Saubere Folter: Auf den Spuren unsichtbarer Gewalt [1. Aufl.] 9783839431573

»Clean torture« is surrounded by absence. Its victims disappear without a trace in extrajudicial space. Its practitioner

268 118 3MB

German Pages 284 [285] Year 2015

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Table of contents :
Cover Saubere Folter
Inhalt
Vorwort
1. Eine Phänomenologie der Folter schreiben
1.1 Saubere Folter: Unsichtbarkeit und Unsagbarkeit
1.2 Methodische Überlegungen I: Analytische Theatralität
1.3 Methodische Überlegungen II: (Nicht-)Suchen und (Nicht-)Finden
1.4 Methodische Überlegungen III: Spuren von Spuren
1.5 Überblick: Phänomenologie der Sauberen Folter
2. Suche nach dem verlorenen Wort
2.1 Bestandsaufnahme: Überblick einer entgrenzten Terminologie
2.1.1 Theatralität macht Selbst: Rollensoziologie
2.1.2 Theatralität und Kultur: Kulturelle Modelle und cultural performance
2.1.3 Theater macht vor und nach: Illusion und Nachahmung
2.1.4 Theatralität macht sichtbar: Zur korporalen Medialität von Theatralität
2.2 Entwurf einer analytischen Theatralität. Eine Terminologie der Negation
3. Suchbewegungen I. Räumlichkeit und Verschwinden
3.1 Körperräume: Die Festnahme
3.2 Schwellenkunde: Rendition Flights
3.3 (Nicht-)Ortungen des Unsichtbaren oder Vom Scheitern: Die Black Sites I
3.4 Ortungen des Unsichtbaren: Die Black Sites II
4. Suchbewegungen II. Inszenierungsstrategien der Sauberen Folter
4.1 Überblick: Sensorische Desorientierung
4.2 Auf dem Weg zur analytischen Theatralität I
4.3 Auf dem Weg zur analytischen Theatralität II
4.4 Negative Gestalt(ung)en I: Inszenierungen der Leere
4.5 Negative Gestalt(ung)en II: Inszenierungen der Fülle
4.5.1 Akustisches Bombardement: Musikfolter
4.5.2 Olfaktorisches Bombardement: Abstoßende Gerüche
4.5.3 Visuelles Bombardement: Neonlicht und Dunkelheit
4.5.4 Thermofolter: Künstliche Hitze und Kälte
4.6 Negative Gestalt(ung)en III: Zur Brüchigkeit der Folter
4.7 Zwischenstopp: Zu einer möglichen Sagbarkeit Sauberer Folter
5. Suchbewegungen III. Performance und Performativität im Verhör
5.1 Überblick: Mentale Desorientierung
5.2 Auf dem Weg zur analytischen Theatralität III
5.3 Die Situation des Verhörs: Zeitlichkeit, Szenografie und Akteure
5.4 Situationen im Verhör: The Cycle of Intelligence
5.4.1 Performances der Konfusion und Erniedrigung
5.4.2 Performances und Rollenspiele der Täuschung
5.4.3 Performative Drohungsszenarien
5.4.4 Perversionen des selbst zugefügten Schmerzes
5.5 Performativität und Theatralität des Traumas
6. Gegen eine Absenz der Sauberen Folter
6.1 Erkenntnisse und Erkenntniswege
6.2 Saubere Folter als souveräne Geste?
6.3 Zur Aktualität analytischer Theatralität
Quellenverzeichnis
Verzeichnis der Internetquellen
Verhörhandbücher, Memoranda und Ermittlungsberichte
Ermittlungsberichte
Quellen via Digital National Security Archive
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Saubere Folter: Auf den Spuren unsichtbarer Gewalt [1. Aufl.]
 9783839431573

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Carola Hilbrand Saubere Folter

Edition Kulturwissenschaft | Band 75

Carola Hilbrand (Dr. phil.), geb. 1986, studierte Medienwissenschaften an der Universität zu Köln und promovierte am International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) und am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Universität Gießen. Ihre Studie zur Sauberen Folter wurde 2014 mit dem Dr.-Herbert-Stolzenberg-Award für hervorragende kulturwissenschaftliche Dissertationen ausgezeichnet. Als freie Journalistin war sie u.a. für die Deutsche Presse-Agentur dpa, Tageszeitungen und Fernsehsender tätig. Heute arbeitet die Medienwissenschaftlerin in der Unternehmenskommunikation.

Carola Hilbrand

Saubere Folter Auf den Spuren unsichtbarer Gewalt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Vorwort  | 7 1. Eine Phänomenologie der Folter schreiben  | 9 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Saubere Folter: Unsichtbarkeit und Unsagbarkeit | 10 Methodische Überlegungen I: Analytische Theatralität | 18 Methodische Überlegungen II: (Nicht-)Suchen und (Nicht-)Finden | 22 Methodische Überlegungen III: Spuren von Spuren | 34 Überblick: Phänomenologie der Sauberen Folter | 36

2. Suche nach dem verlorenen Wort  | 39 2.1 Bestandsaufnahme: Überblick einer entgrenzten Terminologie | 46 2.1.1 Theatralität macht Selbst: Rollensoziologie | 48 2.1.2 Theatralität und Kultur: Kulturelle Modelle und cultural performance | 51 2.1.3 Theater macht vor und nach: Illusion und Nachahmung | 55 2.1.4 Theatralität macht sichtbar: Zur korporalen Medialität von Theatralität | 58 2.2 Entwurf einer analytischen Theatralität. Eine Terminologie der Negation | 61

3. Suchbewegungen I Räumlichkeit und Verschwinden  | 67 3.1 3.2 3.3 3.4

Körperräume: Die Festnahme | 72 Schwellenkunde: Rendition Flights | 76 (Nicht-)Ortungen des Unsichtbaren oder Vom Scheitern: Die Black Sites I | 88 Ortungen des Unsichtbaren: Die Black Sites II | 94

4.

Suchbewegungen II Inszenierungsstrategien der Sauberen Folter  | 101

4.1 Überblick: Sensorische Desorientierung | 109 4.2 Auf dem Weg zur analytischen Theatralität I | 115 4.3 Auf dem Weg zur analytischen Theatralität II | 122 4.4 Negative Gestalt(ung)en I: Inszenierungen der Leere | 127 4.5 Negative Gestalt(ung)en II: Inszenierungen der Fülle | 150 4.5.1 Akustisches Bombardement: Musikfolter | 151 4.5.2 Olfaktorisches Bombardement: Abstoßende Gerüche | 159 4.5.3 Visuelles Bombardement: Neonlicht und Dunkelheit | 163 4.5.4 Thermofolter: Künstliche Hitze und Kälte | 166 4.6 Negative Gestalt(ung)en III: Zur Brüchigkeit der Folter | 169 4.7 Zwischenstopp: Zu einer möglichen Sagbarkeit Sauberer Folter | 177

5.

Suchbewegungen III Performance und Performativität im Verhör  | 181

5.1 Überblick: Mentale Desorientierung | 182 5.2 Auf dem Weg zur analytischen Theatralität III | 187 5.3 Die Situation des Verhörs: Zeitlichkeit, Szenografie und Akteure | 195 5.4 Situationen im Verhör: The Cycle of Intelligence | 209 5.4.1 Performances der Konfusion und Erniedrigung | 211 5.4.2 Performances und Rollenspiele der Täuschung | 220 5.4.3 Performative Drohungsszenarien | 224 5.4.4 Perversionen des selbst zugefügten Schmerzes | 229 5.5 Performativität und Theatralität des Traumas | 237

6.

Gegen eine Absenz der Sauberen Folter  | 245 6.1 Erkenntnisse und Erkenntniswege | 246 6.2 Saubere Folter als souveräne Geste? | 255 6.3 Zur Aktualität analytischer Theatralität | 258 Quellenverzeichnis  | 261 Verzeichnis der Internetquellen | 277 Verhörhandbücher, Memoranda und Ermittlungsberichte | 280 Ermittlungsberichte | 281 Quellen via Digital National Security Archive | 282

Vorwort

Diese Studie zur Sauberen Folter dokumentiert Schritte und Wege der Annäherung an etwas, das sich als abwesend gibt und doch ist. Diese Wege bestehen in Worten, die zu suchen ich mir im Folgenden zur Aufgabe gemacht habe. Die Publikation ist eine leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Juni 2014 an der Justus-Liebig-Universität Gießen eingereicht habe. Ihre Schritte und Wege wurden begleitet und unterstützt von einigen Menschen, denen ich an dieser Stelle herzlich danken möchte. Prof. Dr. Gerald Siegmund hat mich im Laufe des Forschungsprozesses beständig auf Wege aufmerksam gemacht, Wege angeleitet und auch den Wert von Irrwegen zu erkennen geholfen. Die Versuche, Traumatisches mit theaterwissenschaftlichem Vokabular zu versprachlichen, haben von seinem Wissen und von seinem Willen profitiert, die Augen nicht vor Destruktion in und durch Demokratien zu verschließen. Das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft war nicht nur dadurch ein offenes und kritisches Umfeld, in dem Annäherungen an die Saubere Folter erfolgen konnten. Prof. Dr. Irmela Schneider hat die Annäherungen an das Absenzphänomen Saubere Folter ebenfalls unermüdlich unterstützt, wertvolle fachliche Hinweise gegeben, Fragen aufgeworfen und mir bei der Verfolgung des Weges und der Verbreitung des Themas stets Rückhalt geboten. Prof. Dr. Lutz Ellrich hat mich bereits 2009 auf das Thema der Folter im Kontext medienwissenschaftlicher Fragestellungen aufmerksam gemacht. Danken möchte ich ihm für die ansteckende leidenschaftliche Vehemenz seines Interesses. Meinen Kollegen und Kolleginnen am GCSC, an der Universität zu Köln und im DoktorandInnen-Netzwerk Medien|Projekt danke ich für zahlreiche Diskussionen und kluge Nachfragen. Stefan Udelhofen hat nicht nur sämtliche Schritte verfolgt, sondern mir auch an entscheidenden Stellen mit kreativen Ideen und humorvoller Unterstützung zur Klarheit verholfen. Vera Stadelmann, Kai Sicks, Philipp Schulte, Vera Fischer und Lisa Wolfson danke ich für Anregungen, gemeinsame Überlegungen und ihre Freundschaft, Renate und Axel Raulfs für stets humorvollen Beistand, Großmeister Parviz Kashani für sein Vertrauen in meine Fähigkeiten und Manfred Sieberts

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Saubere Folter

und Sigrid Holland für beständige Ermutigung. Besonderer Dank gilt meinen Eltern Claudia Salzburg und Rainer Suletzki, die mir diesen Lebensweg erst ermöglicht und mich in allen Entscheidungen auf diesem Weg bestärkt haben. Ich danke dem International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) in Gießen für die Förderung des Projekts und der Dr.-Herbert-Stolzenberg-Stiftung für die Unterstützung der Publikation.

1. Eine Phänomenologie der Folter schreiben [D]ie Geschichte des Scheiterns zu schreiben. Die Tradition der Geschlagenen zu pflegen. Geschichten des Versagens zu erzählen: Es war der 9. November. Oder der 31. Oktober. […] Was immer es dann war, und ob es morgens war oder nachmittags […]. Wir müssten es dazu bestimmen, für uns gewesen zu sein, damit es Beispiele gibt, Hinweise, […] denn anders spricht man von den Opfern gar nicht. Und die Opfer sind ja die, von denen man nicht spricht.1

Dieser Raum drängt sich auf. Mit seinen kalten Wänden. Mit der grauen Decke und dem grauen Boden. Mit seinen grellen Neonleuchten, die alles in gleißendes Licht tauchen, mit der unerträglichen Hitze und der schweren Luft, die er in sich aufspeichert. Und diesem widerlichen Geruch. Es ist ein leerer Raum ohne Fenster. Ich sitze still auf einem Stuhl und warte in der Hoffnung, jemand möge diesen Raum betreten und mir sagen, weshalb ich hier bin. Doch dieser Raum ist in sich und ich bin in ihm verschlossen, konzentriert, eingekerkert und so unbeweglich wie ich hier bin, wie dieser Raum hier ist, zwischen seinen Mauern aus Stein, merke ich, wie ich nichts mehr merke, mir nichts mehr auffällt, weil sich nichts bewegt, die Leere sich langsam in mein eigenes Inneres schleicht, es in sich einsperrt und in diesen Raum einlässt, in dem ich bin – und zugleich nicht bin. Ich frage mich, wie viel Zeit wohl vergangen ist, als plötzlich Männer in Uniformen die Tür aufreißen, mir befehlen aufzustehen und mitzukommen. Sie zerren mich in einen Nebenraum, schließen die Tür und entfernen sich. Hier ist es dunkel und eiskalt. Dumpfe Schläge dringen aus Rohren an der 1 | Bazon Brock: Ästhetik als Vermittlung. Arbeitsbiographie eines Generalisten, Köln: DuMont Kunstverlag 1977, S. 145.

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Wand. Von irgendwoher ertönen die Schreie einer Frau. Ich beginne zu frösteln, drehe mich um und setze mich an einen leeren Tisch. Er blickt mir tief in die Augen und lächelt. Der Beamte, der mich verhört, ist sehr freundlich, er schiebt mir eine Tasse Kaffee entgegen, bevor er beginnt, mir Fragen zu meinen sexuellen Vorlieben zu stellen. Mein Freund möchte er sein, nur für diesen Tag, ich bräuchte Freunde hier drin, und ja, er möchte mir nur helfen. Damit nichts passiert, wenn er mal nicht da ist. Man muss gedeckte Farben tragen, sagt er. Die Kleidung sei Zeichen. Auf dem Gang zum nächsten Verhörraum hämmert laute Rockmusik durch die Gänge, die Bässe dröhnen mir entgegen und lassen meine Magengegend vibrieren, bis es fast schmerzt. Sie führen einen Gefangenen an mir vorbei, sein Körper ausgemergelt, sein Blick so leer wie der nächste Raum, in den ich eintauche. Nur ein Tisch steht in seiner Mitte. Ich möchte mir die Ohren zuhalten, die Musik nicht hören, an diesem Ort nicht sein. Doch der nächste Beamte ist nicht so geduldig mit mir. Er schimpft und schreit mich an, weil ich seine Fragen nicht beantworte. Doch ich weiß nichts! Ich weiß nicht einmal, weshalb ich hier bin! Und ich verstehe seine Fragen nicht! Er ist wütend, ich bin es auch, er wirft sich nach vorn und schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch, wo er meine Finger nur knapp verfehlt. Ich höre seinen Atem, rieche den Schweiß, der von seiner Stirn abperlt. Langsam tastet er meinen Körper mit Blicken ab, während er eine Frage nach der nächsten stellt. Er zischt leise Drohungen in mein Ohr, bevor er aus dem Raum marschiert und die Tür hinter sich zuwirft. Aus den Lautsprechern säuselt ein Kinderlied, das ich irgendwo schon einmal gehört habe. Mir dämmert, dass ich schuldig sein muss. Ich schäme mich. Doch weiß ich nicht, warum ich angeklagt bin, warum ich beschuldigt und bedrängt werde. Es stinkt, ich friere und die Musik aus den Lautsprechern dröhnt noch immer in meinem Kopf, obwohl es so still und stumm ist, als hätte die Dunkelheit mich verschluckt. Sofort möchte ich hier raus, doch der Raum dringt in mich ein. Ich muss raus aus mir, aus meinem Körper, denn ich weiß nicht mehr, wo ich bin und wer ich überhaupt bin – oder sein soll, oder nicht sein darf? So verharre ich in diesem Raum, in dem das Nichts sich stapelt und in der Ecke aufhäuft, in der ich sitze. Was geht hier vor?

1.1 S aubere F olter : U nsichtbarkeit und U nsagbarkeit Die soeben fingierte Innenperspektive könnte einerseits der eines Teilnehmers der Performance Die Hundsprozesse des dänischen Performance-Kollektivs SIGNA aus dem Jahr 2011 entsprechen – freilich erheblich zugespitzt. Einhundert dieser Teilnehmer erlebten jeden Tag am eigenen Leib den kafkaesken

1. Eine Phänomenologie der Folter schreiben

Prozess, an den Hundsprozesse konzeptuell angelehnt ist. Sie alle waren plötzlich Josef K., der nicht weiß, warum er interniert, verhört und angeklagt wird. Sie alle traten nach sechs Stunden totalitärem Terror aus einem Gebäudekomplex in der Kölner Herkulesstraße in eine Freiheit, die sie nie verloren hatten. Sie haben keine Gewalt erfahren. Sie waren im Theater. Andererseits verweist diese Innenperspektive außerhalb des theatralen Rahmens auf eine grausame Wirklichkeit der Gefangenschaft von Terrorverdächtigen, die plötzlich und spurlos in einem von rund 80 bis 100 geheimen Gefangenenlagern, deren Existenz in weltweit 28 Ländern belegt wurde, verschwinden und gefoltert werden.2 Bereits auf dem Weg in diese Lager verlieren sie ihre Identität und Integrität, wenn ihr Name von internationalen Gefangenenlisten gestrichen wird und sie als Serial Internment Numbers auf unbestimmte Zeit in einer Sphäre der Unsichtbarkeit und Abwesenheit eines geheimen Lagers hausen. Das Lager bildet die räumliche und zeitliche Matrix der so genannten Sauberen Folter – einer Folter, deren Methoden als verschärfte Verhörtechniken legitimiert und legalisiert sind. So wie die Gefangenen spurlos verschwinden, bleibt auch die Saubere Folter spurlos an ihrem verschwundenen Körper, worauf Bezeichnungen wie NoTouch-Torture oder Hands-Off-Torture hinweisen.3 Sie hinterlässt keine sichtbaren Spuren in Form von Wunden oder Narben, sondern besteht in Praktiken der sensorischen und mentalen Desorientierung, die darauf ausgerichtet sind, Gefangene psychisch zu brechen: Neonlicht durchbricht in unregelmäßigen Abständen die Dunkelheit der Zelle. Strenger Isolation folgt ein lärmendes akustisches Bombardement der Musikfolter. Eisige Kälte durch Klimaanla2 | Vgl. Sherwood Ross: »More Than Two-Dozen Countries Complicit In US Torture Program«, siehe http://pubrecord.org/torture/7326/two-dozen-countries-complicit-tor ture/vom 01.04.2010. Der Autor verweist hier auf Ermittlungsberichte, welche von der Existenz von rund 50 Haftzentren weltweit ausgehen, zu denen noch rund 25 Lager allein in Afghanistan, zehn Lager im Irak und 17 Schiffe als Floating Prisons hinzuzurechnen sind. Vgl. dazu auch Amnesty International: »Sieben Jahre Guantánamo in Zahlen«, siehe www.amnesty.de/2009/1/9/sieben-jahre-guantanamo-zahlen vom 09.01.2009; vgl. ferner Open Society Justice Initiative: »Globalizing Torture: CIA Secret Detention and Extraordinary Rendition«, siehe www.opensocietyfoundations.org/reports/globali zing-torture-cia-secret-detention-and-extraordinary-rendition von Februar 2013. 3 | Den Begriff der Sauberen Folter (clean torture) hat der US-amerikanische Historiker Darius Rejali geprägt. Vgl. Darius Rejali: Torture and Democracy, Princeton: Princeton University Press 2007. Vgl. zu den weiteren Begriffen Alfred McCoy: A Question of Torture: CIA Interrogation, from the Cold War to the War on Terror, New York: Holt Paperbacks 2007, S. 9; Paul Kiel: »The FBI’s Hands Off Approach to Torture«, siehe http:// talkingpointsmemo.com/muckraker/the-fbi-s-hands-off-approach-to-torture vom 24.04.2008.

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gen wechselt sich mit der Hitze des Sonnenlichts ab. Die Manipulation von Uhren und die durchdachte Unregelmäßigkeit der Mahlzeiten verkehren den Tag- und Nachtrhythmus. Bedrohungsszenarien reichen bis hin zu gezielt in Szene gesetzten Scheinexekutionen. Techniken des so genannten selbst zugefügten Schmerzes erzwingen schmerzhafte Stresspositionen im Knien, Hocken oder Stehen mit ausgebreiteten Armen und pervertieren darüber hinaus psychologisch Täter- und Opferschaft. Erniedrigungen wie etwa die erzwungene Nacktheit des Häftlings holen schließlich das Sinnbild des nackten Lebens von Lagergefangenen, das Giorgio Agamben entworfen hat, auf den Boden der konkreten Leiberfahrung.4 Die Saubere Folter vollzieht sich an einem Körper, der spurlos verschwindet und zudem – äußerlich unversehrt – auch die Folter spurlos verschwinden lässt. Die vorliegende Studie nähert sich dieser beharrlichen Abwesenheit der Sauberen Folter an. Als Phänomen der Absenz ist sie jedoch nicht nur durch ihre Spurlosigkeit und Unsichtbarkeit charakterisiert, sondern auch durch Sprachlosigkeit und Schweigen. Denn jene Abwesenheit erstreckt sich vom geheimen (Nicht-)Ort des Lagers, in dem die Folter stattfindet, über die Unsichtbarkeit am Körper, an dem die Folter stattfindet, bis hin zu einer doppelten Unsagbarkeit: Sie ergreift einerseits die Opfer der Folter selbst, die das traumatische Geschehen nicht zu sagen vermögen. Andererseits durchzieht sie die (Folter-)Diskurse, welche die Saubere Folter aus ihrem Gegenstandsbereich exkludieren. So scheitert die Repräsentation der Sauberen Folter nicht nur am Körper, sondern auch in den Versuchen ihrer sprachlichen Vermittlung. Folteropfer und ihre Familien, Anwälte, Ärzte und Therapeuten ergreift entweder ein amnestisches Vergessen, eine schützende Entstellung von Erinnerung oder ein frustrierendes Unvermögen, Worte für das zu finden, was geschah und noch immer geschieht. Dabei findet die Folter in Haftzentren statt, die dem Verhör von Terrorverdächtigen dienen – sie erscheint damit »als Maschine, die das Sprechen ausschließt, um es zu erzwingen«5. Sprechen und Schweigen gehen Hand in Hand. Das Trauma ist die klaffende Leerstelle des 4 | Die konkrete Leiberfahrung sei an dieser Stelle noch einmal betont – insbesondere bezogen auf den Beginn dieser Einleitung. Bei diesem handelt es sich nämlich nicht um eine literarische Passage, worauf die Wendung der fingierten Innenperspektive sowohl eines Performance-Teilnehmers als auch eines Folteropfers hinweist. Wenn der fiktive Einstieg jedoch den Eindruck sowohl einer frei erfundenen Szene als auch einer frei erfundenen Erfahrung erweckt, so verweist dies performativ auf ein noch zu thematisierendes Problem, dem das Folteropfer permanent gegenüber steht: Ihm wird nämlich die Lüge, damit die Fiktion, immer wieder vorgeworfen. 5 | Karin Harrasser/Thomas Macho/Burkhardt Wolf: Schmerzgrenzen: Politik, Technik und mediale Dramaturgie der Folter. Zur Einführung. In: Dies (Hg.): Folter. Politik und Technik des Schmerzes, München: Wilhelm Fink Verlag 2007, S. 9-26, hier S. 18.

1. Eine Phänomenologie der Folter schreiben

(Er-)Lebens, entzieht sich als Unverfügbares den Begriffen, dem Begreifen und dem Erinnern. Die Motive der Spurlosigkeit, der Unsichtbarkeit und Unsagbarkeit der Sauberen Folter erweitern sich hier um ein Vergessen der Folter, die so nicht einmal mehr gewusst werden kann.6 Hinzu kommt eine Diskursabsenz, welche die Abwesenheit der Sauberen Folter manifestiert und (gerade nicht) artikuliert. So kommentierten zwar im Jahr 2004 und in den Folgejahren mediale Enthüllungsfluten den so genannten Abu Ghraib-Skandal, in dessen Verlauf Hunderte von Folterfotografien aus dem US-amerikanischen Gefangenenlager im Irak bekannt wurden. Doch die Bilder zeigen nicht die Praktiken der Sauberen Folter, sondern deren Eskalation. Sie zeigen nicht die Systematizität eines Brechens von Subjekten durch sensorische und mentale Desorientierung, sondern deren sadistische Überschüsse – zu Pyramiden aufgehäufte Leiber von Gefangenen, stromführende Drähte in deren Genitalbereichen oder blutig misshandelte Schädel, neben denen Soldaten in die Kamera grinsen. Die Entstehungsgeschichte dieser Bilder sowie ihr legalisiertes und legitimiertes Fundament eines systematischen, an Militärakademien und Polizeischulen durchgeführten Lehrens und Lernens von Foltertechniken wird von diesen Bildern geradezu verdeckt. Die Folter, die am Körper des Opfers nicht sichtbar ist, aber über Jahre hinweg in geheimen Lagern die schleichende innere Destruktion dieses Subjekts forciert, wird durch die Bannkraft von Sadismus als Ausnahmephänomen aus dem Diskurs exkludiert. Ein (Nicht-)Diskurs der Folter schließt hier seinen eigenen Gegenstand aus. Für juridische Diskurse existieren solche Gefangenen und Folteropfer zunächst nicht, da sie auf keinen nationalen oder internationalen Häftlingslisten geführt werden und die Saubere Folter keine Beweislast am Körper hinterlässt – die Absenz der Evidenz wird zur Evidenz der Absenz. Sogar jene als Sadismen oder gar Folter anerkannten Praktiken, die auf den Fotografien aus Abu Ghraib zu sehen sind, werden nur in wenigen Fällen rechtlich sanktioniert. Zwar legt die Allgemeine Erklärung für Menschenrechte in Artikel 5 fest: »Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.«7 Juridischen Definitions6 | Das Ungesagte des Diskurses, das Michel Foucault als potentiell Sagbares konkretisiert, unterscheidet sich hier grundlegend von der Unsagbarkeit des Traumatischen, das keinen Zugang zu symbolischen Sphären findet. Vgl. Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve Verlag 1978, S. 120. 7 | Vereinte Nationen: »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Resolution 217 A (III) der Generalversammlung vom 10. Dezember 1948«, siehe https://www.auswaerti ges-amt.de/cae/servlet/contentblob/358006/publicationFile/3524/AllgErklaerung MenschenRechte.pdf. An den konstituierenden Konferenzen nahmen nur ein Vertreter des asiatischen und kein Vertreter des afrikanischen Kontinents teil – es handelt sich

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anstrengungen nach fallen Terrorverdächtige in exterritorialen Gefangenenlagern jedoch als Enemy Combatants ohnehin aus dem Geltungsbereich der Genfer Konventionen und damit auch der (Menschen-)Rechte.8 Dies regelt der US-amerikanische Military Commissions Act aus dem Jahr 2006. Ungesetzliche feindliche Kombattanten können demnach ohne Anklage und auf unbestimmte Zeit inhaftiert werden, ohne Recht auf anwaltliche Unterstützung. Ferner müssen die Menschenrechte der verbreiteten Auslegung einiger internationaler Rechtsgrundlagen nach in Staaten wie Afghanistan nicht beachtet werden. Dieser Auffassung ist etwa ein Rechtsberater des ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush. Alberto Gonzales erläutert in einem Memorandum an den Präsidenten im Jahr 2002 auf circa 50 Seiten nicht nur, warum Enemy Combatants nicht der Status eines Rechtssubjekts zuerkannt werden muss und dass der Präsident der Vereinigten Staaten im Falle einer Bedrohung der Sicherheit der Nation über spezifische Befugnisse verfügt, geltendes Recht außer Kraft zu setzen. Er arbeitet auch heraus, dass die Genfer Konventionen das Ergebnis eines Abkommens zwischen Staaten seien, während Afghanistan als Failed State eingestuft werden müsse.9

also um eine westliche Erklärung der Menschenrechte. Im selben Jahr begannen die so genannte ethnische Säuberung Palästinas sowie die Ausbildung des südafrikanischen Apartheitsstaates. Die Kluft zwischen der Universalität ihres Anspruchs und der Empirie ihrer Wirklichkeit gipfelt damit in einer Rechtsutopie. Vgl. Rainer Mausfeld: »Foltern für das Vaterland. Über die Beiträge der Psychologie zur Entwicklung von Techniken der ›weißen Folter‹« siehe www.uni-kiel.de/psychologie/psychophysik/mausfeld/Maus feld_Psychologie %20und %20Folter.pdf. 8 | Vgl. Military Commissions Act of 2006, siehe www.gpo.gov/fdsys/pkg/BILLS109s3930enr/pdf/BILLS-109s3930enr.pdf. Siehe für einen Überblick der juristischen Diskussionen um die (Nicht-)Geltung von Menschenrechten für Enemy Combatants insbesondere Mark Danner: Torture and Truth. America, Abu Ghraib, and the War on Terror, New York: New York Review Books 2004. Darin sind zahlreiche juristische Memoranda abgedruckt, wie etwa das so genannte Phifer-Memorandum (S. 167-168) und Exzerpte aus dem Working Group Report (S. 187-198), aus denen im Folgenden noch zitiert wird. 9 | Vgl. dazu das Memorandum von Alberto Gonzales an den damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten George W. Bush vom 25.01.2002. Das Memorandum ist in Teilen abgedruckt in Mark Danner: Torture and Truth, S. 83-87, liegt jedoch über den Zugang zum Digital National Security Archive (DNSA), einem Projekt der George Washington University, vollständig vor, siehe http://www2.gwu.edu/~nsarchiv/NSAEBB/ NSAEBB122/index.htm. Ein Zugang zum DNSA und damit zu etwa 50.000 Dokumenten zur US-Außenpolitik seit 1945 ist nur über eine befristete Nationallizenz möglich. Diese habe ich in einem langwierigen, komplizierten Prozess für Forschungszwecke über die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. im Zusammenhang mit einem

1. Eine Phänomenologie der Folter schreiben

So befasst sich der Rechtsdiskurs auf wortreichen Wegen mit der buchstäblichen De-Finition der Sauberen Folter. Interessant ist dabei, dass die juridischen Schriftstücke sich einerseits mit der Außerkraftsetzung der Genfer Konventionen und damit der Menschenrechte für bestimmte Personen beschäftigen, die damit theoretisch der Folter unterzogen werden können. Andererseits wird energisch herausgestellt, dass es sich bei den Methoden in exterritorialen Gefangenenlagern gar nicht um Folter handelt.10 Die Absurdität dieser Rechtsstreitigkeiten steigert sich einzig in einem Klageverfahren der kanadischen Rockband Skinny Puppy. Die Band verklagte Anfang des Jahres 2014 die US-amerikanische Regierung wegen der Verwendung ihrer Musik zur Folter im Gefangenenlager Guantánamo – allerdings nur aufgrund des Vorwurfs, sie hätten dafür keine Tantiemen abgeführt.11 An einer Schnittstelle von juridischen und medialen Diskursen stehen offizielle Ermittlungsberichte von politischen Ausschüssen oder Staatengemeinschaften. Beispiele sind etwa die Untersuchungsberichte des UN-Sonderermittlers Dick Marty aus den Jahren 2006 und 2007, dessen Erkenntnisse als Vermutungen und Spekulationen bezeichnet wurden und weitgehend folgenlos blieben,12 oder der offizielle Bericht des US-Senats zum Internierungs- und Verhörprogramm der CIA, der im November 2014 veröffentlicht wurde und bereits Anfang Januar 2015 nicht mehr als Bezugspunkt für journalistische Berichterstattung gelten konnte.13 In der medialen Berichterstattung und KomDFG-geförderten Projekt erworben. Eine Beschreibung dieses Projekts findet sich im Internet, siehe www.nationallizenzen.de/. 10 | Vgl. die Aussagen George W. Bushs in einer Pressekonferenz. Vgl. Melissa McNamara: »Bush: ›We Don’t Torture‹«, siehe www.cbsnews.com/news/bush-we-dont-torture/vom 06.12.2006. 11 | Vgl. Anonymus: »Band will Geld für Einsatz bei Guantánamo-Folter«, in: Die Welt vom 06.02.2014, o.S. 12 | Vgl. Yassin Musharbash: »Regierung streitet alles ab – Opposition verlangt restlose Aufklärung«, siehe http://ml.spiegel.de/article.do?id=487491 vom 08.06.2007. 13 | Der Veröffentlichung eines Artikels der Autorin im Januar 2015 stand den Aussagen des Redakteurs einer deutschen Zeitung zufolge die fehlende Aktualität des Senatsberichts entgegen – obwohl dieser einmal mehr die jahrelange und noch immer andauernde Systematizität der Folter in den Verhören von Terrorverdächtigen belegt. Wenig später, am 20. Januar 2015, veröffentlichte Mohamedou Ould Slahi aus dem Gefängnis Guantánamo heraus die Aufzeichnungen seiner mehrjährigen Folter in geheimen Gefängnissen, um deren journalistische Aufbereitung sich das Recherchenetzwerk des NDR, WDR und der Süddeutschen Zeitung bemühte. Vgl. Mohamedou Ould Slahi: Das Guantánamo-Tagebuch. Hg. v. Larry Siems, Stuttgart: Tropen/Klett Cotta Verlag 2015. Vgl. zu den erwähnten Berichten Dick Marty: Alleged Secret Detentions and Unlawful Inter-State Transfers Involving Council of Europe Member States. Committee

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mentierung dieser Berichte fällt auf, dass sich diese meist auf einige Wochen beschränkt und, ähnlich wie in der Berichterstattung zu den Folterfotografien, auf die sadistischen Überschüsse konzentriert. Jahre-, teils jahrzehntelange Anwendung von Isolationshaft, Lichtbombardement und Dunkelheit, Musikfolter, Hitze, Kälte, grausamen Täuschungen und Erniedrigungen mit massiven psychologischen Langzeitschäden können jedoch kaum als systematische Folter verständlich werden, wenn gerade die Verfechter der These, dass es sich um Folter handelt, mit willkürlichen Sadismen argumentieren: »Will jemand ernsthaft bestreiten, dass Gefangene, die mit Einläufen aus pürierten Nudeln und Kichererbsen ›rektal gefüttert‹ wurden, um ›totale Kontrolle‹ über sie zu erlangen, gefoltert wurden?«14 Hier sollen nicht Foltertechniken oder die potentielle Schwere ihrer Schädigungen auf- oder abgewertet werden. Entscheidend ist die selektive Konzentration der Aufmerksamkeit gegenüber der legitimierten Sauberen Folter und ihren weder legalisierten noch legitimierten sadistischen Überschüssen. Eben diese Konzentration führt zu solchen Bewertungen – und im Ergebnis zur Verharmlosung der Techniken Sauberer Folter. Vorangetrieben wird diese Tendenz zur Banalisierung von den Kommentaren politischer Akteure etwa zum CIA-Folterbericht, die ihr Entsetzen über die Enthüllungen mit ganz bestimmten Erinnerungen anreichern: Ich erinnere mich noch lebhaft, wie ich die Schrecken jenes Tages sah, darunter Fernsehaufnahmen von unschuldigen Männern und Frauen, die aus den Türmen des World Trade Center sprangen, um dem Feuer zu entfliehen. Die Bilder und die Geräusche, als ihre Körper weit unten auf dem Straßenpflaster aufschlugen, werden mich für den Rest meines Lebens begleiten. Vor diesem Hintergrund – der größte Angriff auf die ameri-

on Legal Affairs and Human Rights, Draft Report, 07.06.2006, siehe http://assembly. coe.int/CommitteeDocs/2006/20060606_Ejdoc162006PartII-FINAL.pdf; Ders.: Secret detentions and illegal transfers of detainees involving Council of Europe member states: second report, Council of Europe, siehe http://assembly.coe.int/CommitteeDocs/2007/EMarty_20070608_NoEmbargo.pdf; Senate Select Committee on Intelligence: Committee Study of the Central Intelligence Agency’s Detention and Interrogation Program. Online veröffentlicht am 9.12.2014, siehe www.intelligence.senate.gov/ study2014/sscistudy1.pdf. Eine übersetzte und kommentierte Fassung hat Wolfgang Neskovic herausgegeben. Vgl. Wolfgang Neskovic (Hg.): Der CIA Folterreport. Der offizielle Bericht des US-Senats zum Internierungs- und Verhörprogramm der CIA, Frankfurt a.M.: Westend Verlag 2015. 14 | Wolfgang Neskovic: »Der Zweck heiligt nicht die Mittel oder Das Folterverbot gilt absolut«, in: Ders.: Der CIA-Folterreport, S. 13-27, hier S. S. 14.

1. Eine Phänomenologie der Folter schreiben kanische Heimat in unserer Geschichte – nahmen die Ereignisse, die in diesem Bericht beschrieben werden, ihren Lauf.15

Die Bewertung solcher Kommentare und der medialen Berichterstattung zur Sauberen Folter – an zu 80 bis 95 Prozent unschuldigen Männern und Frauen16 – soll an dieser Stelle nicht erfolgen. Entscheidend ist für den vorliegenden Kontext, dass und wie die Saubere Folter aus dem Fokus einer im ganz buchstäblichen Sinne (ver-)schwindenden Aufmerksamkeit gerät. Der wissenschaftliche Folterdiskurs befleißigt sich schließlich durchaus in vielfältigen Feldern und Disziplinen der Aufarbeitung von Folter in der Gegenwart. Dabei konzentrieren sich die Autoren und Autorinnen zumeist darauf etwas Grundlegendes über den Menschen und die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen er lebt, zu sagen. Es wird dann nichts Geringeres als das Wesen der Kultur, der Macht, des Wissens, der Wahrheit, der Moral etc. bloßgelegt und nach Maßstäben beurteilt, deren Strenge über jeden Zweifel erhaben ist.17

Allerdings widmen sich die Beiträge zuvorderst jenen sadistischen Folterfotografien aus US-amerikanischen Gefangenenlagern – medien- und bildwissenschaftlich, politisch oder philosophisch.18 Andere Beiträge nehmen diskurstheoretisch die so genannte Rettungsfolter und ihre juridischen Rechtfertigungsmodelle in den Blick.19 Historiografische und auch psychologischtherapeutische Werke beschäftigen sich vorrangig mit grausamen Folterungen

15 | Dianne Feinstein: »Vorwort«, in: Wolfgang Neskovic: Der CIA-Folterreport, S. 3135, hier S. 31. 16 | Vgl. Anthony Jones/George Fay: The Fay/Jones Report. Investigation of Intelligence Activities at Abu Ghraib. In: Mark Danner: Torture and Truth, S. 403-579, hier S. 447. 17 | Lutz Ellrich: »Folter als Modell. Diskurse und Differenzen«, in: Peter Burschel/Götz Distelrath/Sven Lembke (Hg.): Das Quälen des Körpers. Eine historische Anthropologie der Folter, Köln/Weimar/Wien: Böhlau-Verlag 2000, S. 27-66, hier S. 27. 18 | Vgl. Werner Binder: Abu Ghraib und die Folgen: Ein Skandal als ikonische Wende im Krieg gegen den Terror, Bielefeld: transcript 2013; Wolfgang Beilenhoff: »Bild-Ereignisse: Abu Ghraib«, in: Irmela Schneider/Christina Bartz (Hg.): Formationen der Mediennutzung, Band 1, Bielefeld: transcript 2007, S. 79-96; Carola Hilbrand: »Zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Folter und Terrorismus als performatives ›Zweieck‹«, in: eTransfers. A Postgraduate eJournal for Comparative Literature and Cultural Studies 2 (2012): The Aesthetics of Security in Literature and Visual Media, siehe www.qmul. ac.uk/cagcr/etransfers/issues/current/86153.pdf, ohne Datum. 19 | Vgl. exemplarisch Bob Brecher: Torture and the Ticking Bomb. Malden (Massachusetts): Blackwell Publishing 2007.

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in Südafrika, China, Bosnien oder Serbien.20 Und eine Vielzahl von Beiträgen diskutiert in einer Beobachtungsschleife zweiter Ordnung die bebilderten Diskussionen über Folter – wobei diese beobachtertheoretische Komponente meist unbeachtet bleibt –, bis es scheint als würde weniger über Folter gesprochen als darüber, wie über Folter gesprochen wird.21 Sämtliche Beiträge problematisieren primär die sichtbaren und sagbaren Evidenzphänomene von Folter – die Körper der Folteropfer, die Bilder der Folterpraktiken und die Texte der Folteranalysten und Foltergesetze. Die Perfidität der spurlosen Sauberen Folter bleibt hingegen ein analytisches Randphänomen, unsichtbar und offenkundig unsagbar. Die doppelte Unsagbarkeit der Sauberen Folter erfasst also einerseits die Opfer der Sauberen Folter und andererseits die (Folter-)Diskurse. Das Vorhaben der vorliegenden Studie besteht in einer Gegenbewegung als einem Dritten. Sie sucht explizit nach Möglichkeiten eines Zugangs zur sprachlichen Vermittlung der Sauberen Folter. Dabei steht unweigerlich die Aporie im Raum, ein Nichtsagbares sagen zu wollen, weshalb ausdrücklich und an vielfacher Stelle von vorsichtigen Annäherungen gesprochen wird. Der Gegenstand der folgenden Überlegungen ist somit nicht nur die Saubere Folter, sondern auch die Perfidität ihres Verschwindens und ein Versuch, sich diesem Verschwinden entgegenzustellen.

1.2 M e thodische Ü berlegungen I: A naly tische The atr alität Die folgenden Überlegungen reagieren auf die multidimensionale Abwesenheit der Sauberen Folter – ihre Abwesenheit am Körper, in der Sprache und im Diskurs. Sie suchen dazu die noch zu thematisierende Nähe der Angewandten Theaterwissenschaft und bringen eine analytische Phänomenbeschreibung der Sauberen Folter auf den Weg. So treten sie dicht an die Saubere Folter heran und setzen dazu an, ihre Wirkmechanismen zu entschlüsseln, die sie am Körper nicht(-)sichtbar werden lassen. Ferner fragen sie nach den Problemen 20 | Vgl.: Burschel/Distelrath/Lembke (Hg.): Das Quälen des Körpers; Karsten Altenhain (Hg.): Die Geschichte der Folter seit ihrer Abschaffung, Göttingen: V & R Unipress 2011; Sepp Graessner/Norbert Gurris/Christian Pross (Hg.): Folter. An der Seite der Überlebenden. Unterstützung und Therapien. München: Verlag C.H. Beck 1996. 21 | Vgl. Thomas Weitin (Hg.): Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA, Bielefeld: transcript 2010; Susanne Krasmann: »Imagination und Zerstörung. Beobachtungen zur Folter-Debatte«, in: Reinhold Görling (Hg.): Die Verletzbarkeit des Menschen. Folter und die Politik der Affekte, München: Wilhelm Fink Verlag 2011, S. 99-126.

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ihrer sprachlichen Vermittlung, die sie nicht(-)sagbar werden lassen. Sie imaginieren, was dem Folteropfer widerfährt, und fragen: Was geht hier vor? Eine erste zentrale Grundlage der analytischen Untersuchung Sauberer Folter muss daher dem Problem begegnen, wie ein Phänomen der Absenz verfolgt und vermittelt werden kann, wenn es sich doch beständig entzieht. Wie können Worte gefunden und Wirkungsweisen entschlüsselt werden? Auf welche Weise kann das Trauma der Sauberen Folter einer symbolischen Sphäre zugänglich werden? Kann es überhaupt ein Begriffsinstrumentarium der Sauberen Folter geben und wie muss es beschaffen sein? Diese erste Grundlage ist methodisch zu verstehen und durchdringt alle weiteren Überlegungen. Sie orientiert sich primär an den Überlegungen Helga Finters zu einer analytischen Theatralität, die ihrer theaterwissenschaftlichen Theorie vom subjektiven Raum entstammen.22 Ausgangspunkt dieses Anschlusses ist die eingangs beschriebene SIGNA-Performance, die offenkundig inszenatorische und ästhetische Strategien verfolgt, die im Kontext des Theaters produktiv gemacht werden, im Kontext der Folter jedoch destruktiv wirken. Jenseits eines hier nicht auf der Stelle lösbaren moralischen Problems, zeitgenössisches Theater und Saubere Folter in eine bedrohliche Nähe zu rücken, sind diese (Inszenierungs-)Strategien in theaterwissenschaftlichen Diskursen offenkundig beschreibbar, analysierbar und letztlich sagbar.23 Die Überlegungen zur Sauberen Folter stellen sich daher in Kapitel 2 Suche nach dem verlorenen Wort die Frage, ob ein theatrales Begriffsinstrumentarium auch außerhalb des theatralen Rahmens analytisch genutzt werden kann, um sich dem Trauma der Sauberen Folter anzunähern. Dafür spricht etwa, dass Finter Theatralität als »Ergebnis eines Spiels von An- und Abwesenheit«24 beschreibt und dabei zwischen konventioneller und analytischer Theatralität unterscheidet. Konventionelle Theatralität setze ein »Wirklichkeitsmodell, ein Reales unhinterfragt voraus […]. Eine solche Theatralität ist nicht interaktiv, sondern interpassiv.«25 [Herv. i. O.] Daran anschließen 22 | Vgl. Helga Finter: Der subjektive Raum. Band 1: Die Theaterutopien Stéphane Mallarmés, Alfred Jarrys und Raymond Roussels: Sprachräume des Imaginären, Tübingen: Gunter Narr Verlag 1990. 23 | Vgl. beispielhaft Benjamin Wihstutz: Der andere Raum: Politiken sozialer Grenzverhandlung im Gegenwartstheater, Zürich: Diaphanes 2012; Peter Kümmel: »Begehbarer Albtraum«, in: Die Zeit vom 28.04.2011, siehe www.zeit.de/2011/18/Theater-Koeln. 24 | Helga Finter: »Identität und Alterität: Theatralität der performativen Künste im Zeitalter der Medien«, in: Walter Bruno Berg et al. (Hg.): Imágenes en vuelo, textos en fuga. Identidad y alteridad en el contexto de género y medio – Fliegende Bilder, fliehende Texte. Identität und Alterität im Kontext von Gattung und Medium, Frankfurt a.M.: Vervuert Verlag 2004, S. 233-250, hier S. 239. 25 | Ebd., S. 242.

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lässt sich etwa die soziologisch geprägte Theatralitätsforschung, die primär auf Metaphorisierung und Analogisierung von dramatischen Theatermodellen auf eine unhinterfragte Wirklichkeit hin setzt.26 Eine analytische Theatralität hingegen, so Finter, lese »dieses Reale, dieses Modell, diesen anderen [sic!] als Konstrukt«27. Dabei bezieht sie sich auf den Körper und die Sinne als Medien zu eben dieser Konstruktion im Theater. Nach Jacques Lacan, auf den sich Finter maßgeblich stützt, erfährt das Subjekt bereits im frühen infantilen Stadium die Ordnung des Körpers als getrennt von der Ordnung der Sprache, sodass ein dem Symbolischen Heterogenes entsteht – jener imaginäre Rest, der nie in der symbolischen Ordnung der Sprache aufgeht. Dieses Unverfügbare, nahezu Traumatische, charakterisiert Finter als tiefe körperliche Erfahrung, die beständig nach Verlautbarung drängt. Von den Arbeiten Stéphane Mallarmés, Philippe Roussels, Alfred Jarrys und Antonin Artauds ausgehend liest Finter deren avantgardistische Theaterutopien als Ausdruck jenes Unverfügbaren – in einem Theater des subjektiven Raumes. Dieser Raum wird von Körper und Sinnen, von visueller und sonorer Wahrnehmung determiniert. Im subjektiven Raum eröffnet sich ein neuer Sprachraum des unverfügbaren, traumatischen Imaginären, das über die szenische Ästhetik des Theaters in ein Symbolisches eingeht. Darin besteht nach Finter eine Theatralität mit analytischem Potential, da Nichtsagbares in Stimmen, Lauten, Klängen oder Bewegungen artikuliert werden kann. Im Folgenden soll dieses Modell aufgegriffen und umgedacht werden – könnte die Idee einer analytischen Theatralität einer performativen Phänomenbeschreibung der Sauberen Folter zugute kommen, wenn sich eben dieses Trauma wesentlich über den Angriff auf die Sinne des Folteropfers realisiert? Kann dieses Phänomen, das sich gerade über die leibliche Wahrnehmung seines Opfers vollzieht und dadurch der Sprache entzieht, dann nicht in ein Symbolisches eingehen – und zur Sprache kommen? Wie aber kann eine solche analytische Theatralität der Sauberen Folter funktionieren? An dieser Stelle kann diese Frage noch nicht geklärt werden. Die Klärung dieser Frage vollzieht sich vielmehr im Verlauf der folgenden 26 | Vgl. etwa die aktuellen Beiträge Erika Fischer-Lichtes oder Herbert Willems zur Debatte um eine Theatralisierung (oder Theatralität) von Gesellschaft: Erika FischerLichte: Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften, Tübingen/Basel: Francke Verlag 2004; Herbert Willems (Hg.): Theatralisierung der Gesellschaft: Band 1: Soziologische Theorie und Zeitdiagnose, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009. Sie berufen sich zu einem großen Teil auf Erving Goffman, den Vordenker dieser Theatralitätssoziologie. Vgl. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München: Piper 1969. Diese Beiträge werden noch zu diskutieren sein. 27 | Finter: »Identität und Alterität«, in: Walter Bruno Berg et al. (Hg.): Imágenes en vuelo, textos en fuga, S. 233-250, hier S. 242.

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Überlegungen, die eine analytische Theatralität der Sauberen Folter in Kapitel 2 Suche nach dem verlorenen Wort zwar ausführlich konzeptualisieren, jedoch erst in den Folgekapiteln erproben und weiterentwickeln. Dazu konfrontieren sie – sich an die SIGNA-Performance erinnernd – theaterwissenschaftliche Diskurse etwa des postdramatischen Theaters oder der jüngeren Performanceund Aktionskunst mit dem Problem der Abwesenheit der Sauberen Folter. Denn die avantgardistischen Formen des Theaters, so Finter, ermöglichen die Präsenz eines Heterogenen, das gerade von Absenz und Entzug gekennzeichnet ist. Sie spielen mit Abwesenheit, proklamieren die Anwesenheit von Abwesenheit, lassen verschwinden und erscheinen und problematisieren damit implizit das Motiv, das konstitutiv für die Saubere Folter ist. Dies ist, was die Verbindung zu der hier anvisierten analytischen Theatralität der Sauberen Folter schafft. So wie das von Finter untersuchte Theater einem Unverfügbaren Ausdruck und Gestalt verleihen und es somit symbolischen Sphären zugänglich machen kann, so soll eine analytische Theatralität diese Sphären in den folgenden Kapiteln auch für die Saubere Folter öffnen. Vor diesem Hintergrund wenden sich die folgenden Überlegungen in der analytischen Phänomenbeschreibung der Sauberen Folter von einer Metaphorisierung des vorwiegend dramatischen Theaters auf ein unhinterfragte Wirklichkeit hin ab und orientieren sich an konkreten zeitgenössischen Theater- und Performanceproduktionen, an deren Ideen, Strategien und Beschreibungsmöglichkeiten. Das bedeutet auch, sich auf die ursprünglichen Bedeutungen theatraler Begriffe zu besinnen, sie jenseits der konventionellen, theatersoziologischen Verwässerung wieder einzugrenzen und zu konkretisieren – auf einen destruktiven Gegenstand hin, der sich entzieht. Wie eine analytische Theatralität funktionieren kann, klärt sich somit performativ im Verlauf ihrer Anwendung. Die analytische Theatralität stellt somit die Methode aller weiteren Überlegungen dar. So liest Kapitel 3 Suchbewegungen I: Räumlichkeit und Verschwinden die Praktiken der Sauberen Folter als symbolische Praktiken, in denen die Folter räumlich erscheint, aber auch verschwindet. Die Inszenierungsstrategien der Sauberen Folter, die in der szenischen Manipulation der Umgebung des Häftlings wurzeln, werden in Kapitel 4 Suchbewegungen II: Inszenierungsstrategien der Sauberen Folter betrachtet. Im darauffolgenden Kapitel 5 Suchbewegungen III: Performance und Performativität im Verhör ergänzt sich diese analytische Theatralität um den Aspekt der Performances von Akteuren, die in Folterhandbüchern nahezu drehbuchartig beschrieben werden. Das theatrale Begriffsinstrumentarium, das in diesen Überlegungen als analytische Theatralität im Werden begriffen ist, ermöglicht so ein Zur-Sprache-Kommen der Sauberen Folter, ihres Unverfügbaren, Traumatischen, Entzogenen, ja, ihres düsteren Geheimnisses.

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1.3 M e thodische Ü berlegungen II: (N icht-)S uchen und (N icht-)F inden Um dieses Vorhaben zu realisieren, muss zunächst geklärt werden, auf welcher Grundlage von Quellenmaterial ein Abwesendes beobachtet werden kann. Die Überlegungen sehen sich einer Vielzahl paradoxiegeladener Problemstellungen gegenüber – nicht nur im Vorfeld, sondern auch in ihrem Verlauf. Jede Überlegung zur Sauberen Folter begleitet die Überlegung, auf welcher Grundlage sie überhaupt erfolgen kann, wenn das Phänomen von Entzug geprägt ist. Diese Überlegungen werden im Folgenden als Suchbewegungen bezeichnet, die die Saubere Folter verfolgen und beobachten, sich aber auch verirren und scheitern. Die folgenden Ausführungen zeigen erste Suchbewegungen auf. Sie stellen sich die Frage, wie und anhand welchen Materials über die Saubere Folter gesprochen werden kann, wenn sie scheinbar nie gewesen ist. Dabei wird die Abwesenheit der Sauberen Folter in den Suchbewegungen spürbar – denn interessanterweise führt die Suche nach Quellen oftmals zu keinerlei Funden. Wer nach der Sauberen Folter sucht, der findet nicht. Was gefunden wird, geht aus einer Aufmerksamkeit für Fußnoten, Randnotizen und Zwischentöne hervor, die selten weiter thematisiert werden. So blieb das Thema der Sauberen Folter etwa auf den Konferenzen des Forschungsprojekts Die Wiederkehr der Folter28 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf zwischen 2009 und 2012 weitgehend ausgeblendet. Zentrale Themenkomplexe waren Folterphänomene in politischen Konfliktregionen, in Ländern wie Israel und Palästina oder auf dem afrikanischen Kontinent, Folterungen in der Geschichte, Asylpolitik oder Repräsentationen der Folter im Film und in der Literatur. Begleitet wurden die vielschichtigen und tiefschürfenden Beiträge von Deutungsangeboten etwa zu einer geopolitischen Psychopathologie der Folter, zur Historisierung des Traumas, zu gesellschaftlichen Ursachen, Folgen oder Verpflichtungen. Auf der ersten Konferenz wurde eine vorsichtige Nachfrage zum Thema der Sauberen Folter zunächst aufgeschoben und später, vermutlich unbeabsichtigt, im knappen Zeitmanagement der Konferenz nicht mehr aufgegriffen. In der zweiten Konferenz vollzogen sich die Diskussionen zum Themenkomplex des Foltertraumas als Unsagbares in endlosen Schleifenbewegungen, bis die Diskussionsteilnehmer einhellig die fundamentale Unklarheit der Verwendung sämtlicher Begriffe, Kategorien, Definitionen, Bezeichnungen oder Labels erkannten. Was man wusste, war, dass man nichts wusste. Immerhin konnte 28 | Eine Beschreibung des Forschungsprojekts sowie der Einzelprojekte und Konferenzen findet sich online, siehe https://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/folter/. Die »interdisziplinäre Studie über eine extreme Form der Gewalt, ihre mediale Darstellung und ihre Ächtung« (ebd.) verfolgte interdisziplinäre Zugänge zwischen medizinischen, medienwissenschaftlichen und rechtswissenschaftlichen Ansätzen.

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man sich damit trösten, dass man den Kern des Traumas performativ in der Tagung umgesetzt hatte. Das Trauma kann weder gesagt noch gewusst werden – (nur) das war klar. Der Begriff der Sauberen Folter blitzte einzig im Nebensatz eines Vortrags des Musikwissenschaftlers Christian Grüny auf, der das Phänomen der akustischen Folter durch Musik eindringlich thematisierte.29 Die Recherchen in wissenschaftlichen Bibliotheken bezeugten die konsequente Absenz der Sauberen Folter im Folterdiskurs. Primär finden sich historische oder politische Arbeiten zur Folter als Gewalt, die am Körper des Opfers agiert. Diese Arbeiten konzentrieren sich auf ihre semiotischen Implikationen und kulturellen Hintergründe und untersuchen diese in juristischen Ordnungskategorien. Nur wenige Arbeiten inkludieren differenzierte Perspektiven auf Formen spurloser Gewaltausübung am Körper. Sie beziehen sich primär auf eine strukturelle oder systemimmanente Form von Gewalt, die von ihren Opfern gar nicht bemerkt wird, sie aber unterschwellig prägt.30 Die Spurlosigkeit dieser Gewalt ist zugleich eine Spürlosigkeit – die Gewalt kann, soll und darf nicht gespürt werden, insbesondere am Körper. Die Beschäftigung mit der spurlosen Gewalt der Sauberen Folter jedoch erfordert eine spezifische Aufmerksamkeit für ihre Spurlosigkeit, die gerade eine Konzentration der Gewalt auf das Spüren involviert, für eine Spurlosigkeit, die sich über die menschliche Wahrnehmung realisiert und in der sensorischen und mentalen Desorientierung destruktiv wirkt. Einige wenige historiografische Werke widmen sich dieser Gewalt der Sauberen Folter, darunter die monumentale Monografie Torture and Democracy31 des US-amerikanischen Historikers Darius Rejali. Auf über 850 Seiten dokumentiert Rejali mannigfaltige Methoden einer den Körper nicht versehrenden Folter vom Beginn der Neuzeit an bis ins 20. Jahrhundert hinein, vorwiegend der westlichen Welt, um so seine These zu belegen: »There ist a long, unbroken, though largely forgotten history of torture in democracies at home and abroad.«32 Rejali zufolge führen die Spuren der Sauberen Folter zurück bis in die Zeit der amerikanischen Sklaverei vom 16. bis 19. Jahrhundert. Allerdings basierten die Strafpraktiken von Sklavenhändlern auf einem auf unsichtbare Verwundung angelegten Strafsystem, das keineswegs über die Kanäle der sensorischen Wahrnehmung operierte. Flache Schläge in die weichen Regionen des Körpers (Paddling) oder auf gestreckte Gelenke von gefesselten 29 | Vgl. auch Christian Grüny: »Von der Sprache des Gefühls zum Mittel der Qual. Musik als Folterinstrument«, in: Reinhold Görling (Hg.): Die Verletzbarkeit des Menschen, S. 177-192. 30 | Vgl. exemplarisch Frank Jacob: Diktaturen ohne Gewalt? Wie Diktatoren ihre Macht behaupten, Würzburg: Königshausen und Neumann 2013. 31 | Darius Rejali: Torture and Democracy. 32 | Ebd., S. 4.

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Knöcheln und Ellbogen (Bucking) verhinderten das Sichtbarwerden von disziplinären Defiziten eines bestraften Sklaven.33 Bis ins 20. Jahrhundert hinein folterten Militärs in Kolonien auf der Grundlage solcher Praktiken, jedoch ohne ein darüber hinausgehendes strategisches Fundament der schleichenden psychischen Zermürbung von Gefangenen etwa im Verhör. Auch in britischen, französischen und amerikanischen Gefängnissen ist bis zu dieser Zeit die strafende Repression bei Vermeidung jeglicher Beweislast durch saubere, aber schmerzhafte Foltertechniken verbreitet. Im 20. Jahrhundert, so zeichnet Rejali nach, wandeln sich die historischen Möglichkeitsbedingungen von Folter durch die Veränderung des westlichen Wertesystems. Bedrohungsszenarien scheinen allgegenwärtig, die potentielle Ausbreitung des Kommunismus und die atomare Konfrontation des Kalten Krieges, das Risiko eines rezidiven Überraschungsangriffs wie dem der japanischen Flotte auf Pearl Harbor sowie geheime Versammlungen von Terrorzellen im In- und Ausland beherrschen den politischen Diskurs. Im diskursiven Gesichtskreis solcher Szenarien, so diagnostiziert Rejali, gewinne ein geheimdienstliches Wissen im Dienste der Sicherheit sukzessive an Bedeutung – und damit die möglichst effiziente Produktion dieses Wissens im Verhör. Alarmiert von bizarren Geständnissen und Bekenntnissen in stalinistischen Schauprozessen bis in die 1950er Jahre hinein, der öffentlichen Thematisierung von Fällen der so genannten Gehirnwäsche im kommunistischen China und eindrücklicher Berichte amerikanischer Kriegsgefangener aus dem Koreakrieg erwachse Mitte des Jahrhunderts das Interesse an der strategischen Manipulierbarkeit des menschlichen Bewusstseinsapparats. Wissenschaftliche Studien aus den 1950er und 1960er Jahren zeugen von der massiven Suche nach einem Zugang zum Inneren des Menschen als kybernetische Informationsquelle.34 Verhaltensforschung berührt sich wissenschafts33 | Das Paddling entstammt ursprünglich den Strafpraktiken in der Seefahrt und wurde später von den Franzosen, Briten, Griechen und Sowjets in Verhörstuben und Gefängnissen adaptiert. In den 1920er Jahren wendeten französische Ermittler diese Technik gar auf den expliziten Wunsch der Verhörten hin an, wie Rejali explizit vermerkt, damit diese gegenüber Mitwissern die Preisgabe von Informationen rechtfertigen konnten. Angesichts dieser ungeheuren Verdrehung muss davon ausgegangen werden, dass die Zermürbung von Gefangenen hier zwar nicht als strategisch und intentional zu bezeichnen ist, aber dennoch offenkundig eintritt. Darüber hinaus lässt sich hier eine Umkehrung von Rechtfertigungsrhetoriken im Kontext der Folter ausmachen, die ebenfalls als Perversion zu begreifen ist. Dazu und zu den folgenden Ausführungen vgl. Rejali: Torture and Democracy, S. 9, 271ff., 347ff.; 34 | Vgl. für einen Überblick Dominic Streatfeild: Brainwash. The Secret History of Mind Control, New York: Thomas Dunne Books 2007. Eine Gesamtschau der kommunistischen Methoden findet sich in Almerindo E. Ojeda: »What is Psychological Torture?«,

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historisch mit Gehirnforschung, Psychopharmaka-Feldstudien, fragwürdigen Humanexperimenten und ersten Entwürfen der psychiatrischen Psychotherapie.35 Die Sehnsucht nach der Entschlüsselung des »Code[s] menschlichen Bewusstseins«36 verbindet das neue Erkenntnisinteresse und führt dabei auch zur Entwicklung von Verhörtechniken wie der sensorischen Desorientierung. An dieser Stelle muss bereits der Versuchung entgangen werden, die Vereinigten Staaten und deren Geheimdienste als Ausnahmefälle der Folterforschung zu präsentieren. Aufgrund einer hochgradig unsicheren Quellenlage sowie zahlreicher Hinweise auf diese Entwicklungen auch in weiteren westlichen Ländern sind die USA vielmehr als paradigmatisches – und immerhin quellenreiches – Beispiel anzusehen.37 Nach Rejali können hinsichtlich der Etablierungswege der Sauberen Folter im Verhör lediglich zwei Hypothesen verfolgt werden: Nach der »Universal Monitoring Hypothesis«38 tauche Saubere Folter überall dort auf, wo intensive Beobachtung staatlichen Handelns aufin: Ders. (Hg.): The Trauma of Psychological Torture, Westport (Connecticut): Praeger 2008, S. 9-17, hier S. 4. Die breit angelegten amerikanischen Forschungen von Verhöroder Foltertechniken im Rahmen der Eindämmungspolitik gegen die UdSSR legen ihre Deutung als Wettbewerbsnarrativ nahe. So resümiert der Leiter des CIA Medical Staff: »There is ample evidence in the reports of innumerable interrogations that the Communists were utilizing drugs, physical duress, electric shock, and possibly hypnosis against their enemies. With such evidence it is difficult not to keep from becoming rabid about our apparent laxity.« US Senate, Select Committee to Study Government Operations with Respect to Government Activities: Foreign and Military Intelligence, Book I-VI: »Final Report of the Select Committee to Study Governmental Operations with Respect to Intelligence Activities.« Washington: U.S. Government Printing Office 1975, S. 393, siehe www.aarclibrary.org/publib/contents/church/contents_ church_reports_book1. htm; vgl. Alfred McCoy: Foltern und foltern lassen. 50 Jahre Folterforschung von CIA und US-Militär, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins Verlag 2005, S. 33; Alexander Bahar: Folter im 21. Jahrhundert. Auf dem Weg in ein neues Mittelalter? München: Dt. Taschenbuch-Verlag 2009, S. 40ff. 35 | Vgl. dazu auch Joost A.M. Meerloo: The Rape of the Mind: The Psychology of Thought Control, Menticide, and Brainwashing, Cleveland (Ohio): World Publishing 1956. 36 | Vgl. Alfred McCoy: »Eine kurze Geschichte der Psychofolter durch die CIA«, in: Harrasser/Macho/Wolf (Hg.): Folter, S. 323-351, hier S. 325. 37 | Wolfgang Neskovic, ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof, vermerkt in seinem Vorwort zum Bericht des US-Senats zum Internierungs- und Verhörprogramm der CIA, es gebe etwa »keinen Bericht des Deutschen Bundestages, der ähnlich präzise und umfassend […] Auskunft über die Arbeitsweisen der deutschen Geheimdienste im Kampf gegen den Terror gibt«. Wolfgang Neskovic: »Vorwort des Herausgebers«, in: Ders. (Hg.): Der CIA-Folterreport, S. 7-12, hier S. 9. 38 | Rejali: Torture and Democracy, S. 13.

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grund demokratischer Transparenzideale herrscht. Nach der »Universal Distributor Hypothesis«39 hingegen hat eine politische Elite Agenten niedrigeren Ranges im professionellen Gebrauch sauberer Techniken über Jahrzehnte hinweg trainiert. In seiner Studie akzentuiert Rejali, dass Saubere Folter durchaus und gezielt auf die Physis seines Opfers zugreift, etwa bei der Verwendung von Elektroschocks, der Zwangsverabreichung von Drogen, dem Waterboarding oder gezielten Faustschlägen in die inneren Organregionen.40 Indem der Autor damit aber implizit schmerzhafte körperliche Empfindungen als Determinanten der Wirkungsmechanismen Sauberer Folter in den Vordergrund stellt, diese ferner als illegitime Praxis westlich-demokratischer Staaten präsentiert, vernachlässigt er eine Differenzierung zwischen diesen geächteten Praktiken und den in eben diesen Staaten offiziell legitimierten und gar belobigten Verhörtechniken der sensorischen und mentalen Desorientierung wie Hitze und Kälte, Stresspositionen, Schlafentzug, Lichtbombardement oder Lärm. Auf gerade diese Techniken der Sauberen Folter, deren Sauberkeit durch Unsichtbarkeit und Unsagbarkeit bis in den Diskurs hineinreicht, konzentrieren sich jedoch die folgenden Überlegungen. Aufgegriffen werden diese legitimierten Techniken der Sauberen Folter von dem US-amerikanischen Historiker Alfred McCoy. McCoys Dokumentation basiert auf einer auf die Vereinigten Staaten konzentrierten, nahezu kriminalistischen Ermittlungsarbeit.41 Er verfolgt eine genealogische Linie der auch von Rejali untersuchten Studien zur Entschlüsselung des menschlichen Bewusstseins, die hauptsächlich vom US-Geheimdienst CIA in Auftrag gegeben wurden. McCoy konzentriert sich zunächst auf die Arbeiten des Psychologen Alfred Biderman, der 1959 die kommunistischen Verhörtechniken aufgearbeitet hatte: Isolation, Monopolisierung von Aufmerksamkeit durch sensorische Stimulation, Entkräftung durch Hunger, Hitze, Kälte oder Schlafentzug, Erzeugung und Kultivierung von Angst, pervertierte Sanktionsmechanismen wie etwa Belohnung statt Bestrafung, demonstrative Omnipotenz des Verhörenden, Erniedrigung und abwegige, ständig wechselnde Regelungen im Gefängnisalltag.42 Interessanterweise bemüht McCoy eine Theatermetaphorik, wenn er diese Techni-

39 | Ebd., S. 14. 40 | Ebd., S. 108ff., 190ff., 269ff., 385ff., 41 | Vgl. v.a. McCoy: Foltern und foltern lassen; McCoy: A Question of Torture?; McCoy: »Eine kurze Geschichte der Psychofolter durch die CIA«, in: Harrasser/Macho/Wolf (Hg.): Folter, S. 323-351. 42 | Vgl. etwa Alfred Biderman: The Manipulation of Human Behavior, New York: John Wiley & Sons 1961.

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ken auf einer halben Seite als »Art eines totalen Theaters«43 oder »perverse Inszenierungskunst«44 beschreibt: »[D]as Stück, das hier gegeben wird, endet unerbittlich mit dem Selbstverrat des Opfers und mit seiner Zerstörung […]. Die Folterkammer selbst ist deshalb eine Art Theaterbühne mit spezieller Beleuchtung, mit Soundeffekten, Requisiten und Kulissen.«45 Bidermans Forschungen, so McCoy, bildeten die Grundlage für das CIAGroßprojekt MKUltra, das insgesamt 149 Forschungs- und 33 Unterprojekte aus der Neurowissenschaft, Psychologie, Verhaltens- und Kognitionsforschung in Kooperation mit Krankenhäusern, Forschungseinrichtungen und Ministerien in den USA, Kanada und Großbritannien in sich vereint. Die Projekte testen unter anderem in Südvietnam, Brasilien, Uruguay, im Iran und auf den Philippinen bizarre Mittel zur Manipulation des Bewusstseins, Kombinationen aus Hypnose und Psychotherapie, Temperaturschwankungen und Schlafentzug, Elektroschocks und sensorische Deprivation. Das erklärte Ziel der Forschungen war die Auflösung sämtlicher kognitiver Schemata der Probanden. Konzentrationspunkt vieler Studien bleiben Isolation, sensorische Desorientierung und Deprivation – so auch in den Forschungen Donald O. Hebbs, der als einer der Begründer der Neurowissenschaften gilt. Er verwendet keine hochtechnologischen Geräte, sondern schalldichte Kopfhörer, milchige Taucherbrillen oder mit Schaumstoff gepolsterte Anzüge, die den Probanden perzeptive Sinnesreize entziehen. Die Folge der perzeptiven Isolation sind massive Halluzinationen.46 Weitere Forschungen in Großbritannien oder in einer anglo-amerikanischen Institution im deutschen Oberursel in der Nähe von Frankfurt a.M. schließen sich an und widmen sich der Erforschung von white noise als Foltermethode, welche die sensorische Deprivation in sensorisches Bombardement verkehrt – mit ähnlichen Effekten auf psychische und neuronale Systeme.47

43 | McCoy: »Eine kurze Geschichte der Psychofolter durch die CIA«, in: Harrasser/Macho/Wolf (Hg.): Folter, S. 323-351, hier S. 332. 44 | Ebd. 45 | Ebd. 46 | Vgl. dazu auch Rejali: Torture and Democracy, S. 368ff. Solche Verfahren manifestieren sich auch in den Forschungen Ewen Camerons, einem kanadischen Kollegen Donald Hebbs. Er experimentiert mit einer Kiste, in der Probanden von allen Sinnesqualitäten depriviert werden – eine Testperson verbleibt 35 Tage lang in einer sensorischen Deprivationskiste. Vgl. dazu Alfred McCoy: »Legacy of a Dark Decade: CIA Mind Control, Classified Behavioral Research, and the Origins of Modern Medical Ethics«, in: Ojeda (Hg.): The Trauma of Psychological Torture, S. 40-69, insbes. S. 47. 47 | Vgl. Rona M. Fields: »The Neurobiological Consequences of Psychological Torture«, in: Ojeda (Hg.): The Trauma of Psychological Torture, S. 139-162, hier S. 142.

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Sämtliche Forschungen der 1950er und 1960er Jahre ergeben, so McCoy, dass sich psychoseähnliche Zustände und abnorme Funktionen des Gehirns durch gezielte Manipulationen der Umwelt, durch Sinnesreize und komplexen psychischen Druck auslösen lassen. Kognitive Funktionen setzen aus, logische Fähigkeiten lösen sich auf, das Gefühl für die eigene Identität und den eigenen Körper zerfällt. Nach zehn Jahren der systematischen Forschung kodifiziert die CIA diese Techniken im Handbuch KUBARK als humanpsychologische Verhörmethoden, das für geheimdienstliche Verhöre im Kalten Krieg vorgesehen war.48 Von den 1960er bis 1970er Jahren kooperierte die CIA mit dem Office of Public Safety (OPS), das als Abteilung der US Agency for International Development (USAID) Berater an die Polizeibehörden in Entwicklungsländern schickte – insbesondere nach Südvietnam, wo sich nicht nur die Folterlehre ausbreitete, sondern auch die Folterforschungen im so genannten PhoenixProgramm fortsetzten.49 Als ein Gerichtsprozess gegen den Kommandeur der US Special Forces wegen der mutmaßlichen Hinrichtung eines VietcongSpions aufgrund zahlreicher Aussageverweigerungen von CIA-Beamten folgenlos blieb, richtete sich die Aufmerksamkeit des Kongresses auf diese und weitere geheime CIA-Aktivitäten – nicht zuletzt, da ein CIA-Beamter in einem Senatsausschuss aussagte, im Rahmen des Phoenix-Programms seien mehrere Tausend Menschen getötet worden.50 Die Fälle der Folterschulungen durch CIA und OPS begannen, in den internationalen Massenmedien zu kursieren und der US-amerikanische Kongress leitete Ermittlungen ein.51 Aus diesen ging hervor, dass bereits Mitte der 1950er Jahre Folterschulungen an Militäreinrichtungen in weltweitem Umfang begonnen hatten, welche über die folgenden Jahrzehnte fortgesetzt und erweitert wurden. Das Handbuch KUBARK war bis in die 1970er Jahre hinein in Lateinamerika und Vietnam zirkuliert und hatte auch den asiatischen Raum erreicht.52 Mitarbeiter des amerikanischen Senators James Abourezk fanden in 48 | Vgl. McCoy: Foltern und foltern lassen, S. 40ff., insbes. S. 49. Vgl. ferner US-Untersuchungsbericht über das Internierungs- und Verhörprogramm der Central Intelligence Agency, hg. v. Wolfgang Neskovic, S. 74. 49 | Vgl. ebd., S. 55. 50 | Vgl. McCoy: Foltern und foltern lassen, insbes. S. 62, 79ff. 51 | Vgl. dazu auch R. Matthew Gildner: »Psychological Torture as a Cold War Imperative«, in: Ojeda (Hg.): The Trauma of Psychological Torture, S. 23-39, hier S. 32f. 52 | Im gleichen Zeitraum erforscht der amerikanische Psychologe Philipp Zimbardo im als Stanford-Prison-Experiment bekannt gewordenen Versuch, wie sich unter den besonderen Bedingungen der Gefangenschaft die Grenzen zwischen Täter- und Opferrollen in die Psyche der Beteiligten einschreiben. Während die als Wärter ausgewiesenen Personen zunehmend autoritäre und in Teilen höchst sadistische Verhaltensmuster

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den Abschlussarbeiten einiger Absolventen von Polizeischulen, etwa in Südvietnam, explizite Hinweise auf Folterschulungen dieser Berater, die vor allem psychologische Folter umfasste. Im Jahr 1975 berichtet Amnesty International, dass diese Berater als Ausbilder an den Polizeischulen entsprechender Länder tätig waren und dass dabei »Folter zur Tagesordnung gehörte«53. Forschungsaktivitäten und Opferzahlen der Folterforschung und -lehre werden veröffentlicht, doch etwaige Strafverfolgungen der Verantwortlichen werden nicht eingeleitet. Investigative Journalisten und Autoren, sogar ehemalige CIA-Agenten veröffentlichen Bücher zum Thema der Folter etwa im Rahmen des Phoenix-Programms. Die öffentliche und somit Medienreaktion auf die Enthüllungen besteht jedoch in »the great void«54. Immerhin wird auf Initiative des Senators Abourezk das Office of Public Safety aufgelöst und der Kongress streicht sämtliche finanziellen Mittel für die Beratung und Ausbildung von Polizisten und Militärs durch die CIA.55 Im Jahr 1988 berichtet die New York Times allerdings über eine modifizierte und erweiterte Wiederauflage des Handbuchs KUBARK, das Human Resource Exploitation Training Manual (HRETM). Es entstammt der Feder eines anonymen CIA-Autors und wurde in einem Schulungskurs des honduranischen Militärs im Jahr 1983 verwendet.

zeigten, adaptierten die Gefangenen zügig die Opferrolle und fügten sich den hierarchischen Strukturen. Auffällig ist, dass die Merkmale der Gefangenen sich einerseits an der Kleidung manifestierte, andererseits an der Identifizierungsstrategie über Nummern statt Namen. Nach wenigen Tagen musste das Experiment abgebrochen werden, da sadistische Praktiken und Misshandlungen auftraten. Vgl. Philipp Zimbardo: Das Stanford Gefängnis Experiment. Eine Simulationsstudie über die Sozialpsychologie der Haft, Goch: Santiago Verlag 2005. 53 | Ebd., S. 57. Vgl. dazu auch den Amnesty-Bericht, auf den McCoy hier referiert: Vgl. Amnesty International: Report on Torture, London: Amnesty International Publications 1975, insbes. S. 157f. (Kapitel zur Folter auf den Philippinen), S. 163ff. (Kapitel zur Folter in Südvietnam), siehe www.amnesty.org/en/library/asset/ACT40/001/1975/ en/d63fb4a3-a50a-4cb8-ad1a-ab60bb7b3721/act400011975eng.pdf. 54 | Alexander Cockburn/Jeffrey St.Clair: Whiteout: The CIA, Drugs, and the Press, New York/London: Verso 1998, S. 211. In den Enthüllungen halten die Verfasser enttäuscht fest: »I thought in 1978 when our books were appearing, when we were doing media work all over the world, that we would finally get the story out, the vaults would be cleansed, the victims would learn their identities, the story would become part of history […]. Instead, what happened was the great void.« 55 | Vgl. McCoy: »Eine kurze Geschichte der Psychofolter durch die CIA«, in: Harrasser/ Macho/Wolf (Hg.): Folter, S. 323-351, S. 330.

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Über die Hintergründe weiterer Folterforschungen und Folterschulungen der CIA seit den späten 1970er Jahren kann nur spekuliert werden.56 Erst Mitte der 1990er Jahre veröffentlicht die Baltimore Sun auf der Grundlage des Freedom of Information Act (FOIA) große Abschnitte aus dem Handbuch HRETM.57 Teile des Handbuchs finden sich heute im Feldhandbuch der US-Armee, dokumentiert McCoy. Er verweist ferner auf einen 2006 freigegebenen Bericht des Pentagon, der in einer Untersuchung der verschärften Verhörtechniken in Gefangenenlagern das Projekt SERE (Survival, Evasion, Resistance, and Escape) erwähnt. In diesem Projekt wurden Soldaten bis ins 21. Jahrhundert hinein auf Gefangenschaft und Folter durch die gegnerische Seite vorbereitet und entsprechend geschult. Der Bericht verweist darauf, dass eben diese Techniken, gegen die sich die Soldaten zu verteidigen lernen, in einem Handbuch für das Lager Guantánamo mit dem Titel Standard Operating Procedures aufgeführt sind, das Anwendung in den Lagern Bagram und Abu Ghraib fand.58 Und auch der US-Senatsbericht aus dem Jahr 2014 belegt, dass 56 | Vgl. US-Untersuchungsbericht über das Internierungs- und Verhörprogramm der Central Intelligence Agency, hg. v. Wolfgang Neskovic, S. 75; McCoy: Foltern und foltern lassen, S. 84. McCoy vermerkt, dass die CIA unter dem Deckmantel eines militärischen Beraterprogramms der US-Armee bis in die späten 1980er Jahre hinein humanpsychologische Schulungen durchführen konnte. Seine Quellen sind in diesem Punkt allerdings äußerst dürftig. Es wird etwa nicht deutlich, wer diese und weitere Schulungen nach der Streichung der Mittel durch den Kongress finanziert haben kann. Vgl. McCoy: »Eine kurze Geschichte der Psychofolter durch die CIA«, in: Harrasser/Macho/Wolf (Hg.): Folter, S. 323-351, hier S. 330. 57 | Vgl. die Aufarbeitung von Gary Cohn/Ginger Thompson/Mark Matthews: »Torture was Taught by CIA. Declassified Manual Details the Methods Used in Honduras«, in: Baltimore Sun vom 27.01.1997, o.S. 58 | Vgl. Office of the Inspector General of the Department of Defense: »Report No. 06-INTEL-10, Review of Department of Defense-directed Investigations of Detainee Abuse (U)«, siehe www.fas.org/irp/agency/dod/abuse.pdf vom 25.08.2006. So mahnt SERE etwa: »Do not shame or humiliate a man in public. […] Shame is given by placing hoods over a detainee’s head. […] Placing a detainee on the ground […] implies you are God. This is one of the worst things we can do.« Hier lässt sich die Perversion einer Logik erkennen, wie sie auch der ehemalige US-Präsident Bush bemühte, als er 2004 die Veröffentlichung von Folterfotografien untersagt, weil sie die Privatsphäre der Opfer verletzen könnten. Vgl. Bahar: Folter im 21. Jahrhundert, S. 85f. Vgl. ferner zur Anwendung der SERE-Techniken im Camp Delta: Mark Benjamin: »The CIA’s Torture Teachers«, siehe www.salon.com/news/feature/2007/06/21/cia_sere/index_np.html vom 21.06.2007; vgl. ferner Mark Danner: »The Logic of Torture«, in: The Terra Nova Series (Hg.): Abu Ghraib. The Politics of Torture, Berkeley: North Atlantic Books 2004, S. 17-46, insbes. S. 32ff.

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die gewaltsamen Verhörmethoden in veränderter Form für das Verhör von Terrorverdächtigen genehmigt und angewendet wurden.59 McCoys engagierte Nachforschungen zu den noch heute in Gefangenenlagern verwendeten Techniken Sauberer Folter kommen zu dem Schluss: »Die leise Zustimmung für und die laute Begeisterung über harte Methoden beruhen zu einem guten Teil auf Fehlinformationen und, mehr noch, auf Unkenntnis über die komplexe Pathologie der Folter.«60 Die Aufarbeitung einer Pathologie der Sauberen Folter ist in McCoys Dokumentation allerdings auch nicht vollständig, denn er untersucht einzig die Entwicklungslinie der Sauberen Folter in den Vereinigten Staaten. Es kann vermutet werden, dass jene von McCoy bemängelte Unkenntnis über die Pathologie, aber auch über das Ausmaß der Sauberen Folter daraus erwächst, dass sich Beiträge auf die USA konzentrieren und dabei ausblenden, dass auch in anderen westlichen, etwa den europäischen Ländern, gefoltert worden ist und noch immer wird. Im Nordirland-Konflikt wurden 14 mutmaßliche Mitglieder der Irish Republican Army den so genannten five interrogation techniques unterzogen, dem Schlafentzug, dem Entzug von Mahlzeiten, dem Verhüllen des Kopfes, dem Lärm und der Stressposition des Stehens auf Zehenspitzen, wobei das Gewicht des Häftlings auf den an einer Wand abgestützten Fingerspitzen liegt. Ferner erregten öffentliche Debatten um die Vernichtungshaft, Isolationshaft oder Isolationsfolter politischer Gefangener im Deutschland der 1970er Jahre Aufmerksamkeit.61 Schließlich wurden weder alle der heute existierenden geheimen Gefangenenlager, in denen Saubere Folter stattfindet, noch die Techniken der Sauberen Folter ausschließlich von der US-Regierung geschaffen – Rejali zeigt weitere Wurzeln in Polen, Frankreich, Großbritannien und dem nationalsozialistischen Deutschland auf.62 Kapitel 3 der vorliegenden Studie befasst sich ferner mit der Räumlichkeit Sauberer Folter und liefert weitere Belege für eine Beteiligung europäischer Staaten an der Folterung von Terrorverdächtigen. Die Entwicklungsgeschichte der Sauberen Folter und durchaus auch ihr 59 | US-Untersuchungsbericht über das Internierungs- und Verhörprogramm der Central Intelligence Agency, hg. v. Wolfgang Neskovic, S. 46. 60 | McCoy: Foltern und foltern lassen, S. 141. 61 | Die RAF-Ausstellung der Berliner KunstWerke rekonstruierte 2005 einen Einzeltrakt, um die Eindrücklichkeit der Isolationstechniken für Zuschauer erfahrbar zu machen. Empfohlen wird »eine Verweildauer von 10 Minuten, in denen jeder sein persönliches Nichts erfahren«⁠ kann. Gerd Koenen: »Camera Silens. Das Phantasma der ›Vernichtungshaft‹«, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, Band 2, Hamburg: Hamburger Edition 2006, S. 994-1010, hier S. 998. 62 | Vgl. Rejali: Torture and Democracy, insbes. S. 11-15; vgl. ferner die Ausführungen im Kapitel Räumlichkeit und Verschwinden zu den (Nicht-)Orten der exterritorialen Gefangenenlager.

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gegenwärtiger Vollzug kann somit nicht einzig auf geheimdienstliches Vergehen der Vereinigten Staaten zurückgeführt werden. Wird nun die Suche nach der Sauberen Folter im Umfeld von Bibliotheken und Archiven reflektiert, so stößt sie vor allem auf genealogische Historiografien sowie auf Untersuchungen der phänomenalen Evidenzen von Folter am Körper, auf analytische Reflexionen von Folterdebatten oder politisch-traumatologische Deutungsangebote. Ein Diskurs der Sauberen Folter kommt ohne diese größtenteils tiefschürfenden Überlegungen nicht aus. Gleichwohl zeigt sich hier eine Lücke: Es mangelt an einem phänomenologischen Ansatz des dichten Herantretens an ein so drängendes Problem gesellschaftlicher und kultureller Gegenwart. Es muss die Frage gestellt werden: Wie funktioniert die Saubere Folter? Es muss eine genaue Untersuchung der Techniken der Sauberen Folter sowie ihrer komplexen spurlosen Wirkungsweisen unternommen werden. Die Saubere Folter als Phänomen der Absenz bleibt im Diskurs auch aufgrund der Tendenz unsichtbar, sie durch Abstraktionen und Distanz erlaubende Problemstellungen zu verdecken – eine Tendenz, die diese Studie zu vermeiden versucht, ohne den Anspruch auf ein vollständiges Gelingen zu erheben. Die an einer solchen Phänomenbeschreibung orientierte Recherche ist auf Primärquellen gestoßen. So sind etwa die Handbücher KUBARK und HRETM über einen Zugang zum Digital National Security Archive (DNSA) der Universität Washington verfügbar, für den – wenn auch über Umwege – eine Nationallizenz erworben werden konnte.63 Beide Handbücher beinhalten detaillierte Beschreibungen von zahlreichen Techniken Sauberer Folter, insbesondere der sensorischen und mentalen Desorientierung. Im Folgenden werden diese Handbücher sowie einige juridisch-politische Memoranda aus den Jahren 2002 bis 2009, die diese Verhörtechniken legitimieren, zu einer zentralen Grundlage des nahen Herantretens an die Saubere Folter. Da die darin beschriebenen Techniken ausdrücklich der gezielten inneren Zerstörung von Subjekten dienen64 und sie die gleichen massiven Langzeitschäden wie 63 | Das Digital National Security Archive der George Washington University ist online zu finden, siehe http://www2.gwu.edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB122/index.htm. Heute sind die Handbücher im Internet verfügbar. Die George Washington University stellt KUBARK und das Human Resources Exploitation Training Manual frei zum Download zur Verfügung, siehe http://www2.gwu.edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB122/ CIA %20Kubark %201-60.pdf (KUBARK Teil 1 aus dem Jahr 1963); http://www2.gwu. edu/~nsarchiv/NSAEBB/NS AEBB122/CIA %20Kubark %2061-112.pdf (KUBARK Teil 2 aus dem Jahr 1963); http://www2.gwu.edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB122/CIA %20 Human %20Res %20Exploit %20A1-G11.pdf (HRETM aus dem Jahr 1983). 64 | So heißt es etwa im HRETM: »The ›questioner‹ tries to enhance this effect, to disrupt radically the familiar emotional and psychological associations of the subject.«

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Folterungen, die den Körper versehren, zeitigen65, werden sie in den weiteren Überlegungen unmissverständlich als Folterhandbücher bezeichnet. Bei der Durchsicht der Handbücher und Memoranda, insgesamt rund 500 Seiten regelrechter Folteranleitungen, ergibt sich ein weiteres methodisches Problem, das nach der Suche einer weiteren zentralen Grundlage der Quellenarbeit verlangt: Entscheidende Stellen sind geschwärzt, teils fehlen ganze Abschnitte oder Seiten. Die daraufhin angestellte Recherche im deutschlandweit größten Archiv zum Thema Folter, der Bibliothek des Zentrums für Folteropfer in Berlin, die über zahlreiche Primärquellen verfügt, blieb für dieses Problem vollkommen ergebnislos. Die Hoffnung, über die Nationallizenz hinausgehende Materialen zu finden, wurde enttäuscht. Stattdessen findet sich dort der Sammelband einiger Traumaforscher, die sich der psychologischen Folter vorwiegend historisch und unter der Berücksichtigung der Beteiligung von Psychologen widmen.66 Sie behandeln die Entwicklung der so genannten Gehirnwäsche im kommunistischen China ebenso wie die sensorische Desorientierung in Gefangenenlagern. Dabei beziehen sie konkrete Fallbeispiele in ihre Überlegungen ein und verweisen – in einer Fußnote – auf das Guantánamo Testimonials Project des Centers for the Study of Human Rights in the Americas der University of California (UC Davis). Ein Teil dieses 2005 ins Leben gerufenen Guantánamo Testimonials Projects besteht im Auf bau und in der Pflege einer gewaltigen Online-Datenbank, welche die Zeugenaussagen von insgesamt 779 ehemaligen GuantánamoHäftlingen versammelt. Alle Häftlinge unterlagen über viele Jahre hinweg der Sauberen Folter – einer von ihnen war insgesamt neun Jahre lang inhaftiert.67 Hinzu kommt eine Sammlung von zahlreichen Aussagen ihrer Anwälte, Ärzte, Therapeuten und sogar ihrer Verhörbeamten.

HRETM, S. 84. Vgl. zum Brechen des Subjektes durch Saubere Folter auch die Ausführungen in den weiteren Kapiteln der vorliegenden Arbeit, insbesondere im Kapitel Suchbewegungen III: Performance und Performativität im Verhör. 65 | Vgl. zu den Studien zu Langzeitfolgen der Sauberen Folter Metin Basoglu: »Torture vs. Other Cruel, Inhuman, and Degrading Treatment. Is the Distinction Real or Apparent?«, in: Archives of General Psychiatry, Vol. 64 No. 3 2007, S. 277-285, hier S. 277; Harrasser/Macho/Wolf: »Schmerzgrenzen: Politik, Technik und mediale Dramaturgie der Folter. Zur Einführung«, in: Dies.: Folter, S. 9-26, hier S. 25. 66 | Vgl. Ojeda (Hg.): The Trauma of Psychological Torture. 67 | Vgl. die Zeugenaussage des Guantánamo-Häftlings Noor Uthman Muhammed. Vgl. Anonymus: »Statement of Noor Uthman Muhammed at his Military Commission«, siehe http://humanrights.ucdavis.edu/projects/the-guantanamo-testimonials-project/ testimonies/prisoner-testimonies/statement-of-noor-uthman-muhammed-at-his-military-commission/vom 17.02.2011.

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Die Lektüre lässt schweigen. Diese Reaktion offenbart eine Hürde für die phänomenologische Annäherung, die – nicht nur an dieser Stelle – genommen werden muss, immer wieder auftaucht, im Weg steht und überwunden werden will. Aufgrund der bloßen Anzahl der nun vorliegenden Zeugenaussagen musste ihrer analytischen Lektüre und Verwendung ein differenziertes Auswertungssystem zugrunde gelegt werden. Es lagen sowohl Aussagen in ihrem Original vor als auch in Form von Zitaten, die in Zeitungsartikel von investigativen Journalisten oder Anwälten und Menschenrechtsorganisationen eingebettet sind. Sämtliche dieser Quellen ließen sich in den ersten Sichtungen um etwa die Hälfte reduzieren, da einige Zeugen gemeinsam aussagten und Interviews gaben, einige Beiträge bereits aus dem Archiv entfernt worden sind oder ausschließlich aus der indirekten Rede von Folteropfern bestehen. Aus etwa 300 Dokumenten konnten schließlich rund 100 Zeugenberichte aufgrund ihrer hohen Dichte an Aussagen und Aussagekraft zur weiteren Verwendung selektiert werden. Diese Zeugenaussagen der Opfer Sauberer Folter stehen in den weiteren Ausführungen, Überlegungen und analytischen Beschreibungen im beständigen methodischen Dialog mit den Folterhandbüchern und juridisch-politischen Memoranda. Hinzu kommen offizielle Ermittlungsberichte etwa der Vereinten Nationen, die vom US-amerikanischen Journalistik-Professor Mark Danner nicht zufällig im Jahr 2004 publiziert wurden, in dem auch die Folterfotografien an das mediale Tageslicht drängten – das Cover seiner Publikation zeigt die zur Ikone des Guantánamo-Skandals gewordene Fotografie des so genannten Kapuzenmannes.68 Dieser methodische Dialog bringt im Verlauf der Suchbewegungen eine so strenge wie grausame Lehre des Folterns und ihre entsetzliche Erfahrung zusammen und nähert sich dem Phänomen der Folter an, das sich dazwischen vollzieht.

1.4 M e thodische Ü berlegungen III: S puren von S puren In den verschlungenen Suchbewegungen nach der Sauberen Folter spiegeln sich nun die subtilen Mechanismen ihres Verbergens. Wer sucht, der findet nicht. Was gefunden wird, konnte nicht gesucht werden. Ihr Entzug prägt die Recherche. Damit reicht die Perfidie, mit der die Saubere Folter vorgeht, bis in ihre Thematisierung hinein, bis in die folgenden Überlegungen, die sich ihr gerade entgegen stellen. Diese Konfrontation ist keine offene, sie versteckt sich auf Metaebenen, im Subtext, letztlich in den Suchbewegungen selbst, die daher im Folgenden noch einmal in den Blick gerückt werden. 68 | Vgl. Mark Danner: Torture and Truth.

1. Eine Phänomenologie der Folter schreiben

Dies ist einerseits als Hindernis anzusehen, das die Suche erschwert. Die Suchbewegungen nach Spuren der Sauberen Folter wissen erst, was sie suchen, wenn sie es finden. Die Saubere Folter entzieht nicht nur sich selbst, so dass sie erst gesucht werden muss, um thematisiert werden zu können. Sie entzieht darüber hinaus dieser Suche noch manche Möglichkeiten. Das hat zur Folge, dass die Suche immer auch auf der Spurensuche nach sich selbst sein muss. Erst wenn sie einen Ansatzpunkt gefunden hat, eine Spur, die die Suche ermöglicht, kann sie nach der Sauberen Folter und sodann nach Worten für dieses Absenzphänomen suchen. Die verschachtelte Dynamik der Suchbewegungen ist außerordentlich komplex und verlangt nach einer Beharrlichkeit der Analyse und Beschreibung. Die permanente Absenz muss ausgehalten werden, die Suche muss beständig fortgesetzt werden, auch wenn sie die Gefahr des Scheiterns immer mit sich trägt. Eben darum ist andererseits an einem Gedanken festzuhalten, der sich auf die beinahe intime Nähe der Sauberen Folter und ihrem Verschwinden in ihrer Thematisierung bezieht. Die perfide Wirkungsweise der Sauberen Folter durchsetzt noch die Bemühungen der Suche, die auf immer neuen Pfaden wandeln muss, um an sie heranzureichen und sie zu entschlüsseln. Sie erlaubt der Suche nicht alle Bewegungen, blockiert und hindert sie fortwährend durch ihren Entzug noch in der Theorie. Damit ist die Saubere Folter jedoch anwesend in den Suchbewegungen. Und nur wer seinen Gegenstand kennt, kann ihn einholen. Aus der Konsequenz einer Perfidie der Sauberen Folter, die bis in die Suchbewegungen hineinreicht, ergibt sich, dass sich deren Komplexität zwangsläufig im Schreibprozess niederschlägt. Insbesondere vor dem Hintergrund einer analytischen Theatralität, welche die Sprache der Untersuchung in den Dienst der Analyse nimmt, sind nicht nur die Ergebnisse und Erkenntnisse der Suche relevant für eine fundierte Aufarbeitung der Sauberen Folter. Ihr Vorgehen, ihre Blickrichtungen, Wege und Irrwege, Sackgassen und Spuren, die sich verlieren, obwohl sie anfangs so vielversprechend erschienen, schreiben sich vielmehr in den entstehenden Text ein – was einen performativen Ansatz der Studie impliziert und einen ersten Einblick in eine potentielle analytische Theatralität liefert. Die Suchbewegungen sind in ihren eigenen Text eingezeichnet, sie ergreifen und durchdringen ihn. Damit beziehen sich die Suchbewegungen zum einen auf die Saubere Folter und nähern sich ihr in einer differenzierten analytischen Beschreibung und mit einem theatralen Begriffsinstrumentarium an. Zum anderen ermöglichen sie es, die Suche selbst in den Blick zu nehmen, die – beobachtungstheoretisch formuliert – die Überlegungen einer analytischen Theatralität beobachtbar macht. Dies befördert eine Selbstreflexivität der Analyse, die freizulegen erlaubt, wie die Folter sich noch in der distanziertesten Theoretisierung unsagbar macht, aber auch wieder zur Sprache kommt. So fällt etwa

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auf, dass das Schreiben einer Phänomenologie der Sauberen Folter zu stocken beginnt, wenn die Lektüre von Zeugenaussagen Schweigen macht. An anderer Stelle gewinnt sie wiederum an Aggressivität, durchdringt energisch und nachdrücklich die grausamen und perfiden Praktiken der Folter, beschreibt und analysiert sie ohne Unterlass oder Unterbrechung. Einer langsamen und unablässig fragenden Analyse der Isolation und Deprivation folgt die in Fragmente gegliederte Analyse der Brüchigkeit einer Folter, die im beständigen Wechsel die Sinne des Gefangenen attackiert. Zahlreiche Fragen bleiben zunächst unbeantwortet, bis die Suche den Weg einer möglichen Antwort gefunden hat. So blieb bis zu einer späten Stelle der Einleitung unklar, welche Rolle die eingangs beschriebene SIGNA-Performance im vorliegenden Kontext einnimmt und was eine analytische Theatralität der Absenz, eine negative analytische Theatralität, zu bedeuten hat. Der Weg hin zur Entwicklung dieses Modell wird nicht nur als lang und mühsam beschrieben, sondern auch so dargestellt. Schließlich wird spürbar, dass auf die Darstellungen der Zeugenaussagen von Folteropfern partiell eine Flucht in fachterminologische Theoretisierungen folgt. Diese Flucht in eine Distanz erlaubende Theorie kann somit auch in den vorliegenden Überlegungen nicht gänzlich abgeschüttelt werden – und scheitert schließlich sogar. Auch hier gilt es also Formen des Schweigens zu überwinden, die den Text ergreifen.

1.5 Ü berblick : P hänomenologie der S auberen F olter Auf traumatologisch-theatralen Spuren wandelnd entwirft Kapitel 2 Suche nach dem verlorenen Wort ein differenziertes Modell analytischer Theatralität, das die Voraussetzung für sprachliche Annäherungen an die Saubere Folter schafft. Es knüpft damit an die Einleitung an, die sich wesentlich auf die Suchbewegungen nach der Sauberen Folter konzentriert hat und einige methodische Fragen noch offen lässt. Die darauffolgenden Kapitel gehen mit jener Methode analytischer Theatralität das Problem der Vermittlung eines Absenzphänomens in verschiedenen Dimensionen an. In diesen Kapiteln wird stets ein theoretischer Vorspann von unterschiedlicher Länge vorangestellt, der die zu entwickelnden und zu erprobenden Elemente analytischer Theatralität je einführt. Das Kapitel 3 Suchbewegungen I: Räumlichkeit und Verschwinden intendiert, die Spurlosigkeit der Sauberen Folter vor dem Hintergrund ihrer verräumlichten Negation in geheimen Gefangenenlagern zu verfolgen, die auf geografischen wie auch politischen Landkarten schlichtweg nicht existieren. Es verfolgt das Verschwinden der Sauberen Folter sowie noch das Verschwinden des Verschwindens der Sauberen Folter. Es verfolgt die symbolischen Praktiken ihres Abwesens. Zugleich macht das Kapitel die dringende Notwendigkeit einer

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analytischen Theatralität deutlich, weil es vorführt, auf welche Weisen andere Theorien etwa Agambens oder Foucaults scheitern. Dabei wird besonders deutlich, wie die Suchbewegungen ihren Gegenstand auch verfehlen können. Es wird spürbar, wie perfide die Saubere Folter sich ihrer Thematisierung und Theoretisierung immer wieder entzieht. In Kapitel 4 Suchbewegungen II: Inszenierungsstrategien der Sauberen Folter widmen sich die Überlegungen den symbolischen Praktiken der Sauberen Folter im Lager, welche die Motive der Leere und Überfülle in den destruktiven Dienst nehmen. In den Praktiken der Deprivation und des Bombardements der menschlichen Sinne, in der Musikfolter oder der Hitze und Kälte der Zellen, aber auch in der Stille der Isolation kann die Saubere Folter als im Raum erscheinend gedacht werden, als inszeniert im originären etymologischen Sinne der Mise en scène. Dabei realisiert sie sich zugleich über die Unsichtbarkeit am Körper ihres Opfers, die auf einer analytisch-reflexiven Ebene sichtbar gemacht werden soll. Das Erscheinen und das Verschwinden der Sauberen Folter gehen hier nicht nur Hand in Hand. Ihre Grenzen verschwimmen – und in eben diesem diffusen Dazwischen ist die Saubere Folter. Ein Vokabular für das Unsagbare zu finden ist insbesondere in der beschreibenden Analyse der mentalen Desorientierung im Verhör von Bedeutung. Kapitel 5 Suchbewegungen III: Performance und Performativität im Verhör untersucht, wie das Subjekt zum Sprechen gebracht wird, um es zugleich zum Schweigen zu bringen. In grausamen Performances und Rollenspielen, performativen Drohungsszenarien und Perversionen vollzieht sich seine schleichende Destruktion. In den Ausführungen des Kapitels offenbart sich das zerstörerische Potential einer Performativität, in der die Folter aus Darstellungen besteht, die wiederum Folter sind – ohne dass die Folter selbst je darstellbar wäre. Die folgenden Untersuchungen erschaffen das Begriffsinstrumentarium einer analytischen Theatralität, mit der ein traumatisches Phänomen einer sprachlichen Vermittlung zugänglich werden soll. Sie fahnden nach einer Sprache für das Trauma der Sauberen Folter – und verweigern sich damit ihrem Vergessen. [O]b ich das eines Tages einmal werde beschreiben können […] nein, ganz andere Worte werde ich dafür nehmen müssen, neue Worte werde ich dafür erfinden müssen.69

69 | Horst Bienek: Die Zelle, Stuttgart: Reclam 1979, S. 86f.

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2. Suche nach dem verlorenen Wort After a day in his Camp V cell, Omar had nothing more to see, touch, taste, hear or smell. He was accompanied only by his own disordered thoughts. He tried to sleep the time away, but the cold was inimical to sleep, and the incessant lighting had divested him of his feel for night and day. Over the course of any given month, Omar did not know whether he would get to see the sun, have a conversation with another human being or be allowed to wear clothes. For the past four years, Guantanamo has held him dead-still in the vacuum of his cell without ever allowing him to come to rest. The institution has made it clear to him that this will remain, for untold years, the form of his life.1

Ein Phänomen zu beschreiben zielt darauf ab, es im buchstäblichen Sinne zur Sprache kommen zu lassen, ihm also das Tor zu einer symbolischen Ordnung zu öffnen, der es zuvor entzogen war. Will man aber das Trauma der Sauberen Folter beschreiben und lässt man es an jenes Tor klopfen, so bewegt sich nichts. Es kollidiert mit einer Mauer des Schweigens – als Manifestation des Entzogenen, als objektloses Undarstellbares, das nur in seiner Abwesenheit anwesend ist und sich nur in Spurlosigkeit zeigt. Die Saubere Folter geht damit weit über ihre Unsichtbarkeit am Körper hinaus. Als Trauma lässt sie sich als Anhäufung von uneinholbaren Widerfahrnissen lesen, die sowohl kognitive als auch affektive Bearbeitungsmechanismen blockieren.2 Das Foltergeschehen bleibt dann nicht nur in seiner körperlichen Spurlosigkeit unerkennbar. Als Trauma dringt es über körperliche Grenzen 1 | Jeff Tietz: »The Unending Torture of Omar Khadr«, in: Rolling Stone 08/2006, S. 5, siehe http://humanrights.ucdavis.edu/projects/the-guantanamo-testimonials-project/ testimonies/prisoner-testimonies/the-unending-torture-of-omar-khadr. 2 | Zum Begriff des Widerfahrnisses als aus der Fremde Kommendes, das plötzlich spürbar wird, berührt, trifft, zustößt und dabei immer fremd bleibt, vgl. Bernhard Wal-

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hinweg in die Subjektivität des Opfers ein und breitet sich aus, ohne dabei Gestalt anzunehmen. Noch bevor es bewusst werden kann, noch bevor ein Prozess der Verarbeitung einsetzen und eine Reaktion erfolgen kann, bricht die Verbindung des Subjekts zu sich selbst. Das Trauma verleiht nicht nur dem Scheitern der physischen Repräsentation der Folter am Körper, sondern auch dem Scheitern der mentalen Repräsentation der Folter in einem Gedächtnis eine Bedeutung, die selbst nicht repräsentierbar ist – eine doppelte Negation, die ihr Positiv nicht kennt. Ein solches Scheitern spiegelt sich in den Versuchen der Opfer die Saubere Folter zu versprachlichen wider. Wenn ein Sprechen möglich ist, so äußert es sich in eigentümlich nüchternen Berichten, im dissoziativen Referieren chronologischer Verläufe in all ihren Details, gleich einem Beobachter, der aus dem Gedächtnis eines Anderen zitiert. Im Schutz einer distanzierten Sachlichkeit erinnern die Opfer die äußeren Umstände der Inhaftierung, Dialoge im Verhör, die baulichen Gegebenheiten im Lager oder bürokratische Einzelheiten der Freilassung.3 Die Erfahrung der Folter selbst jedoch ist von Schweigen umhüllt. Selbst wenn die Opfer zum Sprechen ansetzen, zeigt sich das Schweigen paradoxerweise noch in der Wortwahl: »Es sind dort wirklich unglaubliche Dinge geschehen«4, »Es war eine unmenschliche Atmosphäre«5, »Das Verhalten […] uns gegenüber war sehr schlecht«6. Die Unglaublichkeit, Unmenschlichkeit und Schlechtigkeit, auch die Schrecklichkeit, Grausamkeit und der Horror, mit der die Saubere Folter begrifflich zu vermitteln versucht wird, gehören einer Terminologie universell anwendbarer Begriffe an, die nichts als ihre eigene Unzulänglichkeit vor Augen führen. Das verfügbare Vokabular

denfels: Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie – Psychoanalyse – Phänomenotechnik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. 3 | Vgl. die zahlreichen Interviews und Zeitungsberichte, die vom Guantánamo Testimonials Project gesammelt wurden, siehe http://humanrights.ucdavis.edu/projects/theguantanamo-testimonials-project/index. Für eine Übersicht von Interviews mit ehemaligen Gefangenen siehe Roger Willemsen: Hier spricht Guantánamo. Roger Willemsen interviewt Ex-Häftlinge, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins Verlag 2006. Auffällig ist die nüchterne Erzählweise auch im Tagebuch Mohamedou Ould Slahis, die stellenweise von einer Ironie begleitet wird, die die Möglichkeit noch weiterer Distanzierung vom grausamen Vorgehen in sich birgt. Vgl. Mohamedou Ould Slahi: Das Guantánamo-Tagebuch, insbes. S. 63. 4 | Willemsen: Hier spricht Guantánamo, S. 168. 5 | Ebd., S. 209. 6 | Ebd., S. 46.

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stellt überfüllte Signifikanten bereit, die bloß semantische Leerstellen bilden. Die Aussagen der Folteropfer schweigen still über das Geschehene.7 Es ist jedoch darauf hingewiesen worden, dass Opfer von Traumatisierungen einem inneren Imperativ des Sprechens und des Gehört-Werdens unterliegen. Was nicht im Inneren des Subjekts repräsentiert werden kann, sucht unermüdlich nach Möglichkeiten der Vermittlung nach außen.8 Denn die Unmöglichkeit der Artikulation des Traumas führt im Verlauf der verstreichenden Zeit sukzessive zur Entstellung von vorhandenen Erinnerungen, die sich um die Erfahrung des Traumas versammeln, letztlich zu ihrer Verfremdung und ihrem Verlust, den das Opfer zu verhindern sucht. Ein steter Kampf zwischen Erinnerung und Täuschung, Täuschung und Enttäuschung beginnt.9 Folgt man Ansätzen der zeitgenössischen Traumaforschung etwa Dori Laubs oder Shoshana Felmans, so kann die Sehnsucht des Opfers als eine Sehnsucht nach Zeugen gelesen werden.10 Sie entspringt der Unfähigkeit des Opfers, aus dem Rahmen des Traumas auszutreten und als sein eigener Zeu7 | Die Trauma-Theorie bemüht sich seit den 1980er Jahren, dem Trauma zu einer Darstellbarkeit zu verhelfen. Erwachsen aus feministischer Theorie und klinischen Studien zur Unsichtbarkeit von Gewaltphänomenen bestehen die Ansätze darin, die Psychoanalyse Freud’scher und Lacan’scher Prägung um eine fundierte Aufarbeitung individueller Geschichte(n) des Subjekts zu bereichern. Es geht um das Subjekt als Schnittpunkt einer Politik der Unsichtbarkeit auf gesellschaftlichen und politischen Ebenen, die einer Form des Gedächtnisses bedarf. Vgl. beispielhaft Cathy Caruth (Hg.): Trauma. Explorations in Memory, Baltimore (Maryland): The Johns Hopkins University Press 1995. 8 | Vgl. Dori Laub/Shoshana Felman (Hg.): Testimony: Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History, New York: Routledge 1992, insbes. 78f. 9 | Vgl. ebd., S. 76. 10 | Vgl. dazu Laub/Felman: Testimony; Ulrich Baer (Hg.): ›Niemand zeugt für den Zeugen‹. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. Der Psychiater Dori Laub und die Literaturwissenschaftlerin Shoshana Felman entwickelten Anfang der 1990er Jahre eine kollaborative Gedächtnistheorie im Angesicht der Undarstellbarkeit des Traumas des Holocaust. Sie begreifen das Trauma als Krise der Zeugenschaft und den Holocaust als Ereignis, das seine eigenen Zeugen eliminiert. In Erzählungen des Opfers vor einem Zeugen zweiter Ordnung, so der Ansatz, realisiert sich eine Begleitung im Wiedererleben, die am Aufbau eines Gedächtnisses mitwirkt. Durch einen Zeugen dritter Ordnung, der die Zeugenschaft bezeugt, reduziert sich ferner die Gefahr der Annahme der Selbsttäuschung seitens des Opfers. Es scheint hier eine Theorie der Realitätsschichtung via (durch Videos medial gestützte) Zeugenschaft zugrunde zu liegen, durch die das Geschehen wie auch das Trauma selbst über die narrative Darstellung vor Zeugen eine Sicherung erfährt und Zugang zu einem Gedächtnis findet. Laub ist Mitbegründer des Fortunoff Video Archives for Holocaust Testimonies an der Universität Yale.

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ge, als Zeuge des Eigenen, zu fungieren, somit das Erlebte in einem Gedächtnis zu bewahren. Isolation und Folter setzen sich fort, wenn das Opfer »seine Gefängniszelle von damals innerlich mit sich weiterträgt«11, wenn das Trauma nicht einzuholen ist in Sprache, Denken und Gedächtnis – und sei es das Gedächtnis eines Anderen. Das Lager der Sauberen Folter jedoch kennt weder ein Außen noch Äußerungen. Im Lager ist das Vergessen am Werk. Wenn das Trauma nicht greif bar, beschreibbar, letztlich sagbar ist, wie sind dann Annäherungen an das Trauma in den folgenden Überlegungen möglich? Zunächst bietet sich ein Anschluss an die Überlegungen der amerikanischen Kulturwissenschaftlerin Elaine Scarry an. Sie befasst sich in ihrer Körpertheorie explizit mit Folter im Angesicht von Sprache – und mit Sprache im Angesicht von Folter.12 Allerdings geht sie davon aus, dass sich im Gegensatz zur psychologischen Folter nur die Schmerzfolter allen Möglichkeiten der Versprachlichung absolut versagt. Der Schmerz sei vollendete Objektlosigkeit, die die Sprache ihrer Referenzen beraube, welche ihn kommunizierbar werden ließen. Die radikale Subjektivität, die der Schmerzerfahrung eigen sei, versetze den Gefolterten auf eine Stufe vorsprachlicher Entwicklung, in eine Welt der Laute statt der Worte. Psychologische Folter hingegen verfüge über einen »Inhalt, der als Referenz dienen kann«13 – den Scarry aber nicht weiter benennt oder mit Beispielen veranschaulicht. Angesichts dieser klar formulierten Prämisse verwundert Scarrys Fülle schillerndsten Wortreichtums, mit der sie die Schmerzerfahrungen der Folter beschreibt. So greift sie auf eindringliche Beschreibungen des Schmerzes in den Werken Franz Kafkas und Jean-Paul Sartres zurück sowie auf prunkvoll ausgeschmückte Folterbeispiele, welche Scarry zufolge die »Kontraktion und vollends die Auflösung der Welt«14 bedeuteten und den Schmerz zu einem »Nichtkommunizierbaren«15 transformieren. Schmerz, so eine darin eingebettete These, werde als Macht gelesen, erzeugt also ferner einen lesbaren Text am Körper.

11 | Ferdinand Haenel: »Fremdkörper in der Seele«, in: Graessner/Gurris/Pross (Hg.): Folter. An der Seite der Überlebenden, S. 14-48, hier S. 18. Ferdinand Haenel ist Facharzt für Psychiatrie und Psychologie am Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin. 12 | Vgl. Elaine Scarry: Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 1992. 13 | Ebd., S. 22. 14 | Ebd., S. 59. 15 | Ebd., S. 12. Scarry meint damit die Unfähigkeit, ein sprachliches Äquivalent für Schmerz zu finden. Sie unterteilt diese Unmöglichkeit in das Unvermögen, die Attribute des Schmerzes zu objektivieren und das Unvermögen, diese auf den menschlichen, eigenen Leib zurück zu beziehen.

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Die Inkonsistenz dieser Theorie stützt sich nicht nur auf das Paradox der absoluten Ausdrucks(un)möglichkeiten und des Schmerzes als – wenn schon nicht in Worten, so doch am Körper ausgedrückten – Text. Scarry spielt schließlich auf den Schmerz als Erfahrung an, in die Sprache nicht hineinreichen kann. Fragwürdig ist jedoch, warum die psychische Foltererfahrung über eine Referenz verfügen soll, die sie der Sprache und die Sprache ihr zugänglich macht. Kann Sprache in die psychische Foltererfahrung hineinreichen? Dies ist zu bezweifeln, denn jene Referenz der psychischen Folter, von der Scarry ausgeht, müsste in sprachlichen Konstruktionen bestehen – die Scarry gerade für die Schmerzfolter vorführt, wenn sie diese beschreibt oder existierende Beschreibungen von Schmerzfolter zitiert. Jedoch fehlen den Opfern der Sauberen Folter offensichtlich eben solche Möglichkeiten der Beschreibung. Hinzu kommt, dass der Schmerz ebenso wenig in Beschreibungen wohnt wie die psychische Foltererfahrung, Sprache also weder in das eine noch das andere hineinreicht.16 Denn die Folter ist als Trauma in einer Sphäre objektloser Unsagbarkeit. Sie ist, indem sie sich entzieht. Es muss davon ausgegangen werden, dass beide Versionen des Foltertraumas der Sprache verloren gehen, denn sie genügt weder dem psychischen Leiden noch der Schmerzerfahrung. Anstatt psychische Folter also gegen Schmerzfolter auszuspielen und die wertende Aussage zu suggerieren, Schmerzfolter sei ein schwerwiegenderes Trauma als die psychische Foltererfahrung, muss eine andere entscheidende Differenz in den Blick genommen werden, die Scarry hier nicht sieht. Während eine Beschreibung der Erfahrung des Schmerzes auf Metaphorik, Analogisierung und Vergleiche zurückgreifen kann – man denke an den bohrenden oder stechenden Schmerz –, sind die Beschreibungsmöglichkeiten der Erfahrung Sauberer Folter äußerst beschränkt, wie die Aussagen ihrer Opfer belegen. Schwer wiegt damit nicht nur die Unmöglichkeit der Vermittlung traumatischer Foltererfahrungen, sondern auch die Unmöglichkeit des Zugangs zu einer Gemeinschaft: Much more than to yield information or confessions, torture is primarily used to deliberately and systematically dismantle one’s identity and humanity. Its central purpose is to destroy a sense of community, eliminate leaders, and create a climate of fear in the individual victim as well as in the community.17

16 | Hier zeigt sich, dass bereits ein begriffliches Äquivalent der psychischen Foltererfahrung zum Schmerz fehlt. Dabei sei angemerkt, dass Saubere Folter nicht mit psychischer Folter gleichzusetzen ist. Stresspositionen sind körperliche Foltermethoden, die ihre Wirkung über Schmerz entfalten, sich aber nicht sichtbar am Körper zeigen. 17 | Claudia Catani/Frank Neuner/Christian Wienbruch/Thomas Elbert: »The Tortured Brain«, in: Ojeda (Hg.): The Trauma of Psychological Torture, S. 173-188, hier S. 173.

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Während der Schmerz eine Gemeinschaft hat, kann er doch in sprachlicher Kommunikation in ein Set von Gefühlen und Begriffen übersetzt werden, fehlt dies bei der Erfahrung Sauberer Folter. Jedoch kann im Schmerz die Gewissheit um dessen Zufügung, das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins nicht übersetzt werden. Darin besteht das Trauma, die psychische Komponente der Gewalt, die auch hier unsagbar bleibt. Unsagbarkeit resultiert also nicht nur aus der Diskrepanz zwischen Fühlen und Sprechen, die in der psychischen und der Schmerzfolter besteht, sondern aus der Distanz des Opfers zu einer Gemeinschaft – und zu sich selbst. Dem Opfer der Sauberen Folter fehlt eine Gemeinschaft, weil seine Erfahrung keinen Ort in einem Symbolischen hat, weder in der Sprache noch am Körper. Die Sauberen Folter ist somit wesentlich ortlos. Dennoch gibt es Versuche der sprachlichen Vermittlung Sauberer Folter. Begriffe der Unglaublichkeit und Unmenschlichkeit fallen, der Unvorhersehbarkeit oder Unkontrollierbarkeit. Unsichtbarkeit und Unsagbarkeit dominieren auch die hier vorgenommenen Annäherungen. Die unübersehbare semantische Dominanz des Un verweist auf die Unmöglichkeit der Vermittlung als wesentliches Merkmal der Sauberen Folter. Während Begreif barkeit mit Formen des Verstehens assoziiert ist, Vorhersehbarkeit mit Gewöhnung, Kontrollierbarkeit mit Zahlen und Daten, Sichtbarkeit mit Visualität und Sagbarkeit mit Worten und Sätzen, lassen sich ihre Negative nicht klar zuordnen. Unbegreif barkeit oder Unsagbarkeit lösen keine imaginativen Verweisungsmechanismen aus. Darin zeigt sich die bereits erwähnte semantische Leerstelle. Es stellt sich gar die Frage, (in)wie(fern) diese Begriffe überhaupt etwas bezeichnen. Und es drängt sich die Vermutung auf, dass sie nur über die Differenz des Un ein bezeichnendes Potential entfalten. Das Un als semantisches Moment der Negation impliziert die Differenz zu Positivismen. Das Vakuum des Lagers erlaubt jedoch keine Umkehrung, es setzt das Negativ absolut. Es erlaubt nicht einmal das Potential einer Aufhebung der Negation. Das Un semantisiert so die Leere des Traumas und zersetzt die Verbindung zwischen Positiv und Negativ. Obschon eingelassen in die symbolische Ordnung der Sprache, verstopft das Un den Zugang zu einem Realen, den ein Symbolisches sonst gerade ermöglicht.18 18 | Diese Lacan’sche Lesart lässt an Freuds Versuch einer Annäherung an das Unheimliche – auf dem Wege einer Analyse von Sprache – denken. In seinem Aufsatz über das Unheimliche bemerkt Freud eine seltsame Unschärfe in der literarischen Verwendung des Begriffs. Jedoch folgt er nicht der Dichotomie heimlich/unheimlich, die sich zwischen Vertrautheit und Fremdheit aufspannt. Nach Freud ruft das Unheimliche vielmehr etwas Ureigenes, aus der infantilen Phase stammendes, auf und macht es wieder erlebbar. Darin liegt das Potential der Literatur, über die Freud zu diesem Schluss kommt. Sie belebt das Unheimliche, das in der Erfahrung wortlos bleiben muss. Andere

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Das Erleben der Sauberen Folter entzieht sich somit nicht nur einer Medialität des Körpers, der Gewalt in Wunden und Narben sichtbar machen kann, sondern auch der Vermittlung durch Sprache. Eben diese Abwesenheit zeichnet die Saubere Folter aus, was als eine Grundlage ihrer Theoretisierung dienen kann. Denn wenn sich die Saubere Folter gerade in ihrer Abwesenheit zeigt, bedeutet dies, dass sie keine konkrete Gestalt besitzt und doch über eine besondere Präsenz verfügt. Sie präsentiert sich dann theoretisch in ihrer Absenz. Wenn es also möglich ist, die Weisen ihres Abwesens und ihrer Abwesenheit zu beschreiben, so werden Annäherungen an die Saubere Folter denkbar. Ihre Praktiken ließen sich als symbolische Praktiken lesen, die zwar ihrer Absentierung dienen, in denen sie aber auch aufscheint. Der Sauberen Folter wäre dann eine seltsame Form der Apräsenz eigen – sie erscheint, indem sie sich entzieht. (Wie) lässt sich die Saubere Folter also konkret thematisieren, wenn sie sich nicht äußert? Diese Fragen liegen unter der vorzunehmenden Phänomenbeschreibung, die sich ihrer Beschränktheit stets bewusst bleiben muss. Sie unternimmt den Versuch einer Annäherung an eine Sprache für ein Phänomen, das keine Sprache hat, für ein Undarstellbares, das undarstellbar bleibt. Es gilt daher, in einem gleichsam performativen Ansatz in der Beschreibung nach Worten zu suchen, die der Erfahrung der Sauberen Folter den Eintritt in eine symbolische Sphäre gewähren und die Übersetzung, letztlich Gestaltung, ermöglichen. Suchbewegungen, die sich immer nur annähern können, unterliegen damit stets einem gewissen Grad der Frustration. Es ist jedoch offenkundig, dass diese Frustration vermutlich nur einen Bruchteil der Erfahrung aufzurufen vermag, die das Folteropfer im sprachlosen Ausgeliefertsein mit sich trägt.

symbolische – oder ästhetische – Sphären wie die Kunst thematisiert er jedoch nicht. Vgl. Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, in: Ders.: Studienausgabe, Bd. IV. Psychologische Schriften. Hg. v. Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey, Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 1982, S. 241-274. Verfolgt man diese Spur bei Lacan, der sich der sprachlichen Verfasstheit des Unbewussten widmet, ergibt sich die nächste Parallele: Das Unheimliche ist bei Lacan ein Bedrohungsszenario für Sprache, weil es Angst konstituiert. Und Angst ist Teil des Realen, da ihr Objekt nicht symbolisiert werden kann. Vgl. Peter Widmer: Angst. Erläuterungen zu Lacans Seminar X, Bielefeld: transcript 2004.

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2.1 B estandsaufnahme : Ü berblick einer entgrenz ten Terminologie Auf der Suche nach Annäherungen an eine Sprache der Sauberen Folter folgen die Überlegungen nun einem theaterwissenschaftlichen Pfad. Saubere Folter ist jedoch weder der Gegenstand einer Theateraufführung noch folgen die Beschreibungsversuche einer Strömung akademischer Theatralisierung, wie sie sich in den verschiedensten Disziplinen als Methode ausgebreitet hat. Die Sprache der Theatralität hat vor allem in die Soziologie, Ethnologie und Kulturanthropologie geradezu inflationär Einzug gehalten. Der theaterwissenschaftliche Pfad birgt somit die Gefahr, sich im begriffshistorischen Gestrüpp von Theatralität und Theatralisierung, Performance und Performanz, Inszenierung und Illusion, Mimesis und Maskerade zu verheddern, das um der Abgrenzung willen im folgenden entwirrt werden muss. Vor allem seit den 1980er Jahren hat die Theatralisierung in der wissenschaftlichen Theorie Konjunktur.19 Der Begriff der Theatralität ist dabei nicht länger als theaterwissenschaftlicher Terminus zu charakterisieren, sondern dient als kultur- und sozialwissenschaftliches Modell. Metaphorisierung und Analogisierung des Theaters, terminologische Übernahmen des Theatralen vom Theater, gewährleisten einen komfortablen Zugang zu gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Phänomenen. Mit der Entdeckung der Theaterhaftigkeit ist es anerkannt, sogar die Theatralität des Theaters unter diesen Vorzeichen zu untersuchen.20 Das Theater wird als paradigmatischer Ort der Rahmung einer Wirklichkeit produktiv gemacht, die symbolische Konstruktionen benötigt, um erfasst zu werden. Der Vorteil dieser Sprache ist ein erweiterter Horizont. Der Nachteil dieser Sprache ist eine entgrenzte Heuristik. Denn mit gestiegenem Forschungsinteresse ist die Gefahr der Überdehnung der Theorierahmen gewachsen, die das Theater in den Diagnosen der Inszeniertheit von Dingen, Situationen und Zuständen zu einer soziologischen Schablone degradieren und theatralen Begriffen ihre Präzisionskraft rauben. Von politischen Parteitagen zur Soziologie der Anmache, von der Inszenierung des Coming out oder der Shopping Mall zu Dramaturgien von Sportturnieren und Inszenierungen in den (oder je nach 19 | Vgl. Herbert Willems: »Theatralität als (figurations-)soziologisches Konzept: Von Fischer-Lichte über Goffman zu Elias und Bourdieu«, in: Ders. (Hg.): Theatralisierung der Gesellschaft. Band 1, S. 75-112, hier S. 80; Josef Früchtl/Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 9; Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 317. 20 | Vgl. Rüdiger Lautmann: »Theatralisierung des Theaters«, in: Willems (Hg.): Theatralisierung der Gesellschaft. Band 1, S. 499-518.

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Affinität zu Manipulationsthesen der) Massenmedien bis hin zur Theatralität von Tätowierungen als »Konstruktion des physischen Selbst durch einen selbst«21 entfaltet sich die Uferlosigkeit des theatralen Dispositivs. Ein Großteil der jüngeren Forschungen zur Theatralität basiert auf dem Theatermodell Erika Fischer-Lichtes, das sie ursprünglich auf die Theaterpraxis bezog.22 Als grundlegende Bestimmungen von Theatralität gelten demnach die Aufführung oder Performance, die Inszenierung, Korporalität und Wahrnehmung.23 In einem kursorischen Abriss des Modells lässt sich festhalten: Determiniert durch die leibliche Ko-Präsenz der Beteiligten, Akteuren wie Zuschauern, ist die Aufführung als performativer Prozess der Hervorbringung zu verstehen, der sich innerhalb des Wechselspiels eines Handlungsvollzugs zwischen Akteuren und Zuschauern abspielt. Die Erprobung, Festlegung und stetige Wiederveränderung der Darbietung als referentielle Funktionsstelle im Gefüge bezeichnet die Inszenierung. Sie erzeugt die Materialität der Aufführung, die damit veränderlich und offen bleibt, was den transitorischen Charakter der Performanz von Darstellung und Wahrnehmung erst ermöglicht. Hervorbringung und Erzeugung sind hier voneinander zu unterscheiden. In der Verkörperung weist sich nun der phänomenale Leib als semiotischer Körper aus, Ausstrahlung und Ausdruck, das Erspüren und Entziffern des Körpers konstituieren in der Aufführung einen Prozess, in dem sich der Körper als Leib erst hervorbringt und so als bedeutsamer in die (physiologische, affektive oder kognitive) Wahrnehmung eingeht. Diese wirkt wiederum zurück auf die Aufführung. Die Assoziation von phänomenaler und semiotischer Körperlichkeit ermöglicht somit maßgeblich die Generierung, Vermittlung und Zuschreibung von Bedeutung.

21 | Alois Hahn: »Handschrift und Tätowierung«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Schrift, München: Wilhelm Fink Verlag 1993, S. 201-217, hier S. 209. 22 | Vielfältige Weiterentwicklungen resultierten aus der interdisziplinären Zusammenarbeit innerhalb des zwischen 1996 und 2003 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Schwerpunktprogramms Theatralität – Theater als kulturelles Modell in den Kulturwissenschaften. Die im Rahmen des Projekts erschienenen Sammelbände erarbeiten die Loslösung von Begriffen der Theaterwissenschaft hin zu festen Größen in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Vgl. beispielhaft Erika Fischer-Lichte/Christian Horn/Sandra Umathum/Matthias Warstat: Performativität und Ereignis (Theatralität Band 4), Tübingen/Basel: Francke Verlag 2003; Herbert Willems/Martin Jurga: Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch, Opladen: Westdeutscher Verlag 1998; Willems: Theatralisierung der Gesellschaft. Band 1. 23 | Vgl. Erika Fischer-Lichte: »Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Wege zu einer performativen Kultur«, in: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 277-300.

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Obschon das Theatermodell als zentraler Ausgangspunkt der Theatralitätsstudien dient, ist der Ursprung der Theatermetapher in der alteuropäischen Philosophie zu verorten. Eine historiografische Aufarbeitung der Strömungen seither kann hier nicht geleistet werden. Einige Ansätze sind jedoch exemplarisch zu beleuchten, um die verbreitete Verwendung vor dem Hintergrund der Herkunft theatraler Begriffe zu erhellen und zu differenzieren. Sie lassen sich in vier ineinander verflochtene Aspekte gliedern, die an den Begriff der Theatralität herangetragen werden können. Dabei fällt auf, dass es sich größtenteils um Ansätze handelt, in denen die tatsächliche Theaterpraxis kaum einen Platz hat. Die Theorie bleibt sogar stets hinter selbiger zurück.24 Epistemologisch scheint ein Referenzrahmen umso mehr an Aufmerksamkeit zu verlieren, je tiefer er als Instrument der Theorie verwurzelt wird.

2.1.1 Theatralität macht Selbst: Rollensoziologie Theatralität wird auffällig häufig von Subjekten und Körpern ausgehend auf die Selbstdarstellung des Subjekts in Interaktionen bezogen. Solche Ansätze verweisen auf Vorläufer in der Rollensoziologie, zu deren bedeutendsten Vertretern Erving Goffman gehört.25 Die Verwiesenheit auf andere, in deren Wahrnehmung sich das Subjekt spiegelt, ist eine Grundkonstante in den Kon24 | So spielt in den Theorien der Theatralität die Theaterpraxis der Performance- und Aktionskunst seit den 1960er Jahren keine Rolle. Sie lässt performative Funktionen des Vollzugs von Handlungen gegenüber referentiellen Funktionen von Darstellungen in den Vordergrund treten. Der Übergang vom klassischen zum performativen Theater manifestiert sich in eben diesem Unterschied, dass nämlich die Handlungsvollzüge der Akteure an sich bedeutsam sind und nicht auf eine Figur verweisen, hinter der das Subjekt verschwindet. Dies schlägt sich in der Formel Vom Werk zum Ereignis nieder. Referentielle Funktionen dominieren nun allerdings die Rollentheorie. Doch während diese sich ausdifferenzierte, verabschiedete sich das Theater von Rollen, die ein Wesen der Figur sichtbar machen. Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen; Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. 25 | 1959 Jahren publizierte Goffman The Presentation of Self in Everyday Life, das zehn Jahre später unter dem heute als Universalformel verwendeten Titel Wir alle spielen Theater unglücklich ins Deutsche übersetzt wurde. Goffman fundierte in diesem vielzitierten Werk die Theatermetaphorik in der Soziologie. Vgl. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Als einer der ersten Rollensoziologe muss jedoch Ferdinand Tönnies genannt werden, der 1887 die Rolle des Menschen als soziale Matrix entwarf. Sie ist ablösbar, er kann sie einnehmen, übernehmen und spielen, aber auch ablegen oder ablehnen. Vgl. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie [Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und

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zepten der Darstellung des Selbst vor anderen in der alltäglichen Kollision mit anderen Subjekten, die sich ebenfalls vor anderen darstellen. Folgt man Goffmans Interaktionsmodell, so stellt sich das Selbst durch Ausdrucksverhalten als das Selbst dar, als das es sich vor(-)stellt. Die Vorstellung des Eigenen ist dabei antizipatorisch zu denken, denn das Subjekt geht von einem vollständig entstandenen Bild von sich seitens der anderen aus, das es sich vor- und als das es sich darstellt. Das Bild des Selbst kann in dieser interaktiven Situation kontrolliert und manipulativ eingesetzt werden. Manipulation ist hier nicht mit lügnerischen Täuschungen gleichzusetzen. Vielmehr erwächst aus Ausdruckskontrolle gleichsam automatisch wie schematisch Eindrucksmanipulation.26 Ob dies als Täuschung zu bewerten sei, entscheidet die Moral, nicht die Theatralität des Vorgehens. Die Darstellung des Selbst manifestiert sich jedoch nur einerseits als Verhalten für andere. Andererseits bringt sich das Subjekt darin für sich hervor. Nach Goffman adaptiert es Wesenszüge, die es sich als eigene vorstellt – die Selbstdarstellung gerinnt zur Persönlichkeit.27 In der Darstellung gestaltet sich das Selbst, wird sich deutlich und zu jenem Dritten, als den es sich vorstellt und den es durch Darstellung bedeutet. Die Selbstdarstellung (performance) ist daher nicht als Rolle (part) zu verstehen. Vielmehr kann das Subjekt eine situativ festgelegte Rolle mit Ausdruck aufladen und ihr entsprechen – oder auch nicht. Die Selbstdarstellungen des Subjekts sind somit als Handlungen eines imaginären Dritten zu denken, den es zu repräsentieren versucht. Goffman gesteht dieser interessanten Dreieckskonstellation jedoch keine Relevanz zu. Da er das Subjekt in der Selbstdarstellung aufgehen lässt, bleibt kein Raum für die Gebrochenheit, die sich in der Konstellation artikuliert. Der Theatersoziologe Uri Rapp hingegen konzipiert die Rolle als »eine in der Hinsicht […] gegebene Ansicht, die auf das Ganze der Person verweist, ohne es zu sein«28. Während Goffman das in der Darstellung Präsente als Selbst konzipiert, geht Rapp von einem Rest aus, der sich in der Darstellung nicht darstellen lässt. Zwar konstatiert er, dass das Subjekt gesehen und typisiert – nach

des Socialismus als empirischer Culturformen 1887], Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005. 26 | So sind gemeinschaftliche Spiele oder auch fromme Lügen von Ärzten von schädigenden Lügen zu unterscheiden. Vgl. Goffman: Wir alle spielen Theater, S. 48ff, 189ff. 27 | Deutlich wird dieser Aspekt in Goffmans Verweis auf eine Formulierung Robert E. Parks, Mitbegründer der Chicagoer Schule der Soziologie, die den symbolischen Interaktionismus prägte, dass die Maske unser wahres Selbst sei. Vgl. ebd., S. 21. 28 | Uri Rapp: Handeln und Zuschauen. Untersuchungen über den theatersoziologischen Aspekt in der menschlichen Interaktion, Darmstadt/Neuwied: Luchterhand 1973, S. 95.

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Goffman gelesen – werden kann. Doch er denkt Goffmans sozial festgelegte Rolle als Modus des Mensch-Seins, der in der Wesenheit des Menschen, seiner Exzentrizität, als Verkörperung der menschlichen Potentialitäten angelegt ist, wie auch als Wissensform, die die Situationen der Interaktion mitbestimmt, eine Typisierung, mittels derer Menschen das Verhalten anderer und ihr eigenes interpretieren, bestimmen und entwerfen. 29

Hinter dieser doppelten Konstruktion steckt Helmuth Plessners kulturanthropologischer Entwurf der conditio humana eines Subjekts, das durch das SichSelbst-Vorstellen in einem Sich-Selbst-Umzirkeln wird und um sich weiß.30 Rapp führt Plessners Perspektive in die soziologische Theorie der Interaktion ein. Die Darstellung des Selbst ist im Gegensatz zu Goffmans Theorie, in der das Subjekt sich verhält und anpasst, aber nie dynamisch entwickelt, an eine unverfügbare Substanz gebunden. Sie verschwindet nicht hinter einer steuerbaren Maske, stattdessen erprobt das Subjekt den Zugang zu sich selbst immer wieder neu – durch den eigenen Leib: Die »Darstellung im Material der eigenen Existenz [verrät] eine Abständigkeit des Menschen zu sich«31. Plessners exzentrische Position des Menschen, der sich in eine Distanz zu sich selbst begeben und qua Außenperspektive selbst bespiegeln kann, führt das Selbst am Körper auf. Plessner bewahrt damit die Gebrochenheit solchen Ursprungs, die unüberbrückbare Differenz des Selbst von sich, ein Unverfügbares, dem sich nur durch fortwährende Distanzierung angenähert werden kann. Der Soziologe Herbert Willems hat das Konzept der Selbstdarstellung in einer Radikalisierung von Goffmans Theorieansätzen erweitert – hin zu einem konsumgeleiteten Identitätsmanagement. Geradezu paradigmatisch

29 | Ebd., S. 94. 30 | Plessner entwarf 1948 eine Anthropologie des Schauspielers, die auf den Nexus zwischen Theater und menschlichem Sein verweist: »In jeder [Spielart der Darstellung] manifestiert sich der Mensch auf eine zugleich unmittelbare und vermittelte, natürliche und künstliche Weise. Darum sagen sie uns in einem etwas über den Schauspieler und seine Kunst und über die menschliche Natur, deren Darstellungsfähigkeit als Gabe der Verkörperung im Schauspieler gesteigert hervortritt, als Darstellbarkeit menschlichen Seins durch die Verkörperung sichtbar wird.« Helmuth Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers (1948). In: Ders.: Gesammelte Schriften VII: Ausdruck und menschliche Natur. Hg. v. Günter Dux/Odo Marquard/Elisabeth Ströker, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 399-418, hier S. 409. 31 | Ebd., S. 407.

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führt Willems dabei die Wiederentdeckung Goffmans für die Soziologie vor.32 Das Subjekt stelle sich nicht nur in Performances dar, die sich in Rollenkontexte einbetten, sondern mache seine Identität gar mit gut verkäuflichen Eigenschaften lesbar, die Mechanismen der Integration und Zugehörigkeit in Unternehmen, auf Arbeitsmärkten oder in Subkulturen ermöglichen. Hier mutet der Begriff der Performance aus theaterwissenschaftlicher Perspektive ganz und gar provokant an, entstand doch die Performance-Kunst aus der Verweigerung nicht nur des zeitgenössischen Theaters, sondern auch »des kommerziellen, produktorientierten Kunstbetriebs«33.

2.1.2 Theatralität und Kultur: Kulturelle Modelle und cultural performance Die neuere Theatralitätsforschung, zu der Willems zu rechnen ist, beschränkt sich nicht auf die Soziologie der Selbstdarstellung. Vielmehr spannt sie ein weites Feld der Theatralität auf, indem sie die »alltäglichen und außeralltäglichen Lebenswelten, die im Prinzip ›alle Welt‹ und jedermann umfassen, betreffen und ›angehen‹«34, unter die soziologische Lupe legt. So definiert Willems Theatralität als analytisch spezifisch leistungsfähigen, aber auch konzeptuell-theoretisch integrativen und anschlussfähigen Schlüssel- und Leitbegriff, der einschlägig relevante Begriffe ›niederer Ordnung‹ wie Inszenierung, Skript oder Performanz in sich aufzunehmen und zu verknüpfen vermag. Der Theatralitätsbegriff ist also […] ein universell anwendbarer Begriff, der diverse soziokulturelle Phänomene oder Realitätsaspekte sowie eine historisch an Tragweite gewinnende sozio-kulturelle Grundkonfiguration trifft […]. 35

Die so beobachtete Theatralität bringt eine (symbolische Dimension von) Realität hervor, die von einer Realität der Theatralität zu unterscheiden ist.36 Das 32 | Vgl. exemplarisch Hans-Georg Soeffner: Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung. Zur wissenschaftlichen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989; Herbert Willems: Rahmen und Habitus. Zum theoretischen und methodischen Ansatz Erving Goffmans, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997; Willems/Jurga: Inszenierungsgesellschaft. 33 | Fischer-Lichte: »Grenzgänge und Tauschhandel«, in: Uwe Wirth (Hg.): Performanz, S. 277-300, hier S. 296. 34 | Herbert Willems: »Überblick über das Werk und Zusammenfassungen«, in: Ders. (Hg.): Theatralisierung der Gesellschaft. Band 1, S. 57-74, hier S. 57. 35 | Ebd., S. 14. 36 | Davon geht Hans Georg Soeffner aus, auf den sich Willems hier bezieht. Vgl. ebd., S. 49.

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Berliner Schwerpunktprogramm zur Theatralität untersuchte unter dieser Prämisse religiöse Rituale und Zeremonien, Demonstrationen, Sub- und Fankulturen, massenmediale Inszenierungen der Politik, des Sports und Spiels, der Shows und Stars. Theatralität dient hier als Motor der Sinngenerierung durch eine Ereignishaftigkeit, die sich mit Kommerzialisierung, Ökonomisierung und Eventisierung auf einem »Sinnmarkt«37 verkoppelt. Die Nähe von Sport und Religion, die Willems beispielhaft eröffnet, verwundert dabei kaum, dient doch die Performanz religiöser und (öffentlicher) sportlicher Aufführungen seit jeher dem Angebot von Sinn, etwa im Wettkampf oder im Gottesdienst. Diese Entwicklung gipfelt nach Willems in der Reduktion von Inhalten auf die äußerliche Form, kurz: in der Tendenz, Realität zu Theatralität verkümmern zu lassen: Im (Teil-)Bereich der Katholischen Kirche z.B. sind viele und vielfältige, aber auch spezifisch distinkte Theatralisierungen zu beobachten. Sie reichen von der gegenwärtigen Renaissance des alten Liturgie-Theaters […] bis hin zu einer prinzipiellen, wenn auch impliziten Umdefinition der ›Rolle‹ des Papstes zu einem Image- und Performance(Groß-)Unternehmer im Dienste der Corporate Identity des Unternehmens Kirche. 38

Der Begriff der Theatralität ist hier eng verwoben mit den Begriffen der Performance oder der Performativität, die in den 1950er und 1960er Jahren von Ethnologen neu entdeckt wurden und Einzug in die Literaturtheorie und Sprachphilosophie hielten.39 So bedient sich die Ethnomethodologie eines Verfahrens, das sich selbst als theatral oder zumindest als Spiel begreift. Der amerikanische Ethnologe Milton Singer entwickelte das Konzept der cultural performance, welches später von Victor Turner in seinen kulturanthropologischen Arbeiten zum social drama aufgegriffen wurde.40 Was Singer in der Idee der 37 | Ebd., S. 21. 38 | Ebd. 39 | Fischer-Lichte verweist auf performative Spuren bereits zur Jahrhundertwende bei Nikolaj Evreinov bis hin zurück zu den Arbeiten Nietzsches. Roland Barthes und John Langshaw Austin entwickelten – verschiedene – Begriffe des Performativen als wirklichkeitskonstituierender Vollzug von Handlungen durch Lektüre und Interpretation von Texten oder das Sprechen als nicht länger auf die Referentialität beschränkte Realisierung von Sprache. Vgl. Fischer-Lichte: »Grenzgänge und Tauschhandel«, in: Uwe Wirth (Hg.): Performanz, S. 277-300, insbes. S. 290-294. 40 | Vgl. Milton Singer: When a Great Tradition Modernizes: An Anthropological Approach to Modern Civilization, New York/Washington/London: Praeger 1972; Victor Turner: From Ritual to Theatre. The human seriousness of play, New York: Performing Arts Journal 1982. Interessanterweise lassen sich Erving Goffmans Ansätze an der Schnittstelle zwischen Ethnomethodologie und Symbolischem Interaktionismus situie-

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cultural performance als Überlieferung kulturellen Wissens durch die Medien der Rede, des Tanzes oder der musikalischen und mimetischen Aufführungen im Rahmen von gesellschaftlichen Veranstaltungen konzipiert, gleicht sich den Strukturen des dramatischen Theaters in einem festen Handlungsablauf mit Anfangs- und Schlussmarkierungen, einem festen Ensemble von Akteuren und dem spezifischen Ort der Aufführungen an. Das Theater avanciert zum kulturellen Modell und cultural performances zur Alternative zur zeitgenössischen geisteswissenschaftlichen Vorgabe, Kultur aus ihren Texten und Monumenten herauszulesen. Singer hebt hervor, dass Kultur durch performances hervorgebracht wird und sich in diesen verfestigt. Theater als kulturelles Modell verwirklicht Strukturmerkmale, die Singer in kulturellen medialen Formen, in Ritualen, Festen und Spielen, erkennt. Das Performative wird so nicht nur zum konstitutiven Faktor von Kultur, sondern auch von Theater als »performative[r] Kunst par excellence«41. Victor Turner reflektiert nun die enge Verwandtschaft nicht nur von Ritualen, Zeremonien oder Konzerten und Theater, sondern von Ethnografie und Theater. Durch den ethnografischen Blick auf Kultur können fremde Kulturen auf einer Bühne augenscheinlich werden. Gegen den vermeintlich objektiven »kognitiven Reduktionismus«42 als »Dehydrierung des sozialen Lebens«43 werden ethnografische Daten nicht bloß grüblerisch reflektiert, sondern in aktive korporale Akteure auf tatsächlichen Bühnen des Ethnotheaters in Seminarräumen und Forschungsstuben transformiert. Diese Aufführungen generieren Stellvertreter kultureller Bedeutung, da sie »dem Forscher nur als gelebte Erfahrung […] begreiflich sind«44. Turner bringt den Impetus dieser Herangehensweise auf den Punkt: »Making, not faking«45. Das soziale Drama spielt sich nun nach Turners Experimenten in allen Schichten der Sozialität durch einen Bruch im Gewohnten ab, der aus der Krise über Bewältigungsmechanismen zurück zur Gewohnheit gleitet. Der ren. Goffman beobachtet immerhin auf ethnografischem Wege menschliche Verhaltensmuster in sozialen Situationen und entlarvt ihren Sinnzusammenhang innerhalb von Interaktionen. Er bezieht sich in seiner Theorie der Selbstdarstellung sowohl auf George Herbert Mead, prominenter Vertreter des Symbolischen Interaktionismus, als auch auf Vertreter der Ethnomethodologie, die sich größtenteils auf die Soziologie Alfred Schütz beziehen, eine der Hauptreferenzen von Uri Rapp. 41 | Fischer-Lichte: »Grenzgänge und Tauschhandel«, in: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 277-300, S. 288. 42 | Turner: From ritual to theatre, S. 196. 43 | Ebd. 44 | Ebd., S. 193. 45 | Turner: From ritual to theatre, S. 93.

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Handlungsverlauf mit Anfang, Ende und klimatischer Dramatik setzt analog zur Theateraufführung reflexive Prozesse in Gang. Sie »unterbrechen den Fluß des sozialen Lebens und zwingen eine Gruppe, sich mit dem eigenen Verhalten in Bezug zu den eigenen Werten zu befassen, manchmal auch den Wert dieser Werte in Frage zu stellen«46. Wie auf einer Bühne bespiegeln sich die Akteure, als ob sie sich auf einer Bühne befänden – was folglich nicht die gleiche Theatralität wie die Methode des Ethnotheaters ist.47 Mit dem neuen Theaterbegriff, der sich an das Performative bindet, wird die inflatorische These der Theatralisierung der Gesellschaft verständlich. Die

46 | Victor Turner: Dramatisches Ritual – Rituelles Drama. Performative und reflexive Ethnologie. In: Uwe Wirth (Hg.): Performanz, S. 193-209, hier S. 197. Hier wird eine weitere Asymmetrie zwischen Theaterpraxis und Theatralitätstheorie ersichtlich. Was Hans-Thies Lehmann für das Theater im Europa des 20. Jahrhunderts diagnostiziert, lässt sich auf Turners Theatermetaphorik übertragen: »Theater wird stillschweigend als Theater des Dramas gedacht«. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1999, S. 20. 47 | Im Ethnotheater wird eine Nähe von Theatralität und Experiment ersichtlich. Das Ethnotheater kann als Experimentalsystem gelten, dessen Bedingungen der Wissensvermittlung kaum reflektiert werden. Ein Theater als Erkenntnisumgebung zu konzipieren bedarf indes eines Bewusstseins um die Vermitteltheit, damit das mediale Moment, der Prozess der Inszenierung als Eingriff in den Untersuchungsgegenstand, mit erfasst und der Durchblick des Beobachtenden nicht verabsolutiert wird. Das mediale Moment der Vermittlung darf nicht in seinem Ergebnis aufgehen. Diese Prämisse entlehne ich den Arbeiten Hans-Jörg Rheinbergers zur Sichtbarmachung epistemischer Dinge in den Naturwissenschaften durch technische Dinge, die in ihrer Reflexion gleichsam zu epistemischen Dingen werden. Vgl. exemplarisch Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen: Wallstein 2001. Die Affinitäten zwischen theatralen und experimentalen Ordnungen können hier als Gegenargument einer stetig schwelenden Debatte um die Leitwissenschaft(en) dienen, deren Status bereits sämtliche Wissenschaften für sich beansprucht haben – von der Neurobiologie bis zur Philosophie, von der Ökonomie bis zur Soziologie, von den so genannten Life Sciences bis hin zu einer Theaterwissenschaft, wie sie Fischer-Lichte entfaltet. Der stellenweise autoritäre Anspruch auf ein theoretisches Primat einer Wissenschaft wendet sich vor dem hier eröffneten Hintergrund hin zu einer wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit, die sich gerade aus fließenden Übergängen mit allenfalls unterschiedlichen Gewichtungen ergibt – wie sich im Fortlauf dieses Kapitels weiter zeigen wird.

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»Kultur der Inszenierung«48 sei zur »Inszenierung von Kultur«49 geworden, die sich auf gesellschaftlichen Feldern durch eine Gestaltung von Städten, Einkaufszentren bis hin zur Kleidung vollzieht. Die konsumgeleiteten Gestaltungsprozesse wirken, so Fischer-Lichte, mit an einer »›Erlebnis- und Spektakelkultur‹ […], die sich mit der Inszenierung von Ereignissen selbst hervorbringt und reproduziert«50. Die Theorie der Theatralität interessiert sich nicht mehr für Darstellungen (etwa des Selbst), sondern für die Prozesse der Hervorbringung, für das Produzieren und Herstellen, für das Machen und die Veränderung, für Dynamiken und Materialien, die Kultur konstituieren.

2.1.3 Theater macht vor und nach: Illusion und Nachahmung Die Theatermetapher blickt auf eine lange abendländische Tradition zurück, die von Soziologen auf der Suche nach Modellen oftmals übersehen wird. Die Idee des theatrum mundi, des Welttheaters, schlägt sich bereits in der Politeia nieder, in der Platon das Leben der Menschen als marionettenhafte Aufführung entwirft, deren Fäden in den Händen der Götter liegen. Die Scheinhaftigkeit menschlicher Existenz liegt auch den nachfolgenden Modellen des Welttheaters zugrunde, die auf vielfache Weise Einzug in die Theater der Renaissance und Barockzeit halten. Das Barocktheater im 17. Jahrhundert strebt nach perfekten Abbildern eines Welttheaters in der Welt des Theaters, deren Schauspieler hinter ihren Figuren zurücktreten und als Repräsentanten des in der Nichtigkeit der permanenten Scheinwelt hausenden Menschen fungieren. Illusion und Täuschung werden zu Grundkonstanten eines Welt- und Menschenverständnisses, das noch im großen Welttheater Calderón de la Barcas’ Mitte des 17. Jahrhundert als Spiel des Lebens von den Menschen vor ihrem Gott entworfen wird.51 Dieses Verständnis einer Theatralität von Welt und Gesellschaft trägt wesentlich moralische Implikationen. Die Welt der Vorspiegelung falscher Tatsachen steht im grellen Licht der Kritik an den Eitelkeiten des menschlichen Daseins. Deutlich hervor tritt eine diskursive Bipolarität: Die illusionistische Version von Welt und Mensch konfrontiert zwei distinkte Sphären, das Wahre und Echte gegen das Falsche und Unechte, was sich im 20. Jahrhundert in den Kunstdebatten der 1960er und 1970er Jahre neu formiert. Sie suchten den 48 | Fischer-Lichte: »Grenzgänge und Tauschhandel«, in: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 277-300, hier S. 291. 49 | Ebd. 50 | Ebd. 51 | Vgl. Pedro Calderón de la Barcas: Das große Welttheater [El gran teatro del mundo 1655], übers. U. hg. v. Gerhard Poppenberg, Stuttgart: Reclam 1996.

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künstlerischen Wert von Werken anhand einer Skala zwischen Authentizität und Inszenierung zu bestimmen.52 Zugrunde liegt solchen bipolaren Ansätzen der altgriechische Gedanke der Nachahmung. In Platons Politeia nimmt die Nachahmung als eine Facette der Mimesis in Kunst, Dichtung und Musik eine zentrale Position ein.53 Sie basiert auf einer Vorstellung der Imitation eines stets vorhandenen Originals, einer göttlichen Idee, was einer Ähnlichkeit als Relation zwischen unterschiedenen Sphären entspricht. Platon verdammt die sinnlichen Erscheinungen als defiziente Nachahmungen von Ideen und spricht den Künsten als Nachahmungen von Nachahmungen die Dimension des bloßen Scheins zu, der sich weit entfernt von jeder wahren Idee situiert. Obgleich sein Schüler Aristoteles in der Poetik zur Ehrenrettung der Mimesis ansetzt und die Nachahmung als potentiell verschönerndes, in jedem Fall transformierendes Zur-Erscheinung-Bringen konzipiert, kann die Nachahmung ihren Charakter als Fiktionalisierung – und damit der Schöpfung – einer zweiten Wirklichkeitsdimension, durch die jener kathartische Effekt erst gar nicht denkbar wäre, nicht abschütteln.54 52 | Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 329. 53 | Der Begriff der Mimesis versammelt heterogene Bestimmungen. So kann er neben Nachahmung auch Darstellung, Ausdruck oder Verwandeln bedeuten. In der Politeia meint Mimesis primär das Nacheifern von Vorbildern, die Nachahmung von Handlungen, oder die Figuration, in der eine Präsentation mit einer Repräsentation zusammenfällt, etwa im metaphorischen Sprachgebrauch. Letzteres zeigt sich implizit, wenn man Platon gegen ihn selbst liest: Dem mimetischen Verhalten des Sokrates in Platons Dialogen ist Platons Selbstdarstellung inhärent. Vgl. Gunter Gebauer/Christoph Wulf: Mimesis. Kultur, Kunst, Gesellschaft, Reinbek: Rowohlt 1992, S. 41, 50ff. 54 | Einen interessanten interdisziplinären Bezug zur Nachahmung fernab jeder Fiktionalisierung und doppelten Wirklichkeiten eröffnet der französische Soziologe Gabriel Tarde. 1890 formuliert er eine Theorie kultureller Evolution durch Nachahmungsphänomene. Durch die breite Rezeption Emilé Durkheims geriet sie in Vergessenheit, wird heute jedoch in der Akteur-Netzwerk-Theorie, Systemtheorie oder Rational-ChoiceTheorie wieder aufgegriffen. Vgl. Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010. Während Durkheim darauf insistiert, das Soziale als Organismus zu begreifen, der als spezieller Bereich der Realität objektiv zu beobachten sei, versteht Tarde das Soziale als durch Verbindungsketten von Akteuren Zirkulierendes. Kultureller Fortschritt entstehe prozessual durch vom Einzelnen ausstrahlende Bedürfnisse – Tarde spricht von Ansteckung. Deren Realisierung entspringt der Nachahmung eines Begehrten, was Vorstellung in Begehren und Nachahmung in Potentialität umdeutet. Hier fallen Parallelen zu Goffman auf sowie zum Symbolischen Interaktionismus, auf den Tarde über George H. Mead Einfluss ausübte. Vgl. Urs Stäheli/Christian Borch: Soziologie der Nachahmung und des Begehrens. Materialien zur Gabriel Tarde, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009. Gesellschaft erwächst Tarde zufolge aus

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In den hier besehenen Konzepten von Theatralität dominiert also ein System der Zweiheiten – sei es das Selbst, das sich durch (s)eine Darstellung instantiiert, seien es cultural performances oder ethnotheatrale Perspektivierungen, die symbolische Dimensionen einer vorausgehenden Wirklichkeit schaffen. Obgleich sich jede Metaphorik, Analogie oder Symbolisierung in der Relationalität zweier Input-Szenarien55 fundiert, handelt es sich hier jedoch um einheitliche Zweiheiten, um Wechselverhältnisse, die einen Riss artikulieren, aber nicht zu einer totalen sphärischen Spaltung führen.56 Es zeigt sich vielmehr ein dissoziatives Verhältnis zwischen Theatralität und Realität, das sich als Medialität artikuliert. Denn in diesem Dazwischen liegen Vermittlungsleistungen von Körpern, körperlichen Ausdrücken, Stimmen und Stimmlagen, Tanz, Musikalität oder Sprache – wovon noch zu sprechen sein wird. Der Bezug zum Theater gründet nun gerade aufgrund der Spaltungsmöglichkeiten häufig in der Kritik von Phänomenen der Entfremdung. Die Moralität einer Zwei-Welten-Theatralität verbindet Theatralität mit negativen Konnotationen. So verweist der totale Rollenverdacht, den Ralf Dahrendorf im Vorwort zu Goffmans Theaterbuch formuliert, auf die Fassaden einer – meist ideologisch verblendeten – Künstlichkeit des theatralen Auftretens.57 Ein solcher Kult des Verdachts gegenüber Theatralität bestimmte Marx‹ Kritik an den ökonomischer Charaktermasken der kapitalistischen Gesellschaft, auf die sich Theodor W. Adorno in seinem Appell für eine Emanzipation des autonomen Subjekts explizit bezieht, wenn er das Rollenspiel der Menschen als »Auslöschung ihrer Identität«58 im Dienste der Ideologie darauf zurückführt, dass ja auch der Schauspieler nicht derjenige sei, den er spiele. Ein illusionistisches – und durchaus moralisierendes – Theatralitätsverständnis dominiert heute die auf audio-visuelle Massenmedien konzentrierten kulturellen Nachahmungsketten, die sich über Individuen fortpflanzen. Vgl. Gabriel Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 73. 55 | Der Begriff stammt aus der Informatik und meint Ströme von Daten, die – eingespeist in ein System – erschlossen werden und zu einem Ergebnis führen. 56 | Es handelt sich hier also gerade nicht um eine Zwei-Welten-Ontologie, die sich aus der semiotischen Theorie des Zeichens als Repräsentation bei Charles Sanders Pierce herleitet. Vgl. dazu Sybille Krämer: »Was haben ›Performativität‹ und ›Medialität‹ miteinander zur tun? Plädoyer für eine in der ›Aisthetisierung‹ gründende Konzeption des Performativen. Zur Einführung in diesen Band«, in: Dies. (Hg.): Performativität und Medialität, München: Wilhelm Fink Verlag 2004, S. 13-32, hier S. 20. Was sichtbar wird, ist nicht ein Surrogat von etwas, das dahinter liegt. Darauf gehen die meisten sprachtheoretischen Ansätze zur Performativität zurück, wie Krämer herausarbeitet. 57 | Vgl. Goffman: Wir alle spielen Theater, S. viii. 58 | Theodor W. Adorno: Soziologische Schriften I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, S. 7.

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Theatralitätsforschungen, welche die Inszenierung als Schöpfung einer verzerrten Wirklichkeit paraphrasieren, die »auf kalkulierte Wirkungen in einem öffentlich hervorgehobenen Raum hin inszeniert«59 werden kann. Besonders deutlich wird dies in den Untersuchungen von Werbespots oder der Darstellung von Politik(ern): Ihre strategischen Image-Konstruktionen sind Ergebnisse von informationellen Selektionen, Erfindungen, Lügen, Stilisierungen, Schönungen, Ausblendungen, Über- und Untertreibungen und überhaupt jeder zielführenden Art von ›Unwahrhaftigkeit‹. Eingeschlossen ist dabei eine Logik der schönen Form und des schönen Inhalts.60

Solche Ansätze aktualisieren die Annahme einer Scheinwelt platonischer Prägung, die Trugbilder und Illusionen hervorbringt. Rückbezogen auf das Theater als Referenzrahmen birgt dieses im 20. und 21. Jahrhundert jedoch ein weitaus komplexeres Verhältnis als jede Dichotomie zwischen Täuschung und Wirklichkeit es zu treffen vermag. Das Theater geht mit jeder Aufführung gerade eine unterschwellige Liaison zu dem ein, was es nicht ist, zu einer Wirklichkeit, die unverfügbar ist. Das Theater selbst ist nichts als Bühne und damit eine Potentialität der symbolischen Wirklichkeitskonstruktion, der Verwirklichung. Gerade dadurch macht es bewusst, dass Wirklichkeit immer symbolischer Formen bedarf, um im Lacan’schen Sinne zwischen diesen zugänglich zu werden. Das dem Inszenierten Vorausliegende konstituiert sich durch beharrliche Abwesenheit, die das Theater als Abwesendes zu zeigen vermag.61

2.1.4 Theatralität macht sichtbar: Zur korporalen Medialität von Theatralität Der Begriff der Inszenierung ist insbesondere dann einschlägig, wenn es um Darstellungsmodalitäten der Massenmedien geht.62 Beispielhaft dafür steht 59 | Thomas Meyer/Rüdiger Ontrup: »Das ›Theater des Politischen‹. Politik und Politikvermittlung im Fernsehzeitalter«, in: Willems/Jurga: Inszenierungsgesellschaft, S. 523542, hier S. 524. 60 | Herbert Willems: »Zur Einführung: Theatralität als Ansatz, (Ent-)Theatralisierung als These«, in: Ders. (Hg.): Theatralisierung der Gesellschaft. Band 1, S. 13-56, hier S. 36f. 61 | Vgl. Gerald Siegmund: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes: William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld: transcript 2006. 62 | Inszenierung meint dabei die spezifische Rahmung, Formgebung und Gestaltung eines Geschehens durch ein technisches Mediengefüge von der Kamera bis hin zu Instrumenten des Schnitts und der Montage. Die Inszenierung besteht in einer doppelten Grenzziehung zum Rezipienten, auf den der Erzeugungsprozess abzielt – einerseits

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der Diskurs um die Selbstinszenierung in den Neuen Medien, die nicht länger die korporale Selbstdarstellung im Interaktionsraum zum Inhalt hat als vielmehr die Selbstpräsentation im virtuellen Raum, inszeniert durch die Operationalität technischer Apparaturen. Hier realisiert sich paradigmatisch, was Bruno Latours Aufrufen zur Aufhebung der Differenz zwischen Gesellschaft und Dingwelt innewohnt: die wechselseitigen Prozesse der Inskription von Mensch und Technik.63 Medientechnik ist nicht mehr vom einzelnen Subjekt zu trennen, das sie bedient oder sich ihrer bedient. Eindeutig ist die Mission der Selbstinszenierung: Sie macht eine Person sichtbar, gleich ob man sie als Maskenwesen – im altgriechischen Theater bezeichnete die Persona die Maske, von der her sich die Rolle des Schauspielers erschloss – oder als reale Ichkonstitution im technisierten Aggregatzustand begreift. In der Rollensoziologie dient Theatralität bereits als mediale Technik der Sichtbarmachung. Das Selbst wird nicht nur lesbar, sondern tritt in der Weise in Erscheinung, wie es sich sieht und gesehen werden will. In der gespiegelten Reflexion in der Interaktion werden Darstellungen zu Performances, die »absichtsvoll und mit einer bestimmten Wirkungsabsicht zur Erscheinung gebracht werden sollen«64. Plessner als Wegbereiter der Rollensoziologie und Referenzautor der Theaterforschung nutzt ebenfalls die Metaphorik des Sehens und der Blicke, die das Subjekt in seiner exzentrischen Position auf sich selbst richtet, um sich für sich zur Erscheinung zu bringen: »Der Mensch tritt sich selbst – oder einem anderen – gegenüber, um ein Bild von sich als einem anderen zu entwerfen und zur Erscheinung zu bringen, das er mit den Augen

im Handeln vor der Kamera, andererseits in der technischen Transformation. Von der Kulissengestaltung und der Beleuchtung von Nachrichtensendungen über die Weltvermittlung durch Bilder auf Bildschirmbühnen bis hin zum Krisenbericht als Ereignisinszenierung werden mediale Sichtbarkeiten auf das Theater als Ordnungsrahmen des Sehens zurückgeführt. Vgl. Knut Hickethier/Joan Kristin Bleicher: »Die Inszenierung der Information im Fernsehen«, in: Willems/Jurga: Inszenierungsgesellschaft, S. 369-384. 63 | Nach Latour sind Dichotomien zwischen Natur und Kultur, Gesellschaft und Technik zugunsten der Anerkennung einer Verwobenheit von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren aufzuheben, deren Gleichstellung er fordert. Vgl. Bruno Latour: Das Parlament der Dinge: Für eine politische Ökologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. 64 | Rüdiger Ontrup/Christian Schicha: »Die Transformation des Theatralischen – eine Einführung«, in: Dies. (Hg.): Medieninszenierungen im Wandel: Interdisziplinäre Zugänge, Münster: Lit-Verlag 1999, S. 7-18, hier S. 7. Willems nennt als Beispiele für Performances als Endergebnisse von Inszenierungen Medienproduktionen, Therapiesettings, Heiratsanträge, die Love Parade oder – am Rande – das Theater, von dem er die Begriffe eigentlich entleiht. Vgl. Willems: »Theatralität als (figurations-)soziologisches Konzept«, in: Ders. (Hg.): Theatralisierung der Gesellschaft. Band 1, S. 75-112 S. 80.

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eines anderen wahrnimmt […].«65 In den cultural performances gelangt Kultur über Körper zur Sichtbarkeit auf metaphorischen Bühnen oder Bühnen des Ethnotheaters. Die Anziehungskraft theatraler Sprache scheint also von einem Beobachtungsdispositiv herzurühren, das Sichtbarkeit befördert. Theatralität kann mithin als »rezeptionsästhetische Kategorie«66 gelten, die auf das Theater als »Schauplatz bzw. Ort, an dem sich etwas des Zeigens Würdiges ereignet«67, verweist. Es fällt jedoch auf, dass selten die Frage danach gestellt wird, wie sich als theatral beschriebene Prozesse vollziehen. Körperliche Medien der Vermittlung wie Stimme, Gestik, Mimik und weit darüber hinausgehendes Ausdrucksverhalten, also die zentralen Gegenstände der Theaterwissenschaft, werden zwar beobachtet, aber als eigenständige Medien nicht zum Objekt der Wissbegierde, zum Gegenstand der Reflexion. Fragen nach solchen medialen Bedingungen von Theatralität werden zugunsten der Dominanz eines Gestus der Verabsolutierung von Intentionen des darstellenden Subjekts und Interpretationen des Publikums vernachlässigt. Doch Theatralität ist stets an Körper als Mittler zwischen Un-/Sichtbarkeit gebunden, die aufgrund ihrer Eigenlogik und Eigensinnlichkeit an der Vermittlung autonom teilhaben. Will man dem Medium des Theatralen mit medientheoretischen Grundannahmen buchstäblich auf den Leib rücken, stellt sich erneut eine Undarstellbarkeit ein. Weder folgt der Körper der medienmarginalistischen Deklaration, dass das Medium in seinem Vollzug verschwinde, noch gehorcht er der mediengenerativen Direktive, dass das Medium das Übertragene als ein Anderes hervorbringe – hinter dem es letztlich ja auch verschwindend zurücktritt.68 Der »kleinste gemeinsame Nenner«69 dieser gegenwärtigen Medientheorien ist unvereinbar mit einem theaterwissenschaftlich fundierten Medienbegriff, der das Medium nicht vom Medienprodukt lösen will. Wenn sich die Theatralität des Körpers performativ zugleich als Ereignis und in der Wahrnehmung vollzieht, zwischen die sich der Körper schiebt, dann muss Theatralität als aisthetisches Schwellenphänomen gedacht werden, 65 | Erika Fischer-Lichte: »Performance, Inszenierung, Ritual. Zur Klärung kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe«, in: Jürgen Martschukat/Steffen Patzold (Hg.): Geschichtswissenschaft und ›performative turn‹. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln: Böhlau-Verlag 2003, S. 33-54, hier S. 46. 66 | Erika Fischer-Lichte: »Inszenierung und Theatralität«, in: Willems/Jurga: Inszenierungsgesellschaft, S. 81-90, hier S. 86. 67 | Ebd., S. 82. 68 | Vgl. zu dieser Unterscheidung Krämer: »Was haben ›Performativität‹ und ›Medialität‹ miteinander zur tun?«, in: in: Dies. (Hg.): Performativität und Medialität, München: Wilhelm Fink Verlag 2004, S. 13-32, hier S. 22f. 69 | Ebd., S. 23.

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dessen Medium nicht auf Funktionen reduziert werden kann. Umso dringlicher ist Theatralität als korporale Medialität zu denken, in der Sichtbarmachung nicht nur funktionale Zielvorgabe ist. Und diese verlangt nach medientheoretischer Aufmerksamkeit.

2.2 E nt wurf einer analy tischen The atr alität. E ine Terminologie der N egation Die vorangegangenen Überlegungen haben nun die vielen Facetten einer theoretischen Theatralität aufgezeigt und wechselseitige Bezüge von Theatralität, Medialität und Korporalität hergeleitet. Ferner wurde darauf hingewiesen, aus welchen Gründen eine analytische Theatralität der Sauberen Folter diesen Ansätzen nicht folgen kann. Bei der Sauberen Folter geht es weder um Rollenspiele noch um ein kulturelles Modell. Es geht nicht um eine Nachahmung von etwas und erst recht geht es nicht um einen Prozess der Sichtbarmachung. Eine analytische Theatralität, wie sie im Folgenden entworfen werden soll, unternimmt vielmehr zwei Bewegungen. Zum einen erweitert sie den Phänomenbereich von Theatralität um das ausgesprochen negative und destruktive Phänomen der Sauberen Folter. Zum anderen wehrt sie sich gegen die uferlose Ausweitung und Verfremdung theatraler Begriffe im Dienste der Analyse. Das bedeutet, sie erweitert Theatralität und grenzt sie zugleich ein. Diesem komplexen Vorhaben sind die folgenden Ausführungen gewidmet. Die Saubere Folter mit Hilfe eines theatralen Begriffsinstrumentariums beobachten und beschreiben zu wollen, mutet vor dem Hintergrund ihrer eisernen Absenz und Unsichtbarkeit paradox an. Schiebt man jedoch ein charakteristisches Merkmal zeitgenössischer Theaterkünste, insbesondere der Performancekunst, vor diesen Hintergrund, so offenbart sich ein Potential, das diesen Konflikt auflöst: Ist es nicht gerade der konstitutive Entzug eines Realen, der durch Sprachen des Theaters zugänglich wird? Ist es nicht gerade ein Unverfügbares, das im symbolischen Universum des Theaters durchscheinen und als Spur gewahr werden kann, und ist es nicht diese Abwesenheit, die Theater erst auslöst? Kann dann nicht eine Hoffnung bestehen, in der Sprache des Theatralen dem Abwesen der Sauberen Folter entgegen treten zu können und so einen Zugang zu einem Phänomen zu gewinnen, das sich über Entzug, Unverfügbarkeit, Abwesenheit realisiert und dennoch in Spuren irgendwie anwesend ist?70 Helga Finter hat diese Potentiale des zeitgenössischen Theaters erkannt und benannt. In ihrem Modell analytischer Theatralität wird denkbar, dass ein Unverfügbares in symbolischen Praktiken des Theaters ausgedrückt wer70 | Andernfalls könnte diese Arbeit als Spurensuche nicht im Werden begriffen sein.

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den und so in ein Symbolisches Einzug halten kann. Daran anschließend und dies erweiternd sollen im Folgenden die Strategien des Gegenwartstheaters, Abwesenheit spürbar werden zu lassen, als Orientierungen dienen, um die Praktiken der Sauberen Folter zu beschreiben – als symbolische Praktiken, die zwar der Absentierung Sauberer Folter dienen, sie aber auch als abwesend anzeigen. Auf diesem Wege können sodann Begriffe aus den Theaterdiskursen als analytisches Werkzeug zur Beschreibung dieser Praktiken erprobt werden. Dies führt zum einen dazu, den Körper ganz im Sinne Finters als eigenständiges Medium der Wahrnehmung anzuerkennen – im Sinne einer Sichtbarkeit der Erfahrung zumindest seitens des gefolterten Subjekts. Der Körper ist als Kern zu thematisieren und nicht auf seine manifeste Sichtbarkeit, auf die Bildschirmhaftigkeit seiner Hülle, zu reduzieren. Wenn das Trauma schon nicht anschaulich werden kann und sich jedes Zugangs zu Sphären des Symbolischen verweigert, denen das Subjekt unterworfen ist, dann muss der Körper als Medium einer ureigenen Sichtbarmachung in den Blick gerückt werden. Zum anderen gilt es zu prüfen, ob eine analytische Theatralität eine Form der Sagbarkeit generieren kann. Dabei stellt sich die Frage, wie eine solche funktionieren kann – und wie nicht. In der Soziologie etwa wird Theatralität als Leitmotiv unserer Gesellschaft und zugleich Leitmodell der unsere Gesellschaft beobachtenden Soziologie konzipiert. Solchen großformatigen Gesellschaftsanalysen in Form von Ferndiagnosen aus der totalen Perspektive eines sich von der Gesellschaft externalisierenden Soziologen muss ein gewisses Maß an Skepsis entgegengebracht werden. Bruno Latour kann als einer der radikalsten Verfechter einer Abwendung von der Verfolgung von Gesellschaft durch die Soziologie gelten. Der Soziologe des Sozialen, so Latour, kürze schließlich den mühseligen Weg der aufmerksamen, stets fragmentarischen Beobachtung von Akteuren ab, indem er das Soziale oder die Gesellschaft als ganzheitliche Entitäten konstruiere und mit Erklärungen anreichere, die Komplexität reduzierten oder gar negierten.71 Dem zu folgen und unter Berücksichtigung einer 71 | Nach Latour geht der Soziologe des Sozialen (oder die Soziologie Nr. 1) von einer Gesellschaft als Ganzheit aus, die vor – oder ganz ohne – Individuen gelesen und gedeutet werden kann. Latour, der sich hier wesentlich auf Gabriel Tarde bezieht, fordert eine Soziologie der Assoziationen (eine Soziologie Nr. 2). Darin wird Gesellschaft sichtbar, wenn Akteure in Assoziationsketten eine Veränderung herbeiführen, somit einen Unterschied machen. Latours wohl berühmtestes Beispiel für die Assoziation ist die Pistole, die erst dann (nichtmenschlicher) Akteur wird, wenn ein Mensch den Schuss abfeuert. Entstanden ist der Aktant Mensch-Pistole, der einen Unterschied in einer Assoziationskette macht. Vgl. Latour: Das Parlament der Dinge. Gesellschaft zeige sich niemals als Ganzheit und sei als solche auch nicht sichtbar, sondern stets nur in Spuren, im Handeln der Akteure, die über Unterschiede andere Akteure zum Handeln bringen. Diese Akteure gelte es aufmerksam zu beobachten. Latours Akteur-Netzwerk-Theorie versteht sich

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gemeinsamen etymologischen Wurzel von Theorie und Theater72 könnten die Theorien der hier vorgestellten Soziologen der Theatralität allerdings gegen sie selbst angewendet werden: Immerhin etabliert ein Beobachtungsdispositiv auf ein Ganzes erst die Reflexionsmuster, die Phänomenen eine Darstellbarkeit verleihen. Der Blick auf das sich darstellende Phänomen ermöglicht im Theater und der Theorie also Deutung und Kritik. Problemlos ließe sich auch hier aus bloßen Analogieschlüssen eine Art Theatralität der soziologischen Theorie aus der Taufe heben. Jedoch gibt sich der Wissenschaftler in diesen Ansätzen nicht als beteiligter Mittler, der selbst einen Unterschied macht, zu erkennen. Er blendet seine gestalterischen Möglichkeiten des Forschungsdesigns, der Selektion oder Interpretation aus und wird zum Komplizen der eigenen Theorie – am Fluchtpunkt einer Bühne, von wo aus er ihre Darstellung determiniert. Solche Distanzierungen führen zu eigentümlichen Diagnosen: In Willems Worten lässt etwa die »Konsumkultur«73 der »Gegenwartsgesellschaft«74 eine »Erlebnisgesellschaft«75 zur »Überwachungsgesellschaft«76 werden. Auf diese Weise konstruieren vielerlei Ansätze der Theatralitätsforschung eine Wirklichkeit, in der Gesellschaft in ein riesiges beobachtbares Interaktionssystem transformiert oder – mit Latour gesprochen – als beobachtbare Tatsache hergestellt wird. Diagnostische Theatralität entspricht nun gerade nicht der hier zu entwickelnden analytischen Theatralität. Vielmehr soll die sowohl auf wissenschaftlicher als auch sozialer Ebene stets reduzierte Kontingenz, die Offenheit und Veränderlichkeit gesellschaftlicher Phänomene eben nicht der Geschlossenheit von Erklärungen, Sinnzusammenhängen und Theorien weichen, die Komplexität abschaffen oder mindestens aufräumen. Ohne sich dem Anspruch auszusetzen, einen ANT-Bericht zu schreiben, orientiert sich die folgende Phänomenbeschreibung der Sauberen Folter an der Kritik am Gestus des Aufräumens von Gegenständen der Untersuchung. Sie entlehnt Latour daher zwei miteinander verwobene Appelle. als Theorie, welche gängige Dichotomien zwischen Natur und Kultur, Gesellschaft und Technik zugunsten von Assoziationen aufbricht – und durchaus für eine kleinformatige Ethnografie der innerhalb der Soziologie plädiert. Vgl. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 73ff. 72 | Beide Begriffe gehen auf das griechische Wort thea zurück, das den Ort bezeichnet, von dem aus beobachtet und gesehen werden kann. Vgl. Samuel Weber: Theatricality as Medium, New York: Fordham University Press 2004, S. 3. 73 | Willems: »Zur Einführung: Theatralität als Ansatz, (Ent-)Theatralisierung als These«, in: Ders. (Hg.): Theatralisierung der Gesellschaft. Band 1, S. 13-56, hier S. 39. 74 | Ebd., S. 13, 17, 23, 24, 28, 32, 34, 35 u.a. 75 | Ebd., S. 40. 76 | Ebd., S. 44.

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Zum einen gilt es, den Akteuren zu folgen.77 Dies bedeutet zwar, sich notgedrungen und glücklicherweise in eine Beobachterperspektive außerhalb von Folterlagern zu begeben. Doch diese siedelt sich so nah wie möglich am Phänomen an – durch den Bezug auf Aussagen und Beschreibungsversuche von Folteropfern, auf publizierte Interviews mit ehemaligen Häftlingen, auf Ermittlungsberichte und -protokolle, die zugleich im Dialog mit den Folterhandbüchern gelesen werden, welche die Verwirklichung von traumatischen Ereignissen nach Art von Anweisungen einer impliziten Regie dezidiert lehren. Auch die Handlungen und Vorgehensweisen der Folterer geraten in den Blick. Zum anderen folgt die Betrachtung der Foltermethoden einer Prämisse der Langsamkeit der Beschreibung, die sich aus dem Phänomen selbst ergibt. Eine umfassende Veranschaulichung all jener Techniken und Dimensionen der Repression und Destruktion auf der phänomenalen Ebene ist geboten, um der über Jahre andauernden Foltererfahrung und ihrer lebenslang andauernden Schäden ansatzweise gerecht werden zu können. So nötig, wertvoll und unabdingbar eine intellektualisierende Distanzierung in den Erklärungen von Folterphänomenen ist, sie kommt nicht ohne eine präzise Beschreibung des Phänomens selbst aus. Eine negative analytische Theatralität vermag diese Veranschaulichung zu leisten, wenn sie zwar an bestehende Theatralitätsforschungen anschließt, indem sie diese um einen Phänomenbereich des Destruktiven erweitert, sie jedoch begrifflich eingrenzt und der Konditionierung einer Entgrenzung von theatralen Begriffen entgegenwirkt. Den Akteuren zu folgen bedeutet im Sinne der analytischen Theatralität, den theatralen Vorgängen eine eigenständige ästhetische Prozessualität und Gestaltungskraft zuzugestehen, die in der Soziologie der Theatralität ein theoretisches Schattendasein führen. Im Kontext der Sauberen Folter meint der Begriff der Inszenierung sodann die konkrete auf bestimmte Wirkungen zielende Bearbeitung eines Raumes. Er mobilisiert damit einerseits den ursprünglichen Fachbegriff, der sich Anfang des 19. Jahrhunderts, vom französischen Ausdruck mise en scène ausgehend, im deutschen Literaturtheater durchgesetzt hat.78 Andererseits greift er etwa Martin Seels Definition eines Arrangements »absichtsvoll ausgeführte[r]

77 | Vgl. Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 107. 78 | Das Theater begann zu dieser Zeit, den Regisseur als Künstler und nicht mehr bloßen Arrangeur anzuerkennen. Seine Aufgabe bestand nicht mehr nur darin, die Bedeutungen einer Textvorlage möglichst originalgetreu auf die Bühne zu bringen. Vielmehr wuchs die Anerkennung der eigenen ästhetischen Qualität und Leistung der Aufführung, die in der Vor-Stellung zum Tragen kommt. Vgl. August Lewald: »In die Szene setzen«, in: Klaus Lazarowicz/Christopher Balme (Hg.): Texte zur Theorie des Theaters, Stuttgart: Reclam 1991, S. 306-311.

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oder eingeleitete[r] sinnliche[r] Prozesse«79 auf, die »ein räumliches und ein zeitliches Verhältnis«80 begründen, das Gegenwarten spürbar werden und gestaltet erscheinen lässt. Erscheinen und Gestalten sind zwei fundamentale Ausdrucksweisen, welche die Saubere Folter zu erfassen suchen. Seels Inszenieren als Erscheinenlassen 81 funktioniert hier über die ekstatische Begegnung mit gestalteten Intensitäten von Gegenwärtigem, das in allen (physiologischen, affektiven und kognitiven) Wahrnehmungsdimensionen bemerkbar wird. Ein eigenständiges Gewicht wird somit der ästhetischen Gestaltungskraft verliehen, welche die Erfahrung oder – im Anschluss an Hans Ulrich Gumbrechts Differenzierung82 – das Erleben des Lagers im negativen Sinne ästhetisiert. In der Betrachtung der Sauberen Folter spielen Performances eine eminente Rolle, wenn sie etwa getreu der ursprünglichen (sprach-)philosophischen Konzeption den Vollzug von Handlungen durch Sprechakte (und/oder Verhalten) sowohl seitens des Folterers als auch seitens des Opfers vor allem in Verhörsituationen oder in Drohungsszenarien bezeichnen. Sie stellen somit nicht das Endprodukt einer Inszenierung dar oder entspringen Skripten, auch wenn dies im Falle der CIA-Handbücher durchaus der Fall sein kann. Vielmehr zielen sie auf überdeterminierte Wirkungen durch Vollzug, der sich als Ereignis manifestiert. Die Performances der Folter produzieren in Interaktionen, Erniedrigungen und Perversionen einen Überschuss des Handelns, der Folter erst als Folter hervorbringt. Während in den Inszenierungen der Sauberen Folter die Qualitäten des Raumes im Mittelpunkt der Gestaltung stehen, ist die physische Anwesenheit von Körpern in ihren Performances unabdingbar. Die Körperlichkeit der Sauberen Folter verbindet sich jedoch auch und besonders in Inszenierungen mit Prozessen der leiblichen Wahrnehmung des Gefolterten. Die sensorische Deprivation und das sensorische Bombardement attackieren die Sinne des Opfers. Damit bedient sich die Saubere Folter eines Strategierepertoires, das jene Theaterkünste produktiv machen, die mit multimodaler Sinnlichkeit arbeiten. Sie entfernen sich vom Primat des Visuellen hin zu auditiven und sogar taktilen und olfaktorischen Sinnen als körperliche Medien von Aufführungen. Interessanterweise operiert auch die Saubere Folter etwa mit der Simultaneität von Sinneswahrnehmungen, mit Musikalisierung, Wärme und Kälte, mit dem Ereignis oder dem Einbruch des Realen – weshalb Theaterdiskurse bei

79 | Martin Seel: »Inszenieren als Erscheinenlassen«, in: Josef Früchtl/Jörg Zimmermann: Ästhetik der Inszenierung, S. 48-62, hier S. 49. 80 | Ebd. S. 51. 81 | Ebd. 82 | Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 120.

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der Beschreibung dieser Techniken vermutlich außerordentlich hilfreich sein können.83 In ihrem Vorgehen führt die Saubere Folter jedoch jede Dichotomie von Wirklichkeit und ihrem symbolischen Korrelat ad absurdum. Die Saubere Folter verflüchtigt sich noch in ihrem Vollzug, wenn sie keine Manifestationen an Körpern und in der Sprache hinterlässt, sich Sichtbarem und Sagbarem verweigert. Sie ist wirklich, indem sie sich inszeniert, und zeitigt so eine Art TheatRealität im Sinne Hans-Thies Lehmanns.84 Sich dieser anzunähern intendiert die folgende Phänomenbeschreibung, indem sie dicht am Phänomen selbiges zu Wort kommen lässt. Die Annäherung dreht das gegenwärtig herrschende Verständnis von Theatralität damit auf links. Denn die Theatralität der Sauberen Folter bringt nicht Subjekte und Selbste hervor oder schreibt Identitäten und Wesensmerkmale zu. Sie bricht Subjekte und zerstört Selbste, sie zersetzt Identitäten und Wesensmerkmale. Sie generiert nicht Sinn, sondern ruiniert Sinn. Sie adressiert nicht das menschliche Sensorium, sondern attackiert es. Und nicht zuletzt macht sie nicht sichtbar, sondern unsichtbar. Darin besteht schließlich der konstitutive Gegensatz zur Kunst des Theaters: Die Saubere Folter macht Theatralität nicht produktiv, sondern destruktiv.

83 | Lehmann benennt dies als neue postdramatische Theaterzeichen. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 145ff. 84 | Vgl. ebd., S. 370.

3. Suchbewegungen I

Räumlichkeit und Verschwinden Die Beunruhigung, die ein Raum heutzutage auslösen kann, beruht hauptsächlich auf dem nicht Sichtbaren.1

Wenn die Saubere Folter in exterritorialen Gefangenenlagern stattfindet, die nicht gewusst werden können und Subjekte zum Verschwinden bringen, wirft die Suche nach Annäherungen an dieses Phänomen zunächst Fragen nach seinen räumlichen Konstitutionsbedingungen auf. Indem die Lager sich in einer Sphäre des Unsichtbaren (gerade nicht) verorten, begründet die Saubere Folter eine doppelte Paradoxie: Es ist ihre Abwesenheit, die einerseits einen Rahmen schafft, durch den sie andererseits gerade nicht gewusst werden kann. Abwesenheit, Unsichtbarkeit und Destruktion gehen hier eine negative Allianz ein, die jegliche Annäherung an das Phänomen blockiert. Von welchem Raum der Sauberen Folter könnte also gesprochen werden, wenn die Lager der Sauberen Folter offiziell nicht existieren, ja, nicht einmal gewusst werden dürfen? Von welchem Raum kann gesprochen werden, wenn die Saubere Folter noch in diesem unbekannten Raum nicht sichtbar wird, obwohl sie in ihm stattfindet? Wie könnte ein solcher Raum aussehen, gedacht und thematisiert werden? In den politisch-juridischen Memoranda und den Zeugenaussagen ehemaliger Häftlinge finden sich Spuren der Akte ihres Verschwindenlassens aus verschiedenen Räumen – aus nationalen, territorialen oder gar rechtlichen Räumen –, die hier als erste symbolische Praktiken der Sauberen Folter zu untersuchen sind. Damit ist jedoch weder allein die Einrichtung der Lager in ihrer Exterritorialität gemeint noch ein Arrangement architektonischer Räume im Lager. Diese symbolischen Praktiken gehen weit darüber hinaus. Sie involvieren eine Vielzahl heterogener Räume und Räumlichkeiten, bilden gar einen komplexen Raumkörper der Sauberen Folter, der ihrem Verschwinden 1 | Philippe Rahm: »Im Haus der Angst«, in: Julian Heynen/Brigitte Kölle (Hg.): Weisse Folter. Gregor Schneider, Köln: König 2007, S. 94-98, hier S. 94.

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geweiht und gewidmet ist. Dieser Raumkörper der Sauberen Folter umgibt und ermöglicht ihre Praktiken der Absentierung und vermag es, Subjekte und deren Körper, aber auch deren Identität und Integrität zu vernicht(ort)en. Diesen Bewegungen gilt es im Folgenden nachzuspüren. Um die Räume auszukundschaften, die in Beziehung mit der Sauberen Folter stehen, muss zunächst eine raumtheoretische Orientierung geschaffen werden. Welche Raumkonzepte greifen und welche greifen daneben? Wie lassen sich diese Räume möglicherweise als theatrale Räume veranschaulichen? Und wie vollziehen sich in dieser räumlichen Matrix symbolische Prozesse der Destruktion, die das Fundament der Sauberen Folter bilden? Michel Foucault hat bereits in den 1960er Jahren in seinem Aufsatz zu Heterotopien darauf verwiesen, dass wir in einem »Zeitalter des Raumes«2 leben. Seit den 1990er Jahren ist jedoch in den geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen das Interesse für den Raum als Objekt des Wissens noch einmal immens angewachsen. Vor allem Geografen, empirische Kultur- und Sozialwissenschaftler, Historische Anthropologen und zunehmend auch Medienwissenschaftler beschäftigen sich mit dem Raum als Objekt des Wissens und untersuchen wechselseitige Konstitutionsprozesse etwa zwischen Raum und Gesellschaft, Identität, Zeit oder Wissen sowie die Potentiale des Raums als Artikulation eben dieser Konzepte.3 Mitgewachsen ist auf diesem Forschungsgebiet das Motiv einer Reziprozität von Räumen und (Körper-)Praktiken, insbesondere in der anglo-amerikanischen Humangeografie, die sich angesichts schlagwortartiger Phänomene wie der Globalisierung und Virtualisierung der kulturwissenschaftlichen Kurvenmetaphorik bedient und bereits spatial, topographical oder geographical turns ausgerufen hat.4 Trotz der Vielschichtigkeit herrschender Ansätze und der Mannigfaltigkeit der Untersuchungsgegenstände fällt auf, dass ein Großteil insbesondere der soziologischen und dar2 | Vgl. Michel Foucault: »Von anderen Räumen [1967]«, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 317-327, hier S. 317. 3 | Vgl. exemplarisch Mike Crang/Nigel Thrift (Hg.): Thinking Space, Abingdon: Routledge 2000; Doreen Massey/John Allen/Phillip Sarre (Hg.): Human Geography Today, Cambridge/Oxford/Malden: Polity Press 1999; Linda McDowell (Hg.): Undoing place? A Geographical Reader, London/New York: Arnold 1999; Jörg Döring/Tristan Thielmann: Mediengeographie. Theorie – Analyse – Diskussion, Bielefeld: transcript 2009. 4 | Vgl. Stephan Günzel (Hg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: J.B. Metzler 2010; Doris Bachmann-Medick: »Spatial Turn«, in: Doris Bachmann-Medick (Hg.): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek: Rowohlt 2009, S. 284-328; Sigrid Weigel: »Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften«, in: KulturPoetik 2,2 (2002), S. 151-165.

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an angrenzenden Raumtheorien dem Diktum vom unbeweglichen Raum als leerem Behälter gehorchen, das von Isaac Newton bereits im 17. Jahrhundert entworfen wurde und seither als Container-Metapher (dis)kursiert.5 Zwar ist das relationale Raumverständnis, das in der Raumtheorie Gottfried W. Leibniz’ gründet und den Raum als durch (Lage-)Beziehungen entstehend denkt, gleichwohl prominent in den Diskurs eingeführt und überlagert bisweilen jede Möglichkeit einen Raum auch als Voraussetzung von Handlungen, mithin als Behälter zu denken.6 Doch der leere Raum, in dem sich Dinge situieren lassen, erweist sich als beständigeres, beharrliches, dabei durchaus simplifizierendes Konzept, durch das »der Raum zur starren Folie wird, auf und vor der sich bewegtes Handeln abspielt«7. Wenn man sich nun den Theaterdiskursen widmet, die sich mit Räumen und Raumkonzepten beschäftigen, so geraten Ansätze in den Blick, die für eine beschreibende Analyse der Sauberen Folter eher aufschlussreich sind. Die Aufmerksamkeit für den Raum schlägt sich dabei insbesondere im späten 20. Jahrhundert nieder.8 Zwar finden sich auch hier Spuren des absoluten und des relationalen Raumes in den Modellen statischer und dynamischer Theaterraumkonzepte. Sie werden – methodisch attraktiv – zur Ambivalenz des theatralen Raumes zwischen Voraussetzung und Produkt theatraler Vorgänge versöhnt: Räume können insofern als dynamisch gelten, als sie durch die Handlungen der Teilnehmer hervorgebracht werden. […] Bei diesen dynamischen raumbildenden Prozessen wird in spezifischer Weise mit vorfindlichen Gegebenheiten umgegangen. Hierzu zählen geografische oder architektonische Begrenzungen ebenso wie beispielsweise natürliche oder künstliche Lichtverhältnisse. In diesem Sinne kann der Raum des Theaters als statisch aufgefasst werden. 9

5 | Vgl. Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 130. 6 | Vertreter sind etwa Norbert Elias, Pierre Bourdieu oder Michel Foucault, die Räume über relationale Anordnungen zu begreifen suchen. Vgl. Löw: Raumsoziologie, S. 24-35. 7 | Ebd., S. 130. 8 | Dass Bühnenkunst stets Raumkunst sei, konstatierte bereits Max Herrmann zu Anfang des Jahrhunderts. Vgl. Max Herrmann: »Das theatralische Raumerlebnis (1931)«, in: Jörg Dünne/Stefan Günzel (Hg.): Raumtheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 501-514, hier S. 501. 9 | Jens Roselt: Phänomenologie des Theaters, München: Wilhelm Fink Verlag 2008, S. 65f. Im naturwissenschaftlichen Diskurs war es ursprünglich Einsteins Relativitätstheorie, die beide Positionen versöhnte, indem man zwar von einem absoluten, leeren Raum ausging, ihn jedoch abhängig von Zeit und Bewegung verstand.

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Doch um zu einer Bestimmung des theatralen Raumes zu gelangen, kommt der Theaterdiskurs nicht mit solchen Dualismen aus. Bereits die Theateravantgardisten setzten sich Anfang des 20. Jahrhunderts konfrontativ mit dem Container-Raumverständnis auseinander, wenn sie Räume nicht als gegebene Entitäten behandelten, sondern als performativ hervorzubringende Räume aushandelten. Die Theaterprojekte des späten 20. und des 21. Jahrhunderts fordern nun sämtliche abschließend definierten Raumkonzepte heraus, ob absolut oder relational, erheben gar den Raum zum experimentellen Hauptelement von Produktionen, in denen er auf vielfältigste Weise zu theoretisieren, nicht jedoch zu kategorisieren ist.10 Theatrale Praktiken deuten öffentliche Räume um und schaffen offene, veränderbare, transitorische Räume. Sie durchbrechen architektonische Räume, wenn phänomenale Atmosphären sie übersteigen. Vernetzte Räume und Räume der Vernetzung, imaginäre Räume und Räume des Imaginären rücken in den Fokus, leibliche Räume werden ausgelotet und affiziert, Grenzen verschwimmen.11 Nichtfiktive Räume werden zum Thema theatraler Blicke und sind plötzlich eingebunden in den theatralen Kosmos – fiktiv oder nichtfiktiv? Real, imaginär, symbolisch? Verfügbar, unverfügbar? Was ist der Raum? Wann ist der Raum? Den Theaterdiskurs eint eine Vorstellung vom Raum, der – wie der Körper – nicht als substanziell gegebene äußerliche Hülle zu verstehen ist. Ebenso wenig kann er auf das Produkt individueller Wahrnehmung reduziert werden.12 Der theatrale Raum speist sich vielmehr aus einer Verflechtung räumlicher 10 | Gabriele Brandstetter und Birgit Wiens stellen diese Tendenzen (Martina Löw zitierend) in den Zusammenhang eines breit angelegten Wandels, in dem »Einstein den absoluten Raum auflöste, Sigmund Freud die menschliche Identität vergliederte, die Kubisten die einheitliche Form zerstörten und Ferdinand de Saussure seinen strukturalistischen Denkansatz entwickelte«. Martina Löw: Raumsoziologie, S. 23. Vgl. Gabriele Brandstetter/Birgit Wiens: »Ohne Fluchtpunkt: ›Szenische Module‹ und der Tanz der Teile. Anmerkungen zu Szenographie und Choreographie nach Appia«, in: Dies. (Hg.): Theater ohne Fluchtpunkt. Das Erbe Adolphe Appias: Szenographie und Choreographie im zeitgenössischen Theater, Berlin: Alexander Verlag 2010, S. 7-36, hier S. 10. 11 | Theaterkonzepte wie das Environmental Theatre oder das Site-Specific-Theatre sind Beispiele für diesen Umgang mit Räumlichkeit im Theater. Vgl. beispielhaft die Untersuchung von Gerald Siegmund: In die Geschichte eintreten. Performatives Erinnern bei Rimini Protokoll und Klaus Michael Grüber. In: Moritz Csàky/Christoph Leitgeb (Hg.): Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem ›Spatial Turn‹, Bielefeld: transcript 2008, S. 71-92. 12 | Innerhalb der Theaterwissenschaft hat sich so etwa der subdisziplinäre Bereich der Szenografie ausdifferenziert, der die Raumkonstitution mit theatralen Praktiken konfrontiert. Vgl. beispielhaft Ralf Bohn/Heiner Wilharm (Hg.): Inszenierung und Ereignis. Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie, Bielefeld: transcript 2009.

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Dimensionen: Geografische und architektonische Räume treffen auf relationale Räume der Aushandlung von Beziehungen, auf leibliche Körperräume oder phänomenale Räume. Insbesondere der phänomenale Raum blickt auf einen langen, theaterwissenschaftlich reflektierten Traditionszusammenhang zurück, der maßgeblich von Raumverständnissen Edmund Husserls, seines Schülers Martin Heideggers und Maurice Merleau-Pontys geprägt ist.13 Bereits Husserl ging etwa davon aus, dass Wahrnehmung entscheidend für die Raumkonstitution ist, was sich sowohl der abstrakten physikalisch-mathematischen Raumkonzeption als auch dem relationalen Ansatz widersetzt. Heidegger nimmt wiederum eine Vierdimensionalität des Raumes in Verbundenheit mit der Zeit an und entwirft das Konzept des In-der-Welt-Seins auf der Grundlage des Geworfenseins in die Welt. Merleau-Ponty, der eine Position zwischen Husserl und Heidegger besetzt, geht von einem daran angelehnten Zur-WeltSein aus. Erst die subjektive Wahrnehmung in ihrer Gerichtetheit führe dazu, dass dem Subjekt ein Raum erscheinen kann. Es sei die Räumlichkeit der Existenz, die zwischen der »Bühne der Einbildung«14 und dem »Schauspiel der Welt«15 denkbar wird. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass, während sowohl die Theorie vom absoluten Raum als auch vom Raum als Relationszusammenhang die Verfügbarkeit und Äußerlichkeit des Raumes suggerieren, die Praktiken (und Theorien) des Theaters dem Raum eine Verbindung zur Innerlichkeit von Subjekten abnötigen und sich dem Denken eines Unverfügbaren annähern. Es sind diese Faktoren, die den Raum etwa über Arrangements, Atmosphären und affektive Implikationen sichtbar machen – auf der Basis einer Leiblichkeit, die sich räumlich situiert. Ferner erscheint der Raum des Theaters als reines Potential dessen, was es nicht ist. Allein der Bühnenraum ist leere Konstitutionsbedingung der Abwesenheit eines Anderen des Theaters, die auf jenes verweist und ihm anhaftet, ohne sich zu zeigen. Insbesondere erweisen sich die Konzepte von Räumen, Körpern und Grenzen als ein ineinander verschachtelter Problemkomplex. Der theatrale Raum ist somit zu einem erheblich facettenreicheren Topos avanciert als die herrschenden Raumtheorien in binären Oppositionen – oder ein emanzipatorisches Fortschrittsdenken in13 | Vgl. zu diesen Ausführungen Martin Heidegger: »Bauen Wohnen Denken (1951)«, in: Heidegger Gesamtausgabe (1954). Band 7: Vorträge und Aufsätze (1936-1953), hg. v. F.-W. von Herrmann, Frankfurt/M: Vittorio Klostermann 2000, S. 139-156; Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: De Gruyter 1965, S. 5f.; Stephan Günzel: »Philosophie«, in: Fabian Kessl/Christian Reutlinger/Susanne Maurer/ Oliver Frey (Hg.): Handbuch Sozialraum, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 89-110. 14 | Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 6. 15 | Ebd., S. 5.

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nerhalb des Diskurses vom deterministisch-absoluten zum dynamisch-relativen Raum – suggerieren. Bereits an dieser Stelle kann von einem komplexen Raumkörper gesprochen werden, will man den theatralen Raum vorstellbar und beschreibbar machen. Den Raumkörper der Sauberen Folter vor dem Hintergrund eines unverfügbaren Raumes der Abwesenheit zu denken, verlangt daher so aufmerksame wie langsame Annäherungen vorzunehmen: Gewusst werden kann ein geografischer Raum, dem die geheimen Lager als (Nicht-)Orte einwohnen. Innerhalb dieses Raumes werden Gefangene buchstäblich zum Verschwinden gebracht. Es ist nach dieser Grenze oder Schwelle, an der dieser ins Verschwinden kippt, zu suchen, bevor der Raum des Lagers selbst als geheimer Ort thematisiert werden kann, der noch sein eigenes Verschwinden verschleiert. Der Raum wird zum »eigenständige[n] Mitspieler«16 der Sauberen Folter und Raumtheorie zur Schwellenkunde. Und der theaterbasierte Ansatz erweist sich erneut weniger als zweckdienliche Analogie denn als ernstzunehmendes wissenschaftliches Analysewerkzeug, das Verbindungslinien zwischen theatralen und politischen Praktiken bezeugt.

3.1 K örperr äume : D ie F estnahme Der Gefangenschaft von Verdächtigen in Lagerenklaven geht nach Angaben ehemaliger Häftlinge die Auslieferung an nationale Sicherheitsfirmen oder internationale Berichterstatter voraus. In den Untersuchungsergebnissen des Sonderermittlers der Vereinten Nationen Dick Marty, der im Auftrag des Europarates die Beteiligung europäischer Staaten an der Verschleppung und Inhaftierung von Terrorverdächtigen untersuchte, sowie in der Auswertung der Zeugenaussagen, die von Menschenrechtsorganisationen, Anwälten und Journalisten gesammelt wurden, fällt die Häufigkeit der Berichte von zweifelhaften Verdächtigungsgründen, Denunziationen oder auch dem Verkauf von Verdächtigen an Ermittler auf.17 Dem Akt der Festnahme haftet nicht zuletzt aus diesen Umständen heraus etwas radikal Thesenhaftes an. Er basiert zudem auf 16 | Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 300. 17 | Vgl. Bericht des Sonderermittlers Dick Marty: »Alleged Secret Detentions and Unlawful Inter-State Transfers Involving Council of Europe Member States. Committee on Legal Affairs and Human Rights, Draft Report«, siehe http://assembly.coe.int/ CommitteeDocs/2006/20060606_Ejdoc162006PartII-FINAL.pdf vom 07.06.2006, S. 20. Eine ergiebige Reportage zu Martys Ermittlungsarbeit lieferte Der Spiegel im Jahr 2005. Vgl. Georg Mascolo/Hans-Jürgen Schlamp/Holger Stark: »Jagd auf Hercules N8183J«, in: Der Spiegel 48/2005, S. 120-122, siehe www.spiegel.de/spiegel/ print/d-43301994.html.

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der symbolischen Kategorisierung der Verdächtigen: Als High-Value-Detainees eingestuft, besitzen sie den Ermittlungen nach mit hoher Wahrscheinlichkeit geheimdienstliches Wissen. Detainees of Interest geben lediglich Anlass zu dieser Vermutung. Eine dritte Kategorie umfasst zufällig Festgenommene, die allein aufgrund ihrer physischen Präsenz in Konfliktsituationen als verdächtig gelten und in Gewahrsam genommen werden können (Civilian Detainees)18. Statistiken des Roten Kreuzes zufolge werden 80 bis 95 Prozent aller Häftlinge zu einem späteren Zeitpunkt als nicht verdächtig eingestuft, doch nur wenige können aufgrund komplexer rechtlicher Bestimmungen in ihr Heimatland entlassen werden.19 Alle drei Kategorien verbindet ihre Sonderstellung außerhalb der rechtlichen Regulierung von Festnahmen: Weder müssen die Verdächtigen über die Gründe ihrer Inhaftierung informiert werden noch haben sie ein Recht auf anwaltliche Vertretung oder vergleichbare Rechtsmittel. Der Verdächtige verkörpert somit die These des Terrors. Sobald er in eine der verfügbaren Rollen fällt, tritt er einen Teil von sich an diese ab. Dem Akt der Entkörperung durch die Verkörperung des Verdachts folgen weitere theatrale Prozesse, die sich hier beschreiben lassen. Sowohl den Verhörhandbüchern KUBARK und HREM als auch dem US-Army Field Manual zufolge müssen sämtliche Umstände und Bedingungen der Festnahme auf bestimmte Eindrücke und Wirkungen hin gestaltet werden. Dies beginnt bereits mit der Wahl des Zeitpunkts der Festnahme: The manner and timing of arrest can contribute substantially to the interrogator’s purposes. ›What we aim to do is to ensure that the manner of arrest achieves, if possible, surprise, and the maximum amount of mental discomfort in order to catch the suspect off balance and to deprive him of the initiative. […] The ideal time at which to arrest a person is in the early hours of the morning because surprise is achieved then, and because a person’s resistance physiologically as well as psychologically is at its lowest […].‹20

18 | Vgl. US Army Field Manual (FM 2-22.3), siehe www.fas.org/irp/doddir/army/fm222-3.pdf vom 06.09.2006, S. 6-4; Eliza Griswold: »American Gulag: Prisoner’s Tales from the War on Terror«, in: Harper’s Magazine 09/2006, o.S. 19 | Vgl. Fay/Jones: »The Fay/Jones Report«, in: Mark Danner: Torture and Truth, S. 403579, hier S. 447. 20 | KUBARK, S. 85. Wer hier im Handbuch zitiert wird, lässt sich aufgrund von Schwärzungen nicht nachvollziehen. Die Quelle wird betitelt als »Anonymus […], Interrogation, undated. This paper is a one-hour-lecture on the subject. It is thoughtful, forthright, and based on extensive experience. It deals only with interrogation following arrest and detention. Because the scope is nevertheless broad, the discussion is brisk but necessarily less than profound.« KUBARK, S. 110.

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Die Festnahme ist entworfen als Akt des Überfalls, als Moment des Inkommensurablen und plötzlichen Einbruchs in das »raumzeitliche Kontinuum«21, in welches das Subjekt bis zu diesem Zeitpunkt eingebettet war. Als unvorhersehbares, unberechenbares und unkontrollierbares Ereignis gestaltet, trägt es eine prinzipielle Unverfügbarkeit, eine terrorisierende Potentialität aller nun möglichen Geschehnisse vor sich her. Wo der Theaterdiskurs etwa im plötzlichen Einbruch des Realen in den theatralen Kosmos eine »wirkende Kraft (energeia)«22 sich entfalten sieht und die Sprengung eines (Theater-)Rahmens durch fundamentale Verunsicherung als produktiv markiert, wirken ähnliche Mittel hier als Strategien der Subordination. Verstärkt werden sie im Verlauf der Festnahme durch Handlungen, die – nahezu einstudiert – eine Dramaturgie der Disziplinierung bilden: […] four to six CIA agents perform the operation in a highly-disciplined, consistent fashion – they are dressed in black (either civilian clothes or special ›uniforms‹), wearing black gloves, with their full faces covered. Testimonies speak, variously, of ›big people in black balaclavas‹, people ›dressed in black like ninjas‹ […] the CIA agents ›don’t utter a word when they communicate with one another‹, using only hand signals or simply knowing their roles implicitly. 23

Die Handlungen konzentrieren sich dabei zunächst auf die Kleidung des Subjekts, das sukzessive zum Häftling wird. Nachdem ihm die eigenen Kleider von Leib geschnitten werden – der Schnitt artikuliert eine Gewalt an der Kleidung als Substitut der Haut, die das Subjekt umhüllt und schützt –, wird der entblößte Körper fotografiert und invasiver Untersuchungen aller Körperöffnungen unterzogen. Die totale Verfügung über ein Individuum stellt sich hier wesentlich auf der Basis des Körpers dar. In den Praktiken des Eindringens in den körperlichen Raum des Häftlings lösen sich (Körper-)Grenzen auf. Er wird zu einer nackten, verwundbaren Stelle im Raum – als Raum, der geöffnet, versehrt, ver21 | Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 200. 22 | Ebd., S. 179. 23 | Bericht des UN-Sonderermittlers Dick Marty 2006, S. 21. Das US-amerikanische Human Resources Exploitation Training Manual aus dem Jahr 1983 betont an dieser Stelle: »As to the manner of arrest, it is very important that the arresting party behave [sic!] in such a manner as to impress the subject with their efficiency. The subject should be rudely awakened and immediately blindfolded and handcuffed.« HRETM, S. 48. Solch ein Ablauf wird ferner beschrieben in Trevor Paglen/A.C. Thompson: Torture Taxi. On the Trail of the CIA’s Rendition Flights, Cambridge: Icon Books 2007, S. 18. Auch die Zeugen, die Roger Willemsen befragt hat, berichten von diesem einstudierten Ablauf. Vgl. Willemsen: Hier spricht Guantánamo, S. 41, 43.

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ändert und gestaltet werden kann. Mit einem farbigen Overall wird er als Gefangenenkörper markiert, seine Haare rasiert, seine Bewegungen mit einem Dreiteiler von den Knöcheln über die Handgelenke hinter dem Rücken zur Hüfte gefesselt, seine perzeptiven Sinne durch vestimentäre Arrangements depriviert. Verbundene Augen, Kopfhörer und ein Sack, mit dem der Kopf verhüllt und der Gleichgewichtsinn ausgeschaltet wird24, machen jedwede Eigenheit des Subjekts vergessen und bringen einen signifikativen Gefangenenkörper hervor, der den Gefangenen zwar als Gefangenen darstellt, sich aber in sich selbst erschöpft und den Zugang zum darin begrabenen Subjekt blockiert. So begegnet der Häftling einer Foltererfahrung am eigenen Leib, der nicht einmal mehr der Eigene sein darf. Was ist hier nun aber der Körper? Als universelles und substanzielles Konzept kann er nicht gedacht werden, nicht als Hülle oder Behälter, in dem sich Organe situieren. Zugrunde liegt vielmehr ein Verständnis von einem Körper, der sich leiblich in der Welt situiert, in die Welt einbettet und mit der Welt in Verbindung ist. Dieses In-der-Welt-Sein, wie es Maurice Merleau-Ponty entworfen hat, gründet darin, dass sich der Körper mit seiner Physiognomie, seiner Motorik und seinen Sinnen zur Welt verhält und einen auf die Welt hin offenen Körperraum bewohnt – Leiblichkeit bedeutet so immer auch leibliche Räumlichkeit. Der Körper weiß um seine Immanenz in der Welt, nur so kann er sich in seinen körperlichen Aktivitäten, Möglichkeiten und Handlungen auf diese Welt hin entwerfen. Ein solches Körperwissen impliziert ein Körpergedächtnis, das körperliche Erfahrungen über sinnliche Kanäle erinnert und sich immer neu in Körperhandlungen aktualisiert, die sich zur Welt verhalten.25 Zugleich zeigt das eine Angreif barkeit an, die Verwundbarkeit eines 24 | Ein Gefangener pointiert: »[…] it was so painful not being able to speak, to hear, to breathe properly, to look, to turn left or right, to move your hands, stretch your legs, or anything«. Zit n. Stephen Grey: »Flight Logs Reveal Secret Rendition«, in: The Sunday Times vom 25.11.2007, o.S., siehe www.thesundaytimes.co.uk/sto/news/world_news/ article75961.ece. Vgl. ein Beispiel dieses Vorgehens in International Committee of the Red Cross: »ICRC Report on the Treatment of fourteen ›High Value Detainees‹ in CIA Custody, February 2007«, siehe http://wlstorage.net/file/icrc-report-2007.pdf (Download via wikileaks). Solche Methoden der Desorientierung zum Zeitpunkt der Festnahme waren auch bei politischen Festnahmen in der DDR nicht unüblich. Vgl. Robert Zagolla: Im Namen der Wahrheit. Folter in Deutschland vom Mittelalter bis heute, Berlin: Be.Bra Verlag 2006, S. 171. 25 | Vgl. dazu Gerald Siegmunds Rückführung der tänzerischen Körperbewegung auf den »gestalterischen Vorausblick« körperlichen Handelns. Gerald Siegmund: »Das Gedächtnis des Körpers in der Bewegung«, in: Leopold Klepecki/Eckart Liebau (Hg.): Tanzwelten. Zur Anthropologie des Tanzes. Münster: Waxmann 2008, S. 29-44. Wenn der Körper um sein In-der-Welt-Sein weiß, erinnere er eine »Bewegungsgestalt aus der

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Raumes, in den fernab seiner bloßen Physis gewaltsam eingedrungen werden kann. Die Bewegungsunfähigkeit des gefesselten Häftlings, die sensorische Deprivation und Desorientierung, der Verlust des Eigenen, des eigenen Raumes, verschließen nun jenen Körper(gedächtnis)raum, der Bewegungen, Empfindungen und Sinneswahrnehmungen im körperlichen Handeln erinnern könnte. Weder körperliches Handeln noch die Wahrnehmung über die Sinne ermöglichen die eigene Verortung im Raum und ein Sichverhalten zur Welt. Alle körperlich-leiblichen Kanäle sind verschlossen, der Gefangene vermag dem Raum und seinem eigenen Raum nicht länger einzuwohnen und ein Prozess unvermittelten Selbstvergessens setzt sich in Gang. Im Kostüm dieses Vergessens wird der Häftling an den Boden eines Flugzeugs gekettet, das ein weiteres Vergessen in Gang setzt, sobald der Häftling darin den Weg seines eigenen Verschwindens und des Verschwindens des Eigenen beschreitet.26

3.2 S chwellenkunde : R endition F lights Der Transport des Gefangenen in ein Lager folgt nicht einfach einer linearen Route zwischen einem sichtbaren Ort der Festnahme und einem unsichtbaren Ort des Lagers. Die außerordentliche Überstellung (extraordinary rendition) weist eine erheblich komplexere Struktur auf, die Sichtbarkeit nicht an einer bestimmbaren Grenze in Unsichtbarkeit kippen lässt. Sie zeichnet sich durch den in räumliche und zeitliche Bruchstücke zerteilten Weg des Häftlings an den geheimen Ort aus, in dessen Verlauf sich das Verschwinden und die Vernichtung von Spuren sukzessive vollzieht. Der Diskurs kennt die US-amerikanische Praxis der außerordentlichen Überstellung in ein Gefangenenlager außerhalb des nationalen Territoriums als Outsourcing, das gleich mehrere Exklusionsprozesse in sich vereinigt. So werden Terrorverdächtige nicht nur aus territorialen und nationalen Räumen verbannt, sondern auch aus Räumen des Rechts ausgeschlossen.27 Die Erfahrung heraus« ohne den Umweg über ein verstandesmäßiges Erinnern, Planen und Durchführen von körperlichem Handeln. Ebd., S. 32f. 26 | Vgl. Bericht des UN-Sonderermittlers Dick Marty 2006, S. 20ff. Vgl. Paglen/ Thompson: Torture Taxi. 27 | Der ökonomisch konnotierte Begriff des Outsourcing geht sogar noch weiter. Er verweist nicht nur auf die Auslagerung aus dem nationalen Raum und auf die Aberkennung von Rechten, sondern auch auf die Auslagerung von Sicherheitsbefugnissen innerhalb des Lagers an inländische Drittunternehmer – deren Handeln den Genfer Konventionen nicht untersteht, wenn das jeweilige Land kein Vertragspartner dieser Konventionen ist. Hier stellt sich einmal mehr die Frage nach der Un-/Möglichkeit von uni-

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in diesem Diskurs verbreitete Annahme eines von CIA und US-Militär eingerichteten exterritorialen Lagersystems als Reaktion auf die Ereignisse des 11. September 2001 unterschlägt allerdings den Auf bau des Rendition Programmes bereits in den 1990er Jahren. Primäres Ziel dieses Programms waren weder Informationen noch Geständnisse. Vielmehr galt es, Gefahren von der Straße (off the streets) zu entfernen. Es unterlag damit dem US-amerikanischen Selbstverständnis vom globalen und geopolitischen Schutz vor terroristischen Angriffen.28 Dennoch muss 9/11 als historische Zäsur gelten, die maßgeblichen Einfluss auf die Praxis außerordentlicher Überstellungen genommen hat. Seither sind diese für US-amerikanische Akte durch ein Memorandum mit dem Titel The President’s Power as Commander in Chief to Transfer Captive Terrorists to the Control and Custody of Foreign Nations autorisiert. Das Memorandum begründet seither den Wandel des Rendition Programs hin zu einer systematisierten Internierung von Terrorverdächtigen auf unbestimmte Zeit in einem rechtsfernen Raum – als Teil des Entschlusses der US-amerikanischen Exekutive, die Parameter und Standards des Verhörs neu zu definieren. Dazu gehörte die Entwicklung und Legalisierung verschärfter Verhörmethoden (enhanced interrogation techniques) unter Ausschluss öffentlicher Kenntnisnahme.29 Vor versellen Menschenrechten. Vgl. Jane Mayer: »Outsourcing Torture, The Secret History of America’s ›Extraordinary Rendition‹ Program«, in: The New Yorker vom 14.02. 2005, o.S., siehe www.newyorker.com/archive/2005/02/14/050214fa_fact6; Susanne Krasmann: »›Outsourcing Torture‹. Zur Performanz von Rechtsstaatlichkeit«, in: Patricia Purtschert/Katrin Meyer/Yves Winter (Hg.): Gouvernementalität und Sicherheit: Zeitdiagnostische Beiträge im Anschluss an Foucault, Bielefeld: transcript 2008, S. 19-48. 28 | Vgl. Bericht des UN-Sonderermittlers Dick Marty 2006, S. 9. Auffällig ist hier eine semantische Ähnlichkeit im Kommentar Dianne Feinsteins zum Bericht des US-Senats zum Internierungs- und Verhörprogramm der CIA nach dem 11. September: »Ich verstehe den Impuls der CIA, mit allen nur möglichen Mitteln Geheimdienstinformationen zu sammeln und die Terroristen vom Schlachtfeld zu entfernen […].« Dianne Feinstein: »Vorwort«, in: Wolfgang Neskovic: Der CIA-Folterreport, S. 31-35, hier S. 32. 29 | Vgl. John C. Yoo: »MEMORANDUM FOR William J. Haynes II, General Counsel of the Department of Defense, 14.03.1003.« Veröffentlicht durch das US-Verteidigungsministerium, siehe www.justice.gov/olc/docs/memo-combatantsoutsideunitedstates.pdf, S. 6. Vgl. dazu auch Jane Mayer: »Outsourcing Torture, The Secret History of America’s ›Extraordinary Rendition‹ Program«, o.S. Im gleichen Jahr berichtete die Washington Post erstmals über die Praxis außerordentlicher Überstellungen der USA und lieferte Zusatzinformationen etwa über die dafür gegründete CIA-Charterfluglinie mit rund 20 Flugzeugen. Vgl. Dana Priest/Barton Gellman: Priest, Dana/Gellman, Barton: »U.S. Decries Abuse but Defends Interrogations«, siehe www.washingtonpost.com/wp-dyn/ content/article/2006/06/09/AR2006060901356.html vom 26.12.2002.

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dem Hintergrund des Schwerpunkts der Debatte, der sich im US-amerikanischen Raum verortet, sind an dieser Stelle jedoch die Ermittlungsergebnisse jenes UN-Sonderermittlers Dick Marty einzubeziehen. Diesen zufolge kann das Programm nicht nur als Spezifikum der Vereinigten Staaten verstanden werden. Mehrere europäische Staaten folgten oder folgen noch dieser Praxis der Exklusion von Subjekten aus eigenen Räumen, aus nationalen, territorialen, rechtlichen, ja sogar körperlichen Räumen, unterstützen oder dulden sie.30 Tritt man nun näher an diese Praxis der außerordentlichen Überstellung heran, so erfolgt sie zunächst vermittels ziviler Flugzeuge, die keine militärische Kennung tragen. Sie sind auf sämtlichen Flugplänen sichtbar, werden jedoch nicht auffällig: »They achieved stealth by looking so boring that no one would bother paying them much attention.«31 Zuspitzen ließe sich dies als Maskerade der Gewöhnlichkeit, die gerade durch eine Nichtinszenierung inszeniert. Durch diese (Nicht-)Inszenierung symbolisieren die Flugzeuge ein Verschwinden zweiter Ordnung: Während sie ihre Unbedeutsamkeit zur Schau stellen, die nicht auf das Verschwindenlassen schließen lässt, verschwindet das Verschwinden. Die Abwesenheit der Inszenierung begründet eine Inszenierung, die durch Sichtbarkeit das Verstecken versteckt. Durch Landungen des Flugzeugs an unzähligen Zwischenstationen wird der Transport über den Luftraum in Fragmente zerlegt. Die Dauer der Aufenthalte in Gefängnissen verschiedener Länder variiert zwischen Stunden oder Tagen bis hin zu Monaten oder Jahren. So berichtet ein Gefangener: »I spent two months and twenty-two days in Peshawar prison, fourteen days at Bagram, two months and eight days in Kandahar and two years and four months in Guantánamo […].«32 Zwischen Stillstand und Bewegung verlieren sich Spuren. (Un-)Sichtbarkeit basiert hier auf physikalischen Luftfahrtfrequenzen, auf Spuren auf dem Radar. An Orten wie dem Testgelände Desert Rock Airstrip (DRA) gleitet der Gefangene in diese Unsichtbarkeit hinein: »Once the plane 30 | Nicht nur hier ist der Verlockung zu widerstehen, die (Lager-)Politik der Vereinigten Staaten nach 9/11 als kulpabilisierbaren Einzelfall zu verhandeln. Es muss berücksichtigt werden, dass dies die harschen Kritiken der Folterungen in Abu Ghraib und Guantánamo seitens amerikanischer Journalisten und NGOs ebenso verkennt wie die Zugangsmöglichkeiten zu Quellenmaterial in amerikanischen Archiven. Bis heute legen andere westliche Staaten keine Quellen offen, wenn es um außerordentliche Überstellungen, Haft in exterritorialen Lagern, verschärfte Verhöre oder Saubere Folter geht. 31 | Amnesty International: »Below the Radar: Secret Flights to Torture and ›Disappearance‹«, London: Amnesty International Publications 2006, S. 5. Eine solche Inhaftierung wird auch incommunicado detention genannt. Vgl. ebd. 32 | Vgl. Sara Daniel: »An Innocent Man in the Hell of Guantánamo«, siehe http://hu manrights.ucdavis.edu/projects/the-guantanamo-testimonials-project/testimonies/ prisoner-testimonies/an-innocent-man-in-the-hell-of-guantanamo vom 01.01.2005.

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has entered the military airspace above DRA, it resets its radio and transponder frequencies, ›disappears‹ from sight, and quietly proceeds to the ›black site‹ instead of its stated destination.«33 Im Flug verliert sich der Name des Häftlings, der nicht auf internationalen Gefangenenlisten geführt wird, die von Menschenrechtsorganisationen wie dem International Red Cross Committee verwaltet werden: »The use of names of the prisoners will be replaced by codes so nobody can try to trace them.«34 Intern wird er durch einen Code ersetzt, die Internment Serial Number.35 Nach der Landung des Flugzeugs vollzieht sich auch der Weg vom Landeplatz zum Lager geheim, worauf bereits das Human Resources Exploitation Training Manual im Jahr 1983 hinweist: »Prisoners should be transported to the ›questioning‹ facility in a closed vehicle by way of a circuitous route to prevent his detecting where he is being held.⁠«36 So gehen nicht nur der menschliche Körper des Häftlings verloren, sondern auch immer mehr Spuren, die auf seine Existenz verweisen. Die umfassende Exklusion aus rechtlichen Räumen basiert paradoxerweise auf einem Rechtsakt, was die Exklusion an das Rechtssystem bindet. Dieser Rechtsakt kategorisiert den Gefangenen als nicht in den Geltungsbereich der Genfer Konventionen fallenden illegalen feindlichen Kombattanten (illegal enemy combatant), der vom Anspruch auf Menschenrechte ausgeschlossen ist.37 Die Figur begründet eine den Genfer Konventionen, die die Kategorie der Kriegsgefangenen (Prisoners of War) und Zivilisten (Civilians) kennt, nicht zugehörige rechtlose Kategorie eines Dritten, in der das Recht sich durch Exklusion anwendet. Im Schwellenraum zwischen Recht und Unrecht verlieren

33 | Paglen/Thompson: Torture Taxi S. 2. Paglen und Thompson haben Planespotter interviewt, welche die Flugrouten solcher Maschinen verfolgen. 34 | Zitat eines amerikanischen Verhörbeamten, zit.n. Jonathan H. Marks: »Doctors as Pawns? Law and Medical Ethics at Guantánamo Bay«, in: Ojeda (Hg.): The Trauma of Psychological Torture, S. 92-112, hier S. 104. 35 | Vgl. McCoy: Foltern und foltern lassen, S. 100. 36 | HRETM, S. 49. 37 | Das Yoo-Memorandum vom 9. Januar 2002 stufte die Mitglieder der Terrororganisationen Al Qaeda und Taliban als illegale feindliche Kombattanten ein und negierte deren Status als Rechtssubjekte. Am 18. Januar 2002 unterrichtete der Rechtsberater des Weißen Hauses Alberto R. Gonzales den Präsidenten in einem Memorandum über ein Rechtsgutachten, dass die Genfer Konventionen im so genannten Krieg gegen den Terror nicht zwingend angewendet werden müssen. Am 22. Januar 2002 erreichte Gonzales das Memorandum des Staatssekretärs des Justizministeriums Jay S. Bybee, der einen juristischen Leitfaden für das verschärfte Verhör bereit stellte. Vgl. die abgedruckten Auszüge der Memoranda in Mark Danner: Torture and Truth, S. 78-186.

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die Menschenrechte an Bedeutung, während der Akt der Exklusion diese Bedeutung gewinnt. So beschreibt der Philosoph und Literaturwissenschaftler Giorgio Agamben bereits in den 1990er Jahren die Denkfigur der einschließenden Ausschließung. Agamben bezeichnet damit den Vorgang, ein Rechtssubjekt durch einen Rechtsakt aus dem Geltungsbereich des Rechts auszuschließen. Dabei meint er mit der sich einstellenden Impotenz des Rechts, auf das sich dieses Subjekt nicht mehr berufen kann, nicht ein bloßes Unvermögen des Rechts, nicht die Negation seiner Potenz. Vielmehr begreift er die Nicht-Anwendung gleichwohl als Akt, als aktives Negativ der Potenz. So bewahrt das Gesetz seine Geltung, während es jedoch akut an Bedeutung verliert.38 Die einschließende Ausschließung leitet Agamben aus der rechtlichen Konstruktion des Ausnahmezustands ab, der durch seine souveräne Erklärung sämtliche Rechtsnormen performativ aus ihrem Geltungsraum katapultiert – und eine Leerstelle zurücklässt, in der sich der Ausnahmezustand auf Dauer stellt. Durch den Rechtsakt der Erklärung des Ausnahmezustands jedoch bleibt dieser gebunden an den Raum, aus dem er sich ausschließt: [W]as die Ausnahme eigentlich kennzeichnet, ist der Umstand, daß das, was ausgeschlossen wird, deswegen nicht völlig ohne Beziehung zur Norm ist; sie bleibt im Gegenteil mit ihr in der Form der Aufhebung verbunden. Die Norm wendet sich auf die Ausnahme an, indem sie sich von ihr abwendet, sich von ihr zurückzieht. 39

Ein ähnlicher – höchstpersönlicher – Ausnahmezustand trifft nun den Gefangenen, der sich nicht nur keiner Rechtsmitteln bedienen und nicht auf Menschenrechte berufen kann, sondern der schlicht als Rechtssubjekt vernichtet wird. Übrig bleibt bloßes nacktes Leben und selbst dieses als nicht vergesellschaftetes Leben fällt durch seine Exklusion in die Sphäre des (Juridisch-)Politischen, die ihn gerade – um es mit einer Wendung Hannah Arendts zu sagen40 38 | Agamben entwickelt hier Walter Benjamins Formel der Geltung ohne Bedeutung weiter. Vgl. Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben [Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita 1995], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 62. Zur theaterwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Agamben vgl. Matthias Warstat: »Ausnahme von der Regel. Zum Verhältnis von Theater und Gesellschaft«, in: Christel Weiler/Jens Roselt/Clemens Risi (Hg.): Strahlkräfte. Festschrift für Erika Fischer-Lichte, Berlin: Theater der Zeit 2008, S. 116-133. 39 | Agamben: Homo Sacer, S. 27. 40 | Arendt adressiert in ihrer berühmten Kritik der Menschenrechte die zahlreichen Unklarheiten, die dieses als Ideal konzipierte Rechtsfundament prägen, Moral und Gesetz unlösbar verquicken und so letztlich zur Illusion verkümmern. Vgl. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München: Piper Verlag 2005.

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– seines Rechts auf Rechte beraubt hat. Das nackte Leben fällt gleichzeitig aus dem schützenden Rahmen des Rechts heraus und in den Rahmen des normierenden politischen Rechts hinein.41 Das bedeutet, das Recht wird nicht annulliert, sondern suspendiert. Es besitzt weiterhin Geltungsanspruch, doch seine Bedeutungslosigkeit wird zur Regel für die Ausnahme. Es bildet mit der einschließenden Ausschließung einen äußeren Innenraum im Rechtssystem aus, einen inneren Raum, der ihm fremd bleibt oder einen äußeren Raum, der wirkungslos im Recht verinnerlicht ist – einen rechtsleeren Nicht-Raum, in dem der Gefangene herumgeistert. Agamben denkt diesen Raum quasi-räumlich als Grenzbereich, an dem sich Recht und Unrecht überlappen, als Schwellenraum oder Zone der Ununterscheidbarkeit.42 In diesem Dazwischen situieren sich die souveräne Macht und das bloße Leben in einer spiegelverkehrten Opposition, denn beide bewegen sich innerhalb und außerhalb des Rechts. Anders als der Politiktheoretiker und Referenzautor Carl Schmitt begreift Agamben die Leistung der Souveränität damit nicht als Raumteiler zwischen einem Außen und Innen des Rechts. Schmitts Begriff der souveränen Dezision ersetzt er mit dem souveränen Bann als unsichtbare und unpersönliche Struktur, als originäre politische Beziehung. Niemand kann sich vom Recht abwenden, doch es bedeutet nicht. Es beansprucht Geltung, kann aber nicht angewendet werden. Die einschließende Ausschließung konstituiert so das Recht als Sphäre des Politischen und den Ausnahmezustand als ursprüngliches Dispositiv, das durch die Suspendierung des Rechts alles Lebendige in sich einschließt.43 Die Kategorien von Innen und Außen leiten hier also fehl, denn es geht gerade um die Abschaffung solcher Grenzen. Die Kategorisierung des Gefangenen als illegaler feindlicher Kombattant geht in diesem Sinne über seine Exklusion aus dem rechtlichen Raum hinaus. Die Struktur der einschließen41 | Die Spaltung in bloßes und vergesellschaftetes Leben lehnt Agamben an die Aristotelische Nikomachische Ethik an – und setzt sie als konstitutiv für biopolitische Prozesse der Moderne. Anders als etwa Foucault Biopolitik denkt, ist das bloße Leben bei Agamben weiterhin eng mit der politischen Sphäre verwoben, da diese ohne es gar nicht existierte. Der Akt der Spaltung des Lebens macht die Bloßheit erst ausschließbar und erhält stets den Bezug zur Souveränität und politischen Sphäre. Vgl. Thomas Khurana: »Desaster und Versprechen. Eine irritierende Nähe im Werk Giorgio Agambens«, in: Janine Böckelmann/Frank Meier (Hg.): Die gouvernementale Maschine. Zur politischen Philosophie Giorgio Agambens, Münster: Unrast Verlag 2007, S. 29-44. 42 | Daran erinnert interessanterweise eine Passage Fischer Lichtes: »Während die Grenze als Linie gedacht wird, die etwas ein- und anderes ausschließt, als eine Scheidelinie, ist die Schwelle als ein Zwischenraum vorzustellen, in dem sich alles mögliche ereignen kann.« Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 358. 43 | Vgl. Giorgio Agamben: Homo Sacer, S. 114ff.

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den Ausschließung prozessiert eine Transformation des Gefangenen in ein Subjekt, das nicht Rechtssubjekt ist, aber weiterhin als rechtsfremdes Subjekt im Recht, als rechtliches Geisterwesen existiert, zwischen Leben und Tod. Es haust in der Figur des so genannten ghost detainee, die eben jene Gefangenen bezeichnet, deren Identität verschleiert wird und die ohne Rechtsgrundlage in geheimen Lagern interniert werden.44 Die Zone jenseits des Rechts, jenseits innerer und äußerer Grenzen, die von dieser gespenstischen Figur bewohnt wird, ist somit nicht räumlich gegeben, aber als Funktionsstelle räumlich vorstellbar. Seines rechtlichen Körpers und Namens beraubt und von der politisch-rechtlichen Sphäre abgezogen, gerät der ghost detainee in die Maschinerie der politisch-rechtlichen Souveränität. Zugunsten letztlich einer Figur tritt der Gefangene hier seinen Körper ab, was eine theaterwissenschaftliche Perspektivierung erlaubt. Denn der Gefangene stellt sich nicht einfach als Figur des ghost detainee dar. Er verkörpert vielmehr seine eigene Apräsenz. Diese Form der Repräsentation verweist auf nichts, stößt auf eine Dunkelheit, die nicht(s) bedeutet. Zwischen dem Lebendigen und dem Toten, wo sich Verwandlungen und Metamorphosen vollziehen, wohnt und wird der ghost detainee. In der Transformation verkörpert er seine negative Zuständlichkeit als ein immer Anderer. Agambens grenzenlose Raumtheorie kennt zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner Werke allerdings die Figur des ghost detainee noch nicht. Im Zentrum dieser Arbeiten steht gleichwohl mit dem Homo Sacer eine Figur, die ihr nahekommt und die durch die Bewegung der einschließenden Ausschließung performativ hervorgebracht wird. Agamben entlehnt diese Figur dem römischen Recht, das sie als ein Wesen kennt, das einer doppelten Rechtlosigkeit unterliegt: Der Homo Sacer ist einerseits straffrei tötbar, darf andererseits aber nicht geopfert werden. Er ist ein vogelfreies Wesen, das dem weltlichen Gesetz (ius humanum) und zugleich dem göttlichen Gesetz (ius divinum) enthoben ist.45 Ghost detainee und Homo Sacer eint die absolute Negation eines rechtlichen Status’, die Aberkennung jeglicher Rechte, eines rechtlichen Körpers und Seins, kurz: die Exklusion aus dem (menschen-)rechtlichen Raum. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass ghost detainees im Unterschied zum Homo Sacer nicht erst im Lager produziert werden, sondern bereits in der 44 | Vgl. Bericht des ehemaligen Offiziers der US-Army Antonio M. Taguba (›Taguba Report‹, ohne Datum), siehe https://www.fas.org/irp/agency/dod/taguba.pdf, S. 26. Der Taguba Report ist ein Ermittlungsbericht des Offiziers der US-Army Antonio M. Taguba über Fälle von Folter im Lager Abu Ghraib. Nach Bekanntwerden des Berichts 2004 wurde Taguba versetzt und 2007 in den Ruhestand entlassen. Vgl. Seymour M. Hersh: »The General’s Report«, siehe www.newyorker.com/reporting/2007/06/25/070625fa_ fact_hersh?printable=true vom 25.06.2007. 45 | Vgl. Agamben: Homo Sacer, S. 81ff., 101ff., 127ff.

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Bewegung im Schwellenraum außerordentlicher Überstellungen. Es ist gerade diese »Prozessualität mit der darin implizierten Unvorhersehbarkeit«46, die in einer konstitutiven Übergangsphase den ghost detainee als Wesen hervorbringt, das weder tot noch lebendig, weder innerhalb noch außerhalb des Rechts ist. Diese Differenzierung ist nicht zuletzt deshalb zu akzentuieren, da Agamben selbst zur Pauschalisierung von Ausnahmezuständen und Homo Sacer-Figuren tendiert. Beispiele, die strukturelle Merkmale sichtbar machen sollen, dehnen sich im Verlauf seiner Arbeiten auf sämtliche gesellschaftlich Benachteiligte aus. Dabei fallen jene Differenzen aus dem Analyserahmen, die zwischen KZ-Häftlingen, Komapatienten, illegalen Einwanderern und Wochenendausflüglern auf Autobahnen durchaus bestehen. Hier wird ersichtlich, aus welchem Grund Agamben bisweilen »Theorieextremismus«47 vorgeworfen wird. Während er mit der Schwelle der Ordnung und der Zone der Ununterscheidbarkeit die dichotomen Differenzierungmuster von Souveränitätslehren und Machttheorien bekämpft, verschwimmen sämtliche Möglichkeiten der Differenzierung. Dabei überzeugt die These des Lagers als Paradigma demokratischen Regierens gerade dadurch, dass sie auf Differenzproduktion beruht.48 Dennoch kann der Schwellenraum, den Agamben entwirft, nahezu paradigmatisch als Modell des Raumes dienen, in dem jener Geistergefangene ist. Er erinnert dabei auf frappierende Weise an das Modell Victor Turners von einem Schwellenraum, in dem ein Weder-noch oder ein Sowohl-als-auch (betwixt and between) herrscht. Auch Turner geht von einer Erfahrung der Nacktheit aus, die sich mit einer Begegnung mit dem Sakralen verbindet – das Positiv zu Agambens heiligem, unberührbarem und schwindendem bloßen Leben des Homo Sacer, wenn Turner diese als Möglichkeit der »Entfaltung reinen Menschseins«49 begreift. In Theaterdiskursen insbesondere der Performancekunst wird Turners Modell bis heute rezipiert, um Übergangsphasen ästhetischer Erfahrung zu bestimmen, die im Zwischenraum zwischen Aufführungs- und Zuschauerraum gemacht werden: »Irritation, Kollision von Rahmen, Destabilisierung von Selbst-, Fremd- und Weltwahrnehmung, kurz: die Auslösung von Krisen […] vermitteln zutiefst verstörende Erfahrungen, die 46 | Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 100. 47 | Oliver Marchart: »Zwischen Moses und Messias. Zur politischen Differenz bei Agamben«, in: Böckelmann/Meier (Hg.): Die gouvernementale Maschine, S. 10-28, hier S. 24. 48 | So wird Agamben auch Foucaults Entwurf der Biomacht und Biopolitik nicht gerecht, da Foucault gerade die Bewegungen innerhalb eines gesellschaftlichen Körpers auf nuancierte Machtverschiebungen hin untersucht. 49 | Peter J. Bräunlein: Zur Aktualität von Victor W. Turner. Einleitung in sein Werk, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2012, S. 54. Ein Beispiel für eine solche Phase ist die Pubertät.

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[…] zu einer Transformation desjenigen führen können, der sie durchläuft.«50 Diese Theaterdiskurse nutzen den ethnologischen Begriff der Liminalität für die Beschreibung ästhetischer Schwellenerfahrungen und verstehen oder verhandeln ein verstörendes performatives Moment – das sich maßgeblich auf leibliche Wahrnehmung, Empfinden oder eine Ethik der Teilhabe bezieht – als produktive Kraft. Es kann jedoch angenommen werden, dass das Theater sich in dieser als emanzipatorisch ausgerufenen Performativität nicht erschöpft. Zu fragen wäre hier auch nach den Transgressionen ins Negative, nach theatralen Zonen der Ununterscheidbarkeit etwa zwischen »Fiktion (ästhetisch) oder […] Realität (also z.B. moralisch)«51, die gerade nicht in Produktivität und Positivität aufgehen. In Agambens Theoriegebäude haust nun ein programmatisches Ansinnen. So konzipiert er das Lager nicht nur als räumliche Matrix der Produktion von nacktem Leben, der Differenzproduktion, sondern auch als topologisches Modell, das in unlösbaren Paradoxien gründet. Als »nómos des Planeten«52 sei das Lager alltäglich und universell »der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt«53. Wenn er den souveränen Akt hier eben nicht als Schmitt’sche Dezision denkt, sondern davon ausgeht, dass die souveräne Macht eine Ordnung außer Kraft setzt, um eine Ordnung zu erhalten, so verstrickt sie sich in diesem Denken in die Paradoxie, dass sie nur souverän ist, da sie zu diesem performativen Akt in der Lage ist. Sie lässt Recht durch Nicht-Anwendung in Erscheinung treten und begründet etwas, ohne das es sie nicht gäbe. Derridas Idee des Gründungsparadoxes drängt sich hier auf. Jedoch geht Derrida nicht von einer souveränen Handlungskraft aus, sondern von einer in sich selbst grundlosen Kraft, einem grundlosen Grund, der im Augenblick der Gründung wohnt und erst im Kommen entsteht.54 Während es Derrida also gerade um die Bedingung der Möglichkeit von politischem Handeln geht, behauptet Agamben in den Rekonstruktionen (a) historischer Ausnahmezustände – insbesondere in Homo Sacer II.1 –, dass der Ausnahmezustand zur konsequenten politischen Antwort auf Krisen gewor-

50 | Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 341. 51 | Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 177. 52 | Agamben: Homo Sacer, S. 186. Den Begriff nòmos entlehnt Agamben bei Schmitt, der ihn als Synonym der Landnahme verwendet. Es handelt sich somit mehr um einen Akt als um ein Ergebnis. 53 | Ebd., S. 177 54 | Systemtheoretisch kann der Gründungsakt nicht im System begründet werden, er ist Voraussetzung dessen. Die Unterscheidungsleistung der Gründung bildet den blinden Fleck des Systems.

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den ist.55 Problematisch an dieser Idee ist hier Agambens Lust an der Paradoxie, die sich gegenwärtig auch in anderen Diskursfeldern niederschlägt.56 Allerdings stumpft die Fundierung seines gesamten Theoriegebäudes mit all seinen Facetten in Paradoxien seine Theorien gerade ab. Die Unlösbarkeit dieser Paradoxien verkennt die Produktivität von Schwellenkonzepten, die Agamben selbst anstößt, um seine Ideen zu entfalten. Die Lust an der Paradoxie wird hier mithin zur Last der Paradoxie und birgt das Risiko, immer an derselben Stelle gegen eine Wand zu laufen, die undurchdringlich erscheint und jeden Überwindungsversuch im Keim erstickt.57 55 | Obwohl bei Derrida also offenkundig andere Vorstellungen von Gründung, Politik, Gesellschaft oder Leben herrschen, entlehnt Agamben gerade ihm den Begriff der Unentscheidbarkeit. Vgl. Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der ›mystische Grund der Autorität‹, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. Giorgio Agamben: Ausnahmezustand [Stato di eccezione 2003], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 7ff. 56 | Vgl. exemplarisch Hartry H. Field: Saving Truth from Paradox, Oxford: Oxford University Press 2012; Stuart A. Pizer: Building Bridges. The Negotiation of Paradox in Psychoanalysis. Hoboken (New Jersey): John Wiley & Sons 2013; Karl-Heinrich Bette: Körperspuren: Zur Semantik und Paradoxie moderner Körperlichkeit, Bielefeld: transcript 2005. 57 | Luhmanns Vorschlag der Verzeitlichung von Paradoxien ist hier möglicherweise erkenntnisfördernd und soll daher kurz angerissen werden. Um die Identität eines Systems, etwa der Gesellschaft, zu reflektieren, kann diese nach Luhmann wesentlich tautologisch oder paradox gedacht werden. Die Gesellschaft ist also, was sie ist, oder sie ist, was sie nicht ist. Beide Reflexionsangebote bleiben jedoch unergiebig und hoffnungslos, wenn sie einzig auf dieser Form der Differenzierung beruhen, sie laufen gegen die Wand der unlösbaren Selbstreferentialität. Ein konkreter Zeitbezug – die Frage, was das System oder die Gesellschaft nicht mehr oder noch nicht ist – ermöglichte hingegen, in der momentanen Situation ein Moment ausfindig zu machen, das die Paradoxie überhaupt hervorbringt, konstituiert, determiniert – aus einer Vergangenheit herleitet und auf eine Zukunft hin entwirft. Die Gegenwart der Paradoxie reduzierte sich auf diesem Wege auf ein jener Vergangenheit und Zukunft ausgeschlossenes Drittes, das zugleich beides konstituiert oder gar ist. Solch eine Temporalität vermag im Sinne Luhmanns paradoxe Selbstbeschreibungen von Systemen zu entparadoxieren – und sie macht sie beobachtbar. Hier ließe sich nun vermuten, dass Agambens Unentscheidbarkeiten, etwa das Paradox der Souveränität, die nur durch den Akt der Erklärung des Ausnahmezustands souverän ist, aber diesen Akt nur aufgrund der Souveränität leisten kann, auf eine Temporalität hin gedacht theoretisch handhabbarer werden. Es ließe sich etwa der Zustand eines temporalen Vorausgriffs auf den Status der Souveränität entwerfen, eine zeitlich vorgezogene Stellvertreterschaft der eigenen Position, die erst im Werden begriffen ist, aber bereits in ihrer Potentialität gewisse Akte zu leisten erlaubt. Vgl. zu diesen Überlegungen Niklas Luhmann: »Tautologie und Paradoxie in den Selbst-

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Für die vorliegende Untersuchung ist dies besonders zu berücksichtigen. Denn die Flucht in eine paradoxale Unentscheidbarkeit schützt auch vor der Erkenntnis, dass sich Suchbewegungen mühsam, langsam und tastend vorwärts bewegen müssen, durchaus ins Stocken und in Sackgassen geraten, aber wieder wenden und an anderer Stelle neu ansetzen können. Dies gilt auch für die in den Überlegungen zur Sauberen Folter aufkommenden Paradoxien. Bei genauerer Betrachtung offenbart sich, dass damit keine fundamentale Unentscheidbarkeit formuliert werden soll, die sich jeglicher Annäherung ohnehin verweigert. Vielmehr geht es darum, die widersprüchlichen Bewegungen, die die Saubere Folter unternimmt oder auslöst, zu verfolgen und anzuerkennen, aber auch auseinander- und unter die Lupe zu nehmen. Auf diese Weise wird die Komplexität der Sauberen Folter nicht reduziert, um sie zu negieren. Sie wird anerkannt und kann doch entschlüsselt werden. Angesichts der historischen Konstanz von politischen Paradoxien und Ausnahmezuständen, die Agamben in der Homo Sacer-Trilogie erschöpfend auflistet und analysiert, sind wir nun alle Lagerinsassen unseres eigenen biopolitischen Lagers, da souveräne Mächte usuell auf unser bloßes Leben zugreifen. Dies sieht Agamben etwa bestätigt im US-amerikanischen Patriot Act, der eng im Zusammenhang mit der Legitimierung verschärfter Verhörmethoden steht, da er nach den Geschehnissen des 11. September 2001 sämtliche Rechtsnormen außer Kraft setzte, um Sicherheit zu gewährleisten.58 So verwundert es nicht, dass Agambens Theorie als »Verhängniserzählung welthistorischen Ausmaßes«59 gilt. Auffällig ist in dieser Erzählung, dass er die einschließende Ausschließung im Ausnahmezustand einerseits als Ursprungsbewegung und andererseits den einschließend ausschließenden Ausnahmezustand als »Gründungsbeschreibungen der modernen Gesellschaft«, in: Zeitschrift für Soziologie 16, Heft 3 (1987), S. 161-174. 58 | Vgl. Agamben: Ausnahmezustand, S. 9f. Beobachtbar seien solche Prozesse ferner angesichts eines sich ausweitenden Sicherheitsdispositivs, das politisch-juridische Zugriffe auf das natürliche Leben erfordert und legitimiert. Der Gedanke der Ausbreitung des Sicherheitsparadigmas als normale Regierungstechnik geht auf Michel Foucault zurück. Agamben zufolge fungiert das Sicherheitsdispositiv als diskursive Konstruktion der Rechtfertigung des Ausnahmezustands. Er verweist auf die Debatten um biometrische Datenerhebung oder Nacktscanner. Seine Kritik setzte Agamben bereits performativ um, als er sämtliche Lehrveranstaltungen an der Universität in New York City absagte, nachdem er am Flughafen Fingerabdrücke hinterlassen sollte. Vgl. Henning Klüver: »Der italienische Philosoph Giorgio Agamben«, in: Süddeutsche Zeitung vom 10./11. Januar 2004. 59 | Vgl. Oliver Marchart: Die politische Differenz: Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 223.

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ereignis der Moderne«60 verstanden wissen will – was eine ständige Bewegung mit einem singulären Ereignis assoziiert.61 Diesem Ereignis muss damit eine gewisse (auch historiografische) Prozessualität eignen. Bei genauerer Betrachtung kann die Erklärung des Ausnahmezustands als ursprünglicher performativer Akt par excellence gelesen werden, denn sie formt einen Sprechakt, der handelt und einen Zustand fundamental verändert. In der Erklärung, aber auch durch die zahlreichen symbolischen Akte, die sie stabilisieren, weitet sich nun der Ausnahmezustand Agamben zufolge zu einem nicht enden wollenden Werden eines Paradigmas demokratischer Regierungsgewalt aus. Der Schwellenraum entsteht also nicht aus dem Nichts. Die symbolischen Akte können hier etwa im Einbruch der Festnahme, in den rechtlichen Kategorisierungen, der Kostümierung des Vergessens oder den Weisen der systematischen Destruktion von Spuren gesehen werden. Diesen Praktiken wohnt eine destruktive Form der performativen Setzung inne, die den Ausnahmezustand artikuliert und so das Subjekt mit jenem schwindenden Gespenst ineins setzt: »Gespenster sind […] Grenzgänger, körperlose Wesen, denen es im Gegensatz zu jedem irdischen Wesen erlaubt ist, die Scheidelinie zwischen Leben und Tod beliebig zu überschreiten.«62 Performativität wird somit nicht nur in affirmativen Akten der Eheschließung oder der Taufe wirksam, sondern auch in mannigfaltigen Akten einer destruktiven Gewalt, die Subjekte einer rechtlichen Rechtlosigkeit zuführen.63 Hier unterliegen die sukzessive zu ghost detainees werdenden Wesen einem performativen Transformationsprozess zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit »ohne Begründung in einem Darzustellenden«64, was sie zugleich hervorbringt und vernichtet. Der Gefangene betritt hier die Bühne seiner eigenen Apräsenz.

60 | Agamben: Homo Sacer, S. 14. 61 | Ebd. 62 | Christiane Leiteritz: »Gespensterwelten. Heterotopien bei Kasack, Sartre und Wilder«, in: Moritz Basler/Bettina Gruber/Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Gespenster. Erscheinungen – Medien – Theorien, Würzburg: Königshausen und Neumann 2005, S. 253-266, hier S. 253. 63 | Unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle nicht, dass Judith Butler der negativen und destruktiven Kraft performativer Akte bereits mit ihrem Denken zu Hate Speech nachgegangen ist. Vgl. Judith Butler: Excitable Speech: A Politics of the Performative, New York: Routledge 1997. 64 | Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 244. Die Aufführungspraxis des postdramatischen Theaters begründet das Recht auf performative Setzung (anstelle der Abhängigkeit von literarischen Textvorlagen), bezieht dabei jedoch nicht die Möglichkeit eines Zwanges ein wie er in den Rendition Flights am Werke ist.

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Und er verliert seinen (rechtlichen) Körper buchstäblich im Flug – er ist nicht mehr, weil er sich nicht (mehr) hat.65

3.3 (N icht-)O rtungen des U nsichtbaren oder V om S cheitern : D ie B lack S ites I Nach der Exploration der mannigfaltigen Räume, mit denen die Saubere Folter in Verbindung steht, noch bevor der Häftling das Gefangenenlager erreicht, lässt sich festhalten, dass die Leitbegriffe Körper, Raum, Schwelle und Grenze einen Theoriekomplex bilden, der hier nur als Geflecht weiterführt – weshalb sich einmal mehr die Nützlichkeit eines theaterbasierten Ansatzes der Theoretisierung erweist. Schließlich binden sich die symbolischen Praktiken des Theaters und die Diskurse des Theaters eng an diese Begriffe. Sie entfalten ihr Potential gerade im Zusammenspiel von Körpern und Räumen, Körperräumen und Schwellenräumen, Grenzen von Körpern und Räumen oder grenzenlosen Schwellenräumen. Die Verflechtung räumlicher Dimensionen im Kontext des Geheimnisses von Folterlagern kulminiert damit auch nicht in einem dreidimensionalen architektonischen Raum des Lagerkomplexes. Die in sich verflochtene Raumpluralität aus geopolitischen, territorialen und nationalen, rechtlichen, phänomenalen und leiblichen Räumen, welche die Grundlage für das Verschwinden des Häftlings bilden, eint vielmehr eine Bewegung der Negation, die den Raum des Lagers im Besonderen affiziert. Als Ort ist das Lager entzogen, es ist unbekannt, geheim und situiert sich in einem territorialen Nirgendwo außerhalb jeder Verfügbarkeit.66 Als Raum gedacht, entzieht sich das Lager sogar auf noch subtilere Weise. Dies zeigt sich im Verlauf der weiteren Suchbewegungen, was im Folgenden nachgezeichnet wird. Zweifelsohne radikalisiert sich das Verschwinden des geisterhaften Gefangenen mit seiner Internierung an einem unbekannten Ort auf unbestimmte Zeit. Das Gefangenenlager, das auf Landkarten nicht verzeichnet ist, über das nicht gesprochen und das nicht gewusst werden kann, bildet die räumliche Matrix nicht nur der negativen Zuständlichkeit des ghost detainee, sondern auch der Sauberen Folter. Der Ort des Gefangenenlagers lässt sich nun 65 | Vgl. die hier verwendete und gewendete Formulierung in Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers, o.S. 66 | In der Unterscheidung zwischen Räumen und Orten schließe ich hier an die Studien Michel de Certeaus an. Während De Certeau Orte bisweilen essentialistisch als statische Zusammenkunft von Koordinaten bestimmt, bezieht sich sein Raumbegriff auf etwas, das mit Orten getan wird, an Orten stattfindet und sie konstituiert. Vgl. Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns, Berlin: Merve Verlag 1989, S. 217f.

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als Kreuzungspunkt geografischer Koordinaten zwar vorstellen, jedoch nicht greifbar, diskursivierbar, annäherbar machen, denn solche Lager sind weder auf geografischen noch auf politischen Landkarten verzeichnet.67 In offiziellen Berichten werden die Länder, in denen Gefangenenlager existieren, stets geschwärzt.68 Es besteht keine Zugangsmöglichkeit für internationale Menschenrechtsorganisationen69 und für den politischen Diskurs existieren sie schlichtweg nicht.70 Auch den investigativsten Journalisten bleibt nichts als eine tastende Spurensuche, die vereinzelte Lager über Umwege ausfindig macht – weshalb die in diesen Lagern herrschenden Verhörpraktiken dann auch als stealth torture 71 bezeichnet werden, als eine Folterform, die sich erst über ihre Heimlichkeit und ihre schleichenden Techniken der Destruktivität performativ konstituiert. Die Folter wird, da sie nicht ist und das Lager ist, indem es sich entzieht. Der Ort des Lagers und der Ort des verstohlenen Folterns ist der Ort eines Geheimnisses, das sich seiner Aufdeckung nach Kräften widersetzt. Bereits die Bezeichnung als black sites verweist auf die gespenstische Latenz, die sie umgibt, in sich selbst ein- und nach außen hin abschließt. Wie lassen sich aber solche (Nicht-)Orte denken? Wie können sie zugänglich werden?

67 | Vgl. Matthias Gebauer/John Goetz/Britta Sandberg: »Das vergessene Guantánamo«, in: Der Spiegel 39/2009, S. 102-104, hier S. 102f, siehe www.spiegel.de/spiegel/ print/d-66970454.html. 68 | So etwa im US-Senatsbericht aus dem Jahr 2014: »Die CIA-Berichte deuten darauf hin, dass die CIA die Politiker nicht über die Existenz der CIA-Gefängnisse in den Staaten [geschwärzt], [geschwärzt], [geschwärzt] und [geschwärzt] in Kenntnis setzte. Weniger klar ist, ob die Politiker über die Gefängnisse im Land [geschwärzt] und in Guantánamo Bay auf Kuba Bescheid wussten.« US-Untersuchungsbericht über das Internierungsund Verhörprogramm der Central Intelligence Agency, hg. v. Wolfgang Neskovic, S. 42. 69 | Es gibt die Möglichkeit für Journalisten, Ermittler und Menschenrechtsorganisationen, Zugang zu medial skandalisierten Lagern wie Guantánamo zu erlangen, jedoch unter strengen Auflagen wie dem Verbot, über das Gesehene zu berichten. Es finden ferner fingierte Führungen durch Lager statt: »[E]mbedded reporters are now being put in one vehicle and taken to staged events while the rest of the unit goes to do its job […].« Zit. n. Jonathan H. Marks: »Doctors as Pawns«,, in: Ojeda: The Trauma of Psychlogical Torture, S. 92-112, hier S. 104. 70 | Der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten George W. Bush jr. sprach offiziell über drei black sites. Vgl. dazu beispielhaft Dan Eggen/Dafna Linzer: »Secret World of Detainees Grows More Public«, in: Washington Post vom 07.09.2006, o.S. 71 | Vgl. Rejali: Torture and Democracy, S. 16.

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Michel Foucaults Modell der Heterotopien erinnert an die Konstellation solcher exterritorialer Lager.72 In seinen Versuchen zum Raum (espace) untersucht er diesen im Spannungsfeld von Macht (pouvoir) und Wissen (savoir). Als Symptom einer »Epoche, in der sich uns der Raum in der Form von Lagerungsbeziehungen darbietet«73 beschreibt Foucault dabei Heterotopien als wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hinein gezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.74

Foucaults Beobachtungen fokussieren komplexe Wechselwirkungen zwischen Platzierungen, die einen Raum des Normalen konstituieren. Jede Setzung eines Normalen kommt in Foucaults Verständnis ebensowenig ohne das Pathologische aus wie ein Raum des Normalen ohne seine Inversion, einen – in spezifischer Weise verbundenen – Raum des Abnormalen. Als räumliche Gebilde spalten sich Heterotopien als Außenräume von einem Raum des Normalen ab, als Räume des Anderen, die das Normale als ihr Negativ in sich tragen. In diesem Sinne Foucaults können sie daher auch als symbolische Konkretionen des abweichenden Anderen in jeder Kultur gefunden werden. Krankenhäuser, Psychiatrien, Friedhöfe oder auch Gefängnisse benennt er als eben solche Orte. Zurückgeführt auf den Raum eines Gefangenenlagers wird ersichtlich, dass das Heterotopie-Konzept hier durchaus Aspekte des Lagers trifft. Das Lager verortet Subjekte, die von einer kulturell oder gesellschaftlich bestimmten Norm abweichen – Foucault spezifiziert hier die Heterotopien als Abweichungsheterotopien. Andererseits kann dieser Raum nicht der Platzierung solcher Subjekte gewidmet sein, wenn er gerade ihrem Verschwinden zu dienen bestimmt ist. Daran schließt sich ferner die Frage an, inwieweit geheime, ausgelagerte Räume der Gefangenenlager tatsächlich geortet werden können, wie es Foucault ausdrücklich benennt. Die Tatsächlichkeit dieser Or72 | Vgl. Rainer Warning: »Einleitung: Heterotopie und Epiphanie«, in: Ders. (Hg.): Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung, München: Wilhelm Fink Verlag 2009, S. 11-42; Michel Foucault: Die Heterotopien. Les hétérotopies. Der utopische Körper. Le corps utopique. Zwei Radiovorträge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 75. 73 | Michel Foucault: »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck/Peter Gente/Heidi Paris/ Stefan Richter (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1992, S. 34 − 46, hier S. 37. 74 | Foucault: »Andere Räume«, in: Barck/Gente/Paris/Richter (Hg.): Aisthesis, S. 3446, hier S. 38.

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tung müsste sich schließlich mit einem Wissen um die Lager verbinden, das sie greif bar oder evident erscheinen lässt. Zwar gibt es Aspekte dieser Lager, die gewusst werden können, etwa wenn sie als black sites immerhin eine Bezeichnung besitzen. Der Historiker Darius Rejali hat ferner ausführlich dokumentiert, dass es sich primär um westlichdemokratische Staaten handelt, die black sites zum Verhör und zur Sauberen Folter von Verdächtigen errichten und verwalten: »Democracies torture, but they torture differently, favoring cleaner techniques to avoid scandal and to boost their legitimacy. The history of modern democratic torture is part of the history of stealth torture.«75 Die Lager sind daher nicht auf demokratischem Hoheitsgebiet zu finden. Journalisten, Ermittler der Vereinten Nationen, Nichtregierungs- und internationale Menschenrechtsorganisationen gehen von Ländern im Nahen Osten, Afrika und Zentralasien aus, die solche Verhörzentren beherbergen.76 Hinzu kommen Gefangenenlager auf Armeestützpunkten und Militärgefängnisse am Rande von Kriegs- und Krisengebieten. Allein in Afghanistan sollen den Anwälten von Folteropfern nach rund 25 Verhörzentren existieren.77 Ein Lager wurde auf der Insel Diego Garcia im Indischen Ozean vermutet, weitere soll es in Polen und Rumänien geben.78 Zwischen 15 und 30 Lager gab es zumindest zeitweilig auf Überseeschiffen ( floating prisons).79 Trotz solcher Daten, die sich über die Lager ausfindig machen lassen, bleiben Zweifel an ihrer Befähigung zu einer tatsächlichen Ortung im Sinne Foucaults. Zum einen bleibt etwa im Dunkeln, zu welchem Zeitpunkt ein Lager an welchem Ort errichtet oder ob es bereits geschlossen wurde, wie viele Lager 75 | Rejali: Torture and Democracy, S. 405. 76 | Amnesty International zufolge gehören zu den Ländern, in denen black sites existieren u.a. Albanien, Ägypten, Bangladesch, Iran, Jordanien, Kuwait, Libyen, Marokko, Pakistan, Saudi-Arabien, Sudan, Tadschikistan und Uganda. Vgl. Amnesty International: »Sieben Jahre Guantánamo in Zahlen«, siehe www.amnesty.de/2009/1/9/ sieben-jahre-guantanamo-zahlen vom 09.01.2009; McCoy: Foltern und foltern lassen, S. 100f. Norwegen, Schweden, Italien, Spanien und Deutschland gehören ferner zu den Ländern, welche die Überstellung von Häftlingen über eine Transitroute durch ihr Territorium stillschweigend duldeten. Eine Auswertung transnationaler Flugpläne hat Belege für die Flugrouten durch europäisches Territorium ergeben. Vgl. Grey, Stephen: »Flight Logs Reveal Secret Rendition«, in: The Sunday Times vom 25.11.2007, o.S.; Bericht des Sonderermittlers Dick Marty 2006, S. 14. 77 | Vgl. Eliza Griswold: »American Gulag: Prisoner’s Tales from the War on Terror«, in: Harper’s Magazine 09/2006, o.S.; Bericht des Sonderermittlers Dick Marty 2006, S. 12ff. 78 | Vgl. ebd., S. 4, 16ff. 79 | Vgl. Duncan Campbell/Richard Norton-Taylor: »US Accused of Holding Terror Suspects on Prison Ships«, in: The Guardian vom 02.06.2008, o.S.

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insgesamt existieren und wo, wie sie errichtet wurden und welche Räume sie selbst beherbergen. Ebenso verhält es sich mit der Anzahl, Herkunft oder den Namen der dort Inhaftierten. Zum anderen bleibt bestehen, dass die Lager allen Rechercheergebnissen zum Trotz offiziell nicht existieren, weil sie nicht existieren dürfen. Was somit gewusst werden kann, beschränkt sich auf ein Zentrum einer Regierungsgewalt, das nicht den Ort der Sauberen Folter darstellt, und eine schüttere Peripherie ihrer heterotopen Ausnahmeerscheinungen, die den Ort der Sauberen Folter nicht darstellt. Die Lager können somit allenfalls theoretisch geortet werden – oder besser: Sie müssten theoretisch geortet werden können, so die Vermutung, die sich anhand von Daten anbietet. Doch sie entziehen sich bereits in diesem An-Denken einer tatsächlichen Ortung, die sie greif bar, diskursivierbar, annäherbar machen und die sie in der Suchbewegung sicher(-)stellen könnte, wenn Vermutungen nur konjunktivisch angedacht werden können. Die Lager können also letztlich nicht gewusst werden, was nicht ihre tatsächlich Ortung ermöglicht, sondern ihre Ortung tatsächlich verunmöglicht. Es lassen sich noch weitere Details in Foucaults Denken der Heterotopie ausfindig machen, die ein Bild vom Lager zu zeichnen scheinen. Wie eine Heterotopie gehorcht das Lager (s)einem eigenen Regelsystem und einem komplexen System aus Öffnungen und Schließungen.80 Keiner der im Raum Inhaftierten kann dieses Lager freiwillig betreten oder verlassen, die Wege vor allem hinein, aber auch hinaus sind überaus vielfältig, was bereits beschrieben werden konnte. Es herrschen ferner spezifische Regeln im Komplex des Lagers, die sich etwa in Kleiderordnungen und der Architektur des Lagers niederschlagen. Eine besondere Akzentuierung erfährt Foucaults Theorie der Heterotopie im Bezug auf eine spezifische Zeitlichkeit, die sich in Form von Diskontinuitätserfahrungen manifestiert und den Ort für seine Bewohner aus der Zeit fallen lässt. Konsultiert man dahingehend die vielfältigen Zeugenaussagen des Guantánamo Testimonials Project, so berichten zahlreiche ehemalige Häftlinge von solchen Effekten etwa in Phasen der Isolationshaft, die in einer destruktiven Wirksamkeit der Dauer gründen: »My cell is like a grave«81, pointiert ein Guantánamo-Häftling und verknüpft zwei von Foucaults Beispielen für Heterotopien, Gefängnis und Friedhof, »in denen die Zeit nicht aufhört, sich

80 | Vgl. Foucault: »Andere Räume«, in: Barck/Gente/Paris/Richter (Hg.): Aisthesis, S. 34-46, hier S. 44. 81 | Zachary Katznelson: »In Guantánamo, Men Shadow-Box for Their Lives«, in: The Independent vom 07.06.2007, siehe http://humanrights.ucdavis.edu/pro ject s/the-guantanamo-testimonials-project/testimonies/prisoner-testimonies/ in-guantanamo-men-shadow-box-for-their-lives.

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auf den Gipfeln ihrer selbst zu stapeln und zu drängen«82. So bildet das Lager denn auch für einen Gefangenen eine kleine »Parzelle der Welt«83 im Sinne Foucaults. Zugleich bedeutet es ihm, abgeschlossen, ausgeschlossen und eingeschlossen in einen geheimen Raum, vermutlich die »Totalität der Welt«84. Schlussendlich muss dies »für das Individuum der Verlust des Lebens […] und die Quasi-Ewigkeit [sein], in der es nicht aufhört, sich zu zersetzen und zu verwischen«85. Hier scheint es erneut, als handele es sich bei diesen Lagern durchaus um wirkliche und (vor allem) wirksame Orte im Sinne Foucaults, die ein Bild vom Lager zeichnen. Doch mit dem hier beschriebenen Ausmaß einer Ungesichertheit aller Evidenzen, die das Lager hervorbringt, bleibt ein Eindruck bestehen, dass dieses Bild nicht sichtbar sein kann und keine tatsächliche Annäherung erlaubt – schließlich fällt gerade in den Zeugenaussagen auf, dass die genannten Aspekte kaum als wirkliche Erlebnisse in einem Gedächtnis bewahrt werden können, von Unsicherheit, Täuschungen und Enttäuschungen umgeben sind. Foucaults Heterotopietheorie ermöglicht somit zwar das Lager und die Geschehen im Lager anzudenken. Doch letztlich blockiert der Entzug jedweder Evidenz eine tatsächliche Annäherung daran, eine Vorstellung dessen, wie das Verschwinden funktioniert und wie Entzug zur Destruktion wird. Im Hinblick auf die Black Sites scheitert dieser Ansatz, denn er überkommt das facettenreiche Geheimnis des Lagers nicht, widersetzt sich nicht der Unmöglichkeit seiner konkreten Ortung. Vage Vermutungen, Verdachtsmomente und Mutmaßungen, die das Lager charakterisieren, können nicht erhärtet oder gesichert werden. Es ließe sich nach dem Durchdenken einer solchen theoretischen Fundierung des Lagers sogar behaupten, dass gerade diese das Lager einer Annäherung noch entzieht. Denn das Lager dieser Form der Theoretisierung zu unterwerfen, leugnet seine konstitutive Abwesenheit und das Geheimnis, welches das Lager erst als Lager der Sauberen Folter konstituiert – und deren destruktive Wirkungsweise so katalysiert. Dieses Scheitern ruft geradezu nach jener analytischen Theatralität, die hier entworfen werden soll, weil etablierte Ansätze nicht viel weiterführen. Eine theatrale Sprache ist notwendig, da sie aus dem beharrlich Abwesenden ihre Kraft gewinnt und die der Frustration entgegenwirkt, die sich angesichts der sich windenden Suchbewegungen in theoretischen Konzepten einstellen. Indem sie das Abwesende symbolisch werden lässt, hält die Sprache des Theaters zunächst aus und erkennt an, dass das Abwesende abwesend ist. Sie 82 | Foucault: »Andere Räume«, in: Barck/Gente/Paris/Richter (Hg.): Aisthesis, S. 3446, hier S. 43. 83 | Ebd. 84 | Ebd. 85 | Ebd.

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erprobt eine Darstellbarkeit, die sich aus eben diesem Umstand speist. Die Sprache des Theaters sagt, was sie nicht sagen kann, wenn sie eben dies auf spezifische Weise sagt. Sie gewährt dem Abwesenden einen Ort, geradezu ein geheimes Lager, das zwar nicht tatsächlich geortet werden kann und unauffindbar ist, das Abwesende aber bewahrt – zugleich tot und lebendig. Die Sprache des Theaters kennt diesen Ort als Krypta, dem sich im Folgenden angenähert werden kann.

3.4 O rtungen des U nsichtbaren : D ie B lack S ites II Ein ehemaliger Soldat der US-Armee beschreibt einen diffusen Raum, in dem sich das Lager situiert, als »mile of nothingness«86. »[P]resence of nothingness«87 schreiben Theaterdiskurse dem Theater zu. Dahinter steht die Idee des Theaters als Medium, das ein Anderes anzeigt, welches selbst nicht gezeigt werden kann. Symbolische Praktiken thematisieren, was abwesend ist und bleiben muss. In diesem Sinne können auch die Praktiken der Absentierung der Sauberen Folter als symbolische Praktiken gelesen werden, die sie thematisieren. Im Theater verleiht die chiffrierte Vorführung des Anderen – die zeigt, ohne zu zeigen, was sie zeigt – diesem Anderen eine Präsenz in Absenz, ohne es je erreichen zu können. Sie wiederholen stumm, dass das Abwesende abwesend ist. Das Theater ist zugleich Augenzeuge, Akteur und Opfer eines Traumas, das erst durch den Verlust wird. Und es eröffnet so zumindest eine Idee der Weise, wie Saubere Folter in chiffrierten symbolischen Praktiken beobachtet werden kann. Trotz und aufgrund dieses beständigen Imperativs der Verfehlung des Abwesenden verleiht das Theater ihm ein Sein, bewahrt es zugleich tot und lebendig: »The theatre space both fails the original scene and reanimates it. It ›honors‹ the dead by bringing them to life […] and making them disappear again in performance […] around the contours of what has been lost.«88 Anders als Geschichtsschreibung, die Geschehnisse durch das Symbolische der Sprache verfügbar und anwesend zu halten intendiert, akzentuiert das Theater die Anwesenheit einer Performanz der Physis, Bewegungen und Rhythmen von Körpern, Lauten und Rhythmen von Stimmen, einer somatischen Anwesenheit, die Abwesendes im geteilten Raum spürbar, nicht aber verfügbar macht. Was nie in seiner Ganzheit anwesend sein kann, bleibt daher im Gezeigten kryptisch, eingebettet in eine Sprache des Theaters, die nicht einfach übersetzt 86 | Alexander/Bruning: How to Break a Terrorist, S. 6. 87 | Alice Rayner: Ghosts. Death’s Double and the Phenomena of Theatre, Minneapolis/London: University of Minnesota Press 2006, S. 62. 88 | Ebd. S. 59.

3. Suchbewegungen I

werden kann, weil sie keinem binären Symbolsystem gehorcht. Abwesenheit ist der kryptische Katalysator dieses Theaters, seinen symbolischen Praktiken ist die Verfehlung inhärent und dem Anwesenden ist das Abwesende eingeschrieben. Es geistert durch seine Aufführungen hindurch, als geistreicher Text, der sich nie vollkommen entschlüsseln lässt, das Abwesende schützt, bewahrt und erinnert. Nothingness wohnt an der Grenze zwischen Imaginärem und Symbolischem, zwischen Schweigen und Sprechen. Das Theater zeigt somit nur scheinbar ein verlorenes Objekt. Es kann nicht an dieses Objekt heranreichen, doch es zeigt dieses Abwesende an. Zugleich zeigt es seinen Verlust als kryptisches Mysterium symbolischer Praktiken. Da diese allerdings doch etwas zeigen, verschleiern sie wiederum das Verschwinden, was ein Verlorenes noch tiefer in seine Abwesenheit hineingräbt. Dort, wo dieses Verlorene eingegraben ist, haben Theaterdiskurse einen dem Theater innewohnenden Hohlraum entdeckt, in dem das Abwesende auf bewahrt werden kann. Sie haben die Stätte eines Verlorenen entworfen, die es als Fehlendes erhält und als Totes verlebendigt. Das Theater kennt diesen dunklen Raum als seine ganz eigene und ihm doch immer fremde Krypta. Was eine Krypta ist, kann nicht gesagt werden. Das sagt das Vorwort Derridas zu Nicolas Abrahams und Maria Toroks Studie zur Kryptonymie. Die Psychoanalytiker nehmen darin eine radikale Relektüre des Freud’schen Wolfsmann-Falles vor und entwickeln ein Denken des Kryptischen, Entzogenen und Verlorenen, das dennoch anwesend und wirksam ist. Derrida umschreibt diesen Raum interessanterweise mit quasi-architektonischen Paradoxien und bedient sich in sich verwinkelter Widersprüche, deren Pointen dadurch selbst unsagbar, entzogen, gar traumatisch sind. Damit entfaltet sich ein performativer Prozess im Verlauf der Lektüre, die ihr Kernargument anschaulich macht. Denn gerade diese unfassbaren Pointen, die verwickelten Versuche der Annäherung sind es, die die Krypta als unauffindbaren Ort zu treffen vermögen: Im Innern […] konstruiert die Krypta einen anderen Hof (for): geschlossen, also sich selbst innerlich, inneres Geheimnis im Inneren des großen Platzes, ihm aber zugleich äußerlich, im Inneren äußerlich. Was man auch über sie schreibt, die Wandoberflächen der Krypta trennen nicht einfach einen inneren Hof (for interieur) von einem äußeren Hof (for exterieur) ab. Sie machen aus dem inneren Hof ein im Inneren des Innen ausgeschlossenes Außen. 89

Wenn somit offenkundig wird, dass die Krypta nicht gesagt oder gewusst werden kann und sie konstitutiv mit dem Geheimnis, mit Abwesenheit und Ausgeschlossenheit assoziiert ist, dann sind dies wichtige Indizien für eine Mög89 | Jacques Derrida: »Fors«, in: Nicolas Abraham/Maria Torok: Krytonymie. Das Verbarium des Wolfsmanns. Frankfurt a.M./Berlin/Wien: Ullstein 1976, S. 7-60, hier S. 10.

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lichkeit, auf diesen Spuren eine Annäherung an die geheimen Lager der Folter vornehmen zu können. Daher soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, über eine theatrale Kryptonymie den abwesenden Raum der Sauberen Folter zu erschließen. Ist es möglich, ihn als verborgene Krypta zu denken? Kann seine Absenz dann gerade dazu genutzt werden, ihm eine Präsenz zu verleihen – durch einen theatralen Analyserahmen, eine theatrale Sprache, die das Verschwinden und noch das Verschwinden des Verschwindens anerkennt und thematisiert? Letztlich lautet die Frage: Was ist es, das sich dann als Abwesendes zeigt? In der Wolfsmann-Studie zweiter Ordnung – Abraham und Torok erzählen psychoanalytisch sowohl die Erzählungen des Wolfsmanns selbst neu als auch die verbreitete psychoanalytische Erzählung vom Wolfsmann90 – zeichnen die Autoren die Krypta als im Inneren des Wolfsmanns verborgenen Raum nach, in dem sich sein eigenes Selbst verbirgt. Es ist eine äußerst komplexe Konstellation, die dazu führt. So untersteht der Wolfsmann der so traumatischen wie unwiderruflichen Einverleibung zweier geliebter Personen, seiner Schwester und seines Vaters, deren Verlust er nicht anzuerkennen vermag. Mit der Trauer, die der Wolfsmann nicht ausleben kann, sind nach Abraham und Torok verbotene, gar beschämende Triebe und Wünsche verbunden, die nicht in das Selbst des Wolfsmannes integriert werden können. Stattdessen werden die verlorenen Personen einverleibt, was dazu führt, dass sich der Wolfsmann nach diesen Personen verhält, ohne er selbst sein zu können: »Zwei Personen in einer dritten, das war’s, was Freuds Hören nur unbewußt wahrgenommen hatte«91, schreiben Abraham und Torok. Dieser innere Konflikt kann dem Wolfsmann nicht bewusst werden, auch deshalb ist es ihm unmöglich, er selbst zu sein, ja, er muss dieses Selbst gar verbergen. Das einzige, was er bieten kann, sind »die vielen verschiedenen Weisen, nicht er selber zu sein. Das war seine einzige Ressource, um ahnen zu lassen, ohne sich jemals bei seinem eigenen Namen nennen zu können, wer er in Wahrheit war«92. Diese Ressource verstrickt den Wolfsmann jedoch in unauflösliche Widersprüche. Indem er die bereits verlorenen Personen einverleibt, tötet der Wolfsmann sie erneut. Denn durch die Einverleibung vernichtet er ihre Wirklichkeit, um sie phantasmatisch weiter lieben zu können. Zugleich ist er nicht in der Lage, sie weiter zu lieben, denn dann müsste er die Realität ihres Verlusts anerkennen, was wiederum bedeutet, ihren Tod nicht zu verleugnen. Dies ist ihm aufgrund schambesetzter Affekte nicht möglich. Er muss sie also töten, um sie lieben zu können, und verstrickt sich in Paradoxien, die ihn sich selbst verlieren lassen. Tief in sich begräbt er dann nicht nur die geliebten und ge90 | Ebd., S. 22. 91 | Abraham/Torok: Kryptonymie. Das Verbarium des Wolfsmanns, S. 67. 92 | Ebd., S. 70.

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töteten Menschen, sondern auch ihren Verlust. Vor allem aber begräbt er sein eigenes abgetötetes Selbst in einem dunklen Raum, in der Krypta, wo es bewahrt wird. Eine Realität des beständigen Verlusts und Entzugs bindet sich an diesen inneren Raum und durch die Verleugnung dieser Verluste verliert sich der Verlust – Abwesenheit im Quadrat. Zutage tritt hier ein sich selbst potenzierendes Verfahren, ein Verschwinden verschwinden zu lassen, das dennoch erlaubt, dass das Verlorene »[a]ls Rätsel herumgezeigt und als unauflöslich ausgegeben«93 werden kann. Denn der Wolfsmann zeigt über die geheimnisvollen Symptome der Einverleibung, dass das Abwesende abwesend ist. Diese Symptome bestehen primär in einer kryptischen Symbolik – in einer Sprache des Wolfsmanns, dessen Worte zunächst unverständlich erscheinen. Denn der Wolfsmann verändert und verfremdet Worte aus den verschiedensten Sprachen, so dass diese nichts in dem sagen, was sie sagen – sie sagen aber auch nicht, was sie nicht sagen. Abraham und Torok ernennen diese Chiffren des Wolfsmanns zu Wort-Objekten und beginnen eine Spurensuche in einem russischen Wörterbuch. Das Ergebnis macht deutlich, dass seine Worte alles andere als unzugänglich sind. Denn sie entledigen sich durch vielgestaltige Übersetzungs- und Verfremdungsprozesse lediglich ihrer originären Referenzen. Wenn der Wolfsmann in seiner Sprache nicht nur die russischen, englischen und deutschen Worte verfremdet, die auf das unsagbare Trauma der Einverleibung hindeuten, sondern auch ihre jeweiligen Übersetzungen – und noch die Synonyme dieser Übersetzungen, die neue Begriffe bilden, deren Worte und Synonyme ebenfalls verfremdet, rückübersetzt und erneut verfremdet werden, dann bedeutet das nach Abraham und Torok: Er entwickelt eine in sich verschachtelte Sprache aus Kryptonymen, die nicht sagen, was sie nicht sagen, damit aber etwas sagen, nämlich Unsagbarkeit, Entzug, Trauma. Es entstehen zersplitterte Symbole, die hervorbringen, was Abraham und Torok das Verbarium des Wolfsmanns nennen: Ein Lager referenzloser Wörter, die »sich durch eine konstitutive Instabilität ihrer Signifikation auszeichne[n]«94. Die komplexe Verschachtelung errichtet ein kryptisches Labyrinth, dessen Ein- und Ausgang verloren geht. Auf den Wegen dieser Labyrinthe, auf der Spurensuche in Wörterbüchern, lassen sich immer wieder Worte entschlüsseln, ihre Verfremdungen zurückverfolgen, lässt sich unsagbar Gesagtes freilegen. Doch zu einer vollständigen Erzählung, zur Ganzheit einer symbolischen Repräsentation des Traumas gelangen diese Anstrengungen nicht. Abraham und Torok verleihen einer Erkenntnis ein für den vorliegenden Kontext der Sauberen Folter besonderes Gewicht. Das Verbarium des Wolfs93 | Ebd. S. 94. 94 | Martina Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur: Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart: J.B. Metzler 1997, S. 161.

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mannes, seine Praktiken der Absentierung des Traumatischen, bedeuten zumindest, dass ein Abwesendes auf besondere Weise anwesend ist. Derrida nennt dies die »erschreckende Logik der Unentscheidbarkeit«95, die die Krypta stabilisiert – »mit ihrer Widersprüchlichkeit, die durch den Gegendruck dieser Kräfte, die wie Säulen, Träger, Querbalken, Stützmauern wirken, den internen Widerstand der Gruft, der […] fähig ist, einem unerträglichen Druck standzuhalten […]«96. In diesem Sinne demonstrieren Abraham und Torok, wie eine konzentrierte Verfolgung der Verfremdungsprozesse, hier von (Wort-)Objekten, ein absolutes Geheimnis freizulegen erlaubt. Sie unternehmen nichts anderes als Suchbewegungen und finden dabei den Ariadnefaden jenes Labyrinths zersprengter Symbole. Übertragen auf die Suchbewegungen nach der Sauberen Folter, so bedeutet dies, dass möglicherweise auch die konzentrierte Verfolgung ihrer eigenen Verfremdungsprozesse zur Freilegung ihrer Wirkungsweise führen kann. Denkt man die Überlegungen noch weiter, so rückt man der Krypta immer näher. Abraham und Torok nähern sich ihr an, indem sie zunächst die psychoanalytische Unterscheidung zwischen Einverleibung und Introjektion modifizieren.97 Im Falle einer Introjektion würden die Wünsche und Triebe des Wolfsmanns den verschiedenen Weisen symbolischer Artikulation begegnen, das verinnerlichte Introjekt führt jedoch zu Verhaltensweisen, die von der eigenen Persönlichkeit nicht nur abweisen, sondern an die sich diese Persönlichkeit sogar assimiliert. Die Einverleibung hingegen evoziert eine nicht symbolisierbare innere Spaltung, die Vorgänge der Integration oder Assimiliation des Einverleibten verunmöglicht.98 Es ist nun diese Spaltung, die im Prozess der Einverleibung jenen dem Inneren des Wolfsmannes heterogenen Innenraum hervorbringt – die Krypta, die keiner symbolischen Artikulation zugänglich sein kann: »Eine Krypta präsentiert sich nicht. Es wird eine gewisse Anordnung von Orten getroffen, um zu verkleiden: etwas, eine Sache, immer einen Körper in irgendeiner Form. Doch um auch die Verkleidung zu verkleiden, ver-

95 | Jacques Derrida: »Fors«, in: Abraham/Torok: Kryptonymie. Das Verbarium des Wolfsmanns, S. 7-60, hier S. 21. 96 | Ebd., S. 10f. 97 | Sándor Ferenczi führte den Begriff der Introjektion im konstitutiven Gegensatz zur Projektion im Jahre 1909 in den psychoanalytischen Diskurs ein. Er bezeichnet dabei die Möglichkeit, Dinge der Außenwelt ins Innere des Ich aufzunehmen und das Ich auf die Außenwelt hin zu erweitern. Freud entwickelte daraus das Konzept der Introjektion als Vorgang der Identifizierung des Ichs mit einem begehrten Objekt, als narzisstische Objektbesetzung. Vgl. ebd., S. 165f. 98 | Ebd.

3. Suchbewegungen I

birgt die Krypta, wie sie verdeckt, auch sich selbst.«99 Dies ist die erschreckende Logik der Kryptonyme, der Worte des Wolfsmanns, die nur scheinbar nichts sagen. Die kryptische Einverleibung meint keine Identifikation mit einem äußeren Objekt, das vor dem Verlust gerettet werden muss und sich in symbolische Verkleidungen hüllt. Das Objekt wird vielmehr chiffriert und diese Chiffren werden noch chiffriert, um es immer tiefer in den höhlengleichen Raum der Krypta einzugraben, es unkenntlich zu machen, zu verschlüsseln und zu vernichten, während noch dieses Geschehen unkenntlich gemacht, verschlüsselt und vernichtet wird. Zurück bleiben inkorporierte Figuren als in einem unzugänglichen inneren Außenraum ausharrende Fremdkörper im Selbstkörper des Wolfsmanns. Die Krypta erscheint in ihrem Nichterscheinen als »Verbergung, die die Spuren der Verbergung tilgt, ein Ort des Schweigens. Die Introjektion spricht, die ›Benennung‹ ist ihr ›privilegiertes‹ Medium. Die Einverleibung schweigt, spricht nur, um zu schweigen oder von einem geheimen Ort abzulenken.«100 Mangels Möglichkeiten der Symbolisierung, etwa durch deutbare Symptome mit Verweisungszusammenhang, muss jede Introjektion scheitern. Sie würde ein analysierbares ICH des Wolfsmanns als »Gesamtheit aller Introjektionen«101 konstituieren. Die Scheidung von Einverleibung und Introjektion hat mit Abrahams und Toroks Relektüre des Wolfsmanns somit einen aggressiven Akzent gewonnen. Die Verluste des Wolfsmanns sind durch seine innere Spaltung, die Entstehung der Krypta durch den Prozess der Einverleibung, so unsagbar geworden wie sein unbesetztes Selbst unmöglich geworden ist. Einschließend ausgeschlossen sind die einverleibten Figuren referenzlose Symptome, die als instabile Signifkanten immer nur sich selbst sagen und Nichts repräsentieren. Wie ließe sich nun die Figur des Ghost Detainees treffender veranschaulichen, wenn nicht als schwindender instabiler Signifikant, der nichts anderes sagt, als dass er nicht ist? Kryptische Chiffren, die noch die Chiffren verfremden, lassen ein Subjekt verschwinden und bringen diese Figuren hervor: »Die Frage, was durch sie repräsentiert wird, stößt auf Dunkelheit – nicht ›etwas‹.«102 Vom Verlust des physischen Körpers und eigenen Namens über gewöhnliche Flugzeuge, die das Verschwinden verschwinden machen, bis hin zu performativen Schwellenräumen des Verlusts eines rechtlichen Körpers lassen sich symbolische Praktiken ausmachen, die nicht dem Zeigen, sondern dem Zersplittern dienen, der Vernichtung und noch der Vernichtung ihrer Spuren. Dieses Arsenal an symbolischen Praktiken ist dem Verschwinden einer Reali99 | Jacques Derrida: »Fors«, in: Abraham/Torok: Kryptonymie. Das Verbarium des Wolfsmanns, S. 7-60, hier S. 9. 100 | Ebd., S. 14. 101 | Ebd. 102 | Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur, S. 161.

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tät des Verschwindens gewidmet – nicht etwa, um bewahren, schützen und lieben zu können, doch zumindest, um nicht töten zu müssen, während getötet wird. Nach und nach errichten sich die Mauern der Krypta um den Ghost Detainee und verschließen sich und ihn am (Nicht-)Ort des geheimen Lagers. Die Kryptonymie nach Abraham und Torok ist ein Verfahren, eine Verschleierung zu verschleiern, dadurch aber einem traumatischen Unsagbaren und Unsichtbaren immerhin eine Form zu geben, es zu sagen und zu zeigen und ihm durch seine Absenz eine Präsenz zu verleihen. Der Wolfsmann zeigt eine Symptomatik, die aus Symbolsystemen ausbricht. Indem er die Worte, die er erfindet und benutzt, unkenntlich macht, schafft er chiffrierte Chiffren, die stumm etwas sagen, ohne etwas zu sagen, die dadurch aber gerade das Trauma sagen, das unsagbar ist. Die Symptome speisen sich aus Zeichen, die nicht bedeuten, deren Referenz nichts als Dunkelheit ist. Sie reichen bis hin zum eigentümlichen Verstecken des Eigenen. Denn auch sich selbst kann der Wolfsmann, tief in die Krypta eingegraben, nicht zeigen. Nach außen richten kann er nur die Weisen, nicht er selbst zu sein – die so auf die Abwesenheit seines Selbst verweisen. Den Praktiken der Sauberen Folter, zu denen bereits die Praktiken des Verschwinden(lassen)s zu zählen sind, folgen ähnlich komplizierten Verschleierungsbewegungen. Die Dramaturgie der Disziplinierung, der Todestanz der Entkörperung und das lebendige Begräbnis auf Zeit im Lager sagen als symbolische Praktiken das Unsagbare. Die Krypta als Raum der Sauberen Folter erschließt sich somit durch ihre Negation. Sie ist ein (Nicht-)Ort, der sich über das Scheitern des Symbolischen konstituiert. Ihre Kryptonyme in ihren Absentierungspraktiken sind Symbole ohne Symbolsystem, die das Abwesende unkenntlich mit sich führen, ihm in seiner Absenz jedoch eine Präsenz verleihen. Die Praktiken verweisen auf eine Leerstelle, in der die Saubere Folter ist, auf einen Hohlraum, auf eine auf Dauer gestellte Schwelle, auf den dunklen Ort der Krypta – sie verweisen letztlich auf die Black Site. Was in die kryptischen Praktiken unauslöschlich eingetragen ist, ist, was diesem Raum einwohnt. Und das Wort, das hier nicht gesagt werden darf, ist Folter.

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Inszenierungsstrategien der Sauberen Folter The strip search and the cold shower complete with hard-bristle brushes was bad enough. The tray of cold food dropped on the floor right by the slop bucket was nauseating. I was terrified by the two huge warders who manhandled me dangerously down a steep flight of metal stairs to shave off my hair. But worst of all was having no name, just being a ›you‹, then a number, thinking that those in power liked it that way, because the mental torture of a vanishing self left no visible marks and might mean an early surrender. […] No one had mentioned how horrible the brutality in a warder’s twinkling eye could be, how the slightest smile could be a stab of degradation, how much venom could be carried by a friendly voice. Those intimate exchanges nurtured the toxic seed of utter vulnerability, stripping away the last slivers of youthful self-knowledge, leaving only an infinite sense of absence.1

Der dunkle Raum des Gefangenenlagers und die Saubere Folter sind – ebenso wie die theoretischen Annäherungen an diesen Raum und diese Praktiken – charakterisiert durch zwei miteinander verknüpfte Strukturmerkmale, die in den bisherigen Suchbewegungen aufgefunden und benannt werden konnten: Zum einen zeichnen sich das Lager und die Praktiken der Sauberen Folter durch Bewegungen des Entzugs aus, durch ein beständiges Verschleiern, Verschwinden und Vergessen. Zum anderen finden sie ihren (Nicht-)Ort in Zonen oder auf Schwellen, die sich jeder Grenzziehung verweigern und auf denen sich unauflösliche Paradoxien (gerade nicht) situieren – was wiederum das Verschwinden und Vergessen vorantreibt. Die diese beiden Merkmale 1 | Baz Kershaw: The Radical in Performance. Between Brecht and Baudrillard, London/New York: Routledge 1999, S. 129.

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freilegenden Suchbewegungen sind von ihnen selbst geprägt. Suchend folgen sie den Spuren symbolischer Praktiken, nähern sich ihnen im Medium einer theatralen Sprache langsam an, treffen jedoch sodann ebenso auf ein Verschwinden und Verschleiern, wenn das unsichtbare und unsagbare Traumatische jedes Darüber-Sprechen und Daran-Heranreichen ausbremst. Das Medium einer theatralen Sprache als Mittel des Widerstands gegen ein Vergessen trägt selbst die beständige Verfehlung in sich. Es ist eben diese Sprache, die ein symbolisches Schweigen bezeugt und dadurch den Charakter der Unverfügbarkeit der Sauberen Folter zu vermitteln weiß. Damit verorten sich auch die Suchbewegungen (gerade nicht) auf einer Schwelle der (Un-)Möglichkeit der Versprachlichung eines Phänomens, das nicht gewusst werden kann. Sie changieren fortwährend zwischen Fortschritt und Frustration. Wenn sich die folgenden Überlegungen diesem Vergessen erneut entgegen stellen, so dringen sie vor in die Lager, Zellen und Verhörräume. Sie rücken die konkreten Foltertechniken, die sich an diesen (Nicht-)Orten vollziehen, und ihr Vergessen dezidiert in den Blick, um weiter nach der Sauberen Folter zu fahnden. Die Suchbewegungen spüren dabei einer bisher unbeachtet gebliebenen Spur nach: Die theoretischen Annäherungen an die Räumlichkeit Sauberer Folter von der Dramaturgie der Disziplinierung über die Inszenierung durch Nichtinszenierung in außerordentlichen Überstellungen und der Kostümierung des Vergessens bis hin zu den politisch wie geografisch unsichtbaren Black Sites haben all diese Praktiken nicht nur als symbolische Praktiken erschlossen, sondern auch als inszenatorische Praktiken gelesen. Inszenatorisch meint hier das Charakteristikum der intentionalen Gestaltung von Gegebenheiten und Umgebungen, Personen, Kleidung oder Räumen, die dadurch bestimmten strategischen Wirkungsabsichten unterstellt sind. Gestaltungsprozesse sind damit wesentlich für die Saubere Folter. Doch der Begriff der Gestaltung kann noch weitergedacht und -verwendet werden. Denn langsam zeichnet sich hier ein theatraler Beschreibungsmodus ab, welcher der Sauberen Folter in den Beschreibungen ihrer symbolischen Praktiken eine diskursive Gestalt verleiht – auch wenn dieser Gestalt die traumatische Unsagbarkeit und Unsichtbarkeit unweigerlich anhaftet. Ferner verleiht sich die Saubere Folter durch die noch weiter zu beschreibende theatrale Vorgehensweise selbst eine phänomenale Gestalt – auch wenn diese in der Negation ihrer gespenstischen Absenz besteht. Die Inszenierungsstrategien der Sauberen Folter zielen auf eine Gestaltlosigkeit, die sie nicht(-)sichtbar erscheinen lässt. Sie realisieren eine paradoxe Gestalt(ung) der Gestaltlosigkeit, auf die der Blick gerichtet werden kann, wenn die Spur negativer Gestaltungen als Inszenierungsstrategie der Sauberen Folter weiterverfolgt wird. Dabei liegt die Vermutung nahe, dass solche Gestalt(ung)en der Sauberen Folter nicht nur im Kontext von Festnahmen und außerordentlichen Überstellungen auftauchen, sondern auch in symbolischen Praktiken innerhalb der Räumlichkeit des Lagers.

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Gesucht werden muss also nach weiteren ins Negative gewendeten Gestaltungsprozessen der Sauberen Folter, die als Inszenierungen keine Wahrnehmung durch ein wie auch immer geartetes Publikums fordern. Dies ist im doppelten Sinne zu verstehen: Die Inszenierungen erfordern keine Wahrnehmung. Vor allem aber fordern sie: keine Wahrnehmung! Sie fordern, dass das Gestaltete, die Gestalt des Geschehens, nicht gesehen, gesagt, gedacht oder erinnert werden kann. Solche Inszenierungsstrategien, so die These der folgenden Suchbewegungen, können als charakteristisch für die Saubere Folter freigelegt werden. Negative Gestaltungen als Inszenierungsstrategie der Sauberen Folter prägen bereits die Bewegungen des Entzugs und der Vernicht(ort)ung der Folter bei der außerordentlichen Überstellung und der Inhaftierung in geheimen Gefangenenlagern. Die Spurensuche nach solchen Inszenierungsstrategien in den Folterpraktiken innerhalb des Lagers stößt zunächst auf ihre Differenzierung in den US-Folterhandbüchern der 1960er und 1980er Jahre, die als die zentralen Grundlagen heutiger verschärfter Verhörpraktiken gelten müssen – nicht zuletzt, da sich sämtliche Foltertechniken, von denen Opferberichte zeugen, in diese Differenzierung einfügen. Bereits das Handbuch KUBARK unterscheidet implizit Praktiken der sensorischen Desorientierung, Praktiken der mentalen Desorientierung und Praktiken des so genannten selbst zugefügten Schmerzes. Diese Kategorien ergeben sich nicht etwa aus schlicht aufeinanderfolgenden Kapiteln zu den jeweiligen Techniken. Sie lassen sich vielmehr – im beständigen Dialog mit den Zeugenaussagen ehemaliger Häftlinge – dem Verlauf des Handbuchs entnehmen und entsprechen den Weisen der Destruktivität, die politisch-juridische Memoranda noch bis in die Gegenwart in Verhören von Terrorverdächtigen verfolgen. Anhand des Handbuchs KUBARK können die Wirkungsweisen dieser Techniken nachverfolgt werden. Es beinhaltet etwa zunächst Anweisungen zur manipulativen Kontrolle der Umgebung des Häftlings. Dem Handbuch zufolge ist diese explizit darauf ausgerichtet, alle Bedingungen und Gegebenheiten in der räumlichen Umgebung des Gefangenen negativ zu gestalten – und zwar durch das Bombardement oder die Deprivation der körperlichen Sinne des Opfers, die damit der sensorischen Desorientierung ausgesetzt sind.2 Darauf folgen Ausführungen zu Täuschungen, Drohungen und Perversionen, die Angst und Abhängigkeit sowie psychische Schwäche in gezielt hervorgebrachten Situationen des Verhörs evozieren.3 Das Ziel auch dieser Praktiken wird als Desorientierung explizit benannt und lässt sich daher als mentale Desorientierung kategorisieren. Schließlich gehen aus sämtlichen dieser Praktiken, die auf die Hervorbringung von folternden Wirklichkeiten zielen – sei 2 | KUBARK, S. 85ff. 3 | Ebd., S. 90ff.

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es in der Umgebung des Häftlings oder in Interaktionssituationen – Schmerztechniken wie etwa Stresspositionen hervor, die (scheinbar) ohne äußere Gewaltanwendung Schmerz produzieren. Folterer suggerieren ihrem Opfer, es sei somit selbst für diese Schmerzen verantwortlich, provozieren auf verschiedenen Wegen zielsicher Schuldgefühle und pervertieren auf diese Weise die Wirklichkeit, die gerade erst hervorgebracht wurde.4 Die genannte Differenzierung zwischen Techniken der sensorischen und psychischen Desorientierung sowie dem selbst zugefügten Schmerz soll im Folgenden als Orientierungsraster dienen, um sich den Techniken sukzessive anzunähern.5 Denn sie entstammt weder den Handbüchern noch den Zeugenaussagen allein. Sie entstammt dem Dialog zwischen Handbüchern und Zeugenaussagen – und lässt sich in sämtlichen weiteren Handbüchern und Memoranda, Berichten von Menschenrechtsorganisationen und investigativen Journalisten sowie der Vielzahl von Zeugenaussagen wiederfinden und weiter aufgliedern. In einem ersten Schritt wird den Foltertechniken der sensorischen Desorientierung nachgespürt, die negative Gestaltungen auf zweierlei Weise einsetzen. Zum einen bombardiert die extensive Nutzung von Licht-, Klima- oder Musikanlagen die Sinne des Gefangenen durch möglichst unerträgliche Geräusche, Gerüche, wechselnde Temperaturen oder visuelle Sinnesreize. Diese Techniken schaffen ein »intentional erzeugtes Geschehen […] von Objekten und Körpern, Bewegungen und Berührungen, Gesten und Stimmen, Lauten und Klängen«6 auf inszenatorischem Wege, das darauf ausgerichtet ist, die Folter zu vollziehen, ohne sie am Körper sichtbar werden zu lassen. Dies gilt auch 4 | Ebd., S. 93ff. Auch das Human Resources Exploitation Training Manual basiert 20 Jahre nach KUBARK auf Strategien, die inszenatorisch genannt werden müssen. Sie unterscheidet diese jedoch auf andere Weise – es differenziert zwischen Zwangstechniken (coercive techniques) und zwanglosen Techniken (non-coercive techniques). Analog zum sensorischen Bombardement und mentaler Desorientierung entfalten sich Zwangstechniken. Zwanglose Techniken hingegen definieren sich analog zur sensorischen Deprivation und dem so genannten selbst zugefügten Schmerz als restriktive Gestaltungen einer Umgebung oder eines Geschehens. Vgl. beispielhaft HRETM, S. 84ff., 110ff. 5 | Ähnlich unterscheidet auch der Historiker Alfred McCoy die Methoden der Sauberen Folter im Verlauf seiner (historischen) Beschreibungen: »[Z]wei entscheidende Elemente dieser Verhörmethoden sind durchgängig geblieben: die sensorische Desorientierung und der ›selbst zugefügte‹ Schmerz.« McCoy: Foltern und foltern lassen, S. 67; »[…] Schilderungen der ausgeklügelten sensorischen Deprivation und des psychologischen Sondierens […] lieferten offenkundige Hinweise, dass die CIA geschickte Foltermethoden entwickelt hatte.« Ebd., S. 83. 6 | Seel: »Inszenieren als Erscheinenlassen«, in: Josef Früchtl/Jörg Zimmermann: Ästhetik der Inszenierung, S. 48-62, hier S. 59.

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für die Techniken der sensorischen Deprivation, die vermittels einer radikalen Reduktion von Sinnesreizen foltern. In der Stille und Leere der sensorischen Deprivation zielt die negative Gestaltung jedoch sogar auf eine doppelte Gestaltlosigkeit: Sie hinterlässt nicht nur am Körper des Opfers keine Spuren. Auch die Folter selbst ist nicht sichtbar, hörbar oder spürbar – denn sie besteht darin, dass (das) Nichts passiert. Die Gestaltungsprozesse bestehen in Unterlassungen, bestehen also darin, etwas, einen Raum, eine Kulisse oder Atmosphäre gerade nicht zu gestalten – im Sinne einer nicht auffälligen Gestaltung oder einer auffälligen Nichtgestaltung. Besonders deutlich wird dies in der Isolationshaft, die ihre folternde Kraft aus dem Umstand gewinnt, dass die Isolationszelle als nicht gestalteter Raum erscheint, also in seiner Nichtgestaltung auffällig wird. Sie konstituiert sich einzig über einen leeren Raum, in dem (das) Nichts ist. Dieses Nichts (re)präsentiert die Folter geradezu in ihrer Absenz. Die negativen Gestaltungen der Sauberen Folter tauchen hier in Gestalt wahlweise einer Fülle oder Leere im Raum auf, stabilisieren sich für eine Weile, um zu verschwinden und in anderer Gestalt erneut zu erscheinen. Sie binden sich damit an eine spezifische Räumlichkeit des Lagers und an eine spezifische Körperlichkeit der leiblichen Wahrnehmung zwischen dem Erscheinen und Verschwinden der Sauberen Folter. Womöglich muss an dieser Stelle über eine destruktive Form ästhetischer Wahrnehmung nachgedacht werden, immerhin findet diese ihren (Nicht-)Ort gerade auf den Schwellen zwischen phänomenalen Erscheinungen und menschlichen Sinnen. Eine beschreibende Analyse der weiteren Folterpraktiken, das deutet sich hier bereits an, kommt nicht mit einer sprachlichen Darstellung der symbolischen Praktiken der Sauberen Folter aus, sondern muss auch die Wahrnehmungsprozesse untersuchen, an die sie gebunden sind. Denn es sind diese, die nicht nur hören, sehen oder spüren lassen, sondern als Folter auch zerstörerisch eindringen, ergreifen, erschüttern und eliminieren. Gestaltungen und Gestaltlosigkeiten der Sauberen Folter im Lager sowie die fortgesetzte Verbindung von Räumlichkeit und Körperlichkeit gilt es im Folgenden genauer zu untersuchen und zu beschreiben. Dabei werden die Prozesse der Herstellung einer phänomenalen Fülle oder Leere sinnlicher Erscheinungen als inszenatorische Praktiken gedacht, die eine wirksame, nämlich folternde, Gestaltlosigkeit zum Ziel haben und daher als ins Negative gewendete Gestaltungen funktionieren. Ferner muss die wechselvolle Diskontinuität dieser Erscheinungen untersucht werden, die noch eine komplexe Zeitlichkeit – und deren Herstellung – in den Folterprozess involviert. Wie bereits an dieser Stelle deutlich wird, muss ein triadisches Geflecht von Räumlichkeit, Körperlichkeit und Zeitlichkeit der Sauberen Folter weiterverfolgt werden, um ihre Wirkmechanismen zu entschlüsseln.

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Im Anschluss an die analytisch beschreibenden Ausführungen zur sensorischen Desorientierung können die Techniken der mentalen Desorientierung auf ähnlichem Wege verfolgt und beschrieben werden – ihnen wird ein eigenes Kapitel gewidmet. Sie realisieren sich über perfide Täuschungsmanöver und Rollenspiele in interaktiven Verhörsituationen, deren Vollzug in den Folterhandbüchern als Sammlung quasi-dramaturgischer Regieanweisungen dezidiert vorgegeben wird. Auch dabei produziert die Folter keine körperlichen Wunden und Narben als Medien der Erinnerung, sondern besteht in Erniedrigungssequenzen, Entwürdigungen und spezifisch in Szene gesetzten Drohungsszenarien. Die Techniken basieren auf der Auslösung und Ausnutzung von tiefen negativen Empfindungen und Ängsten des Opfers durch theatrale Praktiken – in einem Interaktionsraum zwischen Folterer und Folteropfer, die sich fortwährend aufeinander beziehen. Dabei besteht ein Kerngedanke darin, neben den Ängsten des Folteropfers auch Schuldgefühle hervorzurufen. Aus diesem Grund werden die Techniken der mentalen Desorientierung in engem Zusammenhang mit den Techniken des so genannten selbst zugefügten Schmerzes analysiert, die sich ausschließlich über in Szene gesetzte Perversionen von Täter- und Opferschaft realisieren. In den Ausführungen zum selbst zugefügten Schmerz muss sodann nach einer Inszenierungsstrategie gesucht werden, die auf perfide Weise eine indirekte Gewalteinwirkung auf den Körper durch den Körper selbst vermittelt – so wird es dem Opfer laut der Folterhandbücher suggeriert: In Stresspositionen wende sich der eigene Körper gegen sich selbst. Die Wirkungsabsicht dieser Strategie der Inszenierung einer Täter-Opfer-Beziehung in einem gemeinsamen Körper bedeutet die subtile Perversion von Schuld. Schuld wendet sich ins Negative und richtet sich gegen das Opfer, das einer psychischen Ausgestaltung eines Schmerzes unterliegt und diesen kaum entäußern kann. Sie lässt den Körper sich selbst entfremdet zum Feind des Eigenen werden und dekonstruiert ihn zum Medium einer Gewalt, die jede Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden auflöst. In der Aufmerksamkeit für die negativen Gestaltungsprozesse, die Täuschungsszenarien und die subtilen Perversionen der Sauberen Folter fällt auf, dass ihre theatralen Praktiken immer auch dem Vergessen und der Vernicht(ort)ung der Sauberen Folter gewidmet sind. Sämtliche Foltertechniken treten nicht an einer Hülle des Körperlichen in Erscheinung, sondern in diffuser Gestaltlosigkeit in der Räumlichkeit des Lagers und Körperlichkeit der Wahrnehmung. Trotz ihrer Spurlosigkeit am Körper des Opfers entfalten sie ihre Wirkmächtigkeit über eben jenen Körper, nämlich durch das Eindringen in ein Subjekt über Körpergrenzen und -schwellen hinweg. Aufgrund dieser spezifischen Körperlichkeit der Folter muss sie nicht nur wahrgenommen, sondern auch aufgenommen werden, wobei sie jeder Manifestation an den Grenzen des Körpers entgeht, jedem Zeugnis ihres Dagewesenseins und ihres

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fortwährenden Daseins in der schleichenden inneren Destruktion des Subjekts. Auf diese Weise tritt die Saubere Folter in ihren symbolischen Praktiken hervor, während sie zugleich vorgibt, nicht zu sein und erst recht nicht gewesen zu sein. Die Saubere Folter negiert sich damit in einer Zeitlichkeit, die sie außer Kraft setzt. Sie bindet ihre Wirksamkeit an das Vergessen in einem Erscheinen, das die Folter nicht anzeigt, aber Folter ist – und sich darin sogleich erschöpft. Die Techniken der Sauberen Folter präsentieren also auf inszenatorischem Wege ihre Absenz und situieren sich auf einer Schwelle zwischen Vollzug und Entzug. Vergessen und Vernicht(ort)ung tauchen also offenkundig auch in den weiteren Foltertechniken auf. Dies und die sich beständig aufdrängende Trias der Räumlichkeit, Körperlichkeit und Zeitlichkeit weisen darauf hin, dass sich sämtliche Foltertechniken in ihren Wirkungsmechanismen und -absichten eng miteinander verflechten, dass sie auseinander hervorgehen und sich wechselseitig durchdringen. Die Suchbewegungen nach Annäherungen an die Foltertechniken sind mit dieser hier anklingenden Komplexität konfrontiert und sie bezweifeln die Möglichkeit ihrer restlosen Reduktion. Sie bezweifeln eine potentielle Geschlossenheit der Theoretisierung Sauberer Folter, sie bezweifeln ein geschlossenes Wissen um die Saubere Folter und eine Auflösung all ihrer Geheimnisse. Denn diese undurchdringliche Dynamik macht das Unheimliche der Sauberen Folter aus, das sie unverfügbar macht. Die weitere Spurensuche basiert daher auf der Erkenntnis, dass diese Dynamik nicht eliminiert, aber immerhin formuliert werden kann – und muss. Die Spurensuche führt zu den Inszenierungsstrategien Sauberer Folter, impliziert dabei jedoch nicht nur ihre nachdenkende und nachdenkliche Beschreibung im Medium einer theatralen Sprache. Im Prozess des Nachdenkens nämlich, auf einer analytischen Metaebene, ist die Beschreibung mit der paradoxalen Problematik konfrontiert, dass sie Wirkungsmechanismen entschlüsseln muss, die etwas erscheinen und verschwinden lassen, die es hervortreten lassen und zugleich vergessen machen. Sie müssen nach diesem Bruch dazwischen suchen und ihn sprachlich zugänglich machen. Die analytische Beschreibung der symbolischen Praktiken Sauberer Folter muss daher stets begleitet werden von selbstreflexiven Einblicken in die Weisen des Vorgehens der ihnen zugrunde liegenden Suchbewegungen. So eröffnet sich eine weitere Sphäre des Dazwischens, eine Metaebene, auf der Spuren gelesen und verloren werden, auf der Annäherungen stattfinden, die doch nicht an das Phänomen heranreichen, auf der Beschreibungen scheitern und dennoch weiter(ver)suchen. Eine Spurensuche nach der Folter muss Fremd- und Selbstbeschreibungen miteinander assoziieren, um sämtliche Dimensionen der (Un-)Sagbarkeit und (Un-)Sichtbarkeit der Sauberen Folter aufzeigen zu können.

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Diese Metaebene der Hinwendung zu den Techniken Sauberer Folter als Inszenierungsstrategien ist schließlich auch der Ort, an dem das entworfene Modell einer negativen analytischen Theatralität weiterentwickelt und erprobt werden kann: Erstens setzt sich die Saubere Folter im Lager, so die These, auf eine bestimmte Weise in Szene. Sie macht sich – etwa über die leiblichen Sinne – wahrnehmbar und erscheint im Raum. Diese Inszenierung, dieses Erscheinen der Sauberen Folter, bewirkt jedoch gerade ihren Entzug. Nicht nur der Begriff der Inszenierung im Rahmen eines Denkens der Theatralität muss hier erheblich erweitert werden, vor allem um eine dezidiert destruktive Dimension. Dies soll mit Hilfe des Vokabulars Martin Seels umgesetzt werden: Etwa Inszenieren als Erscheinenlassen7 zu begreifen und sodann in das Negativ des Verschwindenlassens zu wenden kann dazu beitragen, dem beinahe aporetischen Charakter der Sauberen Folter zwischen Erscheinungen und Entzugserscheinungen auf die Schliche zu kommen. Daraus folgt zweitens, dass ein Modell negativer analytischer Theatralität das Auftauchen der Sauberen Folter aus ihren diskursiven Untiefen der Unsichtbarkeit und Unsagbarkeit tatsächlich ermöglicht. Es vermag Inszenierungsstrategien freizulegen und erlaubt eine Annäherung an die Saubere Folter als Inszenierung realer Foltergeschehen. Sie kann in ihrer Undarstellbarkeit zumindest thematisiert werden, um zu erinnern, erinnert zu werden und erinnerbar zu machen. Die Erinnerbarkeit der Sauberen Folter erscheint in einem Knoten des Vergessens arretiert zu sein, den es mit Hilfe dieser theatralen Sprache zu lösen oder zumindest zu lockern gilt. Dieser Knoten besteht wesentlich darin, dass die Inszenierungen der Sauberen Folter darauf abzielen, nur sich selbst und nicht die Folter anzuzeigen, um sie vergessen zu machen. Daraus folgt, dass die Saubere Folter als Folter funktioniert, weil sie das ist, was sie darstellt und darstellt, was sie ist – performativer Entzug, Unverfügbarkeit, Trauma. Das theatrale Begriffsinstrumentarium setzt an dieser Stelle an und erlaubt ein Denken des Dazwischens von Gestaltung und Gestaltlosigkeit, Erscheinen und Verschwinden, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Der Ansatz einer negativen analytischen Theatralität verleiht drittens einer gestaltlosen Folter eine Gestalt, die zumindest gedacht werden kann, wenn sie schon nicht eindeutig benannt werden darf. Die folgenden Beschreibungen fragen daher auf dem Wege der Weiterentwicklung negativer analytischer Theatralität nach Strategien der Inszenierung der Sauberen Folter durch Saubere Folter als Saubere Folter. Sie fragen mithin nach einer dreifach verschachtelten Performativität in den symbolischen Praktiken der Sauberen Folter, die sie in ihrer Absenz erscheinen

7 | Seel: »Inszenieren als Erscheinenlassen«, in: Josef Früchtl/Jörg Zimmermann: Ästhetik der Inszenierung, S. 48-62.

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lassen. Und sie entwerfen im Zuge dessen eine analytische, gleichsam performative Gestalt(ung) der Sauberen Folter in einer Sprache des Theaters.

4.1 Ü berblick : S ensorische D esorientierung Die Techniken der Sauberen Folter in Lagern, Zellen und Verhörräumen, die als sensorische Desorientierung apostrophiert werden, funktionieren wesentlich über manipulative Gestaltungsprozesse in der unmittelbaren Umgebung des Gefangenen »to manipulate the subject’s environment, to create unpleasant or intolerable situations, to disrupt patterns of time, space, and sensory perception«8, wie das Human Resources Exploitation Training Manual aus dem Jahr 1983 formuliert. Bereits das Folterhandbuch KUBARK aus dem Jahr 1963 enthält Anweisungen zur gestalterischen Manipulation der Umgebung des Gefangenen, um diesen gezielt zu desorientieren und Gefühle der Angst und Hilflosigkeit auszulösen: »Control of the source’s environment permits […] to determine his diet, sleep pattern, and other fundamentals. Manipulating these into irregularities, so that the subject becomes disorientated, is very likely to create feelings of fear and helplessness.«9 Einerseits sind hier Foltertechniken der sensorischen Deprivation gemeint, die vor allem in Isolationshaft umgesetzt werden: Solitary confinement and isolation: 1. The more completely the place of confinement eliminates sensory stimuli, the more rapidly and deeply will the interrogatee be affected. Results produced only after weeks or months of imprisonment in an ordinary cell can be duplicated in hours or days in a cell which has no light (or weak artificial light which never varies), which is sound-proofed, in which odors are eliminated etc. […] 2. An early effect of such an environment is anxiety. How soon it appears and how strong it is depends upon the psychological characteristics of the individual.10

Neben den Entzug von Sinnesreizen tritt der Entzug von Nahrung und Schlaf: »Meals and sleep granted irregularly, in more than abundance or less than adequacy, the shifts occuring on no discernible time pattern, will normally disorient an interrogatee.«11 Andererseits meinen die Handbücher das sensorische Bombardement etwa durch die Erzeugung von Geräuschen und Gerüchen

8 | HRETM., S. 85. 9 | KUBARK, S. 86f. 10 | Ebd., S. 90. 11 | Ebd., S. 93.

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oder künstlicher Hitze und Kälte: »prolonged constraint; prolonged exertion; extremes of heat, cold, or moisture«12. Die Foltertechniken durch Gestaltungsprozesse in der Umgebung des Häftlings werden nun beständig kombiniert. Der wechselvollen Kombinatorik aus Deprivation und Bombardement legen die Handbücher eine Theorie der Nötigung zugrunde, die sie mit »[T]he theory of coercion«13 betiteln. Laut dieser Theorie führen die Techniken in ihrem beständigen Wechsel zu einem Zustand des Gefangenen, der pathologisch als »DDD syndrome […] debilitydependency-dread-state«14 beschrieben wird. Die sensorische Desorientierung induziert also die physische und psychische Schwächung, eine Abhängigkeit vom Folterer sowie extreme Angstzustände des Häftlings. Das Ziel dieser Praktiken sei, so die Handbücher, den Widerstand des Gefangenen gegen Verhörbeamte oder das Verhör selbst zu brechen: »[M]ost people who are exposed to coercive procedures will talk and usually reveal some information that they might not have revealed otherwise.«15 Bis heute wird die sensorische Desorientierung im Verhör von Terrorverdächtigen in exterritorialen Gefangenenlagern verwendet. Nach Spuren dieser Praxis sucht man allerdings vergeblich etwa in der öffentlich zugänglichen Version des US Army Field Manual aus dem Jahr 2006.16 Es enthält zwar einige Vorgaben zur Verwendung von Isolationstechniken zu Beginn der Gefangenschaft von Terrorverdächtigen. Doch auf den letzten Seiten des Anhangs untersagt es explizit die Verwendung von Techniken der sensorischen Deprivation. So heißt es: »Use of hoods (sacks) over the head, or of duct tape or adhesive tape over the eyes, as separation method is prohibited.«17 Das Armeehandbuch geht sogar noch weiter und betont ausdrücklich, dass der Gefangene vor Techniken etwa des sensorischen Bombardements und des systematischen Schlafentzugs geschützt werden müsse: • Care should be taken to protect the detainee from exposure (in accordance with all appropriate standards addressing excessive or inadequate environmental conditions) to – • Excessive noise. • Excessive dampness. • Excessive or inadequate heat, light, or ventilation. • Inadequate bedding and blankets. […] 12 | HRETM, S. 110. 13 | Ebd. 14 | KUBARK, S. 83f. 15 | Ebd., S. 83. 16 | Vgl. US Army Field Manual (FM 2-22.3), o.S. 17 | Ebd., S. 355.

4. Suchbewegungen II • Use of separation must not preclude the detainee getting four hours of continuous sleep every 24 hours. • Oversight should account for moving a detainee from one environment to another (thus a different location) or arrangements to modify the environment within the same location in accordance with the approved interrogation plan.18

Es müssen hier also ganz andere Spuren verfolgt werden. So unterzeichnete der US-Kommandeur für den Irak Ricardo S. Sanchez bereits am 14. September 2003 das so genannte Sanchez-Memorandum, das sämtliche Techniken (nicht nur) der sensorischen Desorientierung gerade anordnet – jenseits des US Army Field Manuals und ausschließlich zum Verhör von Terrorverdächtigen. Auffällig sind dabei die beinahe wörtlichen Übereinstimmungen mit dem Folterhandbuch KUBARK und dem Human Resources Exploitation Training Manual. Das Memorandum legitimiert die Techniken der Isolation, der sensorischen Deprivation und des sensorischen Bombardements – und zwar über die Manipulation oder destruktive Gestaltung sämtlicher Faktoren der Umgebung des Gefangenen: U. Environmental Manipulation: Altering the environment to create moderate discomfort (e.g. adjusting temperature or introducing an unpleasant smell). […] V. Sleep Adjustment: Adjusting the sleeping times of the detainee (e.g. reversing sleep cycles from night to day). […] X. Isolation: Isolating the detainee from other detainees while still complying with basic standards of treatment. […] Use of this technique for more than 30 days, whether continuous or not, must be briefed […]. AA: Yelling, Loud Music, and Light Control: Used to create fear, disorient detainee and prolong capture shock.19

Als Ziel dieser Techniken definiert das Memorandum zwar nicht das DDD Syndrom des Gefangenen, sehr wohl aber den destruktiven Einfluss auf die Emotionen des Häftlings sowie die Exploration und Exploitation seiner psychologischen Schwächen: »Interrogation approaches are designed to manipulate the detainee’s emotions and weaknesses to gain his willing cooperation.«20

18 | Ebd. S. 356. 19 | MEMORANDUM FROM Ricardo S. Sanchez, Lieutenant General, to Combined Joint Staff Force Seven, Baghdad, Iraq, and Commander, 205th Military Intelligence Brigade, Baghdad, Iraq, CJTF-7 Interrogation and Counterresistance Policy vom 14.09.2003 (›Sanchez-Memorandum‹), S. 5f., siehe www.americantorture.com/documents/ iraq/02.pdf. 20 | Ebd., S. 6.

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Die Folterhandbücher, an die das Memorandum in der Vielfalt legitimierter Foltertechniken offenkundig anknüpft, formulieren die Wirkungsabsicht solcher Techniken also deutlich aggressiver. Sie forcieren mit diesen Techniken die Auslösung eines spezifischen Schockzustands des Gefangenen: »The ›questioner‹ tries to […] disrupt radically the familiar emotional and psychological associations of the subject. D. Once this disruption is achieved, the subject […] experiences a kind of psychological shock […].«21 Das Human Resources Exploitation Training Manual nutzt hier die Begriffe des Brechens oder eines Bruchs im Moment des Schocks. Dies wiederum weist auffällige Ähnlichkeiten zu einem Unterkapitel im US Army Field Manual in einer frühen Version auf, das mit »Recognize the Breaking Point«22 betitelt ist. Darin heißt es etwa: »Every source has a breaking point, but an interrogator never knows what it is until it has been reached. […] The interrogator must be alert to recognize these signs.«23 Auch wenn das US Army Field Manual von 2006 die Techniken der sensorischen Desorientierung explizit untersagt, muss dies auf sie bezogen werden, nicht zuletzt da das Sanchez-Memorandum als eine Erweiterung früherer Versionen des US Army Field Manuals gilt.24 Ferner tauchen Vokabeln des Brechens des Gefangenen in den Recherchen zur Sauberen Folter immer wieder auf. Zwar scheint sich der Begriff des Brechens zunächst lediglich auf die Auflösung von Widerstand seitens des Häftlings zu beziehen, der beginnt, im Verhör Informationen preiszugeben: »Break is the jargon we use to signify getting a prisoner to open up a little – like cracking an egg«25, erläutert ein ehemaliger US-amerikanischer Verhörbeamter. Doch mit der fortgesetzten Lektüre der Handbücher und Memoranda und vor allem der Zeugenaussagen des Guantánamo Testimonials Project wird deutlich, dass mit dem Brechen von Häftlingen vor allem ihre extreme Traumatisierung gemeint ist. Denn, wie bereits ausgeführt, aus sämtlichen Zeugenaussagen spricht ein Schweigen über die Folter als Unaussprechliches, das die Unmöglichkeit 21 | HRETM, S. 84. 22 | Die Washington Post veröffentlichte im Juni 2004 ein Memorandum des damaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld von 2003, das im Anhang einen Auszug aus dem US Army Field Manual beinhaltet. Darin befindet sich das zitierte Kapitel auf S. 10. Das Memorandum war bis Januar 2014 unter URL: www.washingtonpost.com/ wpsrv/nation/documents/041603rumsfeld.pdf verfügbar, wurde danach jedoch entfernt. Es liegt der Autorin über das National Security Archive vor. 23 | Ebd. Erwähnt sei an dieser Stelle die Publikation eines Offiziers der US Air Force. Vgl. Matthew Alexander/John Bruning: How to Break a Terrorist: The U.S. Interrogators Who Used Brains, Not Brutality, to Take Down the Deadliest Man in Iraq, New York: St. Martin’s Griffin 2011. 24 | Vgl.: Bahar: Folter im 21. Jahrhundert, S. 117f. 25 | Alexander/Bruning: How to Break a Terrorist, S. 108.

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der Überführung der Leerstelle des Traumas in ein symbolisches System belegt. Diese Leerstelle markiert das traumatische Erleben selbst als Bruch, als plötzliche Lücke in einem zeitlichen Kontinuum des Geschehens. Und da das Trauma sich unmittelbar auf den Gefangenen bezieht, sein Empfinden, sein Erleben und letztlich seine Existenz einschließt, so ist dies als ein Brechen des Subjekts selbst lesbar. Dies zeigt sich auf seiner beständigen Suche nach Worten für das Unaussprechliche. Der Zeuge sucht »nach einem Bericht, der erst noch zu geben ist. […] Bezeugt wird ein Ereignis, das trotz seiner überwältigenden und zwingenden Realität für das Opfer noch nicht zur Wirklichkeit geworden ist.«26 Das Ereignis kann als Abwesendes gelten, über das auszusagen zugleich bedeutet, eine Anwesenheit zwingender Realität zu konstituieren, nach der in der Aussage erst gesucht werden muss. Hier liegt eine besondere, destruktive Performativität einer anwesenden Abwesenheit vor, denn »[d]as Trauma ragt in die Gegenwart hinein und ist in jeder Hinsicht in ihr präsent.«27 Zwischen einer Realität und ihrem Entzug, zwischen Anwesenheit und Abwesenheit realisiert das Trauma der Sauberen Folter jenen Bruch zwischen dem Ereignis der Folter und seiner Wirklichkeit, der das Subjekt selbst affiziert. Die Menschenrechtsorganisation Physicians for Human Rights trug dieser destruktiven Kraft der Sauberen Folter im Jahr 2005 Rechnung, als sie einen Bericht veröffentlichte, der auf der Grundlage von jahrelangen medizinischen Studien mit Folteropfern das Ziel dieser verschärften Verhörmethoden als »to humiliate and break down detainees«28 oder als »to ›break‹ detainees, mentally and physically«29 auf den – auch begrifflichen – Punkt bringt. Der Moment des Brechens wird nun zum Ausgangspunkt der beschreibenden Analyse Sauberer Folter mit Hilfe eines theatralen Begriffsinstrumentariums. Denn aus dem Bruch heraus löst sich jenes Schweigen, das zum Bestimmungsort des Gefangenen wird – einerseits Exil, andererseits Zuhause, wie es der Traumaforscher Dori Laub in bildliche Worte fasst.30 Nicht nur das Fehlen von Worten jenseits der Unerträglichkeit und Unmenschlichkeit, der 26 | Dori Laub: »Zeugnis ablegen oder Die Schwierigkeit des Zuhörens«, in: Ulrich Baer: ›Niemand zeugt für den Zeugen‹, S. 68-98, hier S. 68. 27 | Ebd., S. 77. 28 | Physicians for Human Rights: Break Them Down: The Systematic Use of Psychological Torture by U.S. Forces, Cambridge: Physicians for Human Rights 2005, siehe http:// physiciansforhumanrights.org/library/repor ts/us-tor ture-break-them-down-2005. html, S. 41. 29 | Physicians for Human Rights/Human Rights First: »Leave No Marks – Enhanced Interrogation Techniques and the Risk of Criminality«, siehe www.humanrightsfirst.org/ wp-content/uploads/pdf/07801-etn-leave-no-marks.pdf von August 2007, S. 3. 30 | Dori Laub: »Zeugnis ablegen oder Die Schwierigkeit des Zuhörens«, in: Ulrich Baer: ›Niemand zeugt für den Zeugen‹, S. 68-98, hier S. 70.

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Grausamkeit und Schrecklichkeit der Folter in den Zeugenaussagen bezeugen dieses Schweigen. Vor allem das Fehlen eines Aussagens zur Folter als Folter unterstreicht die Tragweite der Unsagbarkeit dieser Folter, die das Schweigen nach sich zieht. Symptomatisch dafür ist, dass sich in keinem von Hunderten ausgewerteter Zeugenberichte die zweifelsfreie Aussage findet, gefoltert worden zu sein. Ansatzweise und in Bruchstücken sprechen ehemalige Gefangene, wenn sie überhaupt sprechen, von Geschehnissen im Lager, von Methoden und Techniken »to make you feel worse«31. Sie sprechen von den Tagesabläufen, von Zellen und Verhörräumen, von Temperaturen, Geräuschen und Gerüchen, von den Schreien und Suizidversuchen von Mithäftlingen, von Gefühlen der Entwürdigung und Misshandlungen – aber nicht von der Folter, von einem Gefoltert-worden-Sein, das sagbar wäre.32 Auf den Spuren dieser Folter und ihres Schweigens soll nun in Theaterwissenschaft und Theaterdiskursen nach Worten gesucht werden – nach Worten für symbolische Praktiken, in denen sich die Saubere Folter als Phänomen der anwesenden Abwesenheit zeigt, aber auch als Folter verschwindet. Die fragenden Vermutungen lauten etwa: Können die Erzeugung künstlicher Hitze und Kälte, die Einleitung unangenehmer Gerüche, die Hervorbringung einer lärmenden Geräuschkulisse oder auch der Stille und Reizarmut in der Enge und Begrenztheit der Isolation als intentional erzeugte Zustände beschrieben werden, die die Folter performativ hervorbringen? Können dann nicht die diesen Zuständen zugrunde liegenden Gestaltungen als Elemente von Inszenierungen gelesen werden, die über eine konstitutive Negativität destruktiv wirken? Und sind all diese Praktiken nicht als Prozesse des Veränderns, Herstellens und Hervorbringens von äußeren Bedingungen zu lesen, somit als Theatralität und Performativität sinnlich wahrnehmbarer Erscheinungen, denen der Häftling zwangsweise ausgesetzt ist? In den Antworten auf diese Fragen verbirgt sich das Potential einer analytischen Theatralität vor dem Hintergrund destruktiver Praktiken und Prozesse. Es ist zu erproben, ob die Praktiken des Erzeugens, Herstellens und Hervor31 | Anonymus: »The Battle for Guantánamo«, siehe http://humanrights.ucdavis.edu/ projects/the-guantanamo-testimonials-project/testimonies/prisoner-testimonies/ the-battle-for-guantanamo/, ohne Datum. Das Zitat entstammt Zeugenaussagen, die im Rahmen des Guantanamo Testimonials Projects dokumentiert wurden. 32 | Wenige Ausnahmen finden sich in den Aussagen ehemaliger Häftlinge, deren Haftzeit lang zurückliegt oder die einen therapeutischen Prozess durchlaufen haben. So bezeugt etwa der ehemalige Guantánamo-Gefangene Saad Iqbal Madni: »There are a lot of times I start to cry. I still feel like I am in Guantanamo […] I have memorized the torture. I wake up in the middle of the night screaming.« Jane Perlez/Raymond Bonner/ Salman Masood: »An Ex-Detainee of the U.S. Describes a 6-Year Ordeal«, siehe www. nytimes.com/2009/01/06/world/asia/06iqbal.html vom 06.01.2009.

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bringens auf diesen theaterwissenschaftlichen Spuren als Weisen eines Erscheinens der Sauberen Folter versprachlicht werden können – was ihre Kraft des Verschleierns, Verschwindens und Vergessens mindern könnte. Es ist somit erstens zu überlegen, wie dieses Erscheinen im Verschleiern, Verschwinden und Vergessen überhaupt gedacht werden kann (6.1). Sodann steht die Frage im Raum, wie die Wahrnehmung dieses Erscheinens und Verschwindens beschaffen ist (6.2). Erst dann und auf einem soliden theoretischen Fundament kann eine analytische Beschreibung der Foltertechniken sensorischer Deprivation (6.3) und sensorischen Bombardements (6.4) erfolgen.

4.2 A uf dem W eg zur analy tischen The atr alität I Bevor die Erscheinensweisen der Sauberen Folter näher beleuchtet und die ihnen zugrundeliegenden Wirkungsmechanismen entschlüsselt werden können, stellt sich die Frage nach dem Begriff des Erscheinens. Als so fundamentale Kategorie der Beschreibung verlangt dieser Begriff eine genaue Erörterung, die den Transfer in den Kontext der Sauberen Folter unterstützt. Ferner ist das Verhältnis dieses Erscheinens zum Verschwinden der Sauberen Folter zu klären. Was kann mit Erscheinen im Kontext der Sauberen Folter gemeint und bezeichnet werden (und was nicht?) und wie kann dieses Erscheinen dann zum Katalysator eines Verschwindens und Vergessens der Sauberen Folter avancieren? Mit dem Begriff des Erscheinens stoßen die Suchbewegungen unwillkürlich auf Martin Seels Ästhetik des Erscheinens33, in der auch der Begriff der Inszenierung auftaucht. In Seels Theorie vom Erscheinen zeichnen sich Inszenierungen durch ein räumliches und zeitliches Arrangement aus, das seine Elemente hervortreten und sie »in einer phänomenalen Fülle erscheinen«34 lässt. Das Erscheinen ist hier also einerseits als Rezeptionsmodus zu verstehen. Andererseits impliziert Seel zufolge gerade das Erscheinen eine »Dimension der Wirklichkeit«35 eines Gegenstands, wobei der Gegenstand in einem Ding oder Objekt ebenso bestehen kann wie in einer Situation oder in einem ereignishaften Geschehen.36 Das Objekt oder Geschehen dränge einem Wahrnehmenden entgegen, hebe sich hervor, aus dem Gewöhnlichen heraus und vom Kontext ab, es werde auffällig und mache sich bemerkbar. Letztlich kann 33 | Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt a.M. 2003. 34 | Ebd., S. 70. 35 | Ebd. 36 | Vgl. Martin Seel: »Ereignis. Eine kleine Phänomenologie«, in: Nikolaus MüllerSchöll (Hg.): Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien, Bielefeld: transcript 2003, S. 37-47.

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dies als seine phänomenale Anwesenheit gelesen werden. Bezieht man das nun auf die perpetuierte Gewaltausübung der Sauberen Folter in einem exterritorialen Gefangenenlager, so liegt durchaus ein räumliches und zeitliches Arrangement vor. Über die Foltertechniken der sensorischen Desorientierung tritt die Saubere Folter ihrem Opfer auch in sinnlichen Erscheinungen von etwa Geräuschen und Gerüchen oder Temperaturen entgegen, in einer phänomenalen Fülle und in deren »jeweils hier und jetzt erfahrbaren sinnlichen Gegebensein«37. Diese Erscheinungen der Sauberen Folter machen ihre »andauernde Gegenwart«38 spürbar – und das, so Seel, ist die fundamentale Funktion des Inszenierens. Mit Seel können die Praktiken der sensorischen Desorientierung als Wirklichkeitsdimensionen der Sauberen Folter gedacht werden, die sie auf inszenatorischen Wegen in ein Erscheinen überführt. Sie gelangt auf diese Weise in eine phänomenale Anwesenheit, die inszeniert ist und inszeniert ist. Eine Schwierigkeit dieser Begriffsverwendung des Erscheinens im Kontext der Sauberen Folter ergibt sich allerdings aus dem Erfordernis eines wahrnehmenden Subjekts und der Struktur der traumatischen Erfahrung des Folteropfers. Denn die Traumaforscherin Cathy Caruth pointiert eindrücklich, dass die »Struktur der Erfahrung«39 eines traumatischen Geschehens gerade im Entzug aller Möglichkeiten der Wahrnehmung besteht: »Zum Zeitpunkt seines Geschehens wird das Ereignis nicht vollkommen ins Bewußtsein eingelassen oder in seiner Ganzheit erfahren.«40 Als solche Ganzheit eines Ereignisses findet es für das Opfer schlichtweg nicht statt – und kann so auch nicht wahrgenommen werden. Wie also kann ein Erscheinen der Sauberen Folter gedacht werden, wenn sich lediglich lose Fragmente einer Wahrnehmung bieten, die ohne Möglichkeiten der Verarbeitung schlichtweg aussetzt: »So wird das Trauma zu einem Erlebnis ohne Anfang, ohne Ende, ohne Vorher, ohne Während, ohne Nachher. Das Fehlen von Kategorien, durch die es sich definieren ließe, macht seine Andersartigkeit aus […].«41 Zunächst fällt auf, dass das Trauma hier im Moment seines Geschehens trotz seiner Unverfügbarkeit als Erlebnis gedacht wird. Die destruktive Kraft 37 | Seel: »Inszenieren als Erscheinenlassen«, in: Josef Früchtl/Jörg Zimmermann: Ästhetik der Inszenierung, S. 48-62, hier S. 56. 38 | Ebd. Hier muss allerdings berücksichtigt werden, dass Seel das Inszenieren und seine Herstellung von bestimmten Zuständen als öffentlich zugänglich und vor einem Publikum stattfindend denkt. 39 | Cathy Caruth: »Trauma als historische Erfahrung: Die Vergangenheit einholen«, in: Ulrich Baer (Hg.): ›Niemand zeugt für den Zeugen‹, S. 84-100, hier S. 85. 40 | Ebd. 41 | Laub: »Zeugnis ablegen oder Die Schwierigkeit des Zuhörens«, in: Ulrich Baer: ›Niemand zeugt für den Zeugen‹, S. 68-98, hier S. 77.

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des Traumatischen besteht geradezu darin, dass es durch den inhärenten Entzug zu einem Erlebnis wird. Der Begriff des Erlebens impliziert, dass etwas dem Folteropfer entgegentreten muss, etwas, das zwar keiner Kategorisierung, Definition oder Kontextualisierung als etwas zuführbar ist, aber doch da ist, anwesend ist, vernommen und zumindest fragmentarisch wahrgenommen wird. Dafür spricht, dass Caruth im Bezug auf die Struktur der Wahrnehmung eines Traumas betont, es werde nicht vollkommen ins Bewusstsein gelassen – aber doch teilweise. Denkbar sind diese Fragmente im Kontext der Sauberen Folter als verstörende Geräusche, die gehört werden müssen, als unangenehme Gerüche, die gerochen werden müssen, oder als künstliche Hitze und Kälte, die gespürt werden müssen. Dori Laub betont, dass das Trauma »nicht abgeschlossen ist und kein Ende hat«42. Wenn die Folter also nicht als abgeschlossenes Ereignis der Folter wahrgenommen werden kann, so doch in Fragmenten des Geschehens – und damit ihres Erscheinens. Zwar verkapselt es sich sogleich als »Fremdkörper in der Seele«43 des Opfers. Doch die Folter findet einen Ort des fragmentarischen Wahrgenommenwerdens, es findet eine Stätte – es findet statt, indem es hier und da erscheint, um dann als Fremdkörper in der Seele zu verharren. Eingekapselt manifestiert es dann eine bedrohlich entzogene Ganzheit als Folter, die das Opfer so nicht wahrnehmen kann und die es darum in bleibenden Besitz nimmt. Folgt man den Theorien Laubs und Caruths, so bleibt die Wahrnehmung im Moment der Traumatisierung stets fragmentarisch, lückenhaft und unvollständig, doch sie findet durchaus statt. Das Trauma schließt also seine Wahrnehmung nicht aus, es setzt vielmehr einen Prozess der Verarbeitung des Geschehens in seiner Ganzheit aus: »Die zerstörerische psychische Gewalt des […] Traumas läßt in vielen Fällen eine Einarbeitung in das Gedächtnis nicht zu.«44 In den aufgefundenen Worten zur Sauberen Folter heißt das, sie erscheint auf verschiedene Erscheinensweisen der sensorischen Desorientierung in phänomenaler Fülle. Es überwältigt die Sinne des Opfers und produziert eine spürbare Gegenwart der Folterung. Die Wahrnehmung dieser Erscheinensweisen in ihrer überwältigenden Fülle kann zwar nicht vollständig und abgeschlossen sein, sie können nicht als Folter verarbeitet werden. Doch sie implizieren das Vernehmen von Lärm und Geruch, das Spüren von Hitze und Kälte oder auch der Enge einer Isolationszelle. Die Wahrnehmung umfasst diese Fragmente der Folter als ihre Erscheinensweisen, jedoch nicht die Folter in deren Ganzheit als Folter. 42 | Ebd. 43 | Ulrich Baer: »Einleitung«, in: Ders. (Hg.): ›Niemand zeugt für den Zeugen‹, S. 7-34, hier S. 15. 44 | Ebd., S. 14f.

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Die Überlegungen machen ein Erscheinen der Sauberen Folter in ihrem Vollzug denkbar. Fraglich ist, ob dies nicht im Konflikt mit dem Verschwinden der Sauberen Folter steht. Durch die lückenhafte Wahrnehmung und schließlich die Verkapselung als Fremdkörper in der Seele des Opfers bleibt sie entzogen, verschwindet in ihrem oder sogar durch ihr Erscheinen. Jedoch wird in der fortgesetzten Lektüre von Martin Seels Ästhetik des Erscheinens deutlich, dass dessen Konzeption ein Verschwinden im Erscheinen gerade untermauert – denn er arbeitet das sinnliche Erscheinen in Opposition zu einem sinnlichen Erkennen aus. In der Inszenierung, das heißt im Erscheinenlassen der Folter, artikuliert sich die Unterscheidung zwischen Erscheinen und Erkennen dadurch, dass ihre Elemente »für die Dauer der Inszenierung in einer sinnlich prägnanten, aber begrifflich inkommensurablen Besonderheit gegenwärtig werden«45. Die sinnliche Prägnanz muss im Kontext eines Erscheinens der Sauberen Folter freilich abgeschwächt werden, ist sie doch gerade nicht in ihrer vollkommenen destruktiven Kraft prägnant wahrnehmbar. Doch während das Erscheinen hier in einer Sinnlichkeit wohnt, die dem Folteropfer entgegentritt, lässt eine begriffliche Inkommensurabilität auf die Unmöglichkeit eines Erkennens dieses Sinnlichen als etwas schließen. Nach Seel akzentuiert das Erscheinen eine auf das Hier und Jetzt konzentrierte Gegenwart phänomenaler Qualitäten, während das sinnliche Erkennen sein Ziel in einer begrifflichen Fixierung dieser Qualitäten und deren definierten Soseins hat.46 Das Erscheinen ist somit an eine offene und unbestimmte Begegnung mit etwas Undefiniertem gebunden, das auf verschiedene Weisen erscheinen und sich doch einer begrifflich definierten Festsetzung entziehen kann – um die es im Erscheinen auch gar nicht geht. In der Traumasituation nimmt der Häftling also fragmentarisch wahr, was erscheint, er nimmt jedoch nicht wahr, was er wahrnimmt und wie – eine fundamentale Differenz zu den symbolischen Praktiken des Theaters, von der noch zu sprechen sein wird. Liest man Seels Begriffsentwürfe auf die Traumatheorien Dori Laubs, Shoshana Felmans und Cathy Caruths hin und führt man beide Theoriestränge mit Blick auf die Saubere Folter zusammen, so wird das Erscheinen zu einer Dynamik des gleichzeitigen Wahrnehmens und Nichtwahrnehmens, des Erlebens und Nichterlebens der Folter, welche die psychischen Verarbeitungsmechanismen maßlos übersteigt. Denn die Erscheinensweisen der Folter werden durchaus wahrgenommen, sinnlich vernommen und somit erlebt. Doch die Wahrnehmung ist beschränkt, im Erscheinen kann das, was tatsächlich geschieht, nicht als Folter erlebt und damit erkannt werden: »Traumatisierte 45 | Seel: »Inszenieren als Erscheinenlassen«, in: Josef Früchtl/Jörg Zimmermann: Ästhetik der Inszenierung, S. 48-62, hier S. 56. 46 | Vgl. dazu Seel: Ästhetik des Erscheinens, insbes. S. 82.

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Menschen, könnte man sagen, tragen eine unmögliche Geschichte in sich.«47 So erscheint und verschwindet die Folter also zugleich. Während das Trauma erlebt werden muss, kann es zugleich nicht als Folter erlebt werden. Das bedeutet, dass sämtliche Verbindungen zwischen Erscheinen und Erkennen brechen. Das verweist auf den Beginn dieser Überlegungen und auf den Begriff des Brechens von Häftlingen. Seel beschäftigt diese Brüchigkeit zwischen Erscheinen und Erkennen. Sie gründe in einer Simultaneität und Momentaneität des Geschehens, die im Kontext der Sauberen Folter jedoch anders gepolt ist, nämlich destruktiv eingesetzt wird. Mit Seel ist hier eine Simultaneität verschiedener ästhetischer Erscheinensweisen der Folter am Werk sowie eine Momentaneität ihrer Gleichzeitigkeit und Augenblicklichkeit, durch die das Geschehen immer hier und jetzt ist und nie gewesen sein kann. Die Folter erscheint ihrem Opfer in mannigfaltigen Techniken der sensorischen Desorientierung, die jetzt und hier, gleichzeitig und augenblicklich sind, aber noch nicht vollkommen wahrgenommen werden können. Das Erscheinen der Folter wird somit nie gewesen sein können, sondern ist auf diese momentane Gegenwärtigkeit beschränkt.48 Das Trauma der Folter hingegen, das sich sodann als Fremdkörper verkapselt, nicht vollständig wahrgenommen werden kann und das Opfer in Besitz nimmt, zeichnet sich durch eine konstitutive Nachträglichkeit aus. Erst wenn das Opfer einen langwierigen Zeugnisprozess von Zuhören und Gehörtwerden durchläuft und das Trauma (mit-)geteilt wird, kann es eine nachträgliche begriffliche Realität erlangen – in der Gestalt einer Erzählung von etwas, das wirklich gewesen ist. Dies wird erheblich erschwert durch den anzuerkennenden und zu überwindenden Imperativ des Schweigens und der Stille, »durch die diese Zeugenaussage sprach«49. Denn die Erzählung führt Laub und Caruth zufolge zu einem nachträglichen Ereignis des gewesenen traumatischen Geschehens – als Ganzheit in der Wahrnehmung des Opfers. Ein Sprechen über das Gewesene, so die Traumatheorie vor allem Caruths, kann ein erneutes Erleben der Folter als »eigenständiges Ereignis«50 begründen. Das Erscheinen der Folter in ihrem Vollzug jedoch verharrt in seiner Momentaneität. Was dann als eigenständiges Ereignis in der Erzählung erscheint, das erscheint erneut hier und jetzt. Was gewesen ist, kann also nie gewesen sein. Dies ist die komplexe Zeitlichkeit der Folter, die in direktem Zusammenhang mit der Körperlichkeit des Opfers und der Räumlichkeit ihres Geschehens steht. 47 | Caruth: »Trauma als historische Erfahrung«, in: Ulrich Baer (Hg.): ›Niemand zeugt für den Zeugen‹, S. 84-100, hier S. 85f. 48 | Vgl. ebd., S. 55f. 49 | Laub: »Zeugnis ablegen oder Die Schwierigkeit des Zuhörens«, in: Ulrich Baer: ›Niemand zeugt für den Zeugen‹, S. 68-98, hier S. 72. 50 | Ebd., S. 74.

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Im erneuten Erscheinen kann somit ein nachträgliches Erkennen der Folter (eingeschränkt) möglich werden. Im therapeutischen Prozess oder im Prozess der Zeugenschaft vor anderen – der auch ein therapeutischer Prozess sein kann – könne das Trauma Dori Laub zufolge reexternalisiert und dadurch endlich zu einem »Ereignis zurückverwandelt [werden], welches sich wieder außerhalb der Person befindet«51. Das Sprechen über das, was geschah, aber nicht vollkommen wahrgenommen werden konnte, fülle jene Leerstellen und Lücken im Erleben und löst ein erneutes Erleben aus, gar eine vollkommene nachträgliche Wahrnehmung des Geschehens, wenn im Prozess des Sprechens »Affekte mit einer dem ursprünglichen Trauma fast vergleichbaren Gewalt hervorbrechen«52. Erst durch diesen schmerzlichen Prozess kann die Folter (in manchen Fällen) als etwas Bestimmtes erkannt werden, nämlich als Folter, die dauerhaft als Folter bestimmt werden kann. Die Nachträglichkeit des Traumas ermöglicht nun auch ein begleitetes, geschütztes Sprechen, in dem es »um die Entdeckung des Wissens geht, um seine Entstehung und darum, daß es sich ereignet. Dieses Wissen ist […] nicht einfach ein gegebener Fakt, […] sondern ein echtes Erscheinen, ein eigenständiges Ereignis.«53 Laubs Ausführungen stützen die hier angestellten Überlegungen – nachträglich lässt sich ein weiteres Erscheinen der Folter vermuten. In ihrem (performativen) Vollzug im Lager erscheint die Folter in phänomenaler Fülle, kann jedoch nicht als Ganzheit vollkommen erfasst werden. Die Dimension ihrer Wirklichkeit kann nur in Fragmenten wahrgenommen werden, dringt in ein Inneres ihres Opfers ein und verkapselt sich dort. In der nachträglichen Erzählung kann oder muss sich gar diese Kapsel auflösen und ein erneutes Erscheinen der Folter provozieren, das ihre vollkommene Wahrnehmung erlaubt oder auch erzwingt. In der Traumatheorie Dori Laubs ist dies als Prozess sekundärer Zeugenschaft oder »Zeugenschaft durch Vorstellungskraft«54 zu begreifen, durch den »die Wahrheit der extrem traumatischen Erfahrungen ans Licht gelangt«55. Die hier vorgelegten Ausführungen zu einem Erscheinen der Sauberen Folter im Moment ihres Vollzugs, auf den sie sich konzentrieren, sollen im Zeichen der Aktivierung und sodann der Potenzierung dieser Vorstellungskraft stehen. Es geht darum, die Saubere Folter in actu zu thematisieren, weil sie 51 | Ebd., S. 78. 52 | Baer: »Einleitung«, in: Ders. (Hg.): ›Niemand zeugt für den Zeugen‹, S. 7-34, hier S. 15. 53 | Laub: »Zeugnis ablegen oder Die Schwierigkeit des Zuhörens«, in: Ulrich Baer: ›Niemand zeugt für den Zeugen‹, S. 68-98, hier S. 74. 54 | Baer: »Einleitung«, in: Ders. (Hg.): ›Niemand zeugt für den Zeugen‹, S. 7-34, hier S. 11. 55 | Ebd.

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sich in diesem Vollzug selbst nicht auf eine Weise äußert, die vollständig wahrgenommen werden kann. Eine Vorstellungskraft zu stärken, die die Saubere Folter zum Gegenstand nimmt und sich nicht nur von Folterhandbüchern und Memoranda leiten lässt, sondern vor allem von den Aussagen der Folteropfer, ermöglicht es ferner zu einem »informierten Zeugen«56 zu werden, indem wir »den Opfern zuzuhören beginnen und die Geschichte der Opfer […] begreifen lernen«57. Ein Erscheinen der Folter in ihrem Vollzug zu denken heißt somit, Versuche der Versprachlichung eines Unsagbaren zu unternehmen, ohne zu unterschätzen, dass dies für das Opfer unsagbar bleibt. Wenn die Saubere Folter in ihrem Vollzug erscheint und durch ihre Unerkennbarkeit als Folter verschwindet, dann entfaltet sich ihre destruktive Kraft gerade in dieser Spaltung, in diesem Bruch, der das Opfer sprachlos zurücklässt. Das Opfer muss der Folter begegnen, kann und darf sie aber nicht als Folter erkennen. Darauf lassen sich nun auch die eigentümlich nüchternen Berichte von den Geschehnissen im Lager zurückführen. Sie erzählen von dem, was den Opfern begegnete, doch das Wort Folter fällt nicht. Es gilt also, eine nachträgliche Sprache für die Opfer (und sekundäre Zeugen) zu finden, nicht eine Sprache der Opfer vorzugeben. Dies ruft sicherlich einen gewissen Grad der Frustration auf, der in diesen Versuchen angenommen und akzeptiert werden muss. Wie bereits zu Beginn skizziert, muss sich die Phänomenbeschreibung ihrer Beschränktheit bewusst bleiben. Sie muss im Bewusstsein eines unüberwindlichen Schweigens der Opfer im Angesicht ihrer Traumatisierung vorgehen. Daher sei an dieser Stelle daran erinnert, dass diese Frustration nur einen Bruchteil der Erfahrung aufruft, die das Folteropfer in seiner ohnmächtigen Sprachlosigkeit mit sich trägt. Jedoch bleibt die Hoffnung bestehen, mit Hilfe einer analytischen Theatralität zu einem verstärkten Sprechen über die Saubere Folter beizutragen. Diese analytische Theatralität widmet ihre Aufmerksamkeit performativen Prozessen des Her56 | Ebd., S. 13. Baer zitiert hier einen Tagungsbeitrag von Elisabeth Domansky zur sekundären Zeugenschaft im Kontext eines Erinnerns der Opfer des Nationalsozialismus. Vgl. Manuel Köppen: Zur Zukunft des Erinnerns. Eine Diskussion mit Jurek Becker, Micha Brumlik, Elisabeth Domansky, Gerhard Schönberner, Horst Denkler. In: Ders. (Hg.): Kunst und Literatur nach Auschwitz, Berlin: Erich Schmidt Verlag 1993, S. 204-209. Das Motiv der informierten und sekundären Zeugenschaft beschäftigt auch die (durchaus umstrittene) sozialhistorischen Disziplin der Oral History, die maßgeblich Zeitzeugenberichte und Erinnerungsinterviews methodisch als Quellen nutzen. Ziel dieses Vorgehens ist die Rekonstruktion einer Geschichte, die nicht als Geschichte wahrgenommen wird – und erst durch das subjektive Aussagen wird. Vgl. Donald A. Ritchie: The Oxford Handbook of Oral History, New York: Oxford University Press 2012. 57 | Baer: »Einleitung«, in: Ders. (Hg.): ›Niemand zeugt für den Zeugen‹, S. 7-34, hier S. 13.

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stellens und Hervorbringens als Mechanismen des Erscheinens Sauberer Folter. Sie verweigert sich damit einem stumpfen »Metapherngestöber der Kommentare«58 und erkennt die unverstellte Kraft der theaterwissenschaftlich geschulten Beschreibungen an.

4.3 A uf dem W eg zur analy tischen The atr alität II Mit dem Denken eines Erscheinens und Verschwindens der Folter in ihrem Vollzug ist ein erster Schritt in die Richtung einer theaterwissenschaftlich geschulten Beschreibung unternommen. Während die Folter im Raum und in ihren negativen Gestalt(ung)en der sensorischen Desorientierung erscheint und dem Häftling als Musik, Hitze, Kälte, Dunkelheit oder Isolation begegnet, ist sie begrifflich nicht fassbar. Sie kann nicht als Folter wahrgenommen werden, während sie folternd wahrgenommen werden muss. Sie entzieht sich einem Erkennen und verschwindet gerade, indem sie auf der Ebene des Erscheinens verharrt. Auf perfide performative Weise erschöpfen sich ihre Erscheinensweisen also in sich selbst. In diesem Auf-sich-selbst-Verweisen versperren sie einen Blick in den düsteren Raum dahinter. Sie rücken eine Verfasstheit der Folter in den Blick, ohne sie als etwas zu enthüllen, dem diese Verfasstheit eigen ist. Wenn man nun diese theaterwissenschaftliche Perspektive auf das Phänomen der Sauberen Folter beibehält, so muss neben der Frage nach dem Erscheinen eine weitere Frage nach der Wahrnehmung des Erscheinens gestellt werden – eine Frage nach der Verfasstheit der Wahrnehmung eines Gegenübers des Erscheinens, ohne die die Verfasstheit des wahrgenommenen Gegenstands nicht zu denken ist. Es konnte herausgestellt werden, dass die Wahrnehmung des Foltergeschehens fragmentarisch ist – und dies auch zunächst bleibt – und vornehmlich im sinnlichen Spüren, Hören, Sehen oder Riechen besteht, im Vernehmen eines Geschehens, das nicht verarbeitet werden kann. Die unreduzierbare Interdependenz zwischen einem Erscheinen und dieser Wahrnehmung macht Seel zufolge das Erscheinen zum Element und Resultat einer ästhetischen Wahrnehmung: »Etwas um seines Erscheinens willen in seinem Erscheinen zu vernehmen – das ist der Brennpunkt der ästhetischen Wahrnehmung […].«59 Wie geht nun die Folterung eines Subjekts mit dessen ästhetischer Wahrnehmung zusammen? Geht sie überhaupt zusammen oder ist dieser Punkt zurückzuweisen? Oder ist das Erscheinen hier gar als destruktiv-ästhetisches Erscheinen zu denken? 58 | Ebd., S. 16. 59 | Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 49.

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Die ästhetische Wahrnehmung konzentriert sich Seel zufolge auf das begrifflich Unbestimmbare einer Phänomenalität, die auf diese Weise umso wirksamer ist. Sie begegnet dem, was den Sinnen entgegenkommt, hier und jetzt, nicht gebunden an eine Instanz der Reflexion und Interpretation, an die es gar nicht erst heranreicht. Demgegenüber verschreibt sich die reflexive Distanz des sinnlichen Erkennens der Dauerhaftigkeit eines Soseins, das sich im geschlossenen Kosmos begrifflicher Fixierung konzentriert, aber auch erschöpft. Wenn die sensorische Desorientierung nun nicht über ihre Erscheinungen hinaus bis in ihr Erkennen führt, so begründet sie die destruktive Form einer ästhetischen Wahrnehmung, welche die leibliche Wahrnehmung attackiert, ohne reflektiert werden zu können – und ohne dass dies wahrgenommen und reflektiert werden könnte. Erneut sei hier auf die noch zu erörternde grundlegende Differenz zu den symbolischen Praktiken des Theaters hingewiesen, die gerade über die Wahrnehmung eine ästhetische Distanz schaffen (können) und eine Ebene der (Selbst-)Reflexion eröffnen (können), die es also ermöglichen, über die Wahrnehmung von Dargebotenem auch das eigene Wahrnehmen zu reflektieren.60 Seel selbst drängt nun darauf, das ästhetische Erscheinen nicht auf den künstlerischen Kontext von Bildnissen, Werken oder Aufführungen zu beschränken – auch wenn er die so genannten artistischen Formen eines sich darbietenden Erscheinens für den Bereich der Kunst reserviert.61 Prinzipiell aber könne alles, was sensitiv wahrgenommen werden kann, auch ästhetisch wahrgenommen werden. Zu den möglichen ästhetischen Objekten zählen dabei nicht allein die wahrnehmbaren Dinge und ihre Konstellationen, sondern auch Ereignisse und ihre Sequenzen, kurzum alle Zustände oder Geschehnisse, von denen wir sagen können, wir hätten sie gesehen, gehört, gefühlt oder sonstwie verspürt.62 60 | Vgl. dazu Christoph Menke: »Ästhetik der Tragödie. Romantische Perspektiven«, in: Ders./Bettine Menke (Hg.): Tragödie – Trauerspiel – Spektakel, Berlin: Theater der Zeit 2007, S. 179-198. 61 | Zum artistischen Erscheinen siehe Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 156ff. Ähnlich formuliert Gumbrecht seine »Überzeugung […], daß das Gebiet, auf dem wirklich ästhetische Erfahrungen gemacht werden, heute sehr viel weiter gefaßt werden muß als der vom Begriff ›ästhetische Erfahrung‹ abgedeckte Bereich«. Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 117. Gernot Böhme schlägt ebenfalls in diese theoretische Kerbe, wenn er eine neue Ästhetik fordert, die sich mehr der Ästhetisierung einer Realität, namentlich der Natur, des Alltags, der Politik und Ökonomie als einer reinen Kunstkritik widmet. Vgl. Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995. 62 | Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 46.

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Die Folter im Gefangenenlager operiert nun wesentlich mit solchen sensitiven Reizen, mit ihrer zwanghaften Spürbarkeit durch sinnliche Erscheinungen und mit ihrer momentanen und simultanen Wahrnehmung, die nicht in ein Erkennen der Folter hineinreicht. Was foltert, ist sinnlich wahrnehmbar, aber nicht begrifflich fassbar. Die durch Inszenierungen der Sauberen Folter produzierten Sinnesqualitäten und -intensitäten werden als eben solche ästhetisch wahrgenommen, wenn sie einzig sich selbst zum Inhalt haben und nicht auf eine Folter verweisen, die in ihrem Sosein eindeutig bestimmt werden kann. Die Saubere Folter erscheint und entzieht sich in einer Fülle von ästhetisch Wahrnehmbarem, das nicht »das Erscheinen von etwas [ist], sondern das Erscheinen, Punktum«63. Sie lässt schwitzen und frieren, wird hörbar und fühlbar, sie tastet, riecht und schmeckt – und dennoch ist sie selbst nicht anwesend. Anwesend ist nur ihr Erscheinen. Und dieses Erscheinen der Folter kann »zwar wahrnehmend verfolgt, nicht aber anerkennend festgehalten werden«64. Es ergibt sich jedoch ein Differenzierungs- und zugleich Differenzproblem, das in Martin Seels Theorie vom Erscheinen selbst aufscheint und das in ihrer Anwendung auf ein Gewaltphänomen berücksichtigt und diskutiert werden muss. Seel geht nämlich davon aus, dass die ästhetische Wahrnehmung ein spezifisches Tätigsein des Wahrnehmenden voraussetzt. Dieser, so Seel, wende sich ja selbst einem phänomenalen Erscheinen von Dingen oder Geschehen zu, er nehme es ja selbst wahr und auf. Er selbst vollziehe – offenkundig freiwillig – jene Begegnung mit dem Erscheinenden und sei bereit, in dessen spürbarer Gegenwärtigkeit zu verweilen. Seel spricht hier gar von einer kontemplativen ästhetischen Wahrnehmung.65 Im Kontext der Sauberen Folter berichten davon auf zweifelhafte Weise nur die Folterer selbst in ihren Aussagen zu Isolationszellen: »A guard at Camp 6 […] insisted that the prisoners prefer the new air-conditioned cells and the privacy. ›It’s kind of like having their

63 | Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 95. Seel deutet hier mit dem Begriff Punktum nicht nur die Finalität eines Denkschrittes an, sondern zitiert auch Roland Barthes Essay zur Fotografie »Die helle Kammer«. Darin benennt Barthes das punctum als ein Element einer Fotografie, das nicht eine spezifische Bedeutung vermittelt, sondern den Betrachter plötzlich sinnlich berührt und ergreift: »[D]as Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren.« Roland Barthes: Die Helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 35. Interessant ist hier der gewalttätige Impetus, welcher dem Punctum innewohnt und eine entfernte Verbindung zu einem plötzlichen Erscheinen der Folter, wie hier diskutiert, schafft: »Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft)« Ebd., S. 36. 64 | Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 95. 65 | Vgl. Ebd., S. 150.

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own apartment‹, he said.«66 Ungeachtet dieser pervertierten Wahrnehmung von Folterinstitutionen ist der Häftling im Lager gezwungen, den Erscheinensweisen der sensorischen Desorientierung zu begegnen. Sie widerfahren ihm plötzlich und willkürlich und es kann davon ausgegangen werden, dass der Häftling keinesfalls bereit ist, in dieser spürbaren Gegenwärtigkeit kontemplativ zu verweilen. Es liegt allerdings nicht in seinem Möglichkeitsraum, sich diesem Erscheinen zu verweigern oder sich von ihm abzuwenden. Aus diesen Überlegungen folgt, dass sinnliche Erscheinungen nicht nur hervortreten können, um eine schlafende ästhetische Wahrnehmung zu wecken und um bestimmte Erfahrungen zu bereichern. Sie können sich auch aufdrängen und eindringen, zu- und übergreifen, Grenzen überschreiten und unterminieren, in Wahrnehmungsräume einschneiden und diese aushöhlen. Seel schränkt zwar seine Theorie des kontemplativen Begegnens im Erscheinen ein und lässt anklingen, dass »uns ein Erscheinendes plötzlich in seinen Bann schlägt«67 und uns »der Umschlag in ein ästhetisches Bewußtsein widerfährt«68 – Negativität ist damit schon impliziert. Doch als destruktive Dimension wird diese Dynamik im Beschreibungsmodus der Überraschung nicht gedeutet. Im vorliegenden Kontext der Sauberen Folter ist es eben diese, die sich paradigmatisch in den sinnlichen Erscheinungen im Lager zeigt – wo aus der Kontemplation eines Verweilens in der Begegnung mit Erscheinendem die Destruktion des Gefangenseins in der Begegnung mit Erscheinendem wird. Eine Theorie des ästhetischen Erscheinens muss also, will man diese tatsächlich im Sinne Seels aus einem abgeschirmten Kunsttheoriebereich herausheben, um eine destruktive Dimension erweitert werden, damit eine analytische Beschreibung der Techniken Sauberer Folter möglich wird. Diese Dimension ästhetischer Wahrnehmung hat es nicht auf eine glanzvolle Bereicherung der Erfahrung abgesehen, sondern auf eine grausame Zerstörung des (Er-)Lebens. Aus den Überlegungen könnte nun gar eine radikale Konsequenz für die Ästhetik-Debatte gezogen werden. Nimmt man nämlich Seels Konzeption von einer ästhetischen Wahrnehmung eines Erscheinen ohne Verarbeitung oder Erkennen ernst, so hieße das, dass ästhetische Wahrnehmung prinzipiell immer traumatisch ist. Als Moment des Entzugs aller Verarbeitungsmöglichkeiten impliziert es jene Unverfügbarkeit, die dem Trauma eigen ist – was Seels

66 | Ben Fox: »Life Harsher in New Guantánamo Unit«, siehe http://human rights.ucdavis.edu/projects/the-guantanamo-testimonials-project/testimonies/ prisoner-testimonies/life-harsher-in-new-guantanamo-unit/ 67 | Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 65. 68 | Ebd.

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Überlegungen erneut in eine brisante Verbindung mit Überlegungen zur Sauberen Folter bringt.69 In einer theoretischen Gesamtschau des Erscheinens im Kontext der sensorischen Desorientierung als Inszenierungsstrategie der Sauberen Folter lässt sich zusammenfassen, dass Vollzug und Verschwinden der Sauberen Folter in einem Erscheinen gründen, das »nicht primär ein Erscheinen von etwas anderem [ist], es ist ein Erscheinen seiner selbst«70. Die perfide Strategie wurzelt nicht nur in der Unsichtbarkeit der Folter am Körper, sondern auch in der Erschöpfung gegenwärtiger, augenblicklicher und flüchtiger Erscheinensweisen in sich selbst, die eine diffuse Gegenwart der Folter spürbar machen, sie als solche aber nicht nennen. Die Saubere Folter ist, wenn sie erscheint, um zu verschwinden. Ihre Inszenierungen bestehen in einem Erscheinenlassen, das hervortritt, das hier vor ein Erkennen der Folter tritt, die in anwesender Abwesenheit verharrt. An diese Denkfigur bindet sich das theatrale Begriffsinstrumentarium, das in der nun folgenden analytischen Beschreibung sämtlicher Foltertechniken der sensorischen Deprivation und des sensorischen Bombardements auf das Dazwischen von Erscheinen und Verschwinden hin erprobt und weiterentwickelt wird. Denn nun steht die Frage im Raum, wie die Techniken Sauberer Folter erscheinen, wenn sie verschwinden – und wie dies mit dem hier entwickelten Vokabular analytisch beschreibbar wird. Im Folgenden werden die Deprivation und das Bombardement, die Techniken sensorischer Desorientierung der Sauberen Folter, als Inszenierungen von Leere und Entzug und als Inszenierungen einer Überfülle sinnlicher Erscheinungen beschrieben. Der unvorhersehbare Wechsel zwischen diesen Erscheinungsweisen dient dem überfallartigen Bruch mit jeder Kontinuität des Erscheinens, so eine weitere These. Auch in dieser Brüchigkeit erscheint und entzieht sich die Folter. Die sensorische Deprivation und das sensorische Bombardement folgen einer wechselvollen Strategie des Entzugs und der Überfülle – diese Motive hat Hans-Thies Lehmann interessanterweise als Theaterzeichen entworfen, auf Grundlage derer er ein Begriffsinstrumentarium des postdramatischen Theaters erarbeitet. Lehmann intendiert, durch eine theatrale Sprache an eine Theaterform und seine Erscheinensweisen heranzureichen, um ihm eine »bessere Erkennbarkeit«71 zu verleihen. Sein Vorhaben, so lässt es 69 | Karl Heinz Bohrer hat dieses Phänomen der Präsenz als Plötzlichkeit, als momenthaftes Einbrechen des Schocks und der Gewalt, beschrieben. Vgl. Karl-Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981. 70 | Seel: »Inszenieren als Erscheinenlassen«, in: Josef Früchtl/Jörg Zimmermann: Ästhetik der Inszenierung, S. 48-62, hier S. 57. 71 | Vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 139.

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sich überspitzt sagen, bewegt sich also von einem Erscheinen zum Erkennen und kann hier als Vorbild dienen. So veranschaulicht Lehmann mit den Motiven des Entzugs und der Überfülle im Theater etwa das Ziel des Ausfalls der Synthesis in Theaterproduktionen. Leere und Chaos, Zeichenmangel und Zeichendichte sowie von Brüchen gekennzeichneten Polyvalenzen brechen stabile Zusammenhänge und starre Kontinuitäten auf. Sie stiften also Verwirrung, akzentuieren aber die emanzipatorische Produktivität solcher Desorientierung, die sich den Begriffen und dem Begreifen entziehen will. Dem gegenüber steht nun die sensorische Desorientierung der Sauberen Folter im Gefangenenlager, die ebenfalls mit Leere und Chaos, Zeichenmangel und Zeichendichte sowie Brüchen systematisch desorientiert, dies aber auf destruktivem Wege zur induzierten Schwächung und Erschöpfung des Gefangenen nutzt: »loosening up«72 oder »softening up […] detainees«73 sind inoffizielle Wortformeln, die in den Lagern kursieren. Was sich hier theoretisch gegenübersteht, schaut sich also zumindest an. Diesen destruktiven Formen der Theatralität, der Performativität und ästhetischen Wahrnehmung gilt es sich im Kontext der Sauberen Folter, aber vor dem theoretischen Hintergrund theaterwissenschaftlicher Perspektivierung anzunähern.

4.4 N egative G estalt (ung) en I: I nszenierungen der L eere Die Problematik, an ein Phänomen heranzureichen, wenn es sich im Erscheinen entzieht, wenn es auftaucht, um zu verschwinden, wenn es sich in mannigfaltigen Gestalt(ung)en versteckt und im Verschwinden erscheint, kann in den Beschreibungen der Techniken der Isolation und sensorischen Deprivation abgeschwächt werden. Wie bereits in den Überlegungen zur Räumlichkeit Sauberer Folter angedeutet wurde, soll das Paradoxale hier nicht als verunmöglichende Verknotung von Möglichkeiten gelten, sondern – wie es Luhmann mit der Hypothese einer Verzeitlichung von Paradoxien vorführt74 – als ein Zustand, der sich unter bestimmten perspektivischen Prämissen durchaus entfalten lässt. Wenn bei Luhmann der Faktor Zeit einen Rahmen bietet, um Unmögliches verzeitlicht, d.h. etwa als Nacheinander, denkbar zu machen, lassen sich hier nicht nur die komplexe Zeitlichkeit der Folter, sondern auch 72 | David Matlin: »Abu Ghraib: The Surround«, in: The Terra Nova Series (Hg.): Abu Ghraib. The Politics of Torture, S. 60-64, hier S. 60. 73 | David Levi Strauss: »Breakdown in the Gray Room: Recent Turns in the Image War«, in: The Terra Nova Series (Hg.): Abu Ghraib. The Politics of Torture, S. 87-102, hier S. 92. 74 | Niklas Luhmann: Tautologie und Paradoxie in den Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft.

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der bereits verhandelte Raum der Sauberen Folter als perspektivische Rahmen mitdenken, um Erscheinen und Verschwinden zu reflektieren. Die Überlegungen zur Räumlichkeit der außerordentlichen Überstellung des Gefangenen in ein exterritoriales Haftzentrum haben primär das Vergessen der Sauberen Folter eng an räumliche Prozesse gebunden – auch wenn herausgearbeitet wurde, dass sie sich in diesem Vergessen als Saubere Folter zeigt. Innerhalb des Gefangenenlagers, in Zellen und Verhörräumen, erscheint nun die Saubere Folter in Gestalt der sensorischen Desorientierung über die Kanäle des menschlichen Sensoriums, über den leiblichen Wahrnehmungsraum des Folteropfers – auch wenn herausgearbeitet werden muss, dass sie sich in diesem Erscheinen als Folter versteckt. Räume können also zunächst einem Vergessen dienlich sein, das auch ein Erscheinen bedeutet, und sodann ein Erscheinen befördern, das auch vergessen lässt. Dies zieht die Überlegungen zum Erscheinen und Verschwinden aus einem weiteren jener Knoten heraus, die hier aufgelöst werden sollen. Dass die Praktiken der Sauberen Folter sich auch innerhalb des Lagers eng an ihre Räumlichkeit binden, zeigt sich besonders deutlich in den Techniken der Isolation und sensorischen Deprivation, die sich in ihren Wirkungsweisen überschneiden. Eingeleitet wird die Isolation bereits durch die symbolischen Praktiken der außerordentlichen Überstellung, die die geografische und die rechtliche Exklusion des Gefangenen forcieren und somit als erste Praxis der Isolation des Gefangenen gelesen werden können.75 Einschließend ausgeschlossen wird der Gefangene sowohl im Raum des Lagers als auch vom Rechtssystem und seinem eigenen Körper – zu dieser Potenzierung passt ein winziger definitorischer Einwurf zur Zelle: »Zelle, die: 1. kleinste lebende Einheit […]; 2. Kerker, Verlies«76. Die zugrundeliegenden symbolischen Praktiken bringen einen Raum des Lagers hervor, der nicht gewusst werden kann, und einen dunklen Raum der rechtsfreien Isolation innerhalb des Rechts, der sich in diesem Lager noch räumlich manifestiert und in jeder einzelnen Zelle (re-)präsentiert. Die Isolation ist somit von Beginn der Untersuchung an nicht solipsistisch als Foltertechnik im Lager zu beschreiben, sondern entfaltet sich sukzessive als Stufenfolge. Spuren einer Stufenfolge der Isolation finden sich in KUBARK, das bereits die Internierung des Gefangenen als Akt der Isolation auf einer ersten Stufe verhandelt:

75 | Vgl. dazu das Kapitel 3 Räumlichkeit und Verschwinden in der vorliegenden Dissertation. 76 | Birgit Eickhoff (Red.): Duden Band 10: Das Bedeutungswörterbuch, Mannheim: Dudenverlag 2002, S. 1071.

4. Suchbewegungen II [T]he circumstances of detention are arranged to enhance within the subject his feelings of being cut off from the known and the reassuring, and of being plunged into the strange. Usually his own clothes are immediately taken away, because familiar clothing reinforces identity and thus the capacity for resistance. (Prisons give close hair cuts and issue prison garb for the same reason.) If the interrogatee is especially proud or neat, it may be useful to give him an outfit that is one or two sizes too large and to fail to provide a belt, so that he must hold his pants up.77

Die Isolation, so wird in dieser Passage deutlich, vollzieht sich bereits in einem intentionalen Arrangement der Inhaftierung, das einer bestimmten Wirkungsabsicht zu dienen bestimmt ist. Bereits die Dramaturgie der Disziplinierung und die symbolischen Praktiken der Rendition Flights zählen zu diesem Arrangement, das im Dienste des Vergessens wirkt. Zur Sprache kommt nun erneut die Kostümierung des Vergessens des Gefangenen. Hier aber intendiert das Arrangement der Inhaftierung darüber hinaus Gefühle der Abgeschnittenheit, Fremdheit und Unsicherheit seitens des Gefangenen gezielt hervorzurufen – durch die »präsentische Intensität«78 eines unbekannten Ortes, der rechtlich, geografisch und politisch nicht ist, sowie der an diesem (Nicht-)Ort (nicht-)gestalteten Zellen, die in den Folterhandbüchern zum zentralen Element von Inszenierungen der Isolation avancieren. In der Begegnung mit diesem Ort, der nicht gewusst werden kann, aber gespürt werden muss, erscheint der Akt der Gefangennahme auf eine bestimmte Weise. Er gelangt über (s) ein Spüren zu einer Wirkung, die die Abwesenheit des Ghost Detainees auf der Bühne seiner eigenen Leiblichkeit in Szene setzt. Die Isolation erscheint, indem sie das Verschwinden spürbar macht. Auf einer zweiten Stufe konkretisiert sich die Isolation durch die spezifische Gestaltung räumlicher Dispositionen der Zellen im Gefangenenlager. Legitimiert als Technik des Verhörs vollzieht sie sich durch die restriktive Stillstellung des Körpers im leeren Raum einer Isolationszelle. Im Handbuch KUBARK wird die Isolation als zentrale Zermürbungsstrategie des Häftlings geführt und mit Techniken der sensorischen Deprivation kombiniert: »The chief effect of arrest and detention, and particularly of solitary confinement, is to deprive the subject of many or most of the sights, sounds, tastes, smells, and tactile sensations to which he has grown accustomed.«79 Das so genannte Phifer-Memorandum legitimiert heute für US-amerikanische Verhörzentren eine Dauer der Isolationshaft von bis zu 30 Tagen, weist aber auch darauf hin, 77 | KUBARK, S. 86. 78 | Hans-Thies Lehmann: »Die Gegenwart des Theaters«, in: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.): Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin: Theater der Zeit 1999, S. 13-26, hier S. 13. 79 | KUBARK, S. 87.

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dass diese Dauer mit entsprechender Genehmigung auf unbestimmte Zeit ausgeweitet werden kann.80 Zeugenaussagen des Guantánamo Testimonials Project zufolge befinden sich solche Isolationszellen in einem Bereich des Lagers, der zynisch Camp Echo genannt wird. Diese Zellen sind auf spezifische Weise negativ gestaltet – als »white-walled, sound-absorbent hell of 24-hour solitary confinement«81. In einer psychiatrischen Studie aus den 1960er Jahren fasst der US-amerikanische Psychologe Albert Biderman die Forschungen zur Manipulation des menschlichen Verhaltens aus dieser Zeit zusammen – die Studie wird in den Folterhandbüchern als Quelle genannt – und bekräftigt das hier anklingende extreme Destruktivitätspotential der Isolation als the ideal way of ›breaking down‹ a prisoner, because, to the unsophisticated, it seems to create precisely the state that the interrogator desires: malleability and the desire to talk, with the added advantage that one can delude himself that he is using no force or coercion. However, the effect of isolation on the brain function of the prisoner is much like which occurs if he is beaten, starved, or deprived of sleep. 82

80 | Vgl. MEMORANDUM FOR Commander, United States Southern Command, 3511 NW 91st Avenue, Miami, Florida 33172-1217; sog. ›Phifer-Memorandum‹ vom 11. Oktober 2002, o.S., vorliegend via National Security Archive der George Washington University. Vgl. dazu den Ausschnitt des Memorandums in Danner: Torture and Truth, S. 167-168. Vgl. ferner: Physicians for Human Rights/Human Rights First: »Leave No Marks – Enhanced Interrogation Techniques and the Risk of Criminality«, siehe www. humanrightsfirst.org/wp-content/uploads/pdf/07801-etn-leave-no-marks.pdf von August 2007, S. 30-34. 81 | David Rose: »How we Survived Jail Hell (Part 1)«, in: The Observer vom 14.03.2004, o.S., siehe http://humanrights.ucdavis.edu/projects/the-guantanamo-testimonials-project/testimonies/prisoner-testimonies/how-we-sur vived-jail-hell-par t-i/ (07.01.2013). Vgl. ferner die Schilderungen des Zeugen Khalid Mahmoud al-Asmar in Roger Willemsen: Hier spricht Guantánamo, S. 58. 82 | Biderman/Zimmer (Hg.): The Manipulation of Human Behavior, S. 29, zit. n. R. Matthew Gildner: »Psychological Torture as a Cold War Imperative«, in: Ojeda (Hg.): The Trauma of Psychological Torture, S. 23-39, hier S. 28. Bidermans Studie liegt den beiden Folterhandbüchern zugrunde. Die Isolationshaft wird ferner als primäres Mittel der Reduktion von Widerstand auch in den Ermittlungsberichten zu den US-Verhörzentren und im US-Army Field Manual genannt, aber auch in den Berichten zu den five interrogation techniques in Nordirland in den 1970er Jahren oder zu den Stasi-Verhören, die die Spurlosigkeit ihrer Verhörmethoden verfolgten. Dies belegen die Sammlungen psychologischer Foltertechniken aus verschiedenen historischen Kontexten, die der US- amerikanische Psychologe Ojeda zusammengetragen hat. Vgl. ebd. Vgl. ferner exemplarisch David Rose: »How we Survived Jail Hell (Part 1)«, in: The Observer vom 14.03.2004, o.S.

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Entscheidend für die Wirksamkeit der Isolationshaft ist hier nicht nur die soziale Abgeschnittenheit des Subjekts von Kontakten zu Mithäftlingen oder Lagerpersonal. Es ist vor allem der dauerhafte Aufenthalt in einem leeren, schallisolierten Raum, der die unmittelbare Gewaltausübung am Körper des Opfers ersetzt. Dieser Raum unterbindet sämtliche Sinneswahrnehmungen auf radikale Weise und unterminiert damit alle sichtbaren, hörbaren oder spürbaren Zeichen des Lebendigen. Rund zwanzig Jahre nach Bidermans Studie beschreibt das HRETM den Effekt dieser Foltertechnik: »Deprivation of sensory stimuli induces stress and anxiety. The more complete the deprivation, the more rapidly and deeply the subject is affected.«83 Verbunden ist die Verknüpfung von Isolation und Deprivation ferner mit der wiederholten Restriktion oder Manipulation von Nahrung, die bis heute Teil der durch US-Memoranda legitimierten Verhörmethoden ist: »T. Dietary Manipulation: Changing the diet of a detainee«84. Die Erscheinungsweisen der Sauberen Folter in den Techniken der Isolation und Deprivation forcieren also primär Bewegungen der Restriktion und des Entschwindens, die ein symbolisches Sterben ohne Tod in Szene setzen, ein fortschreitendes Leiden an äußeren Bedingungen, die negativ gestaltet sind. Auf theaterwissenschaftlichen Spuren lassen sich nun Hinweise finden, wie solche negativen Gestalt(ung)en der Sauberen Folter zu einer Wirksamkeit gelangen und wie sie analytisch beschrieben werden können. Denn vor allem in der zeitgenössischen Performancekunst lässt sich eine Tendenz ausmachen, den Entzug von sinnlichen Reizen oder Phasen der Isolation zu (Gegenständen von) Aufführungen zu machen. Trotz einiger fundamentaler Differenzen, die zu diskutieren sind, intendiert ein fingierter Dialog von Techniken der Isolation und Deprivation der Sauberen Folter mit den »Techniken der Zurückhaltung in der Performancekunst«85 im Folgenden aufzuzeigen, wie das Strategierepertoire beschaffen ist, aus dem auf destruktive oder produktive Weise geschöpft werden kann.

83 | HRETM, S. 116. Diese Passage wurde nachträglich durchgestrichen und verändert, so dass zu lesen ist: »Extreme deprivation of sensory stimuli induces unbearable stress and anxiety and is a form of torture. Its use constitutes a serious impropriety and violates policy.« Ebd. 84 | Sanchez-Memorandum, S. 4. Vgl. ferner Phifer-Memorandum, S. 4; KUBARK, S. 92, HRETM, S. 110; David Rose: »How we Survived Jail Hell (Part 1)«, in: The Observer vom 14.03.2004, o.S. 85 | Barbara Gronau: »Das Theater der Askese. Zurückhaltung als ästhetische Praxis«, in: Dies./Alice Lagaay (Hg.): Ökonomien der Zurückhaltung. Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion, Bielefeld: transcript 2010, S. 129-146, hier S. 136.

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Barbara Gronau hat in ihrer Studie zum »Theater der Askese«86 drei performative Techniken der Zurückhaltung freigelegt, die sich eng an wechselwirkende Relationen zwischen Raum und Körper binden. Dazu zählt zunächst die einfache theatrale Askese. Sie basiert auf der Askese als traditioneller Kulturtechnik, inszeniert diese jedoch am Körper und vor Publikum. Seit der Antike seien solche Praktiken Gegenstand öffentlicher Aufführungen, führt Gronau aus.87 Asketische Künstler in der zeitgenössischen Performancekunst aber praktizierten nicht nur die reine Entbehrung vor einem öffentlichen Publikum. Sie setzten sich vielmehr einer den Entzug hervorbringenden und ostentativ hervorhebenden »widrigen Umwelt«88 aus. Künstler lassen sich etwa in einem leeren, schallisolierten Raum einsperren, der sie sowohl räumlich und sozial isoliert als auch sinnlich depriviert. Und sie setzen sich nicht nur der Stille und Leere dieses geschlossenen Raumes aus, sondern auch dem radikalen Nahrungsentzug – vor einem Publikum, das so unfreiwillig wie unvermeidlich zum Akteur einer Aufführung wird. Sie finden an bestimmten öffentlichen Plätzen oder in musealen Gebäuden statt, die Größe eines Isolationsraumes spielt ebenso eine Rolle wie karges Mobiliar, die Nutzung von Licht und Dunkelheit, von Stille und Geräuschen. Orte und Räume solcher Performances unterliegen jeweils einer spezifischen Gestalt(ung) des Entzugs, der sich an materielle Dispositionen bindet. Oftmals dauern solche Performances mehrere Tage oder Wochen lang an, in denen der Entzug einzig über physische Transformationen des Künstlers sichtbar wird. Was dieser am eigenen Leib ausstellt, ist der unsichtbare Vorgang des Entzugs, des Entbehrens und Nicht-Tätig-Sein(-Könnens), das sich den Blicken darbietet und zugleich entzieht. In Inszenierungen der Leere und des Entzugs, so die These hier, machen asketische Performances Abwesenheiten anwesend. Sie zeigen sich in negativen Gestaltungen des Mangels und des Verzichts, in Praktiken des Entzugs und der Entbehrung, die als Intensitäten im Raum erfahrbar werden. Gronau zufolge zeitigen sie Emergenzphänomene, wenn jene anwesenden Abwesenheiten in den Wahrnehmungsräumen zwischen Künstler und Publikum als fließende Energien erlebt werden, kurz: wenn sie über Wahrnehmungsprozes-

86 | Barbara Gronau: »Das Theater der Askese«, in: Dies./Lagaay (Hg.): Ökonomien der Zurückhaltung, S. 129-146. 87 | Ebd., S. 131. Die Kunst oder – in den Worten Gronaus – das Theater der Askese geht ferner zurück auf frühe Ausstellung von Hungerkünstlern bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 88 | Ebd., S. 137.

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se wirksam sind. Asketische Performances zeigen also, so Gronau, was nicht gezeigt werden kann.89 Wie bei der Sauberen Folter die negativen Gestalt(ung)en der Isolation und Deprivation zu Praktiken des Entzugs werden, lässt sich anhand der Folterhandbücher aufschlüsseln. Sie enthalten spezifische Vorgaben, die den Zellen und ihren materiellen und baulichen Elementen szenische Funktionen verleihen. Im Human Resources Exploitation Training Manual finden sich detaillierte Anweisungen eines räumlichen Arrangements der Isolationszelle – die bereits eine semantische Negation in sich tragen, wenn sie es als Derangement90 einführen: A. Cells should be about 3 meters long and 2 meters wide. B. Ceiling should be a minimum of 3 meters high with screened protection for the light. C. Cell doors should be of heavy steel with Judas Port for viewing and separate port for putting food and water into the cell. (The slamming of a heavy steel door impresses upon the subject that he is cut off from the rest of the world). D. Windows should be set high in the wall with the capability of blocking out light. (This allows the ›questioner‹ to be able to disrupt the subject’s sense of time, day and night.) E. Heat, air, and light should be externally controlled. 91 F. Bedding should be minimal – cot and blanket – no mattress. (The idea is to prevent the subject from relaxing and recovering from shock.) 92 […] H. Cells should be soundproofed or insulated from each other. 93

Hier handelt es sich um Gestaltungsanweisungen, die sich auf die Materialität der Isolationszelle beziehen und diese für die Techniken sensorischer Deprivation in den Dienst nehmen. Die räumliche Disposition der Isolation dient der Reduktion sämtlicher sinnlicher Reize auf ein Minimum. Verdunkelte Fenster 89 | Deshalb werden sie häufig von einem gewaltigen medialen Apparat begleitet, der eine kompensatorische Zeigefunktion übernimmt. Vgl. ebd., S. 133. 90 | Vgl. KUBARK, S. 83. 91 | Eine nachträgliche Zensur durch Durchstreichungen haben diesen Satz modifiziert: »Heat, air and light may be externally controlled, but not to the point of torture.« Ebd. 92 | Auch der letzte Teil des Satzes (»and recovering from shock«) wurde nachträglich durchgestrichen. Ebd. 93 | HRETM, S. 40f. Von Zellengestaltungen berichtet auch ein Guantánamo-Häftling. Vgl. Funk McKenzie: »The Man Who Has Been to America: One Guantanamo Detainee’s story. Four Prisons. Three Countries. Two Years. One Detainee’s Story«, siehe http://hu manrights.ucdavis.edu/projects/the-guantanamo-testimonials-project/testimonies/ prisoner-testimonies/the-man-who-has-been-to-america-one-guantanamo-detainees-story-four-prisons-three-countries-two-years-one-detainees-story/aus dem Jahr 2006.

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blockieren die visuellen Sinne, die Schallisolierung der Zellenwände verstopft die auditiven Kanäle sinnlicher Wahrnehmung. Die asketische Möblierung der Zelle lässt die Abwesenheit sowohl von Sinnesreizen, von sämtlichen Dingen oder Geschehen, die gesehen, gehört, gerochen oder gefühlt werden können, als auch das Abwesen des Häftlings selbst auffällig werden. Entscheidend ist in diesen Praktiken nicht, dass etwas – oder jemand – fehlt und als Fehlendes benannt werden kann, sondern dass dieses Fehlen als unsagbare Folter erfahren werden muss. Eben dies spiegelt sich in der Aussage eines ehemaligen Guantánamo-Häftlings, der diese Erfahrung mit dem kaum übersetzbaren arabischen Wort Estebsa zu beschreiben sucht: »Estebsa hat die Bedeutung: Wenn Sie sich in diesem Zimmer aufhalten, schließe ich die Fenster und die Türen und ziehe die Vorhänge zu, weil ich Sie sehr einengen will, damit Sie krank werden, die Klaustrophobie kriegen und sich umbringen oder sich etwas antun. So haben sie es gemacht.«94 Die negative Gestaltung eines Raumes dient also im tatsächlichen wie im übertragenen Sinne der räumlichen Inszenierung von Leere und Entzug. Es handelt sich dabei um Unterlassungen, die auf affektive Wirkungen zielen. Denn die Unterlassung zeigt eine Leere an, die in phänomenaler Fülle hervortritt und sich der Wahrnehmung darbietet – sie zeigt die Gestalt(ung) einer Nicht-Gestalt(ung). Erneut war es Martin Seel, der diskutiert hat, wie Unterlassungen als Akte des Tuns verstanden werden können, was Aufschluss darüber gibt, wie eine solche (Nicht-)Gestaltung von Zellen zur Folter werden können. In einer phänomenologischen Kehrtwende gegen Heidegger, der das Lassen als Opposition des Tuns begreift, denkt Seel das Tun vom Lassen her. Unterlassungen stellten eine »charakteristische Modifikation des Handelns dar«95, weshalb sie als Akte des Verzichts zu verstehen seien, die alle weiteren Möglichkeiten ausschließen – so wie jedes Tun sämtliche anderen Möglichkeiten des Tuns ausschließt. Das heißt, »auch der, der etwas unterlässt, ergreift eine Möglichkeit […]«96, er tut etwas. Die Saubere Folter, in Gestalt von (Nicht-)Gestaltungen als Inszenierungen der Leere und des Entzugs, unterlässt somit jede (andere) Gestaltung des Raumes. Ein Folterhandbuch benennt diese sogar explizit als »Design Management«97. Die Saubere Folter vollzieht sich also nicht nur im Vollzug ihres Entzugs, sondern auch durch den Entzug aller anderen Vollzugsoptionen, die in Arrangements bestünden, die auf Hörbarkeit und Sichtbarkeit setzen, die

94 | Willemsen: Hier spricht Guantánamo, S. 221. 95 | Martin Seel: »Kleine Phänomenologie des Lassens«, in: Ders.: Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 270-278, hier S. 271. 96 | Ebd. 97 | HRETM, S. 105.

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riechen, schmecken oder berühren lassen und »uns die Welt auf verschiedene Weisen und an verschiedenen Orten zugänglich«98 machen. Was bedeutet diese Deprivation, die Abschaltung aller menschlicher Sinne als Folter? Sowohl die klassischen als auch die neueren Ansätze der Phänomenologie bestimmen die Sinne des Menschen als seine ihn zur Welt hin ausrichtenden leiblichen Medien. Die darin implizierte Offenheit des Menschen bietet einerseits die Grundlage für seine fundamentale Fragmentiertheit und Unabgeschlossenheit, andererseits aber auch die Möglichkeit, sich selbst durch aktive Wahrnehmung und Denken zu einem Ganzen zusammenzufügen. Der Mensch setzt sich buchstäblich auseinander, um sich zusammenzusetzen.99 All diese Möglichkeiten werden durch die Isolation und sensorische Deprivation unterlaufen, so dass sich das Subjekt gar nicht erst auf irgendeine Welt hin öffnen kann. Dazu schreibt das Folterhandbuch KUBARK: »Detention permits the interrogator to […] throw the interrogatee back upon his own unaided internal resources.«100 Der Häftling wird also nicht nur in eine Isolationszelle gesperrt, sondern auch in eine Welt seiner Innerlichkeit gesperrt, auf die noch gestalterisch zugegriffen wird und die sich dennoch nicht mit äußeren Dingen, Menschen oder Geschehen verbinden kann. Er ist somit nicht in der Lage, sich über die eigene Wahrnehmung selbst als fühlende, handelnde, anwesende Ganzheit zu fühlen und letztlich zu konstituieren. Eingekerkert in den Isolationsraum negiert die Folter den Raum leiblicher Anwesenheit des Subjekts, den die klassische Phänomenologie vor allem den Kunsterfahrungen vorbehält. In den jüngeren Entwürfen einer neuen Ästhetik etwa Gernot Böhmes aber avanciert dieser Raum leiblicher Anwesenheit zu einem universell denkbaren Wahrnehmungsraum des Subjekts, der es in räumliche Arrangements involviert.101 »Der Wahrnehmungsraum ist […] die Weise, in der ich wahrnehmend außer mir bin […]. Umgekehrt wird der Raum leiblicher Anwesenheit durch die Reichweite unserer Wahrnehmung 98 | Gerald Siegmund: »Diskurs und Fragment: Für ein Theater der Auseinandersetzung«, in: Ders./Anton Bierl/Christoph Meneghetti/Clemens Schuster (Hg.): Theater des Fragments. Performative Strategien im Theater zwischen Antike und Postmoderne, Bielefeld: transcript 2009, S. 11-18, hier S. 16. 99 | Ebd. 100 | KUBARK, S. 86. 101 | Wie Seel die ästhetische Wahrnehmung so öffnet auch Böhme diese Begriffe auf andere Bereiche als den der Kunst hin, in denen ein äußerer Raum affektiv erlebt wird: »Im Wahrnehmen bin ich bei den Dingen, wie sie durch meine Gegenwart bei mir sind. Ob diese erfahrende Wirklichkeit einer Inszenierung entspringt, durch Wände […] oder anderes hervorgerufen werden, spielt für den Wahrnehmungsraum keine Rolle.« Christoph Rodatz: Der Schnitt durch den Raum. Atmosphärische Wahrnehmung in und außerhalb von Theaterräumen, Bielefeld: transcript 2010, S. 149.

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aufgespannt.«102 Weder eine Reichweite noch ein Außersichsein lassen sich in der Isolation (er-)leben und aus einem Raum leiblicher Anwesenheit wird ein Raum leiblicher Abwesenheit. Wenn man nun den leiblichen Wahrnehmungsraum des Häftlings als Ort der Sauberen Folter in Gestalt der Isolation und sensorischen Deprivation – auf ihrer zweiten Stufe im Lager – annimmt, so scheint es, als müsse hier zwischen der Wahrnehmung von etwas und der Wahrnehmung, dass etwas nicht vorhanden ist, differenziert werden. Diese Annahme leitet jedoch fehl. Denn wenn, wie bereits ausgeführt wurde, Nichts als Etwas gelesen und ein Unterlassen als Tun verstanden werden kann, ja, sogar eine Leere als Fülle erscheinen kann, so muss der Ansatz der jüngeren phänomenologisch geschulten Ästhetik um eine negative (Ver-)Wendung erweitert werden. In der Isolation und den Techniken der sensorischen Deprivation sind es nicht Dinge und Objekte, die erspürt werden. Vielmehr ist das Fehlen von Dingen und Objekten gerade ein Gegenstand, der wahrgenommen wird und bei dem das Subjekt durch seine Abwesenheit (nicht) ist. Die Inszenierungen der Leere und des Entzugs der Sauberen Folter zeigen, wie es Gronau bereits für den Kontext der Performancekunst formuliert hat, was nicht gezeigt werden kann. Sie bringen buchstäblich Mangelerscheinungen hervor, welche erneut die Apräsenz des Gefangenen spiegeln. Im Vokabular Seels funktionieren Isolation und Deprivation somit über ein Erscheinenlassen des Entzugs. Wenn Leere und Entzug sich dabei in negativen Gestaltungen darstellen und Abwesenheiten gezielt in Szene setzen, so performieren sie die Gestalt(losigkeit) der Sauberen Folter. Isolation und Deprivation stellen die Folter in ihrem Entzug dar und machen ihre Abwesenheit anwesend. Das bedeutet für die weiteren Überlegungen, dass sie als symbolische Praktiken der Sauberen Folter gelten müssen – oszillierend zwischen Erscheinen und Verschwinden.

102 | Gernot Böhme: »Der Raum leiblicher Anwesenheit und der Raum als Medium von Darstellung«, in: Sybille Krämer (Hg.): Performativität und Medialität, S. 129-140, hier S. 135. Foucault bietet eine anschauliche Beschreibung eines ›Raum[es] des Innen‹, der sich hier als ›Raum subjektiver Innenwelt‹ des Menschen anschließend lässt. Er beschreibt ihn als »Raum unserer ersten Wahrnehmung, der Raum unserer Träume, der Raum unserer Leidenschaften – sie enthalten in sich gleichsam innere Qualitäten; es ist ein leichter, ätherischer, durchsichtiger Raum, oder es ist ein dunkler, steiniger, versperrter Raum; es ist ein Raum der Höhe, ein Raum der Gipfel oder es ist im Gegenteil ein Raum der Niederung, ein Raum des Schlammes; es ist ein Raum, der fließt wie das Wasser; es ist ein Raum, der fest und gefroren ist wie der Stein oder der Kristall.« Michel Foucault: »Andere Räume«, in: Barck/Gente/Paris/Richter (Hg.): Aisthesis, S. 34-46, hier S. 37f.

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Zuvor müssen einige Inszenierungen der Leere und des Entzugs in den Blick genommen werden, die keine Unterlassungen sind. Erinnert sei an die in Klammern gehaltene indirekte Handlungsanweisung in der oben genannten Passage des Folterhandbuchs: »The slamming of a heavy steel door impresses upon the subject that he is cut off from the rest of the world.«103 Hier klingt an, dass nicht nur der Vollzug der Isolation einer affektiven Wirksamkeit durch Erfahrungen des Entzugs dienen kann. Diese werden noch durch einen symbolischen Selbstverweis der Isolation im Akt des Zuschlagens einer schweren Stahltür potenziert. Die destruktive Wirksamkeit dieser Praktik wird von einer psychiatrischen Studie zu den Langzeitfolgen der Isolation am Beispiel des Häftlings José Padilla belegt, der drei Jahre und acht Monate lang in Einzelhaft saß. Eine seiner spärlichen Erinnerungen besteht in jenem traumatischen Geräusch: »[…] the constant banging of that heavy metal door«104. Diese Schilderung erinnert an eine weitere Zeugenaussage, die von einer spezifischen Praktik des Nahrungsentzugs berichtet: »They’d give you this big plate with a tiny pile of rice and a few beans. It was nouvelle cuisine, American-style.«105 Die winzige Menge der Portion wird hier auf übergroßen Tellern präsentiert. Als tägliche Restriktion von Bedürfnissen, systematische Enttäuschung von Erwartungen und Zermürbungsstrategie durch den symbolischen Selbstverweis stellt dies die Saubere Folter auf theatrale Weise aus – als kleinformatige Installation des Entzugs. Auf einer dritten und finalen Stufe der Isolation und sensorischen Deprivation greift die Saubere Folter auf radikale Weise auf den Körper des Häftlings zu. So legitimieren US-Memoranda die tagelange sensorische Deprivation in körperbezogenen Gestalt(ung)en, deren Vollzug von zahlreichen Zeugenaussagen belegt ist.106 Eine erneute Kostümierung des Körpers beinhaltet etwa gepolsterte orangefarbene Overalls und Handschuhe, die taktile Sinnesqualitäten blockieren, oder schalldichte Kopfhörer, geschwärzte Schutzbrillen und Augenbinden zur Deprivation auditiver und visueller Sinne. Der Sonderermittler der Vereinten Nationen Dick Marty hält in seinem Bericht fest: »[T]he man 103 | HRETM, S. 40. 104 | Stuart Grassian: »Neuropsychiatric Effects of Solitary Confinement«, in: Ojeda (Hg.): The Trauma of Psychological Torture, S. 113-126, hier S. 119. 105 | David Rose: »How we Survived Jail Hell (Part 1)«, in: The Observer vom 14.03.2004, o.S. 106 | Vgl. Anonymus: »Profile 10: Youssef«, siehe http://humanrights.ucdavis.edu/ projects/the-guantanamo-testimonials-project/testimonies/prisoner-testimonies/ profile-10-youssef/von Juni 2008; Anonymus: »Profile 11: Rasheed«, siehe http:// humanrights.ucdavis.edu/projects/the-guantanamo-testimonials-project/testimo nies/prisoner-testimonies/profile-11-rasheed/von Juni 2008; vgl. ferner exemplarisch Phifer-Memorandum, S. 4.

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has his ears muffled, sometimes being made to wear a pair of ›headphones‹, […] put a blindfold on him and after that a hood that apparently reaches far down on his body.«107 Bei der hier auch genannten Technik des Hoodings dienen nicht nur übergroße Säcke, sondern auch blickdichte Kapuzen der Deprivation. Mit diesen wird der Kopf oder auch der gesamte Körper des Häftlings bis zu vier Tage lang verhüllt, um den Gleichgewichtssinn zu eliminieren: »[F]inally a cloth bag is placed over the man’s head, with no holes through which to breathe or detect light.«108 Diese Techniken der sensorischen Deprivation am Körper des Gefangenen werden meist variabel kombiniert, um den Effekt der Desorientierung zu maximieren: »I was hooded and shackled. Mittens were placed on my hands and earphones over my ears. Chains were placed around my legs and my waist. Goggles were placed on my eyes and the straps on the goggles were so tight they cut into my ears.«109 Hier bestehen negative Gestaltungen also nicht nur in der Gestaltung von äußeren Bedingungen als Inszenierungen der Leere und Absenz oder als Gestaltungen, welche die Saubere Folter nicht(-)darstellbar machen. Sie bestehen auch noch in negativen Gestaltungen des Körpers, der dadurch buchstäblich sinnentleert, in sich selbst eingeschlossen sowie aller Eigenheit beraubt wird – was sich besonders deutlich im Verhüllen des Kopfes und damit auch des Gesichts zeigt, denn »[d]as Gesicht gilt traditionell als der Ausdruck der unverwechselbaren Individualität«110. Eine Steigerungsform dieser Kostümierung des Vergessens besteht in ihrer Verdopplung in Situationen der Interaktion. Denn die Verhörbeamten setzen die Kostümierung einerseits als Zwangsmaßnahme zur sensorischen Deprivation der Häftlinge ein, wenden sie andererseits jedoch auch an ihrem eigenen Körper an, wenngleich zu einem anderen Zweck: Die Sicherheitsbeamten trugen allesamt schwarze Uniformen, einschließlich Stiefel, Handschuhe, Sturmhauben und Schutzbrillen, damit Abu Zubaydah die Beamten nicht identifizieren konnte und um zu verhindern, dass Abu Zubaydah ›die Sicherheitsleute 107 | Sonderbericht des UN-Ermittlers Dick Marty 2006, S. 22. 108 | Ebd. Vgl. ferner die Zeugenaussage von Ravil Gumarow in Willemsen: Hier spricht Guantánamo, S. 167, 169; Working Group Report on Detainee Interrogation in the Global War on Terrorism: Assessment of Legal, Historical, Policy, and Operational Considerations, vom 04.04.2003, S. 64, vorliegend via National Security Archive der George Washington University. Ein Entwurf des Berichts findet sich online, siehe http://www2. gwu.edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB127/03.03.06.pdf vom 06.03.2003. 109 | Anonymus: »Statement of Jamal al-Harith, former Detainee at Guantánamo Bay«, siehe http://assembly.coe.int/ASP/APFeaturesManager/defaultArtSiteView.asp?ID=120 vom 17.12.2004; vgl. ferner David Rose: »How we Survived Jail Hell (Part 1)«, in: The Observer vom 14.03.2004, o.S. Willemsen: Hier spricht Guantánamo, S. 116. 110 | Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 252.

4. Suchbewegungen II als Individuen ansah, zu denen er versuchen könnte, eine Beziehung oder ein Gespräch aufzubauen‹.111

Die Kostümierung des Vergessens dient hier nicht nur dem Vergessen des Häftlings und seiner Individualität und Menschlichkeit, sondern auch dem Vergessen des Verhörbeamten, den es dadurch nie gegeben hat. Eine weitere Technik der unmittelbar auf den Körper zugreifenden sensorischen Deprivation findet im Gefangenenlager Anwendung, die sich vermittels der erzwungenen Arretierung des Gefangenenkörpers in einer engen Metallkiste vollzieht, die auch dog box112 genannt wird. Eine Stahlplatte dient darin als Liegefläche, auf welcher der Gefangene stunden- oder auch tageweise in einer körperlichen Stressposition verharrt.113 Der US-Senatsbericht aus dem Jahr 2014 berichtet vom systematischen Arrest von Häftlingen in engen Arrestkisten. So »verbrachte Abu Zubaydah insgesamt 266 Stunden […] in der großen Arrestkiste (in der Größe eines Sarges) und 29 Stunden in der kleinen Arrestkiste, die 53,3 Zentimeter breit und jeweils 76 Zentimeter lang und tief war«114. Die negative Gestaltung nicht nur einer Leere, sondern auch einer Enge, richtet die lautlosen Gebote der Isolation und Deprivation unmittelbar an den Körper – Immobilität, Dunkelheit, Stille. Die Saubere Folter prägt sich dem Raum und der Raum dem Körper auf. Auch hier lässt sich die Inszenierung eines symbolischen Sterbens ohne Tod imaginieren, denn in der Enge »kulminiert die Erfahrung der Endlichkeit: an einen Ort gekettet zu sein«115. Wie lässt sich die Wirkungsweise dieser körperbezogenen Inszenierungen der Sauberen Folter entschlüsseln? Interessanterweise theoretisiert Barbara Gronau im Kontext der Performancekunst ebenfalls eine Technik der Zurück111 | US-Untersuchungsbericht über das Internierungs- und Verhörprogramm der Central Intelligence Agency, hg. v. Wolfgang Neskovic, S. 85. 112 | Vgl. Rainer Mausfeld: »Foltern für das Vaterland. Über die Beiträge der Psychologie zur Entwicklung von Techniken der ›weißen Folter‹« siehe www.uni-kiel.de/psycho logie/psychophysik/mausfeld/Mausfeld_Psychologie %20und %20Folter.pdf, S. 15. 113 | Vgl. Ferdinand Muggenthaler: »Kultur der Demütigung«, siehe www.amnesty.de/ journal/2009/juni/kultur-der-demuetigung von Juni 2009; vgl. ferner exemplarisch den Brief des Gefangenen Ali Abdullah Ahmed, den er am Abend seines Todes in einer Zelle an seine Verwandten schrieb. Vgl. Ali Abdullah Ahmed: »Letter«, siehe http://hu manrights.ucdavis.edu/projects/the-guantanamo-testimonials-project/testimonies/ prisoner-testimonies/ali_abdullah_ahmed_etter.pdf vom 07.06.2006. 114 | US-Untersuchungsbericht über das Internierungs- und Verhörprogramm der Central Intelligence Agency, hg. v. Wolfgang Neskovic, S. 100. 115 | Pierre Bourdieu: »Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum«, in: Martin Wentz (Hg.): Stadt-Räume, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 1991, S. 25-34, hier S. 30.

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haltung, die Leere und Enge produktiv machen will – die »Behinderung oder Arretierung des Körpers«116 in einem Raum oder räumlichen Arrangement. So ließ sich etwa der amerikanische Künstler Chris Burden in seinem Five Day Locker Piece im Jahr 1971 in ein 60 Zentimeter breites, 60 Zentimeter tiefes und 90 Zentimeter hohes Schließfach der University of California in Irvine einsperren. Fünf Tage lang verharrte er bewegungslos ohne sozialen Kontakt und ohne jegliche Nahrungszufuhr – in einer Stressposition – in diesem Schließfach, nicht größer als die dog box im Gefangenenlager. Dreißig Jahre später ließ sich ein anderer amerikanischer Künstler auf dem Times Square in New York City in einen winzigen Raum inmitten eines Eisblocks einsperren. David Blaine verharrte darin fast 64 Stunden in einer künstlich aufrecht erhaltenen Kälte.117 Solche Darstellungsformen der Performancekunst werden auch Endurance Art genannt. Sie thematisieren die nackte Existenz, Trauma und Überleben oder eine spezifische Kunst des Schmerzes unmittelbar an einem uneindeutigen Körper zwischen Darstellung und Darstellungsmedium.118 In der Performancekunst wie auch im Gefangenenlager ist eine negative Theatralität am Werk, welche die im doppelten Sinne lesbare Machbarkeit von Erfahrungen ins Zentrum ihrer Wirkungsabsichten stellen. In inszenatorischen Prozessen, die hier vor allem den Schmerz der Entbehrung, Immobilität und erzwungenes Ausharren in schmerzhaften Positionen inszenieren, wird der Entzug auffällig. Auffälligkeit benennt Seel als konstitutives Merkmal aller Inszenierungen, in denen sich etwas »ostentativ und reflexiv auf sich selbst bezieht«119. Hier sind es sämtliche symbolische Praktiken der Isolation und Deprivation, die primär und performativ auf nichts als sich selbst verweisen, auf den Entzug, der im Moment seines Vollzugs die Funktion und Struktur der Sauberen Folter erfüllt und prägt. Sie verweisen auf jene Anwesenheit von Abwesenheiten, die inkommensurabel und unverfügbar sind. Nach der analytischen Beschreibung von Inszenierungsstrategien sowohl der Performancekunst als auch der Isolation und Deprivation bietet sich nun die abschließende Simultanbetrachtung ihrer theatralen Mittel an. Dabei sollen einerseits vorschnelle Engführungen von produktiven und destruktiven Inszenierungsstrategien vermieden, andererseits aber frappierende Kreu-

116 | Gronau: »Das Theater der Askese«, in: Dies./Lagaay (Hg.): Ökonomien der Zurückhaltung, S. 129-146, hier S. 137. 117 | Jesse McKinley: »Magician Emerges From Icy Stunt«, siehe www.nytimes. com/2000/11/30/nyregion/magician-emerges-from-icy-stunt.html vom 30.11.2000. 118 | Vgl. Gronau: »Das Theater der Askese«, in: Dies./Lagaay (Hg.): Ökonomien der Zurückhaltung, S. 129-146, hier S. 137. 119 | Seel: »Inszenieren als Erscheinenlassen«, in: Josef Früchtl/Jörg Zimmermann: Ästhetik der Inszenierung, S. 48-62, hier S. 53.

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zungspunkte herausgearbeitet werden, die ein wechselseitiges Verständnis der performativen Kraft solcher Praktiken ermöglichen. Zuvorderst sei hier auf eine negative Theatralität verwiesen, das sich in beiden Rahmen zeigt. Sie funktioniert über ein sinnliches Spüren von symbolischen Praktiken der Leere und Absenz, die den Entzug von etwas darstellen. Dabei basiert sie wesentlich auf einer negativ gestalteten Räumlichkeit, die vom physischen Raum der Zelle oder einer Bühne bis in den Raum leiblicher Anwesenheit reicht. Die Darstellungsformen der Performancekunst als auch die Foltertechniken der Isolation und Deprivation binden sich aber nicht nur an die Spürbarkeit von negativ gestalteten Räumen, sondern auch an die Spürbarkeit einer ereignislos verstreichenden Zeit. Die meisten Foltertechniken sind in den Memoranda und Folterhandbüchern auf eine bestimmte Anzahl von Stunden, Tagen oder Wochen begrenzt und auch die Performances spielen sich innerhalb einer vordefinierten Zeitspanne ab. Der Theaterdiskurs kennt Strategien der Zeitdehnung, die eine Spürbarkeit der undarstellbaren Zeit als Dauer forcieren. Im Kontext der Isolation und Deprivation kann die beständige Dunkelheit in unbeleuchteten Räumen120 als eine solche ins Destruktive gewendete Strategie der Zeitdehnung gelten: »There was a very dark interrogation room at Guantanamo Bay that the detainees called ›hell‹. We were threatened or forced to spend extended periods of time in this room as punishment.«121 In einem anderen US-amerikanischen Gefangenenlager werden Häftlinge dauerhaft in völliger Dunkelheit gehalten: »Die [geschwärzt] Wärter überwachten die Häftlinge mit Hilfe von Stirnlampen, und im Gefängnis wurde permanent laute Musik abgespielt.«122 Zeitdehnend wirkt ferner eine zeitbezogene Variation des Nahrungsentzugs, die etwa darin besteht, im Wechsel stündlich eine Mahlzeit zu gewähren und eine tagelange Zeitspanne ohne Nahrung vorzusehen, um das Gespür des Häftlings für das Verstreichen von Zeit zu unterminieren – und die eine destruktive Allianz mit permanenter Dunkelheit eingeht:

120 | Gleiches gilt für die ständige Beleuchtung der Zelle mit Neonlicht. Vgl. dazu exemplarisch Anonymus: »Guantánamo Bay Detainee Statements«, siehe http://human rights.ucdavis.edu/projects/the-guantanamo-testimonials-project/testimonies/pri soner-testimonies/guantanamo-bay-detainee-statements-al-murbati von Mai 2005. 121 | Vgl. Anonymus: »Statement of Noor Uthman Muhammed at his Military Commission«, siehe http://humanrights.ucdavis.edu/projects/the-guantanamo-testi monials-project/testimonies/prisoner-testimonies/statement-of-noor-uthman-mu hammed-at-his-military-commission vom 17.02.2011. 122 | US-Untersuchungsbericht über das Internierungs- und Verhörprogramm der Central Intelligence Agency, hg. v. Wolfgang Neskovic, S. 108.

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Saubere Folter Ich darf nicht mehr wissen, wann Tag und wann Nacht ist. Ich merke nicht mehr, wie die Tage vergehen, wie die Zeit verstreicht; meine Zeit ist nurmehr eine einzige enervierende Dunkelheit. Meine Essenszeiten wurden bewusst durcheinandergebracht. Über längere Zeit ließ man mich hungern, dann bekam ich eine Mahlzeit, aber man ließ mir nicht die Zeit, alles aufzuessen.123

Die Folterhandbücher erläutern diese Technik dezidiert als Destruktion des natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus‹ des Gefangenen. Sie absentiert also jeden »konkreten Zeitindex«124, wie es die Theaterforschung formuliert, und verortet die subjektive Zeiterfahrung auf einer Schwelle zwischen endlosem Vergehen und völligem Stillstand, um sie eben dort in einer »schwebende[n] Temporalität«125 schleichend zu zersetzen. In diesen Techniken der Zeitdehnung und den wechselseitigen Verstärkungen dieser Techniken durch ihre Kombination »geht es immer um die erlebte Zeit, um das Zeiterleben, das […] offensichtlich nicht genau meßbar, sondern nur erfahrbar ist«126. Während sich also die negativ gestalteten Räume der Folter dem Körper des Gefangenen sukzessive aufdrängen, dehnt sich eine negativ gestaltete Zeit zugleich aus und realisiert auf nahezu paradigmatische Weise eine phänomenologische Grundannahme, die Martin Seel so formuliert hat: »Zeitliche Prozesse sind solche einer Bewegung oder eines Verharrens, räumliche Zustände sind solche einer Dauer oder eines Vergehens.«127 In der Isolationshaft funktioniert die Saubere Folter als ein solcher zeitlicher und räumlicher Prozess, der jene Interdependenz von Raum und Zeit nicht produktiv, sondern destruktiv macht: »We lost count of days, let alone dawn and dusk«128, berichtet ein Häftling. Ein ehemaliger Gefangener, der mehrere Monate in Isolationshaft saß, belegt diese Interdependenz von Raum und Zeit im Verlauf von Isolation und Deprivation in einem literarischen Zeugnis: […] ich habe die Zelle ausgemessen, sie dauert drei Schritte in der Länge, zwei verkürzte Schritte in der Breite, oder wenn ich die Füße aneinandersetze: zwölf in der Länge, fünf 123 | Mohamedou Ould Slahi: Das Guantánamo-Tagebuch, S. 341. 124 | Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 318. 125 | Ebd. 126 | Ebd., S. 309. 127 | Seel: Die Macht des Erscheinens, S. 41. 128 | Funk McKenzie: »The Man Who Has Been to America: One Guantanamo Detainee’s story. Four Prisons. Three Countries. Two Years. One Detainee’s Story«, siehe http://hu manrights.ucdavis.edu/projects/the-guantanamo-testimonials-project/testimonies/ prisoner-testimonies/the-man-who-has-been-to-america-one-guantanamo-detain ees-story-four-prisons-three-countries-two-years-one-detainees-story/aus dem Jahr 2006.

4. Suchbewegungen II in der Breite, oder wenn ich den Boden mit der Handspanne (vom Ende des Daumens bis zum Ende des Mittelfingers) messe: fünfzehn in der Länge, sieben in der Breite, ich habe sie auch noch mit anderen Mitteln vermessen, mit der Länge meines Körpers zum Beispiel, oder mit Kreuzschritten, oder ich setze zwei Füße nach vorn und einen zurück, das ergab die Zahl zweiunddreißig in der Länge, elf in der Breite, oder ich holte tief Luft und lief, so rasch ich konnte, in der Zelle hin und zurück, dabei jeden Schritt zählend, und erst wenn ich die Luft nicht mehr halten konnte, blieb ich stehen und hörte mit dem Zählen auf, das ergab die Zahl neunundvierzig und vierundsechzig […]; ich breitete meine Handflächen auf dem Boden aus, einhundertvierunddreißig davon hätten darauf Platz gefunden, ich habe mir sogar ausgerechnet, daß ich den Boden mit sechstausendneunhundertvierundsechzig Augen (von meiner Größe) auslegen könnte […].129

Dieses Zeugnis stellt die Spürbarkeit einer nicht enden wollenden Dauer performativ dar. In der Tätigkeit des Ausmessens wie auch des Lesens des Zeugnisses kommt nicht nur die räumliche, sondern auch eine innere Leere des restriktiven, nicht-tätigen und erzwungenen Ausharrens in der Zelle – oder an dieser Stelle des Zeugnisses – zum Ausdruck. Weil die Dauer der Isolationshaft nicht gemessen, sondern nur erspürt werden kann, behilft sich der Zeuge mit dem Vermessen des Raumes, an den das Spüren der Dauer gebunden ist. Er verleiht dem Spürbaren eine Gestalt – durch den Körper als Medium und Messinstrument. Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Körperlichkeit erscheinen hier als Größen, die sich nicht nur wechselseitig bedingen, sondern als Geflecht zu einer Vorstellung der Erfahrung Sauberer Folter führen. Das ereignislose Verstreichen der Zeit ist somit ein wesentlicher Faktor der Inszenierungsstrategien negativer Gestaltungen. Das Lager scheint »Zeit in sich aufzuspeichern«130. Erst über den andauernden Zeitraum entfalten Entzug und anwesende Abwesenheiten ihre Wirksamkeit. Sie wirken als performative Verfahren zur, wie Lehmann ausführt, expliziten »Thematisierung, Hervorhebung, Bewußtmachung sowie […] Verzerrung und Verwirrung des Zeitgefühls«131. Solche Verfahren sind auch in Strömungen der Performancekünste anzutreffen, welche die Erfahrung absoluter Dauer oder gedehnter Zeit in der andauernden in Szene gesetzten Isolation forcieren. Zeit wird als nicht objektivierbar und nicht repräsentierbar thematisiert, was zu verstehen hilft, auf welche Weise die Isolationshaft ihre verstörende Wirkung entfaltet. Praktiken der Zeitdehnung in der Performancekunst sowie der Isolation und Deprivation akzentuieren den individuell erspürten Prozess eines Verstreichens von Zeit.132 In den Theaterproduktionen des späten 20. Jahrhunderts ist die 129 | Horst Bienek: Die Zelle, S. 32. 130 | Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 331. 131 | Ebd., S. 317f. 132 | Vgl. ebd., S. 331f.

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Spürbarkeit einer (un)bestimmten Dauer gar zu einem Leitmotiv avanciert, das Lehmann als »durative Ästhetik«133 bezeichnet. Die Dauer von Performances und Foltertechniken ist ferner entscheidend, wenn sich ihre Wirkmächtigkeit schleichend in physischen Transformationen, in Erschöpfungszuständen oder körperlichen Auszehrungen zeigt – und die Folter damit zumindest partiell sichtbar macht. Zeugenaussagen berichten etwa von der Vorführung nackter Häftlinge vor anderen Häftlingen, von spezifisch in Szene gesetzten naked parades im Gefangenenlager – die auch zu den Erniedrigungssequenzen mentaler Desorientierung der Sauberen Folter zu zählen sind.134 Bereits in den Folterhandbüchern wird die körperliche Exponierung als Foltertechnik angeführt, wenn etwa ein besonders ausgezehrter und erschöpfter Gefangener den Mithäftlingen zur Abschreckung vorgeführt wird. Das Folterhandbuch KUBARK stuft dieses Vorgehen als Einschüchterungs- und Täuschungstechnik ein: »If A is feeling a little ill or dispirited, he can also be led past a window or otherwise shown to B without creating a chance for conversation; B is likely to interpret A’s hang-dog look as evidence of confession and denunciation.«135 Ein erschöpfter Körper, zur Anschauung freigegeben, wird hier zur sprachlosen Drohung, die ihre eigene Zukünftigkeit bereits eingeleitet hat. Ein Häftling berichtet von einer solchen Vorführung eines Mithäftlings als einem »sehr demonstrative[n] Akt […], er wurde durchs ganze Lager gefahren, um den Gefangenen zu zeigen, was ihnen blühte, wenn sie sich nicht richtig verhielten«136. Gerade die körperliche Exponierung benennt Gronau als dritte Darstellungsform der Zurückhaltungsperformance. Sie stellt den Körper still, um ihn zu einem Objekt zu verdinglichen, das Deutungsangebote macht.137 Lehmann weist die Darstellungsform der körperlichen Exponierung auch für die physischen Formen des Postdramatischen Theaters nach.138 Dabei ist es insbesondere die Anwesenheit eines kranken, ausgemergelten, erschöpften oder auf andere Weise devianten Körpers in der Performance, die der gezielten Aus133 | Ebd. 134 | Vgl. International Committee of the Red Cross: »ICRC Report on the Treatment of fourteen ›High Value Detainees‹ in CIA Custody«, S. 14; Rosa Prince/Gary Jones: »My Hell at Camp X-Ray«, in: The Mirror vom 07.05.2004, o.S., siehe http://human rights.ucdavis.edu/projects/the-guantanamo-testimonials-project/testimonies/ prisoner-testimonies/my-hell-in-camp-x-ray. 135 | KUBARK, S. 70. 136 | Vgl. die Aussage von Timur Ischmuradow in Willemsen: Hier spricht Guantánamo, S. 125. 137 | Vgl. Gronau: »Das Theater der Askese«, in: Dies./Lagaay (Hg.): Ökonomien der Zurückhaltung, S. 129-146, hier S. 138. 138 | Vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 162f.

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lösung von entweder Faszination oder auch körperlichem Unbehagen seitens des Publikums dient. Nicht selten werden diese Körper in ihrer Bloßheit ausgestellt, nackt und erschreckend, als naked parade zwischen Semiotizität und Selbstreferentialität. Die Praktiken der Zurückhaltung in der Performancekunst wie auch die Isolations- und Deprivationstechniken der Sauberen Folter basieren wesentlich auf einem Spiel des potentiellen Zusammenbrechens eines leidenden Körpers, an dem seine Spuren nicht, kaum oder nur schleichend ersichtlich sind.139 Es liegt jedoch auf der Hand, dass die Saubere Folter ihre Techniken der Zurückhaltung nicht vor einem Publikum ausstellt, um eindrückliche Emergenzphänomene zu erzeugen und emanzipatorische Intentionen zu verfolgen. Vielmehr forcieren sie gerade die Abwesenheit von Publikum. Es muss allerdings erwähnt werden, dass gerade das performative Theater die Abschaffung des Publikums fordert, wenn Rezipienten zu am theatralen Prozess beteiligten KoSubjekten avancieren – doch dies erwächst aus anderen Motiven mit anderen Mitteln. Es wird deutlich, dass das Theater, insbesondere die Performancekunst, und die Techniken Sauberer Folter sich symbolischer Praktiken bedienen, die mit einer nicht zu unterschätzenden Wirkmächtigkeit ausgestattet sind. Wie angekündigt, darf jedoch nicht nur auf die Parallelen hingearbeitet werden, sondern müssen auch die entscheidenden Differenzen diskutiert werden, die zwischen den konstitutiven Spezifika von Inszenierungsstrategien des Theaters und der Folter bestehen. Dies ermöglicht mindestens an dieser Stelle Grenzziehungen, die in der Sauberen Folter so spärlich gesät sind. Dazu und zur abschließenden Veranschaulichung von Inszenierungen der Leere im Theater seien neben Gronaus auch Hans-Thies Lehmanns Untersuchungen und Überlegungen hinzugezogen. Auf ähnliche Weise wie Gronau diskutiert Lehmann Leere und Entzug als Erscheinungsweisen des Postdramatischen Theaters. Um dem Zeichenbombardement im Alltag zu begegnen, arbeite es mit »einer Strategie des Refus«140 – etwa mit Duration, Schweigen und Langsamkeit, mit wenig Aktion, großen Pausen, minimalistischer Reduktion und riesigen Bühnen, die provokant leer gelassen – negativ gestaltet – werden. Leere und Absenz sind für Lehmann Grundmotive in den Produktionen des Postdramatischen Theaters, die prononciert in Szene gesetzt werden, um Bewegungen des Entzugs 139 | Diese Unsichtbarkeit kompensiert nur jener »mediale Apparat«, der den Entzug »durch Verweise, Aufzeichnungen und Kommentare sichtbar werden lässt«. Gronau: »Das Theater der Askese«, in: Dies./Lagaay (Hg.): Ökonomien der Zurückhaltung, S. 129-146, hier S. 133. In diesem Spiel spiegelt sich erneut eine enge Verwandtschaft von Theater und Experiment, auf die bereits hingewiesen wurde. 140 | Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 153.

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spürbar zu machen.141 Eine grundlegende Differenz zwischen der künstlerischen und nichtkünstlerischen Verwendung solcher Inszenierungsweisen ist hier bereits angeklungen. Denn eine weit über die konkrete Wirkungsabsicht einer Spürbarkeit von Leere und Absenz hinausgehende Intention stärkt dieser den künstlerischen Rücken. Folgt man den Diskursen des Theaters, so hat das Spürbarmachen des Entzugs im Rahmen des Theaters die Erzeugung von emergenten Phänomenen zum Ziel, die aus einer »eigene[n] Aktivität des Zuschauers, die auf der Basis von geringfügigem Ausgangsmaterial produktiv werden soll«142, erwachsen. Zwar verfolgt auch die Saubere Folter aktivierende Intentionen: A subject who is cut off from the world he knows seeks to recreate it, in some measure, in the new and strange environment.143 He may try to keep track of time, to live in the familiar past, to cling to old concepts of loyalty, to establish — with one or more interrogators — interpersonal relations resembling those that he has had earlier with other people, and to build other bridges back to the known.144

Doch diese aktivierenden Intentionen sind eindeutig destruktiv: »Thwarting his attempts to do so is likely to drive him deeper and deeper into himself, until he is no longer able to control his responses in adult fashion.«145 Die Folterhandbücher zielen darauf, durch Isolation und Deprivation selbsterhaltende Kräfte des Subjekts zu mobilisieren. Doch dies dient allein dem Zweck, eben jene im Keim zu ersticken, um einen Zustand zu evozieren, den die Handbücher als psychische Regression des Häftlings bezeichnen. Auf (s)einer psychischen Ebene fällt dieser auf eine frühkindliche und damit höchst abhängige und beeinflussbare Entwicklungsstufe zurück.146 Ganz anders als im Kontext der Performancekunst zielen die Inszenierungsstrategien der Folter auf eine Spürbarkeit des Entzugs in der Isolationshaft und in der sensorischen Deprivation, um alle möglichen Kräfte des Gefangenen langfristig zu deaktivieren und so

141 | Vgl. ebd. Lehmann nennt hier nicht nur die frühen Arbeiten Wilsons und das Theater John Cages, sondern auch die Werke Jan Fabres, Saburo Teshigawara, Michael Laub sowie der Gruppen Théâtre du Radeau, Matschappej Discordia oder Von Heyduck, literarische Theatertexte etwa von Peter Handke und Werke moderner Literaten wie Mallarmé und Celan. 142 | Vgl. ebd. 143 | KUBARK, S. 77. 144 | Ebd. 145 | Ebd. 146 | Auf das Motiv der Regression komme ich noch zu sprechen. Vgl. das Kapitel 5 Performance und Performativität im Verhör der vorliegenden Arbeit.

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seine innere Destruktion durch Erschöpfung, Abhängigkeit und Furcht voranzutreiben. Auch hier klingt bereits eine weitere fundamentale und die wohl gewichtigste Differenz an. Eine konstitutive Bedingung der Möglichkeit von emergenten Phänomenen im Theater ist die an das Dargestellte gebundene, aber autonome Wahrnehmung dieser Phänomene. Im Theater erlebt der, der wahrnimmt, nicht nur, was er wahrnimmt. Er entdeckt und erschließt auch – und darauf basiert jene Emergenz –, was und wie er dabei wahrnimmt. In den (Un-) Möglichkeiten solcher Selbstreflexion türmt sich die Grenze auf, die einen Unterschied macht. Im Rahmen des Theaterdiskurses gelten die symbolischen Praktiken des Entzugs als produktiv, wenn Zuschauer oder Ko-Subjekt nicht nur wahrnehmen, sondern auch wahrnehmen, wie sie wahrnehmen. In diesem Diskurs tritt maßgeblich hervor, dass aus »dem Nichts, der Leere, dem Warten der Ereignislosigkeit etwas emergieren [soll], das als Erleuchtung, als energetische Schwankung, als Überschuss oder sinnliche Erfahrung wirksam wird«147. Auch das Motiv des Nicht-Tätig-Sein-Könnens wird im theatralen Rahmen unter diesen Vorzeichen wirksam – so legitimiert dieser auch in die Darstellungen eingeschlossene Gewalttaten, etwa die »subkutane Autoaggression«148, im Dienste einer daraus emergierenden Emanzipation von der Theatertradition. Erneut werden also jene emergenten Effekte ins Feld geführt, die sowohl dem Publikum als auch dem Künstler selbst zugerechnet werden. Hier beziehen sie sich allerdings auf eine Ebene der distanzierten Reflexion, die über das (spürende) Wahrnehmen hinausweist. Ein unabweisbarer distanzierter Blick befreit den Zuschauer von einer totalen Einbindung in das Geschehen: »Das Theater schafft eine Außenposition, von der aus auf ein Geschehen geschaut werden kann, ohne in dieses Geschehen verwickelt zu sein.«149 Eine solche Außenposition sehen die Inszenierungen der Sauberen Folter nicht vor. Sie gehen nicht über das spürende Wahrnehmen hinaus, um bereits in actu ihren 147 | Gronau: »Das Theater der Askese«, in: Dies./Lagaay (Hg.): Ökonomien der Zurückhaltung, S. 129-146, hier S. 143. 148 | Ebd., S. 133. 149 | Menke: »Ästhetik der Tragödie«, in: Ders./Bettine Menke (Hg.): Tragödie – Trauerspiel – Spektakel, S. 179-198, hier S. 184. Die Befreiung von der Verwicklung in die Theatergeschehen wurzelt bereits im romantischen Bruch mit dem auf einfühlende Teilnahme basierenden Aristotelismus des 18. Jahrhunderts. Menke arbeitet dies im Bezug auf die Tragödientheorien vom 18. Jahrhundert bis in die Neuzeit heraus. Nach jenem Bruch galt: »Nur jemand, der selbst dem tragischen Schicksal nicht ausgeliefert ist, kann etwas als tragisches Schicksal erfahren. Ob es Tragik gibt, liegt am – am, nicht im – Auge des Betrachters. […] Tragik gibt es für die Zuschauer im Theater nur, wenn nicht Tränen der Rührung ihren Blick verschleiern.« Ebd.

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Zweck der Destruktion zu vollziehen. Zwar zielt die öffentliche, zur Schau gestellte theatrale Zurückhaltungsperformance auch auf die leibliche Erfahrung spezifischer Zustände, die um ihrer Wahrnehmung willen hervorgebracht werden und sich darin selbst erschöpfen. Doch letztlich werden sie auf dreifache Weise gemacht – erstens durch den tatsächlichen Entzug, die Einsperrung und zeitlose Ereignislosigkeit, zweitens durch ihr konkretes Erleben seitens des Künstlers und seiner Zuschauer oder Ko-Subjekte und drittens durch die emporsteigende Kraft einer ästhetischen (Selbst-)Reflexion, die das Dargestellte in der Mitdarstellung seiner Form fundiert: Wenn die Wahrnehmung des Wie der Performance und das Wie der Wahrnehmung der Performance zu den konstitutiven Elementen performativer Wirkungsabsichten avanciert, dann kommt diese Performance nicht ohne eine ästhetisch reflexive Distanz, jene Außenposition, aus, die eine Selbstbezüglichkeit nicht nur der symbolischen Praktiken begründet, sondern auch eine Selbstbezüglichkeit des Wahrnehmenden selbst ermöglicht. Diese verleiht ihm nicht nur Wichtigkeit und Wert, sondern bringt ein Verhältnis des Wahrnehmenden zu sich selbst hervor – was die Folter zu negieren und zu zerstören sucht. Die performativen Techniken des Entzugs der Sauberen Folter bedienen sich also ähnlicher Gestaltungsoptionen wie bestimmte Strömungen der Performancekunst.150 Sie basieren auf einem räumlichen und zeitlichen Arrangement, auf spezifisch negativen Gestaltungsprozessen von Raum und Zeit, die sich auf den Körper und die leibliche Erfahrbarkeit von machbaren Zuständen beziehen. Sie lassen jedoch keine Reflexionsstufe zu, keine Wahrnehmung dessen, wie diese Praktiken wahrgenommen werden. Theater, Performance und Aktionskunst sparen diese Position nicht aus, bieten gar mehrere Möglichkeiten der (Selbst-)Reflexion, die Christoph Menke als Distanz, Selbstreflexivität und Metatheatralität bezeichnet.151 Das künstlerische Handeln kann etwa doppelsinnig verfasst sein und ein Gespräch des Künstlers mit seinem Zuschauer implizieren. In der theatralen Handlung sind damit gleich zwei Außenpositionen enthalten, die gewichtige Funktionen erfüllen und Darstellung und Wahrnehmung unauflöslich verknüpfen. Das künstlerische Handeln kann ferner transzendentalpoetisch agieren, wenn Form und Struktur das Dargestellte wiederholen, wenn sich also Was und Wie der Darstellung bedingen, was die ästhetische Funktion markiert, die ohne eine differenzierte 150 | Interessanterweise wird das Verhör von den Verhörenden bisweilen auch eine Kunst genannt. Vgl. etwa National Defense Intelligence College Washington, Center for Strategic Intelligence Research: Educing Information. Interrogation: Science and Art. Foundations for the Future, Washington: National Defense Intelligence College Press 2006, siehe https://www.fas.org/irp/dni/educing.pdf, ohne Datum. 151 | Vgl. Menke: »Ästhetik der Tragödie«, in: Ders./Bettine Menke (Hg.): Tragödie – Trauerspiel – Spektakel, S. 179-198, hier S. 195f.

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Wahrnehmung gar nicht erfüllt würde. Und schließlich kann das künstlerische Handeln sogar eine metatheatralische Dimension begründen, wenn es eine ästhetische Position des Zuschauers provoziert, die diese Handlungen als Gespielte mitvollziehen: Die Mitdarstellung des theatralen Spiels, als Darstellendem, in der dargestellten Handlung macht aus dem theatralen Spiel aber selbst eine Weise des Handelns. Die ästhetische Perspektive einzunehmen, Handlungen als schöne zu betrachten oder als gespielte (mit-)zu vollziehen, wird dadurch selbst zu einer Handlungsweise.152

In dieser Dimension spiegeln sich Distanz und Selbstreflexivität.153 Und in all diesen Weisen der reflexiven Wahrnehmung scheint die beständige Transgressivität des Ästhetischen hindurch, das in die Praktiken hineinreicht, etwas, das Menke die »Souveränität des Ästhetischen«154 nennt und die Wichtigkeit der Reflexion für die Kunst akzentuiert. Das Ästhetische der Sauberen Folter erschöpft sich nun im Moment ihres Vollzugs, der einzig auf die Wirksamkeit einer Spürbarkeit des Geschehens setzt. Der – durchaus emergente – Effekt der inneren Destruktion entsteht gerade aus der Verweigerung von begrifflichem Erkennen, von distanziertem Reflektieren und vom Einnehmen einer Außenposition, die von allen Verwicklungen in Geschehendes befreit. Der nur auf sich selbst verweisende und doch nicht selbstreflexiv zu nennende Vollzug der Sauberen Folter versteckt sie auf diese Weise in ihren eigenen Praktiken. Diese entfalten sich als eine negative Theatralität, die Raum- und Zeiterfahrungen nicht schöpferisch, sondern zerstörerisch einsetzt. Die negativen Techniken der Zurückhaltung der Sauberen Folter erwachsen aus einem destruktiven theatralen Gestaltungsspielraum, der Formationen der Abwesenheit spürbar macht, aber keinen Raum zur Wahrnehmung des Geschehens lässt, während es wahrgenommen wird. Es ist die reale Darstellung der unmöglichen Geschichte, von der Cathy Caruth spricht und die ihre eigene Bewusstwerdung ausschließt. Die paradoxe Erzeugung von Entzug, die Hervorbringung eines Nichts als Etwas, namentlich als Folter, zeigt konkrete Akte des Abwesens an, um sich nicht zu zeigen – wäh152 | Ebd., S. 196f. 153 | Menke arbeitet heraus, dass eine Ästhetik der Tragödie nur möglich ist, wenn die Tragik der Handlung sich dabei nicht auflöst. In seiner Verbindung von Tragischem und Ästhetischem wird sodann deutlich, dass dies dann funktioniert, wenn Autor und Zuschauer über das Handeln der dramatischen Person in ein Zwiegespräch verwickelt werden, ferner, wenn die Darstellung dabei ihr dramatisches Darstellen mitreflektiert und schließlich, wenn die Mitdarstellung des theatralen Spiels an sich eine metatheatralische ästhetische Wahrnehmung provoziert. Vgl. ebd. 154 | Ebd., S. 197.

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rend das Theater zeigen will, kann und muss, was nicht gezeigt werden kann. Die Folter präsentiert ihre eigene Absenz als folternde Negativität und zeigt sich einmal mehr als anwesende Abwesenheit.

4.5 N egative G estalt (ung) en II: I nszenierungen der F ülle Die Saubere Folter im Bezug auf ein Erscheinen zu denken bindet sie an eine ästhetische Wahrnehmung ihrer Spürbarkeit, die sich noch im Moment ihres Vollzugs erschöpft. Die Absenz von manifesten Spuren der Folter, die über ihre Momentaneität und Situativität im Erscheinen hinausweisen, geht paradoxerweise aus dem Erscheinen der Sauberen Folter hervor. Denn dieses Erscheinen gründet wiederum in symbolischen Praktiken des Entzugs, in negativen Gestalt(ung)en, die sie nicht als Folter kenntlich machen oder anzeigen, sondern entschwinden lassen – kurz: in Gestalt(ung)en ohne Grenzen. So absentiert die Saubere Folter ihre Präsenz und präsentiert ihre Absenz, was die spezifische Negativität ihrer Gewalt konstituiert. Die Saubere Folter beschränkt sich jedoch nicht auf die beschriebenen Inszenierungen der Leere und Absenz, um sich in ihrem Vollzug vergessen zu machen. Vielmehr erweitert sie die negativen Gestalt(ung)en der sensorischen Deprivation um negative Gestalt(ung)en des sensorischen Bombardements. Sie erscheint nur einerseits in der übersteigerten Reduktion, andererseits auch in der übersteigerten Produktion sinnlicher Reize – im ohrenbetäubenden Lärm, grellen Licht oder in unangenehmen Gerüchen. Lärm und Licht, Geräusche und Gerüche sind sodann nicht mehr nur hörbar, sichtbar oder riechbar. Sie begründen vielmehr eine Folter, die hörbar, sichtbar und riechbar ist. Sinnesqualitäten und deren Intensität avancieren auf performativem Wege zu einer Folter der Inszenierungen von Überfülle. Die Saubere Folter stellt diese Überfülle jedoch nicht nur in den Inszenierungen dar, sondern besteht in dieser Überfülle – während sie sich zugleich darin versteckt. Denn wie die Inszenierungen der Leere lediglich auf ihr Abwesen verweisen und Absenz in Szene setzen, so deuten auch die Inszenierungen der Überfülle nur auf eine Fülle hin, hinter der die Folter verschwindet. Ferner sieht keine dieser Inszenierungen etwa des Lichts oder der Geräusche sichtbare Spuren der Folter vor. Eben darin verbirgt sich die destruktive Performativität der Sauberen Folter. Als den symbolischen Praktiken des sensorischen Bombardements innewohnend soll diese im Folgenden näher beleuchtet werden. Zunächst scheinen die Foltertechniken des sensorischen Bombardements in radikaler Opposition zu denen der sensorischen Deprivation zu stehen. Aus den Extremen der Reduktion erwachsen die Extreme der Produktion sensorischer Stimuli. In die Leere bricht das Übermaß ein, aus einem Zuwenig wird

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ein Zuviel. Auffällig ist dabei die diskontinuierliche Kombinatorik von Inszenierungen der Leere und Inszenierungen der Überfülle, die auf die systematische sensorische Desorientierung des Gefangenen hinwirkt. So erscheint etwa die Überfülle sensorischer Stimuli dann plötzlich und unerwartet im Raum, wenn sich der Häftling gerade in der Isolationshaft, im verräumlichten Entzug, befindet und empfindet. Während also die Inszenierungen der Leere das sukzessive Abwesen des Gefangenen verflüstern, beschallen die Inszenierungen der Überfülle seine Sinne, durchdringen seine physischen Grenzen und verweigern jede Möglichkeit des Widerstands. Diese Prozesse gilt es zunächst analytisch zu beschreiben, bevor deutlich werden kann, dass die Foltertechniken des sensorischen Bombardements gerade in ihrer Ähnlichkeit zu oder ihrer Gebundenheit an die Foltertechniken der sensorischen Deprivation beschrieben werden müssen. Nur auf diese Weise können die wesentlichen Wirkmechanismen der Sauberen Folter erschlossen und die in subkutanen Sphären lauernden Differenzen als deren destruktive Steigerungsformen herausgearbeitet werden. Um angesichts der zunehmenden Fülle sauberer Foltertechniken eine bessere Übersicht zu gewährleisten, werden die Inszenierungen der Überfülle im Folgenden aufgegliedert – wobei diese Glieder nicht über die wechselseitige Verflechtung der Techniken mit- und untereinander hinwegtäuschen sollen. Vielmehr wird sukzessive auf erhellende Erkenntnisse über die Wirkmechanismen der Foltertechniken hingearbeitet, die sich in den weiteren Abschnitten der Analyse beständig fortschreiben. So sind also ihre einzelnen Abschnitte, Glieder, Fragmente und Passagen in ihrer fortgesetzten Verflechtung zu lesen – auf dem Weg zu einer Entschlüsselung der destruktiv-performativen Kraft der Sauberen Folter. Es sei schließlich darauf verwiesen, dass diese Struktur nicht die Möglichkeit einer abgeschlossenen Auflistung sämtlicher Foltertechniken zu suggerieren intendiert. Denn die Vermutung liegt nahe, dass sich die überwältigende Vielfalt der Foltertechniken in den folgenden Ausführungen nicht erschöpft.

4.5.1 Akustisches Bombardement: Musikfolter Die Spurensuche nach Inszenierungen der Überfülle stößt zunächst auf die Praktiken des akustischen Bombardements. Es besteht primär in der so genannten Musikfolter, zu der eine Vielzahl der Zeugen im Rahmen des Guantánamo Testimonials Project offen aussagen. Die Anwälte eines Zeugen fassen zusammen: »[H]e was shackled to the floor by his hands and feet, with his hands pulled underneath his legs. For approximately 12 hours, very loud music

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[…] was played through six speakers arranged close to Mr. Al Murbati’s head.«155 Die Lektüre des Sanchez-Memorandums, das eine lange Liste verschärfter Verhörmethoden zu deren Legitimation in exterritorialen Gefangenenlagern beinhaltet, führt die Musikfolter als zentrale Methode des Verhörs von Terrorverdächtigen auf. Die knappe Anweisung für die Ausführenden lautet: »Loud Music […]: Used to create fear, disorient detainee and prolong capture shock.«156 Dabei reicht die Hitliste der Folter von Hard Rock- und Popmusik über Heavy Metal und Hip-Hop bis hin zu Kinderliedern. Sie beinhaltet Lieder von AC/ DC und Eminem, reicht von Neil Diamonds America über Saturday Night Fever von den Bee Gees bis hin zur Titelmelodie des Kinderfernsehklassikers Sesame Street – oder spielt in ohrenbetäubender Lautstärke den Meow Mix-Jingle einer Katzenfutterwerbung.157 Im Verhörprotokoll eines Guantánamo-Häftlings heißt es dazu: »A variety of musical selections was played to agitate the detainee.«158 Es mag nun die sarkastische Simplizität der Musikfolter sein, die oftmals dazu verleitet, sie zu bagatellisieren – im Diskurs fallen insbesondere in den Verhandlungen der Musikfolter häufig die Begriffe »torture lite«159 oder »notouch torture«160. Ohne diese Begriffe explizit zu benutzen, fügt sich sogar der amerikanische Historiker Darius Rejali dieser verharmlosenden Rhetorik. Rejalis 850-seitige Historiografie zur Sauberen Folter wird in wissenschaftlichen Kreisen die Bibel der Sauberen Folter genannt.161 Zur Musikfolter schreibt er 155 | Zeugenaussage der Anwälte Mark Sullivan und Joshua Colangelo-Bryan sowie dokumentierte Zeugenaussagen des Häftlings Al Murbati. Vgl. Anonymus: »Guantánamo Bay Detainee Statements«, siehe http://humanrights.ucdavis.edu/projects/theguantanamo-testimonials-project/testimonies/prisoner-testimonies/guantanamobay-detainee-statements-al-murbati von Mai 2005. 156 | Sanchez-Memorandum, S. 6. Das Sanchez-Memorandum umfasst sämtliche der hier untersuchten Foltertechniken wie etwa »T. Dietary Manipulation […]. V. Sleep adjustment […]. X. Isolation […]. AA. Yelling, Loud Music, and Light Control: Used to create fear, disorient detainee and prolong capture shock. […] CC. Stress Positions […].« Ebd., S. 4f. 157 | Vgl. Tobias Rapp: »Hören mit Schmerzen«, in: Der Spiegel 02/2010, S. 102-109, siehe www.spiegel.de/spiegel/a-671000.html vom 11.01.2010. 158 | Anonymus: »Interrogation Log Detainee 063«, siehe http://content.time.com/ time/2006/log/log.pdf, ohne Datum, S. 42. 159 | Suzanne G. Cusick/Branden W. Joseph: »Across an Invisible Line: A Conversation about Music and Torture«, in: Grey Room 42 (2011), S. 6-21, hier S. 11. 160 | Ebd., S. 12. 161 | Diese Bemerkung fiel sowohl auf der Tagung Folter und Zukunft des Forschungsprojekts Die Wiederkehr der Folter? an der Universität Düsseldorf im Jahr 2009 (vgl. Anonymus: »Die Wiederkehr der Folter?«, siehe https://www.phil-fak.uni-duesseldorf.

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allerdings: »If playing Barney, Metallica, or Eminem loudly was a form of SD [Sensory Disorientation, Anm. C.H.] experimentation, then Amnesty International should be looking for torture victims in the American suburbs. There will be lots of them.«162 Diesem verharmlosenden Verständnis der Musikfolter widersprechen die folgenden Überlegungen nachdrücklich – und erkennen das Anliegen der meisten wissenschaftlichen Arbeiten zur Folter an, nämlich nicht zu deren Verharmlosung beizutragen, sondern sie gerade einem ernsthaften Diskurs zugänglich zu machen. Auf einer Ebene der expliziten Bedeutsamkeit der gespielten Lieder und ihrer Liedtexte fällt zunächst auf, dass diese (amerikanisch) patriotische oder auch (religiös) doppeldeutige Tendenzen aufweisen. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass diese nicht entscheidend für die destruktive Wirksamkeit einer Folter sind. Vielmehr stellen sie eine Form der Erniedrigung dar, die dieser Vorschub leistet. Dennoch darf die intentionale Verletzung kultureller oder religiöser Kodices nicht unterschätzt werden, wenn die amerikanische Nationalhymne oder christliche Lobpreisungen Jesu Christi ausgerechnet während der Gebetszeit islamischer Gefangener über die Lautsprecher im Lager ertönen.163 Eine folternde Kraft der Bedeutungen von Liedtiteln und -texten wie etwa »Let the bodies hit the floor«164 ist hier nicht primär auf der Ebene einer eindeutig beleidigenden Semantik zu lokalisieren. Sie fließt durch variable Assoziationsräume der in Szene gesetzten Erniedrigung, die – wenn sie nicht zur physischen Debilität führen – zumindest zur Depression beitragen. Ein erheblich höheres Maß destruktiver Energie geht von dem beständigen Wechsel zwischen einerseits der Aggression und Gewaltsamkeit, die aus der Klanglichkeit und Lautstärke von Hard Rock oder Hip-Hop spricht, und andererseits der nur scheinbaren Friedfertigkeit säuselnder Melodien etwa der Kinderfernsehklassiker Sesame Street oder Barney the Purple Dinosaur aus – lesbar als perfider Verweis auf die gezielte, strategisch induzierte psychische Regression des Gefangenen durch spurlose Foltermethoden, die ihn in ein kindlich de/folter/) als auch bei der Recherche in der Bibliothek des Behandlungszentrums für Folteropfer e.V. (bzfo) in Berlin. 162 | Vgl. Rejali: Torture and Democracy, S. 379. 163 | Auch hierzu spricht der Anwalt des Gefangenen Al Murbati: »Interrogators employed religious themes at times. For example, while Mr. Al Murbati was shackled to the floor, songs were played that had Arabic-language lyrics praising Jesus Christ. An interrogator once told Mr. Al Murbati that if he ›admitted his mistakes‹ he would be ›delivered like Jonah from the whale.‹« Anonymus: »Guantánamo Bay Detainee Statements«, siehe http://humanrights.ucdavis.edu/projects/the-guantanamo-testimonials-project/ testimonies/prisoner-testimonies/guantanamo-bay-detainee-statements-al-murbati von Mai 2005; Vgl. ferner Willemsen: Hier spricht Guantánamo, S. 45. 164 | Mohamedou Ould Slahi: Das Guantánamo-Tagebuch, S. 303.

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abhängiges Verhalten gegenüber seinem Folterer fallen lassen: »I love you, you love me/We’re a happy family/With a great big hug and a kiss from me to you/ Won’t you say you love me, too?«165 Hier vermischen verschiedene musikalische Genres heterogene affektive Dimensionen. Die Harmlosigkeit eines Kinderliedes wird über Stunden und Tage hinweg zum Mittel der qualvollen Folter. Dann wird sie plötzlich abgelöst durch ein »hämmerndes Schlagzeug, stark verzerrte, rhythmische Gitarren und Gesang, der sich immer an der Grenze zum Schrei bewegt«166, und »das Gefühl, einem gewaltsamen und zerstörerischen Zugriff ausgesetzt zu sein«167, das sich nach den Stunden des lärmenden Heavy Metals einstellt. Die wechselvolle Diskontinuität bleibt in ihrem ästhetischen Erleben inkommensurabel und macht buchstäblich keinen Sinn – an dieser Stelle sei erneut auf die beständige Doppelsinnigkeit verwiesen, mit der die sprachlichen Annäherungen an die Saubere Folter konfrontiert sind: Dass die Musikfolter nämlich keinen Sinn macht, kann einerseits bedeuten, dass sie einen Sinn nicht hervorbringt, andererseits aber auch implizieren, dass sie gerade etwas hervorbringt, nämlich keinen Sinn. Dieser aktive Entzug von Sinn und damit auch von Möglichkeitssinn muss hier als gewaltige mentale Desorientierung gelten. Die Musikfolter ergießt sich in ohrenbetäubender Lautstärke in den Raum der Zellen, Zellentrakte oder des gesamten Lagers. Sie zieht sich teils über mehrere Wochen oder Monate hin – der Gefangene Donald Vance war ihr etwa für insgesamt 76 Tage ohne Unterbrechung ausgesetzt168 – und speist sich aus stundenlangen verstörenden Wiederholungen ihrer Lieder.169 Der repetitive Charakter der Musikfolter torpediert dabei jedes Zeitgefühl des Gefangenen, welcher der nicht enden wollenden Schleife der Musikfolter nicht entkommen 165 | Jenny Hoch: »Spiel mir das Lied vom Krieg«, siehe www.spiegel.de/kultur/gesell schaft/0,1518,559517,00.html vom 14.06.2008; vgl. ferner Anonymus: »Die ›Greatest Hits‹ von Guantánamo«, siehe www.stern.de/politik/ausland/musik-als-folter-diegreatest-hits-von-guantanamo-648547.html vom 10.12.2008. 166 | Grüny: »Von der Sprache des Gefühls zum Mittel der Qual«, in: Reinhold Görling (Hg.): Die Verletzbarkeit des Menschen, S. 177-192, hier S. 185. Vgl. ferner Andy Worthington: »A History of Music Torture in the ›War on Terror‹«, siehe www.andyworthington. co.uk/2008/12/15/a-history-of-music-torture-in-the-war-on-terror vom 15.12.2008. Worthington ist einer der investigativen Journalisten, die seit Jahren die Vorgänge in Gefängnissen in Guantánamo, Kabul oder Bagram verfolgen und nicht nur als Pressevertreter, sondern auch auf Blogs und Webseiten darüber berichten. 167 | Ebd. 168 | Ebd. Vgl. ferner Arno Frank: »Auf der Playlist des Bösen«, siehe www.taz.de/1/ politik/amerika/artikel/1/auf-der-playlist-des-boesen/vom 13.12.2008. 169 | Vgl. Grüny: »Von der Sprache des Gefühls zum Mittel der Qual«, in: Reinhold Görling (Hg.): Die Verletzbarkeit des Menschen, S. 177-192, hier S. 189.

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kann. In der Destruktion von subjektiver Zeitlichkeit greift sie außerdem den Körper des Opfers an, attackiert und durchdringt seine physischen Grenzen auf gewaltsame Weise über affektive Effekte und Lautstärke. Die Musikwissenschaftlerin Suzanne G. Cusick hat sich intensiv mit dem Spannungsverhältnis von Musik und Folter beschäftigt und fasst die körperliche Gewalt, die daraus resultiert, nach einem Gespräch mit einem Gefangenen in Worte: […] the simple bombardement of a human body with acoustical energy will change that body. It may feel like a beating […]: when it’s over, he stated, you feel as though you’ve been ›beaten with a hammer‹. Yet, even if it doesn’t feel like a beating, every bone in the body of the person being bombarded with sound has no choice but to vibrate sympathetically with the sound. The entire body is forced to make music.170

Zum einen wird hier das Destruktionspotential von lauter Musik auf unbestimmte Zeit deutlich. Es wird hier gleichgesetzt mit der körperlichen Misshandlung, mit groben Schlägen eines Hammers, was die Saubere Folter offenkundig zu einer äußerst körperlichen Folter macht. Sie greift den Körper über seine Affekte an, was wiederum bedeutet, dass sie sich nicht auf die körperliche Attacke beschränkt. Sie rückt seinem Opfer auf den Leib, indem sie über die physischen Grenzen hinweg in ihn eindringt – und dort zuschlägt. Auf dieser körperlichen Ebene geistert ferner eine Perversion umher, die im Zitat hervortritt. Die Musikfolter involviert nämlich in ihrer buchstäblichen Eindringlichkeit eine ungewollte, aber unvermeidbare körperliche Aktivität seines eigenen Opfers in ihre Wirkungskette. Dies belegt eine weitere Zeugenaussage des ehemaligen Gefangenen Binyam Mohamed, der 22 Monate in Geheimgefängnissen in Marokko und Kabul inhaftiert war: »There was loud music, Slim Shady and Dr. Dre for 20 days. I heard this non-stop over and over, I memorized the music, all of it.«171 So wie die Musikfolter den unvermeidlichen Zwang körperlich-rhythmischer Vibration als eigene körperliche Aktivität provoziert, so erzwingt sie auch ein unvermeidliches Auswendiglernen sämtlicher Details der folternden Musik als eigene geistige Aktivität – die auf verschlungenen Wegen zum Mittel der eigenen Folter, gar zu einer ungeheuer perfiden Selbstfolter avanciert. Darüber hinaus impliziert dieses Phänomen interessanterweise die Motive des traumatischen Gedächtnisses und des traumatischen Erinnerns. Sie werden hier bereits im Spannungsfeld des Geschehens virulent und treten nicht 170 | Cusick/Joseph: »Across an Invisible Line: A Conversation about Music and Torture«, Grey Room 42 (2011), S. 6-21, hier S. 13. 171 | Andy Worthington: »A History of Music Torture in the ›War on Terror‹«, siehe www. andyworthington.co.uk/2008/12/15/a-history-of-music-torture-in-the-war-on-terror vom 15.12.2008.

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erst als Erscheinungsform etwa von Flashbacks auf, die zum traumatischen Ereignis in großem zeitlichen Abstand stehen. Die »repetitive Organisiertheit«172 – das heißt die konkrete Inszenierung – der Musikfolter wirkt vielmehr in den nicht enden wollenden Schleifen der Musikfolter so intensiv auf den Gefangenen ein, dass sie als ihr Resultat das beständige aktive Erinnern des Ereignisses im Ereignis vorantreibt: Die bewusste Anstrengung die Stücke auswendig zu lernen, […] wird […] dem ausweglosen Zwang weichen, die Strukturen wieder und wieder nachzuvollziehen und so in eine Bewegung zu kommen, die keinen Raum für anderes lässt und jede Distanz unmöglich macht. […] Während Metallica sich noch in das akustische Äquivalent von Schlägen verwandeln konnte, wird hier endgültig die eigene geistige Aktivität zum Mittel der Folter.173

Durch die zwanghaft erzeugte und doch ureigene Aktivität des Erinnerns verwischen hier die Grenzen zwischen aktivem Tätigsein und passiver Auslieferung. Die Folter pervertiert damit erneut auf subtile Weise Schuld, verkehrt Täterschaft und Opferschaft, Macht und Ohnmacht. Der Gefolterte selbst ist gezwungen, so unvermeidlich wie ungewollt sein eigenes Trauma zu perpetuieren. Spuren in weiteren Aussagen von ehemaligen Gefangenen weisen darauf hin, dass diese Form der pervertierten Täterschaft und des traumatischen Erinnerns zu einer Selbstentfremdung des Opfers führt.174 Die Folter setzt das Opfer in eine Distanz zu sich selbst, die eine Selbstbeobachtung der scheinbar eigenen Täterschaft erst ermöglicht. Sie setzt den Gefangenen in eine Distanz zu ihm selbst, die er zugleich gegenüber der Musik gerade nicht einnehmen kann: »[…] the experience sort of removes you from you. You can no longer formulate your own thoughts when you’re in an environment like that«175, zitiert ein Journalist einen Gefangenen. In der Auf- und Eindringlichkeit der Mu172 | Grüny: »Von der Sprache des Gefühls zum Mittel der Qual«, in: Reinhold Görling (Hg.): Die Verletzbarkeit des Menschen, S. 177-192, hier S. 186. 173 | Ebd., S. 189. 174 | Der Begriff der Selbstentfremdung wird hier einer pragmatischen Verwendung zugeführt, die eine Rückbindung an die Philosophie des Subjekts ausblenden muss. Die Entfremdung eines Selbst des Subjekts referiert nicht auf eine zu problematisierende Idee der Selbstidentität als stabiler Essenz, sondern überführt subjektive Gefühlsäußerungen von Zeugen der Sauberen Folter, die noch behandelt werden, in eine pragmatische Terminologie. Sie bezieht sich auf das Spüren einer Distanz zum Eigenen – Gedanken, Gefühlen und Empfindungen – als Vertrauensverlust zu eben diesem Eigenen. 175 | Andy Worthington: »A History of Music Torture in the ›War on Terror‹«, siehe www. andyworthington.co.uk/2008/12/15/a-history-of-music-torture-in-the-war-on-terror vom 15.12.2008.

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sikfolter gibt es keine eigenen Gedanken oder Gefühle mehr, keinen eigenen Körper, denn sie überwindet, ja, eliminiert all seine Grenzen im akustischen Dauerangriff und der subtilen Perversion. Diesem bloßen Leben, das hier im Agamben’schen Sinne produziert wird, ist im Bombardement leiblicher Sinne eine Distanznahme zur Musik, zur Folter, unmöglich. Der ehemalige Gefangene Ruhal Ahmed nimmt auf die Unaushaltbarkeit in seiner Zeugenaussage zur Musikfolter implizit Bezug – und verschärft Cusicks These von der körperlichen Schlagkraft der Musikfolter: »I can bear being beaten up, it’s not a problem. Once you accept that you’re going to go into the interrogation room and be beaten up, it’s fine. You can prepare yourself mentally. But when you’re being psychologically tortured, you can’t.«176 Aus dieser Aussage spricht, dass körperliche Misshandlung im Gegensatz zur Musikfolter noch zu ertragen wäre. In der Musikfolter, die im Gefangenen ist, wird jede schützende Distanz zum Geschehen, die durchhalten lässt, und jedem Abstand, der sie aushalten lässt, unmöglich.177 Im Rückblick auf Rejalis potentielle Musikfolter in amerikanischen Vorstädten wird hier die Gewaltsamkeit der Musikfolter klar: Sie greift den Körper des Opfers an, dringt in ihn ein und pervertiert Täterschaft und Opferschaft, um den Gefangenen einer unvermeidlichen Selbstentfremdung zu unterwerfen. Musikfolter erscheint also nicht einfach auf unangenehme Weise im Raum. Sie stört nicht bloß, sie zerstört. Distanz verunmöglichen, Grenzen abschaffen und gewaltsam eindringen – die Musikfolter funktioniert auf äußerst subtile Weise. Die Frage, wie sich dies nun aufschlüsseln lässt, muss zunächst der Performativität von Musik als flüchtiges Phänomen nachspüren, das sich selbst im Moment ihres Vollzugs hervorbringt.178 Musik erscheint im Raum, ohne sich materiell zu manifestie176 | Ebd. 177 | Auch Soldaten macht diese Musik aggressiv – allerdings im Dienste der Folter: »Dieselbe Musik kann hier eine doppelte Funktion erfüllen: Während sie den Soldaten in den Zustand versetzt, Gewalt ausüben zu können, ist sie für den Inhaftierten unmittelbare, gegen ihn gerichtete Gewaltanwendung.« Grüny: »Von der Sprache des Gefühls zum Mittel der Qual«, in: Reinhold Görling (Hg.): Die Verletzbarkeit des Menschen, S. 177-192, hier S. 186. 178 | Der strategische Einsatz von Musik im militärischen Kontext belegt dessen performative Wirkungsmacht. In Kriegsgebieten dient Musik zur Steigerung von nationalen Kräften, Aggression oder Truppenmoral. Im Spanischen Bürgerkrieg galt Musik als zentrales Kampfmittel, bei der Oktoberrevolution wurden Balladen gesungen. Im Zweiten Weltkrieg stifteten Volkslieder eine auditive Identität – auch die Bundeswehr hat bis heute eine Big Band. Im Vietnamkrieg lief Rock’n Roll, heute werden iPods in die Musikverstärker von Panzern eingestöpselt. Ferner fungiert Militärmusik als Medium akustisch kodierter Befehlsübermittlung. Die Angaben entstammen einer Tagung des

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ren oder auch nur winzigste Spuren zu hinterlassen. Ihr Wesen besteht darin, sich in diesem Vollzug zu erschöpfen und dadurch Wirkungen zu zeitigen, die nicht körperlich sichtbar sind. Destruktiv wird diese flüchtige Performativität im Kontext der Musikfolter, wenn die Musik nicht nur sich selbst, sondern sich selbst als Folter hervorbringt – während sie erscheint und verschwindet, immer schon und nie da gewesen ist. Als Lärm in kaum aushaltbarer Lautstärke dient sie so einerseits der körperlichen Stresserzeugung und andererseits der totalen Auslieferung des Häftlings: »Im Hören ist der Wahrnehmende der Tätigkeit seiner Umwelt ausgeliefert, die ungebeten auf seine Sinnlichkeit eindringt […] durch bloße Intensität […]«179, schreibt Hans Jonas, der hier zwar sicher nicht an Folterungen durch musikalische Intensitäten denkt, die Möglichkeit dieser destruktiven Verbindung aber im vorliegenden Kontext bekräftigt. Jonas’ Verwendung des Begriffs der Intensität erinnert an Hans Ulrich Gumbrechts Konzept von Momenten der Intensität, mit denen die Saubere Folter beschrieben werden kann.180 Gumbrecht wendet dieses Konzept auf das (syn)ästhetische Erleben von Ereignissen an, die vom Bereich des Sports über die Kunst bis hin zur Philologie reichen können. In seiner Betonung von auditiven, visuellen, atmosphärischen, sogar gustatorischen Sinnlichkeiten, die diese Ereignisse maßgeblich prägen, betont er einmal mehr die Dringlichkeit einer Wiederentdeckung des Körperlichen gegenüber der Autorität eines Sinns, die er spätestens seit dem von ihm mit herausgegebenen Sammelband Materialität der Kommunikation fordert.181 Zuvorderst nennt Gumbrecht in seiner Darstellung des (syn)ästhetischen Erlebens, Töne »mit meiner Haut zu hören«182, die dazu führen könnten, einen Moment der Verzweiflung zu

Historischen Seminars der Universität Köln in Kooperation mit dem Institut für Musikwissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. (2008), die sich mit der musik- und geschichtswissenschaftlichen Bedeutung von Musik im Krieg befasste: Militär, Musik und Krieg. Musik und Massensuggestion im historischen Kontext. Der aufschlussreiche Tagungsbericht findet sich online, siehe http://hsozkult.geschichte. hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2034 vom 01.02.2008. 179 | Hans Jonas: Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1973, S. 203. Dieses Zitat verdanke ich einem Vortrag von Christian Grüny auf der Tagung Folter und Zukunft des Forschungsprojekts zur Wiederkehr der Folter 2009 an der Universität Düsseldorf. Vgl. dazu auch Grüny: »Von der Sprache des Gefühls zum Mittel der Qual«, in: Reinhold Görling (Hg.): Die Verletzbarkeit des Menschen, S. 177-192, hier S. 182. 180 | Vgl. Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. 181 | Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988. 182 | Gumbrecht: Produktion von Präsenz, S. 118.

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»durchleben […], der mich ergreift«183, oder ein »Gefühl der tiefen Niedergeschlagenheit und vielleicht sogar der Erniedrigung«184 zu durchleiden. Von solchen Momenten der Intensität, die den Körper akustisch, visuell, olfaktorisch oder auch taktil ergreifen und durchdringen, sagt Gumbrecht selbst, dass sie durchaus »im Augenblick des Geschehens etwas Schmerzliches«185 haben können – auch wenn er diese Schmerzlichkeit nicht mit destruktiver Gewalt in Verbindung bringt. Unweigerlich lässt diese Betonung der Ergreifung und Durchdringung des Körpers durch sensorische Reize an die hier beschriebene Musikfolter denken. Auch sie produziert nicht enden wollende Momente der Intensität im extremen Ausmaß und etabliert eine folternde Körperlichkeit der Sauberen Folter, die bis in den Bereich des Schmerzes hineinreicht. Gumbrechts Konzept erlaubt nun auch die Dechiffrierung des Wirkmechanismus’ von weiteren Foltertechniken des sensorischen Bombardements, nämlich der Einleitung unangenehmer Gerüche in die Zelle des Gefangenen, dem visuellen Bombardement mit grellem Neonlicht sowie der Manipulation von Temperaturen hin zu extremer Hitze oder Kälte.

4.5.2 Olfaktorisches Bombardement: Abstoßende Gerüche Das Sanchez-Memorandum listet die Einleitung unangenehmer Gerüche als eine weitere der zentralen Methoden im Verhör von Terrorverdächtigen auf. Ziel dieser Techniken sei es, ein moderates Unwohlsein des Gefangenen hervorzurufen: »Environmental Manipulation: Altering the environment to create moderate discomfort [e.g. adjusting temperature or introducing an unpleasant smell].«186 Von den extremen Temperaturen als Foltertechniken des sensorischen Bombardements wird noch zu sprechen sein. Zunächst gilt jedoch der Geruch neben den anderen Sinnesqualitäten als auf besonders intensive Weise grenzüberschreitendes Phänomen. Georg Simmel lässt ahnen, wie der Geruch hier als folternder Moment der Intensität funktioniert: 183 | Ebd. 184 | Ebd. 185 | Auch die Erfahrung »jene Verheißung von einer endlosen und für immer stillen Welt« ⁠ (ebd., S. 119) zu empfinden, und sogar die plötzliche »Explosion von Geschmacksnuancen« (ebd.) sind nach Gumbrecht als Momente der Intensität zu beschreiben. Er referiert also auf sämtliche sensorische Fähigkeiten des Körpers, die Momente der Intensität erst ermöglichen – welche vermutlich auch die Absenzerfahrungen der Gefangenen prägen. 186 | Sanchez-Memorandum, S. 4.

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Saubere Folter Indem wir etwas riechen, ziehen wir diesen Eindruck oder dieses ausstrahlende Objekt so tief in uns ein, in unser Zentrum, assimilieren es sozusagen durch den vitalen Prozeß des Atmens so eng mit uns, wie es durch keinen andern Sinn einem Objekt gegenüber möglich ist – es sei denn, daß wir es essen.187

Auch der Geruch bricht über die Grenzen der Physis des Opfers hinweg in seinen leiblichen Körper ein. Seine Sinne nehmen ihn unvermeidlich auf und ermöglichen eine Durchdringung dieses Körpers. Man kann davon ausgehen, dass diese Durchdringung des Körpers, die Gumbrecht den Momenten der Intensität zuerkennt, in der Einleitung unangenehmer Gerüche in die Zelle auf die Spitze getrieben wird – denn der Geruch wird nicht nur körperlich erspürt, sondern muss körperlich, durch die olfaktorischen Kanäle der Nase, aufgenommen werden. Mehr noch als in der Beschreibung der Musikfolter greift hier der Begriff der erzwungenen Penetration, die keinerlei Distanz zwischen dem Körper des Opfers und den Akten der Folter duldet. Nicht nur ist der Ort dieser Folter das innere Erleben, das nicht veräußert werden kann, und nicht nur ist der Schmerz dieser Folter dasselbe innere Erleben, das nicht veräußert werden kann. Vielmehr ist diese Folter das innere Erleben des Subjekts, ist die Folter mithin das leibliche Subjekt, ihr eigenes Opfer. Eine destruktiv-performative Energie konstituiert nicht nur den Geruch als Folter, sondern verpflanzt die Folter in ihr Opfer. An dieser Stelle muss einigen Missverständnissen vorgebeugt werden. Gumbrecht zufolge setzen sinnliche Erscheinungen, wie sie die Musik- oder Geruchsfolter im extremen Ausmaß zeitigt, gerade eine Distanz der ästhetischen Wahrnehmung voraus. Gumbrecht nutzt den Begriff der Distanz, um den Momenten der Intensität sprachlich auf die Schliche zu kommen. Während jedoch die Saubere Folter eine Distanz verunmöglicht, scheinen Gumbrechts Momente der Intensität ohne Mechanismen der Distanzierung gar nicht zu funktionieren. Wenn Gumbrecht allerdings Distanz als wesentliches Konstitutionsmerkmal von Momenten der Intensität diskutiert, so meint er nicht eine Distanz des Subjekts zur Musik oder zum Geruch, den die Folter tatsächlich negiert – der Geruch oder die Musik wird nicht als Folter erkannt und eingeordnet, sondern qualvoll erspürt und erlebt, sie ist unwiederbringlich im Subjekt verwurzelt. Gumbrecht entwirft ein Konzept der Distanz zu allem anderen außer der sinnlichen Erscheinung der Musik oder des Geruchs. Die ästhetische Wahrnehmung dieser sinnlichen Reize habe ihren »Ort notwendig in einer gewissen Entfernung von […] Alltagswelten«188, der ästhetisch 187 | Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Form der Vergesellschaftung, München/Leipzig: Duncker & Humblot 1922, S. 490. Zit. n. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 204. 188 | Gumbrecht: Produktion von Präsenz, S. 122.

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Wahrnehmende sei sinnlich an eine Erscheinung gebunden, die plötzlich auftauche, ihn von allem anderen ab- und zum Sinnlichen hinlenke. Gumbrecht denkt diesen Vorgang interessanterweise als Isolation des Wahrnehmenden, der in einem verinselten Erleben gefangen sei. Was ungewollt auf die Isolation des Geistergefangenen im exterritorialen Lager fernab von Alltagswelten verweist, ist dann nicht an einen geografischen Ort gebunden, sondern einzig an den Wahrnehmenden selbst – und das aktualisiert den Gedanken einer Folter, die das innere Erleben des Häftlings ist. Liest man Gumbrechts Entwurf von Momenten der Intensität in der Distanz von einer Alltagswelt also im Kontext der Folter neu – oder destruktiv statt produktiv –, dann kann die Isolation in der Penetration und damit die Isolation auch in den Inszenierungen der Überfülle gedacht werden. Die Folter isoliert den Gefangenen in seinem eigenen Erleben sinnlicher Fülle, sie bindet ihn an sich, weil sie in seinem Erleben ist. Gumbrecht geht noch einen Schritt weiter, wenn er gar von einer »doppelten Isolation«189 des Wahrnehmenden ausgeht. Er greift Karl Heinz Bohrers posthermeneutische Kategorien der Plötzlichkeit und des Abschieds auf, um eine noch potenzierte Kraft der Isolation zu beschreiben.190 Zwar bezieht Bohrer die beiden Kategorien auf die Konstitution einer spezifischen Negativität ästhetischer Wahrnehmung, nämlich auf die Inkommensurabilität eines »reinen Wahrnehmungsereignisses«191 und den Entzug dessen, was wahrgenommen wird, im Moment der Wahrnehmung. Gumbrecht deutet diese Negativität jedoch in Positivität um, indem er jenes Wahrnehmungsereignis als isolierte Sensation und Intensität prononciert und den Verlust des Wahrgenommenen als ein bestimmbares Etwas vernachlässigt. Im vorliegenden Kontext lassen sich beide Positionen an das Phänomen der Sauberen Folter herantragen. Die doppelte Isolation des Folteropfers in der Musikfolter oder im olfaktorischen Bombardement gründet zum einen in einer ereignishaften Plötzlichkeit ihres Erscheinens. Im Sinne Gumbrechts (und im Übrigen auch Martin Seels) isoliert dieses Erscheinen im Raum das Folteropfer von allem anderen als der Musik oder dem Geruch, die das Opfer einnehmen und durchdringen. Ihr plötzliches Erscheinen macht jene Distanz zur Folter unmöglich, die die Folter zu etwas anderem macht als ihr Erleben. Indem sie einen folternden Kokon um den Wahrnehmenden bildet, der zugleich in ihm ist, eliminiert sie jeden Bezug zu etwas anderem. Eine so eigenartige wie einengende Räumlichkeit des sensorischen Bombardements fällt in dieser Isolation auf, die in direktem Zusammenhang mit der körperlichen Sinnlichkeit ihres Opfers steht. Zum anderen begründet diese einschließende 189 | Ebd. 190 | Vgl. dazu Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. 191 | Ebd., S. 7.

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Plötzlichkeit im Sinne Bohrers den Entzug dessen, was wahrgenommen wird, im Moment der Wahrnehmung. Die Musik oder der Geruch werden nicht als Folter wahrgenommen, sondern qualvoll gehört und gerochen. Bohrer sieht in eben diesem Phänomen des Wahrnehmens bei gleichzeitigem Verlust des Wahrgenommenen als etwas den Abschied von dem, was in jenem Kokon ist, damit von einem Gegenwärtigen, das im Erscheinen immer schon und zugleich nie gewesen – außerdem rein begrifflich nicht zu fassen – ist.192 Das konstituiert die Saubere Folter, die ihrerseits eine Zeitlichkeit durchstreicht und ein Vergessen an ihre Stelle setzt, indem sie in ihrem Erscheinen immer schon und zugleich nie gewesen ist. Die eingangs diskutierte Trias von Räumlichkeit, Körperlichkeit und Zeitlichkeit als Konstituenten der Sauberen Folter bestätigt sich hier im Dialog von Phänomenologie und Folterforschung. Wenn die Suchbewegungen diesen Ergebnissen nun weiter nachspüren, so werden erste Ähnlichkeiten der Wirkmechanismen sensorischen Bombardements und sensorischer Deprivation deutlich – wenn auch gerade in deren Differenz. Die doppelte Isolation, »die allen Momenten ästhetischer Intensität innewohnt«193, verbirgt nämlich Bewegungen des Entzugs und des Entschwindens inmitten einer Überfülle sinnlicher Reize. Die Bewegung ähnelt ferner dem Verschwinden der Sauberen Folter in ihrem Erscheinen. Ihre symbolischen Praktiken des sensorischen Bombardements bergen in sich also ein ähnlich subtiles Moment, in dem Anwesenheit und Abwesenheit sich überkreuzen und wechselseitig symbolisch in Szene setzen. Dieses Moment verbindet sich mit Bewegungen, Plötzlichkeit bindet sich an Abschied. Die Unmöglichkeit, diese Komplexität auf einen Begriff zu bringen, ist offenkundig. Eine bereits eingeführte Wortschöpfung kann diesem Problem hier begegnen. Denn nicht nur die Inszenierungen der Leere bringen ein Abwesen des Häftlings in der Isolationshaft und sensorischen Deprivation hervor. Auch die Inszenierungen der Überfülle forcieren dieses Abwesen des Opfers – in einer Isolation des Opfers in seinem eigenen inneren, negativ-ästhetisch wahrnehmenden Erleben. Letztlich verweist dies darauf, dass Inszenierungen der Überfülle immer schon implizit in Inszenierungen der Leere, genauer: des Abwesens, verstrickt sind. Die Wirksamkeit des sensorischen Bombardements wird also unterschätzt, wenn etwa Musik als reines Instrument der Stresserzeugung gedacht wird. Zwar setzt sie in der Wahl des Zeitpunkts, der Lautstärke und der Playlist 192 | Gumbrecht referiert hier auf Heidegger, wenn er schreibt: »[…] ein Objekt des ästhetischen Erlebens, sobald es zum Vorschein kommt und zeitweilig das Gefühl der Intensität hervorruft, [scheint] aus dem Nichts zu kommen. Denn vorher waren uns keine derartige Substanz und keine derartige Form präsent.« Gumbrecht: Produktion von Präsenz, S. 132. 193 | Ebd., S. 122.

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durchaus zur gezielten sensorischen Überforderung an. Doch dabei greift sie den leiblichen Körper an, ergreift, durchdringt und okkupiert ihn. Ähnliches gilt für die Einleitung von Gerüchen. Indem sie sich nicht als Folter wahrnehmen lässt, duldet sie keine schützende Distanz zu ihr und stellt die umfassende Auslieferung und Ohnmacht des Opfers vor ihm selbst aus. Sie ist im Erleben des Opfers, das noch zur eigenen rhythmisch-vibrierenden Aktivität gezwungen wird und die Folter bereits in deren Vollzug beständig erinnert, ohne ihr gewahr zu werden. In dieser Perversion von Täterschaft und Opferschaft durch die reine und unvermeidliche körperliche Aktivität des Opfers schafft sie schließlich doch eine Distanz, nämlich die des Opfers zu sich selbst, zu seinem eigenen Leib, der nicht mehr der Eigene ist, und zu seinem eigenen inneren Erleben, das eine Folter ist, die immer schon und nie da gewesen ist.

4.5.3 Visuelles Bombardement: Neonlicht und Dunkelheit Die Erscheinensweisen der Sauberen Folter reichen nun weit über die Musikund Geruchsfolter hinaus. An deren buchstäblich erschöpfende Analyse anknüpfend legen die weiteren Suchbewegungen weitere negative Gestalt(ung)en der Sauberen Folter frei. Sie weisen nur auf den ersten Blick zurück zum akustischen Bombardement durch Musikfolter, da sie in einer diffusen Überfülle akustischer Reize bestehen. Der Einsatz von Geschrei und anderem künstlich erzeugten Lärm in Zellen und Zellentrakten wird dem Begriff der Sauberen oder auch Weißen Folter entsprechend auch als »white noise«194 bezeichnet. Mal werden Pfeiftöne im hohen Frequenzbereich eingesetzt, mal das Geschrei von Säuglingen, das vom Band im Nebenraum abgespielt wird. Auch die Geräusche geisterhaften Lachens werden eingesetzt – ein perfider Verweis auf den (Nicht-)Status des Opfers als Geistergefangener.195 Bei dieser Gestalt(ung) der Sauberen Folter ist von ähnlichen Funktionsweisen und Wirkungsketten wie bei der Musikfolter auszugehen. In den Zeugenaussagen findet sich noch ein weiterer Aspekt – oder Effekt – des sauberen Lärms: »There were also many days and nights that I didn’t sleep at all. A guard would watch us in our cell and yell or rattle the bars to keep us awake.«196 Solche Zeugenaussagen weisen darauf hin, dass das sensorische Bombardement in Inszenierungen der Über194 | Anonymus: »Interrogation Log Detainee 063«, siehe http://content.time.com/ time/2006/log/log.pdf aus dem Jahr 2002, S. 32 (insbesondere Seiten 36, 77). 195 | Jonathan Pieslak: Sound Targets. American Soldiers and Music in the Iraq War, Bloomington (Indiana): Indiana University Press 2009, S. 88. Vgl. ferner Andy Worthington: »A History of Music Torture in the ›War on Terror‹«, siehe www.andyworthington. co.uk/2008/12/15/a-history-of-music-torture-in-the-war-on-terror vom 15.12.2008. 196 | Anonymus: »Statement of Noor Uthman Muhammed at his Military Commission«, siehe http://humanrights.ucdavis.edu/projects/the-guantanamo-testimonials-proj

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fülle zum systematischen Schlafentzug verwendet wird. Im Sanchez-Memorandum wird diese Praktik als »Sleep Management«197 bezeichnet, beschränkt sich jedoch nicht auf den akustischen Dauerangriff. Vielmehr kombiniert diese Foltertechnik die Musikfolter und anderen Lärm mit dem bereits erwähnten olfaktorischen Bombardement und einem visuellem Bombardement, das etwa in der dauerhaften künstlichen Beleuchtung der Zelle mit grellem Neonlicht besteht: »Sleep Management: Detainee provided minimum 4 hours of sleep per 24 hour period […]. Yelling, Loud Music, and Light Control: Used to create fear, disorient detainee […].«198 Der Bericht des US-Senats zum Internierungsund Verhörprogramm der CIA aus dem Jahr 2014 belegt, dass einige Gefangene aufgrund dieser Techniken »bis zu 180 Stunden wach bleiben [mussten], wobei sie in der Regel standen oder belastende Haltungen einnahmen.«199 Konzentriert man sich nach den vorangegangenen Analysen zum akustischen oder olfaktorischen Bombardement auf das visuelle Bombardement, so führt eine Spur zu Erika Fischer-Lichtes Überlegungen zur Ästhetik des Performativen. Im Anschluss an Fischer-Lichte kann begreiflich werden, dass Licht durch eine destruktive Performativität gekennzeichnet sein kann: »Nun nimmt der Mensch Licht nicht nur mit dem Auge auf, sondern auch mit der Haut. Es dringt sozusagen durch die Haut in den Leib des Wahrnehmenden. Der menschliche Organismus reagiert ganz besonders sensibel auf Licht.«200 Fischer-Lichte hebt hier auf die grenzüberschreitende Wirkungsmacht von Licht ab, die der des akustischen und olfaktorischen Bombardements entspricht. Sie spricht ferner von einer Durchlässigkeit und Verletzlichkeit der Haut, nicht als substanzielle Hülle des gefolterten Körpers, sondern als seine sichtbare Grenze, die auf unsichtbaren Wegen der Musik, des Geruchs oder des Lichts durchdrungen wird. Das sensorische Bombardement greift also sämtliche Sinne des Häftlings an, um ihm den Schlaf zu entziehen. Doch auch darf neben dem Angriff auf den Körper in einem Raum über eine bestimmte Zeit hinweg eine weitere Perversion nicht außer Acht gelassen werden: Denn das folternde Scheinwerferlicht setzt den Gefangenen Tag und Nacht als beobachtbares Objekt in Szene. Im geschlossenen Raum der Zelle ist der Gefangene immer on stage, stets ein Gesehener ohne Rückzugsmöglichkeit. Er kann gesehen werden, während

ect/testimonies/prisoner-testimonies/statement-of-noor-uthman-muhammed-at-hismilitary-commission/vom 17.02.2011. 197 | Vgl. Sanchez-Memorandum, S. 5. 198 | Ebd. 199 | US-Untersuchungsbericht über das Internierungs- und Verhörprogramm der Central Intelligence Agency, hg. v. Wolfgang Neskovic, S. 38. 200 | Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, 206f.

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sein visueller Sinn so geschädigt wird, dass seine eigene Sehkraft sukzessive nachlässt.201 Die kombinierten Angriffe der Sauberen Folter in den Gestalt(ung)en des Schlafentzugs schädigen also nicht nur das Gehör oder lassen auf Dauer die Augen des Opfers brennen. Sie greifen den Körper des Opfers nicht nur unmittelbar an. Sie verunmöglichen auch die Befriedigung des normalen Schlafbedürfnisses. Die mittelbar destruktive Wirkung von extremen visuellen und auditiven Reizen basiert entweder auf der Zeitlichkeit einer unbestimmten Dauer oder eines diskontinuierlichen Wechsels zwischen den – kombinierten – Extremen der Foltertechniken des sensorischen Bombardements. Lichtbombardement löst in unregelmäßigen Abständen die völlige Verdunklung der Zelle ab, in deren Stummheit und Stille plötzliche akustische Reize, Lärm oder Geschrei umso wirkungsvoller einbrechen.202 Ein ehemaliger Häftling betont die Destruktivität des Einsatzes von Musikfolter und Lärm im Gefangenenlager in Kabul, das von den Gefangenen auch als »Dark Prison«203 bezeichnet wird, weil die Gefangenen in völliger Dunkelheit gehalten werden: »It was pitch black, and no lights on in the rooms for most of the time […]. Plenty lost their minds. I could hear people knocking their heads against the walls and the doors, screaming their heads off […] Throughout my time I had all kinds of music, and irritating sounds, mentally disturbing.«204 Der strategische Einsatz von Dunkelheit in den Zellen forciert den existenziellen Verlust von Orientierung und stellt erneut die totale – und totalitäre – Auslieferung des Gefangenen aus. Dies bezeugt eine destruktive Performativität von bloßer Dunkelheit als qualvolle Folter. Die Suchbewegungen geraten an dieser Stelle ins Stocken und sehen sich mit der Frage konfrontiert, wie sich dies verstehen lässt. Wie können Dunkelheit oder Licht überhaupt zur Folter werden? 201 | Vgl. McCoy: Foltern und foltern lassen, S. 13. 202 | Zeugenaussage der Anwälte Mark Sullivan und Joshua Colangelo-Bryan sowie des Häftlings Al Murbati. Vgl. Anonymus: »Guantánamo Bay Detainee Statements«, siehe http://humanrights.ucdavis.edu/projects/the-guantanamo-testimonials-project/ testimonies/prisoner-testimonies/guantanamo-bay-detainee-statements-al-murbati von Mai 2005. 203 | Andy Worthington: »A History of Music Torture in the ›War on Terror‹«, siehe www. andyworthington.co.uk/2008/12/15/a-history-of-music-torture-in-the-war-on-terror vom 15.12.2008. 204 | Er verweist außerdem auf ein weiteres charakteristisches Merkmal dieser Black Site, in welcher die Folter des Schlafentzugs auf zahlreiche Weisen erscheint. Zu akustischem und visuellem Bombardement kommt noch das stundenlange Aufhängen der Häftlinge an ihren Handgelenken hinzu. Diese Praktik löst zwar beträchtliche körperliche Schmerzen aus, hinterlässt jedoch keine sichtbaren Spuren am Körper. Vgl. ebd.

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Im Nachdenken über Dunkelheit und Licht, aber auch über den unangenehmen Geruch und Musik als Folter, wird ihre Perfidität auf beunruhigende Weise anschaulich. Obgleich über Dunkelheit und Licht als Folter offenbar nachgedacht und geschrieben werden kann, erscheint im Lager die Dunkelheit nur als Dunkelheit, das Licht nur als Licht. Auch Geruch und laute Musik erscheinen als Geruch und laute Musik. Sinnliche Reize erscheinen zwar dem analysierenden, damit auch distanzierten Beobachter nicht nur als sie selbst, sondern als Folter. Dem Opfer hingegen, das keinerlei Distanz zum traumatischen Geschehen aufrechterhalten kann, sich inmitten der Inszenierungen von Leere und Überfülle befindet, die wiederum inmitten seiner selbst sind, erscheinen sie einzig als sie selbst – die Folter kann nicht erkannt werden. Das Licht weist also nicht über sich hinaus, Licht ist Licht und Dunkelheit Dunkelheit, Geruch Geruch, Musik Musik. Die Wahrnehmung prallt auf diese – hier semantisch sichtbar werdende – Wand, hinter der sich die Folter verbirgt, ohne jegliche Möglichkeit ihres Entbergens. Inmitten der Folter entschwindet die Folter auf destruktiv-performativ verschlungenen Wegen, macht sie sich unsichtbar und unkenntlich. Damit formieren sowohl die Inszenierungen der Leere und Absenz als auch die Inszenierungen der Überfülle unweigerlich auf ihre je eigene Weise negative Gestalt(ung)en der Sauberen Folter in ihrer Absenz. Rückblickend auf die Dunkelheit als Folter fällt auf, dass mit ihr auch ein folterndes Nichts im Raum erscheint. Dies verweist erneut auf die Gebundenheit des sensorischen Bombardements an die sensorische Deprivation. Als Inszenierung des Entzugs taucht die Dunkelheit nicht bloß inmitten von Inszenierungen der Überfülle temporär auf. Vielmehr verstärken sich die Extreme wechselseitig. Die Destruktivität der Stille und Dunkelheit in einer Zelle verschärft sich, wenn unerwartet Lärm- und Lichtbombardement den Raum erfüllt, wenn es plötzlich erscheint und wieder verschwindet, um jene Stille und Dunkelheit unerträglich werden zu lassen. Angesichts der wechselseitigen Verstärkung muss also die Kombinatorik der Foltertechniken abschließend in den Blick gerückt werden. Insbesondere der beständige Wechsel zwischen künstlicher Hitze und Kälte scheint, den Zeugenaussagen zufolge, eine besonders destruktive Kraft zu zeitigen.

4.5.4 Thermofolter: Künstliche Hitze und Kälte Foltertechniken der gezielten Überhitzung und Unterkühlung des Körpers werden durch Sonneneinstrahlung und Klimaanlagen sowohl in den Zellen als auch den Verhörräumen vollzogen: »[…] the air conditioning was set very high, making the interrogation room quite cold. At other times, there would

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be no air conditioning, making the interrogation room very hot«205, sagt ein ehemaliger Guantánamo-Häftling aus. Ein anderer Zeuge berichtet von der Haft »in a six-by-four refrigerator with just my underwear for six months«206. Der US-Senatsbericht aus dem Jahr 2014 belegt die Verwendung von »Bäder[n] mit Eiswasser«207 und gibt an, dass ein Häftling »wahrscheinlich an Unterkühlung starb – unter anderem, weil er gezwungen gewesen war, ohne Hose auf dem bloßen Betonboden zu sitzen«208. Das Sanchez-Memorandum enthält zwar keine detaillierten Anweisungen zur Manipulation von Temperaturen, deutet dies jedoch an: »Change of Scenery Down: Removing the detainee from the standard interrogation setting and placing him in a setting that may be less comfortable.«209 Auch das Phifer-Memorandum spezifiziert die Manipulation der Temperatur hin zur extremen Kälte: »Exposure to cold weather or water.«210 Erst ein Blick in die Folterhandbücher, an die die Memoranda teils in wörtlicher Übereinstimmung anschließen, stößt auf die explizite Benennung dieser Techniken: »Debility (physical weakness): Heat, cold, or moisture«.211 Hitze und Kälte sind als leiblich spürbare Erscheinungen fester Bestandteil der Sauberen Folter in ihren Gestalt(ung)en des Schlafentzugs. Sie ergänzen das Bombardement mit Gerüchen und Geräuschen, Licht und Dunkelheit, indem sie noch auf das taktile Spüren des Körpers in einer spezifisch in eine Szene gesetzten Umgebung zugreifen, schwitzen und frieren lassen – was eine weitere Parallele hervortreten lässt: Hitze und Kälte provozieren eine unausweichliche eigene Aktivität des Körpers eines Opfers und pervertieren diese in jene Selbstfolter, die keinen identifizierbaren Täter in Erscheinung treten lässt und die Grenzen zwischen Opferschaft und Täterschaft verwischt. Zwar assoziieren sich hier nicht Techniken der sensorischen Deprivation mit Techniken des sensorischen Bombardements. Sowohl die Erzeugung von Hitze als auch die künstliche Kälte sind zu letzteren zu zählen. Doch der 205 | Zeugenaussage der Anwälte Mark Sullivan und Joshua Colangelo-Bryan sowie des Häftlings Al Murbati. Vgl. Anonymus: »Guantánamo Bay Detainee Statements«, siehe http://humanrights.ucdavis.edu/projects/the-guantanamo-testimonials-project/ testimonies/prisoner-testimonies/guantanamo-bay-detainee-statements-al-murbati von Mai 2005. 206 | Carol Grisanti/Fakhar ur Rehman: »I Wake Up Screaming: A Gitmo Nightmare«, siehe http://humanrights.ucdavis.edu/projects/the-guantanamo-testimonials-pro ject/i-wake-up-screaming-a-gitmo-nightmare vom 18.01.2011. 207 | US-Untersuchungsbericht über das Internierungs- und Verhörprogramm der Central Intelligence Agency, hg. v. Wolfgang Neskovic, S. 38. Vgl. dazu auch ebd., S. 165. 208 | Ebd., S. 113. 209 | Sanchez-Memorandum, S. 4. 210 | Phifer-Memorandum, S. 4. 211 | HRETM, S. 110.

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Einsatz von Temperaturextremen verknüpft sich mit der systematischen Erniedrigung – systematisch, da der Körper der Hitze oder Kälte im entblößten Zustand ausgesetzt wird, was auf einer reflexiven Ebene sein bloßes Leben im besten beängstigenden Agamben’schen Sinne repräsentiert. Erzwungene Nacktheit ( forced nudity) wird in den Gefangenenlagern als sadistische Foltermethode der Erniedrigung und der Bedrohung mit sexuellen Übergriffen verwendet – Zeugen berichten von ihrer dauerhaften Angst vor Missbrauch und Vergewaltigung, während ihnen das Tragen von Kleidung verweigert wurde.212 Als verschärfte Verhörmethode mittlerer Intensität ist Nacktheit legitimiert und legalisiert, häufig in Kombination mit der erzwungenen Rasur des Häftlings, was vor allem in islamischen Ländern als religiös motivierte Erniedrigung gilt.213 Auch hier verstärken sich Foltertechniken wechselseitig, in diesem Fall sensorisches Bombardement und Erniedrigung. Extreme Kälte wird am bloßen Körper ungeschützt spürbar und der Körper wird frierend zum gedemütigten Objekt. Hitze und Kälte werden jedoch als Gestalt(ung)en der Sauberen Folter vor allem in ihrer Diskontinuität folternd eingesetzt. Dabei funktionieren sie ähnlich wie die Folter des beständigen Wechsels von Licht und Dunkelheit, Lärm und Stille. Diskontinuierliche Inszenierungen der Überfülle bestehen in der Haft in einer völlig überhitzten Zelle oder in einem Käfig unter freiem Himmel in direkter Sonneneinstrahlung, die sich mit der Isolation in einer kalten Zelle abwechselt. In diese wird der Gefangene mitunter unmittelbar nach einer ebenso kalten Dusche gebracht, wobei es ihm untersagt bleibt, den entblößten Körper abzutrocknen oder durch Kleidung zu bedecken – »apparently

212 | Physicians for Human Rights/Human Rights First: »Leave No Marks – Enhanced Interrogation Techniques and the Risk of Criminality«, siehe www.humanrightsfirst.org/ wp-content/uploads/pdf/07801-etn-leave-no-marks.pdf von August 2007, S. 14; International Committee of the Red Cross: »ICRC Report on the Treatment of Fourteen ›High Value Detainees‹ in CIA Custody« vom 14.02.2007. Vgl. ferner Willemsen: Hier spricht Guantánamo, S. 43. 213 | Vgl. dazu ein Memorandum des ehemaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld vom 27. November 2002. Vgl. Donald Rumsfeld: »Counter-Resistance Techniques«, in: Karen Greenberg/Joshua L. Dratel (Hg.): The Torture Papers. The Road to Abu Ghraib, New York: Cambridge University Press 2005, S. 236. Das Memorandum beinhaltet eine Auflistung sämtlicher so genannter verschärfter Verhörmethoden, die in drei Intensitätsstufen unterteilt sind. So gehören das Anschreien des Gefangenen und Täuschungstechniken zur Kategorie I, Stresspositionen, Isolationshaft und Deprivation sowie die erzwungene Nacktheit und Rasur zur Kategorie II. Zur dritten Kategorie gehören schließlich Drohungen gegen den Häftling und seine Familie sowie extreme Kälte.

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to worsen the experience of cold«214. Überhitzung und Unterkühlung durchbrechen immer wieder die Grenzen eines Körpers, die durch dessen Nacktheit gerade angezeigt werden. Wenn sich sämtliche Praktiken ineinander verstricken, Licht sich mit Dunkelheit abwechselt, in die zudem ohrenbetäubender Lärm einbricht, wenn Kälte und Stille sich assoziieren oder in die Hitze der Sonneneinstrahlung noch ein scheußlicher Geruch ergießt, dann fällt eine Tendenz auf: Sämtliche Foltertechniken des sensorischen Bombardements setzen sich aus variablen Techniken zusammen und verstärken sich wechselseitig. Es lässt sich eine komplexe Kombinatorik ausmachen, beinahe eine auf äußerste Destruktion ausgerichtete Orchestrierung von Inszenierungen der Überfülle und/oder der Leere und/oder der Erniedrigung. Bewegungen des Entzugs und der Überfülle, extreme sinnliche Reize und extreme sinnliche Reizarmut, eine spezifische Plötzlichkeit des (Ein-)Bruchs von Erscheinungen und ihr ebenso plötzliches Verschwinden konstituieren eine Folter, die in mannigfaltigen negativen Gestalt(ung)en erscheint und verschwindet.

4.6 N egative G estalt (ung) en III: Z ur B rüchigkeit der F olter Die Suchbewegungen können also in ihren beschreibenden Annäherungsversuchen an die Gestalt(ung)en Sauberer Folter offenkundig nicht solipsistisch vorgehen: »Zwei Grenzen kennt die Gestalt: die Ödnis unüberschaubarer Erstreckung und die labyrinthisch chaotische Anhäufung.«215 Sie müssen die Foltertechniken der Leere und Fülle als ineinander verflochten denken, was die Suchbewegungen selbst nachzuzeichnen erlaubt – vorwärts und geradlinig entlang den recherchierten Listen von Foltertechniken, wenig später müssen sie sich wieder rückwärts bewegen, während der Blick nach vorn gerichtet bleibt, sodann nehmen sie eine Kehrtwende und müssen seitwärts in eine ganz andere Richtung gehen – die vielversprechend erscheint, aber schließlich noch nicht benannt werden kann, woraufhin etwa eine erneut Vorwärtsbewegung erfolgt, die rückblickend jene Seitwärtswendung zu verstehen versucht. So verliefen die Suchbewegungen bisher. Und so lassen sich die verschlungenen Verwicklungen der Sauberen Folter zumindest entwerfen, wenn auch nicht entwirren. 214 | Zitat eines ehemaligen Guantánamo-Häftlings, dokumentiert in einem Hintergrundbericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch im März 2007, siehe http://humanrights.ucdavis.edu/projects/the-guantanamo-testimonials-project/ testimonies/prisoner-testimonies/human-rights-watch-march-2007. 215 | Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 154.

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Eine dieser benannten Richtungen ist nun auch die theaterwissenschaftliche Perspektive der Überlegungen. Die Kombinatorik insbesondere von Inszenierungen der Leere und der Fülle im Blick, drängt sich eine Pointe Hans-Thies Lehmanns auf, die er in seinen Überlegungen zur ästhetischen Wahrnehmung setzt: »Alle Wahrnehmung ist bekanntlich Differenz-Wahrnehmung«216. Etwas fällt (gegenüber anderem) auf, sticht (aus anderem) hervor, setzt sich (von anderem) ab, weil es sich im Erleben eines Gegenwärtigen plötzlich anders (als das andere) darstellt oder anfühlt. Dieses Auffallen, Hervorstechen oder Absetzen impliziert die Intensivierung eines wahrnehmenden Erlebens. Übertragen auf den Kontext der Sauberen Folter erschließt sich einmal mehr die Wirkungsmacht der Diskontinuität ihrer Techniken. Als Differenz-Wahrnehmung paraphrasiert wird verständlich, wie künstliche Kälte in Zellen und Verhörräumen eine erheblich größere destruktive Wirkungsmacht entfalten kann, wenn sie die sengende Hitze in Wüstenstaaten kontrastiert. Lärm kann die Stille der Isolationshaft radikal durchbrechen und künstliche Beleuchtung durch Neonlicht wirkt erheblich greller, wenn sie plötzlich in Finsternis einbricht. Es ist diese Differenz-Wahrnehmung, die Wahrnehmung eines Bruchs oder eines plötzlichen Sprungs in der Wahrnehmung, der über die einzelnen Techniken und ihre komplexe Kombinatorik hinaus zu foltern vermag. Sie etabliert eine Schwelle, auf der weder die eine noch die andere Technik allein foltert. Zwei einander radikal entgegengesetzte Foltertechniken vereinen sich in ihrer Differenz, die als ein Drittes die Folter potenziert. Die kontrastive Kombination forciert die Verstärkung destruktiver Effekte von Inszenierungen der Überfülle oder Leere in einem Spiel spürbarer Differenzen, in der Fragmentierung des Erlebens und ihrem unregelmäßig auftauchenden Dazwischen. Eine Leerstelle wird zur Folter, die damit in ihrer paradigmatischen Erscheinensweise auftritt – und verschwindet. Die Folterer im Lager Guantánamo haben einen Namen für diese Foltertechnik zwischen den Foltertechniken. Sie nennen es das »monstering«217. Die Suchbewegungen sind in der näherungsweisen Beschreibung von Diskontinuität, von Lücken, Leerstellen und Abgründen zwischen den Extremen auf eine monströse Brüchigkeit ästhetischen Erlebens gestoßen, die in weiteren Suchbewegungen als Prinzip weiterer Foltertechniken erscheint. Denn 216 | Ebd., S. 331. 217 | Rejali: Torture and Democracy, S. 292. Diese Bezeichnung bezieht sich vor allem auf Methoden des so genannten Schlafmanagements durch Schwankungen zwischen extremen Sinneserscheinungen. Vgl. Sanchez-Memorandum, S. 5. Rejali schreibt zum Schlafmanagement: »Sleep-deprived people are highly suggestible (a condition not unlike drunkenness or hypnosis), making sleep deprivation ideal for inducing false confessions. Sleep-deprived subjects also have vivid auditory and visual hallucinations.« Rejali: Torture and Democracy, S. 290.

4. Suchbewegungen II

bereits der Akt des ständigen Zellenwechsels kann zur systematischen Folter werden, wenn er sich zum Schlafentzug auswächst: »When Mr. Al Murbati was not in the interrogation room […], he was moved from cell to cell in the Tango and Oscar blocks, typically on an hourly basis«218, berichtet der Anwalt eines Guantánamo-Häftlings von einer Folterpraxis, die im Lager auch als »Frequent Flier Program«219 und im Sanchez-Memorandum als »Change of Scenery Up/ Down«220 bezeichnet wird. Auf der Mikroebene des Lagers reinszeniert diese Praxis die Rendition Flights, in deren Verlauf die außerordentlichen Überstellungen gleichsam als Frequent Flier Program bezeichnet werden könnten – oder selbiges bereits einleiten oder ankündigen. Der Zellenwechsel im Lager bindet sich an erneute Wechselbeziehungen zwischen Inszenierungen der Überfülle und Inszenierungen der Leere. Während der Verhörraum auf höchster Stufe klimatisiert wird, herrscht in den Zellen eine übermäßige Hitze. Der Gefangene wird von grell beleuchteten Räumen in finstere Isolationszellen gebracht, in deren Stille die Musikfolter plötzlich einbricht: »While sitting in the dark, extremely loud music was played or you just hear people screaming.«221 Die Haft in der taubstummen Leere von Isolationszellen, in denen (das) Nichts passiert, wechselt sich ab mit einer Haft in Zellen oder auch in Käfigen, die aus Metall oder einer Vielzahl von Metallstäben bestehen, indifferenten Lärm provozieren und produzieren und

218 | Zeugenaussage der Anwälte Mark Sullivan und Joshua Colangelo-Bryan sowie dokumentierte Zeugenaussagen des Häftlings Al Murbati. Vgl. Anonymus: »Guantánamo Bay Detainee Statements«, siehe http://humanrights.ucdavis.edu/projects/theguantanamo-testimonials-project/testimonies/prisoner-testimonies/guantanamobay-detainee-statements-al-murbati von Mai 2005. 219 | Vgl. Jennifer Fenton: »Former Guantánamo Inmates Tell of Confessions under ›Torture‹«, siehe http://edition.cnn.com/2011/10/28/world/meast/guantanamo-for mer-detainees vom 28.10.2011. 220 | Sanchez-Memorandum, S. 4. 221 | Anonymus: »Statement of Noor Uthman Muhammed at his Military Commission«, siehe http://humanrights.ucdavis.edu/projects/the-guantanamo-testimonials-proj ect/testimonies/prisoner-testimonies/statement-of-noor-uthman-muhammed-at-hismilitary-commission vom 17.02.2011. Hier assoziieren sich erneut sensorisches Bombardement und psychische Desorientierung durch ein Nicht-Tätig-Sein-Können, was bereits im Folterhandbuch KUBARK anklingt. Matthew Gildner schreibt dazu: »Oftentimes, while a prisoner was being held in solitary confinement, tapes of screaming women and children would be played in an adjacent room to simulate the torture of that prisoner’s family – the desired outcome being increased feelings of helplessness and despair.« R. Matthew Gildner: »Psychological Torture as a Cold War Imperative«, in: Ojeda (Hg.): The Trauma of Psychological Torture, S. 23-39, hier S. 30.

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eine Geräuschkulisse erzeugen, in die der Gefangene sinnlich, mithin leiblich einzutauchen gezwungen ist: Those blocks are designed so that you will not rest […]. There is metal everywhere. If anyone drops anything, you hear it. If anyone shouts or talks loudly, it disturbs everyone. If there is a problem at the other end of the block, you cannot possibly rest. After two or three weeks, you think you will lose your mind. 222

Hitze und Kälte, Stille und Musikfolter oder Lärm verflechten sich mit dem Zellenwechsel, der zugleich Schlafentzug bedeutet. Räumlichkeit und Körperlichkeit sind fundamentale Möglichkeitsbedingungen dieser Folter, wenn die Folter das leibliche Spüren des Körpers, die leibliche Anwesenheit des Gefangenen, in Abhängigkeit von seiner räumlichen Positionierung attackiert. Und im unregelmäßigen Zellenwechsel, so lässt sich das triadische Netz auf der beschreibenden Metaebene noch einmal ausfindig machen, hat die Saubere Folter ein weiteres Mittel gefunden, die Zeit und ihre Stückelung in den destruktiven Dienst zu nehmen. Neben den Zeugenaussagen von ehemaligen Gefangenen geben zuletzt auch die Memoranda und Folterhandbücher Aufschluss über die Variationen der Foltertechniken in ihrer Diskontinuität – zur Desorientierung und letztlich zur inneren Destruktion des Gefangenen. Sie beziehen sich auf wechselvolle Inszenierungen der Überfülle und der Leere oder auf die induzierte Irregularität des Schlafrhythmus’. Zeitdehnungen und -stauchungen, Durationen und Brüche, die vor allem den Schlafrhythmus zu manipulieren bestimmt sind, ergeben sich nach den Handbüchern aus jenen Inszenierungen der Fülle und Leere. Die bereits zitierte Passage aus dem Folterhandbuch KUBARK listet direkt aufeinanderfolgend Hitze und Kälte sowie die Deprivation von Nahrung und Schlaf: »[…] inducing physical weakness: prolonged constraint; prolonged exertion; extremes of heat, cold, or moisture; and deprivation or drastic reduction of food or sleep«223. Brüche resultieren ferner aus der Manipulation von Licht und Dunkelheit. Wie anfangs zitiert, beschreibt das Sanchez-Memorandum eine solche Foltertechnik konkret mit »Sleep Adjustment: Adjusting the sleeping times of the detainee (e.g. reversing sleep cycles from night to day).«224 Schließlich findet sich im Handbuch KUBARK eine Variation, die bis hin zur Manipulation von Uhren und zur strategisch terminierten Vergabe von Mahlzeiten reicht. Sie umfasst einerseits Perioden des zeitdehnenden Wartens und 222 | Anonymus: »The Battle for Guantánamo«, siehe http://humanrights.ucdavis.edu/ projects/the-guantanamo-testimonials-project/testimonies/prisoner-testimonies/ the-battle-for-guantanamo/ 223 | KUBARK, S. 92. 224 | Sanchez-Memorandum, S. 4.

4. Suchbewegungen II

Hungerns, eines spürbar am Körper in Szene gesetzten Entzugs, andererseits ein plötzlich einsetzendes hastiges Aufeinanderfolgen von Mahlzeiten, eine spürbar am Körper in Szene gesetzte Überfülle: »Some interrogatees can be repressed by persistent manipulation of time, by retarding and advancing clocks and serving meals at odd times — ten minutes or ten hours after the last food was given. Day and night are jumbled.«225 KUBARK offeriert hier spezifische (Regie-)Anweisungen für wechselvolle Szenen in der Räumlichkeit des Lagers, die sowohl eine leibliche Körperlichkeit des Gefangenen im Nahrungs- und Schlafentzug als auch seine psychischen Prozesse durch die Manipulation von Zeitlichkeit unterminieren. Die destruktive Kraft einer folternden Differenz-Wahrnehmung ist hier kaum zu unterschätzen. Im Verlauf der Beschreibung drängt sich die Vermutung auf, dass noch in den beständigen Wechseln von – einander radikal kontrastierenden – Foltertechniken eine negative Gestalt(ung) der Sauberen Folter erscheint. Begriffe des beständigen Wechsels, der Wechselseitigkeiten oder einer spezifischen Reziprozität treffen jedoch noch nicht das folternde Wesen dieser Gestalt(ung). Sie vermögen nicht, sie einer konkreten Vorstellung zugänglich zu machen, einem Verständnis für die Wirkmächtigkeit dieser Foltergestalt(ung). Denn dieser geht es nicht primär um Wechsel, um eine Ablösung der einen Foltertechnik durch eine andere. Dieser Folter geht es um einen Übergang, eine Phase des Dazwischens, die es in ihrer Destruktivität zu (be-)greifen gilt. Wie lässt sich diese beschreiben? Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive erinnert die Brüchigkeit der Folter durch Licht und Dunkelheit, Stille und Lärm oder Hitze und Kälte an eine komplexe Dialektik von Inszenierungen der Fülle und der Leere – eine Dialektik von Fülle und Leere finden wir als Motiv im postdramatischen Theater. Hans-Thies Lehmann hat es auf eine knappe Formel gebracht: »Es gibt entweder ein Zuviel oder ein Zuwenig.«226 Lehmann bezieht sich mit dieser Formel auf symbolische Praktiken der Überfülle oder der Ausdünnung von Zeichen, die ihm zufolge als Theaterzeichen des postdramatischen Theaters gelten können. Sie implizieren den systematischen Entzug der Synthesis, das Lehmann als Ziel der Praktiken definiert. So dient eine disparate Simultaneität von Theaterzeichen der gezielten Überforderung und Überreizung der ästhetischen Wahrnehmung: »Um Chaos erfahrbar zu machen, bedarf es besonderer Gestaltung«227, heißt es dazu in wissenschaftlichen Theaterdiskursen, oder: »Ununterbrochen wird den Sinnen zu viel angeboten. Auge und Ohr 225 | KUBARK, S. 76f. 226 | Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 151. 227 | Rolf Kloepfer: »Das Theater der Sinn-Erfüllung: Double & Paradise vom Serapionstheater (Wien) als Beispiel einer totalen Inszenierung«, in: Erika Fischer-Lichte: Das Drama und seine Inszenierung. Vorträge des internationalen literatur- und theaterse-

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Saubere Folter

sind überflutet«228, »[d]as Geschehen ist rechts und links, oben und unten, vor und sogar hinter mir. Ich werde von Eindrücken akustisch, visuell und dinglich bombardiert […]«229. Kontrastiert wird die Überfülle von Zeichen in einem Theater des Schweigens und der Duration, das Leere und Absenz prononciert. Die symbolischen Praktiken der Überfülle und der Leere im Theater, ihre komplexe Dialektik, zeichnen sich nicht durch die Übermittlung von Bedeutung aus, sondern forcieren eine Nicht-Übermittlung von Bedeutung. Lehmann nennt die Formationen jener symbolischen Praktiken im Dienste einer Destruktion der Synthesis eine »entstaltende Figuration«230, die keinerlei enträtselbare Zeichen zur Deutung anbietet. Lehmanns Wortschöpfung der Entstaltung lässt sich im vorliegenden Kontext offenkundig auf die negativen Gestaltungen der Sauberen Folter beziehen, die in jener »Ödnis unüberschaubarer Erstreckung«231 oder der »labyrinthisch chaotische[n] Anhäufung«232 bestehen. Zwar begründet er seine Vermeidung des Begriffs der Gestaltung mit den impliziten Grenzen, die diese stets aufweise. Grenzen der Gestaltung bestehen für ihn in der Ödnis und dem Chaos, während einzig deren Dazwischen die Gestalt bilde – als einheitliche, selbstidentitäre und in jeder Hinsicht zusammenhängende Entität. Der Begriff der Entstaltung hingegen verweise auf die spezifische Figuration gerade dieser Grenzen in ihrer Auflösung. Damit entspricht Lehmanns Konzept der Entstaltung jedoch gerade dem der entworfenen negativen Gestalt(ung), durch welche die Saubere Folter in ihrer Absenz und in der Auflösung von Grenzen erscheint. Wie bereits diskutiert wurde, muss auch die negative Gestaltung der Sauberen Folter, die Grenzen auflöst und abschafft, als Gestalt(ung) gelten, auch und gerade, wenn sie keine einheitliche, selbstidentitäre und in jeder Hinsicht zusammenhängende Entität ist. Denn sie präsentiert, ja, erzeugt geradezu die Gestalt eines Absenzphänomens dazwischen. Desorientierung, so ließe sich im Anschluss streitbar zuspitzen, ist im postdramatischen Theater kein Fremdwort. Im Gegensatz zur Sauberen Folter wird jedoch etwas produziert, das Ziel der Inszenierungsstrategien postdramatischen Theaters ist nicht die Destruktion von Sinn. Vielmehr wird ein NichtSinn hervorgebracht, der die konstitutive Negativität von Zeichen als ein NichtSagbares durch symbolische Praktiken diskursfähig macht. Eine Dialektik aus Entzug und Überfülle streicht Bedeutung durch, so Lehmann. Doch um eine miotischen Kolloquiums Frankfurt a.M., 1983, Tübingen: Niemeyer 1985, S. 199-218, hier S. 203. 228 | Ebd. 229 | Ebd., S. 205. 230 | Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 154. 231 | Ebd. 232 | Ebd.

4. Suchbewegungen II

Bedeutung durchzustreichen, muss sie mitgedacht werden.233 Erst der Akt der Durchstreichung bringt einen (Diskurs-)Raum des nichtsagbaren Dazwischens hervor. Zwar zielen auch die symbolischen Praktiken der sensorischen Desorientierung offenkundig auf eine Form der entstaltenden Figuration der Umgebung des Häftlings. Sie gestalten diese Umgebung vermittels Entzug und Überfülle negativ – das heißt destruktiv – durch die Inkommensurabilität auditiver, visueller, olfaktorischer, sogar taktiler Sinnesqualitäten und ihrer Diskontinuität in räumlicher, körperlicher und zeitlicher Hinsicht: »So bleiben wir […] auf der Suche nach Methode, auf dem Weg, mit dem Wahrgenommenen im Sinne von Bedeutung fertig zu werden, während das Spiel genau darauf angelegt ist, daß dies nicht passiert«234, heißt es im Diskurs zum Theater der Sinn-Erfüllung über eine Aufführung, die bloß eineinhalb Stunden andauert. Im destruktiv-performativen Vollzug der Sauberen Folter ist auch über Stunden und Tage hinweg »nichts Erbauliches, keine Botschaft, nichts, was man wirklich aus ihnen lernen könnte«235. Die Inszenierungen der Sauberen Folter gehen jedoch weit darüber hinaus. Denn sie vernichten jede subjektive Ressource der Sinnfindung überhaupt. Weitere Differenzen zwischen den theatralen Mitteln der Folter und des Theaters sind hier zu thematisieren, die gegen die Verwendung des Begriffs der theaterwissenschaftlich verstandenen Dialektik der Fülle und Leere sprechen. In Seels Worten erschöpfen sich die Inszenierungen der Folter um ihres Erscheinens willen in ihrem Erscheinen – das, so wissen wir ebenfalls von Seel, ist »der Brennpunkt der ästhetischen Wahrnehmung«236 und steht einem begrifflichen Erkennen der Folter im Weg. Wenn das Theater jedoch solche Verfahrensweisen nutzt, so nennt es sich selbst ein Theater der Überfülle oder der Leere, fordert es eine Ebene der aktiven Selbstreflexion und Interpretation, der deutenden Auslegung und Freilegung kreativer Prozesse der Sinnfindung

233 | Ebd., S. 139ff. Das postdramatische Theater, so Lehmann, antwortet mit dem asketischen Entzug auch auf das »Zeichenbombardement im Alltag« (ebd., S. 153) oder spiegelt in der Überfülle »das Durcheinander der realen Alltagserfahrung« (ebd. S. 140). Doch die Produktion von Nicht- Sinn (oder die Nicht-Produktion von Sinn) fördert und fordert primär die Abkehr von geschlossenen Kohärenzen, Makrostrukturen und kollektiver Unterordnung unter Sinn-Hierarchien. 234 | Rolf Kloepfer: »Das Theater der Sinn-Erfüllung: Double & Paradise vom Serapionstheater (Wien) als Beispiel einer totalen Inszenierung«, in: Erika Fischer-Lichte: Das Drama und seine Inszenierung. Vorträge des internationalen literatur- und theatersemiotischen Kolloquiums Frankfurt a.M., 1983, Tübingen: Niemeyer 1985, S. 199-218, hier S. 204. 235 | Gumbrecht: Produktion von Präsenz, S. 119. 236 | Ebd.

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im Nicht-Sinn.237 Eine Dialektik der Fülle und Leere dient dann als Ordnungskategorie, als Matrix von Orientierungspunkten, die auf die theatralen Prozesse und Praktiken verweisen. Hitze und Kälte, Geräusche und Gerüche oder Licht und Dunkelheit verweisen jedoch nie auf sich als Folter, sondern nur auf sich selbst. Sie etablieren weder Orientierungspunkte noch überhaupt eine Ordnung, sie folgen keinem Muster und fügen sich in keines. Die Foltertechniken tauchen in unregelmäßigen Abständen und in unberechenbaren Abfolgen auf, was den Begriff einer achronologischen Dialektik nahelegen könnte. Doch auch dieser trifft den Kern der Foltermethodik nicht, wenn man einen weiteren Blick in das Folterhandbuch KUBARK wirft. Darin offenbart sich nämlich noch eine radikale Steigerung der Unordnung der Praktiken Sauberer Folter. In der Formulierung des Ziels der Inszenierungen der Überfülle oder Leere wird jedes Denken einer Achronologie ad absurdum geführt. Das Ziel der Foltertechniken besteht in der körperlichen Schwächung und der Zerstörung psychischer (Widerstands-)Kräfte des Häftlings, letztlich in der Subjektdestruktion. Was innehalten lässt, ist die Beschreibung der Strategie dahinter: Control of the source’s environment permits the interrogator to determine his diet, sleep pattern, and other fundamentals. Manipulating these into irregularities […] prolonged exertion, loss of sleep etc., themselves become patterns to which the subject adjusts through apathy. The interrogator should use his power over the resistant subject’s physical environment to disrupt patterns […], not to create them. Meals and sleep granted irregularly, in more than abundance or less than adequacy, the shifts occuring on no discernible time pattern, will normally disorient an interrogatee and sap his will to resist more effectively than a sustained deprivation leading to debility. 238

Nicht nur Inszenierungen der Fülle und Leere sowie ihre unvorhersehbare Brüchigkeit sollen laut dieser Passage zur Desorientierung des Häftlings führen (in more than abundance or less than adequacy). Darüber hinaus fordert KUBARK noch ein unvorhersehbares Erscheinen auch dieser Brüchigkeit, eine Unvorhersehbarkeit der Unvorhersehbarkeit, letztlich eine Brüchigkeit zweiter Ordnung (manipulating these into irregularities […] themselves become patterns […]; to disrupt patterns […], not to create them). Noch das unerwartete Erscheinen darf hier nicht erwartbar werden, was das Handbuch an anderer Stelle in anderen Worten wiederholt: »Little is gained if confinement merely replaces one 237 | Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 153. So dient etwa eine geringe Dichte von Zeichen im Theater der Aktivierung des Zuschauers an der Aufführung teilzuhaben, selbst Teil des Spiels zu werden, Einfluss zu nehmen und sich gerade vom passiven Rezipienten in ein aktives Ko-Subjekt zu verwandeln. 238 | KUBARK, S. 86ff.

4. Suchbewegungen II

routine with another.«239 Indem noch der Bruch, in dem sich die Saubere Folter verbergen kann, als gebrochen gedacht werden muss, ist ihre Entbergung oder ihr Erscheinen in einer achronologischen Dialektik kaum vorstellbar. Ferner ist die Zeitlichkeit, wie sich herausgestellt hat, nicht die einzige oder maßgebliche Kategorie der Sauberen Folter und sie bliebe im Begriff der Dialektik einem Ordnungsdenken verhaftet, das sich nicht durchhalten ließe. Jedes Denken einer Dialektik führt hier nicht weiter, was erneut zeigt, auf welch verschlungenen Wegen die Folter ihre Benennung umgeht. Sie erscheint in einer eingeschlossenen Dimension der Sinnlichkeit und verweigert sich beharrlich einer Dimension der (begrifflichen) Reflexion. Sie erscheint am spürenden Körper und auf einer reflexiv-wortlosen Ebene in ihrer Absenz, zu der ihr ästhetisches Erscheinen nicht hinführt. Im Gegensatz zu den symbolischen Praktiken des Theaters machen die negativen Gestalt(ung)en der Sauberen Folter sie also in ihren Erscheinensweisen, in ihrer immer schon und nie gewesenen Gegenwärtigkeit, vergessen. Wie die Figur des Geistergefangenen ist sie aufgrund entstaltender Figurationen einem Diskurs gerade nicht zugänglich. Während das Theater performatives Erscheinen zur Eröffnung von Diskursräumen nutzt, in denen Nicht-Sagbares sagbar wird, schließt die Saubere Folter Diskursräume ab und finalisiert die Unsagbarkeit des Nicht-Sagbaren. Die Saubere Folter reicht dann weit über die genuin theatrale Produktion von Nicht-Sinn hinaus bis in die Destruktion von Nicht-Subjekten hinein.

4.7 Z wischenstopp : Z u einer möglichen S agbarkeit S auberer F olter Im rückblickenden methodischen Dialog zwischen Zeugenaussagen und Folterhandbüchern wird ersichtlich, dass die Destruktivität symbolischer Praktiken der Sauberen Folter in einer Inkommensurabilität wurzelt, die sowohl im Erleben als auch in der Reflexion über dieses Erleben herrscht. Sie durchdringt Inszenierungen der Überfülle und Inszenierungen der Leere, die Schwellen überschreiten, Grenzen durchbrechen und in ein Inneres des Häftlings vordringen, das über keinerlei Grenzen mehr verfügt, nicht einmal mehr über eine Grenze zwischen Opfer- und Täterschaft. Sie bezwingt auch ein Dazwischen dieser Inszenierungen in deren Brüchen und reicht darüber hinaus bis in ein Dazwischen der Brüche von Brüchen hinein, die stets nur auf sich selbst und nicht auf die Folter verweisen. In dieser immer tiefer gehenden Bewegung erscheint die wohl gespenstischste und geradezu paradigmatische Gestalt(ung) der Sauberen Folter, die auch in einem einprägsamen Zitat eines Folteropfers umhergeistert: 239 | Ebd., S. 86.

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Saubere Folter Right from the beginning of where you can’t sleep unless you literally, you’re so tired you can’t stay awake, that just tells you that you’re in a place where your mind starts telling you that, to me, literally that I didn’t know I existed. In the other prisons I was in, it was, ›When is this going to end?‹ In the Dark Prison, it wasn’t, ›Is this going to end?‹ It was, ›Is this real?‘‘ 240

Die Desorientierung und Furcht, die Erschöpfung und Ausweglosigkeit, die aus dieser Zeugenaussage spricht, macht nach all den Annäherungsversuchen an eine sprachliche Gestalt(ung) der Sauberen Folter deutlich, dass diese noch immer nicht gesagt werden kann. Wenn in Seels, Gumbrechts und FischerLichtes Worten Töne mit der Haut gehört und Licht mit der Haut aufgenommen werden, Momente der Verzweiflung in der Finsternis oder im ohrenbetäubenden Lärm durchlebt und Erniedrigungen erlebt werden, die sich aus der Nacktheit des Körpers in der Hitze oder Kälte des Lagers speisen, wenn eine stille Welt im Abwesen durch Isolationshaft empfunden wird und diese von folternder Musik durchbrochen wird, dann sind dies Beschreibungen, die sich zwar an das Absenzphänomen Saubere Folter annähern. Doch diese Annäherungen, so das schleichende Gefühl, nimmt kein Ende und kommt nicht am Phänomen an. Jenes desorientierte Zitat des Folteropfers belegt einmal mehr, dass die beschreibende Analyse die Unsagbarkeit dieser Gewalt nicht durchbrechen kann, wenn sie sie auch eingrenzt – an Grenzen mangelt es der Sauberen Folter in ihrem Vollzug immerhin beständig. Was das Folteropfer aber sprechend bezeugt, ist das düstere Schweigen, das die Folter als Unheimliches, Undarstellbares und Undifferenziertes umgibt und das sie unsagbar macht, beständige Wortschöpfungen erfordert, um sprachlich nach ihr zu greifen und an sie heranzureichen. Jede einfache Metaphorik, mit welcher der Folter beizukommen nur versucht werden kann, bietet keinen hilfreichen Weg der Bezeichnung. Vielmehr erweist sie sich mit jedem metaphorischen Unterfangen einzig in ihrem Ungenügen. Das Undifferenzierte der Folter, die die Folter in ihrer absoluten Unlösbarkeit und Unverfügbarkeit umspannt, erinnert bereits im Verlauf der Suchbewegungen an Lacans Begriff des Realen, der sich auch an ein Denken symbolischer Praktiken anzuschließen scheint – und die Frage eröffnet, ob darin weitere Wege der Beschreibung freigelegt werden können. Folgte man jedoch diesem Lacan’schen Einschlag der Suchbewegungen konsequent, so näherte sich die Saubere Folter einem Realen Lacans an, in dem weder das Imaginäre 240 | Andy Worthington: »Guantánamo, Bagram and the Dark Prison. Binyam Mohamed talks to Moazzam Begg« siehe www.andyworthington.co.uk/2009/03/28/ guantanamo-bagram-and-the-dark-prison-binyam-mohamed-talks-to-moazzam-begg vom 28.03.2009.

4. Suchbewegungen II

noch das Symbolische gänzlich aufgehen können. Es ließe sich gar argumentieren, die Folter sei das Reale.241 Denn im Realen wohnt das absolute Unverfügbare, es ist das schwarze Loch des Diskurses von Symbolischem und Imaginärem, an das man nicht heranreichen kann. Im Realen kollabieren Grenzen zwischen Innen und Außen, Phantasie und Realität. Es ist nicht definierbar. Und es erscheint vor allem in der psychischen Traumatisierung plötzlich und aus dem Nichts kommend, inkommensurabel und unreduzierbar. Doch worauf läuft das Reale hinaus und worauf läuft dann die Folter hinaus, setzt man Lacans Begriff des Realen als Bestimmungskategorie an? Ist das Reale nicht letztlich der Tod? Ist das Reale nicht letztlich unvermeidlich, unumgänglich, zwingend und unverzichtbar – und kann das für die Folter gelten? Diese Auslegung der Sauberen Folter als Inbegriff des Realen wäre ein Zeichen von Entmutigung und Resignation – ein Zeichen, das es sich in der Deutung zu einfach macht. Immerhin kann die Saubere Folter als Phänomen des Unverfügbaren auf die Kurzformel des Verschwindens im Erscheinen gebracht werden, die an vielen Stellen aufgetaucht ist. Wenn die Annäherungen der vorliegenden Suchbewegungen einfach nicht am Phänomen ankommen und Beschreibungen nur an selbiges heranreichen (wollen) können, so ist dies ein weiterer Aspekt eines Verschwindens der Sauberen Folter in ihrem Erscheinen – das heißt: in ihrem Darüber-Sprechen – und eines Erscheinens der Sauberen Folter in ihrem Verschwinden – das heißt: in ihrem Nicht-Darüber-Sprechen-Können. Diese leicht verlängerte Kurzformel macht deutlich, wie die Saubere Folter in ihrer Perfidität funktioniert. Im Hinblick auf eine Sagbarkeit der Sauberen Folter kann die längere Kurzformel jedoch nur eingeschränkt und durchaus im Agamben’schen Sinne Geltung und Bedeutung beanspruchen. Denn in actu erscheint die Saubere Folter dem Traumatisierten nicht, er begegnet lediglich sinnlichen Erscheinungen, die nur auf sich selbst verweisen. Dass die Folter in diesen sinnlichen Erscheinungen gerade dadurch verschwindet, wird erst auf einer reflexiven Ebene deutlich, die ein Traumatisierter oftmals erst im Rahmen einer therapeutischen Aufarbeitung des traumatischen Erlebens erreichen kann – in jener Erzählung, von der die Traumatheorien vor allem Dori Laubs handeln. Deren Zugang wird wiederum durch die Unsagbarkeit der Sauberen Folter und ihrem Vergessen versperrt, das bereits im Lager einsetzt und Zeugen der Folter eliminiert. Erst dem erfolgreich therapierten Traumatisierten kann die Folter schließlich als Folter und in ihrem Erscheinen und Verschwinden zugänglich 241 | Lacan pointiert dazu: »Das Reale ist absolut ohne Riß.« Jacques Lacan: Das Seminar, Buch II: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Psychoanalyse. Nach dem von Jacques-Alain Miller hergestellten französischen Texte, Olten/Freiburg i.Br.: WalterVerlag 1980, S. 128.

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werden. Doch selbst auf dieser über Jahre oder Jahrzehnte hinweg erarbeiteten psychologischen Entwicklungsstufe verschwindet sie. Therapieberichte belegen die These Cathy Caruths, dass die Erzählung ein eigenständiges Ereignis der Folter hervorrufen kann und dieses erneute Erleben sowie möglicherweise seine Reflexion auch ein Wiedererleben der Grausamkeit und Perfidität der Folter bedeuten. Dies wirkt auf eine so radikale Weise retraumatisierend, dass dem therapierten Traumatisierten plötzlich sein Folt|er|leben erneut entschwindet – und er sich auf einmal in einer eingeschlossenen Dimension der Reflexion arretiert wiederfindet, das nicht mehr greifen kann, was reflektiert werden will.242 Damit setzt sich das traumatische Vergessen und die Verunmöglichung der Zeugen(schaft) erneut fort. Die Suchbewegungen, das Nachdenken über die Folter und ihre beharrliche Verfolgung arbeiten daher daran, das Vergessen und die Unsagbarkeit der Sauberen Folter immerhin einzugrenzen. Und sie können an dieser Stelle nur zu (k)einem Schluss kommen: Der Traumatisierte ist nie ganz, ebenso wie die vorliegende beschreibende Analyse keine Geschlossenheit findet.

242 | Vgl. Graessner/Gurris/Pross (Hg.): Folter. An der Seite der Überlebenden, insbes. die Beiträge von Britta Jenkins und Sepp Graessner/Salah Ahmad/Frank Merkord.

5. Suchbewegungen III

Performance und Performativität im Verhör Hate and contempt don’t get our prisoners talking. […] it will take an Oscar-caliber performance in the interrogation booth […] for my enemy.1

Wie bereits in den Suchbewegungen zu den Techniken der sensorischen Desorientierung als Inszenierungen der Leere oder Fülle aufscheint, funktionieren diese häufig auch als Erniedrigungssequenzen. Als paradigmatisches Beispiel dafür kann die so genannte erzwungene Nacktheit ( forced nudity) gelten – die in den Inszenierungen nackter Paraden von Häftlingen gipfelt und die offenkundig nicht nur die am bloßen Körper künstlich erzeugte Kälte destruktiv wirken lässt. Ein Ermittlungsbericht des Internationalen Roten Kreuzes sowie eine Vielzahl von Zeugenaussagen belegen, dass die erzwungene Nacktheit vor allem bei muslimischen Häftlingen häufig in Anwesenheit von weiblichen Verhörbeamten verwendet oder durch diese erzwungen wird: »These women would come really close to me and attempt to touch me. As hard as this was, I was never humiliated more than when my clothes were taken away from me in the presence of female guards or interrogators.«2 In einem Verhörprotokoll wird diese Technik explizit als »Invasion of Space by Female-Approach« benannt. Sie involviert die vollkommene Entblößung des Häftlings und die Verhüllung seines Kopfes mit einem Sack oder Tuch. Der Häftling soll angesehen werden, während er selbst nicht sehen kann. Hier wird der Blick zum Substitut

1 | Bruning/Alexander: How to Break a Terrorist, S. 83. 2 | Anonymus: »Statement of Noor Uthman Muhammed at his Military Commission«, siehe http://humanrights.ucdavis.edu/projects/the-guantanamo-testimonials-proj ect/testimonies/prisoner-testimonies/statement-of-noor-uthman-muhammed-at-hismilitary-commission vom 17.02.2011.

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des physischen Kontakts. Es ist der Blick, der Folter ist. Und es ist das Sehen, das die Folter unsichtbar macht.3 Das Phifer-Memorandum listet die erzwungene Nacktheit als Technik mittlerer Intensität auf, beschreibt sie jedoch nicht näher: »Category II techniques […] (10) Removal of clothing«4. Die erzwungene Nacktheit ist also nicht nur Teil etwa Thermofolter und damit der sensorischen Desorientierung. Sie gehört auch zu den Techniken, die als mentale Desorientierung apostrophiert werden können. Denn offenkundig basieren sie auf der gezielten Produktion von Angst, Scham und Abhängigkeit sowie allgemeiner psychischer Schwäche des Häftlings. Hier kann der implizite Anschluss der Folter an die Theorie des »DDD syndromes«5 vermutet werden, das in den Folterhandbüchern bereits als Ziel der sensorischen Desorientierung genannt wird: »debility – dependency – dread«6. Die folgenden Suchbewegungen widmen sich diesen Techniken mentaler Desorientierung – ihren mannigfaltigen Weisen des Vollzugs und ihre so komplexe wie perfide Wirkungsweise.

5.1 Ü berblick : M entale D esorientierung Die Folter der mentalen Desorientierung erstreckt sich erst seit der juridischpolitischen Memoranda im Nachklang der Terroranschläge vom 11. September 2001 auf systematische Erniedrigungen von Häftlingen etwa durch Nacktheit, seit jenem Zeitpunkt also, den der ehemalige Leiter der CIA-Terrorismusabwehr Cofer Black so kommentierte: »Alles, was Sie über die streng geheime […] operative Flexibilität wissen müssen, ist, dass es ein ›vor 9/11‹ und ein ›nach 9/11‹ gab. Nach 9/11 wurden die Samthandschuhe ausgezogen.«7 In den Memoranda und im Verhörprotokoll werden diese Erniedrigungstechniken als 3 | Mit Maurice Merleau-Ponty wird die Perfidität des Übergriffs auf den Körper durch allein das Angesehen-Werden auf interessante Weise deutlich: »[D]er Blick […] hüllt die sichtbaren Dinge ein, er tastet sie ab und vermählt sich mit ihnen. […] Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, daß jedes Sichtbare aus dem Berührbaren geschnitzt ist […] und daß es Übergreifen und Überschreiten nicht nur zwischen dem Berührten und Berührenden gibt, sondern auch zwischen dem Berührbaren und dem Sichtbaren […].« Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, München: Wilhelm Fink Verlag 1994, S. 175-177, zit.n. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 104. Es ist der folternde Blick der doppelten Blöße – der bloße Blick auf den bloßen Körper –, der hier berührt, versehrt und verletzt. 4 | Phifer-Memorandum, S. 4. 5 | Vgl. v.a. KUBARK, S. 83f. 6 | Ebd. 7 | Zit. n. McCoy: Foltern und foltern lassen. S. 103.

5. Suchbewegungen III

»Pride and Ego Down-approach«8 benannt. Vorläufer und weitere Techniken einer Desorientierung, die auf die Destruktion der psychischen Verfassung von Häftlingen abzielen, finden sich bereits in den Folterhandbüchern und bis heute im US Army Field Manual. Sie werden darin als non-coercive techniques oder schlicht interrogation approaches bezeichnet. Diesen Techniken liegt die perfide Logik einer neuerlichen Selbstfolter des Gefangenen zugrunde: The term non-coercive is used above to denote methods of interrogation that are not based upon the coercion of an unwilling subject through the employment of superior force originating outside himself. However, the non-coercive interrogation is not conducted without pressure. On the contrary, the goal is to generate maximum pressure […]. The difference is that the pressure is generated inside the interrogatee. His resistance is sapped, his urge to yield is fortified, until in the end he defeats himself. 9

Vermutlich liegt die hier anklingende Vorstellung von psychologisch wirksamen Verhörmethoden auch den gegenwärtigen Erniedrigungstechniken zugrunde, die unter diese Kategorie fallen. Angst und Scham werden offenkundig als im und durch das Subjekt selbst hervorgebracht gedacht. Das Opfer besiegt sich aus seiner Emotionalität heraus – so das zentrale Motiv dieser Selbstfolter mentaler Desorientierung. Im Handbuch umfassen die non-coercive techniques perfide Täuschungsmanöver und Drohungen, die anhand ihrer detaillierten Beschreibungen untersucht und in ihren destruktiven Wirkungsmechanismen entschlüsselt werden können. Sie können dabei immer wieder in Beziehung zu den politisch-juridischen Memoranda, zum US Army Field Manual und international publizierten Verhörprotokollen gesetzt werden, die interrogation approaches auflisten, darunter gezielte Perversionen oder Erniedrigungstechniken wie die bereits erwähnte Technik »Invasion of Space by Female«10. Diese Quellen werden in einem steten Spannungsverhältnis zu den Zeugnissen von Folteropfern gelesen, denn sie sagen etwas über die Folter im Verhör durch mentale Desorientierung aus – insbesondere durch das erneute Schweigen, das aus ihnen spricht. Obwohl die Verhörtechniken selbst beschrieben werden (können), sagt keiner der Zeugen über die Desorientierung aus, über das, was in und durch diese Verhörtechniken geschieht. Isoliert in einer beengten Einzelzelle, zwischen Tag und Nacht oder grellem Licht und Dunkelheit findet sich der Gefangene im plötzlichen Verhör wieder, oftmals nackt der Hitze und Kälte 8 | Anonymus: »Interrogation Log Detainee 063«, siehe http://content.time.com/ time/2006/log/log.pdf, S. 4, 7, 30. 9 | KUBARK, S. 52. 10 | Anonymus: »Interrogation Log Detainee 063«, siehe http://content.time.com/ time/2006/log/log.pdf, S. 25.

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durch Klimaanlagen ausgesetzt, mitten im ohrenbetäubenden Lärm (oder) der Stille – »[T]he ›cumulation over time‹ factor must be considered as part of a system of […] torture«11. Was dieses System nun im Verhör vorsieht, scheint ebenso unsagbar zu sein wie die fortgesetzte sensorische Desorientierung. Die beschreibende Analyse öffnet Suchwege in genannten Quellen, um sich langsam einer Vorstellung von dieser unsagbaren mentalen Desorientierung anzunähern: »So sind sie vorgegangen, zuerst haben sie einen verwirrt, dann haben sie gequält. Es gab unterschiedliche Stufen, bis sie zum Schluss direkt gastfreundschaftlich waren. Jede Methode haben sie benützt.«12 Zunächst eint sämtliche Techniken mentaler Desorientierung, die in Folterhandbüchern, im US Army Field Manual sowie in Verhörprotokollen und Zeugenaussagen genannt werden, ihr Vollzug in einer Situation der Interaktion: »[T]he interrogator monopolizes the social environment of the source«13, heißt es pointiert im Handbuch KUBARK. Diese Interaktionssituationen eint ihr Aufführungscharakter, der auf regieartigen Handlungsanweisungen basiert und theatrale Elemente sowie ästhetische Mittel involviert, um gezielt Emotionen, negative Gefühle und Unwohlsein seitens des Häftlings zu provozieren: »[…] The interrogator […] chooses the emotional keys under which the interrogation or any part of it will be played.«14 Diese theatralen Elemente und ästhetischen Mittel, etwa gestaltete Räume und Rollenspiele, werden vor allem im Verhörprotokoll ausführlich dargelegt und in ihren destruktiven Wirkungen der Angst und Abhängigkeit dokumentiert: »ENS C (as rehearsed earlier) comes in and asks SGT R what he is doing. ENS C says ›Don’t talk to him like that, he’s a human being.‹ SGT R says ›Human beings don’t kill 3000 people‹ and storms out. Detainee was on the verge of breaking.«15 Ein Memorandum des ehemaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld aus dem Jahr 2003 erläutert die inszenatorische Vorgehensweise: »Interrogation approaches are designed to manipulate the detainee’s emotions and weaknesses to gain his willing cooperation.«16 KUBARK formuliert dies im selben Jahr deutlicher: »Prisoners […] have reduced viability, are helplessly dependent on their captors […], and experience the emotional and motivational reactions of intense 11 | Hernán Reyes: »The Worst Scars are in the Mind: Psychological Torture«, in: International Review of the Red Cross 89, No. 867 (2007), S. 591-617, hier S. 591. 12 | Willemsen: Hier spricht Guantánamo, S. 228. 13 | Ebd., S. 52f. 14 | Ebd. 15 | Anonymus: »Interrogation Log Detainee 063«, siehe http://content.time.com/ time/2006/log/log.pdf, S. 4. 16 | Donald Rumsfeld: MEMORANDUM FOR THE COMMANDER, US SOUTHERN COMMAND, siehe http://www2.gwu.edu/~nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB127/03.04.16.pdf vom 16.04.2003, S. 5.

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fear and anxiety.«17 Sämtliche Elemente und Mittel zur mentalen Desorientierung werden hier einzig von der Person des Folterers in der Interaktion des Verhörs eingesetzt, um zwischen ihm und seinem Opfer etwas zu erzeugen – missbräuchliche Beziehungen, bedrohliche Atmosphären und verstörende Situationen, letztlich eine folternde Wirklichkeit. Täuschungen, Erniedrigungen oder Drohungen schaffen eine verwirrende oder bedrohliche Wirklichkeit mit unberechenbaren Akteuren, eine Wirklichkeit, die keinen Sinn macht oder Sinn zertrümmert und darüber hinaus noch gezielt pervertiert werden kann. Denn auf der Grundlage dieser massiven mentalen Desorientierung funktionieren die Techniken des so genannten selbst zugefügten Schmerzes. Solche Schmerztechniken, die im Wesentlichen in Stresspositionen bestehen und sowohl in den Folterhandbüchern als auch Memoranda aufgelistet werden, suggerieren dem Opfer auf verschlungenen Wegen ebenfalls die unumgängliche Selbstfolter. Sie geben vor, ohne äußere Gewalteinwirkung, ohne Täter und damit keine Folter zu sein. Es sei der eigene Körper, der seine eigenen Schmerzen produziere, formuliert KUBARK: »[W]hereas pain inflicted on a person from outside himself may actually focus or intensify his will to resist, his resistance is likelier to be sapped by pain which he seems to inflict upon himself.«18 Zwar kann der selbst zugefügte Schmerz als eigene Kategorie neben der sensorischen und mentalen Desorientierung gelten. Diese geht jedoch aus der mentalen Desorientierung eindeutig hervor. Nicht nur die Konstitution einer folternden Wirklichkeit ist Folter, sondern auch ihre perfide Verdrehung. Denn die Perversion von Schuld, Opfer- und Täterschaft beginnt bereits in den Täuschungen, Erniedrigungen und Drohungen des Folterers, wenn dieser sich plötzlich als Vaterfigur in Szene setzt: »[T]he calculated provision of stimuli during interrogation tends to make the regressed subject view the interrogator as a father-figure. The result, normally, is a strengthening of the subject’s tendencies toward compliance«19 Hier exemplifiziert das Handbuch KUBARK die gezielte Hervorbringung einer Beziehung, die missbraucht und immer wieder manipuliert werden kann: »He exercises the powers of an all-powerful parent, determining when the source will be send to bed, when and what he will eat, whether he will be rewarded for good behavior or punished for being bad.«20 Diese Beziehung wird jedoch in weiteren Foltertechniken wieder vernichtet: Essential to torture is the sense that your interrogators control everything: food, clothing, dignity, light, even life itself. Everything is designed to make it clear that you are at

17 | KUBARK, S. 83f. 18 | Ebd., S. 94. 19 | Ebd., S. 90. 20 | Ebd., S. 52.

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Saubere Folter the mercy of those whose job it is not to have any mercy. […] They become just bodies. You can do anything you want to them. 21

Die hier zunächst andeutungsweise ausgeführten Techniken der mentalen Desorientierung, die sich über Täuschungsmanöver, Bedrohungsszenarien, Erniedrigungen und Perversionen im Verhör erstrecken, sollen im Folgenden mit Hilfe des bereits entworfenen und zu erweiternden theatralen Begriffsinstrumentariums einer analytischen Theatralität näher untersucht werden. Die Suchbewegungen nähern sich den Foltertechniken sukzessive an und gehen schrittweise vor, da sie eine ebenso sukzessive und schleichend zur Destruktion führende Folter verfolgen. Die Folterhandbücher bedienen sich einer Rhetorik des beständigen Kreislaufs, der nie zu enden bestimmt ist: »The intelligence cycle consists of four phases and can be represented as a circle because it has no beginning or end.«22 Es irritiert zwar, dass die Folterhandbücher diesen Zirkel als aus vier Phasen bestehend beschreiben, die als The Opening, The Reconnaissance, The Detailed Questioning und The Conclusion benannt werden und einen Anfang und ein Ende des Verhörs – sowie Einzelakte der Folter im Verhör – suggerieren.23 Doch den Anweisungen zufolge wird stets und spontan zwischen diesen Phasen gewechselt. Verschiedene Verhörbeamte determinieren ihren Verlauf jeweils neu und wiederholen gegebenenfalls bestimmte Phasen, wobei die Phase des de21 | David Levi Strauss: »Breakdown in the Gray Room«, in: The Terra Nova Series (Hg.): Abu Ghraib. The Politics of Torture, S. 87-102, hier S. 88. Das spiegelt sich auch im Sprachgebrauch: Seymour Hersh zitiert einen Soldaten, der von Isolationen berichtet. Dieser spricht dabei von »its ribcage« statt »his ribcage«. Seymour M. Hersh: »TORTURE AT ABU GHRAIB. American Soldiers Brutalized Iraqis. How Far Up Does the Responsibility Go?«, siehe www.newyorker.com/archive/2004/05/10/040510fa_fact vom 10.05.2004. 22 | Ebd. Dies entspricht dem Verständnis des Verhörs als zirkuläre Struktur von fünf Phasen im US Army Manual aus dem Jahr 2006, die ein Zahnrad visualisiert. Vgl. US Army Field Manual (FM 2-22.3), S. 1 – 3; 1 – 5. 23 | Hier liegt eine vereinfachte Analogisierung des Dramentheaters nahe, das üblicherweise in drei bis fünf Akte aufgeteilt wird – was vor dem Hintergrund einer theatralen Sprache zumindest erwähnt werden muss. Hier scheint es gleichsam eine Exposition als Phase der Information zu geben, gefolgt von einer klimatischen Entwicklung im detaillierten Verhör, die wiederum in der Katastrophe vollzogener Destruktionsprozesse mündet. Diese Art der analogisierenden Theatralitätssprache führt jedoch, wie bereits ausgeführt, nicht hin zu einer Sagbarkeit dessen, was in der Sauberen Folter geschieht, sondern leistet lediglich ein distanziert-heuristisches Erklärungsmodell, das die Details beider Konzepte – das der systematischen Folter im Verhör und von dramatischen Akten – mithin verkennt.

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taillierten Verhörs (detailed questioning) beliebig ausgedehnt werden kann, was zur psychischen Zermürbung des Gefangenen beiträgt. Hinzu kommt eine übergeordnete Unendlichkeit der Sauberen Folter, die nämlich weder im Gefangenenlager noch nach der Freilassung des Häftlings endet. Nicht nur die erlittenen Traumata, sondern auch bürokratisch manifestierte Verschwiegenheitserklärungen perpetuieren das Schweigen der Folter.24 So wie sich die sensorische Desorientierung selbst fortsetzt, wenn plötzliche Sinnesreize, Musik, Gerüche oder Neonlicht weiterhin als folternd erlebt werden müssen, lösen sich die mentalen Desorientierungen, insbesondere Erniedrigungen und Perversionen, nicht in einer Freiheit auf, die sich auf die Mobilität der Heimkehr beschränkt: »Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt.«25 Die folgenden Suchbewegungen, die auf den Pfaden einer analytischen Theatralität wandeln, widmen sich diesen enormen mentalen Desorientierungen. Dabei gehen sie langsam und sorgfältig vor, um das variantenreiche Spektrum der Foltertechniken in ihrer perversen Akribie erkennen und beobachten zu können.

5.2 A uf dem W eg zur analy tischen The atr alität III Auf der Suche nach Worten für diese weiteren Foltertechniken im Verhör gelten die ersten Suchbewegungen dem Anschluss an bisherige Erkenntnisse. Bisher konnten Foltertechniken der Kälte und Hitze, Gerüche und Geräusche, Licht und Dunkelheit – die Inszenierungen der Leere und Fülle – als im Raum der Zelle erscheinend und verschwindend und als dadurch folternd beschrieben werden. Sinnlich wahrnehmbare Geschehen drängen sich dem Gefangenen auf, in Mangelerscheinungen oder in Erscheinungen der Überfülle. Die zugrunde liegenden Gestalt(ung)en der Sauberen Folter verunmöglichen dabei die Erkennbarkeit eben dieser Folter, die sie sind – auch dadurch, das fällt insbesondere im Nachdenken über die Verhörsituation zwischen Folterer und Gefoltertem auf, dass kein Folterer erscheint.

24 | Willemsen: Hier spricht Guantánamo, S. 10. 25 | Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, München: Szczesny 1966, S. 70. Der Schriftsteller Jean Améry beschreibt damit die Unmöglichkeit einer Freiheit von der Folter nach der Freilassung – Améry überlebte die grausame Folter durch die nationalsozialistische SS, doch die Foltererfahrung prägte sich tief in sein Inneres ein. So schreibt er weiter: »Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert. Unauslöschlich ist die Folter in ihn eingebrannt.« Ebd. Am 17. Oktober 1978 nahm sich Améry das Leben.

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Dies ist im doppelten Sinne zu verstehen: Einerseits ist ein Folterer in der sensorischen Desorientierung nicht zu identifizieren. In seiner physischen Gestalt erscheint er nicht am Schauplatz des Foltergeschehens, denn dieses Geschehen besteht einzig in sinnlichen Erscheinungen. Es besteht darin, dass – und nicht durch wen oder wie – etwas gehört, gesehen, gerochen oder gespürt werden muss. Andererseits muss es einen Folterer geben, als ein gespenstisches Wesen nämlich, das die Klima- oder Musikanlagen ein- oder ausschaltet, Gerüche einleitet und Geräusche verursacht, das über die Körperlichkeit des Gefangenen verfügt und die Kostümierung des Vergessens vornimmt – ein Wesen, das den Gefangenen ein- und ausschließt, aber selbst nicht als Folterer in Erscheinung tritt. So wie eine Apräsenz der Sauberen Folter und das Nichts als folterndes Etwas gedacht werden kann, so kann auch eine Apräsenz des Folterers und ein Niemand als folternder Jemand gedacht werden. Kein Folterer ist es dann, der auf jenem Pfad wandelt, der die Folter negiert, indem er den Folterer verliert. Es eröffnet sich gar eine unerwartete Parallele zu jener Bewegung des Abwesens eines Häftlings. Der Gefolterte und auch der Folterer sind, indem sie verloren gehen. Beide Subjekte sind, weil es sie nicht geben darf. So erscheint und verschwindet auch der Folterer, ist auch dieser in seiner Abwesenheit anwesend und kann gar als Mangelerscheinung der Sauberen Folter beschrieben werden. Das bedeutet, dass die bisherigen Erkenntnisse und sprachlichen Errungenschaften der beschreibenden Analyse sensorischer Desorientierung einmal mehr erprobt werden können – und in einer Differenz den ersten Ansatzpunkt der beschreibenden Analyse mentaler Desorientierung eröffnen. Denn diese verlangt im Verhör die unzweifelhafte Anwesenheit des Folterers. Der Folterer ist es, der durch performative Handlungen in einem Verhörraum die destruktive Wirklichkeitskonstitution betreibt. Somit rückt das Subjekt des Folterers in den Blick, dem ein gesteigertes Interesse gewidmet werden muss. Das bedeutet, dass erstmals nach Folterern als performierenden Subjekten der Sauberen Folter gefragt werden kann – was mit der Hoffnung verbunden ist, nicht nur von Folteropfern, sondern endlich auch von Tätern sprechen zu können. Wenn man davon ausgeht, dass die Folter der mentalen Desorientierung durch eine spezifische Wirklichkeitskonstitution durch den Folterer und in der Interaktion mit seinem Opfer destruktive Wirkungen entfaltet – ob in missbräuchlichen Beziehungen, verstörenden Rollenspielen oder durch Drohungen, die nach Judith Butler bereits zu verwirklichen beginnen, was Wirklichkeit werden kann26 –, so legt dies eine weitere Dimension destruktiver Performativität frei. Die performativen Akte des Folterers zur Konstitution einer folternden Wirklichkeit müssen daher noch genauer beschrieben werden, ins-

26 | Vgl. Judith Butler: Excitable Speech, S. 5.

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besondere auf inszenatorische, theatrale und ästhetische Implikationen hin, die bereits in den vorangegangenen Überlegungen exploriert werden konnten. Wie bereits in der beschreibenden Analyse der sensorischen Desorientierung mit einem theatralen Begriffsinstrumentarium stellt sich dabei die Frage nach grundlegenden Differenzen zwischen den symbolischen Praktiken des Theaters und der Sauberen Folter mentaler Desorientierung. Wenn sie auch aus einem gemeinsamen Strategierepertoire der Performativität, des Inszenierens und Ästhetisierens schöpfen, so wird schnell deutlich, dass die folternde Wirklichkeitskonstitution durch Täuschungen oder Rollenspiele im Verhör gerade foltert, weil sie nicht vom Gefangenen überprüft werden kann – anders als es dem Theaterzuschauer gestattet oder gar von ihm erwartet wird. Eine Ebene des Durchdenkens, das mentale Zurücktreten von einer Situation, um sich dieser reflexiv wieder anzunähern, Täuschungen zu entlarven oder Rollenspiele zu verweigern, ist in der Folter ebenso ausgeschlossen wie das tatsächliche Zurücktreten von dieser Situation. Während der Theaterzuschauer den Saal verlassen kann, gilt dies nicht für das Verhör, die Zelle oder das Lager. In der Folter des Verhörs gibt es keine Spielsituation und auch kein Publikum. Es gibt Opfer, die der Foltersituation und einem Fluss der steten Konstitution, Modifikation und Perversion von Wirklichkeit hilflos ausgeliefert sind. Es sind diese Möglichkeitsbedingungen der Folter mentaler Desorientierung, in denen sich ein destruktives Potential von Performativität verbirgt. Performativität bezeichnet nicht nur den Vollzug des Hervorbringens von Wirklichkeit als ihr kreatives Produkt, was als Essenz der meisten Performativitätskonzepte gefasst werden kann.27 Performativität zerstört und vernichtet auch in eben diesem Vollzug. Denn indem sie eine Wirklichkeit hervorbringt, betreibt sie zugleich die Destruktion, desorientiert, foltert, quält. Das wiederum bedeutet, dass performative Produktivität hier eng mit Negativität verknüpft ist, Hervorbringung mit Destruktion, ein Vollzug des Werdens mit einem Prozess der Vernichtung. 27 | So schaffen performative Äußerungen in der originären linguistischen Sprechakttheorie die Wirklichkeit, die sie bezeichnen. Dieser Sprechakt sagt laut Judith Butler mehr als er eigentlich sagen will und ist damit eine körperliche Handlung, die sogar soziale Strukturen normieren kann. Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. Performativität in sozialen Ritualen kann ferner Kommunikations- und soziale Situationen und sogar ganze Kulturen erzeugen, wie die Arbeiten Richard Schechners, Victor Turners oder Erving Goffmans belegen. Schließlich sind künstlerische Performances performativ, weil sie eine künstlerische Wirklichkeit jenseits von dramatischen Textvorlagen, repräsentativen Figuren oder vorbestimmten Handlungen schaffen, worauf vor allem die Überlegungen Fischer-Lichtes und Herbert Willems basieren. Gemein ist diesen Konzepten die Kraft der Wirklichkeitskonstitution, die damit hier zum zentralen Dreh- und Angelpunkt der Begriffsverwendung avanciert.

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Performativität zu denken, heißt also immer auch, sie als Phänomen zu denken, das nicht per se durch produktive, kreative oder emanzipatorische Kräfte gekennzeichnet ist. Vielmehr können performative Prozesse eine Wirklichkeit schaffen, formen oder normieren, während Performativität selbst in ihrer produktiven oder auch negativen Eigenheit stets im Dunklen bleibt – was sich klassisch medientheoretisch als Wirksamkeit durch Verschwinden lesen lässt. Daran schließt sich im vorliegenden Kontext die Frage an: Ist es nicht gerade die operative Dunkelheit, die sie zum Katalysator einer Folter werden lässt, eines Phänomens, das im Dunklen, im Abwesen und durch den Entzug funktioniert? Führt man diesen Gedanken konsequent fort, so bestimmt nicht Performativität über die Produktivität oder Destruktivität einer symbolischen Praktik, sondern einzig deren Kontext. Das bedeutet, dass die gleiche Praktik unter unterschiedlichen Bedingungen produktiv oder destruktiv wirksam wird, aber in beiden Fällen performativ ist. Was und wie oder gar wann ist dieser Kontext des Performativen, wenn dieser einer so wichtigen Bestimmung habhaft werden soll? Dieser Frage gehen die folgenden Überlegungen auf einer Metaebene nach. Wenn performative Akte der Wirklichkeitskonstitution zentraler Bestandteil von kreativen Performances im künstlerischen Bereich des Theaters sind, müssten die performativen Akte der Wirklichkeitskonstitution im Verhör gleichwohl als destruktive Performances gelesen werden können – und Performance als Kontext einer je produktiv oder destruktiv wirksamen Performativität, die damit strukturell über die einzelne Performance hinausgeht. Die Verwendung des Begriffs der Performance ist hier durchaus riskant, gilt Performance doch als umstrittener Begriff – ja, die definitorische Uneinigkeit quer durch mannigfaltige disziplinäre Diskurse ist es, die den Begriff als »an essentially contested concept«28 ausmacht. Der weiteren Verwässerung des Begriffs, noch dazu im interdisziplinären Ansatz, soll hier kein Vorschub geleistet werden. Doch wenn die Konzentration der Überlegungen am eröffneten Nexus zwischen der analytischen Beschreibbarkeit von Theaterpraktiken und Folterpraktiken festhält, muss keine Überdehnung dieses Begriffs befürchtet werden. Vielmehr muss seine Erweiterung um eine vernachlässigte destruktive Dimension gerade riskiert werden, da diese vermutlich sämtliche Deutungen und Definitionen tangiert. Der konstitutive Unterschied zwischen künstlerischen und folternden Performances als Kontext von produktiver oder destruktiver Performativität wäre hier allerdings nicht nur die Unmöglichkeit der Reflexion. Auch liegt dieser nicht nur darin, dass es in der künstlerischen Performance um die Beobacht28 | Walter Bryce Gallie: Philosophy and the Historical Understanding, London: Chatto & Windus 1964, o.S., zit.n. Marvin Carlson: Performance. A Critical Introduction, London: Routledge 1999, S. 1.

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barkeit von Sinnstiftung – »how sense was created on stage«29 – gehen kann, während es in der folternden Performance offenkundig um eine Zerstörung von Sinn geht. Die Differenz ist hier um ein Vielfaches fundamentaler, denn während Performances im Kontext des Theaters Prozesse der Subjektkonstitution in Szene setzen können, vollziehen Performances im Kontext der Sauberen Folter Prozesse der Subjektdestruktion. Statt Gegensätze als unauflösliche Widersprüche zu stabilisieren, muss sich womöglich die Theaterwissenschaft unbequemen Fragen stellen, etwa: Ist Performance wirklich immer und ausschließlich als eine Kunstform oder zumindest als kreativer Akt zu denken, der Handlungskraft begründet und Subjekte zu aktiven Beteiligten einer Wirklichkeitskonstitution macht – Rezipienten gar »verdoppelt […] zum Zuschauer und Handelnden zugleich«30? Performances sprengen zwar oftmals die Grenzen dessen, was in einem engeren Sinne als Kunst apostrophiert wird, und testen aus, ob Performance notwendig nur als Kunstform angesehen werden muss oder kann. Doch auch diese Tendenzen entspringen Prozessen, die Agency forcieren. Marvin Carlson schreibt hierzu schlicht: »Normally human agency is necessary for ›performance‹ […]«31. Doch kann dies nicht auch einzig für die Performer gelten? Kann Performance nicht auch eben diese Handlungskraft, Agency, entziehen – wie hier die des Folteropfers in folternden Performances? Interessanterweise wird Performance aber, insbesondere als radikale Performance, häufig mit der Produktion und dem Vollzug von Freiheiten assoziiert: What I am interested in centrally, then, is not the ways in which radical performance might represent such freedoms, but rather how radical performance can actually produce such freedoms, or at least a sense of them, for both performers and spectators, as it is happening. […] The sources of such freedom in performance are its radical potential, in that they give rise to the creation of new radical possibilities in performance. 32

Die Beschäftigung mit der Sauberen Folter stellt diese Freiheit und Emanzipation in und durch Performances als festgeschriebenen Grundsatz in Frage. Macht man Performance zur Leitkategorie der Untersuchung der Foltertechniken mentaler Desorientierung im Verhör und sollen diese zu einer 29 | Helga Finter: »Disclosure(s) of Re-Presentation: Performance ›hic et nunc‹?«, in: Herbert Grabes (Hg.): REAL. Yearbook of Research in English and American Literature. Band 10: Aesthetics and Contemporary Discourse, Tübingen: Gunter Narr Verlag 1994, S. 153-167, hier S. 158. 30 | Finter: »Identität und Alterität«, in: Walter Bruno Berg et al. (Hg.): Imágenes en vuelo, textos en fuga, S. 233-250, hier S. 243. 31 | Carlson: Performance. A Critical Introduction, S. 3. 32 | Baz Kershaw: The Radical in Performance, S. 18f.

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verstärkten wie verbesserten Sagbarkeit des Geschehens führen, so muss differenziert werden, was als Performance zu lesen ist. Zunächst müssen die Situationen im Verhör als Performances und die Situation des Verhörs differenziert werden. Die Folterhandbücher betonen, dass die Situation des Verhörs bereits als Situation destruktiv wirksam werden soll: »It is important to understand that interrogation, as both situation and process, does of itself exert significant external pressure upon the interrogatee«33, heißt es, oder »The interrogation situation is in itself disturbing to most people encountering it for the first time.«34 Noch bevor sich die beschreibende Analyse also mit Performances der mentalen Desorientierung beschäftigen kann, muss sie sich wieder bremsen, ihre Schritte verlangsamen und nach dem Verhör als Situation fragen, die von diesen zu unterscheiden ist. Wie wird diese Situation hervorgebracht, die bereits als Situation destruktiv zu wirken vermag? Zu vermuten ist etwa, dass jene den Handbüchern gemäß auffällig gestaltete Szenografie des Verhörs dazu beiträgt, sie hervorzubringen. Dazu sind eine spezifisch gestaltete Räumlichkeit des Verhörraums sowie eine spezifische Zeitlichkeit des Verhörs zu zählen. Auch die Körperlichkeit der handelnden Akteure muss beschrieben und analysiert werden, da sie eine Grundlage für die vielfältigen Weisen schafft, auf die sich Subjekte aufeinander beziehen – in folternden Situationen, die so hervorgebracht, verändert oder determiniert werden. Durch eine Erweiterung des Performancebegriffs und seine Erschließung als potentiell auch destruktiv wirksames Phänomen lassen sich einige Grundbedingungen der Folter mentaler Desorientierung formulieren. Täuschungen, Erniedrigungen oder Drohungen erfordern die physische Präsenz von Akteuren, die sich in und durch körperliche Akte aufeinander beziehen – »the physical presence of trained or skilled human beings whose demonstration of their skills is the performance […]. [T]he individual body remains at the center of such presentations«35. Die physische Präsenz der Körper nicht nur des Folterers als Performer der Foltersituation, sondern auch des Folteropfers treffen ferner auf eine spezifische Szenografie der Folter in Verhörräumen – »theatrical sign-systems such as music, noise, movement, dance, light, and stage setting«36. Für diese Techniken benötigt der Folterer neben Stimme, Tonlage, Gestik und Mimik, sprich Körper, nur wenige weitere Mittel des Folterns – »the typical performance artist uses […] at most a few props, a bit of furniture, and whatever costume […] is most suitable to the performance situation«37. 33 | KUBARK, S. 40 34 | Ebd, S. 65. 35 | Carlson: Performance. A Critical Introduction, S. 3ff. 36 | Finter: »Disclosure(s) of Re-Presentation«, in: Herbert Grabes (Hg.): REAL. Yearbook of Research in English and American Literature, S. 153-167, hier S. 157. 37 | Carlson: Performance. A Critical Introduction, S. 6.

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Außerdem richtet sich die Performance durch die Körperlichkeit des Folterers auch auf den Körper des Opfers aus, der in die Performances integriert wird, der Empfindungen zeitigt oder sogar Ort des Schmerzes ist – »to push the body to extremes or even to subject it to considerable risk or pain«38. Wenn nun das Ziel von Performances darin bestehen kann, Einfluss auf die Psyche, auf eine Seele oder ein Selbst zu nehmen – »to induce certain mental states«39 –, so verwundert es nicht, dass das Ziel dieser Foltertechniken in der mentalen Desorientierung besteht. All diese Faktoren ermöglichen schließlich, eine umfassende folternde Wirklichkeit zu konstituieren – »Performance creates its reality in the process, in actu.«40 Nicht erst an dieser Stelle wird deutlich, dass die folgenden Überlegungen zu folternden Performances und destruktiver Performativität als Gegenpol zu einer Auffassung emanzipatorischer Performances und produktiver Performativität positioniert werden, indem erneut die destruktiven Potentiale von inszenatorischen, theatralen und ästhetischen Prozesse im Verhör ausgelotet werden. Die Praktiken der mentalen Desorientierung können als im Verhör stattfindende Prozesse der Wirklichkeitskonstitution, als Performances der Sauberen Folter, gelesen und mit Hilfe eines theatralen Begriffsinstrumentariums beschrieben werden. Dem Aufführungscharakter der Foltertechniken und ihren drehbuchartigen Anweisungen wird dabei eine ebenso große Aufmerksamkeit gewidmet wie inszenatorischen und ästhetischen Gestaltungen von Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Körperlichkeit. Allerdings drängen sich hier Begriffsverwendungen aus den Bereichen des Dramentheaters immer wieder auf, etwa wenn Einzelakte der Folter untersucht oder die Rollenspiele von Folterern beschrieben werden. Sie scheinen Spuren zu einer Weiterentwicklung der analytischen Theatralität zu legen. Doch es sei daran erinnert, dass diese Spur nicht hin zu einer Analogisierung und Metaphorisierung von Theater in einem dramatischen Sinne führen darf, denn eine solche Analogisierung würde die Suchbewegungen von ihrem Gegenstand entfernen und diesen verharmlosen. Eine analytische Theatralität muss weiterhin auf eine differenzierte Vorgehensweise achten und sich insbesondere vor dem Hintergrund des Begriffs der Performance an zeitgenössische Theaterdiskurse halten, um simplifizierende Übertragungen zu vermeiden und ein sprachliches Herannahen an die Folter zu ermöglichen. 38 | Ebd., S. 103. Hier muss erwähnt werden, dass die künstlerische Performance diese schmerzhaften Zustände oder riskanten Manöver auf Seiten des Performers selbst hervorruft, nicht notwendigerweise gegenüber einem Publikum. Dieses ist erst im nächsten Schritt am Zuge. 39 | Ebd. 40 | Finter: »Disclosure(s) of Re-Presentation«, in: Herbert Grabes (Hg.): REAL. Yearbook of Research in English and American Literature, S. 153-167, hier S. 157.

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Entscheidend ist es, die originäre Kraft theatraler Begriffe der Gegenwart zu nutzen, um ein Entzogenes, ein Unverfügbares zu beschreiben und diese Kraft einmal mehr nachzuweisen. Die Langsamkeit oder gar die wiederholte Verlangsamung der Analyse an mancher Stelle ermöglicht es erst, sukzessive in sämtlichen Prozessen mentaler Desorientierung nach einer umfassenden Sagbarkeit des Geschehens zu fahnden – in der Situativität des Verhörs selbst sowie in den in seinem Verlauf vollzogenen Performances. Insbesondere gilt es, die Akteure als Performer zu denken. Dabei muss man sich allerdings von vornherein vor Augen halten, dass in der Gefolterte nur als Perversion eines Performers auftritt, weil ihm seine aktive Beteiligung, jene perfide Selbstfolter, lediglich suggeriert wird. Die zusammengefassten finalen Thesen der folgenden Suchbewegungen können nun lauten: Die Techniken der mentalen Desorientierung können als destruktive Performances und damit als weitere symbolische Praktiken der Sauberen Folter beschrieben werden. Sie wirken – foltern somit – als im intersubjektiven Prozess durch den Folterer in actu geschaffene Wirklichkeit im Verhör und bilden damit jeweils den Kontext einer destruktiven Performativität. Diese prägt auch die Situation des Verhörs selbst, die es als Situation zu beschreiben gilt. Das Begriffsinstrumentarium einer analytischen Theatralität wird im Verlauf der Überprüfung dieser Thesen um den Performancebegriff erweitert, der sich seit den späten 1960er Jahren in Abgrenzung zu einem (Literatur-)Theater der Repräsentation entwickelt und im Bezug auf etwa ein postdramatisches Theater, Performancetheater oder die Aktionskunst zunehmend verbreitet hat. Es muss zwar stets berücksichtigt werden, dass dieser vielfach adaptiert und mitunter verfremdet wurde – und dieser Gefahr muss auch im vorliegenden Kontext begegnet werden. In einer beschreibenden Analyse der Sauberen Folter mentaler Desorientierung bietet der Begriff der Performance sich aber als Analysewerkzeug einer dezidiert destruktiven Praxis an. Und da die Destruktion bislang kaum zu den Aufgabengebieten der Performance(kunst) gehörte, ist ein Weiterdenken des Begriffs in diese, durchaus bedrohliche, Richtung auch für zeitgenössische Theaterdiskurse lohnenswert. Bisweilen wird Performances schließlich zugesprochen, die »gedankliche, seelisch-nervliche und auch körperliche Attacke«41 zu forcieren, was sich etwa im Namen der Künstlergruppe Forced Entertainment ausdrückt.42 Dies soll keiner 41 | Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 100. Lehmann unterscheidet zwar postdramatisches Theater von der Performance Art, sieht jedoch Schnittpunkte insbesondere in der gemeinsamen Erfahrung eines Geschehens von allen beteiligten Akteuren. Vgl. ebd., S. 241ff. 42 | Tim Etchells, der Gründer der Gruppe, kommentierte diesen Namen: »We liked the name and its combination of something positive and friendly – entertainment – and this word ›forced‹ which points to something problematic and uneasy. […] [I]n many

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Wertung unterliegen, doch eine potentielle Destruktivität von Performances – als Kontext von Performativität – muss zumindest mitgedacht und anerkannt werden.

5.3 D ie S ituation des V erhörs : Z eitlichkeit, S zenogr afie und A k teure In einem ersten Schritt begeben sich die Suchbewegungen auf die Spurensuche nach der Situation des Verhörs als Situation und ihrer Hervorbringung. Sie stoßen erneut auf die bereits diskutierten Parameter der Zeitlichkeit, Räumlichkeit und Körperlichkeit der Sauberen Folter, denn diese prägen die inszenatorischen Elemente der Sauberen Folter in der Verhörsituation. So wird das Verhör gezielt terminiert, was in den Kapiteln »The Timing«43 oder »The Termination«44 in den Folterhandbüchern detailliert beschrieben wird und erste destruktive Wirkungen zu zeitigen intendiert: »Some interrogatees can be repressed by persistent manipulation of time […]. Day and night are jumbled. Interrogation sessions are similarly unpatterned«45, so leitet KUBARK das Verhör als unregelmäßiges, überraschendes und letztlich unvorhersehbares Ereignis ein. Es erwähnt gar das Ziel der mentalen Desorientierung des Häftlings bereits zu diesem Zeitpunkt: »Interrogation sessions with a resistant source […] should not be held on an unvarying schedule. The capacity for resistance is diminished by disorientation.«46 Die desorientierende Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit, die das Verhör als Ereignis somit wesentlich prägen, erinnern an die Techniken der sensorischen Desorientierung, die das Zeitgefühl des Gefangenen involvieren. Sie rufen etwa die symbolischen Praktiken strategischer Irregularität von Mahlzeiten oder die systematische Unterminierung des Tag- und Nachtrhythmus des Häftlings durch die Manipulation des Lichts auf. Ferner verfolgen sie eine ähnliche Strategie wie die Dramaturgie der Disziplinierung in der plötzlichen und überraschenden Festnahme des Häftlings: So sei der Gefangene etwa in den frühen Morgenstunden und ohne die Benennung von Gründen zum unangekündigten Verhör abzuführen. Das Verhör bedient sich ferner jeways this duality has been at the heart of our work since the beginning, so the name became a kind of manifesto.« Anonymus: »Interview with Forced Media«, siehe www. aestheticamagazine.com/blog/interview-with-forced-media/#sthash.pdocaSeg.dpuf, ohne Datum. 43 | KUBARK, S. 48. 44 | Ebd., S. 49. 45 | Ebd., S. 76f. 46 | Ebd., S. 49.

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ner negativen Ästhetik der Duration, wenn es – legitimiert durch das SanchezMemorandum – über zwanzig Stunden lang andauert, und es operiert mit der kontrastiven Brüchigkeit, wenn der Häftling anschließend nach wenigen Minuten des Schlafens wieder geweckt und zum Verhör gebracht wird: »[T] he subject may be brought back for more questioning just a few minutes after being dismissed for the night.«47 Diese Kumulation von bereits beschriebenen Foltertechniken mündet in der strategischen Täuschung: »The subject […] may be returned to his cell, allowed to sleep for five minutes, and brought back to an interrogation which is conducted as though eight hours had intervened.«48 Offenkundig besteht das Ziel dieser Praktiken darin, wiederholt das natürliche Zeitgefühl durch gezielte Brechungen außer Kraft zu setzen und durch eine brüchige Zeitlichkeit der Folter zu ersetzen – es ließe sich hier gar über die Möglichkeit eines performativen Setzens von Zeit nachdenken. Im Verhör des Gefangenen Mohammed Al-Qahtani wurden diese Foltertechniken der destruktiven Temporalität erheblich ausgeweitet.49 Das vom TIME Magazine im Jahr 2006 veröffentlichte Verhörprotokoll belegt die radikale Verwendung der Manipulation von Zeitlichkeit im Verhör bis in die Gegenwart exterritorialer Gefangenenlager für Geistergefangene: So dauert das Verhör selbst insgesamt 50 Tage und an jedem dieser Tage rund zwanzig Stunden lang an. Das führt dazu, dass es täglich zwischen ein und vier Uhr nachts beginnt und erst in der folgenden Nacht endet. Die systematische Erschöpfung des Häftlings ist dem Verhörprotokoll an vielen Stellen zu entnehmen: 10 December 2002 […] Detainee began to cry […] and the detainee became stoic. […] 13 December 2002 […] On occasion when the detainee began to drift off into sleep, lead dripped a couple of drops of water on detainees head to keep him awake. Detainee jerked violently in his chair each time. […]

47 | Ebd., S. 76f. 48 | Ebd., S. 49f. 49 | Vgl. Anonymus: »Interrogation Log Detainee 063«, siehe http://content.time.com/ time/2006/log/log.pdf. Das 84-seitiges Protokoll des Verhörs wird im Folgenden zu einer der wichtigsten Primärquellen der Suchbewegungen zur mentalen Desorientierung. Es beinhaltet die Dokumentation des Verhörs Mohammed Al-Qahtanis, des Detainee 063, durch dessen Verhörenden. Der Saudi-Araber wurde im Dezember des Jahres 2001 inhaftiert und erreichte zwei Monate später Guantánamo. Das Verhör fand vom 23. November 2002 bis zum 11. Januar 2003 statt – sämtliche Praktiken der Sauberen Folter werden im Dokument genannt.

5. Suchbewegungen III 30 December 2002 […] Detainee began to cry and interrogators returned and yelled at detainee to prevent him from crying in order to prevent him having an emotional release. 50

Hinzu kommt die Manipulation von Uhren, Mahl- und Gebetszeiten, somit die sukzessive Zersetzung seines Tag- und Nachtrhythmus: »The principle is that sessions […] disrupt the source’s sense of chronological order«51, pointiert das Folterhandbuch KUBARK. Auf der Spur der Wiederkehr oder Aktualisierung von Folterpraktiken der Zeitlichkeit stoßen die Suchbewegungen sodann auf detaillierte Anweisungen der Handbücher zum gestalterischen, nahezu szenografischen räumlichen Arrangement des Verhörraumes als »Interrogation Setting«52. Ein Journalist referiert auf dieses Kapitel mit den Worten: »Interrogation is […] highly theatrical. The Kubark Manual is very particular about setting the stage«53. Dort heißt es: The room in which the interrogation is to be conducted should be free of distractions. The colors of walls, ceiling, rugs, and furniture should not be startling. Pictures should be missing or dull. Whether the furniture should include a desk depends not upon the interrogator’s convenience but rather upon the subject’s anticipated reaction to connotations of superiority and officialdom. […] An overstuffed chair for the use of the interrogatee is sometimes preferable to a straight-backed, wooden chair because if he is made to stand for a lengthy period or is otherwise deprived of physical comfort, the contrast is intensified and increased disorientation results. Some treatises on interrogation are emphatic about the value of arranging the lighting so that its source is behind the interrogator and glares directly at the subject. […] there should not be a telephone in the room; it is certain to ring at precisely the wrong moment. Moreover, it is a visible link to the outside; its presence makes a subject feel less cut-off, better able to resist. […] the interrogation site […] should be studied carefully to be sure that the total environment can be manipulated as desired. 54

Die Saubere Folter nutzt hier die szenografische Kraft, um Räumlichkeit destruktiv zu machen. Diese Räumlichkeit ist größtenteils geprägt von einer 50 | Ebd., S. 68. 51 | KUBARK, S. 50. 52 | Ebd., S. 45. 53 | Mark Bowden: »The Dark Art of Interrogation«, in: The Atlantic 10/2003, o.S. Der Autor geht nicht davon aus, dass es sich in den von ihm selbst auf 24 Druckseiten ins Detail gehend beschriebenen Praktiken um Folter handelt: »The inside story of how the interrogators of Task Force 145 cracked Abu Musab al-Zarkawi’s inner circle – without resorting to torture – and hunted down al-Qaeda’s man in Iraq. By Mark Bowden.« Ebd. 54 | KUBARK, S. 45f.

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»visuelle[n] Dramaturgie«55, die »Knoten und Verdichtungspunkte der Wahrnehmung […] von optischen Daten her definiert«56. Allerdings dient sie hier nicht wie im Theaterdiskurs einer interpretativen Reflexion von Gesehenem. Die Szenografie besteht hier vielmehr erneut in negativen Gestaltungen, denn KUBARK fordert vor allem und ausdrücklich das Fehlen von auffälligen Objekten im Verhörraum, von Bildern, Möbeln oder Farben. Es nutzt jene unauffällige Gestaltung als auffällige Nicht-Gestaltung des Raumes, die bereits in der Reizarmut der Isolationshaft destruktive Wirkungen zu entfalten vermag. Die wenigen asketischen Elemente im Raum forcieren eine taktile Differenzwahrnehmung: Ein übermäßig gepolsterter Stuhl dient der körperlichen Spürbarkeit des extremen Kontrasts zwischen komfortabler Ruheposition und schmerzhafter Stressposition. Einige Elemente dieser räumlichen Szenografie tragen zudem symbolische Implikationen – so konnotiert nach KUBARK bereits ein Tisch im Verhörraum die fundamentale Überlegenheit des Verhörenden. Und während der Gefangene zwischen einer grellen Lichtquelle, die ihn blendet, und der Dunkelheit des Schattens, in dem dieser überlegene Verhörbeamte noch verschwindet, verharrt, verweist gerade das Fehlen eines Telefons auf sein eigenes sukzessives Verschwinden – als Gespenst, das er ist oder als das er gerade nicht mehr ist: »[I]t is a visible link to the outside; its presence makes a subject feel less cut-off.«57 Im Verhörprotokoll stoßen die Suchbewegungen auf ein wesentlich perfideres Arrangement von Verhörräumen, das die folternde Kraft des Szenografischen im Kontext der Folter belegt. Während dem Gefangenen Fotografien der Opfer von Terroranschlägen vorgelegt werden, geschieht dies etwa in einem ganz anders negativ gestalteten Raum: »Lights in the interrogation booth were turned off and candles were lit to provide subdued lighting, and relaxation/ meditation music was played.«58 Diese negative Ästhetik des Raumes besteht darin, Bilder der Gewalt in sanftes Licht zu tauchen, Zeugnisse der Zerstörung mit friedvollen Klängen zu kombinieren, Szenen des Todes mit Szenen der Kontemplation zu assoziieren und tiefe Schuldgefühle des Häftlings zu provozieren: »›My shame causes me to look at the floor‹ was written on the floor in the interrogation booth«59. Damit wird die negative Gestaltung des Raumes zur unterschwelligen Gewalt der Sauberen Folter, zu ihren Praktiken der Desorientierung und Erniedrigung – die an Radikalität noch zunehmen. Denn wenig später wird der Gefangene in einen Verhörraum gebracht, der an den 55 | Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 158. 56 | Ebd., S. 159. 57 | KUBARK, S. 46. 58 | Anonymus: »Interrogation Log Detainee 063«, siehe http://content.time.com/ time/2006/log/log.pdf, S. 75. 59 | Ebd., S. 17.

5. Suchbewegungen III

Wänden mit den Fotografien der Opfer von Terroranschlägen übersäht ist. An Absurdität ist das Arrangement sodann kaum mehr zu überbieten, wenn der Verhörraum in Rotlicht getaucht ist und den Häftling ein »Bin Laden shrine«60 erwartet, vor dem er zu beten gezwungen wird. Eine solche szenografische Kraft ist dem Theater und der Performancekunst im Besonderen nicht fremd: »You don’t have to think about the story, because there isn’t any: You don’t have to listen to words, because the words don’t mean anything. You just enjoy the scenery, the architectural arrangements in time and space, the music, the feelings they all evoke. Listen to the pictures.«61 In der Performancekunst wird die Szenografie produktiv gemacht, um Gefühle zu erzeugen – was im vorliegenden Kontext der Folter zutrifft, wenn auch im Sinne und Dienste der Destruktion. Ersetzte man den Moment des Genusses durch den der Qual, so würde die Passage aus dem Performancediskurs vermutlich sagbar machen, wie und in welchen Wirkungsketten sich die Folter hier vollzieht. Widmet man sich schließlich einer Körperlichkeit der Sauberen Folter und ihrer entscheidenden Teilhabe an der Hervorbringung der Verhörsituation, so sind schließlich die Akteure der Folter in den Blick zu nehmen. Noch bevor damit Folterer und Gefolterte gemeint sind, fällt auf, dass sich bereits im Verlauf der hier beschriebenen Praktiken erstmals ein Publikum der Folter formiert. Hinter einer verspiegelten Wand versammeln sich nämlich weitere Verhörbeamte in einem räumlichen Arrangement, das sie in die Situation einschließt. In den Handbüchern wird der abgedunkelte Raum hinter dem Spiegel als »Listening Post«62 bezeichnet, Verhörende nennen ihn den »Hollywood Room«63. Dieses Publikum der Folter scheint lediglich unsichtbar anwesend zu sein. Doch es ist am Verhör beteiligt und damit nicht als passive Zuschauerschaft zu denken, denn die Verhörbeamten greifen unmerklich in das Geschehen ein. Eine kleine rote Alarmleuchte, installiert hinter dem Rücken des Gefangenen, gleicht einer lautlosen Stimme aus dem Off, die es den Akteuren zu kommunizieren und das Geschehen zu steuern erlaubt: The main advantage of transmission is that it enables the person in charge of the interrogation to note crucial points and map further strategy, replacing one interrogator with another, timing a dramatic interruption correctly etc. It is also helpful to install a small blinker bulb behind the subject or to arrange some other method of signalling the

60 | Ebd., S. 72. 61 | Carlson: Performance. A Critical Introduction, S. 110. 62 | KUBARK, S. 46. Das HRETM enthält entsprechende Anweisungen auf S. 42f. 63 | Bruning/Alexander: How to Break a Terrorist, S. 62.

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Saubere Folter interrogator, without the source’s knowledge, that the questioner should leave the room […] or that someone else is about to enter.64

Die Akteure der Folter treten strategisch geplant auf und wieder ab, selbst die Unterbrechungen des Verhörs werden gezielt in Szene gesetzt. Das Publikum der Folter ist zugleich verdeckter Akteur der Folter, was nicht zuletzt dadurch bestätigt wird, dass die Positionen zwischen Verhörbeamten im Verhörraum und im Nebenraum regelmäßig wechseln. Einzig das Folteropfer hat hier kein Double. Hinweise auf die Körperlichkeit der interagierenden Akteure im Verhör finden sich in einem Kapitel des Handbuchs KUBARK, das den schlichten Titel »The Participants«65 trägt. Es nimmt zunächst die Person des Verhörbeamten in den Blick, seine Funktionen und Ziele, aber auch konkrete, vom ihm vollzogene körperliche Akte. Einführend heißt es: [T]he interrogator is called upon to function on two levels. He is trying to do two seemingly contradictory things at once: achieve rapport with the subject but remain an essentially detached observer. Or he may project himself to the resistant interrogatee as powerful […] while remaining wholly uncommitted at the deeper level, noting the […] effectiveness of his own performance. […] Bi-level functioning is not difficult […] as both performer and observer. […] Through experience the interrogator becomes adept in this dualism.66

Es drängt sich hier zunächst eine Kurzschlussverwendung des Begriffs der (dramatisch gedachten und damit von einer Person ablösbaren) Rolle auf, wenn der Verhörende sich etwa als überlegen darstellen kann, um den Häftling einzuschüchtern. Dies verhilft gar dazu, ihn gezielt zu täuschen: »[M]ake the subject feel that his questioner is a sympathetic figure«67, heißt es auch im Handbuch KUBARK, das damit den Begriff der Figur ins Spiel bringt. Jedoch ist fraglich, ob die Begriffe der Rolle oder der Figur hier überhaupt treffen, was das Handbuch impliziert. Solche Passagen können durchaus als quasi-dramatische Vorlagen zur szenischen Umsetzung gelesen werden, ja sogar Dialogfragmente beinhalten: »The ›questioner‹ should remain business-like but also 64 | KUBARK, S. 46f. Davon berichtet auch ein Guantánamo-Häftling: »All these sessions were filmed by a small camera discreetly located in a corner of the room. In addition to the agents which conducted the interrogation, there was always a second team which listened behind a two-way mirror.« Anonymus: »The Terrible Account of a Testimony«, in: Le Parisien vom 4.11.2005, o.S. 65 | KUBARK, S. 47ff. 66 | Ebd., S. 48. 67 | Ebd., S. 57.

5. Suchbewegungen III

friendly. […] Hostility from the subject is best handled by a calm interest in what has aroused him, i.e. ›Why don’t you tell me what has made you angry?‹«68 Das Handbuch deutet auch den Prozess des sukzessiven Einübens von Rollen an, wenn es in einer abschließenden Checkliste für Verhörbeamte heißt: »Have roles been assigned and rehearsed?«69 Das Verhörprotokoll belegt die Annahme eines strategischen, durch Textvorlagen vorgegebenen Rollenspiels: »27 November 2002 […] 1340: Detainee asked to eat and was offered the homemade meal. Control entered room and displayed agitation that detainee was now eating (a rehearsed event).«70 Und auch der US-Senatsbericht aus dem Jahr 2014 beschreibt eine Situation, in der eingeübte Rollen zu einem bestimmten Handlungsablauf führen – zu einer gespielten erneuten Festnahme innerhalb des Lagers: Laut DUNBAR waren etwa fünf CIA-Beamte […] anwesend. Jeder hatte eine Rolle bei der Festnahme, und es war gründlich geplant und geprobt. Sie öffneten die Tür zu Rahmans Zelle, stürmten schreiend hinein und riefen ihm zu, er solle ›runter‹ gehen. Sie zerrten ihn nach draußen, schnitten ihm die Kleidung vom Körper und sicherten ihn mit MylarTape. Sie stülpten ihm eine Kapuze über den Kopf und rannten mit ihm den Flur neben seiner Zelle auf und ab.71

Es fällt in diesem Ansatz auf, dass die Suchbewegungen und analytischen Überlegungen immer häufiger dazu ansetzen, den Begriff des Handbuchs beiläufig durch den des Drehbuchs zu ersetzen. Folgt man aber diesem Impuls, so gleitet die Suche nach treffenden Worten für diese Prozesse wieder in eine undifferenzierte Übertragung von Theateranalogien hinein – die ob ihrer Simplizität verführen, aber nicht an das Geschehen heranreichen, sondern von diesem eher wegführen.72 Hinzu kommt, dass bei genauerer Lektüre 68 | HRETM, S. 76. 69 | Ebd. S. 72 70 | Anonymus: »Interrogation Log Detainee 063«, siehe http://content.time.com/ time/2006/log/log.pdf, S. 12. 71 | US-Untersuchungsbericht über das Internierungs- und Verhörprogramm der Central Intelligence Agency, hg. v. Wolfgang Neskovic, S. 115. 72 | Aus diesem Grunde ist auch ein Anschluss an frühe soziologische Theorien zu Theatralität und Rollenspiel etwa Goffmans oder an spätere Arbeiten etwa FischerLichtes zur Theatralisierung der Lebenswelt hier nicht angezeigt – wie bereits in Kapitel 2 ausführlich behandelt wurde. Herbert Willems formuliert in einer Einführung in dieses Gebiet noch einmal ausdrücklich die theoretische Distanzierung, die diesen Theorien inhärent ist. Sämtliche theoretische Anschlüsse an diese Arbeiten forcierten nämlich letztlich »Untersuchungen, die unter einem integrativen Blickwinkel über einzelne Phänomene und Bereiche hinausgehen und verschiedene soziale Ordnungsebenen und

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deutlich wird, dass KUBARK das klassische Rollenspiel zur Ausführung von Täuschungsmanövern ausdrücklich ablehnt: »Poor interrogators often confuse this bi-level functioning with role-playing, but there is a vital difference.«73 Es gehe vielmehr darum, einzelne Akte nicht vorzutäuschen, sondern tatsächlich zu vollziehen. Insbesondere gehe es darum, Emotionen nicht vorzutäuschen, sondern leiblich zu empfinden und zu äußern: »The interrogator who merely pretends, in his surface performance, to feel a given emotion […] is likely to be unconvincing; the source quickly senses the deception. […] To be persuasive, the sympathy or anger must be genuine«74. Das bedeutet, dass Handlungen und Gefühle im Verhör als wirklich konstituiert werden. Wenn sie auch Teil einer Darstellung sind, weil sie entsprechend geäußert werden sollen, so werden sie doch performativ hervorgebracht – vom Verhörenden als Performer der Foltersituation, die hier als Performance denkbar ist. Eher noch als den Begriff der Rolle zu bemühen, ließe sich also der auch im Handbuch verwendete Begriff des Performers nicht lediglich als Ausführender oder Handelnder übersetzen, sondern auch im theaterwissenschaftlichen Sinne weiterdenken. Als Performer macht der Verhörbeamte seine »Körperlichkeit zum Gegenstand der szenischen Darstellung«75, nicht einen wie auch immer gearteten Text in einer körperlichen Repräsentation: »Nicht als Träger von Sinn, sondern in seiner Physis und Gestikulation wird der Körper zum Zentrum«76 der Situation. Während der Darstellung agiere der Performer auch als Observer, so das Handbuch – der sich als »Organisator und Initiator«77 dieser Darstellung lesen lässt. Entscheidend ist in der Lesart des Folterers als Performer in der Foltersituation, dass es darin nicht um eine Expressivität der Repräsentation geht, sondern um eine Performativität der Präsentation.

Sphären der Gesellschaft ins Auge fassen.« Herbert Willems: Zur Einführung: »Theatralität als Ansatz, (Ent-)Theatralisierung als These«, in: Ders. (Hg.): Theatralisierung der Gesellschaft. Band 1, S. 13-56, hier S. 13. 73 | KUBARK, S. 48. 74 | Ebd. 75 | Annemarie M. Matzke: Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern. Formen szenischer Selbstinszenierung im zeitgenössischen Theater, Hildesheim: Georg Olms Verlag 2005, S. 5. 76 | Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 163. 77 | Matzke: Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern, S. 6. Erika Fischer-Lichte formuliert dies so: »In der Kunst geht es immer um die Organisation von Material. […] Die Kunst des Schauspielers besteht in der Organisation seines Materials, d.h. in der Fähigkeit, die Ausdrucksmittel seines Körpers richtig auszunützen. In der Person des Schauspielers kongruieren der Organisator und das, was organisiert werden soll.« Erika Fischer-Lichte: Ästhetik der Performativität, S. 136f.

5. Suchbewegungen III

Dies zeigt sich besonders deutlich im Verhörprotokoll, wenn notiert wird, dass Folterer ihre körperlichen Fähigkeiten als Performer destruktiv nutzbar machen. Performance »stresses skill, the actor’s doing, the performance as the special activity of the actor, and as the sum of the actor’s work […]«78, heißt es in Performancekunst-Diskursen. Erniedrigungen, die eben auf solchen Fähigkeiten basieren, nehmen im Verlauf des Protokolls stetig zu – in ihrer Anzahl wie in ihrer Radikalität. So wird etwa zu Beginn einer Verhörsitzung der Geburtstag des Gefangenen auf zynische Weise zelebriert: »2 December 2002 […] 1030: Control began ›birthday party‹ and placed party hat on detainee. Detainee offered birthday cake – refused. Interrogators and guards sing ›God bless America‹. Detainee became very angry.«79 Neben dieser Erniedrigung und Drangsalierung des Häftlings durch »die Privilegierung des Sinnlosen und der Aktion im Hier und Heute«80 tragen solche Performances zu dessen Konfusion bei, zur Zerschlagung von Zusammenhängen des beginnenden Verhörs, wenn in diesem etwa gar nicht gesprochen werden darf – und dies gar Sanktionen impliziert: »12 December 2002 […] 0150: Interrogator gave detainee rules for the evening. 1) No talking. 2) Face forward. 3) Don’t ask for anything. Detainee almost immediately began to speak. The interrogators screamed at detainee until he stopped. Detainee was reminded of his worthlessness as a human being.«81 Die beteiligten Verhörbeamten als Performer der Folter zu denken, zeigt hier einmal mehr auf, dass die performative Hervorbringung spezifischer Wirklichkeiten nicht nur auf produktiven Wegen wandelt, sondern auch im Dienste der Destruktion stehen kann – durch Konfusion, Suggestion, Perversion und Erniedrigung. Sämtliche der hier untersuchten Akte vollziehen sich noch vor oder zu Beginn des Verhörs und tragen zur Hervorbringung der Situation bei, die so bereits als Verhörsituation zu foltern vermag. Die produzierte Situation des Verhörs involviert die manipulative Körperlichkeit von folternden Performern in einer folternd gestalteten Räumlichkeit unter den Bedingungen einer folternden Zeitlichkeit, kurz: folternde Performances. Allerdings wurde eine wesentliche Frage vor diesem Hintergrund bislang zwar angesprochen, jedoch nicht weiter diskutiert. Denn impliziert nicht der Begriff der Performance die Beteiligung sämtlicher Akteure an der Hervorbringung von Wirklichkeit – als Ko-Subjekte der Situation? Schließt sie damit nicht jedes Denken passiver, hilf78 | Finter: »Disclosure(s) of Re-Presentation«, in: Herbert Grabes (Hg.): REAL. Yearbook of Research in English and American Literature, S. 153-167, hier S. 159. 79 | Anonymus: »Interrogation Log Detainee 063«, siehe http://content.time.com/ time/2006/log/log.pdf, S. 19. 80 | Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 100. 81 | Anonymus: »Interrogation Log Detainee 063«, siehe http://content.time.com/ time/2006/log/log.pdf, S. 32.

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loser, ausgelieferter Subjekte, ja, ein Denken von Opfern einer Performance ohne Agency prinzipiell aus? Und selbst wenn dies als eine Erweiterung des Performancebegriffs verstanden werden kann, wie eingangs ausgeführt wurde, ist zu fragen: Unterstützt der Performancebegriff hier nicht gar den Gedanken einer Beteiligung der Opfer an ihrer eigenen Folterung, den Gedanken einer absurden Selbstfolter? Diesem Widerspruch gilt es begrifflich-methodisch zu begegnen, um deutlich zu machen, dass trotz oder gerade aus diesen Zweifeln heraus der Performancebegriff weiterhin in diesem Kontext fruchtbar zu machen ist. Der Begriff der Performance ist nämlich gerade aus den genannten Gründen für die weitere analytische Beschreibung unverzichtbar, zeigt er doch die extremen Tendenzen der Sauberen Folter zu Perfidität und Perversion deutlich in diesem Widerspruch an. Die Verwendung des Begriffs macht außerdem denkbar, dass die Beteiligung von Ko-Subjekten an Performances destruktive Dimensionen beinhalten kann. Die einzige Bedingung für die weitere Spurensuche nach der Sauberen Folter mit einem der zeitgenössischen Performancekunst und -theorie entstammenden Begriffsinstrumentarium ist daher ein stetes Bewusstsein um diese Perfidität, ein Bewusstsein, das nicht dem Denken der Folterer folgt, sondern das Denken der Folterer verfolgt. Denn wie denken die Folterer ihre Opfer, wenn man auf die vorangegangenen Suchbewegungen zurückblickt? Wie beziehen sich die Täter auf ihre Opfer? Sie sehen sie als Beteiligte an ihrer eigenen Folterung, sie sehen sie als ihre eigenen Selbstfolterer, die für Schmerzen und Leiden selbst verantwortlich sind. Darüber hinaus machen Folterer ihre Akte der Wirklichkeitskonstitution in hohem Maße von ihrem Opfer abhängig. Deutlich wird das im letzten dem Verhör vorgeschalteten Prozess den so genannten Screenings 82. Die Folterhandbücher und auch das US Army Field Manual skizzieren eine Theorie, laut derer vermittels der gezielten Beobachtung und Befragung des Opfers dessen Persönlichkeitszüge in sämtlichen Facetten erschlossen werden können, um – was bereits anhand der KUBARK-Formulierung »match method to source«83 vermutet werden kann – besonders wirksame Foltertechniken für das Verhör zu selektieren. Das Human Resources Exploitation Training Manual spezifiziert: »Screening is the process of obtaining background biographical and psychological data from subjects in order to determine future handling.«84 Es ist das US Army Field Manual, das an ähnlicher Stelle noch konkreter benennt, was bereits vermutet wurde: »The screening is a […] formal process in which the screener attempts to obtain basic biographic data, areas of general knowledge,

82 | KUBARK, S. 15ff, 30ff. 83 | Ebd., S. 65 84 | Vgl. HRETM, S. 52.

5. Suchbewegungen III

source cooperation, and vulnerability to select approach techniques […].«85 Eine Studie mit ehemaligen Guantánamo-Häftlingen zum medizinisch-psychologischen Nachweis der Folter belegt dies schließlich: »BSCT psychologists identified the detainee’s psychological and social vulnerabilities; they monitored his interrogations and advised interrogators on how to achieve the ultimate goal of breaking him down psychologically.«86 Die Exploration der Persönlichkeit des Häftlings umfasst zunächst die Dokumentation biografischer Eckdaten, die prägende Ereignisse etwa der Kindheit, aber auch seine Bindungen und Beziehungen in der Vergangenheit umfassen: E. The task of screening is made easier by the fact that the screener is interested in the subject. Most subjects will speak with some freedom about childhood events and familiar relationships. […] F. If the screener can put the subject at ease, he is unlikely to feel that a casual conversation about himself is dangerous. For example, routine questions about school, teachers, employers, or group leaders will lead the subject to reveal how he feels about his parents, superiors, and others of emotional consequence to him because of associative links in his mind. 87

Es fällt auf, dass vor allem nach Beziehungsstrukturen gefragt wird – nicht etwa nach der Schulbildung oder dem Ausbildungsgrad, sondern nach den Beziehungen zu ehemaligen Lehrern, nicht nach bisherigen Arbeitsverhältnissen, sondern nach den Beziehungen zu ehemaligen Vorgesetzten. Bis in die Umstände der Geburt des Häftlings reichen hier die Ermittlungen und deren Deutungen: »child of a middle-aged woman (a so-called ›change-of-life baby‹)«88, lautet eine davon. Diese fokussierten Ermittlungen ermöglichen es laut der Handbücher, den Gefangenen in Persönlichkeitskategorien (»Personality Categories«89) einzuordnen, welche die Selektion von Verhör- und Foltermethoden weiter erleichtern. Es gilt dazu, neben biografischen Daten auch ein körperliches Ausdrucksarsenal des Häftlings zu beobachten und zu dokumentieren. Körper-

85 | US Army Field Manual (FM 2-22.3), S. 6-9. 86 | Vincent Iacopino/Stephen N. Xenakis: Neglect of Medical Evidence of Torture in Guantánamo Bay: A Case Series. In: PLoS Medicine, Vol. 8, 04/2011, o.S., hier S. 3, siehe www.voltairenet.org/IMG/pdf/Neglect_of_Medical_Evidence_of_Tor-ture_in_ Guanta_namo.pdf. 87 | HRETM, S. 54. 88 | KUBARK, S. 23. 89 | Ebd., S. 19.

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liche Aktivitäten wie Gestik und Mimik werden als materielle »körperliche Spuren«90 gelesen: [T]he voice projects tension, fear, dislike of certain topics, and other useful pieces of information. It is also helpful to watch the subject’s mouth, which is as a rule much more revealing than his eyes. Gestures and postures also tell a story. […] A ›cold sweat‹ is a strong sign of fear […]. (3) A pale face indicates […]. (4) A dry mouth denotes […]. (7) A slight gasp, holding the breath, or an unsteady voice may betray […]. (10) The movement of the foot when one leg is crossed over the knee of the other can serve as an indicator.91

Die Deutung sämtlicher biografischer und körperlicher Spuren erfolgt nun auf hochgradig schematischem Wege, denn es sind insgesamt lediglich neun Persönlichkeitskategorien, denen der Häftling zugeordnet werden kann. Diese geben Hinweise auf seine Schwächen und Ängste, auf die im Verhör angespielt werden kann. Gefangene gelten etwa als »The orderly-obstinate character«92, wenn sie auffällig intelligent sind und ordentlich und beherrscht auftreten. Die Deutung dieser körperlichen Spuren und Hinweise lautet: »The orderly-obstinate character considers himself superior to other people. […] It will probably prove rewarding if the room and the interrogator look exceptionally neat.«93 Dahingegen fallen positiv und auffallend fröhliche Häftlinge der Kategorie »The optimistic character«94 zu: »This kind of source is almost constantly happy-golucky, impulsive, inconsistent, and undependable. […] He is not able to withstand very much pressure. […] optimistic characters respond best to a kindly, parental approach.«95 Gefangene hingegen, die als außerordentlich passiv eingestuft werden oder sogar Anzeichen von Depressionen aufweisen, seien der Kategorie »The greedy, demanding character«96 unterzuordnen. Ihnen sei mit ähnlichen Mitteln zu begegnen: »Adopting the tone of an understanding father or big brother is likely to make the subject responsive.«97 90 | Willems: »Theatralität als (figurations-)soziologisches Konzept«, in: Ders. (Hg.): Theatralisierung der Gesellschaft. Band 1, S. 75-112, S. 78. Als Vorläufer dieses Verfahrens könnten die Gebärdenprotokolle in Inquisitionsverfahren gelten. Bereits zu dieser Zeit existierten Verhörhandbücher für die Inquirenten, in denen Verdächtige als in Gänze deutbare Objekte gezeichnet werden und die es auf diesem Wege zum Geständnis zu zwingen und zur Unterwerfung zu bringen galt. 91 | KUBARK, S. 55f. 92 | KUBARK, S. 21. 93 | Ebd. 94 | Ebd., S. 22. 95 | Ebd., S. 23. 96 | Ebd. 97 | Ebd.

5. Suchbewegungen III

KUBARK beschreibt ferner einen ängstlichen, selbstbezogenen Charakter, »The anxious, self-centered character«, als häufig lügende, weil sensible Person, die häufig auf Techniken des Schweigens anspreche. Zu unterscheiden sei diese Kategorie von einem in der Kindheit vernachlässigten und daher unsicher auftretenden Gefangenen: »The guilt-ridden character. This kind of person has a strong cruel, unrealistic conscience. His whole life seems devoted to reliving his feelings of guilt. […] He is often caught up completely in efforts to prove that he has been treated unjustly.«98 Hier mahnt das Handbuch zur Vorsicht: »The guilt-ridden character is hard to interrogate. […] The complexities of dealing with conscience-ridden interrogatees vary so widely from case to case that it is almost impossible to list sound general principles.«99 Eng verwandt sei dieses Persönlichkeitsprofil mit »The character wrecked by success. […] This sort of person cannot tolerate success and goes through life failing at critical points. […] He frequently projects his guilt feelings […]. [T]he interrogation impinges upon their feelings of guilt […].«100 Sogar ein schizoides Profil wird aufgeführt: »As an interrogatee the schizoid character is likely to lie readily to win approval. He will tell the interrogator what he thinks the interrogator wants to hear in order to win the award of seeing a smile on the interrogator’s face.«101 Ein solcher Häftling wird aufgrund seiner vermuteten Unfähigkeit ernsthafte Beziehungen zu knüpfen, als geheimdienstlich unverlässliche Quelle gehandelt. Schließlich hält KUBARK eine Kategorie für Gefangene bereit, die keiner Kategorie zuzuordnen sind und sich daher auch selbst – nach Deutung des 98 | Ebd., S. 25. 99 | Ebd. 100 | Ebd., S. 26. 101 | Ebd., S. 27. Hier drängen sich Parallelen zur empirischen Sozialforschung auf, die den Begriff des sozial erwünschten Verhaltens als Störfaktor in Interviewsituationen kennt, sowie zur Persönlichkeits- und differentiellen Psychologie, die sich mit Persönlichkeitseigenschaften auseinandersetzen. Im Gegensatz zur Allgemeinen Psychologie, die psychologische Gesetzmäßigkeiten erforscht, entwickelt und bezieht die Persönlichkeitspsychologie auch theoretische Persönlichkeitsmodelle ein – als deren früher Vorläufer gilt die Erfahrungsseelenkunde im 18. und 19. Jahrhundert. Bis in die 1960er Jahre hinein galten diese Forschungen als Charakterkunde, die wiederum auch als Typenlehre verstanden wird. Sie geht von Mustern zusammenhängender Charakteristika aus, die vermittels statistischer Methoden ermittelt und als Typen untersucht werden können. Die Spuren zur Folterforschung ergeben sich hier nicht nur aus der zeitlich parallelen Entwicklung von Sauberer Folter und Persönlichkeitspsychologie. Dass Psychologen im Verlauf von Verhörsituationen anwesend waren, gilt als belegt. Vgl. Rainer Mausfeld: »Foltern für das Vaterland. Über die Beiträge der Psychologie zur Entwicklung von Techniken der ›weißen Folter‹« siehe www.uni-kiel.de/psychologie/psychophysik/ mausfeld/Mausfeld_Psychologie %20und %20Folter.pdf von April 2009.

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Handbuchs – als Ausnahmeerscheinung begreifen: »The exception believes that the world owes him a great deal. He feels that he suffered a gross injustice, usually early in life, and should be repaid.«102 Die Einordnung des Häftlings in Persönlichkeitskategorien, seine systematische Beobachtung und Befragung, die Deutung seiner körperlichen Spuren und Hinweise stellt den letzten dem Verhör vorgeschalteten Prozess dar. Kombiniert wird dieser Prozess mit Akten der Erniedrigung, was aus einer Vielzahl von Zeugenaussagen hervorgeht. So berichtet der ehemalige Guantánamo-Häftling Khalid Mahmoud al-Asmar: Sie schnitten uns die Kleider durch, und wir waren stundenlang nackt. Sie haben uns untersucht, Speichelproben genommen, uns fotografiert und unsere Fingerabdrücke genommen. Dort sind unsere Köpfe kahlgeschoren und unsere Bärte abrasiert worden. […] Diese Maßnahmen dauerten die ganze Nacht.103

Sensibilitäten und Verwundbarkeiten des Gefangenen werden also im Prozess des Screenings zu unsichtbaren Waffen, die sich im Verhör performativ gegen ihn richten: »It means, ideally, getting to know the subject better than he knows himself and then manipulating him by […] flattering, misleading, and nudging his or her perception of the truth slightly off center.«104 Es hat sich gezeigt, dass das Verhör durch die wiederholt aktualisierten Parameter der Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Körperlichkeit bereits als Situation zu foltern vermag. Die Gestaltungen destruktiver Räumlichkeit und Zeitlichkeit werden nicht nur körperlich wirksam, sondern assoziieren sich auch mit einer Körperlichkeit von Akteuren, die entweder Performances der Folter vollziehen oder auf die diese sich strategisch ausrichten. Die Folter mentaler Desorientierung schließt sich damit an die Praktiken der bereits im Vorfeld des Verhörs vollzogenen sensorischen Desorientierung an, die sich – was erinnert, mitgedacht und berücksichtigt werden muss – auch noch im Verlauf des Verhörs durch Hooding, Dunkelheit und Lichtbombardement, Musik- oder Thermofolter im Verhörraum fortsetzt. Jene theoretische Trias der Körperlichkeit, Räumlichkeit und Zeitlichkeit der Folter, »[…] die visuellen Details, Gesten, Farben und Lichtstrukturen, die Materialität der Dinge, Kostüme und räumliche Beziehungen bilden mit den exponierten Körpern ein komplexes Geflecht von Anspielungen und Echos […].«105 Und eben diese aus dem Kontext 102 | KUBARK, S. 27. Es folgt zuletzt eine sehr kurze Beschreibung des »average or normal character«, bei dem jedoch die Notwendigkeit einer individuellen Selektion von Verhör- und Foltertechniken prinzipiell verneint wird. Ebd., S. 28. 103 | Willemsen: Hier spricht Guantánamo, S. 43. 104 | Bruning/Alexander: How to Break a Terrorist, S. xii. 105 | Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 199.

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von Theaterdiskursen herausgehobenen Anspielungen und Echos sind es, die auf inszenatorischen Wegen eine Wirklichkeit des Verhörs konstituieren, eine Wirklichkeit, die zu foltern bestimmt ist. Die grundlegende Differenz zu den bisher untersuchten symbolischen Praktiken der Sauberen Folter besteht jedoch in der unstrittigen Anwesenheit von Subjekten, die sich in solchen Situationen aufeinander beziehen, im prozessualen Verlauf der vier Phasen des Verhörs: »›[Q]uestioning‹ is a complicated process involving the interaction of two personalities – that of the questioner and that of the subject.«106 Diesen konkreten Situationen, den Performances der Sauberen Folter und ihren mannigfaltigen Dynamiken zwischen Folterer und Folteropfer sind die folgenden Ausführungen gewidmet.

5.4 S ituationen im V erhör : The C ycle of I ntelligence Die erste Phase des Verhörs wird in den Folterhandbüchern als »The Opening«107 und im US Army Field Manual als »Approach Phase«108 bezeichnet und nur kurz ausgeführt. Auch die darauffolgende Phase wird in den Handbüchern nur am Rande erwähnt, da sie lediglich eine Möglichkeit der intensivierten Wiederholung des Screenings dient: »The Reconnaissance. If rapport has been established and the subject is cooperative, then this phase can be bypassed.«109 In der Lektüre dieser Hinweise stoßen die Suchbewegungen auf den Grund dafür, dass das Screening sich auf die Freilegung von Beziehungsstrukturen des Häftlings konzentriert. Der Verhörende widmet sich dem Aufbau einer perfiden Vertrauensbeziehung zum Gefangenen: »How long the opening phase continues depends upon how long it takes to establish rapport […]«110, heißt es im Human Resources Exploitation Training Manual, und das US Army Field Manual führt aus: »The […] collector’s objective during this phase is to establish a relationship with the source.«111 Einfache Mittel werden in diesem Prozess verwendet: »So simple a matter as greeting a subject by his name at the opening of a session establishes in his mind the comforting awareness that he is considered as a person, not a squeezable sponge.«112 Neben verbalen Strategien wird Körpersprache, die Körperlich106 | HRETM, S. 8. 107 | Ebd., S. 76. 108 | US Army Field Manual (FM 2-22.3), S. 139. 109 | HRETM, S. 78. 110 | Ebd., S. 77. 111 | US Army Field Manual (FM 2-22.3), S. 140. 112 | HRETM, S. 37.

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keit des Verhörenden, gezielt eingesetzt. Das körperliche Ausdruckspotential des Verhörenden setzt diese Beziehung auf eine Weise in Szene, die sie immer wieder aufs Spiel setzt und gefährdet, wieder auf baut und aktualisiert oder vernichtet. Das US Army Field Manual macht dazu detaillierte Vorgaben: Based on planning and preparation, the […] collector may decide to adopt a stern posture. He presents himself as a person in a superior position to the interrogation source and demands proper deference and obedience by the interrogation source. […] This posture can have negative results since many persons […] have developed mechanisms for dealing with superiors […]. In most cases, either initially or after the interrogation source has begun answering questions, the […] collector addresses the interrogation source in a friendly fashion, striving to put him at ease. […] He must not show distaste, disgust, or unease at anything the source says unless that reaction is a planned part of the approach strategy. […] The […] collector must support his verbal approaches with appropriate body language.113

Hier klingt bereits das strategische Manipulationspotential der mentalen Desorientierung an, das sich in der Fähigkeit der darstellenden Realisierung von körperlichen Ausdrücken des Verhörenden verbirgt. Diese Beziehung wird im weiteren Verlauf des Verhörs, in der Phase des »Detailed Questioning«114, nämlich als ein Konstrukt gedacht, das aufgebaut werden kann, um benutzt und anschließend zerstört zu werden. Im Verlauf dieser Phase steigt der psychische Druck der Praktiken mentaler Desorientierung sukzessive an, bis er unerträglich wird – »in an approximate order of increasing pressure, but individual application«115. Der ehemalige Guantánamo-Häftling Moazzam Begg bezeichnet diese Phase des Verhörs als »playing mind games«116. Er berichtet sowohl von Täuschungsmanövern und Erniedrigungen, Drohungsszenarien und Scheinhinrichtungen als auch von den Techniken des so genannten selbst zugefügten Schmerzes durch Stresspositionen. In den Handbüchern werden die traumatischen Wirkmechanismen dieser Techniken aufgeschlüsselt: The effectiveness of most of the non-coercive techniques depends upon their unsettling effect. The aim is to enhance this effect, to disrupt radically the familiar emotional and psychological associations of the subject. When this aim is achieved, resistance is seriously impaired. There is an interval – which may be extremely brief – of suspended 113 | US Army Field Manual (FM 2-22.3), S. 143. 114 | KUBARK, S. 60ff. 115 | Ebd., S. 65. 116 | Moazzam Begg: Enemy Combatant: A British Muslim’s Journey to Guantánamo and Back, London: Free Press 2006, S. 2.

5. Suchbewegungen III animation, a kind of psychological shock or paralysis. It is caused by a traumatic or sub-traumatic experience which explodes, as it were, the world that is familiar to the subject as well as his image of himself within that world. Experienced interrogators recognize this effect when it appears and know that at this moment the source is far more open to suggestion, far likelier to comply, than he was just before he experienced the shock.117

Die Traumatisierung des Häftlings wird ausdrücklich als zentraler Bestandteil des Verhörs benannt. Erreicht wird sie durch die im Screening entworfene individuelle Kombinatorik der Techniken mentaler Desorientierung. Sie werden dazu in sequenzielle Abfolgeordnungen des Verhörs (sessions) gebündelt, welche beständig rearrangiert werden – etwa durch die Auswechselung von Akteuren oder der räumlichen Umgebung des Häftlings.118 In diesem Arrangement vollziehen sich die Performances im Verhör, hervorgebrachte Situationen, die als traumatische Wirklichkeiten unüberprüf bar sind. Zur verbesserten Übersichtlichkeit können die Performances im Verhör verschiedenen Unterkategorien zugeordnet werden, innerhalb derer sie im Folgenden näher beschrieben und analysiert werden. Techniken der Konfusion durch verbale Angriffe steigern ihre Radikalität hin zu Techniken der Erniedrigung. Diese involvieren zunehmend strategische Rollenspiele, die Täuschungsmanöver erlauben. Drohungsszenarien gipfeln in grausamen Perversionen jener Wirklichkeit, die durch diese Performances erst geschaffen wird.

5.4.1 Performances der Konfusion und Erniedrigung Die Suchbewegungen nach einer Sagbarkeit der Techniken mentaler Desorientierung auf den Spuren einer analytischen Theatralität stoßen zunächst auf deren Titel, die geradezu an Theaterproduktionen erinnern. Das Handbuch KUBARK beschreibt etwa die Technik »Alice in wonderland«119, in der mehrere Verhörende einem Gefangenen simultan unzusammenhängende Fragen stellen, die bereits in sich keinen Sinn ergeben. Ferner variieren Stimmhöhe 117 | KUBARK, S. 65f. 118 | Bereits dies gilt als legitime Technik der Desorientierung, wenn der Wechsel räumlicher Gegebenheiten mit einer Steigerung oder Reduktion von Komfort verbunden ist und damit Wirkungen wie die Steigerung oder Reduktion des Unwohlseins forciert: »R: Change of Scenery Up: Removing the detainee from the standard interrogation setting (generally to a location more pleasant, but no worse). S. Change of Scenery Down: Removing the detainee from the standard interrogation setting and placing him in a setting that may be less comfortable.« Sanchez-Memorandum, S. 4. 119 | KUBARK, S. 76.

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und Tonlage der Fragenden und stehen mit dem Inhalt der Fragen in keinem Zusammenhang: When the subject enters the room, the first interrogator asks a double-talk question – one which seems straightforward but is essentially nonsensical. Whether the interrogatee tries to answer or not, the second interrogator follows up (interrupting any attempt to response) with a wholly unrelated and equally illogical query. Sometimes two or more questions are asked simultaneously. Pitch, tone, and volume of the interrogators’ voices are unrelated to the import of the questions. No pattern of questions and answers is permitted to develop, nor do the questions themselves relate logically to each other. In this strange atmosphere the subject finds that the patterns of speech and thought which he has learned to consider as normal have been replaced by an eerie meaninglessness.120

Alle Versuche des Gefangenen, eine Sinnhaftigkeit der hervorgebrachten Situation zu dechiffrieren und auf diese zu reagieren, müssen letztlich frustrieren und scheitern: »[…] as the process continues, day after day if necessary, the subject begins to try to make sense of the situation, which becomes mentally intolerable.«121 Das Handbuch spielt hier sogar auf einen performativen Prozess an, der die Destruktion und Konstitution einer Wirklichkeit andeutet: »The confusion technique is designed not only to obliterate the familiar but to replace it with the weird.«122 Im Human Resources Exploitation Training Manual wird diese Technik der gezielten Verwirrung unterteilt in »Unanswerable Questioning«123,«Nonsense Questioning«124 und »Rapid Fire Questioning«125 – letztere legitimiert auch das Sanchez-Memorandum für das Verhör. Eine abgeschwächte Version wird im Working Group Report des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums aus dem Jahr 2003 als »Repetition Approach«126 aufgeführt. Eine vom damaligen Rechtsberater des Weißen Hauses William Haynes eingesetzte Arbeits-

120 | Ebd. 121 | Ebd. 122 | Ebd. 123 | HRETM, S. 95. 124 | Ebd., S. 108. 125 | Ebd., S. 109. 126 | Working Group Report on Detainee Interrogation in the Global War on Terrorism: Assessment of Legal, Historical, Policy, and Operational Considerations, vom 04.04.2003, vorliegend via National Security Archive der George Washington University. Exzerpt in: Greenberg/Dratel (Hg.): The Torture Papers. The Road to Abu Ghraib. S. 286-359.

5. Suchbewegungen III

gruppe widmete sich in diesem Bericht der Erarbeitung eines Leitfadens zur Anwendung von Verhörtechniken in Guantánamo, Afghanistan und dem Irak. Im Handbuch KUBARK setzt sich die Konfusion in der Foltertechnik mit dem Titel »The All-Seeing Eye (or Confession is Good for the Soul)«127 fort. Auf das Bombardement unbeantwortbarer Fragen im Verhör folgen nämlich neuerliche Irritationen des Gefangenen: »[T]he interrogator knows everything already […] If the subject lies, he is informed firmly and dispassionately that he has lied.«128 Diese Technik wird im Sanchez-Memorandum als »We Know All«129 bezeichnet und wird auch im Verhörprotokoll des GuantánamoHäftlings Al-Qahtani an zahlreichen Stellen genannt.130 Die in Szene gesetzte Überlegenheit des Verhörbeamten verkehrt sich jedoch in ihr Gegenteil, wenn es heißt: »The interrogator wants to be fair. He recognizes that some of the denouncers may have been biased or malicious. […] The source owes it to himself to be sure that the interrogator hears both sides of the story.«131 Solche Techniken der beständigen Konfusion und Manipulation changieren zwischen Misstrauen und Vertrauen. Sie realisieren sich ausschließlich über verbale Akte und radikalisieren sich als solche sukzessive, wenn sie im Sanchez-Memorandum zu Akten der Erniedrigung avancieren: »I. Pride and Ego Down: Attacking or insulting the ego of a detainee«132. Diese assoziieren sich alsbald mit gestischen und mimischen Handlungen des Folterers, was sich anhand des Verhörprotokolls des Häftlings Al-Qahtani nachzeichnen lässt. Nahezu täglich vollzogene Akte der Erniedrigung forcieren die konsequente Traumatisierung. Bezeichnet wird dies als »Harsh Pride & Ego Down«133: 0100: Detainee began to cry during pride and ego down. Detainee was reminded that no one loved, cared or remembered him. He was reminded that he was less than human and that animals had more freedom and love than he does. He was taken outside to see a family of banana rats. The banana rats were moving around freely, playing, eating, 127 | KUBARK, S. 67. 128 | Ebd. Die Technik findet sich auch als »I Controll All« im Verhörprotokoll: »0515: ›Usama bin Laden as a politician‹ is discussed. Detainee complains about a picture of a 9-11 victim being taped to his trousers – received the ›I control all‹ speech from interrogator.« Anonymus: »Interrogation Log Detainee 063«, siehe http://content.time.com/ time/2006/log/log.pdf, S. 21. 129 | Sanchez-Memorandum, S. 3. 130 | Vgl. Anonymus: »Interrogation Log Detainee 063«, siehe http://content.time. com/time/2006/log/log.pdf, S. 4: »0800: SGT A covers ›What we know‹ theme«. 131 | KUBARK, S. 67. 132 | Sanchez-Memorandum, S. 3. 133 | Anonymus: »Interrogation Log Detainee 063«, siehe http://content.time.com/ time/2006/log/log.pdf, S. 10, 21, 26.

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Saubere Folter showing concern for one another. Detainee was compared to the family of banana rats and reinforced that they had more love, freedom, and concern than he had. Detainee began to cry during this comparison.134

Solche Techniken der Erniedrigung finden sich bereits im Handbuch KUBARK unter dem schlichten, aber eindringlichen Titel »Nobody Loves You«135. In der weiteren Lektüre der Handbücher fällt auf, dass die Technikbeschreibungen zunehmend detailliertere inszenatorische Handlungsanweisungen beinhalten, so dass sich bisweilen Gedanken an Drehbücher der Folter und Regieanweisungen für Folterer aufdrängen. So involviert die Technik »Joint Interrogators«136 einen freundlich agierenden und einen aggressiv agierenden Akteur und erinnert an die so genannte ›Good Cop Bad Cop-Routine‹ in den Filmklischees polizeilicher Verhörsituationen: »[…] the brutal, angry, domineering type contrasted with the friendly, quiet type«137. Sie entspricht der Technik »Mutt and Jeff«138, die im Working Group Report und im Army Field Manual zu finden ist. KUBARK enthält jedoch im Gegensatz zu diesen Handbüchern und Memoranda nicht nur vage Vorgaben, sondern stellt eine Vielzahl von darstellerischen Vollzugsmöglichkeiten dieser Technik bereit: »[T]he angry interrogator shouts down his answers and cuts him off. He thumps the table. The quiet interrogator should not watch the show unmoved but give subtle indications that he too is somewhat afraid of his colleague«139; »The angry interrogator accuses the subject of other offenses […]. He makes it plain that he personally considers the interrogatee the vilest person on earth«140. Sogar Dialogfragmente können in diese Performances integriert werden: »[T]he friendly, 134 | Ebd., S. 30. 135 | KUBARK, S. 67. 136 | Ebd., S. 72. 137 | Ebd. Vgl. zur Good Cop Bad Cop-Routine Karin Harrasser: »Interview mit Manfred Nowak, Sonderberichterstatter über Folter bei der UNO, Oktober 2006«, in: Dies./Macho/Wolf (Hg.): Folter. Politik und Technik des Schmerzes, S. 27-40, insbes. S. 30. Good Cop, Bad Cop ist eine psychologische Taktik aus vorwiegend US-amerikanischen militärischen Kreisen und wird meistens Mutt and Jeff genannt, auch in den Handbüchern. Diese Bezeichnung leitet sich von einem Comic im San Francisco Chronicle Anfang des 20. Jahrhunderts ab. Vgl. Bud Fisher/Jeffrey Lindenblatt: The Early Years of MUT T & JEFF. Forever Nuts: Classic Screwball Strips, New York: NBM Publishing 2007. 138 | Working Group Report on Detainee Interrogation in the Global War on Terrorism: Assessment of Legal, Historical, Policy, and Operational Considerations, vom 04.04.2003, S. 64, vorliegend via National Security Archive der George Washington University, S. 53, US Army Field Manual (FM 2-22.3), S. 139. 139 | KUBARK, S. 72. 140 | Ebd.

5. Suchbewegungen III

quiet interrogator breaks in to say, ›Wait a minute, Jim. Take it easy.‹ The angry interrogator shouts back, ›Shut up! I’m handling this. I’ve broken cumb-bums before, and I’ll break this one, wide open.‹«141 Und schließlich erlangen auch die gestischen Akte von Folterern einen eigenen Stellenwert in den Performances der Erniedrigung: »He expresses his disgust by spitting on the floor […].«142 Nicht nur in den Handbüchern steigt die Radikalität der Techniken sukzessive an. Das Verhörprotokoll des Häftlings Al-Qahtani offenbart eine Odyssee durch mannigfaltige Versionen von Performances der Erniedrigung. An einer Schnittstelle zwischen Strategie und Sadismus stellen sie die Auslieferung und Hilflosigkeit des Häftlings beständig vor ihm selbst aus. So verspeisen die Verhörbeamten zunächst vor seinen Augen genüsslich ein arabisches Gericht. Wenig später führen sie ihm Videos von Terroranschlägen und von der Tötung (vermeintlicher) Terroristen vor. Schließlich setzen die Folterer jene, bereits erwähnte, Geburtstagsfeier in Szene, platzieren einen Partyhut auf seinem Kopf und bieten ihm ein Stück Geburtstagstorte an. Es folgen weitere solcher absurden Performances: »In order to escalate the detainee’s emotions, a mask was made from an MRE box with a smiley face on it and placed on the detainee’s head for a few moments. […] While wearing the mask, the team began dance instruction with the detainee.«143 Das Tragen dieser »Happy Mohammed Mask«144 verleitet die Verhörbeamten dazu, eine »puppet show satirizing the detainee’s involvement with Al Qaida«145 zu performen. An dieser Stelle halten die Suchbewegungen inne und verfolgen eine auffällige Tendenz: Die Performances gründen nicht nur in einer steigenden Intensität ihres Aufführungscharakters. Sie wurden bisher auch einzig von den Folterern vollzogen, während sie zunehmend auf den Gefangenen übergreifen und dessen Aktivität erzwingen. Dieser scheint zum Darsteller in seiner eigenen, sehr realen Folterperformance zu avancieren. Doch er kann weder der Aufführung von puppet shows und birthday parties entkommen, noch kann er 141 | Ebd. 142 | Ebd., S. 72f. 143 | Anonymus: »Interrogation Log Detainee 063«, siehe http://content.time.com/ time/2006/log/log.pdf, S. 35. Hier plausibilisiert sich womöglich – ob intendiert oder nicht – die Namensgebung des Lagerblocks Tango. Vgl. Zeugenaussage der Anwälte Mark Sullivan und Joshua Colangelo-Bryan sowie dokumentierte Zeugenaussagen des Häftlings A Murbati selbst: Anonymus: »Guantánamo Bay Detainee Statements«, siehe http://humanrights.ucdavis.edu/projects/the-guantanamo-testimonials-project/ testimonies/prisoner-testimonies/guantanamo-bay-detainee-statements-al-murbati von Mai 2005. 144 | Anonymus: »Interrogation Log Detainee 063«, siehe http://content.time.com/ time/2006/log/log.pdf, S. 45. 145 | Ebd., S. 20.

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über diese verfügen – wenn er sich etwa als Hund aufführen muss: »Detainee was told he would have to learn who to defend and who to attack. Interrogator showed photos of 9-11 victims and told detainee he should bark happy for these people. […] Interrogator also showed photos of Al Qaida terrorists and told detainee he should growl at these people.«146 Diese Tendenz zeigt sich auch in weiteren Techniken der Erniedrigung, wenn dem Häftling verstörende Fotografien von Opfern der Anschläge des 11. September oder von nackten oder aufreizend gekleideten Frauen an die Kleidung geheftet werden, um ihn dann zu sportlichen Übungen zu zwingen. Der Gefangene selbst wird zu einem Akteur in grotesken Performances, die er nicht überprüfen oder verlassen kann, die keine Spielzeit haben und erst recht keine emanzipatorischen Freiheiten produzieren. Er ist gefangen in einer durch Akteure geschaffenen und durchinszenierten Foltersituation, an der er beteiligt sein muss, ohne sie mitbestimmen zu können. Grundlegende Differenzen zwischen der künstlerischen Performance und der Folterperformance treten hier offen zu Tage. Und dennoch schöpfen beide aus einem Strategierepertoire der Theatralität und Performativität, die auf produktiven oder destruktiven Wegen wirksam werden kann. Wenn sich die Suchbewegungen den Foltertechniken der Erniedrigung anzunähern suchen, so geraten auch die Folterfotografien von Abu Ghraib in den Blick, die im Jahr 2004 an das mediale und politische Tageslicht gelangten.147 Über die Fotografien, die extreme Erniedrigungen und dabei insbesondere sexuellen Missbrauch zeigen, ist viel geschrieben, berichtet und geforscht worden. In der Berichterstattung gelten sie häufig als »Symbol des Scheiterns«148 amerikanischer Außenpolitik im Zweiten Irakkrieg. Susan Sontag erinnert

146 | Ebd., S. 47. 147 | Nach der Veröffentlichung der ersten Bilder vom Folterskandal in Abu Ghraib durch den amerikanischen Fernsehsender CBS druckte keine amerikanische Tageszeitung weitere Fotografien ab. Im Mai lieferte der Fernsehsender ABC zwei neue Fotografien, Washington Post und New York Times druckten wenige weitere. Erst im Jahr 2006 tauchten plötzlich Hunderte von Folterbildern und -videos vor allem im Internet auf. Vgl. die umfassende Dokumentation auf dem Online-Portal Salon.com von Joan Walsh: »Introduction: The Abu Ghraib Files«, siehe www.salon.com/2006/03/14/introduction_2 vom 14.03.2006. Im politischen Diskurs bleiben selbst den Mitarbeitern des Präsidenten viele Fotografien vorenthalten – der sich in Beschwichtigungen versucht, einzelne Täter seien faule Äpfel im amerikanischen Obstgarten. Archive der Presseberichterstattung offenbaren: Dies ist die klassische Verteidigungsrhetorik von Regierungen, die foltern lassen. Vgl. Mark Danner: Torture and Truth, S. 20. 148 | Peter Münch: »Auf die Kriegslüge folgt die Demokratielüge«, in: Süddeutsche Zeitung vom 19.05.2010, o.S, siehe http://sz.de/1.929913.

5. Suchbewegungen III

in der Süddeutschen Zeitung an die »unbezwingbare Macht«149 von Bildern, die die Folterfotografien »wohl für immer mit diesem unmoralischen Krieg assoziiert«150. In dieser Hinsicht untersucht der Bildtheoretiker William J.T. Mitchell die Sprach- und Bildpolitiken im Kontext der Folterfotografien und stößt auf ihre christologische, poetische und repetitive Ikonizität. Wolfgang Beilenhoff hebt auf die politische Ereignishaftigkeit der Bilder ab.151 Und der Kulturhistoriker Bernd Hüppauf bezeichnet letztendlich die Fotografien als Bilder der Unterwerfung, die »die Körper der Besiegten dem Bildcode einer emanzipierten Gesellschaft«152 unterstellen. Doch die Diskurse um die Folterfotografien unterschlagen trotz eindringlicher Forschungsarbeit und deren Wichtigkeit für eine diskursive Enttabuisierung der Folter die Systematizität der Sauberen Folter. Sie konzentrieren sich nämlich auf sadistische Überschüsse einer Praxis, die sich selbst mit allen Mitteln der visuellen Darstellung verweigert: Die Techniken sensorischer Desorientierung, die Hitze und Kälte, die Musikfolter, unangenehme Gerüche und die Isolation widersetzen sich jeder Bildhaftigkeit, gerade weil sie die Vergewaltigung, das physische Eindringen in den Körper des Opfers, auf eine Ebene der leiblichen Wahrnehmung verlagern. Die mentale Desorientierung, jahrelange systematische Manipulation und das Verdrehen von Wirklichkeit, das groteske Theater der Transformation des Gefangenen in einen Akteur der eigenen Folterung bis zur Zerstörung von Persönlichkeiten lassen sich kaum visuell in Szene setzen. Die Konzentration auf Skandalbilder verhindert eine Aufmerksamkeit für dieses Repertoire der Folter, das dem psychischen Brechen von Subjekten gewidmet ist und seit den 1960er Jahren bis heute an Militärakademien der westlichen Demokratien gelehrt wird. Dabei besteht ein grundlegender (und nicht wertender!) Unterschied zwischen einem systemischen Fundament der Folter und ihren sadistischen Überschüssen. Die Entstehungsgeschichte dieser Bilder, das systematische Lehren und Lernen von spurlosen Foltertechniken im Verhör durch Handbücher, bleibt durch die visuelle Bannkraft von Sadismus aus dem Diskurs exkludiert. Bilderlose Berichte zur Sauberen Folter von Journalisten oder den Sonderermittlern etwa der Vereinten Nationen erlangten kaum nennenswerte Resonanz in medialen Diskursen, während die Folteriko149 | Susan Sontag: »Endloser Krieg, endloser Strom von Fotos«, in: Süddeutsche Zeitung vom 19.05.2010, o.S, siehe http://sz.de/1.914679. 150 | Ebd. 151 | Vgl. Beilenhoff: »Bild-Ereignisse: Abu Ghraib«, in: Schneider/Bartz (Hg.): Formationen der Mediennutzung, S. 79-96. 152 | Bernd Hüppauf: »Foltern mit der Kamera. Was zeigen die Fotos aus dem IrakKrieg?«, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 24 (2004), S. 51-59, hier S. 52.

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nografien sich zwischen Attraktion und Abscheu in ein globalisiertes visuelles Gedächtnis eingeschrieben haben. Die Macht der Bilder absorbiert Aufmerksamkeit. Fotografische Inszenierungen aktivieren damit zwar die Folterdebatte, doch sie deaktivieren sie zugleich, indem sie den Zugang zu tiefenstrukturellen Hintergründen versperren. Die verstörende Bilderflut führt geradezu zur paradoxen Bilderlosigkeit der Sauberen Folter. Ein einziger Aspekt der Folter auf Fotografien soll daher hier aufgegriffen werden, wenn sich die Suchbewegungen einer Beschreibung dicht am Phänomen der Sauberen Folter in Zellen und Verhörräumen verpflichten. Durch den Akt des Fotografierens nämlich friert die Kamera eine »ethische und ästhetische Erniedrigung«153 des Häftlings im Bild ein, speist sie in Kommunikationsnetze ein und lässt sie unwiderruflich und unkontrollierbar proliferieren.154 Die Scham der Opfer erlangt über diese Verkettung eine mediale Unsterblichkeit, die Bilder bringen die Folter immer wieder hervor, aktualisieren sie in immer neuen (Augen-)Blicken – was den Folteropfern im gewaltsamen Moment des Schießens von Bildern vermutlich bewusst ist.155 Die Folter entsteht im Bild und hängt in einer performativen Dauerschleife fest. Pervertiert wird die auf diese Weise potenzierte Erniedrigung durch das Hooding der jeder Sicht beraubten Darsteller. Die Dynamik der Erniedrigung durch das FotografiertWerden geht jedoch im Gedränge des bebilderten Sadismus unter – lediglich Beilenhoff und Hüppauf haben darauf verwiesen, dass der Akt des Fotografiert-Werdens den Einsatz der Kamera als Folterinstrument impliziert. Die Selektivität der audiovisuellen Medien darf also nicht unterschätzt werden, weder von den Kanälen der Berichterstattung selbst noch von wissenschaftlichen Diskursen. Andernfalls sind es diese Fotografien, die die Saubere Folter durch eine publizistische Konzentration auf ihre sadistischen Überschüsse weiter verschleiern und verschwinden lassen. Denn sie zeigen nicht ihre legitimierten Praktiken, sondern deren straf bare Eskalation. Durch die aktive Rolle der Medien bei der Skandalgenerierung und -produktion bewirkt

153 | Linda Hentschel: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror. Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse, Berlin: B-Books 2008, S. 7-28, hier S. 10. 154 | Über das Bild als Tat siehe Beilenhoff: »Bild-Ereignisse: Abu Ghraib«, in: Schneider/Bartz (Hg.): Formationen der Mediennutzung, Band 1, S. 79-96; Hüppauf: »Foltern mit der Kamera«, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 24 (2004), S. 51-59. 155 | Vgl. dazu Paul Virilio: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung, München: Hanser Verlag 1986. Virilio untersucht hier die Parallelitäten medientechnischer und militärischer Entwicklungen sowie in diesem Kontext die latente Aggressivität medialer Techniken und Darstellungen.

5. Suchbewegungen III

das mediale Bild zwar die gewaltige Enthüllung illegitimer Vorgänge, aber auch die Fiktion einer Sichtbarkeit der Folter. Die Suchbewegungen konzentrieren sich daher weiterhin auf die Vorgänge in Verhörräumen und Zellen, die durch Handbücher einerseits und Zeugenaussagen andererseits belegt sind. In den Zeugenberichten von Opfern der Sauberen Folter lässt sich kaum eine Aussage finden, die nicht erhebliche sexuelle Übergriffe als Teil der Erniedrigungstechniken nennt – ohne dass jedoch gesagt werden kann, was geschah.156 Es finden sich kaum konkrete Beschreibungen der Praktiken, nur wenige Details scheinen sagbar zu sein. Die Zeugen sagen in knappen Berichten nur aus, zu sexuellen Handlungen an sich und anderen Häftlingen gezwungen worden zu sein, was Gefühle der Scham und Schuld hervorgerufen habe. Auch diese Gefühle als Fundament von Erniedrigung und Entwürdigung der Opfer bleiben der Sprache entzogen: »Während dieser Zeit sind wir oft beleidigt und erniedrigt worden«157, sagt ein ehemaliger Guantánamo-Häftling aus. Ein anderes Opfer sucht bildhafte Vergleiche: »Es ist genau so, wie wenn jemand in ein Haus einbricht, alles stiehlt und das Haus zerstört […].«158 Beschreibt man die Erniedrigungstechniken als Performances der Folter, so wird das Geschehen für die Folteropfer nicht sagbar. Da die Intention der Suchbewegungen sich jedoch nicht den Entwurf einer Sprache für die Opfer anmaßt, kann zumindest eine Grundlage für die Dechiffrierung von Wirkmechanismen mentaler Desorientierung geschaffen werden. Die Performances bestehen aus einem meist spontanen, extrem körperlichen Darstellungsgeschehen, das nicht nur Folterer, sondern auch Folteropfer involviert. In hervorgebrachten Situationen wird nicht nur eine Wirklichkeit der Erniedrigung konstituiert. Es erfolgt zugleich die Perversion einer Transformation des Op156 | Vgl. Human Rights Watch: »The ›Stamp of Guantánamo‹. The Story of Seven Men Betrayed by Russia’s Diplomatic Assurances to the United States«, siehe www.hrw.org/ reports/2007/russia0307 von März 2007; Moazzam Begg: Enemy Combatant: A British Muslim’s Journey to Guantánamo and Back. Akte der Unterwerfung operieren seit jeher mit sexuellen Dispositiven, beispielsweise der rituellen Vergewaltigung als Manifest des männlichen Sieges am weiblichen Körper der Besiegten. Doch bei der Sauberen Folter »geht es nicht um machist rape und erotisches Beutemachen im klassischen Sinn, wo die Rollen von Aggression und Passivität, Lust und Erleiden klar verteilt sind«. Albrecht Koschorke: »Onaniezwang in Abu Ghraib. Über Lust als Folter«, in: Paula Diehl/Gertrud Koch: Inszenierungen der Politik. Der Körper als Medium, München: Wilhelm Fink Verlag 2007, S. 179-192, hier S. 187. Vielmehr wird ein »pornographisches Skript« zur Schau gestellt – gegenüber dem Häftling selbst, anderen Häftlingen sowie einem unbegrenzten medialen Publikum. Ebd. 157 | Willemsen: Hier spricht Guantánamo, S. 45. 158 | Ebd., S. 86.

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fers in einen Akteur der eigenen Folter – in einen Selbstfolterer, der selbst erniedrigende Handlungen vollziehen muss.

5.4.2 Performances und Rollenspiele der Täuschung In den Suchbewegungen fällt an dieser Stelle eine weitere Tendenz auf: In der inszenierten Geburtstagsfeier oder der Puppet Show im Verhör grenzen die Performances der Folterer zunehmend an zynische Spielsituationen, in denen verschiedene Rollen verteilt und nahezu dramatisch verkörpert werden. Während die Folterer als Figuren eines Rollenspiels auftreten, begründet dieses zugleich eine Wirklichkeit der Erniedrigung – Performance und dramatisches Spiel überlagern einander. So funktioniert der so genannte Student/Teacher-Approach, den das Verhörprotokoll aufführt und bei dem ein Folterer einen Arabisch-Lehrer mimt. Allerdings ist in diesen Techniken nicht sein quasi-dramatisches Rollenspiel entscheidend für die destruktive Wirksamkeit der Technik, sondern eine implizite – und nicht illusorische – Erniedrigung: »Control gives Arabic lesson to detainee. Control writes the Arabic words for ›liar‹, ›coward‹, and ›failure‹ on the wall.«159 An dieser Stelle lohnt es nicht, streng definitorisch zwischen Rollenspielen und Performances oder Inszenierungen und einer wie auch immer gearteten Realität zu differenzieren. Für das Folteropfer konstituiert sich eine täuschende Wirklichkeit, während der Folterer eine Wirklichkeit der Täuschung konstituiert. Die theatralen und ästhetischen Mittel des Rollenspiels und der Performance ergänzen sich hier, beides schließt einander nicht aus. Es lässt sich vermuten, dass gerade das Verschwimmen von Grenzen maßgeblich an der mentalen Desorientierung teilhat. Es bleibt hochgradig unklar, wie die Handlungen einzuordnen sind und auf welche Weise sie sich wann vollziehen – sowohl seitens des Folteropfers als auch in den Suchbewegungen der analytischen Beschreibung. Dieser Aspekt des Scheiterns ist somit aber eindeutig als performativ zu charakterisieren. Es lässt sich festhalten, dass die Täuschungsmanöver der Sauberen Folter sich durch körperlich-darstellerische Akte auszeichnen (»[T]he individual body remains at the center of such presentations«160), deren Ziel die mentale Desorientierung ist (»to induce certain mental states«161). Vor diesem Hintergrund wird eine Vielzahl von Foltertechniken in den Handbüchern begreiflich. KUBARK beschreibt zunächst die Technik »The Informer«162, bei der ko159 | Anonymus: »Interrogation Log Detainee 063«, siehe http://content.time.com/ time/2006/log/log.pdf, S. 14. 160 | Carlson: Performance. A Critical Introduction, S. 3ff. 161 | Ebd., S. 103. 162 | KUBARK, S. 67f.

5. Suchbewegungen III

operative Mitgefangene oder als Häftlinge kostümierte Beamte im Vorfeld des Verhörs in der Zelle des Gefangenen platziert werden: One of them, A, tries now and then to pry a little information from the source; B remains quiet. At the proper time, and during A’s absence, B warns the source not to tell A anything because B suspects him of being an informant planted by the authorities. Suspicion against a single cellmate may sometimes be broken if he shows the source a hidden microphone that he has ›found‹ and suggests that they talk only in whispers at the other end of the room.⁠163

Von solchen Täuschungen berichten auch die Opfer der Sauberen Folter in US-amerikanischen Militärgefängnissen. Sie sagen aus, dass Verhörbeamte als Spione in ihren Zellen eingesetzt wurden oder als Anwälte auftraten.164 Dies findet sich in den Handbüchern unter dem Titel »The Wolf in Sheep’s Clothing«165. So weist KUBARK den Folterer dazu an, sich als Agent eines Geheimdienstes aus dem Heimatland des Gefangenen auszugeben. Die Täuschungstechnik »The Witness«166 dehnt diesen Aufführungscharakter der Folter mentaler Desorientierung weiter aus. Nachdem nämlich der Gefangene in einen Verhörraum gebracht wird, während zum gleichen Zeitpunkt und in Sichtweite ein Mitgefangene (»an accuser«167 ) einen anderen Verhörraum betritt, vollzieht sich eine durchgeplante Aufführung: The person cast in the informer’s role may have been let out a back door at the beginning of these proceedings; or if cooperative, he may continue his role. In either event, a couple of interrogators […] now emerge from the inner office. In contrast to their earlier demeanor, they are now relaxed and smiling. The interrogator in charge says to the guard, ›O.K., Tom, take him back. We don’t need him any more.‹ […] If he continues to withhold, the interrogator may take his side by stating, ›You know, I’m not at all convinced that so-and-so told a straight story. I feel, personally, that he was exaggerating a great deal. Wasn’t he? What’s the true story?‘‘168

Das Handbuch gibt hier detailliert vor, welche Handlungen von wem und auf welche Weise zu vollziehen sind. Es determiniert, zu welchem Zeitpunkt die 163 | Ebd. Im HREM heißt diese Technik »Double Informers«. HRETM, S. 89. 164 | Vgl. beispielhaft Anonymus: »Guantánamo Memories, from Outside the Wire«, in: New York Times vom 21.06.2004, o.S.; Jeff Tietz: »The Unending Torture of Omar Khadr«, in: Rolling Stone 08/2006, o.S. 165 | KUBARK, S. 75f. 166 | Ebd., S. 68ff. Diese Technik findet sich im gleichen Wortlaut im HRETM, S. 90. 167 | KUBARK, S. 68. 168 | Ebd., S. 69f.

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Personen auf- und abtreten, sich Türen öffnen und schließen oder die Akteure lächeln. Erneut scheinen sich Rollenspiel und Performance wechselseitig zu ergänzen – es werden Dialogfragmente vorgegeben und Rollen verteilt, doch die Aufführung wird als unüberprüf bare Wirklichkeit konstituiert, ohne jede Möglichkeit zwischen dieser und einer Aufführung zu differenzieren, sich von dieser zu distanzieren und sie zu reflektieren. Das zeigt sich auch in der Technikbeschreibung zu »Joint Suspects«169. Auch hier werden mehrere Folterer einbezogen, um die Täuschung eines Häftlings (B) zu entwerfen, der vermeintlich von einem Mithäftling (A) denunziert wurde. Dieser perfide Täuschungsakt findet sich im Verhörprotokoll als »Already captured and talking-Approach«170. Das Handbuch KUBARK beschreibt diese Technik ausführlich auf rund drei Seiten, die hier nur in einem knappen Auszug dargelegt werden: The outer-and-inner office routine may also be employed. A, the weaker, is brought to the inner office, and the door is left slightly ajar or the transom open. B is later brought into the outer office by a guard and placed where he can hear, though not too clearly. The interrogator begins routine questioning of A, speaking rather softly and inducing A to follow suit. Another person in the inner office, acting by prearrangement, then quietly leads A out through another door. Any noises of departure are covered by the interrogator, who rattles the ash tray or moves a table or large chair. As soon as the second door is closed again and A is out of earshot, the interrogator resumes his questioning. His voice grows louder and angrier. […] He grows abusive, reaches a climax, and then says, ›Well, that’s better. Why didn’t you say so in the first place?‹. The rest of the monologue is designed to give B the impression that A has now started to tell the truth. Suddenly the interrogator pops his head through the doorway and is angry on seeing B and the guard. ›You jerk!‹ he says to the guard, ›What are you doing here?‹ He rides down the guard’s mumbled attempt to explain the mistake, shouting ›Get him out of here! I’ll take care of you later!‘‘171

Im weiteren Verlauf dieser Täuschungstechnik häufen sich die Anweisungen, durch leiblich vollzogene Akte die Angst und Unsicherheit des Gefangenen hervorzurufen: »Any anxious inquiries from either can be met by a knowing grin and some such reply as, ›We’ll get to you in due time. There‹ s no hurry now.‹«172 169 | Ebd., S. 70ff. Im HRETM wird diese Technik »Joint ›Questioners‹ (aka Friend and Foe)« genannt. HRETM, S. 93. 170 | Anonymus: »Interrogation Log Detainee 063«, siehe http://content.time.com/ time/2006/log/log.pdf, S. 7. 171 | KUBARK, S. 71. 172 | Ebd., S. 70.

5. Suchbewegungen III

Die Suchbewegungen stoßen zudem auf gezielt eingesetzte Dinge als Requisiten der Foltersituation – Tische, Stühle und Aschenbecher werden in der oben beschriebenen Technik szenisch eingesetzt. In weiteren Täuschungen werden gefälschte Geständnisse auf Papier, Unterschriften oder Mitschnitte fingierter Geständnisse von Mitgefangenen präpariert und verwendet. Sie sind gar die Grundlage der Technik »False Flag«173, die der Einschüchterung des Häftlings dient. Dossiers mit leeren Blättern suggerieren dabei das Vorliegen von Geständnissen oder umfangreichen belastenden Unterlagen. Im Verhör des Gefangenen Al-Qahtani wird diese Technik auch »Circumstantial Evidence Theme«174 genannt: »The Detainee stared at all of the documents and was visibly shaken.«175 Sogar Bildschirme, die im Verhörraum arrangiert werden, können als solche Requisiten der Folter gelten. So präsentieren die Folterer ihren Opfern etwa Videosequenzen von Häuserbombardements als vermeintliches Beweismaterial der Ermordung von Familienmitgliedern des Gefangenen. »Love is the ultimate weapon«176 heißt diese grausame Methode der Desorientierung im Bericht eines ehemaligen Verhörbeamten, der als Anleitung zum psychologischen Brechen eines Gefangenen gelesen werden kann. In »How to break a terrorist«177 beschreibt dieser eine ähnliche Technik mit dem Titel »Love of Family«178: Durch das Screening wisse der Verhörende um die Existenz etwa von Kindern des Gefangenen. Er gebe im Verhör vor, dass eines dieser Kinder in großer Gefahr sei: »Your son doesn’t have to die […]. We can protect you and your family.«179 Folgt weiterhin die Aussageverweigerung des Gefangenen, so sei wenig später ein weiterer Beamter hinzuzuziehen, der den Raum mit der Botschaft betrete, es sei eine Autobombe im Heimatviertel des Gefangenen explodiert – und es gebe ein Todesopfer im Alter des Sohnes. Für Foltertechniken, die auf dem Gefühl der Liebe als Waffe der mentalen Desorientierung basieren – und auf der strategischen Aufführung, die dies 173 | Vgl. Working Group Report on Detainee Interrogation in the Global War on Terrorism: Assessment of Legal, Historical, Policy, and Operational Considerations, vom 04.04.2003, S. 64, vorliegend via National Security Archive der George Washington University, S. 84; US Army Field Manual (FM 2-22.3), S. 139. 174 | Anonymus: »Interrogation Log Detainee 063«, siehe http://content.time.com/ time/2006/log/log.pdf, S. 2. Das Phifer-Memorandum aus dem Jahr 2002 listet diese Technik als Technik mittlerer Intensität: »The use of falsified documents or reports.« Phifer-Memorandum, S. 3. 175 | Ebd. 176 | Bruning/Alexander: How to Break a Terrorist, S. 60. 177 | Ebd. 178 | Vgl. ebd., S. 44ff. 179 | Ebd. S. 47f.

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thematisiert –, haben auch die Memoranda aus dem US-amerikanischen Weißen Haus einen Namen. Das Sanchez-Memorandum bezeichnet sie als »Emotional Love: Playing on the love a detainee has for an individual or a group.«180 Das Phifer-Memorandum kategorisiert sie weitaus radikaler als eine der »category III techniques«181, als Technik hoher Intensität: »The use of scenarios designed to convince the detainee that death or severely painful consequences are imminent for him and/or his family«182. Einen erheblichen Stellenwert muss hier der Androhung möglicher Gefahren für Leib und Leben nicht nur des Häftlings, sondern vor allem seiner Angehörigen, Freunde oder auch Mithäftlinge, zugerechnet werden. Hier geht es nicht mehr primär um die strategische Täuschung und Verwirrung des Häftlings, sondern um das destruktive Potential einer Ankündigung der Folter, die sich damit performativ einleitet. Die Drohung wird daher im Folgenden als eigenständige Kategorie der mentalen Desorientierung untersucht.

5.4.3 Performative Drohungsszenarien Bereits die Folterhandbücher kennen die Drohung als Technik mentaler Desorientierung: »A threat is basically a means for establishing a bargaining position by inducing fear in the subject.«183 Das Human Resources Exploitation Training Manual offeriert sogar eine Liste potentieller Bedrohungsmöglichkeiten, darunter die Androhung der Deprivation, der Deportation in andere Lager oder auch der physischen Gewaltanwendung.184 Der Working Group Report aus dem Jahr 2003 sowie diverse Memoranda legen nahe, dass das Hervorbringen von Angst und Verzweiflung durch die Androhung etwa der Misshandlung des Häftlings, aber auch von Mitgefangenen oder Angehörigen – häufig im Beisein des Häftlings – bis heute grundlegende Techniken mentaler Desorientierung im Verhör darstellen. Der Working Group Report berichtet etwa von 180 | Sanchez Memorandum, S. 3. Im Verhörprotokoll wird die Technik mit dem Titel Love of Brothers in Cuba-Approach verwendet. Vgl. Anonymus: »Interrogation Log Detainee 063«, siehe http://content.time.com/time/2006/log/log.pdf, S. 1. Im US Army Field Manual werden sogar eine Vielzahl von Techniken unter der Überschrift »Emotional Approaches« aufgelistet. Vgl. US Army Field Manual (FM 2-22.3), S. 146. 181 | Phifer-Memorandum, S. 4. 182 | Ebd. Der US-Senatsbericht aus dem Jahr 2014 beschreibt, wie mindestens drei Gefangene damit bedroht werden, »der Mutter [des Gefangenen] die Kehle durchzuschneiden«. US-Untersuchungsbericht über das Internierungs- und Verhörprogramm der Central Intelligence Agency, hg. v. Wolfgang Neskovic, S. 38. 183 | HRETM, S. 82. 184 | Ebd. Die Möglichkeit der Androhung körperlicher Gewalt wurde im Handbuch allerdings nachträglich durchgestrichen.

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der Foltertechnik »Threat of Transfer«185, womit die Drohung der Überstellung in für ihre Grausamkeit berüchtigte Lager in arabischen Ländern gemeint ist. Das Sanchez-Memorandum nennt drei Einzeltechniken der gezielten Angsterzeugung durch Bedrohung: »E. Fear Up Harsh: Significantly increasing the fear level in a detainee. F. Fear Up Mild: Moderately increasing the fear level in a detainee. […] Y. Presence of Military Working Dog: Exploits Arab fear of dogs while maintaining security during interrogations.«186 Auch das PhiferMemorandum nennt die letztgenannte Technik der Bedrohung des Häftlings mit Hunden und stuft sie als Verhörtechnik mittlerer Intensität (category II techniques) ein: »Using detainees [sic!] individual phobias (such as fear of dogs) to induce stress.«187 Sprechakttheorien gehen von einer Macht der Drohung dadurch aus, dass die Wirkung einer Handlung bereits einsetzt, wenn sie angekündigt wird – obschon das Angekündigte sich selbst noch nicht einstellt. Das wiederum bedeutet, dass die Drohung die Handlung aufschiebt und zugleich einleitet. Judith Butler hat diese performative Kraft des Sprechakts insbesondere im Bezug auf die Drohung auf den Punkt gebracht. Obgleich diese nicht unmittelbar die Handlung ist, auf die sie hinweist, ist sie immer noch ein Akt, nämlich ein Sprechakt. Dieser Sprechakt kündigt nicht nur die kommende Handlung an, sondern zeigt eine bestimmte Kraft in der Sprache auf, eine Kraft, die eine nachfolgende Kraft sowohl ankündigt wie bereits einleitet.188 [Herv. i. O.]

Ein implizites Wissen um diese destruktiven Dimensionen performativer Wirkungsmächte kann in den Handbüchern freigelegt werden: »The threat to inflict pain […] more damaging than the immediate sensation of pain […] whereas the materialization of the fear […] is likely to come as a relief«189, heißt es im Handbuch KUBARK. In einem ähnlichen Wortlaut greift dies das Human Resources Exploitation Training Manual auf: »The threat of coercion usually weakens or destroys resistance more effectively than coercion itself. The threat to inflict pain, for example, can trigger fears more damaging than the

185 | Working Group Report on Detainee Interrogation in the Global War on Terrorism: Assessment of Legal, Historical, Policy, and Operational Considerations, vom 04.04.2003, S. 64, vorliegend via National Security Archive der George Washington University, S. 64. 186 | Sanchez-Memorandum, S. 3ff. 187 | Phifer-Memorandum, S. 4. 188 | Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin: Berlin Verlag 1998, S. 20. 189 | KUBARK, S. 90f.

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immediate sensation of pain.«190 Allerdings beschränkt sich die Destruktivität eines Sprechakts auf eine Aussage – darauf, dass etwas angekündigt wird. Die Saubere Folter geht hier einen performativen Schritt weiter und potenziert diese Wirksamkeit auf den Modus des Sprechakts hin – darauf, wie etwas angekündigt wird. Was den performativen Akt als Performance sämtlicher Akteure der Foltersituation lesbar macht. KUBARK beinhaltet etwa theatrale Anweisungen zur stimmlichen Präsentation des drohenden Sprechakts: »Threats delivered coldly are more effective than those shouted in rage«191. Ferner werden zum Zeitpunkt der Androhung physischer Gewalt Tonbänder im Nebenraum des Verhörs platziert, von dem plötzlich Schreie zu hören sind: »[T]apes of screaming women and children would be played in an adjacent room to simulate the torture of that prisoner’s family – the desired outcome being increased feelings of helplessness and despair.«192 Und schließlich wird die Drohung durch die physische Anwesenheit von Hunden vollzogen. Opfer der Sauberen Folter im Lager Guantánamo berichten von der so genannten Extreme Reaction Force oder auch Internal Reaction Force, einer Einheit von Soldaten, die nachts plötzlich mit laut bellenden Hunden in die Zellen der Gefangenen einfallen: I have witnessed the activities of the Internal Reaction Force […] which consists of a squad of soldiers that enter a detainee’s cell and brutalize him with the aid of an attack dog. The IRF invasions were so common that the term to be ›IRF’ed‹ became part of the language of the detainees. I have seen detainees suffer serious injuries as a result of being IRF’ed. I have seen detainees IRF’ed while they were praying, or for refusing medication.193

Diese Methode nutzt über die Anwesenheit der Hunde hinaus die traumatisierenden Effekte der Plötzlichkeit von Angst und Terror, die sich am zitternden Körper und in verstörten Gesichtsausdrücken ihrer Opfer manifestieren – und sie wiederholt zu Darstellern ihrer Folterung machen: »Jamal said victims of the Extreme Reaction Force were paraded in front of cells. ›It was a horrible sight and it was a frequent sight.‹«194 190 | HRETM, S. 117. 191 | KUBARK, S. 91. 192 | R. Matthew Gildner: »Psychological Torture as a Cold War Imperative«, in: Ojeda (Hg.): The Trauma of Psychological Torture, S. 23-39, hier S. 31. 193 | Anonymus: »David Hicks Affidavit«, in: Sydney Morning Herald vom 10.12.2004, o.S. 194 | Prince/Jones: »My Hell in Camp X-Ray«, in: The Mirror vom 07.05.2004, o.S. Medizinisch-psychologische Untersuchungen von Folteropfern belegen bei Häftlingen aus arabischen Kulturkreisen auffällig häufige Phobien gegenüber Hunden, da diese

5. Suchbewegungen III

Im Vollzug von Scheinhinrichtungen erreichen die Praktiken einen Höhepunkt der Radikalität. Todesdrohungen werden zwar weder in den Memoranda noch in den Handbüchern explizit aufgeführt, sind jedoch belegt in Untersuchungsberichten (»pointing a pistol at a prisoner’s head; dry-firing a pistol in a prisoner’s mouth, conducting mock executions«195) und zahlreichen Zeugenaussagen (»A guard put a gun to my head and said he was going to pull the trigger.«196) Auch hier besteht die Drohung nicht nur in einem performativen Sprechakt. Dieser wird vielmehr durch körperliche Akte unterstützt, die eine Situation der potentiellen Realisierung einer Gefahr für Leib und Leben hervorbringen. Die destruktive Performativität der Todesdrohung besteht in der terrorisierenden Aufschiebung einer Gefahr, die situativ in Szene gesetzt und damit bereits eingeleitet wird. Sämtliche Akteure bringen sich für die Realisierung der Gefahr in Stellung, das Opfer wird auf einen Hinrichtungsstuhl gesetzt oder an eine bestimmte Wand gestellt, die Pistole wird geladen und Angst erzeugt. Die Situation gipfelt in einem vorgetäuschten Begräbnis an der Schnittstelle zwischen Täuschung und Bedrohung des Häftlings.197 Wie in den bereits beschriebenen Drohungen operieren Scheinhinrichtungen auf der gezielten Erzeugung von (Todes-)Angst. Und wie die bereits beschriebenen Drohungen findet diese Dynamik keine treffenden Worte der Beschreibung in Zeugenaussagen: »The whole point […] was to get to you psychologically. The beatings were not as nearly as bad as the psychological torture – bruises heal after a week – but the other stuff stays with you.«198 Der klinische Neuropsychologe Uwe Jacobs beschreibt somatisch-emotionale Symptome, die in einer solchen Situation der Todesangst durch die Scheinhinrichtung auftreten:

dort oftmals als niedere Lebewesen gelten. Vgl. Mark Danner: Torture and Truth, S. 14f. Daraus ergibt sich wiederum die destruktive Kraft der Erniedrigung durch den Zwang der Selbstdarstellung als Hund an der Leine von Soldaten. 195 | Physicians for Human Rights/Human Rights First: »Leave No Marks – Enhanced Interrogation Techniques and the Risk of Criminality«, siehe www.humanrightsfirst.org/ wp-content/uploads/pdf/07801-etn-leave-no-marks.pdf von August 2007, S. 20. 196 | David Rose: »How MI5 Colluded In My Torture: Binyam Mohamed Claims British Agents Fed Moroccan Torturers Their Questions«, siehe http://humanrights.ucdavis. edu/projects/the-guantanamo-testimonials-project/testimonies/prisoner-testimo nies/how-mi5-colluded-in-my-torture-binyam-mohamed-claims-british-agents-fedmoroccan-torturers-their-questions vom 08.03.2009. 197 | US-Untersuchungsbericht über das Internierungs- und Verhörprogramm der Central Intelligence Agency, hg. v. Wolfgang Neskovic, S. 115. 198 | Prince/Jones: »My Hell in Camp X-Ray«, in: The Mirror vom 07.05.2004, o.S.

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Saubere Folter [A] mock execution, for example, will induce in the victim a state of extreme somatic-emotional arousal that may be accompanied by sobbing, shaking, sweating, and loss of bladder and sphincter control. This is a forced alteration of the victim’s bodily state and may be experienced by the victim as a greater assault on bodily integrity than a beating.199

Doch auch diese harren der Entschlüsselung von Wirkmechanismen, die zu diesen körperlichen Zuständen führen. Wenn die Suchbewegungen sich an dieser Stelle verlangsamen und nach Beschreibungsmöglichkeiten fragen, so könnten sie zunächst einige Kehrtwendungen vollführen. Sie könnten die Scheinhinrichtungen etwa anhand eines Ermittlungsberichts des US-Generalinspektors des Auswärtigen Amtes als Rollenspiel zu begreifen suchen: [Blackened name] staged the incident, which included screaming and yelling outside the cell […]. When the guards moved the detainee from the interrogation room, they passed a guard who was dressed as a hooded detainee, lying motionless on the ground, and made to appear as if he had been shot to death. 200

Ferner könnten sie die an den Kopf von Gefangenen gehaltene Pistole als quasi-dramatische Requisite eines szenischen Täuschungsmanövers zwischen Rollenspiel und Performance definieren: »28 December 2002 and 1 January 2003, the debriefer used an unloaded semi-automatic handgun as a prop to frighten Al-Nashiri […].«201 Überzeugender ist es jedoch, die Elemente dieser Praktiken als theatrale Mittel einer mentalen Desorientierung zu begreifen, die sich einer Einordnung 199 | Uwe Jacobs: »Documenting the Neurobiology of Psychological Torture: Conceptual and Neuropsychological Observations«, in: Ojeda (Hg.): The Trauma of Psychological Torture, S. 163-172, hier S. 165. Jacobs ist Direktor der Non-Profit-Organisation Survivors International (SI) und hat die internationalen Leitlinien für die Untersuchung von Folter mitentwickelt, die vom Obersten Kommissar der Vereinten Nationen als Istanbul Protocol (Manual on the Effective Investigation and Documentation of Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment 2004) veröffentlicht wurden, siehe www.ohchr.org/Documents/Publications/training8Rev1en.pdf von 2004. 200 | Central Intelligence Inspector General Special Review: Counterterrorism Detention and Interrogation Activities (October 2001-October 2003) (2003-7123-IG) (im Folgenden: CIA IG-Report), siehe http://graphics8.nytimes.com/packages/pdf/ politics/20090825-DETAIN/2004CIAIG.pdf vom 07.05.2005, S. 75. Der Bericht beinhaltet die Ergebnisse einer Untersuchung möglicher Verletzungen der Menschenrechte und Folterungen im Verhör von Terrorverdächtigen durch einen ungenannten ranghohen CIA-General Inspector. 201 | CIA IG-Report, S. 47.

5. Suchbewegungen III

widersetzen und die somit auch einer Bemühung um eine wissenschaftliche Definition erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Konnten die Praktiken der Erniedrigung noch als Performances gelesen werden, die durch die darstellerische physische Präsenz der Akteure destruktive Wirklichkeitskonstitution betrieben, so verwischten sich die Grenzen zwischen solchen Performances und dem Rollenspiel bereits in den Beschreibungsversuchen zu den Praktiken der Täuschung. Die Bedrohungsszenarien können nicht nur als performative Sprechakte gelesen werden, sondern involvieren ebenfalls das dramatische Täuschungsspiel und darstellerische Performances der Wirklichkeitskonstitution. Die theatralen Mittel der mentalen Desorientierung, so stellt sich heraus, zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich nicht trennscharf kategorisieren lassen, sich keinem letztgültigen Beschreibungsschema unterordnen und keinem singulären Handlungsmuster folgen. Eine komplexe Kombinatorik zeitigt hier eine multidimensionale Desorientierung, die auf jegliche Beschreibungsversuche übergreift – und die sich weiter fortsetzt, wenn sich in ihnen noch die perfiden Perversionen des selbst zugefügten Schmerzes ankündigen. Der so genannte selbst zugefügte Schmerz meint Prozesse der massiven mentalen Desorientierung durch die Umkehr von Schuld und Verantwortung: »When a threat is used, it should always be implied that the subject himself is to blame by using words such as, ›You leave me no other choice but to …‹«202 Hier wird suggeriert, dass die Realisierung einer Drohung aus einer Unterlassung des Häftlings resultiere, der nicht aussagt. Wie in den Inszenierungen der Leere gilt die Unterlassung hier als Tun, das in einer Komplizenschaft mit der eigenen Folter steht. Darin besteht eine Perversion der Schuld am eigenen Leiden, eine Aktualisierung jener Selbstfolter des Folteropfers, die bereits auf subtile Weisen in anderen Foltertechniken Sauberer Folter etabliert wurde. Diese Selbstfolter ist, wie bereits angedeutet, ein zentrales Motiv auch der mentalen Desorientierung, beinhaltet jedoch einige weitere Foltertechniken, die im Folgenden abschließend beschrieben und analysiert werden sollen.

5.4.4 Per versionen des selbst zugefügten Schmerzes Die Strategie einer vermeintlichen Selbstfolter des Opfers durchzieht sämtliche Techniken der Sauberen Folter. Die sensorische Desorientierung erzwingt die eigene körperliche Aktivität, etwa durch die körperlich-rhythmische Vibration bei der Musikfolter sowie das beständige Erinnern von Liedtexten. Die mentale Desorientierung greift eine dem Subjekt zugesprochene innerliche Emotionalität an, aus der heraus es sich selbst und ohne jede Gewalteinwirkung von außen besiege, so KUBARK – erst recht, wenn das Opfer an den Performances etwa der eigenen Erniedrigungen aktiv partizipieren muss. Diese 202 | HRETM, S. 82.

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perfide Selbstfolter verwischt die Grenzen zwischen Täter- und Opferschaft und negiert so jeden Tatbestand der Folter durch die fehlende Zurechenbarkeit von Akten der Gewalteinwirkung zu den Verhörbeamten als den sauber Folternden in geheimen Lagern. Was bisher als Motiv oder Idee der Sauberen Folter in ihren mannigfaltigen Techniken galt, wächst sich nun durch die weiteren Suchbewegungen zu einer eigenen Kategorie aus. Denn in den Handbüchern, Memoranda und Zeugenaussagen finden sich explizit als selbst zugefügter Schmerz bezeichnete Foltertechniken. Zum großen Teil sind damit Stresspositionen gemeint.203 Bei diesen Foltertechniken wird das Subjekt dazu gebracht, eine anormale Zeitdauer in einer normalen Körperposition zu verharren, was im internen militärischen Sprachgebrauch auch »smoking the prisoner«204 genannt wird. So werden Gefangene gezwungen, auf kleinen Steinen zu knien, während sie mit der Stirn den Boden berühren: »If your head wasn’t touching the floor or you let it rise up a little they put their boots on the back of your neck and forced it down. We were kept like that for two or three hours.«205 Auch schmerzhafte Verrenkungen von Gliedmaßen stellen Stresspositionen dar und können über mehrere Stunden hinweg andauern: [T]he MPs returned, forced Omar onto his knees, and cuffed his wrists and ankles together behind his back. This made his body into a kind of bow, his torso convex and rigid, 203 | In den Handbüchern sind Wendungen wie self-inflicted pain zu finden. Vgl. KUBARK, S. 94, im Verhörprotokoll wird die Technik self-inflicted suffering genannt. Vgl. Anonymus: »Interrogation Log Detainee 063«, siehe http://content.time.com/ time/2006/log/log.pdf, S. 9. In den historiografischen Beiträgen zur Sauberen Folter hat den Begriff vor allem der Historiker Alfred McCoy verwendet. Vgl. Alfred McCoy: Foltern und foltern lassen, S. 15, 124. 204 | Rejali: Torture and Democracy, S. 294. Ferner finden sich in den Testimonies zahlreiche Berichte von der Fesselung der Hände des Häftlings an den Boden des Verhörraums, in dem mehrere Stunden auf das Verhör gewartet werden muss, was bereits als Stressposition gelten kann. 205 | Sonia Verma: »Boy, 12, Recounts Days as Terror Inmate«, in: San Francisco Chronicle vom 13.02.2004, o.S., siehe http://humanrights.ucdavis.edu/projects/ the-guantanamo-testimonials-project/testimonies/prisoner-testimonies/boy-12recounts-days-as-terror-inmate/. Vgl. ferner Human Rights Watch: »The ›Stamp of Guantánamo‹. The Story of Seven Men Betrayed by Russia’s Diplomatic Assurances to the United States«, siehe www.hrw.org/reports/2007/russia0307 von März 2007; Anonymus: »Statement of Noor Uthman Muhammed at his Military Commission«, siehe http://humanrights.ucdavis.edu/projects/the-guantanamo-testimonials-project/ testimonies/prisoner-testimonies/statement-of-noor-uthman-muhammed-at-his-mili tary-commission vom 17.02.2011.

5. Suchbewegungen III right at the limit of its flexibility. The force of his cuffed wrists straining upward against his cuffed ankles drove his kneecaps into the concrete floor. The guards left. 206

Zur Stressposition des bewegungslosen Stehens, verschärft durch zu den Seiten ausgestreckte Arme, werden Häftlinge laut Zeugenaussagen bis zu 24 Stunden lang genötigt, obwohl das Sanchez-Memorandum eine maximale Dauer von vier Stunden legitimiert: »CC. Stress Positions: Use of physical postures (sitting, standing, kneeling, prose etc.) for no more than 1 hour per use. Use of technique(s) will not exceed 4 hours […].«207 Dass insbesondere diese Technik in ihrer Anwendung massiv ausgeweitet wird, belegt außerdem ein Memorandum, an dessen Rand der ehemalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld im Jahr 2003 kritzelte: »I stand for 8-10 hours a day. Why is standing limited to 4 hours?«208 Wenn die Suchbewegungen an dieser Stelle nach Wirkmechanismen dieser Techniken fragen, offenbaren sich erneute Verflechtungen. Während Techniken der sensorischen Desorientierung auch als Erniedrigungstechniken wirken und Erniedrigungen auch zur Täuschung und Verwirrung eingesetzt werden, können Stresspositionen auch zum gezielten Schlafentzug verwendet werden: »In vier der zwanzig Zellen befand sich eine Stange unterhalb der Decke. Spätere Berichte beschreiben, wie die Häftlinge mit den Händen über dem Kopf an diese Stange gefesselt und sie so zum Stehen gezwungen wurden, wodurch es den Häftlingen nicht möglich war zu schlafen.«209 Fundamental für die Verflechtungen von Foltertechniken aber ist, dass die Techniken der als selbst zugefügt deklarierten Schmerzen nicht nur das Quälen des Körpers, sondern auch eine psychologische Perversion implizieren. Zum einen entstehen immense Schmerzen durch die dauerhafte körperliche Immobilität des Opfers. Nach wenigen Stunden schwellen Gelenke und Gliedmaßen an und es bilden sich schmerzhafte Beulen im Gewebe.210 Zum anderen trägt diese Weise der Schmerzerzeugung zur massiven mentalen Desorientierung bei, was die Handbücher ausdrücklich betonen:

206 | Jeff Tietz: »The Unending Torture of Omar Khadr«, in: Rolling Stone 08/2006, o.S. 207 | Sanchez-Memorandum, S. 5. 208 | Vgl. UNCLASSIFIED ACTION MEMO FROM William J. Haynes II, General Counsel FOR SECRETARY OF DEFENSE, siehe www.defense.gov/news/Jun2004/d20040622doc5. pdf, S. 1. 209 | US-Untersuchungsbericht über das Internierungs- und Verhörprogramm der Central Intelligence Agency, hg. v. Wolfgang Neskovic, S. 108. 210 | Rejali: Torture and Democracy, S. 295; US-Untersuchungsbericht über das Internierungs- und Verhörprogramm der Central Intelligence Agency, hg. v. Wolfgang Neskovic, S. 38.

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Saubere Folter When the individual is told to stand at attention for long periods, an intervening factor is introduced. The immediate source of pain is not the interrogator but the victim himself. The motivational strength of the individual is likely to exhaust itself in this internal encounter…. As long as the subject remains standing, he is attributing to his captor the power to do something worse to him, but there is actually no showdown of the ability of the interrogator to do so. 211

Die mentale Desorientierung besteht in der Perversion von Schuld. Denn in der Erzeugung jener Schmerzen sind die Techniken darauf ausgerichtet, den Körper des Opfers als sein eigenes Folterinstrument in Szene zu setzen und ihn zur leiblichen Quelle des Schmerzes zu erklären: »It has been plausibly suggested that, whereas pain inflicted on a person from outside himself may actually focus or intensify his will to resist, his resistance is likelier to be sapped by pain which he seems to inflict upon himself.«212 Und so äußert ein Guantánamo-Häftling eben solche Gedanken, als er von der dauerhaften Anwendung von Stresspositionen berichtet: »Meine Ohren taten furchtbar weh, auch mein Kopf; mein ganzer Körper rebellierte gegen mich.«213 Wie aber funktioniert die Inszenierung des Körpers, sein gezieltes In-Szene-Setzen vor dem Subjekt selbst als seinem eigenen Feind? KUBARK verortet die Subtilität der Schuldumkehr in einem Sich-selbst-Treffen des Opfers im doppelten Sinne (»this internal encounter«214) durch den Schmerz. Dieser Schmerz impliziert die Vorstellung einer gewaltsamen inneren Begegnung des Subjekts mit seinem Körper, also mit sich selbst als dem eigenen Feind. Dafür spricht auch eine an anderer Stelle beschriebene Anweisung: »induce him to wrestle with himself«215. Im auf Dauer angelegten negativ-ästhetischen Erleben des Lagers, unter den Bedingungen der Isolation und Deprivation, des sensorischen Bombardements, der Konfusion, Täuschung und Erniedrigung im Dienste des psychologischen Brechens des Gefangenen kann dieser den durchaus vorhandenen äußeren Zwang nicht (an-)erkennen. Das führt zu massiven Schuldgefühlen, die das Handbuch als Ziel dieser Prozesse benennt: »Another condition which is most probably necessary […] for confession, is that the accused person feels guilt. A possible reason is that a sense of guilt promotes self-hostility.«216 Es verwundert nicht, dass als Folgeerscheinung dieser 211 | KUBARK, S. 94. 212 | Ebd. 213 | Mohamedou Ould Slahi: Das Guantánamo-Tagebuch, S. 63. 214 | Ebd. 215 | Ebd., S. 82. 216 | Ebd., S. 39. Hier wird eine Studie zur Natur des Geständnisses zitiert, auf die sich die Foltermethoden im weiteren Verlauf des Werks immer wieder beziehen: »Horowitz has been quoted […] because it is considered that the foregoing is a basically sound

5. Suchbewegungen III

Folter häufig die schwere Persönlichkeitsstörung der Schizophrenie diagnostiziert wird: »Pain is incorporated; your body hurts you; your own body, in pain, causes a sense of self-betrayal; your own body, the battleground, can become the ultimate weapon they can use against you.«217 In der subtilen Dynamik des Folterns verstärken sich die destruktiven Wirkungen von extremen körperlichen Schmerzen und die psychologische Perversion von Schuld wechselseitig. Das fördert einmal mehr zutage, dass die häufig ins Feld geführte theoretische Trennung von physischen und psychologischen Foltertechniken kaum durchzuhalten ist.218 Jede Erniedrigung, Täuschung oder Verwirrung zeitigt körperliche Sensationen wie Angst oder Unsicherheit, die sich somatisch niederschlagen. Ebenso verursachen Hitze und Kälte im beständigen Wechsel, ohrenbetäubender Lärm der Musikfolter oder die Isolation in winzigen Zellen oder Käfigen körperliche Schmerzen und wirken zugleich zerstörerisch auf die Psyche des Gefangenen ein. Eine gelungene Differenzierung schlägt der Historiker Darius Rejali vor, der zwischen clean torture und scarring torture unterscheidet und damit einen Schwerpunkt auf eine Spurlosigkeit von Foltermethoden am Körper legt. Denn der Schmerz ist als somatisches Phänomen – insbesondere vor dem Hintergrund aktueller neurobiologischer Forschungen – stets als auf die Psyche bezogen zu denken, während psychologische Prozesse immer auch physisch ablaufen, letztlich körperlich sind: However, the common-sense distinction between physical and nonphysical torture is rooted in one particular practical consideration. What lends legitimacy to making distinctions between the two classes of torture is not the presumed absence of physical intervention in some torture methods, but the absence of physical markers that may

account of the processes that evoke confessions from sources whose resistance is not strong at the outset, who have not previously been confronted with detention and interrogation, and who have not been trained by an adversary intelligence or security service in resistance techniques […] through the above described progression of subjective events.« Ebd., S. 40. Vgl. dazu ferner Milton W. Horowitz: »Psychology of Confession«, in: Journal of Criminal Law, Criminology, and Police Science 47 (1956), o.S. 217 | John P. Wilson/Beverly Raphael (Hg.): International Handbook of Traumatic Stress Syndromes, New York/London: Plenum Press 1993, S. 672. Vgl. zu der Vielzahl der diagnostizierten Schizophrenie-Fälle infolge von Sauberer Folter Omar Razek: »Regret and Resentment at Guantánamo«, siehe http://humanrights.ucdavis.edu/ projects/the-guantanamo-testimonials-project/testimonies/testimonies-of-militarypsychologists-index/regret-and-resentment-at-guantanamo vom 18.10.2006. 218 | Dies zeigen bereits die Titel von Sammelbänden oder Aufsätzen zum Thema wie Ojeda (Hg.): The Trauma of Psychological Torture.

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Saubere Folter become subject to direct physical examination by a physician. […] Avoidance of such physical markers is what makes hands-off torture attractive to torturers. 219

Das Fehlen von Wunden und Narben wirkt zurück auf die (Un-)Möglichkeit der Zurechnung von Gewalt, forciert die Erzeugung von Schuldgefühlen und sogar Selbsthass, denn diese Unmöglichkeit gründet im vollständigen Fehlen jeder Äußerlichkeit des Schmerzes: »All non-coercive ›questioning‹ techniques are based on the principle of generating pressure inside the subject without the application of outside force.«220 Die Saubere Folter verbietet nicht nur die Verwendung von Folterinstrumenten als (äußerlichen) Werkzeugen der Folter, sondern auch die (veräußernde) Artikulation und Visualisierung des Schmerzes der Folter durch den Körper. Stattdessen wird eben dieser Körper zum Werkzeug einer Folter, die sich abermals in einem Inneren des Häftlings einkapselt – und dadurch verschwindet. Die Bewegung des Verschwindens durch Verkapselung findet sich bereits in der sensorischen Desorientierung. Während dabei jedoch eine ästhetische Wahrnehmung ohne Verarbeitung das Trauma der Folter einkapselt, ist es in der mentalen Desorientierung des selbst zugefügten Schmerzes die Perversion von Schuld, die paradoxerweise alle Äußerlichkeit der Folter ausschließt und die Innerlichkeit ihres Traumas verabsolutiert. Diese verkapselte Verinnerlichung offenbart im Kontext der Folter eine weitere Facette der potentiellen Destruktivität von Performativität. Sie überschreitet die Grenzen des Körpers nicht nur durch körperliche Schmerzen, sondern auch durch die Verdrehung einer Wirklichkeit – indem nämlich die Schuld an diesen Schädigungen dem Opfer auferlegt wird. Der Schmerz konstituiert eine Wirklichkeit der Schuld des Folteropfers an seiner eigenen Folterung, was nicht als Perversion anerkannt und reflektiert werden kann und damit auch nicht sagbar ist. So bleibt es innerlich eingeschlossen und kann nicht veräußert und vermittelt werden. Die Verkapselung bewirkt nicht nur die Unsagbarkeit der Folter, sondern auch die Unmöglichkeit der Reflexion, denn das Trauma in einer Kapsel zu verorten bedeutet auch, beides – das Trauma wie die Kapsel – als unerkennbar zu denken. Die Wirksamkeit dieser Strategie der verkapselten Unerkennbarkeit belegen die Zeugenberichte der wenigen Folteropfer, die noch zu dieser Folter aussagen. Während die einen unter Selbstver219 | Jacobs: »Documenting the Neurobiology of Psychological Torture«, in: Ojeda (Hg.): The Trauma of Psychological Torture, S. 163-172, hier S. 165. Vgl. zu den Ausführungen ferner Ders./Vincent Iacupino: »Torture and Ist Consequences: A Challenge to Clinical Neuropsychology«, in: Professional Psychology: Research and Practice 32 (2001), S. 458-464, sowie Catani/Neuner/Wienbruch/Elbert: »The Tortured Brain«, in: Ojeda (Hg.): The Trauma of Psychologial Torture, S. 173-188, hier S. 174. 220 | HRETM, S. 84.

5. Suchbewegungen III

letzungssymptomen leiden und die Schuld für die eigene Folterung beschämt auf sich nehmen: »He started blaming himself for the things that had happened to him; he became deeply ashamed of what he had suffered«221, rechtfertigen andere gar die Handlungen ihrer eigenen Folterer: »The guards are one of the system’s victims. Some of them have signed contracts they can’t escape.«222 Interessanterweise stoßen die Suchbewegungen an dieser Stelle der Reflexion auf eine destruktive Performativität im Kontext der jüngeren Theaterwissenschaft, die sich mit der Performance- und Aktionskunst beschäftigt und dabei nahezu unvermeidlich ein ganz anderes Verständnis von selbst zugefügten Schmerzen formuliert. Wenn sich Marina Abramovic einen fünfzackigen Stern in den Leib ritzt, Chris Burden sich in den Arm schießen lässt oder über Glasscherben robbt, so wird dies als Selbstverletzungsperformance gelesen.223 Im Zentrum dieser Performances stehen selbst zugefügte Schmerzen, auch wenn diese tatsächlich von einer Person selbst zugefügt und nicht durch mittelbare Zwangssituationen hervorgebracht werden. Doch auch diese Performances setzen um einer Schmerzerfahrung willen gezielt einen gequälten Körper in Szene, der nicht einer Gewalteinwirkung von außen ausgesetzt ist. Die Selbstverletzungen liegen »jenseits jeder sprachlichen Vermittlung«224 und »es geht weniger um das Verstehen […] als um die Erfahrungen«225. Diese wiederum transformieren sämtliche an der Performance Beteiligten in Akteure einer besonderen Situation: »Denn die Handlungen […] vollzogen vielmehr genau das, was sie bedeuteten. Sie konstituieren sowohl für die Künstlerin als auch für die Zuschauer, d.h. für alle an der Performance Beteiligten, eine neue, eine eigene Wirklichkeit.«226 Schließlich scheint es auch in diesen Performances, als begegnete der Performer seinem Körper in der Selbstverletzung als einer von ihm getrennten Entität, so als treffe er sich selbst gewaltsam an seinem Körper als höchstpersönlichem Kriegsschauplatz: »Sie mißhandelte ihren Körper unter entschiedener Mißachtung seiner Grenzen.«227 221 | Jeff Tietz: »The Unending Torture of Omar Khadr«, in: Rolling Stone 08/2006, o.S. Vgl. zu den psychologischen Problemen der Häftlinge US-Untersuchungsbericht über das Internierungs- und Verhörprogramm der Central Intelligence Agency, hg. v. Wolfgang Neskovic, S. 140, 173. 222 | Eliza Griswold: »American Gulag: Prisoner’s Tales from the War on Terror«, in: Harper’s Magazine 09/2006, o.S. Interessant ist hier das Vokabular, das an Gefangenschaft erinnert und die (möglicherweise Wunsch-)Vorstellung von einer Gleichstellung von Folterer und Opfer impliziert. 223 | Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 9ff., 155ff. 224 | Matzke: Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern, S. 65. 225 | Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 17. 226 | Ebd., S. 18f. 227 | Ebd., S. 10.

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Saubere Folter

In künstlerischen Performances werden solche performativen Ästhetiken des selbst zugefügten Schmerzes allerdings als hochgradig produktiv eingestuft. Das programmatische Motiv einer »›authentischen‹ Selbsterfahrung«228 schreibt den Selbstverletzungsperformances die Funktion der kreativen künstlerischen Auseinandersetzung mit Subjektivität zu. Doch wäre zu fragen, ob es nicht auch in diesen Performances um eine verdrehte Schuld geht. Schließlich fragen sie bei der gezielten Hervorbringung körperlicher Schmerzen in der Anwesenheit eines Publikums nach deren moralischer Verantwortung. Müssen sie nicht eingreifen? Haben sie nicht die Pflicht, Schmerzen und (Selbst-) Schädigungen eines Akteurs, der für dieses Publikum agiert, zu verhindern? In dieser problematischen Situation vollzieht sich, Theaterdiskursen zufolge, die Transformation vom Zuschauer zum Akteur der Performance, die ihn »ungeschützt der Brutalität dieser Handlungen aussetzt«229. Zu fragen ist, wer hier wem Gewalt antut – der zuschauende Akteur der Performerin, indem er selbst zugefügte Schmerzen nicht verhindert, oder der eingreifende Akteur, der die Performance unterbricht, oder die Performerin dem Akteur, der ihn überhaupt in diese Lage bringt und in eine selbstschädigende Performance hineinzieht? Die Verdrehung von Schuld und Verantwortung für die Zufügung von Schmerzen ist Teil des Programms – und über die Freiwilligkeit, sich jener Brutalität auszusetzen oder diese als publikumswirksame Performance aufzuführen, lässt sich trefflich streiten. Allerdings dürfen auch hier die entscheidenden Differenzen zwischen symbolischen Praktiken der Sauberen Folter und des Theaters nicht unterschlagen werden. Zum einen erlangen sämtliche Akteure im Vollzug dieser Transformation Handlungskraft, ihnen wird agency zuteil, die den Folteropfern im selbst zugefügten Schmerz gerade entzogen wird. Sie vermögen, aus einem Zustand der Auslieferung an eine schier unerträgliche, künstlerisch hervorgebrachte Situation herauszutreten und diese zu verändern – oder gar zu beenden. So stürmten etwa die Zuschauer von Abramovics Performance Lips of Thomas nach einer zweistündigen Selbstverletzungsserie die Bühne. Zum anderen geht es in diesen Performances zwar darum, Wirklichkeit zu konstituieren, jedoch meint dies primär, dass »der/die Performer/in in der Aufführung zuallererst ihre eigene Körperlichkeit hervorbringt«230. Die Körperlichkeit des Folteropfers hingegen ist den beständigen Prozessen der Destruktion ausgesetzt. Und letztlich erwächst die Wirkung der künstlerischen Performance nicht aus der Perversion einer Wirklichkeit (der Schuld), sondern aus der Dynamik einer komplexen, aber vergleichsweise gradlinigen Wirklichkeit zwischen Performer und Publikum, Publikum und Performer. Dennoch sei 228 | Matzke: Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern, S. 65. 229 | Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 157. 230 | Ebd.

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an dieser Stelle zumindest kritisch fragend in den Raum geworfen, ob Selbstverletzungsperformances tatsächlich ausschließlich das Attribut kreativer und produktiver Implikationen zu attestieren ist, die den menschlichen Leib, »auch und gerade als leidender, kranker, verletzter […] in seiner Einmaligkeit und Ereignishaftigkeit […] von Licht durchstrahlt und trotz seiner Gebrechen ›herrlich wie am ersten Tag‹«231 präsentieren.

5.5 P erformativität und The atr alität des Tr aumas Die Foltertechniken der mentalen Desorientierung im Verhör finden ihren destruktiven Höhepunkt in der Verhörphase »The Conclusion«232. In der Lektüre der Beschreibungen dieser Phase in den Handbüchern wird deutlich, was mit dem systematischen Brechen des Subjekts gemeint ist, was als Ziel sämtlicher Techniken der Sauberen Folter gilt – die so genannte Regression des Folteropfers: It is a fundamental hypothesis of this handbook that these techniques, which can succeed even with highly resistant sources, are in essence methods of inducing regression of the personality to whatever earlier and weaker level is required for the dissolution of resistance and the inculcation of dependence. […] As the interrogatee slips back from maturity toward a more infantile state, his learned or structured personality traits fall away in a reversed chronological order, so that the characteristics most recently acquired […] are the first to go. […] [R]egression is basically a loss of autonomy. 233

Die Regression wird hier generalisiert als ein Verlust von Autonomie beschrieben, der sich im Verlauf der Anwendung der Foltertechniken sukzessive und schleichend vollzieht und das Subjekt psychologisch auf eine kindliche Entwicklungsstufe zurücksetzt. Der Begriff scheint sich hier der Psychoanalyse zu entlehnen, die die Regression als einen unbewussten Abwehrmechanismus versteht, in dem ein traumatisiertes Subjekt sich auf ein frühes, meist infantiles Entwicklungsniveau zurückzieht, um Gefahrensituationen simplifiziert wahrnehmen zu können – und die Hoffnung aufrecht zu erhalten, sie auf diesem kindlichen Wege lösen zu können.234 So berichtet ein Guantánamo-Häft231 | Ebd., S. 160. 232 | KUBARK, S. 64. 233 | Ebd., S. 41. 234 | Das psychoanalytische Konzept kann hier nur vereinfacht dargestellt werden. Es wurde erstmals von Sigmund Freud eingeführt und im Laufe des 20. Jahrhunderts vielfach adaptiert, insbesondere in gestalttherapeutischen Ansätzen. Um die Komplexität des Begriffs der Regression anzudeuten, sei eine Definition des Psychologen Hilarion

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ling von Veränderungen seines Verhaltens im Laufe der Haftzeit: »Ich habe mich wohl wirklich diesen ganzen Tag über […] wie ein kleines Kind verhalten. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie grauenhaft es für einen Menschen ist, wenn er mit Folter bedroht wird. Man wird tatsächlich zum Kind.«235 Diskutiert wurde der Begriff der Regression vor allem in der Rezeption von Freuds Psychoanalyse im mittleren und späten 20. Jahrhundert.236 Dies verweist auf seine Verwendung auch in den Folterhandbüchern, die in dieser Zeit, auch unter Mitwirkung von Psychologen, entstanden sind. Die Beteiligung von Psychologen als der Therapie seelischer Störungen verpflichteter Berufsgruppe muss hier als ungeheuerliche Perversion verstanden werden. Sämtliche Erscheinungsformen der Sauberen Folter, von der Exklusion und dem Verschwinden des Geistergefangenen über die sensorische Deprivation und das sensorische Bombardement bis hin zu den Konfusionen, Erniedrigungen, Täuschungen und Perversionen der mentalen Desorientierung, Petzold angeführt. Ihm zufolge besteht die Regression in der »Aktivierung kognitivemotionaler sensumotorischer Erinnerungen, wie sie in der Lebenschronik des Leib-Gedächtnisses abgespeichert sind, und die aufgrund ihrer emotionalen Komponenten Ich und Selbst des Menschen überfluten. Seine Wahrnehmung, sein Denken und sein Verhalten werden temporär so beeinflusst, dass sie von Beobachtern und auch von Resten des sich selbst beobachtenden Ich nicht als altersangemessen erlebt werden. Daher ist die Regression – phänomenologisch betrachtet – keine zeitliche, sie geschieht ja in einem gegebenen Hier-und-Jetzt, sondern sie ist zu sehen als ein generelles und sektorielles Außerkrafttreten oder Zusammenbrechen des aktualen, kognitiven, emotionalen und behavioralen Differenzierungsniveaus von Kompetenz und Performanz über einen kürzeren oder längeren Zeitraum. Dies erfolgt auf eine Weise, dass frühere bzw. archaischere Formen kognitiven, affektiven, behavioralen Funktionierens in der Gegenwart wirksam werden und auf diese Weise eine erlebnisintensive, memorative Näherung an zurückliegende, biografische Ereignisse und mit diesen verbundenen Erlebnisformen möglich wird.« Hilarion Petzold: Integrative Therapie. Modelle, Theorien & Methoden einer schulübergreifenden Psychotherapie. Band 1: Klinische Philosophie, Paderborn: Junfermann Verlag 1993, S. 864. 235 | Mohamedou Ould Slahi: Das Guantánamo-Tagebuch, S. 285. 236 | Vgl. beispielhaft Sigmund Freud: »Abriss der Psychoanalyse (1938)«, hg. v. HansMartin Lohmann, Stuttgart: J.B. Metzler 2008; Michael Balint: Therapeutische Aspekte der Regression: Die Theorie der Grundstörung, Stuttgart: Klett-Cotta 1970; Kurt Lewin: »Regression, Retrogression und Entwicklung (1941)«, in: Carl-Friedrich Graumann (Hg.): Kurt-Lewin-Werkausgabe, Band 6, Stuttgart: Klett-Cotta 1982, S. 293-336. Zur Beteiligung von Psychologen an der Entwicklung von Verhörtechniken vgl. Rainer Mausfeld: »Foltern für das Vaterland. Über die Beiträge der Psychologie zur Entwicklung von Techniken der ›weißen Folter‹« siehe www.uni-kiel.de/psychologie/psychophysik/mausfeld/ Mausfeld_Psychologie %20und %20Folter.pdf.

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dienen in ihrer jahrelangen Kombinatorik und Kumulation der Regression, der Hervorbringung dieses infantilen Abhängigkeitszustands des Folteropfers. Auf der Suche nach Worten auch für dieses Phänomen stoßen die Annäherungsversuche analytischer Theatralität erneut auf unentdeckte Facetten einer Theatralität und Performativität der Sauberen Folter, deren Repertoire damit geradezu unerschöpflich scheint. Zunächst treten Theatralität und Performativität als psychologische Problemlösungsmechanismen auf, die hier nur kurz eingeführt werden sollen. Psychotherapeutische Ansätze gehen davon aus, dass die kindlichen Verhaltens- und Denkmuster des Opfers in der Regression der Zwangsläufigkeit einer traumatischen Bindung (traumatic bonding) des Folteropfers an seinen Folterer entspringen, das diesen vor sich selbst als zugleich Peiniger und Vertrauensperson in Szene setzt. Diese Bindung, so heißt es, schafft in einem Zustand der vollkommenen Hilflosigkeit sowohl eine unbändige Angst als auch die Fiktion einer Quelle der Hoffnung. Aus dieser Nähe, beinahe einer Intimität der Interaktion erwächst eine Internalisierung dieses Bildes, die das Opfer auch nach langer Zeit noch an seinen Folterer bindet: »Where the victim has internalized the image of the torturer, he may be left with a twisted sense of obligation, binding him to his tormentor, with a fear that the real trauma may return if he betrays the confidental obligation of his betrayer.«237 Dies führt sogar zur abstrusen Verdrehung, dass ehemalige Häftlinge nicht ihre Folterer, sondern ihre Anwälte beschuldigen, sie einzusperren. So berichtet der Psychiater Stuart Grassian über seinen vier Jahre lang inhaftierten und gefolterten Patienten José Padilla: He kept repeating – often inappropriately and oddly – how well he was being treated by his captors. […] He trusted the government (the people trying to convict him) and distrusted his attorneys because he thought they were secretly trying to lock him away in a psychiatric hospital, from which he would never escape and his mother would never see him again. He kept telling her that he was ›fine‹, while it was becoming increasingly apparent to her that he was not. Her son seemed so agitated, so odd, so irrational, that finally his mother could bear it no more; she blurted out: ›Did they torture you?‹ He turned towards her, his face grimacing, his eyes blinking, and in panic and rage he demanded: ›Don’t you ever, ever, ask that question again.‹238

Zentral für die Dynamik traumatischer Bindung ist das Modell innerpsychischer Repräsentationen, prototypische Abbilder meist elterlicher (Bezugs-)Per237 | Wilson, Raphael (Hg.): International Handbook of Traumatic Stress Syndromes. S. 681. Hierin sehen die Autoren auch einen Grund des nachträglichen Schweigens, welches das Opfer aus dieser Bindung heraus nicht zu überwinden weiß. 238 | Grassian: Neuropsychiatric Effects of Solitary Confinement, S. 122.

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sonen aus Kindheitstagen, die sich als empirische Erfahrung in das Bewusstsein eingeschrieben haben, sich in der Traumatisierung aktualisieren und den Folterer als eine solche Bezugsperson in Szene setzen. Theoretische Schnittstellen ergeben sich hier mit der Psychoanalyse, welche diese Phänomene als Objektrepräsentanzen bezeichnet, die nicht nur als Abbilder fungieren, sondern selbst ihre Wirklichkeit als Spiegelbild und Widerhall auf früheste Erfahrungen mit Bezugspersonen konstituieren.239 Als innerpsychische Wirklichkeit und (einzige) Orientierung sichert diese Bindung also durch komplexe Mechanismen quasi-dramatischer Theatralität und Performativität des psychischen Systems die Möglichkeit eines Aushaltens und Überlebens schwerster Traumatisierung.240 Die Folterer nutzen eben diese Mechanismen einer traumatischen Abhängigkeit des Opfers zur fortgesetzten Traumatisierung – und zwar erneut auf inszenatorischen Wegen. Denn die Handbücher weisen den Folterer dazu an, sich als eine ganz besondere Person in Szene zu setzen, als eine elterliche Person nämlich, die über die existenziellen Grundbedürfnisse des Häftlings entscheidet, über Schlaf und Mahlzeiten, Licht und Dunkelheit, Freiheit und Gefangenschaft: »Now the interrogator becomes fatherly«241, lautet eine dieser Anweisungen im Handbuch KUBARK, und: »An interrogatee, in particular, is likely to see the interrogator as a parent or parent-symbol.«242 Das Verhörprotokoll des Gefangenen Al-Qahtani belegt diese Strategie, eine identifikatorische Wirklichkeit emotionaler Beziehungen zwischen Folteropfer und Folterer zu konstituieren. So spielen Verhörbeamte ein Kartenspiel in der Gegenwart des demonstrativ missachteten Gefangenen, um Abhängigkeit zu provozieren und zu demonstrieren: »Interrogator began to play cards with MP to ignore the detainee due to a BSCT assessment that the interrogators may be becoming the family figures of the detainee, and the interrogator wanted to see if the 239 | Vgl. dazu die Beiträge von Gunther Klosinski, Grete A. Leutz, Peter F. Kellermann und Hannelore Eibach in Grete A. Leutz/Klaus Oberborbeck (Hg.): Psychodrama. Themenheft zur Zeitschrift Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik. Band 15, Heft 3/4, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1980. 240 | Vgl. dazu José Saporta/Bessel A. van der Kolk: »Psychobiological Consequences of Severe Trauma«, in: Metin Basoglu (Hg.): Torture and its Consequences. Current Treatment Approaches, Cambridge: Cambridge University Press 1992, S. 151-181. Bekannt ist dieses Phänomen auch als Stockholm-Syndrom, das häufig bei lang andauernden Entführungen und Missbrauchsfällen auftritt. Vgl. Arnold Wieczorek: »Das so genannte Stockholm-Syndrom: Zur Psychologie eines polizeilich vielbeachteten Phänomens«, in: Kriminalistik 57, Nr. 7 (2003), S. 429-436. 241 | KUBARK, S. 78. Ferner finden sich Wendungen wie »air of familiarity« oder »powers of an all-powerful parent«. Ebd., S. 52, 77. 242 | Ebd., S. 40.

5. Suchbewegungen III

detainee would try to seek attention.«243 Auch Zeugenaussagen, in diesem Fall einer ehemaligen Verhörbeamtin, berichten davon: »The agent, a charismatic brunette who appeared to be in her mid-30s, said her team chief chose her to interrogate Khadr because he thought ›I would be more of a mother figure to him, he would relate better to me.‹«244 Die positive Identifikation des Folterers mit einer elterlichen Person speist sich aus dem manipulativen Potential von einfachen, kurzen Performances, von (Selbst-)Darstellungen, die eine scheinbar wirkliche Beziehung hervorbringen. Perversion und Täuschung, Konfusion und Erniedrigung gehen Hand in Hand. Vor allem aber treibt die Regression Bewegungen der Perversion voran, die die Schuld in sämtliche Techniken und Mechanismen integriert, sich gegen das Opfer verkehrt und die Täterschaft von Folterern negiert: [T]he interrogator may, by virtue of his role as the sole supplier of satisfaction and punishment, assume the stature and importance of a parental figure in the prisoner’s feeling and thinking. Although there may be intense hatred for the interrogator, it is not unusual for warm feelings also to develop. This ambivalence is the basis for guilt reactions. 245

Letztlich sind es nicht nur die Inszenierungen der Leere und Überfülle, Performances der Erniedrigung und Konfusion oder Rollenspiele der Täuschung, die sukzessive das psychologische Brechen des Häftlings in der Regression forcieren. Sogar die Regression selbst impliziert noch theatrale Mittel der destruktiv-performativen Konstitution, Modifikation und Perversion von Wirklichkeit, die eine eigene Schuld des Folteropfers propagieren. Ein Kreislauf nicht nur des Verhörs in seinen vier Phasen wird nun denkbar, sondern auch einer nicht enden wollenden Folterung des Häftlings – durch die perpetuierte Schuldzuweisung einer Selbstfolter, die das Opfer nicht als Perversion zu reflektieren vermag und eingekapselt und unerkannt mit sich trägt. Dieses in der Sauberen Folter zentrale Motiv der eigenen Schuld, kann als »Gewalt der richtenden Zeit«246 gelesen werden, als »die dramatische Zeitdimension schlechthin. Von früher her blieb eine Rechnung offen, die An-

243 | Anonymus: »Interrogation Log Detainee 063«, siehe http://content.time.com/ time/2006/log/log.pdf, S. 59. 244 | Vgl. Jane Sutton: »Khadr Aided U.S. So He Could Go Home, Agent Says«, siehe http://humanrights.ucdavis.edu/projects/the-guantanamo-testimonials-project/tes timonies/testimonies-of-interrogators/khadr-aided-u-s-so-he-could-go-home-agentsays vom 30.04.2010. 245 | KUBARK, S. 83. 246 | Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 351.

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sprüche an Gegenwart und Zukunft stellt«247. Dies pointiert der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann im Bezug auf die Momenthaftigkeit eines postdramatischen Theaters, das sich einer Linearität wie etwa in der Tragödie widersetzt und nach neuen Formen der Thematisierung von Verpflichtung, Verantwortung – oder eben auch Schuld – suchen muss. Imaginiert man eine zeitliche Dimension der Folter, so basiert diese auf der beständigen, immer und fortwährend gegenwärtigen Konstitution einer Wirklichkeit der Schuld, die jedoch nur durch die psychologische Perversion, durch komplexe Umkehrbewegungen, entsteht und das Opfer gegen sich selbst in Stellung bringt. Diese Folter durch Perversion durchzieht sowohl die Techniken der sensorischen Desorientierung als auch die der mentalen Desorientierung. Nicht nur impliziert das sensorische Bombardement jene Aktivitäten des eigenen Körpers, die als Folge von Foltermethoden zur Selbstfolter umgedeutet werden. Auch in der sensorischen Deprivation zeitigt der Entzug von Nahrung immense körperliche Schmerzen, die nicht von außen zugefügt und auf den Körper rückbezogen werden – obwohl eine Zufügung dieser Schmerzen über theoretische Umwege als Unterlassungshandlungen der Folterer gedacht werden kann. In der Deprivation durch die Verwendung von Schutzbrillen und Ohrenschützern zur Folterung verbirgt sich eine Perversion, denn es sind Alltagsgegenstände, die dem Schutz des Körpers dienen, und hier zu Folterinstrumenten werden. In der mentalen Desorientierung nehmen Folteropfer an ihren eigenen Erniedrigungs- und Täuschungsperformances teil, die eine folternde Wirklichkeit (auch einer mitwirkenden Schuld an der eigenen Folterung) konstituieren. Im Verlauf von Rollenspielen werden die Opfer ferner in Akteurspositionen gedrängt, die selbst eine Verweigerung zur Teilnahme machen. Schließlich wird in den Foltertechniken des selbst zugefügten Schmerzes durch Stresspositionen das somatische Symptom als Angriff des Körpers auf ein vermeintlich von ihm getrenntes Selbst gelesen. Der Körper trägt das Subjekt nicht als manifeste Selbst-Sicherheit, er lastet auf dem Subjekt. In den Techniken der Sauberen Folter durchdringen Schmerz und Schuld das psychische System des Opfers, während sich die Folter als nicht gewesen ausgibt. Die Zukunft des Folteropfers, das nach einer unbestimmten Zeit aus dem unbekannten Gefangenenlager freigelassen wird, ist von der traumatischen Erfahrung der Sauberen Folter durchtränkt. Jene Kapsel, in der sich die Folter unerkannt verbirgt, strahlt ihre Wirkungen weiterhin aus, verbleibt als Fremdkörper in der Seele. Sie strahlt das Gefühl der eigenen Schuld an einer verdrehten Selbstfolter als fortgesetzte mentale Desorientierung aus, wie die Zeugenaussagen ehemaliger Häftlinge belegt haben. Sie zeitigt Alpträume und flashbacks, hervorgerufen durch sensorische Reize, die die sensorische

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5. Suchbewegungen III

Desorientierung wiederaufleben lassen.248 Die Kapsel des Traumas setzt den Körper und das Subjekt immer wieder als sein eigenes Folterinstrument oder seinen eigenen Folterer in Szene. Sie verleiht der Folter den character indelebilis – sie foltert immer fort.

248 | Vgl. Mardi Horowitz: Psychodynamics and Cognition, Chicago/London: University of Chicago Press 1988, S. 9: »[A]uditory images repeating memories […], visual imagery repeating memories […], olfactory imagery repeating the smells […]. Intrusive emotions are often felt in bodily terms.« Interessant ist hier die Vorstellung riechbarer Bilder (»olfactory imagery«), welche einige herrschende Bildtheorien durchaus in Frage stellen dürfte.

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6. Gegen eine Absenz der Sauberen Folter I am informing you that I gave away the precious thing that I have in which it became very cheap, which is my own self […].1

In den Suchbewegungen nach der Sauberen Folter konnten unablässig Spuren gelesen und verfolgt, über diese Spuren nach- und über sie hinaus gedacht, beharrlich beschrieben und analysiert werden. Dabei wurden auch sie selbst im Blick behalten und somit nicht nur die Folter, sondern auch die Suche nach der Folter reflektiert. Das Anliegen der Suchbewegungen waren phänomenologische Annäherungen an das Absenzphänomen der Sauberen Folter. Sie haben für diese Annäherungen methodisch ein Begriffsinstrumentarium geschaffen, das sich mit ihrer Unsagbarkeit auseinandersetzt. Das Ergebnis dieses Forschungsprozesses ist einerseits das Modell einer analytischen Theatralität und damit andererseits eine Vermittlungsform, die sich der Abwesenheit und damit dem Vergessen der Sauberen Folter widersetzt. Was bleibt? Das ist die Kernfrage, die nach dieser langen Reise der Annäherung an die Saubere Folter im Raum steht. Um diese Frage zu klären, muss zunächst deutlich werden, was ist. In einem ersten Schritt muss reflektiert werden, was die Suchbewegungen gefunden und erreicht haben. Anschließend müssen in einem zweiten Schritt die aus der konstitutiven Abwesenheit der Sauberen Folter resultierenden Schwierigkeiten reflektiert werden, denen die Suche begegnet und mit denen sie umgegangen ist. Schließlich soll in einem dritten Schritt nach theoretischen Konsequenzen aus Erkenntnissen und Erkenntniswegen gefragt werden: Welche politische Bedeutung hat die Saubere Folter für demokratisch-liberale Rechtsstaaten, die sie anwenden oder zumindest unterstützen? Welche gesellschaftliche Bedeutung hat eine analytische Theatralität und damit die Theaterwissenschaft, wenn sie die Auseinanderset1 | Josh White: »Guards’ Lapses Cited in Detainee Suicides«, in: Washington Post vom 23.08.2008, o.S., siehe www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/arti cle/2008/08/22/AR2008082203083.html.

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zung mit einem Problem wie der Sauberen Folter allererst ermöglicht? Und welchen – möglicherweise unangenehmen – Fragen muss sich die Theaterwissenschaft stellen, wenn sie die möglichen destruktiven Tendenzen theatraler Strategien ernst nimmt?

6.1 E rkenntnisse und E rkenntniswege Die Saubere Folter ist, indem sie sich entzieht. Die Suchbewegungen nach einem Begriffsinstrumentarium der Sauberen Folter sind daher zuerst auf die Persistenz einer semantischen Leerstelle gestoßen. In jenem Un, das die Versuche der Versprachlichung Sauberer Folter als Unglaubliches, Unmenschliches, Unvorstellbares und letztlich doch Unsagbares durchzieht, spiegeln sich die Bewegungen ihres Entzugs – in Zeugenaussagen und im Diskurs, in geografischen und juristischen Räumen sowie am Körper und im amnestischen Vergessen ihrer Opfer. In Anlehnung an Abwesenheitsdiskurse der Theaterwissenschaft ließen sich diese Bewegungen des Entzugs als Abwesen der Sauberen Folter beschreiben. Diesem Ansatzpunkt in Kapitel 2 Suche nach dem verlorenen Wort folgend konnte ein Konzept analytischer Theatralität entworfen werden, das sich – entgegen der primär soziologischen Tendenzen zur Analogisierung und Metaphorisierung des Theaters – auf die Ausdrucks- und Präzisionskraft theatraler Begriffe besinnt. Es sollte nicht um Übertragungen des Rollenbegriffs in der Selbstdarstellung oder um ein Spektakel der cultural performance gehen, um soziale Dramen oder Ethnotheater. Die Folter sollte erst recht nicht mit illusorischem Spiel gleichgesetzt oder als kalkulierte Inszenierung der Massenmedien beschrieben werden. Denn schließlich folgt die Saubere Folter gerade nicht einer Medialität der Sichtbarmachung, also der Funktion, die sämtliche theoretische Versionen von Theatralität reflektieren. Der Entwurf analytischer Theatralität wendete diese Ansätze der soziologisch geprägten Theatralität auf links und erklärte den Körper in den folgenden Kapiteln zu einem Medium der Unsichtbarmachung, der Absentierung Sauberer Folter. An dieser Stelle muss jedoch in aller gebotenen Kürze reflektiert werden, was bereits in Kapitel 2 auf der Suche nach dem verlorenen Wort als Verdacht aufkeimte – dass sich nämlich eine korporale Medialität, wie sie auch in den Theaterwissenschaften implizit beschrieben wird, einigen medientheoretischen Grundannahmen verweigert. Denn wenn ein technikorientierter Ansatz in der Tradition Marshall McLuhans nicht nur davon ausgeht, dass das Medium als Werkzeug fungiert, sondern auch davon, dass es als Mittel in seiner Prozessualität unsichtbar und nur in seiner Dysfunktion sichtbar wird, so

6. Gegen eine Absenz der Sauberen Folter

trifft dies auf ein Medium Körper hier nicht zu.2 Auch wenn in den Überlegungen zur Sauberen Folter an verschiedenen Stellen die Rede davon ist, dass und wie der Körper des Folteropfers verschwindet, so ist es doch der Körper, der in der Sauberen Folter gerade nicht ausgelöscht wird. Auf perfide Weise verschwindet der Körper des Gefangenen aus territorialen und rechtlichen Räumen, verbleibt jedoch beharrlich in der Gegenwärtigkeit einer Folter, die sich an ihm vollzieht – über eine nicht von ihm ablösbare sinnliche Wahrnehmung. Der Körper verschwindet nicht, er ist die permanente Störung. Ferner verweigert sich eine korporale Medialität der These etwa Sybille Krämers, ein Medium bringe als Vermittler oder Bote durch Übertragungsprozesse ein Anderes außer sich hervor und diene einzig dazu, dieses wahrnehmbar zu machen.3 Auch hier wird ein Medium von seinen medialen Prozessen und von einem Medienprodukt abgekoppelt. Der Körper als Medium hingegen überträgt nicht, der Körper ist. Er bringt kein Medienprodukt hervor, sondern sich selbst. Aus eben diesem Grund scheitern auch naheliegende phänomenologische Medientheorien, wenn sie davon ausgehen, dass das Medium alles zeigt, nur sich selbst nicht. So schreibt Merleau-Ponty beispielhaft: »[D]ie Vollkommenheit der Sprache besteht offensichtlich darin, unbemerkt zu bleiben. Aber gerade darin liegt die Stärke der Sprache.«4 [Herv. i. O.] Immerhin kann der Körper phänomenologisch als Medium gedacht werden. Merleau-Ponty versteht und benennt den Körper explizit als Medium, jedoch einzig aufgrund seiner eigenen Unsichtbarkeit im Prozess des Wahrnehmens und Welterfahrens. Allerdings muss hier davon ausgegangen werden, dass sich der Körper als Medium nicht der eigenen, sondern der Unsichtbarmachung Sauberer Folter gerade im Prozess ihrer folternden Wahrnehmung aufdrängt, im Spüren ausdehnt und sich somit als anwesend zeigt. Die angesprochenen Medientheorien eint das Verschwinden des Körpers – in der Theorie oder aus der Theorie. Der theaterwissenschaftlich fundierte Medienbegriff der vorliegenden Studie hält nun am spürenden Körper als Medium fest, das sich nicht auf Funktionen reduzieren lässt, und verzichtet daher sowohl auf die Ablösung des Mediums von einem Inhalt oder einem Me2 | Vgl. Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle [Understanding Media 1964], Düsseldorf/Wien: Econ Verlag 1970, insbes. S. 19. 3 | Vgl. Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung – Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. Krämer unterscheidet die medienmarginalistische These, das Medium verschwinde in seinem Vollzug, und die mediengenerative Annahme, das Medium bringe ein Anderes hervor, in Krämer: »Was haben ›Performativität‹ und ›Medialität‹ miteinander zur tun?«, in: Dies. (Hg.): Performativität und Medialität, München: Wilhelm Fink Verlag 2004, S. 13-32, hier S. 22f. 4 | Maurice Merleau-Ponty: Die Prosa der Welt (1969), München: Wilhelm Fink Verlag 1993, S. 33f.

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dienprodukt als auch auf ein Verschwinden des Körpers in medialen Prozessen. Immerhin arbeitet die gesamte vorliegende Untersuchung gegen das Verschwinden an. Ein Medienbegriff, der sich dicht an theaterwissenschaftlichen Theorien bewegt, begreift den Körper gerade in seiner Medialität des Spürens und Erfahrens, in welcher der Körper sich vollzieht. Diesem Medienbegriff und einer analytischen Theatralität ist vor dem Hintergrund eines ernsthaften politisch-gesellschaftlichen Problems wie der Folter somit – auch und besonders in medienwissenschaftlichen Diskursen – ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit entgegen zu bringen. Eine analytische Theatralität, die die Folter zu beschreiben und zu analysieren erlaubt, konnte in Kapitel 2 mit Hilfe von genuin theaterwissenschaftlichen Begrifflichkeiten konzeptualisiert werden. Sie ermöglichte es ferner, in Kapitel 3 zur Räumlichkeit und zum Verschwinden der Sauberen Folter ihr räumliches Abwesen zu beobachten. Es vollzieht sich wesentlich über das Verschwinden des Körpers des Folteropfers. Einerseits geht der Körper des Gefangenen in der geheimen außerordentlichen Überstellung im geografischen Raum verloren – Flugzeuge verschwinden vom Radar, landen an einer Vielzahl von unbekannten Orten für eine unbestimmte Zeit, bis sie in einem geheimen Lager den künftigen (Nicht-)Ort der Gefangenschaft erreichen und der Name, die Identität und der Körper des Häftlings unauffindbar geworden sind. Andererseits vollzieht sich das Abwesen über den Verlust des rechtlichen Körpers dieses Häftlings. So wird das Subjekt der Sauberen Folter über semantische Konstruktionen des Rechtssystems aus der Sphäre der Menschenrechte exkludiert, unterliegt in einem rechtsfreien Raum der entwürdigenden Behandlung, verliert darüber hinaus das Recht auf anwaltliche Unterstützung, eine rechtskonforme Anklage und Verteidigung. Der Gefangene verliert seinen (rechtlichen) Körper – er ist nicht mehr, weil er sich nicht mehr hat. Die Prozesse der territorialen und juridischen Exklusion ließen sich durch die Beobachtung und Analyse diverser symbolischer Praktiken der Sauberen Folter beobachten, in denen sie sich als Saubere Folter zeigt und in denen sie sich zugleich als Folter am Körper verbirgt. Der Akt der Festnahme vollzog sich gemäß einer Dramaturgie der Disziplinierung. Eine Kostümierung des Vergessens schaltete die leiblichen Sinne des Gefangenen ab, so dass dieser nicht(s) wahrnahm und nicht(s) merkte, vergaß und vergessen wurde.5 Der Gefangene verkörperte eine gespenstische Figur des Geistergefangenen, die einzig auf eine Leere verweist, in der er haust. Die analytische Theatralität machte dies als Schwellenerfahrungen eines verleugneten Subjekts an einem (Nicht-)Ort greif bar. Diesem (Nicht-)Ort auf die Schliche zu kommen, war mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Wo lässt sich verorten, was verschwindet? Wie 5 | Die Formulierung ›nicht zu merken‹ verdanke ich Alice Miller: Du sollst nicht merken. Variationen über das Paradies-Thema, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981.

6. Gegen eine Absenz der Sauberen Folter

lässt sich beschreiben, wo etwas nicht ist? Ein Versuch der Beantwortung dieser Fragen über Foucaults Heterotopie-Begriff scheiterte, da dieser zwar einige Merkmale der Sauberen Folter aufgreifen kann, ihre beständige Abwesenheit jedoch in etablierten Beschreibungsmodi nicht aufgeht. Foucaults Begriff ermöglichte letztlich keine Annäherung an die Komplexität des Verschwindens als schleichend destruktiver Prozess der Folter. Schließlich führten die Überlegungen zur Denkfigur der Krypta, die psychoanalytischen Ansätzen entstammt und auch in der Theaterwissenschaft erforscht wird. Das Theater kennt die Krypta als einen geheimen Ort, der ein Abwesendes lebendig und zugleich tot bewahrt. Hinter diesem Verständnis von einem Abwesenden steckt der Gedanke, dass das Theater nie sein kann, was es zeigt – aber immerhin anzeigt, was es nicht sein kann. Das Theater kann zwar nie an dieses immer abwesende Andere heranreichen. Doch es kann dieses Andere in symbolischen Praktiken eine lebendige Anwesenheit verleihen. Das bedeutet wiederum, das Abwesende ist symbolisch, während es unverfügbar bleibt – in einem Raum, der es zugleich lebendig und tot bewahrt. Dieser Raum ist die Krypta, die selbst jedoch nicht gewusst werden kann. Einerseits bedeutet diese Ver(nicht-)ortung der Folter in der Krypta, dass das Lager, die Folterpraktiken und Häftlinge verschwinden, sie in diesem Sinne sogar getötet werden. Andererseits beherbergt und bewahrt die Krypta die Räume, Praktiken und Subjekte der Folter, die somit abwesend (und dennoch) sind. Die Spannungen zwischen Verschwinden und Existieren, zwischen Tod und Leben, die die Folter bestimmen, werden hier greif bar. Hinzu kommt, dass die Praktiken des räumlichen Verschwindens der Folter mit Hilfe eines theatralen Begriffsinstrumentariums beschrieben und als symbolische Praktiken der Sauberen Folter gedacht werden konnten. Das bedeutet, dass die Folter in ihren Praktiken nicht nur verschwindet, sondern sich in ihnen zugleich zeigt – nämlich in ihrem Abwesen. Von der Krypta her gedacht, erlangt die Folter eine Form der anwesenden Abwesenheit. Sie zeigt sich in ihrer Absenz. Dieses Sichzeigen der Sauberen Folter in symbolischen Praktiken konnte somit bereits als ihr räumliches Erscheinen gedacht werden. In der Dramaturgie der Disziplinierung bei der Festnahme sowie in der räumlichen und rechtlichen Exklusion des Gefangenen aus territorialen und symbolischen Sphären verschwindet sie zwar. Doch zugleich zeigt sie sich in diesen Praktiken als eine Folter, die verschwindet. Das Begriffsinstrumentarium analytischer Theatralität hat dies beschreibbar, handhabbar, greif bar gemacht. Kapitel 4 zu den Inszenierungsstrategien der Sauberen Folter in der sensorischen Desorientierung konnte die These, dass sich die Saubere Folter über symbolische Praktiken in ihrer Abwesenheit zeigt, anhand von Hans-Thies Lehmanns Motiven des postdramatischen Theaters, Hans Ulrich Gumbrechts Momenten der Intensität und Martin Seels Konzept des Inszenierens als Erscheinenlassen bekräftigen. Die Techniken der sensorischen Desorientierung,

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der Deprivation und des Bombardements des menschlichen Sensoriums konnten zunächst nach Lehmann als Konglomerat von Inszenierungen der Fülle und Leere beschrieben und analysiert werden: In der Stille und Leere der Isolation und Deprivation wohnt die für diese Folter so konstitutive Abwesenheit, sie wird spürbar und muss erlebt werden, als Trauma, das sich nicht darstellen lässt. Das Bombardement mit Gerüchen und Geräuschen, Temperaturschwankungen und grellem Neonlicht vollzieht sich sodann über sämtliche Kanäle des menschlichen Sensoriums, infiltriert und penetriert sie, dringt in das Innere des Subjekts ein, das aller Grenzen des Körpers beraubt wird, an dem sich die Folter noch immer nicht zeigt. Diese Inszenierungen der Fülle sind dabei durch die fundamentale Isolation des Opfers in seinem eigenen negativ-ästhetisch wahrnehmenden Erleben immer schon in Inszenierungen der Leere verstrickt. Die sensorische Desorientierung über die Sinne des Körpers basiert schließlich auf einer konstitutiven Instabilität oder Brüchigkeit dieser Inszenierungen, die im beständigen Wechsel angewendet werden, um durch ein kontrastives Erleben die Intensität der Folter zu steigern. Leere und Absenz verflechten sich so mit Überfülle und Überforderung – als beständige Momente der Intensität. Es sind somit nur einerseits spürbare Extremzustände, die zu foltern bestimmt sind. Andererseits ist es die Verflechtung solcher Extremzustände, in deren Brüchigkeit dazwischen sämtliche Grenzen kollabieren und sich die destruktiven Wirkungen der Folter potenzieren. Dieses Ineinandergreifen der Foltermethoden verleiht ihr einen unablässigen Charakter. Die Folter hält an – und verbietet jedes Anhalten. Denkt man nun nach Martin Seel ein Erscheinen der Sauberen Folter in Gerüchen und Geräuschen, in Hitze und Kälte oder Licht und Dunkelheit, so liegt zwischen dem Erscheinen und dem Erkennen dieser Techniken als Folter ein tiefer traumatischer Graben. Zum einen muss das intentional hervorgebrachte Geschehen leiblich wahrgenommen, ertragen und empfunden werden – es erscheint im Raum. In diesen Erscheinungen ergreift die Folter ihr Opfer, dringt gewaltsam in sein Inneres ein und betreibt eine tiefschürfende und dadurch spurlose Form der Destruktion, die sich am Körper nicht zeigt. Zum anderen kann die Folter nicht als Folter erkannt werden. Denn die Techniken der sensorischen Desorientierung verweisen in ihrem Vollzug einzig auf sich selbst und nicht auf die Folter, die sie sind. Das Opfer nimmt die Folter als Musik, als Geruch, Hitze, Kälte oder als Dunkelheit wahr, nicht als Folter – auch deshalb spricht das Opfer dieses Wort nicht aus. Das bedeutet, dass die Folter nicht nur ihr Opfer vernichtet, wenn sie erscheint, sondern auch sich selbst, wenn sie unerkannt bleibt. Die Folter dringt nicht vollkommen, das heißt als Folter, ins Bewusstsein. Als massives Trauma übersteigt es die psychischen Verarbeitungsmechanismen des Opfers, sodass das Trauma nicht (an-)erkannt werden kann. Das Trau-

6. Gegen eine Absenz der Sauberen Folter

ma kapselt sich in seiner absoluten Gegenwärtigkeit im Inneren des Häftlings ein, wo es nicht verarbeitet werden kann. Es ist eine unmögliche Geschichte, die nicht sein und nicht gewesen sein kann, weil sie nicht vorstellbar und nicht darstellbar ist. Während die Folter im Raum erscheint und wahrgenommen werden muss, entschwindet sie zugleich in einer Unerkennbarkeit dahinter. Wenn das Wahrgenommene nicht verarbeitet wird und so nicht vollkommen ins Bewusstsein dringt, so kann es nicht als Folter erkannt werden. Wenn die Saubere Folter verschwindet, wenn sie erscheint, dann negiert sie, was (sie) ist. Das Erscheinen der Sauberen Folter ist somit immer mit ihrem Verschwinden verknüpft – verweigert sich aber den Begriffen etwa der Dichotomie oder Paradoxie. In der Übertragung des Seel’schen Begriffs des Erkennens wurde diese Verbindung ersichtlich. Aus der Unerkennbarkeit der Folter geht hervor, warum Folteropfer meist nicht davon sprechen, gefoltert worden zu sein. Das Trauma der Folter kann nicht gesagt werden, weil es nicht erkannt werden kann, aber mit allen Sinnen erlebt werden muss. Ein durchaus als ästhetisch zu bezeichnendes Wahrnehmen ohne die Möglichkeit einer Verarbeitung – jenseits neurobiologischer Prozesse – zu denken, wie Seel dies zur impliziten Grundlage des Erscheinens macht, leitete schließlich zu einer bedeutsamen These: Muss ästhetische Wahrnehmung nicht prinzipiell als traumatisch gedacht werden? Im Verlauf der Suchbewegungen in Kapitel 4 offenbarten sich weitere destruktive Potentiale ästhetischer und inszenatorischer Prozesse angesichts eines Erscheinens der Sauberen Folter im Raum ohne ihr Erkennen als Folter. Eine destruktive Performativität wurde denkbar, die im direkten Kontrast zu der in Theaterdiskursen ausnehmend produktiv und emanzipatorisch verstandenen Performativität steht. Denn in Gerüchen und Geräuschen oder in der Stille und Isolation, kurz: in ihren Gestalt(ung)en, stellt die Folter dar, was sie ist, und ist zugleich, was sie darstellt. Dabei kommt sie selbst am Körper gerade nicht zu einer Darstellung in Form von Wunden oder Narben. Solche destruktiv-performativen Wirkmechanismen der Sauberen Folter wurden in Kapitel 5 zur Performance und Performativität im Verhör detaillierter untersucht. Im Verhör treten Verhörbeamte als Akteure in grausamen Täuschungsmanövern, Drohungen und Szenarien der Manipulation auf, die Wirklichkeit konstituieren oder destruieren. In der analytischen Beschreibung dieser Akte überlagerten sich die Konzepte des dramatischen Schauspiels und der Performance, eine definitorische Grenzenlosigkeit machte sich breit, die bis in die Analyse hineinreichte. Doch eben dieses Changieren zwischen den etablierten Begriffen und Konzepten ermöglichte es schließlich, in der Unbestimmtheit der mentalen Desorientierung das folternde Moment zu erkennen. Dies erlaubt es gar, subtile Perversionen zu erspüren, die die Saubere Folter wesentlich prägen. So suggeriert die Saubere Folter, dass sich ein Geistergefangener, der auf der politischen Ebene gar nicht mehr existiert, Schmerzen selbst zufügt, die

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juristisch gar keine sind. Die verstörende Idee einer Selbstfolter konnte hier sowie in einem Rückblick auch in der körperlichen Aktivität des Hörens und Riechens oder Schwitzens und Frierens als kaltblütige Konstante der Sauberen Folter bestimmt werden. Die abschließende Gesamtschau zeigt, dass die Suchbewegungen nach Annäherungen an die Saubere Folter die erschreckende Perfidität ihrer Wirkungen und Wirkungsmechanismen freigelegt haben. Im Kosmos des Lagers gehorchen sämtliche Akteure – Folterer, Geistergefangene ohne Namen, Räume, Licht, Musik- und Klimaanlagen und auch der (Nicht-)Ort des Schauplatzes Lager selbst – einem Zusammenspiel von wirklicher Inszenierung und inszenierter Wirklichkeit in einem Raum, der nicht existiert. Hier offenbart sich eine Verkettung von theatralen Strategien der Verunsichtbarung. Diese Inszenierungsstrategien konnten mit Hilfe einer analytischen Theatralität als eine Gewalt beschrieben und analysiert werden, die spurlos verschwindet und in ihrem Inneren verstörte und zerstörte Subjekte zurücklässt – als eine Gewalt ohne Gestalt. Es ist deutlich geworden, dass eine Suche nach Annäherungen an ein Unsagbares nicht gradlinig erfolgen kann, sondern nach Perspektiven verlangt, die andere Wege erschließen und nehmen. Einen solchen anderen Weg stellte die Entwicklung eines Modells analytischer Theatralität dar, die sich auch dem Scheitern und Verwerfen von Theorien und Begriffen stellt. Theater und Folter – wie kann diese Verbindung aber gedacht werden, ohne dass Empörung hervorrufende Kurzschlüsse aufkommen? Bei dem Missverständnis, die vorliegende Untersuchung behaupte, das eine sei (wie) das andere, und auch bei dem von Seufzern durchzogenen Aufruf, die Folter sei doch nun wirklich keine Inszenierung, sondern sehr real, handelt es sich um solche Kurzschlüsse, die sowohl das Anliegen als auch das Vermögen der hier entworfenen und erprobten analytischen Theatralität unterschätzen. Eine analytische Theatralität, wie sie in den vorangegangenen Überlegungen entwickelt wurde, ermöglicht die Beobachtung eines Absenzphänomens wie der Sauberen Folter – und damit die so dringlichen phänomenologischen Annäherungen. Dabei orientiert sie sich an der Verwendung theatraler Begriffe vorwiegend in den jüngeren Theaterdiskursen. Sie vermeidet ein universelles, metaphorisches oder analogisierendes Theatermodell, das aus dem Kontext des Theaters oder der Theaterwissenschaft herausgehoben und in ein anderes Theoriegebiet eingepflanzt wird. Sie nutzt vielmehr einzelne Begriffe und Konzepte der Theaterwissenschaft als analytisches Instrumentarium – das Erscheinen im Verschwinden, die anwesende Abwesenheit, das Gespenstische und die Krypta, Inszenierungen der Leere und Überfülle, Präsenzeffekte und Momente der Intensität, eine Ästhetik der Duration, Simultaneität und Momentaneität, gestaltlose Gestalt(ung)en, Brüchigkeit und das Dazwischen

6. Gegen eine Absenz der Sauberen Folter

oder Selbstverletzungs-Performances und selbstreflexive Wirklichkeitskonstitution als Perversion. Eine analytische Theatralität erlaubt es, mit Hilfe dieser Begriffe den Entzug und die Absenz der Sauberen Folter zu zentralen Motiven des Erkenntnisinteresses zu machen und ihr nachzuspüren. Da so der Entzug beschreibbar wird, kann auch das Sich-Entziehende, das sukzessive Abwesende, gar das Nichts als etwas gedacht werden und Abwesenheit in Anwesenheit übergehen. Im Entwerfen und Erproben von theatralen Worten für das Abwesende, im langsamen Beschreiben und Begreifen der Folter werden ihre mannigfaltigen Techniken in ihrer verflochtenen Kombinatorik analysierbar. Die analytische Theatralität zeigt auf, wie die Folterpraktiken funktionieren, auch wenn sie Hand in Hand gehen und sich eng umschlungen überlagern oder wechselseitig verstärken, wenn sie sich und einander verheimlichen und verneinen und die Negation ihrer Destruktivität vorantreiben. Sogar im Scheitern von Theorien und Begriffen thematisiert diese Theatralität das Unsagbare. Denn sie macht auf ihre Weise und auf ihren Wegen deutlich, dass die Bewegungen des Scheiterns als Entzug auch darin beobachtbar und wertvoll sind. Auch was nicht ist, hat Bedeutung, und auch was nicht bedeutet, ist – was gleichsam für geheime Lager, spurlose Folter und Geistergefangene gelten muss. Das gestaltlose Wirken der Folter verfolgend, ging die Suche nach der Sauberen Folter auf verschlungenen Wegen vor. Diese Suchbewegungen mussten im Verlauf der Analyse auf einer Metaebene stets mitgedacht werden. Denn die Absenz der Sauberen Folter schreibt sich in die Suchbewegungen ein und die Suchbewegungen prägen die beschreibende Analyse. So ist im Prozess des Suchens, Forschens und Schreibens in der vorliegenden Studie das Abwesen der Sauberen Folter spürbar geworden. Denn die Subtilität des Abwesens der Sauberen Folter zeigt sich in den Suchbewegungen, in der sukzessiven Verfolgung eines Sichentziehenden. So ergreift stellenweise jenes bedrückende Schweigen den Text, das die Folter umgibt und überwunden werden muss. Eine Überfülle an Beschreibungen des sensorischen Bombardements begegnet der sich langsam hinziehenden Analyse von Inszenierungen der Leere in der Isolationshaft. Eine Aggressivität der Analyse reagiert auf die körperlichen Attacken etwa der Musikfolter. Und während die schützende, Distanz erlaubende Flucht in Fachtermini und abstrakte Theorien erfolglos bleibt, weil sich die Folter entzieht, bringt die langsame, theaterwissenschaftlich geschulte und am Phänomen orientierte Spurensuche die Spuren hervor, die weiter zu verfolgen sind – und letztlich zu Erkenntnissen führen. Somit ist das Begriffsinstrumentarium einer analytischen Theatralität in der Analyse im Werden begriffen. Und die Saubere Folter unterliegt dadurch Bewegungen von ihrer Abwesenheit hin zu einer, zumindest theoretischen, Anwesenheit in der beschreibenden Analyse, die sie prägt.

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Aus diesen Anstrengungen ist ein doppelter Gewinn zu ziehen: Die Suchbewegungen haben erstens eine Phänomenologie eines Absenzphänomens vorgelegt und damit ein gesteigertes Forschungsinteresse auf die Saubere Folter gelenkt – und auf eine Kraft der Absentierung, der ihr destruktives Potential innewohnt. Damit liegt nun eine systematische, aber auch erschreckende und – wenn auch im doppelten Wortsinne – erschöpfende Auseinandersetzung mit diesem so aktuellen wie brisanten Problem vor. Zweitens haben die Suchbewegungen ein Modell analytischer Theatralität ausgearbeitet, das damit nicht nur politische und gesellschaftliche Relevanz beansprucht, sondern auch das herrschende Verständnis von Theatralität hinterfragt und obendrein spannende Fragen an die Theaterwissenschaft stellt, aus der es schöpft. Wie verwickelt diese Suchbewegungen nach der Sauberen Folter auch waren, sie haben sich entwickelt. Ob die Mauern des Schweigens, die das Trauma der Sauberen Folter nicht nur um die Opfer errichtet, sondern auch noch die (Folter-)Diskurse erfassen, zumindest stellenweise einzureißen sind, vermag hier nicht geklärt zu werden. Doch das Modell der analytischen Theatralität hat vielfältige Möglichkeiten für einen Prozess ihrer sprachlichen Vermittlung aufgezeigt, die jene Mauern zumindest untergraben, möglicherweise auch infiltrieren – ohne sich freilich der Aporie zu verpflichten, das Unsagbare sagen zu wollen. Eine analytische Theatralität erkennt bereits durch die Konzentration auf eine, wenn auch anwesende, Abwesenheit an, dass ein Trauma auch weiterhin nicht gesagt werden kann. Sie ist sich ihrer Beschränkung auf Annäherungsversuche bewusst, lässt sich von dieser jedoch weder einschüchtern noch auf halten. Denn ihre Wege der sprachlichen Vermittlung verleihen der Sauberen Folter, die am Körper, in der Sprache und aus dem Gedächtnis verschwindet, die nie gewesen und doch ist, immerhin eine Gestalt. Es ist mehrfach betont worden, dass die Suche nach der Sauberen Folter keine Geschlossenheit finden kann. Das bedeutet auch, dass an die vorliegenden Erkenntnisse angeschlossen und (ein-)dringlich weitergedacht werden muss. Im Folgenden werden daher noch offene Fragen zur Sauberen Folter (6.2) und zur analytischen Theatralität im Kontext des zeitgenössischen Theaters (6.3), die auf den Wegen der Annäherung aufgekommen sind, gestellt und angedacht. In diesen Überlegungen soll abschließend noch einmal sowohl das Ausmaß der Sauberen Folter mitten in einer demokratisch-liberalen Gesellschaft mit rechtsstaatlichen Prinzipien thematisiert werden als auch die Bedeutung, Brisanz und Aktualität einer analytischen Theatralität, die erst zu diesem Bewusstsein geführt hat.

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6.2 S aubere F olter als souver äne G este ? Wenn die Saubere Folter psychoanalytisch-theaterwissenschaftlich als Kryptonym gedacht werden kann, das nicht gesagt werden darf, so kommt unweigerlich eine Frage auf: Warum darf die Saubere Folter nicht gesagt werden? Diese Frage bedarf einer breit angelegten Analyse, die an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Stattdessen verstehen sich die folgenden Ausführungen als Hinweise auf eine politische Dimension der Sauberen Folter in liberalen rechtsstaatlichen Demokratien, über die nachzudenken wäre. Die Entwicklung und auch die heutige Anwendung der Sauberen Folter ist, wie nicht zuletzt Darius Rejali belegt und betont hat, eng an die westlichdemokratischen Rechtsstaaten gebunden. Rejali sieht primär demokratische Transparenzideale als ursächlich für den Imperativ der Spurlosigkeit dieser Folter am Körper und für das Schweigen an, das sie aus ihren eigenen Diskursen exkludiert. Wenn eine solche Gewalt in oder durch Demokratien angewendet wird, dann darf es keiner wissen – so lautet, freilich verkürzt, sein zentrales Argument: »And that is why clean coercive techniques typically show up in democratic states. When we watch interrogators, interrogators get sneaky.«6 Damit konzentriert sich Rejali allerdings auf eine gewisse Intentionalität von anonymen Ausführenden der Folter, die etwaige Enthüllungen von Folterskandalen zu verhindern wissen. Wie passt das aber zur juristischen Legitimität und Legalität der Techniken Sauberer Folter? Warum darf sie nicht gesagt und gesehen werden, warum muss sie abwesend sein und sich entziehen, wenn sie doch erlaubt ist? Es muss noch einen anderen, möglicherweise erheblich komplexeren Zusammenhang zwischen Sauberer Folter und Demokratie geben, der sich auf das Motiv der Abwesenheit bezieht. Mögliche Spuren einer Antwort finden sich in den Ansätzen der französischen politischen Philosophie, die sich mit der Tiefenstruktur liberal-demokratischer Gesellschaften auseinandersetzen.7 Insbesondere Claude Leforts Arbeiten zeichnen sich dabei interessanterweise durch eine phänomenologi6 | Rejali: Torture and Democracy, S. 9. 7 | Ich beziehe mich hier wesentlich auf die Arbeiten Claude Leforts. Vgl. Claude Lefort: »Die Frage der Demokratie«, in: Ulrich Rödel (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 281-297. Als Vertreter einer französischen politischen Philosophie, die sich der Entsubstanzialisierung von Gesellschaft, dem radikalen Konflikt und der Kontingenz in liberalen Demokratien widmet, müssen auch Alain Badiou, Jean-Luc Nancy und Jacques Rancière genannt werden. Chantal Mouffe und Ernesto Laclau verfolgen ähnliche Ansätze. Vgl. dazu die Beiträge des Sammelbandes von Oliver Flügel/Reinhard Heil/Andreas Hetzel (Hg.): Die Rückkehr des Politischen. Demokratietheorien heute, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004; vgl. ferner Oliver Marchart: Die politische Differenz.

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sche Prägung sowie durch ein bildhaftes Nachdenken über das Symbolische aus, ein Denken des »Zusammenwirken[s] von wirklicher und symbolischer Ebene, von Sichtbarem und Unsichtbarem«8. Schließlich legt Lefort eine Logik eines prinzipiell entzogenen Fundaments des Politischen in einer demokratischen Gesellschaft frei, das beständig in Bewegung ist – von seiner Abwesenheit zur Anwesenheit. Lässt sich anhand dieses Ansatzes klären, warum die Folter nicht gesagt werden darf? Lefort denkt das Politische in Abgrenzung zur Politik als Form der Existenz gemeinschaftlichen Lebens, deren Fundament sich in liberalen Demokratien zwangsläufig entzieht.9 Denn hatte sich einst ein letzter Grund von Macht, Recht und Wissen im Körper des Königs substantiiert – »er ist die Instanz, in der die Gesellschaft sich als Einheit erkennt und ihre Identität findet«10 –, so muss dieser Grund in einer liberalen Demokratie zwangsläufig leer bleiben. Staatsoberhäupter und Repräsentationsorgane werden turnusmäßig neu gewählt. Gesetze müssen verabschiedet und Rechte zu ihrer Geltung allererst erklärt werden. Macht und Gewalt sind damit in Demokratien als hochgradig symbolische Entitäten zu verstehen – aus welchem Grund müssten sonst die Menschenrechte an eine Menschenrechtserklärung gebunden werden? Trotz der damit unausweichlichen Leere eines Ortes der absoluten Macht und damit auch der Gewalt in Demokratien, die sich außerhalb ihrer Gesellschaft positionieren müsste, wird eben dieser Ort durchaus gesellschaftlich imaginiert. Denn eine Gesellschaft will und muss sich, so Lefort, trotz ihrer inneren Teilung durch pluralistische Meinungen und Gruppierungen als Ganzes erkennen, weshalb inmitten der demokratischen Aushandlungsprozesse die Fiktion ihrer Ganzheit wohnt. Das impliziert die – zumindest symbolische – Existenz eines Ortes, von dem aus die Gesellschaft als Ganzes gedacht wer-

8 | Daniel Gaus: »Demokratie zwischen Konflikt und Konsens. Zur politischen Philosophie Claude Leforts«, in: Flügel/Heil/Hetzel (Hg.): Die Rückkehr des Politischen, S. 6586, hier S. 65. 9 | Politik umfasst im Sinne Leforts das konkrete Regierungshandeln, politische Beziehungen innerhalb einer Gesellschaft oder auch als soziale Formation. Vgl. dazu auch Gaus: »Demokratie zwischen Konflikt und Konsens«, in: Flügel/Heil/Hetzel (Hg.): Die Rückkehr des Politischen, S. 65-86, hier S. 68. 10 | Ebd., S. 69. Der Körper des Königs ist damit als ein doppelter Körper zu denken. Der König verkörpert Macht, Recht und Wissen und bleibt zugleich ein Mensch mit einer Physis, mit Begierden und Gefühlen, er bleibt damit erkennbar für seine Untertanen, die sich auf ihn als »einer von ihnen« beziehen. Ebd., S. 70. Lefort folgt hier Kantorowiczs Konzept des doppelten Körpers des Königs. Vgl. Ernst Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs: Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, Stuttgart: Klett-Cotta 1992.

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den kann.11 Hierin wurzelt die zweite, äußere Teilung von Gesellschaft, die Lefort beschreibt. An jenem Ort wird imaginativ ein letzter Grund bewahrt, ein Fundament des Politischen, das sich beständig entzieht, von diesem (Nicht-) Ort aus jedoch in die Gesellschaft hineinwirkt. Erinnert uns dieser (Nicht-) Ort nicht unweigerlich an die Krypta, die so unsagbar wie unverfügbar ist und die ein Abwesendes lebendig bewahrt, das sich dennoch in gesellschaftliche Praktiken einschreibt? Diese Praktiken bestehen bei Lefort etwa in Wahlen, Zeremonien oder Feierlichkeiten, die ihn als Inszenierungen eines leeren Ortes der Macht interessieren, welcher immer nur temporär, das heißt hier symbolisch, besetzt wird. Es sind Verfahren, die die Unverfügbarkeit eines letzten Grundes und die Abwesenheit von Gewalt in Szene setzen und zugleich verschleiern. So wird vor der Wahl signalisiert, dass der Ort absoluter Gewalt verfügbar und grundsätzlich unbesetzt ist – was im Zeitpunkt der Wahl ohne Zweifel erkannt werden kann. Nach der Wahl hingegen ist eine symbolische Besetzung erfolgt und die Unverfügbarkeit demokratischer Gewalt zieht sich zurück. Das Fundament des Politischen bewegt sich in diesem Sinne von seiner Abwesenheit hin zu einer Anwesenheit, um sich sodann wieder in jenem kryptischen Raum zu verbergen. Es handelt sich also um eine ähnliche Dynamik wie im Erscheinen und Verschwinden der Sauberen Folter in der sensorischen Desorientierung. Einerseits erscheint sie gerade in Inszenierungen der Absenz und der Leere, die (das) Nichts zeigen. Andererseits erscheint sie als Geräusch oder Geruch im Raum. Beide Modi des Erscheinens der Sauberen Folter in einer traumatischen Gegenwärtigkeit dienen einzig dem Verschwinden der Sauberen Folter an einem unbekannten Ort, weil sie als Folter nicht erkannt werden kann. Wenn sich nach Lefort die Gewalt in liberalen Demokratien stets entzieht, in symbolischen Praktiken aber zwischen An- und Abwesenheit oszilliert, so drängen sich solche Übertragungen auf die Saubere Folter auf, die immerhin maßgeblich in von Demokratien verwalteten Gefangenenlagern angewendet wird. Demokratische Gewalt zeigt sich nicht, allein das ist ihr Fundament.12 11 | Dies entspricht dem Konzept des empty signifier bei Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Vgl. etwa Ernesto Laclau: »Why Do Empty Signifiers Matter to Politics?«, in: Ders.: Emancipation(s), London/New York: Verso 1996, S. 36-46; vgl. ferner Ernesto Laclau/Chantal Mouffe: Hegemony and Socialist Strategy: Towards a Radical Democratic Politics, London/New York: Verso 1985. 12 | Zu denken wäre hier auch an Michel Foucaults Argument der Ablösung der Marter durch den nicht länger – öffentlich wie körperlich – sichtbaren Strafvollzug, der den Gedanken der Isolation in sich trägt. Foucaults Gouvernementalitäts-Theorie ist mitunter ein Ausgangs- und Abgrenzungspunkt für Chantal Mouffe und Ernesto Laclau. Vgl. dazu Georg Glasze/Annika Mattissek: »Die Hegemonie und Diskurstheorie von Laclau und Mouffe«, in: Dies. (Hg.): Handbuch Diskurs und Raum. Theorien und Methoden für die

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Insbesondere das Rechtssystem kann als hochgradig Symbolisches der demokratischen Gesellschaft Menschen zu Enemy Combatants erklären und dieser entziehen. Diese Setzung, die Gewalt ist, geschieht von jenem abwesenden Ort aus und bleibt abwesend – so wie die Folter am Körper ihrer Opfer. Diese Gewalt entzieht sich, dies ist auch ihr Fundament. Gehen Saubere Folter und demokratische Rechtsstaatlichkeit also eine stillschweigende Allianz ein? Ein weiterer Gedanke schließt sich an Leforts Überlegungen im Bezug auf die Folterfotografien an: Wenn Lefort gesellschaftliche Praktiken als Inszenierungen denkt, die den Entzug von Macht und Gewalt verschleiern, so können auch die Distribution und Diskussion der Folterfotografien als solche Praktiken gelten. Sie inszenieren eine Anwesenheit von Gewalt, die eine tiefenstrukturelle Gewalt verbirgt. Wenn sie deren sadistische Überschüsse gezielt in Szene setzen, um eine andere, tiefer liegende Gewalt zu verschleiern, so drängt sich ein ungeheurer Gedanke auf: Agieren sie im gezielten Zeigen von Gräueltaten möglicherweise sogar im Sinne der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie? Solche Überlegungen verlangen nach Klärung, nach bohrenden und durchaus unangenehmen Fragen, die hier offen bleiben müssen. Die Saubere Folter kann als Phänomen gelesen werden, das die politischen Grundvorgänge von Demokratie in sich birgt und implizit widerspiegelt. Wohnt aber im Nichtsagen, Verstecken und Verschleiern dieser Folter möglicherweise eine souveräne Geste der Gewalt, die das Fundament aller demokratischen Systeme prägt – und die sich daher nicht zeigen darf?

6.3 Z ur A k tualität analy tischer The atr alität In den Überlegungen zu den Strategien der Sauberen Folter in der sensorischen und mentalen Desorientierung ließ sich eine außergewöhnlich destruktive Form von Performativität freilegen. Als außergewöhnlich kann sie jedoch nur angesehen werden, wenn man von zeitgenössischen Theaterdiskursen ausgeht, die Performativität als wesentlich produktiv und emanzipatorisch versteht.13 Sprechakttheorien wie die J.L. Austins und im Anschluss daran Judith Butlers gehen primär von der Veränderung eines Zustands durch einen Humangeografie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung, Bielefeld: transcript 2009, S. 153-180, insbes. S. 158. 13 | Einen Anfang, das Destruktive im Performativen anzuerkennen, macht der Sammelband von Alice Lagaay/Michael Lorber (Hg.): Destruction in the Performative, Amsterdam/New York: Rodopi 2012. Er beinhaltet auch Beiträge, die sich mit der destruktiven Kraft zeitgenössischer Theaterproduktionen beschäftigen. Vgl. insbesondere die Beiträge von Jenny Schrödl und Barbara Gronau.

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Sprechakt aus, sei dies nun die Taufe oder eine Drohung. Eine Bewertung von Performativität als produktiv oder destruktiv erfolgt hier nicht. Die Diskurse der Theaterwissenschaft müssen sich hingegen fragen, was die Existenz und Wirkungsweise einer destruktiven Performativität in der Sauberen Folter zu bedeuten hat – schließlich ist das Strategierepertoire, aus dem diese schöpft, wenn man den vorliegenden Überlegungen folgt, den jüngeren Performanceund Aktionskünsten nicht unbekannt. Fragen, die hier gestellt werden müssen, könnten etwa lauten: Ist Performativität oder sind performative Akte im Theater tatsächlich als vorwiegend produktiv und kreativ, gar als emanzipatorisch zu denken? Befreien performative Akte stets die mit ihnen konfrontierten Subjekte von ihrer Passivität und Ohnmacht? Begründen sie immer Selbstbestimmung, Handlungskraft, Agency? Die Überlegungen zur destruktiven Performativität der Sauberen Folter legen nahe, dass die symbolischen Praktiken des Theaters mit weitaus differenzierteren negativen und destruktiven Tendenzen durchsetzt ist als gemeinhin untersucht wird – und dass diese durch den Rahmen des Künstlerischen womöglich nicht ins Blickfeld geraten.14 Auf diese Tendenzen im Theater aufmerksam zu machen, muss allerdings als sekundäre Aktualität einer analytischen Theatralität gewertet und als auf den Kontext der Theaterwissenschaft beschränkt verstanden werden. Zuvorderst ermöglicht das hier entwickelte Modell Annäherungen an ein Phänomen, dem sich bislang andere disziplinäre Theoriezweige, aber auch politische Kräfte und massenmediale Vermittler entzogen haben. Es kann gar von wechselseitigen Bewegungen des Entzugs ausgegangen werden, welche die traumatische Abwesenheit und Destruktivität Sauberer Folter auf die Spitze treiben. Die politisch-gesellschaftliche Bedeutung einer analytischen Theatralität, und damit auch der Theaterwissenschaft, kann somit kaum überschätzt werden, wenn sie es ermöglicht oder gar erzwingt, auch das Abwesende, das Nichtgesagte und Nichtseindürfende zu thematisieren.15 Sie bringt Schweigen 14 | Die hier angestoßenen Reflexionsansätze stellen allerdings nicht die Theaterwissenschaft im Ganzen und als Disziplin in Frage. Sie erkennen auch die möglichen Schwierigkeiten der Theaterwissenschaft an, den eigenen Gegenstand nicht aus dem Blick zu verlieren, wenn sie sich diesen Impulsen widmen. Nichtsdestotrotz sind diese Reflexionen notwendig und sollen daher nicht unausgesprochen bleiben. Allerdings muss hier auf eine Gefahr hingewiesen werden, die bereits in den Medienwissenschaften besteht: Verliert eine Theaterwissenschaft angesichts diesen Fragen nicht unter Umständen ihren genuinen Gegenstand aus den Augen? 15 | Ich schließe mich hier Matthias Warstat an, wenn er schreibt: »Die Theaterwissenschaft sollte nicht allein als Kunst- und als Kulturwissenschaft, sondern auch als Gesellschaftswissenschaft verstanden werden. […] Theaterwissenschaft zu betreiben, bedeutet, im Nachdenken über Theater mögliche Gesellschaftsbezüge stets mitzuden-

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und Vergessen zur Sprache, (Nicht-)Orte und Entzug sowie das Trauma einer Folter, die scheinbar nie gewesen und doch tatsächlich ist. Abschließend kann ein Grundmotiv des jüngeren Theaters, der Performance- und Aktionskunst auf den Kontext der vorliegenden Überlegungen bezogen werden. Dieses Motiv durchzieht die vorliegenden Überlegungen in ihrem Ansatz eines performativen Schreibens und einer daraus resultierenden performativen Lektüre, in der das Abwesen der Sauberen Folter in den Suchbewegungen spürbar wird: Diese Untersuchung und sämtliche Überlegungen zur Sauberen Folter verstehen den Leser nicht als passiven Rezipienten. Sie verstehen ihn nicht als bloßen Zuschauer, der ein Geschehen zwar beobachten mag, diesem jedoch unbeteiligt beiwohnt. Diese Studie hofft vielmehr auf potentiell Beteiligte an einer fortgesetzten sprachlichen Vermittlung der Sauberen Folter, an ihrer intensiven Diskursivierung, an einem Sprechen von der und über die Sauberen Folter – als eine Gewalt, die abwesend und doch (unter uns) ist.

ken.« Warstat: »Ausnahme von der Regel. Zum Verhältnis von Theater und Gesellschaft«, in: Weiler/Roselt/Risi (Hg.): Strahlkräfte. Festschrift für Erika Fischer-Lichte, S. 116133, hier S. 116.

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Edition Kulturwissenschaft Marie-Hélène Adam, Szilvia Gellai, Julia Knifka (Hg.) Technisierte Lebenswelt Über den Prozess der Figuration von Mensch und Technik September 2015, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3079-4

Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels Szenen des Virtuosen August 2015, ca. 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1703-0

Werner Hennings, Uwe Horst, Jürgen Kramer Die Stadt als Bühne Macht und Herrschaft im öffentlichen Raum von Rom, Paris und London im 17. Jahrhundert September 2015, ca. 270 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2951-4

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Edition Kulturwissenschaft Thomas Kirchhoff (Hg.) Konkurrenz Historische, strukturelle und normative Perspektiven April 2015, 402 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2589-9

Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller (Hg.) Die Wissenschaften der Mode Mai 2015, 222 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2200-3

Elisabeth Mixa, Sarah Miriam Pritz, Markus Tumeltshammer, Monica Greco (Hg.) Un-Wohl-Gefühle Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten Oktober 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2630-8

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