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German Pages 264 Year 2014
Natalia Borisova Mit Herz und Auge
Lettre
Natalia Borisova (Dr. phil.) unterrichtet russische Literatur und Sprache an der Universität Konstanz.
Natalia Borisova
Mit Herz und Auge Liebe im sowjetischen Film und in der Literatur
Diese Arbeit ist im Rahmen des kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs SFB 485 »Norm und Symbol. Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration« der Universität Konstanz entstanden und wurde auf Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Zusammenfassung | 7 Einleitung | 9 1. Theoretische und methodische Überlegungen | 13 Sprache. Vom Phänomen zur Struktur | 13 Diskurs. Vom Wesen zur Funktion | 17 Code. Vom Gefühl zum Medium | 23 Fragestellungen, Methoden, Quellen | 27 Wiedergabe russischer Namen, Film- und Texttitel | 31 2. Der kleine Unterschied: erste Veränderungen im Code | 33 Geliebter Feind | 35 Metaphysik der Liebe | 44 Metaphysik der Arbeit | 50 3. Liebe medialisiert. Lernen und Unterscheiden | 61 Beobachten. Erziehung der Gefühle | 64 Lernen. Erziehung des Zuschauers | 73 Unterscheiden. Die Individualisierung die Liebe | 78 Sehen. Die Selbstthematisierung des Mediums | 86 4. Zwischen Okzident und Orient | 95 »Ich fuhr ins Ausland …« Der Ausschluss der nationalen Peripherie | 98 Die Erfindung der Provinz | 114 Nach westlichen Mustern | 123
5. Das Auge, die Sprache, das Herz: die neue Liebe | 135 Die neue Sichtbarkeit | 142 Sprechen und lieben | 155 Das kalte Herz | 166 Reversible Zeit | 177 6. Krieg der Geschlechter | 191 Die neue Männlichkeit | 198 Liebe versus Familie | 208 Frauen sind die besten Männer | 220 Die Erfahrung der Instabilität | 228 Fazit | 233 Verzeichnisse | 243 Abbildungsverzeichnis | 243 Filmverzeichnis | 243 Literaturverzeichnis | 246
Zusammenfassung
Die vorliegende Arbeit hat das Ziel, den Wandel des sowjetischen Liebescodes im Film und in der Literatur in der Zeit nach 1956 bis etwa 1990 zu beschreiben. Sie behandelt Liebe als kommunikatives Problem, als ein Medium mit einer spezifischen Sprache, einer spezifischen Semantik und einem spezifischen Code und stützt sich dafür auf die kommunikationstheoretischen Ansätze von Roland Barthes (die Sprache der Liebe), Michel Foucault (der Diskurs der Liebe) und Niklas Luhmann (der Code der Liebe). Dies ist Gegenstand der theoretischen und methodischen Überlegungen des ersten Kapitels. Die Kapitel zwei bis sechs analysieren den sowjetischen Liebescode aus verschiedenen Perspektiven. Indem die »Problemstellen« des Codes – das Verbot der Liebe zum Feind, das Fehlen der Grenze zwischen Intimität und Öffentlichkeit, die Forderung nach einer sublimierten Liebe – anhand von Liebesfilmen diagnostiziert werden, beschreibt das zweite Kapitel den Mechanismus des Codewandels. Es wird gezeigt, dass der sowjetischen Liebe in der Auseinandersetzung mit diesen drei problematischen Aspekten allmählich ein autonomer Raum, ein Raum der Intimität zugewiesen wird. Der Umgang mit der neuen (autonomen) Liebe muss jetzt gelernt werden, denn er lässt sich nicht mehr durch die Regeln des öffentlichen Verhaltens (Pflichterfüllung, Loyalität usw.) bestimmen. Diese Aufgabe wird an die Medien, vor allem an den Liebesfilm, gestellt, sie sollen sich nun um die »Erziehung der Gefühle« kümmern. Unter dem Motto »Lieben lernen« erfolgt parallel dazu die Schulung der Rezeption. Aber in der Diskussion über die neue Liebe tauchen zugleich die nächsten Probleme auf. Es geht einerseits um den medialen Druck, der in den Diskursen über die Nachahmung des (medialen) Helden zur Sprache kommt, und um die Veränderungen im Code der Liebe, der sich angesichts des Siegeszuges der neuen Medien, Film, Fernsehen, zunehmend auf die Visualität konzentriert (vgl. Kapitel 3).
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Mit Herz und Auge. Liebe im sowjetischen Film und in der Literatur
Abgegrenzt von den Sphären der Politik und der Ideologie, kann die Liebe nicht mehr, wie in den Sujets des sozialistischen Realismus, als ein gemeinsamer Code der supranationalen sowjetischen Gemeinschaft funktionieren. Die sowjetische Liebe entwickelt sich zu einer »russischen«, die nur die kleineren ethnischen oder lokalen Gemeinschaften stiften kann (vgl. das vierte Kapitel). Der Liebescode, der jetzt nicht mehr auf seine spezifisch sowjetische Form pocht, schließt in sich die Trends ein, die sich auch in der westlichen Gesellschaft beobachten lassen. In den Code werden die Effekte der Massenmedialisierung und der Konsumgesellschaft aufgenommen: Mode, Geld, medial intendierte Veränderungen in der Wahrnehmung (Stichwort: Konzentration auf die sichtbare Oberfläche, vgl. Kapitel 5). Der sich so gewandelte Liebescode ändert seine Funktion. Er muss keine Liebe zum Herrscher, zum Staat oder zur sowjetischen Gesellschaft mehr sichern, sondern er konzentriert sich auf das (liebende) Individuum. Mehr noch, dem Liebescode obliegt die Aufgabe, das Individuum, das Subjekt der Liebe hervorzubringen. Die Liebe wird zum Pfad der Individualisierung und der Suche nach der eigenen Identität. In diesem Kontext gewinnen Konzepte der Genderzugehörigkeit und der Sexualität an Bedeutung, sie werden zu Kriterien der individuellen Differenz. Darum geht es im sechsten und letzten Kapitel »Krieg der Geschlechter«.
Einleitung
Liebe markiert die problematischste Differenzierung, mit der sich sowjetische Kultur von ihren Anfängen bis an ihr Ende ständig auseinandergesetzt hat. Denn sie war eine Symbolfigur für die Unterscheidung bzw. die Nichtunterscheidung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, zwischen dem Individuellen und dem Kollektiven. Die Analyse des Liebescodes kann deshalb besonders viel über die sowjetische Kultur aussagen, über ihre Prioritäten, Normsetzungen, Verhaltensregeln und Kommunikationswege. Somit ist meine Hinwendung zum Thema Liebe am wenigsten ein Versuch, ein literarisches Motiv zu verfolgen. Diese Arbeit, in der es um Liebe im sowjetischen Film und in der Literatur nach 1956 geht, möchte an erster Stelle betonen, dass Liebe eine spezifische Funktion erfüllt und eine signifikante Stellung in der sowjetischen Kultur einnimmt. Denn im Liebescode vereinen sich die höchstpersönlichen Empfindungen und die sozialen Pflichten, Liebe bildet die Schnittstelle zwischen dem öffentlichen und privaten Bereich. In der sowjetischen Kultur, die das Öffentliche überbetont und das Private zurückstellt, wird Liebe zum besonderen Problem, das im Laufe der sowjetischen Geschichte unterschiedlich angegangen und unterschiedlich gelöst wurde. Die Liebesgeschichte im sozialistisch-realistischen Roman oder im Film spielte z.B. zumeist eine begleitende Rolle. In der stalinistischen Literatur fehlt das Liebessujet oft, da sich der Held ganz seiner öffentlichen Aufgabe widmet oder es ist das Sujet einer Initiation – unter der Leitung der Geliebten erlangt er politisches »Bewusstsein« (Clark 2000: 183). Oder es gibt eine »Umkehrung« des initiatorischen Sujets: Im letzteren Fall wird der Held von einer Frau, oft der Angehörigen einer feindlichen Klasse, verführt, und muss sich aus dem Bann der falschen Liebe lösen, um eben das ersehnte politische »Bewusstsein« (soznatel’nost’) zu erringen. In allen drei Varianten ist die Erfüllung der öffentlichen Auf-
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gabe deutlich wichtiger als die Liebeserfüllung. »Whether he ›gets girl‹ or not is of little importance as long as he gets ›tractor‹«, – so schlussfolgert Katerina Clark, wobei der Traktor hier als Metapher für die sozialen Pflichten des Helden steht (ebd.). Die Sehnsucht, die Irrationalität, die Erotik fehlten diesem sonderbaren »Gefühl«, so dass eine solche Liebe nur innerhalb des sowjetischen Kulturraums als Liebe wahrgenommen wurde. Jenseits der Grenzen der Sowjetunion passierte es dagegen oft, dass die ausländischen Leser und Zuschauer1 sich weigerten, sie als Liebe wahrzunehmen, und die sowjetischen Liebessujets als lieblose »rote Märchen« abqualifizierten. In dieser Form – als Prüfung des politischen Bewusstseins – war die sowjetische Liebe, wie sie in den kanonischen Werken des sozialistischen Realismus geprägt wurde, ein Teil des sowjetischen anthropologischen Projektes, das den neuen sowjetischen Menschen erschaffen sollte. Sowohl die Denkweise als auch der Körper, der Beruf und die Freizeit dieses neuen Menschen hatten sich nach den vorgegebenen und ideologisch wertvollen Mustern zu richten. Auch seine Gefühlswelt sollte sich an den gleichen Prinzipien orientieren, wie das Katerina Clark mit ihrer Typologisierung der sowjetischen Liebe gezeigt hat. Die Liebe des sowjetischen Menschen sollte nicht nur klar reglementiert und formalisiert sein, sie durfte auch kein individuelles Gefühl sein, das einem und nur einem Menschen galt. Sie war – wie die zentralen Texte und Filme der stalinistischen Kultur belegen – eher eine Art affektive Bindung an die Macht. In dem Maße jedoch, in dem sich das Verständnis vom sowjetischen Menschen änderte – einer der größten und sichtbarsten Einschnitte in der sowjetischen Geschichte bildet in dieser Hinsicht die Tauwetterzeit –, änderte sich auch die sowjetische Liebe, indem sie sich zunehmend von ideologischen Richtlinien abkoppelte. An diesem Punkt setzt meine Arbeit an. Sie hat das Ziel, die Verschiebungen und Veränderungen in der Codierung der sowjetischen Liebe in der Zeit nach dem Ende des Stalinismus zu beschreiben und zu analysieren. Die Entideologisierung der sowjetischen Liebe war die offensichtlichste, aber nicht die einzige Folge dieses Prozesses. Denn sobald sich die sowjetische Liebe aus der Obhut der Ideologie befreite, schloss sie Allianzen 1 | Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung, ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, stets auch die weibliche Form mitgemeint.
Einleitung
mit anderen Diskursen und Formationen, die in die Konkurrenz mit der sowjetischen Ideologie traten. So geriet die sowjetische Liebe in die Abhängigkeit von Medien, Mode, liberal-individualistischem Gedankengut der Tauwetter- und Stagnationszeit, von nationalistischen Tendenzen, der Genderpolitik und vielem anderen. Liebe zeigte nun nicht nur auf, »wie man lieben muss« – den aktuellen Verhaltenscode der Liebe –, sondern fungierte zudem als Barometer gesellschaftlicher Trends und historischer Einbrüche. Selbst quantitative Merkmale wie das massenhafte Aufkommen der Liebessujets in Literatur und Film nach 1956 sind aus dieser Perspektive signifikant. Denn in dieser Zeit wurde das einstige Begleitnarrativ »Liebe« nicht nur zum häufigsten, sondern auch zum wichtigsten Sujet, das selbst mit großen sowjetischen Mythen wie etwa dem Krieg und der Revolution konkurrieren konnte, die bisher hauptsächlich den Stoff für sowjetische Literatur geliefert hatten. Dieser Auffassung ist die Struktur der vorliegenden Arbeit geschuldet. Denn diese konzentriert sich nicht nur auf die Frage, wie der sowjetische Liebescode – im Sinne einer latenten Gefühlsanweisung oder eines »Wensoll-man-lieben«-Ratgebers – formuliert ist. Es geht hier auch nicht ausschließlich um den – eigentlich sehr voraussagbaren – Aspekt der Entideologisierung. Vielmehr liegt der Schwerpunkt des Interesses auf den Fragen, was für ein Selbstverständnis der sowjetische Liebescode von sowjetischen Liebenden verlangt und wie er die ideologischen Umwälzungen der 1950er bis 70er Jahre verarbeitet, welche zeitlichen und räumlichen Orientierungen er vorgibt und wie er sich die neue mediale Umgebung zu eigen macht. Der politischen und medialen Übergangsproblematik sind die ersten zwei Kapitel des interpretativen Teils gewidmet (Kapitel 2 und 3). Es geht hier um die Kontinuität und um die Innovationen in der Topik der sowjetischen Liebe, um die Veränderung der rezeptiven Strategien angesichts der sich ändernden medialen Situation und um die Konsequenzen, die sich aus diesem Wandel des Liebescodes ergeben. Um eine (geopolitische) Neuverortung der Liebe im Geiste der russischen nationalen Idee und den Zerfall der sowjetischen Liebe als eines inkludierenden, totalen Codes geht es in Kapitel vier. Schließlich besprechen die letzten zwei Kapitel die zunehmende Medialisierung, Visualisierung und Individualisierung des Liebescodes, welcher jetzt, statt eines Regelwerks für das richtige und gute Lieben, einen Raum für eine individuelle Selbstgestaltung bietet, in dem Aspekte der eigenen Sexualität und der Genderzugehörigkeit immer stärker ins Gewicht fallen. An dieser Stelle soll bemerkt werden, dass
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es dabei nicht um eindeutig »positive« Entwicklungen geht, etwa um eine pathetische »Befreiung« der Liebe. Den Verzicht auf eine strenge und klare Regelung bringt die Überkomplexität und die Instabilität mit sich. Liebe wird zum Problem.
1. Theoretische und methodische Überlegungen
Die Konzepte, die in diesem Kapitel referiert werden, sollen erklären, was im Folgenden unter »Liebe« zu verstehen ist. Im Rahmen dieser Arbeit wird Liebe nämlich als kommunikatives Problem aufgefasst, das heißt nicht als ein »Gefühl«, sondern als »Sprache«, mit der das »Gefühl« in Worte gefasst wird und die eigentlich das »Gefühl« produziert (Barthes), als Diskurs, in dem die Vorstellung von Liebe geprägt wird (Foucault), und als Code, nach dem die Liebe erlebt und in dem über die Liebe kommuniziert wird (Luhmann).
S PR ACHE . V OM P HÄNOMEN ZUR S TRUK TUR In seinem Buch »Fragmente einer Sprache der Liebe« (»Fragments d’un discours amoureux«, 1977) beschreibt Roland Barthes einen »einsamen Diskurs«, den Diskurs der Liebe, der »von Tausenden von Subjekten geführt, aber von niemand verteidigt« wird (Barthes 1988: 13). Damit markiert er die Ausgangsposition seiner Studie: Er schreibt über das Gefühl, dass allseits bekannt, erlebt und beschrieben ist und trotzdem unfassbar bleibt, von niemandem »verteidigt«. Sein Buch über Liebe kann als eine Explikation seiner Semiologie gesehen werden. Barthes versucht hier die linguistische Theorie auf die Phänomene anzuwenden, die zuvor außerhalb der Reichweite der linguistischen Forschung standen. Die »Fragmente« lassen sich in die Reihe anderer Untersuchungen Barthes einschreiben, in denen er die grundsätzliche Übertragbarkeit der sinnstiftenden Unterscheidung zwischen Langue und Parole (»Sprache und Sprechen trennen, heißt gleichzeitig den Prozess des Sinnes eröffnen«, Barthes 1981:15) auf Bereiche wie
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Mode, Essen, Architektur oder Alltag beweist. Er postuliert eine generelle Sprachlichkeit der Kultur und begründet damit ihre prinzipielle Lesbarkeit. Liebe ist demzufolge ein Diskurs, der über eine eigene, entzifferbare Sprache verfügt, und nicht mehr das Phänomen, in dem vor allem seine Unerklärlichkeit, seine Unfassbarkeit hervorgehoben wird. Denn selbst das Nichtverstehen der Liebe, das Über-Liebe-nicht-sprechen-Können sind sich wiederholende und wiederholbare Zeichen der Liebessprache. Die Liebe kann – so die These von Roland Barthes – durch ihre Sprache beschrieben und mit dieser Beschreibung »entmystifiziert« werden.1 Dass Liebe und Sprache eins sind, hat Roland Barthes an einer anderen Stelle in einer ironischen Fortsetzung von André Leroi-Gourhans These ausgeführt. Für den Anthropologen bedeutete die Zweifüßigkeit außer der Befreiung der Hand auch eine Befreiung des Mundes für die Herausbildung der Sprache (Leroi-Gourhan 1988). Für Barthes war die Befreiung des Mundes Anlass zur Herausbildung einer »doppelten, zusammenwirkenden Perversion: das Sprechen und der Kuss« (Barthes 1978: 153). »So betrachtet haben die Menschen, um so freier sie (mit dem Mund) waren, um so mehr gesprochen und geküsst«, setzt er fort (ebd.).2 So ironisch es auch formuliert ist, bringt Barthes damit die genetische Verwandtschaft der Liebe und der Sprache zu Tage. Die Liebe wird durch die performative Kraft der Sprache hervorgebracht, die Sprache durch die »Wollust« der Liebe angesteckt (»Meine Sprache zittert vor Begierde«, Barthes 1988: 162). Barthes erster Schritt ist es, »die Matrix eines Codes« (ebd.: 17) herzustellen, Liebe als eine Sprache darzustellen, als ein Signalsystem, in dem sich das liebende Subjekt befindet. Dieses Signalsystem der Liebe stellt Barthes aus »Figuren« zusammen, die er aus dem Gelesenen, Gehörten und Erlebten herausliest, die aber nur dann Elemente der Sprache der Liebe werden können, wenn sie von den anderen »erkannt werden« (ebd.: 16). Mit anderen Worten, diese Elemente müssen die Qualität eines Zeichens haben: eine Form und eine Bedeutung, die für alle, die diese Sprache beherrschen, erkennbar bleibt. Wichtig für eine Sprache – damit auch für die
1 | Vgl. zum Zusammenhang von Versprachlichung und Entmystifizierung Julia Kristeva: »Der Mensch als Sprache, die Sprache anstelle des Menschen: das wäre die entmystifizierende Geste par exellence« (Kristeva 1981: 10, zit.n. Kolesch 1997: 25). 2 | Zu Leroi-Gourhan und Barthes vgl. Kolesch 1997: 90.
1. Theoretische und methodische Überlegungen
Sprache der Liebe – ist, dass ihr Sprechen »in der ständigen Wiederkehr identischer Zeichen besteht« (Barthes 1981: 14). Wie ein sprachliches Zeichen sind die Figuren der Liebe »zur Hälfte codiert, zur anderen Hälfte projektiv« (Barthes 1988: 17), sie lassen einen freien Raum für individuelle Deutungen, sie müssen mit den Erfahrungen der Aktanten »gefüllt« werden, um aus einer Langue zu einer Parole zu werden. Roland Barthes (re-)konstruiert in seinem Buch hauptsächlich die Langue, erstellt ein Lexikon und eine Grammatik der Liebe, indem er einzelne Elemente sammelt, klassifiziert und ihre Funktionsweise erklärt. Die Ordnung, die er für seine Studie wählt, ist alphabetisch, so dass seine Figuren keine syntagmatische, sondern lediglich eine paradigmatische Beziehung zueinander aufweisen. Die alphabetische Aneinanderreihung der Figuren lässt keine Lektüre – keinen »Roman«, so Barthes – zu (ebd.: 20). Es ist keine Mitteilung im herkömmlichen Sinne, sondern ein Wörterbuch, oder wie Barthes diese Form selber definiert, »eine Enzyklopädie der affektiven Kultur« (ebd.). Hinter diesem Verfahren steht ein dekonstruktives Bestreben, die Liebesgeschichte, die herkömmliche Weise, über die Liebe zu sprechen, zu zerstören und die eigentliche Struktur der Liebe, also nicht das Narrativ, nicht das Sujethafte, sondern ihr Alphabet zu zeigen. Dies äußert sich darin, dass Barthes nicht die Themen oder Motive der Liebe verfolgt, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint, sondern das semiotische System Liebe anhand seiner Formen beschreibt, »mehr anhand seiner Signifikanten als seiner Signifikate« (Barthes 1981: 22). Die 80 Elemente der Sprache der Liebe, die Barthes auswählt – darunter sind z.B. Abhängigkeit, Begegnung, Erwartung, Herz, Katastrophe, Liebeserklärung, Mittelsperson, Sehnen, Umarmung, Verausgabung, Zärtlichkeit –, werden nicht definiert. Es geht nicht darum zu beschreiben, was Erwartung ist oder in welcher Rangfolge die Begegnung im Ablauf der Liebesbeziehung steht. Die 80 Figuren sind ein Index der Gefühle, jene »Matrizen«, mit denen der Affekt ausgesprochen wird. Wenn Barthes z.B. über »ich-liebe-dich« schreibt, analysiert er dieses »Satz-Wort« (ebd.: 138) nicht in seiner Bedeutung der Liebeserklärung. Ihn interessiert nicht das, was mit diesem Satz ausgesprochen wird, sondern wie in diesem Satz die Liebe ausgesprochen wird. Deshalb legt Barthes seine Aufmerksamkeit auf die spezifische Form dieses Satz-Wortes, die von den Formen der »normalen« Sprache abweicht. Indem er seine syntaktische Form (Holophrase – ein nicht zerlegbarer Satz, ebd. 137), seine Funktion in der Rede (Performativ), seine Pragmatik (es verlangt nach einer Antwort), seine Formelhaftigkeit
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(es funktioniert nur so ausgesprochen), seine Tautologie (»ich-liebe-dich« bedeutet nur »ich-liebe-dich«), seine Einzigartigkeit (»ich liebe ihn« gehört nicht mehr zum Paradigma »ich-liebe-dich«, es ist eine andere Mitteilung) beschreibt, zeigt Barthes die Differenz auf, die zwischen der Sprache der Liebe und der Alltagssprache liegt. Die wichtigste Beobachtung dabei ist, dass die Liebe eine Ausdruckssubstanz hat, deren Wesen nicht in der Bedeutung liegt, da ihre Zeichen von einer doppelten Bewegung gezeichnet sind. Sie haben eine utilitäre, funktionale Bedeutung (sie bedeuten, was sie bedeuten) und eine zweite, komplexere Bedeutung, eine Art emotionalen Sinnüberschuss, für den das angeführte Beispiel »ich-liebe-dich« als eine Illustration dienen kann. Ein nach grammatischen Regeln einer Sprache gebildeter Satz hat im Zeichensystem der Liebe eine andere Konnotation und eine andere Funktionsweise. In diesem Zusammenhang ist Barthes’ Analyse zu sehen, die gerade auf die Aufdeckung dieser linguistischen und wahrnehmungspsychologischen Unterschiede zwischen sprachlichen Aussagen im Kontext der Liebe und dem »normalen« Funktionieren der Sprache hinzielt. Barthes zufolge erfordert Liebe eine spezielle Sprache, die sich die Strukturen der herkömmlichen Sprache aneignet, um diese zu einem eigenen Idiom zu transformieren. In der Differenz zwischen der herkömmlichen Sprache und der Sprache der Liebe – so Barthes – wird der Affekt (die Liebe) sichtbar. Die Sprache, derer aber die Liebe sich bedient, ist eine unvollkommene. Nach Barthes bleiben ihre Zeichen immer nur »Anfangszeilen«, »keine fertige Botschaft« (Barthes 1988: 18f.). Die Liebe selbst, so Roland Barthes, ist außerhalb der Sprache nicht fassbar, kann aber auch von der Sprache nicht gänzlich umfasst werden, so dass keine Definition der Liebe bzw. ihrer einzelnen Elemente möglich ist, kein Urteil über das Wesen der Liebe, sondern immer nur Fragmente eines Diskurses – momentane Aufnahmen der Sprache. Zwar zielt Barthes’ Studie vor allem auf die Beschreibung der Langue und die Erstellung eines Index der Liebe (vom Autor auch Code, Matrix oder Enzyklopädie genannt). Aber der so erstellte Index soll von einem eigens dafür konstruierten »liebenden Subjekt« zur Sprache gebracht, das heißt, gleichzeitig als Diskurs inszeniert werden, was in einem gewissen Widerspruch zu seinem zu Beginn seiner Abhandlung ausgesprochenen Vorhaben steht, ein »Alphabet« der Liebe erstellen zu wollen. Barthes glaubt aber, die Beschreibung des Diskurses der Liebe durch seine Nachbildung ersetzen (ebd.: 15), das Schema und das Praktizieren eines Schemas gleichzeitig vorführen zu können. Wenn sich die Gliederung des Bu-
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ches als Index der Liebe lesen lässt, sind die einzelnen Kapitel eher als Beispieldiskurse konzipiert und von einem »Ich« vorgetragen. Das »Ich« der »Fragmente« steht für den Einzelfall des Imaginären, für den individuellen Sprecher der kollektiven Sprache der Liebe. Das »liebende Subjekt« verbindet in seinem Sprechen bruchstückartige Elemente von Literatur, Philosophie, populärer Kultur, privater Unterhaltung und individueller Erfahrung. Im Moment des Sprechens über Liebe wird das »liebende Subjekt« zum Mittelpunkt, in dem sich die verschiedenen Diskurse (der wissenschaftliche, der literarische, der populäre usw.) kreuzen, wobei die Quellen seines Wissens für das »liebende Subjekt« verschleiert bleiben. Barthes nennt diesen Zustand »Unschuld seines Imaginären« (ebd.: 22). Barthes‹ liebendes Subjekt vermischt nicht nur die Diskurse, sondern auch historische Zeiten. Der Diskurs der Liebe weist in seiner Interpretation weder eine syntagmatische – »kein Roman« (ebd.: 20), »die Figuren stehen außerhalb von Syntagma und Bericht« (ebd.: 19) – noch eine diachrone Ordnung auf. Die Liebe ist »ein immerwährender Kalender« (ebd.: 20). Das Zeichensystem Liebe besitzt kaum Grenzen, es umfasst den gesamten Wissenshorizont des Liebenden bzw. des sprechenden Ichs. Die Sprache der Liebe – in Barthes’ Interpretation – ist ahistorisch. Obwohl diese letzte Behauptung Barthes’ zu bestreiten wäre, bildet Barthes’ Studie für die vorliegende Untersuchung einige grundsätzlichen Voraussetzungen, vor allem was die Definition der Liebe betrifft: Liebe ist eine Sprache, sie wird als solche erlernt, erkannt und wiedergegeben. Diese Definition erlaubt es, anstatt von einem unbegreiflichen und diffusen Phänomen, das im (hauptsächlich literarischen, aber auch im alltäglichen und populärwissenschaftlichen) Diskurs oft als unerklärliches Gefühl, Leidenschaft, auch unheilbare Krankheit, Obsession und Wahnsinn, aber genauso als Erleuchtung, göttliche Gabe oder schlicht als innige Freundschaft thematisiert wird, von einem greifbaren »Untersuchungsobjekt« zu sprechen, von einer mehr oder weniger klaren sprachlichen Struktur, die allerdings auch bei Barthes ihre opaken Seiten behält.
D ISKURS . V OM W ESEN ZUR F UNK TION Roland Barthes praktiziert eine linguistische »Entzauberung« der Liebe, indem er in ihr eine Sprache erkennt. Im Geiste der theoretischen Richtung, der er angehört, sieht er in der Liebe einen unveränderbaren, ledig-
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lich erweiterbaren, sprachlichen Code, eine formale Struktur jenseits der historischen Variabilität, einen Diskurs, der immer schon existiert hat und immer seine Gültigkeit hat (»immerwährender Kalender«). Die Vorstellung von der Existenz solcher formalen Strukturen bildet auch für Michel Foucault den Ausgangspunkt, denn am Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere ist »der Sinn« auch für ihn immer »schon da«, allerdings unter »bestimmten formalen Bedingungen«, die man herausfinden sollte (Foucault 2001: 771, zit.n. Sarasin 2005: 21). Auch Michel Foucault versucht zuerst, »strukturierte Formen der Erfahrung zu entdecken, deren Schema sich, mit Modifikationen, auf verschiedenen Ebenen wieder finden lässt« (Foucault 2001: 235), ein Unterfangen, der dem »Sprachenprojekt« von Roland Barthes (die Sprache der Mode, die Sprache der Liebe, die Mythen des Alltags usw.) ähnlich ist. Wie jedoch Philipp Sarasin in seiner Einführung zu Foucaults Werk anmerkt, war der Erfinder der Diskursanalyse seit Beginn seiner Studien an der historischen Dimension dieser »formalen Bedingungen« interessiert. Dieses Interesse führt Foucault schließlich zur Entwicklung seiner Theorie, die den Diskurs nicht als den Vollzug des Sprechens, als das Praktizieren des vorhandenen Codes (wie für Barthes), sondern als ein in der historischen Zeit und im Raum genau lokalisierbares Zusammenspiel der Sprache, der Institutionen, der Politik, der Ökonomie und der Wissenschaft definiert. Nach dieser Auffassung verfügt der Diskurs »Liebe« über eine Genealogie: einen Anfang und eine Geschichte. Konfrontiert mit einem Objekt der Beschreibung, dessen semantischer Kern sich ständig wandelt, entwickelt Foucault eine deskriptive Methode, die gerade auf die Erscheinungen abgestimmt ist, die kein »Wesen«, sondern nur eine Struktur und Funktion haben, und kommt somit wiederum in die Nähe von Barthes’ Auffassung der Liebe. Vor allem am Beispiel der Geschichte der Sexualität hat Foucault demonstrieren können, dass die Sexualität und die Liebe,3 ebenso wie die Krankheit und der Wahnsinn, keine anthropologischen Konstanten sind. Ebenso sind die quasi substantiellen Erscheinungen wie der Körper (und seine Disziplin, seine Sexualität, seine Normalität) von der jeweiligen Wissensordnung abhängig, instabil und veränderbar, und zwar in dem Maße, 3 | Um die Codierung der Sexualität in der Liebe und um die Entstehung der Liebe aus der Ökonomie des Körpers geht es in Foucaults »Gebrauch der Lüste« (Foucault 1986). Auf diesen Aspekt wird unten genauer eingegangen.
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wie diese Anordnungen selbst – das Wissen, das Sprechen und die wissenden und die sprechenden Subjekte – instabil und veränderbar sind. Denn Ereignisse, Phänomene oder Subjekte existieren nach Foucault als Einteilungen, als Folgen von Klassifikationen und Disziplinierungen, als Resultat der diskursiven Praktik. Diskursanalyse bietet eine auf die Deskription des Wandels und der Transformation ausgerichtete Untersuchungsmethode. Sie verzichtet auf die Suche nach Vorläufern, und konzentriert sich auf einen neuen Typus der Beschreibung, auf eine Gegenbegriffsgeschichte. In vielen Fällen – wie z.B. mit der Geschichte des Wahnsinns, der Sexualität, der Körperdisziplinierung – lässt sich zeigen, dass es hierbei nicht um eine Entwicklung des Begriffes, sondern um die Entwicklung entsprechender Konstruktions- und Gültigkeitsfelder geht. Ereignisse und Phänomene, die unter »Wahnsinn«, »Krankheit«, »Körperzüchtigung«, »Sexualität« oder »Liebe« subsumiert werden können, erscheinen wenig konsistent. Es handelt sich zum Teil um grundverschiedene Erscheinungen, wie z.B. körperliche Marter einerseits und Bestrafen durch Einsperrung andererseits, die erst in der Geschichte des Strafens zu den Erscheinungen einer Reihe werden. Das Gleiche gilt auch für die Ordnung der Liebe, die unterschiedliche Erscheinungen wie Sexualität, Freundschaft, Wahrheit und Wissen in ein Paradigma einschreibt und verschmelzen lässt. Im »Gebrauch der Lüste« zeigt Foucault (1986) am Beispiel der Sexualität besonders deutlich die begriffliche und ontologische Instabilität des Deskriptionsobjektes. Er problematisiert nicht nur historische Differenzen in der Nomination – die mehrfachen Benennungen für sexuelle Beziehungen (sinousía, homilía, plesiasmós, mîxis, ocheía) und als Folge andere semantische Grenzen im Vergleich zum modernen Wortgebrauch –, nicht nur die Schwierigkeit, eine Gesamtkategorie (tá aphrodísia) und eine moderne Entsprechung für sie aufzufinden, sondern er apostrophiert vor allem auch die Tatsache, dass die Begriffsfelder, die diese als Liebe, Sexualität, Lust und Begehren benannten Erscheinungen umfassen, an der Kreuzung der jeweils unterschiedlichen Diskurse entstehen. Für die Sexualität in der Antike sind es Ethik, Diätetik, Ökonomik und Erotik, in der Neuzeit Medizin, Psychologie und Religion. Und es ist nicht unerheblich für die Beschreibung der Liebe, wie sie in Erscheinung tritt. Denn – meine späteren Analysen werden versuchen, es zu zeigen – es ist z.B. essentiell für die Beschreibung der sowjetischen Liebe, dass sie nicht aus dem ethischen und moralischen Diskurs hervorgeht, sondern als Kreuzungspunkt zwi-
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schen individuellen Belangen und den Ansprüchen der Macht zur Sprache kommt. Sie profiliert sich als ein politisch brisantes Thema, als eine Beziehung, in der die Macht ein Nebenbuhler des Geliebten im Kampf um die Gefühle des Liebenden ist. Liebe entsteht nach Foucault aus der Ökonomie der körperlichen Lust und dem Streben nach Wahrheit. Bei dieser Verschränkung handelt es sich zwar auch um ein Gegenspiel von schlechter und guter Liebe (der zum Körper und der zur Seele), vor allem jedoch um eine komplexe Ökonomie des Selbst, in der die Eigenart des Körpers und die eigene Identität konstruiert werden. Der Zugang zum Körper bedeutet den Zugang zur Selbsterkenntnis, und die Analytik der Lust zeichnet den Weg zur Wahrheit vor. Gerade die problematische Lust lässt darüber nachdenken, was die wahrhafte Liebe ist. Im Zuge ihrer Problematisierung in der Antike erfährt die Lust einen qualitativen Sprung. Ab einem gewissen Punkt – Foucault bringt die Entstehung der Liebe in den Zusammenhang mit der Entwicklung der platonischen Philosophie – verschiebt sich der Akzent von der Frage des richtigen Verhaltens in der Liebe zur Frage nach ihrem Wesen. Es geht nicht mehr um das Objekt der Liebe (den Knaben), aber auch nicht um das Subjekt der Liebe (den Mann), nicht um die Regeln der richtigen Werbung und der ehrenvollen Hingabe, sondern um Liebe selbst (Foucault 1989: 289-310). Sich auf Platos »Symposion« und »Phaidros« beziehend, zeigt Michel Foucault eine Reihe von Verschiebungen auf, welche die Liebe, die zuvor im Zeichen der Deontologie gestanden hat, in die ontologische Dimension überführen. In Foucaults Denken handelt es sich dabei um den Punkt, an dem die Liebe als ein selbständiger Diskurs entsteht: ein Diskurs, der nicht mehr mit dem physiologischen Diskurs zusammenfällt, der sich nicht mehr für die Deontologie des gesunden Körpers interessiert, sondern sein Augenmerk darauf richtet, wie Liebe hergestellt und legitimiert wird. Diesen entscheidenden Bruch, an dem der Diskurs der Körperökonomie in den ethischen Diskurs der Liebe übergeht, zeigt Foucault anhand von vier »Übergängen« des Erotikdiskurses. Das sind der Übergang von der Frage des Liebesverhaltens zur Frage nach dem Wesen der Liebe, dann der Übergang von der Frage nach der Ehre des Knaben zu derjenigen nach der Liebe zur Wahrheit, des Weiteren der Übergang von der Frage der Asymmetrie der Partner zu derjenigen nach der Konvergenz der Liebe und schließlich der Übergang von der Tugendliebe zur Liebe zur Weisheit. Dabei wird deutlich, wie Liebe Abstand von der Erotik gewinnt. Man
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(Mann) konzentriert sich auf das Objekt der Liebe, nicht seiner »Schönheit« wegen, sondern weil man durch »die Erscheinungen des Objekts hindurch Bezug zur Wahrheit« sucht (ebd.: 302). Die Liebe, die sich zuvor in der Asymmetrie des Werbenden und des Umworbenen kundtat, ist für beide, für den Liebenden und den Geliebten, dieselbe. Denn sie zeichnet für beide den Weg zur Wahrheit vor. Die Führung in der Liebe obliegt nicht dem, der älter, reicher oder mächtiger ist, sondern dem, der auf dem Weg der Wahrheit weiter fortgeschritten ist – dem wahrhaft Liebenden. Das, was zuvor als Ökonomie des Körpers und richtiger Umgang mit Begierden problematisiert wurde, wird zu einem Gefühl transzendiert, welches mit Begriffen wie Sein, Wissen, Wahrheit, Weisheit und Selbst zu beschreiben ist. Die Aufgabe des Liebenden wie auch des Geliebten besteht in der selbstreflexiven Erkenntnis, er muss »erkennen, was in der Liebe, die sich seiner bemächtigt hat, wahrhaft ist« (ebd.: 307). Die Frage nach dem Wesen der Liebe kreist im platonischen Diskurs um das Subjekt und um die Wahrheit und ist für den Liebenden der Weg, auf dem er »sein eigenes Sein findet« (ebd.: 308). Diese platonische Auffassung der Liebe hat auch für die Analysen der sowjetischen Liebe Relevanz. Vor allem in puncto »Wahrheitssuche« greift die spätsowjetische Liebe auf die Problematik der Selbstfindung, der Selbsterkenntnis, der Erfahrung und Akzeptanz der Körperlichkeit zurück, mit der gleichzeitigen Erkenntnis, dass Liebe mehr als Sexualität bedeutet, obwohl sie Sexualität in ihren Code aufnimmt. Die Auseinandersetzung mit der von Foucault aufgezeichneten Problematik wird umso intensiver, je weiter sich die sowjetische Liebe von der Liebe zur Macht entfernt, das heißt, je weiter sie sich der Ethik nähert und zu einer Form der Individuation wird. Der Begriff »Liebe zur Macht« gehört, ebenso wie die individualisierende Liebe, zu den Grundbegriffen dieser Arbeit. Liebe als Form der Individuation, als Form der Hervorbringung eines Selbst einerseits und »Liebe zur Macht« als spezifische sowjetische Form der Vergemeinschaftung andererseits bilden zwei Pole des sowjetischen Liebesdiskurses. Die Formulierung »Liebe zur Macht« orientiert sich an Foucaults Verständnis von Macht. Für ihn verbirgt sich hinter Macht eine »komplexe strategische Situation« (Foucault 1983: 94), in die alle Beteiligten integriert sind. Diese ist allgegenwärtig in einer Gesellschaft und bezieht sich nicht nur auf bestimmte Gruppen, die »die Politik« in Sachen Sexualität, Gesundheit oder Devianz bestimmen. Vielmehr sind sowohl die Herrscher als auch die Be-
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herrschten dieser »Macht« unterworfen und somit nicht die Instanz der Macht im Foucault’schen Sinn. Was unterdrückt, eingepflanzt, verbreitet wird, entscheidet kein individuelles Subjekt. In diesem Licht wird sich die Liebe zur Macht nicht ausschließlich als Liebe zum Herrscher verstehen lassen, obwohl sie sich oft durch die Herrscherliebe symbolisieren lässt, sondern auch als ein Code, der den Vorrang des Kollektiven vor dem Individuellen bestätigen soll. Macht steht im engen Zusammenhang mit Wissen und Wissensformation, die in Foucault’scher Begrifflichkeit »das Wissensregime« genannt werden können (Foucault 2005: 245). So richtet sich der Widerstand, so Foucault, gegen »die Art und Weise, wie Wissen zirkuliert und funktioniert« (ebd.). Im Kampf gegen die »Macht« geht es um den Besitz der Wahrheit. Dies wird besonders deutlich, wenn man Diskurse untersucht, die von der Politik im herkömmlichen Sinne weit entfernt sind (wie die Liebe) und trotzdem ein Machtthema darstellen, denn auch hier geht es um moralische Legitimierung (Wahrheit). Die Macht macht sich im Diskurs sichtbar, aber auch angreifbar, indem sie ihre Position formuliert. Deshalb ist der Diskurs nicht zweigeteilt – zwischen Macht und Widerstand –, sondern funktioniert als ein Wechselspiel der Positionen. Die Macht installiert den Widerstand und ermöglicht den Gegendiskurs. Die hohe Präsenz der Machtproblematik im Code der sowjetischen Liebe macht sie genau in diesem Punkt anfechtbar. Aus der Perspektive der Diskursanalyse beschränkt sich die Macht nicht auf das Wechselspiel des Widerstandes und der Unterdrückung, sondern erfüllt eine andere wichtige Funktion, nämlich die Hervorbringung der Individualität. Foucault unterscheidet drei Formen der Hervorbringung des Subjekts (ebd.: 240). Das sind die Objektivierung durch die Sprache (das sprechende Subjekt der Grammatik), die Objektivierung durch die Praktiken der Klassifizierung und Typologisierung (die Gesunden und die Kranken, die Normalen und die Devianten usw.) sowie die »subjektive Objektivierung – durch die Art und Weise, wie der Mensch sich selbst als Subjekt versteht. Von diesen drei Formen ist die dritte für die folgende Untersuchung von primärer Bedeutung. Denn die sowjetische Liebe bringt eine bestimmte Anthropologie und eine bestimmte Art von Subjektbildung mit sich, und indem sich die Liebe ändert, ändern sich die Techniken des Selbst und die Vorstellungen vom Menschen. Diese Form von Subjektbildung trägt dazu bei, dass die Menschen nicht nur zu den von außen beschreibbaren und klassifizierbaren Subjekten werden, son-
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dern im engeren Sinne zu Subjekten mit einem »Bewusstsein« und einer »Psyche«.
C ODE . V OM G EFÜHL ZUM M EDIUM Der Zusammenhang zwischen Liebe und Individualität ist der Ausgangspunkt für Niklas Luhmann und seine Studie »Liebe als Passion« (1982). Anders als Foucault, der die Anfänge der modernen Liebe in der Antike sucht, stellt Luhmann den Aufstieg und die Aufwertung der Liebe in einen Zusammenhang mit dem Übergang von einer Standesgesellschaft zu einer funktional differenzierten Gesellschaft, in der eine durch ihren sozialen Status nicht mehr ausreichend definierte Individualität eine maßgebliche Rolle zu spielen beginnt. Auch Luhmann weist darauf hin, dass Liebe keine anthropologische Konstante und nicht durch solche zu erklären ist. Man kann, so der Autor weiter, »nicht davon ausgehen, dass der Bedarf für persönliche Individualität und die [mit der Liebe gegebene; NB] Möglichkeit sich selbst und die anderen als einzigartig zu stilisieren, durch anthropologische Konstanten erklärt werden können« (Luhmann 1994: 15). Die Sexualität ist lediglich »eine der Umweltvoraussetzungen für Formendifferenzierung im Gesellschaftssystem« (ebd.: 49), nicht jedoch ausreichende Erklärung für die Herausbildung des Kommunikationssystems Liebe. Der Prozess der gesellschaftlichen Transformation zeichnet sich nach Luhmann durch eine doppelte Steigerung aus: »durch mehr Möglichkeiten zur unpersönlichen und durch intensivere persönliche Beziehungen« (ebd.: 13). So sind in den modernen europäischen Gesellschaften auf der Ebene der unpersönlichen Kommunikation erfolgreiche Kontakte zwischen Kommunikationspartnern möglich, auch wenn diese nur über sehr wenige Informationen übereinander verfügen. Die minimale Kenntnis von der jeweiligen sozialen Rolle und der institutionellen Zugehörigkeit der Akteure reicht aus und bildet das, was Luhmann als »Verlässlichkeiten« (ebd.: 14) definiert, das heißt als Kommunikationsregeln, die durch kein spezielles Wissen (etwa durch das Wissen von persönlichen Qualitäten der Teilnehmer) gesichert werden müssen. Die unpersönliche Kommunikation kann somit expandieren, ohne an eine Überforderungsgrenze zu stoßen. Dagegen kann die Möglichkeit der persönlichen Kommunikation nicht beliebig ausgeweitet werden, schließlich ist in diesem Fall der Informa-
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tionsumfang weit größer. Als Lösung bietet sich die Intensivierung der Beziehung, für die immer mehr individuelle, einzigartige Eigenschaften der Person bedeutsam werden. Denn in den funktional differenzierten Gesellschaften ist die einzelne Person durch ihre soziale Position nicht mehr fest definiert, sondern sie kann verschiedene Funktionen übernehmen. Ihre Umwelt wird komplexer und weniger durchschaubar, so dass der Bedarf nach einer verständlichen »Nahwelt« wächst. Um diese »Nahwelt« zu konstruieren, reichen jedoch nicht die allgemeinen Kategorien wie Alter, Geschlecht, Klasse usw. aus. Das Individuum muss sich in der Differenz zu seiner Umwelt begreifen und sich als einzigartig stilisieren (vgl. hierzu auch die von Foucault problematisierte Hervorbringung des Selbst). Dafür braucht das Individuum einen kommunikativen Raum (das Intimsystem) und ein spezifisches Medium, das ihm eine höchst individuelle Kommunikationsart ermöglicht, ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, das Verlässlichkeiten auch im Bereich der privat-intimen Kommunikation schafft und die Akteure dazu zwingt, Persönliches zu kommunizieren. Wie jedes Medium tritt auch ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium an der »Bruchstelle« der Kommunikation auf, dort, wo sie unwahrscheinlich wird. Überwindet die Sprache die Unwahrscheinlichkeit des Verstehens von Informationen und minimieren die Verbreitungsmedien (Schrift, Buchdruck, TV, Radio usw.) die Unwahrscheinlichkeit des Erreichens der Kommunikationsteilnehmer, so reagiert ein symbolisch generalisiertes Medium auf die Unwahrscheinlichkeit des kommunikativen Erfolgs. Es bearbeitet das Problem der Akzeptanz und motiviert zur Annahme von kommunizierten Inhalten (Luhmann 1987: 220f.). Zieht man die von Luhmann postulierte Steigerung der Kommunikation in Betracht, kommt den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien eine weitere Funktion zu. Sie komprimieren die Komplexität der Kommunikation dadurch, dass sie bestimmte Selektionen in codierter Form bereitstellen und Kommunikationsanweisungen entwerfen, die unterschiedlich gehandhabt werden können. Liebe als ein solches Medium ist demnach kein Gefühl, sondern lediglich ein Code, nach welchem das Gefühl erlebt werden kann – »das Verhaltensmodell […], das einem vor Augen steht« (Luhmann 1994: 23). Bleibt die Funktion der Liebe als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium immer die gleiche – sie ermutigt zur intimen Kommunikation und stellt festgefügte Regeln dafür bereit –, sind die Inhalte des Codes (die Liebessemantik) unterschiedlich. Sie verweisen auf die historische Si-
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tuation einer Gesellschaft, auf die in ihr gegebenen Möglichkeiten der Kommunikation und auf ihre Struktur. Um Liebe als ein sich in der Geschichte entwickelndes Medium zu beschreiben, entwirft Niklas Luhmann ein vierteiliges Deskriptionsmodell. Er schlägt vor, zwischen der Form des Codes, der Begründung für Liebe, dem Problem, auf das die Veränderung reagiert, und der Anthropologie, die sich dem Code zuordnen lässt, zu unterscheiden (ebd.: 51). So ist unter der Form des Codes das Prinzip zu verstehen, das dem Erleben der Liebe zugrunde liegt. Beispielsweise wechselt ein solcher Code Mitte des 17. Jahrhunderts von der Idealisierung des Objekts zu »Paradoxierung« der Liebe (ebd.: 67), um später, in der Zeit der Romantik, zur »Form der Reflexion von Autonomie« (ebd.: 51) für das liebende Subjekt zu werden.Genauso ändert sich auch die Begründung für Liebe. Interessierte sich die idealisierende Liebe für die Eigenschaften des Objekts, so koppelte sich die paradoxe Liebe von den externen Begründungen ab und kaschierte die »Schönheitsfehler« des Geliebten durch Imagination. Für die romantische Liebe genügte dagegen die bloße Tatsache, dass man liebt. Weder der Selbstbetrug der Imagination noch andere, außerhalb des subjektiven Erlebens liegende Eigenschaften spielten für die romantische Liebe eine Rolle. Etwas tautologisch ausgedrückt: Für die romantische Liebe genügt die Liebe allein, um das geliebte Objekt liebenswert zu machen. Diese Veränderungen der Liebessemantik stehen im Zusammenhang mit dem Auftauchen neuer Probleme. So sollte die höfische Liebe des Mittelalters den liebenden Ritter von den Unterschichten abgrenzen, weil er sich nicht um etwas so Triviales wie Sexualität bemühte, sondern hochstilisierte und viel Muße erfordernde Gefühle entwickelte, die jeglichen praktischen Sinns entbehrten. Eine solche am Ideal orientierte Semantik arbeitet mit dem Problem der Exklusivität. Die paradoxe Liebe des 17. Jahrhunderts dagegen löst das Problem der Differenz zwischen der hohen und sinnlichen Liebe auf und baut in den Liebescode die Sexualität ein. Konsequenterweise ändert sich mit dem Code auch die Anthropologie, das heißt, mit welchen »Sinnen« Menschen sich an der Liebe »beteiligen«, die Art, wie sie an den Code angeschlossen sind und wie sie ihre Medienabhängigkeit reflektieren. So spricht die idealisierende Liebe die menschliche Vernunft an, die Paradoxierung der Liebe wertet die Leidenschaftlichkeit (passion) und den Liebesgenuss (plaisier) auf. Romantische Liebe nimmt für sich die gesamte Individualität des Liebenden in Anspruch und unterscheidet nicht zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, auch nicht zwischen Körper und Seele, denn ihre Argumentation ist total.
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Aus den Veränderungen des Codes entstehen die Differenzen auch in Bezug auf die Anforderungen der Inklusion oder der Exklusion. Ob Liebe als ein exklusiver, nur der Elite zugänglicher Code verstanden wird oder ob sie eine weitgehende Inklusion aller gesellschaftlichen Schichten erfordert, entscheidet die Form des Codes. Zugleich muss die inkludierende Liebe ihre Exklusivität anders behaupten. Die Liebe wird einerseits für jedermann erreichbar, andererseits soll sie immer als etwas Individuelles, etwas Besonderes erlebt werden. Dabei ist für die Qualität der Liebe nicht mehr die Form ihres Auslebens (z.B. Galanterie, das Befolgen von Regeln) entscheidend, denn das kann nun jeder. Der Code wird nach innen verlagert und bestimmt den Weltbezug des Liebenden – er lebt in der Für-ihnModalität – für den Geliebten. Das Problem, wie Menschen an den Code angeschlossen sind, grenzt zugleich an die Frage, welche Medien dem Diskurs der Liebe zur Verfügung stehen. Die Möglichkeit der Inklusion aller Mitglieder der Gesellschaft in das Erleben der Liebe ist frühestens mit der Verbreitung des Buchdrucks gegeben. Denn das »Wagnis Liebe […] ist nur möglich, wenn man sich dabei auf kulturelle Überlieferungen, literarische Vorlagen, überzeugungskräftige Sprachmuster und Situationsbilder, kurz: auf eine tradierte Semantik stützen kann« (ebd.: 46). Dies kann nur durch Anschluss an allgemein zugängliche Medien gewährleistet sein. Der Code der Liebe wird in den Medien hervorgebracht, die Reproduktion der Medien, so Luhmann, ist aber durch das Interesse an dem Sujet Liebe bedingt. Diese Wechselwirkung definiert Luhmann als »das Problem selbstreferentieller Genese, ein Problem der Entwicklung von Formen, die sich in den Bedingungen ihrer Möglichkeit selbst voraussetzten« (ebd.: 47). Mit der intensiven Medialisierung der Liebe geht ihre Ausdifferenzierung zu einem spezifischen kommunikativen System einher. Der Code wird dichter, komplexer und universeller. Aber die Ausdifferenzierung und Elaborierung der Liebe lassen zugleich bewusst werden, dass es dabei um einen erlernbaren, artifiziellen Code geht. Die Liebe ist ein medial präformierter Code, so wie auch der Liebende ein medial präpariertes Wesen ist, das die Differenz, oder vielmehr die Unmöglichkeit einer Differenz, zwischen seiner Liebe und dem Diskurs der Liebe mitdenken und erleben muss.
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F R AGESTELLUNGEN , M E THODEN , Q UELLEN Nach diesem Überblick kann man zusammenfassend die Problembereiche formulieren, die für die Analyse des sowjetischen Liebescodes grundlegend sind. Sieht man Liebe als ein Phänomen der Kommunikation, stellt sich als Erstes die Frage nach ihrer Sprache, das heißt nach Code und Semantik der Liebe. Hier geht es darum, welche Form der Code der Liebe hat und welche Ideen, Vorstellungen, Verhaltensmuster er vermittelt. Der zweite Problembereich ergibt sich aus der Anthropologie. Dabei kann man von zwei Aspekten sprechen, denn in der Diskussion um die Anthropologie, wie sie bei Foucault und Luhmann geführt wird, handelt es sich zum einen um das Problem des Anschlusses an das Medium (mit welchen Sinnen sind Menschen an den Code angeschlossen – Luhmann) und zum anderen um das Problem der Hervorbringung eines Selbst, um das Problem der Subjektbildung (die Entstehung eines Menschen mit einem »Innen« – Foucault). Drittens geht es schließlich um die medialen Bedingungen der Liebeskommunikation, das heißt um die Frage nach den Veränderungen im Diskurs der Liebe, die sich durch die gewandelten kommunikativen Möglichkeiten ergeben, die also durch das Aufkommen eines neuen Mediums oder durch den Wandel des alten Mediums bedingt sind. Für die Analyse des sowjetischen Liebescodes stellt sich vor allem die Frage nach der Veränderung im Code. Hier möchte ich zeigen, wie der Code der Tugendliebe (der Liebe zum Helden und somit der Liebe zur Macht, zum Staat, zur Heimat usw., die in der Figur des sowjetischen Helden symbolisiert werden) verworfen wird und wie an dessen Stelle der Code der individualisierenden Liebe tritt. Mit dem Code ändert sich auch seine Funktion, die nun nicht mehr – so meine These – in der Bindung an die Macht, sondern in der Hervorbringung von Subjektivität besteht und grundlegend Veränderungen in der Anthropologie des (liebenden) sowjetischen Menschen hervorruft. Spricht man über den Wandel der sowjetischen Liebe, muss man nach den Gründen fragen, die den Wandel möglich machen. Und die Antwort darauf sollte nicht nur in der politischen Wende, sondern auch in dem medialen Wandel und in den veränderten ästhetischen Einstellungen gesucht werden. Liebe wird hier – um das noch einmal hervorzuheben – als Phänomen der Kommunikation betrachtet und als historisch wandelbares Medium gehandhabt. Die Suche nach dem Wesen der Liebe, die Wertung und somit
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die Frage nach der richtigen oder falschen Liebe, kurz: die Ontologisierung der Liebe, die Frage nach ihrem Wesen tritt hier eher in den Hintergrund. Entscheidend sind Struktur, Funktion und Kontext ihres Erscheinens: welche Sprache sie benutzt, welche Rollen in der Beziehung sie zuweist, welche medialen Voraussetzungen sie hat, welche Wertvorstellungen, Selbststilisierungsmöglichkeiten usw. sie anbietet. Die Geschichte der sowjetischen Liebe wird hier nicht als eine Geschichte der »Liberalisierung« der Liebe beschrieben – was, betrachtet man die untersuchte Zeit, auf der Hand liegen würde –, sondern als die Geschichte einer anderen Einteilung, der Umstrukturierung der semantischen Felder der Liebe, die aus dem Politischen in den Bereich des Ethischen wechselt. Aus dieser Perspektive ist das Thema Liebe im Zusammenhang mit der Kulturgeschichte des spät- und postsowjetischen Russlands noch nicht eingehend genug analysiert worden. Besonders mangelt es an Untersuchungen des Problems des Intimitätswandels aus medien- und kommunikationswissenschaftlicher Sicht. Zum Teil gehen die in der letzten Zeit erschienenen Sammelbände zur Intimität in der russischen und sowjetischen Kultur auf diesen Aspekt ein.4 Vereinzelt lassen sich kleinere Untersuchungen finden, welche den Liebesdiskurs im Kontext seiner Medialisierung analysieren, z.B. diejenige von Al`mira Usmanova, die das Beispiel eines postsowjetischen Remakes eines sowjetischen Liebesfilmes wählte (Usmanova 2001). Die historische Epoche der 1960er bis 1980er Jahre, die in der vorliegenden Arbeit analysiert wird, ist dagegen gut erforscht. Es liegen fundierte Monographien, Sammelbände und Quellensammlungen zu den Fragen des Kulturbetriebes und der Stellung der künstlerischen Elite vor,5 sowie Überblicksdarstellungen zur Geschichte der sowjetischen Literatur und des Filmes.6 Diese Literatur wurde gesichtet, um den historischen, 4 | Vgl. stellvertretend die Sammelbände »Nähe schaffen, Abstand halten …« (Grigor’jeva/Schahadat/Smirnov 2005) und – im Zusammenhang mit dieser Untersuchung entstanden – »SSSR: Territorija ljubvi« (Bogdanov/Borissova/Murašov 2008). 5 | Zezina 1999, Rogov 1998, Eggeling 1994, Šukšina/Gromova 1994, Kretzschmar 1993; zur Geschichte der Zensur stellvertretend Gorjaeva 2002, 1995. 6 | Stellvertretend zur Literatur vgl. Savickij 2002, Lejderman/Lipoveckij 2003, Brown 1993, auch Clark 2000; zum Film s. Sekirinskij 2004, Golovskoj 2004, Trojanovskij 2002, Woll 2000, Engel 1999, Fomin 1998, 1996, Lawton 1992. In
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politischen, ästhetischen und medialen Kontext dieser Zeit zu bestimmen. Vereinzelt thematisierten diese Studien die sowjetische Liebe, (vgl. z.B. Bulgakova 1999a, Woll 2000). Katerina Clark widmet der Liebe im Roman des sozialistischen Realismus ein Unterkapitel ihrer Monographie. (Clark 2000:182-185). Auf die Teilaspekte des Fragenkomplexes »Intimität« wird fragmentarisch in kulturwissenschaftlichen Arbeiten eingegangen, die eine Geschichte der einzelnen Kunstrichtungen oder des gesellschaftlichen Diskurses zu schreiben versuchen. So thematisieren z.B. Vladimir Papernyj – in seiner Analyse der Architektur der Stalinzeit – und Svetlana Boym das Fehlen des individuellen (Wohn-)Raums des Sowjetbürgers (Papernyj 1996, Boym 1994). Die Problematik der individuellen Emanzipation wird von Oksana Bulgakova anhand der Geschichte des sowjetischen Films der 60er Jahre angesprochen (Bulgakova 1999). Der in der Stalinzeit vorgenommene Normierungsversuch des sexuellen Lebens der Sowjetbürger und die Entscheidung zugunsten der »produktiven« Heterosexualität wird bei Leonid Maksimenkov dargestellt (Maksimenkov 1997). Eine gewisse Ausnahme bilden die Untersuchungen von Igor’ Kon, der konsequent in mehreren Arbeiten die Entwicklung des russischen Sexualitätsdiskurses aus soziopsychologischer Sicht verfolgt (Kon 1993, 1995, 1997). Von grundlegender Bedeutung für das Forschungsvorhaben ist Eric Naimans Monographie »Sex in Publik« (Naiman 1997). Darin analysiert der Autor die ideologische Vereinnahmung der Sexualität und den Konflikt zwischen Individuellem und Öffentlichem, zwischen Intimem und Politischem in den 1920er bis 30er Jahren in Sowjetrussland. Die von Naiman aufgedeckte Verschmelzung von sexueller und politischer Rhetorik (bei Naiman subsumiert unter dem Motto »lets penetrate«), gemäß der eine politische Handlung buchstäblich »unter die Haut« geht und eine sexuelle Handlung zum politisch hoch brisanten Delikt stilisiert wird, war für meine Arbeit besonders produktiv. Schließlich war für mich Oleg Kharkhordins diskursanalytisch angelegte Studie zum Kollektiven und zum Individuellen in der Sowjetunion (Kharkhordin 1999) sowohl aus historischer als auch aus dieser Reihe sollten auch noch die eher essayistische Literatur (z.B. Vajl/Genis 1996) und die Memoiren erwähnt werden (u.a. Amal’rik 1982, Čuchraj 2002, Romm 1982, Končalovskij 1998, 1999, Arinbasarova 1999, Trifonov/Trifonova 2003), die vor allem Informationen zum historischen Kontext der 1960er und der 1970er Jahre liefern.
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methodologischer Sicht relevant, denn sie behandelt die Problematik der Etablierung der sowjetischen Individualität in der Zeit Stalins und später in der Tauwetterzeit – ein Thema, das den gesamten Liebesdiskurs von den 1960ern bis in die 1980er Jahre prägt. Zwei Gruppen von Quellen wurden hier hauptsächlich zur Analyse herangezogen. Die erste bilden literarische Texte, in denen die Liebe als Haupt- oder Nebenthema im Zusammenhang mit den Diskursen der Macht, der Geopolitik, der Bildung, der politischen Wende, der individuellen Emanzipation, des Genders usw. behandelt wird. Die zweite Gruppe bilden die Liebesdarstellungen im russischen Spielfilm (es werden acht Filme einer genaueren Analyse unterzogen). Mit dem Vergleich der beiden Medien ist nach der medienspezifischen Transformation der Liebessemantik und nach der Differenz der performativen Strategien beider Medien zu fragen. Literatur und Film sind die profilierenden Medien dieser Zeit. Einerseits hat die Literatur eine privilegierte Stellung und fungiert zugleich als ideologisches Sprachrohr und als Arena der politisch-ideologischen Auseinandersetzung zwischen den unterschiedlich gepolten gesellschaftlichen Fronten. Andererseits steigt das Kino als Konkurrenzmedium auf. Am Beispiel dieser zwei Medien lässt sich auch die Problematik der medialen Konkurrenz und des Austausches untersuchen, der zwischen diesen Medien stattfindet (der Film setzt sich mit den narrativen Strategien der Literatur auseinander, die Literatur steht unter dem starken Einfluss der Visualisierung). Ausschnittsweise wurden auch publizistische Quellen in die Untersuchung einbezogen – Filmzeitschriften wie »Iskusstvo kino« und »Sovetskij ėkran«, literarische wie »Novyj mir« und »Junost’«, ideologische – »Kommunist« –, philosophische – »Voprosy filosofii« – und Frauenzeitschriften wie »Rabotnica«. Diese Quellen wurden jedoch nur zur Erschließung des historischen und rezeptiven Kontextes hinzugezogen. Zum gleichen Zweck wurden Archivmaterialien eingesehen, vor allem aus den Beständen des Russischen Staatlichen Archivs der Literatur und Kunst (RGALI) und zum Teil aus dem Russischen Staatlichen Archiv der neusten Geschichte (RGANI). Sie erlauben Einblicke einerseits in die Arbeit der Filmindustrie mit ihren Produktionsbedingungen, ideologischen und wirtschaftlichen Vorgaben sowie ihrer Filmzensur und andererseits in den Literaturbetrieb und seine Leserkonferenzen, Briefwechsel zwischen Redaktoren und Schriftstellern. Außerdem boten die Archive die Möglichkeit, in die unzensierten Meinungen der Leser und Zuschauer Einblick zu bekommen.
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Die Quellen wurden gemäß ihrer Bedeutung für die Fragestellung der Untersuchung ausgewählt und ausgewertet. Auch die Quellenlage, die vorhandenen Archivmaterialien oder die exponierte Stellung einzelner Texte oder Filme in ihrer zeitgenössischen Rezeption bestimmten die Auswahl. Strukturiert wurde diese Arbeit thematisch, jedoch wurde versucht, auch die diachrone Abfolge beizubehalten, um die zeitliche Dynamik der Veränderungen im Code der sowjetischen Liebe zu zeigen.
W IEDERGABE RUSSISCHER N AMEN , F ILM - UND TE X T TITEL Russische Familiennamen, Film- und Texttitel, sowie kurze russische Zitate im fließenden Text werden nach der wissenschaftlichen Transliteration wiedergegeben. Die wissenschaftliche Transliteration wird auch für Namen der Schriftsteller und Filmschaffender verwendet, von denen auch eingedeutschte und englischsprachige Schreibvarianten existieren: z.B. Andrej Končalovskij statt Andrej Konchalovskij, Vasilij Aksenov statt Wassili Aksjonow. Die abweichenden Namen deutscher Ausgaben werden im Literaturverzeichnis neben dem transliterierten Namen angegeben: Aksenov, Vasilij P. [Wassili Axjonow] (1983): Gebrannt. Berlin/Frankfurt a.M./ Wien. Um die Einordnung der im Text erwähnten Filme und Texte zu ermöglichen, finden sich folgende Angaben: Bei der ersten Nennung eines Filmes: Russischer Originaltitel (kursiv), deutsche Übersetzung des russischen Titels oder/und deutscher Verleihtitel (dt. VT.) (kursiv), Produktionsjahr. Informationen zu deutschen Verleihtiteln wurden der »Geschichte des sowjetischen und russischen Films« (Engell 1999) entnommen. Wenn ein Film keinen deutschen Verleihtitel hat, wird eine deutsche Übersetzung angeführt. In den Fällen, in denen der deutsche Verleihtitel vom Sinn des russischen Originaltitels erheblich abweicht, wird bei der ersten Nennung zuerst die Übersetzung des russischen Titels angegeben und dann der deutsche Verleihtitel: z.B. Sorok pervyj, Der Einundvierzigste, dt. VT. Der letzte Schuß, 1956. Titelvarianten werden im Filmverzeichnis durch den Vermerk »weitere VT.« angegeben: z.B. Devčata (dt. VT. So ein Mädel, weitere VT. Ist sie eine Wette wert?). Bei allen weiteren Nennungen eines Films im Text wird der russische Titel im Kursiv verwendet.
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Bei der ersten Nennung eines Textes: Russischer Originaltitel in Anführungszeichen, deutsche Übersetzung des russischen Titels oder Titel der deutschen Ausgabe in Anführungszeichen, Jahr der russischen Erstausgabe: z.B. »Zvezdnyj bilet« (»Fahrkarte zu den Sternen«, 1961). Bei den Textzitaten wird wie sonst bei Literaturangaben der Name, das Erscheinungsjahr der zitierten Ausgabe und Seitenzahl angeführt: z.B. Aksenov 1987: 332. Für Texte, die aus Zensurgründen nicht nach ihrer Fertigstellung publiziert werden konnten und erst Jahre später erschienen sind, werden sowohl das Jahr der Fertigstellung, als auch das Erscheinungsjahr angegeben: »Puškinskij dom« (»Das Puschkins Haus«, 1971/1978). Bei allen weiteren Nennungen eines Textes wird der russische Originaltitel in Anführungszeichen verwendet.
2. Der kleine Unterschied: erste Veränderungen im Code
Dass unsere Vorstellungen von Liebe durch Literatur geprägt sind, hat Niklas Luhmann in seiner Studie »Liebe als Passion« materialreich dargelegt (Luhmann 1982). Er explizierte darin die Maxime, die auf La Rochefoucauld zurückgeht und besagt, dass ohne Liebesromane Menschen nicht wissen würden, was Liebe ist. Luhmann interpretiert dieses Verhältnis aber nicht als »Ansteckungsgefahr«, die von der literarischen Liebe ausginge – ein Topos in den literarischen Beschreibungen der Liebe, sondern er geht vielmehr von einer Kopplung der Liebe an das Medium ihrer Verbreitung aus. Die Entfaltung und der Wandel des Liebescodes sind im Sinne der selbstreferentiellen Genese (Luhmann 1994: 47) durch das Medium und seine kommunikativen Möglichkeiten bedingt. Das folgende Kapitel möchte deshalb sowohl der Frage nach dem Wandel der Liebessemantik in der Sowjetunion zu Beginn des politischen Tauwetters als auch der Frage nach den medialen Bedingungen dieses Wandels am Beispiel des sowjetischen Films nachgehen. Die Filme dieser Zeit sind besonders signifikant für die Entstehung des neuen sowjetischen Codes der Liebe. Sie machen diesen neuen Code buchstäblich sichtbar: Einerseits visualisieren sie die neue Semantik der Liebe (so wandelt sich z.B. das Objekt der Liebe, nun kann auch der Staatsfeind geliebt werden), andererseits wird das Sehen selbst problematisiert und in den Code aufgenommen. Wenn aber der Film über Liebe spricht, wird er gewissermaßen durch das technisch-mediale Dispositiv eingeschränkt. Er muss die Grenzen des Zeigbaren neu aushandeln, er muss aus der semantischen Konvention eine neue Sprache entwickeln, und diese kann nur bis zu einer gewissen Grenze der Verständlichkeit »revolutioniert« werden. Selbst die Filmprojekte, die zu ihrer Zeit als absolutes Novum empfun-
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den wurden, bedienen sich der erprobten Sujets, Motive und Topoi der sozialistisch-realistischen Filmkunst. Die drei Filme, die in diesem Kapitel analysiert werden (Sorok pervyj, Der Einundvierzigste, dt. VT. Der letzte Schuß, 1956), Letjat žuravli, dt. VT. Die Kraniche ziehen, 1957, und Devjat’ dnej odnogo goda, dt. VT. Neun Tage eines Jahres, 1961), stehen beispielhaft für solche ambivalenten Produktionen. Sie sind für ihre Zeit so neu und unerwartet in ihrer Aussage, dass sie als Skandal empfunden werden. Sie bleiben in der Erinnerung der Zeitgenossen als Wendepunkte der neuen Ästhetik haften, setzen aber in vieler Hinsicht die Konventionen der sozialistisch-realistischen Liebe fort. Durch kleine Veränderungen jedoch, etwa durch eine leichte Umakzentuierung eines trivialen Sujets (z.B. »Liebe zum Feind«) oder durch die angedeutete Infragestellung des wichtigsten Glaubensgrundsatzes der sowjetischen Liebe (durch die Abkopplung des intimen Verhaltens von dem Gebot der Machttreue), legen sie den Anfang für einen neuen Liebesdiskurs. Diese feinen, aber deutlichen Differenzen sind der Ausgangspunkt für die Entwicklung des neuen sowjetischen Liebescodes der kommenden drei Jahrzehnte, eines Codes, der sich auf die Individualisierung – und nicht wie zuvor auf die Sicherung von Loyalität – spezialisiert hat. Die Regisseure dieser Filme, Grigorij Čuchraj (Sorok pervyj), Michail Kalatozov (Letjat žuravli) und Michail Romm (Devjat’ dnej odnogo goda), haben sowohl damals als auch in ihren späteren, zum Teil nach der politischen Wende der Perestroikazeit geschriebenen Memoiren sich und ihre Filme als absolut neu in ihrer ästhetischen Aussage gewertet und als Geste der politischen Renitenz stilisiert. Ihre Filme wurden zu den populärsten in den frühen 1960er Jahren und fehlen seitdem in keiner Geschichte des sowjetischen Films. Es ist aber besonders signifikant, dass diese Filme Liebesgeschichten sind. Denn gerade in den Liebessujets wird über die Stellung des sowjetischen Menschen in den grundsätzlichen Konstellationen wie Kollektiv/Individuum, Liebe/Pflicht, Individuation/Loyalität verhandelt, und gerade in den Liebesfilmen wird besonders deutlich die Problematik der Überpolitisierung, des Fehlens eines außerpolitischen – intimen oder ästhetischen – Raums aufgezeigt. Alle drei Filme leisteten dem politischen Aufruf nach allseitiger Erneuerung der sowjetischen Gesellschaft Folge und waren wegweisend für das neue Verständnis von sowjetischer Liebe und zugleich für das neue Verständnis vom sowjetischen Menschen. Nicht zufällig beziehen sich ihre Liebessujets auf die aus der Sicht der Tauwetterzeit besonders signifikanten historischen Zeiten: Revolution und
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Bürgerkrieg liefern die historische Kulisse für Sorok pervyj, die Handlung von Letjat žuravli ist im zweiten Weltkrieg angesiedelt, und Devjat’ dnej odnogo goda spricht über die Gegenwart der frühen 1960er Jahre, so dass diese Liebesfilme stichpunktartig die gesamte sowjetische Geschichte referieren und diese dabei umschreiben.
G ELIEBTER F EIND Der Film Sorok pervyj markiert den filmischen Anfang der Tauwetterzeit. Mit diesem Film eröffnet der Film- und Literaturkritiker Lev Anninskij sein Buch über die Tauwetterzeit (Anninskij 1991), in dem neben Filmanalysen auch seine persönlichen Erinnerungen an diese Zeit zu finden sind. Diese lassen einiges von der Begeisterung des damals jungen Kritikers für diesen als erfrischend neu und ungewöhnlich »aufrichtig« – eine Schlüsselmetapher der Tauwetterästhetik – empfundenen Film spüren. Man könnte aber vermuten, dass das Neue an diesem Film nicht mit seinem Sujet zusammenhängt, sondern mit seiner Ästhetik und Stilistik. Denn auf der Ebene des Sujets entpuppt er sich als eine durchaus konventionelle sowjetische Abenteuergeschichte aus den Jahren des Bürgerkriegs. Hier durchquert ein Rotarmistentrupp die Karakum, ein Wüstengebiet in Zentralasien (ein typisch exotischer Ort für solche Geschichten), und nimmt einen Offizier der Weißen Garde gefangen, der über wichtige Informationen verfügt und in den Stab der Roten Armee am Aralsee gebracht werden soll. Der Gefangene wird unter Aufsicht der Scharfschützin Marjutka über den Aralsee geschifft. Nach einem plötzlichen Sturm landen die beiden – der Offizier und die Scharfschützin – auf einer menschenleeren Insel. Hier entflammt eine leidenschaftliche Liebe. Kurz darauf werden die Schiffbrüchigen von Weißgardisten gefunden und die Rotarmistin Marjutka erschießt ihren Geliebten, um die Übergabe der kriegswichtigen Informationen zu verhindern. Als literarische Vorlage für Čuchrajs Film diente eine Erzählung von Boris Lavrenev, einem angesehenen sowjetischen Schriftsteller, der zur Zeit der Verfilmung in der Redaktion der Zeitschrift »Novyj mir« arbeitete und zum Establishment der sozialistisch-realistischen Literatur gehörte. Ganz am Anfang seiner literarischen Karriere, im Jahre 1924, schrieb Lavrenev eine Liebesgeschichte mit dem Titel »Sorok pervyj«, in der er seine Eindrücke vom Bürgerkrieg in Mittelasien verarbeitete. Es handelte sich
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um ein in den 20er Jahren sehr populäres Sujet – die Liebe zum »Klassenfeind« und die »Geburt« eines neuen »Sowjetmenschen«, dessen Haupteigenschaft unbegrenzte Opferbereitschaft war. Die Erzählung war als eine Art psychologisches Experiment aufgebaut. Einer Laune des Schicksals folgend, verliebte sich die Rotarmistin Marjutka in einen weißgardistischen Offizier, den sie am Ende der Geschichte im Zeichen der Selbstüberwindung erschießen sollte. Mit diesem letzten Schuss wurde der geliebte Klassenfeind zum einundvierzigsten Opfer der in jeglicher Hinsicht unfehlbaren Scharfschützin. Lavrenevs Wüstenabenteuer gehörte zu einer in den 20er Jahren prominenten literarischen Gattung, die das Thema der »klassenungleichen« Liebe behandelte. Viele Autoren zollten dem Thema ihren Tribut, unter ihnen auch Ilja Ėrenburg im Roman »Žizn’ i gibel’ Nikolaja Kurbova« (»Leben und Tod von Nikolaj Kurbov«, 1922), Aleksandr Tarasov-Rodionov in der Erzählung »Šokolad« (»Schokolade«, 1922), Osip Brik in seiner »telegraphischen« Erzählung »Ne poputčica« (dt. etwa »Falsche Gefährtin«, 1923), Alexandra Kollontaj mit der Erzählung »Ljubov’ trech pokolenij« (»Die Liebe der drei Generationen«, 1923) und schließlich Boris Lavrenev selbst neben »Sorok pervyj« (»Der Einundvierzigste«, 1924) auch mit mehreren weiteren Erzählungen, z.B. »Marina« 1923, »Veter« (»Der Wind«, 1924). Indem sie »Liebe zum Feind« beschrieben, etablierten diese Texte eine Vorstellung von der sowjetischen Liebe als einen spezifischen Code, der Loyalität und Intimität zusammenführte oder sogar Loyalität (als Liebe zum Herrscher, zum sowjetischen Staat, zur Revolution usw.) über das individuelle Liebesgefühl stellte. Alle diese Liebesgeschichten weisen bestimmte Gattungsmerkmale auf. Ihr Thema ist die Liebe zwischen Vertretern der revolutionären Klasse und den sogenannten »Ehemaligen« –bürgerlichen Frauen und Männern, Weißgardisten oder Menschewiken. Die Liebe wird durch starke körperliche Anziehung ausgelöst und durch den Konflikt politischer Überzeugungen oder unterschiedlicher, politisch motivierter Lebenseinstellungen einer Prüfung unterzogen. In einem solchen Konflikt konkurrieren – ganz im Sinne der religiös geprägten Körper-Geist-Dichotomie – der Wunsch nach einer erotischen Vereinigung mit dem Liebesobjekt und das Gebot der ideologischen Treue zum Staat, der eine solche erotische Erfüllung streng ahndet. Die Texte dieser Gattung stellen eine direkte Verbindung zwischen politischer Überzeugung und intimem Verhalten her. Eine dauerhafte Liebesbeziehung zu einem Klassenfeind wird generell zur prinzipiellen
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Unmöglichkeit erklärt: Für rechtschaffene Proletarier ist die Liebe zum Klassenfeind ein Verbrechen und fordert ein blutiges Reinigungsopfer: In den meisten Liebesgeschichten dieser Art sterben entweder die moralisch verfehlten Revolutionäre selbst oder ersatzweise ihre falschen Geliebten. Lavrenevs Erzählung entsprach in diesem Sinne allen Ansprüchen und Regeln der Gattung. Es ist auffällig, dass der Regisseur Grigorij Čuchraj, der mit diesem Film den Anfang seiner Karriere begründete, gerade dieses Sujet aussuchte. Mit der Verfilmung wollte er sich, laut seiner Memoiren, von der früheren Verfilmung von Jakov Protazanov distanzieren, der aus Lavrenevs Erzählung einen oberflächlichen Abenteuerfilm – so Čuchraj – gemacht hatte.1 Čuchraj positionierte seinen Film nicht als Remake, sondern als die erste »seriöse Verfilmung« (Čuchraj 2002: 207), die erste »ernsthafte« Auseinandersetzung mit dem Thema. Er beabsichtigte, mit seinem Film eine neue Darstellung der Revolution und des Bürgerkrieges zu liefern, den Bürgerkrieg in einem »neuen Licht« (ebd.) zu zeigen und die um die »historische Wahrheit« (ebd.) betrogenen Sowjetbürger aufzuklären. »Ich wollte«, schrieb der Regisseur später in seinen Memoiren, »den Menschen die Wahrheit über die Ereignisse sagen, von denen sie unverschuldet eine verkehrte Vorstellung hatten. Der Bürgerkrieg wurde nicht zwischen immer gerechten Roten und den ungerechten Weißen geführt, nicht zwischen ehrlichen Menschen und bösen Schurken, wie man damals dachte, sondern zwischen den Menschen, die alle ihre eigene Wahrheit vertraten, die eigene Vorstellungen
1 | Protazanov verfilmte die Erzählung als Erster bereits 1926. Ähnlich wie die Literatur entwickelte auch der Film der 20er Jahre Interesse an dem erwachenden Klassengefühl und den sozialen Kämpfen. Evgenij Margolit nennt als weitere Filmbeispiele dieser Gattung Buchta smerti von Abram Room (Die Todesbucht, dt. VT. Die Todesbarke, 1925) und Dva dnja von Georgij Stabovoj (Zwei Tage, 1925) (Margolit 1999: 39). Grigorij Čuchraj wie auch sein jüngerer Zeitgenosse und Filmkritiker Lev Anninskij degradierten Protazanovs Verfilmung zu einem »bloß abenteuerlichen« Film ohne »ideologische« Aussage (Čuchraj 2002: 207ff.). Ungeachtet dieser Kritik folgte der Regisseur Čuchraj in seiner Verfilmung mehr dem Vorgängerfilm als dem eigens für die neue Verfilmung geschriebenen Drehbuch. Die abenteuerliche Ästhetik der 1920er Jahre lag ihm offensichtlich näher als die stalinistische Ästhetik seines Drehbuchautors Koltunov.
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von Ehre, Pflicht und Würde hatten. Die Nation wurde mit schrecklichen Schmerzen auseinandergerissen und das Blut floss in Strömen.« 2
Mit dieser Verfilmung verwarf die Tauwetterzeit – und Čuchraj war ein prominenter Vertreter dieser Epoche – den Mythos Revolution nicht, aber sie schrieb ihn um. Das Sujet, das für die sowjetische Liebe programmatisch war, sollte umgestaltet werden. Čuchrajs Verfilmung stellte das Verbot der »Liebe zum Feind« in Frage und problematisierte damit generell die Kopplung der individuellen Gefühlswelt mit der Machttreue. Mit der Rhetorik der Reinigung, der Aufklärung und der Erneuerung – er möchte doch »den Menschen die Wahrheit … sagen« signalisierte Čuchraj seine Position und stellte damit andere Anforderungen an den Stoff, als es der Schriftsteller Lavrenev 32 Jahre zuvor getan hatte. Lavrenev interessierte sich in erster Linie für die Paradoxie der menschlichen Gefühle, für die Fähigkeit einer verliebten Frau, ihre Liebe einem »Klassengefühl« zu opfern. Der »letzte Schuß« war der »Wendepunkt« und die Schlusspointe seiner Erzählung, das Resultat eines literarischen Experiments, für welches die Liebe der Helden nur als eine Voraussetzung diente. Dementsprechend schenkte Lavrenev den Beschreibungen der Liebe wenig Aufmerksamkeit und akzentuierte nicht das Glück der verliebten Protagonistin, sondern ihr schlechtes Gewissen, das sich in ihren Träumen spürbar machte: In der Erzählung träumt sie von ihrem Kommissar und den gefallenen Kriegskameraden, die aus dem Jenseits an ihr erschlaffendes »Klassengefühl« appellieren. Ganz anders geschieht es im Film, der dem Sujet der Erzählung eigentlich sehr streng folgt, aber die Akzente anders setzt. Das Hauptfokus der Filmhandlung richtet sich auf den zweiten Teil mit der Episode der Insellandung. Mit einer idyllischen Landschaft im Hintergrund dürfen hier die Filmhelden ihre Liebe genießen, die – wiederum anders als in der literarischen Vorlage – keinesfalls eine plötzliche paradoxe Leidenschaft ist, son2 | »Мне хотелось сказать людям правду о вопросе, о котором, не по своей вине, они имели превратное представление. Гражданская война велась не между всегда правыми красными и всегда неправыми белыми, не между честными и подлецами, как было в то время принято думать, а между людьми, за каждым из которых была своя правда, свое понимание чести, долга и достоинства. Нация рвалась по живому, и текли реки крови«. (Čuchraj 2002: 207-208)
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dern das Resultat einer langen und zärtlichen Annäherung. Noch während des Marsches durch die Wüste im ersten Teil des Films entwickeln die Protagonisten Interesse und Sympathie füreinander. Die Landung auf der Insel erscheint deswegen nicht wie die Versuchung durch überlange Muße,3 sondern wie die dramatische Steigerung der bisherigen Zuneigung zu einer leidenschaftlichen Liebe. Auch die Rolle der Protagonisti des Films, Marjutka, weicht wesentlich von der literarischen Vorlage ab. Die Protagonistin wird von Lavrenev mit der Eigenschaft charakterisiert, keine Privatsphäre oder Intimität zu kennen, die sie im Zweifelsfall dem revolutionären Ziel nicht hätte opfern können. Lavrenevs Marjutka erschießt nicht nur ihren Geliebten, sondern schon in der Anfangssequenz der Erzählung verpflichtet sie sich schriftlich, bis zum endgültigen Sieg der Revolution auf »weibische Lebensweise« und Mutterschaft zu verzichten (Lavrenev 1960: 78). Im Film wird dieses Detail ausgespart. Damit verschwinden hier der in den 20er Jahren herausgearbeitete Themenkomplex der Enthaltsamkeit und des Verzichts auf ein privates Leben zugunsten der Revolution sowie der Topos der Bereitschaft, sich selbst und seine Nächsten der Revolution zu opfern.4 Der Ton des Erzählens verändert sich insgesamt: Lavrenevs allwissender auktorialer Erzähler verschwindet; wenngleich das Filmgeschehen in manchen Abschnitten von einer Stimme aus dem Off kommentiert wird. Während der zentralen Episoden in der zweiten Filmhälfte, die die Lan3 | Muße und Geld – das Letztere meistens symbolisiert durch Luxusgüter wie Schokolade in Tarasov-Rodionovs gleichnamiger Erzählung oder eine teure Hauseinrichtung und Seidenkleider in Kollontajs Roman »Ljubov’ pčel trudovych« (»Die Liebe der Arbeitsbienen«, 1924) – bringen die proletarischen Helden am meisten in Versuchung. 4 | Eine ausführliche Abhandlung zum Thema »Liebe zum Feind« lieferte Aaron Zalkind. Liebe war für ihn erst dann legitim, wenn sie die Liebenden vom revolutionären Aufbau des Sozialismus nicht abhielt. Widersprach die Leidenschaft den kollektiven Zielen, war sie sofort aufzugeben (Zalkind 1924/25). Seine radikale Theorie der revolutionären Liebe wurde von den Zeitgenossen vielfach kritisiert, ihr Kern aber, das Verbot der Liebe zum Feind, blieb unangefochten. Sowohl Zalkind als auch die Autoren (z.B. Alexandra Kollontaj), mit denen er am meisten polemisierte, forderten dasselbe: die Unterwerfung des Individuellen und den Vorrang des Kollektiven. Die Diskussion wurde lediglich über den Grad der persönlichen Unterwerfung geführt.
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dung auf der Insel zeigen, verstummt der pathetische Kommentator jedoch. Die Geschichte wird hauptsächlich durch Bilder weitererzählt. Diese Bilder des Kameramanns Sergej Urusevskij (dünne Sandstreifen mit einer einsamen Frauenfigur zwischen Himmel und Meer, ein Sturm auf dem Aralsee oder schräge Menschenschatten auf dem Wüstensand) deuten das Hauptthema des Filmes an: Die Natur als idyllischer Raum und das Natürliche des menschlichen Lebens werden mit dem sowjetischen Kampfethos konfrontiert. Dies kommt besonders deutlich in der Einstellung zum Vorschein, als die Schiffbrüchigen nackt wie ein neuer Adam und eine neue Eva am Feuer sitzen. Kaum sind die Uniformen abgelegt, vergessen sie ihre Klassenzugehörigkeit und begegnen sich als Mann und Frau. Der Film suggeriert damit die Vorstellung, dass das Klassengefühl und die Pflicht, gegen den Klassenfeind zu kämpfen, »wie ein Kleid« abgelegt werden können. Die Scharfschützin Marjutka, der Shakespear’schen Miranda nicht unähnlich, sieht zum ersten Mal in ihrem Leben einen Mann vor sich, und nicht einen Klassenfeind oder Kampfkameraden. Einige Jahrzehnte später kommentiert Regisseur Čuchraj diese Szene mit folgenden Worten: »Die Filmheldin hat sich in einen Menschen, in einen Mann verliebt. Es war natürlich in ihrer Situation. Sie sah in Govorucha [im geliebten Weißgardisten; NB] keinen Feind«.5 In der so interpretierten Liebesgeschichte erblickt die kämpferische Erbauerin des Sozialismus »the brave new world« der Liebe, auch wenn ihre Liebesidylle nur von kurzer Dauer sein wird. Čuchrajs Interpretation des konventionellen Sujets der Liebe zum Klassenfeind wurde sowohl in der Sowjetunion als auch im Ausland als überraschend neu empfunden. Ein holländischer Journalist, der den Film 1957 rezensierte, hielt mit Erstaunen fest: »Russland hat auf seine Methode verzichtet, Liebe vor dem Hintergrund von Traktoren und Planwirtschaft zu zeigen«.6 5 | »Героиня фильма полюбила человека, мужчину – в ее ситуации это естественно. Она не чувствовала в Говорухе врага« (Čuchraj 2002: 101, Hervorhebung NB). 6 | In der Sowjetunion wurde die ausländische Filmpresse sorgfältig analysiert und dokumentiert, denn der Film Sorok pervyj sollte den Wechsel des sowjetischen politischen, aber auch ästhetischen Trends manifestieren und wurde mit dieser Aufgabe zum Filmfestspiel in Cannes geschickt. Die zusammenfassende Übersetzung der ausländischen Filmrezensionen befindet sich in den Beständen des RGALI. Vgl. RGALI f. 2453, op. 3, d. 1128, l.48.
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Während für Lavrenevs Helden die Isolation auf der menschenleeren Insel zum Verhängnis wurde, interpretiert der Film das gleiche Ereignis als Abkehr von der Abnormalität des Tötens und als Hinwendung zum »natürlichen« Zustand des Liebens. Dass es im Film Sorok pervyj nicht nur um den Bürgerkrieg, sondern um Krieg und Frieden generell ging, war für den Kriegsveteranen Grigorij Čuchraj wie auch für seine Zuschauer, Rezensenten und Kritiker offensichtlich. Durch die zufällige Ähnlichkeit der Zahlen – die 41 Opfer der Scharfschützin Marjutka und das Jahr 1941, das Jahr des Überfalls Hitlers auf die Sowjetunion7 – werden die Ereignisse der Bürgerkriegsjahre und der noch so nahe Zweite Weltkrieg miteinander in Beziehung gesetzt. Filmkritiker Semen Frejlich deutet den Film als einen Friedensappell (Frejlich 1956: 17), der sich hier offensichtlich an die sowjetische Gesellschaft richtet. Nicht nur das Protagonistenpaar illustriert das friedliche Filmcredo. Bevor es in der Inselepisode in aller Deutlichkeit ausgesprochen wird, stimmt eine Nebenepisode dieses Thema ein. Ein Rotarmist schläft während der Wache ein und muss beim Erwachen feststellen, dass sein Kamerad ermordet und sämtliche Kamele sowie die Wasservorräte und Lebensmittel verschwunden sind. Statt der »verdienten Kugel« in den Kopf – so das Drehbuch – bekommt er im Film ein Stück Brot, das seine hungernden Kameraden und sein Kommissar mit ihm teilen und ihm damit seine Sünde vergeben.8 Nach dieser Szene erscheint es beinahe als selbstverständlich, dass Marjutka mit Liebe und Selbstentbehrung den nach der gefahrvollen Landung auf der Insel erkrankten Feind pflegt.
7 | Diese spätere Zahlensymbolik überlagert die ursprüngliche Bedeutung der Zahlen 40 und 41. Laut der in russischer Orthodoxie weit verbreiteten christlichmythischen Vorstellung vollzieht sich 40 Tage nach dem Tod der endgültige Abschied der Seele vom irdischen Leben und ihre Überführung ins Jenseits. Lavrenev wählt diese Zahl als Symbol für Marjutkas endgültige Lossagung von ihrem Frausein und ihrer Liebe. 8 | Bezeichnenderweise verzichtet der Regisseur auf eine von Drehbuchautor Grigorij Koltunov vorgeschlagene Szene: Während des Wüstenzugs bekommen die Soldaten, die vor Hunger nicht mehr gehen können, einen Gnadenschuss vom Kommissar. Čuchraj entscheidet sich für eine weniger brutale Lösung – die hungernden Soldaten sterben durch Entkräftung und werden in allen Ehren im Wüstensand begraben.
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Mit der Verlegung der Haupthandlung auf die Inselepisode wird in diesem Film eine idyllische Landschaft erschaffen, und mit diesem utopischen Ideal einer Liebes- und Friedensinsel werden die jahrzehntelang in der Sowjetunion kultivierten Vorstellungen vom Leben als »andauerndem Kampf«, von »versteckten Feinden«, von der permanenten Bereitschaft zum Opfer und zum Tod – wenn auch sehr vorsichtig – in Frage gestellt. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist, dass der Film auch eine andere Ästhetik für die Darstellung des Todes wählt, als es in der literarischen Vorlage der Fall war. Lavrenev schloss in seiner Erzählung an die Konventionen der expressionistischen Kriegsdarstellung an, die in der sowjetischen Literatur der 20er bis 40er Jahre oft vorkam.9 In der Schlussszene der Erzählung küsst die Scharfschützin Marjutka das entstellte Gesicht des geliebten Feindes, dessen blaue Augen neben seinem durch den Schuss zertrümmerten Kopf im Wasser schwimmen.10 Wenngleich dieses Bild die filmischen Grenzen des Zeigbaren überschreitet, gibt es auch für den Film eine spezifische Ästhetik des unschönen Sterbens, dass natürlich den Feinden – im Gegensatz zu dem erhabenen Tod der sozialistischen Helden – vorbehalten bleibt. Sie äußert sich in der Darstellung einer von Angst gezeichneten Mimik und Körpersprache: das angstverzerrte Gesicht, der feige Fluchtversuch usw. Von diesem Topos macht Čuchraj keinen Gebrauch. Seine Marjutka küsst den auch im Sterben schönen blonden Oberleutnant, den sie wie eine Pieta in den Armen hält. Der erhabene Tod und die postume Liebe werden nun auch dem Feind gegönnt. Semen Frejlich listet in seiner Rezension von Čuchrajs Film weitere Merkmale auf, die den Film aus seiner Sicht von der früheren stalinistischen Filmästhetik unterscheiden (ebd.). Er thematisiert die Darstellung 9 | Vgl. die Gruppenvergewaltigung und die Leichen auf den Landstraßen in Šolochovs »Tichij Don« (»Der stille Don«, 1927-1940), die Folterszenen in Nikolaj Ostorvskijs Roman »Kak zakaljalas’ stal’« und »Roždennye burej« (»Wie der Stahl gehärtet wurde« 1935) und in Fadeevs »Molodaja gvardija« (»Die junge Garde«, 1946/1951). 10 | Bei Lavrenev: »В воде на розовой нити нерва колыхался выбитый из орбиты глаз. Синий, как море, шарик смотрел на нее недоуменножалостно. Она шлепнулась коленями в воду, попыталась приподнять мертвую, изуродованную голову и вдруг упала на труп, колотясь, пачкая лицо в багровых сгустках, и завыла низким гнетущим воем« (Lavrenev 1960: 123).
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des Tragischen in einem Land, in dem alle gesellschaftlichen Antagonismen als aufgehoben galten, sowie den Verzicht auf das konventionelle Pathos im Sinne der symbolischen Wiedergeburt des verstorbenen Helden im Gedächtnis dankbarer Nachkommen. Doch vor allem das Fehlen der weisenden Hand der Obrigkeit ruft bei dem Rezensenten Bewunderung hervor. Čuchraj schloss z.B. konsequent alle Episoden aus, in denen Marjutka von ihrem Kommissar träumt und Anweisungen bekommt. Die Kritik, die der Film andeutet, ist jedoch fundamentaler. Es werden Zweifel an einem zentralen Postulat sowjetischer Intimitätsvorstellungen angekündigt: Sorok pervyj ist einer der ersten Filme, in dem die Konfrontation des Individuums mit kollektiven und ideologischen Zwängen nicht zugunsten des Kollektivs und der Ideologie entschieden wird. Anders als bei Lavrenev, der den letzten Schuss durch die Träume seiner Protagonistin vorbereitet und die Gesetzmäßigkeit einer solchen Konfliktlösung durch die Schilderungen der »falschen« ideologischen Position des Oberleutnants beweist, bleibt die Schlussszene im Film ambivalent. Denn die Motive, die den Tod des Geliebten rechtfertigen würden, fehlen im Film. Bis dahin kannte man nur Sujets, in denen der Eingriff des Kollektivs den Helden vor einer Abweichung bewahrte.11 Weil Čuchrajs in seinem Film das sowjetische Kollektiv (Kampfkameraden) ausschließt und seine Protagonistin ohne kollektive Beglaubigung ihre Entscheidung treffen lässt, führt hier eine aus revolutionärem Pflichtbewusstsein vollzogene Handlung zu einer persönlichen Tragödie: Marjutka schießt zwar auf ihren Geliebten, hört aber nicht auf, ihn zu lieben.
11 | Vgl. Ivan Pyrjevs Film Ispytanie vernosti, 1953, in welchem Familie und Arbeiterbrigade fast miteinander verschmolzen sind. Es sind genau diese Mitglieder der Familie und Arbeitskollegen, die der jüngsten Tochter die Augen öffnen und sie vor der Heirat mit einem unehrlichen und egoistischen Ingenieur warnen. Dieses Motiv geriet nach 1956 zunehmend in die Kritik, kommt aber im Film der 1960er Jahre noch oft vor, vgl. auch den Film Visokosnyj god (1961, Regie: A. Ėfros) – hier fungiert aber nicht das Kollektiv, sondern die Familie als wichtigste Kontrollinstanz, die den seiner Lebenssituation charakterlich nicht gewachsenen Hauptheld vor Kontakten mit dem kriminellen Milieu warnt.
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M E TAPHYSIK DER L IEBE Im Unterschied zu Sorok pervyj, der die historische »Wahrheit« zeigen wollte, positionierte sich der Film Letjat žuravli als ein Film nach »moderner Vorlage«.12 Es ging dabei nicht nur um die zeitnahe und im Gedächtnis der Filmautoren und Zuschauer sehr lebendige und schmerzhafte Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs. Das Thema, das dieser Film aufgriff, lag im Brennpunkt der aktuellen Diskussion über die neue Liebesethik. Michail Romm, damals einer der führenden sowjetischen Regisseure, formulierte es in einer Besprechung in folgender Weise: »Ich freue mich außerordentlich, dass dieser Film eine aktuelle Vorlage hat, dass er uns die Möglichkeit gibt, unsere sowjetische Sichtweise auf das menschliche Leben und das menschliche Drama in unserem Streit mit dem Westen durchzusetzen.«13 Damit gab er den Kammerton der Filmdiskussion vor: Liebe – das menschliche Drama – als politisches Instrument. Der Film basiert auf dem Stück »Večno živye« (»Die ewig Lebenden«) des Modedramatikers Viktor Rozov, das vielfach inszeniert wurde und als sehr umstritten galt, weil es die weibliche Untreue in Zeiten des Krieges thematisierte. Der Streit um das Sujet hatte einerseits ganz praktische Implikationen: Während des Krieges gingen viele Ehen kaputt, und das sowjetische Familienbild änderte sich radikal, was sowohl dem Stück als auch dem Film ein massenhaftes Interesse des Publikums sicherte. Wesentlicher jedoch als diese tagesaktuelle Problematik war die Interpretation, die das Sujet der Untreue erfuhr. Das Unerhörte an Rozovs Stück – wie auch an dem Film, für den Rozov dann das Drehbuch lieferte – war die Entscheidung, die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges am Schicksal einer untreuen Frau zu vergegenwärtigen. Die untreue Heldin wurde dabei nicht an den Pranger gestellt, wie dies z.B. in Konstantin Simonovs Drama »Ždi
12 | Michail Romm jubelte während einer Besprechung im Studio Mosfil’m: »Я необычайно рад, что на современном материале сделана картина, которая дает как-бы возможность опереться в споре нашем с Западом на свое советское видение, что такое человеческая жизнь и что такое человеческая драма«. RGALI f. 2453, op. 3, d. 625, l.4. 13 | Stenogramm der Sitzung des künstlerischen Rates des Filmstudio Mosfil’m über den Filmschau und die Diskussion des Films Letjat žuravli, RGALI f. 2453, op. 3, d. 622, l. 4.
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menja« (»Warte auf mich«) und im gleichnamigen Film geschah, sondern gerechtfertigt. Diese neue Auslegung des Sujets der Untreue korrespondierte mit der neuen Filmsprache. Die spezifische Kameraführung von Sergej Urusevskij, welcher schon bei Sorok pervyj hinter der Kamera stand, veränderte den Blick auf die Heldin und auf das Sujet. Die Aufnahmen mit der Handkamera, extreme Winkel und kühne filmtechnische Einfälle – in der Szene von Veronikas verzweifeltem Lauf gab Urusevskij der Hauptdarstellerin die Kamera in die Hände – charakterisierten die Filmprotagonistin als emotionale, leidenschaftliche und spontane Frau. Sie wurde mit dieser Stilistik als Opfer ihrer Gefühle, nicht aber als Verräterin ihrer Liebe dargestellt. Kein anderer Film dieser Zeit wurde mit einer solchen Emphase begrüßt und zum Zeichen einer paradigmatischen Wende in der sowjetischen Filmkunst erklärt. Für die Zeitgenossen war dieser Film offensichtlich ein kathartisches Erlebnis. »Wir haben geweint und waren glücklich«, bedankte sich der Filmregisseur Grigorij Rošal bei den Machern des Films. »Ich weinte ununterbrochen«, berichtete Regisseur Michail Romm nach einer geschlossenen Vorschau bei der Produktionsfirma Mosfil’m. »Dieser Film löste plötzlich alle unsere Sorgen auf«, gestand ein anderer Regisseur, Sergej Jutkevič, und Drehbuchautor Lev Arnštam schloss sich dieser Meinung an, indem er den Film als »prinzipiell neu« und »ungewöhnlich jung« bezeichnete.14 Nicht anders als im Fall Sorok pervyj muten das Thema des Films und die Handlungsführung allerdings sehr bekannt an und berufen sich auf eine Gruppe von Vorgängertexten und vor allem auf die bereits erwähnten Texte von Konstantin Simonov, auf sein Gedicht und Theaterstück »Ždi menja«. Als die Filmwissenschaftlerin und Filmkritikerin Maja Turovskaja den Film Letjat žuravli mit verhaltener Kritik rezensierte, wies sie auf dessen wichtigsten Vorgänger, den Film Ždi menja (Warte auf mich, 1943) hin, um aber gleich hinzuzufügen, dass es sich hier keinesfalls um eine bloße »Umkehrung« des alten Films handele (Turovskaja 1957: 15). Die Filme Letjat žuravli und Ždi menja sind tatsächlich nahe Verwandte. Die männlichen Helden gehen an die Front und bleiben verschollen; die Frauen warten im Hinterland auf sie. Im Film von 1957 wird die Haupt14 | Stenogramm der Sitzung des künstlerischen Rates des Filmstudio Mosfil’m über den Filmschau und die Diskussion des Films Letjat žuravli, RGALI f. 2453, op. 3, d. 622, l. 3-18.
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figur Boris Borozdin beim Versuch, aus einer Einkesselung auszubrechen, von einer feindlichen Kugel gerade in dem Moment tödlich getroffen, als seine Verlobte Veronika dem Charme seines Cousins Mark verfällt. Der Protagonistin in Ždi menja, Liza Ermolina, widerfährt eine ähnliche »Mutprobe«. Jedoch hält sie allen Versuchungen stand, und ihr Mann wird auf mysteriöse Weise vom Tod errettet und kehrt von der Front nach Hause zurück. Beide Filme teilen das Motiv des verzweifelt erwarteten, verlorengegangenen und doch seinen Adressaten zum richtigen Zeitpunkt erreichenden Briefs. In beiden Filmen haben die Liebespaare einen Freund bzw. Vermittler (Miša Vajnštejn in Ždi menja und Volodja in Letjat žuravli), der Nachrichten vom toten oder tot geglaubten Geliebten überbringt. Die Frontkameraden der verschollenen Männer verlieben sich in die allein gebliebenen Frauen, vermögen es jedoch nicht, die Stelle der Geliebten einzunehmen. Kalatozov hat möglicherweise gerade unter dem Eindruck von Ždi menja auf die in Rozovs Drehbuch vorgeschlagene Lösung des Hauptkonflikts verzichtet, nach der der von Boris gerettete Freund und Kamerad Volodja der neue Geliebte Veronikas werden sollte. In Kalatozovs Film Letjat žuravli hält Veronika zwar nicht die physische Treue – wie die Liza in Simonovs Stück –, aber sie hält ihrem Bräutigam über dessen Tod hinaus eine metaphysische, sogar mystische Treue, weshalb sie ihre Ehe mit ihrem Verführer Mark beendet und auf eine neue Ehe mit Volodja verzichtet. In Letjat žuravli finden sich nicht nur Ähnlichkeiten in der Handlungsführung, sondern auch direkte Zitate aus dem Vorgängerfilm, beispielsweise wenn Moskauer Straßen während der Bombenangriffe gezeigt werden. Auch charakterisieren beide Filme negative Figuren mithilfe antisemitischer Stereotype: Der Musiker Mark in Letjat žuravli, der dank falschen Papieren der Einberufung zur Front entgeht, hat nicht nur einen »jüdischen Vornamen« (und einen »jüdischen Beruf«), sondern sieht auch »nicht russisch« aus. Die untreue Frau in Ždi menja, das negative Pendant zur tugendhaften Russin Liza, heißt Sonja – ebenfalls ein Name mit jüdischer Konnotation –, und in dem Moment, als der Zuschauer von ihrer Untreue erfährt, wird ihr verzerrtes, böses Gesicht als erkennbar »jüdisches« gezeigt. Insgesamt weist der Film Letjat žuravli starke Parallelen mit den Kriegsfilmen der 40er Jahre auf. Das Wiedersehen mit der Braut, das Boris in seiner Todesvision erlebt, geht z.B. auf Viktor Gusevs Drehbuch für den Film V šest’ časov večera posle vojny (Um sechs Uhr abends nach dem Krieg, 1944) zurück (Margolit 1999: 89 und 92).
2. Der kleine Unterschied: erste Veränderungen im Code
Gleichzeitig gibt es bedeutende Unterschiede zwischen den Vorgängerfilmen und Kalatozovs Letjat žuravli, die sich vor allem auf die Konzeption der Hauptfigur und die in ihrer Gestalt verkörperte Vorstellung von Liebe beziehen. Kalatozov stellt eine paradoxe Protagonistin her, indem er die zwei extrem entgegengesetzten Frauentypen des Films Ždi menja in einer Figur vereint. Veronika ist gleichzeitig die gute Liza und die schlechte Sonja. Sie tötet mit ihrem Liebesverrat ihren Geliebten, wie dies auch Sonja mit ihrem Mann Andrej tut: Als dieser von der Untreue seiner Frau erfährt, setzt Andrej bei einer gefährlichen Aufgabe absichtlich sein Leben aufs Spiel und wird tödlich verletzt. Auch Letjat žuravli spielt auf Veronikas Schuld an Boris’ Tod an. Denn die Szene, in der Boris stirbt, kommt unmittelbar nach der Szene, in der Veronika Marks sexuellem Verlangen nachgibt, und es liegt nahe, beide Ereignisse als zeitgleich zu interpretieren. Das Aufeinanderfolgen von diesen zwei Episoden suggeriert eine kausale Verbindung von Veronikas »Sündenfall« und Boris’ Tod. Dass er von einer aus dem Off kommenden Kugel getroffen wird – sein Mörder wird nicht lokalisiert –, könnte den Schluss zulassen, dass es die ferne Geliebte ist, die mit ihrer Untreue Boris tötet. Gleichzeitig aber, als Veronika Mark verlässt und sich für Boris entscheidet, rettet sie Boris mit ihrer irrationalen Treue vor dem Vergessenwerden, mit der Treue, die einem Toten gilt, dem Veronika zu dessen Lebzeiten untreu gewesen war. Dies bringt Veronika in die Nähe von Simonovs tadelloser, treuer und liebender Liza. Denn Mystizismus und Irrationalität kennzeichnen auch den Film Ždi menja: Liza holt mit ihrem Glauben und ihrer Liebe ihren Mann aus dem Reich des Todes zurück: Ihr Mann, Flieger Ermolin, sieht seine Rettung als Auferstehung von den Toten. Wie er seiner Frau später berichtet, wurde er von Partisanen »aus dem Grab herausgegraben«. Dadurch, dass auch im Film Letjat žuravli der weiblichen Treue eine mystische rettende Kraft zugeschrieben wird, wird der Film zu einer Orpheus-und-Eurydike-Geschichte mit ambivalentglücklichem Ende und umgekehrten Genderrollen. Das Unglück kommt von der großen Liebe und ebenso großer Verzweiflung: Wie der Orpheus, der sich umschaut, schließt Veronika für eine Minute die Augen (damit wird die »Sündenfall«-Szene eingeleitet), und ihr Geliebter geht in das Totenreich. Das Verfahren, das zwei Rollen in einer Person kombiniert, kommt in Letjat žuravli auch bei einer Nebenfigur zum Einsatz: Boris’ Freund Volodja übernimmt im Film zwei Funktionen, die in Ždi menja auf zwei Darstel-
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ler verteilt wurden: auf Andrej und auf Miša Vajnštejn. So wie Andrej Liza nach dem vermeintlichen Tod ihres Mannes eine Ehe vorschlägt, gesteht Volodja der um Boris trauernden Veronika seine Liebe und hofft auf eine Beziehung mit ihr. Zugleich ist Volodja der über ihre Treue und Liebe wachender Freund bzw. Vermittler (wie Miša Vajnštejn). Denn indem Volodja Veronika ihr Foto überreicht, das Boris immer bei sich getragen hatte, verleitet er sie dazu, ihrem toten Geliebten ewige Treue zu halten. Solche Kombinationen von Gegensätzen in einer Figur führen zu ambivalenten Folgen, denn sie lassen keine eindeutige Interpretation der Hauptfigur zu.15 Nicht nur Veronika schwankt zwischen Treue und Verrat. Es ist nicht auszuschließen, dass auch die Gestalt des tadellosen Boris in sich Ambivalenzen birgt. In der Szene, in der die beiden an der Verdunkelungseinrichtung in Veronikas Wohnung basteln, versucht Veronika, ihren Verlobten sexuell zu provozieren. Boris hält jedoch allen Versuchungen stand. Es bleibt offen, ob damit seine ernsthafte Lebenseinstellung mit Veronikas kindischer Naivität und Leichtsinnigkeit kontrastiert wird. Denn genauso gut könnte diese Szene als ein Zeichen seiner Angst vor Veronikas reifer Sexualität ausgelegt werden, als Ignoranz ihres Kinderwunsches, der im weiteren Handlungsverlauf mit der Adoption des Findelkindes in Erfüllung geht. Die Liebesgeschichte in diesem Film kennt keine klare Deutung. Will man sie als Geschichte einer gescheiterten Liebe sehen, bleibt unentschieden, ob daran Veronikas Untreue, Boris’ Ignoranz, Marks Intrigen oder der unmenschliche Krieg schuld sind. Sieht man jedoch im Film eine Apotheose der »wahren« Liebe, wie dies der Filmkritiker Jurenev vorschlägt (Jurenev 1957), verstrickt man sich in noch kompliziertere Argumentationen. Denn dann definiert man »echte« Liebe im Film als ein völlig unlogisches und beinahe mystisches Gefühl, das keine konsequente Folge bestimmter moralisch guter Handlungen ist. Diese Liebe garantiert keine Treue, genauso wie Untreue nicht das Ende der Liebe bedeutet: Der Brief von Boris, der Veronika erst nach ihrem »Sündenfall« erreicht, ist für sie ein Indiz für Boris’ aus dem Jenseits fortdauernde Liebe. Eine solche Interpretation soll aber in ihrer Beweisführung unentbehrlich auf irrationale Argumente ausweichen und die Sphäre der Tran15 | Das solche ambivalenten Figuren Konjunktur in der Filmkunst der Tauwetterzeit haben und das Konzept des »positiven Helden« (wie etwa Liza in Ždi menja) einer Kritik unterzogen wird, zeigt Sabine Hänsgen (Hänsgen 1990: 4).
2. Der kleine Unterschied: erste Veränderungen im Code
szendenz, das Jenseits in die Filmhandlung einbeziehen. In den entscheidenden Szenen der Filmhandlung kommt der tote Geliebte Veronika zur Hilfe, einmal mit seinem Liebesbrief und einmal mit der Erscheinung des Findelkindes, das Veronika vom Selbstmord abhält. Darin, dass das Kind Boris heißt (Bor’ka), sieht Veronika ein mystisches Zeichen und entscheidet sich, weiterzuleben, dem toten Boris treu zu bleiben und den kleinen Boris großzuziehen. Das Findelkind fungiert als eine Reinkarnation Boris Borozdins, der auf diese Weise zu seiner Geliebten zurückkehrt und ihr verzeiht. Ihre durch Zeichen aus dem Jenseits intendierte Bekehrung wird noch einmal zum Schluss des Filmes symbolisch zur Sprache gebracht, wenn Veronika in einem weißen Kleid, mit einem weißen Blumenstrauß in der Hand die heimkehrenden Kriegshelden begrüßt. Die Farbe Weiß symbolisiert sowohl die Vergebung ihrer Schuld als auch ihren neuen Status. Veronika ist die ewige Braut eines toten Martyrers, womit zugleich das Motiv der keuschen Christusbraut ins Spiel gebracht wird. Durch die Kombination von zwei Motiven (selbstloses Warten und Untreue) und durch das Zusammenlegen zweier gegensätzlich angelegter Heldentypen in einer Figur entsteht im Film Letjat žuravli der ungewohnte Effekt der Ambivalenz und der Komplexität der Liebe, der Charaktere und der Handlung. Denn der Film verwirft die Gleichsetzung der weiblichen Treue mit der Machttreue und die Gleichsetzung der Liebe mit der Liebe zur Heimat, zum Staat oder Herrscher. In Stolpers Ždi menja wird der an Wunder grenzende Heroismus des Fliegers Ermolin mit der ebenfalls wundersamen Treue seiner Frau im Hinterland parallelisiert, und – denkt man diese Konstruktion weiter – umgekehrt die Untreue mit einem Hochverrat gleichgesetzt. In Letjat žuravli sind solche Parallelen nicht mehr möglich. Die Treue oder die Untreue von Veronika gilt nur Boris, ebenso wie ihre Liebe nur ihm und nicht dem Staat oder der Heimat gilt. Kalatzov verzichtet somit auf einfache Denkfiguren wie Polarisierungen oder Analogien. Keiner der Helden ist eindeutig positiv, so dass die Unterscheidung zwischen den »guten« und den »schlechten« Geliebten, die dem Film Ždi menja im Jahre 1943 noch sehr leicht fiel, in Kalatozovs Film kaum möglich ist. Eine direkte Analogiebildung zwischen der individuellen Liebe und der kollektiven Pflicht ist ebenfalls undenkbar. Der Liebescode wird komplexer und paradoxer: Liebe kann nicht verdient werden, denn auch eine »Verräterin« der Liebe, wie Veronika eine ist, wird weiter geliebt. Gerade ihre physische Untreue macht sie paradoxerweise zu einer treuen Geliebten. Diese Liebe ist metaphysisch: Sie befindet sich jenseits der erklärbaren
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Welt und richtet sich ins Jenseits. Sie lässt die liebende Veronika auf ihr mögliches Eheglück mit Volodja verzichten, und sie endet selbst mit dem Tod des Geliebten nicht. Mit dieser Interpretation des Sujets der Untreue vertiefte Kalatozov die Unterscheidung zwischen privatem Erlebnis und öffentlichem Benehmen. Aber vollständig gezogen wurde die Grenze zwischen diesen beiden Bereichen noch nicht. Denn um Veronikas »Bekehrung« endgültig zu beweisen, sollte der Film sie nicht nur als Liebende und Geliebte zeigen, sondern sie auch als gute Arbeiterin, als eine opferbereite Krankenschwester präsentieren. Sie musste sich als ein für die sowjetische Gesellschaft nützliches Mitglied offenbaren. Allein die aus dem Jenseits kommende Vergebung ihres toten Bräutigams reichte nicht aus, um ihr die Schuld zu erlassen, sie sollte noch dazu die Anerkennung des Kollektivs – der Nachbarn, der Patienten und der Arbeitskollegen – suchen. Der neue Liebescode verzichtete damit zwar auf die Tugendliebe (die Liebe zum positiven Helden) und auch auf die Liebe zur Macht, indem er Liebe von der Loyalitätsproblematik abkoppelte. Diese Veränderungen bedeuteten aber keine absolute Abkehr von dem alten Liebescode, denn auch der neue Code schloss die produktive Arbeit und sowjetische Gemeinschaftlichkeit in sich ein.
M E TAPHYSIK DER A RBEIT Die problematische Konstellation Liebe/Arbeit wird zum Hauptthema in Michail Romms Film Devjat’ dnej odnogo goda. Im Vergleich zu Sorok pervyj und Letjat žuravli, die auf internationalen Festspielen gezeigt wurden und in den ausländischen Verleih kamen, wurde dem Film von Michail Romm ein bescheidener Erfolg zuteil. Es war ein Film für den »inneren Gebrauch«, denn die großen Preise der ausländischen Festspiele gingen an ihm vorbei. In der Sowjetunion jedoch wurde er zum besten Film des Jahres gekürt. Mit diesem Film verband sein Regisseur Michail Romm die Hoffnung auf eine komplette Reform der Sprache, der Stilistik und der Semantik des sowjetischen Films. Dieser Wunsch ging nicht in Erfüllung, wovon Romm in seinen Memoiren selbst Zeugnis gibt (Romm 1982). Der angesehene Regisseur von zwei erfolgreichen Filmen über Lenin, der Pädagoge und Filmtheoretiker Michail Romm, der in den 30er Jahren Karriere gemacht hatte, verzichtete in diesem Film auf die Montagetechnik im Sinne Sergej Eisensteins und schuf mit langen Kamerafahrten einen
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Film ohne Musik, der nicht von Handlung, sondern von Dialogen lebt. Diese scheinbar unerwartete Wende in Romms Karriere war paradigmatisch für die Schicksale von Regisseuren in den späten 50er und frühen 60er Jahren. Angesichts der bis dahin noch seltenen erfolgreichen Debüts (der 33-jährige Grigorij Čuchraj war eines der wenigen Beispiele, die »Debüttantenwelle« beginnt erst nach 1961) waren es gerade die Filmemacher der stalinistischen Zeit – angesehene Regisseure wie Michail Kalatozov, Iosif Chejfiz, Julij Rajzman, Ivan Pyr’ev und Michail Romm –, die sich um die Revolutionierung des sowjetischen Films bemühten.16 Auch thematisch sollte der Film einen Bruch mit der Tradition darstellen. Michail Romm wandte sich dem Modethema Atomphysik zu, und auf diesem, vom sowjetischen Film noch nicht erforschten Gebiet »erschuf er die neuen Helden der neuen Zeit« (Pogoževa 1964:9). Diese neuen Helden waren keine Arbeiter, keine Bauern und keine Kriegshelden, sondern – untypisch für den sowjetischen Film – alle drei Protagonisten sowie die meisten Nebenfiguren waren Intellektuelle. Der Film widmete sich explizit der Darstellung der sowjetischen Elite. Wie der Regisseur schrieb, war es nicht sein Ziel, »einen Film über Physiker zu drehen. Die Physiker waren nur Vorwand. Als wir Gusev erfanden, dachten wir an den kreativen Menschen im Allgemeinen«.17 Anders als Sorok pervyj oder Letjat žuravli war Devjat’ dnej odnogo goda kein Liebesdrama im herkömmlichen Sinn, sondern nahm durch sein komplexes Sujet das Strukturprinzip des vor allem in den 70er Jahren populär gewordenen Genres des »Kinos aus der Produktion« (proizvodstvennoe kino) vorweg. Die Handlung des Films kreiste um die Erfindung eines neuen Atomreaktortyps. Parallel dazu wurde das Liebessujet entfaltet. Die Beziehung der Protagonisten – zwei Männer und einer Frau – wurde als Ménage-à-trois geschildert,18 wodurch eine unüberseh16 | Auch wenn ihre eigenen Filmproduktionen keine neuen Wege der Filmästhetik öffneten – wie die letzten Filme von Ivan Pyr’ev –, widmeten die alten Regisseure ihre letzten Jahre der Organisation des Filmverbandes, der Ausbildung neuer Regisseure oder der Etablierung eines neuen Stils im Dokumentarfilm. 17 | »Мы не собирались делать картину именно о физиках. Физики для нас были только предлогом. Работая над Гусевым, мы думали о творческом человеке вообще« (Romm 1964: 289). 18 | Das Konkurrenzverhältnis zwischen den beiden, nach derselben Frau schmachtenden Männern in diesem Film wird durch ihren Beruf verstärkt. Denn der eine (Gusev) ist ein Experimentalphysiker, der andere (Kulikov) hat sich der
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bare thematische Ähnlichkeit zu Abram Rooms Film Tret’ja meščanskaja (Tret’ja-Meščanskaja-Straße, dt. VT. Bett und Couch, 1927) zustande kam (vgl. Schahadat 2004). Beide Filme zeigen Dreiecksbeziehungen, in denen die im Zentrum stehende Frau sowohl ihre Beziehung zum Ehemann als auch die zum Liebhaber als unbefriedigend empfindet. Die Männer sind durch eine enge Freundschaft miteinander verbunden, die im Film von 1927 nicht ohne gewisse homoerotische Anspielungen gezeigt wird (Zorkaja 1997). Die Frau wird im Verlauf der Filmhandlung immer stärker in die minderwertige Sphäre der familiären Häuslichkeit abgedrängt und empfindet dabei ein steigendes Unbehagen, während die Männer ganz von ihrer Arbeit ausgefüllt zu sein scheinen. Im Finale des Films Tret’ja meščanskaja bricht die Ehefrau Ljudmila aus dem kleinbürgerlichen Alltag aus und verlässt Moskau. Im Verständnis der 20er Jahre war dies eine Befreiung aus der »Sklaverei der Familie«. Im letzten Teil von Romms Devjat’ dnej odnogo goda gibt die Heldin, die ebenfalls Ljudmila (oder Lëlja) heißt, ihre Ansprüche auf familiäres Glück auf und nimmt nach der schweren Erkrankung ihres Mannes seine Stelle im Forschungslaboratorium ein. Auch hier verlässt sie den intimen Raum einer Ehe- und Liebesbeziehung, genauer gesagt, die intime Beziehung wird aus dem privaten in den öffentlichen Raum verlagert – aus der Wohnung in die Laborräume. Indem alle drei Helden, sowohl die beiden Männer als auch die Frau, sich ganz ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit widmen und Erfüllung in der Arbeit finden, anstatt diese in der Liebe zu suchen, löst sich der Filmkonflikt auf. Das Triumvirat bleibt bestehen, aber nicht mehr als Liebesdreieck, sondern als ein Forscherteam. Durch die Verweise auf den Film von 1927 schrieb sich Devjat’ dnej odnogo goda in eine lange Folge von Texten und Filmen ein und reproduzierte so eine Formel von Intimität, die in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts theoretischen Physik verschrieben. Somit kann ihre Rivalität in der Liebe auch als ein fachinterner und in der russischen Physik immerwährender Prioritätenstreit zwischen den Vertretern der theoretischen und der angewandten Physik gedeutet werden. Dies wäre eine weitere Erklärung, warum keiner von ihnen die Frau (Wahrheit) für sich allein gewinnen kann und beide Physiker, die auch durch die Ähnlichkeit ihrer Namen (von zwei Vogelarten abgeleitet) als Teile eines Ganzes markiert werden, sowohl die geliebte Frau als auch ihre wissenschaftliche Erfindung untereinander teilen müssen.
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im Zusammenhang mit der Figur des »neuen Menschen« entwickelt, von den Symbolisten und von den Avantgardekünstlern übernommen und zum Teil von der proletarischen Kultur adaptiert worden war.19 Dass auch der Film von Michail Romm sich des Themas des neuen Menschen – als des neuen Menschen der Tauwetterzeit – annahm, beweist die generationale Struktur, in die seine Helden eingeschrieben sind. Das Triumvirat aus Lëlja, ihrem Ehemann Gusev und Lëljas Verehrer Kulikov ist nicht die einzige Liebeskonstellation, wie auch die Ehe von Gusev und Lëlja nicht die einzige Ehe ist, die im Film Devjat dnej odnogo goda gezeigt wird. Die Beziehungen zwischen zwei anderen Paaren symbolisieren die Vergangenheit bzw. eine noch nicht eingetretene Zukunft.20 Die ersten handelnden Personen in der Anfangssequenz des Filmes sind ein namenloses junges Physikerpaar, das mit symmetrischen Gesten und Reaktionen den Verlauf eines Experiments verfolgt und eine ideale, sich hauptsächlich in der Arbeitsgemeinschaft äußernde intime Bindung symbolisiert. Die zweite Konstellation vertreten der ältere Experimentalwissenschaftler Sincov und seine Frau, welche die Entscheidung ihres Mannes missbilligt, sein Leben dem wissenschaftlichen Fortschritt zu opfern. Weder arbeitet sie gemeinsam mit ihrem Mann, noch bringt sie Verständnis für seine Tätigkeit auf. Das Protagonistentriumvirat steht genau zwischen diesen beiden Polen. Es muss den Weg zum Liebesglück finden, das Modell einer neuen Liebesbeziehung erarbeiten, das dem Regisseur als Vereinigung der Liebenden 19 | Auf die Kontinuitäten im Diskurs über den neuen Menschen und darauf, welche Rolle dabei die als Ménage-à-trois konzipierte Liebe spielt, wird hier nicht näher eingegangen. Es sei hier exemplarisch auf die Untersuchungen von Schamma Schahadat (Schahadat 2004) und Olga Matich (Matich 1993, 1994) verwiesen. 20 | Auf diese Struktur legte der Regisseur besonderen Wert und bedauerte, dass sie von der Filmkritik übersehen wurde: »Kaum jemand«, klagte er später in seinen Memioren, »bemerkte in meinem Film ein für mich sehr wichtiges Thema, das Thema der Beziehung der drei Generationen: Der ältesten (im Film ist sie durch den Professor Sincov vertreten), der mittleren (Gusev und Kulikov) und der jüngsten (das sind die jungen Mitarbeiter in Gusevs Labor)« – »… почти никто не заметил в картине одной очень важной для меня темы – темы отношения трех поколений: самого старшего (в картине оно представлено профессором Синцовым), среднего (это Гусев и Куликов) и младшего (это ребята, которые работают в лаборатории Гусева)« (Romm 1964: 289).
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in einer schöpferischen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft vorschwebt. Die Evolution der Beziehung von einer körperlich-sexuellen Bindung zu einer Arbeitsgemeinschaft sollte durch die Entwicklung der weiblichen Protagonistin illustriert werden, die im letzten Teil des Films ihre »kleinlichen« Emotionen wie Eifersucht, Egoismus und sexuelle Sehnsüchte überwindet und eine Art geistiger Vereinigung mit ihrem Mann eingeht, wie sie das junge Paar in der Anfangsequenz des Films demonstriert hat. Lëljas Liebe findet ihre Erfüllung, indem sie in die Fußstapfen ihres sterbenden Ehemannes tritt, um dem Fortschritt und der Entwicklung der Atomforschung in der Sowjetunion zu dienen. Versuchten die Filme Sorok pervyj und Letjat žuravli die Autonomie der Liebe zu behaupten, den Raum der Intimität als einen geschlossenen Raum darzustellen und Analogien zwischen der Fähigkeit zur Liebe, moralischer Integrität und ideologisch einwandfreier Weltanschauung zu hinterfragen, griff der Film von Michail Romm exakt auf diesen, in der Kultur des sozialistischen Realismus geprägten Liebescode zurück. Sein Film fängt zwar mit den Darstellungen eines liberalen, wenn nicht gar libertinen und luxuriös-elitären Lebens. Die Protagonisten speisen im einem Restaurant der gehobenen Klasse, fliegen, anstatt mit dem Zug zu fahren, besitzen eine großzügige Wohnung und kennen keine finanziellen Nöte. Sie pflegen freie sexuelle Beziehungen, ohne diese institutionell legitimieren zu müssen. Je weiter die Filmhandlung jedoch voranschreitet, desto weiter entfernen sich die Protagonisten von ihren hedonistischen Lebensmustern und wetteifern miteinander in der asketischen Selbstaufgabe. Die narrativen Modelle der stalinistischen Kunst werden in dem Film besonders in der Konstruktion der Charaktere und in der Beziehungsstruktur sichtbar. Der für das Wohl der sowjetischen Wissenschaft sterbende Gusev wird nach dem gleichen Prinzip modelliert, wie z.B. Aleksej Mares’ev, der Protagonist in »Povest’ o nastojaščem čeloveke« von Boris Polevoj und ihrer gleichnamigen Verfilmung (1948) von Aleksandr Stolper. Beide, Dmitrij Gusev und Aleksej Mares’ev, versuchen Tod und Krankheit zu überwinden, um weiter als Atomphysiker bzw. als Pilot die Militärmacht des Sowjetstaats zu stärken. Gusevs Verhältnis zu Lëlja, welches am Anfang des Films eine rein erotische Beziehung gewesen ist, braucht im weiteren Verlauf des Films eine Metaebene, um zu einer Liebe und Ehe zu werden. Diese Metaebene weist auf einen Bezugspunkt außerhalb der Beziehung, der als externer und eigentlicher Adressat der Liebe dienen kann. Im Kontext dieses Filmes ist
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es die Arbeit, die Atomforschung. Dadurch kann die Liebe in diesem Film mit den Konzepten von Liebe der 30er und 40er Jahre verglichen werden. Denn Filme aus dieser Zeit vereinigen die Liebenden entweder in der gemeinsamen Liebe zu Stalin oder zur sowjetischen Heimat (Padenie Berlina, 1949), oder die Machtinstanz wird zum eigentlichen Geliebten (Člen pravitel’stva, Mitglied der Regierung, dt. VT. Im Kampf ums Glück 1939), oder die produktive Arbeit ist der einzige Weg zum persönlichen Liebesglück (Traktoristy, Die Traktoristen, dt. VT. Junges Leben, 1939, Svetlyj put’, Der helle Weg, 1940). Auch die Helden in Devjat’ dnej odnogo goda vereinigen sich im selbstlosen »Dienst an der Menschheit« – ein Begriff, der in Romms Film lediglich als Substitut für die Begriffe Sowjetmacht und Sozialismus steht. Somit geht der Film Devjat’ dnej odnogo goda in seinem Entwurf der »neuen Liebe« kaum über die Grenzen des stalinistischen Wertesystems hinaus, von dessen Erbe Michail Romm sich so sehr abgrenzen wollte. Selbstlose Arbeit und Loyalität zur Macht werden zum Credo dieses Filmes. Die Ehe von Gusev und Lëlja entspricht diesem Modell. Sie heiraten nur, um dem nach einem Bestrahlungsunfall gesundheitlich angeschlagenen Gusev weiterhin ein erfolgreiches Forschen zu ermöglichen. Dieser Unfall schließt für ihn die Fortpflanzung aus, und die zweite sowie die kurz darauf folgende dritte Bestrahlung führt zu sexueller Unzulänglichkeit des Ehemannes, was im Film durch die hysterischen Anfälle seiner Frau angedeutet wird. Den eigentlichen und einzigen Kernpunkt dieser Beziehung bildet die Arbeit. Die Beziehung wird erst dann leidenschaftlich, wenn es um die Forschung geht. Dies wird unmissverständlich durch die Szene eines nächtlichen Gesprächs im Bett verdeutlicht. Die Bildsequenz dieser Szene lässt auf die Darstellung der ehelichen Sexualität schließen, doch die Tonspur mit dem Gespräch über eine neue Erfindung und den damit verbundenen Arbeitsunfall »übersetzt« die Szene aus dem intimen in einen arbeitsethischen Kontext. Analog inszeniert ist eine Szene im Labor, in welcher der Ehemann seine Frau in der Gesellschaft seines Rivalen überrascht. In der folgenden gereizten Unterredung mit seiner Frau stellt sich heraus, dass deren »Betrug« und »Untreue« offensichtlich darin besteht, dass sie ihren Mann in Unwissenheit über den weiteren Verlauf seines Experiments gelassen und stattdessen die Untersuchung mit einem anderen fortgesetzt hatte. Die Anwesenheit des Rivalen Kulikov im privaten Bereich der Wohnung des Ehepaars ruft dagegen keinesfalls den Argwohn
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Gusevs hervor. Selbst die Liebeserklärung erfolgt in den Arbeitsräumen: Wenn Lëlja ihrem Mann die Liebe gesteht, billigt sie seine wissenschaftlichen, nicht aber die intimen Qualitäten. Er wird als Forscher, aber nicht als Mann geliebt. Zwar präsentiert sich die Arbeit in Devjat’ dnej odnogo goda nicht mehr als eine »orgiastische Beschäftigung ohne Sex« wie in den Filmen der Stalinzeit (Bulgakova 2001: 89). Es steht jedoch außer Zweifel, dass in ihr die sexuelle Energie des Paares sublimiert wird und sich die eigentliche intime Vereinigung in der gemeinsamen Arbeit vollzieht. Der Charakter dieser Arbeit birgt allerdings Ambivalenzen in sich. Einerseits steht sie zwar im Dienste des sowjetischen Staates und stellt einen kollektiven Wert dar, andererseits dient sie aber als schöpferische Tätigkeit der Entfaltung von Individualität. Diese drei analysierten Filme markieren Probleme, welche die Auseinandersetzung mit dem sozialistisch-realistischen Liebescode im Laufe der nächsten drei Jahrzehnte bestimmen werden. Es geht erstens um das Problem des »guten Geliebten«, um die »Lizenz zum Lieben«, die nur für ideologiekonforme Partner gilt, nicht jedoch für Klassenfeinde. Das zweite Problem betrifft die fehlende Grenze zwischen Intimität und Öffentlichkeit und als Folge dieser Nichtunterscheidbarkeit das Problem der Analogiebildung zwischen Zeichen des Liebescodes (Liebe, Treue) und den Zeichen des Loyalitätscodes (Integrität, Staatstreue). Drittens geht es um sublimierte Liebe, das heißt um einen Code, der die erotisch-sexuellen Elemente ausschließt und als Kommunikationsformen der Liebe Handlungen auswählt, die für den Zusammenhalt der sowjetischen Gemeinschaft relevant sind – Arbeit, Heldentat, Pflichterfüllung. Wie die vorgestellten drei Filme zeigen, finden in diesen »Problemzonen« des sowjetischen Liebesdiskurses Veränderungen statt. Sorok pervyj stellt auch den Klassenfeind als liebenswert vor, Letjat žuravli beschreibt eine Liebe, die ihre Legitimierung in der spezifischen, metaphysischen Nähe zwischen den Geliebten sucht, nicht aber in der Liebe zur Heimat, zum Staat oder zum Herrscher. Eine solche Liebe grenzt sich von der Gemeinschaft ab und schafft eine Welt für sich. Diese Abgrenzung gipfelt in der Metaphorik der übersinnlichen, nur der Geliebten vorbehaltenen Kommunikation – der Kommunikation mit dem Toten. In Devjat’ dnej odnogo goda wird zwar weiter an dem Code der sublimierten Liebe gearbeitet. Aber auch hier, bei einem scheinbaren Mini-
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mum an Innovation, wird durch die Hysterieanfälle der Ehefrau das Problematische an diesem Code gezeigt – die eigentliche Unmöglichkeit seiner Einhaltung. Auch dass die Liebesbeziehung aufgegeben wird und die eheliche Bindung der Protagonisten schließlich zu der eines Forscherteams mutiert, lässt Zweifel daran aufkommen, ob selbstlose Arbeit die passende Kommunikationsform für die Liebe ist. Vieles, was auf der Ebene des Sujets unausgesprochen bleibt, wird mit den Metaphern und in der Motivstruktur zur Sprache gebracht. Die Symbolik der Reinigung, Öffnung, Lösung, Entdeckung äußert sich sowohl in Sorok pervyj als auch in Letjat žuravli. Der erste Film arbeitet mit den Bildern der elementaren Naturkräfte, dem Sturm, dem Regen und dem Wind, aber auch mit den Metaphern der Entkleidung und der Nacktheit. Im zweiten Film zerbersten Fenster, Gardinen werden gerissen, der Wind bricht ins Zimmer ein, und die Protagonistin unterliegt ihrem sexuellen Verlangen, entdeckt für sich den Konflikt zwischen eigener Körperlichkeit und dem ideologisch unterfütterten Gebot der Enthaltsamkeit und Treue, der auch den Hauptfiguren des ersten Films bekannt war. Diese Kontroverse löst die Filmheldin für sich auf, als sie schließlich als Form für ihre Liebe die Sublimierung (in der Treue gegenüber dem Toten) wählt. Aber sowohl das Problem als auch die Ambivalenz seiner möglichen Lösung wird nun doch zur (filmischen) Sprache gebracht. Der Film dieser Zeit greift noch sehr oft auf die Topoi, Codeelemente und Deutungsmuster der stalinistischen Kultur zurück, was nicht zuletzt mit dem Medium erklärt werden kann, in dem die Innovation stattfindet. Denn der sowjetische Liebesfilm hat bestimmte Konventionen für das Zeigen der Liebe entwickelt. Trotz aller Kritik werden konventionelle Erklärungsmuster, zahlreiche Motive (wie z.B. das Briefmotiv in Letjat žuravli), Topoi (selbstlose Arbeit) oder Figurenkonstellationen übernommen. So sichern sich Ansätze, welche die Arbeit über die Sexualität und Öffentliches über Privates stellen, auch im innovativen sowjetischen Kino ihren Platz. Die untersuchten Filme werden somit doppelt lesbar, weil in ihrer Struktur noch der alte Code der sozialistisch-realistischen Liebe durchschimmert, wenngleich er allmählich Veränderungen erfährt. Dies führt einerseits zu unerwarteten Ambivalenzen in der Rezeption und zum Problem der Mehrdeutigkeit. Sorok pervyj wurde z.B. gleichzeitig als Wiederbelebung des revolutionären Pathos und als konterrevolutionärer Anschlag gedeutet. Dem Regisseur drohte deswegen sogar eine Gerichtsverhandlung. Andererseits ermöglichen die Elemente des alten Codes das Einordnen von
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Veränderungen und die Akzeptanz der neuen Sprache der Liebe: In Letjat žuravli dient Veronikas Entscheidung, im Lazarett als Krankenschwester zu arbeiten, als rezeptive Hilfe, denn gewissenhafte Arbeit war in den stalinistischen Filmen stets ein Marker des guten Helden. Das Traditionelle und Zitathafte des neuen Liebescodes wurde dabei gern ignoriert oder ausgeblendet, auch wenn Vorgängertexte oder -filme gelegentlich genannt wurden. Folglich wurde auch in Bezug auf die vermeintlichen oder tatsächlichen Innovationen der Filmsprache einiges »übersehen«. So gehen z.B. die berühmten, als Urusevskijs exklusive Erfindung gepriesenen, kreisenden Birken aus Boris’ Todesszene in Letjat žuravli auf Photographien von Urusevskijs Lehrer und Freund Rodčenko zurück.21 Der neue Liebescode entsteht somit auch in der Rezeption (durch die Ignoranz oder die Hervorhebung bestimmter Themen in der Filmkritik) und durch die (oft nachträgliche) Selbstpositionierung des Filmkünstlers als Erneuerer. Eine weitere Maxime des stalinistischen Liebescodes bleibt aber in den analysierten Filmen unerschüttert. Nach wie vor sucht man in der sowjetischen Liebe eine symbolische Abgrenzung vom Westen. Die Unterscheidung zwischen der westlichen und der sowjetischen Liebe bleibt sowohl für Michail Romm als auch für den Repräsentanten der jungen Generation Grigorij Čuchraj aktuell. Die Bescheidenheit seines Filmbudgets, die arme Kleidung seiner Schauspieler während des Festivals in Cannes und die »einfachen menschlichen Gefühle« seiner Filmhelden stellt er in den Gegensatz zum westlichen Starsystem und zu den verschwenderischen Produktionen, die »unnatürliche Leidenschaften und Anzüglichkeiten« – so Čuchraj – zeigen würden (Čuchraj 2002: 119f.). Auch die Filmkritik unterstützte dieses Bestreben. Als die Filmkritikerin Lidija Pogoževa kurz darauf Majakovskij paraphrasierend die Drehbuchautoren ermahnte, solche Darstellungen der sowjetischen Liebe zu liefern, die »grandioser als Onegins Liebe« sind (Pogoževa 1960: 54), forderte sie für die sowjetische Liebe die Überbietung aller bekannten – klassischen und westlichen – Vor- und Gegenbilder, was durchaus mit dem Appell vergleichbar war, den Wirtschaftsplan überzuerfüllen oder Amerika zu »überholen«. Auch in den 1960er Jahren behielt die sowjetische »Lie21 | Außerdem waren die Aufnahmen der Baumkronen aus extrem vertikaler Perspektive bereits in Alexander Stolpers Film Povest’ o nastojaščem čeloveke (Der wahre Mensch, 1948) als Metapher für Todesgefahr eingesetzt worden.
2. Der kleine Unterschied: erste Veränderungen im Code
be der Superlative« ihren agonalen Charakter: Marjutka liebte aufrichtiger als der Weißgardist, Boris und Veronika setzten ihre Liebe der tödlichen Maschinerie des vom Westen anrollenden Krieges entgegen. Diese besonders intensive, aufrichtige, ausschließliche Liebe blieb somit eine spezifische Eigenschaft des Sowjetmenschen und ein Argument im Kampf der Wertesysteme. Die Suche nach einer ideologisch abgesicherten, spezifisch sowjetischen Liebe wurde damit zwar fortgesetzt, aber durch eine stärkere Differenzierung zwischen den Sphären des Intimen und des Öffentlichen verlor ihr Code an Konsistenz.
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Medien – wie Film oder Literatur – verbreiten eine Vorstellung von Liebe und bestätigen sie als Verhaltensnorm, gehen ins Detail und erklären, wie sie erlebt und mitgeteilt werden soll. Aber die Medien informieren nicht nur, sie bringen vielmehr die Liebe hervor. Sie erschaffen einen komplexen, sichtbaren, hörbaren, beschreibbaren und vor allem einen nachahmbaren Code. Sie lassen das Phänomen Liebe entstehen, das vorher so nicht existiert hat. So unentbehrlich die Medien für die persönliche Liebeserfahrung sind, bringt die Medialisierung der Liebe aber zugleich ein Problem mit sich. Denn Medien, die als Quellen des Wissens über die Liebe fungieren, die das persönliche Erlebnis Liebe prägen, gefährden im gleichen Zug ihre Authentizität. Um seine eigene Liebe als natürlich, individuell und echt erleben zu können, muss man vergessen, dass sie ein über Medien vermittelter und erlernter Code ist. Der Mediennutzer eignet sich zwar den medialen Code der Liebe an, dieser Prozess muss für ihn aber immer verschleiert bleiben. Die Kategorie der Täuschung bzw. der Selbsttäuschung, welche die Liebe ständig begleitet, bezieht sich demnach nicht nur auf das falsche oder das richtige Objekt der Leidenschaft, sondern auf die Liebe selbst. Getäuscht wird man nicht nur in seinen Gefühlen, sondern auch hinsichtlich ihrer Authentizität. Die Liebe ist eine Kunst der Mediennutzung, die nicht nur Decodierungsfähigkeiten, sondern auch die Technik des gekonnten Ein- und Ausschaltens der Selbstreflexion, der bewussten Einsetzung bzw. Nichteinsetzung der Differenzierung zwischen dem durch die Medien vermittelten Code und der Realisierung des Codes einschließen muss. Die im Medium beobachtete Liebe lokalisiert den Beobachter. Seine Gefühlswelt verändert sich im Moment der Beobachtung nicht nur, weil
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sein Erlebnishorizont durch die mediale Erfahrung erweitert wird und weil er weitere Modi des Gefühlsausdrucks erlernt. Vielmehr verändert das Medium die Situation des Mediennutzers. Es erlaubt einen Einblick in die fremde intime Empfindung, erzeugt Empathieeffekte und gibt das Gefühl, die Blackbox der fremden Psyche für einen Moment zu erhellen. Aber auch der beobachtende Mediennutzer selbst wird vom Medium beobachtet – ein Phänomen, das bereits den lesenden Protagonisten aus Fëdor Dostoevskijs Novelle »Bednye ljudi« (»Arme Leute«, 1845) fasziniert und beängstigt.1 Auch die Gefühlswelt des Lesers oder des Zuschauers spiegelt sich im Medium wider, auch seine Psyche wird für das Medium transparent und der fremden Beobachtung preisgegeben. Diese reziproke Sichtbarkeit – man sieht das Medium, man wird vom Medium gesehen – ist ein rezeptives Problem, das in der sowjetischen Kultur nicht ohne erheblichen Aufwand an Medienreflexion und nur mithilfe programmatischer, pädagogisierender Maßnahmen bewältigt werden kann. Besonders sichtbar wird es in dem Moment, in dem ein neues Medium die Bühne des Zeitgeschehens betritt. Die Ungewissheit, welche die an ein kulturelles Bewusstsein noch nicht adaptierte Technik der Speicherung, Übertragung und Hervorbringung von Informationen in sich birgt, ruft immerfort medienpessimistische Reaktionen hervor. Die Debatten über das neue Medium orientieren sich immer an denselben Kriterien,2 wobei den Ausgangspunkt der Kritik am Medium hauptsächlich 1 | »случается же так, что живешь, а не знаешь, что под боком там у тебя книжка есть, где вся-то жизнь твоя как по пальцам разложена, […] словно сам написал, точно это, примерно говоря, мое собственное сердце, какое уж оно там ни есть, взял его, людям выворотил изнанкой, да и описал все подробно – вот как!« (Dostoevskij 1988: 85). – »Es kommt vor, dass man so dahinlebt, ohne zu wissen, dass neben einem ein Büchlein existiert, in dem das eigene Leben, das man führt, mit allen Einzelheiten vorgetragen ist […] als hätte ich es selbst geschrieben, als hätte ich sozusagen mein eigenes Herz, mag es sein, wie es will, genommen und vor allen Menschen umgekrempelt – das Innere nach außen, und alles genau beschrieben, – ja, so ist es mir!« (Dostoevskij 1986: 89) 2 | Albert Kümmel, Leander Scholz und Eckhard Schumacher zählen sechs solcher immerwährender Kriterien auf und versuchen in ihren Darstellungen der Buchdruck-, Film-, Radio- und Telegraphiedebatten die Universalität dieser Struktur zu bestätigen (Kümmel/Scholz/Schumacher 2004: 7-9).
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die Befürchtung seines Missbrauchs bildet. Sei es Überflutung mit Datenmengen, Manipulierung des Bewusstseins, Entfremdung, Denaturierung natürlicher Fähigkeiten oder Verzerrung etablierter Werte und Wissensanordnungen – Zielscheibe der Ressentiments ist weniger das Medium selbst als vielmehr das Fehlen von akzeptablen adaptiven und rezeptiven Techniken seiner Nutzung. Auch ein etabliertes Medium kann zu einem Problem werden, wie dies in der Sowjetunion der späten 1950er und der frühen 60er Jahre geschieht. Denn in dieser Zeit steigt die mediale Produktion rasant – das betrifft auch die Literatur, aber vor allem den Film. Als Folge der sowjetischen Bildungskampagnen steigt gleichzeitig die Zahl der Leser und der Zuschauer, und das bringt den bestehenden Mediendiskurs ins Schwanken. Die Frage der richtigen Mediennutzung gewinnt an Bedeutung, weil die massenhafte mediale Produktion ebenso wie die massenhafte Rezeption nur schwer kontrolliert werden können. Welche Rolle müssen die Medien in den Prozessen des sozialen Lernens übernehmen und welche Techniken der Mediennutzung sollen sanktioniert bzw. geahndet werden? Das sind die Fragen, mit denen sich die sowjetische Kultur der Tauwetterzeit konfrontiert sieht, und denen ich am Beispiel von zwei Filmen im Folgenden nachgehen möchte. Wie soziologische Untersuchungen zu den frühen 1960er Jahren zeigen, kommt in dieser Zeit im sowjetischen Massenbewusstsein der Literatur und dem Film eine besondere Bedeutung zu. Nahezu alle Schichten der damaligen sowjetischen Gesellschaft zeigen ein aktives Interesse an literarischen Neuheiten und neuen Filmen oder empfinden ein solches Interesse als wünschenswert (Grušin 2001: 431-508). Viele schätzen ihren Zugang zu den Kulturgütern als nicht ausreichend ein und beklagen Missstände des sowjetischen Kulturkonsums. Auch wenn das Bild von der Sowjetunion als von dem »am meisten lesenden Land« – samaja čitajuščaja strana – eher eine Wunschvorstellung bleibt, zeugen solche Selbstbeschreibungsmodelle von dem hohen Wert, welcher dem Kunstkonsum und der Mediennutzung beigemessen wird. Darin schlagen sich die Ergebnisse der jahrelang betriebenen Aufklärungskampagnen nieder. Die neuen Leser und Filminteressenten der 1960er Jahre sind Nachfolger einer Generation, für die die Alphabetisierungskampagne eine persönliche Erfahrung war. Sie finden sich in einer veränderten Medienlandschaft wieder, in welcher der Umgang mit den Medien zu einer wichtigen sozialen Praxis avanciert.
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Die Kommunikation wird intensiver, die Informationsströme, denen sowjetische Bürger ausgesetzt sind, lassen sich immer schwerer kontrollieren. Damit gewinnen rezeptive Praktiken – die auch vorher im Zentrum des ideologischen Interesses standen – eine noch größere Bedeutung. In der Situation des wachsenden Medienangebots will man durch Schulung der Rezeption Missdeutungen verhindern, die Interpretation in einen ideologiekonformen Deutungsrahmen lenken und die Gefahr eines Konfliktes der Denkweisen eindämmen. Aufgaben wie Rezeptionssteuerung und Rezeptionsmotivierung sowie Problematisierung der rezeptiven Fehler obliegen den Medien selbst. Einerseits verdecken die Medien ihre Medialität und schließen mit dem Nutzer eine Art Illusionsvertrag. So machen sie vieles »lesbar, hörbar, sichtbar, wahrnehmbar, all das aber mit einer Tendenz, sich selbst und ihre konstitutive Beteiligung an all diesen Sinnlichkeiten zu löschen und also gleichsam unwahrnehmbar, anästhetisch – oder auch apriorisch – zu werden« (Vogl 2001: 122). Andererseits versucht das Medium eine entsprechende Ausrichtung der Wahrnehmung zu bewirken. Die Medien formen – diese Behauptung betrifft in besonderem Maße die »Kunstmedien« Literatur und Film – gezielt ihre eigene Rezeption, indem sie rezeptive Verfahren simulieren. Sie tun das z.B. mithilfe von Figuren der Schauenden, Zeigenden, Lesenden, die dem eigentlichen Zuschauer oder Leser die richtige rezeptive Haltung vorleben. Medien motivieren zur Rezeption auch durch Selbstaufwertung, denn sie präsentieren sich mit Nachdruck als etwas, was mehr als nur eine simple Unterhaltung ist. Sie positionieren sich als die wichtigsten Informationsquellen über die Realität oder sogar als die Realität selbst,3 aber im gleichen Zug ziehen sie die Grenze zwischen fiktionalen und sozialen Wirklichkeiten und schulen dadurch beim Rezipienten einen differenziert beobachtenden Blick.
B EOBACHTEN . E RZIEHUNG DER G EFÜHLE Der Film Aleškina ljubov’ (Aleškas Liebe, 1960) ist ein markantes Beispiel einer solchen Steuerung der Zuschauerrezeption. Im Film wird die Geschichte eines städtischen Abiturienten namens Aleška erzählt, der ein 3 | Niklas Luhmann spricht in diesem Kontext von der »Realität der Medien« (Luhmann 1996).
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Praktikum bei einer Expedition in der südrussischen Steppe absolviert. Er verliebt sich in die Enkelin eines Eisenbahners, und seine Arbeiterbrigade nimmt das zum Anlass, sich über seine sonderbare Erscheinung, seine befremdlich feinen Gefühle und seinen Hang zur klassischen Literatur lustig zu machen. Doch indem seine Liebe stärker wird, reift er auch innerlich und wird schließlich zu einer Autorität in seinem Kollektiv, so dass die anderen Arbeiter sogar die Lebensweise und die Gefühlskultur des tugendhaften Aleška nachzuahmen versuchen. Die Aufteilung der Haupt- und Nebenrollen macht deutlich, dass im Film das Verhalten der sozialen Gruppen, die an die Imperative der traditionellen Dorfkultur nicht mehr gebunden und in die urbane Kultur noch nicht eingebunden sind, zum Objekt der Kritik gemacht wird. Der Film suggeriert die Vorstellung, dass der Verlust der traditionellen Verhaltensnormen durch den möglichst reibungslosen Anschluss an die urbane Kultur ausgeglichen und das Ritual und die mündliche Überlieferung der traditionellen Kultur durch Medien der modernisierten Gesellschaft ersetzt werden sollten. Somit erzählt der Film eine »zivilisatorische« Geschichte, deren Titelheld in seiner Person städtische »Hochkultur« präsentiert und den Sieg der Medien- und vor allem der Buchkultur über das mündlich orientierte Land feiert. Es sind Aleškas liederliche, dumme, geschwätzige oder untreue Genossen vom Lande, meistens als komische Typen stilisiert, die hier dazu berufen sind, den Kontrast der Kulturen deutlich vor Augen zu führen und dem Negativen, das aus dem sowjetischen Leben verschwinden soll, greifbare Konturen zu geben. Auch die Geliebte Aleškas, die ungezähmte und eigenwillige Steppenschönheit Zinka, gehört auf den ersten Blick zu der Gegenpartei, zu denen, an die die Filmhandlung ihre aufklärerische Mission richtet, was jedoch später als Missverständnis und Täuschung aufgedeckt wird. Die Techniken der Mediennutzung – hier geht es vor allem um Lektüre – werden in dieser Liebesgeschichte vielfach thematisiert und besonders hoch gewertet. Schließlich hängt das Gelingen oder Nichtgelingen der Liebe unmittelbar von den Medien ab. Aleškas Leidenschaft für Bücher und schöne Literatur, Radio und klassische Musik bildet nicht nur den positiven Pol zum Verhalten seiner medienfernen Arbeitskollegen, sondern ist unabdingbare Voraussetzung seines Liebesglücks. Denn vor allem die Vertrautheit mit dem literarischen Kanon und den literarischen Gefühlskonventionen ist das, was die Liebenden in den Koordinaten des
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Films zueinander bringt. Indem das medieninteressierte Liebespaar seiner Umgebung und den Zuschauern sein Liebesglück vorlebt, macht es erfolgreich Werbung für Kunst und Kultur. Die positive Bewertung des Kulturkonsums und der Mediennutzung führt dieser Film auf zweifache Weise aus. Zuerst beschwört er auf der Ebene des Filmsujets den hohen Nutzen von Bildung und Lektüre, sodann wird diese Argumentation durch literarische Motive, Verweise auf kanonische Texte sowie durch die kompositorische Struktur des Filmes dupliziert. Die Bekanntschaft mit der klassischen Literatur bildet hier die Schnittstelle zwischen den extrem entgegengesetzten Lebenserfahrungen der beiden Protagonisten. Im Film gehören sie verschiedenen Kulturen an, einer dörflichen und einer städtischen. Ihre Lebenserfahrungen weisen nur wenige Gemeinsamkeiten auf. Der junge Aleška ist ein Schulabsolvent, der gerade seine ersten Schritte im Berufsleben unternimmt und ein Studium plant. Seine Geliebte dagegen ist bereits berufstätig und trotz des gleichen Alters wesentlich reifer als ihr Geliebter. Auf dieser Diskrepanz beruht der Konflikt des Films. Als das Hauptkriterium, das das Auseinanderklaffen von zwei Kulturen und zwei individuellen Erwartungshorizonten illustriert, wählen die Autoren des Films den Bezug zur Sexualität. Ausführlich dokumentieren sie die einfachen Sitten, die in Aleškas unmittelbarer Umgebung herrschen. Nach der Arbeit besuchen seine Kollegen die Melkerinnen in der benachbarten Kuhfarm, und ihre Absichten sind alles andere als platonisch. Aleška überrascht einen seiner Arbeitskollegen beim erotischen Rendezvous mit einer verheirateten Frau. Auch hier wird ihm unmissverständlich klargemacht, dass es hier nicht um »feine Gefühle« geht. Schließlich möchte die Frau, die er anbetet, ihn zu sexuellen Handlungen provozieren, worauf er mit Bestürzung reagiert. Diese sich notorisch wiederholende Situation, in der nur der Held makellos bleibt, die übrigen handelnden Personen jedoch dem Vorwurf der Unsittlichkeit ausgesetzt sind, ruft bei den Kritikern und bei einigen Zuschauern Entsetzen hervor. In ihren Briefen werden die Anschuldigungen laut, der Film möchte die Umstände, in denen Sowjetmenschen leben, »schwärzen« und zeige ein boshaft verzerrtes Bild des sowjetischen Alltags.4 4 | Im Kontext dieser Rückmeldungen ragt die Reaktion der Parteiaktivisten der Stadt Nevinnomyssk besonders heraus. Führende Kommunisten dieser Stadt adressieren ihre Denunziation an die damalige Kulturministerin Ekaterina Furceva. Sie behaupten, die Autoren des Filmes würden derartig negative Typen zeigen,
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Ein anderer, nicht unerheblicher Teil des Publikums jedoch fand gerade an diesen Abweichungen von der gewohnten, utopisch-idealisierenden Darstellung des einfachen sowjetischen Menschen Gefallen. Man begrüßte den neuen »Realismus«, denn er ließ eine Projektion auf die eigene Erfahrung zu und verwischte die Grenze zwischen dem Filmhelden und dem Zuschauer. Dies belegt unter anderem eine Diskussion des Films unter den Mitgliedern des Moskauer Komsomol, in der sich mehrere Teilnehmer für eine solche »objektive« Darstellung des sowjetischen Lebens aussprachen mit dem Hinweis, die Umstände des Films würden auch ihrer Erfahrung entsprechen (RGALI f. 2453, op. 4, d. 1009). Diese »Objektivität«, die durch einen Konsens mit der Zuschauererfahrung bestätigt wurde, blieb noch größtenteils mit den Prinzipien der sozialistisch-realistischen Ästhetik kompatibel und insofern eher unproblematisch. Doch die im Geiste der neuen Objektivität erfolgte Problematisierung von bisher tabuisierten Themen wie illegitimer (vor- und außerehelicher) Sexualität konnte nur in einem spezifischen Deutungsrahmen stattfinden. Die Diskrepanz zwischen den propagierten Idealen des sowjetischen Menschen und den negativen Erscheinungen, für die sich das Tauwetterkino so sehr interessierte, wurde nur insofern geduldet, als sie im akzeptablen Rahmen des »Kampfes mit Unzulänglichkeiten« blieb. Der moralisierende Gestus der Umerziehung und Aufklärung, der für viele Spielfilme dieser Zeit charakteristisch ist und besonders oft in den Komödien vorkommt, ist als Versuch zu deuten, die sich mehrenden Abweichungen aufzufangen und die Utopie der sowjetischen Perfektion bestehen zu lassen. Somit steht der Film Aleškina ljubov’ mit seinen etwas zu notorisch wiederholten Schilderungen einer negativen Sexualität voll im Trend der neuen Ästhetik der Selbstvervollkommnung und »entschuldigt«
wie es sie in der Sowjetunion nicht geben könne, und ermahnen das Ministerium, »unsere Kinder vor solchen Grobheiten und Plattheiten« zu schützen (RGALI f. 2453, op. 4, N1051, l.9-12). Diese boshafte Anekdote erinnert daran, wie ernst der Film genommen wurde und welche überragende pädagogische und aufklärerische Bedeutung der Filmkunst generell im Kontext der ideologischen Wende der 1960er Jahre beigemessen wurde: In dem Klagebrief der Kommunisten werden nicht zufällig Kinder erwähnt, sie stehen da als symbolisches Objekt dieser pädagogischen Bestrebungen.
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sein Interesse an den dunklen Seiten der sowjetischen Realität mit dem Vorwand, diese eliminieren zu wollen. Vergleicht man aber den Film und die literarisierte Fassung des Drehbuchs, die 1960 in der Zeitschrift »Iskusstvo kino« publiziert wurde (Metal’nikov 1960), fallen einige Änderungen auf. Der Film verschärft einerseits Kontraste zwischen Aleška und seinen Arbeitskollegen, im gleichen Zug aber mildert er die Differenzen zwischen dem Hauptfigurenpaar. Denn im Unterschied zum Drehbuch ist Zinka im Film keine betrogene Frau mehr, sie schreitet ihrer ersten Liebe genauso offen und hoffnungsvoll entgegen wie ihr Geliebter. Indem der Film diese wichtige Handlungslinie auslässt, radiert er nicht nur eine brisante Verführungsgeschichte aus. Betrogene Frauen waren keineswegs ein Tabu für den sowjetischen Film.5 Es geht hier vielmehr darum, durch dieses Auslassen das Sujet radikal zu ändern. Sprach das Drehbuch darüber, dass die zweite Liebe die Enttäuschungen der ersten Liebe kuriert und auf das neue Glück hoffen lässt, löste es lediglich ein lokales Problem auf. Wenn aber der Film die Liebe als den wichtigsten Indikator einer übergreifenden »Kompatibilität« und einer grundsätzlichen Ähnlichkeit der sowjetischen Menschen einsetzt, steht er wegweisend für den neuen Trend, den augenfälligen und den nicht mehr ignorierbaren Diskrepanzen im sowjetischen Leben – wie etwa zwischen Dorf und Stadt, Zentrum und Peripherie – ihre Brisanz zu nehmen. Dieser Überlegung fiel die Geschichte des Liebesbetruges zum Opfer. Im Film treffen sich zwei junge Menschen, die sich nur scheinbar voneinander unterscheiden. Gerade diese grundsätzliche Ähnlichkeit wird in der dramatischsten Szene des Filmes illustriert. Als einer der Fahrer aus Aleškas Expedition das Mädchen beschimpft und von Aleška zu einer Art Faustduell aufgefordert wird, kommt es zum entscheidenden Durchbruch in der Liebesgeschichte, zu dem Punkt, an dem die Aussage des Films mit 5 | Generell ging der sowjetische Film in dieser Zeit sehr liberal mit dem Thema um. Drei Jahre zuvor drehte Nikolaj Ordynskij den durchaus erfolgreichen und von der Kritik wohlwollend aufgenommenen Film Čelovek rodilsja (Ein Mensch wird geboren, 1956), in dem er mit großem Mitgefühl die Geschichte einer jungen betrogenen Frau erzählte, ganz davon zu schweigen, dass in den 1970er Jahren der Film Moskau traut den Tränen nicht, der in Russland bis heute Kultstatus besitzt, betrogene Liebe und einsame Mutterschaft zu einer Art moralischer Prüfung erhob, die im Finale mit der wahren Liebe entlohnt wurde.
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besonderer Deutlichkeit zu Tage tritt. Während sich die Männer draußen »duellieren«, beobachtet die Kamera das aufgewühlte Mädchen in seinem Zimmer. Das Objektiv wird zuerst auf den Schreibtisch Zinkas fixiert, auf dem ein Buch liegt, danach folgt ein Kameraschwenk zu dem im Bett liegenden Mädchen, dann wird in einer Nahaufnahme sein Gesicht gezeigt. Die Komposition der Szene wie auch die Detailanordnung: Buch, Bett, Schreibtisch, stellen die dörfliche Schönheit in ein neues Licht. Auch sie ist eine Leserin und der Code des einfühlsamen Liebens ist ihr bekannt. In der Affirmation ihrer Zugehörigkeit zu einer durch die Schrift geprägten Kultur äußert sich ihre Liebe zu Aleška. Die darauffolgende Schlussszene, in der die Liebenden sich endlich vereinigen, kann dies nur bestätigen. Bücher und Sexualität bilden den Kernpunkt der Liebesdebatte im Film. Der vorbildliche Held Aleška baut beständig an einer festen Beziehung und predigt Sublimierung und Aufschiebung der sexuellen Erfüllung. Seine Geliebte ist – trotz ihrer angeberischen Haltung zu Beginn des Films – ebenfalls eine sublim liebende, Bücher lesende, schamhafte junge sowjetische Frau. Das Auseinanderklaffen der sowjetischen Lebenswelten ist überbrückbar. Diese Interpretation der Filmgeschichte wird durch die »Bekehrung« der Nebendarsteller bekräftigt. Aleška wirkt auf seine Kollegen in dem Maße überzeugend, dass man ihn um seine Liebe beneidet. Manche Fahrer aus Aleškas Expedition greifen sogar zu Büchern in der Hoffnung, eine ähnliche Gefühlsqualität zu erreichen. Und diese Hoffnung ist nicht unbegründet, denn am Ende der Geschichte zeigen die bisherigen Steppenrowdys durchaus edle Gefühle und beschützen das junge Liebespaar. Auch für Aleškas raue Kollegen ist die Umkehrung zu der propagierten sowjetischen Gefühlskultur möglich. Die parallele Führung zweier Handlungslinien – der eigentlichen Liebesgeschichte und der Umerziehungsgeschichte – hat darüber hinaus eine weitere Funktion. Der Film legt, indem er das Liebespaar als Objekt der kritischen Beobachtung und Analyse von Seiten der Nebendarsteller inszeniert und letztere das Liebesverhalten des vorbildlichen Paares interpretieren und auswerten lässt, zugleich auch dem Kinobesucher die Richtschnur für eine korrekte Filmrezeption vor. So wie manche von Aleškas Arbeitskollegen Interesse an Lektüre bekunden und ihre Sitten verfeinern, sollte auch der Zuschauer an dieser wertvollen Praktik teilnehmen – zu Büchern greifen und sublimiert lieben. Ferner verweist der Film auf der Ebene der Motive mit aller Deutlichkeit auf die Konventionen der klassischen Literatur, so dass deren Kennt-
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nis wesentlich für das Filmverständnis wird.6 Dabei geht es hier weniger um Zitathaftigkeit oder intertextuelles Spiel, als vielmehr um eine Auffrischung des relativ schmalen, aber als essentiell betrachteten literarischen Kanons. Das, was hier den Wissenskonsens zwischen dem Protagonistenpaar, zwischen den Hauptfiguren und den Nebendarstellern und schließlich zwischen der Aussage des Films und der Zuschauererwartung sichert, ist wiederum Literatur im Umfang des sowjetischen Schulunterrichts. Die »Bekehrungsgeschichte« im Film hat eine deutliche literarische Unterfütterung – schließlich wird hier eine Frau, die Heldin Zinka, von einem Mann, Aleška, »umerzogen«, wobei in Bezug auf den Letzteren gelegentlich die sarkastische Bezeichnung »Lehrer« benutzt wird. Das Filmsujet lehnt sich somit an das Muster der »Widerspenstigen Zähmung« an, die in der Sowjetunion wohl populärste Komödie Shakespeares.7 Beide Widerspenstigen – die Shakespeare’sche Katharina wie auch die sowjetische Zinka – tauchen in der Szene der ersten Begegnung mit ihren künftigen Männern als rasende, schlagende und fluchende Frauen auf, werden durch Liebe gezähmt, um am glücklichen Ende der Handlung in Gestalt liebender und gehorchender Frauen vor ihren Männern aufzutreten. Nicht nur die Sujetführung, sondern auch die Komposition einiger Filmsequenzen – wie die Szene der Zurückweisung des lästigen Verehrers in der ersten Filmhälfte oder die Schlussszene, in der die Protagonistin Zinka ihren Stolz und ihre Eitelkeit aufgibt, um Aleška ihre Liebe zu gestehen – erinnern, zum Teil auch wörtlich, an Shakespeares Komödie. Der Shakespeare’sche Strang dieser sowjetischen Liebesgeschichte ist der deutlichste Verweis auf die literarische Liebeskonvention, jedoch nicht der einzige. Die Liebenden in Aleškina ljubov’ repräsentieren zwei unterschiedliche Codes und sind anscheinend in den spezifischen kulturellen Verhaltensmustern gefangen, deren Unterschiede wiederum anhand von literarischen Verweisen expliziert werden, die jeweils an das volkstümliche Liebesverhalten und an den klassischen romantischen Code appellieren. Die große Liebe im Film entflammt nach einer zufälligen Begegnung, wo6 | Namentlich werden im Film Puschkin, Turgenev, Stendhal und Prévost erwähnt, also hauptsächlich empfindsame und romantische Lektüre empfohlen. 7 | Diese Komödie wurde zeitgleich mit dem Filmdreh im Moskauer Theater der Sowjetischen Armee inszeniert und 1961 von Nikolaj Kolosov im Filmstudio Mosfil’m verfilmt.
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bei das Liebespaar trotz des gegenseitigen Interesses zuerst auf Distanz zueinander geht und lediglich durch Blicke und zurückhaltende Beobachtung kommuniziert. Erst als der Vormund des Mädchens – der Großvater – den jungen Mann ins Haus einlädt, kommt es zum ersten Versuch, miteinander zu sprechen. Bis zu diesem Moment fallen die unterschiedlichen Liebescodes noch zusammen. Das romantische Lieben, das Aleška vertritt, wie auch das volkstümliche Lieben, das Zinka vorbehalten bleibt, präferieren das anfängliche Schweigen, Melancholie und Schüchternheit. Beim Treffen kommt es jedoch zum Konflikt der Liebescodes. Kaum tritt Aleška ins Zimmer, verschwindet Zinka hinter einem Vorhang und weigert sich, sich ihm zu zeigen. Die Zeremonie, die sie absolviert, gilt dem Gast und stellt eine etwas verkürzte Variante eines der Volkstradition zugeschriebenen Brauchs der Brautwerbung dar, der den Filmautoren und Zuschauern z.B. aus Aleksej Tolstojs Roman »Petr I« (»Peter I.«, 1933) bekannt sein dürfte. Die dörfliche Braut lässt sich demgemäss nur »wider Willen« dem Bräutigam vorführen, und wird von einem älteren männlichen Verwandten – hier von dem Großvater – dem künftigen Ehemann präsentiert. Wie es zum guten Ton gehört, schweigt »die Braut« Zinka, während Männer sprechen, und wendet ihr Gesicht ab. Aleška dagegen folgt mit seinen allabendlichen Wanderungen zu ihrem Haus einem anderen Muster, zu dem man Analogien in der russischen romantischen Literatur finden kann. Da es zuerst niemanden gibt, der ihn seiner Geliebten vorstellen könnte, tritt er in die Fußstapfen Hermanns aus Puškins »Pique Dame« und erweckt schließlich mit seinem steten schweigsamen Erscheinen die Aufmerksamkeit des Mädchens. Beim ersten Treffen erwartet er jedoch ein inniges Gespräch und wird bitter enttäuscht. Das Lesen erscheint hier als unabdingbare Voraussetzung sowohl für die innere Kommunikation im Film als auch für das Filmverständnis. Der Konflikt im Film baut sich dadurch auf, dass die Filmhandlung klischeehafte Elemente aus der literarischen Tradition aufgreift und der zeitlichen und räumlichen Situation des Filmgeschehens anpasst. Das Deuten der Handlungsabläufe stützt sich explizit auf Kenntnisse der Literatur. Der Film setzt beim Zuschauer Grundlagenwissen oder zumindest minimale Vertrautheit mit den literarischen Konventionen, Wandersujets und Motiven voraus. Dieses Wissen wird hier aktiviert, indem eine rezeptive Situation aufgebaut wird, die nicht ohne den Einsatz der aus dem Lesen oder Zuschauen gewonnenen Erfahrungen zu deuten wäre. Das »unnütze« Li-
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teratur- bzw. Kunstwissen wird in dem Maße aufgewertet, in dem es eine praktische Implikation bekommt.8 Nicht von minderem Interesse ist auch, dass die Typisierung der Helden anhand der Differenz von »literarisch« und »quasi volkstümlich« ausgeführt wird, wobei das »Volkstümliche« seinen positiven Wert verliert. Man beobachtet am Beispiel dieses Filmes, wie die für die Problematik der sowjetischen Kunst traditionellen binären Oppositionen Stadt und Land, Intellektuelle und Volk, soziales Oben und soziales Unten umgewertet werden. Nicht das Dorf, das Volk oder die Unterschichten bilden das gesunde Pendant zur verdächtigen Intelligenzija, sondern umgekehrt. Bildung ersetzt Naturtalent, Kultiviertheit und Komplexität des Verhaltens kommen an die Stelle der volkstümlichen Einfachheit. Damit geht auch die eindeutig positive Wertung des Anschlusses an die Medien einher. Die Nutzung von Radio und das Lesen von Büchern, die von Identifikationsfiguren des Films, nämlich Aleška und einer positiv konnotierten Nebenfigur – dem studierten Geologen –, ausgeübt werden, sind Praktiken, die unmissverständlich das richtige Verhalten markieren. Darüber hinaus offenbart der Film eine sehr wichtige Tendenz in der Darstellung der sowjetischen Liebe, und zwar dass diejenigen Verhaltensmuster als »kultiviert« und nachahmungswürdig erscheinen, die der russischen klassischen Literatur (Puškin) entnommen sind, und diejenigen der sowjetischen – wenn Aleksej Tolstojs Roman tatsächlich eine der Filmquellen sein sollte – als Illustration des »minderwertigen« Benehmens eingesetzt werden. So präsentiert sich die wahre sowjetische Liebe als eine exklusive, dauerhafte und ernsthafte Leidenschaft, die von der Sublimierung der Sexualität lebt. Dabei fungiert die Literatur – wohlgemerkt die des bürgerlichen Zeitalters – deutlich als Quelle des Wissens über die Liebe: Der Film legt unmissverständlich nahe, dass die zwei so verschiedenen Helden nur dank der Lektüre zueinander finden. Lesen erscheint hier auch als Technik des Nachholens, als eine Adaptationsmöglichkeit für diejenigen, die noch außerhalb der urbanen schriftlichen und visuellen Kultur stehen. Bücher und Filme – Letztere werden hier nur unterschwellig thematisiert – werden hier als Mechanismen der kulturellen Anpassung dargeboten.
8 | Im Unterschied zum Film der 1930er bis 40er Jahre, der bevorzugt an die Topik des Mythos und des Märchens appellierte, arbeitet dieser Film mit literarischen Vorlagen.
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L ERNEN . E RZIEHUNG DES Z USCHAUERS Während einer der Diskussionen, die nach der Fertigstellung und den ersten Probevorführungen des Films Aleškina ljubov’ veranstaltet wurden, brachte eine der Disputantinnen eine Überlegung ins Gespräch, die nicht nur trefflich das Fazit des Filmes wiedergab, sondern auch als Motto für die gesamte Propagandakampagne der neuen sowjetischen Liebe gelten konnte. »Wenn wir über unsere heranwachsende Jugend sprechen und darüber, dass sie auf das Erwachsenenleben vorbereitet werden soll«, sprach Komsomolzin Simonova beim Treffen der Moskauer Komsomolaktivisten mit den Filmschaffenden, »haben wir in erster Linie ihr berufliches Leben in der Fabrik im Sinn und denken nur selten an die Erziehung der Gefühle dieser Menschen.«9 Der Aufruf nach »Erziehung der Gefühle« richtete sich sowohl an die Künstler, denn offensichtlich waren sie das »wir«, das die Erzieherrolle übernehmen sollte, als auch an die Zuschauer, die – mit den Vorbildfiguren im Film konfrontiert – ihr Lieben reflektieren sollten. Die Worte der Komsomolzin Simonova markierten zugleich eine neue Stufe der Normierung des intimen Verhaltens. Nicht zuletzt wurde hier in einem Satz das »berufliche Leben« mit den »Gefühlen« konfrontiert. Das Problem, das zuvor etwa in Letjat žuravli und fast gleichzeitig mit Aleškina ljubov’ in Devjat’ dnej odnogo goda angesprochen wurde, nämlich die Gleichsetzung der Arbeitsethik mit der Liebesethik, wurde damit auch im Zusammenhang mit diesem Film diskutiert. Im Unterschied zu den oben erwähnten und im vorangehenden Kapitel analysierten Filmen ließ Aleškina ljubov’ keine Analogien zwischen Beruf bzw. gesellschaftlichem Engagement und der Sphäre des Privaten zu. Zwar verwandelt sich am Ende der Filmgeschichte der ungeschickte Aleška in einen guten Arbeiter und aus dem einst unsicheren Jungen wird durch das Wunder Liebe ein fürsorglicher und verantwortungsvoller Mann, aber diese Metamorphosen des Protagonisten verweisen lediglich darauf, dass alles – Beruf wie Liebe – erlernbar ist. Zwischen »privat« und »beruflich« jedoch ist eine klar 9 | »Мы, когда говорим о нашем подрaстающем поколении и что их надо готовить к жизни, мы имеем ввиду, прежде всего, их производственную жизнь на заводе и не всегда думаем о воспитании чувств этих людей«. Stenogramma vstereči rabotnikov III-go tvorčeskogo ob’edinenija studii Mosfil’m s komsomol’skim aktivom g. Moskvy ot 26.12.1960 po obsuždeniju fil’ma »Aleškina ljubiov‹«. RGALI f. 2453, op. 4, d. 1009, l.21.
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Mit Herz und Auge. Liebe im sowjetischen Film und in der Literatur
definierte Grenze gezogen. Die Zuschauerin Simonova konstatiert in ihrer Aussage diese Trennung und zielt mit ihrem Appell nach »Erziehung der Gefühle« auf die Aneignung des neu definierten autonomen Raums des Privaten. Es geht darum, die Liebe als einen selbständigen Bereich im Leben der Sowjetbürger zu etablieren und die Regeln des »guten Liebens« zu erarbeiten. Die zitierte Aussage wie auch die gesamte Diskussion über den Film reiht sich praktisch nahtlos in den Diskurs der sowjetischen Film- und Literaturrezeption ein, den Evgenij Dobrenko am Beispiel des »sowjetischen Lesers« detailliert untersucht hat (Dobrenko 1997). Der erwähnte Auftritt der Komsomolzin war Teil einer massiven Propagandaaktion, die analog zu den von Lahusen (Lahusen 2000) und Dobrenko beschriebenen Propagandaaktionen in der Literatur der 1930-40er Jahre angelegt wurde. Wenn Dobrenko Leserkonferenzen als so etwas wie Werbekampagnen bezeichnet, die »das Buch an den Leser bringen sollten«10, kann man die Aktivitäten um den Film Aleškina ljubov’ als das Bringen des Filmes an den Zuschauer bezeichnen. Für diesen Film sind solche Rezeptionssteuerungskampagnen ausgiebig dokumentiert. Nach der Publikation des Drehbuches in der Zeitschrift »Iskusstvo kino« folgte in den nächsten Ausgaben eine Leserbriefaktion, die von den professionellen Filmkritikern betreut und ausgewertet wurde (Pogoževa 1960). Nach der Fertigstellung des Films kamen zwei im Laufe des Jahres 1961 organisierte öffentliche Diskussionstreffen in Moskau und am Ort der Dreharbeiten in Feodossija zustande.11 Schließlich kam noch ein recht umfangreicher Korpus von auf Anfrage verfassten Meinungen hinzu, die aus der Feder der »Spezialisten« – Geologen und Ingenieure der Erdölindustrie – stammten.12 Diese Aktionen wurden »flankiert« und fortgesetzt mit Leserdiskussionen in der Zeitung »Komsomol’skaja pravda«, in welchen es generell um die Definition der »wahren Liebe« ging und die sowjetischen Zeitungsleser die Möglichkeit hatten, ihre Erfahrungen, Meinungen und Enttäuschungen in Sachen Liebe publik zu machen. Gerade das Ausmaß seiner »Werbekampagne« und seine Position im Kontext der damaligen Polemik machen den Film Aleškina ljubov’ für die 10 | »Продвижение книги к читателю« (Dobrenko 1997: 268). 11 | Zu dem Moskauer Treffen siehe Fußnote 22; das Stenogramm des Treffens in Feodossija befindet sich in RGALI f. 2453, op. 4, d. 1019. 12 | RGALI f. 2453, op. 4, d. 1051.
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Analyse der sowjetischen Liebe so interessant. Denn die Maschinerie der sowjetischen Rezeptionssteuerung richtet sich in diesem Fall nicht auf die Sicherung von Loyalität, auf die Steigerung der sozialistischen Produktivität oder auf ähnliche hoch geschätzte Qualitäten des Sowjetmenschen. Publizistik und Filmindustrie, Komsomolaktivisten, die während der geschlossenen Filmschau um ihre Meinung gebeten werden, Spezialisten wie Ingenieure und Geologen, die für den Film schriftliche Gutachten verfassen, schließlich Zuschauer des Filmes und Leser des Drehbuches, sie alle stellen sich der Aufgabe der Erschließung und des Erlernens eines privaten Gefühls – der Liebe. Für das Verständnis der sowjetischen Liebe ist es von Bedeutung zu zeigen, welche Mechanismen eingesetzt wurden, um den Umgang des Zuschauers mit der fiktionalen Liebe zu schulen. Einerseits reagierte der Film selbst auf diese Aufgabe, indem er Nachahmung und Lernen in das Filmsujet inkorporierte (z.B. durch die »Nachahmerfiguren«, die das »richtige« Verhalten des Protagonisten imitieren). Andererseits gab es die bewährte Technik der Meinungssteuerung, die an der Literatur ausprobiert und in den 1960er Jahren sehr aktiv auch für den Film angewendet wurde. Die Treffen mit den Filmautoren und Schauspielern, die Briefaktionen, die öffentlichen Diskussionen und schriftlichen Stellungnahmen der »Spezialisten« erfüllten zugleich mehrere Aufgaben. Als Bestandsaufnahmen der Zuschauerrezeption bedeuteten sie einerseits für die Filmautoren und staatlichen Produzenten eine Art Feedback.13 Andererseits gestalteten sie sich als eine Prüfung für die Teilnehmer, in der, ähnlich einer Lehrbuch-
13 | In der Zeit, als das Kino eine wichtige Einnahmequelle für die Staatskasse wurde, gewann die Meinung des Zuschauers an Bedeutung. Der Film sollte gefallen und nicht nur lehrreich oder ideologisch korrekt sein. Der Geschmack des Zuschauers konnte sogar die Meinung der Chefideologen überwiegen, wie der Fall von Grigorij Čuchrajs Film Ballada o soldate (Ballade vom Soldaten, 1959) belegt. Der Film wurde als »minderwertig« eingestuft und lief nur in der Provinz. Als er jedoch bei einer Meinungsumfrage zum Film des Jahres gekürt wurde, sah sich die Filmobrigkeit gezwungen, den Status des Films zu ändern. Nach der Nominierung zum besten Film des Jarhes lief er auch in den Hauptstädten und durfte sogar bei ausländischen Filmfestspielen gezeigt werden (Čuchraj 2002).
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aufgabe, die richtige Antwort – die Wertung des Filmes – bereits vor dem Treffen existierte.14 Bei solchen Aktionen handelte es sich um eine reziproke Einflussnahme. Denn wenn die Zuschauerin Simonova mit »Erziehung der Gefühle« eine Forderung an die Künstler richtete, stammte ihr Wunsch nach mehr Aufmerksamkeit für das Liebesleben der Sowjetbürger wörtlich aus der Feder der Kunstkritikerin Ljudmila Pogoževa, die im Kommentar zum Drehbuch »Aleškina ljubov’« den Begriff prägte (Pogoževa 1960: 53f.). Und wenn ein Geologe ein »fachliches« Gutachten für die Darstellung seines Berufes im Film schrieb, akzeptierte er den Film als Informationsquelle mit Realitätsbezug und schloss sich somit wiederum an die Meinung der Kritik an, die die Kunst nicht in ihrer ästhetischen, sondern in ihrer pragmatischen Bedeutung feierte. Der Kreis schloss sich, wenn die Meinung der Rezipienten als Brief oder als Aussage in einer öffentlichen Diskussion die Filmschaffenden oder die professionellen Filmkritiker erreichte. Auf jede Meinung wurde reagiert. Der Filmregisseur, der Drehbuchautor oder der Filmkritiker musste jede Versammlung mit einer Zusammenfassung abschließen, in der er auf die unterschiedlichen Meinungen der Disputanten eingehen und etwaige falsche Interpretationen berichtigen sollte. Leserbriefe an das Filmstudio oder die Redaktion der Zeitschrift mussten gelesen und beantwortet werden. In manchen Fällen retournierten die Zuschauer eine solche redaktionelle Antwort oder traten mit den Redakteuren in einen Briefwechsel, so dass ein Dialog entstand. Dieses zum Teil routiniert bürokratische Prozedere des Meinungsaustauschs brachte die Zuschauer auf den neuesten Stand des Wissens und berichtigte ihre Feh14 | Die Filmbesprechungen orientieren sich noch stark an dem Muster, das Thomas Lahusen am Beispiel von Vasilij Ažaev »Daleko ot Moskvy« (»Weit von Moskau«, 1949) für die Literatur der 1940er und frühen 1950er Jahre beschrieben hat (Lahusen 2000). Es lassen sich aber zugleich Abweichungen beobachten. So existieren offensichtlich keine vorbereiteten Vorlagen für diese Treffen, was nicht unbedingt als eine Form von Meinungsfreiheit zu deuten wäre, sondern vielmehr als ein Zeichen dafür, dass das »richtige Verhalten« mittlerweile verinnerlicht wurde. Wenn auch die Zuschauerkonferenzen nicht mehr so formell abliefen, behielten sie trotzdem den Status der »Schulung der richtigen Antwort« (»urok pravil’nyh otzyvov«, Dobrenko 1997:268), wobei man sich bei der Lektüre der Protokolle dem Eindruck nicht entziehen kann, dass die meisten Disputanten zu den Vorzeigeschülern gehörten.
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ler, zugleich schloss es den Autor und gegebenenfalls den Kritiker in den Diskurs der pragmatischen Kunstwertung ein, so dass Abweichungen allerseits vorgebeugt wurde. Mit solchen Meinungsaustauschkampagnen versuchte man, die problematische Mehrdeutigkeit des Films zu entschärfen und seine Auslegung zu vereinheitlichen.15 Und es galt, die Beziehung zwischen Medium und Zuschauer so auszurichten, dass das nachahmende Lernen zur bevorzugten Strategie der Rezeption wurde. Die Rhetorik der damaligen Debatte beschwört sogar eine direkte Übertragung des über den Film »erlernten« Wissens auf das »Leben«. Die Diskussionen über den Film Aleškina ljubov’ zeigen exemplarisch, wie eine derartige pragmatische Haltung gegenüber dem Film von den Zuschauern übernommen wird. Die Disputanten versuchen nicht, zwischen Realität und Fiktionalität zu unterscheiden, über den Film wie über ein Kunstwerk zu sprechen und ihn nach ästhetischen Kategorien zu beurteilen. Sie schalten von einem Gespräch über die wahre sowjetische Liebe zu den Bekenntnissen über ihre eigenen intimen Befindlichkeiten um, ohne die dazwischenliegende Distanz zu registrieren. So beeilt sich einer der an dem Moskauer Treffen teilnehmenden Komsomolzen, der Diskussionsrunde mitzuteilen, dass
15 | Solche Prozeduren in Bezug auf die Literatur subsumiert Evgenij Dobrenko unter dem Begriff »sniženie soprotivljaemosti«, dt. etwa »Verringerung des Widerstandes« (Dobrenko 1997: 268). Er zeigt, wie die Interpretation von komplexen und uneindeutigen Texten unter der Kontrolle der literarischen Kritik, des Bibliothekspersonals und der Schullehrer auf einen ideologisch korrekten gemeinsamen Nenner gebracht wurde. Auch für den Film lassen sich solche hermeneutischen Entschärfungsstrategien beobachten, die nicht nur durch unmittelbare Zensur, sondern auch durch Überzeugungsarbeit unter den Zuschauern geleistet wurden. In manchen Fällen gab es sogar einen »Kampf der Deutungen«, wobei das Schicksal des Filmes unmittelbar vom Sieg einer der Interpretenparteien und somit von der Ausschließung jeglicher Pluralität in der Auslegung abhing (vgl. Borissova 2004). Die Sichtung der archivarischen Quellen zu den sowjetischen Filmen ermöglicht an dieser Stelle die Behauptung, dass gerade die Uneindeutigkeit und Meinungsvielfalt, das heißt die Unmöglichkeit, die komplexe Aussage des Films auf eine klare und konforme Bedeutung zu reduzieren, oft zu einem Filmverbot führten.
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auch er ähnlich wie im Film liebt.16 Man bejubelt seine Aufrichtigkeit und die vorher aufgekommene Frage nach der Glaubwürdigkeit der Filmgeschichte erübrigt sich von selbst. Man erkennt sich selbst im medial geformten Bild, und dies gilt als Beweis für die Objektivität der Darstellung und ist ein ausreichendes Prädikat für die Qualität des Filmes. Die Freude der Diskussionsteilnehmer, mit der sie die Wortmeldung des liebenden Komsomolaktivisten empfangen, ist ein Beweis dafür, dass eine solche distanzlose Aneignung die erwünschte rezeptive Haltung ist. Man unterscheidet sich nicht vom Medium, sondern man misst sich daran, wünscht sich, mit den Vorbildern identisch zu sein. Aber zeitgleich entstehen Filme, die gerade diese nicht zu hinterfragende Reaktion auf das Medium problematisieren.
U NTERSCHEIDEN . D IE I NDIVIDUALISIERUNG DIE L IEBE Der Film A esli ėto ljubov’ (Und wenn es Liebe ist, 1961) erscheint lediglich ein Jahr nach Aleškina ljubov’. Bei diesem Filmprojekt führte ein Maître des sowjetischen Kinos, Julij Rajzman, Regie. Die Geschichte, die sein Film erzählt, hat wiederum literarische Implikationen. Die erste Liebe zweier Jugendlicher, die die letzte Klasse einer Vorortschule besuchen, wird durch das taktlose Interesse der Schulkameraden, Missbilligung und Misstrauen seitens der Lehrer und der Eltern zerstört. In die Verzweiflung getrieben, werden die einst vorbildlichen Jugendlichen ungehorsam, bleiben dem Schulunterricht fern und stellen die elterliche Autorität in Frage. Schließlich begehen sie – als graduelle Steigerung ihrer Devianz – einen »Sündenfall«, wobei die sexuelle Initiation zum psychischen Trauma für die Protagonistin wird und einen Selbstmordversuch nach sich zieht. Die Liebe, die zu Beginn des Films als ein überaus glückliches, wenn auch noch halbinfantiles Erlebnis dargestellt wird, verwandelt sich später allmählich in eine dramatische und komplizierte Beziehung und stirbt zuletzt an ihrer 16 | »У меня как раз 1 января будет свадьба, так что я недавно [сам] пережил такое (апплодисменты, шум, оживление в зале)« – »Ich heirate am 1. Januar, das heißt, ich habe gerade dasselbe erlebt (Applaus, Lärm, allgemeine Erheiterung im Saal)« –, berichtet ein Komsomolfunktionär während des Treffens der Moskauer Komsomolaktivisten mit der Belegschaft der 3. künstlerischen Vereinigung des Filmstudios Mosfil’m. RGALI f. 2453, op. 4, d. 1009, l.2.
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eigenen Überkomplexität. In der letzten Filmszene, als die beiden Liebenden, Boris und Ksenja, sich einige Monate nach dem tragischen Ereignis wiedersehen, treffen sich nicht mehr die einstigen Kinder, sondern zwei Erwachsene, um festzustellen, dass sie keine Worte füreinander mehr finden können. Aufgrund des erlebtes Traumas können sie ihre Gefühle nicht mehr kommunizieren. Als ein Konflikt zwischen dem Individuum und den autoritären Instanzen der Schule und der Familie, als Ausbruch der Individualität aus der pädagogischen Konvention der Gleichheit und des Kollektivismus lässt sich der Film als sowjetische Reminiszenz an »Romeo und Julia« deuten. Es ist gerade die Zeit, als Shakespeare’sche Stoffe unter sowjetischen Künstlern ein besonderes Interesse hervorrufen: Nur wenige Jahre nach Aleškina ljubov’ und A esli ėto ljubov’ erscheint Kozincevs Hamlet-Verfilmung (Gamlet, 1964); in Mne dvadcat’ let (auch: Zastava Iliča, dt. VT. Ich bin zwanzig Jahre alt, 1961/1964) lässt Marlen Chuciev einem Sohn, der verzweifelt ist wie Hamlet, seinen toten Vater erscheinen; parallel zu Rajzmans Film entsteht in dem gleichen Filmstudio die Verfilmung von »Der Widerspenstigen Zähmung«. Was jedoch Julij Rajzman dazu veranlasst, das bekannteste Sujet Shakespeares noch einmal ans Licht zu holen, ist nicht nur die für die Situation der 1960er Jahre brennend aktuelle Problematik der tragischen Emanzipation der Individualität von den Zwängen traditioneller Gesellschaft. Der Film hatte reale Prototypen, und Julij Rajzman verfilmte nicht Shakespeare, sondern er wollte mit seinem Film eine durchaus reale Tragödie analysieren. Ein Jahr vor der Entstehung des Films berichteten sowjetische Zeitungen von zwei Schülern, die mit Unverständnis, Hohn und Aggressivität ihrer Umgebung konfrontiert Selbstmord begangen hatten.17 Diese »unerhörte Begebenheit« lag dem Film zugrunde und bestimmte den Shakespeare’schen Ton der Filmhandlung. Die Tatsache, dass die realen Prototypen der Filmhelden als Lösung des Konflikts mit ihrer Umgebung die konventionalisierte literarische Handlung des Selbstmordes aus Liebe wählten, lässt es zu, den Film unter einem anderen Gesichtspunkt zu analysieren. Das, was die sowjetische 17 | Dieser Vorfall wurde auf einem Treffen des Zentralkomitees des Komsomol besprochen, kam in die Presse und diente als Vorlage sowohl für Viktor Rozovs Theaterstück »Neravnyj boj«, bei dem der Dramatiker sich für ein Happyend entschied, als auch für Julij Rajzmans Film (Turovskaja 1962).
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Publizistik als einen Einzelfall der pädagogischen Unzulänglichkeit wertete, was die Filmkritik als Tyrannei des autoritativen Denkens anprangerte, konnte als ein tiefergehendes Problem interpretiert werden. Der Film problematisiert das, was man als die Unfähigkeit deuten kann, zwischen dem fiktionalen Raum des Buches bzw. des Filmes und der eigenen Realität zu unterscheiden. Der Film von Julij Rajzman stellt sich definitiv auf die Seite der unglücklichen Liebenden – sowohl der realen, als auch der filmischen –, rechtfertigt jedoch nicht die Konfliktlösung. Das offenbart sich nicht nur darin, dass er die Selbstmörderin Ksenja überleben und ihre Tat später als »Dummheit« bereuen lässt. Sondern neben der autoritären Unterdrückung der individuellen Liebe problematisiert er auch die Frage nach den Medien und ihrer Rezeption und nach dem Umgang mit den medialen Modellen des Liebens. Julij Rajzman zeigt in seinem Film, wie schwierig die Unterscheidung zwischen »Leben« und »Literatur« sein kann. Die zeitgenössische Kritik des Films apostrophierte einstimmig als Hauptthema der Handlung den »Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen«, zwischen der »jungen« sowjetischen Lebens- und Liebesweise und der spießigen Umgebung der ehemaligen Dorfbewohner und der zu bürokratischen »Futteralmenschen« verkommenen Schulpädagogen (Turovskaja 1962, Jutkevič 1962, Karaganov 1962). Die Polemik kreiste vor allem um das Problem der Echtheit der Liebe, wobei die meisten Kritiker sich einig waren, dass das junge Paar noch nicht liebt, sondern erst die Möglichkeit einer Liebe ahnt.18 Daraus wurde gefolgert, dass jede intime Empfindung als Ausdruck der individuellen Gefühlswelt geschützt und geschätzt werden soll, ungeachtet dessen, ob es dabei um Liebe geht oder um eine Selbsttäuschung zweier etwas überspannter Jugendlicher. Im Film wird der Blick auf die Problematik des Erwachsenwerdens gerichtet und die Liebe als ein Initiationsritual, als eine, hier allerdings unbestandene, Reifeprüfung stilisiert. Jurij Murašov weist darauf hin, dass sich der Konflikt zwischen der persönlichen Individuation und dem kollektiven Ethos in diesem Film auf eine eigentümlich Weise gestaltet: Das Liebessujet verknüpft die Liebe mit der Schrift. Der verlorene und in fremde Hände geratene Brief setzt die Filmhandlung in Bewegung. Aber auch die Liebe der Protagonisten kristallisiert sich im Prozess des (Briefe-) Schreibens (Murašov 2008). Diese Verschränkung von Liebe und Schrift 18 | Eine ausführliche Analyse der kritischen Positionen in dieser Diskussion findet sich bei Lev Anninskij (Anninskij 1991)
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verweist einerseits auf die Literatur als Quelle der Liebe, denn dieses Medium erfindet Liebe, andererseits spricht diese motivische Konstellation das Problem der Verführung durch die Literatur an, das Problem der fehlenden Differenz zwischen dem (literarischen) Code der Liebe und seiner konkreten Realisierung. Die andere Seite des Filmkonfliktes bildet somit das »Werthersyndrom«, die »Krankheit«, an der die realen Vorbilder der Filmhelden gestorben sind und welche die Filmhelden nur knapp überstehen. Die von der Filmkritik monierte Unreife des Liebespaares lässt sich im Film nicht nur mit dem jungen Alter der Protagonisten erklären, sondern auch mit fehlender Differenzierung zwischen den medial geprägten Modellen der Liebe und dem eigenen Erlebnis. Die Nichtunterscheidung, die fehlende Reflexion thematisiert der Film sowohl auf narrativer als auch auf visueller Ebene. Wie Maja Turovskaja in ihrer Filmrezension bemerkte, fallen die Hauptfiguren am Anfang des Films durch nichts auf (Turovskaja 1962). Der Regisseur entschied sich für eine für den Zuschauer etwas irritierende Kameraführung, die die Protagonisten zuerst lediglich als Hintergrundfiguren zeigt. In den Gruppenszenen der Anfangssequenz geht das künftige Liebespaar völlig unter, und der gleichsetzenden Logik der Kamera folgend hätte jeder der vielen Schüler in der Klasse oder auf dem Schulhof der Liebende, jede der Schülerinnen die Liebende sein können. Der Film lässt seine Zuschauer lange in der Unentschiedenheit und studiert indessen die Umgebung der Handlung, und zwar nicht nur die topographische und psychologische – Vorortlandschaften, besiedelt mit von heute auf morgen zu Städtern gewordener Dorfbevölkerung –, sondern auch die mediale Topographie der Welt der Heranwachsenden. Bereits in den ersten Filmminuten erfährt man z.B., dass eine der Vorzeigeschülerinnen den damaligen Filmstar Oleg Striženov anbetet. Remarques Bücher werden ausgeliehen, und die Protagonistin lockt durch eine harmlose List den begehrten Liebesroman einer Schulfreundin heraus, um ihn als Erste lesen zu dürfen. Die Abende füllt man mit Kinobesuchen aus, wobei ein Liebesfilm sogar den sonst kinoresistenten Mathefan das Lehrbuch beiseitelegen lässt. Über Liebe wird im ironisch-spöttischen Ton gesprochen, aber es gibt bereits erste »Freundschaften«, und gelegentlich gesteht man sich – wie in der Szene auf dem Hof, als die Schüler sich zum Kino verabreden –, dass Liebe eigentlich das Thema ist, das alle mehr als Chemie oder Mathe, Berufs- und Ausbildungspläne oder Prüfungen interessiert. Die Atmosphäre,
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in der die Schüler in Rajzmans Film leben, ist geradezu elektrisiert durch ständiges Schauen, Sprechen und Lesen über Liebe. Etwas später, als die Liebenden von der Lehrerin ertappt sind, bemängelt Ksenja die Inkonsequenz der schulischen Pädagogik in Sachen Liebe. Denn wie sie treffend bemerkt, ist nicht allein der unkontrollierte Medienkonsum an der frühen Gefühlsreife der Schüler schuld. Liebe ist auch in der Schule nicht verboten, sie steht sogar im Schulprogramm. Die Liebesromane – allerdings die klassischen – werden im Unterricht gelesen, die Liebe wird den Schülern als ein schönes und erstrebenswertes Gefühl dargeboten. Gerade hier wird die Vorbereitung auf die Liebe als ein wichtiger Bestandteil des Erwachsenenlebens mit besonderem Eifer betrieben. Daher empfindet die Filmheldin das Auseinanderklaffen der von den Texten des schulischen Literaturkanons vorgegebenen Liebesmuster und ihrer eigenen Erfahrung als äußerst traumatisch. Denn die »normalen« Reaktionen auf Liebe, die von der schulischen Lektüre suggeriert werden und die Ksenja erwartet, wären Akzeptanz, Respekt und Bewunderung – eben das, was sie in der Filmhandlung nicht erlebt. Man könnte dieses Problem im Geiste der zeitgenössischen Filmkritik als Folge des autoritativen Denkens, als eine Zwangsinfantilisierung der jungen Generation auslegen. Man läge mit dieser Behauptung sicherlich nicht falsch. Das Motiv des fehlenden Vertrauens ist ein Leitmotiv in Rajzmans Film und wird konsequent durch alle Lebenssphären der kleinen Vorortgesellschaft durchgezogen. Es ist Ksenjas Mutter, die ihrer Tochter alles zumutet und nicht an ihre Unschuld glaubt, es sind die Eltern von Boris, die die Emotionen ihres Sohnes nicht ernst nehmen. Das prominenteste Beispiel liefert jedoch die Schule, denn hier sind die Schüler mit Pflichten überladen – sie arbeiten wie Erwachsene sogar in der Produktion und beteiligen sich am sozialistischen Wettbewerb –, ohne jedoch ihren Pflichten entsprechende Rechte zu besitzen. Der Film expliziert das hierarchische Denken der autoritativen Gesellschaft, die in Beziehungsmodellen (wie etwa: Mann – Frau, Erwachsener – Kind, Lehrer – Schüler, Vorgesetzter – Arbeiter) keine Umpolung, keine Änderung der Machtverhältnisse, keine Angleichung zulässt. Der Filmkonflikt wäre aus dieser Perspektive ein dramatischer Selbstemanzipierungsversuch, ein Ausbruch aus der zwanghaften Ordnung sowjetischer Hierarchien. Zugleich problematisiert die Filmhandlung eine andere Art von Konflikt, nämlich den Konflikt zwischen »moderner«, an den Medien Film und Schrift angeschlossener Jugend und der »vormodernen«, im münd-
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lichen Informationsaustausch lebenden Generation der Eltern. Diese werden am deutlichsten an den Beispielen von Ksenjas Mutter und Großmutter präsentiert, aber auch von Gerüchte verbreitenden Haushoffrauen und sogar von gebildeten und kultivierten Nachbarinnen, welche ebenso nie die Möglichkeit auslassen, im Haushof wie auf einem Dorfmarktplatz Nachrichten austauschen. Akzentuiert wird der Perspektivenkontrast hier zwischen dem, was diese orale Kultur des Haushofes und die schriftliche Kultur der geschulten Jugend als Liebe verstehen. Im Film etwas geglättet, kommt diese Trennung der Deutungscodes im Drehbuch besonders drastisch zum Vorschein. Da rät eine Nachbarin der Heldin Ksenja, sich »auszuleben«, solange man jung ist, aber auch aufzupassen, um nicht ungewollt schwanger zu werden. Die Konversation wird in derb umgangssprachlichen Euphemismen geführt, wobei Ksenja, die durch Lektüre und Film bereits an eine andere Sprache gewöhnt ist, dem Gedankengang der Ratgeberin nicht folgen kann.19 Im Film reduziert sich die Episode auf das Gespräch mit der Mutter, die hier eher Angst vor einer solchen »Initiation« hat. Der Gedanke, es handele sich nicht um Liebe, sondern lediglich um die sich Platz verschaffende sexuelle Reife, prägt die Wahrnehmung der Erwachsenen im Film, obwohl das Liebespaar seine Liebe nach komplexeren Modellen ausleben möchte. Ähnlich wie der Film Aleškina ljubov’, jedoch ohne seine moralisierenden Gesten, erzählt A esli ėto ljubov’ die Geschichte der Verfeinerung der Sitten und der Kultivierung des Liebesgefühls unter dem Einfluss der Lektüre und anderer Medien, vor allem des Films. Hier wird aber nicht die Grenze zwischen sozialen Gruppen, sondern zwischen Generationen gezogen. Gleichzeitig geht dieser Film weiter als sein Vorgänger, denn er setzt nicht nur Prioritäten (Lesen und Filme schauen, sublimiert lieben), sondern macht auch die Probleme der Mediennutzung sichtbar. Dies ist die dritte Ebene des Filmkonfliktes. Das Liebespaar in Rajzmans Film wird als Medienopfer dargestellt. Verführt durch die Reize des Breitwand- und Farbfilms, verwirrt durch den übermäßigen Genuss der Literatur, können seine Protagonisten keinen eigenen Stil des Liebens finden. Auch der »Sündenfall« des jungen Paars erscheint im Kontext ihrer unselbständigen
19 | Das Drehbuch einsichtlich in RGALI f. 2453, op.4, d.1044, das Zitat bezieht sich auf Seite 74.
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Handlungen wie aus einem exaltierten Liebesroman ausgeliehen.20 Kennzeichnend ist, dass Rajzmans Liebende Briefe als Kommunikationsmittel ihrer Liebe wählen, wiederum eine literarische Form der Liebeskommunikation, die in den Darstellungen der Liebe in der Literatur und im Film der 1960er Jahre selten vorkommt. Denn in dieser Zeit dominieren eher gemeinsames Bummeln, Plaudern, Wandern und Reisen – direkte Kommunikation, Mobilität und Freiheit in der Zeitgestaltung – den Code der Liebe.21 Wenn Rajzmans Protagonistin sich fragt, warum ihre Liebe anders ist als die Liebe in den Büchern, markiert diese Frage das Hauptproblem ihrer Beziehung. Die Liebenden sind zu sehr der literarischen und künstlerischen Tradition verhaftet. Solange sie ihre Liebe nur »medial« erleben, das heißt durch das gemeinsame Lesen von Romanen und das Schreiben von Briefen, können die Filmhelden sie aufrechterhalten. Kaum verlassen sie den hermetischen Raum der Schrift, erleben sie ihre eigene Unfähigkeit zur Variation und Abweichung von vorgegebenen Mustern und empfinden den Zusammenprall mit der Realität als Fiasko. Die Emanzipation der Liebenden vom Kollektiv und die Individuation ihres Liebeserlebnisses scheitern nicht nur aufgrund der repressiven Eingriffe der Machtinstanzen (Eltern, Schule), sondern auch an mangelnder Fähigkeit der Liebenden zur Differenzierung, Beobachtung und Selbstreflexion. Die Liebenden können sich nicht als Mediennutzer und zugleich Aktanten einer Liebeskommu20 | Mit einem »Sündenfall« reagiert z.B. auch das Liebespaar in Rousseaus Roman »Julia oder die neue Eloise« auf das Liebesverbot. 21 | Beispiele dafür finden sich in der Literatur in Jurij Kazakovs »Goluboe i zelenoe« (»Grün und Blau«, 1956), Aksenovs »Kollegi« (»Kollegen«, 1959) und »Zvezdnyj bilet (»Fahrkarte zu den Sternen«, 1961), im Film in Chucievs Mne dvadcat’ let (Ich bin zwanzig Jahre, 1963/1965) und Danelias Ja šagaju po Moskve (Ich wandere durch Moskau, dt. VT. Zwischenlandung in Moskau, 1963). Reisen werden z.B. in den Filmen Kar’era Dimy Gorina (Dima Gorins Kariere, 1961) und Tri pljus dva (Drei plus zwei, 1963) als Metapher für das Finden der Liebe eingesetzt. Für die Liebe im sowjetischen Autorenlied ist die Romantik der ungezielten Bewegung (Bummeln, Wandern, Spazieren), der Wanderungen und der Fernreisen (Sibirien, Kaukasus, später auch Indien und das europäische Ausland) von den Anfängen dieser Musikrichtung in den 1960er Jahren bis heute ein Topos. Schließlich lässt sich Venedikt Erofeevs Roman »Moskva–Petuški« (»Die Reise nach Petuschki«, 1970), der ebenfalls eine Reise zu der Geliebten beschreibt, als eine Parodie gerade auf diesen Reise- und Liebeswahn der 1960er Jahre lesen.
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nikation beobachten, übernehmen unkritisch die ihnen bekannten (literarischen und filmischen) Liebesmodelle und verharren in deren einfacher Nachahmung, anstatt auf die »reale« Situation zu reagieren. Die fehlende Unterscheidung zwischen der individuellen Erfahrung und den medialen Mustern mündet schließlich in die Unmöglichkeit, diese plötzlich aufklaffende Differenz zu akzeptieren und zu verarbeiten. Die zwei analysierten Beispiele Aleškina ljubov’ und A esli ėto ljubov’ zeigen, wie sich der Film der 1960er – konfrontiert mit der wachsenden Bedeutung der Medien – die Leitlinien der Medienrezeption erarbeitet. Wenn der erste Film noch sichergehen wollte, dass seine Rezeption mit der notwendigen Ernsthaftigkeit und einem ausreichenden Maß an Kenntnissen der medialen Produktion verläuft, setzt der zweite Film diese Qualitäten bei dem Zuschauer voraus und macht ihn auf die Notwendigkeit einer differenzierten individuellen Wahrnehmung aufmerksam, die die unkritische Nachahmung ausschließt. Bezeichnend ist, dass das Setting der beiden Filme dasselbe ist. Gezeigt wird ein junges Paar, für dessen Liebeserlebnis Film und Literatur als die wichtigsten Informationsquellen fungieren. Die beiden höchst unterschiedlichen Filme gehen von derselben Prämisse aus. Der durch und durch ideologisierte, klischeehafte Film vom Ščukin und Tumanov und der subversive und sehr feinfühlige Film von Rajzman treten hier nicht – wie man es hätte erwarten können – in einen Konflikt der Deutungen. Im Liebes- und Mediendiskurs der 1960er Jahre komplementieren sie einander auf geradezu perfekte Weise. Gemeinsam bieten sie als Rezeptionsmodelle Wertorientierung und Beobachtung an und signieren extreme Ablehnungsreaktionen (wie Ignoranz im Fall ungebildeter Fahrer in Aleškina ljubov’) oder gleichermaßen extreme Sympathiebekundungen (wie unkritische Nachahmung in A esli ėto ljubov’) als unkultiviert oder naiv. Gleichzeitig jedoch hält der Liebesfilm die Grenze zwischen Realität und Medialität aufrecht. Als Wissensquelle pocht er auf die mehr oder weniger kreative individuelle Wahrnehmung, die kognitive Prozesse in Gang setzen soll. Damit positioniert sich der sowjetische Film als ein beobachtendes und als zu beobachtendes System, das seinem Rezipienten die Originalität und das Lernen, die Kreativität und die Anpassung gleichermaßen ans Herz legt und dabei niemals vergisst, den Akzent darauf zu setzen, dass die Beobachtung im Medium und nach den Regeln des Mediums stattfindet.
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S EHEN . D IE S ELBST THEMATISIERUNG DES M EDIUMS Es ist auffallend, dass die Filme selbst, wie auch ihre recht aufwendig organisierten Rezeptionskampagnen, permanent bemüht sind, das verballiterarische in den Sujets hervorzuheben. Der Film Aleškina ljubov’ spricht ausschließlich über Literatur und ist mit literarischen Allusionen geradezu überladen. A esli ėto ljubov’ problematisiert zwar den medialen Druck, dem die neue Generation sowjetischer Bürger ausgesetzt ist, differenziert jedoch nicht – zumindest nicht auf der Ebene der verbalen filmischen Narration – zwischen verschiedenen Medien. Sowjetische Abenteuer- und Liebesfilme und Erich Maria Remarques Bücher werden im gleichen Atemzug genannt, wenn es darum geht, die medialen Muster der jugendlichen Liebe zu bezeichnen. Und doch unterscheiden sich die Liebesentwürfe im Film von jenen der Literatur, auch wenn die zwei analysierten Filme auf einer grundsätzlichen Kohärenz und Vergleichbarkeit der filmischen und der literarischen Liebe bestehen. Der Film verändert den Blick des Beobachters grundlegend: Die Liebe spricht nicht nur mit Worten, sondern auch mit Bildern zu ihm. Und wenn diese beiden Filme das idealtypische Muster der sowjetischen Liebe festlegen oder problematisieren wollen, müssen sie sich mit der Aufgabe der Visualisierung der Liebe auseinandersetzen. Sie müssen eine Entscheidung treffen, mithilfe welcher Bildmetaphern und kompositorischer Lösungen sie ihre Liebesgeschichten »erzählen«. Indem sie aber die (Un-) Sichtbarkeit und (Un-)Beobachtbarkeit der Liebe thematisieren, werden sie zugleich mit der (Un-)Sichtbarkeit des Mediums Film konfrontiert. In den Filmen der Tauwetterzeit lässt sich die Tendenz zur medialen Selbstreflexion, zur Reflexion eigener Visualität beobachten. In dieser Zeit machen sich einerseits die neuen stilistischen Trends – wie der des Neorealismus – bemerkbar, und es gibt bereits erste sowjetische experimentelle Filme (Kalatozov, Romm), welche die Diskussion über den Film als Medium mit spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten auch im sowjetischen Kontext notwendig und unentbehrlich machen. Andererseits erlebt die Filmtheorie der russischen Avantgarde in den 1960er Jahren ein Revival. Es kommt zu verstärkter Rezeption von Sergej Eisensteins, Vsevolod Pudovkins und Lev Kulešovs Œuvres. Aber nicht nur auf der Metaebene des kinematographischen Diskurses, sondern auch werkimmanent beschäftigen sich Filme dieser Zeit mit der eigenen Medialität. Das synästhetische Verständnis der Filmkunst, welches
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das Kino als den »Erben anderer Medien« sah (Hänsgen 2003), weicht allmählich einem stärker reflektierten Umgang mit der filmischen Medialität. Zwar macht sich in den Sujets der beiden Filme noch der »Literaturzentrismus« bemerkbar, der für den stalinistischen Film charakteristisch ist (Bulgakova 1999b, 2003), aber beide Filme greifen auf die spezifisch kinematographischen Ausdrucksmöglichkeiten zurück. Denn wenn sie auf der verbalen Ebene das Lesen und Schreiben thematisieren, inszenieren sie visuell mit nicht minderem Interesse das Schauen und das Beobachten. In der Akzentuierung des Sehens offenbart sich das Medium, das Filmauge – kinoglaz. »Als unser kleines Kollektiv auf Sachalin war, gab es da einen Vorfall. Ein junger Mann verliebte sich in ein Mädchen, alle wussten davon, beobachteten sie, beschützten dieses Gefühl, […]. Aber mich hat diese Geschichte gerade deswegen interessiert, weil auf sie die Augen des ganzen Kollektivs gerichtet wurden« – dieses Erlebnis war nach Budimir Metal’nikovs Angaben der Auslöser für die Idee des Drehbuches für den Film Aleškina ljubov’.22 So sehr er sich aber von der Sichtbarkeit der fremden Liebe angezogen fühlte, so wenig zeugte die Textvorlage für den künftigen Film davon. Vielmehr entfaltete das Drehbuch eine dezidiert literarische Liebesgeschichte und arbeitete mit dem Verfahren der narrativen Verschachtelung – der erste Erzähler erfährt von dem zweiten Erzähler die Geschichte einer fremden Liebe. Durch diese Rahmung sollte die gesamte Handlung des Filmes als erzählt dargestellt und das Thema des Filmes: die Beobachtung und das Beobachtet-Sein, lediglich verbal problematisiert werden. Solche narrativen Rahmenkonstruktionen mit einem Kommentar oder einer Einführung zu der Filmhandlung, die von einer Stimme aus dem Off vorgetragen wird, gehören Ende der 1950er Jahre noch zur filmischen Konvention, die aber zunehmend als antiquiert wahrgenommen wird.23 22 | »Когда наш небольшой съемочный коллектив был на Сахалине, там произошел такой случай: один парень влюбился в девушку, все об этом знали, следили за этим, всячески оберегали это чувство […]. Но меня эта история заинтересовала в той части, что на нее были устремлены глаза всего коллектива«, RGALI f. 2453, op. 4, d. 1009, l.32, Hervorhebung NB. 23 | Einige Beispiele solcher Rahmenkonstruktionen und ihre Bedeutung für den Filmkonflikt in den Filmen der 1950er bis 60er Jahre analysiert Tat’jana Daškova (Daškova 2008). Nach Daškova verlieren die Kommentare ihre Bedeutung für die Handlung, zeugen von einem nur scheinbaren – mnimyj – Konflikt und werden schließlich nur als Parodien oder Gags eingesetzt.
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Sie »bremsen« die Filmhandlung und lassen eine Filmgeschichte »literarisch« wirken. Dass der Film von Ščukin und Tumanov sie auslässt und mit einer wortlosen Szene anfängt, die den Protagonisten allein in der Steppe zeigt, wurde als gelungene Erfindung, als ein Novum empfunden. Vor den Augen des Zuschauers erscheint unvermittelt eine Figur, die nur anhand des visuellen Kontextes zu deuten ist. Eine ähnliche visuelle »Einführung« wählte auch Rajzman für seinen Film. Er ließ die Kamera über die Straßen und Höfe des Kiewer Vororts gleiten, schuf Ambivalenzen, indem er die eigentlichen Protagonisten in der Anfangssequenz weder verbal noch visuell markierte, und verzichtete weitgehend auf »sprechende« Einstellungen, auf Bilder, die wie ein Emblem einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Darstellung und ihrer verbalen Deutung herstellen. Die gegenseitige Ersetzbarkeit des Tons und des Bildes, die Oksana Bulgakova als Charakteristikum des stalinistischen Films beschreibt (Bulgakova 2003: 176f.), wurde in den beiden Filmen zugunsten einer Dissoziation des Verbalen und des Visuellen aufgehoben. Wichtige Sujetwendungen wurden nur durch Visualisierung vermittelt und hatten keine verbalen Parallelen. Die scheinbare Unähnlichkeit der Hauptfiguren in Aleškina ljubov’ löst sich ohne jeglichen verbalen Kommentar in der einzigen Einstellung auf, welche die Protagonistin als Leserin offenbart. Der Konflikt im Film A esli ėto ljubov’ setzt zwar ein, nachdem ein verlorener Brief in die falschen Hände geriet und (auch für den Zuschauer) vorgelesen wird, der Konflikt verlässt aber den lokalen Raum der Schule und ufert zu einem fatalen Ereignis aus, als das verdächtige Paar zusammen gesehen wird. Erst die Wirklichkeit des Gesehenen macht hier die Botschaft des Briefes zur unumkehrbaren Tatsache. Überhaupt spielen das Sehen und Gesehenwerden in den beiden Filmen eine besondere und zuweilen paradoxe Rolle. Das filmische Paar in Aleškina ljubov’ – wie auch seine Sachaliner Prototypen – steht unter der ständigen Beobachtung. Der Umstand der allseitigen Überschaubarkeit wird besonders überzeugend in Szene gesetzt, weil als Ort des Filmgeschehens die südrussische Steppe gewählt wird, in der die Protagonisten wahrlich nur hinter dem Horizont aus den Augen des Kollektivs verschwinden können. Dagegen siedelt Julij Rajzman seine Filmstory in einer halb urbanisierten, halb ländlichen Landschaft an, die mit diversen Baustellen, Wald, einer verlassenen Kirche und dunklen Winkeln im Hof und auf der Straße genügend Möglichkeiten für die Vereinsamung der Liebenden bietet.
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Wenn man beide Filme in dieser Hinsicht miteinander kontrastiert, sieht man, dass sie um das gleiche Problem kreisen. Es geht um die Kontrollierbarkeit der Liebe, die im visuellen Medium des Films als Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit der Liebe inszeniert wird. Paradox in dieser Inszenierung ist die Tatsache, dass in dem Film, in dem sich die Liebe als Vorbild zur Schau stellt und mit Zuschauern umgibt, sie trotzdem unsichtbar bleibt. Der Moment, in dem Aleškas Liebe erwidert wird und er und Zinka zum Paar werden, fällt buchstäblich aus den Augen seiner Kollegen und aus denen der Zuschauer. Die Vereinigung des Paares in der letzten Filmszene kommt völlig unerwartet. Das Liebespaar hat sich von dem Kollektiv abgrenzen, sich »unsichtbar« machen und einen Raum für seine Intimität gewinnen können. In Rajzmans Film, in dem das Liebespaar sich permanent versteckt, wird ihre Liebe zum Objekt einer aufdringlichen Beobachtung, die in der Phantasie des gehetzten Paares auch da präsent bleibt, wo sie nach der Logik des Sujets nicht sein kann. Die Blicke des Paares suchen – intradiegetisch – die ungewünschten Zeugen des heimlichen Treffens und richten sich – extradiegetisch – auf die Zeugen jenseits der Filmhandlung – auf die Zuschauer. Abbildung 1: Igor’ Puškarev als Boris und Žanna Prochorenko als Ksenja in A esli ėto ljubov’.
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Die Filme explizieren das Paradox der verschleierten Evidenz, demzufolge das sich Versteckende auffällt, das zur Schau Gestellte aber ungesehen bleibt.24 Sie thematisieren die Selektivität des Sehens und zugleich die Selektivität des Mediums, das den Sehsinn »verlängert«, indem er ihm das bisher Unbeobachtbare zugänglich macht, aber zugleich den Blick des Zuschauers manipuliert, eingrenzt und verschleiert. Denn die Beobachter in den Filmen sehen das, was es nicht gibt, wie die Mutter, die Lehrerin, die Haushofgemeinschaft in A esli ėto ljubov’, die dem Liebespaar den Sündenfall vor dem eigentlichen Sündenfall unterstellen – im Glauben, es »gesehen« zu haben. Als sichtbares Zeichen der vermeintlichen heimlichen erotischen Zusammenkunft des Paares wird der verschmutzte Rock des Mädchens gedeutet. Dieses sichtbare Zeichen aber trügt, und erst die Anschuldigung setzt die erotische Phantasie des Paares in Bewegung. Und gleichzeitig übersehen sie das real Existente vor ihren Augen (wie die Arbeiterkollegen von Aleška, welche die Wendung in seiner Liebesgeschichte, die Erwiderung seiner Liebe übersehen). Die Schaulustigen auf dem Bildschirm stellen somit nicht nur das »böse« Kollektiv dar, das hier die individuelle Liebesempfindung behindert, sondern weisen auch 24 | Dieses Prinzip der zur Schau gestellten Unsichtbarkeit wird gerade in der romantischen und spätromantischen Literatur problematisiert, die für beide Filme als eine der wichtigsten Quellen fungiert. So wird es z.B. in der Erzählung von Edgar Allan Poe »Der entwendete Brief« (»The Purloined Letter«, 1844) wie folgt erläutert: »There is a game of puzzles […] which is played upon a map. One party playing requires another to find a given word – the name of town, river, state or empire – any word, in short, upon the motley and perplexed surface of the chart. A novice in the game generally seeks to embarrass his opponents by giving them the most minutely lettered names; but the adept selects such words as stretch, in large characters, from one end of the chart to the other. These, like the overlargely lettered signs and placards of the street, escape observation by dint of being excessively obvious; and here the physical oversight is precisely analogous with the moral inapprehension by which the intellect suffers to pass unnoticed those considerations which are too obtrusively and too palpably self-evident.« (Poe 1845: 215) Man beachte hier die Gegenüberstellung des Novizen und seiner naiven Verschleierungsstrategie einerseits und des gekonnten Spiels des »Adepten« mit evidenter Unsichtbarkeit andererseits, sowie auch semantische Parallelen zwischen physischen (visuellen) Effekten und deren moralischen und intellektuellen Implikationen.
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auf den »Schaulustigen« vor dem Bildschirm, auf den Zuschauer hin und lokalisieren ihn als den eigentlichen – und eigentlich manipulierten – Beobachter. Das Problem der Kontrollierbarkeit der Liebe wird hier mit der Metaphorik des Sehens in Verbindung gebracht. Denn die Kontrolle erfolgt nun nicht mehr durch das Kollektiv oder andere Instanzen, sondern mithilfe von beobachteten und beobachtenden Medien. Dies verlangt von den Liebenden andere Techniken, wenn sie ihre Gefühle legitim machen wollen. Die Problematisierung des Sehens zeugt von einer Abkehr von dem Ideal der undifferenzierten, synästhetischen, kollektiven Rezeption, die für die stalinistische Kultur charakteristisch war.25 An die Stelle des Glaubens an einen gemeinsamen, immer lesbaren, eindeutigen Sinn kommt die Erfahrung, dass die Wahrnehmung und Deutung des Mediums nach individueller Rezeption und Reflexion verlangen und unterschiedlich ausfallen können – daher auch die ständige Problematisierung der falschen Beobachtung und der Missdeutungen in den beiden Filmen. Die Helden des neuen Tauwetterkinos präsentieren sich als Sehende, Beobachtende und Beobachtete. Verglichen mit den früheren Filmen verändert sich in Aleškas Liebe und in A esli ėto ljubov’ auch die Visualisierung des Sehens. An die Stelle der »blinden« Sehenden mit einem überbelichteten, geblendeten Blick ins Off, wie man sie aus den Filmen der 1930er und 1940er Jahre kennt, kommen fokussiert sehende Filmhelden. Sie blicken nicht mehr visionär in die ferne Zukunft, in die utopische Dimension des sozialistischen Glücks, wie etwa die Heldin aus Grigorij Aleksandrovs Film Svetlyj put’ oder auf den sich in der sakralen Ferne bzw. in der imaginären Nähe aufhaltenden Herrscher, wie etwa die Heldin in Padenie Berlina (Der Fall von Berlin, 1949), die in der finalen Szene der Wiedervereinigung mit dem geliebten Mann nicht ihren Verlobten, sondern den auf wundersame Weise vom Himmel herabkommenden Herrscher Stalin mit ihrem verliebten Blick fixiert und so das wahre Objekt ihrer Liebe offenbart. Die blinden Helden finden ihr Spiegelbild in den ebenfalls »blinden« Zuschauern, die
25 | Zur Synästhesie im stalinistischen Film vgl. Untersuchungen von Oksana Bulgakova (Bulgakova 2003) und Sabine Hänsgen (Hänsgen 2003), zur kollektiven Blindheit die Untersuchung von Jurij Murašov (Murašov 2003).
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in ihrer Wahrnehmung die Polysemie des visuellen Bildes eliminieren sollen.26 Abbildung 2: Ljubov’ Orlova als Tat’jana in Svetlyj put’.
Diese besondere Darstellung des Sehenden ließe sich nicht oder zumindest nicht allein durch die technische Machbarkeit erklären. Hier geht es vielmehr um eine spezifische Ästhetik, die hinter dem Filmbild steht. Es ist nicht das technische Problem, das bei Nahaufnahmen zur Überbelichtung des Gesichtes des Schauspielers und zum typischen geblendeten Blick führt, sondern ein gewünschter Effekt: Olga Žizneva, die in Abram Rooms Film Strogij junoša (Der stränge Jüngling 1936) genauso einen visionären Blick demonstriert wie ihre Schauspielkollegin Ljubov’ Orlova in Svetlyj put’, erlitt bei dem Dreh sogar leichte Verbrennungen im Gesicht – die Überbelichtung war speziell erzeugt. Die Helden des neuen Films der Tauwetterzeit dagegen richten ihre Blicke stets auf Objekte, die sich in ihrer Dimension befinden und nicht den Rahmen ihrer physischen Wahrnehmung sprengen. Ihre Liebe lokalisiert sie in ihrer unmittelbaren Räumlichkeit und Zeitlichkeit. In ihrer Liebe erfahren sie nicht die metaphysische Verbundenheit mit dem Herrscher, dem Staat und dem Volk, wie die stalinistischen Helden es tun, son26 | Vgl. Murašov 2003.
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dern sie konzentrieren sich vielmehr auf das konkrete und augenscheinliche Objekt ihrer Liebe – den Geliebten. Im reflektierten Licht einer solchen individuellen Liebe wird auch das eigene Ich erschlossen. Der Sehsinn wird nun anders gewertet. In der totalitären Ästhetik war er eindeutig negativ belegt. Für Michail Bachtin z.B. besaßen Augen und das Sehen »überhaupt keine Bedeutung«, denn »sie drücken das individuelle und sozusagen innere Leben des Menschen aus« (Bachtin 1987: 358). Das individuelle und individualisierende Sehen wird für die Ästhetik, die Michail Bachtin vertritt, umso irrelevanter, als alles, »was über die Körpergrenzen hinausstrebt und den Körper mit anderen Körpern oder der Außenwelt verbindet«, an Bedeutung gewinnt (ebd.).27 Im Gegenteil erscheint für die Tauwetterzeit gerade ein geschlossener, sehender, aus dem Kollektiv ausgelöster individueller Körper als das einzig interessante Objekt der Beobachtung. Das neue Sehen ist insoweit ein charakteristisches Merkmal der Tauwetterästhetik, als es den Hauptsinn dieses neuen »geschlossenen« individualistischen Menschen darstellt und der verändernden medialen Situation seinen Tribut zollt. Die Liebe der stalinistischen Helden war schon immer in seinem Herzen. Als ein mystisches Wissen und angeborenes Können musste sie nicht erlernt werden. Mit der Sicherheit einer Kompassnadel strahlten diese Helden ihre Liebe immer in die einzig mögliche Richtung aus – der Macht entgegen. Die Liebe der Helden der Tauwetterzeit kam dagegen von außen und drängte durch das Auge in das Herz hinein. Sie war die Summe des Gelesenen und des Gesehenen. Dem Liebenden sollten buchstäblich die Augen geöffnet werden, damit er das Licht der Liebe erblicken konnte. In dieser Funktion wird das Sehen in den Liebescode der 1960er Jahre aufgenommen. Denn einerseits zeugt das neue Sehen von der – positiv gewerteten – Ausgrenzung des Individuums aus dem Raum des Kollektiven. Andererseits vereint dieses Sehen zeitgleich die Sichtbarkeit und die Unsichtbarkeit, das Beobachter-Sein und das Beobachtet-Werden in sich und problematisiert die komplexen kommunikativen Aufgaben, mit denen der neue sowjetische Mensch in der medialisierten Welt der 1960er Jahre konfrontiert wird.
27 | Den Zusammenhang von Bachtins Explikationen zu kollektivem Körper und individuellem Sehen mit der totalitären Ideologie der Zeit Stalins hat Michail Ryklin analysiert (Ryklin 1992).
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In der Zeit zwischen den 1930er Jahren und dem Beginn der 1960er Jahre trat die sowjetische Liebe als ein gemeinschaftsstiftender Code auf. Sie vereinte die Liebenden über die ethnischen, räumlichen und zeitlichen Grenzen hinweg. In manchen Fällen ließ sie den Geliebten aus dem Reich der Toten zu seiner liebenden Frau zurückkehren wie im Kriegsfilm Ždi menja (Warte auf mich, 1943), und zuweilen machte sie eine noch dichtere Grenze überwindbar als die zwischen Leben und Tod – die Grenze zwischen der Sowjetunion und dem Westen (Cirk, dt. VT. Zirkus, 1936). Man verlobte die Liebenden miteinander und zugleich mit der großen Familie des sowjetischen Volkes. Sie trafen sich im Herzen des Staates, in Moskau, vereinten sich in der heldenhaften Arbeit, in dem Glauben an die internationale Solidarität oder an den baldigen Sieg. Über die Grenzen der sozialen Gruppe und Unterschiede im Bildungsniveau hinweg vermählte man eine Ingenieurin oder eine Lehrerin mit einem Arbeiter (Padenie Berlina, Der Fall von Berlin 1949; Ispytanie vernosti, Die Versuchung der Treue, 1953; Vesna na zarečnoj ulice, Frühling in der Zarečnaja-Straße, 1956) und behauptete die grundsätzliche »Kompatibilität« der Sowjetmenschen untereinander. Aber bereits Ende der 1950er Jahre wurde die Krise dieses Modells spürbar (Bulgakova 1999a: 136). In den 1970er und 80er Jahren mehren sich die Sujets, welche die sowjetische Gleichheit und Einigkeit aller Bevölkerungsgruppen als eine Utopie entlarven. Viktor Rozov (»Gnezdo glucharja«, »Das Nest des Auerhahns«, 1978) wandte sich in seinen späteren Stücken dem Leben der sowjetischen Elite zu, die nicht mehr imstande war, die Welt eines sowjetischen Normalverbrauchers nachzuvollziehen. Die scheiternde Liebe zwischen Vertretern der Bildungselite und denen der nicht elitären Gruppen problematisierte Michail Roščin in seiner Prosa und seinen Drehbüchern. Die sowjetische goldene Jugend traf auf Bewohner der Plattenhäuser der Moskauer Vororte im Film Kur’er (dt. VT. Der Bote, 1986).
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Das Scheitern solcher Beziehungen verwies auf die skandalöse Tatsache der sozialen Ungleichheit in der klassenlosen sowjetischen Gesellschaft. Die Liebessujets deckten diese Spaltung dadurch auf, dass man die Liebe als eine misslungene Kommunikation stilisierte. Der Film Kur’er, aber auch der Film Valentin i Valentina (Valentin und Valentina, 1985, nach Michail Roščins gleichnamigem Theaterstück) zeigen, wie der unterschiedliche Zugang zu Konsumgütern oder die durch soziale Herkunft bedingte Ungleichheit der Bildungschancen zum Problem in der Beziehung werden können, weil die unterschiedlich sozialisierten Liebenden ungleiche Erwartungen an eine Liebesbeziehung haben, differente Werte vertreten, anders handeln und ihre Liebe anders kommunizieren. Mit einem Wort, Vertreter verschiedener sozialer Gruppen sprechen unterschiedliche Sprachen, und auch ihre Sprachen der Liebe unterscheiden sich voneinander. Seit den späten 1960er Jahren legte der sowjetische Liebescode aber auch die anderen Grenzen fest, bei denen das Problem der Sprache eine noch größere Relevanz besaß. Denn auch nach einer sehr flüchtigen Bekanntschaft mit der Filmkunst oder der Literatur der sowjetischen Teilrepubliken wird deutlich, dass viele dieser temporär sowjetisierten Kulturen über spezifische eigene Rhetoriken und Visualisierungen der Liebe verfügten. So galten z.B. die Literaturen der baltischen Republiken im Vergleich zu den russischen sowjetischen Autoren als sehr »liberal«, wenn es um intime Beziehungen ging.1 Konnten diese Differenzen im gemeinsamen Diskurs der »sowjetischen Liebe« absorbiert werden und schloss die Bezeichnung »sowjetische Liebe« mehr als nur »russische Liebe« in sich ein? Verfügte »sowjetische Liebe« noch über eine homogenisierende, inkludierende – man möchte sogar sagen: koloniale – Macht? Gab es noch eine einheitliche, übergreifende Sprache der Liebe in der sowjetischen Gesellschaft der späten 60er und der 70er Jahre, in einer Gesellschaft, die sich zwar offiziell als »neue Gemeinschaft« – novaja obščnost’ – jenseits des Nationalen sah, zugleich aber von den aufkeimenden Nationalismen und aufkommenden Souveränitätsbestrebungen heimgesucht wurde? 1 | Anatolij Bočarov stützt sich im wesentlichen Teil seiner Studie zur »anspruchsvollen sowjetischen Liebe« auf baltische Autoren (Bočarov 1977). Sein Buch möchte die sowjetische Liebe als frei von den Dogmen der »kleinbürgerlichen« Moral vorstellen und behandelt ungewöhnlich freizügig heikle Themen wie vor- und außereheliche Sexualität.
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Die nationale Politik der Sowjetunion wurde zu jeder Zeit von Konflikten und problematischen Verhältnissen zwischen sowjetischem Zentrum und nationalen Peripherien belastet. Auf der Ebene der symbolischen Repräsentation war man jedoch ständig bemüht, das Land des siegreichen Sozialismus als eine glückliche Gemeinschaft verschiedener Ethnien darzustellen, die im »sowjetischen Volk« verschmolzen waren.2 Mit besonderer Eindringlichkeit äußerte sich dieser Gedanke im klassischen sozialistisch-realistischen Sujet der zärtlichen Union von zwei Vertretern der verschiedenen sowjetischen Nationen – man denke in erster Linie an Ivan Pyr’evs musikalische Komödie Svinarka i pastuch (Die Schweinehüterin und der Hirte, dt. VT. Sie trafen sich in Moskau, 1941). Als aber die Konsolidierung der Sowjetunion in den Nachkriegsjahren mit den letzten territorialen Aneignungen im Baltikum und der Westukraine vollendet wurde, nahm der Prozess der Differenzierung und Spaltung der nationalen Kulturen seinen Anfang, noch Jahre bevor es in der Zeit der Perestroika zu der großen und sichtbaren »Explosion der Souveränitäten« – vzryv suverenitetov – kam. Diese Divergenzen innerhalb der sowjetischen Kultur taten sich vor allem in den nationalen und nationalistischen Bewegungen kund. Ljudmila Alekseeva belegt sie am Beispiel der illegalen Gruppen in der Sowjetunion, die sich für die Unabhängigkeit ihrer Ethnien oder Nationen in den 1960er bis 80er Jahren einsetzten (Alekseeva 1984). Nikolaj Mitrochin schreibt eine Geschichte der sogenannten »russischen Partei« und zeigt nationalistische und chauvinistische Tendenzen in Sowjetrussland nach dem Zweiten Weltkrieg auf (Mitrochin 2003). Allein die Präsenz solcher Gruppen, die sich den Prinzipien des sowjetischen Internationalismus widersetzten, ist ein Beleg dafür, dass die Überzeugungskraft der sowjetischen Ideologie und die repressive Macht des sowjetischen Staates allmählich schwanden. Aber auch im offiziellen Diskurs setzte eine Entwicklung ein, welche die Grenzen zwischen den in der sowjetischen Einigkeit begriffenen nationalen Kulturen zog. Die nationalen Republiken, die zuvor als das bereits sowjetisierte »Innere« präsentiert und symbolisch an das »Kernland« angeschlossen wurden, wurden – ebenfalls symbolisch – »exterri2 | Oksana Sarkisova verfolgt den Diskurs der nationalen Peripherie in den sowjetischen und russischen Filmen von den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution bis in die 1990er Jahre, wobei sie feststellt, dass Grenz- und Randgebiete als Orte für die »Veranschaulichung zentraler Politik« und als Objekte der sowjetischen mission civilisatrice fungierten (Sarkisova 2003).
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torialisiert«.3 Zugleich wurde das (russische) Zentrum neu definiert und die Frage nach seiner Zugehörigkeit zur okzidentalen bzw. orientalischen Kultur aufgeworfen. In diesem Prozess kultureller Neuverortung spielte der Liebesdiskurs vor allem die Rolle eines Indikators: Er zeigte diese Entwicklungen auf und machte die Veränderung sichtbar, ohne sie jedoch als solche deutlich zu benennen. Der Liebesdiskurs sprach das eigentlich Unaussprechliche aus. Der neue Liebescode konnte weder die Unio mystica zwischen dem Herrscher und dem Volk noch die Überwindung der sozialen Grenzen garantieren. Auch die symbolische »Ehe« verschiedener sowjetischer Ethnien war nicht mehr möglich. Der Liebescode konzentrierte sich zunehmend auf das Individuum, nicht auf die sowjetische Gemeinschaft, und sprach demgemäß die Kriterien an, die das Individuum ausmachen – seine nationale und lokale Kultur (Dorf, Stadt), seine Sprache und nicht zuletzt seine mediale Kompetenz. Wie diese neuen Kriterien in den Code der sowjetischen Liebe eingeführt und seine früheren Charakteristika (grenzenlose Integration, Inklusion) ausgeklammert werden, möchte ich am Beispiel von drei Filmen von Andrej Končalovskij zeigen.
»I CH FUHR INS A USL AND …« D ER A USSCHLUSS DER NATIONALEN P ERIPHERIE Andrej Michalkov-Končalovskij sprach in seinen frühen Filmen mehrere Themen an, die für die Zeit der 1960er und 70er Jahre nicht nur wichtig, sondern zugleich auch sehr problematisch waren. Seine Filme revidierten die Vorstellung von der Sowjetisierung Russlands (Sibiriada, dt. VT. Sibiriade 1978) und Mittelasiens (Pervyj učitel’, dt. Der erste Lehrer, 1965) und stellten die Frage nach dem »russischen Charakter« (Asja Kljačina, 1967, und sein Sequel Kuročka Rjaba, Das Hähnchen Rjaba, 1994). Auch die Perspektive, aus welcher diese Themen beleuchtet wurden, ist kennzeichnend: Revolution, Industrialisierung, Errichtung der Sowjetmacht, die unter dem Motto »Verschmelzung des Dorfes und der Stadt« durchgeführte Urbanisierung Russlands etc. werden in den intimen Kulissen des Familiendramas oder der Liebesgeschichte inszeniert. 3 | Oksana Sarkisova zufolge wurde die nationale Peripherie im Film der 1960er Jahre als das »innere Andere« empfunden. (Sarkisova 2003: 465).
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Nach diesem Prinzip ist das Sujet seines Debütfilmes Pervyj učitel’ konstruiert. Končalovskij wendet sich dem sowjetischen Gründungsmythos zu – der Errichtung des Sowjetstaates und der Sowjetisierung Mittelasiens – und erzählt eine Liebesgeschichte, die die Problematik dieser Zeit – das Spannungsverhältnis zwischen revolutionärer Pflicht und Liebe – schildern soll. Seine Interpretation des Sujets verändert aber den in der literarischen Vorlage, der gleichnamigen Erzählung von Čingiz Ajtmatov, beschriebenen Konflikt. Erzählt Ajtmatov eine Geschichte darüber, wie die »wahre« Liebe – die Liebe zur Sowjetmacht – um den Preis der individuellen Liebe erlangt wird, macht Končalovskij daraus eine Schicksalstragödie, in der es um den fatalen Verlust der Liebe und die tragische Trennung der Liebenden geht. Die Sichtweise des Films auf die nationale Peripherie unterscheidet sich stark von dem Bild Kirgisiens, das der sowjetisch-kirgisische Schriftsteller Ajtmatov in seinem Text zeichnet. In dieser neuen Konditionierung der Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie liegt der Grund für den Wandel des Sujets – und generell für den Wandel der Vorstellung davon, was sowjetische Liebe ist. Denn Ajtmatov erzählt eine Geschichte der »Inklusion«, die Liebe seiner Heldin, des kirgisischen Mädchens Altynaj, integriert sie in die sowjetische »Familie«. Končalovskij erzählt eine Geschichte der »Exklusion« – Altynajs »asiatische« Liebe schließt das liebende Mädchen – aus der Sicht des Filmes – aus der zivilisierten (sprich: russischen) Gemeinschaft aus. In den späteren Filmen dieses Regisseurs (vgl. die nächsten Unterkapitel) wird die »sowjetische« Liebe expressis verbis durch die »russische« substituiert. Das Sujet von »Pervyj učitel’«, dieser frühen Erzählung von Ajtmatov,4 weist einige typische Elemente auf, die öfter in der sowjetisch-mittelasiatischen Literatur vorkommen.5 So beschreibt Ajtmatov die kulturelle Umwälzung Kirgisiens und inszeniert beständig die Präsenz und die Dominanz des sowjetischen Zentrums in der nationalen Peripherie. Im Jahre 1924 wird der ehemalige Rotarmist Djujšen Lehrer und bringt den Bauernkindern nicht nur Lesen und Schreiben bei, sondern auch – und das ist die 4 | »Pervyj učitel’« wurde im Jahre 1961 auf Kirgisisch publiziert. Im nächsten Jahr folgte eine Publikation in »Novyj mir«, für die Ajtmatov seinen Text selbst ins Russische übersetzt hat. Weiteren Textinterpretationen liegt diese russische Übersetzung zugrunde. 5 | Zur Literatur Ajtmatovs und der Tradition der sowjetischen mittelasiatischen Literatur vgl. Levčenko 1983, Gačev 1982.
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wichtigste Lektion – die Liebe zu Lenin, dessen Person hier als Sinnbild für die Sowjetmacht steht. Wie oft in den Texten, in denen es um die Errichtung der Sowjetmacht geht, thematisiert auch diese Erzählung das Unverständnis, die Ignoranz und zum Teil den offenen Widerstand der (kirgisischen) Bauern.6 Die angestrebte Umwälzung findet jedoch statt, wobei der Lehrer dafür mit seinem persönlichen Glück bezahlen muss, indem er auf die Liebe zu seiner Schülerin Altynaj verzichtet. Später, als das Dorf zu einer blühenden Kolchose wird, eine neue Schule baut und ausgebildete Lehrer bekommt, tritt der Lehrer Djujšen zurück. Ein weiteres Thema der Ajtmatov’schen Erzählung ist die Befreiung der mittelasiatischen Frauen und die Umstellung von den Geboten der traditionellen patriarchalischen Großfamilie und des Islams auf sowjetische Werte. Bekämpft werden arrangierte Ehe, Brautgeld, Polygamie und die Gesetze der Clanhierarchie. Dieser Strang der Erzählung wird anhand des Schicksals der 15-jährigen Schülerin Altynaj illustriert. Sie wird an einen reichen Viehzüchter verkauft und geschändet. Später verlässt sie das Dorf, studiert und macht eine Karriere als Philosophieprofessorin. Erst aus den retrospektiven Erklärungen der Heldin wird verständlich, dass sich zwischen Lehrer und Schülerin eine zärtliche Liebe anbahnte, die jedoch nie verwirklicht werden konnte. Ende der 1950er Jahre schreibt Altynaj an einen jungen Landsmann, einen angehenden Maler, einen Brief, in dem sie ihre Liebe zu dem alten Lehrer gesteht und die Ereignisse des Jahres 1924 als ein »Lehrstück« für die junge Generation zusammenfasst. Die erzählte Zeit schließt praktisch die gesamte Geschichte des sowjetischen Kirgisien ein. Angefangen mit den ersten Sowjetisierungsversuchen, skizziert Altynajs Brief – der die Binnenerzählung und den Hauptteil der Erzählung ausmacht – die Zeit des Krieges und endet in der Gegenwart. An diesem Punkt setzt der Rahmenerzähler und der Adressat des Briefes an, um das glückliche Heute des sowjetischen Kirgisien zu schildern. Die Erzählung hält den kulturellen und den historischen Fortschritt fest, der sich in der Einführung der allgemeinen Schulbildung, in der Elektrifizierung und Etablierung der nationalen Elite offenbart, die sich aus den ehemaligen Armen und Benachteiligten (wie der Waise Altynaj) rekrutiert. Ajtmatovs »Pervyj učitel’« verfolgt den Anschluss der natio6 | Vor allem die russischsprachige Literatur über die Kollektivierung verwendet diese Art von Konflikten. Stellvertretend für diese Gattung kann hier Šolochovs »Podnjataja celina« (»Neuland unterm Pflug«, 1932) genannt werden.
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nalen kirgisischen Kultur an die sowjetische Totalität. Der Text verwischt die Grenzen zwischen Nationalem und Sowjetischem, und indem er zum Aufbau der Geschichte die trivialen Modelle der sozialistisch-realistischen Literatur heranzieht, verliert er die individuelle Welt seiner Helden aus dem Blick. Ihre Individualität ist für das Ajtmatov’sche Sujet nur dann interessant, wenn sie sich der patriarchalischen Stammesgesellschaft widersetzen. Dieser Konflikt ist grundlegend für Ajtmatovs frühes Schaffen. Seine Helden – meist die weiblichen7 – verwerfen die Werte der traditionellen Kultur, um einen Sprung in die sowjetische Moderne der 1920er (»Pervyj učitel’«), der 1940er (dies ist das Hauptthema in »Licom k licu«, »Aug in Auge«, 1957, und in »Džamilja«, »Dshamilja«, auch »Djamila«, 1957) oder der 1960er Jahre (»Topolek moj v krasnoj kosynke«, »Du meine Pappel im roten Kopftuch«, 1960) zu machen. Dies ist die Perspektive, aus welcher Ajtmatov auch Altynajs Liebe schildert. Sie wird nicht nur als Ausbruch aus der archaischen Stammesordnung, sondern vielmehr als eine Umakzentuierung des Wertesystems konstruiert. Der Akzent wird von der stammesgesellschaftlichen und familiären Eingebundenheit auf die Verbundenheit mit der sowjetischen Kultur und dem sowjetischen Staat verschoben. Die Waise Altynaj, von ihren Verwandten betrogen, wird vom Staat »adoptiert«, somit wechselt sie von einem kollektiven System zu dem anderen. Ihre Liebe zum Lehrer, der ihr von Lenin erzählt hat, bedeutet dementsprechend in erster Linie die Liebe zur Sowjetmacht. Lenins Porträt, das in ihrer ersten Schule hängt – eine seltene Photographie, die Altynaj nie mehr wiedersieht –, bleibt für ewig in ihrem Gedächtnis eingeprägt. Dagegen vergisst sie das Gesicht des geliebten Djujšen und verwechselt ihn später mit einem anderen Mann. So existiert ihr Geliebter für sie nicht als eine Individualität, sondern als Substitut der Sowjetmacht. Er ist nur ein Mittler, ein Medium, das eine affektierte Haltung, eine Liebe zum Sowjetischen ermöglicht. Die Emotionen der Helden werden – ganz nach dem Rezept der kanonischen sozialistisch-realistischen Literatur der 1930 bis 40er Jahre – in der Arbeit und im 7 | Dies ist wiederum eine »Entlehnung« aus dem sowjetisch-russischen Darstellungskanon für Mittelasien. Seit den 1930er Jahren wurde gerade die Frau des Orients zu einem Symbol für die Befreiung und Sowjetisierung Mittelasiens erhoben. Als die Benachteiligsten unter den Benachteiligten bekamen Frauen die Rolle, die in dem nicht orientalen sowjetischen Diskurs normalerweise Proletarier oder arme Bauer einnahmen.
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fleißigen Lernen kanalisiert. Darin findet ihre Liebe die einzige Erfüllung, die sie braucht. Denn sowohl die archaische als auch die sowjetische Kultur präferieren kollektive Werte und versuchen, die individuelle Handlung im engen Rahmen der kollektiven Notwendigkeit einzugrenzen. Das Leben der jüngeren Altynaj wird jedoch im Unterschied zur Askese Djujšens mit allen Attributen des Erfolgs ausgestattet. Sie lebt schließlich in der größten Metropole Mittelasiens, in Taschkent, reist nach Moskau und ins Ausland. Trotz ihrer gescheiterten Liebe holt sie auch ihr privates Glück nach, indem sie später einen »guten Mann« heiratet und Kinder bekommt. Sowohl der Verzicht auf die traditionelle Kultur als auch der Verzicht auf die Verwirklichung ihrer Liebe zugunsten einer sowjetischen Karriere ebnet für diese »erste befreite Frau des Orients« den sicheren und schnellen Weg zum sozialen Aufstieg. Als Andrej Končalovskij nur wenige Jahre später, im Jahr 1965, diese Erzählung verfilmte, erfuhr ihr Sujet wesentliche Veränderungen, die allerdings mit offensichtlichem Einverständnis des Schriftstellers eingeführt wurden – Ajtmatov fungierte zumindest nominell als Drehbuchautor. Der Film reduziert die erzählte Zeit auf die ersten Jahre nach der Revolution und schließt somit das Thema des sowjetischen Fortschritts gänzlich aus. Die Fragen, ob das kirgisische Mädchen Altynaj im Taschkenter Waisenhaus glücklich wird, ob ihr Lehrer das Recht hatte, sie von ihren Verwandten und dem Gatten zu »befreien«, welche der Text ohne Zögern mit Ja beantwortet, bleiben im Film unbeantwortet. Zusätzliche Elemente der Handlung (der Brand in der Schule, bei dem ein Kind stirbt, sowie die Inversion des Leitmotivs des Ajtmatov’schen Textes – anders als in der Erzählung pflanzt der Lehrer im Film keine Bäume, sondern fällt die einzige Pappel im Dorf) verändern gänzlich die ursprüngliche Interpretation der beschriebenen Ereignisse. Die sowjetische Modernisierung Kirgisiens wird als ein mit Gewalt ausgeführter kultureller Umbruch dargestellt, und die Wertung dieses Wandels bleibt zumindest ambivalent. Nicht unbedeutend für die Veränderungen im Sujet scheint die intermediale Übersetzung – der Übergang vom Text zum Film – der verbalen Narration in eine überwiegend visuell dargestellte Handlung. Dabei wird der Film mit Problemen der Darstellbarkeit konfrontiert, die der Text nicht kennt. Der Film operiert mit Darstellungsklischees, die sich von den literarischen Stereotypen grundsätzlich unterscheiden. Wie Andreas Poltermann schreibt, markiert »jedes Medium einen Unterschied zu anderen Medien, indem es bestimmte Informationen bevorzugt, zu denen es ein
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›bequemes Verhältnis‹ hat« (Poltermann 1995: 8).8 Ein »bequemes Verhältnis« hat der Film von Končalovskij vor allem zu den früheren sowjetischen Filmen mit ethnographischen oder pseudoethnographischen Elementen (vgl. Potomok čingizchana, Der Nachfahre Dschingis Chans, dt. VT.: Sturm über Asien, 1928, Sol’ Svanetii, Das Salz Svanetiens, 1929, Čudesnica, Die Zauberkünstlerin, 1936 usw.). Die früheren sowjetischen Filme erarbeiten eine spezifische Ästhetik des Fremden, die sich vor allem für den visuellen Reiz des Anderen interessiert. Verglichen mit dem Text der Erzählung von Ajtmatov ändert sich im Film sowohl die mediale (Text vs. Film) als auch die geopolitische Perspektive – der Blick richtet sich aus dem Zentrum in die Peripherie, nicht wie im Text aus der Peripherie ins Zentrum. Obwohl sowjetische Filme – ähnlich wie die Literatur – in ihren Sujets am Anschlussnarrativ orientiert waren (Errichtung und Akzeptanz der Sowjetmacht), wurde in ihnen die östliche Peripherie stets als ein exotischer Raum, ein sowjetisches Abenteuerland und nicht zuletzt als Projektionsfläche für die eigene Imagination dargestellt (Sarkisova 2003). Diesem Trend schließt sich auch der Film von Končalovskij an und konzentriert sich auf die Darstellungen von Exotischem. Im Wesentlichen bedient er sich des Topos der russischen Kaukasusliteratur des 19. Jahrhunderts und zeigt sowohl die koloniale Macht (hier als Bildungsprojekt – Djujšens Schule) als auch die »unverdorbene«, aber angesichts der kolonialen Expansion im Untergang begriffene Welt der »Wilden«. Im Geiste dieser Literatur stilisiert Končalovskij seine Protagonistin. Sie fungiert hier als ein Objekt der erotischen Imagination des »weißen Mannes«.9 Kennzeichnend dafür ist die Szene von Altynajs Waschung nach ihrer Befreiung aus der Zwangsehe. Die Kamera zeigt langsam und Stück für Stück den nackten Körper des geschändeten Mädchens, zerlegt ihn regelrecht. Der Adressat dieser Szene, derjenige, der mit voyeu8 | Poltermann weist auch auf den Zusammenhang zwischen intermedialer und interkultureller Übersetzung hin. Er hebt hervor, dass die Kommunikation mit fremder oder über fremde Kultur von den medialen und informationspolitischen Bedingungen abhängt. Da andererseits durch die Wahl des Mediums bereits eine Vorentscheidung darüber getroffen wird, was sich in diesem Medium ausdrücken lässt, lassen sich Veränderungen im Wissen über das Fremde auch als Folge einer »Übersetzung« in neue Medien beschreiben (Poltermann 1995: 7ff.). 9 | Über russische Kaukasusliteratur im 19. Jahrhundert und speziell zur asiatischen Frau als Objekt der erotischen Imagination vgl. Layton 1994.
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ristischer Aufmerksamkeit die Badende beobachtet, ist nicht der kirgisische Geliebte, der sich im Zorn über die Schändung und beschämt durch ihre Nacktheit von Altynaj abwendet, sondern der (russische) Zuschauer. Das frühe Schaffen Ajtmatovs dagegen – und bei »Pervyj učitel’« handelt es sich um eine frühe Erzählung – ging mit der orientalistischen Exotik sehr spärlich um. Kirgisischsprachige Intarsien sind am meisten in »Džamilja« vertreten, aber auch da sind sie nicht zahlreich und beziehen sich hauptsächlich auf spezielle Verwandtschaftsgrade innerhalb des kirgisischen Stammes. In der russischen Übersetzung von »Pervyj učitel’« sind solche Exotismen auf das Minimum reduziert. Das Sujet der »Annäherung« – der Sowjetisierung Kirgisiens – erwähnt kaum Alltagsgegenstände oder Begriffe, die es im Russischen nicht gegeben hätte. Sprachlich nähert sich die russischsprachige Variante dieser Erzählung stark an den Stil der damaligen russisch-sowjetischen Prosa an.10 Besonders als Ajtmatov die ersten Erfolge in der zentralen russischsprachigen Presse feiert, versucht er eine »Einsprachigkeit« zu entwickeln und in beiden Kontexten – im dominanten sowjetisch-russischen und im peripheren kirgisischen – ein beidseitig verständliches System von Bildern, Symbolen und Wertevorstellungen zu erschaffen, wobei er die kulturellen Unterschiede kaschiert. Im Gegensatz zum Text, der die kirgisische Exotik ausspart, indem er sich auf das Sujet der Aneignung des Sowjetischen konzentriert, wird der Film ausgeprägt »asiatisch« inszeniert. Als Erstes fällt auf, dass die Inszenierung des kirgisischen Alltags nach dem Prinzip einer quasi ethnographischen Beschreibung verläuft. Gezeigt werden spezifische Riten, etwa die Rituale des Feierns, der Pferdefang mit der Fangleine und der Wettbewerb der berittenen Kämpfer, die in das Filmsujet als Parallele zum Kampf um die begehrte Frau eingeflochten werden, sowie die Rituale des Trauerns, die im letzten Teil des Films, in der Beweinung des toten Schuljungen, zu Tage treten. Die Emotionen der Helden, die Ajtmatov in der retrospektiv angelegten Binnenerzählung direkt benennt, erlauben im Text keine spezifisch nationale Attribuierung. Anders sind sie im Film dargestellt. Hier ändert sich die Darstellungsperspektive, schließlich müssen die Erlebnisse der 10 | Zu dieser Zeit übersetzte Ajtmatov, bilingual aufgewachsen, seine Erzählungen selbst und schrieb zuweilen gleichzeitig in beiden Sprachen (Chlebnikov/ Franz 1993: 36). Die Auswahl der stilistischen Mittel in seiner russischsprachigen Prosa oblag also ihm und nicht seinem Übersetzer.
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Helden als spezifisch kirgisische sichtbar gemacht werden, so dass die gleichen Emotionen (Liebe, Hass, Verzweiflung) mithilfe von exotischer Mimik und Gestik vermittelt werden. Altynajs neutral gehaltene Worte im Text: »Ich bin die Gefallene, die Geschändete«11 , mit denen sie ihre Gefühle nach der Befreiung aus ihrer Ehe schildert, werden im Film gestisch wiedergegeben. Altynaj verdeckt ihr Gesicht mit einem Chalat,12 diese Schamgeste wird jedoch so in Szene gesetzt, dass sie eher an den Brauch der Frauenverschleierung denken lässt. In den mittelasiatischen Kulturen, die von den Frauen das Verdecken des Gesichts erfordern, ersetzt ein Chalat für junge Mädchen oft den Tschador.13 Dabei aber gehört Kirgisien nicht zu den Kulturen, in denen Frauen Schleier tragen. Dieses quasi »kirgisische« Benehmen erweist sich beim näheren Betrachten als »fakelore« (Dorson 1976),14 als ein fingierter Volksbrauch. Ein weiteres Beispiel dieses »fakeloristischen« Benehmens bietet Altynajs Tante. Gekränkt durch die »Befreiung« ihrer Nichte und Altynajs Rückkehr ins Dorf, drückt sie ihre 11 | »Я погибшая, опороченная«, Ajtmatov 1982: 276. 12 | Eine Art Kleid oder Kittel, wird sowohl von Frauen, als auch von Männern getragen. 13 | Dieser Brauch wird in den Memoiren von Sadriddin Ajni erwähnt (Ajni 1980/81). 14 | Richard Dorson führt diesen Terminus 1950 in Bezug auf die quasifolkloristische Textproduktion ein (Dorson 1950) und definiert ihn in seinen späteren Arbeiten als »a synthetic product claiming to be authentic oral tradition but actually tailored for mass edification« (Dorson 1976: 5) oder als »a literary product passed off as folklore« ebd.: 28). An einer anderen Stelle setzt er sich zur Wehr gegen den inflationären Gebrauch dieses Wortes und schlägt vor, zwischen den Kreationen der »popular culture« und »the pseudo-scholar creating folklore for the mass culture« – dem »eigentlichen« Fakelore – zu unterscheiden (ebd.: 93). Der Fall Pervyj učitel’ gehört definitiv zu der Sparte der (gehobenen) populären Kultur, so dass der von Dorson für die Zwecke der wissenschaftlichen Polemik eingeführte Terminus auf den Film nicht angewendet werden sollte. Ich benutze ihn dennoch, und zwar nicht nur um den Sachverhalt (die Fingierung des Brauchtums, die Pseudovolkstümlichkeit) zu werten. Ein weiterer Grund für einen solchen Wortgebrauch liegt darin, dass der Filmregisseur in seinen späteren Schriften den Anspruch erhob, den Stoff für seinen Film nicht nur der Literatur entnommen, sondern auch eine Art Feldforschung betrieben zu haben. Eben diese späteren Kennerambitionen haben mich dazu verleitet, Pervyj učitel’ als eine – teilweise – fakeloristische Produktion zu bezeichnen.
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Entrüstung aus, indem sie ihr Kopftuch vom Haupt reißt und sich mit Straßendreck beschmiert. Abbildung 3: Natalia Arinbasarova als Altynaj in Pervyj učitel’
Abbildung 4: Darkul’ Kujukova als Altynajs Tante in Pervyj učitel’
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Das Verhalten beider Frauen ist exotisch und archaisch zugleich, aber kein spezifisch kirgisisches Verhalten. Die Gesten gehen auf den biblischen Brauch zurück (»Asche auf das Haupt streuen«, 1. Makkabäer 3, 47). Das tatsächliche Umsetzen dieses Idioms in die Tat, die Exaltiertheit und der übertriebene körperliche Einsatz im Ausleben der Emotionen verletzen jedoch die Normen des »zivilisierten« Benehmens und markieren dadurch sowohl Altynajs Tante als auch die gesamte kirgisische Dorfgemeinschaft als evident »wild« und »rückständig«. Die zur Schau gestellten exorbitanten Gefühle, das harmonische Beieinander des Schrecklichen und des Schönen, das Verschmelzen von Gewalt und Leidenschaft machen im Film den Reiz des »wilden« kirgisischen Lebens aus. Nicht zufällig zeigt der Regisseur in der Szene der Pferdeschlachtung kleine kirgisische Kinder, die vergnügt beobachten, wie das Tier enthäutet wird und seine Eingeweide entfernt werden. Völlig irrelevant für das Sujet, aber wichtig für die Symbolsprache des Filmes erscheinen Figuren wie ein verkrüppelter Reiter oder ein Fratzen schneidender Dorfnarr. Sowohl die negativen als auch die positiven Helden im Film gehen ohne Zögern von der Liebe zur Gewalt über und umgekehrt. Eben in einer solchen Vereinigung von »Schönem« und »Widerwärtigem« besteht nach der Beobachtung von Clifford Geertz die Anziehungskraft der »wilden« Gesellschaft für die Vertreter der »zivilisierten« Welt (Geertz 1983). Geertz weist darauf hin, dass »the confusion of high artistry and high cruelty« (ebd.: 121) für den europäischen Reisenden die Essenz der Fremdheit darstellt. Im Kontext der Fremdenbeschreibung dient sie einer Intensivierung des Empfindungsdramas – »an extravagant intensification of sensuous drama« (ebd.). Mit ähnlichen »dramatischen« Effekten arbeitet Končalovskij, der übrigens später behauptet, wie ein gewissenhafter Ethnologe Kirgisien bereist und das authentische Leben seiner Bewohner kennen gelernt zu haben.15 Sein Bild von Kirgisien gibt aber vielmehr die Haltung eines russischen 15 | »Готовясь к Первому учителю, я много путешествовал по Киргизии, мне хотелось почувствовать эту страну, ее музыку, проникнуться ее духом. Я слушал старых акынов, спал в юртах, пил кумыс с водкой«. – »Während der Vorbereitung zu dem Dreh des Ersten Lehrers bereiste ich ganz Kirgisien, ich wollte dieses Land, seine Musik, seinen Geist erleben. Ich hörte den Gesang der alten Rapsoden, schlief in den Hirtenhütten, trank Kumys mit Vodka« (Končalovskij 1999: 35).
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»white man« wieder, als dass es eine Rekonstruktion des kirgisischen Alltagslebens anbietet. Der Liebeskonflikt, den Ajtmatov mithilfe der Sublimation der Leidenschaft in der Arbeit löst, wird im Film auf verschiedene Weisen codiert. Es ist einerseits der klassizistische Konflikt zwischen der Leidenschaft und der Pflicht. Der Lehrer wird vor die Alternative gestellt, entweder seine Geliebte oder seine Schüler zu verlassen. In der Filmhandlung aber ist die Sublimierung des Liebesgefühls – die in Ajtmatovs Erzählung noch als Patentrezept gilt – nicht möglich, denn jede Entscheidung – für die Pflicht und gegen die Liebe oder umgekehrt – führt zu einer Tragödie. »Ich habe bereits dem Ersten Lehrer einen tragischen Unterton vermittelt, ich wollte daraus kein Drama, sondern etwas, was einer griechischen Tragödie gleicht, machen«16, so erklärt Končalovskij später seine Interpretation. Sein Verweis auf die griechische Tragödie ist in diesem Kontext weniger literaturhistorisch zu verstehen, als vielmehr im populären Verständnis der altgriechischen Dramaturgie als Hort der archaisch-authentischen Leidenschaften zu sehen. Bezeichnend ist auch, dass Končalovskij seine Liebesgeschichte kompilierend gestaltet. Er verstärkt die Analogien zur arabischen Legende über Lajla und Medjnun, einer im vorder- und mittelasiatischen Kulturraum verbreiteten Geschichte von durch Gewalt getrennten Liebenden17 und orientiert sich darüber hinaus in sehr starkem Maß an Shakespeares Tragödien. Für seine »russischen« Filme dagegen zieht Končalovskij die Ästhetik des (bürgerlichen) Dramas vor. Warum Končalovskij für die Gestaltung des sowjetischen Kirgisien die Topik der antiken, altarabischen und frühneuzeitlichen Literatur braucht, erklärt er folgendermaßen:
16 | »Я уже первого учителя снимал с ощущением трагизма, мне хотелось сделать не драму, а нечто подобное греческой трагедии« (Končalovskij 1998: 139). 17 | Nach dieser Legende werden die Liebenden getrennt. Leila wird verheiratet und Kais, genannt medjnun, der Besessene, verlässt seine Sippe und geht in die Wüste. Beide sterben an Liebeskummer. Die Besessenheit zeichnet auch den Lehrer Djujšen in Končalovskijs Interpretation aus. Die Liebenden im Film werden ebenfalls mit Gewalt getrennt, buchstäblich an den Füßen auseinander gezogen, ein russisches Idiom – rastaskivat’ za nogi – illustrierend.
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»Die Mehrheit der Kirgisen ist auf der Entwicklungsebene des Shakespeareschen Zuschauers geblieben, der mit gleicher Begeisterung der Hamlet-Aufführung wie auch der Hetze eines Bären durch Hunde beiwohnt. Ein Schauspieler des Akademischen Theaters in Frunze erzählte mir, wie verängstigt er war, wenn er Jago spielen musste. Viele der Zuschauer waren Hirten, die aus den Bergen in die Hauptstadt kamen. In der Regel kauften sie drei Eintrittskarten für zwei Personen – auf dem freien Platz breiteten sie Fladenbrot, Dörrfleisch und Zwiebeln aus […] Das Bühnengeschehen empfanden sie als Realität. Während Jagos Monologs, in dem er seinen heimtückischen Plan offen legte, hörte man Flüche aus dem Zuschauerraum, leere Flaschen flogen nach dem Bösewicht. Das ist der Zuschauer, welcher der Größe Shakespeares gewachsen ist!«18
Končalovskij stellt Kirgisien der russischen Kultur als ein Land entgegen, in dem es »Menschen mit offenen und ursprünglichen Gefühlen« (strana ljudej s otkrytymi i pervozdannymi čuvstvami, Končalovskij 1999: 27) gibt. Er definiert Kirgisien als das Andere, als Gegenpol des »zivilisierten« Russland. Als Resultat dieser Exklusion folgt die Orientalisierung der mittelasiatischen Republik im Film und die Orientalisierung der Liebe. Das Wechselspiel von Schönheit und Hässlichkeit, von Gewalt und Ergebenheit erzeugt den spezifischen erotischen Effekt und schafft zugleich eine Distanz zu den Figuren und der Filmhandlung. Dies ermöglicht schließlich die Sexualisierung der Liebe in diesem Film. Die sowjetische Zensur lässt die Szene der Vergewaltigung, in welcher das männliche Begehren als ein animalisches, »wildes« Verlangen gezeigt wird, und die Bilder des nackten weiblichen Körpers in der Einstellung mit der badenden Altynaj zu. Denn im Film wird Erotik und Darstellung der Sexualität im Kontext der exotisch-asiatischen Kultur wahrgenommen und nicht mehr nach den 18 | »В массе своей киргизы остались на уровне шекспировского зрителя, в одном и том же зале с равным увлечением смотревшего и ›Гамлета‹ и травлю медведя собаками. Мне рассказывал артист Фрунзенского академического театра, как страшно ему было каждый раз играть Яго. Многие из сидевших в зале были чабаны, спустившиеся в столицу с гор. Как правило он покупали три места на двоих – на свободном кресле раскладывали лепешки, вяленое мясо, лук…Происходящее на сцене воспринималось ими как реальность. В момент решающего монолога Яго из зала неслись проклятия, в злодея летели пустые бутылки. Вот это зритель, достойный шекспировского величия« (Končalovskij 1999: 28).
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Prinzipien der sowjetischen Moral gewertet. Sie fungiert als Attribut der fremdkulturellen Lebensweise.19 Die erotisierte Nacktheit des liebenden Körpers, die in der sowjetisch-russischen Kultur mit einem Tabu belegt war, wird als Norm in Bezug auf die mittelasiatische Peripherie empfunden. Die Verlagerung des Liebessujets in den mittelasiatischen Raum schafft Freiräume, in denen das Tabuisierte zur Sprache gebracht werden kann. Aber zugleich errichtet dieses Verfahren eine Grenze zu dem Dargestellten, denn gezeigt wird nicht das Eigene, sondern das Fremde. Die kulturelle Exklusion wird sehr deutlich, wenn Končalovskij das typische Bild einführt, in dem er die Angst der »wilden« Altynaj vor den Errungenschaften der Zivilisation (dem Zug) ironisch in Szene setzt. Die visuelle Sprache des Films stützt sich in erheblichem Maße auf die ästhetischen Erfindungen des japanischen Regisseurs Akiro Kurosawa.20 So imitiert der russische Regisseur z.B. konsequent dessen Lichteffekte. Er lässt die Kostüme der Schauspieler ausschließlich aus schwarzem und weißem Material nähen, um auch auf wenig qualitativem russischen Filmmaterial die starken Hell-dunkel-Kontraste – Markenzeichen der frühen Filme Kurosawas – zu erzielen. Končalovskij verwendet ähnliche optische Effekte wie der japanische Regisseur und schafft damit den Effekt des »Dokumentierens«, den Eindruck einer quasi historischen Darstellung, die für 19 | Ähnliches kann man in den sowjetischen Filmen der 1980er Jahre beobachten, in denen es um das Leben im westlichen Ausland geht. Oft treten hier westliche Frauen besonders erotisch gekleidet auf (sie tragen Miniröcke oder tief ausgeschnittene Kleider) und wirken lasziv (vgl. stellvertretend die sowjetischen Dürenmatt-Verfilmungen wie z.B. Vizit Damy [Der Besuch der alten Dame, 1989]). 20 | Seine »Entlehnungen« hat Končalovskij mehrfach analysiert. Nicht nur in den Büchern, die er in den späten 1990ern als »Maître« des russischen Kinos geschrieben hat (Končalovskij 1998, 1999), sondern bereits in seinem frühen Artikel (Končalovskij 1967) über Pervyj učitel’ hat er mit aller Deutlichkeit auf sein japanisches »Idol« hingewiesen. Nach Končalovskijs Meinung hat Akiro Kurosawa den »ethnographischen« Strang im sowjetischen Kino maßgeblich beeinflusst. Nicht nur Končalovskij selbst, auch Andrej Tarkovskij stand unter dem Einfluss von Kurosawa. Tarkovskijs späterer Film Andrej Rublev (1967) ist in seinem Bestreben, die »authentisch« russische Erscheinung des Malers, Mönchs und Wanderers Andrej Rublev zu einer nationalen Identifikationsfigur zu erheben, mit den pseudohistorischen Idealisierungen der japanischen Samurai bei Kurosawa durchaus vergleichbar.
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die Samuraifilme Kurosawas charakteristisch sind. Der Einfluss des japanischen Regisseurs ist so groß, dass Končalovskij eine ganze Einstellung aus seinem Film Die sieben Samurai (1957) einführt – eine Art Verneigung vor seinem großen Lehrer (Končalovskij 1998: 139). Končalovskij definiert Kurosawas Ästhetik als »äußerst fremd für uns« (predel’no ot nas dalekaja, Končalovskij 1999: 28), und ausgerechnet diese »äußerst fremde Ästhetik« projiziert er auf das Liebessujet in dem »nahen« sowjetischen Mittelasien. Mithilfe des fremden »japanischen« Codes verschiebt er das bereits orientalisierte, exotisierte und fakelorisierte Kirgisien noch weiter weg vom sowjetischen Zentrum und hin zum fernöstlichen Ausland. In Končalovskijs Interpretation wird Kirgisien zum »sowjetischen Japan«. Končalovskijs Film zeigt die Tendenz der späten 1960er Jahre auf, die auf die Zerstörung der sowjetischen Totalität abzielte und nach klaren Grenzen zwischen nationalen Kulturen in der Sowjetunion suchte. Dementsprechend verändert sich das Liebessujet im Film. In Ajtmatovs Text war die Liebe noch eine deutlich »sowjetische«, sie sicherte mehr die Bindung der Liebenden an die Macht als ihre Bindung aneinander. Altynaj, die wegen ihrer Liebe zur Sowjetmacht ihre Herkunft und Familie aufgab, wurde belohnt. Ihre Fahrt aus dem Dorf nach Taschkent und ihre späteren Reisen nach Moskau symbolisieren die Überwindung der Grenze zwischen Zentrum und nationaler Peripherie und markieren den Raum einer grenzenlosen Liebe, die jedoch mehr dem sowjetischen Staat als dem geliebten Mann gilt. Bei Končalovskij dient Altynajs Liebe vor allem als Projektionsfläche für die durch Tabus eingeschränkte erotische Imagination. Dies ist ihr wichtigster Bezug zu dem neuen »russischen« Liebescode. Am Beispiel von dieser exotischen Liebe lässt sich das zur Sprache bringen, was in der eigenen Kultur mit Restriktionen belegt ist. Im Übrigen aber wird im Film durch die Exotisierung des kirgisischen Raumes eine deutliche Distanz zum »fremden« Liebessujet aufgebaut, die sowohl den Ort der Handlung weg vom russischen Zentrum schiebt, als auch die Problematik der Liebe zur Macht in ein anderes Licht stellt. Trat bei Ajtmatov der Lehrer Djujšen zurück, um Altynaj ihrem eigentlichen Geliebten – dem sowjetischen Staat – zu übergeben, so ist im Film der Verzicht Djujšens auf seine Liebe als Liebesverrat zu deuten. Denn der sowjetische Staat tritt als fremde und bedrohliche Macht auf und ist in der Verfilmung kein Objekt der Liebe mehr. Deswegen wird Altynaj bei Končalovskij anders als bei Ajtmatov zu einer
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Verliererin. Sie ist das Opfer der kolonialen Macht und deren Vertreter Djujšen. Von dieser Macht wird sie verführt und betrogen: Obwohl die Dorfgemeinde und Altynaj erwarten, dass der Lehrer das Mädchen nach der Befreiung aus der Zwangsehe heiratet, zwingt er sie, das Dorf zu verlassen, und übergibt sie in ein Waisenheim. Für die Konstitution des neuen Liebescodes ist es auch nicht unbedeutend, dass die Problematik der Liebe und der Macht auf dem Terrain einer fremden – oder vielmehr fremd gemachten – Kultur ausgespielt wird. Sie markiert die Tatsache, dass auch der Konflikt selbst zunehmend fremder für die russisch-sowjetische Kultur wird. Mit seiner Verfilmung diagnostiziert Končalovskij zugleich die »mangelnde« kulturelle Identität des Ajtmatov’schen Textes und »veröstlicht« und desowjetisiert sein Sujet. Er modelliert damit die noch fehlende Distanz zu dem in der eigenen Peripherie erfundenen Fremden. Dass seit Mitte der 1960er das Sprechen über Mittelasien in der Sowjetunion nur im Lichte des Orientalismus Konjunktur hatte, bewies später auch Čingiz Ajtmatov selbst. Nach einer fünfjährigen Schaffenskrise, die zeitgleich mit der Verfilmung einsetzte, meldete er sich zurück mit der Novelle »Belyj parochod« (»Der weiße Dampfer«, 1970), die auf eine Umorientierung hin zur kirgisischen Folklore und zum Volksepos hindeutete.21 Diese Themen haben sein weiteres Schaffen dominiert. Die Liebe als passionierte Beziehung zwischen Mann und Frau musste als zu »individualistische« und somit »europäische« Leidenschaft den quasi authentischen »asiatischen« Beziehungsmodellen weichen und wurde größtenteils durch vielfach variierte Eltern-Kind-Beziehungen ersetzt, in denen es um das Weiterbestehen des Stammes ging.22 21 | Interessanterweise spielte später auch für Ajtmatov das östliche Ausland – Japan – eine immer wichtigere Rolle. Er führte japanische Motive in sein 1973 geschriebenes Stück »Voschoždenie na Fudzijamu« (»Der Aufstieg auf den Fudschijama«) ein. 1992 veröffentlichte er seine Dialoge mit dem japanischen Philosophen Daisaku Ikeda in »Begegnung am Fudschijama«. 22 | In der Erzählung »Belyj parohod« (»Der Weiße Dampfer« 1970) geht es um einen Jungen und seinen Großvater, in »Pegij pes beguščij kraem morja« (»Der Junge und das Meer« 1977) geht es um die Rettung der Nachkommen. Eine Mutter und ihr Sohn, der seine Herkunft vergessen hat, sind Helden in Ajtmatovs MankurtLegende, die in den 1980er Jahren für die Perestroikageneration als Sinnbild der »Selbstvergessenheit«, eines mangelnden historischen Gedächtnisses in der so-
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Das Beispiel Pervyj učitel’ beweist, dass die Konversion23 verschiedener Ethnien und Nationen unter dem Dach des dezidiert a-nationalen Konzepts des Sowjetischen problematisch geworden war. In dem analysierten Fall waren nicht die Divergenzen daran schuld, die von der Seite der asiatischen Peripherie ausgingen. Vielmehr wurde Mittelasien vom Zentrum aus »ausgestoßen«. Für den russischen Beobachter (wie z.B. Končalovskij, seine Moskauer Rezensenten und das Gros seiner Zuschauer) war die Teilrepublik Russland nicht mehr »Erste unter Gleichen«, sondern die Einzige überhaupt. Nationale Peripherie wurde dagegen als Ausland wahrgenommen.24 Aber indem das Sowjetische durch das Russische ersetzt wjetischen Gesellschaft fungierte und wohl das bekannteste Ajtmatov’sche Textfragment ist. Der Roman »Placha« (»Der Richtplatz« 1986) endet in einer Katastrophe, in welcher ein Vater seinen Sohn unwillentlich tötet und damit seinen Stamm auslöscht. Die Verwandtschaftsgrade können beliebig konstruiert sein, aber seit den 1970er Jahren geht es nahezu in allen Texten Ajtmatovs um die Vorfahren- und Nachkommenproblematik. 23 | Der Begriff lehnt sich an die von Benedikt Anderson vorgeschlagene Definition der religiösen Konversion an, die auf supranationalen Kriterien wie Glaube und Sprache basiert. Vgl. Anderson: »Unter Konversion verstehe ich weniger die Übernahme bestimmter religiöser Glaubenssätze als vielmehr eine Art alchemistischer Absorption. Der Barbar wird dem Reich der Mitte einverleibt, der Rif zum Muslim, der Ilongo zum Christen. […] Die Möglichkeit der Konversion […] erlaubte es, dass ein ›Engländer‹ Papst und ein ›Mondschu‹ Sohn des Himmels wurde.« (Anderson 2005: 23). Ähnlich wie Religion operiert das Konzept der Sowjetmacht nicht mit der nationalen Zugehörigkeit, sondern vielmehr mit »Rechtgläubigkeit« und ist imstande, Heterogenes zu vereinen. 24 | Über seine Reise zum kirgisischen Drehort schreibt Končalovskij später Folgendes: »Ich setzte mich in ein Flugzeug, das nach Kirgisien ging. Die Maschine war voll von Menschen, die eine unbekannte kehlige Sprache sprachen. Mir schien, sie würden nach Schafen riechen. Ich fuhr ins Ausland, aber keiner fragte mich damals, ob ich zurückkehren werde.« Mit dem »Zurückkehren« spielt er auf seine Emigration aus der UdSSR in die USA an und zeigt, dass er beide Länder – Kirgisien und Amerika – gleichermaßen als Ausland empfindet. (»Я сел в самолет, летящий в Киргизию. Салон был забит людьми, говорившими на незнакомом гортанном языке, от них почти пахло баранами. […] Я уезжал за границу, но тогда никто не спрашивал меня: ›Ты вернешься?‹«, www.konchalovsky. ru/sub1.php).
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wurde, verlor es sein konverses Potential. Die Sichtweise des Zentrums kam einem kolonisierenden Blick immer näher (der Film zeigt es mit aller Deutlichkeit), der in der nationalen Peripherie nicht mehr seine mehr oder weniger genaue Widerspiegelung sah oder sehen mochte, sondern genau sein Gegenteil.25 Gleichzeitig tendierte auch der sowjetische Liebesdiskurs immer stärker zur »russischen« Liebe. Er gliederte die peripheren »Fremdkörper« aus und konzentrierte sich zunehmend auf die »inneren« Themen.
D IE E RFINDUNG DER P ROVINZ Der nächste Film von Andrej Končalovskij, Istorija Asi Kljačinoj (Istorija Asi Kljačinoj, kotoraja ljubila, da ne vyšla zamuž, Geschichte der Asja Kljačina, die geliebt, aber nicht geheiratet hat, 1967)26 spielt im Dorf Bezvodnoe im Gebiet der Oberen Wolga. Allein der Ort, an dem sich diese Liebesgeschichte abspielt – das russische »Kernland« –, ist signifikant. Er markiert das neue Interessengebiet der sowjetischen Kunst – die »Erfindung Russlands«, die Suche nach der nationalen (russischen) Identität. Noch vor den Dreharbeiten berichtet der Regisseur in der Zeitschrift »Sovetskij ėkran« über das neue Filmprojekt (Končalovskij 1972). Die Filmvorlage, Jurij Klepikovs Drehbuch, beschreibt eine Geschichte, die einerseits dem Kolchosthema eine frische Note zu vermitteln scheint, andererseits viele gewohnte Klischees des Kolchosfilms bewahrt. Man trifft – wiederum wie im klassischen Kolchosroman à la Šolochov – die dominante und starke Bäuerin (car’-baba), den komischen Alten und den obligaten Kriegsveteranen. Es geht um die Geschichte einer werdenden Mutter, Asja Kljačina, die ein außereheliches Kind zur Welt bringt. Sie soll sich entscheiden zwischen Stepan, ihrem Geliebten und dem Vater ihres Kindes, mit dem sie aber
25 | Zur Bedeutung des Kolonisierungsdiskurses für das geokulturelle selfing von Russland s. Frank 2003: 53ff. 26 | Da der Film 1967 verboten und das erhaltene Filmmaterial erst 1988 von Končalovskij vollständig montiert wurde, kann man über die erste Filmvariante nur anhand der Memoiren des Regisseurs und von Archivmaterialien urteilen. Meiner Interpretation liegt die Version von 1988 zugrunde sowie das Drehbuch des Films, das im RGALI einsehbar ist (RGALI f. 2944, op. 6, d. 790).
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keine Zukunft haben kann, und Čirkunov, einem gut situierten Arbeiter aus der Stadt, der ihr eine Heirat anbietet. Diese erneute Bearbeitung des Themas der einsamen Mutterschaft, nach dem bekannten Film von Vasilij Ordynskij Čelovek rodilsja (dt. VT. Ein Mensch wird geboren, 1956), zeigt, dass solche »unvollkommenen« Beziehungsmodelle – etwa Liebe ohne Ehe (bzw. Ehe ohne Liebe), Kinder ohne Väter oder Frauen ohne Männer – zu paradigmatischen Mustern im sowjetischen Film werden.27 Löste Ordynskij den Konflikt in seinem Film, indem er seine betrogene Heldin einen »guten Mann« treffen ließ, entschieden sich Klepikov und Končalovskij zugunsten eines offenen Finales. Asja Kljačina heiratete weder den Vater ihres Kindes noch den Mann, der sie liebte und bereit war, ihrem Kind den fehlenden Vater zu ersetzen. Diese »irrationale« Entscheidung, die sich gegen ihr eigenes Wohl und das Wohl ihres Kindes richtete, widersetzte sich den noch relevanten Normen der sowjetischen Ästhetik. Diese duldete zwar problematische Themen wie außereheliche Kinder, verlassene Frauen, Alkoholiker und Faulenzer, aber nur dann, wenn sie im Rahmen des Sujets eine plausible Lösung fanden, das heißt, wenn die Kinder einen Vater und die Frauen einen Mann bekamen und die »schädlichen Elemente« wie Alkoholiker und Taugenichtse umerzogen wurden. Mit seinem offenen Finale widersetzte sich der Film dieser Vorstellung vom sowjetischen Menschen als eines im Grunde guten Menschen und der Vorstellung von der sowjetischen Liebe als einer stets glücklichen Liebe. Damit wies Asja Kljačina eine wichtige Entwicklungstendenz der sowjetischen Filmkunst auf, die später, im Laufe der 1970er Jahre, immer stärker zu paradoxen, unerklärlichen, hysterischen oder enigmatischen Sujets tendierte, wenn sie über Liebe sprach (z.B. in den Filmen von Averbach, Ioseliani, Balajan, Tarkovskij u.a.). Die »Umerziehungssujets«, die aus einem Taugenichts einen verantwortungsvollen Arbeiter, Mann und Vater machen, oder die Sujets der wundersamen Wendung, die den frühen Liebesbetrug durch die spätere ideale neue Liebe wiedergutmachen konnten, verloren allmählich an Relevanz. 27 | Nicht zuletzt wird in den 1970er Jahren die Geschichte der betrogenen Liebe und einsamen Mutterschaft zum beliebtesten sowjetischen Melodram (Moskva slezam ne verit, dt. VT. Moskau traut den Tränen nicht, 1979). In den 1980er Jahren folgt eine Nachahmerwelle, die das Thema unendlich variiert, wobei der moralische Zeigefinger nicht auf die »leichtsinnigen« Frauen gerichtet wird, sondern vielmehr auf die »verantwortungslosen« Männer.
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Die »Irrationalität« der Filmhandlung in Asja Kljačina bestand gerade darin, dass Asja auf ihrer Liebe zu einem »negativen«, verantwortungslosen und moralisch nicht integeren Menschen beharrte, und die Zuneigung eines »positiven« Helden, eines Kriegsveteranen und guten Arbeiters, verschmähte. Bezeichnend ist, dass obwohl der Film schließlich verboten wurde und nicht in den Verleih kam, es nicht das Liebessujet an sich war, das der Kritik unterworfen wurde. Das komplexere Muster der Liebesgeschichte im Film nahm den neuen Trend in der Darstellung der Liebe vorweg und wurde so von der Zensur grundsätzlich akzeptiert. Dass die Sicht auf die Darstellungskriterien der sowjetischen Liebe sich gerade während der Entstehung des Films änderte, belegt die Zeitschrift »Iskusstvo kino«, die 1967 einen Artikel mit dem Titel »Kogo ljubit’?« (»Wen soll man lieben?«) publizierte. Darin prangerten zwei Autoren, Pažitnov und Šragin, die Klischees in der Darstellung der Liebe im sowjetischen Film an (Pažitnov/Šragin 1967). Gerade die noch Anfang der 1960er Jahre gängigen Argumentationsmodelle, die den guten Arbeiter zu einem guten Geliebten oder die Asexualität eines Helden zum Zeichen der »wahren« Liebe machten, erschienen nun oberflächlich, leblos, gekünstelt und verlogen. Auch die eng pragmatische Sichtweise auf die Liebe als Weg der Ehepartnersuche wurde kritisiert. So wurden im selben Artikel nicht nur Filme mit solchen klischeehaften Handlungen zerrissen, sondern auch ein Buch von V. Čertkov mit dem Titel »O ljubvi« (»Über die Liebe«, 1967), ein konservatives Werk, das die Liebe im eng pragmatischen Sinn als Anbahnungsritual verstand und dazu aufrief, den Geliebten nach rationalen Kriterien auszusuchen – nach seinem Beruf, nach der Höhe seines Einkommens und nicht zuletzt nach seiner »ideologischen Reinheit«. Wenn sich in diesem Buch mit der Einkommensproblematik auch die neue Tendenz zur »Verbürgerlichung« der sowjetischen Gesellschaft abzeichnet, schlägt die Frage der ideologischen Treue des Geliebten eine Brücke zu den Traktaten von Aaron Zalkind. Dieser forderte dazu auf, den Geliebten nicht nach dem Prinzip der erotischen Anziehung oder persönlichen Sympathie, sondern nach dem Prinzip der richtigen Klassenzugehörigkeit auszusuchen (Zalkind 1924/25). Die Ästhetik der sowjetischen Liebe der ausgehenden 1960er und beginnenden 1970er Jahre entfernt sich aber immer sichtbarer von dem früheren Pragmatismus und der starken Normbezogenheit. Das machen die Autoren des kritischen Artikels deutlich und erwarten von den Filmsujets und Filmhelden ganz andere Eigenschaften als ideologische Integrität.
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Komplexität ist hier das Schlüsselwort, und die sowjetische »Tugendliebe« – wenn der Geliebte für seine positiven Eigenschaften geliebt wird – soll der Liebe weichen, die sich für die nicht immer positive Individualität des Geliebten interessiert. Nicht das Liebessujet an sich, sondern der »grobe Naturalismus«, einige historische Reminiszenzen (an den Großen Terror) und seine spezifische Filmästhetik, welche die bäuerliche Armut mit der pompösen Rhetorik der wirtschaftlichen Erfolge kontrastierte, führten zu dem Verbot des Filmes.28 Aber gerade die Wahl der »naturalistischen Ästhetik« half dem Regisseur, das Schema des Kolchosfilmes im Stile Ivan Pyr’evs Kolchoskomödien zu verwerfen und einen komplexen Konflikt zu gestalten. Sein ethnographisches Experiment – der Film über Bauern, von Bauern gespielt – ließ keine konventionellen Lösungen zu und erforderte Konflikte »wie im Leben«, das heißt solche, die in der sowjetischen Kunst noch nicht kanonisiert waren und als »neu« und »realitätsnah« wahrgenommen wurden. Končalovskij verwendete in diesem Film erneut die »dokumentierende« Totale. Die bereits in Pervyj učitel’ praktizierte Einbeziehung der Laien wurde zum Markenzeichen von Asja Kljačina, denn der Regisseur ließ lediglich drei professionelle Schauspieler mitspielen, die anderen Rollen wurden mit Dorfbewohnern, Kolchosbauern und beurlaubten Arbeitern besetzt. Trotz der verbreiteten Annahme, der Film dokumentiere den realen Alltag russischer Dorfbewohner und sei eine filmische Vita (kinožitie), 28 | Von der Leitung des Goskino wurde dem Regisseur angeraten, die Geschichte des Gulag-Heimkehrers und die versuchte Vergewaltigung Asjas herauszuschneiden und die Szene von Asjas Niederkunft zu kürzen. Darüber hinaus wurde empfohlen, in der Szene des bäuerlichen Mittagessens die musikalische Untermalung, ein Lied über sowjetischen Überfluss, durch ein anderes zu ersetzen, denn das Lied erzeugte eine ironische Brechung in Bezug auf das karge Mahl der Kolchosbauern, das fast ausschließlich aus Schwarzbrot bestand. Insgesamt etwa 13 Szenen und Episoden sollten gestrichen oder geändert werden (vgl. hierzu den Briefwechsel zwischen Goskino, Leitung des Mosfil’m und Končalovskij, RGALI f. 2944, op. 4, d. 810), dann wäre der Film in den Verleih gekommen. Anders als von der Leitung des Goskino erwartet, reagierte der Regisseur mit strikter Ablehnung aller Änderungsvorschläge. Es folgte kein offizielles Verbot, de facto aber blieb der Film in halbmontiertem Zustand im Archiv begraben. Auch dem Gesuch des Regisseurs, den Film zumindest den Menschen zu zeigen, die bei dem Dreh mitgewirkt hatten, wurde nicht stattgegeben.
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kein Schauspiel, sondern ein Leben vor der Kamera (Graščenkova o.J., Genis 2001), ist die Filmstory doch eine eher »konstruierte« als »beobachtete« Geschichte, obwohl die innovative Methode Končalovskijs nicht ohne Folgen für das Sujet bleibt. Seine Laienschauspieler bringen ihre Lebenserfahrungen – wie z.B. die Erinnerungen eines Gulag-Häftlings – zum Teil in den Film mit ein. Im Laufe der Dreharbeiten verändern sich viele Details der Sujetführung. Die Drehbuchstory thematisierte noch die Grenze zwischen Dorf und Stadt: Die Geschichte der Asja Kljačina wurde von einer städtischen Journalistin beobachtet. Diese Figur eines fremden Beobachters verkörperte in ihrer Gestalt den urbanen »fortschrittlichen« Blick auf die Überbleibsel der dörflichen »Barbarei« (sie verurteilte z.B. das Beschmieren des Haustors mit Pech als Zeichen für das »schändliche« Benehmen der Bewohnerin des Hauses). Gleichzeitig markierte sie die »ethnographische« Perspektive der Beobachtung, war sie (die städtische Journalistin) doch eine (schreibende) Grenzgängerin zwischen den Kulturen. Im Drehbuch wurden die Dorfbewohner von einer städtischen Theatertruppe besucht, ihre Aufführung von Romain Rollands »Cola Breugnon« wurde durch Asjas Niederkunft unterbrochen. Die Geburt eines neuen Menschen vereinigte die städtischen Schauspieler und die Bauern in einem gemeinsamen Erlebnis der Freude und Empathie mit der jungen Mutter. Im Film wurde das Thema der erwünschten Annäherung des Dorfes an die Stadt sowie das Problem der kulturellen Distanz zwischen Dorf und Stadt vollständig ausgeklammert. Die Stadt erscheint lediglich in den Erzählungen Čirkunovs, Asjas unglücklichem Verehrer, als schäbiges Paradies einer kommunalen Wohnung mit fließendem Wasser, Gasanschluss und Waschmaschine. Die Figuren der Fremdbeobachter verschwinden und somit verschwindet auch die zivilisatorische Komponente im Sujet. Das Dorf existiert völlig autonom, Nachrichten von der Außenwelt erreichen die Kolchosarbeiter zwar durch ständig jubelndes Radio und Zeitungsartikel, doch diese Botschaften verlieren jeglichen praktischen Sinn. Mit der rustikalen Kulisse im Hintergrund erscheinen sie nahezu absurd, wenn z.B. nach der Feldarbeit ein Bericht über den Empfang des französischen Botschafters im schweren Wolga-Dialekt vorgelesen oder über die NATO diskutiert wird (»Onkel Fjodor, was meint NATO?«). Diese Ereignisse, deren Kenntnis von den sowjetischen Bürgern nachdrücklich gefordert und durch wandernde Lektoren und selbst organisierte »politische Informationen« unterstützt wurde, erweisen sich als eine Art sowjetische
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Zaubermärchen, in denen über unbekannte Länder oder wundersame Wesen (Botschafter, Ausländer) berichtet wird.29 Die Botschaft des Drehbuches – das Vertrauen in den guten (sowjetischen) Menschen – wird im Film umgedeutet. Die Titelheldin verlässt sich auf die Gemeinschaft der Kolchosbauern, die im Drehbuch als kollektive Verkörperung des idealen sowjetischen Bürgers fungiert, in der filmischen Umsetzung dagegen eher an das slavophile Ideal der dörflichen Gemeinschaft erinnert.30 Das Gefühl der Gemeinschaftlichkeit wird dadurch verstärkt, dass der Film nicht nur Asjas Liebesgeschichte, sondern auch mehrere andere, erfüllte und unerfüllte, Liebesgeschichten erzählt. Man erfährt die Liebesstory des verkrüppelten Brigadiers, beobachtet die sich zart anbahnende Romanze zwischen zwei Jugendlichen und hört Fjodors Erinnerungen zu, wie er seine Ehefrau im Krieg kennen gelernt hat. Als krönendes Fazit erscheint die Geschichte der Heimkehr eines Gulag-Häftlings, der seine Erinnerungen mit einer Lobrede auf die im russischen Volk immerwährenden »Liebe, Glaube und Hoffnung« abschließt. Diese zusätzlichen Handlungslinien und Episoden erschaffen die Atmosphäre einer allgemeinen Liebe und Gemeinschaftlichkeit, in der die individuelle Liebe Asjas untergeht. Auch hier zerläuft das Individuelle im Kollektiven – auch der Code der »russischen« Liebe, der hier unterschwellig konstruiert wird, hebt den Gegensatz zwischen Individuum und Gemeinschaft auf. Allerdings ist das Kollektiv hier von einer anderen Art als jenes Bedrohliche in A esli ėto ljubov’. Es ist nicht ein Arbeiterkollektiv, das die Einhaltung der Regel der sowjetischen Moral kontrolliert, sondern eine idealisierte Bauerngemeinschaft, die ihr Leben nach Naturgesetzen richtet und den Eintritt ihrer Mitglieder in das geschlechtsreife Alter ebenfalls
29 | Diesen absurden Effekt außenpolitischer Berichterstattung in einem Land, dessen Bürger kaum eine Vorstellung vom Ausland haben, benutzt Venedikt Erofeev in seinem Roman »Moskva–Petuški«. Er lässt seinen Alkoholikerhelden die Usancen der sowjetischen Außenpolitik persiflieren und aus dem Dorf Čerkasovo Protestnoten und Memoranden an die westlichen Länder richten. 30 | »Она [Ася; NB] черпает силы в не только в себе самой, но и в тех людях, простых, грубоватых, немногословных, которые ее окружают ежедневно« – »Sie [Asja; NB] schöpft ihre Kraft aus dem Vertrauen an diese einfachen, rohen, wortkargen Menschen, die sie täglich umgeben« (Končalovskij 1967: 43).
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als Naturereignis wahrnimmt.31 Diese Naturhaftigkeit des bäuerlichen Lebens generell und der Liebe auf dem Dorfe im konkreten Fall kommt sehr deutlich in der Symbolik der Jahreszeiten zum Vorschein. Denn die Niederkunft Asjas fällt zeitlich mit der Ernte zusammen und das Ende ihres Liebesverhältnisses mit Stepan fällt in den späten Herbst. Im Winter – der Film mixt die Jahreszeiten in Abhängigkeit von der aktuell erzählten Handlungssequenz – stirbt der komische Alte, so dass der filmische »Bauernkalender« abgeschlossen wird. Im Vergleich zu den anderen sowjetischen Produktionen, die bereits analysiert wurden, fällt auf, dass hier die ländliche »Einfachheit der Sitten« eher idealisiert als angeprangert wird. Auch wird die äußere Kontrolle nicht als negative Einmischung und Verletzung der Grenzen des Privaten wahrgenommen. Zwar weiß jedermann im Dorf, wer der Vater von Asjas Kind ist, jedoch macht das dörfliche »Kollektiv« keinerlei Anstalten, die Gerechtigkeit wiederherzustellen und den »Schuldigen« anzuprangern. Auch Asja wird für ihre außereheliche Schwangerschaft nicht verurteilt. Die allwissende »dörfliche Zensur« funktioniert anders als im Fall von A esli ėto ljubov’. So weigert sich Fjodor – Nachbar und Arbeitskollege von Asja –, die Frage nach dem Vater von Asjas Kind zu beantworten. Schwangerschaften und Kinder sowie die Liebes- und familiären Angelegenheiten sind der Bereich der Frauen und für Männer nicht ansprechbar. Andererseits ist Asja auch für weibliche Kritik unerreichbar, denn sie ist eine »ubogaja« – eine »Verkrüppelte« (sie hinkt). Sie hat auf dem dörflichen Heiratsmarkt kaum ernsthafte Chancen und somit die Lizenz auf das »halbe Glück« einer Alleinerziehenden. Ihr Handicap und geltende Redeverbote bieten ausreichenden Schutz für ihre Gefühle. Außerdem wird in dieser bäuerlichen Gesellschaft die Liebe anders gewertet. Sie, und nicht die Arbeit, bildet den zentralen Aspekt im menschlichen Leben, nimmt den Hauptplatz in den zahlreichen Erinnerungsnarrativen des Films ein. An der Liebe wird das persönliche Glück oder Unglück der Charaktere gemessen, und sie wird nicht nach den Regeln der sowjetischen Moral bewertet. Das traditionelle Dorf – wie es Končalovskij konstruiert – fungiert 31 | Igor’ Kon bemerkt im Zusammenhang mit der Liebes- und Sexualitätskultur des russischen Dorfes, dass die Sitten russischer Bauern von sowjetischen »viktorianischen Vorstellungen« weit entfernt waren und die Eltern das sexuelle »Erwachen« ihrer Kinder mit bemerkenswerter Gleichgültigkeit hinnahmen. (Kon 1997: 38ff.)
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als ein Refugium des Prä- oder des Nichtsowjetischen. Die Mitglieder der Dorfgemeinschaft eignen sich ihr Wissen über Liebe durch unmittelbare Beobachtung und Erfahrung an und tradieren es durch Rituale. Sowjetische Vorstellungen über Liebe (Tugendliebe, Gleichsetzung der persönlichen Liebe mit der Liebe zum Herrscher usw.) ebenso wie Medien, die diese Vorstellungen verbreiten können, etwa Bücher und Filme, spielen für diese relikte Gemeinschaft kaum eine Rolle. Jedoch ist nicht nur der Bezug zur Liebe, sondern auch die Liebe selbst eine andere in diesem Film. Sie ist weit entfernt von den quasiplatonischen Idealen einer Aleškina ljubov’, das sexuelle Begehren wird in ihr weder sublimiert noch zur Steigerung des Liebesgenusses hinausgeschoben. Das erotische Verlangen ist Liebe und wird – das Einverständnis des Partners vorausgesetzt – gleich ausgelebt. Aber im Film werden keine erotischen Szenen gezeigt, anders als in Pervyj učitel, wo die »asiatische« Distanz auch das Zeigen der erotischen Liebe erlaubte. Asja sieht in ihrem Geliebten Stepan einen schönen Mann, dies reicht aus, um ihre Gefühle in Bewegung zu setzen und sie entsprechend auszuleben. Ebenso charakteristisch ist, dass ihre Liebe ohne Erklärungen, Geständnisse und Reflexionen auskommt, zugleich hat sie auch kein bedeutungsträchtiges Schweigen nötig. Weder das Sprechen noch das Schweigen über die Liebe, jegliche diskursive oder verbalkommunikative Tätigkeit erübrigt sich, denn diese Liebe lebt in direkter körperlicher Aktion. Damit sind die Versuche Čirkunovs, über seine Liebe zu Asja zu sprechen, von Anfang an das Zeichen seiner Liebesniederlage. Sein Versuch, die schwangere Asja zu vergewaltigen, ließe sich dagegen als Anspruch interpretieren, mit ihr die einzig mögliche Sprache der »dörflichen« Liebe zu sprechen – die Sprache des Körpers. Indem der Film das Schema »guter Arbeiter – guter Geliebter« verwirft, entwickelt er ein Modell der Liebesbeziehung, das man als eine spezifische sowjetische Variante der Amour fou hätte analysieren können. Die Filmhelden entwickelten gewisse psychopathologische Züge, die sich am stärksten bei dem Triumvirat der Protagonisten beobachten lässt: z.B. in Gewaltausbrüchen des abgewiesenen Verehrers Čirkunov, im narzisstischen Verhalten von Stepan (Asjas Geliebten und dem Vater ihres Sohnes) und nicht zuletzt in Asjas hysterischen Anfällen.32 32 | Der »heilige Wahn« und das Handicap (»jurodstvo«) der Protagonistin in Asja Kljačina lässt gewisse Parallelen zu Maria Lebjadkina in Dostoevskijs »Besy«
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Die No-win-Situation, die nach Oliver Jahraus charakteristischer Bestandteil der Amour fou ist (Jahraus 2004: 227), besteht in diesem Film in einem unlösbaren Dilemma. Die Unwürdigkeit und Unzuverlässigkeit von Asjas Geliebten lässt keine Hoffnung auf eine Erfüllung ihrer Liebe, das heißt auf eine Vereinigung mit Stepan, zu. Ein Zusammenleben mit Stepan, sei es in Form einer Ehe oder einer längeren Beziehung, würde Asja nicht weniger unglücklich machen als eine Trennung von ihm. Trotzdem will Končalovskijs Protagonistin auf ihre Liebe nicht verzichten, so dass eine bewusste Selbstzerstörung vorprogrammiert ist. Realisiert wird es am eindringlichsten in der Szene, die in der Filmkritik als Asjas Selbstmordversuch bezeichnet wird, die jedoch mit dem tatsächlichen Selbstmord wenig zu tun hat. Denn als Asja den Wohnraum ihres elterlichen Hauses verlässt und sich nur in ein Unterhemd gehüllt in einer Truhe im Hühnerstahl einsperrt, markiert sie lediglich symbolisch ihren Wunsch nach Selbsteliminierung, der hier in verschiedenen Codes (Gleichsetzung mit den Tieren, das Verlassen des bewohnten Raumes, das Tragen von weißer Wäsche – der Todeskleidung – usw.) lesbar wird. Als Rituale der Dezimierung wirken auch zahlreiche Prügeleien, die Asja von ihrem Geliebten ohne jeglichen Widerstand hinnimmt. Auch Čirkunovs Liebe ist eine Amour fou, die Zerstörung (Randalieren in Asjas Haus oder versuchte Vergewaltigung) und Selbstzerstörung einschließt. Diese Handlungslinie wird im Sequel Kuročka Rjaba fortgesetzt. Um seiner Liebe willen zerstört Čirkunov – in der Fortsetzung ein erfolgreicher postsowjetischer Farmer – buchstäblich seine Existenz. Er verbrennt seinen Gutshof in der Hoffnung, sich mit der gealterten Asja zu vereinigen, die als Alkoholikerin und überzeugte Altkommunistin ihr Dasein im Postperestroikarussland fristet. Doch sogar nach 30 Jahren noch wird er abgewiesen. Auch der ehemalige Geliebte Asjas, Stepan – im Sequel ein kinderreicher Alkoholiker –, wird nicht glücklich, weil er immer noch nicht von Asja ablassen kann. Das pathologische Dreieck, das bereits in der Konstellation des ersten Films angelegt wurde, erweist sich als ein ausgesprochen stabiles Beziehungsmodell. (»Die Dämonen«, 1871/72) zu. Die Erscheinung der »wahnsinnigen« hinkenden Frau hängt anscheinend mit der Ideologie des russischen Nationalismus zusammen. Immerhin erscheint diese Gestalt in unterschiedlichen Varianten sowohl bei Dostoevskij, dem Vertreter des počvenničestvo, als auch beim Restaurator der russischen Idee, Končalovskij.
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So begegnet man in Asja Kljačina einer Liebe, die man nur mit Mühe als »sowjetisch« bezeichnen kann. An die Stelle einer Liebe, die von Verstand und Pflicht dominiert ist und Sexualität als Bedrohung wahrnimmt, tritt eine Liebe, die irrational, triebhaft und unerklärlich ist. Der Code dieser Liebe konstruiert eine andere Form von Gemeinschaft, als es die sowjetische oder genauer gesagt die sozialistisch-realistische Liebe getan hat. Mit der Idealisierung der Dorfgemeinschaft, mit der Symbolik der Fruchtbarkeit, verhaltenen religiösen Reminiszenzen (Liebe, Glaube, Hoffnung) und der Ästhetik der Authentizität wird die Hinwendung zum Nationalen vollzogen. Das »Sowjetische« wird mit dem Russischen »kontaminiert«, das Kolchoskollektiv kann von der Bauerngemeinde nicht mehr unterschieden werden, die feierlichen Reden anlässlich des »Erfüllens und Übererfüllens« des sozialistischen Plans gehen nahtlos in ein volkstümliches Erntedankfest über, währenddessen ein sozialistischer Radiogesang sich mit einem folkloristischen Arbeitslied überlappt. Der Konflikt zwischen diesen zwei Kulturen, der russischen und der sowjetischen, der nationalen und der supranationalen, ist für die handelnden Personen im Film nicht mehr wahrnehmbar, denn das Nationale hat das Sowjetische erfolgreich verdrängt.
N ACH WESTLICHEN M USTERN Auf den ersten Blick hat der Film Romans o vljublennych (Die Romanze für Verliebte, 1974) mit der Problematik der nationalen Identität und der nationalrussischen Liebe wenig zu tun. Der Film, »ein geschichteter Kuchen«, wie ihn der Regisseur selbst definierte (Končalovskij 1974: 53), collagiert Beatmusik, eine melodramatische Handlung, militärische Werbeslogans und urbane Romantik – Elemente, die, anders als die bäuerliche Liebe und Verherrlichung der Dorfgemeinde, mit der Ästhetik des Nationalen nicht direkt in Verbindung gebracht werden können. So wie die Filmkampagne sich gestaltet, geht es um die Erschließung des Bildes des »neuen sowjetischen Jugendhelden«. Noch im Vorfeld des Drehs benutzt Končalovskij die populäre Kinozeitschrift »Sovetskij ėkran«, um eine Miniumfrage zu starten. Er bittet die Leser der Zeitschrift, aus den vorgeschlagenen Fotos das Gesicht auszuwählen, das am meisten dem Bild des »heutigen« Jugendhelden entspricht. Die Leser werden gebeten, ihre eigenen Fotos oder Beschreibungen von Personen zu schicken, die dieser Rolle am besten entsprechen (Končalovskij 1972).
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Es ist aber nicht unbedeutend, an wen genau sich diese Umfrage wendet. Wurden bei den Filmkampagnen um Aleškina ljubov’ vorwiegend Komsomolaktivisten (die »Garde« der sowjetischen Jugend) und Spezialisten (Geologen, Ingenieure, Pädagogen) eingesetzt, richtet sich die Umfrage von Končalovskij an den Massenzuschauer. Der Regisseur wählt nicht »Iskusstvo kino«, eine renommierte Kinozeitschrift, sondern »Sovetskij ėkran«, eine Illustrierte, die weniger Filmanalysen und viel mehr Fotos von sowjetischen Kinostars publiziert. Diejenigen, die in Bezug auf den entstehenden Film ihre Meinung geltend machen können, werden nicht nach dem Prinzip der sozialen Zugehörigkeit, Ideologiekonformität oder des spezialen Wissenshorizonts ausgewählt. Erzieherische Mission wird durch eine »Marktstudie« ersetzt: Es geht darum, die Vorlieben der potentiellen »Filmkonsumenten« vorher zu bestimmen. Diese Strategie bringt ein gutes Resultat. Der Film wird regelrecht von Kritik und Zuschauern gefeiert, weil er unter dem ideologiekonformen Motto der »Heldensuche« die wenig konformen, aber für die 1970er Jahre wesentlich aktuelleren Fragen wie Konsum, Einfluss des Westens und Entwicklung der Massenmedien und somit der Massenkultur ansprechen kann. Romans o vljublennych wird zur filmischen »Sternenfahrkarte« und löst für den sowjetischen Film einen ähnlichen Effekt aus, wie ihn der gleichnamige Roman von Aksenov 1961 in der Literatur ausgelöst hat. Končalovskij bereitete einen erfolgreichen Mix aus Musik des sowjetischen Rockers Aleksander Gradskij, Hippies- und Beatles-Mode, Motorradromantik, Militär und Eishockey zu, genau so wie Aksenov seinerzeit sowjetische Raumfahrtmedizin mit Jeans und freier Liebe kombinierte.33 Die ästhetische »Revolution«, die der Film hervorruft, ist vor allem durch seine stilistische und symbolische Sprache bedingt. Was sein Sujet betrifft, erzählt er eine Geschichte, die man aus der Trivialliteratur und Serienfilmen bestens kennt: Der Protagonist (Sergej) wird zum Wehrdienst eingezogen, bei einem Katastropheneinsatz vermisst und tot geglaubt. Seine Freundin (Tanja) heiratet einen anderen Mann. Nach einer wundersamen Rettung und Rückkehr nach Moskau verfällt ihr einstiger Freund in Verzweiflung und heiratet das erstbeste Mädchen in der Hoffnung, eine neue Liebe in der Ehe zu finden.
33 | Zu Aksenov vgl. das nächste Kapitel.
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Die visuelle Ästhetik des Filmes dagegen ist innovativ und zielt auf den Effekt der Verfremdung ab. Die Filmhandlung wird durch Kommentare Brecht’scher Art unterbrochen. Die Filmizität der erzählten Geschichte wird ständig zur Schau gestellt, sei es durch das Einblenden der Drehmannschaft, das Auftauchen von Beleuchtungsgeräten im Filmbild oder Effekte, die den Lauf des Films suggerieren: Etwa wenn die rennenden Helden durch einen Zaun oder die Landschaften durch eine Brückenumrandung gefilmt werden, so dass die vertikalen Pfeiler die Bewegung in einzelne Bilder zerlegen. Nicht wenige Zuschauer erklärten, sie hätten Schwierigkeiten mit der Bildsprache des Films, und gleichzeitig gestanden sie, sie hätten während der Vorstellung geweint.34 Sie haben sich offensichtlich mit Končalovskijs Helden identifizieren können – und das, wie es scheint, nicht nur aufgrund des trivialen – und somit erkennbaren – Sujets – ein intendierter Effekt in den Erzeugnissen der Massenkultur, zu der der Film eine deutliche Beziehung hat –, sondern auch durch die spezifische visuelle und auditive Codierung des Sujets. Diese spezifische Codierung manifestiert sich in der Arbeit mit Ton und Bild und zahlreichen – häufig suggestiv wirkenden – Zitaten aus anderen Medien. Bereits die erste Filmsequenz, in der die Helden durch Wald und Wiesen rennen, zitiert die Zeichentrickserie »Nu pogodi!«. Tanja flieht vor Sergej entlang eines Zauns, der von dem verliebten Mann schließlich durchbrochen wird. Die Szene wiederholt genau den Vorspann des bekanntesten sowjetischen Zeichentrickfilms. Tanja (die Frau) »spielt« hier das Häschen und Sergej (der Mann) – den Wolf. Die Ähnlichkeit zu den Zeichentrickfiguren wird hier durch sein, sonst im Film nie mehr auftretendes Hinken verstärkt. »Nu pogodi!«, das sowjetische Analogon von »Tom and Jerry«, wird in der Schlusssequenz noch einmal direkt eingeblendet. Die Liebe der Protagonisten wird für den Zuschauer mithilfe von ironisch verfremdeten, medialen Zitaten sichtbar gemacht. Nach demselben Prinzip gestalten sich nahezu alle wichtigen Handlungssequenzen im Film. Den Wehrdienst von Sergej markieren Bildfolgen mit militärischer Thematik: Fotos, Dokumentaraufnahmen, Fernsehmitschnitte, wie sie der Zuschauer aus der sonntäglichen Sendung »Služu Sovetskomu Sojuzu« (»Ich diene der Sowjetunion«) kennt. Sie werden als 34 | Dieses tatsächliche oder vermeintliche »Weinen« der Zuschauer steht offensichtlich für eine Metapher der Erneuerung oder Innovation. Dasselbe reinigende und erneuernde »Weinen« kennt man aus der Rezeption des Filmes Letjat žuravli.
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direkte Zitate eingeblendet oder nachgestellt; in den einzelnen Filmepisoden werden die typischen Situationen – wie Militärübungen und Waffenpflege – aus der Sendung nachgespielt. Solche zitathaften Codierungen, wie die »Nu pogodi!«-Sequenz, die einerseits auf die verhaltene Erotik des Zeichentrickfilms anspielt (immerhin ist darin der Wolf als Macho stilisiert), andererseits, als Zitatenspiel, eine ironische Distanz sowohl zur zitierten als auch zur dargestellten Szene aufbaut, sind generell doppeldeutig. Die Romantisierung des Militärdienstes lässt sich z.B. zugleich als Propaganda und auch als das Dokumentieren der medialen Welt der Filmhelden deuten. Gehören doch die Sendungen mit militärischer Thematik zu den populärsten Genres der sowjetischen Fernsehunterhaltung. Die Medienwelt und speziell das Fernsehen sind überpräsent in diesem Film. Dokumentarische Mitschnitte von Eishockeyspielen werden mit gespielten Episoden montiert, um den Eishockey spielenden Rivalen von Sergej zu authentifizieren. Der glücklichere Konkurrent oszilliert geradezu zwischen TV-Bildschirm und der filmischen Realität. Er kommt buchstäblich vom Fernsehbildschirm herüber und geht wieder hinein: Die um ihren tot geglaubten Geliebten trauernde Tanja schaut zur Ablenkung ein Eishockeyspiel und erkennt einen Schulfreund unter den Spielenden. Plötzlich steht gerade dieser siegreiche TV-Sportheld in ihrer Wohnung und in wenigen Filmminuten macht er ihr einen Heiratsantrag. Das Fernsehen bestimmt hier nicht nur die Sprache der Liebe (Film- und Fernsehzitate), sondern es schenkt die Liebe – und gleichzeitig im selben Set auch Trost und Unterhaltung. Im Finale des Filmes läuft ein Fernsehgerät bereits ununterbrochen. Seine wechselnden Bilder, die die simple Unterhaltung (Zeichentrickfilm) mit propagandistischer Demonstration der sowjetischen industriellen Macht mixen, werden als Hintergrund für ein Familienfest, für die familiäre Intimität ausgewählt. Die Tonspur wird nach dem gleichen Prinzip der Collage zusammengestellt. Außer der Rockmusik von Alexander Gradskij und synkopierten, jazzig angehauchten Trompetensolos nimmt sie die sowjetische Hymne, sowjetische Chorlieder im Radio, die Schlaguhr des Moskauer Kremls und Fetzen offizieller Reden auf. Die Sowjetmacht dringt zwar durch das Radio und den TV-Bildschirm in jeden auch noch so privaten Raum ein, doch ihrer bedrohlichen Überpräsenz ist bereits eine weitgehende Domestizierung der sowjetischen Symbole entgegengesetzt. Das ständige Zappen zwischen den Programmen, das besonders deutlich in der Schlusssequenz des
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Filmes gezeigt wird, entspricht auch dem Umgang mit der sowjetischen und privaten Symbolik: Man kann zwischen diesen »Programmen« wechseln. Die Medien machen die sowjetische Welt polyphon oder genauer gesagt, sie machen die sowjetische Welt aus: Sowjetische Bürger werden fest an die Massenmedien angeschlossen und mehr als von ideologischen Geboten von der Struktur der medialen (mehrkanaligen) Message bestimmt. Die Deutung der visuellen und auditiven Pastiches ist ambivalent. So wird z.B. in der Einstellung mit dem Gitarre spielenden und in Jeans gekleideten Sergej (beides Elemente des Fremden) eine Plakatwand eingeblendet, die den sowjetischen Arbeiter in kanonischer Ausführung zeigt. Es ist zugleich eine Analogie – auch Sergej ist ein »guter Arbeiter« – und ein Kontrast – zwischen dem Vorbildarbeiter mit Hammer und Sichel auf der Brust und dem »verwestlichten«, in Jeans gekleideten, Gitarre spielenden Sergej. Und es ist das Dokumentieren des visuellen Raumes der 1970er Jahre, da solche Plakate der übliche Schmuck sowjetischer Städte sind, ebenso, wie die jeansgekleideten Jugendlichen ihre üblichen Bewohner sind. Die Wahl zugunsten nur einer Deutungsvariante ist hier nicht möglich, da die Symbole des Sowjetischen längst »privatisiert« sind, wie die sowjetische Hymne – auch im Film in dieser Funktion zu hören –, die für Millionen von Sowjetbürgern zur allmorgendlichen Weckmusik geworden ist. Ihre ideologische Bedeutung überlappt sich mit privaten Konnotationen, ist von diesen nicht mehr zu trennen und geht schließlich verloren. Die Liebe in diesem Film mag durch die Symbiosen, die sie mit den Attributen des Sowjetischen eingeht, zuweilen den Eindruck einer unverblümten Propaganda erwecken. Doch beim genauen Hinschauen ist das Bild, das Romans o vljublennych liefert, deutlich komplexer: Die Militärmacht, die industriellen Errungenschaften, die moralische Unfehlbarkeit der Sowjetbürger, die Heldentaten sowie die grenzenlose Liebe und ebenso übermäßige Freundschaft sind in einen ambivalenten Kontext eingebunden. Permanent wird mit der »Pflicht« argumentiert, doch derjenige, der diese Pflicht auferlegt, ist nicht mehr der Staat. Wenn die Hauptfigur Sergej Richtung Fernost aufbricht, um seinen Wehrdienst abzuleisten, steht er gegenüber einer anderen Instanz als der politischen Macht in der Pflicht. Er folgt dem Beispiel seines im Krieg gefallenen Vaters, ahmt seinen Vater – nicht einen sozialistischen Kriegshelden – nach, setzt die familiäre Tradition fort. Gleichzeitig ist der Wehrdienst ein Initiationsritual des Erwachsenwerdens für den Mann, so
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wie das Warten auf den einberufenen Freund eine Reifeprüfung für die Frau darstellt. Die Rituale des Sowjetischen sind in die private Biographie eingebunden, deideologisiert und spielen darin dieselbe Rolle der rites de passage, wie sie in den vergleichbaren westlichen Sujets spielen (vgl. unten). Der Große Vaterländische Krieg, der mit den Familienfotos in die Handlung einbezogen wird, ist genau der Punkt, in dem die Ideologie und das Private übereinstimmen, in dem die große Geschichte mit der Familiengeschichte zusammenfällt. Der Krieg ist die Schleuse, hier nimmt die »Privatisierung« des Sowjetischen ihren Anfang. Nicht zufällig wird die Auseinandersetzung des Protagonisten mit seiner Mutter, in der entschieden wird, ob es moralisch ist, das ungeliebte Mädchen zu heiraten, vor dem Porträt des Vaters in der Militäruniform aus der Kriegszeit ausgetragen. Das Bild des Vaters, wie auch die Photographien von Verwandten und Sergejs Wehrdienstkameraden, funktionieren als neue »Ikonen« der privaten Ikonostase. Sie ersetzten die Herrscherbilder, Porträts von Lenin oder Stalin, die in den früheren Filmen als sakrale Objekte fungierten, bei denen die Helden Bestätigung suchten. (Abbildung 5) Abbildung 5: Evgenij Kindinov als Sergej in Romans o vljublenych.
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Das Privat-Familiäre dekoriert sich zuweilen mit sowjetischen Uniformen und vermeidet es, in einen offenen Konflikt mit der Ideologie zu treten: Wenn Sergejs Mutter ihren Sohn zum Wehrdienst verabschiedet, hebt sie die Hand, um ihn zu bekreuzigen, führt jedoch diese »verbotene« Geste nicht aus. Nichtsdestotrotz bleibt die Geste für den Zuschauer verständlich. Die Familie – in Form einer erweiterten familiären Gemeinschaft, ein Bund aus Verwandten, Nachbarn und Freunden – kann bereits erfolgreich mit dem Staat konkurrieren. Nicht der Staat dringt in die Familie ein, sondern die Familie höhlt seine Ideologie von innen aus, ersetzt sowjetische Werte, so wie sie die Bilder der Macht durch die Bilder der Familienangehörigen ersetzt. Dadurch verweist die Liebe im Film nicht mehr auf den hohl gewordenen Begriff der sowjetischen Gemeinschaft, sondern auf die unzähligen kleinen, privaten Gemeinschaften wie die Männerbünde (Wehrdienstkameradschaften), Freundeskreise und Familien. Ähnlich wie der Dorfgemeinde in Asja Kljačina steht ihnen jetzt die Aufgabe zu, die individuellen Gefühle ihrer Mitglieder zu kontrollieren, zu werten und – gegebenenfalls – in den konformen Rahmen der Ehe zu kanalisieren. Diese kleinen Gemeinschaften werden nicht – wie im Film Asja Kljačina – eindeutig als »russisch« markiert. Aber die Ideale der »Liebe, Glaube, Hoffnung«, wie sie wörtlich in Asja Kljačina ausgesprochen werden und die Ideale der nationalen Gemeinschaftsbildung, spielen auch für Romans o vljublennych eine bedeutende Rolle und werden z.B. durch das Sujet der wundersamen Rettung Sergejs, durch die Bekreuzigungsgeste seiner Mutter, die »Ahnenbilder« und die Idealisierung der familiären und freundschaftlichen Gemeinschaftlichkeit spürbar gemacht. Somit appelliert der Film an zwei von den drei Aspekten der russischen nationalen Idee (Selbstherrschaft, Orthodoxie, Volkstümlichkeit): an den rechten Glauben und die Nähe zum Volk. Obwohl hier die russische Gemeinschaftlichkeit, ihre kollektive Intimität, so groß gefeiert wird, ist der fremde Westen in diesem Film nicht weniger präsent als die (Medien-)Welt der Sowjetunion. Dieser »Westen« wird nicht nur durch die musikalischen Einlagen und die Kleidung der Schauspieler sichtbar. Das Sujet lehnt sich an den in der Sowjetunion bekannte und überaus populäre Film Les Parapluies de Cherbourg (1964) von Jacques Demy an. Nur wird im französischen Original der Geliebte in den algerischen kolonialen Krieg geschickt, wohingegen im sowjetischen Film die Armee und die stilisierten fernöstlichen »Aborigines« Hand in Hand zusammenarbeiten.
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Nahezu jede Wendung des französischen Originalsujets wird ins Russische übersetzt. Der reiche Juwelier, der bei Demy Geneviève heiratet, wird zu einem Eishockeyspieler der sowjetischen Nationalmannschaft, der Wohlstand der abtrünnigen Geliebten deutet sich zwar nicht mit Auto und Pelzmantel an wie bei Demy, dafür aber mit schweren Bleikristallvasen und polierten Möbeln. Abgesehen von diesen kleinen Differenzen ist der Konflikt aus dem Kleinbürger- und Arbeitermilieu von Cherbourg durchaus auf sowjetische Umstände übertragbar. Die Grenze zum Westen wird durchsichtig. Der Konflikt in Romans o vljublennych ist nicht ideologisch35: Die Geliebten trennt weder ihre Klassenherkunft noch die feindliche Umgebung noch die Unterschiede in ihrer politischen Meinung. Sie trennt ein Zufall, der gleiche, der ihre Schicksalsgefährten in Frankreich trennt. Mit der Spezifik der sowjetischen Liebe hat er nichts mehr zu tun. Wie die französischen so zeigen auch die sowjetischen Liebenden ein komplexeres Lebensmuster auf. Im Laufe ihres Lebens pflegen sie Beziehungen mit mehr als einem Sexualpartner, und nicht jede Liebesbeziehung führt zu einer Ehe. Die Liebe fällt eindeutig nicht mit der Ehe zusammen, auch wenn diese »Ungleichzeitigkeit« von Ehe und Liebe als schmerzhaft empfunden wird. Schließlich werden an den Geliebten und an den Ehepartner unterschiedliche Ansprüche gestellt. Der Sexappeal, der in der Liebesbeziehung zählte, reicht für die Ehe nicht aus. Die Ehepartner werden von den Filmhelden eher konservativ gewählt: Die Frauen, Tanja und Geneviève, suchen sich einen reichen Mann aus, die Männer, Sergej und Guy, ziehen eine gute Hausfrau und Mutter vor. Die Liebe der Sowjetmenschen ist mit der westlichen Liebe vergleichbar. Bezeichnend ist, dass die »Übersetzung« des fremden Sujets ins Russische in Romans o vljublennych – im Unterschied zu Pervyj učitel’ – keine Grenze zum Fremden aufbaut, sondern beständig alle Unterschiede kaschiert und die Sujetwendungen der fremdsprachigen Vorlage an die vorgegebe35 | Der nicht ideologische, oder wie ihn sowjetische Kritik nennt, der »nicht soziale« Konflikts wird zum entscheidenden Kriterium, wenn es um Liebesfilme geht. »Iskusstvo kino« publiziert zu derselben Zeit, als der Film in den Kinos läuft, einige Artikel über sowjetische Filmmelodramen, in denen Filme mit »sozialem Konflikt« scharf kritisiert werden. Die Liebesästhetik der 1970er interessiert sich nicht mehr für die ideologische Problematik (vgl. stellvertretend Lipkov 1975, Demin 1975).
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ne Situation der »Zielsprache« anpasst (sie macht z.B. aus dem Krieg in Algerien den Wehrdienst im sowjetischen Fernen Osten). Die Grenze als konstitutives Element der Selbstidentifikation wird in diesen zwei Fällen unterschiedlich gehandhabt. Die Grenze zum »Orient« wird neu hergestellt, handelt es sich um den »Okzident«, wird sie transparent gemacht: Die Differenzen im Lebensstil werden schlichtweg ignoriert. Im Prozess der interkulturellen Übersetzung verflüchtigt sich die prinzipielle Unähnlichkeit der sowjetischen und der (kapitalistischen) französischen Lebensteleologie vollständig. Die französischen wie auch die sowjetischen Geliebten suchen nach privatem Glück. Die Erfüllung der öffentlichen Aufgabe (Wehrdienst) stellt sich in beiden Filmen lediglich als Peripetie dar, als traditionelles Hindernis in der Liebesgeschichte und als Initiationsritual für den Mann. Die »fremde« individualistische und die »eigene« kollektivistische Perspektive fallen praktisch zusammen. Die Spuren der einstigen sowjetischen arbeitsbedingten Kollektivität sind nicht mehr zu sehen. Dagegen macht sich auch im sowjetischen Raum die neue Konsum- und Mediengesellschaft bemerkbar. An die Stelle dieser spezifisch sowjetischen kollektivistischen Form von Gemeinschaft, der in den Filmen von Kočalovskij im besten Fall eine Dekorrolle zukommt, tritt jedoch eine andere Gemeinschaftlichkeit, die es beim französischen Vorgänger in dieser Form nicht gab – die der »großen Familie«. Ihr fällt nun zu, die Aktivitäten des Liebespaars zu kontrollieren. Vom Druck der sowjetischen Ideologie befreit, geriet die Liebe in Abhängigkeit von privaten Strukturen wie der Familie oder der Nachbarschaft. Nicht von ungefähr beschreibt Filmkritiker V. Kičin die Liebe im Film mit dem dialektalen Ausdruck »na juru« – eigentlich »auf der Anhöhe« (Kičin 1975). Dieser drückt zuerst die äußerste Offenheit, die Sichtbarkeit dieser Liebe aus, die vor den Augen des »Volkes« geschieht. Andererseits verweist der Wortgebrauch auf den völkischen Charakter der Liebe und macht die Nichtmodernität dieser durch und durch mit den Zeichen des medialen und des technischen Fortschritts ausgestatteten Leidenschaft deutlich. Denn wenn in den Filmen von Končalovskij die sowjetische Stadt ästhetisch eher durch die Novität der Medienkultur, das Dorf dagegen durch die zeitlose Natursymbolik vertreten wird, so unterscheidet sich das Verhalten der Städter aus der ethischen Perspektive dennoch kaum von dem der Dörfler. Zwar obliegt die Pflicht der moralischen Entscheidung mehr oder weniger dem liebenden Individuum selbst, eine vollkommene Individualisierung des Liebesgefühls kennt er jedoch nicht. Eine Mehrzahl von Hel-
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fern (Mütter, Freunde, Nachbarn) – dies macht besonders der letzte der besprochenen Filme deutlich – assistiert ihm dabei und greift korrigierend ein. Hinter diesen Figuren verbirgt sich jedoch weder die politische Macht noch die Ideologie. Ihre Autorität beziehen solche Helfer und Beobachter wie der Brigadier oder der Alte in Asja Kljačina oder Sergejs Mutter und sein Freund Albatros in Romans o vljublennych aus patriarchalischen Vorstellungen, die dem Alter, dem Familienstand und der Lebenserfahrung einen hohen Wert beimessen. Generell werden die Wertvorstellungen der früheren sowjetischen Kultur verschoben, wenn nicht ganz verworfen. Betrieb die stalinistische Kultur eine Orientalisierung des sowjetischen Raumes,36 richtet die spätsowjetische Kultur ihren Blick nach Westen. Im Sprechen über die Liebe treten erneut die »alten« Themen wie die Entgegenstellungen von Orient und Okzident, von Zentrum und Peripherie, von Stadt und Land auf. Diese waren konstitutiv für den vorrevolutionären russischen Diskurs, nicht aber für den sowjetischen. Letzterer zielte auf das Aufheben jeglicher Unterschiede, auf das Zusammenfließen von Dorf und Stadt, auf die Konversion von verschiedenen Ethnien und auf die Eliminierung der fremden sozialen »Elemente«. Nur eine Grenze ließ er bestehen, die zwischen den Systemen, die Grenze zwischen Westen und Osten. Und gerade die ließ der letzte der analysierten Filme fallen. Wie die Analyse dieser drei Filme zeigt, sind in den Liebessujets der späten 1960er und 1970er Jahre nicht die politischen oder sozialen Kriterien für die Partnersuche oder für das Konfliktverständnis ausschlaggebend. Geliebt wird hauptsächlich innerhalb der eigenen sozialen und ethnischen Gruppe. Nicht die gemeinsame sowjetische Geschichte (Revolution), nicht die geopolitische Verbundenheit (UdSSR) entscheiden die sakramentale Frage »Wen soll man lieben?«. Der wesentlich komplexer gewordene Liebescode, der jetzt verstrickte Liebesmuster wie Liebesdreiecke oder die Amour fou anbietet, die Liebe von der Ehe trennt oder in der Liebe einen gruppenspezifischen Identifikationsmechanismus sieht, hängt viel stärker als zuvor von seiner Versprachlichung und seiner Medialität ab. Denn eben die Fähigkeit, Konglomerate aus den medialen Zitaten und Themen zu entziffern und die Rekurse auf die russische (nicht die gemeinsame sowjetische) Kulturgeschichte zu verstehen, erschafft die Mög36 | Dies zeigte z.B. Vladimir Papernyj am Beispiel sowjetischer Architektur (Papernyj 1996).
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lichkeit, sich als Gemeinschaft zu fühlen und einen gemeinsamen Liebescode zu praktizieren.37 Allein die gleiche Sprache zu sprechen, reicht nicht mehr aus. Man muss eine ähnliche Sozialisation durchlebt haben, an die gleichen Medien angeschlossen sein und bei der Interpretation dieser Medien zu der gleichen Deutung gelangen. Und gerade hier öffnet sich eine tiefe Kluft. Es kommt zu exotisierenden misreadings wie im Fall von Pervyj učitel’ oder zur Produktion von »internen« Sujets, die nur für jemanden lesbar sind, der mit der spezifischen zentralrussischen Problematik vertraut ist und auf dem Gebiet der alten wie der neuen russischen nationalen Symbolik bewandert ist (Asja Klačina). Die Fragmentierung betrifft nicht nur die geopolitische und soziale, sondern auch die mediale Landschaft. So wie der totale Raum des sowjetischen Imperiums zerfällt, zersetzt sich sein visueller und auditiver Raum. Schafften es die zentralen Produktionen der Stalinzeit noch, die Totalität des Sowjetischen widerzuspiegeln, zerstückelt der Film der 1970er Jahre die Realität in konkrete, nicht generalisierbare Schicksale. Die epische Sichtweise, die das konkrete Schicksal mit der großen Geschichte zu verbinden vermochte, wird in der gewandelten Situation der 1960 und 70er Jahre nur in seltenen Fällen (Kriegsfilm, Kriegsliteratur) erreicht. So paraphrasiert Končalovskij im zweiten Teil des Romans o vljublennych den Kunstgriff des früheren sowjetischen Kinos und kehrt diesen um: die Abfahrt der Kamera von den Helden, von einer Halbtotale zur Totale oder Panoramabild, vom konkreten zum allgemeinen (wie z.B. im Finale von Svetlyj put’, Traktoristy usw.). Dieses Verfahren schreibt die einzelnen Filmhelden in das große sowjetische Kollektiv ein. Anders in Romans o 37 | Auf den Zusammenhang zwischen Medienkonsum, Bildung und Konsolidierung im Namen der nationalen Idee weist in einem anderen Kontext Ronald Grigor Suny hin. Er analysiert den weitgehenden Verzicht auf den Begriff »Klasse« und die Aufwertung von »Nationalität« in den Konstruktionen von sowjetischen Identitäten in den 1970er Jahren (Suny 1993: 121f.). Er lehnt sich in seinen Argumentationen an die These von Benedikt Anderson an, der den Aufstieg der nationalen Idee durch die Möglichkeiten der neuzeitlichen Kommunikation bedingt sah. Analog argumentiert Suny, wenn er den Aufschwung des nationalen Selbstbewusstseins in den späten Jahren der UdSSR mit dem verbesserten Zugang zu Bildung und Kommunikationsmedien erklärt: »the very processes of urbanization and industrialization, the spread of mass education and greater access to print and other media, aid the consolidation of ethnolinguistic groups« (ebd.: 126).
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vljublennych: Die Heimkehr seines Protagonisten nach Moskau wird durch eine »stürzende« Kamerafahrt dargestellt. Das Kamerabild wird von der Vogelperspektive auf die Perspektive einer Straße, dann einer Häuserreihe, schließlich eines Haushofausschnittes herangezoomt. Ihr Blick haftet an Details und kann das Ganze nicht umschließen. Die Ästhetiken der Collage und der Pastiche, die sowohl den visuellen als auch den auditiven Raum von Končalovskijs Filmen auszeichnen, unterstützen diesen Effekt der Zerstückelung, der Zerlegung der totalen Ganzheit in Fragmente. Andere visuelle Medien werden eingeblendet (Photographie, Zeichentrickfilme), durch die »Entblößung des Verfahrens« – das Mitfilmen des Filmteams und der Filmapparatur – werden die Künstlichkeit des Filmbildes und sein Einschnittcharakter unterstrichen. Unnatürliche Schwarz-Weiß-Kontraste verzerren die gewöhnliche Farbskala (Pervyj učitel’, Asja Kljačina), ebensolchem Verfremdungseffekt dient der plötzliche Übergang vom Farbfilm zum Schwarz-Weiß-Film (Romans o vljublennych). Anstelle des gewohnten Filmliedes begleiten Musikfetzen das Filmgeschehen. Auch dort, wo eine geübte Komponistenhand eingreift (die Musik für Pervyj učitel schrieb Vjačeslav Ovčinnikov), bildet sie eine lediglich rhythmische, nicht eine melodisch-leitmotivische Klammer für die Handlung. Die Auswahl der Sujets, die Interpretation der fremdkulturellen Vorlagen, die Wahl der stilistischen Mittel deuten auf das Ableben der alten – auf Totalität und Eindeutigkeit orientierten – Ästhetik und Semantik der Liebe.
5. Das Auge, die Sprache, das Herz: die neue Liebe
Das Liebessujet und sein Hauptgenre – das Melodram – erobern in den 1960er und 70er Jahren die literarische Szene und den Film. Liebe wird aber auch in den persönlichen Lebensnarrativen zum wichtigsten Thema. Das bezeugen die zahlreichen Memoiren der Kunstschaffenden dieser Generation, die in den letzten Jahren erschienen sind. Ein markantes Beispiel hierzu bietet das Ehepaar Končalovskij-Arinbasarova. Ihre Autobiographien gestalten die beiden Künstler explizit als Beschreibungen ihrer sexuellen Erfahrungen und Liebesgeschichten. So teilt die zu ihrer Zeit sehr bekannte und erfolgreiche Schauspielerin Natalia Arinbasarova (Altynaj in Pervyj učitel’) ihr Leben in zwei Abschnitte ein, jedoch nicht etwa nach »Schaffensperioden«, gelungenen Rollen oder Auszeichnungen, sondern nach ihren Ehen. Auch Andrej Končalovskij sieht sein Leben und Schaffen in den 60er und 70er Jahren durch das Prisma seiner zahlreichen Liebesabenteuer (Končalovskij 1998, 1999, Arinbasarova 1999). Olga Trifonova, Schriftstellerin und Witwe von Jurij Trifonov, folgt in ihren Erinnerungen dem gleichen Duktus, schweigt über ihr eigenes und das Schreiben ihres Mannes – untypisch für die Autobiographie eines Schriftstellerehepaares – und konzentriert sich stattdessen auf die Peripetien ihrer komplizierten Liaison mit dem bekannten Schriftsteller (Trifonov/Trifonova 2003). Die Sphäre der Intimität wird für diese Generation zum Hauptsujet der Selbstbeschreibung, zum Platz, auf dem das Problem des moralischen Rechts ausgefochten wird. In den 1970er Jahren wird die erotische Leidenschaft – in unterschiedlichen Wertungen – als Zeichen der inneren Freiheit oder als Schandmal des moralischen Verfalls gedeutet. Dissident Andrej Amal’rik macht sich über die repressive sowjetische Macht lustig, die nicht mehr imstande ist, in das sexuelle Begehren ihrer Bürger einzugreifen,
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und die sich über die Amüsements der dissidierenden Kreise nur hilflos ärgern kann.1 Nikolaj Jakovlev, der machtergebene Autor von »CRU protiv SSSR« (»CIA gegen UdSSR«, Jakovlev 1983), nutzt die Scheidung und erneute Heirat von Elena Bonner aus, um die bekannte Dissidentin, Ehefrau und Mitstreiterin von Andrej Sacharov als amoralische Person zu verleumden (Jakovlev 1983: 294ff.). Im hitzigen Streit zwischen der offiziellen und der inoffiziellen Elite über die moralische Hoheit wird das Liebesverhalten beiderseits als Trumpfkarte ausgespielt. Die Liebe, die Familie und die Sexualität sind zu Grundwerten aufgestiegen und sogar imstande, die einstigen Leitkategorien der moralischen Wertung zu ersetzen. Es reicht nicht mehr aus, den politischen Gegner für Missachtung der ideologischen Gebote zu bestrafen, sondern er muss als nicht liebende, eigennützige Person diffamiert werden, und es reicht ebenfalls nicht mehr aus, die Macht für das Fehlen der Demokratie anzuprangern, sondern sie muss als retrograd und konservativ in Bezug auf Intimität dargestellt werden. Auch von den beiderseitigen politischen Vereinnahmungen abgesehen, erscheint die Liebe als wichtiges Analysekriterium im Diskurs über sowjetische Anthropologie. 1977 publiziert Anatolij Bočarov, sowjetischer Literaturkritiker und Literaturwissenschaftler, ein Buch mit dem Titel »Anspruchsvolle Liebe. Persönlichkeitskonstruktionen in der zeitgenössischen sowjetischen Literatur«.2 Gegenwartsprosa – Bočarov liefert einen fundierten Überblick nicht nur russischer, sondern auch estnischer, litauischer, kirgisischer und weißrussischer Literatur – dient ihm dabei als eine Art Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung, als ein Reagenzglas, in dem sich die großen Umwandlungen der sowjetischen Realität als literarisches Experiment nachspielen lassen. Konzeptuell gründete seine Analyse nicht nur auf literarischer, sondern auch auf soziologischer, philosophi1 | Amal’rik erzählt eine erotische Anekdote aus dem Leben der inoffiziellen Künstler und ihrer Gönner. Bei einem Rendezvous in der Wohnung eines Kunstsammlers fliegt Frauenunterwäsche aus dem Fenster, woraufhin ein Ordnungshüter – ohne Erfolg – versucht, die Ruhe wiederherzustellen. Dies kommentiert Andrej Amal’rik mit folgenden Worten: »Советские власти ригористичны. Они не любят, чтобы на вишневых деревьях висели женские трусы« – »Sowjetmacht ist rigoristisch. Sie mag es nicht, wenn Frauenhöschen auf den Kirschbäumen herumhängen« (Amal’rik 1982: 18). 2 | Russ. Originaltitel: »Trebovatel’naja ljubov’. Koncepcija ličnosti v sovremennoj sovetskoj proze« (Bočarov 1977).
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scher und psychologischer Forschung und nicht zuletzt auf den – zumeist westlichen – Reflexionen der gewandelten Mediensituation der 1960er bis 70er Jahre. In diesem Kontext fielen die Namen Erich Fromms, Hans Magnus Enzensbergers und Marshall McLuhans, wobei es sich – aufgrund des lückenhaften Apparats – nicht nachweisen lässt, aus welchen Quellen diese dem Autor bekannt waren.Bočarov entwirft das Bild einer an der globalen literarischen Entwicklung teilhabenden Literatur und vermittelt zugleich eine spezifische Vorstellung vom sowjetischen Alltag. Dieser unterscheidet sich in seinen Entwürfen kaum von den gesellschaftlichen Entwicklungen in der nicht sowjetischen Welt. Der Siegeszug des Fernsehens, das Aufkommen einer nicht mehr ignorierbaren Massenkultur und eine Standardisierung der Lebens-, Zeit- und Arbeitsabläufe auf beiden Seiten des eisernen Vorhangs bilden die Klammer, die – so Bočarov – Max Frischs Romane mit Vasilij Aksenovs Prosa verbindet. Die dünn gewordene Grenze zwischen Westen und Osten wird jedoch aufrechterhalten, indem die westliche Forschung und Literatur als Appell und Warnruf an das sowjetische »Individuum« gelesen wird. Die sowjetische Gesellschaft hat nach Bočarov noch nicht das »hoffnungslose Stadium« einer persönlichen Polyvariabilität, eines durch Maskenspiele kaschierten Identitätsverlustes, erreicht, das der sowjetische Literaturwissenschaftler in Frischs Romanen »Stiller« und »Mein Name sei Gantenbein« zu finden glaubte. Die Sorge um die innere Welt des sowjetischen Menschen, proklamiert in den Diskursen über »Persönlichkeit« (ličnost’), beerbt die Tradition der Kunstkritik der 1960er Jahre. Diese hat die Entstehung der »Individualität« und die Autonomie des Subjekts als große Errungenschaft der poststalinistischen Kunst gefeiert und die »menschennahen« Sujets in der Literatur und in der Kunst allgemein gefördert (Pomerancev 1953). Für die Kritik der 1970er Jahre jedoch wird immer deutlicher, dass sowjetische »ličnost’« in großen Teilen ein Produkt der seriellen Fernsehunterhaltung und der Massenkultur ist und sich nicht nur immer weiter von dem heldenhaften Bild des stalinistisch-sowjetischen Übermenschen entfernt, sondern auch von der idealisierten Individualität der Tauwetterzeit. Zwar kritisiert der sowjetische Literaturwissenschaftler die Radikalität McLuhans, aber die Feststellungen des kanadischen Medienwissenschaftlers haben im sozialistischen Kontext ebenso ihre Gültigkeit. Auch der sowjetische Bürger ist das, was er sieht. Offensichtlich ruft die technisch-mediale Entwicklung auch beim sowjetischen Medienrezipienten die »Schwächung des Bewusstseins« und die »Angleichung des Betrachters an die Struktur des
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Mit Herz und Auge. Liebe im sowjetischen Film und in der Literatur
Mediums« hervor, die McLuhan beim westlichen Medienkonsumenten bereits in den 1950ern beobachtet hat (McLuhan 1995: 337). Die sowjetische ličnost’ erscheint als manipulierbar durch die neuen Medien (vor allem durch das Fernsehen) und formbar durch die Moden der Massenkultur. Nicht sie verwandelt die Realität, wie das vom sowjetischen neuen Menschen in den 1920er bis 30er Jahren erwartet wurde, sondern die Realität verwandelt sie. Die Entstehung der Freizeit sowie die gewandelte Rolle der Frau sprengen die Grenzen der sowjetischen Moral und verändern die Lebensformen der sowjetischen Bürger. Außereheliche und serielle Beziehungen sowie Zerfall der Familie werden zur Norm. Die Treue in der Liebe oder in der Ehe wird nicht als physische Treue verstanden, sondern lediglich als stetige Rückkehr zum bisherigen Partner.3 Promiskuitives Verhalten wird als Finden des Selbst, als Abwechslung im standardisierten Alltag des sowjetischen Bürgers oder als verzeihbare Schwäche gewertet. Forderte die ältere sowjetische Literatur noch in den 1950er Jahren die bedingungslose Beherrschung der eigenen Lüste, eine asketische Lebensführung und absolute Treue gegenüber dem einzigen Partner, entwarf sie somit das Bild eines perfekten Menschen, der allen Einwirkungen von außen und den inneren Versuchungen widerstehen konnte. In Galina Nikolaevas Roman »Bitva v puti« (»Schlacht unterwegs«, 1957) beschreibt einer ihrer Helden seine Liebe zu der verstorbenen Ehefrau in folgenden Worten: »In langen Jahren nicht nur keinen Treuebruch, keinen Verrat, sondern auch nicht einen Moment des Überdrusses. Es gab keinen Augen3 | »Верность супругу – мужу или жене – определяется не тем, что от него не уходят, а тем, что к нему все равно возвращаются. И литература сумела заметить этот до поры до времени затаенный процесс: постепенно размывается фетишизация физической ›верности‹ – как следствие изменившегося положения женщины и мужчины в обществе, как результат микросвязей внутри коллектива.« – »Das Treusein dem Ehepartner – dem Ehemann oder der Ehefrau – besteht nicht darin, dass man diesen nie verlässt, sondern darin, dass man nach der Trennung immer wieder zu dem Partner zurückkehrt. Die Literatur hat diese zunächst im Verborgenen gärende Entwicklung entdeckt: die Fetischisierung der physischen ›Treue‹ löst sich auf als Folge der veränderten Lebenssituation des Mannes und der Frau in der Gesellschaft, als Folge der neuen mikrosozialen Verbindungen im Kollektiv« (ebd.: 334f.).
5. Das Auge, die Sprache, das Herz: die neue Liebe
blick, in dem wir nicht die Freude aneinander hatten, in dem wir einander nicht sehen, einander nicht fühlen wollten, nicht den Wunsch hatten, miteinander zu sprechen« (Nikolaeva 1963: 174). In einem solchen Entwurf sind der Liebende und die Geliebte unfehlbar, ist ihre Liebe idealisiert, ihre Lebensführung vernünftig und zielgerichtet. Dem Schicksal und dem Zufall wird nichts überlassen, denn die Liebe des sowjetischen Willensmenschen kann selbst den Tod der Geliebten überdauern und ihn somit überbrücken. Eine temporäre Abkühlung der Liebe, eine wenn auch noch so kleine moralische Schwäche des oder der Geliebten sind undenkbar, was die Rhetorik des zitierten Fragments mit der Häufung von Verneinungen besonders deutlich zum Ausdruck bringt. Wenn die spätsowjetische Literatur intime Vergehen, falsche Wahl und Verblendung thematisierte und diese nicht mit dem Tod des Protagonisten bestrafte oder diese »Fehler« nicht durch das Finden des »richtigen« Partners wiedergutmachte, zeichnete sie im Unterschied zur Vorgängerliteratur ein nicht teleologisches Modell des menschlichen Lebens auf. Der neue schwache Held befand sich immer öfter in einem (Beziehungs-) Chaos, dessen er nicht Herr war, sondern das ihn beherrschte. Diese neue Anthropologie zeichnete sich bereits in den 60er Jahren ab und erstarkte besonders ab Mitte der 70er Jahre. Ob wissenschaftliche Forschung, autobiographisches Schreiben oder politisches Schmähpamphlet – ein intimes Gefühl (Liebe) und eine private Struktur (Beziehung, Familie) wurden immer als (nahezu die einzige) Messlatte für das ehemalige Kollektivwesen homo soveticus ausgewählt. Die angesprochenen Effekte des sozialen Wandels – vor allem die sexuellen Freiheiten – waren jedoch für die sowjetische Kultur nicht gerade neu. Wie die Studie von Igor’ Kon belegt, zeigte das reale Verhalten der sowjetischen Bürger zu allen Zeiten wenig Ähnlichkeit mit den von der Kunst des sozialistischen Realismus propagierten asketischen Beziehungsmodellen (Kon 1997). In den frühen 1960er Jahren wurde der Bedarf nach Aufklärung und »Zähmung«, nach einer »Zivilisierung« der intimen Lebensführung besonders deutlich. Auf eine solche »Zivilisierung« zielten z.B. solche Filmprojekte der 1960er Jahre wie die bereits besprochenen Filme A esli ėto ljubov’ und Aleškina ljubov’ sowie Filme wie Vysota (dt. VT. Die Höhe, 1957) und Čelovek rodilsja ab. Diese Filme propagierten eine kultiviertere Form der Intimität als die »Liebe«, der sich junge, zumeist in den Wohnheimen hausende Erbauer des Kommunismus hingaben. Billige Unterhaltungen, Alkoholkonsum und kurze erotische Beziehungen wur-
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den in den späten 1950er und 1960er Jahren regelmäßig zur Zielscheibe der Kritik. Diese Lockerung der patriarchalen Strukturen sowie die zunehmende individuelle Aktionsfreiheit (auch im Bereich der Sexualität) sind Phänomene, die – spätestens – seit den 1910er Jahren als Folge der Modernisierung und des Zerfalls der Agrar- und Standesgesellschaft in Russland als Massenphänomen beobachtbar sind. Frühere Experimente mit Intimität in den elitären Kreisen, wie etwa in der revolutionären Bewegung der 1860er bis 1880er Jahre sowie in der Avantgarde der 1910er und 1920er Jahre, haben zwar einen umfangreichen Quellenkorpus und ein reichhaltiges Ideengut hinterlassen, wurden jedoch nicht als breitenwirksames Modell akzeptiert. Erst die 1960er und 1970er Jahre – die Parallelen zu ähnlichen Entwicklungen im europäischen Ausland sind hier nicht zu übersehen – haben aus solchen Randerscheinungen einen übergreifenden, verbindlichen, kultivierten Verhaltenscode kreieren können, der sogar als »stylish« gegolten hat. Dass man über die sich ändernde Liebe sprechen durfte und konnte, und zwar nicht nur im engen Raum seines elitären Kreises, dass man imstande war, für sie eine adäquate Sprache zu entwickeln, hat die Veränderung sichtbar gemacht und – provoziert. Denn Literatur, Film und Fernsehen haben dieser neuen Liebe einen massenwirksamen Code zur Verfügung stellen können und aus einem Randphänomen ein zentrales Ereignis gemacht. Lockerte sich die sowjetische Beziehungsmoral infolge all dieser Transformationen, wie dies zu dieser Zeit viele, unter ihnen der bereits zitierte Anatolij Bočarov, behaupten, oder war es umgekehrt und sie erstarkte? Ein lineares Modell der Veränderung scheint in diesem Fall nicht zu funktionieren, denn beides trifft zu. Einerseits nimmt der mediale Liebescode Elemente auf (etwa Sexualität), die vorher darstellungstechnisch entweder ein Tabu oder ein Zeichen des abnormalen Verhaltens waren – dies hätte man als Lockerung der im sozialistischen Realismus geprägten Liebesmoral sehen können. Andererseits werden nun gerade die Handlungen oder Verhaltensstrategien, die bisher jenseits der Repräsentation blieben, repräsentiert und somit codiert und auf eine wie auch immer definierte Norm bezogen. Spricht man über Sexualität, denn sie ist das Hauptfaszinosum jener Zeit, die man mit Venedikt Erofeev als »Epoche der großen pornographischen Erkundungen« – ėpocha velikich pornografičeskich otkrytij – (Erofeev
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2000: 367) bezeichnen kann, so wird sie auch im Bereich des Normativen duldbar, aber zugleich disziplinierter. Denn jetzt kann man auch in Bezug auf Sexualität über das »richtige« und »falsche« Verhalten sprechen. Wenn der Raum für das Sprechen über Sex und die Strategie des Sprechens bestimmt und die Norm der »richtigen« Sexualität formuliert werden, wird der Sex einerseits aus dem Bereich des Unaussprechlichen und Bedrohlichen geholt, aber zugleich moralisiert und geregelt. Somit kann man die Veränderungen im Code der sowjetischen Liebe, die in dieser Zeit stattfinden, nicht als »Lockerung« oder »Befreiung« werten, man kann nur feststellen, das die Grenzen des neuen Liebescodes anders gezogen werden. Der neue massenmediale Code der Liebe kann in dieser Form das Alltägliche, das vorher Verborgene und das vom Ideal Abweichende absorbieren. Diese »menschennahe« Liebe erfordert keine Heldenhaftigkeit und keine Askese von den Adepten der »richtigen« Liebe. Aber zugleich kann sie tiefer eindringen, auch die Bereiche der intimen Kommunikation erreichen, die zuvor praktisch nicht ansprechbar und somit frei von Norm und Disziplin blieben. Im Vergleich zur Literatur des sozialistischen Realismus, der Zeit, die oft metaphorisch als das »sowjetische Mittelalter« beschrieben wird,4 die in ihren Erzählungen über Ritter und Asketen der Revolution eher religiöse und mythopoetische Assoziationen weckte, zeichnet sich die Kunst der 1960er und 1970er Jahre durch eine zunehmende Reliterarisierung aus. Der Zerfall der sowjetischen Heldenanthropologie öffnet das Tor für die bisher vernachlässigten literarischen und kinematographischen Traditionen. Geht es um Privatmenschen und kann eine Liebesgeschichte als Geschichte der Individuation erzählt werden, dann kann auch sowjetische Kunst auf eine breite Palette der Sujets und Motive zurückgreifen, die in der europäischen Liebesliteratur bisher erfunden wurden. Bereits im Film der 1960er Jahre werden viele kanonische Liebessujets belebt. So ist der Film Aleškina ljubov’ (1960) eine sowjetische Variante von »Der Widerspenstigen Zähmung«, der Film A esli ėto ljubov’ (1961) inszeniert »Romeo und Julia« in den Dekorationen eines Kiewer Vororts. 1975 4 | Vom »medieval romanticism« in Bezug auf die Literatur des sozialistischen Realismus spricht Anatolij Gladilin (Gladilin 1979: 144), auf Analogien zwischen Macht–Individuum–Beziehung in der sozialistisch-realistischen Literatur und mittelalterlicher Totalität der menschlichen und der göttlichen Welt weist Arkadij Nedel in seinem Artikel hin (Nedel 2005: 481-490).
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trifft man auf der sowjetischen Leinwand auf einen Peer Gynt, auf einen Kriegsheimkehrer, der nach einer 20 Jahre währenden Wanderschaft zu seiner gealterten, aber immer noch treuen Solveig zurückkommt (Pjat’ večerov, Fünf Abende, 1975). In den 1980er Jahren, in der »aus den Fugen geratenen« sowjetischen Welt, verkörpert der Schauspieler Oleg Jankovskij einen sowjetischen Hamlet, um welchen sich ein ganzes Arrangement von verliebten Ophelias rankt (Polety vo sne i najavu, dt. VT. Tagträumer, 1982). Viele literarische Motive finden Eingang in die sowjetische Literatur und in den Film, wie z.B. die ungleiche Liebe – Liebe zwischen Vertretern verschiedener Klassen oder sozialer Gruppen (Der Einundvierzigste, 1957, Kurier, 1986) – und die Tyrannei der Eltern (Filme: Valentin i Valentina, 1985, Fantazii Farjat’eva, Farjat’evs Fantasien, 1979; Prosa von Michail Roščin). Das romantische Motiv des kalten Herzens (Frank 1987) kennzeichnet prosaische Werke von Jurij Trifonov und Andrej Bitov. Das Turgenev’sche Motiv des schicksalhaften Fehlers dominiert die Sujets von Trifonovs »Obmen« (»Der Wohnungstausch«, 1969) und »Dom na naberežnoj« (»Das Haus an der Moskva«, 1976). Das Motiv der roten und der weißen Rose5 – die Wahl zwischen Femme fatale und femme fragile, zwischen Begehren und Liebe – führt Andrej Bitov im zentralen Text der sowjetischen Nachkriegsliteratur ein, in seinem Roman »Puškinskij dom« (»Das Puschkins Haus«, 1971/1978).
D IE NEUE S ICHTBARKEIT Die Autoren der Jungen Prosa, der sowjetischen Neuen Welle, prägen das literarische Bild der Tauwetterzeit und später das der 1970er Jahre. Ihre Bedeutung für die spätsowjetische Literatur ist kaum zu überschätzen, denn die von ihnen eingeleitete literarische Rebellion verändert das Bild der sowjetischen Literatur maßgeblich, und zwar nicht nur in Bezug auf die Themenwahl, sondern auch in Bezug auf Darstellungsstrategie, narrative Struktur und Sprache. Bereits die Anfänge dieser literarischen Rich5 | Das Motiv kommt bereits bei Comenius vor als Symbol für die moralische Wahl zwischen weltlichen und paradiesischen Freuden (Johann Amos Comenius »Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens«). Die Symbolik der weißen und der roten Rose findet sich unter anderem in Balzacs Romanen und bei Dostoevskij wieder.
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tung, etwa Anatolij Gladilins »Chronika vremen Viktora Podgurskogo« (»Zeitchronik des Viktor Podgurskij«, 1956) oder Vasilij Aksenovs »Kollegi« (»Kollegen«, 1960) und besonders »Zvezdnyj bilet« (»Fahrkarte zu den Sternen«, 1961) zeigen, wie sehr das literarische Erzählen generell und das literarische Liebesnarrativ speziell ändern. 2005 schreibt Aleksandr Kabakov zum 70. Jubiläum seines Schriftstellerfreundes über den Eindruck, den die Lektüre von Anatolij Gladilins früher Prosa auf ihn gemacht hatte: »Ich erinnere mich, ich habe diese 50 Jahre alte Ausgabe der Zeitschrift ›Junost‹, in der seine ›Chronika vremen Viktora Podgurskogo‹ publiziert wurde, noch regelrecht vor meinen Augen. Diese Erzählung, die ich, ein von Literatur besessener Provinzbursche, mit Begeisterung las, hat nicht nur meine Vorstellung davon, was man in einer sowjetischen Zeitschrift schreiben und publizieren kann, völlig umgekrempelt. Sie veränderte mein Wissen darüber, wie man leben, fühlen, sich bewegen, im Regen spazieren gehen, mit einem Mädchen oder mit Freunden sprechen und wie man leiden und hoffen kann«. 6
In Kabakovs Zitat werden zwei für das Phänomen der Jungen Prosa sehr wichtige Aspekte angesprochen. Diese Literatur sprengt einerseits die Vorstellung davon, »was man schreiben kann«, das heißt die literarische Konvention, und im gleichen Zuge reformiert sie die Vorstellung davon, »wie man leiden und hoffen kann«. Die Veränderung des Liebescodes geht mit der Veränderung der literarischen Sprache einher.
6 | »Я помню, просто вижу сейчас тот пятидесятилетней давности номер журнала »Юность«, в котором была опубликована его »Хроника времен Виктора Подгурского«. Маленькая эта повесть, взахлеб прочитанная мною, провинциальным мальчишкой, уже одержимым литературой, перевернула мои представления не только о том, что можно писать и публиковать в советском журнале, но и о том, как можно жить, чувствовать, вести себя, бродить под дождем, разговаривать с девушкой и друзьями, страдать и надеяться« (Kabakov 2005).
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An den Leserbriefen zu Vassilij Aksenovs Roman »Zvezdnyj bilet« kann man beobachten, was sich in dem literarischen Code der Liebe geändert hat.7 Teenager und junge Erwachsene sowie ihre Eltern, die nun das Gefühl hatten, ihre Kinder endlich verstehen zu können,8 schrieben über ihre Begeisterung für diesen Schlüsseltext der Jungen Prosa. Leitmotivisch zieht sich durch ihre Briefe die Behauptung, sich selbst oder ihre Bekannten in Aksenovs literarischem Bildnis der sowjetischen Jugend erkennen zu können: »[Solche Menschen; NB] wie Galja, Dima, Alik treffen wir jeden Tag. Das sind wir selbst, unsere Freunde. Mit siebzehn sind die meisten so«9 . Die Erkennbarkeit des literarischen Helden ist entscheidend für seine Akzeptanz. Man will von der gedruckten Seite »einfach unser Leben« ablesen können. Die geforderte »Erkennbarkeit« gehört eindeutig zu den Haupteigenschaften der kommenden Massenkultur. Und genau auf diesen Leser reagiert die Junge Prosa. Sie beschäftigt sich weniger mit dem Liebescode, der Wertung und Weltanschauung vorgibt: etwa, »was« man in einer Liebe liebt, wofür man liebt, wer eine Liebe verdient usw. Vielmehr spricht diese literarische Richtung über das »wie liebt man«. Und dieses »wie« bezieht sich auf die konkreten und sichtbaren Details des Gefühlsablaufs. »Wie liebt man« bezieht sich darauf, wie man spricht, wie man seine Geliebte anschaut oder wie man durch die Stadt läuft, wenn man Liebeskummer hat. Der neue Code gibt sich realitätsnah, er gibt den Kleidungsstil vor, 7 | Der Roman wird von einem jungem Lehrerpublikum emphatisch begrüßt. Die Abteilung für Leserbriefe (otdel pisem) der Zeitschrift »Junost’« notiert, dass bereits einen Monat nach dem Erscheinen des Romans 80 Leserbriefe eingegangen sind. Nur wenige Wochen später sind es schon 300. RGALI f. 2924, op. 2, d. 28, l.16. 8 | Vgl. stellvertretend den Brief von Ju. P. Aronson, Vater einer erwachsenen Tochter, an Vasilij Aksenov: »Cпасибо за то, что заступились за нашу молодежь […] мне приятно, что я как бы получил право не осуждать свою дочь, за то внешнее, что ей не прощают другие« – »[D]anke, dass Sie unsere Jugend in Schutz genommen haben […] ich bin froh, dass ich jetzt quasi das Recht bekommen habe, meine Tochter für das Äußerliche, das ihr die Anderen nicht verzeihen wollen, nicht verurteilen zu müssen«. RGALI f. 2924, op.2, d.69, l.19, Hervorhebung NB. 9 | »[Таких героев; NB] как Галка, Димка, Алик, мы встречаем каждый день. Это мы сами, наши друзья. В семнадцать лет большинство таких.« RGALI f. 2924, op. 2, d. 69, l.6, 15, 20.
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beschreibt konkrete Bewegungs- und Handlungsabläufe. Er setzt die Liebe in die reale Topographie der sowjetischen Städte – die Verliebten flanieren durch die Straßen und wohnen in den kommunalen Wohnungen. So beschreibt Anatolij Gladilin in »Chronika vremen Viktora Podgurskogo« nicht die Qualitäten der Geliebten oder des Liebenden: Über zamečatel’nyj paren’ (ein toller Kerl) oder ebensolche devuška (Mädchen) geht der Text nicht hinaus. Warum diese und nicht eine andere Geliebte, entscheidet der Held aus seinen, für den Leser nicht nachvollziehbaren, Gründen. Für einen literarischen Text, der dem Leser schon immer einen freien Zugang in die Herzkammer und Gefühlsküche der handelnden Personen gewährte, wird hier die Psyche des literarischen Helden zu einer Blackbox. Dafür werden die äußeren – die sichtbaren, die visuellen – Zeichen seiner Liebe wie auch seiner gesamten Erscheinung mit einer beinahe peniblen Genauigkeit beschrieben. Man erfährt, wie der Held gekleidet ist, wie er geht, wie er seine Hände hält (in den Hosentaschen), wie er seinen Tag verbringt (durch Moskau bummelnd) und wie er spricht (ironisierend). Diese Beschreibung ist mehr als ein leicht deutbares Signalsystem: Lederjacke für einen Revolutionär, Seidenbluse für ein »fremdes Element« usw. Anatolij Gladilin erlaubt sich sogar, diese Floskel der sowjetischen Literatur umzukehren und einen jungen Mann »mit offenem Gesicht« und sprechendem Namen (Udal’cov, von udal’ – Mut, Kühnheit) als Feigling und als Schmeichler zu entlarven, dagegen einen Rowdy mit aggressivem Gesichtsausdruck zum »wahren Helden« werden zu lassen (vgl. Gladilins »Brigantina podnimaet parusa«, »Brigantine setzt die Segel«, 1959). Diese »neue Konkretheit« vermeidet die festgefügten Zusammenhänge oder rationalen Deutungen. Aksenovs Held Saša Zelenin in »Kollegi« wendet sich vom schönen Dorfmädchen Dascha ab, das als Krankenschwester mit ihm zusammen in einem Krankenhaus arbeitet. Dascha ist hübsch, verliebt in Zelenin, sie folgt ihm sogar bei gefährlichen Einsätzen, alles an ihrer Person ist moralisch und positiv. Nur ihre Lebensweise ist weit entfernt von den Moden und der Konsumkultur der Großstädte. Die Entscheidung, keine Liebesbeziehung mit ihr einzugehen, trifft Zelenin, als er bei einem Tanzabend eine Wachstuchblume auf Daschas Bluse bemerkt, eine Mode, die in der Hauptstadt bereits vor Jahren abgeflaut ist. Kurz darauf entscheidet er sich für die Moskauer Studentin Inna, die ein ganz anderes Leben als Dascha führt. Sie studiert, sie hört Jazz und interessiert sich für Kunst. Sie kann sich Reisen leisten (die beiden – Sascha
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und Inna – lernen sich in Leningrad kennen, wo Inna ihre Ferien verbringt). Sie trägt Kleider im von Christian Dior geprägten New-Look-Stil. Dascha, die den Held permanent durch die Handlung begleitet und ebenso permanent ihre menschliche Güte beweist, wird durch eine unbekannte und undurchsichtige Inna eingetauscht, die allerdings über den schönen Schein einer modernen Großstädterin verfügt. Kleidung, Gangart, Zeitvertreib, der Geschmack für Musik, Malerei, Film und Literatur sind entscheidende Kriterien, die eine Liebe initiieren, aber sie zeugen weniger von der Persönlichkeit ihres Trägers, von seinen moralischen Qualitäten, vielmehr markieren sie seine Zugehörigkeit zu der Medien- und Konsumkultur der 1960er Jahren, die gleichermaßen New Look und Nouvelle Vague in sich vereint. Die Beschreibung des Liebesobjektes verläuft somit entlang seiner sichtbaren Oberfläche und wagt kaum Einblicke in die Tiefe. Auch das Kriterium der Schönheit der Geliebten unterliegt den Anforderungen der Mode: geliebt wird der Trend. Vasilij Aksenov inszeniert eine solche Liebe in seiner Erzählung »Na polputi k lune« (»Auf halbem Weg zum Mond«, 1962). Sein Held Valerij, ein LKW-Fahrer aus Sibirien, verliebt sich an Bord des sowjetischen Giganten-Flugszeugs TU-114, unterwegs von Chabarowsk im Fernen Osten nach Moskau, in eine Stewardess namens Tanja. Seine Urlaubsreise aus der Peripherie zum Zentrum des Landes bedeutet für den Protagonisten eine wunderbare Verwandlung seiner gesamten Sinne und Empfindungen. Er verliebt sich, fängt an zu lesen, zu denken und zu weinen. Um dieses »Wunder« noch einmal zu erleben, fliegt er die Strecke Moskau–Chabarowsk mehrere Male hin und zurück und wird am letzten Tag seines Urlaubs mit der erneuten Erscheinung der geliebten Tanja beglückt – als wäre dieses Treffen der Preis für seine innere Wandlung. Für den Protagonisten ist diese Begegnung, wie auch die gesamte Reise, eine Annäherung an die technischen und kulturellen Errungenschaften der 1960er Jahre. Er fliegt mit dem modernsten Flugzeug, das die sowjetische Luftflotte hat. Er erlebt die Höhe, die im Text zum Sinnbild des modernen Lebens und auch des modernen Wohnens wird: Das Flugzeugfenster wird mit dem Fenster eines Wolkenkratzers verglichen. Er kauft im bekanntesten Kaufhaus des Landes ein (GUM), speist im bekanntesten Restaurant Moskaus (»Nacional«) und spaziert die zentrale Flaniermeile (Gorkistraße) entlang. Er partizipiert an der neuen Konsumkultur und verfällt dem Reiz der medialen Ikonen. Überall begleitet ihn die Erscheinung der schönen Stewardess, die sich aber zu mehren scheint:
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»Hier gab es viele Mädchen, die Tanja ähnelten […] Tanja entwickelte in der Gorkistraße eine wilde Geschäftigkeit. Sie sprang aus den Obussen und lief in die Läden, sie schlenderte mit Stutzern auf der anderen Straßenseite oder lächelte aus den Schaufenstern.« (Aksenov 1977: 21)10 Die Stewardess erscheint ihm als eine unerreichbare Mondfrau, an deren reale Existenz er kaum glaubt. Sie scheint eine Bewohnerin der Kinoleinwand (»[Sie] ging voraus, wie eine Gemse, wie im Kino, wie im Traum«, ebd.: 18.11) oder die Modeikone der Illustrierten zu sein: »Doch, in Zeitschriften gab’s so was, […] aber nicht so, mit all dem andern und mit solchem Lächeln und solcher Stimme, wie sie nur die erste Frau der Welt haben kann« (ebd.: 14).12 Sie verkörpert die höchsten Konsumgüter: In den Augen des verliebten Helden gleichen ihre Haare den symbolbeladenen Modestoffen wie Nylon oder modischen Pelzsorten: »Ihr lächelndes Gesicht war zu ihm herabgebeugt, und ihr Haar […], dicht, sorgfältig frisiert und sicherlich sehr weich, sah aus wie Fell, wie Nylon, wie alle Schätze der Welt« (ebd.).13 Sie ist das personalisierte Bild der gehobenen Konsumkultur – ein Gesicht vom Werbeplakat oder aus einer Illustrierten. Selbst ihr Beruf – Stewardess – ist en vogue und hängt mit der Entwicklung der Tourismusbranche, mit dem wachsenden Wohlstand und der Entstehung der Freizeit zusammen. Die Stewardess Tanja erscheint zwar nicht im Kino, aber trotzdem in einer für den Protagonisten, der aus dem Fernen Osten kommt, irrealen 10 | »Здесь было много девушек, похожих на Таню […] Таня развивала бешенную деятельность на улице Горького. Она выпрыгивала из троллейбусов и забегала в магазины, прогуливалась с пижонами по той стороне, а то и улыбалась с витрин« (Aksenov 1966: 164). 11 | »И пошла впереди, как какая-то козочка, как в кино, как во сне« (ebd.: 161). 12 | »Нет, все это бывает в журнальчиках, […] но не бывает так, чтоб было и все это, и такая улыбка, и голос самой первой женщины на земле« (ebd.: 158). 13 | »Над ним склонилось ее улыбающееся лицо и волосы […] плотной и точной прической, похожие на мех, на мутон, на нейлон, на все сокровища мира« (ebd.). In der deutschen Übersetzung wird muton, das kurz geschorene, glänzende Schafsfell, eine ausgesprochen modische Pelzsorte in den 1960ern, offensichtlich in Ermangelung eines deutschen Äquivalents einfach als »Fell« übersetzt.
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Landschaft der Hauptstadt. Sie besitzt alle Qualitäten eines Kinostars. Sie setzt Trends – zumindest aus der Perspektive des Helden – und ist leicht nachzuahmen. Ihre Imitate erreichen jedoch niemals die sakrale Bedeutung des eigentlichen Stars. Die anderen Stewardessen, die Valerij auf seinen zahlreichen Flügen trifft, sowie die Mädchen auf Moskaus Straßen sehen genauso aus wie Tanja. Sie können aber Tanjas Einmaligkeit nicht aufheben, nur bestätigen: »Die Maschine hatte eine andere Besatzung. Die Stewardessen waren ebenso jung und schön wie Tanja, doch Tanja war die erste, alle anderen kamen nach ihr« (ebd.: 23f.).14 Allerdings ist das, was ein von der urbanen Massenkultur ausgeschlossener Provinzler für das Original hält, für seine besser informierten Weggefährten nur eine Kopie: »Was ist schon an so’ner modernen Puppe? In Moskau gibt’s davon ›ne Million« (ebd.: 20).15 Das, was Valerij in »Auf halbem Weg zum Mond« oder Sascha Zelenin in »Kollegi« erleben, ist eine moderne, konsumfreudige, medieninduzierte Liebe, die sich – wie Aksenovs Erzählung zeigt – auch in Absenz der passenden Verbreitungsmedien (der neuen ausländischen Filme oder der frischen Illustrierten) rasch über Ersatzwege – z.B. über einzelne personelle Träger – verbreiten kann. Denn sie passt sich der Struktur der Wahrnehmung ihrer potentiellen »Opfer« an, sie ist auf Erkennbarkeit, Imitation, Visualität und Oberfläche ausgerichtet. Auch andere Verliebte in Aksenovs Werken ahmen Stars nach oder verfallen dem Reiz der Starimitatorinnen. Dima in »Zvezdnyj Bilet« sieht in seiner Geliebten Galja die französische Schauspielerin Brigitte Bardot und die argentinische Sängerin und Schauspielerin Lolita Torres zugleich.16 Samson Sabler in »Ožog« (»Gebrannt«, 14 | Im russischen Originaltext: »Die Maschine hatte eine andere Besatzung. Die Stewardessen waren ebenso jung und schön wie Tanja, aber sie waren nicht die ersten. Diese Rasse stammte von Tanja ab, sie waren sozusagen die Massenproduktion« – »Там был другой экипаж. Там были девушки, такие же юные, такие же красивые, похожие на Таню, но все они не были первыми, это после нее пошла вся эта порода, серийное производство, так сказать« (ebd.: 166). 15 | »Эка невидаль – модерная девчонка. В Москве таких миллион« (ebd.: 164). 16 | Lolita Torres war in der Sowjetunion durch den Film La edad del amor (1954. im sowjetischen Verleih 1955) bekannt und durch mehrere Gastspiele in den 1960er und 1970er Jahren.
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1975) verliebt sich in eine Studentin, die mit ihrem Aussehen und Auftreten die französische Schauspielerin Marina Vladi imitiert.17 Sie prophezeit Sabler einen abwechslungsreichen Liebesweg, wobei alle seine künftigen Geliebten die Namen europäischer und amerikanischer Stars tragen: »Du hast noch so viel vor dir: meine Freundin Brigitte [Bardot; NB] und Claudia Cardinale und Sophie Loren, und die dicke Anita und die intellektuelle Monika [Monica Vitti; NB]« (Aksenov 1983: 45).18 Außer aktuell modischen Details ist es die besondere Authentizität des Erzählens, die die Junge Prosa auszeichnet: »[T]he new style of writing stressed authenticity and immediacy as it spoke directly to the reader« (Slobin 1987: 54, vgl. zu Authentizität der Jungen Prosa auch Brown 1973, Holthusen 1968). Der Eindruck, bei der Lektüre direkt angesprochen zu sein, die Empfindung, der Roman sei in einer Sprache verfasst, »die wir sprechen«, und beschreibe »einfach unser Leben«, ist ein Effekt des innovativen literarischen Schreibens, das die narrative Form der Vorgängerliteratur sprengt. Fragmentierung des Textes, Parzellierung der Beobachtungsperspektive und Montage als Kompositionsprinzip praktiziert Anatolij Gladilin in »Chronika vremen Viktora Podgurskogo«, auf Sprachcollagen und graphische Elemente wie etwa strofoid19 greift Vasilij Aksenov in »Zvezdnyj bilet« und in seiner späteren Prosa zurück. So fügt auch Anatolij Gladilin in »Chronika vremen Viktora Podgurskogo« einzelne Gedanken, Beobachtungen, Erlebnisse seines Helden zu einer Collage zusammen. Aus der auktorialen Perspektive geschriebene Abschnitte werden mit personellen Erzählperspektiven kombiniert, das sechste Kapitel z.B. besteht nur aus tagebuchartigen Textpassagen bzw. graphisch – mit Text-
17 | Marina Vladi ist in der Sowjetunion zuerst durch den Film La Sorcière (1956) bekannt geworden. In den späten 1960ern spielte sie auch in einigen sowjetischen Filmen mit. Sie war mit dem sowjetischen Sänger und Schauspieler Vladimir Vysockij verheiratet. Ende der 1950er und Anfang der 60er beeinflusste sie mit ihrer Hauptrolle (Ina) in La Sorcière die sowjetische Mode (vor allem durch ihre Frisur mit langem glattem Haar und dichtem Pony). 18 | »У тебя еще столько единственных впереди: и моя подружка Брижит, и Клавка Кардинале, и Сонька Лорен, и толстуха Анита, и Моникаинтеллектуалка, и Джулия-недотрога« (Aksenov 1980a: 39). 19 | Das sind versartige und graphisch abgesetzte Textabschnitte, zu diesem Textelement vgl. Mart’janova 2002: 20-37, Gasparov 1989: 425.
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einzug und Zitierklammer – abgesetzten Fragmenten der inneren Monologe des Protagonisten. Das Erlebnis Liebe wird in Gladilins Text polyperspektivisch dargestellt. Und dies nicht nur, weil der verliebte Viktor durch Selbstironie eine Distanz zu seinem liebenden Ich aufbaut, sondern – und vor allem – weil der Text ständig die Beobachtungsperspektive ändert. Ein solches polyperspektivisches Erzählen verzichtet weitgehend auf lineare Handlung (Liebe ist hier im Sinne von Roland Barthes »kein Roman«). Die Handlung retardiert – sie konzentriert sich nicht auf Vorkommnisse oder Situationswechsel, sondern auf Empfindungen, Ängste, Gefühle und Emotionen. Die Verlangsamung des Erzählens und seine Nichtereignishaftigkeit erzeugen einen Verdichtungseffekt: Obwohl die erzählte Zeit nur einige Monate umschließt (von Ende August 1953 bis zum Winteranfang desselben Jahres), scheint der Held ein ganzes Leben gelebt zu haben. Denn die wenigen Ereignisse dieser Monate werden ausschließlich durch das Prisma seiner Gefühlswelt gezeigt. Der Autor dieses Textes, Anatolij Gladilin, sucht offensichtlich nach neuen Modellen der Liebe und zugleich nach neuen Beschreibungsmodi für dieses Gefühl. Die Liebe, die er mit seiner zwischen verschiedenen Beobachtungsstandpunkten oszillierenden Beschreibung herstellt, oszilliert ebenfalls: einerseits zwischen verschiedenen Punkten der Gefühlsachse, zwischen Begeisterung und Verzweiflung, zwischen Liebe und Hass, zwischen Akzeptanz des eigenen Selbst und Selbstverachtung. Andererseits oszilliert sie auch in der Wahrnehmung des liebenden Helden, der ständig eine Distanz zu seiner Liebe aufbaut, um diese sogleich aufzugeben: Er lebt seine Liebe und reflektiert sie zugleich, er beobachtet sich selbst mit abstrahierender Selbstironie und löst sich in seinem Erlebnis auf. Die Perspektive seiner Selbstwahrnehmung verändert sich wie im Objektiv einer Kamera vom extremen Close-up zur objektivierenden Totale. Diese Filmizität der Selbst- und Fremdbeobachtung schlägt sich wiederum im Text nieder, der die visuellen Effekte des Films zu nutzen scheint. So erkennt der auktoriale Erzähler seinen Helden nicht, wenn dieser durch einen dunklen Hof schreitet. Dem Leser wird er als »irgendein Mann« (čelovek) präsentiert. Seine Bewegungen werden so beschrieben, dass man an eine Filmsequenz denken muss, in der der Zuschauer wegen der Dunkelheit des Bildes oder zu großer Distanz zum Dargestellten das Gesicht der sich auf dem Bildschirm bewegenden Person nicht sehen und diese nicht identifizieren kann (»čelovek sdelal neskol’ko šagov. On prošel
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vglub’ dvora i podnjal golovu« – »Der Mensch machte einige Schritte […]. Er trat in die Mitte des Hofes und hob den Kopf« usw.; Übersetzung NB).20 Erst in der hellen Wohnung wird Gladilins Held »sichtbar«, er wird »erkannt« und bekommt seinen Namen zurück. Diese Beschreibung imitiert nicht nur die filmische Beobachtungsperspektive, sondern auch die Formsprache des Films. Denn sie montiert die Episode im Hof mit der Episode in der Wohnung mit einem für den Film typischen Schnitt. Mit der Retardierung der Handlung retardiert auch die Liebe.21 Die ereignis- und sujethafte kausale Entwicklung der Liebe – von der Bekanntschaft zur Beziehung oder sogar zur Ehe – spielt eher eine untergeordnete Rolle. Die Liebe flieht vor einer Institutionalisierung oder – wie in Aksenovs »Kollegi« – stellt die Ehe in den Hintergrund. Wichtiger ist das Erlebnis in seiner Spontaneität und Gegenwärtigkeit, nicht seine Folgen. Eine solche Liebe ist unbegründet und nicht teleologisch. Gerade weil sie sich nicht mit den besonderen Eigenschaften des geliebten Objekts begründen lässt – die Geliebte ist einfach schön und modisch gekleidet, wie auch viele andere Mädchen –, ist die Liebe so fragil und unbeständig. Immerhin können viele jungen Frauen Glockenblumenröcke und Stöckelschuhe tragen und damit den Kriterien (jung, hübsch, modisch) entsprechen, welche eine Frau als Liebesobjekt erkennen lassen. Aus dieser unscharfen Definition des Liebesobjekts kann eine Mehrung der Liebesobjekte resultieren. Eine solche Doppelung des Liebesobjekts und Schwächung des Bezugs zur eigentlichen Geliebten erleben Saša Zelenin in »Kollegi« (Dascha und Inna) und Valerij in »Na polputi k lune« (Stewardess Tanja und ihre Moskauer Nachahmerinnen). Der Gefahr der schnellen Abkühlung ausgesetzt, kennt die neue urbane Liebe nur die Gegenwart, muss hier und jetzt stattfinden und hat zumeist keine Zukunft oder ist für diese nicht geeignet und daran nicht interessiert. 20 | S. http://publ.lib.ru/ARCHIVES/G/GLADILIN_Antoliy_Tihonovich/Hronika_ vremen_Viktora_Podgurskogo, nach der Ausgabe Gladilin 1961. 21 | Retardierung von Sujet und Handlung zeichnet nach Per Dalgård auch die Prosa von Vasilij Aksenov aus (Dalgård 1986: 71-74). Ein weiteres Beispiel und zugleich eine Zuspitzung der retardierenden Beschreibung der Liebe ist Valerij Popovs Erzählung »Juvobl’« (»Liebe«, 1969), die das Gefühl der Liebe gerade dadurch fassbar macht, dass sie es nicht beschreibt. Es finden keine Ereignisse statt, die auf die Liebe hindeuten würden, das Gefühl wird als solches nicht besprochen: Das Liebesgefühl braucht seine Präsenz nicht zu beweisen.
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Die anderen Medien wie Film, Werbung, Presse sind in den Liebessujets der Jungen Prosa ständig präsent. Sie sind nicht nur Attribute ihrer Helden, sie initiieren nicht nur die Liebe selbst, sondern sie beeinflussen auch die Darstellung, die Erzählweise, die Sprache, in der man über die Liebe spricht. Ein Beispiel dafür ist Aksenovs »Zvezdnyj bilet«, ein Roman über das jugendliche Liebespaar Dima und Galja, die zusammen mit zwei anderen Freunden von ihren Familien in Moskau nach Tallinn fliehen und einen unvergesslichen Sommer erleben. Nachdem Galja, die Schauspielerin werden will, mit einem Filmregisseur fremdgeht, trennt sich das Paar. Kurz danach vereinigen sie sich wieder, und die Szene dieses Wiedersehens wird in einer für Drehbücher charakteristischen Manier beschrieben. Die Deskription hat drei Ebenen: Sie konzentriert sich auf Visualität und Proxemik (beschreibt Bewegungen der Personen im Raum und ihr Aussehen), markiert die auditiven Zeichen (Repliken und Dialoge) und in den Anmerkungen wird die Qualität der auditiven Zeichen angegeben (z.B. »lomkij, vysokij golos«). Der Text imitiert somit eine Vorlage, die auf Vertonung und Visualisierung zugeschnitten ist. Die Textpassage ist zwar in der Ichform geschrieben, gibt jedoch die Handlungen des Ich-Erzählers distanziert wieder, so dass das sprechende Ich sich in zwei Rollen spaltet – in ein erlebendes und handelndes und in ein beobachtendes Ich, in Schauspieler und Zuschauer zugleich: »Ich gehe ins Wohnheim. Klopfe an. ›Herein!‹ Eine hohe gebrochene Stimme, die klingt, als sei sie in Tränen erstickt. Galja steht am Fenster. In Hosen und einer weißen gestärkten Bluse. […] Galja hat die Haare entsprechend zurechtgemacht und die Lippen geschminkt. […] ›Setz dich, Dima.‹ Ich setze mich.[…] ›Dima, ich verstehe, daß du mir nicht verzeihen kannst. Ich habe in den Schmutz getreten, was zwischen uns war. […] Du hast recht, wenn du mich verachtest, und die Jungs haben auch recht. Aber sag mir, darf ich hoffen, dass du mir einmal verzeihen wirst? […]‹
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Ich stehe auf und mache eine tragische Geste. ›Nein!‹ brülle ich streng. ›Nein, du darfst nicht hoffen! Du hast in den Schmutz getreten! Du Unglückselige! Alles ist zerbrochen! Was zerbrochen ist, lässt sich nicht mehr zusammenfügen! Ha, ha, ha!‹ Und ich gehe zur Tür. Sie schaut auf mich wie im Film. Arbeitet mit den Äugelchen, das dumme Luder.« (Aksenov 1962: 202f.) 22
Die Filmizität der beschriebenen Szene wird durch Verweise auf die Künstlichkeit der Situation und der Dialoge hervorgehoben. Galjas Aussehen ist kinematographisch – toupierte Frisur à la Brigitte Bardot (»die Haare entsprechend zurechtgemacht« – im Original: »kunstvoll zerzaust«; Übersetzung NB)23 sowie auffälliges Make-up (»die Lippen [stark] geschminkt«)24 . Ihre Repliken sind auswendig gelernt (»plappert sie wie einstudiert«)25 , Gesten und Blicke lassen ans Kino denken (»schaut […] wie im Film«)26. Die Antworten des Protagonisten wirken parodierend, sie spitzen die melodramatischen, gekünstelten Elemente im Dialog zu und verweisen auf 22 | »Я прихожу в общежитие. Стучусь. ›Войдите!‹ Высокий ломкий голос, в нем словно слезы. Галя стоит у окна. Она в брюках и в белой накрахмаленной блузке. […] Галя причесана (волосы соответствующим образом спутаны), губы намазаны. ›Садись, Дима.‹ Сажусь. […] ›Дима, я понимаю, что ты не можешь меня простить. Я втоптала в грязь то, что у нас было. […] Ты прав, что презираешь меня, и ребята правы, но скажи: могу ли я надеяться, что когда-то ты меня простишь? […]‹ Я встаю и делаю трагический жест. ›Нет!‹ – сурово ору я. – ›Нет, ты не можешь надеяться. Ты втоптала в грязь! О несчастная! Все разбито! Разбитого не склеишь! Ха! Ха! Ха!‹ – И иду к двери. […] Смотрит на меня совершенно кинематографически. Глазками работает, дурища.« (Aksenov 1987: 332f.). 23 | »волосы соответствующим образом спутаны« (ebd.). 24 | »губы намазаны« (ebd.). 25 | »тараторит как заученное« (ebd.). 26 | »cмотрит кинематографически« (ebd.).
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ihre Quelle – das Unterhaltungskino. Nichtsdestotrotz kommen die jungen Helden Galja und Dima wieder zusammen. Der Text folgt in seinem Aufbau einem neuen Wahrnehmungsimperativ – der Dominanz der audiovisuellen Wahrnehmung über die graphischverbale. Die Erfahrung der neuen visuellen Medien verändert den literarischen Text, sie dynamisiert die literarische Deskription und eröffnet den Gebrauch verschiedener Perspektiven des Erzählens und der Darstellung. »Die totale Sichtbarkeit des Kinos« (Mart’janova 2002: 41) verstärkt das Bedürfnis, die Helden und die Handlung zu zeigen, nicht zu erklären. Die literarische Liebe büßt somit an analytischer Tiefe ein, das Herz der Liebenden wird im Text nicht mehr »seziert«, um nach Beweggründen, Motiven, Intensität usw. zu forschen. Die Beschreibung entfaltet sich entlang der (sichtbaren) Oberflächen – der Oberflächen des Gesichts, des Körpers, der Kleidung oder der Bewegungen, die in dem durch die Erfahrung des Films und des Fernsehens abgeflachten Raum stattfinden. Der Akzent in der Liebesbeschreibung fällt auf das Visuelle: Das Auge wird wichtiger als das Herz, die Oberfläche bedeutender als die Tiefen der Seele. Diese Oberflächen der Beobachtung werden minutiös nach jedem sinnhaften Detail abgesucht. Die Sprache der Liebe weicht von graphischverbalen auf die visuellen Zeichen aus und entwirft im Rahmen dieses von visuellen Medien induzierten Signalsystems ein neues komplexes Idiom der Liebe – denn die Konzentration auf die Oberfläche ist keinesfalls eine Simplifizierung der neuen Liebe. Sie ist lediglich die Konzession, welche die Literatur der veränderten Wahrnehmung der Schreibenden und der Lesenden zahlen muss. So scheint es, dass der unmittelbare Erfolg der Jungen Prosa mehrere Voraussetzungen hat. Er ist ihrem die Schranken des literarischen Kanons sprengenden Impetus und ihren neuen literarischen und sprachlichen Formen zuzuschreiben und zugleich dem Umstand, dass diese Literatur den Anschluss an die neue Massenkultur findet und zu einem wichtigen Translationsmedium neuer Trends wird. Der Selbstvergleich mit und die Übernahme der Art, wie man sich kleidet, wie man liebt, leidet und hofft und wie man »im Regen spazieren« geht, kann sich unproblematisch vollziehen. Im Erscheinungsbild des verliebten literarischen Helden ist es wichtig, die Unmittelbarkeit seiner zeitlichen Präsenz, seine Zugehörigkeit zur urbanen Kultur sowie seine konkrete historische Zeit – das »Heute« – zu markieren und ihn der mythopoetischen Unendlichkeit der klassischen
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sozialistisch-realistischen Literatur sowie ihrem festen Deutungsrahmen zu entreißen. Nicht nur in den Einzelheiten der modischen Details, sondern auch in der peniblen Beschreibung der realen Umstände äußert sich dieser Drang, dem literarischen Text den Ausdruck einer unmittelbaren Aktualität, eines »Heute-hergestellt« zu verleihen. Anatolij Gladilin gibt für seine »Chronika vremen Vitkora Podgurskogo« z.B. die genaue Zeit an – das Jahr 1953, in dem viele Abiturienten von den Hochschulen nicht aufgenommen werden konnten. Auf ihre Einberufung wartend, wurden sie zu nichtstuenden Bummlern und gründeten die neue Kultur der Flaneure. Dieses halbe Jahr der Muse – das der Autor laut seiner autobiographischen Schriften auch selbst erlebt hat – wird zur Geburtsstunde der neuen Liebe, die nicht mehr der Intensivierung des Arbeitseinsatzes dienen, sondern die Freizeit der jungen Großstädter füllen muss. Die jungen Städter, die die Literatur der Jungen Prosa schreiben und an die sich diese Literatur wendet, pflegen einen Freundschafts- und Liebeskult, fluktuieren in kleinen intimen Gruppen im großstädtischen Raum, vertreiben ihre Zeit mit Sport und Hobbys und verlieben sich unsterblich. Sie präsentieren sich als eine Art der empfindsamen Gemeinschaft, als Menschen des Gefühls, nicht etwa der Pflicht. Nicht umsonst werden der Zweifler, der Taugenichts oder der Straßenrowdy – und später in den 1970er Jahren der Loser oder der empfindsame Alkoholiker – zu neuen Helden, wird der erfolgreiche Pragmatiker zum neuen Feind der sich herauskristallisierenden literarischen Kultur der Großstädte.27
S PRECHEN UND LIEBEN Die Junge Prosa entwickelt einen besonderen Bezug zur Sprache und startet zugleich mehrere poetische und prosaische Experimente. Schriftsteller dieser Richtung erweitern die Grenzen der literarischen Sprache und verstoßen gegen die literarische Konvention, indem sie die Tür für die gesprochene Sprache öffnen und verschiedene Sprachstile aufeinanderstoßen 27 | Diesen Trend führt der Tauwetterfilm von Marlen Chuciev Ijul’skij dožd‹ (Juliregen, 1968) besonders gut vor Augen, denn der Liebeskonflikt in diesem Film organisiert sich gerade um die Wahl zwischen einem recht netten und intellektuellen Pragmatiker und einem nicht näher definierten jungen Flaneur. Natürlich entscheidet sich die empfindsame Heldin für den Flaneur.
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lassen. Die Veränderung im Code der Liebe geht Hand in Hand mit der Entfesselung der Sprache. Vasilij Aksenovs Texte führen mit besonderer Eindringlichkeit diesen doppelten Zusammenhang vor Augen. So ist sein Roman »Zvezdnyj bilet« einer der frühesten Texte, die programmatisch an dem Entwurf des neuen Idioms arbeiten, das in der »Zatovarennaja bočkotara« (»Defizitposten Fassleergut« 1968) und in den zuerst im Ausland publizierten Romanen wie »Zolotaja naša železka« (»Unser goldenes Eisen« 1973), »Ožog«, »Ostrov Krym« (»Insel Krym« 1977/79) weiterentwickelt wird. Zugleich bietet dieser frühe Text eine neue Sicht auf die Liebe, indem er bisher unangesprochene Themen wie Sexualität oder Untreue behandelt und auf Gepflogenheiten des konventionellen Liebessujets verzichtet. Aksenovs Roman hat z.B. – untypisch für einen Liebesroman – ein offenes Ende und konzentriert sich weniger auf die Geschichte einer Liebe mit klassischen Peripetien, als vielmehr auf die Geschichte der Reifung, der Individualisierung der beiden Liebenden, auf das Erlebnis der eigenen Autonomie und der Identität. Die sprachliche Komplexität von Aksenovs Werken wurde mehrfach analysiert. Efim Ėtkind analysiert z.B. 17 Zeilen aus der Anfangssequenz des Romans »Zolotaja naša železka« und stellt bereits in dieser kleinen Textpassage sieben stilistische Ebenen fest (Berufsjargon der Ingenieure, Sprache der Presse, Bürokratismen, Umgangssprache, mineralogische und entomologische Lexik, poetische Sprache). Es handelt sich dabei um die verschiedenen Stilelemente wie tatsächliches Zitat, stilistische Zitierung, fingiertes Zitat und Parodie. Der mehrschichtige Text lässt unterschiedlich tiefe Lesarten zu: mit oder ohne Verständnis von intertextuellen und stilistischen Verweisen (Ėtkind 1986).28 Analysiert man die Sprache in Aksenovs Roman »Zvednyj bilet«, stellt man fest, dass auch dieser – obwohl noch nicht so komplex wie seine späteren Texte – in einer sehr eigenwilligen Sprache geschrieben ist. Sie ist zwar noch nicht mystianic29 – rätselhaft, vielschichtig, spielerisch –, aber 28 | Vgl. auch die Analyse von Vishnevski und Pogacar, die versuchen Aksenovs Sprache nach der Funktion des Fremdwortes im Text zu klassifizieren (Vishnevski/ Pogacar 1986). 29 | Mystianic prose ist die englische Übersetzung von »tianstvennaja proza«, Efim Ėtkinds Bezeichnung für Prosa von Vasilij Aksenov. Die Bezeichnung geht auf ein Zitat aus Aksenovs »Zolotaja naša železka« zurück, Epitheton ornans ei-
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bereits stilistisch gebrochen und collagiert. Die Grundelemente dieser Sprachcollage bilden die Umgangsprache, der Slang, parodistische Imitationen der Lingua sovetica und der literarischen Sprache sowie fremdsprachige – »kapitalistische« – Entlehnungen, vor allem Anglizismen. Kon’ moj doma30, hata est’ 31, razogni32, blesk33 – Slangwörter schmücken die Sprache der jugendlichen Helden dieser Erzählung. Wenn die Slangelemente als textuelle Marker für bestimmte Charaktere gebraucht werden, so sind die umgangssprachlichen Redewendungen im Text – wie z.B. umgangssprachliche Schimpfwörter (psih – Verrückter), umgangssprachliche Abkürzungen (mil’t – für milicioner, Polizist) oder umgangssprachliche Euphemismen (čisten’kaja – reine, für Sprudelwasser ohne Beigabe von Sirup) – nicht zur Markierung eingesetzt. Sie bestimmen den Tonfall des Textes, setzen den Text auf eine Augenhöhe mit dem Leser, sprechen ihn in seiner – zeitgebundenen – Sprache an, ähnlich wie die in den Text gestreuten Anglizismen – Dandy, Sir, Goodbye –, die eine neue Sprachpraxis, das Interesse am Westen, Imitationen der westlichen Mode und des Lebensstils, also eine Art sowjetischen Dandyismus wiedergeben. Parodien der literarischen Sprache und der Lingua sovetica funktionieren dagegen in einem komplexeren kommunikativen Rahmen. Die parodistischen Sowjetismen im Text imitieren nicht nur den Wortgebrauch, sondern auch die schwerfällige Syntax und die oft fehlerhafte Grammatik der offiziösen Volkstribüne. Die ironische Wirkung solcher Textpassagen wird hauptsächlich dadurch hervorgebracht, dass die Floskel der offiziellen Rhetorik in einer kommunikativen Situation und zur Beschreibung von ner der Romanheldinnen – das seinerseits auf das Tianagedicht von Igor’ Severjanin zurückgeht und zugleich ein Anagramm des Wortes »tajna«, »tainstvennaja« (Geheimnis, geheimnisvoll) ist. In Ėtkinds Analyse bezieht sich das Attribut »tianstvennaja« oder übersetzt »mystianic« auf eine Schreibweise, die in einer Art Palimpsesttechnik verschiedenartige Sprachstile übereinanderschichtet und dem Leser ein analytisches Rätselspiel anbietet. 30 | Wörtlich übersetzt mit »Mein Pferd ist zu Hause« bedeutet es soviel wie »Mein Vater ist zu Hause«. 31 | Wörtlich übersetzt mit »Die Hütte ist frei« bedeutet es soviel wie »Es steht eine Wohnung/ein Zimmer zur Verfügung«. 32 | Imperativ von razognut’ – auseinanderbiegen, hier in der Bedeutung von »lüge nicht«, als Antonym von zagibat’ – lügen, Geschichten erzählen. 33 | (wörtlich: Glanz) steht für »sehr gut«, »super«.
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Ereignissen angewandt wird, die weit außerhalb der Politik oder Ideologie liegen. »Die sowjetischen Gelehrten können ungestört arbeiten, brauchen sich ums Essen keine Sorgen zu machen. Darin liegt das Geheimnis unserer Erfolge. Ich garantiere euch kalorienreiche Nahrung, werte Genossen, ich, ein bescheidener Arbeiter am Kochtopf!« (Aksenov 1962: 11)34 . Diese kurze pathetische Rede bedeutet lediglich, dass der Protagonist für seinen wissenschaftlich tätigen Bruder Abendessen zubereiten muss. Imitiert wird hier das übliche rhetorische Verfahren – die Aufwertung der »kleinen Taten« durch ihre Projektion auf das große gemeinsame Ziel. Die Logik und Rhetorik der Induktion, die totale Bedeutungshaftigkeit der sowjetischen Welt (jede kleine Handlung verweist auf sakrale Grundsätze) wird hier ad absurdum geführt. Die Bedeutungslosigkeit von sowjetischen Epitheta ornantia und anderen typischen Floskeln (sovetskie učenye, skromnyj rabotnik, obespečit’, sekret našich uspechov) wird durch ihre Projektion auf die »profane« Situation der Essenszubereitung aufgedeckt. Die Redewendung skromnyj rabotnik kastrjuli (»bescheidener Arbeiter am Kochtopf«) parodiert z.B. die ausgefallenen Tropen der Lingua sovetica wie etwa rabotnik pera (»Arbeiter der Feder« für Schriftsteller) oder rabotnik prilavka (»Arbeiter am Ladentisch« für Verkäufer) und baut auf dem Schema »bescheidener Arbeiter« und der metonymischen Bezeichnung seines Berufs auf. Die Metonymie Kochtopf für Koch ist jedoch in der sowjetischen Sprache nicht eingebürgert und wirkt lächerlich. Ähnlich verfährt der Autor mit literarischen Zitaten. Sie werden ebenfalls mit profaner Rede kontrastiert, wie z.B. im folgenden Textabschnitt, in dem ein Shakespeare’sches Zitat auf den Slang der 1960er Jahre trifft: »›Du schlechter Zahn, du!‹ fauchte er und stürzte sich auf Galja. Hast du zur Nacht gebetet, Desdemona?‹ keuchte er heiser« (ebd.: 82).35 Eine weitere Möglichkeit bieten Parodien wie etwa: »Učenym možeš ty ne byt’, no
34 | »Советские ученые могут спокойно работать, не беспокоясь насчет еды. Вот в чем секрет наших успехов. Я обеспечу Вам калорийную пищу, дорогие товарищи, я, скромный работник кастрюли!« (Aksenov 1987: 188). 35 | »›Ах ты, подлая чувиха!‹ – заорал я на Галку. Хрипло ворча: ›Молилась ли ты на ночь, Дездемона?‹« (ebd.: 242). Offensichtlich geht dieses Zitat auf die erfolgreiche sowejtische Othelloverfilmung (1955) zurück.
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kandidatom byt’ objazan« (Aksenov 1987: 189).36 »Aksenov uses lanquage to create a context in which the accepted social values are turned upsidedown in a bloodless revolution« (Slobin 1987: 57) – die friedliche Revolution der Worte wendet sich aber nicht nur gegen die offizielle Rhetorik, sondern auch gegen die offiziell akzeptierte populäre Kultur und den klassischen literarischen Kanon, wobei nicht nur der sozialistisch vereinnahmte Nekrasov dieser sprachlichen Wende zum Opfer fällt. Dabei wird das Objekt der Kritik oft künstlich erschaffen. Wenn Aksenov z.B. die Darstellungstechnik der sowjetischen Liebe parodiert, nimmt er kein konkretes Beispiel, sondern konstruiert ein »Zitat«: »Da wird ein Wasserkraftwerk gebaut, und plötzlich sagt Er: ›Ich liebe dich‹, und Sie schreit: ›Laß das sein!‹ oder ›Hast du dir auch alles gut überlegt?‹ Und dann laufen sie den Uferweg entlang und versuchen sich zu küssen. Oder sie sitzen oberhalb des Kraftwerks am Ufer, während Chor und Orchester der Hauptverwaltung für die Filmproduktion unter der Leitung des Dirigenten Hamburg in den Weiten über den Wolken unverdrossen drauflosspielen. Plötzlich erstarrt der Saal: Er zieht seine Jacke aus und legt sie seiner Geliebten um die Schulter« (Aksenov 1962: 84f.). 37
Als Erkennungskriterien für dieses Konstrukt dienen sowjetische Liebestopoi (etwa: Wasserkraftwerk, das Überwerfen von einer Jacke, Küsse am Uferweg),38 sprachlicher und ästhetischer Minimalismus (dargestellt z.B. 36 | Vgl. »поэтом можешь ты не быть, но гражданином быть обязан« Du musst kein Dichter sein, aber ein Staatsbürger«, Nekrasov »Poet i graždanin« (1855, »Dichter und Staatsbürger«). Die Parodie in »Zvezdnyj bilet« bewahrt die syntaktische Struktur und den Rhythmus des Originalzitats. In der dt. Übersetzung geht das Sprachspiel verloren: »Zum Gelehrten wirst du es nicht bringen, aber den Kandidaten mußt du machen!« (Aksenov 1962: 11f). 37 | »Люди строят гидростанцию и вдруг Он говорит: ›Я люблю‹, а она кричит: ›Не надо!‹ или ›А ты хорошо все обдумал?‹. А потом они бегают по набережной и пытаются поцеловаться. Или сидят на берегу, над гидростанцией, а сводный хор и оркестр главного управления по производству фильмов (дирижер – Гамбург) наяривают в заоблачных далях. И вот зал цепенеет: Он снимает с себя пиджак и накидывает его на плечи любимой. Наплыв.« (Aksenov 1987: 244). 38 | Die beiden letzten Elemente sind in den Filmen Letjat zuravli und Ispytanie vernosti zu sehen.
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durch Ellipsen: ja ljublju -»ich liebe« statt ja ljublju tebja – »ich liebe dich«. Weitere Merkmale dieses fingierten sowjetischen Stils sind formelhafte Wiederholungen und Hinweise auf Metaebenen der sowjetischen Liebe (Liebe zur Macht bzw. ihre Substitute wie etwa die Liebe zum Wasserkraftwerk). Strukturell gleicht diese parodistische Darstellung der Liebe Aksenovs sprachlichen Parodien. Das Objekt des Parodierens wird durch eine zwar fingierte, aber erkennbare Form dargestellt (stilistisches Zitat) und aus seinem »natürlichen« kommunikativen Rahmen herausgerissen: Denn jenseits der Leinwand ist so ein »Liebesbetragen« nicht möglich, weil es z.B. in der »Realität« des Protagonisten weder ein Wasserkraftwerk noch einen Uferweg oder eine Jacke gibt. Auch scheint es ihm nicht schicklich, seine als einmalig empfundene Liebe durch stereotype Handlungen zum Ausdruck zu bringen. Durch das Aufzeigen von Klischees wird die aus der neuen Beobachtungsperspektive spürbare Absurdität der sowjetischen »Liebe« aufgedeckt, ähnlich wie im Kochzitat die Absurdität der sozialistischen Planerfüllungsrhetorik aufgedeckt wird. Die neue Liebe dagegen ist durch das Fehlen einer vordefinierten Form und einer festen Bedeutung gekennzeichnet. Der verliebte Held, der auf Anhieb ein parodistisches Bild der konventionellen sowjetischen Liebe entwerfen kann, ist nicht imstande, seine eigene Empfindung in Worte zu fassen. »Liebe ist … Liebe ist …« (ebd.: 85)39 – der Satz bleibt unvollendet, wie auch die Liebe von Aksenovs Helden immer in progress bleiben muss, auf der Suche nach sich selbst und auf der Suche nach einer Form. Charakterisiert wird die neue Liebe hauptsächlich durch die Wahrnehmungsveränderung – die von der Liebe betroffenen Personen empfinden und reagieren inadäquat. Gerade die unangemessene Reaktion, die nicht logische Sprache, die von Pragmatismus befreite Handlung sind Zeichen, die den Bruch zwischen dem »normalen« Verhalten und dem »abnormalen« Zustand der Liebe markieren.40 Eine verbale Zurückweisung kann mit einer gestischen Bestätigung parallel laufen: »›Dummerjan!‹ sagte sie und legte die Arme um seinen Hals« (ebd. 86).41 Galjas Interrogativ, das 39 | »Любовь – это … Любовь – это …« (ebd.). 40 | Vgl. hierzu das Unterkapitel »Sprache. Vom Phänomen zur Struktur« im ersten Kapitel und darin Barthes’ Explikationen zur »Distanz« zwischen der normalen Sprache und der Sprache der Liebe, die den Affekt (die Liebe) sichtbar macht. 41 | »›Дурак!‹ – сказала она и обняла его за шею« (ebd.: 245).
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die Liebeskommunikation in dieser Handlungssequenz eröffnet, bezieht sich z.B. auf keine vorhergehende Replik und erfordert keine Antwort, seine Wiederholung ist überflüssig: »›Was?!‹ schrie Galja. ›Was, was, was!?‹« (ebd.),42 und weiter: »Sie hob Gesicht und Hände und taumelte.« (Ebd.).43 Das Empfinden des männlichen Protagonisten zeigt ebenfalls Anzeichen einer veränderten Wahrnehmung, die unter anderem die Veränderung des Farbensehens einschließt: »Alles fort. Nur Galja ist da. Sie naht mit dunklem Gesicht und einer Krone auf dem [hellblauen; so im Original, NB] Kopf.« (ebd.: 80).44 Die Wahrnehmungsveränderung schließt das Bewusstsein des Protagonisten und der Protagonistin ein, so dass sie in einer Welt für sich existieren und die Zeichen der Außenwelt verzerrt wahrnehmen. Nicht nur die Protagonistin dreht sich wie im Tanz (in deutscher Übersetzung »taumelt« sie), sondern auch die sie umgebende Natur dreht sich um sie herum: »Sie taumelte und kreiste, und die Farne kreisten und schlangen sich um ihre Füße« (Übersetzung NB).45 Die Liebe gleicht in einer solchen Darstellung einem Schwindelgefühl, wobei die kreisende Bewegung für die Darstellung des Zustands der Verliebtheit sowohl in der Literatur als auch im Film topisch ist. Die von Aksenov so kritisierte sozialistisch-realistische Filmästhetik hat sie sich bereits zunutze gemacht, wenn sie in den Situationen erwiderter Liebe das glückliche Paar Walzer tanzen ließ (vgl. Ispytanie vernosti). Die neue Filmästhetik der Tauwetterzeit hat nicht mehr die Schauspieler, sondern die Kamera schwindeln lassen, um somit Momente des Liebesglückes, erotischer Leidenschaft oder anderer starker Empfindungen zu markieren.46 42 | »‹Что?!‹ – закричала Галя. – ›Что, что, что?!‹« (ebd.). 43 | »Она подняла лицо и руки вверх и закружилась« (ebd.). 44 | »Все. Идет Галя. С короной на голубой голове. С темным лицом« (ebd.: 240) 45 | »Она кружилась, а папоротники закручивались вокруг ее ног« (ebd.: 245). Vgl. die dt. Übersetzung: »Sie hob Gesicht und Hände und taumelte. Der Farn schlang sich um ihre Füße« (Aksenov 1962: 86). 46 | So macht die Filmkamera eine mehrfache Achsendrehung, wenn sie die Verliebten Boris und Veronika im Aufgang von Veronikas Haus beobachtet (Letjat žuravli, 1956). Durch Achsendrehungen der Kamera macht Sergej Paradžanov in Teni zabytych predkov (dt. VT. Schatten vergessener Ahnen, 1964 – Abschnitt »Fest«) das Glücksgefühl einer kommenden Liebe kenntlich.
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Mit Herz und Auge. Liebe im sowjetischen Film und in der Literatur
Eine »Achsendrehung« imitiert auch Aksenovs Text, sowohl deskriptiv, indem er die kreiselnden Bewegungen des Liebespaares beschreibt, als auch narrativ, indem er iterative Strukturen oder rhythmisierte Abschnitte einschließt. Die gegenseitige Liebeserklärung der Hauptfiguren Galja und Dima wird z.B. vierfach durch regelmäßige Abstände wiederholt und auch graphisch vom übrigen Text abgesetzt. Der Textabschnitt wird dadurch visuell rhythmisiert. Eine »Verwischung« der Sprecherperspektive erzielt die Nichtunterscheidung zwischen den Subjekten der Rede, der Dialog wird zum Monolog für zwei Stimmen: »›Liebst du mich?‹ – ›Ja.‹ – ›Du mich auch?‹ – ›Ja.‹ – ›Komm zu mir.‹ – ›Warte, da kommt jemand.‹ – ›Verdammt!‹« (ebd.: 86).47 Die sich wiederholende Phrase besteht aus mehreren nicht attribuierten Repliken, da es ohne Bedeutung ist, wer spricht. Die Verliebten teilen sowohl ihre Gefühle als auch ihren Text. Der darstellerische Trend liegt hier in der Performativität, in der unmittelbaren Hervorbringung des Effektes, über den man schreibt, im Text. Damit hängt auch zusammen, das der Text aus der Modalität des auktorialen Erzählens zur Ich-Perspektive übergehen kann, ohne dabei den Ich-Sprecher durch Verweise (er dachte, er träumte, er sagte usw.) zu lokalisieren. Der Bruch in der Erzählperspektive kann graphisch (z.B. als »Gedankenfetzen« des Protagonisten) und stilistisch (den »persönlichen« Sprachstil des literarischen Helden nachahmend) markiert oder wie im folgenden Beispiel durch den Zugriff auf eine andere literarische Gattung, durch den Übergang von einem prosaischen zu einem lyrischen Text dargestellt werden: »Афродита родилась из пены морской у острова Крит. А Галя? Неужто в роддоме Грауэрмана вблизи Арбата? В сущности, Афродита – довольно толстая женщина, я видел ее в музее. А Галя? Галя стройна как картинка общесоюзного дома моделей. 47 | »›Ты меня любишь?‹– ›Да.‹ – ›А ты меня? ’Ну, так иди ко мне.‹ – ›Подожди, кто-то идет.‹ – ›Проклятие!‹« (Aksenov 1987: 245). Man wird durch diesen Monodialog an Barthes Definition der Liebeserklärung erinnert. »Ich-liebe-dich« beschreibt Barthes als Holophrase (Wortsatz), eine zusammengesetzte, aber nicht trennbare semantische Einheit. Aksenov steigert dies noch zusätzlich, indem er nicht nur die Worte, sondern auch die Sprecher eins werden lässt.
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Что бы я сделал сейчас, если бы был греком? Древним, конечно, но юным и мощным, точно Геракл? О, Галя! Я бы схватил ее здесь на пустующем пляже. На мотоцикле промчался бы с ней через Таллин и Тарту. Снял бы глушитель, чтоб было похоже на гром колесницы. Я бы унес ее в горы, в храм Афродиты. Книгу любви мы прочли б там от корки до корки.« (Aksenov 1987: 240f.)48
Im zitierten Abschnitt (ein Beispiel von prosaischem strofoid) wird der prosaische Text durch Wiederholungen (Oh, Galja) und Imitation von antikisierender Rhythmik (quasi Hexameter) zunehmend lyrisch organisiert, so dass dem Leser nicht die Deskription, sondern die »pure Empfindung« der Liebe (ihre »Poesie«) in ihrer sichtbaren, wahrnehmbaren, (mit-)erlebbaren Form mitgeteilt wird. Denn wie die Liebe eine Verzerrung der »normalen« Wahrnehmung ist (vgl. Aksenovs Zitat oben), so ist die Sprache der Lyrik eine Verzerrung der »normalen« Sprache. Denn laut Barthes leben die Sprache der Liebe wie auch die dichterische Sprache von einer Distanz zur oder einer Überkodierung der Normsprache.
48 | Deutsche Übersetzung gibt zwar die graphische Form des Originals wieder, der Rhythmus geht aber verloren: »Die Aphrodite wurde bei Kreta aus dem Schaum des Meeres geboren. Und Galja? Etwa im Entbindungsheim von Grauermann in der Nähe des Arbat? Immerhin war Aphrodite eine ziemlich dicke Frau, ich habe sie im Museum gesehen. Und Galja? Sie ist schlank wie ein Fotomodell. Was hätte ich jetzt getan, wenn ich ein Grieche gewesen wäre? Ein alter Grieche, natürlich, aber jung und kraftvoll wie Herkules? O Galja! Ich würde sie hier auf dem verlassenen Strand rauben, auf dem Motorrad mit ihr durch Reval und Dorpat rasen, den Schalldämpfer ausbauen und dahindonnern wie ein Kampfwagen. In die Berge würde ich sie entführen, in den Tempel der Aphrodite, und dort mit ihr das Buch der Liebe lesen – von der ersten bis zur letzten Seite.« (Aksenov 1962: 80).
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In seiner Interpretation dieser Textpassage macht R. L. Busch vor allem auf die Kombination von alltäglichen und exotischen Details aufmerksam (Busch 1986: 58f.) – Arbatstraße, Grauermannklinik, Motorräder treffen auf Argonautenmythos und Aphroditekult, gewöhnliches Moskau auf exotisches Tallinn (Reval). Zugleich wird die Liebe in einer hoch literarischen und antiquierten Ausdrucksweise beschrieben, eine ultramoderne »Motorradliebe« wird in Hexametern vorgetragen. Aber nicht nur der Hang zur Exotik, sondern ein grundsätzlich anderer Umgang mit der eigenen Sprache und dem Liebesgefühl tut sich in dieser Passage kund. Denn einerseits funktioniert dieser Abschnitt als stilisierte Nachahmung von russischen Übersetzungen aus der antiken Literatur (etwa von Žukovskijs »Odysseus«-Übertragung). Andererseits wirkt er parodistisch – er schreibt die antiken Verse um, passt sie an die andere Situation an und zeigt die Verwandtschaft mit medial beeinflussten Sprachspielen, die in den 1960er Jahren sowohl in der Literatur als auch in der realen Sprachpraxis in Mode kommen. Diese Sprachspiele (ein Beispiel davon wurde hier bereits mit der Nekrasov-Parodie aufgeführt) sind eine Art kreatives Parasitieren auf dem Zitatenschatz der klassischen Literatur und hängen mit der veränderten Bildungssituation zusammen: mit der Etablierung eines verbindlichen Bildungskanons, der sich nicht nur in den höheren Bildungseinrichtungen, sondern auch in der Schule durchsetzt. In den 60er Jahren und noch stärker in den 70ern kommt auch der Film als populäre Zitatenquelle dazu. Die Existenz eines leicht zugänglichen und allgemein akzeptierten Kanons bildet die Grundlage für einen Soziolekt der Jungen und der Bessergebildeten – dieser wird besonders eindrucksvoll in Aksenovs »Zolotaja naša železka« vorgeführt (vgl. Kolesnikoff 1986). Diese kreativ-parasitäre Sprache ist das Idiom einer von Literatur und anderen Medien »infizierten« Generation, deren Wahrnehmung durch die Struktur dieser Medien geprägt ist49 Diese verschlüsselte, für nicht 49 | Man denkt in diesem Zusammenhang an auf Anhieb erfolgreiche Beispiele des sowjetischen Films und Fernsehens wie etwa an den Film Beloe solnce pustyni und an die Fernsehserie Semnadcat’ mgnovenij vesny, von denen nahezu jedes Wort in die Alltagssprache aufgenommen und beinahe jede Szene in Form von Witzen zu einem Teil der Folklore wurde. Auch Vasil’evs Čapaev (1935) sowie Komödien von Rjazanov, Gajdaj und Danelija haben ihren nicht geringen Beitrag zur Bereicherung der modernen russischen Sprache geleistet. Fetzen aus Romanen
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Eingeweihte unverständliche, zuweilen absurde »Vogelsprache« ist das Idiom der Trendbewussten, der pigeons (pižony), für die ihr sprachliches Erscheinen zum wichtigen Teil der persönlichen Selbststilisierung geworden ist.50 In diesem Verhalten äußert sich das Bewusstsein der eigenen Medienabhängigkeit, das Bewusstsein, dass die eigene Sprache eigentlich die Sprache der Medien ist.51 Das Ziel der Sprachspiele ist aber, diese ausgeliehene Sprache durch semantische Verschiebungen, Dekontextualisierung und ironische Brechungen zu etwas Eigenem zu machen, im gewissen Sinne zu autorisieren. Gerade diesen Sprachstil pflegt die Junge Prosa und erhebt die aus Slang, Zitaten und Soziolekten collagierte Sprache zum Kult. Diese Sprache kann Klischees originell erscheinen lassen, sie ist spontan, situativ und individuell. Somit eignet sie sich als Ausdrucksmittel der neuen Liebe, die ebenfalls keine Regelrhetorik akzeptiert, ebenfalls spontan, individuell und autonom ist. Ob die Junge Prosa dabei die Sprache realer Jugendlicher rekonstruiert und ihre »wahre« Liebe abbildet oder ob sie die Sprache, die Liebe und den Heldentypus, in denen sich die neue Generation der Sowjetmenschen erkennen will, erst etabliert, ist ohne Bedeutung. »It may not have been what the readers expected, but it was what they wanted« (Slobin 1987: 54) – in der Jungen Prosa treffen Autorintention und Lesererwartung aufeinander. Das Finden der eigenen Liebe hängt mit dem Finden der eigenen Sprache zusammen. Je reifer Aksenovs Protagonist Dima in seinen Gefühlen wird, desto öfter schaltet der Text in die Modalität des Ich-Erzählens. Mit dem Finden der eigenen Ausdrucksmöglichkeiten hängt die Liebeserfüllung in dem späteren Roman von Vasilij Aksenov »Ožog« zusammen. Dessen Helden äußern ihre Liebe in der ihnen jeweils geläufigen Sprache – Jazzmusiker Samson Sabler mit Saxophonsoli, Physiker Kunizer mit von Tolstoi und Černyševskij, Nekrasovs Gedichten, Pisarevs und Belinskijs Essays (alles Schulprogramm) wurden ebenfalls einer ironischen Dekontextualisierung unterworfen und sind in die Sprachpraxis eingegangen. Ein Zitatenjonglieren war für das Alltagsrussisch bis in die 1990er Jahre hinein charakteristisch. 50 | Über Aksenovs Nonsensesprache (ptičij jazyk) und seine Beziehung zu Sprachexperimenten in der russischen Avantgarde vgl. Ryan 2002. 51 | Sven Spieker spricht in diesem Kontext von der Sprache der Jungen Prosa als »a lanquage of simulation« (Spieker 1996: 36) ohne einen Referenten in der Realität.
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einem perforierten Band der Rechenmaschine. Liebe und Sprache werden somit zu Symbolen der personellen Bestätigung, Reife und individuellen Autonomie.
D AS K ALTE H ERZ Особая субкультура, основанная одновременно на любви к слову и на любви к импортным шмоткам, – феномен глубоко советский.52
Die »Verbürgerlichung« der sowjetischen Gesellschaft – wachsender Wohlstand, Abschwächung der ideologischen Gebote und zunehmende Unkontrollierbarkeit der Medien – bringt bisher ungeahnte, oder längst vergessene, Probleme mit sich. Die sowjetische Liebe der späten 60er und der 1970er Jahre hat mit dem »Abkühlen der Seelentemperatur« (Frank 1987: 9) zu kämpfen, die mit zunehmender »Liebe zum kalten Metall« (ebd.) einhergeht. Das Motiv des »kalten Herzens«, das Manfred Frank vorwiegend anhand der romantischen Literatur untersucht und mit dem »Modernisierungs- und Rationalisierungsprozess der Neuzeit« (ebd.) in Zusammenhang bringt, wird in der sowjetischen Gesellschaft, die in den 1960er bis 70er Jahren eine Modernisierungswelle erlebt, wieder aktuell. Allerdings ist es nicht direkt das »kalte Metall«, das die Gemüter sowjetischer Liebender verführt, da Geld in Zeiten des Warendefizits einen minimalen Wert hat. Es sind eher andere materialistische Werte wie Karriere, eine bessere Wohnung, der Eintritt in die elitären Konsumentengruppen usw. Besonders Jurij Trifonov verschreibt sich diesem Thema, aber auch Andrej Bitov, Vasilij Aksenov, Sergej Zalygin und I. Grekova53 schreiben darüber, besonders oft dann, wenn sie die Lieblosigkeit ihrer Protagonisten vor dem Hintergrund des wachsenden Wohlstands beobachten und analysieren wollen. Diese Verlagerung des Konflikts nach innen – in die Seelen52 | »Eine besondere Subkultur, die sich auf die Liebe zum Wort und auf die Liebe zu ausländischen Markenklamotten gründet, ist ein zutiefst sowjetisches Phänomen.« Chaim Sokol 2007. 53 | I. Grekova – unter diesem Namen schrieb Mathematikerin Elena Ventzel’ ihre literarischen Texte. Es ist eine Ableitung vom lateinischen »i grec«, »das griechische i« für den Buchstaben »Y«.
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abgründe des Individuums – ist die logische Folge der Entideologisierung des Liebesdiskurses. Nachdem in ihrem Code die globalen ideologischen Probleme wie die Unterscheidung des Klassenfeindes vom Klassenfreund wegfallen, wird die Liebe zu einer »Welt für sich« (Luhmann 1996: 177), zu einem Raum ohne Außenperspektive und fokussiert ihr Hauptinteresse auf das Ego des Liebenden. Manfred Frank verfolgt das literarische Schicksal des »kalten Herzens«, das als Metapher bereits in der antiken Dichtung und biblischen Tradition vertreten ist. Er beobachtet, wie sich dieser bildhafte Vergleich in der Literatur der Romantik zu einer Metonymie entwickelt, wie Liebe und Münze, Herz und Stein, Auge und Fernglas, Mensch und Maschine einen Tausch eingehen, einen Tausch des Organischen mit dem Anorganischen, wie dies etwa Peter Munk in Hauffs »Das kalte Herz« und Nathanael in E. T. H. Hoffmanns »Der Sandmann« erleben. Nach Frank handelt es sich in diesem Fall um eine Strukturhomologie, durch welche die Herz-Stein-Metonymie – das kalte Herz der industriellen Gesellschaft – mit der Politökonomie verbunden ist (Frank 1987: 41), da gerade im frühen 19. Jahrhundert die industrielle Produktion die Handarbeit ersetzt und die Spekulationen mit verzinstem Kapital die Ansammlung der Güter ablösen. Der Mensch verschwindet aus der Wirtschaft, wird durch eine Maschine ersetzt oder zu einer Maschine verwandelt. Das Liebesempfinden, wie auch die anderen menschlichen Sinne, werden durch neue Formen der Wirtschaft, durch die Erfahrung der Maschine, durch automatische Bewegung und mechanische Arbeitsabläufe und durch intensiver fluktuierendes Geld »entfremdet«. Die fetischistische Lust nach einem Liebesobjekt zeigt immer deutlicher ihre Verwandtschaft mit der »Wollust« der blinkenden Münze (Nietzsche 1960: 470, zit.n. Frank 1987: 34). Denn genau wie das Fernglas die Verlängerung und Veränderung des Auges ist und der Automat die Verlängerung und Veränderung des menschlichen Körpers, so ist auch das Geld das Medium der Erfüllung und der »Erweiterung des inneren Wunsches« (McLuhan 1980: 147), das aber den »inneren Wunsch« so definiert, dass er für Geld erhältlich ist. Nicht von ungefähr schreibt Manfred Frank über Metonymie, Namensvertauschung – die Liebe und das Geld schließen eine Allianz. Die Mühe, die sich die Literatur seitdem gibt, diese »Ehe« zu scheiden, die nutzbringende von der uneigennützigen Liebe zu trennen, zeugt lediglich davon, wie fest die Verbindung ist. Spricht man über Geld und Liebe, so muss es nicht unbedingt um käufliche Liebe gehen, um die Gewährung sexueller Dienste gegen eine Ent-
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lohnung. Die Verbindung, die Frank aufzeigt, ist eine subtilere. Gerade das Märchen von Hauff, »Das kalte Herz«, das Franks Essay den Titel leiht und das Zentrum seiner Interpretationen bildet, kann besonders gut vor Augen führen, wie das Projekt des individuellen Glückes die Geldkomponente aufnimmt. Es sind nicht nur die 1000 Taler, die der Kohlehändler Peter gegen sein Herz eintauscht, die ihm Wohlstand bringen und die Möglichkeit geben, seine bisher unerreichbare Geliebte zu heiraten. Es geht dabei nicht um einen Kauf oder ein Tauschgeschäft, sondern vielmehr um das, was man in der modernen Terminologie als Förderung eines wirtschaftlichen Projektes bezeichnen würde. Mit dem Geld erhält Peter auch den Rat, das Geld in Wuchergeschäfte und Spekulationen mit verzinstem Kapital zu investieren. Das Befolgen des Rates lässt seinen Reichtum ständig anwachsen und bedeutet für ihn den – neu definierten – Erfolg. Erfolg als das höchste Lebensziel ist das, was Geld und Liebe unter einem Dach vereint, was diese unähnlichen Komponenten zu metonymischen Teilen des Ganzen werden lässt. Über die Vergänglichkeit des Geldes und die Zwecklosigkeit des Besitzes im Land der Bolschewiken hat die sowjetische Literatur mit der Feder der doppelten Schriftstellergestalt Il’f und Petrov geschrieben, deren Helden – reiche Erben und »Untergrundmillionäre« – am Ende genauso leer ausgingen wie die nach ihrem Besitz trachtenden Schatzsucher und Abenteurer.54 Nach dem Ende der Ära der neuen wirtschaftlichen Politik in den 1920er Jahren hatte dasjenige Kapital, das durch Eigenleistung hervorgebracht wurde und nicht von der Macht abgesegnet war, keinen Platz in der sowjetischen Gesellschaft. Während in der romantischen Literatur vom Geldschatz eine metaphysische Gefahr ausging, da der »nach Ausbreitung lüsterne Besitz von der Hand der Toten in die Hand des Lebenden« zu entgleiten suchte, um diese sogleich zu »versteinern« (Frank 1987: 36), ging vom sowjetischen Reichtum und Wohlstand eine konkrete Gefahr der Enteignung, des Verdachts und der Strafe aus. Selbst die Kategorie des Reichtums änderte sich – sie bestand in der Gunst des allmächtigen Staates, existierte lediglich als Lehngut der Macht. Jurij Trifonov beschreibt in »Dom na naberežnoj« (»Das Haus an der Moskwa«, 1976), wie die einstigen Günstlinge des Systems das Elitedomizil an der Moskwa verlassen. Mit sich führen sie lediglich das wenige private Hab und Gut. Mit dem elitären Status werden nicht nur die Wohnung, sondern sogar die Möbel 54 | Vgl. Il’f und Petrovs Romane »12 Stühle« (1927) und »Das goldene Kalb« (1931).
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entzogen, das private Eigentum ist selbst bei den Bessergestellten auf ein Minimum geschrumpft. Die Vertreibung aus dem Paradies der Parteielite beschreibt Jurij Trifonov aus eigener Erfahrung. Vasilij Aksenov und Čingiz Ajtmatov, beide Kinder der hohen Parteifunktionäre, teilen mit ihm das Trauma der völligen Verarmung und der Deklassierung. Die Elitekinder, die das Elend ihrer repressierten Eltern miterleben, erreichen im Erwachsenenalter einen wesentlich sichereren Wohlstand, und das nicht durch die Machttreue, sondern durch die eigene künstlerische Leistung. Der veränderte Bezug zu Geld und Besitz, das Erlebnis des sozialistischen »Teilkapitalismus«, wird von ihnen in literarische Texte umgemünzt. Bereits in den Liebessujets der Jungen Prosa der 1960er Jahren kommt das Motiv des Geldes vor. Anatolij Gladilins »Brigantina podnimaet parusa« spielt auf verschiedene Weisen die Beziehung zwischen materiellem Nutzen und Liebe aus. Es ist das Vertauschen der Absichten, der Tausch der Lebensziele wie auch die Enttäuschung in der Liebe. Gladilins Held wird vorgeworfen, er fahre nicht aus Enthusiasmus zu einer der großen sibirischen Baustellen, sondern aus Eigennutz: Er möchte mit dem in Sibirien erarbeiteten Geld und dem vom Staat garantierten Wohnraum die Heirat mit seiner Geliebten beschleunigen. Der Protagonist flieht jedoch vor allem vor der ausgehöhlten Rhetorik der heldenhaften Arbeit und sucht in Sibirien nach wahren Werten. Seine Geliebte dagegen, die zuvor mit ihm seine Ziele teilte, gibt ihre Ideale auf und heiratet – aus Eigennutz – einen gut verdienenden Stoßarbeiter. Vasilij Aksenovs Roman »Kollegi« problematisiert eine ähnliche Entscheidung – die Wahl zwischen individuellen Interessen, die zwei der Kollegen verfolgen, indem sie als Schiffsärzte auf Karrieren, Fernreisen und gute Gehälter hoffen, und der alltäglichen Selbstaufopferung in der tiefen Provinz, wie es der dritte Freund Saša Zelenin praktiziert. Noch sind solche Sujets auf die schlichte Wahl zwischen der »richtigen«, das heißt uneigennützigen, und der »falschen« Entscheidung reduziert. Die sich falsch entscheidenden, zumeist weiblichen, Protagonisten werden durch das persönliche Liebesunglück bestraft. Gladilins Ljusja (»Brigantina podnimaet parusa«) heiratet einen ungeliebten Mann, Vera aus »Kollegi« empfindet ihre Vernunftehe als unbefriedigend und sehnt sich nach ihren studentischen Verehrern zurück. Galja in »Zvezdnyj bilet« brennt mit einem älteren und anerkannten Schauspieler in der Hoffnung durch, mit seiner Hilfe einen Studienplatz in der Schauspielschule zu bekommen, doch auch sie erreicht ihr Ziel nicht und setzt ihre Beziehung
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mit dem eigentlichen Geliebten Dima nur sinnlos aufs Spiel. Die Suche nach dem Nutzen wird eindeutig als Liebesverrat stilisiert und gnadenlos bestraft: Anatolij Gladilin spricht einer solchen »Profitjägerin« die menschliche Würde ab und stellt sie als eine »Katze« dar (»Ispoved’ dranoj koški«, dt. etwa: »Konfessionen einer zerlumpten Katze«, 1961). In den 1970er Jahren entwickeln sich in der sowjetischen Literatur in Hinsicht auf Geld und Liebe komplexere Sujets, die auf geradlinige und eindeutig negative Wertungen verzichten. In den Narrativen dieser Zeit können Liebe und Geld, Leidenschaft und Profit nicht mehr klar auseinandergehalten werden, der Fetischismus des Liebens und der Fetischismus des Habens verfließen ineinander. Der einstige Enthusiasmus der uneigennützigen Liebe kommt nun als naiv und nicht alltagstauglich daher und wird zum Markenzeichen einer Generation: Der Konflikt zwischen idealistischem Enthusiasmus und Pragmatismus trennt die Tauwettergesellschaft von der Gesellschaft der Stagnationszeit. Diesen »Epochenumbruch« problematisiert z.B. Aksenovs Roman »Zolotaja naša železka« und rechnet so mit der Generation der 1960er Jahre ab. Die Romanhelden haben einst den wissenschaftlichen Durchbruch geleistet und ein modernes Forschungszentrum in Sibirien aufgebaut. Zwanzig Jahre später spielen sie immer noch den Idealismus ihrer Jugendjahre vor und beschwören offene Beziehungsmodelle, obwohl sie diese Möglichkeit nie real ausleben. Sie predigen spartanische Bescheidenheit im Alltag, bewohnen aber als Angehörige der wissenschaftlichen Elite Luxuswohnungen und kommen in den Genuss der Sonderwarenlieferungen. Die Hobbys ihrer Jugendzeit werden weiter gepflegt, obwohl sie mittlerweile zum schicken Zeitvertreib, wie etwa zum jährlichen Taucherurlaub im fernen Ausland, geworden sind. Das wissenschaftliche Konsumparadies, in dem sogar die Tiere intelligent und glücklich sind, wird von der verarmten ländlichen Umgebung streng getrennt und bewacht. Es bleibt eine utopische Insel der uneigennützigen Liebe, die jedoch auf einem für die meisten Bewohner des Landes unerreichbaren Wohlstand aufgebaut ist und vom Bestehen »unseres goldenen Eisens« – so der scherzhafte Name des Forschungszentrums – abhängt. Als sich im Beziehungsleben der Protagonisten die Zeichen der Krise bemerkbar machen, fliegt das »goldene Eisen« fort. Die durch sein unerwartetes Verschwinden wiedervereinten Liebespaare des Romans machen sich aber sofort daran, ein neues »goldenes Eisen« aufzubauen. Sie erleben zwar wieder ihren jugendlichen Enthusiasmus, mit dem sie einst
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ihr Forschungszentrum in der sibirischen Taiga aus dem Boden stampften. Die Euphorie des Neuanfangs mischt sich aber mit der Angst um den verlorenen Wohlstand und dem Bestreben, diesen wiederherzustellen. Denn ihre Liebe und ihr Lebensglück haben nur in Verbindung mit Gold Bestand, auch wenn es sich dabei um das sowjetische ferrumisierte Gold handelt. Jenseits von den Elitesegregationen herrschen dagegen der bare Warenfetischismus und die Jagd nach dem Erfolg. Scotch Whisky, englische Blazer, Markenhemden und Autos werden für die Helden von Aksenovs »Ožog« zu Meilensteinen des sozialen Aufstiegs. Die fünf Protagonisten seines Romans erklimmen die Gipfel ihres Lebenserfolges in jeweils fünf verschiedenen Disziplinen: als Physiker, Arzt, Jazz-Musiker, Bildhauer und Schriftsteller. Sie verbindet jedoch nicht nur die gemeinsame Kindheit, sondern die gemeinsame Liebe zu der schönsten und reichsten Frau Moskaus, der rothaarigen (goldhaarigen) Alisa Fokusova. Die fünf kollektiv Verliebten dichten ihr eine ausländische Herkunft und eine Haft im stalinistischen Lager an, die sie als Jugendliche erlebt haben soll. Sie ist aufgrund ihrer vermeintlichen Herkunft, ähnlich wie englische Markenkleider oder ausländische Autos, eine »Importware« mit entsprechendem Statuscharakter und zugleich Symbol eines kaum denkbaren Aufstiegs. Sie scheint den Weg bereits gegangen zu sein, den ihre Verehrer nur zur Hälfte gemeistert haben: den Weg aus Magadaner Häftlingslagern und Sondersiedlungen in die Moskauer Elitekreise. Die Beziehung zu dieser Frau gründet auf Besitzansprüchen, sie fungiert unter den sie umgebenden Männern als Luxusgut. Selbst der kurze »Besitz« von Alisa Fokusova – in Form eines heimlichen Rendezvous z.B. – bringt Punkte auf dem Konto des Lebenserfolgs. Als einziger der fünf Verliebten erreicht der Schriftsteller Pantelej die Nähe der geliebten Frau. Sie ist jedoch nur zu einem erotischen Stelldichein bereit und nicht gewillt, ihren reichen Ehemann um eines nonkonformistischen und erfolglosen Schriftstellers willen zu verlassen. Nach dieser Episode fallen alle fünf Hauptfiguren in ein alkoholisches Delirium. Die Gründe, die sie in diesen Zustand führen, sind unterschiedlich, doch Enttäuschung in der Liebe, politische Denunziation, das Scheitern der wissenschaftlichen Karriere oder der Verrat im engsten Freundeskreis sind in diesem Fall gleichwertig. Sie bedeuten das Scheitern des persönlichen Lebensentwurfs und das Ausbleiben des Erfolgs – die Unmöglichkeit einer Weiterentwicklung, eines ständigen Anwachsens des in diesem Fall auch symbolischen Kapitals.
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Den begehrten Schatz – Alisa Fokusova – bekommt keiner der fünf Männer. Erst nachdem alle fünf Hauptfiguren sterben, kommt der IchErzähler des letzten Romanteils »in Besitz« der begehrten Frau, woraufhin eine Entzauberung des Liebesobjektes stattfindet. Die goldhaarige, ewig junge Alisa verliert ihren Glanz und wird zu einer 40-jährigen Frau, deren strahlendes Antlitz (vgl. »blinkende Münze«) bereits einige Abnutzungsspuren aufweist. Auch die sie begleitenden Legenden – die der Haft und die der polnisch-englischen Herkunft – finden keine Bestätigung. Die Alisa des letzten Teils ist keine Luxusware und kein Aufstiegssymbol mehr, was den Ich-Erzähler dazu veranlasst, die Flucht vor ihr zu ergreifen. Die Verwandlung, die sie durchmacht, ist die Rückkehr aus dem »anorganischen« Goldschatzzustand der teuren Kurtisane in den »organischen« Zustand einer »gewöhnlichen« Lebensgefährtin. Ab diesem Moment ist sie kein Objekt mehr, sondern ein Subjekt der Begierde, kein Besitz, sondern die Besitzerin, die sich des fliehenden Ich-Erzählers bemächtigt. Mit dieser Verwandlung verfliegt aber auch der Zauber der Liebe, sie inflationiert, verliert ihren exklusiven Wert, denn die unerreichbare Alisa Fokusova wird verfügbar und alltäglich. Auch wenn die analysierten Romane von Vasilij Aksenov den sowjetischen Leser erst mit einer jahrzehntelangen Verspätung erreichen, problematisiert die Alltagsprosa (bytovaja prosa) das Geldmotiv durchaus massenwirksam. In den Texten des bekanntesten Vertreters dieser Richtung, Jurij Trifonov, wird die Konstellation »Geld und Liebe« ähnlich wie bei Aksenov als Generationenkonflikt konfiguriert, betrifft aber nicht mehr den Konflikt zwischen der Tauwettergeneration und den Stagnationskindern. Geld und Liebe ziehen die Grenze zwischen der »heiligen« Generation der Eltern – den Helden der ersten Revolutionsjahre – und der Generation ihrer Erben, den Kindern, die in der Nachkriegszeit erwachsen werden und die Ideale ihrer Eltern nicht teilen wollen oder können. In der bekanntesten Textsammlung von Jurij Trifonov, dem Erzählzyklus »Moskovskie povesti« (»Moskauer Novellen«, 1969-1976) wird das Thema »Geld« auf verschiedene Weisen vorgeführt. Jeder Text dieses Zyklus beschäftigt sich mit Bereicherung, Eigennutz, Armut, Reichtum und Geldsorgen. Die Wertung der Konstellation »Geld und Liebe« ist hinreichend problematisch. So sind im frühesten Text dieses Zyklus, in »Obmen« (»Wohnungstausch«, 1969), die Positionen nur scheinbar klar definiert. Die Elterngeneration, vertreten durch die Familie des Protagonisten, verteidigt das Prinzip des Nichthabens, seine Ehefrau das des Habens. Doch
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die Wertung dieser Positionen ist nicht eindeutig, weder der Verzicht auf materielle Werte noch konsequente und leidenschaftliche Verfolgung des Nutzens scheinen dem Helden der richtige Weg zu sein. Zwischen die familiären Kriegsfronten geraten, scheitert die kurzlebige Liebe der Hauptfigur zu einer Arbeitskollegin. Während des letzten Kampfes zwischen seiner sterbenden Mutter und seiner auf die Vergrößerung des Wohnraums hoffenden Ehefrau erinnert sich der Protagonist an seinen Seitensprung und kommt zu dem Entschluss, dass seine heimliche Geliebte eine bessere Ehepartnerin für ihn gewesen wäre. Dass er trotz dieser Erkenntnis mit seiner Ehefrau weiter zusammenlebt, ist nicht durch die Liebe oder Pflicht zu erklären, sondern durch das praktische Geschick seiner Gattin und den realen Nutzen, den sie in die Beziehung mitbringt – etwa die Fähigkeit, dem kargen sowjetischen Alltag einen gewissen Komfort abzutrotzen, zusätzliche Nutzflächen oder intakte Wasserleitungen zu »organisieren«. In vier der fünf Texte dieses Zyklus fungiert die Frau mehr oder minder als Kapital, indem sie das finanzielle Bestehen der Familie sichert oder ihrem Partner nützliche Beziehungen, Wohneigentum und Geld bringt. Es geht aber dabei nicht darum, dass der davon profitierende Partner auf Liebe zugunsten des materiellen Gewinns verzichtet. Umgekehrt: Geld oder seine Substitute sind geradezu gefühlsfördernd. In »Dom na naberežnoj« verliebt sich der Hauptakteur Vadim in seine ehemalige Mitschülerin Sonja Gančuk erst, als er hört, wie ein zufälliger Partygast scherzhaft plant, sie zu erobern und in ihre schicke Wohnung einzuziehen. Die Idee, durch Heirat seine Wohnsituation und gleichzeitig seine Karrierechancen zu verbessern – denn Sonja ist zugleich die Tochter seines Professors –, lässt Vadim durchaus echte Liebe zu der jungen Frau empfinden. Er hält sogar seine Beziehung mit ihr im Verborgenen und versucht nicht gleich, daraus Gewinne zu ziehen. Ihm reicht das Wissen aus, mit ihr gut »investiert« zu haben. Dabei glaubt er, sie aufrichtig zu lieben, und wünscht sich keine andere Partnerin: »Er dachte ganz aufrichtig so, ihm erschien die Sache fest, endgültig, unverrückbar. Ihre Vertrautheit wurde immer größer. Er konnte es keinen Tag ohne sie aushalten.« (Trifonov 1977: 114)55
55 | »И он думал так искренно, потому что казалось – твердо, окончательно и ничего другого не будет. Их близость делалась все тесней, он не мог пробыть без нее ни дня« (Trifonov 1988: 414).
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Der begehrte soziale Aufstieg als Fetischobjekt fällt nahtlos mit der Frau als Objekt der Begierde zusammen. Der Held kann weder zwischen seinen zwei Begierden noch zwischen den zwei Lustobjekten unterscheiden. Für beide Liebenden – sowohl für Sonja als auch für Vadim – ist diese Verbindung eine Kinderliebe. Für Sonja fängt diese Beziehung jedoch gleich als eine Liebe zu einem Mann an, für Vadim ist es zuerst die Liebe zum unerreichbaren, begehrten, luxuriösen »Haus am Kai«56 – der gegenüber des Kreml gelegenen Hochburg der Parteifunktionäre. In seinen Augen ist dieses Haus zugleich das Symbol des Reichtums, des familiären Glückes und der Schönheit. Seine Visiten gelten im gleichen Maße dem Haus wie seinen Schulfreunden oder später seiner Geliebten, die darin wohnt. Daher äußert sich seine Liebesvorahnung in den Termini des Besitzes. Als er zum ersten Mal mit Sonja allein bleibt und auf die Erfüllung seiner Liebe hofft, träumt er nicht von der Schönheit seiner Geliebten, sondern von den Details ihres Landhauses. Die Frau zu besitzen, heißt für ihn allem voran der Herr ihres Eigentums zu sein, von dem er sie – auch körperlich – nicht trennen kann: »Vielleicht sogar schon jetzt – niemand errät es, er aber weiß es – sind alle diese altersgelben Bretter mit den Astlöchern, der Filz, die Fotos, der knarrende Fensterrahmen, das schneebedeckte Dach sein Eigentum! […] Er umarmte den hageren, gefügigen, weichen Körper, die mageren Schultern, den mageren Rücken, in diesem Körper war überhaupt keine Schwere, doch er gehörte ihm – das war es, was er fühlte –, er gehörte ihm mit allem anderen: dem alten Haus, den Tannen, dem Schnee« (ebd.: 102f.).57 Die Liebe des Protagonisten organisiert sich nach dem Prinzip des Wertes und ist vom materiellen wie auch immateriellen Gewinn nicht zu trennen. Als die Mutter seiner Geliebten ihm Geld und Gold anbietet, damit er ihre Tochter verlässt, empfängt er keinerlei Rührung angesichts des familiären Schatzes. Wenn die alte Frau ihm die Liebe zum kalten Metall 56 | In der dt. Übersetzung: »Haus am Moskwa«. 57 | »И может быть, уже теперь – еще никто не догадывается, а он знает – все эти пожелтевшие доски с сучками, войлок, фотографии, скрипящая рама окна, крыша, заваленная снегом, принадлежат ему! […] Он обнимал худое, покорное, мягкое, худые плечи, худую спину, в этом теле не было никакой тяжести, но оно принадлежало ему – вот, что он чувствовал, – принадлежало ему вместе со всем – со старым домом, елями, снегом« (ebd.: 406f.).
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unterstellt: »Sie lieben doch bourgeoise Dinge? Gold, Kleinodien« (ebd.: 212)58, liegt sie mit ihren Vermutungen zwar richtig. Der Tausch aber, so wie sie ihn vorschlägt, nach dem Prinzip »Geld statt Liebe«, interessiert den Protagonisten nicht. »Geld« fällt mit »Liebe« nahtlos zusammen und beides soll ein wachsendes Kapital sein, etwas, das finanzielles Wohl, einen respektablen gesellschaftlichen Status und die Möglichkeit garantieren kann, sein eigenes Leben anders zu gestalten, als es die durchschnittlichen Sowjetbürger tun. So liebt der Held nur so lange, wie das alte Wertesystem besteht, dessen Repräsentanten die Eltern von Sonja Gančuk sind, die Elite der 1930er Jahre. Als sie aber in der Nachkriegssowjetunion allmählich ihre Macht an die jüngere, nicht weniger blutrünstige Generation abtreten, löst er sich sowohl vom Haus, als auch von seiner Geliebten. Symbolisch für diesen Machtverlust steht wiederum das Haus am Kai, das an Majestät verliert und von einigen seiner Bewohner, die auf die Konjunktur schneller reagieren können, verlassen wird. So wie der symbolische und reale Wert der Immobilie schwindet, so lässt auch die Liebe des Protagonisten nach. Der Held Vadim besucht, bevor er seine Geliebte verlässt, seinen alten Schulfreund, ebenfalls ein ehemaliger Bewohner des Hauses am Kai. Dieser hat jedoch sowohl eine neue Wohnstätte als auch eine neue familiäre Umgebung. Weder sein Haus noch der neue Ehemann seiner Mutter haben etwas mit der schändlichen Vergangenheit der 1930er Jahre zu tun. Der geschicktere Freund genießt einen kompletten Wechsel der Lebensumstände: Verzauberte dieses Elitekind seine ärmlichen Schulfreunde vor dem Krieg mit einem Kinoprojektor, so spielt er, als Vadim ihn besucht, mit dem allerersten Fernseher in Moskau. Er fungiert als ein Barometer des realen Marktwertes und zeigt unmissverständlich, dass der Trend sich geändert hat. Kaum wird Vadim klar, dass er mit Sonja Gančuk eine falsche »Investition« vorgenommen hat, erkaltet sein Herz. Der rasche »Temperaturwechsel« lässt ihn die Echtheit seiner früheren Gefühle bezweifeln. »Kann denn Liebe einfach so verschwinden, innerhalb von einer Sekunde?« (ebd.: 154)59, fragt er sich, wobei ihm der Zusammenhang zwischen seiner Liebe und seiner Berechnung immer noch schleierhaft 58 | »Вы же любите буржуазные вещи? Золото? Кляйноды?« (ebd.: 470). 59 | »Разве любовь может пропасть вот так, в одну секунду?« (ebd.: 437).
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bleibt. Das Schwinden der Liebe scheint echt zu sein. Lediglich der sich an wenigen Stellen in das Narrativ einschaltende Ich-Erzähler und einige textuelle Hinweise, wie etwa Vadims sich wiederholender Traum von alten Ehrenzeichen in einer Blechdose, signalisieren, dass die Abkühlung durch die »Entwertung« des Liebesobjekts sowohl auf dem Markt der realen Immobilien als auch in Anbetracht seines symbolischen Kapitals hervorgerufen wurde. In diesem Text kann Liebe nur im Zusammenspiel mit Geld und Aufstiegschancen erlebt werden. Neben diesem Sujet existieren aber andere Varianten von Liebeserzählungen, die das Thema Wohlstand ansprechen, ohne jedoch diesen zu dämonisieren oder zu kritisieren. Sergej Zalygin problematisiert in »Južno-amerikanskij variant« (»Südamerikanische Variante«, 1973) die Lieblosigkeit seiner Protagonistin, die in den ärmlichen Umständen der Nachkriegszeit nach Pflicht gehandelt hat. In der Situation äußerer Armut, Kräfte zehrender Arbeit und unter dem Druck der Pflichtrhetorik konnte sie keine individuellen Gefühle entwickeln und heiratete einen ungeliebten Mann. Der nachfolgende Wandel ihrer Lebensumstände zeigt den problematischen Charakter ihrer Wahl. Die neue Konsumgesellschaft präferiert den persönlichen Wunsch und nicht mehr die öffentliche Pflicht. Das, was die Protagonistin als das »richtige Leben« empfand, erscheint nun im neuen Licht des Wohlstands als unnötige Selbstaufopferung. Die Heldin stürzt sich in eine Affäre und scheitert am Mangel des Hedonismus – sie liebt nach dem alten Szenario der Opferbereitschaft und wird verlassen. Das Beispiel einer neuen pragmatischen Liebe, die Nutzen und Liebesglück erfolgreich vereint, führt der verzweifelten Heldin ihr Sohn vor Augen. Der Roman endet mit dem Moment der Unentschiedenheit: Die moralische Überlegenheit bleibt auf der Seite der Heldin, das Liebesglück auf der Seite ihres Sohnes. Eine ähnliche Konstellation entwirft I.Grekova in »Damskij master« (»Damenfriseur«, 1962) und »Malen’kij Garusov« (»Der kleine Garusov«, 1969). Auch ihre Helden sind Kriegsopfer und nicht imstande, das Trauma ihrer ärmlichen Kindheit zu überwinden. Vitalij in »Damskij master« bemüht sich um sein berufliches Fortkommen und finanzielle Absicherung, ohne zu wissen, dass nebst pragmatischen Zielen auch »ätherische« Gefühle existieren.60 Anatolij in »Malen’kij Garusov« sucht in seinen Frauen 60 | Vgl. z.B. folgende Textpassage, in der es um eine von Vitalij verlassene Freundin geht: »Если бы у нее была жилплощадь, я бы мог заинтересо-
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die Reinkarnation seiner während der Leningrader Blockade ums Leben gekommenen Mutter und kann keine erotischen Beziehungen zu seinen Geliebten haben. Sowohl Zalygins Heldin als auch Grekovas Protagonisten tragen schwer an ihrem Kriegstrauma und dem Trauma der armen Kindheit. Die Lebenskrise, die die Protagonistin in »Južno-amerikanskij variant« erlebt und in die auch Grekovas Helden hineingeraten, entspringt der Diskrepanz zwischen der sowjetischen Gegenwart der späten 1960er und der 1970er Jahre und der noch nahen Vergangenheit der 1930er und 1940er Jahre – dem Missverhältnis zwischen der Erfahrung der sowjetischen Wunderjahre und dem früheren Trauma des Terrors, der Armut und des Krieges. Dass das Thema »Geld und Liebe« so mannigfaltig aufgefächert wird, zeugt von einem bedeutenden Einschnitt in der Kultur der Liebe. Das Aufkommen der Geldproblematik markiert einen historischen Wendepunkt – den endgültigen Abgang von der Mangelwirtschaft, den rasanten Übergang von äußerster Not in den Nachkriegsjahren zum relativen Wohlstand der 1960er und 1970er Jahre. Wenn die Verknüpfung von Geld und Liebe für Manfred Frank eine »kollektive Phantasie« ist, mit deren Hilfe »Literatur und Philosophie pathogene Züge des Modernisierungs- und Rationalisierungsprozesses der Neuzeit beklagen und imaginär kompensieren« (Frank 1987: 9), so beklagt die russische Literatur damit eher die pathogene Unvollkommenheit des sowjetischen Teilkapitalismus und beweint die Traumata der schrecklichen und noch sehr nahen Vergangenheit.
R E VERSIBLE Z EIT »Das narrative Werk ist eine Aufforderung, unsere Praxis so zu sehen, wie sie von dieser oder jener Fabel, die in unserer Literatur zur Darstellung kommt, angeordnet wird« (Ricœur 1988: 130). Projiziert man diese Aussage auf die Texte und Filme der späten 1960er und der 1970er Jahre, so sieht ваться […]/- Ох, Виталий, что вы только говорите! Разве это важно?/- А что важно?/- Важно одно: любите вы ее или нет./Виталий задумался« (Grekova 1983: 534-535) – »Wenn sie Wohnraum hätte, dann wäre ich an ihr interessiert. […]/- Ah, Vitalij, was sagen Sie nur! Ist es denn so wichtig?/- Und was ist wichtig?/- Nur das eine, ob Sie sie lieben oder nicht./Vitalij vertiefte sich in seine Gedanken.« (Übersetzung NB).
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man sich vor die Anforderung gestellt, die »Praxis« dieser Zeit durch das Prisma des 19. Jahrhunderts zu sehen. Diese Epoche der russischen Literatur liefert nicht nur den Stoff für unzählige Verfilmungen,61 sondern bestimmt generell die Inhalte der Unterhaltungskultur. Die populäre Kultur feiert ein Revival des adeligen Helden. Valentin Pikul’ schreibt seine quasihistorischen Epopöen, sowjetische Abenteuerfilme pflegen das Bild des romantisierten weißen Offiziers und der edlen Dame vor den Kulissen des Bürgerkriegs oder der Emigration. Der nostalgische Glanz einer illustren, jedoch vergangenen Zeit hat einen enormen Anreiz für den sowjetischen Medienverbraucher. Mehrere literarische und filmische Gattungen leben von dem idealisierten Bild der russischen Vergangenheit. Neben den Literaturverfilmungen und unterhaltsamen Verwertungen der russischen Geschichte im pseudohistorischen Roman entsteht eine hybride Gattung. Texte und Filme dieser Art berichten über das sowjetische »Heute«, installieren jedoch in die Gegenwart der 1970er Jahre stilisierte Elemente des 19. Jahrhunderts. 1979 dreht Il’ja Averbach seinen Film Fantazii Farjat’eva, der im Sujet Ostrovskijs Drama »Bespridannica« (»Die Braut ohne Mitgift«, 1878) sehr ähnnelt, nur dass um die Hand der anderweitig verliebten weiblichen Protagonistin nicht ein mickriger Karandyšev, sondern ein durchaus sympathischer Idealist wirbt, dargestellt vom Publikumsliebling Andrej Mironov. Die Stilisierung äußert sich sowohl in der Handlung, in der Darstellung der Figuren und – besonders in der Ästhetik dieses Liebesfilms: Rhetorik, Gestik und Proxemik der Filmhelden, und vor allem des Protagonisten, wirken antiquiert: Er siezt seine Braut, er macht ihr einen förmlichen Heiratsantrag bereits nach dem zweiten Treffen, in ihrer Anwesenheit bleibt er strammstehen. Mit den langen Passagen, in denen es um mysteriös-utopische Zukunftsvisionen geht, bringt er sich schließlich in die Nähe von Anton Čechovs träumenden Helden. Sergej Solov’ev bietet mit seinem Film 100 dnej posle detstva (dt. 100 Tage nach der Kindheit, 1975) ebenfalls eine Stilisierung im Geiste des 19. Jahrhunders. Während Il’ja Averbach jedoch mehr mit körperlicher und 61 | Einige wenige Beispiele sind »Die Brüder Karamasow«, »Der Idiot«, »Krieg und Frieden«, »Anna Karenina«, »Vater Sergij«, »Die Kreutzersonate«, »Der Stationsaufseher«, »Väter und Söhne« oder »Oblomow« – dies ist eine punktuelle und sehr unvollständige Auflistung von kanonischen Texten des 19. Jahrhunderts, die in den 1960er bis 70er Jahren verfilmt wurden.
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rhetorischer Präsentation experimentiert – wenngleich die visuelle Erscheinung seiner Helden (Kleidung, Raumgestaltung usw.) den Normen der 1970er Jahre entspricht –, lässt Sergej Solov’ev auch diese Schranke fallen. Er projiziert Konstellationen aus dem Leben und literarischen Werk des russischen Romantikers Michail Lermontov auf die jugendliche Liebe im sowjetischen Jungpionierlager und lässt seine 14-jährige Protagonistin wie eine russische adelige Romanheldin ein weißes Kleid tragen und Liebesliteratur auf französisch lesen.62 Noch mehr Details verweisen auf eine absichtliche Projektion der Liebesstilistik des 19. Jahrhunderts auf diese sowjetische Dreiecksgeschichte. Wie zufällig trägt einer der Helden den adeligen Nachnamen Lopuchin. Darüber hinaus weckt sein Vorname – Mitja – sowie das Sujet der ersten unerwiderten Liebe Assoziationen mit Ivan Bunins Erzählung »Mitina ljubov’« (»Mitjas Liebe«, 1925). Der unglücklich Liebende sucht mit Spaziergängen seine Liebesqualen abzumildern, wobei die Natur mit plötzlichem Sturmwind oder mit trübmelancholischem Sonnenschein die Regungen seines Herzens widerspiegelt, so wie sich das für eine romantische Landschaft gehört. Auch die Literatur bietet genug Anlass, über die Wiedergeburt des literarischen 19. Jahrhunderts im Geiste der spätsowjetischen Literatur zu sprechen. Anderej Bitovs »Puškinskij dom« und Venedikt Erofeevs »Moskva–Petuški« (»Die Reise nach Petuschki«, 1970) lassen amerikanische Slavistin Alice Stone Nakhimovsky sogar über einen »backward turn« in der sowjetischen Literatur sprechen und die Retromode der 1970er Jahre mit den konservativen Tendenzen in der Dorfliteratur vergleichen (Nakhimovsky 1989: 195). Ähnlich wie die Autoren der Dorfliteratur, die in einer 62 | Über so ein »romanhaftes« Erscheinungsbild macht sich bereits Alexandr Puškin lustig. In der entscheidenden Szene der Liebeserklärung in seiner Erzählung »Metel’« (»Der Schneesturm«) aus dem Zyklus »Povesti Belkina« (»Belkins Erzählungen«, 1830) trifft Marja Gavrilovna, in ein weißes Kleid gekleidet und mit einem französischen Buch in der Hand wie zufällig in der freien Natur lustwandelnd, ihren Geliebten Burmin. Die Aufmachung, die sonst die Unschuldigkeit und Empfindsamkeit signalisieren soll, wird bei Puškin bewusst zu Verführungszwecken eingesetzt. Sergej Solov’ev, der Puškins »Stancionnyj smotritel’« (»Der Stationsaufseher«) aus dem gleichen Erzählzyklus verfilmte, setzt zugleich sowohl auf die primäre Bedeutung dieses empfindsamen Settings als auch auf seine ironische Doppelbödigkeit.
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imaginierten utopischen Vergangenheit das Musterbild des einfachen und harmonischen Gemeinschaftslebens zu finden glauben, soll die urbane Literatur die vorrevolutionäre Vergangenheit idealisieren. Denn insbesondere Bitovs Roman, so Nakhimovskys Interpretation, findet im 19. Jahrhundert sein Idealbild und präsentiert die Gegenwart der 1970er Jahre als eine Nullzeit, die nur Nullhelden gebiert.63 »The nineteenth century for Bitov is culturally alive, the twentieth is a cultural vacuum«, folgert die amerikanische Forscherin (ebd.: 203). Auch Mark Lipoveckij spricht in Bezug auf »Puškinskij dom« von einer existenten (das 19. Jahrhundert) und einer scheinbar existenten Zeit (die 1970er Jahre). Seiner Interpretation zufolge imitiert der Roman jedoch nicht bloß die vergangene, sondern die nie dagewesene Zeit. Die Gegenwart der 1970er Jahre, so wie sie im Roman dargestellt ist, ist nach Lipoveckij nicht imitativ, sondern eher simulativ (Lipoveckij 1997: 124f.). Den Versuch, die Brücke zwischen der vorsowjetischen Kultur und den letzten sowjetischen Jahrzehnten zu schlagen, wertet er als einen Beweis für die Krisensituation. Die Vorstellung von einer »feindlichen Vergangenheit« – Grundstein der sozialistisch-realistischen Modernitätsideologie, so Lipoveckij – lebt ab und räumt den Platz einer emphatischen Vergangenheitsidealisierung, mit deren Hilfe eine Kritik an den sowjetischen Ideologemen betrieben wird (ebd.: 115). Sowohl Bitovs als auch Erofeevs Text gehen weit über das simple Zitatenspiel hinaus, sie imitieren und parodieren Stilistik, Rhetorik und Komposition kanonischer Texte der russischen Literatur. Sie greifen paratextuell (vgl. Motti und Kapitelüberschriften bei Bitov) auf den Zitaten- und Titelschatz des vergangenen Jahrhunderts zu. »Moskva–Petuški« steht in enger Beziehung zu Radiševs »Putešestvie iz Peterburga v Moskvu« (»Reise von Petersburg nach Moskau«, 1790) und Gogols »Mertvye duši« (»Die toten Seelen«, 1824), nimmt, zumeist ironisch, die Themen des christlichen Glaubens, der echten Volkstümlichkeit und der Gottesnarretei (jurodstvo) auf und parodiert nicht nur den Stil (etwa Vasilij Rozanovs Essay63 | Vgl. auch die Formel, mit welcher Bitov seinen Romanhelden Ljova Odoevcev definiert: »ОТЕЦ-ОТЕЦ=ЛЕВА /ДЕД-ДЕД=ЛЕВА /ЛЕВА+ОТЕЦ= ОТЕЦ/ЛЕВА+ДЕД=ДЕД/ ОТЕЦ=ОТЕЦ/ДЕД=ДЕД/Чему же равен Лева?« (Bitov 1978:121-122) »VATER-VATER=LJOWA/GROSSVATER-GROSSVATER= LJOWA./LJOWA+VATER=VATER/GROSSVATER+LJOWA=GROSSVATER /VATER =VATER (der Vater ist sich selbst gleich),/GROSSVATER=GROSSVATER/Wem aber ist Ljowa gleich?« (Bitov 2007:142).
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ismus)64, sondern sogar das Layout kanonischer literarischer Texte – etwa Lakunen in Texten von Alexandr Puškin (vgl. das Kapitel »Serp i molot – Karačarovo«). Der Autor von »Puškinskij dom« verfährt noch expliziter. Außer Kapitelüberschriften65 sind es auch Namen (wie etwa der von Bitovs Held Ljova: Lev Nikolaevič Odoevcev – Lev Nikolaevič wie Lev Tolstoj und zugleich wie Lev Myškin in Dostoevskijs »Idiot«, Odoevcev wie die Schriftsteller Irina Odoevceva und Aleksandr Odoevskij) und die Wendungen des Sujets (etwa das Duell mit Mitišat’ev), die explizit und mit Quellen- und Autorennachweis diverse Romane des 19. Jahrhunderts zitieren (vgl. Nakhimovsky 1989, Bogdanova 2002). Auch einzelne Figuren – wie Mitišat’ev – sind in gewissem Sinne literarische Zitate oder Entlehnungen aus klassischen Texten. Letzterer ist z.B. eine Kombination aus »melkij bes« (»Der kleine Dämon«, 1905, Roman von Fjodor Sollogub) – daher auch der flimmernde Name (mel’tešaščee): Mitišat’ev – und dem dämonischen Verführer von der Art des Petr Verchovenskij aus Dostoevskijs »Besy« (»Dämonen« bzw. »Die Besessenen«, 1871/72). 64 | Mit Rozanovs essayistischem Stil ist vor allem die spezifische Haltung des quasi naiven subjektiven Erzählers gemeint, der seine Empfindungen und Beobachtungen ungeordnet zu Papier bringt, in der Form, die quasi von den äußeren Umständen des Schreibens bzw. Erzählens gegeben werden. Organisationsprinzip für Rozanovs Texte ist die Gewohnheit, auf Papierschnipsel zu schreiben, für Erofeevs Erzähler ist es der Umstand einer Zugreise. Auch die von beiden Schriftstellern beabsichtigte Verwischung der Grenze zwischen Autor und Erzähler weist auf die stilistische Nähe der beiden Autoren hin. Erofeev beschäftigt sich mit der Figur Vasilij Rozanov in seinem Essay »Vasilij Rozanov glazami ėkscentirka« (1973). 65 | Vgl. die Titel der Romanteile 1, »Otcy i deti« (wie Turgenevs »Väter und Söhne«), 2, »Geroj našego vremeni« (wie Lermontovs »Ein Held unserer Zeit«) und 3, »Bednyj vsadnik« (»Der arme Reiter«). Letzterer ergibt mit dem Titel eines Unterkapitels, »Mednye ljudi« (»Eherne Leute«) Dostoevskijs »Bednye ljudi« (»Arme Leute«) und Puškins »Mednyj vsadnik« (»Der eherne Reiter«). Mit den Unterkapiteln sind Černyševskijs »Was tun«, Puškins »Der Schuss«, Lermontovs »Maskenball« und »Fatalist« sowie Dostoevskijs »Dämonen« erwähnt. Die Zitathaftigkeit und die vielschichtige innere Organisation (Kontaminationen, Assonanzen: z.B. mednyj- bednyj) von paratextuellen Elementen wie Titel und Inhaltsangabe geben die Möglichkeit, diese als einen komplexen und selbständigen Text zu analysieren (vgl. hierzu Bogdanova 2002: 10-60).
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Die Literarizität und Zitathaftigkeit werfen ihr künstliches Licht auch auf die Liebesgeschichte im Roman. Auf den ersten Blick gibt der Roman – genauer gesagt sein zweiter Teil, in dem es um die Liebe des Protagonisten geht – die Liebesgepflogenheiten der 1970er Jahre wieder und demonstriert ein offenes Liebesmodell. Der heranwachsende Romanheld ist in eine sehr komplexe und zumeist schmerzhafte Beziehung mit drei Frauen gleichzeitig verstrickt, von denen zwei (Albina und Faina) geschieden sind und zwei (Faina und Ljubaša) außer ihm andere Partner haben. Die »Aktualität« des Sujets entpuppt sich als literarisches Spiel, das z.B. die für die romantische und realistische Literatur des 19. Jahrhunderts typische Konstellation femme fatale/femme fragile variiert und eine Liebe zum unerreichbaren Objekt inszeniert. Als Parodie wirkt jedoch, dass die konventionelle Doppelung einer guten und einer schlechten Geliebten (Albina/Faina) durch eine dritte, extrem promiskuitive »Freundin« (Ljubaša) erweitert wird und die Wahl nicht zugunsten der intelligenten, liebenden und treuen Frau ausfällt, wie das der Roman des 19. Jahrhunderts vorsieht.66 Die Bedeutung einer solchen Konstellation – die Unterscheidung zwischen Liebe und Begehren – geht schließlich verloren. Die Analyse des Liebesgefühls endet in einer absoluten Ununterscheidbarkeit, die Äquivalenz der Liebesobjekte wird durch die reimenden Namen der geliebten Faina und der ungeliebten Albina und durch den »x-beliebigen« Namen der dritten Freundin (Ljubaša) deutlich gemacht.67 Besteht für Balzacs Helden (vgl. die Fußnote 66), die in einem ähnlich intrikaten Liebesdreieck verfangen sind, noch ein reales Liebesobjekt und geht es darum, der Verblendung durch das Begehren und den Besitz zu entgehen und, wenn auch zu spät, zu der wahren Liebe (Pauline) zu finden, ergibt sich für Bitovs Liebenden keine wirkliche Wahl, weil das Wesen der beiden Geliebten für ihn unsichtbar bleibt. Ähnlich, wie er sich in Faina täuscht, als er sie – das Mädchen aus der Unterschicht mit minimaler Ausbildung – für eine studierte Romanistin hält, täuscht er sich in Albina, deren Vorzüge er nicht sieht. Nur durch die Vermittlung des 66 | Vgl. stellvertretend Balzacs »La peau de chagrin« (1831), dessen Held Raphael de Valentin zwischen der kaltherziger Verführerin Feodora und dem liebenden Mädchen Pauline wählen muss. 67 | »Любаша. Любимая, нелюбимая, любая« (Bitov 1978: 220). Der Name Ljubaša – Ljubov’ – bedeutet wörtlich »Liebe«, in Bitovs Wortspiel aber auch »beliebige«: »Ljub- wie in geliebt, ungeliebt und beliebig« (Bitov 2007: 255).
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fremden Blicks (über Onkel Dickens Wahrnehmung von Albina) oder aus der Distanz der Trennung werden für ihn seine Geliebten »sichtbar«. Erst dann registriert er die Schönheit und die Noblesse der Albina und die fatale Andersartigkeit der Faina. Solange er aber die Beziehungen zu diesen Frauen unterhält, bleibt er im Bann der Trugbilder, die ihn die Realität seiner Liebe nicht sehen lassen. Die einzelnen Stränge des Liebesquartetts im Roman werden in deutlicher Anlehnung an Turgenevs Prosa konstruiert. Man findet nicht nur den Typ der »Turgenev’schen Frau« (diese Rolle spielt Albina, die zweite Geliebte des Protagonisten), sondern auch die anderen typischen Sujetwendungen aus Turgenevs Liebesgeschichten. So wird das Ausmaß seiner Liebe für den Protagonisten erst im Rückblick klar, und zwar in dem Moment, als seine Geliebte ihn für immer verlässt. Die romantische Distanz (Luhmann 1996) wird erreicht, eine Bindung ist nicht mehr möglich, und die Liebe kann sich frei entfalten, ohne eine Ehe befürchten zu müssen oder ihre Imagination durch reale Erlebnisse einzuengen. Bei Turgenev markieren solche Konstellationen deutlich einen unzeitgemäßen Helden, einen verspäteten Romantiker, sei es Pavel Kirsanov in »Otcy i deti« (»Väter und Söhne«, 1862) oder seien es die Erzähler in »Vešnie vody« (»Frühlingsfluten« 1872), »Asja« (»Asja«, 1858) und »Pervaja ljubov’« (»Erste Liebe«, 1860). Die Zitathaftigkeit des Romans dissoziiert die Ebenen der dargestellten Zeit. Die Handlung kann auf die literarische Vergangenheit und auf die Gegenwart projiziert, als ein Zitatenkompendium und als kritische Analyse der Gegenwart zugleich gelesen werden. Die Überlegungen zur Zeitstruktur und Zeitwahrnehmung, die Bitov in seinem Roman anstellt, führen ihn zu einer ähnlichen Zeitauffassung, wie sie Ricœur in seiner Abhandlung über die Erzählzeit formuliert. Es handelt sich um die Feststellung, dass die Zeit nur als subjektive (menschliche) Erfahrung existiert.68 Das Subjekt der Zeitwahrnehmung im Roman ist sein Protagonist, Ljova Odoevcev, und sein Bezug zu der zeitlichen Realität im Roman wird durch seine Herkunft und seine historische Situation bestimmt. Der Klärung dieser beiden Umstände ist der gesamte erste Romanteil gewidmet. Als Philologe und Erbe einer adligen Familie lebt Bitovs Held zwischen drei Epochen: Das ist zunächst die Epoche der klassischen russischen Li68 | Vgl. bei Ricœur: »[S]o bleibt, dass die Ausdehnung der Zeit eine Ausdehnung der Seele ist«. (Ricœur 1988: 31).
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teratur, also die Zeit seines Großvaters, dann die Epoche der sowjetischen »Unzeit« (bezvremen’e), die als die Zeit seines Vaters bezeichnet werden kann und somit Ljovas eigene Kindheit einschließt, und schließlich die Zeit der Stagnation, der historischen Gegenwart des erwachsenen Ljova. Es ist signifikant, dass Ljova zuletzt seine Identität in einem metahistorischen Raum findet: Als Literaturwissenschaftler mit Hang zur Intertextualität spezialisiert er sich auf »Zeitüberbrückung« und eignet sich die Welt an, ohne ihre linear fließende zeitliche Ordnung zu berücksichtigen. Die Kombination der zeitlichen Ebenen wird im Roman nicht bereits am Anfang ersichtlich, sondern erst durch die Rückkehr des repressierten Großvaters und Ljovas Lektüre von des Großvaters wissenschaftlichem Nachlass, das heißt mit der Rückkehr der ausgeblendeten Fragmente der Geschichte und der Wiedererreichbarkeit der bisher ungelesenen Texte. Ljovas zeitliche Dissoziation wird durch die traumatische Erfahrung der grundsätzlichen Umschreibung seiner familiären und somit auch seiner individuellen Geschichte hervorgerufen. Dieser tragische Umbruch ist dabei lediglich eine lokale Folge der Umschreibung der großen sowjetischen Geschichte. Die traumatische Erfahrung des kompletten Verlustes von vertrauten Orientierungen der nahen Vergangenheit (die Zeit des Vaters), verstärkt durch den missglückten Versuch, sich den Werten der fernen Vergangenheit anzuschließen (die Zeit des Großvaters), und der daraus resultierende Verlust des Vertrauens darauf dass es feste Orientierungen gibt (die Gegenwart der Romanhandlung), machen aus Ljova einen Menschen, der zwischen den Zeiten, in einer Welt der Scheinbarkeiten existiert und an Identitätsverlust leidet. Die Identitätsfindung gelingt Ljova erst, als er beginnt, eigene Texte zu produzieren, das heißt erst im virtuellen Raum der Literatur(-wissenschaft). Weder in seiner Zeit- noch in seiner Lebens- und Liebeserfahrung lassen sich Kontinuität und Ganzheit des Erlebens beobachten. Das verdreifachte Liebessujet, das im mittleren der drei Romanteile erzählt wird, spiegelt die Dissoziation von Ljovas Subjektivität wider. Die Linearität und Eindeutigkeit der Wahrnehmung und des Erlebens bleiben für den Romanhelden unerreichbar, was dazu führt, dass auch seine Liebesgeschichte nicht linear verläuft und sich entlang von drei Sujetsträngen entfaltet. Der Nichtidentität des liebenden Helden entspricht die Nichtidentität seiner Liebe, bezüglich derer Objekte eine absolute Unklarheit herrscht. Diese »geschichtete«, »zitierte«, »reversible« oder »versiegelte« Zeit zeichnet nicht nur den Roman von Andrej Bitov, sondern bestimmt gene-
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rell die künstlerische Praxis und die Selbstbeschreibung der 1970er Jahre.69 Nicht zuletzt bekommen die zwei langen Jahrzehnte (von 1965 bis 1986) den Namen zastoj (Stagnation), buchstäblich das »Stehenbleiben«. Diese Vorstellung von diesem letzten Abschnitt der sowjetischen Kultur wird durch die Empfindungen geprägt, dass die Zeit der Gegenwart nicht mehr vorwärts fließt, dass die Gegenwart in Wiederholung – z.B. der zahlreichen iterativen Rituale wie Feiertage und Paraden – erstarrt, dass im letzten Jahrzehnt der Stagnation selbst das einmalige Erlebnis des Todes zum immerwährenden Ereignis wird, weil fast alljährlich feierliche Begräbnisse von sowjetischen Vertretern der Gerontokratie stattfinden. Die Liebessujets, die eine zeitlich schon »vergangene« Liebe imitieren, registrieren die Nullebene der gegenwärtigen Zeit, die nicht mehr zur Zukunft werden kann und nur noch die Vergangenheit hat. Die Reversibilität der Zeit ist die Reaktion auf das neue Zeitempfinden, das in den letzten sowjetischen Jahrzehnten spürbar wird. Nicht mehr die historischen Ereignisse, etwa die großen Katastrophen der nahen sowjetischen Vergangenheit, bestimmen das Zeitempfinden in den langen Jahrzehnten der Stagnation. In der spätsowjetischen, massenmedialen Gesellschaft wird die Gegenwart ausschließlich über die Medien greifbar: Es sind die Medien, die die Realität »erzählen«. Diese Narrativierung der Realität durchbricht mithilfe von Mythen – ganz gleich ob es sich dabei um die traditionelle sowjetische Mythologie mit ihren Martyriumsgeschichten oder um die liberale russische Mythologie mit ihren Idealisierungen der vorrevolutionären Vergangenheit handelt – die normale Zeitabfolge – so wie im analysierten Roman von Andrej Bitov. Das Erzählen der Zeit be69 | Mit Iteration, Serialität, Gleichzeitigkeit und Unendlichkeit experimentiert Vasilij Aksenov in »Ožog«. Venedikt Erofeev lässt in den Schlusskapiteln von »Moskva–Petuški« sowohl den Raum als auch die Zeit »zurückfließen«. In die Reihe der Experimente mit der Zeit treten auch Filme von Andrej Tarkovskij (insbesondere Zerkalo, Der Spiegel, 1974). Dieser Regisseur schlägt in einem seiner filmpoetologischen Texte die Metapher des »zapečatlennoe vremja« (»der versiegelten Zeit«) vor. Diese betrifft die spezifische künstlerische Modalität des Zeiterlebens – das subjektive Erlebnis der Zeit und die subjektive Faktizität der Wahrnehmung (vgl. Tarkovskij 2002). (Im Russischen hat das Wort zapečatlennyj sowohl die Bedeutung »abgebildet« als auch die Bedeutung »versiegelt«.) Über Zeitexperimente in der Prosa von Vasilij Aksenov vgl. Eshelman 1997, zur A-Historizität der postmodernen russischen Literatur vgl. Smirnov 1994: 325-332.
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stimmt das Erleben der Zeit, und die erzählenden Medien bestimmen das Zeitempfinden. Die Liebesgeschichten, die als Wiederaufnahmen von literarischen Liebesmodellen einer vergangenen Epoche inszeniert sind, markieren die Sekundarität und Medialität der neuen Zeitwahrnehmung, die – rückwirkend – die Liebesgeschichten selbst sekundär, simulativ, nicht linear werden lässt. Die 1960er und vor allem 1970er Jahre revolutionieren das Sprechen über Liebe. Sie erkämpfen Lizenzen auf Darstellung von bisher tabuisierten Themen, entwerfen ein nicht nur lesenswertes, sondern auch ein praktizierbares Modell der Liebe und einen elaborierten Code, der der neuen Liebe eine ästhetische Gestalt geben kann. So kann die neue Liebe in Bezug auf den Stilisierungsgrad mit der erhabenen Liebe des Stalinismus konkurrieren, denn sie kann z.B. Sexualität, freie Partnerwahl und Partnerwechsel aufwerten und ihre Alltäglichkeit als »schön« und nachahmungswürdig präsentieren. Die Liebe in der Ästhetik des klassischen sozialistischen Realismus war »schön«, weil sie einem Ideal galt und weil sie durch ungewöhnliche Heldentaten und Askese ausgezeichnet wurde, die einen Seltenheitswert hatten. Die neue Liebe, deren Anfänge in der Zeit der Tauwetterperiode lagen und die ihre Hochform in den 1970er Jahren erreicht hatte, entwarf im Gegenteil zu der Liebe des sozialistischen Realismus, die kollektive Werte vorzog, eine Ästhetik der individuellen Autonomie. Die neue Liebe verzichtete auf die Suche nach einem Ideal und suchte das Besondere im Gewöhnlichen, in der vertieften Selbstreflexion. Denn diese Liebe bestand nicht im Finden eines idealen oder passenden Objektes, sondern in der »Präparierung« und in der Aufbereitung des eigenen »Ich«. Sie wurde subjektbezogen und nicht mehr objektzentriert. Diese Liebe bedeutete lediglich einen affektiven Bezug zum Liebesobjekt und sagte nichts über seine positiven bzw. negativen Eigenschaften. Die Liebesästhetik des klassischen sozialistischen Realismus arbeitete mit klar definierten bipolaren Modellen und konnte das Gute und das Böse, das Erhabene und das Profane trennen. Die Sujets konnten auf wenige Invarianten reduziert werden. Ihre starke Formalisierung brachte sie in die Nähe der mündlichen Kultur. Diese Liebesästhetik orientierte sich eindeutig an einem spezifischen Rezipienten – am gestrigen Analphabeten, dem die klaren Formen und die volksnahe Sprache des sozialistischen Realismus zugänglich waren. Wenn sie aber komplexere Ausdrucksformen erfand, dann bedurfte die literarische Liebesästhetik der 1960er und
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70er Jahre eines spezifischen Rezipienten, der das Spiel der Komplexitäten nachvollziehen und mitspielen konnte. In den 60er und 70er Jahren erlebt die sowjetische literarische Liebe einen entscheidenden Wandel. Die neuen Strategien ihrer Narrativierung zielen auf die Aufdeckung der Verlogenheit des alten Liebescodes und schlagen den Code der – im Sinne der Aufrichtigkeitsdebatte der Tauwetterzeit – »aufrichtigen« Liebe vor. Bei der Erschaffung des neuen Liebescodes geht es darum, das festgefügte Regelwerk zu verwerfen und der individuellen Sprache Platz zu machen. Kritiker Vladimir Pomerancev, der den Ton der Aufrichtigkeitsdebatte angibt (Pomerancev 1953), spricht über die Verlogenheit der Literatur, die statt über Menschen über Metallschmelzöfen schreibt (domna). Vasilij Aksenov parodiert die Liebe, die in ihrem Hintergrund immer ein Wasserkraftwerk haben muss. Dieser Regelhaftigkeit fester industrieller Topik (domna, Wasserkraftwerk, Fabrik) wird eine offene Struktur entgegengestellt. Pomerancev fordert eine »Aufrichtigkeit«, die vor allem die Individualität des Autors, die Autonomie seiner Sichtweise und seiner Sprache herausstellen soll. Aksenov entwirft einen ähnlich individuellen, offenen Liebescode (vgl. oben seine prinzipiell nicht formulierbare »Definition« der Liebe: »Liebe ist … Liebe ist …«). Mit dem Übergang zu einer individuellen Sprache und zu einer individuellen Liebe wird der semantische Kern der sozialistisch-realistischen sowjetischen Liebe, ihre Metaebene, der Verweis auf die sakrale Macht – die eigentliche Geliebte – verworfen. Statt auf die Tugendliebe, die den Liebenden durch Nachahmung und Selbstvervollkommnung in das sowjetische Kollektiv integrieren sollte, konzentrierte sich der neue Liebescode auf die Einzigartigkeit und Individualität des Liebenden und des Geliebten. Wenn auch hier die Liebe einen Prozess und eine Entwicklung für den Liebenden bedeutete, dann war es mehr der Prozess der Individuation als der Integration. Interessant für das Liebessujet war die Persönlichkeit des liebenden Subjekts – wie es sieht, wie es spricht, wie es sich in seiner Zeit empfindet, nicht aber das »Öffentliche« an ihm, das, was es als Gemeinschaftswesen auszeichnete. An dem geliebten Objekt fiel vor allem das ins Auge, was in der neuen Konsum- und Mediengesellschaft besonders relevant war – seine Oberfläche. Doch der private und individuelle Charakter dieser neuen Liebe brachte auch bestimmte Probleme mit sich. Ihre Semantik war zu partikulär, ihr fehlte es an Tiefe. Als die Woge der jungen Prosa und der Euphorie ihrer Rezeption abflaute, warf der liberale sowjetische Kritiker Lev Anninskij
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den Autoren dieser Gattung Oberflächlichkeit vor. Sie würden – schrieb er – an der Schale einer Nuss nagen, anstatt in die Tiefe der Frucht einzudringen (Anninskij 1965). Oleg Charchordin macht in seiner kontrastierenden Interpretation von Anninskijs kritischer Position und Aksenovs Roman »Zvezdnyj bilet« ebenfalls darauf aufmerksam, dass das Hervorbringen von großen Narrativen und die Behauptung von gesellschaftsübergreifenden Werten seit der Zeit des Tauwetters mit immer größeren Schwierigkeiten verbunden war.70 Die großen Narrative räumen den Platz für private und konkrete Wünsche, die jedoch nicht mehr als kollektive Ziele fungieren können und keine Ähnlichkeit mehr mit den bisherigen, auf die Selbstvervollkommnung gerichteten sowjetischen Lebensprogrammen aufweisen (Kharkhordin 1999: 343-354). Darin liegt das Problem des neuen Codes, denn die Werte, die er vorschlägt, sind, verglichen mit den großen Werten der sowjetischen Ideologie, zu partikulär: Der Code konzentriert sich auf das persönliche Erlebnis Liebe, ohne die Liebe in einen Kontext von besonderer gesellschaftlicher Relevanz einzuschreiben. Die Liebenden im neuen Code stehen nur für sich und haben keine ideologische Stütze. Sie werden damit zu »schwachen« Helden, was ihre »Verführbarkeit« durch Mode und Konsum demonstriert. Sie laufen ständig Gefahr, sich in der neuen Medienwelt zu verlieren. Die stilisierten Spiele mit der Zeit sind ein Indiz dafür. Das Pathos der Verneinung – die Kritik der Verlogenheit – reicht als negative Legitimation nur für die kurze Epoche der 1960er Jahre aus.71 70 | Zu einer ähnlichen Auffassung kommt auch Raoul Eshelman in seiner Analyse von Jurij Trifonovs Prosa. Am Beispiel Trifonov zeigt er, dass die Aufmerksamkeit für den Alltag (byt) nicht nur ein gesellschaftskritisches Statement dieses Autors, sondern auch der einzige Ersatz für die großen Narrative der Vergangenheit ist. Nur durch den Alltag ist der sowjetische Mensch in die sowjetische Gemeinschaft eingebunden (Eshelman 1995). 71 | Vgl. Andrej Bitov: »Вся сила человеческого духа повернулась в наш век лишь на истрачивание, отмену, разоблачение и дискредитацию ложных понятий. Весь позитивизм современной духовной жизни – негативен. Ложные понятия изничтожаются и не заменяются ничем« (Bitov 1978: 79). – »Die ganze menschliche Geisteskraft ist in unserem Jahrhundert nur auf Vernutzung, Abschaffung, Entlarvung und Diskreditierung falscher Begriffe ausgerichtet. Der ganze Positivismus des heutigen Geisteslebens ist negativ. Falsche Begriffe werden ausgemerzt – und durch nichts ersetzt.« (Bitov 2007:93).
5. Das Auge, die Sprache, das Herz: die neue Liebe
Die neue »Aufrichtigkeit«, welche an die Stelle der alten »Lüge« kommen sollte, erweist sich bereits einige Jahre später als ein künstliches Produkt, als Imitation von Aufrichtigkeit nach dem medial (filmisch oder literarisch) vorgegebenen Muster. Imitation wird immer öfter zum Thema und gleichzeitig zum Problem dieser Epoche. Wenn die Tauwettergeneration bei ihrem Eintritt in die Literatur die Kluft zwischen Worten und Taten beseitigen wollte,72 durfte sie ein Jahrzehnt später feststellen, dass es zwischen den »Worten und Taten«, die sie propagiert hat, eine nicht mindere Distanz gegeben hat. Die Unmöglichkeit der Aufrichtigkeit, des authentischen Empfindens, Denkens und Fühlens ist das zentrale Thema in Andrej Bitovs »Puškinskij dom« und Vasilij Aksenovs Romanen »Zolotaja naša železka« und »Ožog«. Das liebende Subjekt in diesen Texten kann sogar mit sich selbst nicht aufrichtig sein, kennt sich nicht, ist nicht mit sich selbst identisch. Dies demonstriert mit besonderer Eindringlichkeit Bitovs Ljova Odoevcev, der nicht nur nicht weiß, wer er ist und in welcher Zeit er lebt, sondern sich auch nicht im Klaren darüber ist, wen er eigentlich liebt. Die schizophrene Spaltung des einen (liebenden) Ichs in einem fünffachen Heldenarrangement beschreibt Vasilij Aksenov (»Ožog«). In den Romanen der 1970er Jahre führt Liebe als Individuationsprozess zur Erkenntnis der Nichtidentität und endet häufig mit einem Identitätsverlust. Das wird oft durch alkoholisches Delirium (Erofeevs »Moskva–Petuški«), den tatsächlich stattfindenden oder imitierten Tod des Protagonisten (vgl. den »Scheintod« von Odoevcev in »Puškinskij dom«), Depression oder Krankheit (in der Prosa von Trifonov und Zalygin) symbolisiert. Die Konzentration auf das erlebende Individuum führt nicht nur zur Aufdeckung seiner inneren Spaltung, sondern auch zu einem Objektverlust. Die Geliebten werden minimal beschrieben. Immerhin sucht die neue Liebe ihre Legitimation in sich selbst und nicht in ihrem Objekt: Es geht um die »Aufbereitung« des Ichs für die Liebe und nicht um die Findung des guten Geliebten. So wird des Öfteren an der Geliebten vorbei geliebt, wie dies wiederum Vasilij Aksenov und Andrej Bitov mit der Problematik des trügerischen Scheins (die Goldmünzenfrau Alisa) und der Unsichtbarkeitsthematik (Albina, Faina) zeigen. Der Paradox wird zur Haupteigenschaft der neuen Liebe. Sie konzentriert sich auf die Individualisierung und endet mit Identitätsverlust, sie 72 | Vgl. Oleg Kharkhordin: »[T]he main issue of the epoch: comparing words and deeds« (Kharkhordin 1999: 345).
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möchte alte Werte revolutionieren, kann aber keine neuen vorschlagen. Ihre Sprache orientiert sich an Visualität, und die penible Beobachtung bedeutet für diese Liebe Konzentration auf die Oberfläche.
6. Krieg der Geschlechter
In einer Kultur, die zwischen Männern und Frauen nicht nur biologische, sondern auch soziale Unterschiede sieht, muss Liebe als die Art, Intimität zu codieren, in zwei geschlechtsspezifischen Varianten vorhanden sein. Am deutlichsten lässt sich diese Zweiteilung des Codes am Beispiel der romantischen Liebe zeigen. Mit Niklas Luhmanns Worten kann sie folgendermaßen definiert werden: »Der Mann liebt das Lieben, die Frau liebt den Mann« (Luhmann 1994: 9). Der männliche Liebende konzentriert sich auf die Handlung bzw. auf die Kommunikation, die liebende Frau auf das Objekt ihrer Liebe. Dabei unterscheiden sich sowohl die Semantik als auch der Code der Liebe. So behauptet Luhmann, dass die »Engländerinnen, die den präviktorianischen Romanen zu entsprechen suchen, auf die sichtbaren Zeichen ehebereiter Liebe warten [müssen], bevor sie bewusst entdecken dürfen, was Liebe ist« (ebd.). Die Liebe einer präviktorianischen Frau bedeutet demgemäß das Warten auf einen Heiratsantrag und kann nur die Form einer Antwort auf fremdes Werben haben, aber niemals eine Aufforderung zur Liebe sein. Die Liebe des präviktorianischen Mannes – komplementär zum weiblichen Erlebnis – bedeutet dagegen die Entscheidung, einen Heiratsantrag zu machen und damit die Liebeskommunikation einzuleiten. Die Komplementarität der männlichen und der weiblichen Liebe scheint eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen der Liebeskommunikation zu sein. In der Literatur aber wird diese spezifische Gendercodierung der Liebe oft provoziert. Dies kann auf unterschiedliche Weisen erfolgen und unterschiedliche Funktionen haben. Außer dass man mit solchen Provokationen in den bekannten Sujetablauf eine unerwartete Spannung einbaut, kann die Abweichung vom codierten Verhalten die Norm des »guten Liebens« bekräftigen, indem man die Normabweichung als Fehlentscheidung inszeniert.
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Andererseits kann die Norm ganz außer Kraft gesetzt werden, wenn man mit einer solchen »Abweichung« von der normativen Vorstellung von Liebe die strukturelle Unmöglichkeit der Einhaltung der Norm aufzeigt. Und oft problematisiert die Literatur in den Liebessujets die Schwierigkeit, oder sogar die Unmöglichkeit, eine klare Grenze zwischen Geschlechterrollen zu ziehen, eine klare »Norm« zu formulieren. Ein paradigmatisches Beispiel hierzu liefert Puškins Versroman »Evgenij Onegin« mit den Larinasschwestern. Wenn Olga Larina immer in den Grenzen des erwarteten weiblichen Verhaltens bleibt, wird sie von Onegin als »langweilig« gewertet. Olgas Schwester Tatiana bricht jedoch mit ihrem Liebesbrief mit den Konventionen des weiblichen Liebesverhaltens. Obwohl sie nicht »langweilig« ist, muss gerade sie (zuerst) eine Niederlage in ihrer Liebe erfahren. Tatianas Benehmen, dass die Regeln des guten Tons und des »richtigen Liebens« tangiert, erfährt eine doppelte Interpretation. Einerseits wird ihr ungeschickter Versuch, durch das Geständnis die gegenseitige Liebe in Onegin hervorzurufen, als eine kindische Geste gedeutet. In der Szene im Garten (vgl. das IV. Kapitel) tadelt Onegin das verliebte Mädchen und nimmt für sich die Position des erfahrenen und auf die Konventionen bedachten Erwachsenen ein, was Tatiana logischerweise zum unvorsichtigen Kind macht.1 Laut dieser Lesart ist sie diejenige, die das Wissen über die zarte Leidenschaft (nauka strasti nežnoj) noch nicht erlangt hat und deswegen nicht am Liebesspiel teilnehmen kann. Andererseits kann Tatiana gerade durch das Ausbrechen aus der ihr vorgeschriebenen Rolle die Autonomie ihrer Liebe behaupten und schließlich in Onegin eine gegenseitige – wenn auch verspätete – Liebe erwecken.2 Durch die Provokation der Geschlechterunterschiede stellt Puškins Roman die Ambivalenzen des Codeverhaltens deutlich heraus und zeigt die Disparität und Ungleichzeitigkeit des männlichen und des weiblichen Liebesverhaltens auf.
1 | Zu Briefmotiv, Liebe und pädagogisierender Tendenz bei Puškin und in der späteren russischen Literatur vgl. Murašov 1998, 2008. 2 | Vgl. Smirnov 1994: 22-27. Gemäß der Kastrationslogik der romantischen Kultur soll die Liebe bei Puškin – so Smirnov – immer mit einem, sie aufhebenden, Hindernis konfrontiert sein. Daher, hätte man folgern können, muss die Liebe von Tatiana nicht nur im Verhältnis zu Onegins Gefühlen ungleichzeitig sein, sondern auch eine provokative Form haben, an die Onegin sich nicht anschließen kann.
6. Krieg der Geschlechter
Richtet man den Blick auf die Liebessujets der spätsowjetischen Zeit, so stellt man fest, dass auch hier das Verhalten der weiblichen und der männlichen Helden trotz der postulierten Gleichberechtigung den asymmetrischen Liebesmodellen folgt. Die literarischen Liebenden operieren mit differierenden Erklärungen, warum man liebt, und gehen mit ihrer Liebe unterschiedlich um. Dabei fällt auf, dass die Modelle der weiblichen und der männlichen Liebe nicht komplementär zueinander angelegt sind. Das heißt, sie ergänzen einander nicht, wie dies laut Luhmann in präviktorianischen Romanen der Fall sein sollte, sondern sie folgen eher dem Schema der disparaten Liebe aus Puškins Versroman. Die weibliche und die männliche Liebe existieren in zwei verschiedenen Koordinatensystemen, was die Liebenden untereinander nicht unbedingt »kompatibel« macht. Die Liebesgeschichten aus der Feder sowohl der männlichen Autoren als auch der weiblichen Autorinnen konzentrieren sich auf das Nichtgelingen der Liebe bzw. auf die Liebesenttäuschung, die oft durch gegenseitiges, vom Liebescode vorprogrammiertes, Missverstehen der Partner hervorgerufen wird. Problematisch ist auch, dass die 1960er und 70er Jahre sich in einer kritischen Auseinandersetzung mit der stalinistischen Kultur befinden, die eine Tendenz zur Unterdrückung der Genderunterschiede aufweist. Die Grenze zwischen Mann und Frau wird hier zwar nicht eliminiert, rückt jedoch in den Hintergrund, da es hauptsächlich um die Kreierung eines »neuen sowjetischen Menschen« geht. Ähnlich wie die Rhetorik der neuen sowjetischen Gemeinschaftlichkeit (novaja sovetskaja obščnost’) auf die Unterdrückung der nationalen Unterschiede gerichtet ist, zielt die Rhetorik der Genese des neuen sowjetischen Menschen auf das Ignorieren des Sexus als einer Leitdifferenz im Diskurs über den sowjetischen Mann und die sowjetische Frau. Das Pionierwerk von Eric Naiman analysiert die ideologische Vereinnahmung der Sexualität bereits in den 1920er und frühen 1930er Jahren und zeigt nicht nur, wie die Zeichen der individuellen Sexualität zu kollektiven Metaphern werden, sondern auch wie z.B. die penetrierende Funktion zunehmend für den Staat und die Macht reserviert wird (Naiman 1997, vgl. insb. die Kapitel »Let’s penetrate« und »Chubarovs affaire«).3 3 | Inzwischen liegen neuere Forschungen vor, stellvertretend sei hier auf die Arbeiten von Rolf Helebust und Keith A. Livers verwiesen (Helebust 2003, Livers 2004). Zur Problematik der »neuen Männlichkeit« im sozialistischen Realismus
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Igor’ Kon führt mehrere Beispiele aus den 1930er Jahren vor, die von einer Angst vor sexualisierter Körperlichkeit zeugen (Kon 1997: 140). Man kann diese Erscheinung mit der Krise der sowjetischen urbanen Kultur erklären, die durch die massive Migration der bäuerlichen Bevölkerung nahezu weggespült wurde.4 Aber die Rückkehr eines archaischen Schamgefühls und das oft mit ihr einherlaufende Unverständnis für die künstlerische Konvention der Darstellung des erotisierten Körpers sind nur Teilaspekte des Problems. Der Krieg gegen das Geschlecht, der Geschlecht vor allem als Zugehörigkeits-, Identitäts- und Identifizierungskriterium begreift, hat mehrere Implikationen. In der Kultur der sowjetischen 1930er Jahre beobachten mehrere Forscher das »Transparentwerden« von Grenzen zwischen den Geschlechtern. In der visuellen Kunst der 1930er Jahre werden die Gestalten auf den Propagandaplakaten oder auf den Gemälden der sozialistisch-realistischen Maler sonderbar geschlechtslos dargestellt oder sie nehmen – zu einem dritten Geschlecht gehörend – eine Zwischenstufe zwischen Mann und Frau ein (Kokalevska 2007, Murašov 2008). Die Undifferenziertheit der weiblichen und der männlichen Attribute und Verhaltenscodes – das Weibliche im Männlichen und umgekehrt – sowie Elemente von latenter Homosexualität sind in den Romanen des sozialistischen Realismus zahlreich vertreten (Smirnov 1994: 250f.).5 Das Verschwinden von Weiblichkeit in der sowjetischen visuellen Kultur problematisiert Tatiana Daškova und zu den Genderexperimenten vgl. Attwood 1990, Borenstein 2000, Haynes 2003, Kaganovsky 2008. Der Männlichkeitsdiskurs ist oft ein Bestandteil der Diskurse um neue sowjetische Berufe. Susanne Schattenberg zeigt dies am Beispiel der Ingenieure (Schattenberg 2002). Zum Diskurs der sowjetischen Weiblichkeit vgl. speziell Lynne Attwoods Monographien (Attwood 1990, 1999). In allen zitierten Arbeiten spielt Desexualisierung eine zentrale Rolle, verstanden als symbolische Übergabe der »penetrierenden Funktion« an die Macht, als »Reinlichkeitsdiskurs« im Sinne der Körperhygiene, als Kultivierung des Geistes (kulturnost’) bis hin zu Asketismus und Sublimierung oder Zerstörung der eigenen Körperlichkeit. 4 | Auf die Entstehung einer »nomadisierten Bauernbevölkerung« in sowjetischen Städten der 1930er Jahre und die Relevanz der Volkskultur für die Kultur des Hochstalinismus hat Michail Ryklin hingewiesen (Ryklin 1992: 35). 5 | Igor Smirnov deutet das Tangieren der Gendergrenze als ein Element der quasi religiösen Kenosis des masochistischen Helden des sozialistischen Realismus.
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in ihrer Analyse der sowjetischen Frauenzeitschriften und beobachtet dabei, wie die Rede von weiblicher Schönheit, einer besonderen weiblichen Körperkultur und einem spezifisch weiblichen Erscheinungsbild auf einen schlichten Hygienediskurs reduziert wird (Daškova 2006). Die Differenz zwischen Männern und Frauen wird in der Filmkunst oft durch Verkleidungsspiele kaschiert. Wahre Künstlerinnen der kinematographischen Travestie, die gelegentlich an den Transvestismus grenzt, sind die beiden Stars dieser Zeit, Marina Ladynina und Ljubov’ Orlova. Andere bekannte Schauspielerinnen, die sich dezidiert der Darstellung der Weiblichkeit verschreiben, etwa Tat’jana Okunevskaja, Valentina Serova oder Ol’ga Žizneva (z.B. in Strogij junoša), genießen eine weit kleinere offizielle Akzeptanz. Aber auch sie erscheinen gelegentlich in einer »unweiblichen« Rolle, wenn sie z.B. in den Kriegsfilmen als Ersatzarbeitskräfte für ihre Männer einspringen sollen (vgl. die Rolle von Valentina Serova im Film Ždi menja).6 Selbstverständlich stehen diese travestierten Figuren im Zusammenhang mit dem sich ändernden Aufgabenbereich der sowjetischen Frauen. Seit dem Anfang der Industrialisierung an der Schwelle der 1920er zu den 1930er Jahren, und dann verstärkt während und nach dem Krieg, spielen weibliche Arbeitskräfte eine zunehmend wichtigere Rolle und müssen mit großem propagandistischem Aufwand für die sowjetische industrielle Produktion gewonnen werden. Dieser Umstand erklärt jedoch nicht, warum in der Erscheinung der sowjetischen Frau jeder Anflug des Erotisch-Geschlechtlichen eliminiert werden sollte und nur unter besonderen Vorbehalten – wie etwa im Film Cirk – in das sonst politisch korrekte Sujet hineingeschmuggelt werden konnte. In diesem Film kann Ljubov’ Orlova ihre verführerische Weiblichkeit nur deshalb zur Schau stellen, weil sie eine »versklavte« amerikanische Schauspielerin darstellt, die von ihrem bösen (deutschen) Manager zur erotischen Selbstinszenierung gezwungen wird. Bei den fiktionalen Zirkuszuschauern im Film stößt diese »westliche« weibliche Erotik auf Ablehnung. In seiner Analyse dieses Films stellt John Haynes nicht nur fest, wie problematisch diese »erzwungene« Weiblichkeit im Kontext der stalinistischen Ästhetik ist, sondern auch wie abstrakt ihr männlicher Gegenpart (der sowjetische Superman Martynov) gezeichnet wird. Haynes spricht in diesem Zusammenhang von einer Politisierung des Persönlichen. Denn auch hier wie in vielen anderen Su6 | Zum Thema »Frau im Film in der Zeit Stalins« vgl. Bulgakova 2001.
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jets überzeugt der völlig desexualisierte und depersonalisierte sowjetische Held die amerikanische Schauspielerin nicht mit seiner männlichen Anziehungskraft, sondern mit der Kraft der sowjetischen Ideologie, die er verkörpert (Haynes 2003: 78-88). In der Schlusssequenz des Films sind die marschierenden, uniformiert gekleideten Protagonisten kaum voneinander zu unterscheiden. Jeder Hinweis auf ihr Geschlecht und eine mögliche erotische Verbindung verschwindet. Nicht nur in der Darstellungen der Frau, sondern auch in der Darstellungen des Mannes beobachtet man die Tendenz zur Desexualisierung. Die Erscheinungsformen der Männlichkeit im klassischen sozialistischen Realismus werden auf das Modell einer Vater-Sohn-Beziehung projiziert und die sowjetischen Männer dadurch zu ewigen Kindern gemacht. Hans Günther analysiert dies am Beispiel von »Stalins Falken«, den heldenhaften, aber als infantil inszenierten Fliegern der Stalinzeit (Günther 1993).7 Michail Ryklin bespricht den gleichen Tatbestand der männlichen Unreife anhand von Metrobildern. Die unmündigen, nur scheinbar erwachsenen männlichen Gestalten auf den Mosaiken der Moskauer U-Bahn tummeln sich um die Vaterfigur des Führers Stalin, den eigentlichen Verursacher der auf den Bildern inszenierten Fruchtbarkeit (Ryklin 1992: 34-51). Katerina Clark definiert die Distanz zwischen den »Söhnen« (Stoßarbeitern und arktischen Fliegern) und dem als Vater des Volkes inszenierten Herrscher als unüberwindbar, so dass den männlichen Ikonen dieser Zeit nur die Möglichkeit blieb, sich als Vorbildkinder des Herrschers zu stilisieren (Clark 1999, Clark 2000: 124-129). Männer und Frauen erscheinen gleichermaßen desexualisiert: Männer als »Kinder« in der vorsexuellen Rolle, Frauen in einer transsexuellen – als vermännlichte Arbeiterinnen mit maskulinen Gesichtszügen und starkem Körperbau8 – oder in einer postsexuellen Rolle – als Mütter. Beide Geschlechter lösen sich, wie auf den Metrobildern, im einträchtigen Jubel oder, wie in vielen Filmen der Stalinzeit, in der heldenhaften Arbeit auf. 7 | Zur Infantilität in der stalinistischen Kultur vgl. Dobrenko 1999, Clark 1999, Clark 2000: 124-129. Das familiärinfantile Modell wird in der Zeit des Tauwetters auf die sowjetischen Kosmonauten übertragen, wobei sich der neue sowjetische Regierungschef Nikita Chruščev – ähnlich wie sein Vorgänger Stalin – als Vaterfigur präsentiert (vgl. hierzu Schwartz 2008). 8 | Zur spezifischen Beziehung zwischen Frauen und Macht (und speziell der Herrscherfigur Stalins) vgl. Murašov 2008.
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Gelegentlich wird auch eine Liebesvereinigung angedeutet, diese findet jedoch außerhalb des Sujetrahmens statt, nach der Hochzeit und somit nach dem Filmende (Smirnov 1994: 243). Denn wenn permanent die himmlische Hochzeit der Macht mit dem Volk gefeiert wird, sind die partikulären Zusammenkünfte der Geschlechter für die künstlerische Darstellung uninteressant. Die Desexualisierung, die sich in der Eliminierung des Geschlechtlichen, in der Androgynie, im Transvestismus oder in der Infantilisierung zeigt, entspricht der besonderen Ästhetik des sozialistischen Realismus, deren zentraler Punkt die Sakralisierung der Macht ist. Im Dienst der ideologischen Gottheit gilt es, die eigene Genderidentität abzulegen oder zu tauschen – ähnlich wie die Attribute der Gendertravestie, etwa die Mönchskutte oder das kurz geschorene Nonnenhaar, in der christlichen Tradition die Dienstbarkeit gegenüber dem Herrn beweisen.9 Die so verstandene Desexualisierung wird zum wichtigen Punkt, an dem die Stalinismuskritik ansetzt. In der späteren Rezeption wird sie als einer der pathologischen Züge der sozialistisch-realistischen Kultur dargestellt. So inszeniert der Retrofilm Serp i molot (dt. VT. Hammer und Sichel, 1994) eine Geschlechtsumwandlung, die aus einer Frau einen perfekten Mann erschafft – einen neuen Menschen sowjetischer Prägung. Der Film deutet somit das sowjetische anthropologische Experiment als Operation an der sexuellen Identität sowjetischer Bürger um.10 Saša Sokolovs Roman »Palisandrija« (1985) ironisiert die Desexualisierung und patriarchalen Denkmuster der sowjetischen Kultur, wenn er in seinem als alternative sowjetische Geschichte angelegten Roman einen thanatophilen Hermaphroditen zu Kremls Thronfolger macht. Seine doppelgeschlechtliche Figur ist Usurpator im doppelten Sinne: Er usurpiert sowohl die männliche (wie der Große Vater Stalin) als auch die weibliche Sexualität und parodiert gleichzeitig die in der sowjetischen Kultur unterschwellig präsente Erotisierung der Macht. 9 | Die Beziehung zwischen christlich-orthodoxen Praktiken des Selbst und der Entstehung sowjetischer Individualität analysiert Oleg Kharkhordin in seiner Monographie über das Kollektive und das Individuelle in der sowjetischen Kultur (Kharkhordin 1999). Auf den Zusammenhang zwischen transsexualem Verhalten und der Tradition der christlichen Kenosis verweist Igor Smirnov (Smirnov 1994: 250f.). 10 | Zur Interpretation dieses Filmes und zu seinem Verhältnis zu den Genderund Identitätsmodellen der Zeit Stalins siehe Larsen 2002: 653-659.
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D IE NEUE M ÄNNLICHKEIT Die Auseinandersetzung mit den stalinistischen Gendermodellen fängt in der Zeit des Tauwetters an und lässt sich an dem Wandel des Schönheitskanons und dem Interesse an der erotisierten Weiblichkeit in Literatur und Film beobachten. Weibliche Koketterie, zuvor als Attribut der Frau aus der »sozial-fremden« Klasse abgewertet, wird ihrer Negativität entledigt. Sie wird zwar durch das junge Alter der Filmdarstellerinnen oder der literarischen Heldinnen und ihre quasi kindische Unmittelbarkeit kaschiert, aber dennoch immer öfter in das Szenario des Liebesspiels aufgenommen. Kokette Mimik und Körpersprache zeichnen Veronika in Letjat žuravli aus. Regisseur Grigorij Čuchraj greift in Ballada o soldate (dt. VT. Ballade vom Soldaten 1959) zu erotischen Topoi, wenn er seine Heldin mit dem Wasserstrahl einer Quelle spielen und sie ihre zierlichen Füße waschen lässt. In der Erinnerung des jungen Soldaten, der zuvor diese Szene beobachtet hat, wird diese Episode noch einmal durchgespielt. Die visuellen Effekte, das Aufeinanderlegen zweier Bildreihen und die Lichteffekte, verleihen dem Set den Charakter eines erotischen Traumes. Schließlich legen die adoleszenten Heldinnen der Jungen Prosa das ganze Arsenal der weiblichen Koketterie an den Tag. Sie schwingen ihre Hüften, schlagen mit den Wimpern, lachen laut und schminken sich auffällig. Die literarischen und filmischen Helden der 1960er Jahre suchen offensichtlich in ihren Geliebten keine guten Genossinnen und zuverlässigen Freundinnen, sondern erotische Partnerinnen. Die männliche Aufmerksamkeit für weibliche Moden – immerhin geht es um die sowjetischen Entlehnungen aus dem französischen New Look, der Modekreation mit besonders femininer Linie, legt ebenfalls Zeugnis davon ab, dass der männliche Blick sich ändert. Denn die Helden des klassischen sozialistischen Realismus haben sich in eine Frau verlieben können, von dessen Vorzügen sie gehört oder gelesen haben (vgl. Ivan Pyr’evs Film Traktoristy). Die Helden der 1960er Jahre, die filmischen wie auch die literarischen, lieben bereits nach einem anderen Code, der auf Anwesenheit und Visualität ausgerichtet ist. Es geht nicht mehr um die »Tugendliebe« des klassischen sozialistischen Realismus (von der Tugend kann man erfahren – lesen und hören), sondern um eine Liebe, die sich beim »Objekt« auf die sichtbare Oberfläche und bei dem Subjekt der Liebe auf den Sehsinn konzentriert. So müssen die Liebenden der 1960er Jahre erst ihre künftige Geliebte gesehen haben, bevor sie sich verlieben. Die Liebe wird dabei durch einen be-
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sonderen, begehrenden Blick hervorgerufen. Die plötzliche Veränderung der Wahrnehmung, die dem noch nicht liebenden Mann die »Augen« auf seine künftige Geliebte »öffnet«, thematisiert z.B. Vasilij Aksenov in »Zvezdnyj bilet« (vgl. hierzu das 5. Kapitel). Die visuelle Erscheinung der Liebenden der 1960er Jahre zielt auf die Erotisierung der Frau ab und macht die Geschlechterunterschiede deutlich. Die Modelle der Kommunikation, die in den Texten und Filmen dieser Zeit inszeniert werden, sind jedoch noch nicht eindeutig differenziert. Noch oft zeigt die Kunst der Tauwetterzeit beide Geschlechter in der privaten und in der öffentlichen Sphäre als gleichermaßen vertreten; ihre Rollen in der intimen Kommunikation sind austauschbar. Gerade die populäre visuelle Kultur, Komödien wie Devčata (dt. VT. So ein Mädel, 1961), Kar’era Dimy Gorina (Dima Gorins Karriere, 1961), Vzroslye deti (Erwachsene Kinder, 1961), »verwechselte« gerne die Genderrollen, wobei die Lust an solchen Verwechslungsspielen nicht allein dem Genre der Komödie zuzuschreiben ist. Auch »Problemfilme«, wie der Kassenschlager des Jahres 1961 Devjat’ dnej odnogo goda, lassen die Frau Entscheidungen treffen, die zuvor zur Aufgabe des Mannes gehörten. In Devjat’ dnej odnogo goda macht die Heldin ihrem Geliebten einen Heiratsantrag. Frauen und Männer sind meist gleichermaßen im Berufsleben, im Haushalt und in der Kindererziehung aktiv. In der Komödie Vzroslye deti schläft der Held, Leiter eines Architektenbüros, während der Arbeitszeit ein, weil er nachts sein kleines Kind gehütet hat. Die sonst den jungen Müttern zustehende Rolle wird hier auf den Mann übertragen. In der Komödie Devčata lockt der Frauenschwarm Ilja seine zukünftige Geliebte mit dem Zeigefinger heran, das Mädchen aber geht nicht zu ihm, sondern wiederholt seine männliche Geste und lädt daraufhin eine Frau zum Tanz. Die Kamera nimmt zuerst den Protagonisten, dann die Protagonistin in den Fokus, die Sets der beiden Schnitte sind identisch, so dass die Äquivalenz von Mann und Frau nicht nur durch identische körperliche Signale, sondern auch durch die Wahl der kinematographischen Formsprache bestätigt wird. Zur Darstellung von Genderrollen in dieser Übergangszeit taugen neben neuen asymmetrischen durchaus auch symmetrische Modelle. Ihr Pathos der Gleichberechtigung appelliert weniger an die Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit in den 1930er und den 1940er Jahren. Vielmehr knüpfen die 1960er Jahre – eine für die Tauwettergeneration typische Geste zur Überbrückung – an die Gleichberechtigungsideale der
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ersten Jahre nach der Oktoberrevolution an, der für die Generation der šestidesjatniki sakrosankten Zeit. Die Arbeit an den neuen Frauen- und Männerbildern wird in den 1970er Jahren fortgeführt. Die Vorreiter dieser Auseinandersetzung sind die erwachsenen »Kinder« der 1930er-Jahre-Generation – Vasilij Aksenov, Venedikt Erofeev, Juz Aleškovskij und ihre jüngeren Schriftstellerkollegen Ėduard Limonov und Saša Sokolov. In Bezug auf diese Schriftsteller wurde in der amerikanischen Slavistik der Begriff des »bad writing« geprägt, den Cynthia Simmons als »heilende« Deviation von einer korrupten Norm erklärt: »When what is bad deviates from a corrupt norm, its effect is salutary« (Simmons 1993: 161). Von der »korrupten Norm« einer geschlechtslosen sozialistisch-realistischen Ästhetik, die auch noch eine sehr charakterlose, neutral gehaltene Sprache bevorzugt, unterscheidet sich die Bad-writing-Literatur gerade durch die Überakzentuierung des Sexuell-Geschlechtlichen, die bis zur Obszönität reicht, durch den sehr spezifischen Sprachstil (Slang und nicht normative Lexik) und die provokante Zuspitzung der Genderunterschiede. Die Beschreibungen der Sexualität in der Bad-writing-Literatur werden in der Forschung gemeinsam mit den Gegenangriffen auf die Institutionen und Repräsentanten der politischen Macht allgemein als Zeichen einer ideologischen Befreiung gewertet, als Rebellion gegen das Gebot der infantilen Gefolgschaftspflicht und das Verbot einer Individuation durch die sexuelle Erfahrung. Kennzeichnend ist, dass in das Sujet dieser Rebellion oft die »Vaterfigur« eingeflochten ist. Oft wird diese zum unmittelbaren Konkurrenten im erotischen Spiel des liebenden Protagonisten. Das ödipale Sujet realisiert sich in seiner kanonischen Form als Wettstreit mit dem Vater oder einer ihn ersetzenden Vaterfigur. In Ėduard Limonovs »Podrostok Savenko« (1983) führt der unmittelbare Vergleich mit dem Vater (gemeint ist die Episode im Schwitzbad zu Beginn des 2. Teils) und der daraus resultierende Neid den Protagonisten Ėdi zur Erfahrung der eigenen Männlichkeit. In seinen Träumen lebt der heranwachsende Ėdi seine Lust mit der Frau aus, die in seinen Vater verliebt ist, und »entführt« somit die »Partnerin« seines väterlichen Rivalen. Der vaterlose Tolja von Stejnbok aus Aksenovs »Ožog« durchlebt eine komplexere Konkurrenzsituation. Er wird von einem NKWD-Offizier erniedrigt, der bei einer Hausdurchsuchung Spuren von Toljas aufkeimender Sexualität entdeckt und bloßlegt. Außer seiner unmittelbaren Bedeutung – der Penetration des privaten Raumes und dem symbolischen Angriff auf
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Toljas Männlichkeit – öffnet diese Episode eine ganze Reihe von Interpretationen, ist doch der NKWD-Hauptmann Čepcov nicht nur der Vertreter der alten Generation und somit eine negative Vaterfigur, sondern ein potentieller Mörder des wirklichen Vaters von Tolja, jemand, der die Stelle des Vaters usurpiert. So lässt sich der Konflikt zwischen Tolja und Čepcov sowohl als Konkurrenz mit einer Vaterfigur als auch als Kampf mit einem Usurpator deuten. Čepcov ist somit sowohl der Laios als auch Claudius, Tolja von Stejnbok – und im späteren Verlauf des Roman die fünf Reinkarnationen dieser Figur11 – fungieren als Ödipus und Hamlet zugleich. Gegen den falschen Vater und Usurpator Čepcov wenden sich die fünf erwachsenen Helden in »Ožog«, wobei das ödipale Sujet in vielen Details spürbar wird. Der Physiker Kunicer kann beim erneutem Treffen mit dem gealterten Čepcov seinen Peiniger nicht erkennen (das Nichterkennen von Laios). Beim Eintreten in die Wohnung seines Feindes hört er rätselhafte Sprüche von Čepcovs wahnsinniger Frau (Sphinx), deren Bedeutung er erst später versteht. Weitere Elemente der mythologisch-psychoanalytischen Formel werden angedeutet. Der Arzt Mal’kol’mov (Kunicers Äquivalent und Doppelgänger) rettet Čepcov das Leben, obwohl er ihn töten möchte. Kunicer, liiert mit der Adoptivtochter von Čepcov, verlässt diese, als er erfährt, dass sie von ihrem Adoptivvater vergewaltigt wurde. Zum Vatermord und zur Beseitigung des Konkurrenten im erotischen Spiel kommt es nicht, im Gegenteil, gerade der falsche Vater beraubt einen der Helden seiner Partnerin. Auf das ödipale Sujet wird das Hamletsujet projiziert: Im Konkurrenzkampf mit dem Usurpator Čepcov erleben alle fünf Helden eine Niederlage und bleiben im infantilen Zustand. Čepcov – eine Reinkarnation des Stalinismus – bleibt unbesiegt, die »Söhne« verlieren den Kampf gegen die stalinistischen »Väter« und bezahlen dafür mit ihrem Leben. 11 | Das sind der Wissenschaftler Kunicer, der Arzt Mal’kol’mov, der Schriftsteller Pantelej, der Musiker Samson und der Bildhauer Chvastitščev, die alle dieselbe Kindheit des Tolja von Stejnbok teilen, eines Kindes, das in Verbannung unter NKWD-Überwachung aufwächst. Diese fünf Helden haben alle dasselbe Patronym und somit denselben (ermordeten) Vater. Im Verlauf des Romans begegnen sie dem Hauptmann Čepcov, erleben eine fünffache Niederlage im Konkurrenzkampf mit ihm und müssen sterben. Nur einer von diesen gescheiterten Helden kann nach dem Tod im zweiten Teil des Romans im dritten Teil kurz auferstehen, allerdings nur, um sich das Leben zu nehmen und im Jenseits wieder seinem ewigen Widersacher Čepcov zu begegnen.
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Der ödipale Komplex als Verschränkung zweier Sujets, Shakespeares »Hamlet« und Sophokles’ »Ödipus rex«, wie ihn Freud z.B. in »Die Traumdeutung« beschreibt, wird zum tragenden Gerüst in den zentralen Narrativen der 1970er und 1980er Jahre. Mehr auf die psychoanalytische Deutung als auf den Mythos orientiert, beschreibt Andrej Bitov den unvollendeten Reifungsprozess der Hauptfigur in seinem Roman »Puškinskij dom«. Ljovas Kindheit und Adoleszenz sind geprägt von dramatischen Schwankungen zwischen Liebe und Bewunderung für den Vater und von gleichzeitigem Neid auf ihn. Der innere Konflikt endet schließlich mit Ljovas Verrat am Vater, der zu seiner Zeit ebenfalls seinen Vater, Ljovas Großvater, verraten hatte. Zu der angestrebten Abgrenzung, einer Emanzipation von der väterlichen, patriarchalen Ordnung kommt es auch in diesem Text nicht, denn Ljova wird schließlich zum Epigonen seines Vaters (beide sind Literaturwissenschaftler) und akzeptiert sowohl dessen akademische Vormacht als auch die philologische Tradition, die dieser vertritt. Die erwähnten Texte von Ėduard Limonov, Andrej Bitov und Vasilij Aksenov gehören zwar zu der inoffiziellen oder halboffiziellen Literatur, die in der UdSSR unpubliziert geblieben ist bzw. im Samisdat oder nur in Fragmenten, nach erheblichen Zensureingriffen, erschienen ist. Die ästhetische Grenzziehung zwischen »offiziell« und »inoffiziell« ist jedoch problematisch.12 Die Ästhetik der Männlichkeit, die so deutlich und provokant in der inoffiziellen Literatur zur Sprache gebracht wird, lässt sich auch in der offiziellen Kultur finden. Die Figur des Vaters, als Symbol der (erotischen) Generationenkonkurrenz und sexueller Reife, erscheint auch hier in zahlreichen Varianten. In Marlen Chucievs Film Mne dvadcat’ let trifft der träumende Held seinen im Krieg gefallenen Vater und bittet diesen um einen Rat. Der Vater verweigert jedoch eine Hilfeleistung, und sein Sohn bleibt im ungelösten adoleszenten Konflikt mit sich selbst. Der Sohn spielt hier – ebenso wie die Helden der inoffiziellen Literatur – die Rolle eines sowjetischen Hamlets, der vergeblich versucht, die usurpierte Stelle seines toten Vaters anzunehmen und erwachsen zu werden. Die Vaterfigur ist signifikant für die spätsowjetischen Liebesnarrative. Bereits in der Übergangszeit der 1950er Jahre tritt der Vater hervor, jedoch 12 | Stanislav Savickij diskutiert in seiner Monographie die Begriffe »offizielle« und »inoffizielle Kultur« und stellt fest, dass die Grenzziehung zwischen der sogenannten offiziellen und der inoffiziellen Kultur nicht immer möglich ist, weil ihre Ästhetiken in vielen Fällen ähnlich, wenn nicht identisch sind (Savickij 2002).
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nicht mehr als metaphorischer Vater des Volkes, sondern als konkreter pater familiae. Die Figur markiert die sich abzeichnende Kluft zwischen dem Kollektiven und dem Individuellen. Tatiana Daškova, die Modelle der Intimität in den Filmen der 1950er Jahre untersucht, deutet die Erscheinung der elterlichen Figur anstelle der kollektiven autoritären Institutionen der Macht als Resultat der Machtkrise und des Aufkommens der traditionellen Gesellschaft mit ihren konservativen Werten (Daškova 2008). Auffällig ist dabei, dass in der Literatur der späten 1960er und 1970er Jahre das VaterSohn-Motiv mit einer verstärkten Aufmerksamkeit für Sexualität verbunden ist. Dieses Motiv realisiert sich in der erotischen Konkurrenz mit dem Vater oder – im Falle des traumatischen Todes des Vaters und der Vaterlosigkeit – in einem Hamletsujet, in der Konkurrenz mit dem Usurpator. Diesem ödipalen Sujet liegt eine ambivalente Bedeutung inne. Einerseits erfüllt es seine primäre Funktion: Es ist das Sujet des Erwachsenwerdens, der sexuellen Reifung und der Herauskristallisierung (im Foucault’schen Sinne) der eigenen Identität aus der Verschränkung von Wissen und sexueller Lust. Im Kontext der sowjetischen Kultur, die die Diskursivierung der Sexualität blockiert, um die symbolische Ordnung der sowjetischen Machthierarchie (Führer als Vater, Bürger als Kinder) aufrechtzuerhalten, bekommt das Sprechen über Sexualität und Geschlechterdifferenz eine politisch-emanzipatorische Brisanz. Die Emanzipation vom Vater sowohl in der generational-biologischen als auch in der politischen Dimension und der männliche Individuationsprozess sind mit dem Erlebnis der eigenen Sexualität verbunden. Dies führt dazu, dass die Darstellungen der Liebe in der Literatur oft initiatorische und emanzipatorische Bedeutungskomponenten enthalten und entlang der erotischen Sujetachse verlaufen. Mit einer besonderen Drastik kommt dies in den Texten von Ėduard Limonov zum Vorschein und wird geradezu zum Markenzeichen seines Schaffens. In »Dnevnik neudačnika« (»Tagebuch eines Verlierers«, 1978) wird die Formel eines Liebesgeständnisses (»ich liebe dich, mein Einziger«) mit einer salopp formulierten Sehnsuchtsformel kontrastiert: Nicht der Liebende vermisst die Geliebte, sondern seine Genitalien sehnen sich nach ihren. Die Liebe erscheint hier ausschließlich in Form einer erotischen Zusammenkunft und wird mithilfe von zoologischen (wie die Tiere) und physiologischen Metaphern beschrieben.13 13 | »Люблю, говорит, тебя – свой ты мой – единственный. Вернулись, легли … Как зверюшки – не растащить нас, еле расстались. Письмо
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Diese Passage setzt die Auffassung von Liebe fort, die derselbe Autor im Roman »Ėto ja – Ėdička« (»Ich bin es, Ėdička«, 1976)14 entworfen hat. Der Roman entfaltet sich entlang zweier Handlungsstränge – den ersten bildet das Sujet der versuchten »Integration« des emigrierten Dichters in einer amerikanischen Metropole, den zweiten die Geschichte der Trennung von seiner Frau Jelena. Beide Linien der Handlung realisieren erotische Metaphern. Dem Integrationssujet liegt die Metapher der Penetration zugrunde: Der Held und Erzähler des Romans, Ėdička, stilisiert sich als Opfer der Deklassierung und als Objekt der (sexuellen) Gewalt, die von Seiten der amerikanischen Gesellschaft ausgeht. Seine homosexuellen Affären, in denen er die Rolle des Penetrierten übernimmt und dabei eine masochistische Lust empfindet, stellen dies nur noch stärker heraus. Das Integrationssujet weist eine Strukturhomologie zur Liebesgeschichte im Roman auf. Beide Handlungslinien erzählen dieselbe Geschichte – die Geschichte des Liebesentzuges. Die Handlung im Roman kreist um die Problematik des verlorenen Objekts der Begierde, dessen Verlust Ėdička aus der aktiven Rolle in die passive Position überführt. Sowohl im Integrations- als auch im Liebessujet geht es darum, die Ausgangsposition wiederherzustellen: die Ehefrau als Objekt der sexuellen Lust zurückzugewinnen und das feindliche Ausland in das Objekt von Edičkas maskuliner Aktivität zu verwandeln. Kennzeichnend für die Liebesgeschichte im Roman ist die starke Polarisierung der Partner: Der Mann tritt als Subjekt der Begierde auf, die Frau als Objekt. Ėdička ist in seiner Liebe gleich im doppelten Sinne federführend: Er ist das Subjekt der aktiven »Liebeswerbung« und Erzähler im Roman – der »Autor« der Liebe. Als Dichter und Schriftsteller und somit als schreibende und reflektierende Figur stellt er sich seiner Frau entgegen, die zwar auch eine Dichterin ist, jedoch seiner Meinung nach über keinerlei Fähigkeit zur Selbstreflexion und keine künstlerischen Talente verfügt. Ihre Tagebücher und Gedichte wertet er als »schwerfällige Ausdünstungen ihrer lieblosen Seele« (»tjaželye isparenija bezljuboj duši«, Limonov 1979: 272), denn der Romanheld Ėdička setzt das »Liebenkönnen« mit написал – член мой, пишу, без тебя тоскует, без п. твоей« – »Ich liebe dich, mein Einziger, mein Geliebter. Ich kam zurück, wir legten uns ins Bett … Wie die Tiere, unzertrennbar, ich konnte kaum weggehen … Ich schrieb ihr einen Brief. Ich schrieb, mein Schwanz vermisst deine V.« (Limonov 1982: 10; Übersetzung NB). 14 | Deutsche Übersetzung dieses Romans hat den Titel: »Fuck of, America«.
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dem »Schreibenkönnen« gleich. Darüber hinaus kommt Jelena in den Beschreibungen ihres Ehemannes als ein animalisches »Wesen« vor, konzentriert auf primitive Emotionen und Habgier (ebd.: 255). Ėdičkas Liebe gilt jedoch vor allem dem Körper der schönen Frau, der mit dem Voranschreiten der Romanhandlung immer mehr zu einem Fetisch wird. Ist die Liebe des Mannes eine körperlich-erotische, so kennt die Frau gar keine Liebe. Kommt der Mann als Voyeur vor, ist die Frau eine »Blinde«. Das Wissen um das eigene Begehren, der begehrende Blick und die Konzentration auf den Körper des Geliebten bleiben der weiblichen Heldin unbekannt.15 Die erotische Liebe wird hier – ganz im Sinne Foucaults – als Prozess der Selbsterkenntnis inszeniert, als Suche nach der Wahrheit und als Kreierung eines neuen Körpers – des Körpers, in dem sich Lust und Wissen verschränken. Der Romanheld Ėdička erscheint im letzten Kapitel – nach dem Fegefeuer der gescheiterten Liebe und der Suche nach seiner sexuellen Identität – als nahezu geläutertes Subjekt mit einem neuen politischen Programm und einem neuen – bisexuellen – Körper. Für seine Frau, die weder das Objekt ihrer Liebe sehen kann – ihr ist es gleich, mit wem sie zusammen ist, so der Erzähler – noch sich selbst als liebendes Subjekt begreift, bleibt die »Wahrheit« über ihre Subjekthaftigkeit verschleiert. Sie ist eine »Nichtwissende«. Damit rechtfertigt der Romanheld die Reduktion der Frau auf pure Körperlichkeit, oder – in einer radikalen Zuspitzung – auf ihr Geschlechtsorgan, denn weibliche Nichtsubjektivität würde alle anderen Formen der Kommunikation mit Frauen – außer der sexuellen Interaktion – unmöglich machen. Frauen, die vorgeben, etwas anderes als das Objekt der männlichen Sexualität zu sein, sind in Limonovs ironischer Interpretation Lügnerinnen.16 Diejenigen, die sich zu ihrem Objektstatus offen bekennen – das sind in erster Linie die Prostituierten –, sind dagegen die echten und die natürlichen Frauen (ebd.: 79). So wird das positive Bild der Prostituierten oder der promiskuitiven Frau erschaffen, das vor allem in der unzensierten inoffiziellen Literatur Konjunktur hat. Bitovs Faina und Ljubaša, Aksenovs Alisa aus »Ožog« und Nina aus »Četyre temperamenta« (»Vier Temperamente«, 1967) sowie die willfährige Schöne aus Erofeevs 15 | »Ей все равно, кто с ней. Она не видит. […] Она о любви не знает«, Limonov 1979: 268. »Es ist ihr egal, mit wem sie zusammen ist. Sie sieht nichts […] Sie weiß nichts über Liebe.« (Übersetzung NB) 16 | Zu Limonovs Misogynie vgl. Skomp 1998.
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»Moskva–Petuški« gehören in diese Reihe. Dabei hat die Bewunderung für die lasziven Frauen kaum etwas mit der Tradition der klassischen russischen Literatur zu tun, die in den gefallenen Damen vorwiegend die heiligen Märtyrerinnen oder die unschuldigen Opfer der sozialen Umstände sah. Entscheidend in diesen weiblichen Figuren ist ihr offenes Bekenntnis zur sexualisierten Weiblichkeit. Die Darstellung der lasziven Frauen bei Limonov, aber auch bei anderen Autoren dieser Zeit wie Aksenov, Bitov, Erofeev, hat die Züge eines erotischen Phantasma, aber die Wahl dieses Phantasmas hat wiederum mit der sich verändernden Ökonomie des weiblichen Körpers zu tun, mit dem sich verändernden Bild der Frau, die frei über ihren Körper verfügen darf. Konsequent zieht Limonovs Romanheld die Unterscheidung zwischen der Frau als Subjekt und ihrer Geschlechtlichkeit durch. Frauen als Subjekte werden abgewertet: als hysterisch, provinziell, verkrampft, engstirnig, frigide usw. Ihren Genitalien dagegen wird zumeist mit Sympathie begegnet. Wenn der enttäuschte Held sich von den »bösen und egoistischen« Frauen ab- und den »altruistischen« Männern zuwenden möchte, locken ihn gerade die weiblichen Organe, die der Held einräumt zu »lieben« (ebd.: 184), in die verhasste Heterosexualität zurück. Bei den meisten der von Ėdička sexuell inspizierten Frauen fallen jedoch die Qualität ihrer Persönlichkeit und die Qualität ihrer Genitalien auseinander. Nur bei einer der Frauen, bei der geliebten Jelena, stimmen die beiden Reize, der psychologische und der physiologische, überein. Aus dieser Verschränkung wird die Liebe geboren – ein Code, bei dem der Qualität des Sexes zumindest die gleiche Bedeutung zukommt wie der Qualität der Psyche. Die Konstruktion der Männlichkeit erfolgt im Roman auf verschiedene Weise: erstens durch die Absetzung vom »Nichtmännlichen« (der Mann ist Subjekt, Liebender und Wissender im Gegensatz zur nicht subjektiven, nicht wissenden, nicht liebenden Frau), zweitens durch die negative Konstruktion – als Konstatierung des Mangels oder des Verlustes (die Depravation des russischen Dichters zu einem amerikanischen bus boy und sein Verlust der »aktiven« Rolle in der sexuellen Kommunikation) – und drittens durch rituelle Handlungen oder Attribute der Männlichkeit (Alkohol, Waffen, Gewalt). Diese Rituale der Männlichkeit sind in die Liebesintrige eingebunden. Mit Gewalt will Ėdička z.B. die sexuelle Dominanz über seine Ehefrau zurückgewinnen. Die meisten seiner sexuellen Zusammenkünfte erfolgen in alkoholisiertem Zustand oder sogar im Delirium. Waffen spielen ebenfalls eine wichtige, wenn auch etwas ironisch gemeinte
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Rolle. Der sexuell obsessive Ėdička betet keinen Gott, sondern »das große Messer« an (ebd.: 79). Die angebeteten Waffen – Ėdičkas Messer und der Revolver seines Vaters – rufen wieder die Thematik der Generationenkonkurrenz auf. Ėdičkas Messer ist ein – allerdings schwächeres – Analogon der väterlichen Waffe, was wiederum den verlorenen Kampf mit dem Vater thematisiert. Die Bezeichnung des Messers als »mein Freund« (»u moego druga«, ebd.) bringt die ohnehin sehr fühlbaren erotisch-sexuellen Andeutungen in vollem Umfang ins Spiel, wiederholt sie doch die euphemistische Benennung des männlichen Fortpflanzungsorgans – und umgekehrt wird das letztere als »orudie« – als Waffe – (ebd.: 118) bezeichnet. Dabei ist der Roman von Ėduard Limonov zwar ein extremes, bewusst provozierendes, aber bei weitem nicht das einzige Beispiel solcher Männlichkeitskonstrukte. In gemäßigter Form treten sie in den Texten anderer bereits genannter Autoren auf. Männliche Aggressivität gehört zum Erscheinungsbild der nicht zensierten Helden der inoffiziellen Literatur. Ljova Odoevcevs Liebestragödie aus Bitovs »Puškinskij dom« wird gerade durch die fehlenden Zeichen der aggressiven Männlichkeit verursacht. In den wenigen Momenten seiner Beziehung, in denen er auf seine Geliebte Faina anziehend wirkt, strahlt er die »Stärke« aus, die sie bei ihm sonst vermisst. Welcher Art die von Faina ersehnte männliche Stärke ist, verdeutlicht ihr Seitensprung mit Mitišat’ev, der auf Fainas Körper zahlreiche »Spuren«, das heißt kleine Körperverletzungen, hinterlässt – die Zeugnisse seiner Männlichkeit. Die Aufmerksamkeit für die kriegerischen Attribute der Männlichkeit betont einen agonalen Aspekt in der Beziehung der Geschlechter. Es ist nicht bloß die Behauptung der männlichen Dominanz und – entsprechend – der weiblichen Unterlegenheit. Der verbale Exhibitionismus und die Beschimpfungen des weiblichen Gegenparts in Limonovs Roman deuten auf eine Angstreaktion hin und die mit ihr verbundene Dezimierung des Angstobjektes. Solches Herausstellen der eigenen Kraft, oft mit einem obszönen Unterton, wird in den rituellen Gewalthandlungen, etwa im Faustkampf, praktiziert. Der aggressive Narzissismus des Romanhelden, der in der Konzentration auf die Fetische der eigenen Männlichkeit gipfelt, sollte daher auf die Rituale der Kriegsführung bezogen werden. Somit ist hier die Frau der »geliebte Feind«, auf den sich das Arsenal der männlichen Waffen richtet. Sie ist nicht die Untergebene, sondern die starke, begehrte und gefürchtete Gegenspielerin im erotischen Spiel »Liebe«. Auch sie besitzt »Waffen«, die sie gekonnt gegen ihre männlichen
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»Feinde« richtet. In Bitovs »Puškinskij dom« z.B. greift Faina zum Messer. Männer werden damit allerdings nur metaphorisch attackiert: Mit der scharfen Kante des Messers bringt sie ihre Wimpern in Schwung und wird auf diese Weise für das andere Geschlecht zur Gefahr. Die Figur der lasziven Frau ist die geeignete Symbolisierung für diese neue Auffassung von Weiblichkeit. Sie ist einerseits eine willfährige Partnerin im Liebesspiel, da für sie die veralteten ethischen Verbote, die den Umgang mit dem weiblichen Körper regeln, nichtig sind. Aber aus dem gleichen Grund ist sie frei, den Partner zu wählen oder abzuweisen. Gerade um solche Abweisungen drehen sich die Sujets von Aksenovs »Ožog«, Bitovs »Puškinskij dom« und Limonovs »Ėto ja, Ėdička«. Es geht hier um die neue – erwünschte und zugleich gefürchtete – weibliche Freiheit und die damit verbundene neue Ökonomie des weiblichen Körpers. An dem neuen Körper des Mannes wird ebenfalls gearbeitet. Er muss nun jenseits der patriarchalen Ordnung erfunden werden. Und das fällt offensichlich schwer. Die nahezu zwanghafte Wiederholung des Vater-SohnKonfliktes und die obszessive Beschäftigung mit der eigenen Männlichkeit sind Indizien dafür, das dieser Prozess unabgeschlossen bleibt. In den literarischen Sujets über den Mann und seine Liebe häufen sich Provokationen und Exzesse. Es geht stets um das Scheitern und die unlösbaren Konflikte, um die Trennung von und den Verlust des Liebesobjektes. Eine harmonische Liebesbeziehung, die in den sozialistisch-realistischen Sujets fast immer erreicht wurde, scheint hier keinen Bestand zu haben – ebenso wenig wie die festen Vorstellungen über den Mann, seinen Körper, seine Liebe und sein Liebesobjekt, die Frau.
L IEBE VERSUS F AMILIE Die von der Literatur der 1960er und vor allem der 1970er und 1980er Jahre konstruierten Geschlechterbeziehungen sind stark polarisiert und oft antagonistisch angelegt. Das Liebesduett Mann/Frau beschäftigt sich ausschließlich mit dem Problem der eigenen Liebe. Selbst die großen historischen Einschnitte – die Entstalinisierung in »Puškinskij dom«, das Ende der Tauwetterzeit und der sowjetische Einmarsch in die Tschechoslowakei in »Ožog«, der Systemwechsel mit der Emigration und dem Konflikt mit dem amerikanischen Liberalismus in »Ėto ja, Ėdička« – werden als »Begleiterscheinungen« einer Liebesgeschichte erzählt. War die Liebe in dem
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Sujet des sozialistisch-realistischen Romans vertreten, so sollte sie den historischen Umwälzungsprozess menschlich nachvollziehbarer machen und diente lediglich als Indikator für den »richtigen« Helden, die »richtige« Wahl und das »richtige« ideologische Programm. Selbst die Sujets der Texte, die den Anfang der Tauwetterzeit markieren, wie Ilja Ėrenburgs »Ottepel’« (»Tauwetter« 1953/55) und Vladimir Dudincevs »Ne chlebom edinym« (»Der Mensch lebt nicht vom Brot allein« 1957), entfalten sich nach diesem Schema: Die Frauen werden von ihren orthodox-stalinistischen Ehemännern enttäuscht und verlieben sich in die Erneuerer. Die Liebe fungiert in solchen Sujets lediglich als Wegweiser der neuen Politik. Im Roman der postsozialistisch-realistischen Epoche kommt der Liebe eine komplett andere Rolle zu. Sie bildet nun den wichtigsten Themenstrang im Romansujet, die »Geschichte« wird als persönliches Lebens- und Liebesdrama erzählt. Die Liebesnarrative suggerieren damit die Vorstellung, dass es keine objektive Geschichte jenseits der subjektiven Erlebniswelt gibt. Weder der Staat noch der Herrscher noch das Volk sind Subjekte der Geschichte. Derjenige, der Geschichte erlebt und schreibt, ist das partikuläre Individuum, das – logischerweise – seine individuelle Geschichte (Liebe) über die »große Geschichte« stellt. Somit tritt der Zustand ein, den man – etwas zweckentfremdet – mit Richard Senetts Begriff der »Tyrannei der Intimität« beschreiben kann (Senett 2004). Die intimen Narrative durchwirken die großen Mythologien und setzen diese außer Kraft, ganz gleich welcher Provenienz diese sind: Der am 7. November 1967 – dem 50. Jahrestag der Oktoberrevolution – einsetzende Roman »Puškinskij dom« wählt das Jubiläum als Kulisse für das Scheitern seines Helden, des neuen sowjetischen Menschen der 1960er Jahre. Limonovs »Ėto ja, Edička« unterminiert das zentrale Narrativ der dissidenten Kultur – den Mythos der grenzenlosen westlichen Freiheit. Die Polarisierung der Geschlechter wird mit dem Motiv des Miss- oder Nichtverstehens des jeweils anderen Geschlechts angesprochen: Was die Frau will, weiß der Mann nicht, und umgekehrt. Die weibliche und die männliche Teleologie der Liebe differieren, die Differenz wird ständig und mit Nachdruck thematisiert. Aber obwohl die weiblichen und die männlichen »Liebesprogramme« sich tatsächlich unterscheiden, bereitet nicht nur die Dissonanz der Erwartungen überaus viele Probleme, sondern auch die Konsonanz der Aussageform. Auf aktives männliches Verlangen z.B. wird nicht mit passiver weiblicher Hingabe (oder umgekehrt) geantwor-
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tet (Frage-Antwort-Struktur), sondern beide Teilnehmer des Liebesspiels begegnen einander mit ihrer jeweiligen Aufforderung (Frage-Frage-Struktur). Nur in einer Post-mortem-Phantasie kann die begehrte Frau zu einer hingebungsvollen, fürsorglichen Partnerin verwandelt werden (vgl. Alisa im 3. Teil von Aksenovs »Ožog«), was übrigens den Fluchtversuch des Helden auslöst. Die paradoxe Nichtkomplementarität hat im Code der sowjetischen Liebe der 1970er Jahre bereits einen festen Platz. Geliebt werden (siehe die Textanalysen oben) unerreichbare, laszive, emanzipierte Frauen, die frei über ihren Körper verfügen, ihre Sexualität ausleben und sich in einer Beziehung nicht »zähmen« lassen: Jelena, Faina, Alisa, Galja. Aus der Sicht der männlichen Autoren zeichnet sich die Liebe bereits durch eine grundsätzliche Paradoxie aus: Eine Bindung wird mit dem Objekt angestrebt, das für eine Beziehung am wenigstens taugt. Wenn es sich nach Meinung mehrerer Forscher bei den Heldinnen der sowjetischen Frauenliteratur um »women without men«17 handelt, sollte man auch über die Männer in der sowjetischen Literatur von »men without women« sprechen. Deutlich wird diese Geschlechterdisparität, wenn man die weibliche Literatur der 1970er Jahre zur vergleichenden Analyse hinzuzieht. Allerdings ist dieser Vergleich nur mit Einschränkungen möglich: Man vergleicht Erscheinungen in verschiedenen Qualitäten und Größenordnungen. Die Frauenliteratur entwickelt sich in dieser Zeit im Rahmen der offiziellen Literatur und unterliegt der Zensur. Man würde in diesen Texten vergeblich nach Normüberschreitungen und ästhetischen Provokationen suchen. Außerdem sind die generell sehr fragwürdigen Grenzen der weiblichen Literatur in dieser Zeit besonders transparent. Ähnliche Fragestellungen in Bezug auf die Genderproblematik finden sich sowohl 17 | So beginnt der Titel des Artikels von Adele Barker (Barker 1989). Zum Problem der Geschlechterseparation, zu »maternial families« und weiblicher Einsamkeit vgl. auch Žekulin 1993, zum Teil wird dieser Themenkomplex auch bei Beate Jonscher (Jonscher 1996) und Maja Johnson (Johnson 1992) besprochen. Zur »maternial family« (materinskaja sem’ja) vgl. speziell Natal’ja Malachovskaja (Malachovskaja 1980). Für gewöhnlich wird über »women without men« im sozialkritischen Kontext gesprochen, im Kontext des stets negativ interpretierten Zerfalls der Familie, des männlichen Alkoholismus und der doppelten Belastung der Frauen. Solche Analysen der weiblichen Einsamkeit setzen sich m.E. zu wenig mit der kulturellen Entwicklungen dieser Jahre auseinander.
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bei Sergej Zalygin und Jurij Trifonov als auch bei I. Grekova, Irina Velembovskja, Maja Ganina und Natal’ja Baranskaja. Immerhin zählen diese Autoren zur gleichen literarischen Strömung der Alltagsliteratur (bytovaja proza) und teilen sowohl deren bindende Stilistik als auch die charakteristische Thematik. Somit markiert die weibliche Literatur nicht nur die Grenze zwischen männlichem und weiblichem Blick – weil sie im Vergleich zur Literatur der männlichen Autoren öfter Protagonistinnen in das Zentrum des Narrativs rückt und die spezifisch weibliche Wahrnehmung, den spezifischen Problemkreis apostrophiert –, sondern sie markiert auch die Grenze der erlaubten, der duldbaren und der noch ideologiekonformen Genderproblematik. Aber selbst in diesem engen Rahmen lassen sich Tendenzen beobachten, welche die nicht offizielle Literatur auszeichnen. Dies betrifft vor allem die Frage der Sexualität. Wenn auch ohne stilistische Exzesse, so beschäftigen sich sowjetische Autorinnen doch mit diesem Thema. Es stellt aber nie den Hauptkonflikt in den zensierten Liebesgeschichten der Alltagsliteratur dar. Besonders deutlich wird dies, wenn man zwei Texte der weiblichen Literatur parallel analysiert: Natal’ja Baranskajas »Nedelja kak nedelja« (»Woche um Woche«, 1969) und Ljudmila Petruševskajas »Takaja devočka, sovest’ mira« (»Ein tolles Mädchen«, vermutlich ebenfalls 1969 geschrieben).18 Beide Texte setzen sich mit der weiblichen Selbstempfindung auseinander, die sich nicht zuletzt in der Problematisierung der eigenen Körperlichkeit äußert. Bei »Nedelja kak nedelja« von Natal’ja Baranskaja handelt es sich um den meist besprochenen Text der sowjetischen Frauenliteratur, dem der Status einer Initialzündung anhaftet: Er legt den Anfang der neueren Frau18 | Die Datierung des Textes von Petruševskaja ist unzuverlässig. Helene Goscillo datiert ihn erst auf das Jahr der Erstpublikation 1990 (Goscillo 1993b: 140). Um diese Erzählung rankt sich jedoch die spezifische Mythologie eines unpublizierten, aber von der höchsten Instanz positiv begutachteten Textes. Die Erzählung wurde angeblich Ende der 1960er Jahre geschrieben und an Alexander Tvardovskij, den Redaktor von »Novyj mir« geleitet, welcher sie besonders auszeichnete, jedoch – aus Zensurgründen – nicht publizierte. Inwieweit es sich bei dieser Geschichte um eine tatsächliche Begebenheit oder um einen Mythos handelt, ließ sich bis zuletzt nicht feststellen. Doch auch wenn die Datierung unzuverlässig ist, lassen sich diese zwei Texte aufgrund ihrer typologischen Ähnlichkeit durchaus vergleichen.
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enliteratur (Žekulin 1993: 37). In der umfangreichen Forschungsliteratur über diese Erzählung wird zumeist das Ungleichgewicht der familiären Pflichten – »double burden« – analysiert,19 aber der Text berührt zahlreiche weitere Probleme, etwa die verhinderte Sexualität und die Unmöglichkeit, die eigene Weiblichkeit zu erleben und dem neuen Image der fragilen, schönen und sexuell anziehenden Frau zu entsprechen. Die traurige Selbstbeobachtung der Heldin, einer studierten Chemikerin, ausgelöst durch die Aufforderung, einen soziologischen Fragebogen auszufüllen, konzentriert sich nicht nur auf die ständige Übermüdung, den Zeit- und Schlafmangel oder die Sorge um die den staatlichen erzieherischen Einrichtungen anvertrauten Kinder, sondern auch auf die permanente Konstatierung der eigenen »weiblichen Unzulänglichkeit«, um die für die Heldin schmerzhafte Nichtentsprechung bestimmter Rollenklischees, die einer Frau Schönheit, ein gepflegtes Äußeres und einen gewissen Sexappeal vorschreiben. Die Szenen, in denen die Heldin sich als unschön oder ungepflegt empfindet, wiederholen sich notorisch: »Ich renne, aber bei der Tür zum Labor fällt mir ein, dass ich nicht frisiert bin« (Baranskaja 1979: 5), »Ich hasse meine zerzausten, welligen Haare, meine verschlafenen Augen, mein knabenhaftes Gesicht mit dem großen Mund und der großen Nase« (ebd.: 5) »Ich stecke die halbgekämmten Haare auf« (ebd.: 19) »Ich laufe zu meinem Platz, erinnere mich unterwegs, dass ich immer noch nicht frisiert bin« (ebd.: 21).20 Die Krisis in der Selbstempfindung findet nicht zufällig in einem Friseursalon statt, zuerst mit einer kompletten Niederlage und dann mit einer unerwarteten Rettung seitens eines »Meisters«, der die Heldin in eine jugendliche Schönheit verwandelt. Friseur ist ein signifikanter Beruf in den Texten der Frauenliteratur. Während in Baranskajas Erzählung ein Vertreter dieses Standes nur in 19 | Vgl. stellvertretend Kelly 1994. Eine originelle Interpretation von Baranaskajas Erzählung liefert Thomas Lahusen, indem er rhetorische Strategien des Textes analysiert, anstatt ihn »soziologisch« zu lesen (Lahusen 1993). Weitere Interpretationen: McLaughlin 1987, Brown 1982: 319ff., Seton-Watson 1986: 15-18. 20 | »Я бегу, но у дверей в лабораторию вспоминаю, что не причесана« (Baranskaja 1981: 5), »Ненавижу себя. Ненавижу свои спутанные вьющиеся волосы, заспанные глаза, свое мальчишеское лицо с большим ртом и носом, как у Буратино« (ebd.: 5), »Я закалываю полурасчесанные волосы« (ebd: 17), »По дороге вспоминаю, что я так и осталась непричесанной« (ebd.: 18).
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einem kurzen Abschnitt der Handlung wie ein Deus ex Machina auftaucht, um die Heldin als »Frau« zu retten, das heißt, sie und ihre Umgebung auf ihre Weiblichkeit aufmerksam zu machen, widmet I. Grekova diesem Beruf, einem »Damenmeister« und den durch seine Kunst bewirkten Verwandlungen an Frauen, eine ihrer bekanntesten Erzählungen (vgl. Grekova 1983, »Damskij master«, »Damenfriseur«). Solche notorisch wiederholten Sujets setzten immer mit der Verunstaltung der Frau ein, um dann ihre »ursprüngliche«, verborgengebliebene Schönheit ans Licht zu bringen. In der Dramatik der Verunstaltung und der Neuerschaffung, in einer pygmalionischen Geste entstehen so aus den »versteinerten« gestressten sowjetischen Arbeiterinnen Frauen mit anziehendem Äußeren, mit Körper und Psyche, liebenswert und liebeshungrig. Friseure sind die Kreatoren der weiblichen Schönheit, diejenigen, die aus einer weiblichen Arbeitskraft eine Frau machen, das heißt ein Wesen, das sich nicht nur nach seiner Funktion (als Gebärerin oder Arbeiterin), sondern auch nach seiner äußeren Erscheinung (im Gegensatz zu den androgynen Frauen des Stalinismus) vom anderen Geschlecht unterscheidet. Sie tragen sozusagen das Innere nach außen. Sie erschaffen die sichtbare Oberfläche der Frau, die sie für die männliche Welt attraktiv macht. Erst auf solche Weise verwandelt besinnt sich die Heldin von »Nedelja kak nedelja« auf ihre »Weiblichkeit« und somit auf ihre sexuellen Bedürfnisse und die Liebe zu ihrem Ehemann. Ebenfalls signifikant ist die Aufstellung der weiblichen Figuren in dieser Erzählung. Denn hier wird den drei jüngeren Frauen die alte weibliche Garde gegenübergestellt, deren repräsentativste Vertreterin die »verdiente Maria Matveevna« ist. Die Frau mit der »herausragenden Biographie« (Arbeitskommune, Front, ideologische Arbeit) steht für das Ideal der sozialistischen Heldin. Aus ihrem Munde hört die Protagonistin Olja Voronkova das zweideutige Kompliment, sie sei die wahre sowjetische Frau. Interessant ist, dass Letztere sich nach zwei Kriterien definieren lässt: gute Mutter und gute Arbeiterin. Das ideologische Gebot der Dienstbarkeit und der patriarchale Brauch, der in der Frau in erster Linie eine Mutter und eine Dienerin des familiären Wohls sieht, fallen hier zusammen. Aber offensichtlich reichen diese Kriterien für die Beschreibung der sowjetischen Frauen der 1960er und 1970er Jahre nicht mehr aus. Die Heldin reagiert irritiert, definiert sie doch ihr Frausein nicht nur durch ihre Selbstaufopferung – sei es für den Staat oder für die Familie –, sondern auch durch ihre berufliche Selbstverwirklichung (»Ich liebe meine Arbeit.
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Ich weiß zu schätzen, dass ich selbständig bin«, ebd.: 4)21 und nicht zuletzt durch ihre glückliche Liebe und erfüllte Sexualität. Von ihrem Mann erwartet sei nicht die »kameradschaftliche« und kollegiale Unterstützung, sondern sie sucht bei ihm nach erotischer Erfüllung in ihrer Beziehung, liebt und schätz seine männliche Schönheit (vgl. »der frisch rasierte, schöne Dima).22 Mit ihrer Definition der eigenen Weiblichkeit muss Olja Voronkova sich nicht nur der Macht des ideologischen Gebotes, sondern auch der weit mächtigeren Kraft der patriarchalischen Rollenverhältnisse widersetzen, die an ihrer Individualität, ihren sexuellen und persönlichen Bedürfnissen vorbeisehen. Das, was Baranskajas Heldin durchlebt, ist zugleich ein Prozess der Entideologisierung und der Modernisierung. Wenn sowjetische Frauen an einer doppelten Belastung leiden, dann ist es die doppelte Last des politischen und des patriarchalischen Gesetzes. Betrachtet man, wie der Text von Natal’ja Baranskaja über Schönheit, Sexualität und weibliches körperliches Selbstempfinden spricht, wird sichtbar, dass in Bezug auf diese Komponenten der Weiblichkeit unterschiedliche rhetorische Strategien gelten. Wenn über weibliche Schönheit und Anziehungskraft offensichtlich ohne Einschränkung gesprochen werden kann, dann gelten für Sexualität andere Regeln. Darüber wird hier nur euphemistisch gesprochen. Die endlich stattfindende erotische Zusammenkunft (sonst kann die Heldin, übermüdet und in ständiger Angst vor einer Schwangerschaft, die Leidenschaft ihres immer noch geliebten Ehemannes nicht teilen), wird mit einer Ellipse angedeutet: »Aus diesem Anlass haben wir vergessen den Wecker auszustellen« (ebd. 37).23 Die Frustration der Heldin, die ihr sexuelles Leben gefährdet, kann jedoch genauso wenig direkt besprochen werden wie der sexuelle Kontakt selbst. Zieht man die später publizierte Erzählung »Takaja devočka, sovest’ mira« von Ljudmila Petruševskaja zur parallelen Analyse heran, wird ersichtlich, dass dieser rhetorische Umgang mit Sexualität, dass die Euphemismen, das Umschreiben, die wagen Anspielungen und das Nichtbenennen nicht nur durch die Zensurschranken bedingt sind. Selbstverständlich kann Petruševskaja, gerade weil sie ihren Text erst 30 Jahre nach dem Verfassen publiziert und er keiner Zensurkontrolle mehr unterliegt, auf 21 | »Я люблю свою работу. Я дорожу тем, что я самостоятельна« (ebd.: 4). 22 | »свежевыбритый красивый Дима« (ebd.: 16). 23 | »Все кончилось тем, что мы забыли завести будильник« (ebd.: 31).
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die Selbstkorrekturen verzichten, die für Baranskaja notwendig waren. Ihr Sujet entwickelt sich aus einer ähnlichen Situation, doch macht sie daraus eine gnadenlose Geschichte der gegenseitigen Entfremdung der Eheleute. Aber auch hier, trotz fehlender Zensurschranken und Redeverbote, treten Frauen nicht als Subjekte mit sexuellem Begehren auf. Während in Petruševskajas Erzählung über das männliche Begehren klar und unverblümt gesprochen wird, sind die Frauen, sowohl die Protagonistin – die gestresste Familienmutter – als auch ihre zwei jüngeren Nebenbuhlerinnen Nadežda und Raisa, lustlos. An den Mann mit dem schlichten Namen Petrov, um den sich dieses weibliche Trio rankt, sind sie weder durch Liebe noch durch sexuelles Begehren gebunden. Das Sujet kreist zwar um die Sexualitätsproblematik: Es geht hier offensichtlich um die sexuelle Frustration des Ehemannes, die er entweder mithilfe von quasi medizinischer Literatur, die von seiner Frau als Pornographie missbilligt wird, oder durch seine Seitensprünge abzumildern sucht. Doch weder seine Ehefrau, mit der er die erotische Ratgeberliteratur ins Eheleben umsetzt, noch seine Geliebten, können seine Lust teilen. Die weibliche Lustlosigkeit hat hier viele Facetten: Sie umschließt die frustrierte Ehefrau, ihre Nebenbuhlerin Nadežda und die scheinbar glücklich verheiratete Nachbarin Raisa. Offensichtlich hängt hier die Lust- und Empfindungslosigkeit, die Baranskaja lediglich mit Übermüdung erklärt,24 nicht nur mit dem Alltagsstress zusammen. Die Erzählerin, obwohl ihr Mann sie gelegentlich als seine beste, als die »leidenschaftlichste« Liebhaberin lobt, betrachtet ihren Körper lediglich als Mittel, ihn bei sich zu behalten, bis sie als Ehepaar mit einem Kind eine Zwei-Zimmer-Wohnung bekommen. Alle drei Frauen haben Gründe, sich nicht als Subjekte des sexuellen Begehrens, sondern als Objekte der Misshandlung zu verstehen und ihren Körper als Falle für den Mann und für sich, als Fluch und Schmerzquelle zu empfinden. Nadežda wurde schwanger von ihrem Partner verlassen und gebar ein totes Kind, Raisa wurde bereits als Minderjährige mehrfach missbraucht, und die Erzählerin selbst hat mehrere Abtreibungen hinter 24 | »Я еще слышу сквозь сон, как ложится Дима, но не могу открыть глаза, не могу поцеловать его, когда он целует меня« (ebd.: 23) – »Ich höre noch im Schlaf, wie Dima sich niederlegt, aber ich kann meine Augen nicht öffnen, ich kann auf keine Frage mehr antworten, kann ihn nicht küssen, als er mich küsst.« (Baranskaja 1979 :27)
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sich und kuriert ihre psychischen und körperlichen Traumata mit einer Art Sprachtherapie aus – sie erzählt permanent im unbekannten und im bekannten Kreis das Martyrium ihres Ehelebens, die Erzählung ist als ein spontanes »Selbsttherapiegespräch« konzipiert. Sogar die Mutterschaft macht Frauen in Petruševskajas Erzählung nicht glücklich, denn sie bedeutet vor allem Schmerz (»die Milch sprengte mir fast die Brust« Petruševskaja 1990:126)25 und die Notwendigkeit, zwischen dem Mann (der erotischen Liebe) und dem Kind (der mütterlichen Liebe) zu wählen. Die perfekte Geliebte der männlichen Literatur, die Frau mit schöner Oberfläche, deren Körper auf die Lustgewinnung und nicht auf das Empfinden von Schmerz ausgerichtet ist (offensichtlich ist der unstete Ehemann Petrov auf der verzweifelten Suche gerade nach einer solchen Heldin), lässt sich weder bei Baranskaja noch bei Petruševskaja finden. Die Erzählung von Ljudmila Petruševskaja weist deutliche Sujetähnlichkeiten mit dem Text von Baranskaja auf, denn auch hier ist die Ehe als Folge einer jugendlichen Liebe entstanden, die bald dem familiären Alltag weichen musste. Familiäre Hassausbrüche, Hysterieanfälle und Depressionen kennt auch Olja Voronkova aus »Nedelja kak nedelja«. Gemeinsam ist den beiden Texten neben dem zentralen Thema (das Überleben als Familie im sowjetischen Alltag) und einzelnen Sujetwendungen auch das Metathema, da beide Texte auf die Frage eingehen, ob die Liebe mit der Familie kompatibel ist und ob der Weiblichkeitsentwurf, welcher der Heldin der »Nedelja kak nedelja« allerdings deutlicher vor Augen steht als der Heldin von »Takaja devočka, sovest’ mira«, überhaupt realisierbar ist. Während »Takaja devočka, sovest’ mira« diese Fragen negativ beantwortet, lässt Baranskajas »Nedelja kak nedelja« diese beiden Fragen offen. Ihre Heldin kämpft noch für ihr Frausein und möchte nicht nur als Mutter und Arbeiterin wahrgenommen werden. Allerdings empfindet auch sie ihre Zweifel an der Liebe und möchte auf die Liebe verzichten können: »Vielleicht brauche ich sie überhaupt nicht mehr, diese Liebe?« (Baranskaja 1979: 59).26 Sie, die Hauptfigur und die durchgehende Ich-Erzählerin, weigert sich, in ihrer eigenen erinnerten Liebesgeschichte als Ich-Erzählerin aufzutreten. Sie ändert die Erzählperspektive und spricht von ihrer Liebe in der dritten 25 | »молоко вступило в грудь‹«, Petruševskaja 1995: 182 26 | »А может она вообще мне не нужна больше эта любовь?« (Baranskaja 1981: 49)
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Person, nennt sich selbst »sie« und ihren Ehemann »er« und baut damit eine deutliche Distanz zwischen ihrer Liebe und ihrer Ehe auf. Baranskajas Protagonistin realisiert, dass das schwindelerregende Gefühl, die Liebe, die nach Glyzinien riecht und sich am besten an der Meeresküste erleben lässt (die Meeresküsten fungieren auch bei Vasilij Aksenov oft als Orte der idealen Liebe), in erster Linie viel Muße erfordert. In der Episode der Erinnerung taucht sogar das Motiv des Flanierens auf, da das Erinnern durch den kurzen einsamen Spaziergang ausgelöst wird, den sich die Protagonistin ausnahmsweise gönnt. Die Liebe, wie sie in der zeitgenössischen Literatur geprägt wird, taugt eher als Zeitvertreib für die unbeschwerte Jugend (Flaneure, Studenten) oder als Urlaubsbeschäftigung. In den stressigen Alltag einer berufstätigen Frau mit Kindern passt sie jedoch nicht. Was Baranskaja in »Nedelja kak nedelja« als ein temporäres Stimmungstief darstellt, erlebt die Erzählerin in »Takaja devočka, sovest’ mira« als Dauerzustand. Baranskajas Text hält noch die Perspektive einer Konfliktlösung offen. Die »einzelnen Unzulänglichkeiten« (otdel’nye nedostatki, wie sie im sowjetischen Alltag heißen), die der Text von »Nedelja kak nedelja« aufdeckt, ließen sich möglicherweise durch mehr soziale Leistung und die Verbesserung der städtischen Infrastruktur beheben, während Petruševskajas »Takaja devočka, sovest’ mira« eine solche Lösung völlig ausschließen würde. Das Sujet von Petruševskajas Erzählung zeigt unmissverständlich die strukturelle Unmöglichkeit, die Liebe und die Familie zusammenzubringen, die Baranskajas Text nur andeutet. In den Koordinaten von Petruševskajas Erzählung bedeutet Liebe in erster Linie Betrug und Täuschung. Der Ehemann der Protagonistin täuscht sich in seiner permanenten Liebessuche, denn das, was er findet, ist keine Liebe. Betrogen fühlt sich die Protagonistin, weil der einst so verliebte Ehemann ihr jetzt nur noch seinen Hass gestehen kann. Dass die Erzählerin an die Existenz eines Liebesgefühls überhaupt nicht mehr glaubt, beweist ihr Wortgebrauch. Als Liebe bezeichnet sie die Seitensprünge ihres Mannes. Nur diese »Liebe« bekommt von ihr das Prädikat der »ewigen und der unendlichen«,27 um zugleich durch den Vorwurf der Serialität und Wiederholbarkeit abgewertet zu sein: »Bei meinem Petrov kommt so
27 | »такая любовь вечная, бесконечная«, Petruševskaja 1995: 172, in dt. Übersetzung: »so eine Liebe auf immer und ewig« Petruševskaja 1990:109.
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was drei- bis viermal im Jahr vor«28 (Petruševskaja 1990:109). Die Objekte dieser Liebe unterscheiden sich für den Liebenden (Petrov) offensichtlich nicht voneinander und sind anonymisiert – einen Namen bekommt nur seine aktuelle Geliebte, die anderen bleiben namen- und eigenschaftslos. Liebe – der Code der höchstpersönlichen Kommunikation – sieht hier an der geliebten Person vorbei. Obwohl sich die Haupt- und Nebenheldinnen dieser zwei Erzählungen in den unterschiedlichen Stadien der durch die Ehe hervorgerufenen Enttäuschung befinden, sind sie mit einer Skala messbar und durchaus vergleichbar. Sie haben offensichtlich ein Problem, sich sowohl im Zustand des begehrten Objektes (Schönheit) zu erhalten als auch in der Rolle des begehrenden Subjektes zu behaupten. Nicht zufällig ist gerade die Frau, die im Zentrum von Petruševskajas Erzählung steht – die rätselhafte Raisa –, mädchenhaft und fragil und erinnert an die Galerie der romantischen jungen Geliebten oder ihre Nabokov’schen Parodien. Das Interesse an den kleinen oder sehr jungen Mädchen in der Romantik und um Laufe des 19. Jahrhunderts zeugte von der männlichen Angst vor der weiblichen Sexualität. Die kindlichen oder jugendlichen Geliebten – die Unschuldigen – fungierten als reines Objekt der männlichen Begierde.29 Diese kanonische Topik der mädchenhaften Unschuld wird bei Petruševskaja nicht nur parodiert – denn ihre Trägerin Raisa ist eine ehemalige Prostituierte –, sondern auf andere Art symbolisch beladen. Raisa bleibt das ewige Mädchen, weil sie – traumatische Folge des Missbrauchs – ihrer Sexualität beraubt ist. Diese Figur krönt das Arrangement der desexualisierten Frauen, deren Körperlichkeit nur einen Aspekt hat – das Emp28 | »У Петрова моего это по три-четыре раза в год бывает« (Petruševskaja 1995: 172). 29 | Für eine Illustration solcher Ängste vgl. den Albtraum von Kinderschänder Svidrigajlov in Dostoevskijs »Prestuplenie i nakazanie« (»Verbrechen und Strafe«, 1866), dem in der Nacht vor seinem Selbstmord die Vision einer fünfjährigen Prostituierten erscheint. Das kleine Mädchen rutscht mit einem lasziven Lächeln unter seine Bettdecke. Der Horror dieser Szene besteht gerade darin, dass das sexuelle Begehren sich in einem kleinen Mädchen offenbart, das zwar für männliche Wünsche instrumentalisiert werden kann, selbst aber keine Lust haben darf. Zur Symbolik der Unschuld und den damit verbundenen Männerängsten vgl. das letze Kapitel in Peter Gays Monographie über Liebe im bürgerlichen Zeitalter (Gay 1987).
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finden von Schmerz – und die somit keine an das sexuelle Lustempfinden gebundene Individuationsgeschichte durchleben können, wie dies etwa der Held von Limonovs »Ėto ja, Ėdička« kann. Die analysierten Sujets höhlen das Liebesschema sowohl der Bad-writing-Literatur als auch der Jungen Prosa aus und zeigen den problematischen Charakter der Kopplung der Liebe an die Sexualität. Denn Liebe wird zum spezifisch weiblichen Problem, wenn die Liebenden einander vor allem als sexuelle Partner begegnen, wenn Liebe »prozess-« statt »resultatsorientiert« bleibt. Das heißt, die Liebe interessiert sich zwar für die Prolongierung einer Liebesbeziehung, sieht aber die Familiengründung nicht als ihr primäres Ziel. (Im vorangehenden Kapitel wurde ein solcher Code als »nicht teleologische Liebe« beschrieben). Das Problem vertieft sich, wenn sich die Liebe als eine ausschließliche Beziehung nur zweier Partner konstruiert und somit in ihrer Ausschließlichkeit keinen Platz für den eventuellen Nachwuchs bietet. Die betroffenen Frauen stehen gezwungenermaßen vor der Wahl zwischen der mütterlichen und der erotischen Liebe. Dass die »Schuld« für das Scheitern der Liebe nicht allein auf den männlichen Schultern liegt, etwa weil Männer verantwortungslos mit der Liebe umgehen würden, zeigt wiederum der Text von Natal’ja Baranskaja. Ihre Protagonistin bezeichnet auch für sich die Zeit ihrer vorehelichen Beziehung und die erste kinderlose Zeit ihrer Ehe als Paradies, das sie und ihr Mann für immer verlassen haben, in das sie jedoch gerne zurückkehren würden, um eine Liebe ohne eheliche Pflichten und Strapazen erleben zu können. Da aber für sie die Liebe und die Sexualität – in Ermangelung der Kontrazeptiva – die körperliche Dimension einer unentbehrlichen Schwangerschaft hat, an Kindergeburt und Familiengründung gekoppelt ist, überschattet schließlich die Realität ihrer Ehe die Realität ihrer Liebe. An der Lieblosigkeit des familiären Lebens leiden jedoch beide Geschlechter. Paradox an dieser Situation bleibt die Tatsache, dass sich die Ehe dennoch nur durch die Liebe legitimieren kann. Liebe ist nicht nur die Initialzündung einer ehelichen Bindung, sondern sie muss ständig da sein, damit die Ehe gerechtfertigt bleibt. Die Ehefrauen und Mütter finden sich somit in einer unlösbaren Konstellation wieder, deren beide Elemente (Ehe und Liebe) einerseits aneinander gebunden sind, sich aber andererseits gegenseitig ausschließen. Sie werden automatisch zu Verliererinnen in ihren Liebesbeziehungen. Dass es sich nicht etwa um zwei weibliche Typen oder Temperamente handelt, sondern das Problem in der Struktur
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des Codes liegt, macht z.B. Viktorija Tokareva deutlich. In ihrer Erzählung »Paša i Pavluša« wird eine erfolgreiche »Liebesspielerin« ausrangiert, sobald sie Mutter wird. Ein weiterer paradoxer Aspekt der neuen Liebe ist das Model der Weiblichkeit, das sie vorschlägt, und welches man am besten mit Barbara Heldt als »terrible perfection« bezeichnet (Heldt 1987). Heldt benutzt diesen Begriff, um das Bild der Frau zu beschreiben, das die russische Literatur des 19. Jahrhunderts prägt. Die Frau im russischen Realismus muss über Schönheit, Intelligenz, Toleranz, Stärke und Geistigkeit verfügen, um ihren (zumeist schwachen) Mann auf dem Weg zu seinem Ziel unterstützen zu können (ebd.: 12-24). Ein Jahrhundert später haben die Frauen in der russischen Literatur schön (oder zumindest gut aussehend), klug, gebildet, berufstätig, selbständig, stark, kinderlieb und fürsorglich zu sein. Das Objekt der Selbstaufopferung dieser furchtbar perfekten Frauen ist jedoch nicht mehr ihr männlicher Gegenpart.
F R AUEN SIND DIE BESTEN M ÄNNER »Als ich sah, dass ich das Problem – Arbeit, Ehemann, Kinder, Wohnung, Krankheiten – nicht lösen kann, schloss ich den Ehemann als den unzulässigen Luxus aus und ließ nur das allernötigste: Sohn, Arbeit, Alltag.« 30 »Ich warte schon seit langem, seit meiner Jugend, auf literarische Werke, die ehrlich das Leben der sowjetischen Frau abbilden würden, ihr Familienleben, ihren Alltag, ihre Arbeit. Es gibt sie, aber leider nur sehr wenige. Die Schriftsteller wollen die unlösbaren Widersprüche im doppeldeutigen Zustand der Frau – auf der Arbeit und Zuhause – nicht ansprechen. Unlösbar sind sie, weil es unmöglich ist, auf eine vernünftige Weise die Pflichten einer Ehefrau, einer Mutter, einer Liebhaberin, und auch noch einer Berufstätigen, und auch noch einer sozial Engagierten, zu vereinbaren.« 31 30 | »Не сумев решить для себя проблему – работа, муж, дети, квартира, болезни, я исключила мужа как непозволительную роскошь и оставила самое необходимое – сын, работа, быт.« N. Malkina, Ingenieurin, RGALI f. 1702, op. 10, d. 636, l.41. 31 | »Я очень давно, со времен своей молодости жду в литературе произведений, где была бы правдиво отражена жизнь советской женщины,
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Die zitierten Briefe wurden im Jahr 1970 geschrieben und sind Reaktionen auf Baranskajas »Nedelja kak nedelja«. Die Publikation dieses Textes hat eine ganze Reihe von solchen und ähnlichen Rückmeldungen ausgelöst. Interessant ist, dass Baranskajas Leserinnen mit ihren Briefen nicht die Frage der sozialen Missstände aufnehmen, sondern die Struktur der im Text entworfenen Liebesbeziehung kritisieren. Dass die Leserinnen bei der oberflächlichen Erklärung (die Protagonistin hat mit dem einzelnen und durchaus behebbaren Fehler des sowjetischen sozialen Systems zu tun) nicht bleiben und lieber in die »Tiefe« einer Liebesbeziehung hineinschauen wollen, liegt an dem analytischen Impetus von Baranskajas Text. Er gehört zur Alltagsliteratur, deren Markenzeichen die minutiöse Beobachtung der alltäglichen Details ist – eine Beobachtung jedoch, die im Helden, anders als in der Jungen Prosa, nicht die emotionale Reaktion, nicht die emphatische Erkennung seiner selbst hervorrufen soll, sondern eher zum Zwecke der analytischen Argumentation und Typisierung eingesetzt wird. Kennzeichnend ist, dass auch die Struktur des Textes von Baranskaja auf die Objektivierung und Analyse der dargestellten Zustände zielt. Beschrieben wird eine x-beliebige Woche in nahezu stündlichem Ablauf, die Figuren der Erzählung bilden eine soziale Gruppe von in der Forschung arbeitenden Frauen, die umfassend nach Altersstufen, Familienstand und der Kinderzahl dargestellt sind. Parallel zu diesem quasi repräsentativen Überblick wird eine »exemplarische Studie« durchgeführt: Eine junge, studierte, verheiratete Frau mit Kindern wird einer genaueren Beobachtung unterzogen und dem Leser als eine Fallanalyse dargeboten. Es fehlt nur das Fazit – der Text hat einen offenen Schluss. Entsprechend objektivierend ist die Sprache dieses Textes, selbst wenn es um Liebe geht. Beschrieben wird ein »Gefühl in absentia«. Obwohl die Ich-Erzählerin eine Liebesehe führt, spricht sie kaum über ihre Liebe, und wenn überhaupt, dann überwiegen in ihrer »Sprache der Liebe« die Verneinungen, etwa: »möglicherweise brauche ich keine Liebe mehr« (Baranskaja 1979: 59) oder »warum kann ich ihn nicht küssen?« (ebd.: 27). семейная жизнь, и быт, и работа. Таких произведения до обидного мало. Не хотят касаться писатели неразрешимых противоречий в двойственном положении женщины – на работе и дома, неразрешимых потому, что невозможно разумно сочетать обязанности жены, матери, любовницы, и производственницы, и общественницы«. T. Kirillova, Leningrad, RGALI f. 1702, op. 10, d. 636, l.14
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Die Negativität ihrer Liebe wird hier zumeist abgemildert, z.B. durch ein Adverb, das die Aussage in den Modus der Wahrscheinlichkeit, nicht der Tatsächlichkeit, stellt, oder durch die Frageintonation. Was der Text offen lässt, vervollständigt die Rezeption. Die Leserbriefe formulieren das Fazit dieser Erzählung. Die vorsichtige Verneinung der Liebe in der Ehe, die die Heldin in »Nedelja kak nedelja« betreibt, löst einen starken Widerhall unter den Leserinnen dieser Erzählung aus, wie die eingangs zitierten Briefpassagen zeigen. Die Leserinnenfragen, warum über den Alltag der sowjetischen Frau nicht geschrieben werden kann, warum über die Liebe der verheirateten Frauen keine Gedichte geschrieben werden können, legen das wichtigste Problem bloß, dessen sich die Texte der Frauenliteratur annehmen: Die paradoxe Anforderung an die Ehe, Liebe zu bleiben, während die moderne Liebe auf die Ehe gar nicht ausgerichtet ist und letztere nur für eine von vielen möglichen Optionen hält. Die Figuren der Verneinung (»ich brauche keine Liebe«), des Verschweigens, die Verfahren der Distanzierung, die eine Lücke zwischen dem erzählenden Ich und seiner Liebe aufreißen, zielen in Baranskajas Text gerade darauf ab, dieses als katastrophal empfundene Getrenntsein der Liebe und der Ehe aufzuzeigen. In den Leserbriefen werden die Zweifel an der existierenden Form der Ehe laut, wobei unklar bleibt, wodurch sie ersetzt werden sollte.32 Angesprochen werden die Diskrepanzen in der staatlichen Familienpolitik, die auch im privaten Bereich eine Planerfüllung erfordert. Der Kontext der ersten demographischen Untersuchungen, die nicht nur über die desolaten Lebensumstände der sowjetischen Familien informieren, sondern auch eine Geburtennorm aufstellen (2,3 Kinder pro Familie), wirkt sich 32 | »Почему неизбежен кризис семейной жизни, когда подрастут дети? Действительно ли он неизбежен или это только на нашем поколении в 90 % браков или развод или неофициальная раздельная жизнь. Может ли быть прогресс семейных отношений при существующей форме брака? Какие новые отношения лучше?« – »Warum kommt es immer zur Krise in der Ehe, wenn die Kinder erwachsen sind? Ist die Krise in der Tat unumgänglich oder es ist nur in unserer Generation so, dass 90 % der Ehen entweder geschieden werden, oder die Eheleute bleiben offiziell verheiratet, gehen aber getrennte Wege? Kann man die aktuelle Form der Ehe behalten, aber das Eheleben optimieren? Gibt es neue Formen der Ehe, die besser wären?« T. Kirillova, Leningrad, 10.03.1970, RGALI f. 1702, op. 10, d. 636, l.15.
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sowohl auf den Text als auch auf seine Rezeption aus.33 Die sowjetische Frau findet sich in einem Dreieck wieder – sie lebt zwischen dem Wunsch nach Liebe, der Unentbehrlichkeit der Ehe und der Mutterschaft und dem Zwang der staatlichen Familienpolitik. Daneben stellt sich ein noch gewichtigeres Problem. Mann und Frau können sich nur in der Liebe vereinen, aber diese Liebe verschwindet nahezu immer, wenn sie eine Ehe eingehen. Zugleich kann eine Ehe nur durch eine Liebe gerechtfertigt werden. Eine Legitimierung der Ehe durch die gemeinsam zu tragenden Pflichten, die finanzielle Notwendigkeit, Anstandsregeln und Ähnliches ist unzureichend. Fehlt die Liebe, können ein Mann und eine Frau nicht zusammenbleiben, dies gilt als »Lüge« – die größte Sünde in einem Zeitalter, in dem sich der Privatmensch gerade in puncto »Aufrichtigkeit« der verlogenen Staatsideologie widersetzt. So verliert die Institution der Ehe ihre innere Legitimität, Mann und Frau trennen sich und der Mann verschwindet aus der Familie. Schließlich gilt er, während die berufstätige Frau sich auch noch der Kindererziehung widmen soll und Schwierigkeiten hat, als Geliebte aufzutreten, als »unzulässiger Luxus«. Belege dafür liefert die Literatur in ausreichendem Maße. Auch Autoren der »männlichen« Literatur problematisieren solche Abkühlung in der Ehe. Vasilij Aksenov beschreibt in der Erzählung »Malen’kij kit, lakirovščik dejstvitel’nosti« (»Der kleine Walfisch, Realitätslackierer«, 1969) die letzten Tage einer solchen »ausgehöhlten« Ehe. Der Ich-Erzähler der Geschichte ist ein Vater und Ehemann, der jedoch bereits eine neue Liebe gefunden hat und nur seines kleinen Sohnes wegen noch auf der Seite der ihm fremd gewordenen Ehefrau verweilt. In der weiblichen Literatur, die vor allem die Frau in das Zentrum ihrer Narrative stellt, sind maternial families wesentlich öfter anzutreffen, denn sie konzentriert sich – bedingt 33 | In »Nedelja kak nedelja« scherzen Oljas Kolleginnen über die »Untererfüllung« des Geburtenplans (Baranskaja 1981: 9f.). In vollem Ernst wird der Geburtenplan aber in einem Leserbrief angesprochen: »Прочитав ее [повесть – НБ], молодые матери не будут рожать не только двух трех, а даже ни одного […] Повесть должна быть наоборот, дорогая Наталья Баранская. Больше так не пишите«. – » Wenn junge Mütter diese Erzählung lesen, werden sie keine zwei oder drei Kinder bekommen, sondern gar keine. […] Ihre Erzählung sollte andres sein. Schreiben sie so etwas nicht mehr.« Šurdelin, Arbeiter in der Rente, RGALI f. 1702, op. 10, d.636, l.6.
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durch das Objekt ihrer Beobachtung – nicht nur auf den Zustand der Trennung, sondern auch auf das Leben danach. Die maternial family überwiegt im Schaffen weiblicher Autorinnen. In Irina Velembovskajas Erzählung »Ženščiny« (»Frauen«, vor 1981) sind Frauen generationenübergreifend ausschließlich als Witwen oder Alleinerziehende vertreten. Die Protagonistin ist eine verführte und verlassene junge Frau, die ihr Dorf verlässt, um in der Stadt Geld zu verdienen, mit dem sie ihren kleinen Sohn und die ihn pflegende Mutter (eine Witwe) unterstützt. Sie wird von einer älteren Frau, einer Produktionsheldin und Betriebsratsaktivistin, unter die Fittiche genommen, die – verwitwet – ihren Sohn ebenfalls allein aufzieht. Selbst die negative Figur in dieser Geschichte, eine ehemalige Heldin der Arbeit, die, zunächst vom übermäßigen Lob, materiellen Vergütungen und männlicher Aufmerksamkeit verführt, sich schließlich doch bekehren lässt, will eine maternial family gründen: Sie möchte allein ein Kind adoptieren. Männer erscheinen in dieser Erzählung, wenn überhaupt, dann nur als Anwärter auf ein Liebesabenteuer, nicht aber als Ehemänner und Väter. Es läge auf der Hand, die sowjetische maternial family soziologisch zu erklären. Gerade Velembovskajas Text nennt sehr genau die vielfältigen Gründe für diese Erscheinung. Da sind der Krieg, der die Frauen der älteren Generation zu Witwen macht, der Zerfall der traditionellen Dorfgemeinschaft, die früher sowohl den »Verführer« als auch die »Verführte« zur Heirat hätte zwingen können, und nicht zuletzt der geänderte Status der arbeitenden Frau, die mit ihrer finanziellen Unabhängigkeit sich das Recht erkauft, über ihren Körper frei zu verfügen. Wie jedoch die literarischen Texte zeigen, liegt das Hauptproblem in der Beziehung selbst. Das Problem der Nichtkompatibilität der Liebe mit der Familie liegt in der spezifischen Ausrichtung des Liebescodes. Wie reagiert die Frauenliteratur auf das Paradox, das sie einerseits aufdeckt und kritisiert, andererseits predigt? Als ein Teil des urbanen Liebesdiskurses entwickelt sie einen alternativen Liebescode, der sich an der Lebensweise und den Idealen der neu aufkommenden sozialen Gruppe gebildeter und qualifizierter Frauen orientiert. Die Liebe wird hier zu einer Art nebenberuflicher und parafamiliärer »Freizeitbeschäftigung« und bricht radikal aus dem Rahmen patriarchalisch geprägter sowjetischer Ordnung aus. Die Familie funktioniert zu einem erheblichen Teil nach dem Modell einer nicht erotischen Lebensgemeinschaft, die des Öfteren aus zwei arbeitenden Frauen besteht – Großmutter und Mutter, Mutter und Tochter oder zwei Freundinnen.
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Beispielhaft in dieser Beziehung sind die Texte von I. Grekova (z.B. »Kafedra«, »Der Lehrstuhl«, 1978; »Chozjajka gostinicy«, »Hotelwirtin«, 1976), die sich nahezu ausschließlich auf maternial families konzentrieren. Selbst in den 1990er Jahren verliert dieses Modell seine Aktualität nicht. Ljudmila Petruševskaja verwendet dieses Modell in mehreren Erzählungen, unter anderem in »Vremja noč‹« (»Meine Zeit ist die Nacht«, 1991). Dieses Familienmodell hat für die weibliche Liebe folgenreiche Konsequenzen: Liebesbeziehungen mit Männern werden hier oft für zu instabil gehalten, um auf ihnen eine Familie zu gründen. Die Liebe wird als kurzweiliges Erlebnis beschrieben, das sich mehrere Male im Leben wiederholt. Zu den stabileren Werten avancieren dagegen Bildung, Beruf, privates Netzwerk und nicht zuletzt vertikale Verwandtschaftsbeziehungen (Beziehungen zwischen Müttern und Kindern).34 Der problematische Code der »nicht ehebereiten« Liebe bringt eine Gruppe von weiblichen Heldinnen hervor, die aus dem paradoxen Code Gewinn ziehen. Die Liebesliteratur der 1970er Jahre erfindet die Liebe der Mittvierzigerin, der Frau, über welche die gestresste Protagonistin von »Nedelja kak nedelja« mit Neid sagt, sie wäre »in jenem glücklichen Alter, in dem man keine Kinder mehr gebären kann« (Baranskaja 1979: 22).35 Frauen in diesem Alter sind z.B. die Heldinnen in Maja Ganinas »Dal’njaja poezdka« (»Ferne Reise« 1969) und »Uslyš‹ svoj čas« (»Vernimm deine Stunde« 1975), in Irina Velembovskajas »Sladkaja ženščina« (»Die Süße Frau«, 1973) und in Grekovas »Kafedra«. Sie werden für Liebessujets interessant, da sich das Problem der Familiengründung für sie nicht mehr 34 | Vgl. hierzu das Gespräch zwischen Mutter und Tochter in Ganinas »Uslyš svoj čas«: »Мужики приходят и уходят, а мы с тобой остаемся. Свои, родные, и никто нам не нужен […]. Любовь и нежность к ней [zu der Tochter; NB], ее – ко мне заменяли мне всех самых великолепных мужиков на свете« (Ganina 1983: 503). »Die Kerle kommen und gehen, und wir bleiben. Wir sind uns so nahe, so eng verbunden. Wir brauchen niemand anderen […]. Die Liebe und die Zärtlichkeit, die ich zu meiner Tochter empfand, konnten mir alle, auch die allerschönsten Männer nicht ersetzen.« (Übersetzung NB). Bemerkenswert ist auch der Wortgebrauch in diesen Zitaten, statt mužčina (Mann) benutzt Ganina das Wort mužik (dt. hier »Kerl« oder »Typ«), das im weiblichen Slang den Mann in seiner rein sexuellen Funktion bezeichnet. 35 | »сама она в том счастливом возрасте, когда детей уже не рожают« (Baranskaja 1981:19)
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stellt. Ihre erwachsenen Kinder benötigen kaum ihre mütterliche Fürsorge, und die Lockerung der Ehe, bedingt gerade durch ihre Kopplung an die Liebe, macht sie wieder zu aktiven Akteurinnen auf dem Spielfeld der zarten Leidenschaft. Erst jetzt entdeckt die Frau ihre Sexualität und kann sich den Luxus der freien Partnerwahl wieder leisten. Mit der Wiedereingliederung der 40-jährigen Frauen in die »empfindsame Gemeinschaft« wird die Liebe nahezu unendlich. Sie wird zu einem beliebig wiederholbaren Erlebnis, ihr werden keine Altersgrenzen mehr gesetzt, wodurch die Suche nach dem »Richtigen« beliebig perpetuiert werden kann. In Grekovas »Chozajka gostinicy« entdeckt die Protagonistin erst im Alter von 60 Jahren ihre »wahre« Liebe. Interessanterweise fällt ihre weibliche Emanzipation zeitlich mit der partiellen Liberalisierung der sowjetischen Politik zusammen. Mit einem tyrannischen Mann verheiratet, macht sie erst nach dessen Tod in den frühen 1960er Jahren den Prozess der persönlichen Emanzipierung durch, verwandelt sich von einer Hausfrau in die erfolgreiche Hotelwirtin und entdeckt in sich eine Frau. Sie wechselt nach ihrem Wunsch die Partner und findet schließlich – pünktlich zu ihrem 60. Geburtstag – den Traummann. Mit dem beruflichen Erfolg und finanzieller Unabhängigkeit erreicht die Frau auch das private Glück. Diese Kopplung ist kennzeichnend. Denn das Glück in der Liebe kommt nicht zufällig, es wird auch nicht für die Schönheit und Jugendlichkeit gegeben. Es trifft die Frauen als Entlohnung für ihre persönliche Leistung, die unter anderem an ihrem beruflichen Fortkommen gemessen wird. Erst wenn sie frei über ihren Körper verfügen und ihre Partner jenseits aller finanziellen, familiären Notwendigkeiten und bar aller Anstandszwänge frei wählen können, glückt die Beziehung. Dieses Modell ist nicht nur für das Schaffen von I. Grekova charakteristisch, sondern generell für die weibliche Literatur der 1970 bis 80er Jahre. In der bereits erwähnten Erzählung von Velembovskaja »Zenščiny« fällt die neue Liebe der Heldin mit der Entscheidung, sich beruflich weiterzuqualifizieren, zeitlich zusammen. Wie zufällig findet die alleinerziehende Šura aus Baranskajas »Koldovstvo« (»Zauberei«, vor 1981) ihr neues Glück, als sie sich selbst und ihrer Umgebung beweist, dass sie eine unabhängige Frau ist – »samostojatel’naja ženščina« (ebd.: 248). Frauen verdienen die Liebe genauso wie die Männer, die durch Reisen, Leiden und Abenteuer die notwendige Erfahrung sammeln müssen. Selbst den Luxus des mehrfachen oder des späten Versuches dürfen sich die Frauen leisten. Wenn Narben den Mann schmücken, dann sind die Falten der Lebenserfahrung
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der beste weibliche Schmuck – das »Recht auf Falten« möchte Anastasia aus Maja Ganinas »Uslyš svoj čas« für sich erkämpfen.36 Es ist auffällig, dass die 40-jährigen Frauen sich gerade mit den Charakterzügen ausstatten, die sie eigentlich als »männlich« empfinden und gern auch bei ihren Geliebten beobachten wollen. Diese Frauen sind berufstätig, erfolgreich, tragen die finanzielle Sorge für ihre Familien und unterhalten meist ihre Ehepartner.37 Diese »Maskulinisierung« ihrer sozialen Rolle verändert ihre Rolle in der Liebe. Nicht sie werden gewählt, sondern sie wählen ihre Partner, wobei sie ebenfalls das Prinzip der schönen Oberfläche für den männlichen Gegenpart gelten lassen. In der Regel sind die Geliebten der 40-jährigen Powerfrauen wesentlich jünger, etwa wie Vit’ka in »V gastroljach« (»Auf Gastspiel«, 1970) oder Žorik in »Zolotoje odinočestvo« (»Die goldene Einsamkeit«, 1970) von Maja Ganina. (Man beachte die verniedlichten Namensformen dieser Männer – Vit’ka statt Viktor, und Žorik statt Georgij.) Aus der Perspektive des weiblichen Blickes muss der geliebte Mann ähnliche Eigenschaften aufweisen wie die geliebten Frauen der männlichen Literatur: Sie müssen schön, jung und sexuell anziehend sein.38 36 | Als nachahmungswürdiges Idealvorbild schlägt sie westliche Schauspielerinnen vor, die auch im Alter die Rollen der anziehnden und begehrten Frauen mit Erfolg spielen. »У них морщины, но их любят и никто не смеется« (ebd.: 455) – »Sie haben Falten im Gesicht, aber sie werden geliebt und keiner lacht über ihr Alter« (Übersetzung NB). 37 | Vgl. »Mоя семья тоже на моих плечах, мой муж получает сто пятьдесят рублей, тем не менее он первый щеголь в Москве« (ebd.: 463) – »Die Unterhaltung meiner Familie ist auch meine Aufgabe . Mein Mann verdient lediglich 150 Rubel, nichtsdestotrotz ist er der eleganteste Mann in Moskau« (Übersetzung NB). 38 | Vgl. die Männerbeschreibungen in Ganinas »Uslyš svoj čas«: »Вспоминаю, нежно, больно лелею внутренним зрением темный, как вода, взгляд […], тяжелые плечи, огромные руки« (ebd.: 461) – »Ich erinnere mich, zärtlich, schmerzlich, liebkose in meiner Erinnerung seine dunklen wie tiefes Wasser Augen, […] seine schweren Schultern, seine starken Arme«; »Красавец мужчина в черной небольшой бороде, белозубый, улыбчатый, высокий, кольца на белых с розовыми ногтями руках […] Шамаханский принц« (ebd.: 469) – »Ein Schönling von Mann, mit einem kleinen schwarzen Bart, mit strahlend weissen Zähnen, lächelnd, groß, mit Ringen an den weißen Händen, mit
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In diesen Texten sind Frauen die Begehrenden. Sie sind sowohl Objekte als auch Subjekte einer Liebesbeziehung und stellen dieselben Anforderungen an ihre Partner wie die Partner an sie. Sie spielen – auch in ihrem eigenen Verständnis, die Texte thematisieren es oft genug – eine »männliche« Rolle, indem sie ihre Liebe bestimmen. Die Rollenmuster, denen die weiblichen und männlichen Heldinnen und Helden folgen, sind gleich gepolt und schließen einander deswegen aus. Hinzu kommt die Inkonsequenz in den Spielregeln, denn die starken Frauen der weiblichen Literatur fordern einerseits die Akzeptanz ihrer Stärke, andererseits die Einhaltung der Beziehungsmuster, in denen der Mann die führende Rolle hat. Eine solche Diskrepanz im Liebesverhalten legen oft die Heldinnen in Maja Ganinas Texten an den Tag. In »V gastroljach« erwartet Lidija Geschenke von ihrem wesentlich jüngeren Geliebten, den sie praktisch aushält, in »Uslyš svoj čas« verlässt Anastasija ihren Geliebten Igor’, weil sie ihn für entscheidungsschwach hält. Sie merkt dabei aber selbst, dass er in der Beziehung mit ihr keinen Spielraum für eigene Entscheidungen hat. Beide Frauen erwarten von ihren Männern die Einhaltung des Codes, den die Struktur ihrer Beziehung ausschließt. Nicht von ungefähr nennen beide Männer – Vit’ka und Igor’ – ihre Geliebten »Mama«. Sie wählen die einzige sozial akzeptable Form der Beziehung, in der die Frau als Beschützerin und der Mann als Beschützter auftreten kann – die Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Aber mit der Stilisierung des Mannes als Kind verlassen sie den Raum der erotischen Liebe, führen ihre Beziehungen in die Krise oder setzen dieser ein Ende. Ein anderer Code der erotischen Liebe, der die Änderungen im Rollenverhältnis der Geschlechter hätte aufnehmen können, bildet sich nicht heraus.
D IE E RFAHRUNG DER I NSTABILITÄT Weibliche Literatur stilisiert Frauen als »bessere Männer«, bad writing hat mit einer Krise der Männlichkeit zu kämpfen, die bis hin zur Veränderung gepflegten rosigen Nägeln – ein kaukasischer Prinz«, »Tоненький смуглотелый юноша […], чернокудрый, черноглазый, он стоял раскинув руки, напряженный как струна« (ebd.: 528) – »Zarter Jüngling mit gebräuntem Körper […], mit schwarzen Locken, mit schwarzen Augen, da stand er, angespannt wie eine Saite und breitete die Arme aus«. (Übersetzung NB).
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der eigenen Sexualität reicht (Homosexualität oder Effemination des Mannes, wie in Texten von Ėduard Limonov). Während die Kultur des Hochstalinismus die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern eliminieren wollte und Sexualität als Merkmal der Genderdifferenzierung bekämpfte, problematisierte die Literatur der 1960er und der 1970er Jahre, unter absoluter Bejahung der Sexualität, die sozialen Grenzen des Genders. Die Cross-over-Modelle des Genders – »maskuline« Frauen, »effeminierte« Männer – symbolisieren vor allem den Zerfall der kanonischen Liebesbeziehung und die Optionalität in der Wahl der Verhaltensmuster in der Liebe. Sie sind auch Desorientierungs- und Frustrationsmerkmale – die Reaktion auf das Ableben des alten und das Ausbleiben eines neuen Beziehungsmodells. Jedoch ist das Fehlen eines solchen klar formulierten und verbindlichen Modells die Voraussetzung der neuen Liebe: Sie ist ein Code mit mehreren, möglicherweise mit zu vielen Variablen. Diese komplexe Vorstellung von Geschlechterrollen ist nicht die einzige in der späten sowjetischen Kultur. In der Populärkultur – und diese wird von visuellen Medien, Komödien und Fernsehfilmen dominiert – macht sich eine deutliche Asymmetrie der Geschlechterrollen bemerkbar, wobei die »Gegenläufigkeit« solcher Beziehungsmodelle zu dem offiziellen Gebot der Gleichberechtigung von den Zuschauern wie von den Künstlern konsequent übersehen wird. Gerade der »Neue Konservatismus« der 1970er Jahre (Bulgakova 1999b) belebt das alte Modell der bürgerlichen Liebe, in dem eine passive Frau vom aktiven Mann umworben wird. Mit der Abschwächung der ideologischen Gebote und der Wiederbelebung der traditionellen Werte in den 1970er Jahren setzt eine schärfere Trennung der Kommunikationsrollen ein. Der »starke« Mann avanciert zum alt-neuen Männlichkeitsideal. Er ist Entscheidungsträger, der Frau dagegen bleibt es überlassen, auf sein Angebot zu reagieren. Aber selbst die populäre Kultur, und zwar in ihren trivialsten Genres wie Fernsehfilm und Komödie, kehrt zuweilen dieses Schema parodistisch um, problematisiert die Uneindeutigkeiten in der Rollenverteilung. Sie zeigt oft genug einen entscheidungsschwachen, willenlosen, aber einfühlsamen Mann, der von starken Frauen (Mutter, Chefin, Ehefrau) dominiert wird (Ironija sud’by, ili s legkim parom, Ironie des Schicksals, 1975; Služebnyj roman, dt. VT. Liebe im Büro, 1977). Zwar sehen sich diese passiven Helden – sobald sie sich verlieben – genötigt, eine aktive Rolle in ihrer Beziehung zu übernehmen. Und ging es im Film um eine »starke« Frau, musste sie ihre Stärke verschwinden lassen und die Dominanz des Mannes akzep-
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tieren, wenn sie das Glück in der Liebe erleben wollte (Moskva slezam ne verit, dt. VT. Moskau traut den Tränen nicht, 1979). Aber dennoch beweist ein solcher »Rollentausch« die Optionalität in der Wahl der Beziehungsmuster und die Dissonanz in den kulturellen Erwartungen, die an die Geschlechter gestellt werden. Überall – in der Literatur und im Film, in gehobenen und trivialen Genres – bleibt Gender ein prekäres Thema. Die Probleme, die in den Komödien noch bedenkenlos überwunden werden, indem man eine despotische Chefin in eine glückliche Mutter umfunktionierte, bleiben in anderen literarischen und filmischen Gattungen grundsätzlich ungelöst. Regisseur Julij Rajzman erprobte in seinem Film Strannaja ženščina (dt. VT. Eine sonderbare Frau, 1977) gleich mehrere Lösungsvarianten. Seine Protagonistin verlässt ihren gut situierten Mann, der sie – berufstätige Juristin – nur als Hausfrau und Mutter wahrgenommen hat, für eine leidenschaftliche Liaison mit einem Verfechter der freien Liebe. Doch weder das häusliche Glück noch das Ausleben der Sexualität noch die – als dritte Variante – in Aussicht gestellte hingebungsvolle Liebe eines dritten Mannes entsprechen ihren Erwartungen. Die Protagonistin findet keine befriedigende Lösung, die Leidenschaft, Beruf und Familie unter ein Dach hätte bringen können. Generell stellt der Genderdiskurs, als Teildiskurs der Liebe, mehr Fragen, als er beantworten kann. Zwar wird das ideologische Gebot der Gleichberechtigung in Frage gestellt, aber die Partnerschaftsmodelle der Tauwetterzeit werden als utopisch entlarvt und die körperlosen sowie zweckorientierten Beziehungen der stalinistischen Kultur heftig kritisiert und abgewertet. Die Alltagsprosa, ihre weiblichen und männlichen Autorinnen, die Literatur des bad writing, die Massenkultur – alle in dieser Zeit dominierenden kulturellen Strömungen beschäftigen sich mit der Problematik der Übergangszeit, der schwierigen Umstrukturierung des weiblichen und des männlichen Selbstverständnisses, der Selbstbeschreibung und der geänderten Rollenverhältnisse. Die nicht offizielle Literatur feiert die neue Form der sexualisierten Liebe, die sich jenseits aller Institutionalisierungen sieht, Freiheit beschwört, aber zugleich einen solchen Grad an Instabilität in die Beziehung bringt, dass sie sogar den männlichen Akteuren, die sich mit Vorliebe als tapfere Don Juans stilisieren, bedrohend vorkommt. Die Frauenliteratur und die Alltagsprosa generell beweinen diese Instabilität, weil sie das Institut der Familie so sehr ins Schwanken bringt, und feiern sie zugleich, weil sie auch Frauen an der neuen Beziehungsfrei-
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heit teilhaben lässt. Die populäre Kultur spielt mit den asymmetrischen Modellen der bürgerlichen Liebe des 19. Jahrhunderts. Anything goes für die neue sowjetische Liebe, aber eine neue, geltende und stabile Norm kristallisiert sich nicht heraus. Die Rollenzuschreibungen bleiben instabil.
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Fazit
Eine der sichtbarsten und wichtigsten Veränderungen im Code der sowjetischen Liebe, die im Laufe der 1960er bis 1980er Jahre stattfinden, betrifft den Übergang von der »Tugendliebe« zur individuellen und individualisierenden Liebe. Mit Tugendliebe ist der Code angesprochen, der die Liebenden vor allem in ihren sozialen Funktionen beschreibt und ihre politischen Loyalitäten sichert: Sowohl der Liebende als auch der Geliebte sollen sozialistische Helden sein oder auf andere Art beweisen können, dass sie ideologisch einwandfrei sind. Eine solche Liebe operiert mit kollektiven Werten – mit dem sozialen Nutzen, der Opferbereitschaft, der Pflichterfüllung. Als der Liebescode dahingehend umorientiert wird, Individualität hervorzubringen, und damit einhergehend die kollektiven Werte der sowjetischen Ideologie vernachlässigt werden, verändert das den Code der Liebe vollständig. Und zwar nicht nur, weil der Geliebte und der Liebende in diesem neuen Code anders definiert werden, sondern auch weil der Liebescode der spätsowjetischen Zeit an andere semantische Felder gekoppelt wird. Liebe wird zur Angelegenheit der Ethik, nicht der Politik. Die Haupteigenschaften dieser neuen Liebe sind ihre Autoreferentialität und Tautologie: Liebe bedeutet nur Liebe, ein Liebesverrat bleibt immer nur ein Liebesverrat, und die Treue in der Liebe bedeutet nicht die Staatstreue. Die Zeichen der neuen Liebe können in keinem anderen Code gelesen werden, wie es vor den 1950er Jahren der Fall gewesen ist, als ein Liebesverrat gleichzeitig Landesverrat sein konnte und sogar sollte und umgekehrt, ein Landesverrat als Liebesverrat gedeutet wurde. Dieser Übergang im sowjetischen Liebesdiskurs findet bereits sehr früh, noch in den 1960er Jahren, statt und initiiert alle weiteren Veränderungen. Die Umpolung des Interesses von der Politik auf die Ethik, vom Herrscher und dem mit ihm symbolisierten Staat auf das Individuum, verlief allerdings sehr allmählich. Der Herrscher und der Staat wurden zuerst
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durch kleinere Gemeinschaften (Familie, Freundschaftskreise, Männerbunde) ersetzt, ehe sich das Individuum als das alleinige Objekt des Interesses behaupten konnte. Dieser Prozess, der sich als »Privatisierung« des Liebesdiskurses bezeichnen lässt, stellte das Subjekt und sein »Liebesdrama« in das Zentrum der Narration, allerdings nicht wie zuvor unter dem Aspekt der Prüfung und Schulung des Klassenbewusstseins. Wichtig wurde allein die Perspektive der Lebenserfahrung und der Selbsterkenntnis – eine Umstellung, die zugleich die Beschreibungsperspektive der sowjetischen Liebe änderte und die epopöische, auf große Narrative ausgerichtete Erzählweise allmählich durch die extrem subjektive Narration (vgl. die Junge Prosa) oder durch die Narration mit extrem enger thematischer Fokussierung (Alltagsliteratur) ersetzte. Dass der Liebescode ins Zentrum seines Interesses die Individualität setzte, brachte aber auch erhebliche Schwierigkeiten mit sich, denn nun sollte nach einem universellen Code die Einmaligkeit produziert werden – das höchst individuelle Gefühl der Liebe, die höchst individuelle Persönlichkeit des Liebenden. Gelöst wurde dieses Problem mit der Umstellung der »Codefrage« von »Was?« auf »Wie?«. Es wurde nicht mehr danach gefragt, was Liebe ist. Als Spiegelung der Individualität, als Form von »Hervorbringung von Selbst« (Foucault) soll Liebe prinzipiell immer undefinierbar – weil einmalig und individuell – bleiben. Am deutlichsten wurde dieses Undefinierbare in der Liebe in der Jungen Prosa thematisiert, und zwar mit der Semantik der Sinnestäuschung und des unscharfen Bildes. Statt die Frage danach zu beantworten, was Liebe ist, konzentrierte sich der neue Liebescode darauf, wie die Liebe erlebt wird: Wie man leidet, fühlt und beim Leiden und Fühlen sich selbst erkennen kann. Das Resultat der Liebe – die Selbsterkenntnis – bleibt offen, und am Ende dieses Prozesses steht kein perfekter Mensch, der seine Perfektion gerade durch seine Liebe und durch das bestätigende Zurückgeliebtwerden bewiesen hat, sondern die Individualität. So gibt die sowjetische Liebe die Form der Superlative auf, wetteifert nicht mehr mit der imaginären westlichen Liebe. Der Liebescode zieht keine Grenze zwischen dem Westen und der Sowjetunion. Die sowjetischen Liebe ist nicht mehr die schönste, beste und stärkste, und die sowjetischen Liebenden sind nicht mehr die besten, stärksten und schönsten. Die Liebenswürdigkeit wird nicht mehr an dem kollektiven Ethos des Wertes oder des Nutzens gemessen (wie im Konzept des perfekten Sowjetmenschen der sozialistisch-realistischen Prägung), sondern an der Einmaligkeit des
Fazit
Geliebten, die durch seine bloße Existenz gegeben ist. An diesem Punkt wird eine weitere Maxime aufgegeben: Es geht nicht darum, wer als Objekt der Liebe taugt. Die »Wen soll man lieben?«-Frage wird genauso nicht mehr gestellt wie die Frage »Was ist Liebe?«. Jeder kommt als Objekt der Liebe in Frage. Deshalb wird das Terrain der Liebe, das zuvor als Paradies der Holden fungiert hat, von schwachen, wenn nicht gar schlechten Helden aller Art besetzt, von Alkoholikern, Bösewichtern, Enfants terribles, Verlierern und lasziven Frauen. Die Frage der Perfektion – in Form der Selbstperfektionierung – beschäftigt nun lediglich die weibliche Literatur. Hier gibt es noch die »terrible perfection« (Heldt), den Zwang, dem multifunktionalen Ideal der sowjetischen Frau zu entsprechen. Aber auch diese Literatur gibt das perfektionistische Ideal allmählich auf. Seit den 1980er Jahren tauchen hier ebenfalls die schwachen Heldinnen auf (vgl. Ljudmila Petruševskajas trinkende Frauen, die Prostituierten bei Nina Sadur usw.). Die Funktion des neuen Codes besteht in der Hervorbringung von Individualität, die auf mehreren Wegen erfüllt werden kann. Einer davon ist die Verortung des Liebenden innerhalb der eigenen ethnolinguistischen und kulturellen Gruppe. Im Kontext der großrussischen kulturellen Dominanz hat dies zur Folge, dass die sowjetische Liebe zur russischen wird und nicht mehr imstande ist, die Funktion der Inklusion und der Konversion des (eigenen) Fremden zu erfüllen. Diese erste Ausdifferenzierung aus dem totalen sowjetischen Raum heraus führt zu weiteren Differenzierungen: zu der Behauptung der eigenen Einmaligkeit und zur sexuellen Differenzierung, die zuweilen sehr extreme Formen annehmen und auf die Formel »Mein Sexus ist mein Ich« (vgl. Limonov) hinauslaufen kann. Weiterhin besteht die Möglichkeit, sich durch die Modulation des Codes – durch die Findung der eigenen Sprache der Liebe – zu individualisieren. Diese Möglichkeiten des neuen, nicht mehr auf pure Nachahmung und Selbstperfektionierung ausgerichteten Codes, eines Codes, der ausgiebig Freiraum für die Selbstentfaltung bietet, bergen zugleich paradoxe Gefahren. Denn die Hervorbringung von Individualität bringt das Problem des Identitätsverlustes, der Nullidentität mit sich (vgl. die Identitätsproblematik bei den fünf Doppelgängerhelden in Aksenovs »Ožog« und die Nullidentität Ljova Odoevcevs in Bitovs »Puškinskij dom«), und die Ausdifferenzierung des Genders führt dazu, dass die Gendergrenze im sozialen Verhalten tangiert wird. Diese Paradoxien sind durch die Art bedingt, wie sich der Code der sowjetischen Liebe verändert. Es geht nämlich nicht um
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die Ersetzung eines Regelwerkes für das »gute Lieben« durch ein anderes, sondern um den Verzicht auf ein Regelwerk schlechthin. Der neue Code schreibt keine Regel vor und formuliert keine Verbote. Er zeichnet – relativ vage – nur die Grenzen des Möglichen ab und duldet sehr viel Variables. Diese Veränderung bedeutet vor allem Destabilisierung, und das Fehlen von klaren Regeln führt zur Entstehung von Paradoxien. Neben der Paradoxie der Identität und des Identitätsverlustes gibt es im Code der neuen Liebe eine zweite Paradoxie – die Paradoxie der »eigenen Sprache«. Sie liegt im Code selbst. Denn die Vorgabe der Originalität – das einmalige Individuum soll nun einmalig lieben – stößt auf das Problem der Codierung, einer medialen »Programmierbarkeit« der Liebe, das im Zeitalter zunehmender Medialisierung immer schärfer wird. So muss der eigene Anschluss an die Medien permanent überblendet sein. Das Faktum der eigenen Medienabhängigkeit soll dem Liebenden mehr oder weniger verborgen bleiben, um die Authentizität und Originalität der Liebe nicht ins Schwanken zu bringen. Nicht von ungefähr beschäftigen sich die Leser von sowjetischen Liebesromanen und die Zuschauer von sowjetischen Liebesfilmen oft mit der Ähnlichkeitsproblematik, wobei die Frage der Nachahmung des Helden (die Erziehung des Helden in sich) durch die Frage nach der Ähnlichkeit des fiktiven Helden mit dem »realen« Liebenden, durch die Identifikation (die Erkennung des eigenen Ichs im Helden) ersetzt wird. Dieser Übergang zeugt davon, dass der Status des Mediums (des Films und der Literatur) sich ändert. Das Medium und der Rezipient stehen nun in einem reziproken Verhältnis zueinander – der Einfluss ist gegenseitig. Aber gerade weil die Nachahmung nicht mehr verlangt wird, wird das Problem der prekären – weil nicht mehr erwünschten – Ähnlichkeit nur noch schärfer. Häufig thematisierten auch Filme und literarische Texte ihre eigene Medialität. Damit machen sie die Grenze zwischen medialer und realer Kommunikation sichtbar. Sie reproduzieren und vermitteln einerseits Normvorstellungen von Liebe und Intimität, andererseits verweisen sie darauf, dass diese Normen weder verbindlich noch eindeutig sind. Die Leser von Liebesgeschichten und die Zuschauer von Liebesfilmen werden dazu angehalten, die Reaktionen der literarischen und filmischen Helden zu beobachten und zu analysieren, nicht aber ihre Handlungen nachzuahmen. Mit der Frage nach der Medienabhängigkeit ist eine weitere Funktion des Liebescodes angesprochen, die neben der Funktion der Individualisie-
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rung existiert – die Funktion der Normierung. So polyvalent und variabel die neue sowjetische Liebe ist, setzt sie dennoch die – wenn auch sehr lockeren – Grenzen des Liebesverhaltens fest und vollzieht dies beinahe besser als die strenge Liebe des klassischen sozialistischen Realismus. Denn die neue Liebe schafft es, von der Unterdrückung zur Kontrolle überzugehen und ein effizienteres Modell der Disziplinierung vorzuschlagen. Der neue Code bietet zwar mehr Möglichkeiten für die Entwicklung der Subjektivität und mehr Variationsraum, kann aber gleichzeitig tiefer in das Individuum »hineingreifen«. Der Code der sozialistisch-realistischen Liebe existierte als generalisierte Norm, die die Grundhaltung (Loyalität, Heldenhaftigkeit usw.) bestimmte, aber sich nicht für die Details interessierte, nicht dafür, wie man seine Verzweiflung erlebt, wie man Beziehungsgespräche führt oder wie das Liebespaar seine Liebe für Außenstehende sichtbar machen soll. Zur konkreten Form des Auslebens der Liebe gab er sehr spärliche und sehr ungenaue Anweisungen. Meist wurden solche konkreten Situationen durch sehr allgemeine symbolische Handlungen beschrieben, etwa die finale Verbindung der Liebenden durch das gemeinsame Marschieren, das Liebesglück des Paares durch die umhertanzenden anderen Paare. Selbst der Kuss oder das Händchenhalten waren kein Bestandteil des Codes der sozialistisch-realistischen Liebe und wurden als Liebessymbole nahezu ausschließlich den komischen, unzeitgemäßen Figuren vorbehalten. Dagegen interessierte sich die neue Liebe gerade für solche »Kleinigkeiten«, für das konkrete Verhalten in der Liebeskommunikation, und beschrieb, wie man verzweifelt durch den Regen läuft, wie man seinen Geliebten sieht, wie man sich als Paar verhält. Für solches Verhalten hat der neue Code genügend Beispiele, er bestimmte dafür einen klar umrissenen Rahmen – jedoch auch mit genügend Spielraum für subjektive Variationen. Seine Effizienz beweist der neue Code der Liebe besonders in puncto Sexualität. Denn diese Frage wurde im Code der sozialistisch-realistischen Liebe sorgfältig umgangen und die problematische Sexualität lieber in der Arbeit sublimiert. Anders im neuen Code: Er kann sogar in der Situation, in der das Thema Sexualität noch als heikel empfunden wurde, den Umgang mit der sexuellen Lust regeln, weil er sie akzeptiert und zugleich in die komplexeren Kommunikationsmodelle einschreibt. Diese Einschreibung geschieht nicht durch das Verbot, sondern durch die Aufwertung der Sexualität mit Liebe. Damit lässt sich die problematische Physiologie
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in Schach halten. Sie wird ohne besondere Restriktionen im akzeptierten sozialen Verhalten (Liebe) kanalisiert. Wodurch wurden aber diese Veränderungen im Code und in der Semantik der sowjetischen Liebe hervorgerufen? Den Wandel im sowjetischen Liebesdiskurs mit den Veränderungen im Zuge des Endes des Stalinismus, mit dem Nachlassen des ideologischen Druckes und der Kontrolle zu erklären, wäre am naheliegendsten. Dass das Jahr 1956 – der Beginn des Tauwetters und der politischen Wende nach Stalins Tod – im Text an mehreren Stellen erscheint und als eine historische Schwelle behandelt wird, ließe die Vermutung zu, die Veränderungen der sowjetischen Liebe seien direkte Folgen der politischen Liberalisierung. Tatsächlich bildet diese Behauptung eine der Hauptthesen der vorliegenden Untersuchung. Die Verbindung zwischen Politik und Liebe wird jedoch über Medien hergestellt, und zwischen den Machtformen, Mediensystemen und Liebesdiskursen besteht ein struktureller Zusammenhang. Das zentralisierte, hierarchisch organisierte und streng kontrollierte Mediensystem der stalinistischen Sowjetunion bringt einen einheitlichen und unifizierten Liebescode hervor. Der wesentlich paradoxere, uneindeutigere und stets sich verändernde Liebescode der 1960-80er Jahre kann aber nur in einem Mediensystem entstehen, das nicht auf eine autoritäre Kanonisierung, sondern auf das Entwerfen des Neuen ausgelegt war. Die Gründe für die Veränderung des Liebescodes sind auch in den Medien zu suchen, und auch die sowjetischen Medien sind im Wandel begriffen. Am sichtbarsten ist die Steigerung der medialen Produktion. Insbesondere die sowjetische Filmbranche musste auf eine erhöhte Nachfrage reagieren, da einheimische Produktionen den ausländischen Unterhaltungsfilm – zumeist Hollywoodproduktionen und deutsche Filme, die als Kriegsbeute in die Sowjetunion gekommen waren – von der sowjetischen Leinwand verbannen sollten. Das Ziel bestand darin, den sowjetischen Film für die Rezipienten attraktiver und somit zu einer Einnahmequelle für die Staatskasse zu machen. Von einigen wenigen Filmen pro Jahr Anfang der 1950er Jahren erhöhte sich die Filmproduktion auf hundert und mehr Filme in den 1960er Jahren (Zezina 2004, Bulgakova 1999a). Auch der literarische Markt boomte. Zeitschriften, in denen Gegenwartsautoren publizierten, wie etwa »Novyj mir« und »Junost’«, erschienen in den 1960er Jahren in Millionenauflagen. Zugleich vermerkten soziologische Untersuchungen dieses Jahrzehnts ein verstärktes Interesse an Kunst und Kultur in breiten Schichten der sowjetischen Gesellschaft (Grušin 2001: 431-508).
Fazit
Die Steigerung der medialen Produktion, die Schwierigkeiten, die es mit ihrer Kontrolle gab, und die sich ändernde Rezeption bedingten die ästhetische Wende in der sowjetischen Kunst. Weder Kino noch Literatur werden in der Zeit nach 1960 nach ihrem »Wahrheitsgehalt«, ihrer »Nützlichkeit« befragt, sondern fungieren als experimenteller Raum für Innovationen. Eine solche Umwertung des Kunstwerkes war die Folge einer langen Entwicklung innerhalb des Kunst- und Literaturdiskurses der Nachkriegszeit, die dazu führte, dass die vom sozialistischen Realismus erfundenen Wirklichkeitsmodelle als »Utopie« oder »Lüge« (Pomerancev 1953) entlarvt wurden. Von der Kunst wurde keine Wiederholung des Kanons (»Lüge« bei Pomerancev), sondern eine individuelle Sprache und Sichtweise verlangt (»Aufrichtigkeit«), was mit der neuen medialen Struktur korrelierte. Denn die gesteigerte mediale und künstlerische Produktion führte zur Pluralisierung der Wirklichkeitsmodelle, zu einer individuellen Sichtweise, sowie zur Verflüssigung normativer Vorstellungen, zur Kanonverflüssigung, und eröffnete damit – wenn auch nicht unbegrenzte, so aber doch – Spielräume des subjektiven Handelns und Erlebens, deren Subversivität durch Fiktionalität und Ästhetisierung zugleich etwas entschärft wurde. Da sich somit die Literatur und der Film in der Ästhetik der 1960er bis 1980er Jahre eher Innovation, Kreativität und Originalität zur Aufgabe gemacht hatten als die Tradierung des Kanons, entwickelten sie ein hohes Wandlungspotential. Der Code der sowjetischen Liebe änderte sich, indem aus einer »Tugendliebe«, der Liebe zum »Guten«, zum sozial Akzeptablen, eine individualisierende Liebe wurde, die sich um die »Güte« ihres Objektes keine Gedanken machte. Die neuen Funktionen dieses Codes betreffen nicht mehr die Sicherung von Loyalität, sondern die Sicherung von Individualität, und diese Änderungen im Code sind sowohl durch den politischen und gesellschaftlichen als auch durch den medialen Wandel bedingt. Aber an wen richtet sich dieser neue Code, wer ist der Liebende, und mit welchen Sinnen nimmt er seine neue Liebe wahr? Was bringen diese Entwicklungen des Diskurses und des Codes der Liebe für den sowjetischen Liebenden? Vor allem bedeuteten sie eine Destabilisierung seines Weltverhältnisses. Der Umgang mit der Liebe wie auch der Umgang mit den Medien wurde nicht mehr durch das Befolgen klar definierter Regeln bestimmt. Die Liebe ist nun selbstreferentiell, sie ist tautologisch: »Liebe ist … Liebe …«, »ich liebe dich« bedeutet nur »ich liebe dich«, da sind sich Roland Barthes in Frankreich und Vasilij Aksjonov in der UdSSR
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Mit Herz und Auge. Liebe im sowjetischen Film und in der Literatur
einig. Liebe verweist nur auf sich selbst und schließt sich aus dem Diskurs des Sowjetischen aus. Mit der Notwendigkeit, sich in diesem neuen Kommunikationsraum zu orientieren, wächst die Anforderung an das Individuum. Denn es geht zunächst um eine doppelte Last: Man muss ein guter Sowjetbürger und ein liebender Mensch sein, da dies keine analogen Eigenschaften sind. Mehr noch: Diese Eigenschaften befinden sich oft im Widerspruch zueinander. Und Liebe will gelernt werden wie zuvor die Kunst des Loyalseins oder die Fertigkeit der Stoßarbeit. Besonders in den 1960er Jahren wird dieses Erlernen der Liebe problematisiert. Der sowjetische Geliebte musste zugleich eine Pluralisierung des Liebescodes und des Liebesdiskurses beobachten. Er hatte nun mehrere Optionen, wenn es darum ging, Liebe zu erleben oder über Liebe zu sprechen. Diese pluralen Möglichkeiten werden nicht mehr als Normübertretung, Abweichung oder Devianz gewertet, sondern als gleichwertige Alternativen. Egal wie die Wahl ausfällt, jede Entscheidung verweist auf noch komplexere Sachzusammenhänge, auf bestimmte Lebensstile, auf unterschiedliche Identifikationsstrategien. Man wählt zwischen den Stilen der Liebe, aber zugleich zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Stadt und Land, zwischen asymmetrischen und paritätischen Beziehungsmodellen, zwischen Ehe und nicht institutionalisierter Beziehung usw. Die Wertungen dieser Wahlmöglichkeiten werden zunehmend instabil, die Orientierungen unscharf. Konservative und retrograde Tendenzen, etwa die Wiederbelebung der patriarchalen Geschlechterverhältnisse (aktive Männlichkeit, passive Weiblichkeit) in der populären Kultur, treten als subversiv und »fortschrittlich« hervor, da sie die »überholten« sozialistischen Werte wie die Gleichberechtigung unterhöhlen. Die Unterscheidung zwischen »falsch« und »richtig« wird nicht bloß schwierig, sondern unmöglich. Der Liebende muss sein Verhältnis zur Welt selbst konstituieren, ohne sich auf klare, von der Ideologie vorgefertigte Definitionen stützen zu können. Diese Fähigkeit weist ihn als Subjekt aus. Da die (Liebes-) Welt, in der er sich zurechtfinden muss, nicht mehr von der sowjetischen, ideologischen Normativität abhängt, ist es ohne Belang, ob das liebende Subjekt ein »sowjetisches Subjekt« ist. Man profiliert sich nicht durch die globale Unterscheidung zwischen »sowjetisch« und »nicht sowjetisch«, sondern durch eine Fülle von kleinen Differenzierungen, die den Liebenden in seiner nun zunehmend entideologisierten Welt verorten. Auch die Veränderungen in der medialen Landschaft und die Medienkonkurrenz von Kino vs. Literatur bleiben nicht ohne Folgen. Die sich
Fazit
abzeichnende Dominanz des visuellen Mediums Kino stellt bei dem Liebenden andere Sinne in den Vordergrund, als es zuvor die Literatur vermocht hat. Er nimmt sowohl das Objekt seiner Liebe als auch sich selbst als Subjekt seiner Liebe vorwiegend visuell wahr. Bei dem Objekt herrscht das Prinzip der schönen Oberfläche, der anziehenden Sichtbarkeit vor. Die Herzkammer soll nicht »geöffnet« werden, denn die Liebe äußert sich in dem begehrenden Blick, der das geliebte Objekt auf die visuellen Details minutiös abtastet, ohne sich für seine Tiefe zu interessieren. Auch der Liebende fällt der Visualität zum Opfer. Der Liebende selbst ist zugleich der Beobachter und der Beobachtete, und seine Liebe ist mehr die Angelegenheit des Auges als die des Herzens.
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Verzeichnisse
A BBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: A esli ėto ljubov’, Mosfil’m 1961. Abbildung 2: Svetlyj put’, Mosfil’m 1940. Abbildung 3: Pervyj učitel’, Mosfil’m 1965. Abbildung 4: Pervyj učitel’, Mosfil’m 1965. Abbildung 5: Romans o vljublennych, Mosfil’m 1974. Bildrechte bei Mosfil’m, Moskau.
F ILMVERZEICHNIS A esli ėto ljubov’ (Und wenn es Liebe ist), Mosfil’m 1961, Julij Rajzman, Drehbuch: Iosif Ol’šanskij/Julij Rajzman/Nina Rudneva. Aleškina ljubov’ (Aleškas Liebe), Mosfil’m 1960, Regie: Semen Tumanov/Grigorij Ščukin, Drehbuch: Budimir Metal’nikov. Andrej Rublev (Andrej Rubljow), Mosfil’m 1967, Regie: Andrej Tarkovskij, Drehbuch: Andrej Končalovskij/Andrej Tarkovskij: Ballada o soldate (dt. VT. Ballade vom Soldaten), Mosfil’m 1959, Regie: Grigorij Čuchraj/Valentin Ežov. Čelovek rodilsja (dt. VT. Ein Mensch wird geboren), Mosfil’m 1956, Regie: Vasilij Ordynskij, Drebuch: Leonid Agranovič. Cirk (dt. VT. Zirkus), Mosfil’m 1936, Regie: Grigorij Aleksandrov, Drebuch: Grigorij Aleksandrov. Člen pravitel’stva (Mitglied der Regierung, dt. VT. Im Kampf ums Glück), Lenfil’m 1939, Regie: Aleksandr Zarchi/Iosif Chejfic Drehbuch: Katerina Vinogradskaja/Iosif Chejfic/Aleksandr Zarchi.
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Mit Herz und Auge. Liebe im sowjetischen Film und in der Literatur
Čudesnica (Die Zauberkünstlerin), Mosfil’m 1936, Regie: Aleksandr Medvedkin, Drehbuch: Aleksandr Medvedkin. Devčata (dt. VT. So ein Mädel, weitere VT. Ist sie eine Wette wert?) Mosfil’m 1961, Regie: Jurij Čuljukin, Drehbuch: Boris Bednyj. Devjat’ dnej odnogo goda (dt. VT. Neun Tage eines Jahres), Mosfil’m 1961, Regie: Michail Romm, Drehbuch: Michail Romm/Daniil Chrabrovickij. Fantazii Farjat’eva, dt. VT. Farjat’evs Fantasien, Lenfil’m 1979, Regie: Ilja Averbach, Drehbuch: Ilja Averbach. Gamlet (Hamlet), Lenfil’m 1964, Regie: Grigorij Kozincev, Drehbuch: Grigorij Kozincev. Ironija sud’by, ili s legkim parom (dt. VT. Ironie des Schicksals), Mosfil’m 1975, Regie: Ėl’dar Rjazanov, Drehbuch: Ėmil’ Braginskij/Ėl’dar Rjazanov. Ispytanie vernosti (Die Versuchung der Treue), Mosfil’m 1953, Regie: Ivan Pyr’ev, Drehbuch: Ivan Pyr’ev/Petr Tur/Leonid Tur. Istorija Asi Kljačinoj, kotoraja ljubila, da ne vyšla zamuž (Die Geschichte Asja Kljačina, die liebte aber nicht heiratete, dt.VT. Asjas Glück), Mosfil’m1967, Regie: Andrej Končalovskij, Drehbuch: Jurij Klepikov. Ja šagaju po Moskve (Ich wandere durch Moskau, dt. VT. Zwischenlandung in Moskau, 1963), Regie: Georgij Danelja, Drehbuch: Gennadij Špalikov. Kar’era Dimy Gorina (Dima Gorins Karriere), Mosfil’m 1961, Regie: Frunze Dovlatjan/LEv Mirskij, Drehbuch: Boris Medovoj. Kur’er (dt. VT. Der Bote), Mosfil’m 1985, Regie: Karen Šachnažarov, Drehbuch: Aleksandr Borodjanskij. Kuročka-Rjaba (Das Hähnchen Rjaba), Mosfil’m 1994, Regie: Andrej Končalovskij, Drehbuch: Andrej Končalovskij/Viktor Merežko. Les Parapluies de Cherbourg, o.A. 1964, Regie: Jacques Demy, Drehbuch: Jacques Demy. Letjat žuravli (dt. VT. Die Kraniche ziehen, weitere VT. Wenn die Kraniche ziehen), Mosfil’m 1957, Regie: Michail Kalatozov, Drehbuch: Viktor Rozov. Mne dvadcat’ let (weitere russ. Titel: Zastava Il’iča, dt. VT. Ich bin zwanzig Jahre alt), Mosfil’m 1961/1964, Regie: Marlen Chuciev, Drehbuch: Marlen Chuciev/Gennadij Špalikov. Moskva slezam ne verit (dt. VT. Moskau traut den Tränen nicht), Mosfil’m 1979, Regie: Vladimir Men’šov, Drehbuch: Valentin Černych. Padenie Berlina (dt. VT. Der Fall von Berlin), Mosfil’m 1949, Regie: Michail Čiaureli, Drehbuch: Petr Pavlenko/Michail Čiaureli.
Filmverzeichnis
Pervyj učitel’ (dt. VT. Der erste Lehrer), Mosfil’m 1965, Regie: Andrej Končalovskij, Drehbuch: Čingiz Ajtmatov/Boris Dobrodeev/Andrej Končalovskij. Pjat’ večerov (Fünf Abende), Mosfil’m 1975, Regie: Nikita Michalkov, Drehbuch: Aleksandr Adabaš’jan/Nikita Michalkov/Aleksandr Volodin. Polety vo sne i najavu (dt. VT. Tagträumer), Kinostudija im. Dovženko 1982, Regie: Roman Balajan, Drehbuch: Viktor Merežko/Sergej Antonov. Potomok čingizchana (Der Nachfahre Dschingis Chans, dt. VT. Sturm über Asien), Mežrabpromfil’m 1929, Regie: Vsevolod Pudovkin, Drehbuch: Osip Brik/Ivan Novokšonov. Romans o vljublennych (dt. VT. Die Romanze für Verliebte), Mosfil’m 1974, Regie: Andrej Končalovskij, Drehbuch: Evgenij Grigor’ev. Serp i molot (Hammer und Sichel), MMM-Studija 1994, Regie: Sergej Livnev, Drehbuch: Vladimir Valuckij/Sergej Livnev. Sibiriada (dt. VT. Sibiriade, weitere VT. Eine Sibiriade) Mosfil’m 1978, Andrej Končalovskij, Drehbuch: Valentin Ežov/Andrej Končalovskij. Služebnyj roman (dt. VT. Liebe im Büro), Mosfil’m 1977, Regie: Ėl’dar Rjazanov, Drehbuch: Ėmil’ Braginskij/Ėl’dar Rjazanov. Sol’ Svanetii (dt. VT. Das Salz Svanetiens), o.A. 1929/1930, Regie: Michail Kalatozov, Drehbuch: Sergej Tret’akov/Michail Kalatozov. Sorok pervyj (Der Einundvierzigste, dt. VT. Der letzte Schuß), Mosfil’m 1956, Regie: Grigorij Čuchraj, Drehbuch: Grigorij Koltunov. Sto dnej posle detstva (Hundert Tage nach der Kindheit), Mosfil’m1975, Regie: Sergej Solov’ev, Drehbuch: Aleksandr. Aleksandrov/Sergej Solov’ev. Strannaja ženščina (dt. VT. Eine sonderbare Frau, weitere VT. Eine merkwürdige Frau), Mosfil’m 1977, Regie: Julij Rajzman, Drehbuch: Evgenij Gabrilovič. Strogij junoša (Der strenge Jüngling) Ukrainfil’m 1936, Regie: Abram Room, Drehbuch: Jurij Oleša. Svetlyj put’ (dt.VT. Der helle Weg), Mosfil’m 1940, Regie: Grigorij Aleksandrov, Drehbuch: Viktor Ardov. Svinarka i pastuch (Die Schweinehüterin und der Hirte, dt. VT. Sie trafen sich in Moskau), Mosfil’m 1941, Regie: Ivan Pyr’ev, Drehbuch: Viktor Gusev. Traktoristy (Traktoristen, dt. VT. Junges Leben), Mosfil’m1939, Regie: Ivan Pyr’ev, Drehbuch: Evgenij Pomeščikov. Tret’ja meščanskaja (Tret’ja Meščanskaja-Straße, dt. VT. Bett und Couch, weitere VT. Dritte Kleinbürgerstraße), Sovkino 1927, Regie: Abram Room, Drehbuch: Abram Room/Viktor Šklovskij.
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Tri plus dva (Drei plus zwei), Kinostudia im. Gor’kogo 1963, Regie: Genrich Oganesjan, Drehbuch: Sergej Michalkov. V šest’ časov večera posle vojny (dt. VT. Um sechs Uhr abends nach dem Krieg), Mosfil’m 1944, Regie: Ivan Pyr’ev, Drehbuch: Viktor Gusev. Valentin i Valentina (Valentin und Valentina), Mosfil’m 1985, Georgij Natanson, Drehbuch: Georgij Natanson/Michail Roščin. Vesna na zarečnoj ulice (Frühling in der Zarečnaja-Straße), Mosfil’m 1956, Regie: Feliks Mironer/Marlen Chuciev, Drehbuch: Feliks Mironer. Vysota (dt. VT. Die Höhe), Mosfil’m 1957, Regie: Aleksandr Zarchi, Drehbuch: Michail Papava. Vzroslye deti (Erwachsene Kinder), Mosfil’m 1961, Regie: Villen Azarov, Drehbuch: Valentina Spirina. Zastava Iliča s. unter: Mne dvadcat’ let. Ždi menja (dt. VT. Warte auf mich) Mosfil’m 1943, Regie: A. Stolper/B. Ivanov, Drehbuch: K. Simonov.
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Markus Tillmann Populäre Musik und Pop-Literatur Zur Intermedialität literarischer und musikalischer Produktionsästhetik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Dezember 2012, 318 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1999-7
Februar 2013, 324 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2099-3
Jan Wilm, Mark Nixon (Hg.) Samuel Beckett und die deutsche Literatur
Takemitsu Morikawa Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik Der interkulturelle Vermittler Mori Ogai und die Reorganisierung des japanischen ›Selbstbildes‹ in der Weltgesellschaft um 1900
April 2013, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2067-2
März 2013, 320 Seiten, kart., ca. 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1893-8
Petra Moser Nah am Tabu Experimentelle Selbsterfahrung und erotischer Eigensinn in Robert Walsers »Jakob von Gunten« April 2013, ca. 184 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2341-3
Paula Wojcik Das Stereotyp als Metapher Zur Demontage des Antisemitismus in der Gegenwartsliteratur März 2013, ca. 332 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2246-1
Florian Zappe Das Zwischen schreiben Transgression und avantgardistisches Erbe bei Kathy Acker April 2013, ca. 430 Seiten, kart., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2362-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)
Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012
Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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