige Darstellung der sozialen Prozesse“ (Schindler 2011: 23) verstehen, die aufgrund der Schnelligkeit ihres Geschehens in der empirischen Praxis so nie möglich gewesen wären. Um zu den zentralen Analyseergebnissen zu kommen wurden die ethnographischen Berichte wiederum mit dem Kontextwissen der Tanzkultur zusammengeführt. Diese methodischen Einzelschritte werden in der Darstellung der Arbeit in der Dreiteilung der empirischen Einleitungsteile der Kapitel I.-III., als deskriptive, diskursive und analytische Annäherungen repräsentiert. 53 Hermeneutik ist ein wissenschaftliches Verfahren der Auslegung, Deutung und Interpretation von Texten, welches in der Soziologie in den letzten Jahrzehnten auf Interviews, Bilder oder auch Videos erweitert wurde.
I. Was ist Tango? Kommunikation, Handlung oder Praktik?
1. E MPIRISCHE H ERAUSFORDERUNGEN : „H ALTUNG E INNEHMEN “ Die Verwendung der alltagssprachlichen Metapher des Haltung Einnehmens soll hier zweierlei bedeuten: einmal das Einnehmen der körperlichen Tanz-Haltung im Paartanz mit der aber genauso das Einnehmen einer mentalen Haltung, im Sinn einer sozialen Positionierung einhergeht. Die sprachliche Metapher verweist so auf beide Ebenen der diskursiven, repräsentativen Verortung der Tanzenden und deren materiell, räumliche Körperlichkeit. Im Folgenden wird dieses zweifache Einnehmen einer Haltung anhand einer deskriptiven, diskursiven und analytischen Annäherung an ein grundsätzliches Bewegungsprinzip des TangoArgentino vollzogen: die Tanzhaltung – el Abrazo.
Abbildung 1: Film-still/Standbild DFG-Projekt
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1.1 Deskriptive Annäherungen: die Tanzhaltung In der gegenwärtigen Tangokultur lässt sich transkulturell eine körpernahe Tanzhaltung beobachten. Ein Bewegungsprinzip von Tango ist die enge und vor allem geschlossene Arm- oder Tanzhaltung, die symbolisch das Tanzpaar als Einheit präsentiert und als „grundlegendes Strukturmoment“ (Dreher/FigueroaDreher 2009: 47) von Tango gilt. 1 Unter einer geschlossenen Armhaltung wird das Prinzip verstanden, dass jeweils die rechte Hand der/des Folgenden mit der linken Hand der/des Führenden zusammenbleibt, während der linke Arm der/des Folgenden um den Nacken des Führenden, oder auf dessen Schulter/Oberarm und die rechte Hand der/des Führenden auf dem Rücken der/des Folgenden liegen bleibt. 2 Die geschlossene Armhaltung im Tango steht vollkommen im Gegensatz zu anderen Paartänzen und deren in offener, bzw. aufgelöster Haltung getanzten Figuren, wie z.B. Drehungen im Salsa. Dementgegen werden alle Figuren im Tango in der geschlossenen Umarmung getanzt. Tango ist gleichzeitig ein Figuren- und ein Paartanz (Elsner 2000): „The combination of the tight embrace and the figuras generated choreographie novelties such as sudden changes in the steps and in the direction of the dancing trajectory. Frequently, each partner performed a different step challenging the couple’s synchronization with the music. In addition, the sequence of marcha (walks) and figuras (figures) was left to improvisation and was adjusted by the dancing couple to the musical stimulus.“ (Savigliano 1995a: 161) 1
Die enge und geschlossene Armhaltung wird in aktuellen, anderen Tangostilen, wie etwa dem Tango Nuevo, auch wieder aufgebrochen um neue Formationen tanzen zu können. Diese Stilrichtungen stehen allerdings nicht im Zentrum dieser Arbeit, die sich auf das empirische Material des bereits im Abschnitt 3.1 der Einleitung erwähnten DFG-Projektes stützt.
2
In dieser Arbeit werden die Begriffe von führender und folgender Rolle für die Beschreibungen der Tanzrollen verwendet um dieses zentrale strukturelle Merkmal des Tango zu fassen. Das Alltagverständnis setzt, in seiner meist heteronormativen Perspektive auf Paartänze, die führende Rolle mit einem Mann und die folgenden Rolle mit eine Frau gleich. Nicht allein aus gendertheoretischen Bedenken wird diese Geschlechterzuweisung nicht weiter fortgeführt, sondern auch aus der Perspektive der Tangokultur, in welcher es durchaus üblich ist die Tanzrollen zwischen Geschlechtern zu wechseln. Darüber hinaus ist die Zuweisung ob eine Tanzrolle als führend oder folgend anzusehen ist auch im Tango Argentino schwer zu besetzen, da auch diese Struktur von Tanzenden unterlaufen wird.
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In der Tanzhaltung ändern sich zwar Nähe und Weite im Abstand der Tänzer zueinander, nicht aber die Armhaltung selbst. Es variieren aber die Positionen des Tanzpaares zueinander. So gibt es die direkte Gegenüberstellung der Tanzenden, die seitliche Position rechts oder links nebeneinander mit derselben Blickrichtung oder verschiedenen Blickrichtungen. „There is, in fact a great deal of variation within the Buenos Aires dance scene. For example, some of the most obvious differences, even at a glance, include whether the dancers dance with their heads facing the same direction or in opposite directions, and whether a woman places her left hand lightly on their partner’s right forearm or drapes her left arm over his right shoulder.“ (Tobin 1998: 95)
Daher wird die Haltung in der Tangoliteratur auch häufig als flexibel bezeichnet, da sich trotz der eingehaltenen Armhaltung die Körper unterschiedlich zueinander stellen können. Diese Tanzhaltung ist jedoch – im Sinne Erving Goffmans (Goffman 1980) – zeitlich gerahmt: die Umarmung wird zu Beginn der Musik eingenommen und am Ende der Musik wieder aufgelöst. In der Tangokultur – und hierbei gibt es keine Differenz zwischen einer heterosexuellen oder ‚QueerTangokultur’ – gilt die unausgesprochene Konvention, die Tanzhaltung ausschließlich beim Tanzen zu vollziehen. Die Innigkeit der Haltung als Umarmung ist gebunden an den Beginn und das Ende von Musikstücken, nach welchen die Tanzhaltung eingenommen oder aufgelöst wird. Die rituelle Rahmung durch die Musik bei einer Milonga 3 wird über die musikalische Konvention der Tanda erreicht. Bei einer Tanda werden drei bis zu fünf Musikstücke eines Tangostils (Tango de Salon, Vals, Milonga etc.) in Folge mit kurzen Pausen dazwischen gespielt. In diesen kurzen Pausen warten die Paare auf der Tanzfläche auf das nächste Lied und lösen die geschlossene Tanzhaltung auf. Dabei stehen sich die Tanzpaare weiter auf der Tanzfläche gegenüber und es wird ein Abstand von ca. einem halben Meter eingenommen (vgl. Hall 1966) 4. Es zeigt sich darin, dass die geschlossene Umarmung im Tango ausschließlich auf das gemeinsame Tanzen reduziert wird, also ein Teil des Tanzes ist (Westergård 2011: 66f.) 5. Die Umarmung im Tango ist auf die feldin3
Milonga ist der in der Tangokultur verwendete spanischsprachige und aus Buenos Aires übernommene Begriff für die abendlichen Tango-Tanzveranstaltungen. Alle Spezialbegriffe, Tangostile oder Tanzelemente der Tango-Kultur finden sich mit weiteren Erläuterungen am Ende dieser Arbeit im Glossar.
4 5
Mehr zur Thematik der Proxemik, also des körperlichen Abstandes in Kapitel III. Inzwischen sind diese Regeln nicht mal mehr ungeschriebene Gesetz, da in den letzten Jahren Bücher publiziert wurden, die diese Regeln und Codes der Tangokultur auffüh-
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ternen Regeln und Strukturen der Tanzkultur begrenzt und zeigt sich so ausschließlich als Haltung zum Tanzen – als Tanzhaltung. Die rituell gerahmte Umarmung ist ein erstes Beispiel dafür, wie scheinbar individuell körperliche Handlungen eine vorgegebene Struktur bzw. Ordnung (re-)produzieren als „Ort, an dem Strukturen und Handlungen aufeinander treffen“ (Gugutzer 2006b: 32). Zusätzlich gibt es zwischen den musikalischen Blöcken eine Pause – die Cortina – in der zum Teil vollkommen andere Musikrichtungen als Tango (zum Teil Musikstücke der Popkultur)abgespielt werden, um die TänzerInnen an ihre Plätze zu geleiten und zu sichern, dass in diesem Zeitraum der Cortina kein Tango getanzt wird. In dieser rituellen Rahmung lässt sich auch die Konvention verstehen, nach der es bei TangotänzerInnen üblich ist 6, dass Tanzpaare die drei Tänze einer Tanda – bzw. fünf, je nach Länge der Tanda – miteinander tanzen und nicht den Tanzpartner wechseln (Westergård 2011: 66f.). 7 Diese Konvention richtet sich am rituellen Rahmen der Tanda und der Cortina aus, wenn es auch in der in Deutschland gegenwärtigen Tangokultur nicht üblich ist, zwischen den Blöcken in der Cortina andere Musik aufzulegen, sondern gänzlich auf Musik verzichtet wird. Die letztendlich zwischen den Tanzpartnern eingehaltene Nähe oder Weite in der Tanzhaltung und die Ausführung der Schritte ist außerdem von den TanzStilen im Tango abhängig, welchen ihre je eigenen Haltungen und Schritte zugeschrieben werden. Bereits bei dieser Thematik der verschiedenen Tangostile ist es nicht anders möglich als die deskriptive Ebene zu verlassen und sich Diskursen von unterschiedlichen Tangostilen zuzuwenden. Die unterschiedlichen Redeweisen eines Tangostils beziehen sich auf unterschiedliche Wissensformationen um den Tanz und dessen Geschichte. So werden auf der diskursiven Ebene der Orillero-Stil und der „primitive Tango Cayengue“ (Plebs 2008b: 18) als ältere Tangostile gehandelt, in der die Tanzpaare besonders eng miteinander tanzen, so dass das Paar die Form eines umgedrehten V bildet, bei dem sich nur die Beine nicht berühren. Dann kommt in der körperlichen Nähe der Milonguero-Stil und darauf der Tango de Salon. Gänzlich abgekoppelt von dieser Historisierung von Tango-Stilen sind hingegen der Tango Nuevo 8 und der Neo Tango, dessen ren (Westergård 2011; Benzecry Sabá 2006/2007; Fischer 2007). So wurde das Buch von Bezecry Sabá ins Deutsche, Französische und Englische übersetzt. 6
Dies ist ein Ergebnis des DFG-Projektes (vgl. Kap. 3.1 des Einleitungsteils).
7
Diese Konvention spiegelt sich etwa auch in der Zeitschrift Tangodanza wieder, wenn dort im Jahr 2007 in einer Ausgabe die Konvention der drei Tänze als ein zentrales Element im Tango-Knigge aufgeführt wird (Fischer 2007b: 32f.).
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Dem Tango Nuevo als Tanzstil geht die musikalische Entwicklung des Tango Nuevo durch Astor Piazzola Mitte der 1950er Jahren voraus (Feldmann-Bürgers 1996: 55ff.).
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Bewegungsprinzipien – inklusive der weitaus offeneren und flexibleren Tanzhaltung – von anderen Tänzen – wie der Contact Improvisation oder Salsa – beeinflusst sind. In dieser Abgrenzung zu vermeintlich historischen Tango-Stilen formieren sich beide Stile als Tango Nuevo oder Neo Tango, die Tangoelemente weiterentwickeln möchten. In der sich gegenwärtig seit den 1980er Jahren ausdifferenzierenden globalen Tangokultur hat sich allerdings die Haltung des Tango de Salon maßgeblich durchgesetzt: die meisten Paare tanzen weltweit in enger Umarmung mit den Berührungen der Köpfe. Unter Tango de Salon versteht die Tangokultur weitestgehend die Art und Weise bei einer Milonga zu tanzen, die keine komplizierten Showeinlagen beinhaltet und sich auf die einfachen Schritte (Caminada) und Figuren konzentriert und die so, auch der Fülle einer Milonga entgegen kommt. 1.2 Diskursive Annäherungen – Bewegungsdiskurse: Tango de Salon Tango Argentino, so wie er gegenwärtig als Tango weltweit gelehrt und getanzt wird, ist ein zeitgenössisches Phänomen welches erst in der Betrachtung der Geschichte des Tango nachvollziehbar wird. Tango ist historisch gewachsen und nicht ohne seine komplexen Geschichten und transkulturellen Verwebungen verstehbar. Und so wird auch erst das zeitgenössische Phänomen verstehbar, dass er in den letzten 30 Jahren eine enorme globale Verbreitung erfahren hat. In den Tangokulturen weltweit haben sich verschiedene Tanzstile herausgebildet, die an verschiedene musikalische Stile gebunden sind, etwa Milonguero, Tango de Salon, Vals, oder auch Neotango. Diese Ausdifferenzierungen dienen vor allem auch der Profilbildung von Tangolehrern, die sich auf ihren Internetseiten als Kenner und Experten dieser Stile vermarkten und so auch weltweit auf Tango-Festivals vertreten sind. Darüber hinaus lässt sich anhand dieser Ausdifferenzierungen in Tangostile auch die Diskursbildung um eine Essentialisierung des wahren, echten Tango-Stils herauslesen. Letztendlich zeigt sich aus soziologischer Perspektive im Diskurs um Stildifferenzen eine deutliche Institutionalisierung und Kommidifizierung des Tango Argentino als globalisierter Ware. Die Tanzhaltung im Tango wird in Tangokultur häufig über den Begriff der Umarmung/El Abrazo diskutiert. Der Begriff der Tanzhaltung erscheint im Verhältnis zur Umarmung für die Tango-Kultur indes viel zu pragmatisch oder analytisch. So verzeichnet die deutsche Tango-Zeitschrift Tangodanza 9 nur zwei Ar-
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Zeitschrift die seit 1998 in Deutschland erscheint.
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tikel, in denen er überhaupt erwähnt wird, während der Begriff Umarmung mehr Verwendung findet. Dies ist insofern auch interessant, weil die Tanzhaltung, die heute in dieser Bewegungskultur global getanzt wird, vor allem auch eine zeitgenössische und historisch gewachsene Tanzhaltung ist. Exemplarisch sprechen dafür die Plakate von internationalen Tangofestivals, die alle mindestens ein Beispiel dieser engen Haltung in ihrer Bildersprache repräsentieren. 10 Die Berührungen der Köpfe und die enge Armhaltung sind heute überall auf der Welt zu beobachten, aber wie alte Fotografien des Tango zeigen, ist diese Tanzhaltung keineswegs immer so gewesen oder gar historisch verbürgt:
Abbildung 2: Tango 1908 (Savigliano 1995a :148)
Abbildung 3: Tango 1912 (www.buenosaires.com)
Wie Savigliano hervorhebt, tanzte die argentinische Oberschicht in den 1930er Jahren „in a ‚civilized‘ stylized fashion“ (Savigliano 1995a: 146) den Tango. Bei öffentlichen Veranstaltungen wurde der Tanzstil dahingehend überwacht, Raum zwischen den Körpern zu lassen: „Let there be light.“ (Ebd.) Und in einem englischen Tanzbuch von 1862 wurden die verschiedenen Haltungen sogar Klassen zugeteilt: eine Tanzhaltung mit körperlichem Abstand wurde als „high class“ (Abbildung 4, links), die der aneinander geschmiegten Köpfe als „low-class“ (Abbildung 4, rechts ) bezeichnet (ebd.: 101).
10 http://www.tangofestivals.net/sections/festivals/calendar_year.php
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Abbildung 4: Savigliano 1995a: 101
Wurde also noch Ende des 19. Jahrhundert mit körperlichem Abstand getanzt und eine zu enge Haltung als ‚unzivilisiert‘ angesehen, hat sich dagegen heute in der gegenwärtigen Körperkultur die enge und körpernahe Tanzhaltung durchgesetzt als scheinbar historisch ‚authentische‘ Umarmung. Über die Durchsetzung der engen Tanzhaltung mit der nahen Kopfhaltung als Salon-Tango ließen sich verschiedene Spekulationen anstellen, indem die Tanzhaltung in ein Verhältnis zur historischen Genese 11 des Tango Argentino in den letzten 30 Jahren gesetzt wird. Augenscheinlich ist jedoch vor allem, dass zwischen Tanzstilen unterschieden wird und dabei der sogenannte Salon-Tango der am häufigsten getanzte Stil ist, bei welchem wie oben beschrieben zwischen der geschlossenen und der offenen Haltung variiert werden kann. Ein nicht unerheblicher Grund könnte darin liegen, dass die heute praktizierte Tangokultur weltweit zwischen den 1980er und 1990er Jahren entstand und dies wesentlich im Zusammenhang mit der weltweit tourenden Tangoshow Tango Argentino steht, welche weltweit Tango-Booms auslöste und in ihrer Bildsprache die auch heute noch gängigen Tangoklischees (re)produzierte. Diese Bildersprache entwi11 Als ein zentraler Anlaufpunkt der Immigranten aus Argentinien erwies sich Anfang der 1980er Jahre Paris. Am 19.November 1981 eröffnete das Tangolokal Trottoirs des Buenos Aires, das sich als wichtiger Ort für viele südamerikanische Migranten in Paris herausstellte mit einem Konzert des Sexteto Mayor (Ossa zitiert im Künstlerhaus Bethanien 1982: 164). Und so hatte auch am 13. November 1983 die Tangoshow Tango Argentino ihre Premiere in Paris.
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ckelt sich bis heute über viele populärwissenschaftliche Publikationen (wie Bildbände 12), Tangoshows und einige Spielfilme 13 des Tango. 1.3 Analytische Annäherungen an das Einnehmen der Haltung 1. Ein Mann und eine Frau stehen sich – die Gesichter einander zugewandt – am Rand der Tanzfläche gegenüber. Wie selbstverständlich finden seine linke und ihre rechte Hand mit angewinkelten Armen zueinander. Sie bilden ein Dreieck mit den Händen nach außen, es deutet sich eine geschlossene Tanzhaltung an und nur die Umarmung auf ihrer linken und seiner rechten Seite fehlt. 2. Sie bewegt den linken angewinkelten Arm zu seiner rechten Schulter, woraufhin er in einem Bogen seinen rechten Arm auf ihren Rücken zubewegt. 3. Doch sie zögert in der Bewegung und hält inne: ihr linker Arm schwebt angewinkelt auf Schulterhöhe, ihr Kopf dreht deutlich nach links und ihr Blick schweift in die Ferne, zum Außerhalb der Tanzfläche. Nun hält auch er in der Bewegung inne, sein rechter Arm schwebt an ihrer linken Seite, seine Finger reiben aneinander. 4. Dann dreht sie ihren Kopf wieder zu ihm und macht eine kleine Bewegung mit dem linken Arm zu seiner Schulter hin und auch er scheint die Umarmung zu schließen. 5. Doch erneut zögert sie, dreht ihren Kopf nach links und hält inne, was auch er wieder mit Stillstand beantwortet. 6. Erst im anschließenden dritten Anlauf dreht sie vollständig ihren Kopf und wendet ihm ihr Gesicht zu. Sie legt ihren linken Arm um seinen Nacken. 7. Erst dann schließt auch er die Umarmung indem er seinen rechten Arm so um ihren Rücken legt, dass er sie fast umschließt. 8. Gleichzeitig lehnt sie ihren Kopf mit den Schläfen an seine Wangenknochen und in der nun erreichten Tanzhaltung wird der erste Tanzschritt gemacht. 14
12 Vgl. etwa exemplarisch: Azzi u.a. 1995; Künstlerhaus Bethanien 1982; Kraemer/Voß 1999; Sauter 2004; Aranibar/Siebert 2008; Allgaier 2009. 13 So transformiert etwa der Film Tango Lesson von Sally Potter die Tanzhaltung des Tango in das Gemälde ‚Jakobs Kampf mit dem Engel‘ von Eugene Delacroix und damit in die Methaphorik des Kampfes und der Versöhnung zwischen den Geschlechtern im Tanz. 14 Dies ist eine fokussierte Ethnographie, die aus der, an dieser Szene durchgeführten Videographie nach Knoblauch entstanden ist.
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Abbildung 5 Die körpernahe Umarmung in der Tanzhaltung im gegenwärtigen Tango muss so erst einmal von den Tanzenden eingenommen werden, die im Tangosalon oft nur für einige Tänze zusammenkommen. Die Position der/des Folgenden legt dabei den linken Arm umschließend um den Nacken der/des Führenden, so dass die Köpfe seitlich aneinander oder zumindest nah beieinander liegen. Je nach Körpergröße der Tanzenden liegen dabei die Schläfen, Schläfe und Wangenknochen oder auch die Wangen aneinander. Die körpernahe Umarmung lässt sich global 15 in der Bewegungskultur beobachten und ist unabhängig davon wie gut sich Tanzende persönlich kennen. Bei der Tanzhaltung im Tango kann auch von einem Bewegungscode der Tangokultur gesprochen werden. Dieser Bewegungscode der Umarmung folgt normativen Ansprüchen von Nähe und Distanz (vgl. Kap. IV) und daher erfolgt die Einnahme in kleinteiligen Bewegungen, welche im Rahmen einer detaillierten Videographie nachvollzogen werden können. In dieser Videographie 16, die aus transkribierten Frames entstand, zeigen sich die Bewegungen der beiden Tanzenden vor allem in einer Relation zueinander. Aufgrund der Rahmung der Milonga (räumlich-strukturelle Rahmung der Tanzfläche, Struktur der Tanda etc.) ist anzunehmen, dass das zu erreichende Ziel der Bewegungen das Einnehmen einer gemeinsamen körpernahen Tanzhaltung ist. Die einzelnen Bewegungen – die zu diesem Ziel der körpernahen Tanzhaltung führen – sollen heuristisch als korrelierende 17 Bewegungen beschrieben werden. Erstens entstehen sie in Relation zueinander, bzw. in einem Wechselverhältnis zwischen den Bewegungen der beiden Tanzenden. Zweitens werden die Bewegungen aufgrund einer zu erreichenden gemeinsamen Bewegungshal15 Mit Analysen von internationalen Tanzphotos (etwa von Tangofestivals) und Tanzvideos (etwa auf youtube) lässt sich dies anschaulich belegen. 16 Diese Szene ist gefilmt 25 Sekunden lang und wurde in der Videographie in einzelnen Frames transkribiert. Aus dieser Transkription konnten nachträglich ethnografische Beschreibung generiert werden um so das Gesehene in Sprache zu fassen. 17 Andere Begrifflichkeiten haben entgegen Korrelationen nur eine begrenzte Bedeutung: so hebt Relationalität etwa nur auf die Wechselseitigkeit ab, während Interdependenz die gegenseitige Abhängigkeit betont.
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tung ausgeführt. Die Bewegungen bekommen also ihren Sinn nur in der wechselseitigen Beziehung, sie bedingen sich gegenseitig. Das Einnehmen der Tanzhaltung, welches eigentlich nur die verselbstständigte Grund- bzw. Anfangsbedingung des Tanzes ist, wird in der zeitlichen Verlangsamung der Analyse zu einem Prozess des Innehaltens, des Hinauszögerns und schließlich erst des Zueinanderfindens in der Haltung, bzw. Umarmung. Während dieser detaillierten Bewegungen wird kein Wort zwischen den beiden Tanzenden gesprochen, sie finden vielmehr selbstverständlich – wenn auch zeitlich verzögert – in die körperlich nahe Tanzhaltung. Doch diese Sequenz zeigt auch, dass die korrelierenden Bewegungsabläufe erst durch einen kleinteiligen Findungsprozess der einzelnen Bewegungen zum abschließenden Bewegungscode der Tanzhaltung führen. Oder weniger verkompliziert ausgedrückt: die Notwendigkeit der Abstimmung von Bewegungen zweier Tänzer zueinander wird hier im Detail sichtbar. Remi Hess spricht in seiner elaborierten Untersuchung zum Walzer von einem „Abenteuer, denn man muss sich aufeinander abstimmen“ 18 (Hess 1996: 17). Abstimmungsprozesse in Bewegungen sind ein Charakteristikum von Paartänzen und für das Gelingen eines Paartanzes geradezu symptomatisch, weshalb er sich als Untersuchungsgegenstand für korporale Abstimmungsprozesse sehr gut eignet. Tango hebt sich aber nochmal von anderen Paartänzen darüber ab, dass er eine kontingente Bewegungsstruktur aufweist, die sich etwa darin zeigt, dass seine Grundschritte nicht einfach wiederholt werden, sondern beliebig zusammengesetzt werden können (vgl. Kap. II.). Zentral für die Analyse ist, dass sich in den beobachtbaren Bewegungen eine Intention der Tanzenden nicht herauslesen lässt – gerade diese sehr kurze Sequenz verdeutlicht dies. Es kommt vielmehr ein inkorporiertes und damit implizites Wissen um den Prozess der Haltungseinnahme zur Geltung. Inkorporiertes Wissen wird von den Tanzenden in der Bewegungssituation ohne notwendigen Bewusstseinsakt quasi abgerufen: Die geschlossene Armhaltung des Paartanzes wird in einem kleinteiligen Bewegungsprozess erst nach und nach vollzogen. Keiner der beiden Tanzenden, egal ob führend oder folgend, geht vor der Reaktion des Tanzpartners auf eine seiner kleinteiligen Bewegungen einen Schritt weiter. Da die beschriebene Situation des Einnehmens der Tanzhaltung zunächst scheitert, zeigt es sich, dass in der Tangokultur offensichtlich Regeln existieren, die das Zueinander finden in der Tanzhaltung regulieren. Dies hängt zunächst damit zusammen, dass die Tanzenden bei einer Milonga meist erst für einen Tanz zusammenfinden und sich ansonsten nicht weiter kennen – eine schnelle, körperliche Annäherung also aufgrund sozialer Normen nicht ohne weiteres an18 Er bezeichnet diesen Abstimmungsprozess als Ergebnis einer „Paar-Subjekt-Identität“ (Hess 1996: 17ff.), die er aber nicht weiter definiert.
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gemessen ist. Dies ist bei diesem Beispiel umso interessanter, weil die Einnahme der Tanzhaltung innerhalb einer Tanda stattfindet – das Paar also bereits miteinander getanzt hat. Es zeigt sich also an diesem Beispiel, dass die Aushandlung der Einnahme der Tanzhaltung bei jedem Tanz neu vollzogen werden muss. So ist die führende Rolle in der skizzierten Szene immer der folgenden Rolle mit seinem ganzen Körper zugewandt: dessen körperlichen Bewegungen signalisieren die Bereitschaft zur Einnahme der Tanzhaltung. In den Bewegungen der Folgenden hingegen dreht diese ihren Kopf vom Tanzpartner weg während sie gleichzeitig in der Bewegung innehält. Beide Bewegungsimpulse signalisieren die Unterbrechung der Einnahme der Tanzhaltung. Diese Unterbrechung der Folgenden zieht das Innehalten in der schließenden Bewegung des Führenden nach sich. Der Führende verharrt wartend in der Position immer mit dem ganzen Körper der Folgenden zugewandt. In dieser Zuwendung zeigt sich weiterhin die Bereitschaft die Tanzhaltung einzunehmen. Analysiert man Situationen der Einnahme der Tanzhaltung, in denen es keine Unterbrechung gibt (die in der Praxis viel häufiger vorkommen als die hier analysierte Unterbrechung) ist zu beobachten, dass die Körper einander zugewandt sind, inklusive der zueinander gewandten Köpfe, ohne Blickkontakt, die nah beieinander oder aneinander liegend formiert werden. Das Einnehmen der Tanzhaltung ist also eine korporale Selbstverständlichkeit der Tangokultur, die jedoch in allen kleinteiligen Bewegungen aufzeigt, dass die Körper einander zugewandt und damit auch von außen sichtbar in den Bewegungen aufeinander abgestimmt sind. Das Einnehmen der Tanzhaltung zeigt sich in dieser ersten Ebene als ein Bewegungsprinzip des Tango und als ein Ergebnis von Abstimmungsprozessen im Tango. Die geschlossene, körpernahe Tanzhaltung ist das Ziel dieser ersten gemeinsamen Bewegungen, die im Ideal der körpernahen Tanzhaltung und gleichzeitig in der diskursiven Struktur als einer Umarmung in der Tangokultur liegt. In der hier beschriebenen, abweichenden Szenerie wird dieser Abstimmungsprozess durch die Bewegungen der Folgenden unterbrochen: indem diese in Bewegungen innehält (innehalten der Arme zum Schließen der Umarmung) und gleichzeitig Bewegungen ausführt (Kopf zur Seite drehen), die den Abstimmungsprozess der Körper zueinander unterbrechen. Hier wird anschaulich was Pierre Bourdieu als „Verstehen mittels des eigenen Körpers“ (Bourdieu 1992: 205) bezeichnet hat: Der Folgende reagiert auf jede abweichende Bewegung zur gegenseitigen Abstimmung und hält selbst in der Bewegung inne: die Körper reagieren und agieren.
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In der exemplarischen Analyse lässt sich zeigen, dass die im Kontext einer Paartanzkultur dominierenden Tanzrollen von Führen und Folgen zumindest in der Haltungseinnahme keine primäre Rolle spielen und sogar aufgebrochen werden (siehe Kap. II. 1.2) In diesem Beispiel zeigt sich sehr gut ein ‚abgerufenes’ Körperwissen, im Sinne der von Gabriele Klein 19 entwickelten Weiterführung des Habitusbegriffes von Pierre Bourdieu als tänzerischer Habitus, in den sich Muster der jeweiligen Tanzkultur eingeschrieben haben. Die These dabei ist, dass die skizzierte Szene ein Beispiel dafür ist, dass im Paartanz nicht notwendig intentionale, sprich kognitive ‚Handlungsentscheidungen‘ gefällt werden. Körperliche Bewegungen auf diese Weise zu betrachten, setzt kein intentionales Handlungssubjekt voraus, sondern geht vielmehr von einem ‚Körperhandeln‘ (vgl. Kapitel II., 3.1) aus. Ein ‚Körperhandeln‘ im Einnehmen der Tanzhaltung stellt die Frage nach einem Verhältnis von Körpern und Kommunikation und macht es notwendig die Begriffe von Körpern, Kommunikation, Handlung, Interaktion oder Praktiken zu schärfen und zu erläutern. Die soziale Positionierung der Tänzer in der abschließenden Tanzhaltung (und dies ist auch am Ende der analysierten Sequenz erreicht) im Tango ist eine Bestätigung des symbolischen und diskursiven Bewegungscodes der Umarmung im Tango. Doch mit welchen analytischen Begrifflichkeiten lassen sich diese Prozesse nun am besten fassen?
19 Siehe vor allem die Monographien von Gabriele Klein 2004b; 2003.
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2. T ANGO AUS DER P ERSPEKTIVE T ANZWISSENSCHAFT
VON
S OZIOLOGIE
UND
Die Frage wie ein Geschehen als Soziales erkannt wird erreicht die Soziologie mit der Zuschreibung und Verwendung von soziologischen Termini, Begriffen, Kategorien oder gar Grundbegriffen 20. Diesen zunächst scheinbar neutralen soziologischen Termini liegt ihre Genese in der Geschichte der Soziologie zu Grunde, welche in vielfachen Auseinandersetzungen um Begriffe und Positionen mündete. Wie Max Weber pointiert formuliert: „Große begriffliche Konstruktionsversuche haben auf dem Gebiet unsere Wissenschaft ihren Wert regelmäßig darin gehabt, daß sie die Schranken der Bedeutung desjenigen Gesichtspunktes, der ihnen zugrunde lag, enthüllten.“ (Weber 1985: 207, zitiert nach Lichtblau 2006: 243) 21 Ob also ein soziales Geschehen als Kommunikation, Handlung, Interaktion oder Praktik beschrieben wird, verweist vor allem auf die Autoren und deren Positionierungen im Feld der Soziologie. Darüber hinaus zeigt sich in Theorien aber vor allem ein differentes Verständnis des Sozialen: als ‚rationale Handlungsentscheidung‘ oder ‚System‘, ‚interaktives Geschehen‘ oder ‚indoktrinierte Struktur‘, als ‚symbolische Repräsentation‘ oder ‚individueller Sinnzusammenhang‘. Die Wahl der unterschiedlichen soziologischen Termini von Kommunikation, über Handlung zu Interaktion und Praktiken setzt vollkommen unterschiedliche Schwerpunkte auf die beobachtete Szenerie. Je nach Verwendung der Begriffe werden unterschiedliche sozialwissenschaftliche Konzepte zur Anwendung gebracht, die gänzlich verschiedene Perspektiven auf das Soziale darstellen. Das beschriebene Geschehen der körperlichen Abstimmung im Paartanz ließe sich also sowohl mit Kommunikation, Handlung, Interaktion oder auch Praktiken erklären – allerdings mit vollständig unterschiedlichen Ergebnissen und Prämissen. Die Arbeit an Begriffen steht damit für deren Auslegung von empiri-
20 Max Weber verwendet Grundbegriffe und Kategorien als synonyme Ausdrücke (Lichtblau 2006: 245). 21 Weber selbst setzte sich bei der Entwicklung seiner Arbeiten mit anderen zeitgenössischen Ansätzen innerhalb der Kultur- und Sozialwissenschaften auseinander und „erfand“ auch keine neuen Begriffe, sondern „ging aus von dem Begriffsvorrat seiner Zeit“ (Lichtblau 2006: 251f.) und stellte 1919 den Begriff der „Verständlichkeit“ in den Mittelpunkt der Überarbeitungen an den soziologischen Grundbegriffen“ (Lichtblau 2006: 253).
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schen Phänomenen und hinterfragt letztendlich deren systematische Vorgehensweise: „Er [der Gebrauch von offenen Begriffen] ist, genauer gesagt, durchgängig ein Mittel, um daran zu erinnern, daß die Begriffe keine andere als eine systematische Definition haben und für die systematische empirische Anwendung gebildet wurden. Begriffe wie Habitus, Feld und Kapital lassen sich durchaus definieren, aber eben nur innerhalb des theoretischen Systems, das sie bilden, und niemals für sich allein.“ (Bourdieu/Wacquant 1997: 125)
Die im ersten Abschnitt dieses Kapitels beschriebenen korporalen Abstimmungen von Bewegungen im Paartanz fordern die Erklärungsnot der Soziologie heraus: Was passiert auf der Tanzfläche? Handeln zwei isolierte Tänzer unabhängig voneinander oder interagieren sie miteinander? Lässt sich das Geschehen als Kommunikation beschreiben oder sind es überindividuelle Praktiken, die hier den Vollzug des Geschehenen leiten? Der folgende Abschnitt nähert sich der Lösung des Problems – wie körperliche Abstimmungsprozesse im Tanz erklärt werden können – indem er Termini und ihre Konzepte diskutiert und gegeneinander abwägt: Kommunikation, Handlung, Interaktion und Praktiken. 22 Dabei entwickelt sich der Fokus aus der grundlegend körpersoziologischen Orientierung (vgl. 3. des Einleitungsteils) der vorliegenden Arbeit. Da jedoch der empirische Gegenstand der Arbeit ein Tanz ist, sollen gleichzeitig tanzwissenschaftliche und soziologische Ansätze herangezogen werden. In einem ersten Schritt wird eine Lösung der Findung einer geeigneten Begrifflichkeit zur Analyse der skizzierten Problemstellung gefunden, indem das tanzwissenschaftliche Paradigma der Kommunikation in einer Auseinandersetzung mit dem Kommunikationsbegriff hinterfragt wird. Daran anschließend werden die problematischen Prämissen der soziologischen Grundbegriffe von Handlung und Interaktion diskutiert, um schließlich zu zeigen, in welcher Weise der Begriff der Praktik für die Analyse von Tango eine Anwendung finden kann.
22 Diese vier soziologischen Kategorien sind jeweils in unterschiedlichen Forschungsrichtungen der Soziologie und in unterschiedlichen historischen Kontexten verortet, deren genaue historische Genese den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde und die an anderer Stelle zur Genüge erfolgt sind.
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2.1 Paradigma der Tanzwissenschaft: Tanz als Kommunikation Tanz, Kommunikation und Subjektivität bilden in der Entwicklung der modernen Tanzwissenschaft eine untrennbare Trinität. Diese Trinität beruht auf der Annahme, dass im Tanz Subjekte ihre Erfahrungen kommunizieren und sie ist nicht zufällig gleichzeitig ein Paradigma der Moderne und des modernen Tanzes. 23 Wie die vielzitierte Ikone des modernen Tanzes Martha Graham konstatiert: „The function of dance is communication […] to communicate experience.“ (Graham zit. nach Brown 1998: 50) Gleichwohl gehört diese Verbindung, wie Susan Leigh Foster herausgearbeitet hat, zum mythischen Tanzverständnis der Moderne: „All three 24 [the most influential theories of dance] locate the origins of dance in early human gestural attempts at communication.“ (Foster 1986: xvi) 25 Doch auch heute argumentieren Tanzwissenschaftler zum Teil noch kommunikations-theoretisch ohne jedoch den Begriff der Kommunikation näher zu bestimmen – etwa in Abgrenzung zur Kommunikationswissenschaft oder anderer wissenschaftlicher Ansätze (vgl. Berger 2006). 26 In der deutschsprachigen Tanzwissenschaft erschien 2003 der von Antje Klinge und Martina Leeker und der Gesellschaft für Tanzforschung herausgegebene Sammelband Tanz Kommunikation Praxis, welcher verschiedene Dimensionen von Kommunikation im Tanz diskutiert. Die Herausgeberinnen verstehen Tanz nicht als Kommunikation sondern vielmehr ausdifferenziert als kommunikative Praxis. Auf diese Weise ontologisieren sie Tanz nicht als Kommunikation, indem sie eine praxistheoretische Dimension nach dem performative turn 27 einnehmen. Allerdings heben sie 23 „This is the prime purpose of the modern dance; it is not interested in spectacle, but in the communication of emotional experiences […] and the so-called modern dance was born.“ (Martin 1946: 22f., zitiert nach Copeland/Cohen 1983). 24 Foster verweist damit auf die für die moderne tanzwissenschaftliche Theoriebildung zentralen Autoren wie der Philosophin Suzanne Langer, der Kritiker John Martin und der Ethnologe Curt Sachs. 25 So konstatiert auch Helen Thomas: „If the purpose of dance is communication, the modern dancers argued, then American dance should develop forms that would reflect and speak to the contemporary American experience.“ (Thomas 2001: 86) 26 „Schon der bedeutende amerikanische Tanzkritiker John Martin fasste das charakteristische ästhetische Moment des Modernen Tanzes in seiner Repräsentationsleistung des inneren Erlebens des Menschen auf.“ (Huschka 2000: 148) – wohlgemerkt im Jahr 1946. 27 Welcher wie sie selbst hervorheben sich „seit den 1990er Jahren in den Sozial-, Sprach- und Kommunikationswissenschaften sowie der Kultur- und Theaterwissen-
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doch den Sonderstatus von Tanz in seiner grundsätzlichen Unfassbarkeit 28 hervor und verstehen Tanz idealtypisch als „sich ständig transformierende Kommunikation“ (Klinge/Leeker 2003: 7). „Dies legt zumindest die in verschiedenen Epochen in je unterschiedlicher Ausprägung wiederkehrende Ansicht nahe, dass Tanz als Kunst der Bewegung und des Körperlichen jenseits einer Erfassung durch symbolische Repräsentation liege, also jenseits des Sprachlichen und Begrifflichen. Gemeint ist damit zum einen, dass im Tanz als einem flüchtigen und irreversiblen Ereignis ein Mehr an Erscheinungen und Bedeutungen liegt, das weder Tänzer noch Betrachter erfassen können. Zum anderen wird der Körper als ein Phänomen ins Spiel gebracht, das mehr ist als das, was Sprache erfassen kann. Der Körper liegt jenseits symbolischer und diskursiver Ordnungen.“ (Klinge/Leeker 2003: 3f., H.i.O.)
Tanz wird also nicht als eigene Sprache mit einem starren Symbolsystem verstanden, sondern zeigt sich als „Widerständigkeit des Tanzes gegen eine Vereinnahmung im Kontext eines bloßen Abbildungsverhältnisses zwischen symbolischen Repräsentationen und körperlichen Praxen.“ (Ebd.: 4) Dieses theoretische und auch methodische Paradigma der meisten tanzwissenschaftlichen Arbeiten gilt es aus soziologischer Perspektive zu entzaubern, oder zumindest in ihren grundsätzlichen Paradigmen zu hinterfragen. Denn wie Gabriele Klein am Beispiel der Tangokultur hervorhebt, „(re)aktualisiert Tango den in den 1980er Jahren mit der Tanzmoderne entstandenen Topos, dass Tanz eine universelle Sprache sei, eine Sprache, die überall verständlich sei, weil Tanz über die Körper kommuniziert werde und weil Körper, kulturelle Grenzen überschreitend, sich im Tanz miteinander, ohne Worte, verständigen könnten.“ (Klein 2009c: 23)
Dieser Topos des modernen Tanzes wird in der Tanzwissenschaft zwar seit den 1980er Jahren auch in Frage gestellt, hat jedoch in einzelnen Tanzkulturen – wie etwa der Tangokultur – noch immer Gültigkeit.
schaft vollzieht, wird Kultur nicht mehr als Konglomerat von Artefakten, sondern aus dem Vollzug von Handlungen, von Praxis gedacht, die die symbolischen Welten, die sie benutzen, in der Praxis zugleich konstituieren und transformieren.“ (Klinge/Leeker 2003: 4) 28 „Tanz kann demnach weder in theoretischen Analysen gänzlich erfasst noch umfassend als repräsentationslogisches Verfahren verstanden werden.“ (Klinge/Leeker 2003: 4)
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Dieses Paradox zwischen Theorie und Praxis hängt unter anderen damit zusammen, dass Tanzwissenschaftler nur selten Ihren Körperbegriff theoretisch definieren und so auch nicht definieren, was unter einer sich körperlich vollziehenden Kommunikation zu verstehen wäre. Versteht man Tanz damit einerseits als Kommunikation und andererseits als eine sich gänzlich der Repräsentation entziehende Kategorie, eröffnet sich eine erkenntnistheoretische Problematik: Auf welche Weise ist Tanz dann noch Kommunikation? Tanz unter der Prämisse der Kommunikation zu untersuchen wirft damit die Fragen auf, die bereits in der Kommunikationswissenschaft um den Begriff der Kommunikation kreisen und die dort intensiv ausgearbeitet sind. Denn auch dort 29 gibt es keinen Konsens über eine Definition von Kommunikation. In der Kommunikationswissenschaft gibt es eine Ausdifferenzierung darüber, dass Kommunikation nicht zwangsläufig ein Bewusstseinsakt, also intentional sein muss. Gleichzeitig wird dabei hervorgehoben, dass es für empirische Untersuchungen nicht von Relevanz ist, ob Intentionen kommuniziert werden. 30 Diese Perspektive erweitert und öffnet den Kommunikationsbegriff auch für nonverbale Kommunikation, wie Krämer hervorhebt: „die Intentionalität [...] dürfe nicht zum Bestimmungsgrund für Kommunikation werden, da ansonsten zahlreiche Phänomene des nonverbalen Verhaltens nicht unter den Begriff der Kommunikation gefasst werden könnten.“ 31 (Krämer 2001: 11) In den, vor allem von den USA ausgehenden, Forschungen zu „nonverbal communication“ spielen aber vor allem Untersuchungen zu Mimik und Gestik eine große Rolle, während Bewegungen – und dies betrifft maßgeblich den Tanz – als nonverbale und korporale Kommunikation selten untersucht werden. 32 Erst in den letzten Jahren hat sich die nonverbale Kommunikationsforschung stetig 29 Vgl. die kommunikationswissenschaftlichen Arbeiten von Manusov/Patterson 2006; Burkart 2002; Fiske 2006; oder die Einleitung und die einführenden Kapitel in: Krämer 2001, S. 1-41. 30 So etwa bei dem zentralen Autor der Kommunikationswissenschaft Paul Watzlawik, dessen Kommunikationstheorie auf beobachtbaren Verhalten beruht. Kommunikation ist aus dieser Perspektive also immer von außen beobachtbar. Das Verständnis eines solch weiten Kommunikationsbegriffes, welcher Verhalten, Handlung und Interaktion einschließt, läuft letztendlich auf Paul Watzlawicks vielzitiertes Axiom: „Man kann nicht nicht kommunizieren“ (Watzlawik/Beavin/Jackson 1996: 53) hinaus. 31 Krämer plädiert aus diesem Grund in ihrer kommunikationswissenschaftlichen Untersuchung über nonverbale Kommunikation auch für eine Perspektive, die nicht zwischen Kommunikation, Interaktion und Verhalten unterscheidet. 32 Vgl. für einem Überblick über die aktuelle nonverbale Kommunikationsforschung: Manusov/Patterson 2006.
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weiterentwickelt und so wurde auch hier der Körper vermehrt in den Mittelpunkt von Forschungen gestellt. 33 Dabei zeigt sich nonverbale Kommunikationswissenschaft vor allem als interdisziplinäre Forschungsrichtung an den Grenzen zu Etologie, Biologie, Anthropologie, Linguistik, Kommunikationswissenschaft und Soziologie. Zentrale Überblicksarbeiten dokumentieren diese voranschreitende Entwicklung (Bührig/Sager 2005). Nonverbale Kommunikationswissenschaft teilt sich dabei in die Untersuchungsbereiche von Mimik, Gestik/Körperhaltung, Proxemik, Haptik und Olfaktorik. Diesen Forschungsbereichen sind in den letzten Jahren auch einige deutschsprachige soziologische Arbeiten zuzuordnen, deren Forschungen nonverbale kommunikationswissenschaftliche Fragestellungen in die Soziologie übertragen. 34 All diese, wenn auch wenigen Arbeiten verweisen auf die nonverbalen Dimensionen von Kommunikation und sie wären einzubeziehen bei einer Betrachtung des Paartanzes als Kommunikation. Demnach gäbe es eine kommunikative Funktion der Sinne im Tanz, genauso wie Haptik oder Olfaktorik etwas über die kommunikativen Dimensionen des Tanzes aussagen könnten. 35 Doch diese unterschiedlichen Dimensionen zu erfassen, ist nicht das Ziel der hier vorliegenden Arbeit, deren Forschungsfrage sich explizit daran ausrichtet nach den Modalitä-
33 Auch in der allgemeinen Kommunikationswissenschaft wurde der kommunikativen Bedeutsamkeit des Körper wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wie Jens Loenhoff 1997 in seinem Aufsatz The negation of the body – A problem of communication theory betont: „Among other deficits it has to be noted at this point that the body is suppressed in discussions of the problems of communication and even by large areas of philosophy altogether“ (Loenhoff 1997: 69). 34 So erschien bereits im Jahr 2001 von Jürgen Raab die erste soziologische Arbeit zur Olfaktorik unter dem wegweisenden Titel: Soziologie des Geruchs (Raab 2001a). Im gleichen Jahr erschien die von dem Kommunikationswissenschaftler Jens Loehnhoff verfasste Monographie Die kommunikative Funktion der Sinne. Theoretische Studien zum Verhältnis von Kommunikation, Wahrnehmung und Bewegung von 2001. Loehnhoff untersucht in einer grundlegenden kommunikationstheoretischen Auseinandersetzung das Verhältnis der Sinne im Bezug zu Wahrnehmung, Kommunikation und Interaktion. Eine weitere Arbeit, die der Sozialwissenschaft zuzurechnen ist und sich mit der Haptik beschäftigt ist die 2008 erschienene Publikation Alltagsberührungen in Paarbeziehungen von Matthias Riedel. 35 Wenn diesen Arbeiten auch unterschiedliche soziologische Konzepte von Kommunikation vorausgehen, so haben sie doch gemein, dass sie Kommunikation ins Verhältnis setzen zu Untersuchungsbereichen der nonverbalen Kommunikationsforschung wie Haptik, Olfaktorik oder der Funktion der Sinne.
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ten für Abstimmungen im Paartanz auf der Ebene von beobachtbaren, strukturellen Merkmalen zu suchen. Es sollte an dieser Stelle deutlich werden, dass diese, den tanzwissenschaftlichen und kommunikationswissenschaftlich ausgerichteten Arbeiten zugrundeliegenden Kommunikationsbegriffe für eine Beantwortung dieser Frage zum Teil zu spezifisch (Sinne, Olfaktorik, Haptik) und in weiten Teilen (Tanzwissenschaft) auch zu indifferent und wenig definiert sind. Außerdem, wie Helen Thomas im Bezug zu Julia Kristeva zeigt, ist eine Kritik am Tanz als nonverbaler Kommunikation verbunden mit der „Krise der Repräsentation“ Ende der 1980er Jahre (Thomas 2003: 27) 36. Diese Kritik legt zu Grunde, dass Kommunikation im Tanz nicht als ein geschlossenes, semiotisches Zeichensystem im Sinne von Sprache zu verstehen ist, sondern allenfalls als „signifying practice“ (ebd.). 37 Denn der Annahme des Tanzes als Kommunikation liegt eine „ideology of exchange“ (ebd.) zu Grunde, die – keineswegs neutral – eng mit westlichen Konzepten von Subjekt, Kommunkation und ‚Message‘ verbunden ist. Mit dieser Kritik an einer „ideology of exchange“ wird letztendlich der Attributionscharakter von Kommunikation problematisiert, welcher aufzeigt wie voraussetzungsreich ein Begriff von Kommunikation ist, der immer Ursache und Wirkung impliziert. Ein weiteres Moment kommt außerdem hinzu: Würde man im Bezug zum Paartanz Tango Argentino den Tanz als kommunikativen Akt verstehen, wäre die Frage welche Bewegungen als Kommunikation zum Tanz gehören und welche nicht? Denn gerade das zeitgenössische Beispiel der Einnahme der Tanzhaltung zeigt, dass bevor überhaupt der Tanz beginnt, bereits Bewegungen vollbracht werden um die Tanzhaltung zu vollziehen. 38 Es könnte also, im Rückgriff auf die Sinnhaftigkeit des Tanzes für die Tanzenden, die Gefahr einer Reduktion bestehen, die Bewegungen ausschließt, welche nicht als explizit tänzerische Be-
36 Thomas verweist an anderer Stelle darauf, dass die Krise der Repräsentation in Verbindung steht mit der Entwicklung verschiedener ‚ism‘: „Semiotics, Poststrukturalism, Postmodernism, postcolonialism, feminism“ (Thomas 2003: 147). 37 „She [Kristeva] argues that Birdwhistell‘s approach ist so bound up with positivistic assumptions concerning communication, the message and the human subject embedded in western thought that ultimately it can not free itself from the domination of language. It remains locked into an ideology of exhange.“ (Ebd.) 38 Wie es Helen Thomas in ihre Soziologie des Tanzes formuliert: „the issue of dance as primarly a mode of bodily communication points to the relation of dance movement to everyday movement and, hence, to body symbolism and representation as interdisziplinary features of the sociological analysis of dance.“ (Thomas 2001: 166)
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wegungen gelesen werden. Die daran anschließende und offene Frage wäre dann die der Differenzierungen von Bewegungen als Tanz oder Nicht-Tanz. In dem zu Beginn des Abschnitts gezeigten Beispiel lässt sich – wie bereits erläutert – von Bewegungen als Abstimmungsprozess sprechen, in dem Unterscheidungen von Kommunikation, Interaktion oder intentionalen Handeln für die Analyse zunächst keine Rolle spielen. Gleichzeitig eröffnet die Anfangsszenerie aber auch den Blick auf das was in der Forschung als nonverbale Kommunikation bezeichnet wird (vgl. Krämer 2001) und unter Aspekten von Mimik, Gestik, Proxemik, Haptik oder auch Olfaktorik untersucht wird. Und zunächst scheint es unumgänglich die beschriebene Situation unter dem Aspekt der Kommunikation zu betrachten: beide Tanzende eines Paartanzes müssen miteinander in Bewegungen kommunizieren, um eine gemeinsame Bewegung herzustellen. 39 Zentral bei der Annahme von Tanz als interaktiver Kommunikation ist allerdings, dass von zwei Subjekten ausgegangen wird, die miteinander in Kommunikation treten und damit letztendlich ihre Intentionen kommunizieren. Tanz als nonverbale Kommunikation begrenzt den Blick des Forschers aber auf die kommunikativen Akte. 40 Tanz als Kommunikation zu verstehen, beschränkt den Tanz darauf ein Ergebnis von Kommunikationswilligen zu sein und damit wesentlich auf die Innenwelten der Tanzenden, die mit dem Tanz etwas kommunizieren wollen. Letztendlich reduziert es Tanz auf intentionsgeleitete Tanzende, die sinnstiftend handeln und deren Sinn nur herausgearbeitet werden muss. Diese Problematik der Subjektkonzeption ist jedoch vielen Kommunikationsbegriffen inhärent. Dabei wird auch hier, ähnlich wie beim soziologischen Handlungsbegriff (vgl. das nächste Kapitel) von intentionsgeleiteten Subjekten ausgegangen, die sinnstiftenderweise in Kommunikation zueinander treten. Dies ist ein Grund, warum besonders in praxeologischen Diskussionen eine deutliche Distanzierung zu kommunikationswissenschaftlichen Perspektiven vollzogen wird und das Verhältnis 39 Interessanterweise positionieren sich einzelne Autoren der Sportsoziologie auch gegen ein generelles Paradigma von Kommunikation: „Der Sinn des Sports besteht darin, nicht auf den Sinn von Kommunikation zu bauen, sondern vielmehr die Intensitäten des Körpers, die Eigenheiten und Restriktionen der Natur und zivilisatorischer Materialitäten ins Spiel zu bringen, um diese für ein alternatives Erleben und Handeln sowie für eine außeralltägliche Selbstbeobachtung zu nutzen.“ (Bette 2010: 134) Gleichzeitig dient diese Distanzierung einer Unterscheidung von Sport und Bewegung, die allerdings in Auseinandersetzung mit verschiedenen Bewegungskulturen obsolet erscheint. 40 Der Großteil der Forschung zu nonverbaler Kommunikation kommt aus den USA und hat sich inzwischen soweit etabliert, dass 2006 von Manusov und Patterson ein Handbuch herausgegeben wurde (Manusov/Patterson 2006).
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von Praktiken und Kommunikation nur wenig analysiert ist. Und so lässt sich auch folgende Aussage zur Differenz von Kommunikation und Praktiken verstehen: „Denn Praktiken verknüpfen und verschränken, was die Kommunikation ontologisch differenziert.“ (Hirschauer 2004: 89) In einem solchen Sinne begrenzt also die Annahme, Tanz als Kommunikation zu verstehen, die Betrachterperspektive, indem der Blick auf die Innenwelten und Sinnhaftigkeiten der Tanzenden reduziert wird und der Attributionscharakter von Kommunikation kurzgeschlossen wird. Zurückgegriffen auf das empirische Ausgangsbeispiel würde das implizieren, dass die Komplikationen bei der Einnahme der Tanzhaltung und in jeder der kleinteiligen Bewegungen – die zudem noch in einem sehr kurzen Zeitraum passieren – ein Sinn von den Tanzenden zugeschrieben wird – ein etwas hochgegriffener Anspruch auf die Bewegungssituation: „Der Körper, so zeigt sich hier, hat eine eigenständige und mitunter der Ratio widerstrebende Praxis. Zum anderen unterstellt die Annahme einer willensgesteuerten körperlichen Handlung, dass körperliche Bewegungen immer gedanklich vorbereitet sind und von einem intentionalen Bewusstsein geleitet ausgeführt werden.“ (Klein 2004a: 138)
Da aber Tango hier unter der Perspektive seiner strukturellen Merkmale und kontingenten Bewegungsordnung untersucht werden soll, schließt gerade das die Tanzenden zunächst nicht mit ein. Mit der Verwendung des Kommunikationsbegriffes wird letztendlich ein mögliches Ergebnis der Analyse vorweggenommen: geht man davon aus, dass Tanzende miteinander kommunizieren, ist nur noch die Frage offen, was kommuniziert wird. Für die Frage, wie Abstimmungsprozesse im Tanz überhaupt möglich sind, greift der Fokus auf Kommunikation zu weit voraus, denn sie fragt zunächst nach den kategorialen Faktoren die zur Möglichkeit von Abstimmung und damit auch von Kommunikation führen. Denn wie schon das erste empirische Beispiel der Tanzhaltung gezeigt hat, ist Abstimmung nicht per se gegeben, sondern das Ergebnis einer komplexen Bewegungsabstimmung. Die Forschungsfrage setzt damit vor einer Frage nach Kommunikation an. Gleichzeitig werden in der Konzentration auf die Tanzenden die sozialen Komponenten der Kommunikation weitestgehend ausgeblendet. Der Kommunikationsbegriff verengt die Perspektive zu sehr auf die Tanzenden und hat theoretisch gesprochen, eine zu starke Subjektzentrierung. Das Verhältnis zwischen sozialen Bedingungen und Tanzenden wird so zu wenig thematisiert. Soziologisch ausgerichtete tanzwissenschaftliche ForscherInnen heben differenzierend hervor, dass Tanz nicht in einem semiotischen Sinne als Zeichenträ-
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ger zu verstehen ist, sondern vielmehr als eine „körpernahe, sinnenhafte Form der Kommunikation“ (Klein 2004a: 197) und „that dance is primarily a mode of reflexive bodily communication that generates meanings through its specific form“ (Thomas 2001: 26). Aus dieser Perspektive verschiebt sich die Fragestellung von der Setzung Tanz ist Kommunikation hin zu der Frage welche Art von Kommunikation Tanz ist. Kommunikation im Tanz wird dabei vorrangig als ästhetische Erfahrung gefasst und als körperlich-sinnliche Erfahrung – ästhetische Erfahrung verstanden im dreifachen Sinn von Ästhetik als Lehre des Schönen, der Kunst und vor allem der aisthetischen Erfahrung (vgl. Welsch 1993; Küpper/Menke 2003; Maase 2008) 41: „Ästhetische Erfahrung kann es dann von allem möglichen geben; sie wird beschreibbar als eine spezifische Form des Umgangs mit Objekten, Situationen, Personen überhaupt. Damit ändert sich der Sinn des Erfahrungsbegriffs: Ästhetische Erfahrung erscheint als eine Weise, sich in der Welt zu orientieren [...] als ein wesentlicher Gradmesser für das Gelingen einer Kultur“ (Küpper/Menke 2003: 11).
Die Analysen um ästhetische Erfahrungen 42, die seit den 1980er Jahren unter dem Schlagwort der Ästhetisierung der Lebenswelt zu fassen sind, lassen sich als zeitdiagnostische Perspektive verstehen (vgl. Honneth 1992: 522ff.). Unter einer Ästhetisierung der Lebenswelt wurde die für die Postmoderne charakteristische Verschiebung von normativen, moralischen Werten zu Gunsten ästhetischer Setzungen verstanden: Gerhard Schulzes Erlebnisgesellschaft ist das Paradebeispiel dieser gesamtgesellschaftlich konstatierten Veränderungen (Schulze 1992). Gleichzeitig wird mit der Begrifflichkeit der Erfahrung die subjektivsinnliche Wahrnehmung in den Fokus genommen, welche kulturwissenschaftliche Makrotheorien um den subjektiven Sinn und die Phänomenologie erweitert. Im Bezug zum Tanz lässt sich darin die Setzung verstehen Tanzkulturen per se als ästhetische Kulturen verstehen
41 Nach Welsch wird der Ausdruck ästhetisch, je nachdem ob es um das Sinnliche, das Schöne, das Design, die Natur, die Kunst, die Wahrnehmung, die Reflexion, die Empfindung oder die Erkenntnis geht abwechselnd mit sinnlich, lustvoll, künstlerisch, scheinhaft, fiktional, poetisch, virtuell, spielerisch, unverbindlich übersetzt (Welsch, 1993, S. 25). 42 „Der Plural ist wichtig, denn es geht um höchst unterschiedliche Erfahrungen.“ (Maase 2008: 33)
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„Wenn die einen Paartänze favorisieren, die anderen lieber Solo tanzen, die einen großräumige Bewegungen lieben, die anderen eher kleinräumig am Platz tanzen, dann sind diese Präferenzen nicht nur das Ergebnis tänzerischer Biographien oder der Spiegel des aktuellen Standes der Kulturgeschichte des Tanzes, sondern ebenso Repräsentationsformen des Sozialen, die habituell abgespeichert sind. Tanz ist immer auch Ausdruck einer gesellschaftlichen Ästhetik in einem bestimmten kulturellen Raum und in einer bestimmten historischen Zeit. Tanzformen erlauben von daher Rückschlüsse sowohl auf die habituellen Strukturen der Tanzenden als auch auf die ästhetische Verfasstheit des jeweiligen sozialen Feldes.“ (Klein 2004a: 236)
Die tanzwissenschaftliche Diskussion um körperliche Kommunikation im Tanz lässt sich in diese Diskussion einordnen, und zwar vor allem auch auf der Ebene einer rezeptionsästhetischen Perspektive, welche „nach der ästhetischen Erfahrung der sich Bewegenden mit dem eigenen Körper wie mit der Umwelt“ (Maase 2008: 33) fragt. Hierin wird deutlich, dass eine Tanzwissenschaft, die Tanz als körperlichsinnliche, also ästhetische Kommunikation versteht, ihren Fokus auf die Tanzenden legt. Tanz als körperliche Kommunikation legt den Schwerpunkt auf die Betrachtung des Tanzes als einen Bewegungsmodus des Körpers. Die Subjektzentrierung des Kommunikationsbegriffes wird damit zwar unterlaufen, aber zugleich auch die Prämissen eines traditionellen Kommunikationsbegriffes. Als kategoriale Begrifflichkeit zur Erklärung von sichtbaren, korporalen Abstimmungsprozessen im Tanz, wie etwa der Bildung der Tanzhaltung, zeigt sich der Kommunikationsbegriff letztendlich in seinem Attributionscharakter als zu voraussetzungsreich und subjektbelastet. 2.2 Die soziologische Perspektive: Tanz als Handlung Eine mögliche Alternative zum Kommunikationsbegriff und zur Analyse von Abstimmungsprozessen im Tango findet sich in Auseinandersetzungen um den soziologischen Handlungsbegriff. Diese in Körpersoziologie und Praxistheorie zu verortenden Arbeiten diskutieren den Handlungsbegriff der Soziologie umfassend und grundlegend (vgl. Alkemeyer 2006; Ebrecht/Hillebrandt 2002; Hirschauer 2004; Klein 2004a; Meuser 2002; Reckwitz 2003). Der wesentliche Aspekt ist – auch für diese Arbeit – die körperlich-materiellen Dimensionen von Handlungen, die in der Soziologie bis zu den Arbeiten von Norbert Elias, Pierre Bourdieu oder Michel Foucault ausgeblendet wurden (Gugutzer 2004). Die deutschsprachige Körpersoziologie sprach in ihren Anfangstexten von einer
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„Leibvergessenheit“ (Meuser 2002: 19) der Soziologie und weitete die Ausblendung einer körperlich-materiellen Dimension von Handlungen grundsätzlicher, auf die Ausblendung des Körpers in soziologischen Theorien aus. Diese Problematik des agierenden Körpers wird in der Körpersoziologie wesentlich in Auseinandersetzung mit dem klassischen soziologischen Handlungsbegriff diskutiert. Die Diskussionen drehen sich weitestgehend darum, ob der soziologische Handlungsbegriff ein geeignetes Instrumentarium darstellt, um Prozesse des Körpers, wie eben körperliche Bewegungen, Handlungen oder Verkörperungen zu fassen. Eine Abgrenzung vom Handlungsbegriff ist aber allein deshalb schon kompliziert, da er, so wie Max Weber ihn bereits 1921 definiert, als zentraler Grundbegriff der Soziologie gilt: „Soziologie […] soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will.“ (Weber 1976: 12) Erst im Laufe der Ausdifferenzierung verschiedener soziologischer Theorieströmungen wurde der Handlungsbegriff innerhalb der Soziologie modifiziert und im Begriff der Interaktion spezifiziert. Mit dieser Wendung in einen Interaktionsbegriff wurde die Blickrichtung auf die Wechselbeziehungen von Handlungen verschoben. Diese Betonung der Wechselwirkung von Handlungen erscheint zunächst für die Analyse von Paartänzen als geradezu idealtypisch. Einer der zentralen Autoren für die Untersuchungen von Interaktionen ist Erving Goffman, der als erster alltägliche Interaktionen in den Mittelpunkt seiner Forschungen stellte: „Jener Handlungsbereich, der durch Interaktion von Angesicht zu Angesicht erzeugt wird und durch kommunikative Normen organisiert ist […] ist bisher noch niemals in ausreichender Weise zu einem eigenständigen Untersuchungsgegenstand gemacht worden.“ (Goffman 1971: 9) Interaktionen sind aus dieser Perspektive eine spezifische Form der Handlung, in welcher sich Handelnde in ihrem Handeln auf Andere beziehen. 43 Zu den Grundsätzen von Interaktionstheorien gehört die Orientierung, dass Akteure grundsätzlich ihre eigenen Handlungen an ihrem Gegenüber – und mithin an dessen Verhalten, Erwartungen und Einstellungen – ausrichten. Bei Interaktionen geht man von wechselseitigen Handlungen aus, die sich aufeinander beziehen, aber immer nur eine Einschätzung des Gegenübers sind, welche auf vermutete Erwartungen und Meinungen reagiert. Die interaktionistische Rollentheorie verstärkt dieses im Modell der Rolle, welche übernommen wird und an welche Handlungserwartungen gekoppelt sind, von welchen wiederum auf die Intention der Handelnden geschlossen wird. Letztendlich erweitern und verlängern Auto43 Auch sprachwissenschaftlich wird Interaktion als „Wechselbeziehung, aufeinander bezogenes Handeln, Kommunikation zwischen Individuen und in Gruppen“ (Nortmeyer 2000: 78) definiert.
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ren der Interaktionstheorie nur das mentalistische Konzept des klassisch soziologischen Handlungsbegriffes, indem sie ein intentionales Handlungssubjekt um sein Gegenüber erweitern. Die Verwendung eines Begriffes von Interaktion ist nichts anderes als die soziologische Erklärung für das, was diese Theoretiker selbst zum Teil als Prozesse von Kommunikation verstehen. Es lässt sich also schließen, dass die Begriffe Interaktion und Kommunikation in interaktionistischen Soziologien synonym zu verstehen sind und somit auch an die bereits im letzten Kapitel problematisierten Diskussionen anschließen. Deutlich wird jedoch auch an der Modifizierung des Handlungsbegriffes im Interaktionsbegriff, dass der thematische Schwerpunkt bei beiden Kategorien in der Zurechenbarkeit von Sinn liegt. Auch diese Dimension geht auf den Handlungsbegriff von Max Weber zurück, für den Handeln: „welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ (Weber 1976:1) Handlung in Folge der Definition von Weber wird als Akt der Sinnstiftung intentionaler Subjekte (Weber 1922: 1f.) verstanden und Weber überträgt damit konsequent seinen methodologischen Individualismus auf den Handlungsbegriff. Handlungen sind bei Weber immer monologisch-intentionalistisch orientiert. Für Weber liegt der subjektiv gemeinte Sinn zwar in der „Subjektivität der Sinnträger“ (Endreß 2006: 25), was aber keineswegs als Reduktion auf das Subjekt als objektive Kategorie zu verstehen ist. 44 Der subjektive Sinn ist bei Weber stets ein objektiver Sinn erster Ordnung, d.h. für ihn spielen sowohl historische gewachsene als auch objektivierte und „interaktive Wirkensbeziehungen“ (Endreß 2006: 26) eine Rolle. Dies geht entgegen solch qualitativ ausgerichteten Forschungen, welche die Selbstdeutungen von Handelnden in den Mittelpunkt ihrer Forschung stellen. Denn Webers subjektiv-gemeinter Sinn ist ausgerichtet an dem was er Sinnzusammenhänge oder Einstellungen nennt und was in einem direkten Zusammenhang mit sozialen Ordnungen, Regeln und Normen steht: „Eine ‚Regel‘, so Weber, ist in dem Sinne „Ursache eines bestimmten Handelns“, als „die empirische Vorstellung des Handelnden, daß die Norm (gemeint ist in diesem Fall: die Regel, R.G.) für sein Verhalten ‚gelten solle‘, […] der Grund“ für das Verhalten ist.“ (Weber 1973: 330f., zitiert nach Greshoff 2006: 260)
Die Orientierung an Regeln gilt also auch für das was Weber subjektivgemeinter Sinn nennt – so subjektiv ist dieser Sinn also nicht. Der subjektiv44 Vgl. den Aufsatz von Martin Endreß, welcher gegen eine „subjektivistische Vereinseitigung des Programms verstehender Soziologie“ (Endreß 2006: 28) vorgehen möchte
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gemeinte Sinn ist nach Weber kein ontologisch auf das Subjekt zurückgehender Beweggrund als Subjekt jenseits gesellschaftlicher oder sozialer Strukturen – er ist vielmehr ein an Normen und Regeln orientierter Sinn. In aktuellen Auseinandersetzungen zu Weber (vgl. Lichtblau 2006) wird festgestellt, dass es in seiner „Reduktionsperspektive“ 45 (vgl. Greshoff 2006: 264) auf der Handlungsebene nicht um eine Definition dessen geht was unter Sozialem an sich zu verstehen ist, sondern vor allem um eine methodische Entscheidung um Soziales zu erklären und zu beschreiben. 46 Nicht das Individuum ist also nach Weber das „‚Letztelement‘ eines sozialen Gebildes“ (ebd.: 264), sondern an den Handlungen der Individuen lassen sich die „Maximen des Handelns“ (ebd.: 277) – die Regelhaftigkeiten, Normen 47 und damit die Ordnung des Sozialen ablesen. 48 Für Weber konstituieren diese „Maximen des Handelns“ (Weber 1973: 323) soziale Ordnungen und sind ein Bestandteil dieser Ordnungen. Er hebt hervor, dass Ordnung erst Gesellschaft möglich macht und durch Handlungen produziert und erhalten wird (Weber 1985: 448). Die Ordnungsbildung erfolgt, nach Weber, in einem vermittelten Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft, welches er von einer Dichotomie zwischen Individuum und Gesellschaft unterscheidet (vgl. Hahn 1995: 51). Soziale Ordnungen stellen also nicht zwangsläufig ein Herrschaftsinstrumentarium dar, sondern sind als „Handlungsoption konzeptualisiert“, wie Kornelia Hahn (ebd.: 52) in Bezug auf Weber her45 Mit der Reduktionsperspektive ist Webers Reduktion auf den methodologischen Individualismus gemeint. 46 „Folglich muß er, wenn sein Gegenstand ein soziales Gebilde ist, welches durch mehrere sozialen Handlungen gebildet wird, methodisch so vorgehen können, daß er diese Handlungen – und zwar, das ist wichtig, als „Glieder“ des Gebildes – nacheinander einzeln in den Blick nehmen kann, um zu einem Verständnis des Gesamtgeschehens zu gelangen.“ (Ebd.: 264) 47 „Normen im Sinne von generellen logischen, ethischen, ästhetischen („dogmatischen“) Imperativen, die ein Sollen ausdrücken“ (ebd.). 48 Dabei unterscheidet Weber legitime von einfachen Ordnungen: „Die Maximen dienen regelmäßig der Orientierung des Handelns und aus dieser Orientierung resultieren Regelmäßigkeiten des Handelns.“ (Ebd.: 278) Die Differenz zwischen einfachen und legitimen Ordnungen liegt am Grad der Gebundenheit des Akteure an diese Ordnungen und inwieweit sie „im Prinzip frei steht oder ob dies nicht der Fall ist und die Maximen … bewußt als „geltend sollend“ angenommen werden“ (ebd.: 279, Hervorhebung i.O.) Daran anhängig ist die „berechenbare Erwartbarkeit bestimmten Handelns“ (ebd.: 280), die von der Art der Ordnung (einfach oder legitim) in einem Abhängigkeitsverhältnis steht. Denn Stabilität einfacher Ordnungen ist labiler als die legitimer Ordnungen, wenn auch beide soziale Gebilde produzieren (vgl. ebd.: 280ff.).
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vorhebt. Hahn betont darüber hinaus zum Einen, dass soziale Ordnung „im gesellschaftlichen Prozess hergestellt“ wird, und zum Anderen, dass sie auf „einer dialektischen Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft“ (ebd.: 55) beruht. Ordnungen sind also immer ein Ergebnis der dialektischen Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft und daher immer kontingent. Die Existenz und Bildung einer kontingenten Ordnung wie im Tango Argentino kann auch durch den Verweis auf die Kontingenz von Handlungen unterstützt werden. So hebt der Sozialpsychologe Jürgen Straub hervor: „Handlungskontingenz ist ein universales Attribut des Handelns selbst.“ (Straub 2006: 62) In dieser Perspektive haben Handlungen eine eigene Temporalität (vgl. ebd.: 60); sie produzieren also auch temporale, bewegliche Ordnungen, wie das Beispiel von Tango Argentino demonstriert. Also auch die Bildung einer Bewegungsordnung beruht auf einer legitimierten und anerkannten Ordnung dieses Paartanzes. Ein Beispiel für diese legitimierte, anerkannte und inkorporierte Ordnung sind die folgende und die führende Rolle, die hauptsächlich einer heteronormativen Geschlechterordnung folgen, wie Paula Villa in ihren Publikationen zum Tango Argentino hervorgehoben hat (Villa 2003; 2006; 2010b; Kap. II/1.2). Gleichzeitig ist bei einer solchen Perspektive Vorsicht angebracht, denn sie enthält stets die Gefahr der sozialen Reproduktion von Diskursen, eine Unterwerfung des Subjektes unter diese Diskurse und damit notwendig auch die Ausblendung von sozialem Wandel. Die Auseinandersetzung mit dem subjektiven Sinn von Handlungen und der daran gebundenen Ordnungsbildung zeigt, dass die körperliche Dimension des Handelns in dieser klassischen Definition keine Rolle spielt. Der Körper als Agens des Sinns hat in diesem Konzeptionen keinen Raum und zu Recht konstatiert Gabriele Klein: „Die klassisch soziologische Handlungstheorie würde die Frage, ob der Körper handeln kann, eher verneinen.“ (Klein 2004a: 136) Es ist in den letzten Jahrzehnten besonders Arbeiten aus der Soziologie des Körpers zu verdanken, auf dieses Erbe der traditionellen Soziologie hingewiesen zu haben (Meuser 2002) und dieses Handlungskonzept kritisiert sowie dessen intentionales Handlungssubjekt in Frage gestellt zu haben. 49 Sie gründet auf einer kritischen Haltung gegenüber einer Soziologie, die den Körper und dessen Beteiligung an Handlungssituationen weitgehend ausgeblendet hat. Dabei ist der gemeinsame Schnittpunkt dieser Ansätze, wie Michael Meuser hervorhebt, die „leibliche Dimension sozialen Handelns“ (Meuser 2002: 20). So lässt sich auch die Forderung nach einer handlungstheoretisch fundierte Soziologie des Körpers verstehen, die Michael Meuser aufstellt: „Eine handlungstheoretisch fundierte 49 Mit Bezug auf Autoren wie Marcel Mauss, Norbert Elias, Erving Goffman, Pierre Bourdieu, Michel Foucault oder auch Maurice Merleau-Ponty.
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Soziologie des Körpers muss über die gängige, die weitaus meisten Handlungstheorien prägende individualistisch-teleologische Deutung sozialen Handelns hinausgehen.“ (Ebd.) Diese Kritik an einer individualistisch-teleologischen Deutung von Handlung betrifft die Vorstellung intentionaler, sinnproduzierender Subjekte und die Ausblendung der körperlich-materiellen Dimension von Handlungen. Und auch Tango Argentino als Tanz existiert wesentlich in einer körperlichen Dimension: der Bewegung. Es stellt sich also nun die Frage, auf welche Weise in Bewegungen Ordnungen produziert werden und als was Bewegungen zu verstehen sind? Die Soziologin Gabriele Klein hat in ihrem Grundsatzaufsatz Bewegung denken von 2004 diese Problematik im Zusammenhang mit dem Handlungsbegriff diskutiert: „Die soziologische Handlungstheorien wären also zu erweitern um die körperliche Dimension des Handelns.“ (Klein 2004a: 138) Obwohl eine zentrale körperliche Dimension des Handelns Bewegungen 50 sind, wurde diesem Umstand in der Wissenschaft historisch nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde (Klein 2004a: 131; Thomas 2003: 78 51). Dies ändert sich aber besonders in den letzten Jahren, in denen vermehrt Arbeiten zum Verhältnis von Körpern und Bewegungen erschienen (vgl. Gugutzer 2002, Schmidt 2006; Schindler 2011). Eine Soziologie der Bewegung – wie Gabriele Klein sie fordert – steckt jedoch noch immer in den Kinderschuhen, wenn sich die theoretischen Eckpfeiler und Bezugstheorien auch schon ausmachen lassen: „Eine Soziologie der Bewegung ist eine Theorie der Praxis. Ihr Augenmerk liegt auf der praktischen Logik des Sozialen, die, so Bourdieu, „nur im Handeln erfasst werden kann, also in der zeitlichen Bewegung.“(Klein 2004a:151) Auch das Tanzen im Tango erfordert ein körperliches Wissen, oder besser formuliert im Anschluss an Pierre Bourdieu ein inkorporiertes Wissen, welches die Variationsmöglichkeiten von Schrittelementen, Figuren und diskursiven Wissen jenseits eines Bewusstseinsaktes quasi abruft. Für eine solche umfassende Konzeption von inkorporiertem Wissen in Bewegung, von Tango als Bewegung von Körpern ist jedoch der soziologische Handlungsbegriff mit seiner Subjektzentrierung, Körperlosigkeit und Intentionalität in der Betrachtung zu be50 Weitere körperliche Dimensionen des Handelns wären Emotionen und Empfindungen, deren Untersuchungen in den letzten Jahrzenten auch eine größere Rolle spielen. Vgl. dazu das von der DFG geförderte Excellenzcluster Language of emotion an der Freien Universität Berlin: www.languages-of-emotion.de. 51 „Although body movement appears to be fundamental to a great deal of human sociality, it is nevertheless the case that the study of movement has largely been neglected from the point of view of anthropological and general academic discourse.“ (Thomas 2003: 78)
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grenzt. Denn wie das empirische Beispiel zu Beginn zeigt, lässt sich damit nur ungenügend schon allein die Einnahme der Tanzhaltung erklären. Dem entgegen werden im Folgenden theoretische Konzepte von Praktiken vorgestellt und ihre Anschlussmöglichkeiten für eine Betrachtung von Tango aufgezeigt. 2.3 Paradigmenwechsel: Tango als Praktik Wenn Tango im Anschluss an die ausgearbeiteten Diskussionen nicht zwangsläufig als Kommunikation, Handlung oder Interaktion zu verstehen ist, bleibt zunächst, dass Tango Bewegungen von Körpern sind. In der Rückschau auf einen gemeinsamen Topos eines sinnstiftend Handelnden in Kommunikationsund Handlungstheorien erscheint der Tanz aber in einem anderen Licht. Der Tango wird zu einer sozialen Dimension von Bewegungen, die nicht an die sinnstiftenden Intentionen der Tanzenden gebunden sind. Der zentrale Topos praxistheoretischer Konzeptionen liegt in der Abkehr von mentalistischen Handlungserklärungen. Praxistheorien haben entgegen Handlungs-, Interaktions- und Kommunikationstheoretischen Ansätzen ein konträr laufendes Konzept von Akteuren. Der Begriff des Akteurs wird dabei von Autoren mit Bedacht und in Bezug zu Pierre Bourdieus Praxistheorie gewählt. 52 Der Akteursbegriff legt den Schwerpunkt auf ‚Handlungsfähigkeit‘ oder praxistheoretisch genauer formuliert: auf den Vollzug von Praktiken und den praktischen Sinn des agierens von Praktizierenden. Und dies ohne sich auf ein bewusstseinsphilosophisches Konzept von Subjektivität zu beziehen, wie es ein Begriff von Individualität impliziert (Schroer 2000). Praktiken sind nicht individuell oder individualistisch und vor allem nicht intentionsgeleitet: „Wenn die Handlung per definitionem eine Intention impliziert, enthält die Praktik von vornherein einen Komplex von Wissen und Dispositionen, in dem sich kulturelle Codes ausdrücken“ (Reckwitz 2006b: 38) Praxistheorien untersuchen also keine mentalen Intentionen von Akteuren, sondern decken vielmehr die sozialen Wissensordnungen auf, an welche Akteure ihre Handlungen, Kommunikationen oder eben auch Bewegungen ausrichten. 52 „Bourdieu spricht nach Möglichkeit nicht von Subjekt oder Individuen, sondern von Akteuren. „Das Konzept des Akteurs (französich ‚agent‘) zeigt klar die Anwesenheit des Sozialen in dem imtimsten Regungen.“ (Rehbein 2006: 95) Oder Bourdieu über seine Begriffwahl: „von einer theoretischen Intention leiten, die meiner eigenen nahesteht, nämlich der Intention, sich zugleich der Theorie des Subjekts zu entziehen, aber ohne den Akteur zu opfern, und der Philosophie der Struktur, aber ohne darauf zu verzichten, die Effekte zu berücksichtigen, die die Struktur auf und durch den Akteur ausübt“ (Bourdieu in Bourdieu/Wacquant 1996: 154).
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Der Begriff der Wissensordnungen ist bei Michel Foucault entlehnt und wird in Zusammenhang mit Bourdieus Begriff der Praktiken gesetzt: „Praktiken bezeichnen genau diese Doppelstruktur von Körperbewegungen [...] und inkorporierten impliziten Wissensordnungen, welche erstere kulturell regulieren, ohne ihnen gegenüber vorgängig zu sein.“ (Ebd.: 707) Der Begriff der Praktiken fasst diese sozialen Prozesse zusammen, als beobachtbare, soziale Weisen des Bewegens, Handelns, Kommunizierens etc. Somit sind Praktiken die Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis, zwischen Einzelnen und einem Ganzen, zwischen Struktur und Handlung. Ein Ziel von Praxistheorien ist somit auch nichts weniger als die Überwindung des Dualismus von Objektivismus und Subjektivismus, um zu zeigen, dass diese keine getrennten Entitäten sind. Praktiken sind also auf theoretischer Ebene das Bindeglied zwischen Wissensordnungen und Akteuren, bzw. Tanzenden. Im Jahr 2001 erschien die Anthologie mit dem programmatischen Titel The practice in contemporary theory herausgegeben von Theodore R. Schatzki, Karin Knorr-Cetina und Eike von Savigny. Autoren aus so unterschiedlichen Disziplinen wie Philosophie, Soziologie, Anthropologie und den Science studies stellten dort ihre Auseinandersetzungen mit der Praxistheorie und dem Begriff der Praktiken vor: „Thinkers once spoke of ‚structures‘, ‚systems‘, ‚meaning‘‚ ,life world‘, ,events‘ and ,actions‘ when naming the primary generic social thing. Today, many theorists would accord, ‚practices‘ a comparable honor.“ (Schatzki/Knorr-Cetina/Savigny 2001: 1) Seitdem ist der Begriff der Praktiken, als auch Praxistheorien aus den Kulturwissenschaften nicht mehr wegzudenken. Verschiedene Autoren (Schatzki/Knorr-Cetina/Savigny 2001; Reckwitz 2006a: 284; Hillebrandt 2009: 370f.) haben allerdings darauf verwiesen, dass die existierenden Praxistheorien 53 kein Theorieprogramm eint und dementsprechend auch kein klar abgrenzbarer Begriff von Praktiken. In diesem Kontext ist eine Kritik am ausgerufenen Practice Turn auch mehr als berechtigt (Bongaerts 2007). Dem entgegen hebt aber Andreas Reckwitz besonders die Abgrenzung der Praxistheorien zu verschiedenen anderen Sozialtheorien hervor und setzt deren Paradigmen, ohne dabei aus den Augen zu verlieren, dass es sich bei Praxistheorien keineswegs um ein abgeschlossenes Konzept handelt. „Für die Praxistheorie ist zum erklärenden Verstehen von Praktiken hingegen eine Rekonstruktion der Wissensordnungen notwendig, die als mental verankerte, von körperlichen 53 Zentrale Ausgangsautoren sind Pierre Bourdieu, Michel Foucault, Anthony Giddens, aber auch die Autoren der Cultural Studies oder der Science Studies wie Bruno Latour oder Karin Knorr-Cetina (vgl. Hillebrandt 2009: 370f.; Reckwitz 2006a: 284).
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Akteuren ‚inkorporierte‘ kulturelle Schemata beschrieben werden.“ (Reckwitz 2006a: 589)
Praktiken werden in ihrem Verhältnis zu Wissensordnungen explizit abgesetzt von Begriffen wie Handlung, Interaktion und Kommunikation. 54 Diese Unterscheidung dient einer soziologischen Reflexion auf beobachtbare soziale Geschehnisse. So ist aus Sicht von Praxistheorien nicht von vorneherein von einer Handlung, Interaktion oder Kommunikation auszugehen, sondern in diesen Zuweisungen zeigt sich vor allem die Position des Forschers. Zunächst sind es inkorporierte, feldimmanente Praktiken die Akteure anwenden und in welchen sich Wissensordnungen der jeweiligen sozialen Felder offenbaren. Eine soziologische Einordnung in Phänomene von Handlung, Interaktion oder Kommunikation etc. sollte also erst viel später einsetzen. Hierin zeigt sich eine Setzung darin, was als soziale Einheit zu verstehen ist: zunächst eben nur das was beobachtbar ist und nicht zwangsläufig mit individuellem Sinn aufgeladen ist: „Nach einer Handlung fragt man am besten die Akteure, weil eben ihre Sinnstiftung im Zentrum steht, Praktiken haben eine andere Empirizität: Sie sind in ihrer Situiertheit vollständig öffentlich und beobachtbar.“ (Hirschauer 2004: 73) 55 Autoren aus dem Umfeld der Körpersoziologie haben sich als solche gerade auch über die Kritik und die Grenzen eines soziologischen Handlungsbegriffes 56 formiert und für sich den Begriff der Praktiken favorisiert, schon allein um der Materialität von Körpern den notwendigen Stellenwert einzuräumen (Klein 2004a). Zentral bei praxistheoretischen Betrachtungen ist die Auslöschung der Relevanz des Individuums – der methodologische Individualismus wird in seine Schranken verwiesen, bzw. darauf hingewiesen, dass mit diesem der Körper eine jahrzehntelange Ausblendung erfahren hat. Der ‚practice turn‘ spielt aber auch in weiteren Forschungsfelder der Soziologie eine Rolle, die auch klassisch, sozio54 Einen umfassenden Überblick über Praxistheorien liefert Andreas Reckwitz in seinem Aufsatz Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken (Reckwitz 2003). Reckwitz betont die Differenz von Praktiken zu Prozessen von Kommunikation, Interaktion oder Handlungen. 55 „Eine Handlung muss in Gang gesetzt werden, sie verlangt nach einem Impuls und einem Sinnstiftungszentrum. Daher fragt man nach ihr mit Warum- und Wozu-Fragen.“ (Hirschauer 2004:73) 56 Wenn auch einzelne Autoren, wie etwa Michael Meuser weiterhin am Handlungsbegriff festhalten und eine „handlungstheoretisch fundierte Soziologie des Körpers“ fordern. Wie Meuser hervorhebt muss diese aber über, „die weitaus meisten Handlungstheorien prägende individualistisch-teleologische Deutung sozialen Handelns“ (Meuser 2002: 20) hinausgehen.
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logische Konzepte von Handlung und Interaktion hinterfragen. 57 Wie die Diskussion der letzten Abschnitte gezeigt hat, schließt diese Hinterfragung auch den Kommunikationsbegriff mit ein. Handeln, bzw. praxistheoretisch formuliert ‚praktizieren‘ hat aus dieser Perspektive immer eine körperliche bzw. leibliche 58 Dimension, was sich besonders auch an der Produktion einer beweglichen Ordnung im Tango Argentino zeigt. Wenn Tanzpaare zwischen Schrittelementen, Figuren und Tanzhaltungen scheinbar spielerisch variieren und die Gruppendynamik trotz der sich bewegenden Körper erhalten bleibt, dann zeigt sich am Körper „die soziale Ordnung, an deren Herstellung er beteiligt ist“ (Hahn/Meuser 2002: 8). Diese Herstellung der Ordnung ist wiederum gesichert durch die Bindung der Praktiken an Wissensordnungen. Im Falle des Tango Argentino verweist die Praktik der Tanzhaltung auf die zeitgenössisch global existierende und vermittelte normative Nähe der Tanzhaltung, die der tangoesken Wissensordnung der Einheit des Tanzpaares geschuldet ist. Körperliches Handeln – und damit auch der Tanz – sind nicht ‚individuell’, sondern haben sich als soziales Wissen in die Körper eingeschrieben und treten über den Körper erst als ‚quasi individuelle’ Handlungen in Erscheinung. Diese Dimension körperlicher Bewegungen wird in der Körpersoziologie unter der Ersetzung des Begriffes Handlung durch den Begriff der Praktiken verhandelt. Damit verortet sich die Körpersoziologie letztendlich mit ihren Prämissen zum Teil in dem was in den letzten Jahren als practice turn verhandelt wird. Die Ausgangsfrage nach Abstimmungsprozessen im Paartanz thematisiert also nur auf den ersten Blick Fragen der Kommunikation, denn aus einer praxistheoretischen Perspektive eines practice turn, impliziert die Annahme von Kommunikation bereits die Antwort als Kommunikation. Die praxistheoretische Perspektive dient einer Ausdifferenzierung dessen was als Soziales zu verstehen ist: danach gibt aus einer praxistheoretischen Sicht keine automatische Gleichstellung von Sozialität und Kommunikation, sondern erst in differenzierten Analysen kann definiert werden, was unter Sozialität zu fassen ist (Reckwitz 2006a: 282).
57 Zentral sind etwa die Auseinandersetzungen der Science Studies um Karin KnorrCetina oder Bruno Latour (vgl. Hillebrandt 2009, Hirschauer 2004). 58 Zur Unterscheidung zwischen Leib und Körper im Anschluss an Helmut Plessner und Merleau-Ponty sei hier beispielhaft auf Gugutzer (2002) und Meuser (2002) verwiesen.
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3. S YNERGIEN : T ANGO
ALS KORRELIERENDE
P RAKTIKEN
„Verwendet nie ein neues Wort, sofern es nicht drei Eigenschaften besitzt: Es muss notwendig, es muss verständlich und es muss wohlklingend sein.“ Voltaire
Die verschiedene Ansätze von Praxistheorien eint die Gemeinsamkeit das Praktiken erst durch das machen, das doing gender, doing culture, etc. entstehen – also „practice in the sense of do-ing“ (Schatzki 1996: 90) sind. Diese Anbindung an die Praxis nimmt auch eine Soziologie der Bewegung auf: „Eine Soziologie der Bewegung legt den Fokus auf die Handlungssituation. Damit verschiebt sie die Perspektive von der Intentionalität der Handlung als einen gedanklichen Vorgang zu der Materialität des Handelns als einen Bewegungsakt. […] Es geht ihr um die Performativität der Handlung, um den gelungenen Handlungsvollzug, um die Handlungssituation. Anders ausgedrückt: Um die Herstellung von Praxis in der und durch die Bewegung.“ (Klein 2004a: 138)
Was allerdings im Einzelnen unter Praktiken verstanden wird, ist in den verschiedenen Theorien äußerst heterogen. So lässt sich auch Barnes Kommentar zur praxistheoretischen Literatur verstehen: „For all its merits the relevant literature remains unsatisfactory, even in the most elementary respects. It fails to make clear just what social practices are.“ (Barnes 2001: 18) Auch die Definition von Praktiken ist am Erkenntnisinteresse der Autoren und deren Verortung innerhalb der Soziologie und Kulturwissenschaft ausgerichtet. Praktiken haben dabei jedoch bei den meisten Autoren 59 keine eigene Spezifität im Sinne von „Eigenschaften“, sie sind weder territorial, temporal, energetisch, geschweige denn emotional oder verbal. Häufig sind es Praktiken des „Computerbedienens, des Small Talk, des Lesens“ (Hörning/Reuter 2004: 13), des Alltags, der Geschlechterdifferenz (Hirschauer 2004) – in der englischsprachigen Wendung verbleibend: sie sind practices of something. Insofern ist eine am häufigsten zitierte Passage die zunächst weite Definition von Praktiken nach Schatzki: „practice as a temporally unfolding and dispered
59 Dem entgegen entwirft Julia Reuter in ihrem Aufsatz Doing Culture. Oder Kultur als translokale Praxis den Ansatz Kultur als translokale Praxis zu verstehen, welche nicht mehr ortsgebunden, wohl aber ortsbezogen sind (Reuter 2004).
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nexus of doings and sayings“ (Schatzki 1996: 89). Schatzki hingegen differenziert Praktiken auf zwei Ebenen. Eine erste Kategorie raumzeitlicher Praktiken sind „dispersed practices“ (Schatzki 1996: 91), welche verstreut in verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens eine Rolle spielen: „Examples of dispersed practices are the practices of describing, ordering, following rules, explaining, questioning, reporting, examining, and imagining.“ (Ebd.) Die zweite Kategorie sind hingegen „integrated practices“ (ebd.: 98), welche als komplexe Praktiken nur in bestimmten sozialen Feldern eine Rolle spielen: „Examples are farming practices, business practices, voting practices, teaching practices, celebration practices, cooking practices, recreational practices, industrial practices, religious practices, and banking practices.“ (Ebd.) Diese von Schatzki sehr weite Definition von Praktiken ist seinem Anliegen geschuldet, eine sozialphilosophisch fundierte Praxistheorie zu entwerfen. Und dieses eher makrostrukturelle Vorgehen schließt zunächst keine detaillierte, auf spezifisch empirische Bereiche anwendbare Differenz von Praktiken ein. Gleichzeitig beinhaltet eine solche Spezifizierung auf soziale Felder die Problemlage, mögliche Überschneidungen mit anderen Praktiken (etwa dispersed practices) nicht erkennen zu können. In der für den deutschsprachigen Raum zentralen praxistheoretischen Auseinandersetzung von Andreas Reckwitz (2006) werden Praktiken als romantisch, modernistisch, konsumtorisch, nach-bürgerlich, gegenkulturell, post-bürokratisch oder auch als Alltagspraktiken definiert. Diese weite und nicht näher ausdifferenzierte Definition beinhaltet die Problematik, dass Praktiken letztendlich produzieren, was sie sind – romantische Praktiken produzieren ein romantisches Subjekt, komsumtorische Praktiken ein entsprechendes komsumtorisches Subjekt etc. Dies hängt aber wesentlich mit dem Erkenntnisinteresse von Reckwitz zusammen, dessen kulturtheoretischer Anspruch einen metatheoretischen Entwurf von Subjektkulturen formuliert. Dementsprechend werden Praktiken nicht in ihrer Mikrodynamik beschrieben, sondern allenfalls grob skizziert, etwa als Meta-Praktik des „Sich-Verliebens“ (Reckwitz 2006b: 219) 60. Praktiken zeigen sich hier also wesentlich in ihrer Bindung an Wissensordnungen, den „symbolischen Ordnungen und Sinnstrukturen der Kultur“ (ebd.: 35): „Kulturelle Codes werden damit nicht in eine praxisenthobene Sphäre von Ideensystemen 60 „die romantische Praktik des Sich-Verliebens setzt die Identitifizierbarkeit von ‚Individualität‘ und die Sensibilisierung für die Besonderheit des Anderen voraus […] Das Begehren, das in das Sinnmuster romantische Liebe eingebaut ist, ist eines nach Komplementtierung, Identitifizierung, Anerkennung und Aufhebung der eigenen totalen Individualität ‚im Spiegel‘ der totalen Individualität eines anderen.“ (Reckwitz 2008a: 219)
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oder einer bloßen Semantik abgeschoben […] Die kulturellen Codes sind vielmehr in sozialen Praktiken enthalten und geben dieser ihre Form.“ (Ebd.: 36) Wie diese sich materialisierende Form von sozialen Praktiken jedoch aussieht und woran die Codes in Praktiken zu erkennen sind, haben Praxistheoretiker nur wenig beschrieben und mikroanalytisch ausgearbeitet. 61 Die theoretische Kraft von Praktiken liegt aber genau darin, Praktiken in ihrer detaillierten, materiellen Differenz auf der Mikroebene des Praktizierens genauestens zu beschreiben und so vor allem erst mal analytisch vorzugehen. Denn bereits und vor allem auch in sich materialisierenden und in Bewegung erscheinenden Praktiken lässt sich erkennen, womit wir es zu tun haben – detaillierte Beschreibungen untermauern die Bindung von Praktiken und Wissensordnungen, und zeigen gleichzeitig auch deren Kontingenz auf. Es erscheint also notwendig darauf zu beharren, dass es auch auf der Mikroebene der Praktiken einen großen Unterschied macht ob Tango oder Salsa getanzt wird: Die Praktiken der Bekleidung und Gestaltung des Körpers, die Gestaltung der Räume, die rituellen Praktiken der Tänze und vor allem die Praktiken des Tanzes, der Bewegungen – all dies im Detail macht erhebliche Differenzen und verweist vor allem auf unterschiedliche Sinnzusammenhänge und Wissensordnungen. Gleichzeitig ist darauf verwiesen, dass mit dieser mikroanalytischen Ebene der Praktiken deren Kopplung an Diskurse, bzw. diskursive Praktiken verbunden ist. Allerdings nicht als ein kausales Abhängigkeitsverhältnis der Praktiken von den Diskursen, sondern „vielmehr existieren aus sozialtheoretischer Perspektive die mentalen Phänomene allein dadurch, daß sie sich in den öffentlichen Handlungspraktiken ausdrücken; sie ‚bestehen‘ letztlich ‚in‘ den Praktiken.“ (Reckwitz 2006a: 593) Was dann allerdings eine diskursive Praktik ausmacht und in welcher Weise sie sich von anderen Praktiken unterscheidet, ist die Aufgabe mikroanalytischer Studien, wie auch der hier vorliegenden Arbeit. Der Vorteil in einer Spezifizierung unterschiedlichen Praktiken liegt in einer Differenzmarkierung: nicht jede Praktik führt zu allem: Praktiken sind spezifische Bewegungen, Haltungen, Gesten, Arten und Weisen von Bedienungen, aber auch Arten und Weisen des sinnlichen Wahrnehmens. Eine Praktik wird nicht umsonst von einigen Autoren als skillfull performance (Reckwitz 2004: 45) bezeichnet, ist also immer auch ein Können, ein gewußt wie: „Teilnehmer sozialer Praktiken erleben im Handlungsfluss, ob ihr Handeln passt oder nicht, indem die anderen Teilnehmer ihr Handeln ‚beantworten‘, Anschlusshandlungen
61 Vor allem in den letzten Jahren sind einige wenige Arbeiten erschienen die auch eine Mikroebene von Praktiken thematisieren: Schmidt 2006, Schindler 2011.
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ansetzen, also stillschweigend mitteilen, dass sie das Handeln für ‚korrekt‘ halten.“ (Hörning 2004: 23)
Abgesehen davon müssen Praktiken auch in ihrem Verhältnis zu Wissensordnungen und damit in ihrem Verhältnis zu Macht thematisiert werden – mindestens also in einer Frage der Definitionsmacht: warum ist es etwa die enge Tanzhaltung, die global zirkuliert? Das zu Beginn gezeigte Beispiel der Einnahme der Tanzhaltung, zeigt in welcher Weise kleinteilige Bewegungen eine Praktik der Tanzhaltung erst produzieren und in welcher Weise diese auch unterbrochen wird. Um diese Unterbrechung, also letztendlich die Kontingenz der Praktik Tanzhaltung zu erklären, ist es hilfreich Praktiken in ihrer Phänomenologie zu spezifizieren. Eine solche Ausdifferenzierung anhand der Phänomenologie von Praktiken lässt sich auch als Klassifikation von Praktiken im Sinne Pierre Bourdieus lesen (Bourdieu 1997: 280). Das Beispiel des Tango zeigt, dass die Praktiken des Tango rückbezüglich zu der Wissensordnung des Tango ausgeführt werden: am Beispiel der Einnahme der Tanzhaltung, ist es die normativ enge Tanzhaltung die erreicht werden soll, die global existiert und zirkuliert in Bildern, Medien und Praktiken – die Tanzhaltung lässt sich als diskursive Praktik beschreiben, denn ob sich die Tanzenden kennen oder nicht: die körpernahe Haltung scheint in der zeitgenössischen Tangokultur verpflichtend. Die Einnahme der Tanzhaltung im Tango ist – als sprachlicher Vorschlag einer heuristischen Spezifikation – eine korrelierende Praktik, denn nur diese garantiert, dass die Tanzhaltung scheinbar wie selbstverständlich eingenommen wird. Korrelierende Praktik soll hier eine Praktik heißen, welche in einer Wechselbeziehung steht zu anderen Praktiken und als Praktik allein keinen Sinn ergibt: die Praktiken erfordern sich wechselseitig und bedingen sich. Korrelierende Praktiken sind damit nicht zwangsläufig kommunikativ, dialogisch oder interaktiv, aber die heuristisch als korrelierend klassifizierten Praktiken bedingen sich gegenseitig. Es ist zentral darauf zu verweisen, dass die Eigenschaft korrelativ zu sein, bereits den Praktiken inhärent ist und nicht von den Tanzenden intentional eingegeben: „Es habe […] keinen Sinn, zu sagen, daß die Praktik ‚das Fenster öffnen‘ ‚verursacht‘ worden sei durch die Intention, das Fenster zu öffnen, oder durch jene Wissenselemente, über die der Akteur verfügen muß, um das Fenster öffnen zu können. Das Vorliegen aller dieser Sinnelemente ist bereits in der Beschreibung der fraglichen Körperbewegungen als
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sinnhafte Praktik ‚das Fenster öffnen‘ vorausgesetzt und logisch-begriffliche enthalten.“ (Reckwitz 2006a: 595)
Zur Veranschaulichung im Rückgriff auf das empirische Beispiel der Haltungseinnahme: ein zur Seite drehen des Kopfes ist ‚an sich‘ keine näher spezifizierte Praktik 62, aber im Kontext 63 der Einnahme der Tanzhaltung – zu der idealtypisch das einander Zuwenden der Köpfe gehört – wird sie zur Unterbrechung der korrelierenden Praktik der Haltungseinnahme im Tango, welche die Einnahme der Tanzhaltung verzögert, da sie diesen wechselseitigen Prozess unterbricht. Korrelierende Praktiken im Tango lassen sich somit als Bewegungsabläufe verstehen, welche bestimmte Bewegungen in- oder exkludieren. Darüber welche Bewegungen inkludiert sind, schließt ein Wissen darüber ein welche Bewegungen exkludiert sind. Die Einnahme der enge Tanzhaltung im Tango ist eine korrelierende Praktik, wenn beide Tanzenden die richtigen Bewegungen zu ihrer Vollendung ausführen, da sie die Grundbedingungen dieses Paartanzes ist. Die Tanzhaltung im Tango lässt sich damit auch als diskursive Praktik verstehen, denn sie bezieht sich auf die global verbreitete Form des Tango de Salon, die in Bildern und in Medien (Bücher, Internet, Videos, Zeitschriften) als Bilderdiskurs zirkuliert. Doch dieser Bilderdiskurs ist kein statischer, reiner Zeichendiskurs, sondern er ist an die Praxis gebunden „die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.“ (Foucault 1981: 74) Die zu Beginn des Abschnittes gezeigten kleinteiligen Bewegungen des Annäherns, Innehaltens und Herantastens veranschaulichen, dass ein korporales Wissen um die diskursive Praktik der eingenommenen Tanzhaltung nicht einfach eins zu eins umgesetzt wird. In der körpernahen Tanzhaltung als Normativ der Tangokultur setzt sich also nicht einfach ein Diskurse um und die Tanzenden sind nicht bloß die ‚Ausführenden‘ des Diskurses. Sondern diese Umsetzung der Praktik ‚Tanzhaltung‘ ist an Bewegungen gebunden, welche im Fall des Paartanzes Tango als korrelierend zu begreifen sind und welche im Fall einer Unterbrechung dieser inhärenten und erfordernden Wechselbeziehung der Bewegungen (das seitliche Wegdrehen des Kopfes entgegen dem Zuwenden der Köpfe) die
62 Denn das zur Seite drehen des Kopfes kann in den unterschiedlichsten Kontexten mannigfaltige Bedeutungen haben, etwa beim Überqueren der Straße oder beim zuwenden während eines Gespräches. 63 Der Kontext der Einnahme der Tanzhaltung schließt alle erforderlichen Rahmenbedingungen ein: es handelt sich um eine Milonga, die Tanzfläche ist ein deutlich abgegrenztes Territorium, es wird Tangomusik gespielt, die Tanzenden tragen Tangospezifische Kleidung etc.
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diskursive Praktik der Tanzhaltung nicht mehr selbstverständlich entstehen lassen. Doch was ist nun eigentlich mit dieser kleinteiligen Analyse ausgesagt? Auf der Mikroebene des Tanzens im Tango, auf der Ebene dessen was hier als korrelierende Praktiken bezeichnet wird – gibt es ein korporales Wissen um in- und exkludierte Bewegungen (vgl. Kap. II., 3.1) – welche Tango als Paartanz überhaupt erst in seiner diskursiven Struktur möglich machen und vor allem auch die Diskurse aktualisieren. Tango ist keine neutrale Praktik: alle kleinteiligen Bewegungen werden in wechselseitigen Bewegungen der Tänzer zueinander ausgeführt und bedingen sich gegenseitig. In diesem Prozess zeigen sich die strukturellen Merkmale des Tango als korrelierende Praktiken, welche klassifiziert und klassifiziert werden (Bourdieu 1997: 280) durch die Diskurse des global existierenden Tango als Tanz der Innigkeit, Leidenschaft, Erotik oder auch Verschmelzung (Haller 2009b). Eine Definition der Haltungseinnahme im Tango als korrelierende Praktiken macht eine Abgrenzung zu anderen Praktiken nötig, dies soll zunächst als Ausschlussprinzip verstanden werden: Tango ist nicht einfach eine Praktik, sondern seine Praxisform ist eine zeitlich und räumlich gerahmte Praktik. Tango ist nicht einfach Bewegung: die Bewegungsprinzipien (Tanzhaltung, Grundschritt, Gruppendynmik) sind als diskursive Praktiken an der Bildlichkeit und diskursiven Wissensordnung des Tango ausgerichtet. So verweist etwa das Beispiel der globalen Tanzhaltung in seiner körperlichen Nähe auf die Diskurse von Nähe, Verschmelzung und Leidenschaft. Gleichzeitig ist Tango eine korrelierende Praxis, in welcher die Bewegungen wechselseitig und in gegenseitiger Bedingtheit entstehen. Tango als korrelierende Praktik – im Gegensatz zu Kommunikation, Handlung oder Interaktion – zu analysieren hat den Vorteil, dass Tango auf der Praxisebene analysiert werden kann, ohne eine Intention der Tanzenden vorauszusetzen oder herausarbeiten zu wollen. Eine wie hier vorgeschlagene Phänomenologie von Praktiken zeigt die, den Praktiken inhärenten, Wissensordnungen auf: die Praktik der Haltungseinnahme ist eine korrelative Praktik, die sich auf die Wissensordnung der Tangokultur bezieht. Die einzelnen Bewegungsmuster leben von der Wechselseitigkeit der Bewegungen der Akteure: das Einnehmen der Tanzhaltung ist ein wechselseitiger Prozess. Gleichzeitig bedingen sich die Bewegungen gegenseitig, d.h. die einzelnen Bewegungen – Zuwenden der Köpfe, Zusammenführen der Hände, Auflegen der Hände an Schulter und Rücken, Umschließen der Oberkörper – bedingen sich insofern, dass sie im Prozess der Haltungseinnahme einzelne Elemente sind, die erst in Gänze zur korrelierenden Praktik der Tanzhaltung führen. Das Beispiel des zur Seite drehen des Kopfes der Folgenden, die den Prozess der korrelativen Praktik der Haltungseinnahme unterbricht, zeigt auf welche Bewe-
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gungen inkludiert und welche exkludiert sind: also auf welche Weise Praktiken klassifizieren und klassifiziert werden. Zugleich stellt sich damit aber auch die Frage nach dem Subjekt der Bewegung, bzw. danach wer eigentlich den Tango tanzt: sind es aus praxistheoretischer Sicht die Körper (vgl. Hirschauer 2004) oder agieren und praktizieren Subjekte oder nur Akteure? Diese Frage soll in Bezug auf den soziologischen Subjektbegriff aus einer körpersoziologischen Perspektive diskutiert werden. Korporale Abstimmungsprozesse im Paartanz, welche als körperliche Bewegungspraxis mithin als korrelierende Praktiken zu verstehen sind, stellen die Frage nach einer dafür relevanten Subjektkonzeption. Die Frage nach Abstimmungsprozessen aus einer praxistheoretischen Perspektive zu stellen macht es also unumgänglich nach dem Akteur der Praktik Tango zu fragen.
II. Wer tanzt? Tango und seine 1 Körper-Subjekte
Tango, verstanden als korrelierende Praktik, entsteht in der Ausführung dieses korporalen Wissens, welches in Abgrenzung zu anderen Konzepten nicht die Intention von Tanzenden in den Blick nimmt. Die im letzten Kapitel für korrelierende Praktiken herausgearbeiteten korporalen Prozesse der In- und Exklusion von Bewegungen – das klassifizieren und klassifiziert werden von Bewegungen – werfen die Frage auf, wie genau eine Differenz von In- und Exklusionen von Bewegungen vollzogen wird. Welche Bewegungen gehören dazu und welche nicht: welche Bewegungen sind also letztendlich ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ im Abstimmungsprozessen des Tangotanzens. Diese Frage sucht nach dem Agens (lat. das Tuende), Aktanten 2 (Latour 2001) 3 oder auch Partizipanden (Hirschauer 2004) der Szenerie der Entstehungsprozesse eines Tanzes. Es ist die Frage danach, wer eigentlich den Tango tanzt und wer Entscheidungen trifft. Im Folgenden wird diese Fragestellung zunächst in der Auseinandersetzung mit der Empirie näher herausgearbeitet. Im Anschluss an die Empirie wird die Frage wer Tango tanzt zu theoretischen Konzepten von Individuum, Subjekt, Körpern und zu dem was im letzten Kapital als korrelierende Praktiken bezeichnet wurde, ins Verhältnis gesetzt.
1
Es heißt hier „seine Körper“ da ich die Körper als Körper des Tango verstehe, als Körper der Bewegung Tango und nicht als Körper der Subjekte (vgl. Villa 2010a), denn erst die des Tango mächtigen Körper vermögen Tangosubjekte zu generieren.
2
In der Semiotik die sprachliche Wendung für den Teil eines Satzes, der aktiv handelt.
3
Die Actor-Network-Theory spricht nicht mehr von Handelnden, sondern nur noch von Aktanten, was sowohl Menschen, als auch Dinge einbezieht.
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1. E MPIRISCHE H ERAUSFORDERUNGEN : „S CHRITT FÜR S CHRITT “ „Schritt für Schritt“ heißt in der alltagsweltlichen Redensart, dass Schritte nacheinander und im zeitlichen Rahmen gemacht und gesetzt werden. Schritt für Schritt bedeutet hier einmal das Setzen der tatsächlichen Schritte im Tango und gleichzeitig, die sich darüber vollziehende sukzessive Herausbildung von Subjektivitäten im Tango. Im Folgenden wird hier das Vollführen von Schrittfolgen nachvollzogen anhand eines weiteren Bewegungsprinzips des Tango: der Schritte – der Caminada des Tango. 1.1 Deskriptive Annäherungen: der Grundschritt Zur Bildung der Bewegungsordnung des Tango ist das Prinzip des Grundschrittes die gemeinsam geteilte Minimalanforderung für die Tanzpaare. Fast alle Paartänze eint das Prinzip eines Grundschrittes, der spiegelbildlich von der führenden und folgenden Tanzrolle getanzt wird. Doch wie bereits erwähnt hebt sich auch hier der Tango von anderen Tänzen ab: die Grundschritte sind bei der führenden und der folgenden Rolle nicht immer gleich. Im Ablauf des Grundschrittes wird dieser nicht zwangsläufig wiederholt und auch die Tatsache, dass die Schritte spiegelbildlich versetzt sind, wird aufgebrochen. Dies steht im Gegensatz zu anderen Paartänzen, bei denen die Tanzenden zwischen den Figuren immer wieder zum spiegelbildlich getanzten Grundschritt zurückkehren. Ein strukturelles Merkmal des Grundschrittes im Tango, der so genannten Base 4, ist nur eine idealtypische Konstruktion, die so vor allem in Tanzgrundkursen vermittelt wird. So wie sie im Folgenden beschrieben wird, wird sie nur selten in einem geschlossenen Ablauf getanzt. Vielmehr lässt sich beobachten, dass im Tango einzelne Elemente des Grundschrittes aufgenommen werden, beliebig zusammengesetzt und aneinandergereiht werden können. Die einzelnen Elemente – wie vorwärts/rückwärtsgehen, Seitschritt, Schließen der Füße und Kreuzschritt – werden variabel aneinandergereiht. Wobei ein vorwärts und rückwärts Gehen – El Caminar 5 – selbst als bewegte Grundordnung des Tango verstanden wird. D.h. es können beliebig viele Schritte hintereinander gesetzt werden oder Seitschritte eingefügt werden, ohne zwangsläufig dem Bewegungsmuster des Grundschrittes zu folgen. Das Gehen im Tangowird
4
Auch hier zeigt sich wieder die Verwendung eines spanischen Originalbegriffes, wobei Base im Spanischen für Basis steht und nicht für Grundschritt.
5
Aus dem Spanischen von caminar für gehen, laufen.
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als eine der beiden „essential elements of this partner dance“ (Plebs 2008a: 16)6 verstanden, als eine besondere Eigenheit des Tango.7 Ein weiteres zentrales Element sind die Bewegungen der Tanzpaare auf der Tanzfläche, für die eine Bewegungsrichtung nicht vorgegeben ist. Es sind jederzeit Richtungswechsel oder Drehungen der Tanzpaare möglich – abgesehen von der Tatsache, dass sich alle Tanzpaare auf der Tanzfläche gegen den Uhrzeigersinn bewegen. Diese Richtungswechsel und Drehungen werden dabei grundlegend von der Gruppenstruktur – weil etwa gerade andere Tanzpaare den Weg kreuzen –, von der Musik und auch dem Tanzpaar selbst beeinflusst. So kann zum Beispiel der Abschlussschritt – die Resolución – in einer Variante des Grundschrittes vom Führenden mit einer Drehung nach links (Siehe Abbildung 6: Punkt 6 links) und der Folgenden nach rechts (Siehe Abbildung 6: Punkt 6 rechts) getanzt werden.
Abbildung 6: Base mit Drehung am Ende (Nau-Klapwijk 1999: 225)
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„We can say that the two essential elements of this partner dance are the walk and the changes of direction, caused by the mechanics of the embrace or link.“ (Plebs 2008a: 16) Milena Plebs ist eine in der Tangokultur weltweit bekannte argentinischen Tangotänzerin und Lehrerin, welche regelmäßig eine Kolumne in der argentinischen Tangozeitschrift El Tangauta schreibt. Sie wurde unter anderem als Tänzerin mit der internationalen Tangoshow Tango Argentino bekannt.
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An diesem Beispiel zeigt sich wie sehr eine diskursive Ebene mit dem Bewegungswissen um den Tango verbunden ist, es ist nahzu unmöglich nur über die Bewegungen zu sprechen. Hinter den Bewegungen und Tanzschritten steckt auch immer bereits ein Diskurs über die Bewegungen.
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Nach Monika Elsner zeigt sich hier, was sich als ein Merkmal des Tango Argentino beschreiben lässt: es gibt keine ununterbrochene Wiederholung eines Elementarschrittes. Vielmehr ist die Ordnung des Grundschrittes nur eine mögliche Ordnung, die immer wieder aufs Neue gestaltet werden kann und sogar gestaltet werden muss, aufgrund der räumlichen Nähe der Tanzpaare zueinander. Der aus acht Schritten bestehende Grundschritt muss also nicht notwendig auf einen Achtertakt zusammengesetzt werden und ist somit schon allein in seinen Variationsmöglichkeiten – ohne Figuren – äußerst vielfältig (vgl. Elsner 2000: 32). Aufgrund dieser Variationsmöglichkeiten müssen sich die Tänzer im Tango besonders aufeinander abstimmen und erst in Abstimmungsprozessen konstituiert sich die Entstehung des Tanzes. An den Grundschritten lässt sich noch ein weiteres Merkmal des Tango Argentino zeigen: Führende/r und Folgende/r realisieren Schritte nicht nur spiegelbildlich versetzt, sondern auch über Kreuz, was mit einer Konvention parallel getanzter Schritte in anderen Paartänzen bricht. Das Überkreuzen der Schritte durch Fuß- und Gewichtswechsel sowie eine ganze Reihe von mit den Füßen getanzten Verzierungen und Figuren ermöglichen eine Vielfalt unterschiedlicher Schrittfolgen und das Bilden von Figuren. Ein Beispiel einer solchen Figur sind die so genannten Ochos (‚Acht‘): eine Kreuz- und Drehfigur, die vorwärts oder rückwärts von den Füssen getanzt werden kann und mit den Füssen eine Acht auf den Boden zeichnet. Ein Ocho kann sowohl von Folgenden als auch von Führenden getanzt werden, allerdings nicht gleichzeitig von beiden Tanzenden, da es sonst zu einem Gleichgewichtsproblem in der Paarkonstellation kommen würde. In der Praxis bei Milongas wird die Figur des Ocho jedoch meist von den Folgenden getanzt, während der Führende die Achse aufrechterhält.8
8
Es gibt noch wesentlich mehr Figuren im Tango, die alle – ganz im Sinne der ‚Authentizität‘ – nach spanischen Begriffen benannt sind: Arrestre, Boleo, Cadencia, Colgada, Corte, Giro, Gancho, Sacada, Sentada, Sandwich, Taquito, Lápiz, Volcada (Salas 2010: 172). Siehe auch das Glossar am Ende der Arbeit.
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Abbildung 7: Ocho Ein Ocho ist auch ein gutes Beispiel für ein weiteres Merkmal des Tango Argentino: Es gibt zwar eine Führungs- und eine Folgerolle9, aber in der folgenden Position darf das Gewicht nie ganz an die führende Rolle abgegeben werden, denn sonst wäre eine solche Figur – mit ihren Gewichtswechseln, dem Rückwärtssetzen der Füße und den Drehungen auf jeweils nur einem Fussballen, nicht tanzbar. Dies steht ebenfalls im Gegensatz zu anderen standardisierten Paartänzen wie etwa dem Walzer, bei dem die folgende Rolle zum Teil ihr Gewicht an die führende Rolle abgibt.
9
Aus beschreibungsstrukturellen Gründen werden in dieser Arbeit die Begriffe von führende/r und folgende/r Position verwendet. Alltagsweltlich wird im Tanz mit der führenden Position ein Mann und mit der folgenden Position eine Frau gleichgesetzt. Nicht allein aus gendertheoretischen Bedenken wird diese Geschlechterzuweisung nicht weiter fortgeführt, sondern auch aus der Perspektive der Tangokultur, in welcher es durchaus üblich ist die Tanzrollen zwischen den Geschlechtern zu wechseln. Darüber hinaus ist die Zuweisung ob eine Tanzrolle als führend oder folgend anzusehen ist auch im Tango Argentino schwer zu besetzen, da auch diese Struktur von Tanzenden unterlaufen wird.
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Das es außerdem im Tango keinen festen Ablauf der Schritte und Figuren gibt und diese vielmehr frei zusammensetzbar sind, ist noch ein Merkmal des Tango Argentino. Figuren können im Tango an jeder beliebigen Stelle zwischen den Grundschritten gesetzt werden; der Tanz kann im Anschluss wieder an einer beliebigen Stelle fortgesetzt werden. Das bedeutet, „daß die Ausführung eines Tango – in Kontakt mit der Musik – immer gebunden ist an ein Element von Improvisation“ (Elsner 2000: 33) – und damit an die Abhängigkeit der beiden Tanzpartner voneinander und ihre Abstimmung zueinander. Improvisation ist dabei keine unbegrenzte Offenheit von Bewegungen, sondern die „geregelte Improvisation“ (Lampert 2007: 122) im Tango ist gebunden an die Bewegungsprinzipien die eine Tanzart kennzeichnen.10 (siehe Kap. III) Diese generell offene Struktur des Ablaufes eines Tangotanzes beeinflusst auch maßgeblich die Tanzrollen, die in Paartänzen historisch gewachsen als führend und folgend charakterisiert werden. Die Tanzrollen von Führen und Folgen werden im Tango durchaus hinterfragt und aufgebrochen (Villa 2006: 229). Aber dennoch existiert die normative Dichotomie im Paartanz die Tanzrollen auch nach Geschlechtern zu unterscheiden: „der Mann führt, die Frau folgt“ (3T/627)11. 1.2 Diskursive Annäherungen: „der Mann führt, die Frau folgt“ Die Diskurse um die Tanzrollen von Führen und Folgen nehmen im Tango eine paradoxe Struktur ein. Einerseits werden sie als Bewegungsprinzip des Tanzes angesehen – sind also unabdingbar für die Entstehung des Tango. Andererseits werden sie in ihrer normativen Struktur auch immer wieder hinterfragt und lebhaft diskutiert (Villa 2009: 117)12, vor allem auch in ihrer heteronormativen Ausrichtung. 10 Friederike Lampert arbeitet in ihrer Doktorarbeit Tanzimprovisation von 2007 diesen differenzierenden Begriff von strukturierter Improvisation heraus um einer idealistischen und essentialisierenden Vorstellung von Improvisation als freier Bewegung entgegenzuarbeiten. Improvisation ist bei ihr gebunden an die Bewegungsmuster – Lampert nennt es im Bezug zur Tanzgeschichte Formbildung – einzelner Tanzfelder welche sich als Körperwissen inkorporieren und Improvisation letztendlich als begrenzten Bewegungswissens versteht. Siehe dazu genauer Kap. II, Abschnitt 3. 11 So wurde es von Interviewpartnern im DFG-Projekt auf den Punkt gebracht. Die folgenden verwendeten Zitate aus den Interviews den DFG-Projektes wurden aus Gründen der Anonymisierung nummeriert. 12 „Endlos wird geklagt über über den Frust an der Rolle, debattiert über die eigentliche, wirkliche Grenze zwischen Führen und Folgen.“ (Villa 2009: 117)
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Diese heteronormative Ausrichtung der Tanzrollen im Tango lässt sich auch an Interviews zeigen, die zusammen mit Gabriele Klein im DFG-Projekt geführt wurden und in denen die Tanzrollen wesentlich mit Geschlecht verbunden werden. So wird immer wieder davon gesprochen, dass Männer führen und Frauen folgen. Gleichzeitig wird auch in Interviews die Gleichsetzung von Tanzrolle und Geschlecht relativiert, indem hervorgehoben wird, dass „mehr und mehr Leute beide Rollen probieren“ (15/1003). Diese immer wiederkehrende Relativierung – die auf den Diskurs der Tangokultur verweist, dass in der Tangokultur die Tanz- und Geschlechterrollen spielerisch inszeniert werden (Villa 2003, 2002a) – zeigt die immer noch existierende Verbindung von Tanzrollen mit Geschlechterrollen. So wird in Interviews davon gesprochen, dass „auch Frauen führen können“ (8/262f.), „Frauen auch führen lernen“ (13/362) und immer mehr Tanzende „beide Rollen lernen“ (15/255) oder Deutschland als das Land hervorgehoben wird, in dem „am meisten Männer und Frauen beide Rollen können“ (15/496f.). Und gleichzeitig werden darüber auch westliche Geschlechterklischees reproduziert, wenn hervorgehoben wird, „das europäische Männer nicht mehr deutlich führen und Frauen Schwierigkeiten haben die Führung abzugeben“ (3/553f.), das es eine Frage ist ob „der Mann überhaupt vernünftig führen“ (8/101) kann, denn ein „Mann, der gut führen kann, der tanzt mit einer Frau, die sich gut führen lässt, alles“ (11/658f.). In diesen Hervorhebungen wird deutlich, dass den Tanzrollen von Führen und Folgen noch immer eine Geschlechterkonnotation anhaftet, die zwar in der Tangokultur hinterfragt wird, aber letztendlich die heteronormative Ausrichtung der Tangokultur in Deutschland als eine ‚bürgerliche‘ Tanzkultur beschreibar macht (Haller 2009b). Tango als Paartanz wird mit den historisch gewachsenen Tanzrollen von Führen und Folgen identifiziert. Eine starre Dichotomie von Tanzrollen setzt sich in einer Zuschreibung zu Geschlechtern fort, deren Anfänge in der Entstehung von Paartänzen zu suchen sind. Der Paartanz entstand in Europa mit der Entstehung des Walzers gegen Ende des 18.Jahrhunderts – nicht zufällig parallel zur Entstehung eines bürgerlichen Geschlechter- und Rollenbildes – welches sich nicht nur für den Tanz auf den kurzen Tenor von ‚der Mann führt – die Frau folgt‘ bringen lässt: „Mit ihm [dem Walzer] etablierte sich der Paartanz endgültig, dies allerdings auf dem Boden eines hierarchischen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen den Geschlechtern, und bildete von da an ein wesentliches Charakteristikum der bürgerlichen Tanzkultur.“ (Klein 1994: 101)
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Kulturhistorisch vollzog und sicherte der Paartanz also die Etablierung einer bürgerlichen heteronormativen Geschlechterordnung und dies indem er die Tanzrollen deutlich zuwies und so „erhielt der Mann unstreitbar die Position des Führenden, während die Frau ihm schwebend in seinen Armen folgte“ (Klein 1994: 106). Nun lässt sich keine direkte Übertragung von der Entstehung des bürgerlichen Walzer des 19. Jahrhunderts in Europa zum global getanzten Tango in der heutigen Zeit ziehen. Nichtsdestotrotz sind beides kulturhistorisch Paartänze, wenn selbstverständlich auch mit vielen strukturellen Differenzen. Und dennoch lassen sich im Hinblick auf sozialhistorische Arbeiten zur Popularisierung des Tango in Europa und den USA (Bain 2007: 49ff.; Savigliano 1995a: 73ff.), auch die Transformationen aufzeigen, welche die Entwicklung des Tango beeinflusst haben. Aus einer kulturhistorischen Perspektive sind die Rollen von Führen und Folgen kaum ohne Geschlechterkonnotation zu denken. Dieses Rollenbild wird vielleicht nicht mehr überall automatisch mit einem traditionell bürgerlichen Geschlechterbild gleichgesetzt – wie etwa in der Queer-Tango-Szene – jedoch haftet historisch an den Rollenbildern von Führen und Folgen immer noch auch die Konnotation von Geschlecht. In der Tangokultur lässt sich sogar, wie Paula Villa vielfach herausgearbeitet hat, ein Diskurs ausmachen, welcher gerade die Tangokultur deshalb favorisiert, da in ihr die Tanz- und Geschlechterrollen spielerisch inszeniert werden können (Villa 2003; 2010b). In diesem Kontext lässt sich auch der Diskurs der Tangokultur verstehen, wonach die beiden Tanzrollen als ein dialektisches Wechselverhältnis beschrieben werden und heutzutage sowohl Männer als auch Frauen die führende Rolle lernen – allerdings mit dem Hinweis, dass folgende Männer bisher nur selten in der heterosexuellen Tangokultur erwähnt, bzw. gesehen werden. Das Verhältnis von Führen und Folgen wird in der Tangokultur häufig als eines beschrieben, welches eigentlich in der Auflösung begriffen ist. Dieses Selbstverständnis der Tangokultur dominiert die Diskurse und lässt sich auch als gendertheoretisches Dogma einer bürgerlichen Kultur beschreiben. In postmodernen Gesellschaften gehört zur Legitimierung der SprecherInnenposition auch die Hinterfragung von Geschlechter-rollen. Tango Argentino ist jedoch ein Paartanz, dessen Grundprinzipien auf Führen und Folgen basiert. In der Hinterfragung der Tanzrollen in der Tangokultur steckt eben auch das kulturhistorische Wissen um die Geschlechterkonnotation von Führen und Folgen. Und mithin das Wissen um die, in einer bürgerlichen Kultur liegende und tradierte Geschlechterhierarchie.
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Auffallend an den Beschreibungen der Tanzrollen von Führen und Folgen, jenseits davon ob sie nun Geschlechtern zugeordnet werden oder nicht, ist die Ausrichtung dessen, was welche Tanzrolle lernen, bzw. können muss. So wird die führende Tanzrolle meist als ein individueller und kognitiver Akt verstanden, wenn es heißt das „führen eine echt geistige Leistung“ (15/256) ist, man als Führender „überlegt was als nächstes kommt“ (1/558) oder Führende „zeigen was sie wollen“ (15/972). In diesen Bildern der führenden Rolle im Tango zeigt sich das Bild eines individuell Handelnden, der maßgeblich die Fäden in den Händen hat – die führende Rolle ausübt, wie es Paula Villa auf den Punkt bringt: „Führen ist der aktive Umgang mit und die Kontrolle über den öffentlichen Raum.“ (Villa 2009: 112) Die Rolle der Folgenden wird wesentlich in Rückbezug zum Führenden erklärt, wenn es darum geht, dass die Folgende „verstehen muss was der Führende will“ (1/560), „merkt was beim Führenden abläuft“ (10/892) oder sogar als „für den Kontakt zuständig“ (3/624) erklärt wird. Dabei ist ausschlaggebend, dass die folgende Rolle „den Führenden sehr gut nachvollziehen“ (10/776f.), „ganz stark antizipieren“ sollte (1/430) und „auf Figuren eingeht“ (1/1174). Die Rolle der Folgenden ist also abhängig von der Führungsrolle indem sie Ansprüche nach Antizipation erfüllen soll. Dieser Anspruch nach Nachvollziehbarkeit, Verständnis oder ‚eingehen‘ lassen sind gute Beispiele, die sich mit dem Begriff des Einfühlungsvermögens oder dem Terminus der Empathie13 – in der Sprache der Psychologie – zusammenfassen lassen. Es ist interessant, das genaue Verständnis der Psychologie von Empathie unter die Lupe zu nehmen, da Empathie, nachgeschlagen in sozialpsychologischen Wörterbüchern (Wieswede 2004), mit Einfühlung auf zwei Ebenen erklärt wird: erstens einer kognitiven Einfühlung in den Anderen (die Gedankenwelt des Anderen) und zweitens einer emotionalen Einfühlung in die Gefühlswelt des Anderen. Hervorgehoben wird dabei die Position des Miteinanders, also des MitEmpfindens oder Mit-Leidens. Es geht bei der Fähigkeit der Empathie also darum, dass sich eine Person in eine andere Person hineinversetzt und im Nachvollzug dessen Verhaltensweisen versteht.14 Empathie wird damit als eine Ressource verstanden und gleichzeitig als eine individuelle Fähigkeit. In der Rolle des Folgenden sollten Tanzende psychisch fähig sein sich hineinzuversetzen in die Gefühls- und Gedankenwelt der führenden Person um damit – siehe die Beispiele aus den Interviews – die nächsten Bewegungen anti13 Die Begriffe Empathie und Einfühlungsvermögen werden in der Sozialpsychologie synonym verwendet (Wieswede 2004). 14 Bereits bei Immanuel Kant wird Empathie in diesem Sinne als Fähigkeit erklärt „an der Stelle jedes andern denken“ (Kant 1974: 226) zu können.
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zipieren zu können. Die folgende Tanzrolle theoretisch mit einem Konzept von Empathie zu fassen bietet sich aber jenseits von Interviewmaterial auch noch aus zwei weiteren Gründen an, die auf Forschungsergebnissen des DFG-Projektes beruhen: Die Tangokultur zeigt nach den Forschungsergebnissen wesentlich als eine Gefühlskultur, in der Subjektivitäten in einer Wechselbeziehung von innerer Bewegtheit (also Gefühlen) und äußerer Bewegung konstituiert werden (Klein/Haller: 2006b). Die Diskurse in der Tangokultur um die innere Bewegtheit oder das Gefühl im Tango werden dabei in vielerlei Medien – populärwissenschaftliche Veröffentlichungen15, Zeitschriften oder Interviews – immer wieder hervorgebracht (Klein/Haller 2006b). Im Tango als einer Symbolwelt der Gefühle kommt der folgenden Rolle somit die Aufgabe der Einfühlung zu, sowie auch im Tango alle Bewegungen, tanzspezifischen Figuren und Gesten emotionale Bedeutungskontexte normativ zugeordnet werden. Außerdem zieht sich durch das empirische Material, dass Tango als Dialog oder ein Miteinander beschrieben wird und die Qualität des Tanzes an einem solchen Prozess von Kommunikation ausgemacht wird. Ein Konzept von Empathie als Erklärungsmodell für diese Betrachtung des Tango als Kommunikation würde zumindest für die folgende Rolle die normative Abhängigkeit und Wirkmacht der Paarkonstellation erklären. Aus dem empirischen Material heraus spricht also einiges dafür, die Rolle der/des Folgenden mit Empathie zu erklären und zu beschreiben. In der Vorstellung den Tango als Dialog und Kommunikation zu beschreiben, ist Empathie eine notwendige Kategorie um diesen normativen Anspruch der Tangokultur einzulösen. Allerdings wird auch deutlich, dass es sich bei einer solchen These nur um die Ebene des Diskurses drehen kann. In Interviews versprachlichte Erfahrungen können nur Körper-, aber nicht Leiberfahrungen widerspiegeln (Klein/Haller 2006a, 2006b), wenn man von einem Modell wie es Helmut Plessner vorschlägt, ausgeht.16 Es zeichnet Plessner anthropologischen Konzept aus eine Unterscheidung zwischen Leib und Körper einzuführen. Er unterscheidet zwischen einer Dimension von Körper-haben, als diskursiver Ebene, die den Körper aufgrund sozialen und kultureller Konstruktionen fasst und einer Dimension von Leib-sein, welches die unmittelbare Erfahrung des Leibes meint (Plessner 1975). Ein Verhältnis von Körperhaben und Leibsein ist allerdings bei Plessner so miteinander verwoben, dass sich diese 15 Schon allein ein kurzer Abriss der populärwissenschaftlichen Literatur spiegelt dies deutlich wieder, siehe in der Einleitung die Tangoforschung. Vgl. darüber hinaus die Verbindung von Bewegung und Bewegtheit in Klein/Haller 2006b. 16 Plessner bezeichnet diese als „exzentrische Positionialität“ (Plessner 1975: 292) des Menschen.
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Ebenen nur theoretisch voneinander trennen lassen. In diesem Zusammenhang von Körperhaben und Leibsein stellt sich die Frage ob eine Vorstellung von Empathie als Nachvollzug der Gefühls- und Gedankenwelt der führenden Rolle nicht eine kognitiv einseitige – alltagssprachlich formuliert: verkopfte – Vorstellung für einen Prozess ist, der vor allem leiblich stattfindet? Geht es beim Tango Argentino – einem vor allem improvisierten und nicht in choreographischer Standardmanier getanzten Paartanz – nicht auch um ein leibliches Wissen, auf Erfahrung basierend, welches es erst möglich macht zu antizipieren? In einem Konzept von Empathie kommt die Dimension der leiblichen Bewegung und Abstimmung aufeinander, also einer gemeinsamen Bewegung, allerdings nicht vor. Empathie ist eine individuelle und vorwiegend mentale Fähigkeit, die einem Körperkonzept entspricht, welches zwischen Geist und Körper eine Trennung zieht und keine Leiberfahrungen fasst. Die häufige Verwendung des Dialoges als Synonym für das Tangotanzen, steht genau für diese mentale Überhöhung des Tango auf eine Sprachebene (siehe Kap. II 2.1). In diesem diskursivem Körperkonzept der Tangokultur bleibt implizit die folgende Rolle immer auch eine geschlechtsspezifische Rolle. Im Bezug zur Tangokultur als einer bürgerlichen Gefühlskultur (Klein/Haller: 2006b; Haller 2009b) werden Subjektivitäten immer im Verhältnis zu dieser geschlechtlichen Konnotation und um diese Diskurse gebildet. Wie sich hingegen ein Verständnis von Führen und Folgen auf der Ebene der Bewegungen beschreiben lässt, soll in den folgenden analytischen Annäherungen am Beispiel der Bewegungen eines Tanzpaares genauer untersucht werden. 1.3 Analytische Annäherungen an Schritte im Tango Ein Tanzpaar kommt gehend von links ins Bild. Die Folgende ist mit ihren hohen Schuhen gut einen halben Kopf größer als der Führende und zusätzlich bewegt sie sich vorwiegend auf den Ballen. Sie setzen Schritte fließend hintereinander, ihre Oberkörper sind auf einer Höhe, ohne Veränderungen: 1.17 Der Führende setzt das linke Bein nach vorn, die Folgende das rechte nach hinten, 2. dann setzte der Führende das rechte Bein nach vorn, die Folgende das linke Bein nach hinten. 3. Nach dem Gewichtswechsel auf rechts setzt er das linke Bein nach vorn, die Folgende das rechte Bein nach hinten. 4. Wieder ein Gewichtswechsel, dann setzt er wieder das rechte Bein nach vorn, die Folgende das linke Bein nach hinten. Doch stoppt er in der Bewegung als sein rechtes Bein auf der Höhe des linken Beines ist. Gleichzeitig hebt sich sein Oberkörper 17 Die Nummerierungen in der Aufzählung der Bewegungselemente entsprechen der folgenden Bilderreihenfolge.
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kaum merklich an, so dass er leicht aufgerichtet kurz stehen bleibt. 5. Die Folgende hatte mehr Schwung in ihrem Bein, ihr linkes Bein ist bereits hinter ihrem rechten Bein, doch der Führende hält in der Bewegung inne, so dass sie Zeit hat ihr linkes Bein nach vorn zu holen. 6. Während der Führende sie mit dem Oberkörper leicht an sich heranzieht macht sie einen Schritt nach vorn mit links und er einen Schritt mit rechts nach hinten – der erste Schritt des Grundschrittes wird vollzogen. (Base 1) 7. Beide machen einen Schritt zur Seite, während die Körper sich leicht nach links drehen und der zweite Schritt des Grundschrittes zeigt sich. (Base 2) 8. Das Tanzpaar dreht sich weiter leicht seitlich nach links, während der Seitschritt ausgeführt wird.
Abbildung 8: 1. Sequenz Diese erste Sequenz des empirischen Beispiels zeigt in den ersten Schritten (Schritte eins bis drei) die im Tango häufig getanzte und zu sehende Caminar – das einfache Gehen im Tango. Das Paar bewegt sich durch den Raum, indem die Folgende rückwärts und der Führende vorwärts in den Raum geht – die am häufigsten zu sehende Variation des Gehens (Villa 2001: 252). Der am Ende dieser Szene (Bild 6) gezeigte erste Schritt des Grundschrittes, bei welchem der Führende rückwärts und die Folgende vorwärts geht, wird nie zu El Caminar ausgebaut.18 Und so wird hier sofort der zweite Schritt des Grundschrittes, der Seitschritt für Führenden und Folgende gesetzt. Diese kurze Sequenz spiegelt das Aushandeln der Führen- und Folgenstruktur wieder: Bei dem im Beispiel gezeigten 4ten Schritt (Bild 4) stoppt der Führende die Vorwärtsbewegung seines rechten Fußes auf der Höhe seines linken stehenden Beines. Er unterbricht damit El Caminar und hält inne (Bild 4). Die Folgende reagiert damit, dass sie ihre bereits angedeutete Rückwärtsbewegung des linken Fußes – also eine Fortsetzung der Caminada – stoppt (Bild 5) und mit dem vorhandenen Schwung ihres linken Fußes die Bewegungsrichtung wieder zum Führenden hin bewegt (Bild 6). Die Folgende geht also auf sein Bewegungsangebot, die Tanzrichtung zu ändern ein, sie folgt den Führenden ihm 18 Also so, dass der Führende rückwärts in den Raum hinein geht, während die Folgende vorwärts geht.
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wahrsten Sinne des Wortes. Mit dieser Bewegung auf den Führenden zu, ermöglicht die Folgende den weiteren Bewegungsablauf: das Aufnehmen des ersten Schrittes des Grundschrittes. Indem der Führende sie dabei mit dem Oberkörpers leicht an sich heranzieht, ist die Möglichkeit gegeben in der Seitwärtsbewegung der Füße im zweiten Schritt des Grundschrittes eine leichte Drehung der Körper zur linken Seite zu vollziehen (Bilder 6,7,8)19. Dieses Beispiel zeigt, welche Rolle das Folgen im Bewegungsablauf spielt und wie sehr die Führungs-Rolle, als vorschlagende Rolle der Bewegungsrichtungen und der Bewegungsplanung abhängig davon ist, dass diese tatsächlich folgt. In dieser kurzen Sequenz wird deutlich, wie sehr beide Tanzrollen in ihrem Bewegungsablauf in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen. Während also auf diskursiver Ebene in der Gleichsetzung der Tanzrollen mit den Geschlechterrollen häufig eine starre, unbewegliche Dichotomie von Führen und Folgen gesetzt (und auch kritisiert)20 wird, zeigt die Phänomenologie der Bewegung wie sehr beide Tanzrollen voneinander abhängig sind, um einen gemeinsamen Tanz zu generieren. Eine stille21 Übereinkunft zwischen den Tanzrollen, in die Bereitschaft zu führen oder zu folgen, ist eine Voraussetzung für das Entstehen eines Tanzes. Bewegungssoziologisch zugespitzt: die Übernahme der Tanzrollen zeigt sich in den körperlichen Praktiken des Tanzens als inkorporierte Struktur und damit als eine korrellierende Praktik, in der Führende von den Folgenden und umgekehrt abhängen und zueinander im Verhältnis stehen. Hieran anschließend lässt sich festhalten, dass auch die Tanzrollen von Führen und Folgen als korrelierende Praktik im Tango zu verstehen sind.
19 Die Drehung zur Seite aus dem Video zeigt sich auf den Bildern 7 und 8: denn entgegen der vorherigen Bilder lässt sich dort der Kopf des Führenden sehen, so dass sich die seitliche Drehung nach links auf den Bildern erkennen lässt. Die Tatsache, dass der Führende einen halben Kopf kleiner ist zeigt sich hier als ein eindeutiger Vorteil für die Darstellbarkeit. 20 Diese Kritik an der Führen- und Folgenstruktur ist häufig motiviert im Bild eines Herr- und Knecht-Verhältnisses, des Unterdrückers und Unterdrückten und weniger eines Machtverhältnisses, wie es Michel Foucault in seinen späten Analysen vorschlägt. 21 Weil einerseits sprachlos und andererseits ein nie zur Debatte stehendes – also implizites – Verhältnis zwischen Tanzenden darüber verhandelt wird.
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Nicht unerheblich dabei ist, dass in der Analyse deutlich wird, dass die führende Tanzrolle die Bewegungsrichtung bestimmt, während die folgende Tanzrolle folgt, da sie den Raum nicht sieht, in welchen sie sich hinein bewegt (Villa 2001: 254). Deutlich wird dieser Kontext der Bewegungsrichtung und auch einer Identifizierung von Tanzrollen am weiteren Bewegungsablauf der Szenerie:
Abbildung 9: 2. Sequenz, Base und Ocho Grundschrittvariation mit angedeuteter Figur, einem halbem Ocho: Nach dem Schritt zur Seite (Bild 8, 1. Sequenz) liegt sein Gewicht auf dem linken Fuß, ihres auf dem rechtem, sie wurde durch die seitliche Drehung leicht auf seine linke Seite verschoben 1./2. Sie geht mit links nach hinten, er geht mit rechts nach vorn, – allerdings nicht parallel zu ihren Füssen, sondern er setzt seinen rechten Fuß seitlich rechts an ihr vorbei. Aus diesem Grund hat sie keinen Raum um ihren rechten Fuß im Sinne des 4ten Grundschrittes einfach nach hinten zu setzen, denn dort steht sein rechter Fuß 3. Er schließt seine Füße und ‚ermöglicht‘ mit dieser kleinen Pause und mit dem Raum den er gibt, für sie den rechten Fuß hinter dem linken entlang zu führen – parallel dazu dreht ihr Oberkörper nach rechts auf (siehe Bild drei, ihre rechte Schulter wird sichtbar) 4. Sie kann mit dem rechten Fuss hinten kreuzen, während er einen Seitschritt nach rechts vollzieht und mit ihr geht und wieder die Füße schließt 5. Sie hat durch sein Schließen der Füße genügend Zeit gewonnen um eine Drehung auf dem rechten Fuß zu vollziehen, mit der sie gleichzeitig mit dem Oberkörper wieder herangezogen wird zum Führenden hin 6. In der Drehung zum Führenden hin, kann sie ihren linken Fuß nachholen, um gleich anschließend 7. mit dem linken Fuß nach hinten zu gehen, doch auch hier bricht der Führende eine Konvention parallel gesetzter Schritte, indem er mit dem linken Fuß seitlich nach vorn geht In dieser kleinen Sequenz einer Schrittfolge eröffnet und verschließt der Führende der Folgenden Bewegungsspielräume: wenn er den Schritt mit rechts nach vorn seitlich neben sie setzt (1./2.), hat sie keinen Raum mehr ihren rechten Fuß weiter nach hinten zu setzen, ohne mit seinem rechten Bein zu kollidieren. Gleichzeitig wird der Oberkörper der Folgenden in der Oberkörperführung nach rechts aufgedreht, so dass die Bewegungsrichtung vorgegeben ist. Der Folgenden in dem Beispiel bleibt also nichts anderes übrig als ihr rechtes Bein eng an
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das linke Bein heranzuziehen und hinten über Kreuz in die vorgegebene Bewegungsrichtung seitlich nach hinten zu setzen – der Bewegungsspielraum der ihr als Folgender in der Figur des Ocho ermöglicht wird. Dies unterstützt die Führung, indem der Führende einen Schritt zur Seite macht und der Folgenden wiederum zeitlich ermöglicht, in aller Ruhe den angedeuteten halben Ocho auszutanzen, während die Füße des Führenden unbeweglich auf der Stelle verweilen. In diesem Beispiel wird wiederum deutlich, was im letzten Kapitel als korrelierende Praktiken im Tango beschrieben wurde: nicht nur die Praktik Haltung einnehmen, sondern auch die Praktik Schritte setzen, innehalten, Figuren tanzen sind korrelierende Praktiken – wie allgemeiner formuliert die Praktiken des Führens und Folgens. Diese korrelierenden Praktiken einer Führen-Folgen-Struktur inkorporieren die Tanzenden. Gleichzeitig wird hier deutlich, dass die Bewegungsspielräume vereinzelt nur wenige Interpretationsmöglichkeiten offen lassen, denn die Grundstruktur ist durch die Grundschritte und die Figuren im Tango vorgegeben. Hier lässt sich die Variation sehen, dass die Schritte im Tango nicht zwangsläufig parallel zueinander getanzt werden müssen, auch nicht in Elementen der Base. Bei dem hier gezeigten Beispiel (Bild 1-3) zeigt es sich, dass die Folgende den Grundschritt nicht weiter tanzen kann, da der Führende seinen 3. Schritt der Base seitlich der Folgenden (Bild 1) setzt. So schiebt er die Führende an seine rechte Seite, weshalb sie nicht einfach – wie im Grundschritt – ihren rechten Fuss nach hinten setzen kann. Die gezeigten Beispiele zeigen in beiden Sequenzen die Kombinationsvielfalt von Schritten und Grundschrittelementen mit der Andeutung einer Figur, immer in Relation zu den Tanzrollen. Die Führen- und Folgestruktur wird auf unterschiedliche Weise gespiegelt. Im oben gezeigten Beispiel werden die Tanzrollen im Prozess des Tanzes einerseits körperlich ausgehandelt und beziehen sich andererseits auf diese inkorporierte Struktur: Es zeigt sich, dass Folgen als Tanzrolle wörtlich zu nehmen ist, indem Bewegungsangebote, bzw. Unterbrechungen aufgenommen werden müssen. Führen und Folgen beruht also auf einer stillen Übereinkunft zwischen den Tanzenden, die sich in den einzelnen Bewegungen und Abstimmungen zeigen müssen. Entscheidend für den Ablauf der Schritte und der Tanzrollen ist außerdem die Tatsache, dass die folgende Rolle sich hauptsächlich rückwärts durch den Raum bewegt, also immer von der führenden Rolle abhängt. Die Folgende tanzt rückwärts in den Raum – die Visualität ist eingeschränkt, bzw. ausgeschaltet
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(Villa 2001: 252)22. Die Bewegungsrichtung wird vom Führenden vorgegeben, da nur dieser die sich eröffnenden Freiräume auf der Tanzfläche sieht. In diesem Sinn ist die Folgende, auch in der Berücksichtigung der Gruppenstruktur einer Milonga – also der Vermeidung von Kollisionen zwischen den Tanzenden – auf die Führung angewiesen. Einige Kombinationen von Schritten verlangen Bewegungsspielräume: ein Beispiel ist der Kreuzschritt der Folgenden: das Überkreuzen des rechten Fußes hinter dem linken Fuß braucht mehr Zeit als ein einfaches nach hinten setzen von Schritten. Der Führende gibt dieser Bewegung Raum, indem er einen Schritt zur Seite setzt und innehält. Auch die Kombinationen des Gegenübertanzens können, bzw. müssen durch den Ablauf des Tanzes aufgebrochen werden: So muss etwa der Führende (2. Sequenz, Bild 5/6) in Bild 5 durch seinen seitlichen Schritt nach rechts und der Gewichtsverlagerung auf den rechten Fuß, mit links nach vorn gehen. Die Folgende muss hingegen durch den halben Ocho und die Gewichtsverlagerung auf rechts mit dem linken Fuß nach hinten gehen. Im Anschluss ist dem Führenden ihr rechter stehender Fuß im Weg, um parallel nach vorne gehen zu können und er überkreuzt seinen linken Schritt nach vorne. Bewegungsrichtung und Richtungswechsel ergeben sich durch Bewegungsspielräume, die sich im Setzen der Schritte und der damit verbundenen Gewichtsverlagerungen ergeben. Die Beispiele zeigen die Aushandlung der Führen und Folgen Struktur im Tango. Sie zeigen inwieweit Tanzende im Entstehen des Tanzes als Führende oder Folgende identifizierbar sind. Dem geht die Annahme voraus, dass die zeitlich zuerst gesetzte Rahmung als führend identifiziert wird. Dies setzt voraus, dass die Tanzenden sich identifizieren mit den Tanzpositionen, die sie im Feld einnehmen, bzw. die auch in der diskursiven Struktur der Tangokultur gegeben sind. Im wissenschaftliche Jargon zugespitzt: das Inkorporieren der Führen- und Folgenstruktur zeigt sich in den körperlichen Abstimmungsprozessen der einzelnen Bewegungsabläufe. Die Tanzenden tanzen sich in die Rollen von führen und folgen ein. Die Führung im Tango geschieht dabei durch den Körper und wird von der Folgenden aufgenommen23. Durch Körperbewegungen wie Gewichtsverlagerun22 „In dieser Haltung, die nicht verändert wird (die Paare lösen ihre Hände und Arme nie voneinander) und in der strikt einzuhaltenden Tanzrichtung (entgegen des Uhrzeigersinns) tanzen die Paare nun so, dass die Frauen überwiegend rückwärts und die Männer überwiegend vorwärts laufen.“ (Villa 2001: 252) 23 „Die Oberkörper sind aufgerichtet und bewegen sich jeweils als Ganzes.“ (Villa 2001: 251)
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gen, Ein- und Aufdrehen der Oberkörper, Achsenverschiebungen, Richtungswechsel und verschieben der Positionen wird das ganze Repertoire der möglichen Bewegungen im Tango ausgeschöpft. Während dieser detaillierten, einzelnen Bewegungen der Körper wird auch die Führen-Folgen Struktur ausgehandelt und definiert. Die Offenheit der Schrittkombinationen macht es notwendig – viel mehr als bei anderen europäischen Standard-Paartänzen – dass sich die Tanzenden aufeinander und miteinander abstimmen. Ein gutes Beispiel für diese körperlichen Abstimmungsprozesse ist die angedeutete Figur des Ocho im gezeigten Beispiel. Ein Ocho wird im Beispiel so geführt, dass die Folgende vom Führenden genügend Zeit und Raum bekommt, die Füße hinten zu kreuzen (Bild 3-5). Der Führende verlässt die gerade Linie des Grundschrittes indem er sein Gewicht auf links verlagert und den Oberkörper leicht nach links aufdreht. Gleichzeitig dreht sich der Oberkörper der Folgenden nach rechts auf (so das auf Bild 3 ihre rechte Schulter sichtbar wird). Der Folgenden bleibt in dieser Führung und aus dem 3.Schritt der Base heraus gar nichts anders übrig als den rechten Fuß eng heranzuziehen und hinter dem linken zu kreuzen und so auf diese Weise die Figur des Ocho anzudeuten. Die Tanzrollen im Tango bestimmen grundsätzlich den Bewegungsablauf einzelner Sequenzen. Am Beispiel der Tanzrollen lässt sich allgemein aufzeigen, dass Führen und Folgen bestimmte Bewegungsmuster im Grundschritt haben. So sind schon die Grundschritte für beide Tanzrollen verschieden. Diese Grundschrittelemente markieren die Tanzrollen, vor allem darüber, dass sie für die folgende Rolle im Unterschied zur führenden Rolle nicht nur spiegelbildlich versetzt sind, sondern die folgende Position im fünften Grundschritt auch noch das Überkreuzen der Füße beinhaltet. Nun ist es so, dass dieses Setzen des Kreuzes (welches im Grundschritt während des rückwärts Gehens gesetzt werden muss) eine andere Zeiteinheit benötigt als das gleichzeitige Schließen der Füße (während des Vorwärts Laufens) der führenden Position. Aus dem Überkreuzen der Füße kann die folgende Position entweder mit dem rechten Fuß nach hinten gehen, oder aber mit den rechten Fuß den linken Fuß vorne kreuzen, so dass die Figur des Ocho entsteht. Das Überkreuzen der Füße im 5. Grundschritt vereinfacht diese Tatsache nicht gerade, denn der Bewegungsspielraum der Folgenden wird auf diese Weise eingeschränkt, zumal sie – da sie nur auf einem Fuß steht – ein Stück weit ihr Gewicht an den Führenden abgeben muss, um die Achse zu halten. Der Vollzug des Tango als korrelierende Praktik, zeigt sich in den Bewegungsmustern und in deren Verhältnis zur übergeordneten Struktur der Tanzrollen von Führen und Folgen. Diese Tanzrollen sind wiederum eingebettet in Diskurse über Führen und Folgen – die allerdings nicht als affirmative oder statische
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Struktur zu verstehen sind – sondern vielmehr als Bewegungsspielräume, deren Nutzung von der Tanzrolle und dem Bewegungswissen der Tanzenden abhängt. Mit diesem empirischen Beispiel lässt sich nun zeigen, was im ersten Abschnitt dieses Kapitels als „Element der Improvisation“ (Elsner 2000: 33) des Tango bezeichnet wurde. Ein Grundschritt wird zerteilt in Grundschrittelemente und diese können beliebig kombiniert werden, etwa mit der Caminada oder mit Figuren. Schritte müssen außerdem nicht parallel gesetzt werden und die Folgende gibt ihr Gewicht nie vollständig ab. Diese Variationsvielfalt von Bewegungen im Tango lässt sich als Improvisation im Sinne Elsners verstehen. Jedoch zeigt das Beispiel auch, dass die Bewegungsstruktur des Tango etwa durch die geschlossene Armhaltung oder die Fixierung der Hüfte an die Achse keine unbegrenzte Variationsvielfalt beinhaltet. Lamperts Begriff der „geregelten Improvisation“ (Lampert 2007: 122) erweist sich daher als ein konstruktiveres Konzept im Blick auf den Tango, als Elsners weite Verwendung von Improvisation. Lampert hat in der Darstellung der Tanzgeschichte des modernen Kunsttanzes (für den Improvisation ein grundsätzliches und wichtiges Mittel der Formgebung der Choreographie war und ist) und im Rückgriff auf Pierre Bourdieu einen Begriff von Improvisation entwickelt, der gebunden ist an die Ästhetiken und Formgebungen des jeweiligen Tanzfeldes: „Übertragen auf das Feld des Tanzes bedeutet dieser Verweis auf die Vergangenheit und die dem Körper einverleibte Geschichte, dass im Tanz die Strukturen sichtbar werden, die sich in den Körpern eingeschrieben haben – wie etwa Tanztechniken – und sich weiter fortschreiben. […] Vollzieht eine Person eine tänzerische Improvisation, so kommen die einverleibten Strukturen zum Ausdruck. Mit den einverleibten Strukturen hat sich ein Wissen über die Spielregeln eingeschrieben, nach denen die Person sich spontan (ohne Bewusstsein) bewegt.“ (Lampert 2007: 122)
Lampert spricht in diesem Zusammenhang von geregelter Improvisation, welche gebunden ist an das im jeweiligen Tanzfeld interne Körper- und Bewegungswissen. Übertragen auf den Paartanz Tango, beinhaltet dies, dass eine Tanzart – sei es nun Klassisches Ballett, Modern Dance oder auch Paartanz – immer Bewegungen in- und exkludiert, also eine spezifische Tanztechnik ist, welche „tanztechnische Körper“ (Lampert 2007: 106f.) hervorbringt, die nur in ihrem Tanzfeld Gültigkeit besitzen. Mit diesem Ansatz geht Lamperts Entwurf letztendlich auch über Improvisation hinaus, denn betroffen von diesem, auf das Tanzfeld beschränkten Bewegungswissens sind dann nicht nur die Momente von Improvi-
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sation, sondern eine gesamte Tanztechnik, als ein Bewegungswissen welches Bewegungen in- und exkludiert.24 Auf zwei Ergebnisse lässt sich die Analyse des empirischen Materials zusammenfassen: 1. Tango als Tanztechnik, so sehr er auch improvisiert und in seiner Struktur offen sein kann, ist ein begrenztes Bewegungswissen – eine Tanztechnik – und produziert spezifische tanztechnische Körper. 2. Führen und Folgen werden als Tanzrollen erst im Tanzen ausgehandelt, sie zeigen sich als korrelierende Praktiken des Tangotanzens. Diese beiden Ebenen lassen sich auch als weitere Elemente und als Voraussetzung für Abstimmungsprozesse im Tango lesen. Denn einerseits geht Abstimmungsprozessen voraus, dass Tanzende diese Tanztechniken als begrenztes Bewegungswissen beherrschen und andererseits sich gleichzeitig in diesem Wissen um eine Tanztechnik aufeinander abstimmen. An diesem Ergebnis der Analyse schließen sich zwei Fragen an, die es theoretisch im Folgenden zu beantworten gilt. Wenn Tango eine Tanztechnik ist, welche ein begrenztes Bewegungswissen hat, wer verfügt und entscheidet dann über dieses Wissen? Wenn Führen und Folgen als Tanzrollen sich als eine korrelierende Praktik zeigen, wer ist dann der Agens dieser Praktik: sind es tanzende Subjekte, Individuen oder vielmehr tanztechnische Körper? Die leitende These für dieses Kapitel ist die Annahme – die sich meines Erachtens auch in den Analysen der Empirie zeigt – dass in den analysierten Bewegungen vor allem ein tanztechnisches Körperwissen zum Einsatz kommt in welchem Tanzende in und über die Tanzrollen subjektiviert werden. Diese These soll im Folgenden abgearbeitet werden an der Frage nach dem Agens des Tanzens.
24 In diesem Sinne lässt sich auch die Ironie nachvollziehen, mit welcher ich in der Begegnung mit männlichen Tangotänzern häufig konfrontiert war in ihrer Selbstbezichtigung, Tango sei vor allem ein Tanz für Nichttänzer, da im Gegensatz etwa zum Salsa keine Bewegungen der Hüfte verlangt werden.
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2. S UBJEKTE , K ÖRPER
UND
T ECHNOLOGIEN
DES
S ELBST
Die Frage danach, wer der Agens von Praktiken ist – Individuen, Akteure oder Subjekte –, schließt an eine der zentrale Grundfragen der Soziologie an, die im häufig diskutierten Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft liegt, welches Bourdieu als „verderblichen Gegensatz“ (Bourdieu 2001: 169) der scholastischen Vernunft bezeichnet hat. Die Kategorie des Individuums zeigt sich allerdings wissenschaftshistorisch als zentrale Kategorie der Soziologie (Schroer 2000: 10f.). Auch die Verwendung von soziologischen Termini, welche die kleinste zu untersuchende Einheit bezeichnen – Individuen, Akteure oder Subjekte – ist von den soziologischen Fragestellungen, den theoretischen Rahmungen und Anschlüssen des Forschenden abhängig. Der Begriff des Individuums wird in der Soziologie in einem Spannungsverhältnis, einer Dichotomie oder eines Wechselverhältnisses zum Begriff der Gesellschaft gesetzt. In Abgrenzung zu diesen Perspektiven arbeiten die TheoretikerInnen in praxeologischen Ansätzen am häufigsten mit dem Begriff des Akteurs, aber vereinzelt auch vermehrt mit dem des Subjektes (Alkemeyer/Schmidt 2003; Reckwitz 2008a). Im Gegensatz zum Begriff des Individuums sind Akteure an kulturelle und gesellschaftliche Praktiken gebunden, die sie zu dem machen was sie sind. Hirschauer radikalisiert diese Perspektive, wenn er von „Partizipanden des Tuns“ (Hirschauer 2004) spricht.25 Der Akteursbegriff fasst dabei das Wechselverhältnis von Praktizierenden und Praktiken, ohne Intentionen oder Bewusstsein vorauszusetzen. Jedoch beinhaltet der Begriff des Akteurs die Problematik als deterministisch verstanden zu werden, Akteure nur als ‚ausführendes Organ‘ von Praktiken zu beschreiben. Akteurstheoretische Fragestellungen befassen sich nicht mit dem Selbst- und Weltverhältnis dieser Akteure, sie legen vielmehr den Schwerpunkt auf das ‚Machen‘. Die zentrale Problematik des so häufig in der Soziologie verwendeten Begriffes des Individuums liegt darin, dass er bewusstseinsphilosophisch (siehe
25 Die Actor-Network-Theorie, deren prominentester Vertreter Bruno Latour ist, hat diese Perspektive nochmal radikalisiert indem sie das menschliche Handlungssubjekt der Soziologie dahingehend hinterfragt auch nichtmenschliche Objekte als Handelnde wahrzunehmen und sogar von Aktanten zu sprechen. Aber auch in anderen Bereichen der Soziologie, etwa der Phänomenologie gibt es eine diesbezügliche Diskussion, die sich um die Problematisierung einer Anthropozentrik in der Soziologie (Lüdke 2010) dreht, sich jedoch aus dieser Kritik heraus bereits am Begriff der Intersubjektivität abarbeitet (siehe Kap. III).
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auch Kap.I. 2) belastet ist und gleichzeitig in seiner Wortbedeutung als „das Unteilbare“ gilt – das Individuum als kleinste Handlungsseinheit zur Gesellschaft. Doch wurde und wird das Individuum auch als positiv besetzte Kategorie hinterfragt, was Markus Schroer in seiner umfassenden Arbeit zum Begriff des Individuums gezeigt hat (Schroer 2000).26 Diese Kritik am Individualitätsbegriff – auch in Abgrenzung zu Schlagworten, wie der „Individualisierungsgesellschaft“ (ebd.: 450) oder „spezifisch modernen Konstruktionen von „Individuum“ und „Gesellschaft“ (Keupp/Hohl 2006: 9) – und die Zunahme der Verwendung eines Begriffes von Praktiken lassen sich als Gründe annehmen, warum in den letzten Jahren, neben der Verwendung des Akteursbegriffs, der Begriff des Subjektes für die Soziologie an Relevanz zugenommen hat, um Handlungs- und auch Bewegungssituationen zu erklären. 2.1 Soziologische Subjekte: Prozessualität Der Subjektbegriff – welcher in der Philosophie schon seit jeher vielfältige Diskussionen durchlebt hat27 – wurde wissenschaftshistorisch nur selten in der deutschsprachigen oder in der angloamerikanischen Soziologie aufgegriffen. Soziologische Autoren favorisierten hingegen seit Anbeginn der noch jungen Wissenschaft der Soziologie Begriffe wie Mensch, Person, Individuum, Selbst oder Akteur, schon allein aus Abgrenzung zur Philosophie und zur Setzung eines eigenen terminologischen Instrumentariums (Klein 2006: 190; Wagner 2006: 168). Diese Begriffswahl stand immer im Verhältnis zur jeweiligen Gesellschaftstheorie und deren Annahmen. Dementgegen erlebt in den letzten Jahren der Subjektbegriff in der Soziologie geradezu einen Boom. Nachdem Autoren wie Michel Foucault und Roland Barthes in den 1960er Jahren noch emphatisch den Tod des Subjekts aus26 So stellt etwa auch Erving Goffman die Begriffsverwendung des Individuums für seine Analysen von sozialen Situationen in Frage. Für ihn ist der Begriff des Individuums nicht präzise genug und verliert seinen „kohärenten, eindeutigen Sinn“ - stattdessen verwendet er verschiedene Termini um ein soziales Geschehen zu beschreiben: „Bei einer präzisen Analyse dürfte sich jedoch der Begriff des Individuums als zu ungenau erweisen, und es wird dann nötig sein, verschiedene, genau definierte Begriffe zu verwenden. Bei der eingehenden Untersuchung […] werden wir feststellen, daß der Begriff des Individuum hier seinen analytisch kohärenten, eindeutigen Sinn verliert und statt dessen mehrere verschiedene Termini verwendet werden müssen.“ (Goffman 1971: 53) 27 Für einen umfassenden Einblick empfiehlt sich der Eintrag Subjekt im Historischen Wörterbuch der Philosophie (Ritter/Gründer 1998).
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riefen, wird der Subjektbegriff in der Soziologie nun zu einer zentralen Kategorie – interessanterweise mit subjektkritischen Autoren wie Michel Foucault als Grundlagenliteratur. Wie Keupp und Hohl hervorheben sind diese Auseinandersetzungen um einen Subjektbegriff zwar „breit gefächert“, aber auch „fragmentiert“ (Keupp/Hohl 2006: 7). Es lässt sich also festhalten, dass die soziologischen Konzeptionen um das Subjekt vor allem als heterogen zu bezeichnen sind. Wie Bührmann betont wird „außerordentlich kontrovers über die Frage diskutiert, wie das Subjekt konkret zu bestimmen ist“ (Bührmann 2005: 1).28 In der deutschsprachigen Soziologie zeigen aktuelle Publikationen (Reckwitz 2006b, 2008; Keupp/Hohl 2006; Meißner 2010; Traue 2010; Krempl 2011; Grundmann/Beer 2004), dass dem Subjektbegriff in der Soziologie zurzeit eine differenziert erkenntnistheoretische Aufmerksamkeit geschenkt wird.29 Gleichzeitig steht aber die Kategorie Subjekt „als eine Basiskategorie sozialwissenschaftlicher Theoriebildung auf dem Prüfstand“ (Keupp/Hohl 2006: 7). Bei Grundmann und Beer (2004) wird diese Auseinandersetzung nicht zufällig ins Verhältnis gesetzt zu den Errungenschaften der Neurowissenschaften und der Hirnforschung, die eine Vorstellung der Selbstbestimmung von Subjekten geradezu historisch erschütterten (Grundmann/Beer 2004) und als virulent erscheinen lassen.30 Die Grenzlinien liegen in diesen Diskussionen zwischen einem selbstbestimmten Subjekt und einem Subjekt, welches „durch genetische oder stammesgeschichtliche Prädispositionen determiniert“ (Grundmann/Beer 2004: 2) und bedingt ist. In den aktuellen Publikationen ist schnell ersichtlich, dass der Subjektbegriff vor allem als soziologische Kategorie definiert wird – in der Relation zu anderen grundlegenden sozialwissenschaftliche Kategorien wie Klasse, Geschlecht, Alter, Ethnie oder auch Kultur.31 Reckwitz versteht seine Arbeiten als eine „sub28 Da es sich bei diesem Literaturverweis um eine online verfügbare Rezension handelt, stehen hier die Seitenangaben für die nummerierten Absätze des Textes. 29 Darüber hinaus gibt es Fachübergreifende Publikationen, die zeigen, dass der Subjektbegriff nicht nur in der Soziologie neu zur Diskussion steht, siehe etwa Grundmann/Beer 2004. Auch in anderen angrenzenden Wissenschaften, wie etwa der Erziehungswissenschaft (Krinninger 2009; Sattler 2009), der Philosophie (Szczepanski 2007) oder der Literaturwissenschaft (Pritsch 2008) zeigen neuere Publikationen, dass eine Diskussion um den Subjektbegriff an Aktualität zunimmt. 30 Siehe dazu auch die vielfältigen Diskussion auf dem 33. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006 unter dem Titel: „Die Natur der Gesellschaft“. 31 Beispiele lassen sich etwa in dem Sammelband von Keupp und Hohl aufzeigen, in welchem Klinger einen feministischen Subjektbegriff diskutiert, Kraus den Subjekt-
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jektorientierte Gesellschaftstheorie“ (Reckwitz 2004: 161), deren Interesse an den subjektbildenden Strukturen von Kulturen, Institutionen und Organisationen ausgerichtet sind: „Die subjektorientierte und gleichzeitig praxeologische Gesellschafts- und Kulturtheorie ist nicht anti-institutionalistisch orientiert, aber sie betrachtet diese institutionellen Komplexe als Felder sozialer Praktiken unter dem Aspekt, welche Subjektformen sie voraussetzen und reproduzieren: Soziale Felder – zum Beispiel Arbeit, Intimsphäre, Kunst etc. – interessieren unter dem Gesichtspunkt, welche Subjektformen und ganze Lebensformen sie strukturieren.“ (Ebd.)
Im Rahmen dieser Modalitäten ist der Begriff des Subjektes also kein erkenntnistheoretischer Grundbegriff, dessen Existenz sozusagen anthropologisch vorausgesetzt wird und welcher eine bewusstseinstheoretische Problematik enthält – wie sie etwa in der Philosophie diskutiert wird (Ritter/Gründer 1998). Vielmehr markiert dieser neue soziologische Subjektbegriff ein Verhältnis des Einzelnen zur Welt, ein Selbst- und Weltverhältnis oder auch eine Zugangsweise zur Welt, wobei dieses Selbst und Subjekt erst ein Ergebnis von sozialen Prozessen der Subjektbildung ist. Die soziologischen Autoren diskutieren dabei den Stellenwert eines Subjektbegriffs für die Soziologie, besonders im Verhältnis zu soziologischen Klassikern und deren Gesellschaftstheorien und den Kategorien von Individuum, Person, Selbst oder Identität.32 Das ‚Descartsche‘ Erbe eines sich selbst durchschauenden, autonomen Subjektes als Anrufung (Althusser 1977) und Mythos der Moderne ist dabei ein häufig aufgenommenes Theorem, welches mit der Entstehung der modernen Wissenschaften der Psychologie und der Soziologie in ihren Grundfesten erschüttert wurde. „Daß das Ich nicht Herr sei im eigenen Haus“ (Freud 1917, in Freud 1999: 11f.) und der „homo sociologicus“ (Dahrendorf 1958)33 genügen als Schlagworte diese historische Erschütterung der Moderne zu skizzieren. Der Vorteil eines Subjektbegriffes für die Soziologie zeigt sich darin, dass er für die Sozialwissenschaft eine noch relativ unbesetzte Kategorie ist, die zwar behaftet ist mit dem bewusstseinsphilosophischen Erbe, welches in begriff im Verhältnis zu Identität setzt oder Klein im Verhältnis zur Figurationssoziologie von Norbert Elias (Keupp/Hohl 2006). 32 Vgl. hier vor allem die Anthologie von Keupp und Hohl. 33 Der Homo sociologicus umfasst ganz allgemein in der Soziologie ein von Normen, Werten, Regeln und Rollenerwartungen orientierte soziale Subjekthaftigkeit, die einem homo oeconomicus als interessensgeleitete Dimension diametral entgegensteht (Moebius 2008b: 59f.).
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der Abgrenzung dazu aber auch viele neue Ansätze ermöglicht. Einigkeit besteht wesentlich darüber, dass der Subjektbegriff als historische Kategorie verstanden werden muss: „Subjektivität wird vielmehr als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse betrachtet. Ausgangspunkt ihrer Analysen ist daher nicht der Mensch, sondern sind vielmehr die Strukturen, die bestimmte Formen von Subjektivität hervorbringen.“ (Meißner 2010: 11) Es geht also weniger um eine erkenntnisleitende Annahme eines bereits gegebenen Subjektes als vielmehr um Prozesse und Vernetzungen von Strukturen, die erst zu Subjektivität führen: „Über das Subjekt wird oft gesprochen, als sei es austauschbar mit ‚der Person‘ oder ‚dem Individuum‘. Die Genealogie des Subjekts als kritischer Kategorie jedoch verweist darauf, daß das Subjekt nicht mit dem Individuum gleichzusetzen, sondern vielmehr als sprachliche Kategorie aufzufassen ist, als Platzhalter, als in Formierung begriffene Struktur.“ (Butler 2001: 15)34
Die hier ausgewiesenen zeitgenössischen Auseinandersetzungen um den Subjektbegriff sind von daher (als kritische, reflexive und ins Verhältnis gesetzte Kategorie) hauptsächlich als poststrukturalistische Diskussion zu kennzeichnen. Aus dieser Vorortung heraus sind die Auseinandersetzungen wesentlich als subjektkritisch, dezentrierend und entgegen der klassisch philosophischen Auffassung alles andere als bewusstseinsphilosophisch (Reckwitz 2008c: 77f.).35 Es lassen sich Zusammenhänge aufzeigen – und dies ist verbunden mit der gleichzeitigen Wissenschaftskritik dieser Perspektive – zwischen einer Philosophie der Moderne und einem modernen Subjektverständnis: „Das philosopische Denken der Moderne ist zunächst zentriert auf das Subjekt als eine autonome, sich selbst begründende Instanz, die zugleich zur Schlüsselfigur der modernen
34 „In einem kulturtheoretischen Verständnis können Subjekte in ihrer Form damit nicht vorausgesetzt werden, und einer kulturwissenschaftlichen Subjektanalyse kann es nicht darum gehen, sich in als gegeben angenommene mentale Innenwelten einzufühlen, die von ihrer ausserpsychischen Umwelt separiert erscheinen. Die Richtung der Analyse verläuft genau umgekehrt: von der Kultur zu den Subjekten.“ (Reckwitz 2006b: 35) 35 „Die poststrukturalistischen Analytiken gehen vielmehr auf Distanz zum Konzept des Subjekts im klassischen subjektphilosophischen Sinne einer allgemeingültigen, selbsttransparenten, reflexiven, mentalen Instanz und betreiben eine Dezentrierung des Subjekts.“ (Reckwitz 2008c: 77f.)
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politischen, ökonomischen, ästhetischen und religiösen Emanzipationsbewegungen avanviert.“ (Ebd.: 75)
Eine poststrukturalistische Sozialwissenschaft schreibt damit gegen eine Determination der sozialen Wirklichkeit durch philosophische und soziologische Kategorien und Begriffe an – wie auch in dem aus der Philosophie entlehnte Subjektbegriff. Ihre eindeutig uneindeutigen Schlagworte von Dekonstruktion, Hybridität, Instabilität, Kontingenz, Widersprüchlichkeit etc. entziehen sich scheinbar festen Kategorien: alles ist im Fluss, alles ist uneindeutig, alles ist offen. Andreas Reckwitz versteht diese als „immanente Instabilitäten“ (ebd.: 91) einer poststrukturalistischen Soziologie. Und doch existieren gleichzeitig wahrnehmbare historisch gewachsene Differenzen, die es aufzuzeigen gilt. Denn entgegen dem alltagssprachlichen Mißverständnis den Poststrukturalismus auf symbolische Deutungsoffenheit zu reduzieren, verweisen zentrale Autoren viel stärker auf die symbolischen Schließungen von Kategorien, die es aufzudecken gilt. Andreas Reckwitz hat in seiner Habilitationsschrift etwa zur Umschreibung von Subjektvierungspraktiken den Ansatz von Subjektkulturen stark gemacht, „das heißt von spezifischen Praxis- und Diskurskomplexen, in denen spezifische Formen dessen, was ein Subjekt ist, definiert und realisiert werden.“ (Reckwitz 2006b: 26) Er arbeitet dieses Konzept im Hinblick auf westliche Kulturen aus und bestimmt für die westliche Moderne entsprechend nicht eine Form von Subjektivität, sondern „drei differente, miteinander konfligierende Ordnungen des Subjekts“ (ebd.: 15). Diese Subjektkulturen setzen verschiedene Subjektivitäten durch: „die bürgerliche Moderne des 18. und 19. Jahrhunderts versucht die Form des moralischsouveränen, respektablen Subjekts verbindlich zu machen; die organisierte Moderne der 1920er bis 1970er Jahre produziert als Normalform das extrovertierte Angestelltensubjekt; die Postmoderne von den 1980er Jahren bis zur Gegenwart entwickelt das Modell einer kreativ-konsumtorischen Subjektivität.“ (Ebd.)
Für die Soziologie lässt sich hervorheben, dass sofern sich von einem soziologischen Subjektbegriff sprechen lässt, dieser darauf beruht, Subjekte als ein Ergebnis von sozialen Prozessen zu verstehen. Vereinzelt wird in den Auseinandersetzungen um das Subjekt auf diesen Entstehungsprozess eines soziologischen Subjektes hingewiesen:
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„Spätestens mit der Wiederentdeckung George Herbert Meads durch Jürgen Habermans arbeitet die Soziologie mit einer Subjektvorstellung, die wesentlich über die Schienen der Handlungstheorie läuft. Das Subjekt ist Subjekt, weil es in intersubjektiven Zusammenhängen via Sozialisation und Lernprozessen zu einem Subjekt wird. Damit entwickelt die Soziologie einen Subjektbegriff der die monologische Tradition der Philosophie hinter sich lässt.“ (Grundmann/Beer 2004: 2, Hervorhebung MH)
Mit dieser Setzung eines prozessualen Entstehens von Subjekten wird auch deutlich, dass zum Verständnis dessen, diese Sozialisations- und Subjektivierungsprozesse in den Blick genommen werden müssen. Im angloamerikanischen Raum begann die Diskussion um den Subjektbegriff in der Soziologie ein Jahrzehnt früher. Ausgehend von den Cultural Studies und Autoren wie Judith Butler36 oder Roy Boyne wurde auch hier die Aberkennung des Subjektbegriffes in der Soziologie hervorgehoben (Butler 2001; Boyne 2001). Im Gegensatz zur deutschsprachigen Soziologie wurde aber von Anfang an der Subjektbegriff vor allem auch im Verhältnis zu Körperbegriffen thematisiert. So wie die Zeitschrift Body & Society für die Etablierung einer Körpersoziologie eine große Rolle spielt (Gugutzer 2004: 47), so ist sie auch für die Diskussionen um einen Subjektbegriff in Relation zum Körper zentral. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass für die meisten Autoren (Butler, Crossley, Boyne etc.) Michel Foucaults späte Arbeiten zum Subjekt als Ausgangsliteratur gelten können. So setzte sich etwa Nick Crossley bereits 1994 in seinem Buch The politics of subjectivity: between Foucault and Merleau-Ponty mit dieser Relation auseinander und 1995 (dem Erscheinungsjahr der ersten Ausgabe der Zeitschrift Body & Society) in einem ersten Aufsatz (Crossley 1995a).37 Anschließend an die deutschsprachigen Theorieansätze um einen neuen soziologischen Subjektbegriff stellt sich also – auch im Hinblick auf eine Thematisierung im angloamerikanischen Raum – die Frage wie ein Verhältnis von Subjekt und Körper in der aktuellen deutschsprachigen Soziologie verhandelt wird.
36 Butlers Buch Psyche der Macht, erschien 1997 auf Englisch und in der deutschen Übersetzung 2001. 37 Crossley wird in seinen Ansätzen genauer im dritten Kapitel aufgenommen (Kap. III).
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2.2 Relationen – körperlose Subjekte und subjektlose Körper? Das Verhältnis von Subjekten und Körpern wird in den Auseinandersetzungen um den Subjektbegriff sehr different abgehandelt. So hebt Andreas Reckwitz in seinen beiden zentralen Werken hervor, dass seine Analysen und die Perspektiven der behandelten Autoren „den Körper des Subjekts in seiner nur scheinbaren Natürlichkeit und Zweitrangigkeit gegenüber dem Geist“ (Reckwitz 2008a: 18) in den Mittelpunkt stellen. In anderen soziologischen Auseinandersetzungen um den Subjektbegriff spielen Körper jedoch nur eine marginale Rolle, wie überhaupt eine lange Zeit in der Soziologie – wenn inzwischen auch eine Soziologie des Körpers zumindest international als etabliert angenommen werden kann (Gugutzer 2004: 46f.). Die Terminologie des Subjektes wird in der Soziologie in Relation zu Identität (Knoblauch 2004b; Kraus 2006, Wohlrab-Sahr 2006), Sozialisation (Veith 2004), Geschlecht (Klinger 2006) und einer feministischen Kritik an Geschlechterdifferenz und Fragen der Handlungsfähigkeit (Meißner 2010), zu Beratung und Therapeutik (Traue 2010) und Arbeit (Krempl 2011), als auch in einem Komplex moderner Fragen nach Autonomie, Widerstand und Selbstbestimmung (Mecheril 2006, Wagner 2006) diskutiert. Eine weitere explizit auf das Subjekt gerichtete Forschung sind die Governementality Studies, die, obwohl Foucault und auch die Relationen von Praktiken und Diskursen im Mittelpunkt ihrer theoretischen Diskussionen stehen, Körper geradezu dogmatisch ausblenden, bzw. den Körper – wenn überhaupt – als diskursiven Effekt verstehen (Bröckling/ Krasmann/Lemke 2000; 2011).38 Überspitzt formuliert sind es körperlose Subjekte, die in der Soziologie einer Neubetrachtung unterzogen werden.39 Der Subjektbegriff scheint für die Soziologie eine lang ersehnte Kategorie zu sein, um bisherige Begriffe und vor allem deren umstrittene Diskussionen um Individuum, Selbst oder Person zu verabschieden. Gleichzeitig spielen auch Auseinandersetzungen um das Subjekt in den inzwischen vielfältigen körpersoziologischen Arbeiten nur selten eine Rolle – was sich etwa auch an den aktuellen Überblicksarbeiten zur Körpersoziologie
38 Vgl. etwa auch die Kritik von Bührmann/Schneider 2007. 39 Vgl. etwa Keupp/Hohl 2006, Klinger 2006, Knoblauch 2004b, Kraus 2006, Krempl 2011, Mecheril 2006, Meißner 2010, Traue 2010, Veith 2004, Wagner 2006, Wohlrab-Sahr 2006.
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abzeichnet (Gugutzer 2004; Schroer)40. Vereinzelt nehmen in der Körpersoziologie aber Arbeiten zu, die eine Relation zwischen Körper und Subjekt aufnehmen und diskutieren (Alkemeyer/Schmidt 2003, Villa 2010a, 2009, 2006, 2003; Klein/Haller 2009, 2008, 2006b)41. In der deutschsprachigen Körpersoziologie stand seit Beginn ihrer Auseinandersetzungen in den 1980er Jahren ausgehend von den Arbeiten von Kamper und Wulf (1982) vor allem auch die Infragestellung einer Dichotomie von Körper und Geist im Zentrum. Dieser häufig bei Descartes ansetzenden Kritik mag es auch geschuldet sein, warum besonders in der Körpersoziologie der bis dato bewusstseinsphilosophisch belastete Subjektbegriff nicht ins Visier genommen wurde. In diesem kurzen Anriss der Thematisierung eines Verhältnisses von Subjekten und Körpern zeigt sich, dass sich ein Spannungsbogen eröffnet der zwischen körperlosen Subjekten einerseits und subjektlosen Körpern andererseits changiert. Auch Andreas Reckwitz verweist auf eine solch symbolische Verortung von Subjekten in Körpern wenn er davon spricht, dass Körper „scheinbar allgemeingültige Verankerungspunkte der Subjektivität“ (Reckwitz 2008a: 18) sind. Der Körper wird zum Topos des Subjektes, an welchem das Subjekt auszumachen ist – ein Körper wird zum Ort des Subjektes: „Als Körper und biologisches Individuum bin ich ebenso wie die Dinge an einem Ort situiert: Ich nehme einen Platz im physichen und sozialen Raum ein. […] als Lokalisierung, oder auch relational, topologisch, als Position, als Platz innerhalb einer Ordnung.“ (Bourdieu 2001: 168f.)
Hinter dieser Konzeption liegt ein territoriales Verständnis von Subjekten und Körpern: das Subjekt hat seinen Topos im Körper. Letztendlich steckt hinter dieser territorial abgegrenzten Definition immer noch eine Körper-GeistDichotomie. Eine Territorialisierung des Körpers als Topos des Subjekts erinnert noch immer stark an die klassischen Bilder des Körpers als Gefäß für den Geist – der Geist, der in der ihn einschränkenden Flasche steckenbleibt. Dies ist auch der Nachträglichkeit der Betrachung geschuldet:
40 Eine Ausnahme bildet das zu Beginn der Arbeit bereits erwähnte DFG-Projekt, in welchem Gabriele Klein und ich auch erste Ansätze einer Verbindung von Körpern und Subjekten herausgearbeitet haben. 41 Dabei wird hier primär auf solche Ansätze verwiesen, welche Subjektbildungsprozesse im Verhältnis zum Körper als Themenschwerpunkt haben, nicht solche, welche mit dem Begriffen Subjekt oder subjektiv arbeiten ohne weiter darauf einzugehen.
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Treten Subjekte wesentlich über Bewusstseinsakte in Erscheinung, muss dieses Bewusstsein verortet werden – die Verortung ist dann nur noch ein Gefäß für das bereits vorhanden Angenommene. Das grundlegende Problem liegt also in der Bindung des Subjektbegriffs an bewusstseinsphilosophische Grundlagen: Subjekte haben ein Bewusstsein und dieses gibt ihnen die Gewissheit zu existieren, ganz nach Descartes: ich denke, also bin ich. Dreht man allerdings die Perspektive um und geht nicht davon aus, dass Subjekte immer schon da sind42, sondern erst zu Subjekten werden und dies ein nie abgeschlossener Prozess ist – stellt sich die Frage, wie und worüber Subjektivität hergestellt und woran sie feststellbar ist. Im Bezug zu aktuellen, sich in der Soziologie herausbildenden Subjekttheorien, liegt dann der Schwerpunkt auf der Prozessualität einer Subjektwerdung, bzw. von Subjektivierungsprozessen. Für Pierre Bourdieu ist aus seiner wissenschaftskritischen Perspektive Subjektivität erst ein Effekt sozialer Prozesse, die eine Subjektivität im wahrsten Sinne des Wortes am Körper dingfest machen: „dieser Körper – der unbestreitbar als Prinzip der Individuation funkioniert (insofern er in Raum und Zeit lokalisiert, trennt, isoliert usw.) […] unterliegt [...] einem Sozialisationsprogramm, aus dem die Individuation selbst erst hervorgeht, wobei die Singularität des
‚Ich‘ sich in den gesellschaftlichen Beziehungen und durch sie herausbildet.“ (Bourdieu 2001: 171f.)
Diese Setzung von Bourdieu verweist darauf, dass es die Wahrnehmung von Körpern ist, die ein Individuum „als Körper und biologisches Individuum […] an einem Ort situiert“ (ebd.). Nach Bourdieu ist der Körper und mit ihm „das Subjektive“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 159) – also auch das Subjekt als Kategorie – ein Ergebnis von sozialen Prozessen und Praktiken. So wird für Bourdieu der Körper zur zentralen Kategorie der Frage nach einem Agens von sozialen Situationen. Körper sind dann zentrale Elemente in einer Reihe von möglichen Subjektivierungsmodi – wie auch Bewegungen, Diskurse, Dinge/Materialitäten, der Andere etc. –, aber keinesfalls nur der Ort für ein angenommenes und vorausgesetzes Bewusstsein. Judith Butler betont in ihren Arbeiten zum Verhältnis von Subjekt, dass Subjekthaftigkeit immer an den Körper gebunden ist und nicht jenseits davon konzi42 Was insofern interessant ist, da sich mit der Frage nach Subjekten immer schon Menschen befassten, die – etwa als Philosophen, Soziologen oder Psychologen – bereits subjektiviert waren und deren weitere voranschreitende und aktualisierende Subjektivierungsprozesse als Philosophen, Soziologen oder Psychologen nicht thematisiert werden.
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piert werden kann, sofern man sich nicht einer bewusstseinsphilosophischen Problematik überlassen will. Hier setzt Butler bei Foucault an, welcher Subjektivierungsprozesse in Relation zum Körper in seinen späten Arbeiten in den Mittelpunkt seiner Arbeit stellte. Körpern wird dabei eine Handlungsfähigkeit attestiert, die in ihrer soziale Genese zwischen Macht und Wissen ihren Ursprung hat. Diese Perspektive, insbesondere in Bezug zu Michel Foucault nimmt auch Andreas Reckwitz in seinen Auseinandersetzungen um das Subjekt (Reckwitz 2006b, 2008a) auf und betont die enge Verknüpfung zwischen Subjekten und Körpern. Für Foucault liegt die Genese von Prozessen der Subjektwerdung im Verhältnis zum Körper, besonders auch in der Abgrenzung zum bewusstseinsphilosophischen Entwurf von Descartes und seinen Nachfolgern. Dieser, von Michel Foucault ausgearbeitete Zusammenhang von Subjekten und Körpern, welcher von Judith Butler und in der deutschsprachigen Soziologie vor allem von Andreas Reckwitz aufgenommen wurde, soll im Anschluss aufzeigen, wie ein Verhältnis von Subjekten und Körpern die Frage des Agens des Tanzens beanwortet. In Foucaults Konzeption der Technologien des Selbst findet sich dieser Ansatz um sich der Beantwortung der Frage eines Verhältnisses von Subjekten und Körpern zu nähern. 2.3 Bewegte Subjektivierungen: Technologien des Körpers Michels Foucaults Konzeption der Technologien des Selbst ist ein später Entwurf und gleichzeitig ein Zeichen seiner im Spätwerk vollzogenen inhaltlichen Wende hin zum Subjekt, welches nach den Herausgebern der Technologien des Selbst zum „unvollendeten Projekt“ (Martin/Gutman/Hutton 1993: 7) Foucaults wurde. Dieser inhaltlichen Arbeit zurechnen lassen sich auch die posthum erschienene Vorlesungen über die Hermeneutik des Subjekts (Foucault 2009), Die Sorge um sich (Foucault 1989b) und auch zum Teil die Arbeiten zur Gouvernementalität (Foucault 1978 in Bröckling/Krasmann/Lemke 2000). Foucaults Wende zum Subjekt in seinem Spätwerk – welcher für die aktuellen Diskussionen um den Subjektbegriff in der Soziologie prägend ist (vgl. 2.1) – liegt in der Annahme einer Prozessualität von Subjekten, die als Status nie erreicht, sondern immer im Werden begriffen ist. Ihm geht es um das Verstehen, durch welche Prozesse Subjekte entstehen. Subjekte sind bei Foucault ausgerichtet, bestimmt und positioniert an Regeln, Normen oder Werten: „Meine Absicht war es vielmehr, eine Geschichte der verschiedenen Verfahren zu entwerfen, durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden.“ (Foucault 1987: 243)
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Diese Perspektive, Subjekte als Resultate von Prozessen und damit von sozialen Praxen zu deuten, ist ein Grundgedanke, den Foucault ausführt und als Subjektivierung bezeichnet: „Dieser Vorgang, durch den ein Subjekt, genauer noch eine Subjektivität, konstituiert wird, würde ich Subjektivierung nennen, die selbstverständlich nur eine der gegebenen Möglichkeiten der Organisation des Bewußtseins seiner selbst ist.“ (Foucault 1999a: 144)
Doch Subjektivierungen und „Subjektivierungsmechanismen“ (Foucault 1987: 249) ereignen sich nicht im luftleeren Raum, sie sind gekoppelt an Machtmechanismen und Wissensregime. Foucaults Auseinandersetzungen mit einer Genealogie oder auch Hermeneutik des Subjektes, entwickeln sich in Abgrenzung zu einem essentialisierten Subjektbegriff, wie er philosophisch und historisch an Rene Descartes anschließt. An diese erste Skizze eines Foucault’schen Subjektbegriffes lassen sich nun zwei Fragen anschließen. Wenn für Foucault Subjekte nicht essentialistisch gedacht werden, wie kommt es zu Subjekten und theoretisch zu einem Subjektbegriff? Dies arbeitet Foucault in seinem Ansatz der Technologien des Selbst aus. Für ein Verständnis dessen ist jedoch zentral wie dieser Ansatz mit seinen bisherigen Arbeiten zu vereinbaren ist und sich entwickelt hat. Foucault wurde bis zum Erscheinen der letzten beiden Bände von Sexualität und Wahrheit vor allem als Diskurstheoretiker und Analytiker von Macht verstanden. Bis dahin erschien das Subjekt bei Foucault – so ein Hauptstrang der Rezeption – nur ein Diskurseffekt zu sein. Doch nun ging es ihm um ein Wechselverhältnis von Subjektivierungen und Diskursen, was sich entgegen einiger Kritiker vor allem als zentrale Erweiterung seiner bisherigen Untersuchungen verstehen lässt (vgl. Lemke 1997: 258f.): „Mit meinen Studien über Wahnsinn und Psychiatrie, Verbrechen und Strafe habe ich herauszufinden gesucht, wie wir unser Selbst auf indirekte Weise durch den Ausschluss Anderer – z.B. Krimineller, Irrer, usw. – konstituiert haben. Meine gegenwärtige Arbeit befasst sich mit der Frage: Wie haben wir auf direkte Weise unsere Identität geschaffen mit ethischen Selbsttechniken, die sich von der Antike bis in unsere Zeit entwickelt haben?“ (Foucault 1993b: 169)
Die theoretische Annahme, dass Diskurse auf Subjekte einwirken, erklärt nicht warum und wie bestimmte Diskurse in Praktiken umgesetzt werden und Relevanz für Subjekte gewinnen. Dahinter verbirgt sich die Verschiebung seiner bisherigen Betrachtungen von Diskursen und Machtverhältnissen auf Subjekte, die
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Foucault nach eigenen Aussagen „mehr oder weniger bei Seite gelassen hatte“ (Foucault 1999a: 143): „Jetzt schien es nötig, eine dritte Verschiebung vorzunehmen, um das zu analysieren, was als ‚das Subjekt‘ bezeichnet wird; es sollte untersucht werden, welches die Formen und die Modalitäten des Verhältnisses zu sich sind, durch die sich das Individuum als Subjekt konstituiert und erkennt.“ (Foucault 1989a: 12)
Für Foucault wurde die Frage des Individuums so zu einer Frage des Subjektes und dessen Subjektivierungsformen, die den Status eines Individuums erst hervorbrachten. Er untersuchte, wie es dazu kommt, dass bestimmte Diskurse für Subjektivierungsformen Relevanz erhalten und andere nicht.43 Die zentrale Frage Foucaults lautet: wie ist man geworden, was man ist. Hierin lässt sich eine Verschiebung erkennen: das Interesse liegt nicht mehr auf der Beschreibung dessen was jemand zu sein scheint, was ein Subjekt ist und worüber es sich auszeichnet (Bewusstsein, Körper, etc.), sondern darauf auf welche Art und Weise, über welche Praktiken, in welchen Prozessen, jemand wird was er/sie44 ist. Foucault praxistheoretisch gewendet verweist explizit darauf, dass ihn Praktiken der Subjektivierung interessieren. Auch wenn er in seinem zentralen Konzept – der Technologien des Selbst –, zunächst nicht den Begriff der Praktiken anführt. Foucault spricht in seinen Arbeiten seltener vom Subjekt sondern von Subjektivierungsformen und später von Technologien des Selbst. Dieses Konzept der Technologien des Selbst sollte darüber hinaus auch als Titel einer neuen Buchveröffentlichung fungieren, die er nicht mehr realisieren konnte (Martin/Gutman/Hutton 1993: 7).45 Auf den Technologien des Selbst liegt Foucaults neuer Schwerpunkt:
43 Den Ansatz für diese Untersuchung findet er in der Analyse der Gouvernementalität, in der es darum geht, ein Regierungsparadigma auf alle Bereiche des Lebens auszudehnen. 44 Dies betrifft ganz explizit auch die Konstitution als er oder sie, welche Judith Butler zum Inhalt ihrer Arbeiten zum Subjekt macht (vgl. Kap. II, Abschnitt 3.2). 45 Erste Untersuchungen zu diesen finden sich im 3.Band von Sexualität und Wahrheit: Die Sorge um sich (Foucault 1989b), in dem er Texte aus der griechischen Antike untersucht. Er führt an, dass diese antiken Selbsttechniken auch ins Christentum transformiert wurden: „Wir können hieran beobachten, wie gewisse stoische Selbsttechniken in die spirituelle Technologie des Christentums übersetzt wurden.“ (Foucault 1993a: 56)
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„Mehr und mehr interessiere ich mich für die Interaktion zwischen einem selbst und anderen und für die Technologien individueller Beherrschung, für die Geschichte der Formen, in denen das Individuum auf sich selbst einwirkt, für die Technologien des Selbst.“ (Foucault 1993a: 27)46
Techniken produzieren ‚Wahrheiten‘ und Wissen über den Menschen und gleichzeitig ermöglichen sie dem Mensch eine bestimmte Subjekthaftigkeit. Foucault versteht diese Techniken als Technologien des Selbst: „Techniken, die es Individuen ermöglichen, mit eigenen Mitteln bestimmte Operationen mit ihren eigenen Körpern, mit ihren eigenen Seelen mit ihrer eigenen Lebensführung zu vollziehen, und zwar so, daß sie sich selber transformieren, sich selber modifizieren und einen bestimmten Zustand von Vollkommenheit, Glück, Reinheit, übernatürlicher Kraft erlangen. Nennen wir diese Techniken Technologien des Selbst.“ (Foucault 1984: 35f)
Als Beispiele für Technologien nennt Foucault in seinem Aufsatz Technologien des Selbst die „Schreibtätigkeit“ (Foucault 1993a: 38), unter welche er Briefe, Tagebücher, oder Aufzeichnungen fasst, Selbsterforschung, Askese oder auch die Traumdeutung (vgl. ebd.: 50). Diesen Techniken als Technologien des Selbst ist gemeinsam, dass sie die Sorge um sich in den Mittelpunkt stellen, die in den antiken Texten mit Selbsterforschung und Selbstenthüllung verbunden ist. Ihm geht es in der Betrachtung der Philosophie der griechischen und römischen Antike im Wesentlichen um eine Hervorhebung der Sorge um sich selbst, welche er analytisch als Voraussetzung zur Selbsterkenntnis setzt (Foucault 2009: 599). Foucault verbindet mit diesen Analysen einer Hermeneutik des Subjekt eine humanistische Perspektive sich von einer „gleichzeitige Individualisierung und Totalisierung durch moderne Machtstrukturen“ (Foucault 1987: 250) zu befreien, indem „wir die Art von Individualität, die man uns jahrhundertelang aufer46 Für Foucault sind diese Selbsttechniken eingebettet in ein Verhältnis zu drei weiteren Technologien. Diese vier Bereiche lassen sich nach Foucault nur selten voneinander trennen und hängen in ihren Funktionen voneinander ab (ebd.). Diese sind erstens Technologien der Produktion von Dingen und damit auch der Veränderung und der Manipulation: Produktionstechniken. Zweitens Technologien von Zeichensystemen, die für Bedeutungen, Symbole und den Sinn von etwas stehen: Signifikations- und Kommunikationstechniken. Und drittens Technologien der Macht, die Subjekte zu Objekten machen: Herrschaftstechniken. Diese Techniken hat Foucault um die Technologien des Selbst erweitert, was gleichzeitig die Kritik an seinen eigenen Arbeiten einschließt, die bis dahin wesentlich auf Herrschaftstechniken und Produktionstechniken konzentriert waren.
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legt hat“ abweisen (ebd.). Letztendlich versucht er also in seiner Betonung der Sorge um sich selbst als das Ziel von Technologien des Selbst neue Transformationsprozesse für Subjektivierungen zu finden. Im Gegensatz kritisiert er dazu, die für das Christentum charakteristische Entkopplung der Selbsterkenntnis von der Sorge um sich selbst, die letztendlich in einem Verzicht auf das Selbst endete.47 Für Foucault hat dies zwei Gründe: Den ersten Grund sieht er im Bezug zu „den Moralvorstellungen der westlichen Gesellschaft“ (ebd.: 31), welche „in der Sorge um sich selbst etwas Unmoralisches“ (ebd.: 31) erkennt. Der zweite Grund „liegt in der Tatsache, daß die Selbsterkenntnis (das denkende Subjekt) in der Philosophie von Descartes bis Husserl eine zunehmend größere Bedeutung als erster Schritt der Erkenntnistheorie erlangt hat. [...] In der griechisch-römischen Kultur erschien die Selbsterkenntnis als Folge der Sorge um sich selbst. In der Moderne dagegen verkörpert die Selbsterkenntnis das fundamentale Prinzip.“ (Foucault 1993a: 32)
Die engen Bezügen Foucaults auf das Selbst machen nachvollziehbar, dass in der Lesart von Andreas Reckwitz Technologien des Selbst vorrangig vor allem ein Konglomerat „selbstreferentieller Praktiken“ (Reckwitz 2006b: 53) sind, in welchem das Subjekt auf sich einwirkt. Reckwitz führt den Begriff der Technologien des Selbst eng an die Bildung eines Selbst, um „im ‚Innern‘ des Subjekts bestimmte kurzfristige oder langfristige Effekte zu erzielen.“ (Ebd.: 58) Technologie des Selbst beinhalten auch Körpertechniken, und es stellt sich die Frage ob Tango – verstanden als eine Körpertechnik – auch als eine selbstreferentielle Praktik im Sinne von Reckwitz zu verstehen sind? Das Beispiel des Tango lässt sich aber nicht problemlos an ein Konzept als selbstreferentielle Technologie des Selbst anpassen, wie sie Reckwitz für Sportkulturen oder auch den Tanz feststellt. Er überträgt seine Auslegung selbstreferentieller Technologien auf Körper und spricht von „körperbezogene Praktiken“, die direkt auf „leibliche Zustände abzielen“ (ebd.: 60). Das was Reckwitz als selbstreferentielle Techniken beschreibt, die „im Innern des Subjekts“ (ebd.) Effekte erzielt, ist nur eines der möglichen Ausformungen, welche Technologien des Selbst einnehmen. Foucault spricht hingegen weitergehend davon „sein Leben zum Gegenstand einer techné, sein Leben also zu einem Werk zu machen.“ (Foucault 2009: 515, Hervorhebung MH) 47 Es ist das zentrale Interesse von Foucaults letzten Arbeiten einer Hermeneutik des Subjektes einen Vergleich herzustellen zwischen den Inhalten der antiken philosophischen Texte mit dem Christentum im Interesse einer Sorge um sich selbst im antiken Verständnis.
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In der Frage danach wo sich der Tango als Technologie des Selbst verorten lässt, ist es also notwendig sich genauer den Begriff der Technologie anzuschauen. Foucault versteht unter Technologien „mit eigenen Mitteln bestimmte Operationen mit ihren eigenen Körpern, mit ihren eigenen Seelen mit ihrer eigenen Lebensführung zu vollziehen“ (Foucault 1984: 35f.) mit dem Ziel der Transformation und Modifikation des Selbst. Dies entspricht weitgehend auch dem was Marcel Mauss in seinem zentralen Aufsatz für eine Soziologie des Körpers über die Techniken des Körpers unter einer Technik als „traditionelle, wirksame Handlung“ (Mauss 1975: 205)48 versteht. Dies geht auf die Verwendung des griechischen techné, der Kunst der menschlichen Tätigkeit zurück, unter der menschliche Tätigkeiten als praktisches Wissen verstehbar sind. Auch Foucault begreift techné als ein Werk – was der vormoderne Bedeutung des Technikbegriffes entspricht, in welcher techné im weitesten Sinn als „die Art und Weise, etwas durchzusetzen, zu erreichen, zu bewerkstelligen; im allgemeinsten Sinn die menschliche Tätigkeit“ (Schischkoff 1991: 714) als Kunst des Schaffens und Wirkens verstanden wird: „Das schöne Werk (une oevre belle) ist eines, das der Idee einer bestimmten forma folgt (eines bestimmten Stils, einer bestimmten Lebensform).“ (Foucault 2009: 516)49 Diese vormoderne Bedeutung eines Technikbegriffes und damit auch von Technologien ermöglicht es eine direkte Verbindung zum Begriff der Praktiken zu ziehen und beide als synonyme Begriffe zu verstehen. Foucault hebt nicht ausdrücklich hervor, dass mit seinen untersuchten Techniken – wie etwa der Schreibtätigkeit oder der Askese – auch körperliche Techniken und Praktiken verbunden sind. Eingebunden in sein Werk, vor allem auch im Hinblick auf seine bereits in Überwachen und Strafen (Foucault 1994) ausgearbeitete Hervorhebung der Disziplinierung des Körpers über eine Mikrophysik der Macht, wird aber deutlich, dass er diese körperlich-materielle Dimension von Selbsttechniken geradezu voraussetzt. Frédéric Gros betont diese körperlichmaterielle Dimension in seiner Situierung der Vorlesungen der Hermeneutik des Subjekts: „Das Subjekt der Selbstsorge ist grundsätzlich eher ein Subjekt rechten Handelns als ein Subjekt wahrer Erkenntnisse.“ (Gros 2009: 644) Körperliche Technologien des Selbst – wie etwa beim Briefe schreiben die Techniken des Schreibens, des Stift Haltens, Sitzens und der Haltungseinnahme
48 Technik versteht er dabei nicht nur in einem moderne Sinne als Maschinentechnik, „wenn es ein Instrument dazu gab“ (Mauss 1975: 205), sondern weiter als kulturelle Kunstfertigkeit. 49 Die techné „unterliegt keiner regula (Regel), sondern einer forma (Form)“ (Foucault 2009: 515f.).
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am Tisch – müssen erlernt, körperlich vollzogen und in diesem Sinne als Praktiken inkorporiert werden. Bereits mit dem Erlernen werden diese Technologien zu einer Technologie des Selbst und erzielen ihre Wirkung als Subjektivierungspraktiken. Foucault betont die Transformationen des Subjektes über diese Technologien: „im Akt des Schreibens gewann die Selbsterfahrung eine Intensivierung und Erweiterung“ (Foucault 1993a: 38). Dies lässt sich vor allem auch daran zeigen, dass Foucault die Wichtigkeit von Lehr- und Lernprozessen in der antiken Philosophie hervorhebt, indem er Beispiele von Lehrer-Schüler-Konstellationen in den Vorlesungen der Hermeneutik des Subjekts anführt. Foucault nennt als Beispiele der techné auch Übungen der Körper oder Praktiken wie etwa bei Platon „körperliche und im wörtlichen Sinn gymnastische Übungen“ (Foucault 2009: 519), welche etwa „die beiden Tugenden – Widerstandskraft gegenüber der äußeren Welt und Selbstbeherrschung – durch körperliche und im wörtlichen Sinn gymnastische Übungen gewährleistet.“ (Ebd.) Die Selbsttechniken dienen also nicht nur der Formung des Körpers, sondern mit dieser auch der Formung des Selbst als einer bestimmten Lebensform, eines bestimmten Selbst- und Weltverhältnisses von Subjekt und Körper: „Der Zweikampf ist das Modell für den Kampf mit allen Ereignissen und allen Übeln.“ (Ebd.: 520) Tango lässt sich auf einer bewegungssanalytischen Ebene (II.1) zunächst als ein solcher Komplex von Technologien des Körpers beschreiben – als ein praktisches Wissen – welche gleichzeitig Subjekte formen und somit als Technologien des Selbst zu begreifen sind. Tango zu tanzen ist danach eine Technologie des Körpers und eine Technologie des Selbst: eine Technologie der Subjektivierung. Tango als erlernte Technologie des Körpers hat aus dieser Perspektive dann zweifelsohne auch Subjektivierungeffekte (ebd.: 453). Die „unhintergehbare Historizität und Kontextualität moderner Subjektivierungsweisen“ (Bührmann 2005: 17) ist dabei Foucaults Leistung, wie Bührmann hervorhebt, indem er nach den „(Trans-)Formierungsgeschehen moderner Subjektivierungsweisen [fragt], d.h. die Art & Weise, in der Menschen sich selbst und andere wahrnehmen, erleben und klassifizieren.“ (Ebd.)
In der Relation von Subjektivierungsprozessen, Technologien und Körpern lässt Foucaults theoretischer Ansatz allerdings auch Fragen offen. Deutlich geworden ist, dass ein Subjektstatus erst über Technologien und körperliche Praktiken erreicht wird. Subjekte also niemals Voraussetzung sind, sondern vielmehr Resultat von Subjektivierungsprozessen. In diesem Zusammenhang wird es viru-
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lent danach zu fragen wie es möglich ist, dass Körper Praktiken und Technologien ausüben und auf welche Weise darüber Subjektivierungen stattfinden. Dies schließt an Fragen an, welche in der Körpersoziologie unter dem Stichwort des Körperwissens oder Körperhandelns diskutiert werden und welche im Anschluss an Foucault dessen Perspektive ergänzen sollen.
3. D IE S OZIOGENESE
VON
K ÖRPER -S UBJEKTEN
Foucaults Ansatz einer Subjekttheorie über Technologien des Selbst – hier im Weiteren geführt als Subjektivierungspraktiken – eröffnet die zentrale Frage nach dem dahinter stehenden Körperkonzept, welches er selbst in diesem Zusammenhang nicht ausgearbeitet hat.50 Fruchtbare und anschlussfähige Ansätze finden sich jedoch in den Diskussionen, die die Körpersoziologie in den letzten Jahren unter den Stichworten des Wissens vom Körper und des Wissens des Körpers (Hirschauer 2006; Keller/Meuser 2011b: 10) diskutiert. Im Folgenden wird nun – anschließend an Michel Foucaults Entwurf von Subjektivierungspraktiken – eine Konzeption entwickelt, auf welche Weise über Bewegungen von Körpern, Subjektivitäten produziert werden. Dafür werden zunächst AutorInnen und aktuelle Diskussionen der Körpersoziologie um ein Körperwissen aufgenommen. Diese greifen Bourdieus Sozialtheorie auf, die daher auch in wesentlichen Grundzügen und vor allem im Bezug zur Dimension des Körpers skizziert wird. Diese Ansätze werden mit Foucaults Subjekttheorie verbunden, da in dieser ein Körperwissen nicht explizit gemacht wird. Im Anschluss wird diese Konzeption um Judith Butlers Theorie der Subjektivation erweitert, da sie diese theoretischen Linien von Körper, Subjekten und Praktiken miteinander verbindet und vor allem Machttheoretisch ausbuchstabiert. 3.1 Bewegungswissen: der Körper als Agens In einem grundlegenden Aufsatz51 des Körpersoziologen Stefan Hirschauer setzt dieser ein Bekenntnis der Soziologie zum Körper: „Es geht ihr um das Wissen
50 Es lässt sich zwar ein Zusammenhang herstellen zu Foucaults Körperkonzept in Überwachen und Strafen, allerdings impliziert dies die Problematik einer einseitig wirkenden Disziplinierungsmacht auf Körper als Herrschaftstechniken. 51 Der Aufsatz ist die schriftliche Fassung seines Vortrages bei der Plenumsveranstaltung der Soziologie des Körpers und des Sport beim Deutschen Soziologienkongress 2006.
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im Körper oder auch: um wissende Körper.“ (Hirschauer 2008a: 977)52 Hirschauer unterscheidet drei Dimensionen im Verhältnis von Wissen und Körper: „Wissen vom Körper, im Körper und am Körper.“ (Ebd.: 974) Das Wissen vom Körper zeigt sich vor allem in Diskursen über Körper, in welchen Wissen von Körpern produziert wird und Körper als „Gegenstand von Wissensbeständen“ (ebd.: 974) begriffen werden. Paradigmatisch seien hier vor allem Medizin und Biologie genannt – die etwa in Neurowissenschaften, Humangenetik oder etwa auch Gehirnforschung ein spezifisches Wissen von Körpern produzieren, welches auf die Alltagswahrnehmung von Körpern rückwirkt und macht was als Körper wahrgenommen wird. Unter dem Wissen am Körper versteht Hirschauer, den Körper als Medium von Kommunikation, als „um Wissen kommunizierende Körper“ (ebd.: 978), was er vor allem auf die Sichtbarkeit von Körpern, ihre Zeichenhaftigkeiten und Verkörperungen bezieht. Die für diese Arbeit zentrale Perspektive zeigt sich jedoch am Wissen im Körper als einer „Wissensträgerschaft“ (ebd.: 977) des Körpers, welche als „ein körperliches Können“ (ebd.) zu verstehen ist. Hirschauer betont im Rückgriff auf Alfred Schütz diese Form des Wissens als „implizites Wissen“ (ebd.) und ergänzt, dass dieses Wissen ohne Bezug zu Sprache auskommt im Sinne von „Fingerspitzengefühl, Orientierungssinn, Geschicklichkeit, Kniffen und Tricks“ (ebd.).53 Michael Meuser hat dies auf den Nenner des „Körper als Agens“ (Meuser 2006: 103) gebracht und Gabriele Klein sogar noch weitergehender: „Dem Körper eine Subjektposition zuzugestehen, provoziert die Frage nach dessen Handlungskompetenz oder umfassender: nach einer Praxis des Körpers.“ (Klein 2005: 80) Die drei Körpersoziologen Hirschauer, Meuser und Klein beziehen sich bei der Frage nach dem Körper als Wissensträger, Agens oder gar Subjekt auf Pierre Bourdieus Theorie. Die Frage nach Körpern als Wissensträger oder Agenten von sozialen Situationen setzt dabei zunächst ein bestimmtes Körperkonzept voraus. Grundsätzlich 52 In dem Aufsatz „Praktiken und ihre Körper“ arbeitet Hirschauer grundlegend das Verhältnis von Praktiken und Körpern aus. In seinem Titel verweist die Metaphorik auf ein Besitzverhältnisses von Körper zu Praktiken, was so zu verstehen ist, dass Körper erst in und über Praktiken in Erscheinung treten, ein Körper also wesentlich an diese Praktiken gebunden ist und darüber hinaus kein autonomes Handlungssubjekt als Agens vorgestellt werden muss. Diesen Gedanke möchte ich eng geführt übertragen auf das Bewegungswissen im Tango, welchem die Körper im Tango folgen. 53 Nach Hirschauer ist die Frage nach wissenden Körpern, im Anschluss an Haraway eine Frage nach einer Situierung von Wissen (Hirschauer 2006: 978).
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lässt sich sagen, dass Körper – ähnlich dem was für Foucaults Subjektbegriff im letzten Abschnitt gezeigt wurde – nicht vorausgesetzt werden können, sondern ein Ergebnis von sozialen Prozessen sind: „Im Gegensatz zu einem substantiellen, essentiellen Körperbegriff, der den Körper als vorsozial und grundsätzlich triebhaft ansieht, braucht eine Soziologie der Bewegung einen Körperbegriff, der den Körper als ein soziales Konzept versteht, das erst im Handlungsvollzug, also in der Bewegung in Raum und Zeit ‚wirklich‘, das heißt, sinnlich erfahrbar und sozial wirksam ist.“ (Klein 2004a: 147)
So hatte auch Foucault bereits in Überwachen und Strafen (1994) diese Formbildungsprozesse von Körpern am Beispiel der Disziplinierung von Körpern aufgezeigt – diesen Aspekt aber leider im Bezug zu seinen Ansätzen einer Hermeneutik des Subjektes nicht wieder aufgenommen. Im Rahmen eines solch sozialen Konzeptes von Körpern wird deutlich, wie sehr Körpersoziologie auch mit Bourdieus Praxistheorie verbunden ist: Körper agieren über Praktiken und Praktiken konstituieren Körper, Körperbilder, Körperwahrnehmungen etc. – Körper sind „Träger von Praktiken“ (Hirschauer 2008a: 977). Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass ein Körperkonzept, das Körper als Agenten von sozialen Situationen versteht, kein statisches Konzept sein kann, sondern letztendlich im doppelten Sinn immer in Bewegung ist – tatsächlich und metaphorisch. Denn Körper konstituieren sich in Relation zu, mit und über Praktiken und in Bewegungen. Diese sozial gewordene Struktur von Körpern und dessen Verkörperungen über und in bewegten Praktiken verweisen auf den Handlungsspielraum des Körpers. Der Körper als Agens im Sinne des Bourdieu’schen Habitus ist kein ‚willentlich‘ frei handelnder Körper – wie es auch schon für das Subjekt der Handlungstheorie in Frage gestellt wurde (siehe Kap. I. 2) – sondern ein an die Strukturen und Logiken von Feldern angepasster und dieses als Wissen inkorporierte und (re)produzierende Könnens-Körper. Bourdieu fasst ein Wissen im Körper in seinem Konzept des sens pratique oder auch des Spiel-Sinns zusammen: „eine intentionslose Intentionalität, die im Sinne eines Prinzips von Strategien ohne strategischen Plan, ohne rationales Kalkül, ohne bewußte Zwecksetzung funktioniert.“ (Bourdieu 1989: 397) Diese paradoxen Formulierungen sind deshalb möglich, weil der in der Logik von Feldern agierende Körper keine Strategie braucht, da er im Spiel-Sinn bereits die in Feldern relevanten Logiken inkorporiert hat und so „situationsadäquat“ (Klein 2004a: 144) agiert.
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Mit seinem Konzept des sens pratique lässt sich zeigen, dass dieser soziale Sinn an ein spezifisches Feld gebunden ist und nur innerhalb der Logik dieses Feldes zu verstehen ist (Bourdieu 1993: 104 f). Der sens pratique folgt damit keiner bewusst rationalen Strategie, er ist vielmehr ein den Situationen angepasstes Handeln, welches aus inkorporiertem Wissen entsteht, erlernt und erprobt wurde und so einen feldspezifischen Habitus bildet (Bourdieu 1989: 397). Im sens pratique werden die Verhaltensweisen produziert, die aus Sicht der Akteure in einem Feld für das relevante und damit ‚vernünftige‘ Verhalten angesehen werden und sich nur innerhalb der Logik des Feldes verstehen lassen, der sie damit angepasst sind (Bourdieu 1993: 104). Bourdieu sieht damit eine „vorreflexive ontologische Komplizität“ (Bourdieu 1989: 397) zwischen Habitus (und dessen inkorporierten sens pratique) und Feld: „Der ‚Spiel-Sinn‘ ist, so läßt sich aus dem Vorangegangenen schließen, die verinnerlichte Form der Notwendigkeit des ‚Spiels‘.“ (Ebd.: 399) Der sens pratique – übersetzt als praktischer oder sozialer Sinn – ermöglicht Akteuren einen Sinn für ihre Position zu bekommen und eine Positionierung einzunehmen und damit verbunden auch einen Sinn für die Position Anderer. Bourdieu spricht im Bezug zu Erving Goffman von einem sense of one’s place und einem sense of other’s place (ebd.: 403f.). Die dem Habitus entsprechende Position in einem Feld wird damit besonders in der Positionierung der Akteure über Distinktion54 deutlich. Die distinguierten Praktiken, wie Bourdieu sie nennt, sind keine bewussten Entscheidung zur Unterscheidung, sondern haben sich vielmehr im Habitus eingeschrieben, als Spiel-Sinn, als praktische Kenntnisse des Körpers, welches Verhalten in einem Feld angemessen ist und welches nicht: „Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man.“ (Bourdieu 1993:135) Sie zeigen die Relation des Habitus zum Feld und zu den anderen Positionen im Feld, bzw. zu den anderen Habitus. Damit wird auch klar, dass sich je nach Zustand des Feldes dieselben Dispositionen unterschiedlich auf Praktiken auswirken können, denn der Habitus wirkt immer nur in der Relation zu einem Feld (Bourdieu 1989: 406): „Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat.“ (Bourdieu 1987: 105) Bourdieus Konzept des Habitus fasst diese soziale Gewordenheit des Körpers und der mentalen Überzeugungen und Positionierungen zusammen. Gleich-
54 Bourdieu definiert Distinktion als ein: „Unterschiede setzende(s) Verhalten (in dem eine bewußte Absicht, sich von der Allgemeinheit abzusetzen, impliziert sein mag oder nicht).“ (Bourdieu 1982: 62)
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zeitig wird mit dieser Verwobenheit von Körper und sozialem Raum auch das Verhältnis zum Habitus geklärt: „Er [der Habitus] gibt dem Akteur eine generierende und einigende, konstruierende und einteilende Macht zurück und erinnert zugleich daran, daß diese sozial geschaffene Fähigkeit, die soziale Wirklichkeit zu schaffen, nicht die eines transzendenten Subjekts ist, sondern die eines sozial geschaffenen Körpers, der sozial geschaffene und im Verlauf einer räumlich und zeitlich situierten Erfahrung erworbene Gestaltungsprinzipien in die Praxis umsetzt.“ (Bourdieu 2001: 175)
Diese Umsetzung von sozial erworbenen Erfahrungen und Gestaltungsprinzipien setzt sich nicht nur in die Praxis um, sondern generiert im Zuge dessen auch eine spezifische Positionierung, einen Habitus und auch eine Subjektivität: „Der Habitus ist die sozialisierte Subjektivität.“ (Bourdieu in Bourdieu/Wacquant 1996: 159) Bourdieu grenzt sich deutlich von einem bewusstseinsphilosophisch belasteten Subjektbegriff ab, wenn er betont, dass „das Individuelle und selbst das Persönliche, Subjektive, etwas Gesellschaftliches ist, etwas Kollektives.“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 159). Die Setzung, dass das Subjektive erst aus den sozialen Praktiken entsteht, weist jedoch große Ähnlichkeit mit dem im letzten Abschnitt vorgestellten Konzept Foucaults von Subjektivierungspraktiken auf. Auch bei Foucault entsteht Subjektivität erst über Praktiken. Doch während Bourdieu davon spricht, dass es ausschließlich eine sozialisierte Subjektivität gibt, geht Foucault noch weiter in seinem Konzept und spricht davon, dass sich Subjekte transformieren können. In einer Verbindung von Foucault und Bourdieu bilden sich Subjekte über Praktiken am Körper als habitualisierte und sozialisierte Subjekte, wie es etwa auch Reckwitz aus seiner Verbindung einer praxistheoretischen Perspektive mit Foucault herausarbeitet: „Diese [Praktiken, MH] betreiben, plakativ formuliert nicht nur ein ‚doing culture‘, sondern auch ein ‚doing subjects‘: sie stellen sich als Subjektkulturen dar.“ (Reckwitz 2006b: 35f.) Folgt man Bourdieus Konzept des sens pratique, dann müssen die Bewegungsprinzipien des Tango Argentino in die Körper der Tanzenden als Körperwissen eingeschrieben werden, damit sie eine kontingente Bewegungsordnung produzieren können. Diese Inkorporierung macht es überhaupt erst möglich, über Führungs- und Folgesignale zu kommunizieren. Die empirischen Beispiele im Kapitel I und II haben bereits gezeigt, inwieweit Tango als Paartanz eine Wissens- und Interaktionsordnung ist. Tango beruht auf erlernten Bewegungen, die „auf einer vorreflexiven Ebene“ (Meuser 2006: 102) basieren. Wie jedoch
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Subjekte eine kontingente Ordnung des Tango durch korporale Abstimmungsprozesse produzieren, lässt sich auch mit dem Habituskonzept nur bedingt erklären. Dafür kann das Habituskonzept sehr gut skizzieren, was unter einem körperlich, inkorporierten Wissen als Körperwissen zu verstehen ist. Im Habitus werden einerseits, die in den Akteuren wirkenden Strukturen und andererseits die Handlungsmöglichkeiten von Akteuren, auf diese Strukturen zu wirken, erfasst. In der Zusammenführung von Bourdieu um Foucault lässt sich zugespitzt formulieren: der Status eines Subjektes ist das Ergebnis einer körperlichen Habitualisierung durch ein Feld, eben eine sozialisierte Subjektivität. Am häufigsten kritisiert wird Bourdieu in diesem Spannungsverhältnis von Strukturen und einer solchen sozialisierten Subjektivität, weil er scheinbar ausweglos einen sozialen Determinismus aufzeigt. Dieser Kritik stellt er sich jedoch entgegen:55 „Der Habitus ist nicht das Schicksal, als das er manchmal hingestellt wurde. Als ein Produkt der Geschichte ist er ein offenes Dispositionssystem, das ständig mit neuen Erfahrungen konfrontiert und damit unentwegt von ihnen beeinflußt wird.“ (Bourdieu in Bourdieu/Wacquant 1996: 167)
Bourdieu hebt hingegen das kreative Potential des Habitus hervor, „die generative, um nicht zu sagen kreative Kapazität, die im System der Dispositionen als ars – als Kunst in ihren eigentlichen Sinne der praktischen Meisterschaft – und insbesondere als ars inveniendi angelegt ist“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 154). Und auch hier zeigt sich deutlich die Ähnlichkeit zu dem was Foucault unter dem Begriff der techné, als der kreativen Gestaltung und Kunst der menschlichen Tätigkeit versteht und die Bourdieu somit noch um eine körperliche Dimension erweitert. Die Kritik an einem Determinismus lässt nämlich außer Acht, dass Bourdieu die Konstitution, bzw. Dispositionen des Habitus und damit auch des Körpers relational bestimmt: „der Habitus realisiert, aktualisiert sich lediglich in der Beziehung zu einem Feld, wie auch ein und derselbe Habitus je nach Zustand des Feldes zu höchst unterschiedlichen Praktiken und Stellungnahmen führen kann.“ (Bourdieu 1989: 407)
55 Bourdieu stellt sich explizit gegen eine solche Determinationskritik: „Solche mechanischen, von einem geschlossenen Kreislauf ausgehenden Modelle sind genau das, womit der Begriff Habitus aufräumen soll.“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 169)
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Entscheidend für diese Relationen ist der in einem Feld existierende Glaube – die Illusio – an das Feld. Die Illusio steht für das „Sich-Einbringen in das Spiel […] die von der Logik des Feldes aus gesehenen relevanten Unterscheidungen zu treffen (das, was für mich von Gewicht ist, von dem, was mir egal, gleichgültig ist, zu unterscheiden)“ (Bourdieu 1999: 360). Diese Unterscheidungen werden in einem habitualisierten Bewegungswissen vom Körper getroffen, sie sind ein nicht reflexives Wissen darüber, welche Unterscheidungen wichtig sind. In der Tangokultur lässt sich etwa die häufig diskutierte Führen- und Folgenstruktur als eine solche Unterscheidung lesen, die mit der Illusio des Tango – und seinen Diskursen darum – als leidenschaftlicher und dialogischer Paartanz zusammenhängt. Die Verbindung der Dispositionen eines habitualisierten Körpers mit den Logiken und der Illusio in einem Feld – wie der Tangokultur – ermöglichen Subjekten sich in diesem Tanzfeld zu positionieren, bzw. Positionen einzunehmen. Diese Positionen lassen sich als Subjektpositionen oder als Ergebnis einer gelungenen Subjektivierung begreifen. Sich als Führend, Folgend oder gar beides zu bezeichnen, beschreibt solche Positionierungen und deren Bewegungsspielräume. Diese Relation von Habitus und Feld kann dann auch Foucaults Konzeption des Subjektes erweitern, dahingehend dass die Soziogenese56 eines Subjektes nicht ausschließlich als Determination zu verstehen ist, sondern im „unaufhörlichem Wandel begriffen“ (ebd.: 406) ist und auch damit veränderbar, so wie es die Struktur von Felder ebenso bestimmt: „Jedes Feld bildet einen potentiell offenen Spiel-Raum mit dynamischen Grenzen, die ein im Feld selbst umkämpftes Interessenobjekt darstellen. Ein Feld ist ein Spiel, das keiner erfunden hat und das viel fließender und komplexer ist als jedes nur denkbare Spiel.“ (Bourdieu in Bourdieu/Wacquant 1996: 135)
Gegen einen sozialen Determinismus von Feldern auf die Bildung einer sozialisierten Subjektivität spricht neben der Relationalität von sich veränderten Feldern, die Tatsache, dass Körper in einem Feld durch Lehr- und Lernprozesse dieses Körperwissen aneignen. Bourdieu beschreibt die Inkorporierung eines sens pratique zu einer feldspezifischen Subjektivität als Prozesse des Lernens, bzw. als „Sozialisationsprozes56 Soziogenese verstehe ich hier und im Folgenden als Erweiterung der Verwendung des Begriffes bei Norbert Elias als „Herausbildung bestimmter soziokultureller Erscheinungen […] aus vielschichtigen geschichtlich-gesellschaftlichen Verflechtungszusammenhängen“ (Hillmann 1994: 818) in einem weiten Sinne als eine soziale Genese oder soziale Entstehung.
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se“ (Klein/Friedrich 2003: 195) und betont ganz ähnlich wie Foucault bei den Technologien die Lernsituation und bezieht sich in diesem Zusammenhang sogar auf ihn: „Wir lernen durch den Körper. Durch diese permanente, mehr oder weniger dramatische, aber der Affektivität, genauer gesagt dem affektiven Austausch mit der gesellschaftlichen Umgebung viel Platz einräumende Konfrontation dringt die Gesellschaftsordnung in die Körper ein. Dies erinnert, zumal nach den Arbeiten Michel Foucaults, an den von der Disziplin der Institutionen ausgehenden Normierungsdruck.“ (Bourdieu 2001: 181)
Als Beispiel wählt Bourdieu in einem Aufsatz die Lernprozessen in Bewegungskulturen wie Sport und Tanz (Bourdieu 1992: 205) um den Umstand des Lernens von Bewegungen durch den Körper zu veranschaulichen. Diese „verstehen mittels des eigenen Körpers“ (ebd.)57 beruht auf einem Wissen der jeweiligen Bewegungsfelder. Und auch Bourdieus Schüler Loic Wacquant spricht im englischen Titel der Originalausgabe seines Buches einer Einkörperung in die Boxkultur von seiner ‚Lehre‘ zum Boxer (Body and Soul: notebooks of an apprentice boxer – Hervorhebung MH): „Die Vermittlung des Boxens geschieht auf gestischem, visuellem und mimetischem Weg, mittels einer geregelten Manipulation des Körpers, wobei auf jeder der stillschweigenden hierarchischen Ebenen des Clubs das kollektive Wissen somatisiert wird, über das die Mitglieder verfügen und das sie vorweisen.“ (Wacquant 2003: 103)
Bourdieu und an ihn anschließende Autoren einer Körpersoziologie, betonen bei diesen Lernprozessen der Einkörperung eines sens pratique den Vorgang der Mimesis (vgl. etwa Klein/Friedrich 2003: 195ff.; Meuser 2006: 106ff.; Gebauer/Wulf 1998, 2003; Villa 2010a: 255; Wacquant 2003: 121ff.). Klein und Friedrich haben diese Prozesse der Einkörperung über Bewegungen am Beispiel des HipHop veranschaulicht und weitergeführt: „Mimetische Identifikation meint also nicht nur Konventionalisierung im Sinne der Reproduktion eines Normengefüges, sondern beschreibt den performativen Akt der Neukontextualisierung und Aktualisierung.“ (Klein/Friedrich 2003: 197)
57 Bourdieu thematisiert das Wissen des Habitus „als Ergebnis eines langen und komplexen Konditionierungsprozesses die objektiven Chancen, die sich ihnen bieten, verinnerlicht haben.“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 163)
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Mit einem erweiterten Konzept von Mimesis – als Nachahmung und Emergenzen – wird neben der Betonung von körperlichen Lehr- und Lernprozessen über Bourdieu die Verbindung zum Setzen der Unterschiede und der Positionierung im Feld deutlich. Es ist die Frage danach, wer die Unterschiede in der Tangokultur setzt und bestimmt welche Bewegungen relevant sind und welche nicht. In der Sprache der Tanzwissenschaft ist es die Frage, welche Techniken in einem Tanz anerkannt sind und welche nicht. Tanztechniken lassen sich tanzhistorisch als die zentralen Kategorien beschreiben, welche die Körper und Bewegungspraktiken in Tanzkulturen bestimmen (Klein 1994; Diehl/Lampert 2010). Mit dieser Kontextualisierung eines machttheoretischen Technikbegriffes im Tanz müssen auch mimetische Lehr- und Lernprozessen einer Habitualisierung – und eine Soziogenese von Körpern und Subjekten um diese machttheoretische Dimension erweitert werden. Denn sowohl Bourdieu, als auch Foucault kommt es neben der Verabschiedung eines autonomen, sich selbst durchschauenden Bewusstseinssubjekt vor allem darauf an, zu zeigen, dass gesellschaftliche Strukturen in Körpern ihren Wirkungsgrad erreichen. Machtstrukturen schreiben sich in Bewegungen als Techniken und in Körpern ein, und darüber nach Foucault auch in Subjekten. Diesen Zusammenhang einer Soziogenese des Körpers erweitert Butler dezidiert in Verbindung mit der Soziogenese von Subjekten. In ihrem Konzept der Subjektivation verbindet sie Körper und Subjekte mit gesellschaftlichen Strukturen und Machtgefügen. Befassen sich Bourdieu und Foucault auch mit Fragen nach Machtverhältnissen, so erweitert Butler diese Perspektive explizit auf Subjektivierungen, auf die Bildung von Subjekten in Relation zur Macht. 3.2 Körper-Subjekte zwischen Praxisfähigkeit und Unterwerfung Judith Butler zieht in ihrer Arbeit Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung die Verbindungslinien zwischen Freud, Foucault und Althusser in Bezug auf die Frage nach der Möglichkeit eines Subjektstatus und um „die Theorie der Macht zusammen mit einer Theorie der Psyche zu denken“ (Butler 2001: 8). Sie möchte mit dem Neologismus Subjektivation58 auf den doppelten Prozess der gleichzeitigen Unterwerfung und Subjektwerdung hinweisen, die im Begriff der 58 Siehe auch die Anmerkung des Übersetzers: „Der englische Begriff ‚subjection‘ bedeutet zwar im alltäglichen Gebrauch lediglich ‚Unterwerfung‘ (und auch ‚Abhängigkeit‘), erinnert aber durch die lateinische Wurzel auch an das subjectum und damit an den Prozeß der Subjektwerdung. Dieser im vorliegenden Buch entscheidende Doppelaspekt wäre im Deutschen nur durch die umständliche Verwendung von ‚Unterwerfung/Subjektwerdung‘ wiederzugeben.“ (Butler 2001: 187)
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Subjection im Englischen bereits enthalten ist. Subjekte und mithin immer Subjektpositionen (bzw. Butler spricht in diesem Zusammenhang auch von Identitäten) entstehen erst im Prozess der Unterwerfung unter eine Macht. Diese Konzeption der Subjektivation Butlers nimmt sie von Foucault auf: „Zunächst denke ich allerdings, daß es kein souveränes und konstitutives Subjekt gibt, keine universelle Form des Subjekts, die man überall wiederfinden könnte. Einer solchen Konzeption vom Subjekt stehe ich sehr skeptisch, ja feindlich gegenüber. Ich denke hingegen, daß das Subjekt sich über Praktiken der Unterwerfung konstituiert bzw. – auf autonomerer Art und Weise – über Praktiken der Befreiung und der Freiheit.“ (Foucault 1984: 137f.)
Mit der Genese der Subjektivität geht nach Butler die Genese der Handlungsfähigkeit einher, die als „Wirkung seiner Unterordnung“ (Butler 2001: 16) erscheint: „Die Macht wirkt nicht nur auf das Subjekt ein, sondern bewirkt im transitiven Sinn auch die Entstehung des Subjekts. Als Bedingung geht die Macht dem Subjekt vorher.“ (Ebd.: 18) Es ist diese von der Macht ausgehende und die Subjekte konstituierende Macht, die das Subjekt bildet und ihnen eine Handlungsfähigkeit, im praxistheoretischen Verständnis eine Praxisfähigkeit verleiht. Butler versteht Macht aber nicht ausschließlich als Determination, sondern betont vielmehr im Gegensatz dazu, die gleichzeitige Errungenschaft einer Handlungsfähigkeit. Macht ist dabei der große symbolische Nenner auf den alle Formen von Regeln, Normen, Ideologien, Denkweisen etc. zusammenfasst werden können. Denn Macht ist niemals etwas undefinierbares oder immaterielles – sondern tritt auf in konkreten Formen als Regel, Norm, Wissen, Wahrheiten und auch Materialitäten - die und darin liegt der Clou: in und mit Praktiken inkludiert sind: „In dieser Fassung sind Praktiken ‚regelgeleitet‘, indem sie nicht nur regelmäßig ablaufen, sondern auch impliziten Handlungskriterien folgen.“ (Hörning 2004: 23) Theoretisch ausformuliert: Regeln, Strukturen, Normen gehen Subjekten voraus und sind in Praktiken eingelassen, wie es bereits Marcel Mauss am Beispiel der Techniken des Gehens, Sitzens oder Hockens aufgezeigt hat. In der Unterordnung unter diese Regeln und Techniken gewinnt das Subjekt nach Butler Handlungsfähigkeit im Rahmen dieser Bezugsgrößen von Macht. Aus der Perspektive der Tanzwissenschaft lässt sich dies am Begriff der Tanztechniken im Tanz beschreiben, welche als Macht die Tanzkulturen bestimmt. Jeder Tänzer erlernt einen Tanzstil, eine Art und Weise des Tanzens – tänzerische Praktiken – die als Machttechniken zu verstehen sind: Tänzer müssen sich der Aneigung dieser Technik unterwerfen, sie werden „Tanztechnische
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Körper“ (Lampert 2007: 106f.).59 Aber gleichzeitig gewinnen sie in der Beherrschung einer Technik auch Praxisfähigkeit. Hier lässt sich eine Verbindung ziehen, zudem was Wacquant sehr anschaulich für den Körper im Boxen beschrieben hat, indem der Körper im Boxen durch Sozialisationsprozesse zum „spontanen Strategen“ (Wacquant 2003: 101) wird, welcher „unmittelbar und ohne den Umweg (und den damit verbundenen Verlust an kostbarer Zeit) über abstraktes Denken, Vorüberlegungen und strategisches Kalkül“ zum Agens des Boxens werden kann (ebd.: 100f.). Auch Tanzende werden zu spontanen Strategen, indem sie als tanztechnische Körper praktizieren. So arbeitet der Tanzwissenschaftler Franz Anton Cramer in seinem Aufsatz Technik ist Macht am Beispiel der französichen Diskursgeschichte von zentralen Werken zum Tanz die historische und normativ-besetzte Geschichte eines eben nur scheinbar neutral besetzten Begriffes von Techniken im Tanz heraus. Er veranschaulicht, die von der Tanztheorie gesetzten historischen Dimensionen von Tanzstilen, Techniken und Trainingsmethoden (Cramer 2008: 88), deren Institutionalisierungen und Normierungsbestrebungen und sogar deren Rückwirkung auf die Praxis des Tanzes (ebd.: 105). Er versteht Techniken im Tanz als eine „Beherrschung der Bewegung“ (ebd.: 87), als Form oder Stil; „als dasjenige, welches da ist, bevor der Tanz da ist; als Bezugsgröße für die Praxis und für das Tun der Tänzer.“ (Ebd.: 88) Cramer betont, dass Techniken in Tanzfeldern immer Techniken der Macht sind, die andere Formen, Stile und Techniken ausschließen und Tanzkörper und Tanz normativ besetzen und bestimmen. Auch Butler verwendet für ihre Analysen den Begriff des Stils im Bezug zum Körper, indem sie davon spricht, dass „Geschlechtsidentität durch die Stilisierung des Körpers“ (Butler 1991: 206)60 produziert wird. Diese Stilisierung des Körpers als eine Geschlechtsidentität lässt sich im Tango sehr gut an den Tanzrollen ablesen, welche über Kleidung und auf den für die Tanzrollen ausgelegten Bewegungen (siehe Kap. II 1.2) abzulesen sind. Dieses Verständnis einer Stilisierung des Körpers lässt sich mit Bourdieu als Praktik oder auch mit Foucault als Technologie des Körpers verstehen, in welchem „die Bewegungen und die Stile unterschiedlicher Art die Illusion eines unvergänglichen, geschlechtlich 59 Lampert veranschaulicht ihr Konzept von tanztechnischen Körpern am Beispiel des Kunsttanzes in Ballett, Moderner Tanz, Postmodern Dance und zeitgenössischem Tanz und arbeitet die spezifischen Differenzen der Tanzstile heraus (ebd.: 106ff.). 60 Diesen Gedanken nimmt auch Reckwitz auf: „Das Subjekt ist seine eigene ‚verkörperte‘ Ausführungs- und Aufführungspraxis, es wird zu einem für den anderen und sich selbst intelligiblen und kompetenten Subjekt durch die ‚wiederholte Stilisierung des Körpers‘ (Butler 1991: 60)“ (Reckwitz 2006a: 711)
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bestimmten Selbst (gendered self) herstellen“ (ebd.: 207). Im Anschluss an das hier entworfene Konzept einer korrelierenden Praktik lässt sich dann sagen, dass diese Praktiken den Körper stilisieren – so wie es etwa in der zeitgenössischen Tanzhaltung oder den noch immer eingehaltenen Tanzrollen zu beobachten ist. Eine Stilisierung muss also letztendlich als ausgeführtes Körperwissen, als Praktik verstanden werden, in welchen Körper agieren und eben tanzen können. Im Anschluss an Cramers Begriff von Technik im Tanz, welchen er auch als Stil oder Form versteht, lässt sich dieses Zitat von Butler explizit auf den Tanz erweitern. Mit Bourdieu und Foucault gelesen, lernen Körper im Zuge ihrer tänzerischen Sozialisationsprozesse bestimmte Praktiken, Techniken und Stile um als Körper tanzen zu können: Techniken des Tanzens. In diesem erlernten Können der Körper (als Technik und Stil): als Tanzkörper, oder Boxkörper nach Wacquant oder auch Geschlechtskörper nach Butler werden Körper stilisiert: sie stellen etwas dar, ohne inszeniert zu sein – sie sind dem Feld entsprechend agierende Körper, welche die Logiken des Feldes verinnerlicht haben.61 Diesem Zusammenhang liegt ein sozialwissenschaftliches Erklärungsmodell zu Grunde, in welchen Körpern eine Soziogenese vorausgeht. Körper zu stilisieren lässt sich mit Bourdieus Konzept des sens pratique zusammenführen: ein den Körpern innewohnendes implizites Wissen (sens pratique) um die Techniken des Körpers (im Habitus) – welches sich einer Soziogenese von Körper-Subjekten verdankt – schafft überhaupt erst die Möglichkeit Körper zu stilisieren, die Inkorporierung von Techniken und Praktiken ist die Voraussetzung für eine gelungene Stilisierung. Eine Stilisierung lässt sich als Inszenierung, Darstellung oder nach Butler als „Darbietung“ lesen – auch wenn sich aufgrund der Soziogenese dieser sich stilisierenden Körper-Subjekte nicht mehr von einer intentionalen Entscheidung zur Inszenierung oder Darstellung reden lässt, sondern vielmehr von einem impliziten Wissen von Praktiken, Techniken und Stilisierungen. Körperwissen wird also nicht nur angeeignet, es ‚zeigt‘ sich auch am Körper und in der Ausführung der Praktiken, es ist ein „performed knowledge“ (Hirschauer 2008a: 981). Prozesse einer Subjektivation setzen nach Butler die Unterwerfung unter eine Macht voraus: Subjekte werden erst in Prozessen der Unterwerfung. Der im letzten Abschnitt gezeigte theoretische Entwurf einer Inkorporierung des Sozialen 61 Klein und Friedrich haben in Ihrem Buch zum HipHop auf diese Differenz von Sein und Schein verwiesen, die erst in performativen Aushandlungsprozessen Wirklichkeit wird: „Die wirklichkeits-generierende Kraft des Theatralen besteht in der HipHopKultur also darin, innerhalb der Realworld des HipHop als einer theatralisierten Wirklichkeit eine Differenz zwischen Sein und Schein herzustellen.“ (Klein/Friedrich 2003: 161).
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durch Techniken, Praktiken und auch Stile – und damit der Macht – ermöglicht Körpern zu agieren, und im hier gezeigten Beispiel Tango zu tanzen und im Zuge dessen subjektiviert zu werden. In der Inkorporierung in die Tanztechnik des Tango bilden sich über das Bewegungswissen der tanzenden Körper in der Tangokultur Körper-Subjekte als sozialisierte Subjektivitäten.
4. S YNERGIEN : K ÖRPER -S UBJEKTE UND DIE S TILISIERUNG VON K ÖRPERN IN B EWEGUNG Die Leitfrage dieses Kapitels war die Frage danach, wer Tango tanzt. Im Anschluss an Kap. I stellte sie sich im Rahmen eines Konzeptes von korrespondierenden Praktiken. Wenn Konzepte von intentional gesteuerten Handlungen sich selbst durchschauender Subjekte verabschiedet werden, blieb die Frage ob dann noch von Tanzenden gesprochen werden kann. Der Bogen wurde dabei von tanzenden Akteuren, zu Individuen bis hin zum soziologischen Subjekt skizziert. Als Resultat stellte es sich als produktiv heraus, dass zwei Stränge neuerer soziologischer Ansätze zusammengeführt werden können, die eine Prozessualität von Subjekten und Körpern betonen und letztendlich in einem Konzept der Soziogenese von Körper-Subjekten münden. Der Begriff des Körper-Subjektes ist zwar der Sekundärliteratur um Merleau-Ponty entlehnt, aber er wird in diesem Abschnitt sozialtheoretisch und körpersoziologisch weitergeführt (Crossley 1995a: 47, 61/Fn.2): „Each person is not just a subject, but also a body-subject. This idea goes beyond merely saying that a subject has a body. Instead, the idea of body-subject is an attempt to express the idea that subjectivity and the body are not just interrelated, but completely indissociable. The body is the subject, and the subject is the body.” (Hughson/Inglis/Free 2005: 142)
Merleau-Pontys Phänomenologie des Leibes versteht den Körper als „vorrangige Quelle des Wissenserwerbs, also als Träger von Erkenntnis“ (Hirschauer 2008a: 977). Aus dieser Blickrichtung lässt sich konstatieren: „Alles Wissen ist körperlich vermittelt.“ (Ebd.) Eine phänomenologische Perspektive nach MerleauPonty erkennt den Körper (bzw. bei Merleau-Ponty: den Leib) grundsätzlich als Zugang zur Welt an („Der Leib ist das Vehikel des Zur-Welt-Seins“ MerleauPonty 1966: 106). Allerdings erklärt Merleau-Ponty nicht, auf welche Weise Körper als Agenten zu begreifen sind. Eine Phänomenologie nach MerleauPonty beschreibt ausgiebig, dass Körper wesentlich Wahrnehmungsagenten sind – also den Zugang zur Welt ermöglichen – aber nicht auf welche Weise. Denn
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eine Perspektive des Zugangs zur Welt über den Körper ist nach Merleau-Ponty letztlich eine „philosophische Anthropologie“ (Günzel 2007: 25), die nicht das Soziale zum Ausgangsort des Körpers macht. Dementsprechend wird ein Konzept von Körper-Subjekten hier sozialtheoretisch und genauer körpersoziologisch ausbuchstabiert im Hinblick auf die Frage des Körpers als Agenten. In der Zusammenführung der sozialwissenschaftlichen Theorie Bourdieus mit Foucaults subjekttheoretischen Analysen erscheint eine Bewegungskultur wie der Tango im neuen Licht und lässt sich theoretisch wie folgt skizzieren: Korrelierende Praktiken im Tango zeigen sich als Subjektvierungspraktiken, die verstanden als Technologien, den Körper als tanztechnischen Körper bilden. In der Ergänzung durch Butlers Konzept der Subjektivation zeigt sich darin eine Unterwerfung unter die Regelhaftigkeit der Tanzkultur. Im Eintanzen als Führend und Folgend, und in der sich damit vollziehenden In- und Exklusion von Bewegungen, wird über die Stilisierung des Körpers in Bewegung Subjekthaftigkeit erlangt. Eine Stilisierung von Bewegung im Tango ist daran erkennbar, weil Improvisation auch im Paartanz nicht unendlich offen ist, sondern an die Regeln des Tango gebunden ist (Lampert 2007). Improvisation im Tango ist immer an die einverleibten Tanztechniken gebunden und demnach eine geregelte Improvisation. Diese zeigt sich im Tango in der kontingenten Bewegungsordnung, die Tatsache der offenen Kombinationen von Schritten, Figuren etc. Dies wirft die Frage auf wie diese, wenn auch kontingente so doch wahrnehmbare, Bewegungsordnung hergestellt werden kann, wenn die Bewegungen improvisiert sind. Diese Perspektive stellt die Frage danach, wie sich die Tanzenden in ihren Bewegungen abstimmen, woher sie wissen, welche Bewegungen in- und exkludiert sind. Es ist die Frage nach dem Bewegungswissen des Körpers – denn verbale Kommunikationen kommen während des Tanzens im Tango nicht vor. Das Beispiel Tango zeigt eben auch, dass Abstimmungen auf einer körperlichen Ebene anscheinend ‚wie von selbst‘ stattfinden, ohne das Bewusstseinsprozesse vorausgesetzt werden müssen. Im ersten empirischen Beispiel der Haltungseinnahme zeigt die kurze Unterbrechung in der körperlichen Abstimmung, dass die Körper in einem zeitbegrenzten Rahmen wieder in die Bewegung der Tanzhaltung finden, dass die korrelierende Praktik der Haltungseinnahme als Körperwissen ihre Wirkung als Stil der engen Haltung erzielt. Gleichzeitig werden mit dem Erreichen, der zeitgenössischen und global wahrnehmbaren engen, aneinandergeschmiegten Tanzhaltung auch Körper als leidenschaftliche Tango-Körper stilisiert. In diesen (re)produzierten Bildern der Tangokultur zeigt sich zwar die in korrespondierenden Praktiken entstandene Tanzhaltung als Ergebnis eines Prozesses, welcher
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aber als Stil dann auch eine Verkörperung darstellt. Verkörperungen sind „(s)eine historisch gewachsene, sozial erlernte und persönlich abgewandelte Art und Weise, in Erscheinung zu treten, sich zu verhalten, auf die Umwelt einzuwirken, sein Leben zu führen“ (Soeffner/Müller/Sonnenmoser 2011b: 8), die Soeffner u.a. im Anschluss an Helmut Plessner als Körper Haben verstehen. Verkörperungen sind das Ergebnis von Subjektivierungsprozessen von KörperSubjekten, welche „ein ‚Bild‘ seiner selbst“ (ebd.) produzieren und als Stilisierungen innerhalb eines Feldes wie der Tangokultur auftreten. Der mit dem Wissen der Praktik ausgestattete und damit im Paartanz Tango letztendlich auch tanztechnische Körper hat ein Bewegungsrepertoire aus korrelativen Praktiken, welche keinen Bewusstseinsakt notwendig machen – der Körper handelt ‚selbst‘-tätig. Das Verständnis eines solchen Bewegungsrepertoires lässt sich theoretisch sehr gut mit Michel Foucault Konzeption der Technologien des Selbst, der techné rahmen. Wie weiter oben erläutert wurde, sind Techniken, so wie sie Foucault begreift an eine bestimmte Form, einen Stil gebunden, die sich an normativen Ansprüchen der Techniken ausrichten. Bereits Marcel Mauss verweist auf diesen Zusammenhang, ergänzt aber ein Verhältnis von Techniken und Form um technische Hilfsmittel: „Jede Technik im eigentlichen Sinne hat ihre spezifische Form“ (Mauss 1975: 201) und diese Form wird in der Aneigung als Technik oder Stil und vor allem auch in Relation zu technischen Hilfsmitteln, Bedingungen und Materialitäten erst erlernt.62 Und auch im Tango verweisen die technischen Hilfsmittel in ihrer Materialität auf die Regelhaftigkeit dieser Tanzkultur: So beeinflussen und setzen die technischen Hilfsmittel, wie im Tango z.B. vor allem die Schuhe, die Formgebung und Stilisierung eines Verhältnisses von Führen und Folgen – sie ermöglichen und begrenzen gleichzeitig die Stilisierung der Praktiken des Führens und Folgens. Die in der Rolle der Folgenden Tanzenden tragen dabei zumeist hohe Absätze63, die ihren körperlichen Schwerpunkt verschieben und in Kombination mit den Schritten der Folgenden (das Rückwärtsgehen, das Überkreuzen der Schritte, die zum Teil stattfindende Aufgabe der eigenen Achse in Figuren) nicht gerade zu einer bewegungsdynamischen 62 Mauss verweist auf ein Beispiel bei welchem er die Verbindung von der Technik des Grabens ins Verhältnis setzt zum Gegenstand des Spatens – also ein Verhältnis von Techniken des Körpers zu Technisches Instrumenten thematisiert. In seinem Beispiel verweist er auf die Unfähigkeit der englischen Truppen, welche nicht den französischen Spaten bedienen konnten (ebd.). 63 Die hohen Absätze der Tanzkultur Tango lassen sich mit Bourdieu als ein Teil der Illusio des Feldes beschreiben, in welcher der folgenden Tanzrolle der feminine Part zugewiesen wird, ganz im Sinne der in Abschnitt 1.2 gezeigten Geschlechterordnung.
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Autonomie – im Sinne eines Führens der Bewegungen – beitragen. Diese durchgängig geschlechterstereotype Bekleidungsform ist ein Hinweis darauf, dass eine Subjektivation im Tango über Tanzrollen stattfindet: Führen und Folgen als heteronormative Geschlechterordnung, die sich auch in den Materialitäten, bzw. Artefakten – wie etwa der Schuhe – zeigt. Artefakte wie die Schuhe der Tanzkultur Tango verweisen in ihrer Materialität auf tanztechnische Körper und die Regelhaftigkeit des Tango. Ein ganzer Industriezweig hat sich inzwischen etabliert, der Tangoschuhe für die folgende Rolle vor allem als Schuh mit Absatz produziert.64 Deutlich wird diese Dimension auch in der Queertango-Szene, in der es durchaus üblich ist, dass im Wechsel der Tanzrollen von miteinander tanzenden Frauen, auch die Schuhe von den Protagonisten gewechselt werden – die führende Rolle trägt flach, die folgende Rolle trägt Absatz: „Im Tango sind Frauen dann Frauen, wenn sie die Frauen-Rolle körperlich inszenieren sowie – im Tanz – möglichst für sich und für ander spürbar erleben. Dazu gehören u.a. Kleidung und eben auch Schuhe. Wenn biologische Frauen den „Männer-Part“ tanzen – was das ist, das wird sich im Laufe der Ausführungen zeigen –, dann wechseln sie die Schuhe und steigen von den fünf bis neun Zentimetern hinab auf den festen Boden, d.h. auf flache und bequeme „Männer-Schuhe“. Sie stehen dann ihren Mann mit beiden Beinen fest im Leben.“ (Villa 2002: 183)
Eine Neuerung und Veränderung zeigt sich hingegen im Selbstverständnis der Neotango-Szene, in der es durchaus üblich ist anstelle von lederbesohlten Tanzschuhen in Jazztanzschuhen zu tanzen – und zwar für die führenden und die folgende Tanzrolle. Es lässt sich aber interessanterweise auch hier beobachten – ähnlich wie es auch in der Queertango-Szene bei gleichgeschlechtlichen Paaren zu sehen ist –, dass die folgende Tanzrolle auch mit flachen Schuhen fast ausschließlich auf den Fußballen tanzt. Die folgende Rolle im Tango scheint immer in ihrer Tanzhaltung an High Heels gebunden zu sein: real oder imaginär. Auf der Ebene der Körpererfahrung und auch des Körperbildes zeigt sich die folgende Rolle in der Verlagerung des Körpergewichtes nach vorn auf die Fußballen und mit dieser Verschiebung der Körperachse und der Verlagerung des Körpergewichtes auch die Überantwortung der Kontrolle des Bewegungsflusses auf die führende Tanzrolle. 64 Und selbst bei den Tangoschuhen wird gern darauf verwiesen, wenn die Schuhe aus Buenos Aires stammen. Hier nur eine kleine Auswahl der vielen Internetseiten zu Tangoschuhen: http://www.elzapatito.de/; www.milonga-schuhe.de/; www.fonda codeltango.de/ und eine Aufstellung der vielen Tangogeschäfte in Deutschland: http://www.tangokultur.info/argentino/tangomode-und-tangoschuhe.htm.
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Diese Stilisierungsprozesse und die Aneignung dieser Techniken auf die hier untersuchte Tangokultur gewendet lautet: Tango wird erzeugt in und durch Bewegungen, welche als Techniken und in bestimmten Stilen – entlang und an den dominanten Diskursen und Logiken der Tanzkultur ausgerichtet sind. In diesem Sinne lässt sich dann auch von einem Stil sprechen, der sich nicht umsonst auch in der Rhetorik der Tangokultur wiederfindet in der Sprache der verschiedenen Stilrichtungen (Tangonuevo, Tango de Salon, Tangowaltz, Milonguero etc.). Tanz-Stile zeigen sich und setzen sich durch – sie institutionalisieren sich mit jeder neuen Tanzschule – in einer Stilisierung von Körpern und lassen sich so vor allem voneinander unterscheiden. Tanzstile sind Formbildungsprozesse, in welchen als Praktiken Strukturen der Macht wie Geschlecht (Führen, Folgen), Ethnie65 oder auch Klasse (Differenzen und Distinktionen innerhalb der Tangokultur)66 eingelassen sind. Die wissenden Körper (habitualisiert mit einem sens pratique) und ihre Normen und Regeln – verfügen über ein begrenztes Körperund Bewegungswissen – die In- und Exklusion von Bewegungen thematisiert die Normen, Regeln – das inkorporierte und auch diskursiv vorhandene Wissen und vor allem auch Bewegungswissen der Tanzenden des Tango. Beispiele für inkorporierte Techniken des Tangotanzens zeigen sich etwa in der Tanzhaltung, dem Setzen der Schritte, aber auch der Ausrichtung der Hüfte (Hüftbewegungen sind an die Achse gebunden) im Tango de Salon, welche aber z.B. im Neo-Tango – welcher beeinflusst ist durch moderne Tanztechniken wie Contact Improvisation – bereits eine neue Formbildung erfährt, aber an sich – zumindest bis jetzt – in der Tangokultur nicht in Frage gestellt wird. Das Beispiel des Neo-Tango zeigt aber, was Bourdieu als die dynamischen, fließenden Grenzen von Feldern beschrieben hat, in denen sich wie etwa im Neo-Tango neue Bewegungsprinzipien über Distinktionen innerhalb der Tangokultur durchsetzen können. Tanzende subjektivieren sich über die führende oder folgende Rolle und damit in Relation zum heteronormativen und historisch gewachsenem Geschlechter-Diskurs (siehe 1.2), so wie gleichzeitig die Körper die Praktiken des Führens und Folgens inkorporieren. Wenn über diese heteronormative Matrix auch vielfältige Diskussionen in der Tangokultur geführt werden, so ist gera65 Tango als naturalisierter, leidenschaftlicher und authentischer Tanz mit seinen scheinbar ‚originären argentinischen Wurzeln‘ (Klein/Haller 2009), siehe auch Einleitung (Tangoforschung, Reflektion). 66 So bilden sich Differenzen und Distinktionen innerhalb der Tangokultur aus, die sich auf Tanzschulen und TanzlehrerInnen beziehen. So ist es eine symbolische Währung innerhalb der Tangokultur ob Lehrer aus Buenos Aires kommen (etwa auf Tangokongressen) oder selbst bei einem Lehrer aus BA gelernt haben.
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de dieses strukturelle Merkmal des Tango ein Teil der Unterordnung von Subjektivationen. Es ist entscheidend ob Tanzende führen oder/und folgen lernen, Schuhe mit oder ohne hohe Absätze anziehen und die Technik beherrschen auf diesen auch noch zu tanzen. Erst die Verfügung über die Tanztechnik ermöglicht die Stilisierung und mit ihr die Subjektivierung als Tango-Tanzende(r), als Führende(r) und Folgende(r) – als Tanguera oder Tanguero. In diesem Sinn ist ein praxistheoretisches Modell von Subjektivierungsprozessen verstehbar und auf den Tango anwendbar. Subjektivierungen vollziehen sich entlang der Praktiken der Tangokultur und in Relation zu diesen Wissensordnungen (Reckwitz 2006b: 34). Eine über den Körper und mit korrespondierenden Praktiken entstandene Erfahrung von Führen und Folgen produziert im Tango eine subjektivierte Körperlichkeit und gleichzeitig mit dieser eine Subjektivierung als Körper-Subjekt. Zumindest für eine Bewegungskultur wie den Tango lässt sich also sagen, dass die Generierung des Körpers und des Subjekts in eins fallen. Die Soziogenese von Körpern und Subjekten ist zwangsläufig miteinander verwoben: sie zeigt sich als sozial generierte Körper-Subjekte. Diese Körper-Subjekte agieren in der Praxis als ein Körper mit praktischem Wissen, ihrem sens pratique der sozialen Felder. Die in diesem Prozess, dem Feld angepasste Stilisierung von tanztechnischen Körper zeigt sich wiederum auch als eine verkörperte Subjektivierung, die als Repräsentation des Tanzfeldes Tango gelesen werden muss und in direkter Verbindung mit den Diskursen der Tanzkultur Tango steht (vgl. Kap. I, 1.2). Exemplarisch steht dafür etwa die zeitgenössisch global existierende körpernahe Tanzhaltung. Die komplexen Prozesse einer Soziogenese von Körper-Subjekten im Tango stehen in direkter Verbindung mit der historischen Genese des Tango, so wie sie zeitgenössisch diskutiert wird und im Wandel begriffen ist (Einleitung, Kap. I. 1.2; II. 1.2). Zusammenfassend lassen sich die Ergebnisse dieser letzten beiden Kapitel also folgendermaßen skizzieren: 1. Die in dieser Arbeit eingenommene praxistheoretische Perspektive hat gezeigt, dass der aktuell in der Soziologie diskutierte Subjektbegriff im Sinne einer prozessual stattfindenden Soziogenese des Subjektes zur Erklärung von Abstimmungsprozessen in Bewegungen dahingehend beiträgt, dass er eine notwendig enge Verbindung zwischen Subjekt, Körper und Körperwissen aufdeckt und bereitstellt. 2. Die Soziogenese von Subjekten muss im Anschluss an Foucaults Konzept der Technologien des Selbst mit Bourdieus Soziogenese des Körpers ver-
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bunden werden und führt zur Konzeption einer Soziogenese von KörperSubjekten. 3. Körper-Subjekte agieren, bzw. tanzen aufgrund eines körperlich angeeigneten Wissens als tanztechnische Körper über welches sie sich wiederum im Sinne einer Subjektivation, also einer Unterwerfung unter diese Techniken und Regeln subjektivieren. Das empirische Beispiel dieses Abschnittes waren die Techniken und Regeln von Führen und Folgen, über welche die Tanzenden in dieser korrespondierenden Praktik subjektiviert werden (was sich zeigt an der selbstverständlichen Einnahme, Ausführung und Aushandlung dieser Techniken). Das körperliche Können von Führen und Folgen ist mit Butler als eine in der Unterwerfung gewonnene Praxiskompetenz zu verstehen, die es auch möglich macht, sich dem entgegenzusetzen – etwa im Erlernen beider Tanzrollen. Anschließend an diese Analysen und theoretischen Zusammenführungen ließe sich aber auch ein Vorwurf der Determination von Sozialität im Tanz formulieren: Tanzende, welche sich an und mit der Struktur subjektivieren und so ausschließlich im Sinne einer ihnen übergeordneten Struktur agieren. Eine Soziogenese von Körper-Subjekten würde dann ein intentional handelndes, oder wenigstens tanzendes Subjekt, zu Gunsten einer ausschließlich sozialen Determination verabschieden. Doch wie die Diskussion und Zusammenführung von Bourdieu und Foucault mit aktuellen Ansätzen der Körpersoziologie gezeigt hat, zeigen die fließenden Grenzen von Feldern, die Kontingenz der Bewegungsstrukturen und die Tatsache von mimetischen Lernprozessen als die sich einer Determination widerstrebenden Komponenten. In diesen Kontexten lässt sich einordnen, was Foucault als Transformationsprozesse für Subjektivierungen versteht, welche sich Herrschaftstechniken widersetzen (vgl. Kap. II, 2.3, S. 106), indem sie es vermögen sich um sich selbst zu sorgen und als Technologien des Selbst neue Subjektivierungen zu produzieren. Wie auch Butler hervorgehoben hat, gewinnen Subjekte in einer Subjektivation auch Praxiskompetenz und nicht nur Unterwerfung. Die Praxis ist somit häufig viel widerständiger als gemeinhin in idealtypischen Konstruktionen von Soziologen angenommen. Denn, die in diesem Abschnitt gezeigte Struktur des Führens und Folgens ist nur eine Dimension der Regelhaftigkeit der Tanzkultur Tango, welche nur zum Teil heteronormative Subjektivierungen produzieren, sondern in der Queer-Tango-Szene auch queere Subjektivierungen anhand der heteronormativen Struktur des Tanzes herausbilden kann.
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Paula Villa spricht in diesem Zusammenhang sogar programmatisch vom Eigensinn körperlicher Praktiken (Villa 2010a) und betont, dass Praktiken keine Verkörperung von Diskursen sind. Sie weist darauf hin, „dass die Praxis der Tangokultur bzw. der Tango als kulturelle Praxis nicht in den Codes aufgeht, die diese Praxis konstituieren.“ (Ebd.: 264) Denn diese Codes in den Bewegungen des Tango, wie es sich in der Analyse von Führen und Folgen gezeigt hat, werden in der Praxis des Tanzens ausgehandelt. Praxis und Diskurs gehen also nicht ineinander auf, sie sind nicht deckungsgleich – wenn auch konstitutiv miteinander verwoben, etwa darin, dass Tango als Tanztechnik sich als ein begrenztes Bewegungswissen darstellt. 67 Jedoch verweist die sich in der Empirie zeigende offene, improvisierte Struktur dieses begrenzten Bewegungswissens im Tango auch wieder auf das Thema einer Abstimmung in Bewegungen der Tanzenden zueinander als ein sich immer wiederholender Prozess zwischen Tanzpartnern. Jedoch geschehen diese Abstimmungsprozess nicht nur auf der Paarebene, sondern auch im Verhältnis der Tanzpaare – der Gruppenstruktur – zueinander. Diese weiteren Dimensionen sollen nun im Folgenden genauer betrachtet werden, unter der Perspektive wie die bisher entwickelten Konzeptionen von korrelierenden Praktiken und einer Soziogenese von Körper-Subjekten Abstimmungsverhältnisse in Bewegungen erklären können.
67 Vgl. die einleitenden Kapitel der letzten beiden Abschnitte (I,1. und II, 1.)
III. Was ist Abstimmung? Die Soziogenese von Inter-Subjektivitäten
1. E MPIRISCHE H ERAUSFORDERUNGEN : „S O DOCH SO FERN “
NAH UND
„So nah und doch so fern“ steht hier metaphorisch für die Prozesse der Einnahme von Distanz und Nähe im Tango. Alle Tanzpaare auf der Tanzfläche im Tango tanzen in sichtbaren Abständen zueinander – sie nehmen Nähe und Distanzen zueinander ein. Aber in ihrem körperlichen Wissen über diese Abstände und damit dem Vollzug des feldinternen Bewegungswissens und den gleichzeitig stattfindenden Abstimmungsprozessen sind sie sich wiederum in einem metaphorischen Sinne auch ‚nah‘. Im Folgenden sollen diese Phänomene der Gruppendynamik am Beispiel der Auflösung der Tanzhaltungen in den Musikpausen untersucht werden. 1.1 Deskriptive Annäherungen: Gruppendynamik Das dritte hier untersuchte Bewegungsprinzip des Tango betrifft die Gruppendynamik und die Bewegungen der Tanzpaare während einer Milonga. Die Tanzrichtung aller Tanzenden ist im Tango sichtbar: Alle Tanzpaare bewegen sich in einer Kreisbewegung gegen den Uhrzeigersinn auf der Tanzfläche. Die Tanzpaare tanzen nicht auf einer geraden Linie, halten aber die Tanzrichtung gegen den Uhrzeigersinn ein und lassen vor allem in der Mitte der Tanzfläche, je nach Fülle der Veranstaltung, immer eine Fläche frei. In dieser gruppendynamischen Bewegungsordnung zeigt sich das ‚Stehenbleiben’ oder auch Innehalten in der Fortbewegung – die Corte – im Tango auch als ein strate-
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gisches Element des Tanzes, welches verhindern kann, dass Tanzpaare aneinander stoßen. 1 Diese Unterbrechung der Fortbewegung (beider Tanzender oder nur des Führenden) ist darüber hinaus ein besonderes Bewegungsprinzip im Tango, welches in keinem anderen Paartanz vorkommt. ‚Stehende‘ Tanzpaare sind im Tango allerdings nicht völlig unbeweglich, sondern halten die Körperspannung aufrecht und bewegen oftmals leicht die Oberkörper im Rhythmus der Musik, bevor ein neuer Schritt oder eine Figur getanzt wird. Als Ordnungselement lässt sich das ‚Innehalten in der Bewegung‘ dabei sehr gut verbinden mit den Anforderungen einer überfüllten Milonga, wenn sich etwa mögliche Wege aufgrund anderer Tanzpaare verstellen. Es ermöglicht mithin als Ordnungsprinzip die Anpassung aller tanzenden Paare aneinander und schafft bei jeder neuen Milonga wieder eine neue Bewegungsordnung auf der Tanzfläche. Darin zeigt sich ein Regulativ, durch das eine Kollision von Tanzpaaren auf der Tanzfläche auf jeden Fall vermieden wird – die Tanzpaare scheinen aneinander vorbeizugleiten, während die Bewegungen der Tanzpaare in sich geschlossen wirken. Dem liegen – nimmt man die verschiedenen Bücher zu den Regeln und Codes der Tangokultur zur Hand – jedoch eine spezifische ‚Verkehrsregelung‘ zu Grunde (Westergaard 2007: 68). In dieser Rhetorik des Straßenverkehrs wird von verschiedenen ‚Fahrbahnen‘ auf der Tanzfläche gesprochen: ganz außen an der Tanzfläche tanzen die erfahrenen, schneller tanzenden Tänzer, während im inneren Bereich, die Paare tanzen, die nicht so viele Erfahrungen mitbringen oder solche, die sich auf Figuren konzentrieren – denn die freie Fläche in der Mitte ermöglicht es auch immer, diesen Freiraum zu nutzen. Die Regeln in dieser Gruppenstruktur sehen vor, dass die Tanzenden auf diesen ‚Fahrbahnen‘ verbleiben, keine anderen Tanzpaare überholen und vor allem Kollisionen vermeiden (ebd.). Die Gruppenbewegungen und Dynamiken der Tanzpaare im Tango, werden hier näher betrachtet im beobachtbaren Phänomen der Einnahme von Abständen beim Auflösen der Tanzhaltungen in den Pausen einer Tanda. 2 Diese Einnahme von körperlichen Abständen sollen aus praxis- und diskurstheoretischen Gründen hier auf zwei Ebene betrachtet werden. Auf der ersten Ebene als ein normatives, inkorporiertes Wissen der Tanzkultur und auf der diskursiven Ebene in ei-
1
„All these rules exist to avoid bumping into others.“ (Westergaard 2007: 68)
2
Tandas sind Blöcke von 3-4 Musikstücke einer Musikrichtung im Tango Argentino: Vals, Tango de Salon, Tango Nuevo, die direkt hintereinander gespielt werden mit einer kleinen Pause dazwischen. Es gilt als Regel, diese 3-4 Musikstücke gemeinsam mit einem Partner zu tanzen (man gibt sich 3 Tänze) und erst danach gemeinsam die Tanzfläche zu verlassen.
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nem Diskurs um Nähe und Distanz im Tango, die im wissenschaftlichen Jargon unter dem Begriff der Proxemik gefasst werden. Die Auflösung der Tanzhaltung und die Einnahme einer körperlichen Distanz zwischen zwei Musikstücken innerhalb einer Tanda ist ein global zirkulierender Code der Tangokultur (ebd.: 66). Bei einer Milonga strukturieren, wie bereits im empirischen Teil von Kapitel I erläutert, die Tandas den Ablauf der Tänze. Zwischen diesen 3-5 Musikstücken werden nur kleine Pausen gesetzt, so dass die Pause sich danach ausrichtet, bis die nächste Musik wieder beginnt. Es gibt die Regel, zwischen den beiden Musikstücken die Tanzhaltung aufzulösen und einen Abstand einzunehmen (ebd.: 66f.). 3 Für den außenstehenden Beobachter steht die eingenommene körperliche Distanz in den Pausen in einem krassen Gegensatz zur vorherigen Nähe und Intimität während des Tanzes. Dieser Kontrast spitzt sich in der Wiedereinnahme der Umarmung beim nächsten Musikstück zu. In der Gruppenstruktur zeigt sich der Tango als ein Tanz um Nähe und Distanz. Zunächst ist da die scheinbare, kontemplative ‚Verschmelzung‘ des Tanzpaares mit der gleichzeitigen Abgrenzung der Paare durch die deutlich räumlich wahrnehmbaren Distanzen der Tanzpaare zueinander. Diese Intimität des Paares steht im direkten Verhältnis zur Distanz mit den anderen Tanzpaaren und begründet die Definition des Tango als Paartanz. Gleichzeitig finden diese Distanzen und mit ihr die Auflösung einer ‚Verschmelzung‘ des Tanzpaares, ihren Höhepunkt in der Auflösung der Tanzhaltung in den Intervallen innerhalb einer Tanda. 1.2 Diskursive Annäherungen: Nähe und Distanz Nähe und Distanz im Tango sind zentrale Themen in der Tangokultur, nicht nur aus bewegungsanalytischer Sicht, sondern auch als Diskursthema. Sie zeigen sich als Dichotomie – welche aus analytischer Sicht mit dem Tango Argentino fast gleichgesetzt wird: Tango ist Nähe und Distanz. Auf deutschen Internetseiten 4 wird dabei gern vom „Spiel um Nähe und Distanz“ gesprochen. 5 In einem 3
Vgl. etwa den Tango-Knigge von Veronika Fischer in der Tangodanza (Fischer 2008; 2007a; 2007b). Es gibt darüber hinaus im Internet einige Tango-Knigges oder auch sogenannte Codigos (spanisch für Code) für den Tango, vgl. etwa: http://www.tangoneon.org/typolight/tango-knigge.html. Inzwischen sind auch zwei Bücher erschienen, welche diese Codigos wesentlich zu ihrem Inhalt machen (Westergård 2011; Benzecry Sabá 2007).
4
Während auf englischsprachigen Internetseiten eher von intimate, eroticism und dis-
5
International im englischsprachigen Raum sind die Begriff embrace, cheek to cheek,
tance gesprochen wird. face to face zentral.
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direkten Zusammenhang mit diesem Diskurs um Nähe und Distanz steht das Einnehmen von körperlichen Distanzen zwischen den Tanzpartnern und den Tanzpaaren in den Tanzpausen – den Tandas in der globalen Tangokultur. Die weltweit zu beobachtende nahe Tanzhaltung und die Auflösung der Tanzhaltung in den Pausen lässt sich als transkulturelle Praxis des Tango Argentino beschreiben. Oder stärker theoretisiert: die Nähe- und Distanzregulierung im Tango Argentino ist transkulturell beobachtbar. Dies lässt sich nicht sagen ohne darauf zu verweisen, dass der genaue Abstand (in cm gemessen) höchstwahrscheinlich auch lokal unterschiedliche Differenzen aufweist – es lässt sich jedoch die Behauptung wagen, dass diese Varianz keine größeren Unterschiede produziert als allerorten anzutreffende individuelle Differenzen. Dies hat seinen Grund darin, dass das Einnehmen von körperlicher Nähe und Distanz als ‚originäre, authentische’ Praxis verstanden wird, die auch in – und hier wird immer als Beispiel das Tangomekka Buenos Aires herangezogen – Argentinien getanzt wird. Diese diskursive Praxis wird dementsprechend weltweit auf Tangokongressen und in Tanzschulen an die Tanzenden vermittelt. Was sich hier als transkulturelle Praxis zeigt, hat damit zu tun wie der Tango global getanzt, gelehrt und als Ware konsumiert wird – oder noch deutlicher: welche Kommodifikation (Kommerzialisierung) er weltweit und historisch erfahren hat als Tango de Salon. Die globalisierte Tangokultur ist zunächst eine Bewegungskultur in der ähnliche Bewegungsmuster vorherrschen, weil sie ausgerichtet sind an dem was mythisch als originärer Tango weltweit vermarktet werden konnte. Aus einer bewegungsanalytischen und körpersoziologischen Perspektive zeigt das Beispiel der Proxemik (Distanznahme), dass Abstände zwischen Körpern in der Tangokultur keineswegs eine kulturelle Differenz 6 produzieren, sondern im Tango Argentino weltweit beobachtbar und damit transkulturell sind. Dies schließt selbstverständlich mit ein, dass es sich hierbei um eine soziologische Typisierung und Reduktion des Tanzes auf die Einnahme von Nähe und Distanzen handelt. Das, was jedoch in der globalisierten Tangokultur transkulturell zu beobachten ist (also in allen ‚Kulturen’ in denen sich eine Tangokultur etabliert hat), – die körpernahe, enge Tanzhaltung, die ähnlichen Abstände der Körper und das Einnehmen von Distanzen zwischen den Musikstücken – hat wiederum mit dem genauen Gegenteil zu tun: mit der bereits erwähnten Exotisierung des Tango Argentino als authentisch argentinischer Tango, der seine Wurzeln in Argentinien hat. Die Einnahme von Nähe und Distanzen gehen auf klare Regeln und Codes 6
Ein Konzept der Diversität von Kultur ist spätestens seit Bhabha (2000) und seinem Konzept von Hybridität hinterfragt worden und auch dieses wiederum mit der Infragestellung eines Hype um Hybridität (Ha 2005).
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der Tangokultur zurück, die immer in Verbindung gesetzt werden mit Buenos Aires (Westergård 2011; Benzecry Sabá 2006/2007; Fischer 2007). Eine einerseits transkulturelle Dimension des Tango Argentino liegt andererseits in seiner kulturellen Zuordnung als authentisch argentinischer Tango. 7 „So nah und doch so fern“ diese alltagssprachliche Metapher findet im Diskurs der Soziologie um Nähe und Distanz ihre theoretische Entsprechung bereits bei Georg Simmel, welcher 1908 in seinem Exkurs über den Fremden 8 schrieb: „Die Einheit von Nähe und Entferntheit, die jegliches Verhältnis zwischen Menschen enthält, ist hier zu einer, am kürzesten so zu formulierenden Konstellation gelangt: die Distanz innerhalb des Verhältnisses bedeutet, dass der Nahe fern ist, das Fremdsein aber, dass der Ferne nah ist.“ (Simmel 1992: 765)
Den Fremden definiert Simmel als denjenigen der „kein Bodenbesitzer“ 9 (ebd.: 766) ist – denjenigen der räumlich und ideell unabhängig, und an keiner „Stelle des gesellschaftlichen Umkreises fixiert“ (ebd.) ist. Der Fremde ist also territorial weder auf physische, noch auf ideelle Weise fixiert – der Fremde hat keinen Ort, kein Territorium, keinen Raum. Nähe und Distanz werden sowohl bei Georg Simmel, als auch bei dem Anthropologen Edward T. Hall – welcher Proxemik in den Mittelpunkt seiner Arbeit stellte – mit Raumwahrnehmungen in ein Verhältnis gesetzt. Nähe und Distanz 7
Es ist wie schon in anderen Zusammenhängen (etwa Kanakisierung, siehe Ha 2005) problematisiert: die Exotisierung nicht-westlicher Kulturen wird angeeignet, um damit globalen Marktanforderungen zu genügen und zu Erfolg zu gelangen: „Argentino dancers and musicias could not easily find jobs in the midst of the tango rage. When they did, they had to give in to autoexoticism and perform the French version of the tango or wear gaucho costumes.“ (Savigliano 1995a: 120) Und gerade diese AutoExotisierung lässt die Tangokultur überall auf der Welt entstehen, sie wird zu einer reexoticization (Savigliano 1995a: 196). Und dies ist ein weiteres globales Kennzeichen des Tango, was Savigliano an japanischen Tanzlehrer aufgezeigt hat: „They teach their 300 students a striking form of tango based on the style produced by argentinos primarly for the stages of Europe and the United States.“ (Savigliano 1995a: 192)
8
Simmel konzipiert den Exkurs über den Fremden in einem Unterkapitel zum Abschnitt: Der Raum und räumliche Ordnung von Gesellschaft, und somit zugleich als ein territoriales Verständnis (Simmel 1992).
9
„Der Fremde ist eben seiner Natur nach kein Bodenbesitzer, wobei Boden nicht nur in dem physischen Sinne verstanden wird, sondern auch in dem übertragenen einer Lebenssubstanz, die, wenn nicht an einer räumlichen, so an einer ideellen Stelle des gesellschaftlichen Umkreises fixiert ist.“ (Simmel 1992: 766)
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sind also aus theoretischer Perspektive räumliche Begriffe, bzw. Begriffe, die ein Verhältnis zwischen Raum und Subjekt herstellen – sie bilden ein Territorium. Gleichzeitig zeigt sich aus einer akteurstheoretischen Perspektive in einer Beurteilung von Nähe oder Distanz vor allem subjektive Wahrnehmung und damit Subjektivität als eine territorial verstandene: Subjekte haben territorial wahrgenommene Grenzen, sie entscheiden über Nähe oder Distanz. Im Kontext des letzten Kapitels und damit der prozessualen und sozialen Genese von KörperSubjekten wird Nähe und Distanz somit zum Thema von Subjektivation. Diese Subjektivation ist verbunden mit der kulturellen Regelhaftigkeit der Tangokultur, welche in ihren Formgebungsprozessen auch über Nähe und Distanz entscheidet. So lässt sich etwa unumstritten die Tanzhaltung im Tango als nahe Haltung beschreiben. Diese räumliche Wahrnehmung von Nähe und Distanz hängt wiederum zusammen mit der transkulturell beobachtbaren Praxis der Bewegungskultur Tango, welche mit einem Konstruktionsprozess von kultureller Differenz einhergeht (siehe Abschnitt 1.2). Im Folgenden soll diskutiert werden, inwieweit die Produktion von Grenzen – am Beispiel von Nähe und Distanz im Tango Argentino – mit kultureller Differenz und transkultureller Praxis verbunden sein kann und mit einem Subjektverständnis einhergeht, welches Subjekte als geschlossene Territorien versteht. Ein Subjektverständnis, welches seine Ursprünge in westlichen, monadischen Subjektkonzepten hat, die zu Recht als körperlos kritisiert werden (vgl. Kap. II). Die Bewegungskultur des Tango Argentino zeigt sich in den Relationen der Körper zueinander im Tanz, vor allem am Beginn des Tanzes und bei der Einnahme von Distanzen zwischen den Tänzen als eine Differenz produzierende, aber gleichzeitig auch eine transkulturelle Bewegungskultur (sieh Abschnitt 1.2). Ein theoretischer Rahmen, welcher sich diesem Phänomen nähert, lässt sich in dem von Edward T. Hall entworfenen Konzept der Proxemik vorstellen. Der Anthropologe Edward T. Hall thematisierte Verhältnisse von Nähe und Distanz bereits in den 1960er Jahren in seinen Untersuchungen zur Proxemik. In seinem zentralen Werk: The hidden dimension (dt. Die Sprache des Raumes) spannt er den Bogen seiner zentralen Konzeption von Kultur als Kommunikation von der Ethologie 10 über qualitativ unterschiedliche Raumwahrnehmungen (Visueller, auditiv, olfaktorisch, taktil, visuell) bis hin zu fast anekdotenhaften 11 Beschrei10 Distanzregulierung bei Tieren, Überbevölkerung und Sozialverhalten bei Tieren 11 Eines von Halls Lieblingsbeispielen ist ein in den USA lebender deutscher Professors, welcher seinen Besucherstuhl am Boden festmontierte, da er die, von Hall als amerikanisch bezeichnete, Angewohnheit den Stuhl zu verrücken als Deutscher nicht mochte. Hierin dürfte deutlich werden wie stark er in der Zuweisung zu nationalen Verhaltensweisen kulturelle Differenz produziert.
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bung von Proxemik im kulturvergleichenden Kontext. Hall beschreibt Proxemik auf der Ebene eines Kulturbegriffes, der von Differenz zwischen Kulturen ausgeht und führt an, dass „Leute verschiedener Kulturen nicht nur unterschiedliche Sprachen sprechen, sondern, [...] in verschiedenen Empfindungswelten leben.“ (Hall 1966: 16) 12 Er interpretiert analytisch festzustellende Grenzen von Körpern und Bewegungen als kulturelle Typisierungen und schließt aus diesen Verallgemeinerungen auf nationale Kulturen als existierende geschlossene Einheiten. Seine kulturellen Typisierungen und Verallgemeinerungen konstruieren Kulturen erst und markieren dann Unterschiede. Allerdings ist eine solche Perspektive in dieser Zeit nichts Außergewöhnliches, so schreibt etwa auch Erving Goffman in einer Fußnote: „Offenbar gibt es hier große Differenzen zwischen den verschiedenen Kulturen. Die Franzosen neigen viel eher zur Aufnahme eines Nebengesprächs als die Briten, und die Nichtbeachtung konventioneller Schranken scheint in Frankreich – besonders in Südfrankreich – eher die Regel als die Ausnahme zu sein.“ (Goffman 1971: 52)
Darüber hinaus bleibt Hall aber derjenige Autor, der ein sprachliches Instrumentarium geschaffen hat, um Nähe und Distanz beschreibbar zu machen. Hall erhebt nicht den Anspruch nach Repräsentativität, sondern möchte zuallererst das Thema der körperlichen Distanz für die Wissenschaft fassbar machen. 13 Halls Begrifflichkeiten ergeben damit zunächst ein gutes Instrumentarium um körperliche Distanzen zwischen Tanzenden zu beschreiben. Da das empirisches Material Videos sind, basieren die Interpretationen nicht auf den persönlichen Erfahrungen der Tanzenden, sondern auf der Wahrnehmung und Analyse von räumlichen Distanzen. Es geht hier also nicht um Distanzempfinden, sondern um eine Distanzwahrnehmung von außen. 12 Loehnhoff nennt diese Position von Hall eine „kulturelle Codierung der Wahrnehmung“, Hall hat dabei aber keine „theoretisch-systematische Orientierung“ (Loehnhoff 67). 13 „Diese Beschreibungen stellen bloß einen ersten Schritt dar. Zweifellos werden sie unfertig erscheinen, sobald mehr über die proxemische Beobachtung bekannt ist und darüber, wie Menschen eine Distanz von einer anderen unterscheiden. Es muß betont werden, daß diese Generalisierungen für das menschliche Verhalten im allgemeinen nicht repräsentativ sind – nicht einmal für das Verhalten der Amerikaner im allgemeinen –, sondern nur für die Versuchsgruppe. Neger und Lateinamerikaner wie auch Menschen aus südeuropäischen Kulturen haben stark abweichende proxemische Muster.“ (Hall 1976: 121)
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Hall teilt Distanzen, oder besser Distanzempfindungen in vier Kategorien ein: intime, persönliche, soziale und öffentliche Distanzen und hebt dabei hervor, dass der Mensch eine dynamische Raumperzeption und jede der Distanzzonen eine nahe und weite Phase hat. 14 Sein Konzept einer dynamischen Raumperzeption geht also vom Subjekt und dessen Distanzempfinden aus, was daraus resultiert, dass Hall seine Ergebnisse aus Beobachtungen und Interviews entwickelt hat. Er spricht allerdings auch davon, dass der „größte Teil des Prozesses beim Distanzempfinden außerhalb des Bewusstseins verläuft“ (Hall 1976: 120) 15 – Distanzempfinden also ein körperlicher Prozess ist – körpersoziologisch gesprochen: Distanzempfinden ist inkorporiertes Wissen (siehe Kap. II. 3.1). Aus bewegungsanalytischer Sicht lassen sich Nähe und Distanz als transkulturelles Körperwissen der Bewegungskultur des Tango Argentino beschreiben. Dies steht einem Konzept von Hall entgegen, da er mit seinen Studien kulturelle Differenz produziert und Kulturen als Entitäten formiert, auch indem er die Wahrnehmung von Subjekten in den Mittelpunkt seiner Forschung stellt. Eine global verbreitete Bewegungskultur des Tango Argentino, in der die Praktiken des Tanzes auch transkulturell beobachtbar sind, verlangt aus körpersoziologischer Perspektive nach einen theoretischen Rahmen in welchem dieses transkulturelle Bewegungswissen fassbar wird. Halls Konzept von Proxemik – welches Differenzen als kulturelle Phänomene dechiffriert – liegt hingegen ein territoriales Verständnis von Subjekten zu Grunde. Diese Problematik ist aber nicht allein im Ansatz von Hall zu beobachten, sondern findet sich auch im Descartschen Subjektkonzept (siehe Kap. II). Hinter einer solchen Konzeption steht ein Subjektkonzept, welches das Subjekt als nach außen abgeschlossene Monade begreift, inklusive einer Körper-GeistDichotomie. Aus dieser Perspektive stellt sich die Wahrnehmung des Subjektes wie folgt dar: Das Subjekt setzt Grenzen was als nah oder distanziert wahrgenommen wird, weil es seine subjektive und damit nach Hall auch kulturelle Grenze wahrnimmt. Auch einem westlichen Diskurs der Verschmelzung im 14 „Seine Raumperzeption ist dynamisch, weil sie eher auf Tätigkeiten bezogen ist – was kann in einem gegebenen Raum getan werden – als darauf, was durch passive Betrachtung gesehen werden wird.“ (Hall 1976: 119) 15 „Wir empfinden andere Menschen als nah oder entfernt, aber wir können nicht immer genau das nennen, was uns befähigt, sie so zu charakterisieren. Es geschieht so viel Verschiedenes auf einmal, daß es schwierig ist, die Quellen der Information, auf der unsere Reaktionen basieren, auszusondern. Ist es der Ton der Stimme oder die Haltung oder die Entfernung? […] Das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein zum Beispiel des Gefühls von Körperwärme einer anderen Person bezeichnet die Linie zwischen intimen und nicht intimen Raum.“ (Ebd.: 120)
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Paartanz liegt dieses Descartsche Subjektverständnis zu Grunde: Tango Argentino muss in vielen Diskursen dafür herhalten, eine Geist-Körper-Dichotomie auflösen zu können – sogar soweit, dass es dabei zu Verschmelzungserlebnissen (Haller 2009) kommt. Hinter dieser Perspektive steht das ‚Othering‘ des Tango, als der ‚kulturell Andere‘, der exotische Tanz, der Tanz, welcher die Tanzenden ver-andert 16 (Reuter 2002). Das Normen- und Regelsystem der Bewegungskultur des Tango Argentino (das rituelle Einnehmen und Auflösen der Tanzhaltung, die Struktur der Tandas, die Schritte, aber auch die Gruppendynamik) verweist zunächst auch auf ein territoriales Verständnis von Subjekten und ist insofern eine cartesianisch geprägte subjektbildende Kultur (Klein/Haller 2009; 2008; 2006b). In den „Territorien des Selbst“ hebt Goffman 17 die territoriale Funktion des Körpers hervor, welcher immer an eine Rahmung gebunden ist: „Das Problem des Bezugssystems erweist sich als besonders komplex im Zusammenhang mit der territorialen Funktion des Körpers. Schon der Begriff des egozentrischen Territoriums weist darauf hin, daß der Körper nicht ein Reservat ist, sondern auch eine zentrale Markierung verschiedener Reservate – des persönlichen Raums, der Box, der Reihenposition und der persönlichen Habseligkeiten.“ (Goffman 1971: 72)
Mit Goffmans analytischem und differenzierendem Instrumentarium der Territorien des Selbst 18 wird in der Übertragung auf den Tanz deutlich, dass eine körperlich gemeinsam vollzogene Praktik des Paartanzes mehrere Ebenen, bzw.
16 Den Begriff der Veranderung (ohne ä) entwickelte Julia Reuter in ihrer Auseinandersetzung mit Konzepten des Anderen oder Fremden in der Soziologie (Reuter 2002). 17 Goffman ist sich dem Problem eines Ethnozentrismus bewusst, der alle ‚anderen’ Kulturen an sich selbst als Maßstab abprüft und eben von diesen differenziert. Er stellt diese Problematik an den Anfang seiner Aufsatzsammlung über das Individuum im öffentlichen Austausch. Er verweist darauf, dass er seine Analyse an dem ausrichtet was er die westliche Gesellschaft, bzw. die amerikanische Gesellschaft nennt. Damit verleiht er seiner Theorie einen kulturellen Rahmen und begrenzt sie gleichzeitig um dem Vorwurf des Ethnozentrismus aus dem Weg zu gehen. 18 Goffman hebt zu Beginn seines Aufsatzes, die verschiedenen Arten der Organisation von Territorien hervor, die er zunächst in drei Kategorien einteilt. Ortsgebundene Territorien, die geografisch festgelegt und zugeteilt sind wie Felder, Höfe und Häuser. Situationelle Territorien, wie vorübergehende Mietverhältnisse, Bänke oder Tische in Restaurants. Und egozentrische Reservate, die in direktem Zusammenhang mit Personen stehen (etwa Portemonnaies).
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mehrere Territorien des Selbst gleichzeitig berührt. 19 So sind etwa die Abstände des Tanzpaares zueinander anders geregelt (siehe Kap. I) als die Abstände der Tanzpaare untereinander oder zu den umliegenden sitzenden Personen. Goffman postuliert, dass es angemessener ist: „den persönlichen Raum nicht als ein permanent besessenes, egozentrisches Anrecht zu betrachten, sondern als ein temporäres, situationelles Reservat, in dessen Zentrum sich das Individuum hineinbewegt.“ So spricht er etwa am Beispiel der Tanzrituale von der Bildung eines temporären Miteinanders, welches auf den Tanz begrenzt ist: „Das Tanzen selbst hat seine eigenen rituellen Begrenzungen, die innerhalb derer liegen, die Anfang und Ende des Miteinanders markieren.“ (Goffman 1971: 49, Fn. 32) Im Rahmen dieser rituellen Begrenzungen eines Miteinanders im Tanz kommt es zur Thematisierung eines Anspruches nach temporären und situativen Reservaten, in die die Tanzenden sich erst ‚hineinbewegen‘. Das Beispiel der sukzessiven Einnahme der Tanzhaltung (Kap. I., 1.) und der Tanzrollen als Führend oder Folgend sind gute Beispiele für dieses sich ‚hineinbewegen‘ von Tanzenden, welche die Territorien des Selbst verändert. Im Verweis auf Goffmans Konzept der Territorien des Selbst wird deutlich, dass wesentlich diese zeitliche und räumliche Rahmung für proxemische Muster entscheidend ist und für die Bildung eines Miteinanders im Tango. Die Rahmungen sind im Tango von den Ritualen und Normen dieser Tangokultur abhängig – Nähe und Distanz in der Bewegungskultur Tango sind also durchaus transkulturell. Im ausgehandelten Themenkomplex von Nähe und Distanz lassen sich im Tango Argentino zwar territoriale Subjektivitäten ausmachen (die sich vor allem auch in geschlechter-orientierter und rollenspezifischer (führen/folgen) Differenz zeigen), allerdings als Ergebnis eines körperlich verhandelten Prozesses im Paartanz entlang intersubjektiv zugänglicher Abstandsregelungen einer transkulturellen Tangokultur. Im Zuge dieser Abstimmungsprozesse von Abständen im Tanz stellt sich auch auf der Ebene der Gruppendynamik die Frage danach, ob diese persönlichen, auf das Tanzpaar und die Gruppe bezogenen Reservate übereinstimmend zueinander vollzogen werden. Auf einer theoretischen Ebene stellt sich also die Frage nach einem übereinstimmenden, geteilten Wissen von Tango-Tanzenden. Im letzten Kapitel wurde diese Frage bereits in der Auseinandersetzung mit dem Körper als Agens unter der Perspektive inkorporierten Wissens nach Bourdieu diskutiert. Sie soll nun im Anschluss weitergeführt werden in der Frage nach In19 Im Paartanz variieren territoriale Ansprüche in einem noch größeren Rahmen, als es Goffman etwa für die Abstände in Reihen konstatiert.
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tersubjektivität. Denn Theorien von Intersubjektivität gewinnen vor allem auch dann an Relevanz, wenn es darum geht, einer Reproduktion von kultureller Differenz zu entgehen. Ein Problem von kultureller Differenz ist verbunden mit einem territorialen Verständnis von Körpern und somit auch Subjektivität, welches untrennbar mit einem westlichen Subjektbegriff als geschlossene Einheit verbunden ist. Eine Theorie von Intersubjektivität ermöglicht es, korporale Abstimmungsverhältnisse im Bezug zu Nähe und Distanz neu zu betrachten. Diese intersubjektive Struktur in der Einnahme von Nähe und Distanzen soll nun zunächst in der Analyse der Gruppendynamik näher veranschaulicht werden, um im Anschluss daran in den theoretischen Kontext von Theorien um Intersubjektivität gesetzt zu werden.
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1.3 Analytische Annäherungen an die Gruppendynamik 1. Die Musik klingt aus und alle Tanzpaare 20 bleiben bereits auf der Stelle stehen, als die letzten Töne der Musik spielen. Paar 1 hält einfach in der Tanzhaltung inne. Die anderen beiden Paare beenden noch Ihre getanzten Figuren auf der Stelle während der ausklingenden Musik. Alle Paare stehen sich gegenüber in der Tanzhaltung. Abbildung 10 2. Bei Paar 2 löst die Folgende zuerst ihren linken Arm von der Schulter der Führenden (im Bild sieht man ihren linken Unterarm zwischen den Gesichtern).
Abbildung 11 3. Erst nach einigen Sekunden (ca. 2 Sekunden in Realzeit) löst bei Paar 2 die Führende daraufhin ihren Arm vom Rücken der Folgenden. Bei Paar 1 und Paar 3 lösen die Folgenden ihren linken Arm von der Schulter des Führenden.
Abbildung 12
20 Die Tanzpaare in der analysierten Sequenz wurden von links nach rechts nummeriert: das Paar links im Bild ist Paar Nr. 1, das Paar in der Mitte ist Paar Nr.2, das Paar rechts im Bild ist Nr. 3.
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4. Bei Paar 3 reagiert die Führende nicht auf die Loslösung der Folgenden, woraufhin diese ihren runter genommenen Arm hoch nimmt und vorn auf die Schulter der Führenden legt (Bild 14).
Abbildung 13 5. Daraufhin nimmt die Führende ihren rechten Arm vom Rücken der Folgenden. Im gleichzeitigen Setzen von Schritten voneinander weg, hat diese Geste die Wirkung, als schiebe die Folgende die Führende weg.
Abbildung 14 6. Erst nach dieser vollständigen Auflösung der Tanzhaltung nehmen die Tanzpaare langsam Abstand zueinander ein, indem sie kleine Schritte nach hinten oder zur Seite voneinander weg machen. Interessanterweise bewegen sich alle Tanzpaare dabei in der Richtung der Tanzbewegung gegen den Uhrzeigersinn. Auf diese Weise entstehen kleine Abstände zwischen den Führenden und Folgenden. Sie stehen sich gegenüber, teilweise reden die Paare miteinander, schauen auf den Boden oder zum Außerhalb der Tanzfläche (Paar 1). Abbildung 15 Die Musik in der analysierten Sequenz klingt langsam aus. Während dieser gut 10 Sekunden, in welcher die Musik ausklingt, bewegt sich kein Tanzpaar mehr vorwärts, alle bleiben auf der Stelle stehen. Im analysierten Beispiel bleibt ein Tanzpaar (Paar 1) in der Tanzhaltung, während die anderen beiden Tanzpaare noch Ihre Figuren auf der Stelle zu Ende tanzen und sich dann erst wieder in der Tanzhaltung gegenüber stehen. Als die Musik ausgeklungen ist, stehen alle Tanzpaare kurz auf der Stelle in der Tanzhaltung und erst dann lösen sie die Tanzhaltung in nur sehr knappen Zeitabständen voneinander auf, die so nur in der verlangsamten Version überhaupt zu sehen sind.
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Das empirische Beispiel zeigt sehr schön, wie in der Relation zum Ausklingen der Musik das Ende des Tanzes von allen Tanzenden darüber markiert wird, dass zunächst die Fortbewegung unterbrochen wird und dann im Anschluss die Haltung aufgelöst wird. In der Praktik der Auflösung der Tanzhaltung lässt sich ein enges Wechselverhältnis der Tanzpaare zueinander feststellen. Aber nicht nur auf der Ebene der Tanzpaare, sondern auch in der zeitlichen Nähe der anderen Tanzpaare zueinander. Innerhalb einer Taktung in der Realzeit von ca. 4 Sekunden (nach dem Ende der Musik) haben alle Tanzpaare Ihre Haltung aufgelöst und nehmen noch sukzessiv körperliche Abstände von ca. einem halben Meter voneinander ein. Dies verweist auf ein geteiltes Wissen in der Gruppendynamik, wie lang die Tanzhaltung ohne Musik gehalten werden ‚darf‘. Interessanterweise bewegen sich die Tanzpaare dabei auch nicht einfach voneinander weg, sondern alle Tanzpaare behalten dabei die Bewegungsrichtung gegen den Uhrzeigersinn bei – so als sei dies noch ein körperlicher Nachklang der permanenten Bewegung gegen den Uhrzeigersinn beim Tanzen. Wie in der verlangsamten Szene anschaulich wird, wird dabei die Haltung zunächst von den Folgenden aufgelöst, gefolgt von der Auflösung der Führenden (zuerst Paar 2, dann Paar 1 und 3 zeitlich sehr nah beieinander). Auffallend sind diese koordinierten Bewegungen der Gruppe auch in dem darauffolgenden Wiedereinnehmen der Tanzhaltung bei der Fortsetzung des nächsten Tanzes. Denn in dieser Situation scheint es vielmehr eine ungeschriebene Regel zu sein, dass der Beginn eines Tanzes nicht parallel zum Beginn der Musik geschieht, sondern vielmehr ausschließlich den Abstimmungsprozessen der Tanzpaare unterliegt. So lassen alle Paare erst einige Takte vergehen bevor sie überhaupt wieder in die Tanzhaltung finden und beginnen dann zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten Ihren Tanz. Das von allen Tanzenden ‚gemeinsam‘ vollzogene stehen bleiben gegen Ende der Musik, das gemeinsame Herausgehen aus der Tanzhaltung, das sukzessive Einnehmen von Abständen zwischen Führenden und Folgenden und der zögerliche Wiedereinstieg in die Einnahme der Tanzhaltung verweisen auf die zeitliche Rahmungen der Tanzpraxis. Diese Prinzipien von Nähe und Distanz, welche die Haltungsauflösung und die Haltungseinnahme bestimmen, sind durch die Regeln der Tanzkultur bestimmt (Westergaard 2011: 66). Die Unterbrechung des Bewegungsflusses, die Auflösung der Tanzhaltung und die Einnahme von Abständen ist dabei deutlich an das Ende der Musik gebunden und zeigt sich als ein gruppendynamischer Abstimmungsprozess, der auf proxemischen Mustern für das ‚Miteinander‘ in der Tanzkultur beruhen. Diese proxemischen Muster lassen sich auch als Abstandsregeln beschreiben, welche
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hier als Praktiken auf ein vorreflexives Wissen zurückgehen, welches im Einklang mit der Musik ‚einfach‘ vollzogen wird. Dem entgegen ist die Einnahme der Tanzhaltung zum nächsten Musikstück der Abstimmung der Tanzpaare überlassen. Zum Teil beginnen also in der analysierten Sequenz bereits wieder Tanzpaare zu tanzen, während andere noch miteinander reden. Denn entgegen der Regel, dass ein Reden während des Tanzens vermieden werden soll ist es in den Intervallen zwischen den Musikstücken durchaus üblich (Westergaard 2011: 67). Daraus folgt aber auch, dass beim Beginn des Tanzens möglichst nicht gesprochen werden soll – Gespräche sollten also vorher beendet werden. Dieses kurze Beispiel zeigt gut, dass auch auf der Ebene der Gruppendynamik Abstimmungsprozesse stattfinden, die sich an der Musik ausrichten und andererseits daran, dass die Tanzhaltung ausschließlich auf den Tanz begrenzt ist. Dieses geteilte Wissen der Tanzenden um Nähe und Distanz und ihre gleichzeitige Ausführung zeigen sich als Abstimmungsprozesse auf der Ebene der Gruppe. Diese Abstimmungsprozesse in der Gruppendynamik – ähnliche Abstände in der Tanzhaltung, zeitgleiches Innehalten im Bewegungsfluss am Ende der Musik, gleicher Ablauf der Auflösung der Tanzhaltung und der Einnahme von ähnlich weiten Abständen – verweist hier deutlich auf ein ‚intersubjektives‘ Wissen der Gruppe – denn sonst wären diese parallel stattfindenden Ähnlichkeiten nur schwer erklärbar. Wie dieses ‚intersubjektive‘ Wissen im Verhältnis zu Abstimmungsprozessen in den Praktiken der Gruppendynamik steht, soll im Folgenden eine Auseinandersetzung mit Theorien um Intersubjektivität aufzeigen. Dafür werden zunächst Theorien von Intersubjektivität näher erläutert und im Verhältnis zu der hier vorliegenden Fragestellung abgegrenzt (III.). Ein auf diesem Weg entwickeltes Konzept von Intersubjektivität soll dann ins Verhältnis gesetzt werden zu Abstimmungsprozessen. In einem letzten Kapitel (IV.) sollen dann, die in den letzten beiden Kapiteln entwickelten Konzepte von korrelierenden Praktiken (I.) und einer Soziogenese von Körper-Subjekten (II.) ins Verhältnis gesetzt werden zum hier entwickelten Konzept um Intersubjektivität (III.) in Abstimmungsprozessen im Tango Argentino.
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2. I NTERSUBJEKTIVITÄT : F REMDVERSTEHEN
ZWISCHEN
K ONSTITUTION
UND
Wie das empirische Beispiel von Nähe und Distanzen, also einer Proxemik im Tango zu Beginn dieses Kapitel gezeigt hat, ist eine Frage nach Abstimmungen im Tango nicht nur eine Frage der Koordination von Bewegungen beim Tanzpaar. Gleichzeitig ist Abstimmung auch eine Frage zwischen Tanzpaaren – denn Milongas sind gut besuchte öffentliche Veranstaltungen. Im folgenden Abschnitt sollen die, in den letzten beiden Kapiteln (I. & II.) entwickelten, Entwürfe von korrelierenden Praktiken und einer Soziogenese von Körper-Subjekten zusammengebracht werden, um zu erklären wie KörperSubjekte, sowohl als Tanzpaar, als auch auf der Ebene der Gruppendynamik Abstimmungen im Tango produzieren. Ein Phänomen von Abstimmungsprozessen im Tango sucht nach einer Verbindung des geteilten Körper-, bzw. Bewegungswissens und einem dafür relevanten Subjektkonzept, bei welchem handlungstheoretische Intentionalitäten keine Argumentationsgrundlage sein können (vgl. Kap. I.). Es soll gezeigt werden wie aus dieser Perspektive Konzepte von Intersubjektivität fruchtbar gemacht werden können. Intersubjektivität, zunächst verstanden als ein überindividuelles, gemeinsam geteiltes Wissen oder auch als „Übereinstimmung“ (Hillmann 1994: 388) soll zur Erklärung von Abstimmungsprozessen herangezogen und entwickelt werden. Dafür wird zunächst „das Problem der Intersubjektvität“ (Joas 1985) in der Soziologie skizziert und im Anschluss in der Auseinandersetzung mit Alfred Schütz – welcher Intersubjektivität in die Soziologie einführte – in dessen Lösung der mundanen Intersubjektivität als „konstitutiver Bedingung des Sozialen“ (Lüdke 2008a: 187) näher herausgearbeitet werden. Im Anschluss wird auf Merleau-Pontys Konzept von Interkorporalität zurückgegriffen, da dieser das Problem der Intersubjektivität korporal wendete und gleichzeitig in seinem Entwurf auch die grundlegende Problematik des Solipsismus 21 in Theorien von Intersubjektivität diskutierte. Wenn die genannten Autoren (Schütz, Mead, Merleau-Ponty) im Anschluss zur Diskussion gestellt werden, dann jedoch immer nur im Hinblick auf den Rahmen der Fragestellung. Es ist jedoch ausdrücklich das Anliegen dieser Arbeit zu zeigen, dass es sich lohnt, den theoretischen Blick im Detail auf Theorien von
21 Damit ist der erkenntnistheoretische Standpunkt bezeichnet, der nur das eigene Ich mit seinen Bewusstseinsinhalten als das einzig Wirkliche gelten lässt und alle anderen Ichs mit der ganzen Außenwelt nur als seine Vorstellung annimmt.
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Intersubjektivität zu legen und deren Relevanz für die Soziologie aufzuzeigen, indem gezeigt wird auf welche Weise der Begriff am Beispiel der Frage nach Abstimmung im Tanz ausdifferenziert werden kann. 2.1 Das Problem der Intersubjektivität Intersubjektivität ist in der Soziologie eine umstrittene Kategorie. Aus wissenschaftshistorischer Perspektive verläuft ihr Weg als „ontologische Grundkategorie des menschlichen Seins in der Welt“ (Schütz 1957: 116), zur „Alternative von individualistischer Handlungstheorie und handlungsloser oder subjektfreier Strukturtheorie“ (Joas 2000: 19) bis hin zum formelhaften, auch zeitgenössisch noch konstatierten „Problem der Intersubjektivität“ 22 (Raab u.a. 2008: 14f.; Schütz 1953b: 48; Joas 1985; Lüdtke 2009: 2949; Crossley 1995b: 142; Kurt 1995: 143). Dabei changieren die Diskussionen von einem Aufleben von Intersubjektivitätskonzepten (Crossley 1995, 1996, 2005; Lüdke 2008 a-c, 2010), über seine Unauflösbarkeit durch die Infragestellung eines ‚individualistischen Dilemma‘ (Jeffrey Alexander), seiner Unbegründetheit für Fragen der Kollektivität (Reckwitz 2006a: 563) und der Irrelevanz und Infragestellung des Begriffes durch das Problem des Solipsismus bis hin zu seiner Erweiterung durch eine Konzeption des Dritten (Fischer 2000, 2006, 2008, 2010). Im Kontext dieser Textlage gilt noch immer, was Ronald Kurt 1995 feststellte: „Intersubjektivität ist prinzipiell unsicher und bezweifelbar.“ (Kurt 1995: 145). Aber wie eine verbindende Perspektive von Phänomenologie und Soziologie aufzeigt, ist eine Betrachtung von Intersubjektivität für die Soziologie noch immer lohnenswert: „Gemeinsam ist ihnen jedoch jene Grundeinsicht der Phänomenologie, nach der die Klärung des Intersubjektivitätsproblems die Erforschung der Verhältnisse von Subjekt und Welt erfordert: Analyse des Zeitbewusstseins und der Erfahrungsräume, des , des Sehens oder der Blicke ebenso, wie als Untersuchung der Verwendung von Zeichen und Symbolen, von Sprache, Text, Bild oder Musik in den historischen und sozialen Formen der beispielsweise religiöser und politischer Deutungs- und Handlungssphären, von Rechtsnormen und Erlebnismilieus oder medial-technisch konstruierter Wahrnehmungswelten.“ (Raab u.a. 2008: 15)
In aktuellen Auseinandersetzungen der Soziologie lassen sich daher auch Autoren finden, die dafür eintreten, dass Intersubjektivität in der Soziologie weiter diskutiert werden sollte (Lüdtke 2008, 2010; Fischer 2000, 2006, 2008, 2010; 22 So erschien bereits 1985 der von Hans Joas herausgegebene Sammelband mit eben jenem Buchtitel: Das Problem der Intersubjektivität (Joas 1985).
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Crossley 1995, 1996, 2005; Raab u.a. 2008). 23 Ihnen ist gemeinsam, dass Ihrer Ansicht nach Intersubjektivität konstitutiv für die Soziologie ist, deren theoretische Implikationen jedoch auf die jeweilige Fragestellung angepasst werden müssen. So versteht etwa Nick Crossley Intersubjektivität als ein interdisziplinäres Konzept, welches ein weitreichendes Verständnis von Kommunikation, Bürgerschaft, Macht und Gemeinschaft in ein neues Licht setzt, während Lüdke Konzepte von Intersubjektivität betrachtet, um eine Anthropozentrik der Soziologie (Lüdke 2010) zu problematisieren. Die Beweggründe für eine Gewichtung von Intersubjektivität sind dabei motiviert durch unterschiedliche theoretische Ausrichtungen deren Auseinandersetzungen um so zentrale Begriffe und Konzepte wie Identität/Alterität, Solipsismus, Fremdverstehen, Kommunikation oder auch eine Konstitutionstheorie für die Soziologie kreisen. Auffallend ist, dass die jeweils anderen Konzepte und deren Argumentationsstrategien nur selten beachtet oder diskutiert werden. Bisher gibt es daher keine Arbeit, die einen Überblick über die disparaten Ansätze und Theorien von Intersubjektivität in Soziologie, Philosophie oder auch Anthropologie leistet. Es ist nicht das Anliegen dieser Arbeit, einen solchen umfassenden Überblick über alle soziologischen Ansätze von Intersubjektivität zu verschaffen – von Alfred Schütz über George Herbert Mead und dessen Setzung als Intersubjektivitätstheoretiker durch Hans Joas, bis hin zu Jürgen Habermas und weiteren, neueren Ansätzen, die wiederum diese bereits zu Klassikern avancierten Autoren (Schütz, Mead, Habermas) aufgreifen. Verwunderlich bei den Auseinandersetzungen mit Intersubjektivität ist aber, dass Intersubjektivität nur eine marginale Rolle spielt in den aktuellen Diskussi-
23 In diesem Zusammenhang lässt sich die Frage formulieren, ob so auch von einem ‚Intersubjective turn‘ in der Soziologie gesprochen werden kann. Wurden in den 1980 und 1990er Jahren alle soziologischen Analysen gleich zu einer Gesellschaft: Erlebnis- oder Spassgesellschaft, Individualisierungs- oder Konsumgesellschaft, so ist in der Gegenwartsdiagnostik der Soziologie der reflexive Moment eingekehrt und das Fach spricht geradezu inflationär von ‚turns‘ um deutlich zu machen, dass Konzepte und Theorien überdacht werden. Bisher ist ein solcher Anspruch in der Soziologie nicht formuliert, welcher aber auch mit der Anlage der Soziologie zusammenhängt. Von einem ‚intersubjektiv turn‘ zu sprechen macht aus bestimmten Gründen in der Soziologie allerdings keinen Sinn: Intersubjektivität ist – ganz ähnlich den historisch unterworfenen Konzeption von Subjektivität oder Subjektkulturen – eine spezifisch historische Kategorie deren Bestimmung dem jeweiligen theoretischen Rahmen anhängig ist.
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onen um ein soziologisches Subjekt (vgl. Kap. II). 24 Es ist aber meines Erachtens unumgänglich, das Verhältnis von Subjekttheorien und Intersubjektivität zu bestimmen und so auch eine Lücke in der soziologischen Diskussion um den Subjektbegriff zu schließen. 25 Dafür ist es zunächst hilfreich, Begriffe von Inter-Subjektivität genauer zu beleuchten: im Folgenden vorerst anhand der von und mit Alfred Schütz ausgehenden grundsätzlichen Problematik von Intersubjektivität und mit der nur scheinbaren Lösung einer Konzeption von Interkorporalität bei Merleau-Ponty. Daran anschließend soll in einer Hinwendung zu sprachwissenschaftlichen und philosophischen Annäherungen das Feld um Intersubjektivität neu aufgerollt werden, um ein Problem von Intersubjektivität im Bezug zur Frage nach korporaler Abstimmung neu zu betrachten: „Das Problem ergibt sich daraus, dass unter der Bezeichnung [Intersubjektvitität, MH] verschiedene Fragestellungen verhandelt werden. In soziologischen Theorien werden darunter unterschiedliche Probleme alltäglicher Verständigung bzw. Kommunikation bis hin zu elementaren Konstitutionsfragen von Sozialbeziehungen gefasst. […] das Problem von der Konstitution von ego-alter-Verhältnissen und Fremdverstehen.“ (Lüdtke 2010: 2)
Im Bezug zu Lüdtkes Analyse lässt sich jedoch feststellen, dass es im Zusammenhang mit der Frage nach Abstimmung im Tango sowohl um eine eher mikrosoziologische Frage der Verständigung und des Fremdverstehens geht, als auch um eine makrotheoretische Konstitutionsfrage in Bewegungssituationen. In einer erste Setzung ist hervorzuheben, dass nicht per se von Intersubjektivität oder von intersubjektiven Zusammenhängen gesprochen werden kann – dahinter verbergen sich verschiedenen Konzepte mit unterschiedlichen Ausgangsfragen und Theoremen. Und so ist auch der Entwurf dieser Arbeit ein explizit eigenständiger Entwurf von Intersubjektivität – der bezogen auf die Ausgangsfragestellung entwickelt wurde. Die Arbeit möchte damit zeigen, dass Intersubjek24 So verweist etwa Andreas Reckwitz in seiner Arbeit zum Subjekt auf „intersubjektive Praktiken“ (Reckwitz 2006b: 38), welche er aber nicht genauer definiert. Das Substantiv Intersubjektivität wird bei ihm vor allem kritisch gesehen, wenn er sie im Bezug zum ineinander verlieben als „vorgebliche Intersubjektivität“ (219) bezeichnet oder es im Stichwortverzeichnis seines Buches Die Transformation der Kulturtheorien (2006a) als „ Intersubjektivität, Kritik des Konzepts der“ (ebd.: 701) gefasst wird. 25 Hubert Knoblauch hat in seinem Aufsatz Subjekt, Intersubjektivität und persönliche Identität von 2004 die Wichtigkeit von Intersubjektivität hervorgehoben, in radikaler Abgrenzung zu einem essentiellen Subjektbegriff und vor allem für einen Vorzug eines Begriffes von Identität.
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tivität keineswegs ein soziologischer Begriff an sich ist, sondern eine näher auszudifferenzierende soziologische und damit auch historische Kategorie. Interessant dabei ist, dass die Diskussionen um Konzepte von Intersubjektivität in der Soziologie – im Verhältnis zu anderen soziologischen Konzepten wie etwa Individuum oder Gesellschaft – nicht ganz so große Datenmengen als Ausgangsmaterial von soziologischen Klassikern haben. Es lassen sich in der soziologischen Theorie gerade mal drei – ergänzt man noch die Phänomenologie, vier – explizite Konzepte von Intersubjektivität finden: die Konzeption von Alfred Schütz, die von Hans Joas und Jürgen Habermas entwickelten Theorien im Anschluss an George Herbert Mead und Merleau-Pontys Konzept der Intercorporalität. Der Begriff selbst wird jedoch in der Soziologie – ohne Bezug auf die erwähnten Theorien – viel häufiger verwendet. 26 Bereits 1945 stellte Alfred Schütz fest: „Um nur ein Beispiel aufzugreifen: alle Sozialwissenschaften nehmen die Intersubjektivität des Denkens und Handeln für selbstverständlich hin.“ (Schütz 1945a: 134) Intersubjektivität wird damit zu einer soziologisch allgemeingültigen, aber nicht näher bestimmten Kategorie, welche dafür steht, dass Individuen – um es mit Georg Simmel zu sagen – in einem Wechselverhältnis zur Gesellschaft und zu anderen Individuen stehen: eine soziale Welt also immer intersubjektiv ist. In soziologischen Lexika wird Intersubjektivität in der Soziologie daher auch als „Übereinstimmung von Auffassungen, Einstellungen, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen bei einer Mehrzahl von Individuen innerhalb einer bestimmten soziokulturellen Umwelt“ (Hillmann 1994: 388) definiert. Bereits in dieser kurzen Definition von Über-einstimmung zeigt sich das Dilemma, dass was als Inter-Subjektivität verstanden wird, letztlich rückgeführt wird auf vereinzelte Subjekte, die übereinstimmend denken, glauben, wahrnehmen und sich verhalten. Eine vorausgesetzte Differenz von Ego und Alter ist damit eine Voraussetzung für ein Verständnis von Intersubjektivität (Schlossberger 2005: 21). 27 Intersubjektivität ist immer eine nachgelagerte Kategorie, die sich erst zwischen vorhandenen, monadischen Subjekten bilden kann und zweitens als mentaler Akt verstanden wird. Ausgehend von dieser Kritik an „dyadischen Intersubjektivitäts26 Darüber hinaus lassen sich auch in anthropologischen Theorien (von Helmut Plessner, Max Scheler, Hermann Schmitz), in der (Sozial-)Psychologie und in der Philosophie (Husserl, Merleau-Ponty, Sartre, etc.) vielfältige Ansätze finden, die Anschlussmöglichkeiten für die Soziologie bieten. Diese Ansätze werden hier nur soweit aufgegriffen als sie für die eingangs formulierte soziologische Fragestellung relevant erscheinen. 27 So etwa auch die an Habermas anschließenden primären Betrachtungen von Intersubjektivität in Kommunikationsprozessen (Schneider 2009).
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theorien“ (Fischer 2008: 125) ist Joachim Fischers Auseinander-setzung mit Intersubjektivität von nichts weniger geprägt als von der Motivation eine Theorie des ‚Dritten‘ für die Soziologie zu entwickeln (ebd.: 121). Sein Konzept steht für eine Erweiterung der „wirkungsvolle(n) Typen von Grundannahmen über Sozialität“ (ebd.: 122), nach welchen „das Soziale überhaupt aus der Relation zwischen ego und alter ego“ (ebd.) erklärt wird über eine „dyadische Sozialtheorie“ (ebd.): „Der Dritte oder ‚Tertiarität‘ ist die denknotwendige Ergänzung von Identität und Alterität, einen Schritt über den Anderen hinaus und zugleich ein Schritt zwischen Alterität und Pluralität, zu der die dyadischen Intersubjektivitätstheorien zu rasch übergehen.“ (Ebd.: 125)
Diese Kritik an dyadischen Denkmodellen von Intersubjektivität hat außerdem mit einer Abkehr und einer zentralen Kritik an Konzepten von Intersubjektivität zu tun, die auf dem aufbauen „was Jeffrey Alexander treffend das ›individualistische Dilemma‹ der interpretativen Soziologie nennt“ (Reckwitz 2006a: 393) und was letztendlich das erkenntnistheoretische Problem des Solipsismus skizziert. Dieses Dilemma lässt sich auch als die Kritik an einem Konzept von Intersubjektivität als einem eher psychologischem Konzept beschreiben, denn Intersubjektivität entsteht aus dieser Perspektive nur in der Vorstellung eines Subjekts und ist demnach kein soziologisches Konzept. Darin zeigt sich nach Reckwitz das kaum lösbare Problem, „wie aus der strikt subjektiven Perspektive eine Kollektivität von Wissensordnungen identifizierbar sein soll, wenn das Soziale auf der Ebene des Fremdverstehens und der gegenseitigen subjektiven Vorstellung von Intersubjektivität verortet werden soll.“ (Ebd.: 365)
Dieser Kritik folgend muss angenommen werden, dass ein geteiltes soziales Wissen „immer nur eine Vorstellung des Subjekts von einer solchen kollektiven Geteiltheit, eine Vorstellung der Reziprozität der Perspektiven sein“ (ebd.: 391) kann. Intersubjektivität zeigt sich hier als Problem des Solipsismus: als Unüberwindbarkeit der Teilhabe der eigenen Vorstellungen an den Vorstellungen des Gegenübers. Im historische Wörterbuch der Philosophie wird auf die Verwobenheit der Begriffsgeschichte des Solipsismus mit der Begriffsgeschichte des Egoismus verwiesen, in welcher in der 2ten Hälfte des 19.Jhr. Egoismus als praktische – und damit ethische – und Solipsismus als theoretische (= erkenntnistheoretische) „Position der Einzigkeit“ (Ritter 1998: 1018) bezeichnet: „Die Auseinanderset-
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zung mit dem Solipsismus ist trotz anfänglichen, eher belustigten Erstaunens stets auch ernsthaft geführt worden.“ (Ritter 1998: 1019/1020) Wobei die Belustigung sich vor allem darauf bezieht, dass man schlechthin mit jemanden diskutieren kann, für den der Solipsismus absolut gilt, denn für diesen ist alles außer seinem Bewusstsein nur eine Annahme. 28 Dyadische Konzeptionen von Intersubjektivität und der Solipsismus setzen also existente Subjekte als Entitäten voraus, die sich dualistisch getrennt in Handlungen gegenüberstehen. Problematisch bleiben daher auch aktuelle Bezüge in Auseinandersetzungen zur Intersubjektivität, welche sich explizit auf ein bewusstseinstheoretisches Subjektkonzept beziehen: „Zwar wird kein Subjekt mehr angenommen, das eine bestimmte inhaltliche Fülle aufwiese und deswegen als „substantieller“ Kern angesehen werden könnte. […] Das Bewußtsein ist diejenige Instanz, die als Korrelat gesellschaftlicher Prozesse fungiert; es ist die Voraussetzung für Intersubjektivität und Kommunikation, und das Bewusstsein ist schließlich auch die wahre Heimstatt dessen, was „Lebenswelt“ genannt wird.“ (Knoblauch 2004b: 53)
Hierin liegt eine Parallele von Ansätzen von Intersubjektivität mit den in Kapitel I. vorgestellten Perspektiven der klassischen Handlungstheorien. Die Überwindung einer solchen intentionalen Subjektvorstellung für Handlungen und damit auch für Interaktionen, als wechselseitig aufeinander bezogene Handlungen, müsste demnach auch für Ansätze von Intersubjektivität vollzogen werden, um das Problem des Solipsismus zu überwinden. Das Verhältnis von Interaktionen – als wechselseitige Verhältnisse von Handlungen – und Intersubjektivität als ein, einen Schritt weiter gedachtes Konzept von geteilten Übereinstimmungen von Auffassungen, Einstellungen, Verhaltenserwartungen verweist damit auf eine Sozialität von Subjektivität. Intersubjektivität muss also zunächst paradoxerweise aus einer Subjekthaftung befreit werden um es als soziologisches Konzept fruchtbar machen zu können. Denn eine solche Perspektive baut auf einer Subjektkonzeption auf, die von ‚in sich geschlossenen‘, autonomen Subjekten ausgeht, die voneinander getrennt existieren – also im Prinzip einem cartesianischen Subjektkonzept und einer Differenz von Ego und Alter. Intersubjektivität ist aus dieser Perspektive unmöglich, da das Subjekt nicht – wie es Kant noch idealistisch formuliert – „an der Stelle jedes andern denken kann“ (Kant 1974: 226). Subjekte stehen sich dem-
28 „Diese zwiespältige Einstellung zum Umgang mit der Provokation des Solipsismus hält sich bis zum heutigen Tage durch.“ (Ritter 1998: 1020)
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nach voneinander isoliert in Handlungen gegenüber, sie sind ‚autonome und intentionale Handlungssubjekte‘. Die weiteren in dieser Arbeit aufgenommenen phänomenologischen Ansätze, Merleau-Pontys Konzept von Interkorporalität und auch Alfred Schütz, stellen dieses explizit auf ein Verhältnis von Ego und Alter Ego beruhende dyadische Intersubjektivitätsmodell in Frage. Merleau-Ponty und Schütz setzen vielmehr Intersubjektivität voraus: Intersubjektivität ist die Konstitutionsbedingung jeder sozialen Welt. Aktuelle Ansätze, welche sich mit Intersubjektivität auseinandersetzen beziehen sich aus diesem Grund auch explizit auf Alfred Schütz, wie etwa Nico Lüdtke. Lüdtke diskutiert die Intersubjektivitätskonzepte bei Alfred Schütz und George-Herbert Mead auch aus der Motivation einer Grundlegung der Soziologie durch die Phänomenologie. Lüdtke richtet seine Perspektive auf Intersubjektivität um „elementare Konstitutionsfragen von Sozialbeziehungen“ (Lüdtke 2010: 2) zu klären. Diese Fragen sind damit verbunden wer als Agent einer sozialen Situation gelten kann verbunden und somit auch mit der bei Alfred Schütz formulierten „Generalthesis des Alter Ego“ (Lüdke: 2008a: 192), Fragen des Fremdverstehens und der Alterität. Im Anschluss an einer Kritik von Luckmann weist er darauf hin, dass die Sozialwelt nicht mit dem „Kreis menschlicher Personen“ (ebd.: 195) gleichzusetzen ist. Wie Lüdtke hervorhebt lassen sich seiner Ansicht nach Konzepte von Intersubjektivität in zwei differente Perspektiven einordnen: „das Problem der Konstitution von ego-alter-Verhältnissen und Fremdverstehen.“ (Lüdtke 2010: 2). Für ihn liegt die Differenz dieser Perspektiven darin, beim Fremdverstehen danach zu fragen „wie ein Anderer verstanden werden kann“ (ebd.), während sich Konstitutionsfragen darauf richten „wer als Anderer überhaupt infrage kommt.“ (Ebd.) Fragen des Fremdverstehens gehen dabei von intentionalen Subjekten aus, ganz ähnlich wie es in Kapitel II. am Beispiel der Soziologie und in Kapitel I. am Beispiel des auf Max Weber zurückgehenden Handlungsbegriff, aufgezeigt wurde. In der Frage danach, wer der Andere ist, stellt automatisch die Frage danach, „welche Wesen als soziale Subjekte infrage kommen können.“ (Ebd.: 5) Lüdtke hebt hervor, dass die „Konstitution intersubjektiver Verhältnisse in der (handlungstheoretischen) Soziologie bisher nur unzureichend behandelt worden ist.“ (Ebd.: 21) Er setzt sich aus diesem Grund für eine Sozialtheorie ein, die die „Elemente sozialer Beziehungen“ (ebd.) genauer definiert und eine anthropozentrische Beschränkung der Soziologie hinterfragt. Seine Arbeiten verorten sich damit zentral in einer phänomenologischen Grundlegung der Soziologie, die ihre Perspektive erweitert über eine anthropozentristische Beschränkung hinaus.
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Die hier skizzierte Problemlage von Intersubjektivität zwischen Solipsismus und dyadischem Denken wird im Weiteren wissenschaftshistorisch hergeleitet. Exemplarisch kann diese Problematik diskutiert werden in dem von Alfred Schütz erstmalig für die Soziologie aufgenommenen und kritisch hinterfragten Konzept einer Intersubjektivität bei Edmund Husserl. 2.2 Intersubjektivität bei Alfred Schütz Alfred Schütz ist der erste Sozialwissenschaftler, welcher den Begriff und ein Konzept von Intersubjektivität für die Soziologie diskutierte. Für eine „philosophische Grundlegung der Sozialwissenschaften, besonders der Soziologie“ (Schütz 1971c: 9) und vor allem auch phänomenologische Untermauerung setzte er sich mit Intersubjektivität bei Edmund Husserl auseinander um darüber Grundsätzliches für die Soziologie zu manifestieren (Schütz 1940: 138): „Aus dem allgemeinen Grundlegungsproblem der Sozialwissenschaften war ihm die Frage nach der lebensweltlichen Intersubjektivitätsproblematik entstanden.“ (Baeyer 1971: 14) Ausgiebig setzte sich Schütz mit den philosophischen und phänomenologischen Fragen zum Problem der Intersubjektivität auseinander, diskutierte darüber auch methodische Fragen für die Soziologie und erörterte dies exemplarisch an den Konzepten von Edmund Husserl oder Max Scheler. An diese Auseinandersetzung lassen sich exemplarisch die in den sozialwissenschaftlichen Diskussionen um ein Problem von Intersubjektivität immer wieder aufgegriffenen Aspekte – vom Solipsismus, über Fragen des Fremdverstehens bis hin zu Fragen der Sozialität – zeigen. Es ist unumstritten, dass die Schützsche Auseinandersetzung mit dem Begriff der Intersubjektivität sich in seinem Werk in zwei Phasen einteilen lässt: eine im Früh- und eine im Spätwerk (Breda 1971; Reckwitz 2006a). Der erste biographisch frühe Entwurf bezieht sich hauptsächlich auf Husserls Entwurf von Intersubjektivität und wird als egologischer Ansatz bezeichnet (Breda 1971: VIII) 29, welcher im „subjektphilosophischen Frühwerk“ (Reckwitz 2006a: 397) einzuordnen ist. Das egologische Konzept von Intersubjektivität spiegelt diese subjekphilosophische Basis deutlich wieder:
29 Vorwort von H.L. Breda in den Gesammelten Aufsätzen, Bd. 1: „Nach dem Versuch, die Intersubjektivität vom transzendentalen Ich abzuleiten, scheint Schütz die Grenzen des egologischen Ansatzes erkannt zu haben: Intersubjektivität trat vor ihn als eine Art primordiale Tatsache. Möglicherweise trifft sich aber Schützs Gedankengang auch hier mit der endgültigen Auffassung Husserls“ (Schütz 1971a: VIII)
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„Aber diese transzendentale Intersubjektivität ist rein in mir, dem meditierenden Ego und rein aus Quellen meiner Intentionalität konstituiert, aber als solche, die in jedem einzelnen Menschen (nur in anderen subjektiven Erscheinungsweisen) in seinen intentionalen Erlebnissen, als dieselbe transzendentale Intersubjektivität konstituiert wird.“ (Schütz 1940: 148)
Ein solche egologisches Konzept ist passgenau auf die sozialphänomenologische Ausprägung des Frühwerkes ausgerichtet, in welchem noch die „Analyse der intentionalen Verstehensleistung des Subjekts“ (Reckwitz 2006a: 189) im Mittelpunkt der Theoriearbeit von Schütz steht. 30 Gleichzeitig hängt mit dieser an der transzendentalen Konzeption Husserls ausgerichteten Konzeption das Problem des Solipsismus zusammen, welches „als Konsequenz der transzendentalen Reduktion“ (Schütz 1942: 191) bereits bei Husserl problematisiert wird. Das Problem der Intersubjektivität lässt sich also nicht in den Auseinandersetzungen mit Husserl, aber auch nicht mit Scheler (Schütz 1942) so einfach lösen. Und so ist für Schütz die Dimension einer Theorie von Intersubjektivität zwischen Transzendenz und mundaner Sphäre mit diesem egologischen Konzept noch immer nicht geklärt: „Es ist noch offen, ob nicht vielmehr Intersubjektivität und somit Sozialität ausschließlich in die mundane Sphäre der Lebenswelt gehören.“ (Ebd.: 193) Doch auch bereits früher datiert lassen sich bei Schütz Stellen finden, in welchen sich aus einer Rückschau ein Konzept von mundaner Intersubjektivität andeutet, welches er erst später entwickelte: „Alle Kultur- und Sozialwissenschaft ist nämlich prinzipiell mundan und nicht auf das transzendentale ego oder das transzendentale alter ego bezogen, sondern auf Phänomene der mundanen Intersubjektivität.“ (Schütz 1940: 138) Dieser zweite Entwurf lässt sich stärker als eigene Konzeption von Alfred Schütz lesen und mündet in einem Konzept von mundaner Intersubjektivität, die sich noch expliziter von Husserl abgrenzt „als ausdrückliche Alternative zur Transzendentalphilosophie“ (Raab u.a. 2008: 20). In diesem Vollzug der Distanz – auch zu seinem frühen egologischen Ansatz – hin zu einer mundanen Intersub-
30 Welche nach Andreas Reckwitz Einschätzung von Schütz in seinem Werk Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt (2004) vorliegt und später in den Strukturen der Lebenswelt (1979) zusammen mit Thomas Luckmann wieder revidiert wurde (Reckwitz 2006a: 189).
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jektivität wird deutlich, dass es für Schütz kein Konzept einer individuellen, persönlichen Intersubjektivität geben kann (Schütz 1945b: 296). 31 Auf diese Weise vollzieht Schütz auch einen Bruch mit seinen frühen stärker auf das Subjekt ausgerichteten Untersuchungen und kritisiert Husserl dahingehend „auf der Grundlage einer immer schon vorausgesetzten Subjektivität die ‚Intersubjektivität‘ im Sinne einer Sphäre des Übersubjektiven nur aus der Subjektivität ableiten zu können und damit zu scheitern.“ (Reckwitz 2006a: 399) Es ist eine Aufgabe dieser Arbeit zu zeigen, inwieweit sich dieses Problem mit Intersubjektivität ändert, sofern wie in Kapitel II. nicht Subjekte vorausgesetzt werden, sondern diese erst ein Resultat sozialer Inkorporierungsprozesse im Sinne von Körper-Subjekten sind. Schütz zerlegt in seinem zentralen Aufsatz Das Problem der transzendentalen Intersubjektivität bei Husserl dieses Konzept Husserls in Einzelteile und legt dem entgegen dar, dass Intersubjektivität „eine Gegebenheit der Lebenswelt ist. Sie ist die ontologische Grundkategorie des menschlichen Seins in der Welt und somit aller philosophischen Anthropologie.“ (Schütz 1957: 116). Sein Entwurf einer mundanen Intersubjektität richtet sich nicht mehr am Subjekt aus, sondern vielmehr an der grundsätzlichen und damit anthropologischen32 Annahme einer „Wirbeziehung“: „Die Möglichkeit der Reflexion auf das Selbst, die Entdeckung des Ich, die Fähigkeit zum Vollzug jeglicher Epoché, aber auch die Möglichkeit aller Kommunikation und der Etablierung einer kommunikativen Umwelt ist auf der Urerfahrung der Wirbeziehung fundiert.“ (Schütz 1957: 116)
Doch mit dieser mundanen Intersubjektivität ist gleichzeitig auch das verbunden, was sich als Dialektik der Intersubjektivitätserfahrung bei Schütz beschreiben lässt. Diese Dialektik zeigt sich als eine notwendige Annahme und damit Möglichkeit von Intersubjekvität zu Gunsten von Kommunikation und Interaktion, die Schütz in seiner Analyse von Don Quixote veranschaulicht:
31 „Man muß sich aber trotzdem ernsthaft fragen, ob Intersubjektivität überhaupt ein Problem der transzendentalen Sphäre ist, oder ob Sozialität nicht doch zum mundanen Bereich unserer Lebenswelt gehört.“ (Schütz 1945b: 296) 32 Schütz rekurriert in diesem Aufsatz auf die Geburt: „Solange Menschen von Müttern geboren werden, fundiert Intersubjektivität und Wirbeziehung alle anderen Kategorien des Menschseins.“ (Schütz 1957: 116)
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„Wenn dieser Glaube an die substantielle Identität der intersubjektiven Erfahrung zusammenbricht, dann ist die eigentliche Möglichkeit, mit unseren Mitmenschen eine Kommunikation aufzubauen, zerstört.“ (Schütz 1953a: 111)
Als Argument wird von Schütz der Glaube an Intersubjektivität angeführt, welches theoretisch abstrahiert die soziologische Theoriebildung als Generalthesis der Reziprozität der Perspektive durchzieht: „Mit seiner ‚Generalthesis der Reziprozität der Perspektive‘ formuliert Schütz die Einsicht, dass das Fremdverstehen für die pragmatischen Ansprüche alltäglichen Handelns in der Regel von den Alltagshandelnden selber als bereits gelöst angesehen wird. Seine Ausarbeitungen folgen dieser Einsicht und transportieren sie auf die Ebene sozialwissenschaftlicher Theorie.“ (Raab u.a. 2008: 20)
Intersubjektivität wird in diesem Zusammenhang zu einer Annahme und zeigt sich als mögliche Form des Verstehens. „Es kann aber mit Bestimmtheit gesagt werden, daß nur eine solche Ontologie der Lebenswelt, nicht aber eine transzendentale Konstitutionsanalyse jenen Wesensbezug der Intersubjektivität aufzuklären vermögen wird, der die Grundlage sämtlicher Sozialwissenschaften bildet, obschon er von diesen meistens nur als schlichte Gegebenheit ungeprüft, d.h. als ‚selbstverständlich‘ angesetzt wird.“ (Schütz 1957: 117)
Bei Alfred Schütz zeigt sich die mundane Intersubjektivität als anthropologische Voraussetzung des Sozialen – sie ist per se im Sozialen gegeben, bzw. wird vorausgesetzt um Handlungsfähig sein zu können. Für Schütz ist Intersubjektivität die Konstitutionsbedingung der Lebenswelt, Lebenswelten sind immer intersubjektiv angelegt. Gleichzeitig ist damit aber aufgezeigt, dass sich letztendlich so noch keine Intersubjektivitäten ausmachen lassen, bzw. nicht erklärt werden kann wie eine Intersubjektivität als Subjektstatus oder -position entsteht und wie die Verhältnisse zwischen beiden Ebenen sind. Es ist die Frage nach dem Agens von sozialen, intersubjektiven Situationen – die Frage nach der Subjektform in einer intersubjektiven Lebenswelt – einer Intersubjektivität. Es ist die Frage danach wie es möglich ist, dass diese intersubjektive Lebenswelt überhaupt prozessual in der Praxis entsteht. Auffallend ist auch hier – ähnlich einem bisher nur wenig thematisierten Verhältnis von Subjekt und Körper – dass der Körper – und mit ihm Bewegungen – bei Alfred Schütz in diesem Kontext keine Rollen spielen. Im Anschluss soll ein Konzept von Intersubjektivität diese Diskussion ergänzen,
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welches explizit ein Verhältnis von Körpern und Intersubjektivität aufmacht: Merleau-Pontys Konzept von Interkorporalität. 2.3 Interkorporalität im Tango – eine phänomenologische Lösung? Maurice Merleau-Ponty beansprucht mit seiner Phänomenologie des Leibes nichts weniger als „die traditionellen philosophischen Kategorien von Subjekt und Objekt, Form und Inhalt, Aktivität und Passivität in Frage“ (Bermes 1998: 74) zu stellen. Seine Annahmen, die in der Weiterführung Husserls den Leib „als den Vollzugsort des Zur-Welt-seins“ begreifen (ebd.: 73), stellen den Leib in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung von philosophischen, bzw. phänomenologischen Fragestellungen. Für den Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty ist der Leib Vermittler und Wahrnehmungsagent. In seiner Leibphilosophie versteht Merleau-Ponty den Körper als sozial und kulturell geformt. 33 Sein Konzept der Interkorporalität – der Zwischenleiblichkeit – fasst den Körper als „Schnittstelle zwischen Leiblichkeit und Sozialität.“ (Elsner 2000: 17) Der Leib wird bei Merleau-Ponty zur grundlegenden Möglichkeit von Verständigung: „Durch meinen Leib verstehe ich den Anderen, so wie ich auch durch meinen Leib die ‚Dinge‘ wahrnehme.“ (Merleau-Ponty 1966: 220) Ein Konzept von Interkorporalität postuliert „die Leiblichkeit als die verbindende Stelle zwischen mir und dem Anderen“ (Coenen 1979: 246 zitiert nach Meuser 2002: 34). Körper sind aus dieser Perspektive nie nur subjektiv, sondern immer gleichzeitig auch sozial. Dem geht voraus, dass es für Merleau-Ponty eine Zweideutigkeit des Leibes gibt, die nach Robert Gugutzer „darin besteht, dass der Leib zugleich wahrnehmender und wahrnehmbarer, sehender und sichtbarer Leib ist“ (Gugutzer 2002: 86). Merleau-Pontys setzt in seinem Konzept der Interkorporalität diese als anthropologisch voraus – sie ist kein Ergebnis von sozialen Prozessen, sondern eine menschliche Konstitutionsbedingung. Interkorporalität wird von Merleau-Pontys als Konstitutions-bedingung des Menschen vorausgesetzt, sie ist der menschliche Zugang zur Welt. Es ist vor allem Merleau-Pontys Leistung, die körperliche Existenzweise des Menschen als
33 Merleau-Ponty spricht ausdrücklich im Bezug zu Husserl vom Leib, um sich einem kulturell-kodierten Körperbegriff zu entziehen. Diese Differenz wird hier nicht weiter ausgeführt und auch nicht aufgenommen, da diese anthropologische Setzung meines Erachtens ein Problem der Essentialisierung und Naturalisierung des Körpers mit sich führt.
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grundsätzliche Voraussetzung anzunehmen – in seinem Konzept von Interkorporalität. Merleau-Ponty auf die Soziologie angewandt setzt dann auch voraus, dass Handeln immer leibliches Handeln ist (Meuser 2002: 33). Mit seiner Setzung auf Interkorporalität hat Merleau-Ponty das Problem des Solipsismus umgangen, indem er den, durch den Dualismus der Bewusstseinsphilosophie bestimmten Begriff von Intersubjektivität, seine Konzeption von Interkorporalität entgegengesetzt hat. Intersubjektivität ist bei Merleau-Ponty immer und ausschließlich „leibliche Intersubjektivität“ (Merleau-Ponty 1967: 55), weshalb er den Begriff der Interkorporalität, der Zwischenleiblichkeit entwirft. Für ihn scheint also zunächst die Frage nach einem Subjekt nicht mehr relevant. Merleau-Ponty diskutiert jedoch auch weiterhin das Problem des Solipsismus: den erkenntnistheoretischen Standpunkt, nur von der Wirklichkeit der eigenen Subjekthaftigkeit mit seinen Bewusstseinsinhalten ausgehen zu können und alle anderen Subjekte und die Außenwelt als eine Vorstellung anzunehmen. Merleau-Ponty sieht im Solipsismus zwar eine „bleibende Wahrheit“ (MerleauPonty 1966: 407), hebt allerdings hervor: „Es gibt hier einen erlebten Solipsismus, der unüberwindlich bleibt.“ (Merleau-Ponty 1966: 409) Merleau-Ponty spricht davon, dass nur ein erlebter Solipsismus nicht zu überwinden ist. Mit dieser durchdachten Formulierung zeigt er, dass er den Solipsismus nicht als erkenntnistheoretische Tatsache versteht, sondern vielmehr – um es mit Michel Foucaults Worten zu sagen als ein Phänomen einer gelungenen Subjektivierung – oder phänomenologisch formuliert als Wahrnehmungskategorie. Subjekte nehmen sich selbst als Einzelne wahr und können nicht von der Wahrhaftigkeit des Anderen ausgehen. So „hält Merleau-Ponty an der eigenständigen Subjektivität fest, obwohl er deren grundsätzlicher Öffnung auf die Welt zustimmt“ (Günzel 2007: 42), welche er jedoch wesentlich durch seine Konzeption von Interkorporalität am Leib festmacht. Ein Konzept von Interkorporalität setzt somit als anthropologische Kategorie im Leib das voraus was beispielsweise in einem psychologischen Konzept von Empathie (II. 1.2) nur als individuelle und vor allem mentale Ressource beschrieben wird. Empathie als psychologisches Konzept einer individuellen Fähigkeit des sich hineinversetzens in Andere geht dabei von einem mental strukturierten, monadischen Subjekt aus und thematisiert keine körperliche Dimension. In einer Konzeption von Interkorporalität wird diese Perspektive umgekehrt: der Zugang zur Welt geschieht primär über den Körper, welcher anthropologisch betrachtet in seiner Zwischenleiblichkeit nie rein subjektiv sein kann:
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„I must be simutaneously the perceiver and the perceived and so, too, must she. This intertwining or ‚chiasm‘, as the later Merleau-Ponty (1968) terms it, is the basic form of intercorporeality which, in turn, is the basic form of human beeing-in-the-world.“ (Crossley 1995b: 144)
Subjektivität spielt für Merleau-Ponty also nur bedingt eine Rolle, sie ist nur ein Teil der menschlichen Existenz. Entlang einer Argumentation von tanztechnischen Wissens-Körpern hat im Gegenzug das letzte Kapitel aber gezeigt, dass die prozessuale Entstehung von Subjektivitäten ein Resultat von Körper-Subjekten sind und Abstimmungsprozesse so überhaupt erst möglich werden – Subjektivität ist als Annahme eine Voraussetzung, um davon auszugehen, dass Tanzende sich aufeinander abstimmen. Im Zuge dessen bietet Merleau-Pontys Konzept der Interkorporalität zwar eine anthropologische Voraussetzung für Abstimmungen im Tanz, kann aber Abstimmungen im Tanz nicht näher erklären. Daher stellt sich im Anschluss an diese Konzeption weiterhin die Frage, wie sich Abstimmungsprozesse von Körpern im Tango beschreiben lässt? Um diesen Zusammenhang zu erklären, reicht Merleau-Pontys phänomenologisches Leibkonzept nicht aus, welches Interkorporalität als Konstitutionsbedingung des Menschen versteht. Letztendlich zeigt sich hier die Differenz zwischen einem konstitutiven Leib bei Merleau-Ponty und einem sozial-wissenden Körper (Kap. II, 3.1). Diese Differenz hat Helmut Plessner in seiner Anthropologie gefasst in ein Körper-haben – als „Kulturwesen“ (Gugutzer 2004: 148) – und ein Leib-sein – als „Naturwesen“ (ebd.), welche nur aus analytischer Sicht zwei zu trennende Sphären sein können: „erinnernd an Plessners Theorem der ‚Ex-Zentrischen Positionalität‘ (Plessner 1982), als Körper-Sein und Körper-Haben, als Agens und Instrument. Denn der Tänzer gestaltet den Tanz mit seinem Körper, aber im Tanz ist er auch Körper. [...] Aus dieser Doppelfunktion heraus ‚spricht‘ der tanzende Körper von einer bestimmten historischen und kulturellen Position aus er artikuliert die Subjektivität des Tanzenden.“ (Klein 2011: 82)
Eine nach Merleau-Ponty auf den Leib bezogene Intersubjektivität als Interkorporalität muss also um ein sozialwissenschaftliches Körper- und Bewegungskonzept ergänzt werden, wie es in Kapitel II entwickelt wurde. Um darüber hinaus korporale Abstimmungsprozesse von Bewegungen im Tango zu erklären, soll eine auf den Leib bezogene Konzeption von Interkorporalität um ein auf Körper bezogenes, sozialwissenschaftliches Konzept von Intersubjektivität ergänzt werden.
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Ein solcher Entwurf findet im Intersubjektivitätsbegriff von George Herbert Mead eine gute Anschlussmöglichkeit mit welchem ein Verhältnis von KörperSubjekten zu Intersubjektivität erklärt werden kann.
3. P RAKTISCHE I NTERSUBJEKTIVITÄT I NTERVENTIONEN
UND
Die Auseinandersetzungen mit Intersubjektivität bei Alfred Schütz, MerleauPonty und aktuellen Problematisierungen von Intersubjektivität hat gezeigt, dass zur Erklärung von Abstimmungsprozessen im Tango eine Konzeption von Intersubjektivität aus folgenden wissenschaftshistorischen Schranken befreit werden muss: 1. Intersubjektivität muss aus seiner dyadischen Struktur gelöst werden. Dieser liegt eine bewusstseinsphilosphische Haftung an ein descartsches Subjekt zu Grunde und eine Differenz von Ego und Alter (Solipsismus). 2. Intersubjektivität muss aus seiner Bindung als mentaler Akt um die Perspektive einer körperlichen Intersubjektivität erweitert werden. 3. Die Annahme der Konstitution der sozialen Welt als intersubjektive 34 Welt (mundane Intersubjektivität nach A. Schütz), sagt nichts über die Möglichkeiten einer Subjektivierung zu Intersubjektivität aus. Hierzu ist es notwendig, einen weniger konstitutiven Ansatz von Intersubjektivität zu entwickeln (wie etwa Schütz und Merleau-Ponty), als vielmehr einen, welcher Intersubjektivität als Prozess versteht. Es ist die Aufhebung einer dyadischen Trennung und der Blick auf die körperlichen Prozesse, welche George Herbert Mead zu dem Autoren macht, der ein intersubjektives Konzept 35 der sozialen Genese von Subjekten entwickelt hat – wenn er den Begriff Intersubjektivität auch nie für sich verwendet hat: „Mit dem Nachweis des sozialen Charakters von Ich-Identität und Selbstbewusstsein richtet sich Mead gegen Bewusstseinstheorien, die introspektiv bei der Selbstgewissheit des
34 Andreas Reckwitz verneint zu Recht die Vorstellung, dass alles Soziale per se intersubjektiv ist und hebt vielmehr hervor, dass das Soziale intersubjektiv, als auch interobjektiv ist und auch Technologien des Selbst beinhaltet. 35 Den Begriff der Intersubjektivität als Schlüsselbegriff der Mead’schen Theorie führte Hans Joas in seiner Dissertation von 1979 ein (Joas 2000) (siehe Kap. 3.1)
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Ich ansetzen und dann von „dieser eigenen Insel“ nur per Analogieschluss zum Bewusstsein des Anderen gelangen.“ (Bergmann/Hoffmann 1985: 97)
Im Folgenden wird aus diesen Gründen Meads Konzeption von Intersubjektivität vorgestellt (3.1) und im Anschluss um eine sprachwissenschaftliche und philosophische Intervention ergänzt (3.2) um auf diesem Weg zu einer fruchtbaren Konzeption von Intersubjektivität zur Erklärung von Abstimmungsprozessen im Tanz zu kommen (4.) 3.1 Praktische Intersubjektivität – George Herbert Mead und Hans Joas Eine der zentralen soziologischen Konzeptionen von Intersubjektivität geht auf George Herbert Mead und vor allem dessen Aufarbeitung durch Hans Joas zurück. Wenn man sich mit Intersubjektivität im Rahmen der Theorie von George Herbert Mead befasst steht man sofort vor einem zentralen Problem: Der Begriff der Intersubjektivität wird von George Herbert Mead in seinen Aufsätzen und seinen posthum erschienen Büchern nicht verwendet. Den Begriff der Intersubjektivität als zentrales Theorem der Mead’schen Theorie prägte vielmehr Hans Joas in seiner Dissertation von 1979: Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werkes von George Herbert Mead (Joas 2000) 36. Joas beschäftigte sich im Anschluss weiterhin mit Mead, publizierte in Deutschland unveröffentlichte Aufsätze und gilt neben Jürgen Habermas als zentraler Autor der Mead’schen Theorie. Jedoch stellt sich in der Auseinandersetzung mit der Theorie von G. H. Mead damit auch eine Problematik des Verhältnisses von Sekundärliteratur zu Primärliteratur ein: das in der Sekundärliteratur von Hans Joas entwickelte Konzept von Intersubjektivität bei Mead und gleichzeitig die Beachtung des Werkes von Mead selbst aus seinen inhaltlichen Schwerpunkten heraus und in Relation zu Joas Konzeption. Dabei ist die Frage inwieweit eine Konzeption von Intersubjektivität im Werk von Mead mit Joas und darüber hinaus aufgezeigt werden kann. Jedoch auch in der Auseinandersetzung mit der Primärliteratur von George Herbert Mead steht man vor einer weiteren Schwierigkeit: die Ausgangslage seiner unterschiedlichen Publikationen, denn Mead hat Zeit seines Lebens nicht viel veröffentlicht. Als das Hauptwerk seiner „anthropologischen Theorie symbol-
36 Erschien in der ersten Auflage 1980 und wurde 2000 mit neuem Vorwort und Bibliographie neu aufgelegt (Joas 2000).
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vermittelter Interaktion“ (Joas 2000: 91) gilt Mind, Self and Society (deutsch: Geist, Identität und Gesellschaft, 1998) welches posthum (USA 1934) aus Mitschriften seiner Schüler und Vorlesungsnachschriften zusammengestellt wurde und damit in dieser Form kein von Mead konzipiertes Buch ist. Aus diesem Grund nutzt etwa Hans Joas in seiner Dissertation zur Darstellung der Entstehungsgeschichte des Konzepts symbolvermittelter Interaktion, wenige von Mead selbstveröffentlichte Aufsätze aus den Jahren 1909 bis 1913 und bezieht sich erst im Anschluss mit diesem Hintergrundmaterial auf Geist, Identität und Gesellschaft. Deshalb werden auch hier die von Hans Joas 1980 herausgegebenen Gesammelten Aufsätze von Mead herangezogen, die von Mead selbst zu Lebzeiten veröffentlicht wurden. Im Anschluss wird also hier zunächst skizziert, was Joas unter praktischer Intersubjektivität bei Mead fasst und erst danach in der Rückkehr zur Primärliteratur aufgezeigt, wie ein Konzept von Intersubjektivität bei Mead zu beschreiben ist. Es ist wichtig in der Konzeption von Hans Joas zu sehen, dass er den Begriff der Intersubjektivität gebraucht, um die Theorie von Mead in einem neuen Licht erscheinen zu lassen – jenseits von Behaviorismus und Symbolischen Interaktionismus, welcher durch Arbeiten des wohl bekanntesten Mead Schülers Herbert Blumer die Theorie von Mead seiner Ansicht nach auf eine Mikrosoziologie verkürzt. Joas hebt hervor: „Weder die körperlichen Grundlagen menschlichen Handelns noch die politischen und makrosoziologischen Fragestellungen erhielten bei den Symbolischen Interaktionisten je dieselbe Aufmerksamkeit, die sie in Meads eigenem Denken erhalten hatten.“ (Joas 2000: IX)
Joas möchte mit der Setzung eines theoretischen Begriffes von Intersubjektivität vielmehr für die Soziologie eine Überwindung zwischen Mikro- und Makrotheoretischen Ansätzen im Werk von Mead nachweisen. Die Überwindung eines Dualismus zwischen „individualistischer Handlungstheorie und handlungsloser oder subjektfreier Strukturtheorie“ (ebd.: 19) 37 in der historischen Entstehung der Theorie von Mead steht dabei für Joas im Vordergrund seiner Argumentati-
37 Hier lässt sich eine interessante Parallele von Mead zum praxeologischen Anspruch von Pierre Bourdieu ziehen. Dieser wollte mit seiner Theorie das Spannungsfeld von Subjektivismus und Objektivismus als Antinomie auflösen hin zu einem Konzept von Klassifizierten und Klassifizierenden. Bourdieus Konzept des Habitus als strukturierte und strukturierende Struktur und als praktischer Sinn steht für dieses Vorhaben.
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on. Es ist seiner Arbeit zu verdanken, besonders auch die Dimension des Körperlichen bei Mead hervorzuheben: „Damit ist es für Mead […] unmöglich, den sozialen Ursprung der Identität abzutrennen von der Dimension des Körperlichen: sowohl der organischen Reifungsprozesse wie des Verhältnisses des Subjekts zu seinem Körper.“ (Ebd.: 94)
Wie Rosenthal und Beorgois zeigen konnten, ist die Dimension des Körpers bei Mead dabei ähnlich stark ausgebildet, wie sie auch Merleau-Ponty herausgearbeitet hat: „Further, this intentional link is rooted, for Mead and Merleau-Ponty alike, in the total corporeal dimension of existence, which is best unterstood in terms of the dynamics of human activity or the structure of human behavior.“ (Rosenthal/Beorgois 1991: 4)
Nach Joas versuchte Mead mit dieser Betonung auf den Körper vor allem den „Leib-Seele Dualismus grundsätzlich zu überwinden“ (Joas 2000: 68), indem er hervorhob: „Versuche, den Geist auf den Körper oder den Körper auf den Geist zu reduzieren, leugnen die wechselseitige Abhängigkeit beider nicht nur in ihrer Genese, sondern in ihren Funktionen im Reflexionsprozeß.“ (Mead 1980: 135)
Joas versteht sein Konzept ‚Praktischer Intersubjektivität‘ als einen theoretischen Schlüsselbegriff für Meads Werk, den er als eine „Struktur kommunikativer Beziehungen zwischen den Subjekten“ (ebd.: 19) 38 erläutert. Er hebt mit dem Begriff der Praxis hervor, dass Handeln bei Mead immer leibliches Handeln ist und dies auch auf die sprachliche Intersubjektivität bei Mead zutrifft: Mead bezieht sich dabei in seinem Bezug zu Gebärden auf die Sprache als Lautgebärde: 39 „Der Laut ist [...] zuerst nichts als Gebärde.“ (Mead 1980: 177) Nach Joas ist der „Dreh- und Angelpunkt“ des Werkes von Mead sein „Konzept symbolvermittelter Interaktion“ (Joas 2000: 16). Unter der von Joas formu20F
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38 Mit dem Begriff der Intersubjektivität ist eine Struktur kommunikativer Beziehungen zwischen den Subjekten bezeichnet, welche geeignet ist, auf theoretischer Ebene die schlechte Alternative von individualistischer Handlungstheorie und handlungsloser oder subjektfreier Strukturtheorie zu überwinden.“ (Ebd.) 39 „Sprachliche Intersubjektivität wird bei Mead aus der körpernahen Struktur der Gebärdenkommunikation rekonstruiert und im kooperativen Handeln fundiert.“ (Joas 2000: 19)
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lierten „Struktur kommunikativer Beziehungen zwischen Subjekten“ (ebd.: 19) versteht Joas vor allem Meads Konzeption symbolvermittelter Interaktion. Damit einher geht auch dessen Konzeption der Bildung des Selbstbewusstseins, welches gebunden ist: „an die Konstitution eines reflexiven Verhältnisses zu unserem Körper, und daß diese nur im Zusammenhang mit der Konstitution anderer gegenständlicher Objekte gelingen kann.“ (Ebd.: 94) Joas hebt dabei vor allem die soziale Dimension dieses Konstitutions- und Kommunikationsprozesses hervor: „Ich habe mein Buch über Mead demgegenüber ‚Praktische Intersubjektivität‘ genannt, um damit genau zu akzentuieren, daß es Mead tatsächlich vornehmlich um das koordinierte oder interaktive Handeln geht, auf das Verständigung immer bezogen bleibt.“ (Joas 1985: 20)
Joas verbindet mit seinem Konzept von Intersubjektivität bei Mead aber auch den politischen Anspruch einer gesellschaftlichen Ordnung, „in der die Atomisierung der Individuen nicht durch eine Unterordnung unter ein Kollektiv, sondern durch eine argumentierende Teilnahme aller an der Bestimmung ihrer gemeinsamen Zukunft aufgehoben wird.“ (Joas 2000: 19) In welcher Weise aber diese Annahmen eines interaktiven Handelns und einer argumentierenden Teilnahme im Detail mit einem Konzept von Intersubjektivität verbunden sind, lässt sich in keiner ausdrücklichen Definition von Joas finden. Joas selbst zieht sich in seiner Einleitung darauf zurück, dass sich praktische Intersubjektivität als Schlüsselbegriff für seine Interpretation ergab, „dessen Tragweite erst im Verlauf der ganzen Arbeit deutlich werden kann.“ (Ebd.) Somit lässt sich vielleicht sagen, dass eine Interpretation des Mead’schen Werkes und ein Konzept von Praktischer Intersubjektivität von Joas über dessen Arbeit schwebt, ohne seinerseits einer genaueren Definition unterzogen zu werden. Ein solche, vorwiegend von Joas angewandte strategische Verwendung eines Begriffes wie Intersubjektivität birgt aber in sich die Problematik der fehlenden Auseinander-setzung mit der wissenschaftshistorischen Genese von Intersubjektivitätskonzepten, die Joas in seiner Dissertation und auch in späteren Aufsätzen nicht mit einbezieht in seine Konzeption. Dagegen ist Intersubjektivität in der Genese des Begriffes durch die Subjektphilosophie geprägt, wie es etwa Alfred Schütz in seiner Konzeption in Auseinandersetzung mit Edmund Husserl aufarbeitet (Schütz 1957, vgl. Kap. III, 2.3). Diesen Bezug zu einer Philosophie des Subjektes und zur Genese des Begriffes lässt Joas vollkommen außen vor und auch die Verwendung des Begriffes der Intersubjektivität kommt in seiner eloquenten und ausdifferenzierten Aufarbei-
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tung des Mead’schen Werkes nur an wenigen Stellen vor. In Bezug zu einem umfassenden Konzept von praktischer Intersubjektivität muss also ein Transfer von Joas Konzeption zu Mead vollzogen werden, welcher beide Ansätze inhaltlich zusammen- und ausführt. Ein Konzept von praktischer Intersubjektivität bei Mead muss also genauer im Sinne von Hans Joas begründet werden. Wie im Bezug zu Joas Konzeption bereits hervorgehoben wurde, muss ein Transfer des Begriffes der Intersubjektivität auf die Theorie von Mead auch einen Transfer der subjektphilosphischen Fragestellungen bewältigen. Nichts desto trotz bleibt die Problematik bestehen, dass Mead sich in seiner Theorie nicht auf einen Begriff von Intersubjektivität bezieht. Seine Bezüge in der Philosophie sind die Theorie von Wilhelm Dilthey, der Pragmatismus, aber auch der deutsche Idealismus (Kant) und vor allem die vom ihm vollzogenen Anschlüsse und vielfältigen Abgrenzungen zur Psychologie (Wundt) und darin zum Teil auch zu einem Begriff von Subjektivität und Bewusstsein. In den Aufsätzen von Mead lassen sich aber auch einige Hinweise auf eine Auseinandersetzung mit subjektphilosophischen Fragestellungen finden, die bei ihm im Wesentlichen eine kritische Auseinandersetzung mit den Theoremen der Psychologie sind. Mead richtet in seinem Aufsatz Welche sozialen Objekte muß die Psychologie voraussetzen? (1910 in Mead 1980) wie Joas hervorhebt sogar „seine Hoffnung auf die Weiterentwicklung der Sozialwissenschaften“ (Joas 2000: 105), als die Wissenschaft, die den „Spuk des Solipsismus“ (Mead 1980: 223) überwinden kann: „It is evident that the assumption of the self as given by social science in advance of introspection would materially and fundamentally affect our psychological practise. Consciousness as present in selves would be given as there, outside the field of introspection. Psychological science would have to presuppose selves as the precondition of consciousness in individuals just as it presupposes nervous systems and vascular changes.“ (Mead 1910: 176; Mead 1980: 225)
Mead vollzieht eine Abgrenzung von der Psychologie, in welcher er den „Ausweg aus diesen kruden psychologischen Konzeptionen“ (Mead 1980: 223) sucht, die eine Bewusstseinskonzeption vertritt, in der Bewusstsein den Subjekten gegeben erscheint und einer „Introspektion offen steht“ (ebd.). Mead betont hingegen: „the presupposition of selves as already in existence before the peculiar phase of consciousness can arise, which psychology studies.“ (Mead 1910: 175; Mead 1980: 223) Mead kehrt so einem intentionalen, autonomen Subjektkonzept den Rücken, indem er vielmehr „Identität als Vorbedingung des Bewußtseins“ (Mead 1980:
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225) postuliert. Identität – ‚self‘ 40 bei Mead – entsteht in einem Wechselverhältnis von Selbst und Anderem und ist Voraussetzung für die Entstehung des Selbst-Bewusstseins. Das Selbst – und damit das Subjekt – ist bei Mead immer mit dem Anderen verbunden: Subjekte entstehen und sind inter-subjektiv und nicht ‚autonom und intentional‘. Dieser zunächst komplex klingende Sachverhalt lässt sich mit der dialektischen Struktur der Bildung des Selbstbewusstseins bei Mead erklären, die in seiner Konzeption der Begriffe Me, I und Self liegt. 41 Die Ausgangsthese von Mead ist dabei die Fähigkeit des Menschen, die Haltung des Anderen in der Interaktion sich selbst und dem eigenen Verhalten gegenüber einzunehmen. Die Grundbedingung für Intersubjektivität bei Mead liegt in dessen Konzeption symbolvermittelter Interaktion: Handelnde lösen mit einer Geste bei sich selbst die gleiche Reaktion aus, die sie beim Anderen auslösen soll: Handeln ist immer intersubjektives Handeln. Intersubjektivität liegt in der Fähigkeit des Menschen, in der Interaktion sich selbst und dem eigenen Verhalten gegenüber die Haltung des Anderen einzunehmen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Gesten immer einen sozialen Charakter haben, also überindividuell sind. Eine Geste bekommt nach Mead ihren Sinn aber trotzdem erst in der Handlungssituation in der Folge von Aktion und Reaktion zwischen den Handelnden: „Mead fundiert Intersubjektivität in Prozessen der Handlungskoordination“ (Meuser 2006: 102). Akteure handeln die Bedeutung einer Geste erst in der Handlungssituation intersubjektiv aus – anschließend an die Fragestellung dieser Arbeit ließe sich auch sagen: stimmen sich aufeinander ab – und fundieren so Intersubjektivität als Folge dieses stattfindenden Prozesse. Im Zuge dieser ausgehandelten Prozesse wird eine Geste dann zum signifikanten Symbol.
40 Die Übersetzung von ‚self‘ in Identität wird sowohl in der Übersetzung von Mind, Self and Society als auch in den Gesammelten Aufsätzen von Joas mit der Begründung einer Entsprechung des allgemeinen Sprachgebrauches und einer damaligen aktuellen Problemlage in der Psychologie und Soziologie gerechtfertigt. Ernst Tugendhat hat 1979 darauf verwiesen, dass self mit Selbst übersetzt werden sollte (Tugendhat 1979: 247). 41 Ich verwende hier die englischen Begriffe insofern die Übersetzungen für diese sprachliche Differenz nur sehr ungenügend ist. In der deutschen Sprache gibt es keine Differenz für I und Me, auch wenn Hans Joas in den gesammelten Aufsätzen Ich für I wählt und Mich für Me. In der Übersetzung für Mind, Self and Society wird dies in einer unterschiedliche Schreibweise für beide Begriff gewählt (ICH für Me und Ich für I).
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Dieses zunächst abstrakt klingende Konzept ist bei Mead konkret körperlich und praktisch gedacht. Für Mead ist es ausschlaggebend, dass ein Handelnder mit einer Geste, bei sich selbst die gleiche Reaktion auslöst, die sie beim Anderen auslösen soll: „Selbstreflexivität könne dort entstehen, wo soziale Handlungen vom Handelnden selbst unmittelbar selbst wahrgenommen werden können, so daß – vor der Konstitution der IchIdentität und damit vor der Unterscheidung in Ich und Du – die eigene Handlung dieselben Reaktionen in mir selbst wie im angezielten Anderen auslösen kann.“ (Joas 2000: 107)
Es zeigt sich also hier das Paradox, dass Übereinstimmungen als geteiltes Wissen – Intersubjektivität – also zunächst vorausgesetzt werden müssen, um dann erst in der Handlungssituation entstehen zu können. Hierin liegt die grundsätzliche Anerkennung der objektiven Existenz des Anderen als die soziale Bedingung der Existenz von Menschen. Damit setzt Mead ‚den Anderen‘ voraus, aber „die Frage nach dem Anderen wird nicht gestellt, denn nicht er steht in Frage sondern die Bildung des Selbst zu einem vollwertigen Teilnehmer am ‚social act‘.“ (Bergmann/Hoffmann 1985: 95) Diese Konzeption der Bildung des Selbst – oder eines Mead’schen Subjektes – entwickelt Mead mit den Begriffen Me, I and Self. Das ‚Self‘ 42 bei Mead entsteht aus wiederholten ausgehandelten Dialogen zwischen I und Me. Mead veranschaulicht die Bildung von I und Me am Beispiel des Kindes, wobei er die Bildung des Me als erste Instanz setzt: „Die frühen sozialen Wahrnehmungsinhalte eines Kindes beziehen sich auf andere. Nach ihnen entstehen unvollständige und partielle Identitäten (ein jeweiliges Me), die den Wahrnehmungsinhalten des Kindes von seinen Händen und Füßen durchaus entsprechen und der Wahrnehmung seiner selbst als eines Ganzen vorausgehen.“ (Mead 1980: 238) 43
Das Me ist dabei auch die kontrollierende Instanz in den Augen des Anderen und lässt sich als Hereinnahme des Bildes des Anderen, welches dieser hat, beschreiben. In der Bildung eines Me schlägt sich die Erfahrung der Sozialisation mit Bezugspersonen und Gruppen nieder. Diese im Laufe einer Sozialisation gebildeten verschiedenen Me’s – die abhängig von der Vielfalt von Interaktionssitua42 In der deutschen Übersetzung als Identität oder sogar Ich-Identität übersetzt. 43 „In der Organisation der gegenständlichen Erfahrung eines Säuglings taucht sein Körper als ein einheitliches Ding und Objekt relativ spät auf. Das geschieht erst, nachdem die Objekte seiner Umgebung eine Struktur angenommen haben.“ (Ebd.: 237)
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tionen sind – werden synthetisiert zu einem einheitlichen Selbstbild. Das I entsteht hingegen in seiner Wechselwirkung zum Me, über welche das Selbst (‚self‘) als dritte Instanz entsteht: „The ‚I‘, then in this relation of the ‚I‘ and the ‚me‘, is something that is, so to speak, responding to a social situation which is within the experience of the individual. It is the answer which the individual makes to the attitude which others take toward him when he assumes an attitude toward them. […] The ‚I‘ gives the sense of freedom, of initiative.“ (Mead 1934: 177)
Vereinfachend formuliert: das I entwickelt sich als eine Art Eigensicht als Reaktion auf die Bildung verschiedener Me’s und diese bilden gemeinsam erst ein Selbst (‚self‘): „Es ist ein Gemeinplatz der Psychologie, daß nur das ‚Mich‘ (‚me‘) – das empirische Ich (the empirical self) – in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit gerückt und wahrgenommen werden kann. Das ‚Ich‘ (‚I‘) liegt außerhalb der Reichweite unsere unmittelbaren Erfahrung.“ (Mead 1980: 239)
Das Selbst (‚self‘) wird in einer Überlagerung von Fremd- und Eigensicht und ‚praktisch‘ in Handlungssituationen gebildet als eine praktische InterSubjektivität. In kommunikativen Beziehungen zu anderen – so wie Joas es vorausschickt – bildet sich ein Self, welches dann nicht subjektiv, sondern immer nur inter-subjektiv entsteht. Praktische Intersubjektivität bei Mead zeigt sich hier also als Bildungsprozess eines Subjektes, welches in einer Triade von Me, I and self entsteht. Diese triadische Struktur, die immer an Gesellschaft, Rollen und Andere gebunden ist, macht das Subjekt bei Mead zu einer praktischen Intersubjektivität. Die praktische Dimension dieser Intersubjektivität ist aus zwei Gründen für diese Arbeit relevant: einmal als Inklusion des Körpers in eine Konzeption des Subjektes und gleichzeitig als eine sich in der Praxis umsetzende und entstehende Subjekthaftigkeit, die dann auch in der Form eines immer wiederkehrenden Prozesses in und an der Praxis überprüft und bestätigt werden muss. Intersubjektivität ist damit keine konstitutive Voraussetzung, sondern bildet sich in einem ‚praktischen‘ Prozess erst aus. Ein Konzept von praktischer Intersubjektivität ist damit anschlussfähig an aktuelle, deutschsprachige Debatten der Prozesshaftigkeit von Subjekten, als einer Prozesshaftigkeit von Intersubjektivität. Das Subjekt bildet sich bei Mead jedoch immer als eine Intersubjektivität, während im Bezug zu Foucault gesagt werden kann, dass es verschiedene „Formen und Modalitäten des Verhältnisses“ (Foucault 1986a: 12), verschiedene Techno-
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logien des Selbst in Subjektivierungs-prozessen geben kann. Führt man hier also Foucault mit Mead zusammen, ist Intersubjektivität eine mögliche Seinsweise von Subjekten, die aber vor allem über Körper und in Prozessen erst entsteht. Wie diese Konzeption einer praktischen Intersubjektivität im Verhältnis zur hier untersuchten Frage nach Abstimmungsprozessen im Tango Argentino beitragen kann, soll nun im Folgenden ausgeführt werden. Dafür sind zunächst noch einige sprachwissenschaftliche und philosophische Interventionen von Nöten, um die Betrachtungsweise auf Intersubjektivität zu strukturieren und in ihrer Begrifflichkeit zu relativieren. 3.2 Sprachwissenschaftliche und philosophische Interventionen Um sich einem Begriff, wie Intersubjektivität inhaltlich zu nähern, erweist es sich als fruchtbar, diesen auch aus anderen Blickwinkeln zu betrachten. Eine genaue Analyse bei zusammengesetzten Begriffen wie Intersubjektivität bietet sich zunächst aus der in diesem Fall philosophischen Begriffsgeschichte und aus einer sprachwissenschaftlichen Betrachtung der einzelnen Elemente an. Im Folgenden soll daher zunächst aus sprachwissenschaftlicher Perspektive das Präfix ‚Inter‘ genauer unter die Lupe genommen werden um im Anschluss die Begriffsgeschichte von Subjektivität und Intersubjektivität in der Philosophie nachzuzeichnen. Es ist das Ziel ein genaueres, sprachliches Verständnisses von Intersubjektivtät zu bekommen. Das Präfix ‚Inter-‘ steht in der Linguistik für eine „Relation der Lokalisierung/Situierung oder Orientierung/Bewegung innerhalb räumlich oder thematisch gesteckter Grenzen“ (Nortmeyer 2000: 22) und zeigt sich zunächst so als ein Begriff der Verortung oder auch der Positionierung. Inter- lässt sich so auch als territoriales, im Sinne eines räumlichen Präfix bezeichnen, wenn Territorium sowohl materiell-räumlich, als auch symbolisch-räumlich zu verstehen ist. 44 Dementsprechend lässt sich Intersubjektivität zunächst tatsächlich als ‚Zwischensubjektivität’ verstehen, als Relation von Subjektivitäten zueinander, die „sich zwischen verschiedenen menschlichen Subjekten“ (ebd.: 160) abspielen oder auch „Kommunikation zwischen verschiedenen menschlichen Subjekten“ (ebd.) meinen kann und weniger eine materiell-räumliche, als vielmehr eine symbolisch-räumliche Ebene bezeichnet. 26F
44 Vgl. Goffman Definition von Territorium: „ist es […] sinnvoll, den Begriff der Terriotorialität so weit zu fassen, daß darunter auch Ansprüche fallen, die wie Territorien funktionieren, sich aber nicht auf räumlich Ausgedehntes beziehen.“ (Goffman 1971: 55) Den Begriff des Territoriums übernimmt Goffman aus der Ethologie (Goffman 1971: 54).
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Dementsprechend wird dem Begriff Intersubjektivität in der Lehnwortbildungsforschung die Bedeutung als „reziprok-integrativ: inhaltlich qualitativ (in Bezug auf Personen (-gruppen), abstrakte Entitäten) untereinander, gegenseitig, gemeinsam (stattfindend, bestehend)“ (ebd.: 22) zugeschrieben – zu welcher Gruppe auch Begriffe wie interafrikanisch, interdisziplinär oder international gehören. In dieser Relation zueinander zeigt sich eine „(Beziehung, Verhältnis, Zusammenarbeit) zwischen zwei oder mehreren (Vertretern/Teilgrößen von) y (afrikanischer Staat, Disziplin) (untereinander), allen, mehreren (Vertretern, Teilgrößen von) y (Nation) gemeinsam.“ (Ebd.: 23) Diese Bedeutung steht im Gegensatz zu Begriffen, bei welchem dem Präfix Inter- eine direkt-dynamische (räumlich-materiell als dazwischen oder hindurch/hinein), topologische – wie etwa Interplanetarisch – oder situativ-statische (räumlich-materiell bzw. zeitlich als dazwischen, in der Mitte liegend) – wie etwa Interferenz – Bedeutung zukommt. Das Inter- im Begriff lässt sich also wesentlich als relationaler Begriff verstehen, welcher eine Reziprozität von Subjektivitäten fasst und diese allen gemeinsam formuliert. Die Wortbedeutung des Präfix verweist damit auf die Relationalität und Wechselseitigkeit des Begriffes Inter-Subjektivität und nicht nur auf eine Beziehung oder ein Verhältnis. Inter wird damit allen Vertretern oder auch Teilgrößen von Subjektivitäten gemeinsam zugeordnet. Innerhalb der Beziehung werden die einzelnen Teile dabei verortet, situiert oder auch positioniert – hier wird die bereits durch das Präfix angelegte Dimension der Differenz deutlich. Denn ohne eine Grenzziehung (und Verortung) und damit Abgeschlossenheit der einzelnen Einheiten als Subjektivitäten wäre die Betonung der Relationalität und Wechselseitigkeit hinfällig. 45 ‚Inter-‘ steht also von der Wortbedeutung her niemals für eine Subjektivität allein, sondern immer für Subjektivitäten. Dementsprechend müsste es eigentlich immer Intersubjektivitäten heißen. 46 Die philosophische Begriffsgeschichte von Subjektivität wird dagegen explizit betont in der Einzahl diskutiert, denn es geht um eine spezifische Sichtweise auf das Subjekt. Die Geschichte eines Begriffes von Subjektivität als „generalisierende Substantivierung von ‚subjektiv‘“ (Ritter 1998: 457) wird im historischen Wörterbuch der Philosophie damit verbunden, „daß man noch immer in der Subjektivität das Wesen der Neuzeit erkennt.“ (Ebd.: 471). Subjektivität ist insofern ein neuzeitlicher Begriff, da er eine positivistische Perspektive eines existierenden Subjektes in Frage stellt: 45 Aus diesem Grund mag sich bisher auch kein Begriff wie Intersubjekte geprägt haben. 46 An Begriffen mit der gleichen Zuordnung zur Bedeutung reziprok-integrativ wie International oder Interdisziplinär wird dies noch anschaulicher. Der Titel dieser Arbeit verweist auf diese multidimensionale Verhältnishaftigkeit.
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„Der Begriff ‚Subjektivität‘ entsteht also, etymologisch plausibel, dort, wo die seit der Renaissance auf Selbsterhaltung und subjektiver ‚Selbstbehauptung‘ aufruhenden Konzepte reflexiver Subjekthaftigkeit keinen Rückhalt in einer Substantiierung des Subjekts – etwa in R. Descartes „Identitifizierung des ‚cogito‘ als ‚res cogitans‘ – oder in ontologischen Bestimmungen finden.“ (Ebd.: 457)
In der Subjektivität zeigt sich also das Paradox einerseits zwar die subjektive Position des Einzelnen anzuerkennen, aber ohne andererseits das Subjekt selbst als essentiell, wesenhaft oder existent anzunehmen. Subjektivität kann vielmehr „die Abhängigkeit von der psychischen Beschaffenheit eines einzelnen Individuums besonders beim Urteilen bezeichnen – für Beschränktheit, Willkürlichkeit oder Voreingenommenheit stehen.“ (Ebd.: 471) Im Eintrag zu Subjektivität wird auf diese Kritik vieler Autoren 47 verwiesen – inklusive den Dekonstruktivisten und den Poststrukturalisten – welche eine wesenhafte Konzeption von Subjekten im Sinne einer Essentialisierung kritisieren und versuchen sie vielmehr neu zu bestimmen (ebd.: 468): „Der perspektivische Entwurf der Welt ist subjektiv, ohne daß der Subjektivität unabhängig davon eine eigene Entität zukäme.“ (Ebd.: 465) Eine solch de-essentialisierende Sicht auf Subjektivität relativiert damit auch das Problem des Solipsismus für Intersubjektivität, welche dieses Problem allenfalls zu einem Ergebnis von Subjektivität macht – d.h. erst die Annahme eines Subjektstatus ermöglicht die Position des Solipsismus, welche als Produkt das Ergebnis seiner selbst ist: Subjektivität. Das Problem des Solipsismus ist insofern zwar ein bewusstseinsphilosophisches Problem, welches ein Konzept von Intersubjektivität in Frage stellen kann, aber nur so lange ein bewusstseinsphilosophisches Subjektkonzept vorausgesetzt wird. In der Wendung einer InterSubjektivität zeigt sich jedoch die Infragestellung und Beschränktheit des Subjektes, welches eben „keinen Rückhalt in einer Substantiierung des Subjekts“ (ebd.: 457) mehr hat. Subjektivität setzt also allenfalls die Annahme eines Subjektstatus voraus. Intersubjektivität als Begriff wird im Historischen Wörterbuch der Philosophie als theoretisches Konzept hingegen ausschließlich im Bezug zur Phänomenologie Edmund Husserls dargestellt. So findet sich nur ein kurzer Eintrag zu Intersubjektivität:
47 Dort wird etwa Bezug genommen zu Nietzsche, Dilthey, Cassirer, N. Hartmann, Husserl, Heidegger, Gadamer, Sartre, Freud, Lacan, Adorno, Habermas bis hin zu Michel Foucault.
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„Intersubjektivität ist in der Phänomenologie E. Husserls der Titel für alle Formen des Miteinanders mehrerer transzendentaler oder mundaner Ich. Jeglichem Miteinander liegt eine von meinem transzendentalen Ich ausgehende Vergemeinschaftung zugrunde, deren Urform die Fremderfahrung, d.h. die Konstitution des an sich ersten Ich-Fremden oder Anderen ist.“ (Ebd.: 521) 48
Diese bei Husserl angelegte Konzeption von Intersubjektivität, welche den Bogen zwischen Subjektivität, Fremdverstehen und geteiltem sozialen Wissen spannt, beschäftigte auch Alfred Schütz Zeit seines wissenschaftlichen Lebens (2.2). Eine solche zunächst idealistische Konzeption eines Miteinander liegt also allen Diskussionen um Intersubjektivität zu Grunde. Die Begriffsgeschichte von Intersubjektivität und Subjektivität, genauso wie eine sprachwissenschaftliche Betrachtung des Präfix ‚Inter‘ erweitern den Blick auf Konzepte von Intersubjektivität: 1. Subjektivität zeigt sich als dessentialisiertes Modell der Perspektiveinnahme eines Einzelnen, aber nicht als wesenhafte Seinsweise von Subjekten. Subjektivität ist ein Hinweis auf die Verortung oder Positionierung von Subjekten, aber keine Annahme einer wesenhaften Entität von Subjekten (siehe Kap. II). 2. Auch das Präfix Inter- verweist auf eine Verortungen/Positionierungen, wobei Intersubjektivität nicht als situativ-statisch (also als eine feststehende Seinsweise) und auch nicht als direkt-dynamisch (also tatsächlich räumlichmateriell als dazwischen) eingeteilt wird. Intersubjektivität wird vielmehr als reziprok-integrativ (inhaltlich-qualitativ) eingestuft, sie geschieht untereinander, gegenseitig, gemeinsam in der Form einer Reziprozität. Intersubjektivität ist also immer prozessual und reziprok. 3. Aufgrund dieser Reziprozität steht Intersubjektivität nie für eine Subjektivität, sondern immer für Subjektivitäten als Intersubjektivitäten. Wie sich nun diese sprachwissenschaftlichen und philosophischen Interventionen zusammen mit George Herbert Mead zu einer für diese Arbeit spezifischen
48 In aktuellen philosophischen Auseinandersetzungen um Intersubjektivität spielt dieser Bezug zu Husserl eine zentrale Rolle, etwa in der Setzung mit „Intersubjektivität die Eigenschaft eines Subjektes, intentional unter dem Aspekt des intentionalen Bewusstseins auf andere Subjekte“ zu beschreiben (Beyer 2006: 2). Diese Setzung verbleibt jedoch bei einem bewusstseinsphilosophischen Subjektkonzept.
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Konzeption von Intersubjektivität zusammendenken lassen, soll im Folgenden näher ausgeführt werden.
4. S YNERGIEN : DIE PRAKTISCHE UND BEWEGTE S OZIOGENESE VON I NTERSUBJEKTIVITÄTEN Korporale Abstimmungsprozesse zwischen Tänzern im Tango lassen sich im Anschluss an Joas und Mead als eine „Struktur kommunikativer Beziehungen“ (Joas 2000: 19) verstehen: die ausgeführten Bewegungen sind weder ‚rein individualistisch‘ noch ausschließlich einer Struktur unterworfen – sie zeigen sich vielmehr als ein vermitteltes Spannungsverhältnis zwischen Tanzenden und der Struktur des Tango. In einer Weiterführung von George Herbert Mead lassen sich Bewegungen im Tango dabei als „koordinierte oder interaktive“ (Joas 2000: 20) – in der entwickelten Begrifflichkeit dieser Arbeit als korrelierende – Praktiken zwischen Tanzenden verstehen. In einer Weiterführung des Begriffes der Geste nach Mead lassen sich im Tanz die Bewegungsimpulse verstehen, die im Verhältnis von Führen und Folgen verhandelt werden. Das empirische Beispiel des Tango zeigt – etwa beim Grundschritt –, dass es mehrere Möglichkeiten innerhalb der dynamischen Struktur des Tanzes gibt, auf ‚Gesten‘ bzw. einen Bewegungsimpuls zu reagieren. Aufgrund der Offenheit der Bewegungsstrukturen im Tango gibt es eine notwendige Aushandlung von Gesten oder Bewegungsimpulsen in Bewegungsprozessen, die sich als Abstimmungsprozesse bezeichnen lassen. Diese setzen eine feldimmanente Habitualisierung, also Prozesse der Inkorporierung von Praktiken als sich vollziehende Subjektivierung zu Körper-Subjekten voraus. In Anlehnung und Weiterführung von Mead bleibt es aber zunächst nur bei der Annahme mit einer ‚Geste‘ beim Anderen die gleiche Reaktion auszulösen. Dabei sind auch Gesten kontingent, aber doch zumindest feldspezifisch. Diese Feldspezifik differenziert sich wiederum innerhalb des Feldes aus, in dem bei unterschiedlichen TanzlehrerInnen und an verschiedenen Orten gelernt wird, die auch zum Teil unterschiedliche Gesten vermitteln. Aus diesem Grund ist die detaillierte Abstimmung aufeinander immerwieder notwendig. Joas beantwortet die grundlegende Frage, wie Verständigung – im soziologischen Jargon: Fremdverstehen – möglich ist damit, dass er betont, dass jede Verständigung bezogen ist auf diese „koordinierte[n] oder interaktive[n]“ (Joas 1985: 20) ‚Handlungen‘. Im Anschluss an Mead sind diese ‚Handlungen‘ aber nicht intentional gesteuert, sondern vielmehr durch die Praxis, den Körper und die intersubjektive Struktur der Subjekte bestimmt. Eine praktische Intersubjek-
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tivität im Tango entsteht also erst in der Entstehung von Körper-Subjekten, von Subjektivierungspraktiken. Praktische Intersubjektivität zeigt sich darin, dass die Körper der Tanzenden die normativ gesetzten Tanztechniken des Tango als eine korrelierende Praktik beherrschen und einsetzen. Gleichzeitig müssen die Tanzenden darüber auch auf der praktischen Ebene, des Miteinander Tanzens dieses Korrelation immer wieder herstellen und aushandeln. Hier zeigt sich eine Grenze von Intersubjektivität bei Mead, die eben nicht ‚an sich‘ gegeben ist, sondern aufgrund einer Wechselseitigkeit in Praktiken des Tanzens erst entsteht. Ein auf den Tango anwendbares Konzept von Intersubjektivität muss daher präzisiert werden, wobei Intersubjektivität nicht vorausgesetzt wird, sondern vielmehr in Praktiken als mögliches Resultat von Abstimmungen beschrieben werden kann. Inter-subjektivität ist so immer in Bewegung und nicht fixierbar, sondern an die Bewegungssituation und an das inkorporierte Wissen der Tanzenden gebunden. Dem Entstehen von Intersubjektivität gehen also in der Praxis sich generierende Körper-Subjekte durch Abstimmungsprozesse voraus. Praktiken sind dabei aber nicht ‚individuell‘, sondern haben sich als soziales Wissen in die Körper eingeschrieben und erscheinen so über den Körper als ‚quasi individuelle‘ Handlungen. Aus dieser Perspektive betrachtet ist Tango als Paartanz ein Handlungsgeschehen, welches auf erlernten Praktiken – mimetischen und sozialisierten Prozessen – beruht, die diese Art einer gemeinsamen ‚tänzerischen‘ Bewegung erst möglich machen. Tango als erlernte Praktik findet dabei in den Bewegungen der Körper statt, Körper haben ein sozial angeeignetes Wissen und verfügen darüber ohne den Umweg eines intentionalen Handlungssubjektes zu gehen. Diese Form eines intersubjektiven Wissens zeigt sich sehr gut am empirischen Beispiel der Gruppenstruktur: die Einnahme ähnlicher Abstände zueinander in der Tanzhaltung, das gleichzeitige Innehalten gegen Ende der Musik und die gleichzeitige Auflösung der Tanzhaltung verweisen auf dieses gemeinsame Bewegungskönnen. So lässt sich hier erneut Pierre Bourdieu aufgreifen (wie bereits im letzten Kapitel im Zusammenhang mit der Frage nach dem Körper als Agens), um einen Begriff von Intersubjektivität für die Analyse stark zu machen, der in einem engen Verhältnis steht zu dieser prozessualen Soziogenese von Körper-Subjekten. Im Anschluss an Pierre Bourdieu und mit Michel Foucaults Subjekttheorie kann die von Loic Wacquant in einer Fußnote nur beiläufig formulierte These, dass „Intersubjektivität mit Hilfe der genetischen Analyse der Habitusbildung auf historisch objektive Strukturen zurückgeführt“ (Wacquant 1996: 41) werden kann, überführt werden in das Konzept einer Soziogenese von Intersubjektivitäten.
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Abstimmungsprozesse sind – aus der Perspektive dieser Arbeit 49 – im Tango möglich, weil sie ein Resultat sind aus der Inkorporierung von korrelierenden Praktiken, die Körper-Subjekte schaffen und so eine praktische Intersubjektivität ermöglichen. Intersubjektivität hat so eine Soziogenese, deren Prozesse letztendlich auch verständlich machen, was in letzter Konsequenz auch in Alfred Schützs Konzeption mit mundaner Intersubjektivität gemeint ist. In und durch die Praxis entstehen Formen des Miteinanders – Intersubjektivitäten –, die nicht transzendent über den Tanzenden stehen und keine Voraussetzung sind, sondern mit und über das Körperwissen und diese Subjektivierungspraktiken erst möglich werden. Intersubjektivitäten sind – zumindest in Bezug auf den Paartanz Tango – immer bewegte Intersubjektivitäten in der doppelten Bedeutung von Intersubjektivität durch und in der Bewegung als eine Intersubjektivität, die im wahrsten Sinne des Wortes auch ‚bewegt‘. Intersubjektivität ist damit keine soziale vorauszusetzende Kategorie, sondern entsteht erst in sozialen Prozessen als eine Soziogenese. Diese Soziogenese ist an die Ausführungen der körperlichen Bewegungen im Tango gebunden, daran dass im Wissen um die korrelierende Praktiken im Tango Abstimmungsprozesse zur Grundvoraussetzung einer Bewegungsgenerierung von Tango werden. Die wissenden Tanzkörper und die sich darüber vollziehenden Prozesse der Subjektivierungpraktiken bilden KörperSubjekte, welche in und über Abstimmungsprozesse zu Intersubjektivitäten werden können. Diese Prozesse einer sozialen Genese, einer Soziogenese befreit Intersubjektivität letztendlich aus einer cartesianischen Subjekthaftung und einer dyadischen Vorstellung von Ego und Alter. Wie die sprachwissenschaftlichen und philosophischen Interventionen gezeigt haben, zeigt sich dann auch Intersubjektivität nicht als wesenhafte Seinsweise, als ‚Subjektstatus‘ sondern vielmehr als eine soziale Positionierung von Subjekten im Miteinander. Sie ist eine Inter-Subjektivität ohne Entität, sehr wohl aber ein ‚perspektivischer Entwurf‘ auf die Welt – denn auch Intersubjektivität bleibt nur eine Subjektivität. Während also Subjektivität in der Philosophie explizit in der Einzahl diskutiert wird – weil sie als Beschränkung der Perspektive des Subjektes verstanden wird – ist Intersubjektivität im Tango hingegen in der ‚generalisierten Substantivierung von subjektiv‘ nur in der Mehrzahl sinnvoll, als Inter-Subjektivitäten. In ihrer inhaltlich-qualitativen Einstufung als gegenseitiger und gemeinsamer Prozess zeigen sich Intersubjektivitäten in der Mehrzahl: 49 In einer Zusammenführung von Praxistheorie (korrelierende Praktiken), Körpersoziologie und neuer soziologischer Subjekttheorie (in Abgrenzung zu individualistischteleologischen Handlungsbegriffen und intentionalen Subjektkonzeptionen) hin zu einer Konzeption von Körper-Subjekten.
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ein Miteinander entsteht zwischen Subjektivitäten als Intersubjektivitäten. Intersubjektivitäten verweisen auf ein Verhältnis zwischen Körper-Subjekten, als in Bewegungen und Abstimmungsprozessen entstandene Subjektivierungspraktiken hin zu einer Soziogenese von Intersubjektivitäten. Eine Entstehung einer Soziogenese von Intersubjektivität ist abhängig davon, dass über tanztechnisch versierte Körper in korrelierenden Praktiken Subjektivierungen stattfinden. Diese sich so als Subjektivierungspraktiken gestaltenden Bewegungen ermöglichen es überhaupt erst, Abstimmungsprozesse zu vollziehen. Denn die Abstimmungsprozesse setzen voraus, dass bereits ein inkorporiertes Bewegungswissen vorhanden ist. Erst dann und im Zuge gelungener Abstimmungsprozesse können Subjektivierungen entstehen, die zu Intersubjektivitäten führen.
IV. Bewegte Intersubjektivitäten: korrelierende Praktiken und Körper-Subjekte
In diesem Kapitel sollen die nun in den ersten drei Kapiteln entwickelten Thesen und theoretischen Modelle zusammengeführt werden. Im Mittelpunkt steht dabei die zu Beginn formulierte Frage danach, wie sich Abstimmungen in Bewegungen im Tango erklären lassen. Die mikrostrukturellen Merkmale des Tango liegen in seinen Bewegungsstrukturen, welche nicht nur auf Tanzbewegungen zurückzuführen sind (siehe die empirischen Abschnitte der Kapitel I bis III). Diese Arbeit hat gezeigt, dass es sich lohnt einerseits einen detaillierten Blick auf Praktiken zu legen und diese andererseits in Ihrem Verhältnis zu Diskursen zu betrachten. Ein detaillierter Blick auf Praktiken zeigt, dass diese unterschiedlich definiert werden können wie etwa hier als korrelierende Praktiken. Diese näher definierten Praktiken müssen aber genauso zu den um sie kreisenden Diskursen in ein Verhältnis gesetzt werden. Die makrostrukturellen Merkmale des Tango sind erkennbar in seinen feldimmanenten Regeln und Normen: Tanzhaltung – Grundschritt – Gruppendynamik. Auf diesen Ebenen lassen sich Bewegungsstrukturen feststellen, die hier als korrelierende Praktiken beschrieben wurden. Diese zeigen sich in den Abstimmungsprozessen zur Haltungseinnahme, des Setzens der Schritte oder auch dem Entstehen einer Gruppendynamik. Abstimmungsprozesse zeigen sich in der Inund Exklusion von Bewegungen, in Struktur und Abwandlung, genauso wie in Nähen und Distanzen. Tango Argentino aus der Perspektive seiner mikro- und makrostrukturellen Bewegungsstruktur beschreiben zu wollen ist motiviert durch den theoretischen Anspruch, weder einem Subjektivismus noch einem Objektivismus nachzukommen. Ähnlich dem Anspruch der beiden leitenden Autoren Pierre Bourdieu und Michel Foucault liegt die Herausforderung also darin, weder dem Subjekt zu huldigen (weshalb auf eine Betrachtung der subjektiven Wahrnehmung und Er-
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fahrung verzichtet wurde), noch den Strukturen die Macht zu erteilen und doch beides im Blick zu behalten. Die Betrachtung der kontingenten Bewegungsordnung des Tango Argentino hat gezeigt, dass soziologische Kategorien wie Kommunikation, Handlung oder Praktiken fruchtbar miteinander diskutiert werden können. Eine Distanzierung wurde dabei zu soziologischen Handlungs-, Interaktions- und Kommunikationskonzepten vollzogen, da diese von getrennten Subjekten ausgeht – was der Begriff der Inter-Subjektivität zur Diskussion stellt. Die Herstellung einer beweglichen Bewegungsordnung wie im Tango setzt ein gemeinsam geteiltes, inkorporiertes Körperwissen und dessen Vermittlung über inkorporierte Führungs- und Folgesignale voraus. Ein solcher ‚Tanzhabitus‘ erklärt jedoch nicht die Abstimmungsprozesse zwischen den tanzenden Subjekten, die nicht voraussagbar sind und eine kontingente Bewegungsordnung wie im Tango produzieren. Die Diskussionen im ersten Kapitel haben gezeigt, dass es sich vielmehr anbietet im Paartanz von korrelierenden Praktiken zu sprechen und diese als nicht intendierte, körperliche Praktiken in dem erweiterten Sinn einer Soziologie des Körpers zu verstehen. Tango Argentino lässt sich damit als eine Praktik verstehen, deren Bewegungsprinzipien gelernt und in Körper eingeschrieben werden. Erst mit einer Einschreibung in Körper kann Tango in der Art getanzt werden, wie es ein Diskurs um ein idealisiertes Konzept von Verschmelzung im Tango zeigt. ‚Übereinstimmungen‘ von Bewegungen als nonverbale Kommunikation im Paartanz Tango lassen sich dann nicht als eine ‚Körpersprache’, sondern vielmehr als feldimmanente Körperpraktiken beschreiben und gehen wesentlich über ein repräsentatives Zeichenmodell hinaus. Das Gelingen einer solchen gemeinsam produzierten beweglichen Ordnung wird als ‚dialogische‘ Erfahrung beim Tanzen wahrgenommen, die sich auch in den Diskursen von ‚Verschmelzung‘ in der Tangokultur widerspiegelt (Haller 2009b). Eine solche in der Empirie sich beschreibende Transzendierung einer Paarerfahrung im Tango unter Begriffen von Verschmelzung, Stimmigkeit oder Harmonie zeigt sich als nachträgliche Sprechweise und Verarbeitung einer Erfahrung, die auf ein Miteinander in den Bewegungen im Tanz zurückgeht. Diese Mythologisierung des Tango als Verschmelzung, als „eine ›Auflösung‹ des Ichs in der Dyade“ (Reckwitz 2006b: 240) zeigt sich zwar als eigenständiger Diskurs, gewinnt jedoch erst in Relation zu den Praktiken des Tango seine Relevanz. Denn eine sich über die korrelierenden Praktiken in Abstimmungsprozessen körperlich vollziehende Soziogenese von Intersubjektivität kann ein theoretisches Erklärungsmodell und eine Entzauberung für diesen Mythos liefern. Diese Arbeit hat gezeigt, dass im Tanzfeld des Tango die Anrufung, sich aufeinander abzustimmen, sowohl auf diskursiver Ebene als auch in den korre-
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lierenden Praktiken selbst enthalten ist. Denn Tango als Paartanz ist nicht die Repräsentation des einzelnen, verkörperten Subjekts, als vielmehr die Aufführung und Ausführung eines aufgelösten Subjekts in der Paarkonstellation: denn Paartanz verkörpert historisch die Einheit des Paares. Insofern wird im Paartanz Intersubjektivität auch glaubhaft dargestellt und hervorgebracht als eine andere Subjekthaftigkeit, als Möglichkeit ein anderes, als ein Descartsches Subjekt sein zu können. Gleichzeitig zeigen sich Intersubjektivitäten im Tango auch als mögliche Subjektpositionen, denn die korrelierenden Praktiken setzen als normativer Code die notwendige Abstimmung miteinander, die dann wiederum auch ein Miteinander ermöglicht und so eine Soziogenese von Intersubjektivitäten. Dem Phänomen von gelungenen Abstimmungen im Paartanz geht also ein gemeinsam geteiltes inkorporierten Wissen und dessen Vermittlung über inkorporierte Führungs- und Folgesignale voraus. Eine solche Erfahrung von ‚Dialogizität‘, wie sie sprachlich auch in Interviews thematisiert wird, kann als bewegte Intersubjektivität beschrieben werden, die eine Kontingenz von Abstimmung und Übereinstimmung mit einschließt. Hinter diesem Entwurf einer bewegten Intersubjektivität liegt die Annahme, dass Intersubjektivität ein Prozess ist, der der Kontingenz in Bewegungssituationen ausgesetzt ist und erst in und über Bewegungen produziert wird. Wie ist also Abstimmung im Tango erklärbar, wenn der Tanz auf einer kontingenten Bewegungsordnung beruht? Um zu begreifen, wie Ordnungen in Bewegung entstehen und als solche weiter existieren können, ist ein Subjektkonzept nötig, welches das Subjekt nicht statisch und hermetisch versteht. Den Paartanz als eine korrelierende Praktik zu betrachten, ist dabei eine Möglichkeit der Überwindung eines subjektivistischen Dilemmas, indem die Verflechtungen von Praktiken interdependenter Tanz-Subjekte untersucht werden. Intersubjektivität ist dann aber keine per se gegebene Kategorie (Kap.III. 3), sondern ist das Ergebnis sozialer – im Falle des Tango – transkultureller Praktiken und hat immer eine Soziogenese. Im Gegensatz zu klassischen Subjekttheorien stellen Konzepte von Intersubjektivität das Subjekt in ein dauerhaft wechselseitiges Verhältnis zum Anderen. In diesem Verhältnis werden Praktiken wechselseitig aufeinander abgestimmt und ausgeführt. Im Tango wird jeder einzelne Schritt von den Tanzenden intersubjektiv ausgehandelt, ein Tanz entsteht so im wahrsten Sinne des Wortes Schritt für Schritt. Eine kontingente Bewegungsordnung entsteht mithin erst in den ausgehandelten und ausgeführten Bewegungen und ist an diese Bewegungssituation gebunden. In der Bewegungssituation des einzelnen Tanzes kommt ein inkorporiertes Wissen, ein Können zur Wirkung (vgl. Reckwitz 2003; Hirschauer 2004), welches in einem reziproken Verhältnis zwischen den Tanzenden abgestimmt wird.
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Diese Abstimmungsprozesse sind mit einem Konzept von Intersubjektivität erklärbar, welches aber, da es erst in der Bewegungssituation entsteht, eine Soziogenese hat. Intersubjektivität ist also keine Kategorie ‚an sich‘, sondern entsteht erst in Bewegungssituationen und kommt dort zur Wirkung und ist auch eine sozial „begrenzte Ressource wechselseitigen Verstehens“ (Meuser 2002: 40). Ein Soziogenese von Intersubjektivitäten ist keine ‚an sich‘ gegebene Kategorie – wie aus einer bewusstseinsphilosophischen Perspektive – sondern vielmehr eine praktische Intersubjektivität, wie bereits von Hans Joas im Anschluss an Mead postuliert (Joas 2000). Diese ‚subjektive‘ und vor allem subjektivierende Erfahrung von gelingenden Abstimmungsprozessen erfordert ein Konzept welches beantwortet, wie ein Tanz-Habitus auf geteiltem Wissen basieren kann, ohne eine statische Ordnung zu produzieren. Dies setzt voraus, dass sich Tanzende in den Praktiken neu auf einander beziehen und so die einzelnen Elemente des Tanzes immer wieder neu zusammensetzen. Da Tango auf einer kontingenten Bewegungsordnung beruht, stehen Abstimmungsprozesse im Mittelpunkt dieses Paartanzes. Doch mit einer Konzeption von korrelierenden Praktiken stellte sich die Frage, wer dann die Agenten des Tanzes sind. Im Rekurs auf Bourdieu und auf aktuelle Diskussionen der Körpersoziologie konnte gesagt werden, dass durchaus die Annahme an Relevanz gewinnt das Körper auch als wissende und damit auch agierende Körper zu verstehen sind. Sie brauchen kein intentionales Subjekt, wenn die Körper mit ihrem inkorporierten Wissen diesen Sinn bereits verkörpern. Dies schließt die In/Exklusion von Bewegungen mit ein und diese sind eine Unterordnung unter diese soziale und bewegte Struktur des Tango. Diese Tanztechniken sind wiederum als Subjektivierungspraktiken zu verstehen. Dies ermöglicht was in der Konzeption dieser Arbeit als die Soziogenese von Körper-Subjekten beschrieben wurde. Tango als korrelierende Praktik entpuppt sich als Subjektivierungspraktik, welche tangospezifische Körper-Subjekte produzieren. Diese Unterwerfung unter eine Struktur als Subjektivation ist dabei auch an der Gruppendynamik im Tango erkennbar. Denn sie gilt gleichermaßen für alle und ist auch so zum Teil in der Gruppenstruktur erkennbar. Es zeigte sich in der Auseinandersetzung im III.Kapitel, dass Abstimmungsprozesse auch auf der Ebene der Gruppendynamik vollzogen werden. In der Proxemik des Tango, der Einhaltung von Nähe und Distanzen zeigten sich die Regeln und Konventionen der Tangokultur als inkorporiertes und soziales Wissen einer Tanzkultur. Eine Kritik an Intersubjektivität geht davon aus, dass Intersubjektivität als konstitutiv verstanden wird, so wie es etwa Reckwitz beschreibt wenn er formuliert, dass „Kollektivität […] für die Praxistheoretiker auch nicht in etwaiger ›Intersubjektivität‹ begründet“ (Reckwitz 2006a: 563) werden kann. Für die Praxis-
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theorie liegt die Kollektivität vielmehr in den Praktiken selbst, die damit nicht individuell sind „doch gleichzeitig notwendig ›im‹ einzelnen Akteur verankert“ (ebd.), allerdings auf der Ebene eines Wissens des Körpers und somit als inkorporierte und dann, im Anschluss an Foucault auch als subjektivierende Praktiken. Diese subjektivierende Kraft von inkorporiertem Wissen ist es jedoch auch, welche Intersubjektivitäten und eine solche Kollektivität als ein Miteinander möglich macht. Eine korporale Soziogenese von Intersubjektivität in den Bewegungen des Tango kann zeigen, dass Intersubjektivitäten möglich sind – allerdings als solche, die in und aus sozialen Praktiken und Prozessen erwachsen und nicht als eine gegebene Kollektivität. Die Konzeption einer korporalen Soziogenese von Intersubjektivität versteht sich als eine praxistheoretische Weiterführung von Theorien um Intersubjektivität: Im Falle von Alfreds Schütz Konzept einer mundanen Intersubjektivität oder auch George Herbert Meads praktischer Intersubjektivität richten sich diese Ihre Konzepte daran aus, ein Erklärungsmodell zu finden, welches die Seinsweise zwischen Subjektivität und Kollektivität vermittelt – als Erklärung für das was die Soziologie gemeinhin als ‚das Soziale‘ versteht. Was Foucault als zentralen Gedanken der Loslösung der Selbsterkenntnis von der Vorbedingung der Sorge um sich selbst in den modernen Technologien des Selbst formuliert, lässt sich auf den Paartanz Tango übertragen: „Wir sind die Erben einer gesellschaftlichen Moral, welche die Regeln für akzeptables Verhalten in den Beziehungen zu anderen sucht.“ (Foucault 1993a: 31) Wie die empirischen Analysen gezeigt haben sind für die Bewegungen des Paartanzes Tango, als korrelierende Praktiken die Kompetenzen des aufeinander Abstimmens konstitutiv. Diese hier als korrelierend bezeichnete Praxis produziert eine Beziehung zu anderen und zeigt sich im Sinne Foucaults als akzeptables Verhalten einer gesellschaftlichen Moral, in der rein auf das Selbst gerichtete Technologien des Selbst als Sorge um sich selbst weniger anerkannt sind. Die hier entworfenen Konzepte korrelierender Praktiken und ein Ansatz von Körper-Subjektivierungen sind die Voraussetzungen um zu verstehen, wie so etwas wie Intersubjektivität entstehen kann – als ein soziales und über körperliche Bewegungen stattfindendes Miteinander, welches wiederum territoriale Subjektivität (die auch nur ein Resultat sozialer Prozesse ist) auflöst hin zu Intersubjektivitäten. Diese De-essentialisierung von Subjekten und Subjektivität ist neueren Entwicklungen im Anschluss an Michel Foucaults Subjekttheorie geschuldet, die allesamt die Prozesse von Subjektivierungen in den Vordergrund stellen (Kap. II.), also die Frage beantworten wie Subjekte möglich sind jenseits von Descartschen Subjekten. Bewegungen, wie hier im Tango, sind für diese Erfah-
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rungen prädestiniert, da in Bewegungskulturen die erlernbaren Regeln und Normen vom Körper inkorporiert werden (siehe Kap. II) und so unabhängig von Subjekten agieren können. Diese im Tanz agierenden Körper subjektivieren die Tanzenden als Körper-Subjekte und ermöglichen wiederum eine Soziogenese von Intersubjektivität. Die mikro- und makrostrukturellen Merkmale des Tango ermöglichen Abstimmungen und in diesen Abstimmungen auch Intersubjektivitäten. Eine solch bewegte Intersubjektvitiät zeigt sich auf der Ebene der Praktiken als alternativer Subjektentwurf, als das Andere und auch als das als anders Erfahrene. Die Erfahrungen einer Interkorporalität in Abstimmungsprozessen wird zu einer Intersubjektivität, zu einer Zwischen-Subjektvität, die das eigene (die Subjektivität) als auch das Gemeinsame bestätigt. Die Bewegungskultur des Paartanzes Tango zeigt sich als eine Überschreitung descartscher Subjektkonzepte. Intersubjektivität wird möglich in sozial, bewegten Situationen und vor allem im Rahmen erlernter körperlicher Praktiken wie im Paartanz Tango. Das, was phänomenologisch in Bewegungen als Abstimmung beschreibbar ist, wird in einem subjekttheoretischen Rahmen zur möglichen Soziogenese von Intersubjektivitäten. Momente, in denen miteinander tanzende Subjekte Abstimmungen erreichen, die ihre eigene – als getrennt wahrgenommen – Subjektivität überschreiten und eine andere – zwischen den Subjekten – Form von Inter-Subjektivität erlebbar machen.
Ausblick
An die Ergebnisse dieser Arbeit, die in den jeweiligen Kapiteln aufgezeigt wurden und im Schlusskapitel zu einer Gesamtkonzeption der Analyse von Abstimmungsprozessen im Tango führten, lassen sich nun einige weitere Schlussfolgerungen ziehen, die im Rahmen dieser Arbeit nicht mehr ausgeführt werden können. Im Folgenden werden diese Ergebnisse mit möglichen weiteren Aufgabengebieten verbunden. Ein Konzept von korrelierenden Praktiken im Tango Argentino wirft die Frage auf, inwieweit andere Bewegungskulturen unter dieser Perspektive einer Spezifizierung von Praktiken betrachtet werden können. Für andere Paartanzkulturen wie die Salsa- oder Swingkultur mag eine Übertragung noch relativ fließend möglich sein, allerdings bei anderen transkulturellen Bewegungskulturen, die gänzlich andere Bewegungsstrukturen haben (wie etwa Yoga, Thai Chi etc.) ist diese Frage nicht so einfach zu beantworten. Das diese Bewegungsstrukturen auch Stilen und Techniken folgen ist zunächst nicht überraschend, nur müsste weitergehend untersucht werden, in welchen Kontexten und in welchen Zusammenhängen diese mit Subjektivierungsprozessen einhergehen oder verbunden sind. Dabei ist es unumgänglich, diese Praktiken im Detail zu untersuchen und festzustellen, welche Rolle sie für Subjektivierungsprozesse spielen. Praktiken müssen detaillierter definiert werden, um den Differenzen von Praktiken, Subjektivierungspraktiken und Bewegungskulturen gerecht zu werden. Es war das Anliegen dieser Arbeit einen Zusammenhang zwischen den transkulturellen Praktiken der Bewegungskultur Tango und Subjektivierungsprozessen aufzudecken, welche im Ergebnis als bewegte Intersubjektivitäten beschreibbar sind. Im Anschluss an diese Arbeit wäre es von großen Erkenntnisgewinn zu untersuchen, inwieweit in anderen auch als transkulturell anzunehmende Bewegungskulturen (Yoga, Thai Chi etc.) Subjektivierungsprozesse beobachtbar sind und welche Verhältnisse zu Intersubjektivitäten formulierbar wären. Eine weiter-
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führende These wäre die Verallgemeinerung der Ergebnisse auf alle anzunehmend transkulturellen Bewegungskulturen, d.h. anzunehmen, dass alle transkulturellen Bewegungsformen Formen von Intersubjektivierung vorantreiben. So könnten sie auch als Alternative zu westlichen, neoliberalen Subjektivierungsprozessen, bzw. Individualisierungstendenzen verstanden werden und im Sinne Foucaults als eine Transformation von Subjekten. Dabei ist es unumgänglich die postkolonialen Dimensionen näher herauszuarbeiten, da es kein Zufall ist, dass solche alternativen Subjektkulturen vor allem in den letzten 30 Jahren mit Bewegungskulturen aus ‚anderen Kulturen‘ verbunden sind. Konzepte von Intersubjektivitäten wurden hier vorgestellt als ein theoretisches Gegenmodell zu territorial und kulturspezifisch determinierten Subjekttheorien. Im Anschluss an eine solche Abgrenzung wurde ein eigenes Konzept, bzw. eine eigene Lesart von Konzepten von Intersubjektivität vorgestellt, welches seine Plausibilität aus der Analyse transkultureller Praktiken als transkulturelles – und anti-descartsches – Intersubjektivierungskonzept zieht. Dieser Bezug von Subjekt-, bzw. Intersubjektivitätstheorien zu Kulturtheorien lag nicht im Mittelpunkt dieser Arbeit, bietet sich aber als ein weiteres fruchtbares Untersuchungsfeld an. Eine solche Perspektive stellt die über diese Arbeit weit hinausgehende Frage, welches Verhältnis zwischen transkulturellen Praktiken und Subjektkulturen besteht. Und inwieweit Subjektkulturen überhaupt als territorial begrenzt, im Sinne eines Kulturbegriffes zu verstehen sind. Eine Beantwortung dieser Frage konnte im Rahmen dieser Arbeit nur zum Teil skizziert werden, hat jedoch gezeigt, dass ein detaillierter Blick auf spezifische Praktiken eine kulturelle, bzw. kulturalisierende Verortung obsolet erscheinen lässt. Es stellt sich im Anschluss daran vielmehr die Frage, inwieweit Praktiken von Praktizierenden kulturell verortet werden im Sinne einer kritisch einzunehmenden postkolonialen Perspektive. Eine Diskussion um Intersubjektivität behandelt außerdem viele grundsätzliche Themen und Fragen der Soziologie: Konstitution des Sozialen, Fremdverstehen, Identität und Alterität. In diesem Zusammenhang wäre eine große Überblicksarbeit zu Intersubjektität in der Soziologie sehr interessant und würde über einige Prozesse genauere Auskunft und Reflexion ermöglichen. Das hier am Beispiel des Tango entwickelte Konzept einer Soziogenese bewegter Intersubjektivitäten könnte für weitere soziologische Untersuchungen von Interesse sein. Zunächst auf andere empirische Betrachtungsfelder im Rahmen von Bewegung und Sport – aber auch in Bezug auf andere soziale Interaktionsfelder. Und darüber hinaus vor allem auch für eine Grundlagenforschung um Theorien von Intersubjektivität und Subjekttheorien in der Soziologie. Denn aus
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einer praxistheoretischen Perspektive lässt sich die These aufstellen, dass jede soziale Praktik auch eine Subjektivierungspraktik ist, die letztendlich Intersubjektivitäten produzieren kann.
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Abbildungen
Abbildung 1: Haltung, Film-Still DFG-Projekt Abbildung 2: Savigliano 1995a: 148. Abbildung 3: Tango 1912: http//www.Buenosaires.com, abgerufen am 10.9.2010 Abbildung 4: Savigliano 1995a: 101. Abbildung 5: Reihenfotografie aus Film-Stills DFG-Projekt Abbildung 6: Nau-Klapwijk 1999: 225. Abbildung 7: Ocho, Reihenfotografie aus Film-Stills DFG-Projekt Abbildung 8: Reihenfotografie aus Film-Stills DFG-Projekt Abbildung 9: Reihenfotografie aus Film-Stills DFG-Projekt Abbildung 10: Reihenfotografie aus Film-Stills DFG-Projekt Abbildung 11: Reihenfotografie aus Film-Stills DFG-Projekt Abbildung 12: Reihenfotografie aus Film-Stills DFG-Projekt Abbildung 13: Reihenfotografie aus Film-Stills DFG-Projekt Abbildung 14: Reihenfotografie aus Film-Stills DFG-Projekt Abbildung 15: Reihenfotografie aus Film-Stills DFG-Projekt
Glossar 1
Arrestre – von arretrar, ziehen, siehe auch Barrida: fegen, den Fuß des Partner mit dem eigenen verschieben, ohne Kontakt zu verlieren. Barridas werden entweder an der Außen- oder Innenseite des Fußes des passiven Partners ausgeführt Base – Bezeichnung für den Tangogrundschritt Boleo – auch als Voleo bezeichnet, schleudern, werfen, mit geschlossenen Knien wird auf dem Standbein eine Hüftdrehung vollführt, so dass eine schlenkernde Bewegung des angehobenen Spielbeins entsteht, Tanzschritt mit fliegendem Bein für die Folgende Cadencia – Kreuzen und Schließen der Füße Colgada – „Tanzfigur, bei der die Achsen der Tänzer auseinandergehen und sich gegenseitig halten“ (Salas 2010: 172) Caminar, El: von spanisch caminar für gehen, laufen – das einfache Gehen im Tango Canyengue: „alte, heute in diesem Sinne nur noch wenig gebrauchte Bezeichnung für den ‚primitiven‘ Tango aus der frühen Epoche […] innerhalb der Entwicklungsgeschichte dieses Tanzes in der Zeit ab etwa 1880.“ (Ludwig 2002: 110) Cortes – „‚Schnitte‘ […] beziehen sich auf die abrupte Unterbrechung im Ablauf des Tanzflusses.“ (Elsner 2000: 154) „Abprutes Abbrechen einer Tanzbewegung oder Richtungswechsel, galt anfangs als unschicklich“ (Salas 2010: 172) – das Stoppen in der Bewegung während die Armhaltung gehalten wird. Cortina – Pause zwischen den Tandas bei der zum (vorwiegend in BA) Teil andere Musikrichtungen gespielt werden, „Zwischenmusik zwischen zwei Tangoblöcken“ (Salas 2010: 172) Cunita – Wiegeschritt
1
Das Glossar bezieht sich auf Elsner 2000, Salas/Lato 2010, Ludwig 2002.
224 | A BSTIMMUNG IN B EWEGUNG
El Abrazo – spanisch für Umarmung Gancho – Beinhaken, das Spielbein der Folgenden schwingt um das Standbein des Führenden und umhakt es, kann an der Innen oder Außenseite des linken oder rechten Beines beider Partner ausgeführt werden Giro – Drehung beim Tanz Lápiz – Bleistift, eine umgedrehte 6 aus der Perspektive des Führenden Milonga(s) – Bezeichnung der Tanzveranstaltung der Tangokultur und gleichzeitig auch die Bezeichnung eines Tangostils (Milonguero). Mordida – von morder, beißen, der Fuß eines Partners wird zwischen die Füße des anderen eingeklemmt Neotango – zeitgenössisch sich immer mehr herausbildender Tangostil, bei welchem auf neue Tangomusik (Gotan-Tango) und mit Einfluß andere Bewegungsformen (wie Contact Improvisation) getanzt wird. Im Neotango werden viele Bewegungstrukturen des Tango Argentino aufgebrochen, wie etwa die enge Tanzhaltung oder Strukturen von führen und folgen. Ocho – Tanzfigur, in der die Füße auf dem Boden eine Acht nachzeichnen Quebrada – „Gehaltene Tanzfigur, bei der die Achse ‚bricht‘, galt anfangs als unschicklich“ (Salas 2010: 173) Resolución – der über Kreuz geführte Abschlussschritt im Tango Argentino Sacada – die am häufigsten verwendete Bezeichnung für ein Verschieben eines Beines bzw. Fußes des Partners mit dem eigenen Bein oder Fuß Salida – Eröffnungsschritt des Tanzes Sandwich – siehe Mordida Sentada – „Tanzfigur, bei der die Frau auf dem angewinkelten Bein des Mannes abgesetzt wird“ (Salas 2010: 173) Tanda: Mehrere, zwischen 3 und 4 aufeinander folgende Musikstücke einer Musikrichtung im Tango Argentino: Vals, Tango de Salon, Tango Nuevo Taquito – Hackenschlag beim Tanz Tango Argentino – terminologische Abgrenzung zum europäischen Standardtango, die eine Herkunft des Tango in Argentinien verortet. Nur zum Teil wird in der Literatur darauf verwiesen, dass Uruguay explizit ausgeblendet wird und es korrekterweise tango de rioplatense – Tanz vom Rio de la Plata der heißen müsste. Allerdings liegt in dieser erweiterten Begriffsführung auch nur wieder eine Reduktion des Tango auf seine dezidiert südamerikanischen Wurzeln ohne seine globalen Vernetzungen und hybride Geschichte aufzunehmen. Tango de Salon – zeitgenössischer Tangostil, welcher einen mit wenigen und einfachen Figuren bezeichneten Stil meint, welcher vorwiegend bei Milongas getanzt wird.
G LOSSAR | 225
Tango Nuevo – zunächst eine von der Plattenindustrie geschaffener Begriff um Astor Piazzollas Musik als neuen Tango zu vermarkten (Feldmann-Bürgers 1996: 145). In der Folge benennt sich zeitgenössisch ein Tango-Stil, welcher eine gelockerte und offenere Tanzhaltung beinhaltet. Tangueras – Selbstbezeichnung der weiblichen Tangotanzenden Tangueros – Selbstbezeichnung der männlichen Tangotanzenden Umarmung – gängige Bezeichnung der körpernahen Tanzhaltung in der Tanzkultur Tango Vals – Tangostil im Dreivierteltakt Volcada – „Tanzfiguer, bei der der Mann die Frau in seine Richtung kippt“ (Salas 2010: 173) Voleo – siehe Boleo
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