Schrift und Macht: Zur sowjetischen Literatur der 1920er und 30er Jahre 9783412215576, 9783412204020


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Schrift und Macht: Zur sowjetischen Literatur der 1920er und 30er Jahre
 9783412215576, 9783412204020

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osteuropa medial  

Band 3

Herausgegeben von Natascha Drubek, Jurij Murašov und Georg Witte

Tomáš Lipták Jurij Murašov (Hg.)

Schrift und Macht Zur sowjetischen Literatur der 1920er und 30er Jahre

2012 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Gedruckt mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 485 „Norm und Symbol. Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration“

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Vasilij N. Jakovlev: Goldsucher schreiben dem Schöpfer der Großen Verfassung einen Brief (1937).

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20402-0

Inhalt JURIJ MURAŠOV Schrift und Macht in den 1920er und 1930er Jahren der sowjetischen Kultur. Zur Medienanthropologie des Sozialistischen Realismus .................. 1

I. TECHNOLOGIEN DER LITERARISCHEN PRODUKTION IL’JA KALININ Von der „Gemachtheit“ des Textes zum „literarischen Handwerk“. Viktor Šklovskij und der sozialistische Formalismus ................................... 45 SERGEJ ŽURAVLEV In der sowjetischen Schreibwerkstatt: Gor’kijs Projekt Geschichte der Fabriken und Betriebe................................................................................... 69 HANS GÜNTHER Gegen Vieldeutigkeit und ideologische Konterbande: Die Diskussion über die Sprache des Jahres 1934.................................................................. 97

II. LITERATUR UND PÄDAGOGIK MARINA BALINA Die sowjetische Kinderliteratur zwischen ästhetischem Experiment und ideologischer Normierung .................................................................... 119 CATRIONA KELLY „Ein Kämpfer für das Recht auf Glück und Freiheit“: Shakespeare für den sowjetischen Schüler und das breite Lesepublikum der 1920er und 1930er Jahre ................................................................................................ 135 TOMÁŠ LIPTÁK Welche Art Schriftsteller brauchen wir? Die Literarische Umfrage von 1931 ..................................................................................................... 159 EVGENIJ DOBRENKO Die Geburt der „Meister“ der sowjetischen Literatur 1932–1934............... 177

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Inhalt

III. POLITIK UND VOLKSKULTUR KATERINA CLARK Moskau – die literalisierte Stadt .................................................................. 201 THOMAS LAHUSEN, ROBIN LAPASHA, TRACY MCDONALD Das Akkordeon. Volkskultur als Klanggemeinschaft ................................. 221 KONSTANTIN BOGDANOV Rituale der Politik und Politik der Rituale. Zur Folklore der sowjetischen Kultur ..................................................................................... 259

Liste der Abkürzungen ................................................................................ 277

Die Autoren ................................................................................................. 279

J U R IJ M U R A Š O V

Schrift und Macht in den 1920er und 1930er Jahren der sowjetischen Kultur Zur Medienanthropologie des Sozialistischen Realismus 1. Das kollektivistische Ethos der sowjetischen Kultur und das Differenzprinzip der Schrift Die sowjetische Kultur weist ein widersprüchliches und kompliziertes Verhältnis gegenüber Schrift und Typographie auf. Einerseits setzt unmittelbar mit der Oktoberrevolution von 1917 eine durch das neue System forcierte Inanspruchnahme und Verbreitung von Druckmedien ein, um die politischen Ereignisse sowie vielfältigen administrativen Umgestaltungen und Verfügungen massenwirksam zu proklamieren und möglichst viele Segmente der Gesellschaft für das sozialistische Geschichtsexperiment zu mobilisieren.1 Angesichts der hohen Illiteralität unter den Arbeitern und der ländlichen Bevölkerung, in deren Namen sich die neue sozialistische Ordnung etabliert, ist dieser ideologisch motivierte Ausbau des Druckwesens von Anfang begleitet von extensiven Alphabetisierungsmaßnahmen.2 Und so wie die politische Führung die Alphabetisierung als propädeutische Voraussetzung aller politischen Bildungsarbeit, der Agitation und Propaganda, erkennt, beginnt sie mit einer nachdrücklichen Förderung von Lese- und Schreibfertigkeiten. Diese ist nicht nur auf den Ausbau des allgemeinen Schulwesens und die Erwachsenenbildung gerichtet, sondern besteht in einer breit angelegten Stimulierung zur schriftlichen Kommunikation insgesamt, die in drei Richtungen weist, die – unterschiedlich akzentuiert – die sowjetische Kultur noch bis in die 1980er Jahre hinein prägen: Zum einen sind es schriftpädagogische Bestrebungen, die gezielt künstlerische und technische Medien zum Einsatz bringen, um unterhaltend den Erwerb von Lese- und Schreibfertigkeit zu befördern. In den 1920er Jahren kommt diese schriftpädagogisch animierende Rolle u.a. theatralischen

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Vgl. Plaggenborg, S.: Revolutionskultur. Menschenbilder und kulturelle Praxis in Sowjetrussland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus. Köln/Weimar/Wien 1996, 109-144. Vgl. Hildermeier, M.: Geschichte der Sowjetunion 1917 – 1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. München 1998, 303-314.

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Lehrstücken (agit-sudy)3 und der sich gerade etablierenden Radiophonie zu.4 Eine zweite Dimension zielt auf Förderung und Organisation von protokünstlerischen Formen der schriftlichen Selbstdarstellung in bislang schwach literalisierten Milieus der Arbeiter und Bauern. Den Anfang bilden die u.a. von Anatolij Lunačarskij und Aleksandr Bogdanov ideologisch gestützte Bewegung des Proletkul’t (Proletarische Kultur/Proletarskaja kul’tura) und die sich ab 1930 daran anschließende, von Maksim Gor’kij organisierte und durch dessen Zeitschrift Literarische Lehre (Literaturnaja učeba) begleitete Laienschriftstellerbewegung. Eine dritte Form der sowjetischen Motivierung zur Schriftkommunikation, die erst in jüngster Zeit in den Blickpunkt der Forschung gerückt ist, resultiert aus der nach der Revolution erfolgten Reorganisation des Beschwerdewesens und der damit verbundenen, von den politischen und gesellschaftlichen Institutionen gleichermaßen geförderten „Arbeit mit dem Brief“ („rabota s pis’mom“), die sich schnell zu einer, gerade auch semiliteralisierte Bevölkerungsteile umfassenden Bewegung massenhaften Briefschreibens entwickelt und die dann im Zuge des ersten Fünfjahresplanes und der da ausgegebenen Losung von der „Entfaltung von Kritik und Selbstkritik“ eine abermalige Konjunktur mit derjenigen der sog. „Briefe an die Macht“ („pis’mo vo vlast“) erfährt.5 Im Hinblick auf diese eigentümlich extensive Schriftkommunikation ist die sowjetische Kultur verschiedentlich als graphoman charakterisiert worden.6 3 4

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Vgl. Cassiday, J. A.: The Enemy on Trial. Early Soviet Courts on Stage and Screen. Illinois 2000, 51-80. Alphabetisierung ist beständiges Thema im Radio bzw. in den Radiozeitschriften der 1920er Jahre, vgl. Artikel wie z.B. Nečaev, A.: Radio naučit čitat’ bezgramotnych. In: Radioslušatel’ 1 (1930). Bereits im November 1918 wurden entsprechende institutionelle Maßnahmen zur Ausweitung des Beschwerderechts auf alle Bürger getroffen; entsprechende Komitees wurden in Fabriken und Industriebetrieben eingerichtet; im Laufe der folgenden Jahre wurden ein Zentrales Beschwerdebüro (Bjuro žalob) mit regionalen Dependancen sowie Beschwerdeinstanzen auf betrieblicher sowie politisch-parteilicher Ebene (Rabočekrest’janskaja inspekcija bzw. Narodnyj komissariat raboče-krest’janskoj inspekcii) etabliert; zu dieser Bewegung massenhaften Briefschreibens, vgl. vor allem Winkel, H.: Kollektive Korrespondenzen, individuelle Praktiken. Das öffentliche Briefwesen im Stalinismus der Vorkriegszeit. Diss. FU Berlin 2010. Vgl. Materialsammlungen wie: Sokolov, A. K.: Golos naroda. Pis’ma i otkliki rjadovych sovetskich graždan o sobytijach 1918 – 1932 gg. Moskau 1997; Sokolov, A. K.: Obščestvo i vlast’: 1930-e gody. Povestvovanie v dokumentach. Moskau 1998; Livšin, A.Ja./Orlov, I. B. (Hrsg.): Pis’ma vo vlast’. 1917 – 1927. Zajavlenija, žaloby, donosy, pis’ma v gosudarstvennye struktury i sovetskim voždjam. Moskau 2002; Livšin, A.Ja./Orlov, I. B./Chlevnjuk, O. B. (Hrsg.): Pis’ma vo vlast’. 1928 – 1939. Zajavlenija, žaloby, donosy, pis’ma v gosudarstvennye struktury i sovetskim voždjam. Moskau 2002; Livšin, A. Ja./Orlov, I. B. (Hrsg.): Sovetskaja povsednevnost’ i massovoe soznanie 1939 – 1945. Moskau 2003. Einen hintersinnigen Reflex auf die sowjetische Schreibwut und die Autorenproblematik stellt die Erzählung Die Graphomanen (Grafomany, 1960) von Andrej Sinjavskij

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Andererseits aber sind der Schriftkommunikation, deren Förderung die sowjetische Politik so heftig betreibt, kommunikative, soziale und semantische Effekte eigen, die mit dem kollektivistischen Ethos der proklamierten sozialistischen Gemeinschaft eigentlich nicht zu vereinbaren sind. Es sind Effekte, die aus dem medialen, Differenzen freisetzenden Eigensinn der graphischalphabetischen Sprachcodierung resultieren und vor allem mit zwei fundamentalen, sich wechselseitig bedingenden Erfahrungen einhergehen: Zum einen ist es die Erfahrung der Selbstkonfrontation, der Individuation, ja des „Solipsismus“7, der die Schreibenden und Lesenden ausgesetzt werden – eine Erfahrung, die mit der Unterscheidung zwischen subjektiver, mentaler, psychischer und imaginärer Innenwelt und objektiven Außenwelten wesentliche weitere Differenzen zwischen Denken und Handeln, Semantik und Somatik oder Fiktion und Realität bedingt. Zum anderen macht Schrift/Typographie auf dramatische Weise die Exteriorität der materiellen, der visuellen ebenso wie der akustischen (Sprach-)Zeichen im Hinblick auf die kommunizierte Bedeutung und den bezeichneten Sinn erfahrbar. In der Schrift/Typographie erweist sich der kommunizierte Sinn auf notorische Weise nicht mit sich selbst identisch, was hermeneutische Spiel- und Gestaltungsräume des Verstehens öffnet, gleichzeitig aber auch (besonders mit der Typographie) die Etablierung von Norm- und Symbolsystemen und die Ausdifferenzierung von Spezialsemantiken und sozialen Funktionssystemen wie Ökonomie, Recht, Wissenschaft, Liebe, Politik befördert. Somit erweist sich die Schrift mit ihren Medieneffekten von Individuation und hermeneutischer Offenheit als strukturell unvereinbar mit dem kollektivistischen, sozialistischen Ethos. Dies bedeutet aber auch, dass wenn die sowjetische Politik die Schrift ideologisch in ihren Dienst zu nehmen versucht, sie sich nicht damit bescheiden kann, diese lediglich als Transportmittel für Ideologie einzusetzen. Vielmehr ist sie nolens volens gefordert, die in der Schrift lauernden Gefahren des Uneindeutigen, des Individualismus und des abweichlerischen Verstehens zu bannen. Die sowjetische Politik und Machtsicherung geraten in eine Aporie: Sie bedienen sich der Schrift, müssen dabei aber das tilgen, was eigentlich Schrift ausmacht. Die systemischen Besonderheiten, die Komplexität und die seltsame, zu entropischer Erstarrung führende Entwicklung der sowjetischen Kultur ergeben sich aus dieser Aporie und aus diesem ebenso angestrengten wie prinzipiell erfolglosen

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(Abram Terc) dar; zur sowjetischen Graphomanie, vgl. auch Boym, S.: Graphomanie. Literarische Praxis und Strategie ihrer Sabotage. In: Murašov, Ju./Witte, G. (Hrsg.): Die Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre. München 2003, 39-58. Walter J. Ong spricht in seiner grundlegenden Studie zu Oralität und Literalität davon, dass „writing is a solipsistic operation“. Ong, W. J.: Orality and Literacy. The Technologizing of the Word (1982). New York 2002, 100. Vgl. darin auch den gesamten Abschnitt „Writing restructures consciousness“, 77-114.

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Bemühen, der Schrift ihr Differenzen generierendes, diabolisch-demokratisches Substrat auszutreiben und sie in eine rituelle, Mündlichkeit simulierende Form von Kommunikation zurückzuverwandeln. Dieses Ringen gegen die Medieneffekte der Schrift, das zugleich ein Ringen um ein sowjetisches, nicht individualistisch-bourgeoises Verständnis von Schrift ist, lässt sich auf zwei Ebenen beobachten: auf einer diskursiven und narrativen Ebene, auf der kulturideologische Bewertungen von Schrift und Rede angestellt werden und auf einer strukturellen Ebene, auf der durch institutionelle Maßnahmen und dabei vor allem durch Kunst und Literatur versucht wird, Sprachverwendung und Schreibpraxis zu regulieren. Dabei lässt sich zeigen, dass sich von den 1920er zu den 1930er Jahren die sowjetische Bewältigung der Schriftproblematik aus dem diskursiven und narrativen Bereich zunehmend auf eine institutionelle Ebene verlagert.

2. Die sowjetische Schriftideologie Gegenläufig zu der intensiven Alphabetisierung und der Expansion des Zeitungs- und Verlagswesen entfaltet sich noch in den 1920er Jahren sowohl im Kontext der avantgardistischen und formalistischen Konzepte wie auch der sowjetischen, offiziellen Kultur- und Bildungspolitik ein Diskurs über Sprache und Kommunikation, bei dem mit Blick auf die neuen radiophonen bzw. elektroakustischen Möglichkeiten der Sprachübertragung die mündliche Rede (samt ihrer elektroakustischen Übertragung) zur genuinen Form sowjetischer Gemeinschaftsstiftung stilisiert wird.8 Die Schriftkommunikation und die Typographie hingegen werden als anachronistisch und bourgeois disqualifiziert. Für diese Tendenz steht u.a. Chlebnikovs poetisches Manifest Das Radio der Zukunft (Radio buduščego, 1921/22), Majakovskijs Poetik der lauten Stimme aber auch die literaturtheoretische Bestimmung der Formalisten hinsichtlich der akustischen Instrumentierung als Differenzmerkmal der poetischen gegenüber der pragmatischen Sprache, die von Lunačarskij massiv unterstützte Einrichtung des „Instituts des lebendigen Wortes“ (Institut živogo slovo) und die zahlreichen Überlegungen zur sprachlichen Kommunikation im Zusammenhang der frühen sowjetischen Radiophonie, bei denen das Radio als „Lautsprecher der Revolution“ gefeiert und die Druckpresse als Symbol der überwundenen kapitalistischen bzw. feudalen Kultur entwertet

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Dieser für die Sowjetkultur insgesamt konstitutiven Orientierung an der primären bzw. sekundären Mündlichkeit wurde in den neueren Arbeiten Rechnung getragen. Vgl. Gorham, M.: Speaking Soviet Tongues. Language and Culture and the Politics of Voice in Revolutionary Russia. Illinois 2003; Bogdanov, K.: Vox populi. Fol’klornye žanry sovetskoj kul’tury. Moskau 2009.

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wird.9 Auch Michail Bachtins Konzeption des dialogischen, polyphonen, klingenden Wortes, das dem monologischen, autoritären und eben auch schriftfixierten Wort gegenübersteht, ist diesem Zusammenhang verpflichtet.10 Diese Abwertung der Schrift zugunsten eines Konzepts vermeintlich authentischer, primärer oder sekundärer, elektroakustischer Mündlichkeit findet eine markante Ausformulierung bei dem sowjetischen Linguisten Nikolaj Ja. Marr. In Marrs Sprachtheorie wird die Schrift zu einer Art Klassenfeind der sozialistischen Wissenschaft erklärt, die als solche den Zugang zur authentischen (mündlichen) Sprache böswillig verhindert: […] bis zum heutigen Tag erscheint in der Wissenschaft von der Sprache die Schrift als alter Feind […] und böser Widersacher. […] Es gab eine Zeit, als die Sprache durch Schrift und Schriftlichkeit insgesamt verstellt war. Die lebendige Sprache lag außerhalb des Kreises wissenschaftlicher Aufmerksamkeit, die völlig im Interesse an schriftlicher Sprache befangen war.11

Auf eine bizarre Weise verdreht Marr die faktische, sprach- und medienhistorische Entwicklung von der gesprochenen Sprache zu ihrer geschichtlich weitaus später erfolgenden graphisch-visuellen und schließlich alphabetischen Codierung. Die Priorität der Lautsprache resultiert für Marr aus deren direkter Beziehung zur primären Gesten- und Körpersprache und damit zur menschlichen Lebenspraxis. Das „lautliche Symbol“ substituiert als „sprachliches Werkzeug“ unmittelbar „die Hand“, was diesem dann auch „zum schöpferischen Triumph gegenüber dem graphischen Symbol verhilft“. Nach Marr muss folglich auch die überkommene, schriftfundierte Tradition zerstört werden, um dann auf der freigelegten lautsprachlichen Basis das revolutionäre sowjetische Denken und die neuen sozialistischen politökonomischen Formen zu etablieren. Auf diese Destruktion kommt es an, denn

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Vgl. Murašov, Ju.: Das elektrifizierte Wort. Das Radio in der sowjetischen Literatur und Kultur der 20er und 30er Jahre. In: Ders./Witte, G. (Hrsg.): Die Musen der Macht. 81-112, hier: 82. Vgl. Murashov, Iu.: Bakhtin’s Carnival and Oral Culture. In: Adlam, C./Falconer, R./Makhlin, V./Renfrew, A. (Eds.): Face to Faces: Bakhtin Studies in Russia and the West. Academic Press: Sheffield 1997, 203-213. „[…] письмо – старый враг […] и злой соперник до наших дней в науке о языке. […] Было время, когда письмо и вообще письменность заслоняло язык. Живая речь выходила из орбиты исследовательского внимания, захваченного целиком интересом к письменному языку.“ Marr, N. Ja.: Jazyk i pis’mo (1929). In: Ders.: Izbrannye raboty. Leningrad 1936, Bd. 2, 352. Ausführlicher zu Marr: Pis’mo i ustnaja reč v diskursach o jazyke v načale 30ych godov: Marr, N. Ja. In: Dobrenko, E./Gjunter, Ch. (Izd.): Socrealističeskij kanon. Sankt-Peterburg 2000, 599-609 sowie Clark, K.: Petersburg. Crucible of Cultural Revolution. Cambridge 1995, 201-223 (Promethean Linguistics); Dobrenko, E.: Total’naja lingvistika: Vlast’ grammatiki i grammatika vlasti. In: Russian Literature LXIII (2008), II/III/IV, 533-621.

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Zerstören ist schwieriger als Aufbauen, und beim Schaffen siegt der, welcher radikaler und entschiedener alte Normen vernichtet, um die Wirksamkeit neuer Faktoren zu gewährleisten. Neue Faktoren bedeuten neue Produktionsweisen und neue Formen sozialer Strukturen und damit auch eine neue, umfassende Weltanschauung und eine neue Technik des Denkens.12

Die Lautsprache ist es, die eine spezifische Form des Denkens bedingt: […] die Sprache ist nicht nur Klang, sondern Denken, aber auch nicht nur reines Denken, sondern eine Summe von Veränderungen des Denkens, von Veränderungen von Weltanschauungen, und ebenso von bewegenden Kräften […].13

Durch diese lautsprachliche Fundierung vermag schließlich auch das Denken als „magisches Mittel für Veränderungen in Produktion und Produktionsverhältnissen“ zu fungieren, was nach Marr nicht nur für die archaische Zeit gilt, als diese „aus den embryonalen Formen sozialer Strukturen“ hervorgegangen ist.14 Vielmehr trifft dies auch für die sowjetische Gegenwart zu. Entgegen der bürgerlichen, schriftbasierten Denk- und Wissenschaftstradition, die sich aus der Trennung von selbstreflexivem, methodisch kontrolliertem Denken/Beobachten einerseits und Handeln andererseits begründet, insistiert Marr auf einem sowjetischen Modell des Denkens, in dem – ganz ähnlich wie in primären oralen Kulturen – Sprechen, Denken und Handeln eine komplexe Einheit bilden, aus der heraus dem Wort (als Sprachhandlung) magische, wirklichkeitsgestaltende Kraft zukommt. Dieser medienpragmatische turn von der Schrift zum Wort stellt auch den epistemologischen Kern der bis in die 1960er und 1970er Jahre explizit als nichtbürgerlich, sondern sozialistisch qualifizierten Wissenschaften in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Systemen dar. Im Unterschied zu den 1920er Jahren, in denen sich die Aufmerksamkeit auf die Qualitäten und Besonderheiten der mündlichen Rede richtet und Schrift/Typographie selbst als diskursives Objekt analytisch kaum in den Blick genommen wird, verschiebt Marr den Fokus von der Oralitätsproblematik auf die Frage von Schrift und Schriftlichkeit, um jetzt eine spezifisch sowjetische, polemisch gegen bürgerliche Traditionen gerichtete Schriftideo12

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„[…] разрушить труднее, чем созидать, и в творчестве побеждает тот, кто радикальнее и действительно разрушает старые нормы для обеспечения функций новых факторов. Новые факторы – это новые способы производства и новые формы социальной структуры и с ними новое мировоззрение широкого охвата и новая техника мышления.“ (Marr, N. Ja.: Jazyk i pis’mo, 366). „[…] язык есть не просто звучание, а мышление, да и не одно мышление, а накопление смен мышления, смен мировоззрения, также двигающих сил, и потому в нем, мышлении, имеем магическое средство для сдвигов в производстве и производственных отношениях не только при их зарождении в зачаточных формах социальной структуры, но и в наши дни.“ Marr, N. Ja.: Jazyk i sovremennost’. Leningrad 1932, 9. Ebd.

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logie zu proklamieren. Die kommunikativen, sozialen und semantischen Medieneffekte von Schrift werden zu Elementen einer anachronistischen, bürgerlich-kapitalistischen Kultur abgewertet, während der sowjetischen Schrift als unmittelbares Substitut des mündlichen Wortes und bereinigt von allen bürgerlichen Differenzierungs- und Abstraktionsbedürfnissen die Potenz zugesprochen wird, gleichsam organisch sozialistisch sinnfällige Realitäten geschichtswirksam hervorzubringen.

3. Sowjetische Schriftsujets in bildender Kunst und Film Diese Verlagerung der theoretischen Aufmerksamkeit von der Analyse der Qualitäten des gesprochenen Wortes in den frühen 1920er Jahren zu den Versuchen ab den 1930er Jahren, eine spezifische sowjetische Schriftkonzeption zu modellieren, wird von einer signifikanten Konjunktur von Schriftsujets in der sowjetischen bildenden Kunst und im Film begleitet. Im Hinblick auf die zunehmende visuelle Massenkommunikation bieten bildende Kunst (insbes. sowohl Plakatkunst als auch Fotografie) und Film die Möglichkeit, einen sowjetischen Umgang mit Schrift für alle augenscheinlich zu machen, ohne sich dabei selbst auf die heikle Schrift einlassen zu müssen. Relevant ist dieser Evidenzeffekt gerade im Hinblick auf die Typographie, die zwar das Basismedium aller ideologisch-sprachlichen Kommunikation darstellt, die aber aus sich heraus keine Sicherheiten gegen das dissidentische Verstehen des intendierten sowjetischen Sinngehalts zu bieten vermag.15 Im Unterschied zur westeuropäischen Malerei, in der vornehmlich der Solipsismus und die (erotische) Intimität der literalen Kommunikation thematisiert werden,16 ist Schrift in der sowjetischen Malerei stets Angelegenheit von allen. Lesen und Schreiben stellen immer gemeinschaftliche Akte dar. Ein aufschlussreiches und prominentes Beispiel ist das Gemälde von Vassilij N. Jakovlev Goldsucher schreiben dem Schöpfer der Großen Verfassung einen Brief (1937), das auf ein berühmtes Bild von Repin aus dem späten 19. Jahrhundert zurückgeht17 (Abb. 1). 15

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Bei der Darstellung von Schriftsujets in der sowjetischen Kunst folge ich meinen Überlegungen in meinem früheren Aufsatz „Fatale Dokumente. Totalitarismus und Schrift bei Solčenicyn, Kiš und Sorokin“, In: Schreibheft 46 (1995), 84-92. Die enge Verbindung der Schrift mit Privatheit, Intimität und Eros lässt sich für die westeuropäische bildende Kunst beispielhaft an dem Sujet des „lesenden Mädchen“ verfolgen – von Jan Vermeers Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster (1658) bis zu Gerhard Richters Lesende (1994); dem stehen in der Tradition der russischen Malerei Bilder von kollektiven Schreibakten gegenüber wie z.B. Il’ja Repins berühmtes Gemälde Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief (1880). Vgl. Anm. 16.

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Abb. 1 Jakovlev, Vassilij N.: Goldsucher schreiben dem Schöpfer der Großen Verfassung einen Brief. (1937, 249x500)

Die sowjetische Malerei kennt nicht die Figur des privaten, einsamen Briefautors. Stets ist da jemand, der wachsam dem Schreiber über die Schulter blickt, wie z.B. auf Pavel P. Sokolov-Skaljas Krasno-Don-Partisanen (1948) (Abb. 2). Der kontrollierende Blick über die Schulter, die Prüfung, ob da nicht etwas anderes als das, was geschrieben steht, offenbart werde, bleibt nicht einmal Maksim Gor’kij erspart, wenn er in einer von Anatolij N. JarKravčenko 1941 festgehaltenen Leseszene mit Stalin, Vorošilov und Molotov aus seiner Erzählung Das Mädchen und der Tod deklamiert (Abb. 3). Zu den berühmtesten Darstellungen von kollektiven Lese-Akten zählt Aleksandr I. Laktionovs Brief von der Front (1947 bzw. 1962) mit seinen signifikanten surrealen Lichtverhältnissen. Der Brieftext erstrahlt im Sonnenlicht und reflektiert es im Antlitz des Jungen. Der Krieg, von dem sowohl der Brief berichtet als auch das Bild mit dem an den Türpfosten gelehnten Soldaten erzählt, wird hier vom Glück der gelungenen Kommunikation zwischen dem fernen Vater und dem Sohn überstrahlt – von einem Glück, an dem das gesamte Kollektiv partizipiert (Abb. 4). Bezeichnenderweise lässt das Bild nicht Mann und Frau kommunizieren, sondern stellt die familiäre Beziehung Vater-Sohn heraus, um damit gerade den egalisierenden Effekt von Schrift zu unterschlagen und Schrift wieder auf eine hierarchisch-vertikale Kommunikation zurückzubeziehen. Eine solche zwar familiäre, aber dennoch unmissverständlich hierarchische Kommunikation liegt auch in dem Bild mit den Goldgräbern vor, die einen Dankesbrief an Stalin, dem Vater der Verfassung, formulieren (vgl. Abb. 1). Noch deutlicher ist eine solche Inszenierung einer autoritären Auslegungsinstanz in dem Gemälde von Grigorij M. Šegal Führer, Lehrer und Freund (1937), in dem Stalin als jene Letztinstanz fungiert, auf die hin alle literalen Kommunikationsakte bezogen sind (Abb. 5). Ganz analog zur semantischen Struktur dieses Gemäldes funktioniert auch das Briefmotiv in dem sowjetischen Filmklassiker Der Schwur (Kljatva; 1946). In der story des Films, der von der Legitimität der Stalin-LeninNachfolge handelt, kommt dem Brief eine Schlüsselfunktion zu. Der Film beginnt mit dem Versuch eines Bauern, Lenin ein Bittschreiben zu überbrin-

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gen, in dem das Dorfkollektiv bei der Partei um Schutz vor konterrevolutionären Kulaken ersucht. Zunächst scheitert das Ersuchen um Hilfe. Der Überbringer wird von den Kulaken hinterhältig erschossen, und als sich dann seine Witwe aufmacht und sich zu Lenins Landsitz durchschlägt, liegt der Begründer der Sowjetunion im Sterben. Erst als Stalin am Grabmal Lenins den Schwur leistet, Lenins Vermächtnis zu wahren, gelingt die Kommunikation: Die Witwe tritt aus der proletarischen Masse heraus, um Stalin direkt das Bittschreiben zu übergeben und ihn durch diesen Akt auch symbolisch im Namen des Volkes als Autokraten über alle Schrift zu bestätigen (Abb. 6). Abb. 2 Sokolov-Skaljas, Pavel P.: KrasnoDon-Partisanen (1948, 200x298)

Abb. 3 Jar-Kravčenko, Anatolij N.: A. M. Gorkij liest J. V. Stalin, V. M. Molotov und K. E. Vorošilov am 11. Oktober 1931 seine Erzählung „Das Mädchen und der Tod“ vor. (1941, 194x200)

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Abb. 4 Laktionov, Aleksandr I.: Brief von der Front (1947 bzw. 1962, 225x152)

1 Abb. 5 Šegal, Grigorij M.: Führer, Lehrer und Freund (1937, 340x260)

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Abb. 6 Čiaureli, Michail E.: Der Schwur (Kljatva; 1946)

Als ein solcher Herr der Schrift erscheint Stalin auch in zahlreichen Gemälden und Porträts. Stets wird seine Figur mit Schrift und Schriftstücken attributiert. So beispielsweise auf Isaak I. Brodskijs Porträt von J.V. Stalin (1937) (Abb. 7). Auch wenn Stalin als Redner auftritt, erscheint seine Rede stets schriftgestützt, wie auf Fedor P. Rešetnikovs Der große Eid (1949) (Abb. 8). Dieses Schriftattribut ist gerade deshalb so aufschlussreich, da umgekehrt Lenin meist durch eine lässig-familiäre und körperbetonte Gestik charakterisiert wird, wie etwa bei Josif A. Serebrjanyj, der Lenin auf einem Parteikongress in der Diskussion mit Genossen zeigt (Abb. 9). In dieser hierarchischen Kommunikation fungiert Stalin als jene Instanz, von der die Gabe und Gnade für alle literale Praxis ausgeht. In seinem Namen werden die Traktate in den Sprach- und Kulturwissenschaften verfertigt; in seinem Namen verfassen die Naturwissenschaftler Trofim D. Lysenko und Ivan V. Mičurin ihre phantastischen Theorien; in seinem Namen schreiben die Schriftsteller Nikolaj A. Ostrovskij, II’ja Ėrenburg und Viktor Šklovskij; in seinem Namen filmt nicht nur Dziga Vertov, sondern auch ein Sergej Ėjzenštejn. Entscheidend dabei ist nämlich nicht so sehr die konkrete individuelle Person und Willensinstanz Stalin, als vielmehr die Struktur der Kommunikation selbst. Denn so wie die Künstler und Schriftsteller keine individuell-subjektiven Texte produzieren, so spricht auch Stalin niemals für sich selbst, sondern fungiert immer nur als Verwalter und Bewahrer von Lenins Erbe, durch den die einzigartige Selbstoffenbarung der Geschichte bezeugbar und tradierbar ist. Für diese Zurücksetzung des Autors zu einem Mittler, durch den eine überindividuell gültige Wahrheit in die Welt einfließt und den Dingen Sinn und Bedeutung schenkt – dafür steht der Name Stalin.

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Abb. 7 Brodskij, Isaak I.: Porträt von J.V. Stalin (1937, 210x142)

Abb. 8 Rešetnikov, Fedor P.: Der große Eid (1949, 235x175)

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Abb. 9 Serebrjanyj, Josif A.: Auf dem V. Kongress der RSDRP 1907. (1947, 271x263)

Gerade eine solche Sinn-Gabe setzt das Bild Brief von der Front in Szene (vgl. Abb. 4). Die gelungene Vater-Sohn-Kommunikation überstrahlt mit idyllischem Licht die Realität des Kriegs. Das Bild konfrontiert nicht die beiden gegensätzlichen Perspektiven „Krieg“ und „Frieden“, sondern bezeugt eine Epiphanie, die der Künstler erfahren durfte: die Erscheinung des Friedens im Augenblick des Krieges. Es ist ein Bild, das verbalen Sinn und Augenschein, Bedeutung und Evidenz gegeneinander ausspielt. Es zeigt: Wenn man nur bereit ist, sich einer überindividuellen Sinninstanz selbstlos hinzugeben und ihrer Gabe bedingungslos vertraut, dann öffnet sich einem auch der Blick hinaus aus der finsteren, engen Stube der empirischen Realien, hinaus auf eine unermesslich von Sonnenlicht, Glück und Sinn durchflutete Welt.

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4. Gor’kijs Literarische Lehre: Schreibpädagogik und institutionelle Regulierung der literarischen Produktion Der fiktionalen Literatur ist das Paradox eigen, dass sie den kommunikativen Erfolg und die Internalisierung von Norm- und Symbolsystemen gleichermaßen befördert wie auch durch die Polysemie der ästhetischen Schrift ständig zur Disposition stellt. Dieser evolutionär eminent produktiven Paradoxie ist jedes politische System ausgesetzt, wenn es die künstlerische Literatur für die Verbreitung und Verinnerlichung von seinen ideologischen Werten und Positionen in Anspruch nehmen möchte.18 Entsprechend dramatisch stellt sich dies für politisch autoritäre bzw. totalitäre Systeme dar; ihnen fordert diese Paradoxie einen erheblichen Einsatz an semantischen, kommunikativen, diskursiven und sozialen Praktiken und Strategien ab, um jene Dynamisierung von Norm- und Symbolsystemen zu blockieren, die das vieldeutige und kommunikativ „unwahrscheinliche“ Medium der ästhetischen Schrift ständig hervorbringt. Eben an diesem Punkt setzt 1929 Maksim Gor’kij mit seinem Projekt zur Organisation, Schulung und Publikation von Laienschriftstellern an.19 Es führt verschiedene staatliche, parteiliche aber auch künstlerische Formationen wie RAPP, Proletkul’t, Junge Garde (Molodaja gvardija) zusammen, die seit den frühen 1920er Jahren versucht hatten, literarische Selbstaussagen unter den Arbeitern und Bauern zu fördern und durch entsprechende Agitation auch ideologisch-politisch auszurichten. Der Clou von Gor’kijs schreib18

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Dramatisch ist das Problem natürlich in der schriftlichen Kommunikation insgesamt – besonders wenn es da um sensible ideologische und politische Belange geht. Auch hier ist einerseits ein ausuferndes, in den frühen 1920er Jahren z.T. noch heftig agonales Kommentierungs- und Auslegungsbemühen zu beobachten, das aber zunehmend institutionell-administrativ reguliert und dominiert wird. Den Fluchtpunkt dieser Entwicklung stellen die Schauprozesse der Jahre 1936 bis 1938 dar, auf denen der Staatsanwalt Andrej Vyšinskij in seinen Anklagen Lektüren von Texten der angeklagten, ehemals führenden Parteimitglieder vorführt, so z.B. von Kamenevs Vorwort zu einer russischen Ausgabe von Niccolo Machiavellis Il Principe, um die vermeintlichen Verstellungskünste, die „Doppelzüngigkeit“ der Autoren deutlich werden zu lassen und ihre verborgenen, wahren Absichten zu entlarven. Vyšinskij fungiert hier (im Namen Stalins und des Staates) als gewiefter Hermeneut, der massenwirksam zu zeigen versteht, wie gerade Intellektuelle Opfer der diabolischen Eigenmacht der Schrift werden. Vgl. Murašov, Ju.: Schrift unter Verdacht. Zur inszenierten Mündlichkeit in den sowjetischen Schauprozessen der 30er Jahre. In: Arnold, S./Fuhrmeister, C./Schiller, D. (Hrsg.): Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert. Zur Sinnlichkeit der Macht. Wien 1998, 83-94. Vgl. dazu: Dobrenko, E.: Formovka sovetskogo pisatelja. Social’nye i ėstetičeskie istoki sovetskoj literaturnoj kul’tury. St. Petersburg 1999, 381-428 und Lipták, Tomáš: O stanovlenii socrealizma: Maksim Gor'kij i načinajuščie pisateli v 1930-ch g. Diss. Konstanz 2012.

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pädagogischem Vorhaben besteht nun in einer doppelten, sowohl schreibtechnischen als auch institutionellen Strategie. In einer schreibtechnischen Dimension setzt Gor’kij zum einen darauf, die ideologische Perforation literarischer Texte durch eine Spezialisierung auf Probleme des Schreibens zu bewerkstelligen; er insistiert darauf, „den jungen Schriftsteller schreiben zu lehren, ihnen das Handwerk des Schriftstellers, seine Technik, die Arbeit am und die Arbeit mit dem Wort beizubringen.“20 Zum anderen verfolgt Gor’kij ebenso konsequent die organisatorische und administrative Einbindung aller literarisch Tätigen und den Aufbau einer entsprechenden institutionellen Struktur des literarischen Betriebs. Konzeptuelle Gestalt gewinnt Gor’kijs schreibpädagogisches Projekt mit der von ihm herausgegebenen „pädagogisch-methodologischen“ Zeitschrift Literarische Lehre (Literaturnaja učeba, 1930 – 1941). Angesichts der Situation, dass – so Gor’kij – der Literaturbetrieb bislang „Versager und Graphomanen“ produziert habe, sei „die Zeitschrift Literarische Lehre organisiert worden, um diesem unerwünschten Prozess ein Ende zu bereiten.“21 Die Zeitschrift Literarische Lehre funktioniert gegenüber den Laienschriftstellern und Nachwuchsautoren aber weniger als pädagogische Anleitung, als vielmehr als ein Entmutigungs- und Verhinderungsmechanismus. Sie lockt ihre Adressaten in einen double-bind: Während sie die Nachwuchs- und Laienautoren pädagogisch stimuliert, hebt sie die Zugangshürden zur Profession eines sowjetischen Schriftstellers bis zur Unüberwindbarkeit an. Deutlich wird diese Steigerung, wenn die Laienschriftsteller mit der Devise „Lernen von den Klassikern“ und entsprechenden, vermeintlich Beispiel gebenden Beiträgen wie „Das Schaffen bei Puškin“ („Tvorčestvo u Puškina“), „Leben und Schaffen N. V. Gogol’s“ („Žizn’ i tvorčestvo N. V. Gogol’ja“) oder „Das Schaffen bei Dostoevskij“ („Tvorčestvo Dostoevskogo“) konfrontiert werden. Ähnlich restriktiv sind auch Gor’kijs im engeren Sinne schreibpraktische und -anleitende Artikel wie „Junge Literatur und ihre Aufgaben“ („Molodaja literatura i ee zadači“), „Brief an beginnende Schriftsteller“ („Pis’ma načinajuščim literatoram“) oder schließlich „Ein Gespräch über das Handwerk“ („Besedy o remesle“). Mit solchen Artikeln wird den Laien- und Nachwuchsschriftsteller der Eindruck vermittelt, dass das gefährliche Terrain der Schrift nur unter der Führung starker Autoritäten zu betreten sei, die den Schriftsteller vor Fehltritten bewahren können. Anhand der relativ wenigen literarischen Beiträge, die dann tatsächlich zur Publikation gelangen, lässt sich verfolgen, wie es Gor’kij redaktionell anstellt, angehende Schriftsteller auf den rechten Weg zu bringen. Ein 20

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„[…] учить начинающих писателей литературной грамоте, ремеслу писателя, технике дела, работе словом и работе над словом.“ Gor’kij, M.: Celi našego žurnala. In: Literaturnaja učeba, 1 (1930), 3-13, hier: 5. Ebd.

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Beispiel dafür stellt das Manuskript Der Dieb (Vor) des jungen Schriftstellers Michail V. Luzgin dar, das 1936 in zwei Teilen in einem der Bände der Geschichte der Fabriken und Betriebe publiziert wird.22 Der Text erzählt von der moralischen und politischen Entwicklung des Protagonisten Pogodin, der sich aus einem kriminellen Milieu emanzipiert, politisches Bewusstsein entwickelt und sich schlussendlich der bolschewistischen Partei anschließt. In der redaktionellen Bearbeitung zeigt sich Gor’kij als akribischer und konsequenter Redakteur und sowjetischer Schreibpädagoge: Gor’kij eliminiert alle Momente, die etwas Uneindeutiges und ein kontingentes Es-Hätte-Auch-Anders-Kommen-Können in die positive Entwicklung des Helden hineintragen. Ebenso streicht Gor’kij auf der Ebene des Erzählers alle Bezugnahmen auf den Prozess der Narration selbst. Auch die Figur der Protagonisten wird durch Gor’kijs gezielte redaktionelle Eingriffe entschieden vereindeutigt, indem sie von allem Zweifel, Wankelmut und jeder introspektiven Selbstbefragung gereinigt wird. Gor’kijs Redaktion von Luzgins Erzählung zeigt deutlich, dass die schreibpädagogische Arbeit konsequent darauf gerichtet ist, all jene selbstreflexiven Textelemente zu beseitigen, die auf die rhetorische und poetische Technizität der Erzählung verweisen und die letztlich gerade für das schriftliche Erzählen wesentlich sind. Bezeichnenderweise beseitigt Gor’kij auch explizite Referenzen auf literarische Traditionen, um damit den möglichen Verdacht auszuschalten, dass der Text ein literarisches, mithin künstliches Sujet elaboriere, um somit den Eindruck zu verstärken, dass die Erzählung spontan und authentisch aus dem Leben selbst hervorgegangen sei. Nicht nur die Idee einer neuartigen, vermeintlich authentischen Historiographie der sowjetischen ökonomischen und sozialen Fortschritte, sondern wohl auch der geringe editorische Ertrag der durch die Zeitschrift Literaturnaja učeba betriebenen Initiative haben Gor’kij zur Einrichtung der Publikationsreihe Die Geschichte der Fabriken und Betriebe (Istorija fabrik i zavodov) bewogen. Wie Gor’kij in einem programmatischen Artikel in der Pravda 1931 verkündet, sollte die Reihe vom Aufbau und den Erfolgen der industriellen Sowjetunion durch die Werktätigen selbst in einer Verbindung von Künstlerischem und Dokumentarischem erzählt werden. In Hinblick auf die von Gor’kij intendierte schreibpädagogische Steuerung bot nun die Geschichte der Fabriken und Betriebe durch die Zusammenarbeit von Unternehmensleitungen, betrieblichen und lokalen Parteisek22

Die Erzählung wurde 1936 in zwei Teilen unter dem Titel „Bärentreiber“ („Medvežatnik”) und „Der Fehler“ („Ošibka”) in dem Sammelband Bolševcy – Očerki po istorii bolševskoj, imeni G.G. Jagoda trudokommuny NKVD in der Reihe Die Geschichte der Fabriken und Betriebe/Istorija fabrik i zavodov (IFZ) publiziert. Das Manuskript liegt vor in RGALI/Rossijskom gosudarstvennom archive literatury i iskusstva, f. 1828, op. 1, 13. Ausführlich dazu vgl. Lipták, Tomáš: O stanovlenii socrealizma: Maksim Gor'kij i načinajuščie pisateli v 1930-ch g. Diss. Konstanz 2012.

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retären sowie von Vertretern des Literaturbetriebs die Möglichkeit einer stärkeren institutionellen und administrativen Einbindung der schreibenden Werktätigen. Des Weiteren konnte mit der so monumental und anspruchsvoll angelegten Publikationsreihe die schreibpädagogische Initiative auf etablierte Schriftsteller ausgedehnt werden, indem sie aufgefordert und verpflichtet wurden, sowjetische Aufbauprojekte vor Ort zu erkunden, um in Schreibkollektiven gemeinsam davon zu erzählen. Mit diesen kollektiven Schreibvorhaben, sollten – so formuliert Gor’kij 1933 – „die Auswüchse des emotionalen, schimmeligen, kleinbürgerlichen Individualismus eingedämmt werden“. Den prominentesten Versuch eines solchen kollektiven Schreibens stellt die literarische Dokumentation über den Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals dar, zu der eine Delegation von über 120 Schriftstellern zusammengestellt worden ist, die sich dann vor Ort über den Fortschritt der Bauarbeit vor allem aber über die politischen Umerziehungserfolge (perekovka) bei den am Projekt tätigen GUlag-Strafgefangenen überzeugen und davon berichten sollten. An dem 1934 zum XVII. Parteitag fertig gestellten und publizierten mehr als 600 Seiten umfassenden Buch haben sich schließlich 36 Autoren beteiligt, darunter literarische Prominenz wie Viktor Šklovskij, Boris Pilnjak, Michail Zoščenko, Valentin Kataev, Aleksej Tolstoj, Vsevolod Ivanov sowie Gor’kij selbst. Doch realisiert der Band nur bedingt Gor’kijs Konzept des kollektiven Schreibens: Unter den namenlosen Kapiteln und Abschnitten profilieren sich Gor’kijs und Zoščenkos namentlich markierte Beiträge. An Gor’kijs schreibpädagogischen Projekten wird zweierlei deutlich: Zum einen, lässt sich beobachten, wie das aus dem sowjetischen kollektivistischen Ethos heraus geforderte Ziel, den medialen Eigensinn der Schrift im Bereich der Literatur zu bannen, kontinuierlich verfehlt wird und wie dabei, vor allem mit Gor’kijs Konzentration auf die „Technik des Schreibens“, die Sensibilität und Gereiztheit gegenüber den dem literarischen Schreiben anhaftenden Effekten der Individuation, des „schimmligen, kleinbürgerlichen Individualismus“ zunimmt. Zum anderen macht das mit enormer propagandistischer Verve gestartete Publikationsprojekt Die Geschichte der Fabriken und Betriebe klar, wie dieses sich perpetuierende Dilemma mit der literarischen Schrift die rasche Realisierung von Publikationen und die Erfüllung der editorischen Planziele erschwert und statt dessen einen zunehmenden Ausbau von organisatorischen Strukturen und institutionellen Regulierungen produziert. Dieser vertrackten Situation war sich Gor’kij selbst durchaus bewusst, wenn er 1935 die „einzigartige Verantwortung und die immer höheren Anforderungen“ als Gründe ausmacht, warum es mit „der Geschichte der Fabriken und Betriebe langsamer vorangeht, als es zu erwarten“ war.

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5. Gor’kijs Verkündigung des Sozialistischen Realismus im Geiste der Radiophonie Wie sich an Gor’kijs Aktivitäten gut beobachten lässt, stellen das literaturpraktische Ringen um ein mit dem kollektivistischen Ethos zu vereinbarendes sowjetisches Schreibkonzept einerseits und der Aufbau von institutionellen Strukturen andererseits, innerhalb derer der rechte Umgang mit dem Medium Schrift eingeübt und kontrolliert werden kann, zwei sich wechselseitig bedingende und zunehmend ineinandergreifende Prozesse dar. Auf der institutionellen Seite führt diese Entwicklung zur politischen Initiative des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, das in seiner Resolution vom 23. April 1932 beschließt, alle Künstlervereinigungen aufzulösen und in einem staatlichen, sowjetischen Verband zusammenzuführen, was dann ein Jahr später zur Gründung des sowjetischen Literaturinstituts (Literaturnyj institut im. Gor’kogo) führt, durch das nun die Ausbildung von Schriftstellern in einen institutionell regulierten Rahmen gestellt, mit einem akademischen Anspruch versehen und gesellschaftlich nobilitiert wird.23 Auf der künstlerisch-konzeptuellen Seite mündet diese Entwicklung in Gor’kijs Programm des Sozialistischen Realismus, das er auf dem ersten sowjetischen Schriftstellerkongress 1934 proklamiert und mit großem massenmedialen Einsatz als Leitlinie für sowjetische Schriftsteller politisch sanktioniert. Die Massenmedien, Presse und Radio fungieren aber nicht nur als Mittel für die kulturpolitische Durchsetzung und Etablierung des Sozialistischen Realismus, sondern bedingen dabei ganz wesentlich auch dessen konzeptuelle Ausformung. Diese Resonanz des Sozialistischen Realismus auf die durch den Gegensatz von Typographie/Schrift und elektroakustischen Massenmedien geprägte Situation der Moderne ist es letztlich, die diesem seine immense kulturelle Schubkraft verleiht – eine Schubkraft, die nicht nur dafür ausreichte, dass er als verbindliche staatliche Norm für Literatur, Kunst und Film bis zum Ende der Sowjetunion Gültigkeit bewahren, sondern dass er darüber hinaus als Modell für Literatur und Kunst in anderen sozialistischen Systemen, aber auch in politisch linken, künstlerischen Milieus kapitalistischer Staaten in Europa, Asien, Afrika, Nord- und Südamerika weltliterarische Relevanz erlangen konnte. Die Leistung des Sozialistischen Realismus besteht darin, dass er das sowjetische Paradoxon zwischen kollektivistischem Ethos einerseits und dem Individuation und Abstraktion produzierenden Eigensinn von Schrift und Typographie andererseits in einem Horizont aktueller Erfahrungen mit elektroakustischer Massenkommunikation aufzulösen scheint. Gerade dieser unmittelbare, simultane Kontakt zum Publikum eines vor dem Radio23

Vgl. Dobrenko, E.: Formovka sovetskogo pisatelja, 423-428.

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mikrophon sprechenden und für die mündliche Präsentation vor dem Mikrophon schreibenden Autors ist als Spezifikum und Errungenschaft der sowjetischen Literatur während des Schriftstellerkongresses von Kulturpolitikern – etwa dem Vorsitzenden des Komitees für Radiofizierung und Rundfunk, Platon M. Keržencev – wie von Schriftstellern enthusiastisch beschworen worden. Als eines unter zahlreichen Beispielen sei hier nur die Autorin Marrietta Šaginjan zitiert24: Wir, die Schriftsteller, müssen den Umgang mit dem Leser nicht nur über das geschriebene, sondern auch über das gesprochene Wort lernen. Wenn ich vor dem Mikrophon spreche, habe ich das starke Gefühl der Verbindung mit Millionen von Menschen, und ich schicke das Wort mit dem Gefühl einer realen, verantwortlichen Gerichtetheit in den Raum. Hierin liegt die gewaltige Bedeutung der Arbeit des Schriftstellers für das Radio. Ich denke, dass auch der Radiohörer das Wort des Schriftstellers stärker und tiefer wahrnimmt als das Wort eines Interpreten unserer Werke.25

Es sind nun diese in der Radiophonie ermöglichten Erfahrungen sekundärer Oralität und die daraus resultierenden Möglichkeiten eines (vermeintlich) unmittelbaren psycho-physischen Kontakts mit einem Massenpublikum, die Gor’kij als Leitidee der Konzeption des Sozialistischen Realismus zugrundelegt und in zwei programmatischen Referaten auf dem Schriftstellerkongress präsentiert. Interessant dabei ist zu sehen, wie dieser Bezug vom ersten Eröffnungsvortrag zum zweiten, als Abschlussrede gehaltenen Referat auf die radiobasierte literarische Massenkommunikation verstärkt und ausgebaut wird. Bei Gor’kijs Sensibilität für kulturpolitische Tendenzen lässt sich vermuten, dass er damit nicht nur die Radiobegeisterung namhafter sowjetischer Autoren aufgreift, sondern vor allem Keržencevs gewandelter Radiopolitik zu entsprechen versucht, die mit den beginnenden 1930er Jahren weniger auf politische Agitation als vielmehr auf Massenunterhaltung setzt. Gleichzeitig erweist sich Gor’kij jedoch als tief in der literarischen Medienkultur des 19. Jahrhunderts verwurzelt, indem er zwar die Radiophonie mit ihrer simultanen Massenkommunikation als sowjetische Errungenschaft goutiert, diese aber als ein Ideal – ohne das Radio auch nur mit einem Wort zu erwähnen – auf künstlerische Arbeits- und Produktionsbedingungen projiziert, die für ihn weiterhin ausschließlich durch Schrift und Typographie geformt erscheinen.

24 25

Vgl. dazu ausführlich Murašov, Ju.: Das elektrifizierte Wort, 81-112. „Нам, писателям, нужно научиться общенью не только через написанное, но и через произнесенное слово. Когда я говорю перед микрофоном, у меня острое ощущение связи с миллионами людей, и я направляю слово в пространство с чувством реального, ответственного прицела. В этом огромное значение работы писателя для радио. Думаю, что и радиослушатели слово самого писателя воспринимают сильней и глубже, нежели слово интерпретатора наших произведений.“ Marrietta Šaginjan. In: Govorit SSSR 1 (1934).

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Der implizite, aber gleichwohl konstitutive Bezug des Sozialistischen Realismus auf die Radiophonie lässt sich in Gor’kijs Referaten im Hinblick auf zwei diskursive Kontexte beobachten: zum einen in einem engeren Kontext von ästhetischen Fragestellungen und Kriterien des Sozialistischen Realismus und zum anderen in einem weiteren Zusammenhang, der die künstlerische Literatur als Ganzes und ihren semiologischen Status sowie ihre Funktion im gesamtkulturellen System betrifft.

6. Das Ideal der Mündlichkeit und der bürgerliche Schriftindividualismus Die Erfahrung mit der Radiophonie bedingt zunächst eine auffallend scharfe und gleichzeitig ideologisch markierte Gegenüberstellung von archaischen, mündlichen Kulturen einerseits und der dekadenten, schriftfundierten, individualistischen bürgerlichen Kultur andererseits. Als Überwindung der letzteren und als Rückgewinnung ursprünglicher, nichtentfremdeter Weltbezogenheit und sozialer Relationen, wie sie vermeinštlich für primäre mündliche Kulturen wesentlich waren, wird der Sozialistische Realismus (und die sowjetische Kultur als Ganzes) in einen imaginären Zwischenraum zwischen diese beiden teils systematisch, teils historisch angelegten Sphären hineinprojiziert. Während es in Gor’kijs literaturpädagogischen Projekten um das künstlerische Schreiben als Technik ging, ist es nun offensichtlich die Erfahrung mit der sekundären Oralität der Radiophonie, die Gor’kij enthusiastisch die mündliche Volksdichtung primärer Kulturen mit ihren vermeintlich spontanen, kollektiven Schaffensformen feiern lässt. Unter verschiedenen Aspekten rückt er die mündliche Volksdichtung als Bezugsmodell für den Sozialistischen Realismus immer wieder in das Zentrum seiner Reden – so zunächst über eine polemische Wendung, wenn es heißt, dass bislang insbesondere die „bürgerlichen“ Historiker nicht im Stande gewesen seien, die primären, mündlichen Kulturen angemessen wissenschaftlich zu würdigen: Aber von den Historikern der primären und alten Kulturen hat bislang niemand volkskundliche Fakten, das mündliche Volksschaffen und die Aussagen der Mythologie genutzt, die im allgemeinen und in breit angelegten künstlerischen Verallgemeinerungen als eine Widerspiegelung der Naturerscheinungen, des Kampfes mit der Natur und als eine Widerspiegelung des sozialen Lebens figuriert.26

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„Но никто из историков первобытной и древней культуры не пользовался данными фольклора, устным творчеством народа, показаниями мифологии, которая в общем является отражением явлений природы, борьбы с природой и отражением социальной жизни в широких художественных обобщениях.“ (Hier und im Weiteren zit. nach Gor’kij, M.: Sovetskaja literatura. In: ders.: Sobranie sočinenij v 30-ti tomach. Мoskau 1949-1956, Bd. 27, 298-333, hier: 299. Übers. von Ju. M.).

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Das Denken in mündlichen, primären Kulturen stellt sich für Gor’kij nicht abstrakt und idealistisch dar wie in der bürgerlichen Literatur, sondern ist „materialistisch“, wie dies bereits die „Märchen und Mythen“ zum Ausdruck bringen.27 Entsprechend ist diese frühe „mythopoetische“ Dichtung „in ihren Grundlagen realistisch“ („mifotvorčestvo, v osnovach svoich, bylo realistično“). Im Unterschied zur bürgerlichen Literatur lässt sich in der mündlichen Dichtung – als einer Art Urszene – ein unmittelbares und unentfremdetes Verhältnis des Menschen zu seiner Arbeit beobachten: Einst, in der Frühzeit, war es ausschließlich das mündliche künstlerische Schaffen der Werktätigen, das als Organisator von Erfahrungen, als Verkörperung von Ideen in Bildern und als Anreger der kollektiven Arbeitsenergie diente.28

Erst vor diesem Hintergrund einer ursprünglichen, mündlichen Volksdichtung lassen sich, Gor’kij zufolge, die Qualitäten der „Buch“-Literatur (und -Kultur) danach bestimmen, inwieweit es ihr gelingt, den Bezug auf die mündliche Volkstradition zu wahren und von neuem zu aktualisieren. Eben davon zeugen auch die wenigen gelungenen Werke der bürgerlichen Literatur: Die wahre Geschichte des werktätigen Volks bleibt unerkannt, wenn man nicht das mündliche Volksschaffen erforscht, das ununterbrochen und prägend auf die Hervorbringung der bedeutendsten Werke der Buchliteratur einwirkt […]. Seit der tiefsten Frühzeit begleitet das Volksschaffen unentwegt und originär die Geschichte.29

Gleichzeitig wird diese Orientierung an der mündlichen Volksdichtung durch den Verweis auf aktuelle Beispiele aus nordrussischen und sibirischen Regionen und aus den sowjetischen mittelasiatischen Republiken bekräftigt. Vor allem ist es die Figur des Volkssängers Sulejman Stal’skij, die von Gor’kij als Leitbild für den Sozialistischen Realismus beschworen wird: Auf mich, und – ich weiss es – nicht nur auf mich, hat der Sänger Sulejman Stal’skij einen ergreifenden Eindruck gemacht. Ich habe gesehen, wie dieser schriftunkundige, aber weise Alte im Präsidium saß, vor sich hinflüsternd seine Verse macht und sie dann anschließend wundervoll vorlas – ein Homer des 20. Jhs.

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Vgl.: „Историками первобытной культуры совершенно замалчивались вполне ясные признаки материалистического мышления, которое неизбежно возбуждалось процессами труда и всею суммой явлений социальной жизни древних людей. Признаки эти дошли до нас в форме сказок и мифов, в которых мы слышим отзвуки работы над приручением животных, над открытием целебных трав, изобретением орудий труда.“ Ebd. „Когда-то, в древности, устное художественное творчество трудящихся служило единственным организатором их опыта, воплощением идей в образах и возбудителем трудовой энергии коллектива.“ Ebd., 319. „Подлинную историю трудового народа нельзя знать, не зная устного народного творчества, которое непрерывно и определённо влияло на создание […] крупнейших произведений книжной литературы […]. От глубокой древности фольклор неотступно и своеобразно сопутствует истории.“ Ebd., 311f.

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Hütet solche Menschen, die im Stande sind, solche Perlen der Poesie zu schaffen, wie sie Sulejman schafft. Ich wiederhole: Der Anfang aller Wortkunst liegt im Volksschaffen.30 (Hervorhebung des Verf. – Ju. M.)

In dem Maße, wie die Traditionen der mündlichen Volksdichtung zu einem Ideal für den Sozialistischen Realismus aufgebaut werden, wird nicht minder entschieden die europäische wie auch russische bürgerliche Literaturtradition polemisch entwertet. Gor’kijs Polemik konzentriert sich dabei auf jene beiden Momente der bürgerlichen Literatur – die Abstraktion und die Individuation –, die wesentlich mit den Medieneffekten von Schrift/Typologie zu tun haben; entsprechend diagnostiziert er eine „intellektuelle Verarmung“ in der bürgerlichen Literatur: Der Grund für eine intellektuelle Verarmung liegt stets in dem Abweichen von der Erkenntnis des grundlegenden Sinns der erscheinenden Wirklichkeit, in der Flucht vor dem Leben infolge von Angst oder infolge eines egoistischen Strebens nach Ruhe, infolge sozialer Gleichgültigkeit, die durch den niederträchtigsten und widerwärtigen Anarchismus des kapitalistischen Staates hervorgerufen wird.31

In verschiedenen Wendungen werden schriftbasierte Individuation, Introspektion und Abstraktion moralisch und ideologisch disqualifiziert und als Symptome für den Verfall der bürgerlichen Literatur gedeutet: Was hat die Literatur Europas in die schöpferische Kraftlosigkeit geführt, die sie im 20. Jh. offenbart hat? Hitzig und wortreich hat man die Freiheit der Kunst, die Eigenwilligkeit des schöpferischen Gedankens verteidigt; auf jede erdenkliche Art hat man die Möglichkeit einer Existenz und Entwicklung der Literatur frei von Klasseninteressen und ihre Unabhängigkeit von der sozialen Politik behauptet. Dies zu behaupten, erwies sich aber als schlechte Politik. Denn das brachte viele Schriftsteller unmerklich dazu, ihren Beobachtungshorizont der Wirklichkeit einzuengen, sich da30

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„На меня, и – я знаю – не только на меня, произвёл потрясающее впечатление ашуг Сулейман Стальский. Я видел, как этот старец, безграмотный, но мудрый, сидя в президиуме, шептал, создавая свои стихи, затем он, Гомер XX века, изумительно прочёл их. Берегите людей, способных создавать такие жемчужины поэзии, какие создаёт Сулейман. Повторяю: начало искусства слова – в фольклоре.“ Gor’kij, M.: Zaključitel’naja reč’ na pervom Vsesojuznom s’’ezde sovetskich pisatelej 1 sentjabrja 1934 goda. In: ders.: Sobranie sočinenij v 30-ti tomach. Мoskau 1949-1956, Bd. 27, 337-345, hier: 342. Zu beachten ist hier Gor’kijs Wortwahl, wenn er vom schriftunkundigen Sulejman spricht, der seine Verse „vorliest“! Zum Zusammenhang der Radiofizierung und der Entdeckung der Volkssänger, vgl. Murašov, Ju.: Vostok, radio, Džambul. In: Bogdanov, K./Murašov, Ju./Nicolosi, R. (Hrsg.): Džambul Džabaev. Pochoždenie kazachskogo akyna v sovetskoj kul’ture. Pod red. K. Bogdanova, Ju. Murasova i R. Nikolozi. Moskau 2012. „Причиной интеллектуального обнищания всегда служит уклонение от познания основного смысла явлений действительности, – бегство от жизни вследствие страха перед нею или вследствие эгоистического стремления к покою, – вследствие социального равнодушия, вызванного пошлейшим и отвратительным анархизмом капиталистического государства.“ Gor’kij, M.: Sovetskaja literatura, 302.

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von loszusagen, diese breit und vielseitig zu erkunden, und sich hingegen in der „Einsamkeit ihrer Seele“ einzuschließen, stehen zu bleiben bei einer fruchtlosen „Erkenntnis seiner selbst“ mittels der Selbstversenkung und des Eigensinns eines vom Leben abgetrennten Denken.32

Auf dieser Linie der Polemik gegen abstrahierende Schrifteffekte liegt auch die marxistische Entfremdungsthese, die Gor’kij in diesem Zusammenhang als Ursache der Dekadenz des Bürgertums und seiner Literatur vorbringt: Der Kopf wurde von den Händen abgetrennt, der Gedanke von der Erde. In der Masse der Tätigen tauchten besinnliche Betrachter auf, die die Welt und die Entstehung von Gedanken abstrakt und frei von der Abhängigkeit von Arbeitsprozessen erklärten […].33

Die schriftskeptische Motivation von Gor’kijs Kritik an der bürgerlichen Literatur zeigt sich nicht zuletzt auch gerade darin, dass er sich nicht mit dem (vermeintlich) teleologisch notwendigen und historisch erwartbaren Niedergang des Bürgertums zufrieden geben kann, sondern sich genötigt sieht, die tückische Allgegenwart der bürgerlichen Schrifteffekte zu beschwören und vor „dem Leichengift“ („trupnyj jad“) des Bürgertums zu warnen, mit dem es „die Welt vergiftet“ („otravljaet mir“) und so als omnipräsente Gefahr auch die sowjetischen Autoren bedroht.

7. Die Kriterien des Sozialistischen Realismus und das Verdikt über ästhetische Selbstbezüglichkeit Es ist diese idealisierte Vorstellung einer mündlichen Dichtung primärer, schriftloser Kulturen, aus der Gor’kij seine Kriterien für den Sozialistischen Realismus ableitet. Doch im großen Unterschied zu einer ähnlichen Ausgangsposition bei Johann G. Herder oder in den Dichtungstheorien der deutschen Romantik um 1800 erscheint das Ideal mündlicher Dichtung bei Gor’kij nicht in die Ferne einer uneinholbaren Vergangenheit entrückt, son32

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„Что привело литературу Европы к творческому бессилию, обнаруженному ею в XX веке? Яростно и многословно защищались свобода искусства, своеволие творческой мысли, всячески утверждалась возможность внеклассового бытия и развития литературы, независимость её от социальной политики. Это утверждение было плохой политикой, именно оно незаметно привело многих литераторов к необходимости сузить круг наблюдений действительности, отказаться от широкого, всестороннего изучения её, замкнуться ,в одиночестве своей души’, остановиться на бесплодном ,познании самого себя’ путём самоуглубления и своеволия мысли, оторванной от жизни.“ Ebd., 309. „Голова оторвалась от рук, мысль – от земли. В массе деятелей явились созерцатели, объясняющие мир и рост мысли отвлечённо, вне зависимости от процессов труд […].“ Ebd., 305.

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dern wird, befördert durch die Erfahrungen mit der radiophonen Massenkommunikation, unmittelbar in einen für die aktuelle Literatur maßgebenden Kriterienkatalog umgesetzt. Da ist zunächst die optimistische, zukunftszugewandte Grundhaltung des Sozialistischen Realismus, der die mündliche Volksdichtung insofern zum Vorbild gereicht, als ihr jeglicher „Pessimismus vollkommen fremd“ („fol’kloru soveršenno čužd pessimizm“) ist. Ebenso hält Gor’kij seine Schriftstellerkollegen an, sich bei der Gestaltung der literarischen Helden an der mündlichen Dichtung zu orientieren: Von neuem lenkte ich eure Aufmerksamkeit, Genossen, auf jene Tatsache, dass die tiefsten und prägnantesten, künstlerisch vollendeten Heldentypen durch die Volkskunst entstanden sind, durch das mündliche Schaffen des werktätigen Volkes.34

Auch die eigentümliche Forderung nach „revolutionärer Romantik“ des Sozialistischen Realismus erweist sich als eine Maßgabe, die als Element der mündlichen Dichtungstradition entdeckt wird. Gleichzeitig damit wird auch der Realismusbegriff selbst – in ganz aristotelischem Sinn – über den „Mythos“ als eine allgemein gültige, wahre und damit auch „realistische“ Sinngeschichte gefasst: Der Mythos ist Erdichtung. Erdichten bedeutet aus einer Summe des real Gegebenen dessen grundlegenden Sinn herauszuziehen und diesen in einem Bild zu verkörpern. So sind wir zum Realismus gekommen. Doch wenn wir – nach der Logik der Hypothese – das Wünschenswerte und Mögliche zu diesem aus dem real Gegebenen herausgezogenen Sinn hinzufügen und hinzudenken und damit das Bild noch vervollständigen, dann gelangen wir zu jener Romantik, auf der der Mythos selbst basiert und die darin so sehr nützlich ist, dass sie die Stimulation eines revolutionären Verhältnisses zur Wirklichkeit befördert – eines Verhältnisses, das die Welt praktisch verändert.35

Aus dieser Orientierung am mündlichen Volksschaffen leitet sich auch das spezifische Konzept der literarischen Produktion ab, das Gor’kij seinen Schriftstellerkollegen nahelegt: Das Schaffen – ein Begriff, den wir Schriftsteller zu oft verwenden ohne Recht darauf zu haben. Das Schaffen – das ist jene Erregungsstufe von Gedächtnisarbeit, wenn die Schnelligkeit dieser Arbeit aus dem Vorrat des Wissens die augenfälligsten

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„Я снова обращаю ваше внимание, товарищи, на тот факт, что наиболее глубокие и яркие, художественно совершенные типы героев созданы фольклором, устным творчеством трудового народа.“ Ebd., 305. „Миф – это вымысел. Вымыслить – значит извлечь из суммы реально данного основной его смысл и воплотить в образ, – так мы получили реализм. Но если к смыслу извлечений из реально данного добавить – домыслить, по логике гипотезы, – желаемое, возможное и этим ещё дополнить образ, – получим тот романтизм, который лежит в основе мифа и высоко полезен тем, что способствует возбуждению революционного отношения к действительности, – отношения, практически изменяющего мир.“ Ebd., 312.

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und charakteristischsten Eindrücke von Fakten, Abbildungen und Details herauszieht und sie in die genauesten, klarsten und allgemeinverständlichsten Worte fasst.36

Gor’kijs Vorstellung vom künstlerischen Schaffen fokussiert nicht mehr auf schreibtechnische (rhetorische, poetische) Verfahren, wie dies im Rahmen seiner literaturpädagogischen Projekte der Fall gewesen ist, sondern auf eine mentale und psychische Disposition, die über ein solches energetisches Potential verfügt, durch das Wissensvorräte und moralische Haltungen unmittelbar aktualisiert und in anschaulichen und allgemein verständlichen Worten kommuniziert werden. Das künstlerische Schaffen wird nicht mehr als ideologisch sowie rhetorisch und poetisch präparierte Technologie aufgefasst, sondern in eine Sphäre des Unmittelbaren verlagert.37 Die für das literarische Schreiben so wesentliche selbstreflexive Dynamik und Rekursivität wird zugunsten eines sich selbst gewissen Verbalisierungsakts zurückgenommen. Strukturell nähert Gor’kij das sozrealistische Schreiben damit tatsächlich dem Produktionsprozess von mündlicher Dichtung an, wie er von den Forschern Albert Lord oder Milman Parry in den 1930er Jahren als im Verbalisierungsprozess selbst sich vollziehende poetisch regelhafte Gestaltung begriffen wird – einem Verbalisierungsprozess, bei dem die durch langjährige Übung erworbenen Bestände an (Sprach-)Wissen und sprachlichen Formeln realisiert werden. In diesem Zusammenhang stehen auch die – gerade durch die Erfahrungen mit der radiophonen sekundären Oralität inspirierten und vor allem in Gor’kijs Abschlussreferat herausgestellten – Maßgaben für die Publikumswirksamkeit von literarischen Texten: Einfachheit und Verständlichkeit.

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„Творчество – понятие, которым мы, литераторы, пользуемся слишком часто, едва ли имея право на это. Творчество – это та степень напряжения работы памяти, когда быстрота её работы извлекает из запаса знаний, впечатлений наиболее выпуклые и характерные факты, картины, детали и включает их в наиболее точные, яркие, общепонятные слова.“ Ebd., 320. Das Moment des (vermeintlich) Unvermittelten und in gewisser Weise auch des Unbewussten des literarischen Schreibens teilt Gor’kijs Sozialistischer Realismus auch mit anderen prominenten Konzepten der Moderne des frühen 20. Jhs., vor allem mit psychoanalytischen Ansätzen im Rahmen des französischen Surrealismus. Im großen Unterschied zu den französischen Surrealisten jedoch, geht es Gor’kij nicht um das Freilegen individueller, seelischer und mentaler Dispositionen oder gar verdrängter unbewusster Triebstrukturen, sondern um das Hervorbringen kollektiver Identifikationsnarrative, aus dem sich das Ethos der Gemeinschaft speist. Die poetische Qualität des dichterischen Werks bemisst sich – wie in der mündlichen Dichtung – an der Intensität und Reichweite, mit dem ein Werk das (sowjetische) Ethos zu kommunizieren vermag. Poetische Originalität und ästhetische Formexperimente und damit die gesamte avantgardistische Verfremdungsästhetik, die dem common sense des Publikums nicht entsprechen will und semantische Widerständigkeit intendiert, erweist sich aus der Perspektive des Sozialistischen Realismus als Gefährdung des Ethos und damit auch als moralische Verfehlung.

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In dem Maße, wie sich all diese Kriterien des Sozialistischen Realismus – Optimismus (und Tendenz), positiver Held (und das Typische), Einfachheit, Verständlichkeit und Volkstümlichkeit, Realismus und revolutionäre Romantik – auf die Wirkungsmöglichkeiten einer unter dem Eindruck der Radiophonie idealisierten mündlichen Anwesenheitskommunikation beziehen, wird hier ein Szenario literarischer Kommunikation entworfen, das in einem strikten Gegensatz zur realen, individualisierten Schreibsituation der Autoren wie auch zu jener schriftbasierten Literatur steht, die von Gor’kij als bürgerlich und dekadent disqualifiziert wird. Das Spannungsverhältnis zwischen kollektivistischem Ethos und medialem Eigensinn der Schrift, das die sowjetische Kultur von Anbeginn plagt, findet mit dem Sozialistischen Realismus eine neue Gestalt diskursiver Bewältigung: Unausgesprochen implizieren seine positiven Kriterien und Maßgaben gleichzeitig ein absolutes Verdikt gegenüber jeglicher Bezugnahme auf den medialen, technologischen Produktions- und Schreibprozess von Literatur (und von Kunst insgesamt). Jegliche Reflexion auf die schriftbasierte Hervorbringung von erzähltem Sinn erscheint nun tabuisiert. Der konzeptuelle Clou besteht dabei weniger in dem Verdikt selbst als in dessen Unausgesprochenheit und Absolutheit, was gleichermaßen die Produktion als auch die Rezeption ästhetischer Artefakte umfasst. Auf der Seite der künstlerischen Produktion bedeutet dies, dass Autoren durch die Kriterien des Sozialistischen Realismus angehalten sind, so zu schreiben, als ob sie nicht schreiben, sondern in unmittelbarem stimmlichen Kontakt mit dem Publikum sprechen würden; sie sind gefordert, gleichsam gegen das Schreiben selbst anzuschreiben, all jene Sujets, Motive, sprachlichen und semantischen Elemente zu meiden und all jene Spuren zu tilgen, die auf den Herstellungsprozess des künstlerischen Textes aus dem Medium der Schrift verweisen könnten. Entsprechendes gilt auch auf der Seite der literaturkritischen und -theoretischen Rezeption von literarischen Werken. Hier sind Texte, die im Kanon des Sozialistischen Realismus figurieren sollen, so ins Gespräch zu bringen und diskursiv zu präparieren, dass sie frei von Schriftmakel und von allen „naturalistischen“ oder „formalistischen“ Spuren zeichenhafter Bedingtheit und als Resultat einer vermeintlich durch keinerlei materielle Zeichen verstellten Kommunikation und eines direkten, mythogenen Fließen von gemeinschaftsstiftendem Sinn erscheinen. Was dann aber auch heißt, dass in dem Moment, wenn Texte (oder künstlerische Produkte) unter dem Aspekt ihrer rhetorischen, poetischen oder medialen Gemachtheit in den Blick geraten, sie sich als vom „Leichengift“ des Bürgerlichen infiziert erweisen. Dieses sowohl auf der Seite der Produktion wie auch auf der der Rezeption etablierte Verdikt gegenüber der ästhetisch-medialen Selbstreferenz bedeutet jedoch keinesfalls eine notwendige Reduktion der Komplexität von künstlerischen Werken oder von theoretischen Formationen des Sozialisti-

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schen Realismus. Im Gegenteil. Denn so, wie dem Verdikt durch die institutionelle Struktur des sowjetischen Literaturbetriebs ein erhebliches Durchsetzungsvermögen und ein hohes psychisches Internalisierungspotential zukommt, steigert es die Sensibilität gegenüber ästhetischer Selbstbezüglichkeit, um entsprechende textuell-poetologische oder diskursive Vermeidungsund Ausweichstrategien entwickeln zu können, die sich aber ihrerseits nicht aus der Reichweite dieses Verdikt herausschreiben können. Somit handelt es sich bei der Literatur und Theorie des Sozialistischen Realismus keinesfalls um durchweg triviale Texte, die lediglich ideologische Postulate ausfabulieren oder reproduzieren. Vielmehr weisen sie – wie Texte anderer Epochen auch – ein breites, möglicherweise sogar unter den Bedingungen der massenmedialen Moderne besonders weit gespanntes Spektrum von anspruchsvollen und komplexen bis einfältig flachen künstlerischen und theoretischen Hervorbringungen auf.

8. Die Mythopoetik des Sozialistischen Realismus und die metaphysische Schuld der Schrift Die Kriterien des Sozialistischen Realismus sind nicht auf ein relativistisches Mehr-Oder-Minder hin angelegt, sondern zielen – gerade durch die besagte Tabuisierung von ästhetischer Selbstreferenz – auf das System der Literatur als Ganzes und betreffen dessen Wirklichkeitsstatus und dessen Verhältnis zu Moral und Ethik. Aus der Orientierung am Ideal der mündlichen Dichtung ergibt sich unmittelbar der mythopoetische Wirklichkeitsstatus, der den literarischen Texten des Sozialistischen Realismus zugesprochen und ihnen literaturkritisch abverlangt wird. Sozrealistische Texte sind solche, die als individuelle Hervorbringungen ihre Artifizialität insofern überwinden, als sie als Verbalisierungen überindividueller, kollektiver Wahrheiten erscheinen und Geschichten erzählen, die – analog zum Mythos – überzeitlich gültige Sinnfigurationen repräsentieren, um sich damit allen textkritischen oder philologischen Auslegungen und somit aller Hermeneutik zu entziehen. Entsprechend wird von Gor’kij einerseits der „Mythos“ als Substanz von mündlicher wie sozrealistischer Dichtung und andererseits mit gleicher Emphase immer wieder der wesentlich „kollektive“ Charakter der schriftstellerischen Tätigkeit betont: Ich habe den Mut zu glauben, dass gerade diese Methode der kollektiven Arbeit mit dem Material uns am besten helfen wird, zu verstehen, worin der Sozialistische Realismus besteht. Genossen, in unserem Land überholt die Logik des Handelns die Logik der Begriffe. Das ist es, wovon wir erzählen müssen. Ich habe die Überzeugung,

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dass dieses Verfahren des kollektiven Schaffens uns gänzlich originelle und beispiellos interessante Bücher bringen wird […].38

Der Sozialistische Realismus versucht ein semiologisches Verhältnis von literarisch-sprachlichem Text und referentieller, materieller und ideeller Wirklichkeit zu etablieren, bei dem jegliche Polysemie blockiert erscheint. Mit einer solchen Befestigung eines mythopoetischen und damit hermeneutischer Arbeit entzogenen Wirklichkeitsstatus sozrealistischer Texte hat es auch zu tun, wenn sich der Blick der sowjetischen Literaturtheoretiker und politiker auf die denotativen und semantischen Unwägbarkeiten der literarischen (Text-)Zeichen richtet und die Forderung erhoben wird, dass die Werke des Sozialistischen Realismus weder dem „Naturalismus“ noch dem „Formalismus“ verfallen dürfen. Von 1934 bis zum Ende der Sowjetkultur fungieren diese beiden Termini im offiziellen Literaturbetrieb als Ausschlusskriterien, wenn es darum geht, den Kanon des Sozialistischen Realismus gegenüber der westlichen Moderne des 20. Jhs. (Proust, Kafka, Joyce, Dos Passos) zu definieren oder Argumente für die Nichtaufnahme von Werken sowjetischer Autoren in den sozrealistischen Kanon bereitzustellen.39 Durch ihren mythopoetischen Status funktionieren sozrealistische Texte als Sinngaben und Bekenntniskommunikationen, denen es zukommt, ein Massenpublikum gemeinschaftsbildend zu stimulieren.40 Dies ist der Punkt, an dem künstlerische Ansprüche mit moralischen, ethischen und ideologischen Forderungen untrennbar verbunden werden und im Namen des Sozia38

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„Я имею смелость думать, что именно метод коллективной работы с материалом поможет нам лучше всею понять, чем должен быть социалистический реализм. Товарищи, в нашей стране логика деяний обгоняет логику понятий, вот что мы должны повествовать. Моя уверенность в том, что этот приём коллективного творчества может дать совершенно оригинальные, небывало интересные книги […].“ Gor’kij, M.: Zaključitel’naja reč’ na pervom Vsesojuznom s’’ezde sovetskich pisatelej 1 sentjabrja 1934 goda. 344. Vgl. Günther, H.: Die Verstaatlichung der Literatur. Stuttgart 1984, 55-62. Als Sulejman Stal’skij 1937 stirbt, geht die Funktion, den Sozialistischen Realismus mit einer mythopoetischen Substanz zu versorgen, auf den kasachischen Sängerdichter Džambul Džabaev über: „Die Džambul-Texte fungieren als Instanz, durch die die literarischen Texte (die als individuelle, schriftliche und damit nolens volens selbstbezügliche Hervorbringung stets uneindeutig und in denotativer und/oder semantischer Hinsicht immer über- oder unterbestimmt bleiben müssen) gleichsam wider allen konkreten Schreiberfahrungen mit einer mythopoetischen Geltung ausgestattet werden können. Die kanonischen Texte können damit sowohl für entsprechende sinn- und gemeinschaftsstiftende Rezeptionen geöffnet, wie auch gleichzeitig der analytischen, hermeneutischen Beobachtung von schriftfundierter Sinnproduktion entzogen werden. Die Funktion als mythisches Substrat innerhalb der sozialistisch realistischen Textwelt erfüllen die Džambul-Texte, indem sie sich permanent in Traditionen schriftlicher Literatur und mündlicher Dichtung hineinimaginieren, um aber eben darin auch ihre Unvergleichlichkeit und Singularität zu bekräftigen.“ (Murašov, Ju.: Vostok, radio, Džambul, dt. MS, 48f.)

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listischen Realismus der besondere Modus einer ständig zwischen Ästhetik einerseits und Moral und Ideologie andererseits oszillierenden Rede über Literatur etabliert wird.41 Wenn Gor’kij auf dem ersten sowjetischen Schriftstellerkongress den Sozialistischen Realismus proklamiert, so geht es ihm gerade auch darum, beispielgebend diese Verklammerung von ästhetischem und moralisch-ideologischem Diskurs vorzuführen, deren Spezifik letztlich darin besteht, jene Belastung durch eine metaphysische und unentrinnbare Schuld augenscheinlich zu machen, der sich jede künstlerische Tätigkeit aussetzt. Der Ausgangspunkt, von dem aus Gor’kij dieses Schuldszenario von Literatur (und Kunst) entwirft, stellt die doppelte Forderung dar, dass sich der Schriftsteller nicht mit dem ästhetischen Gelingen eines Werkes, der immanenten Zweckmäßigkeit der sprachlichen Formgebung, zufriedengeben darf, sondern es im gleichen Maße um Akzeptanz und Erfolg beim Massenpublikum gehen muss, das sich durch das künstlerische Werk in seinem Ethos versichert. Mit dem literarischen Text zur Gemeinschaftsversicherung des Massenpublikums beizutragen, wird für den sozrealistischen Schriftsteller zur moralischen Pflicht; das Scheitern in der künstlerischen Arbeit muss moralisch verantwortet werden: In der Union der Sozialistischen Räte ist durch die Macht der Arbeiter und Bauern die gesamte Masse der Bevölkerung zum Aufbau einer neuen Kultur aufgerufen. Daraus folgt aber auch, dass für Fehler, Defekte, Schlamperei bei der Arbeit, für alle Vorkommnisse von kleinbürgerlicher Trivialität, Niedertracht, von Wankelmut und Prinzipienlosigkeit wir alle einstehen müssen.42

Schreiben im Sozialistischen Realismus bedeutet nicht nur künstlerische Arbeit am sprachlichen Ausdruck, die mehr oder minder gelingen und sich damit selbst rechtfertigen kann; vielmehr stellt sich der sozrealistische Schriftsteller als Gesamtpersönlichkeit zur Disposition und offenbart sich mit 41

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Auch hier gilt: Mit dem Sozialistischen Realismus entsteht ein literaturtheoretischer und -kritischer Diskurs, der in seinen zentralen Bereichen einen bemerkenswert hohen Grad an ästhetisch-formaler Sensibilität und hermeneutischer Virtuosität gerade deshalb entwickelt, weil mit jedem textformalen Detail ein Verweis auf die moralischideologische Haltung des Autors erfolgt und damit permanent dessen gesamter sozialer und institutioneller Status auf dem Spiel steht. Es ist gerade dieser aus einer radikalen Schriftskepsis heraus entwickelte diskursive Modus der Verklammerung von ästhetischem und moralisch-ideologischem Diskurs, der dem Konzept unter den massenmedialen Bedingungen der Moderne seine weltliterarische und kulturpolitische Relevanz eingebracht hat. „В Союзе Социалистических Советов рабоче-крестьянской властью призвана к строительству новой культуры вся масса народонаселения, – отсюда следует, что за ошибки, неполадки, за брак работы, за все проявления мещанской пошлости, подлости, двоедушия, беспринципности возлагается на всех нас и каждого.“ Gorkij, M.: Sovetskaja literatura, 321f.

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dem literarischen Schreiben in seinem „sozialen Betragen“ vor einem immer anspruchsvoller werdenden Publikum: Wir arbeiten im Antlitz des Proletariats, das in dem Maße, wie es immer gebildeter wird, seine Ansprüche gegenüber unserer Kunst ständig erhöht, und damit auch gegenüber unserem sozialen Betragen.43

In verschiedenen Formulierungen und mit drohendem Gestus spricht Gor’kij in seinem Abschlussreferat von den „hohen Ansprüchen“, die „die Millionenleserschaft“ an die sowjetischen Autoren stellt: […] der Sinn der persönlichen Existenz besteht darin, den Sinn der Existenz der Vielmillionenmasse der werktätigen Menschheit zu vertiefen und zu erweitern. Und diese millionenhafte Masse hat seine Vertreter zum Kongress entsandt: Arbeiter verschiedener Produktionsbereiche, Erfinder, Kolchosarbeiter und Pioniere. Vor den Schriftstellern der Union der Sozialistischen Räte hat sich das ganze Land erhoben; es hat sich erhoben und an die Schriftsteller, ihre Begabungen und ihre Arbeit, hohe Forderungen gestellt.44

An einer anderen Stelle ist von einem Schuldversprechen, einem „Wechsel“, die Rede, mit dem die Schriftsteller beim Massenpublikum und der Regierung in der Pflicht stehen: Auf diesem Kongress wurde uns durch die vielmillionenhafte Leserschaft und durch die Regierung ein großer Wechsel ausgestellt, und nun – das versteht sich – sind wir verpflichtet, den Wechsel mit ehrlicher und dauerhafter Arbeit zu entgelten. Wir werden dies tun, wenn wir nicht das vergessen, was uns von unseren Lesern durch ihre Auftritte diktiert worden ist […], und wenn wir nicht vergessen, wie riesig die Bedeutung der Literatur in unserem Land ist und welche vielgestaltig hohen Forderungen an uns gestellt worden sind.45

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„Мы работаем пред лицом пролетариата, который, становясь всё более грамотным, непрерывно повышает свои требования к нашему искусству, да вместе с этим и к нашему социальному поведению.“ Vgl. auch wiederkehrend die Forderung nach „необходимость строгой ответственности за нашу работу и за наше социальное поведение.“ Ebd., 327. „[…] что смысл личного бытия – в том, чтобы углублять и расширять смысл бытия многомиллионных масс трудового человечества. Но вот эти миллионные массы прислали на съезд своих представителей: рабочих различных областей производства, изобретателей, колхозников, пионеров. Перед литераторами Союза Социалистических Советов встала вся страна, – встала и предъявила к ним – к их дарованиям, к работе их – высокие требования.“ Gorkij, M.: Zakljuitelnaja re na pervom Vsesojuznom sezde sovetskich pisatelej 1 sentjabrja 1934 goda, 338. „На этом съезде нами выданы многомиллионному читателю и правительству большие векселя, и, разумеется, теперь мы обязаны оплатить векселя честной, добротной работой. Мы сделаем это, если не забудем подсказанное нам выступлениями наших читателей […] не забудем, как огромно значение литературы в нашей стране, какие разнообразно высокие требования предъявлены нам.“ Ebd., 340.

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Bemerkenswert in Gor’kijs Abschlussrede sind die Superlative, mit denen er operiert. Als „Abermillionenschaft“ wird das Publikum imaginiert und, entsprechend dramatisch gesteigert, erscheint auch die Schuld, in der sich die Schriftsteller dem Massenleser gegenüber verstrickt erfahren. Bei dieser Maßlosigkeit von Verpflichtung und Schuld, ist es dem einzelnen Schriftsteller nicht mehr möglich, sich „freizuschreiben“: Die „Verantwortung“ (otvetstvennost’) „für Fehler“ und künstlerisches Misslingen erfasst „uns alle und jeden“. Gor’kij konfrontiert in der Abschlussrede seine Zuhörer (und Leser) mit einer tragischen Konstellation: Auf der einen Seite wird enthusiastisch der Beginn einer neuen Epoche der sozialistisch realistischen Literatur verkündet und gefeiert, die sich durch „solch eine dichte, unmittelbare Einheit des Lesers mit dem Schriftsteller“ („takogo plotnogo, neposredstvennogo edinenija čitatelja s pisatelem“) auszeichnet, die es in der Geschichte der Literatur „niemals und nirgendwo gegeben hat („nikogda, nigde ne bylo“); Gor’kij preist dies als einmaliges „Glück“ („sčast’e“), das die Schriftsteller jedoch „noch nicht gelernt haben zu schätzen“ („ešče ne naučilis’ cenit’“).46 Auf der anderen Seite aber wird ein Szenario der daraus erwachsenden unerfüllbaren Forderungen entworfen, das für Schriftsteller Verfehlungen unabwendbar macht und sie in ihrer Gesamtheit in ein nicht mehr tilgbares Schuldverhältnis gegenüber dem Ethos der Gemeinschaft bringt. Auch die „Selbsterziehung“ („samovospitanie“) und „Selbstkritik“ („samokritika“) der Schriftsteller untereinander, die von Gor’kij immer wieder beschworen werden,47 scheinen da nicht zu nützen, sondern tragen eher zur Bestätigung der Unauslöschbarkeit von Schuld bei, die das literarische Schreiben produziert. Pointiert gesagt: In Gor’kijs Reden auf dem ersten sowjetischen Schriftstellerkongress werden die sowjetischen Schriftsteller zu einer Schuldgemeinschaft und Vereinigung von Sündenböcken stilisiert, der es zukommt, jene Schuld zu sühnen, die der mediale Eigensinn der Schrift ständig produziert. 46

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Vgl. auch: „Литераторы Союза Советских Социалистических Республик видят, для кого они работают. Читатель сам приходит к ним, читатель называет их ,инженерами душ’ и требует, чтоб они организовали простыми словами в хороших, правдивых образах его ощущения, чувствования, мысли, героическую его работу. Такого плотного, непосредственного единения читателя с писателем никогда, нигде не было, и в этом факте – трудность, которую мы должны преодолеть, но в этом факте наше счастье, которое мы ещё не научились ценить.“ Ebd., 340. Vgl.: „И значит – наша критика должна быть действительно самокритикой, и значит, что мы должны выработать систему социалистической морали, регулятора нашей работы, наших взаимоотношений.“ Gor’kij, M.: Sovetskaja literatura. 322. Oder: „Самовоспитание путём самокритики, непрерывная борьба за качество книг, плановость работы, – насколько она допустима в нашем ремесле, – понимание литературы как процесса, творимого коллективно и возлагающего на нас взаимную ответственность за работу друг друга, ответственность перед читателем – вот выводы, которые мы должны сделать из демонстрации читателей на съезде.“ Gor’kij, M.: Zaključitel’naja reč’ na pervom Vsesojuznom s’’ezde sovetskich pisatelej 1 sentjabrja 1934 goda, 352.

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9. Der Sozialistische Realismus im System der Diskurse und der sowjetischen Epistemologie Das für die sowjetische Kultur von Anbeginn konstitutive Spannungsverhältnis zwischen dem auf Individuation und Abstraktion drängenden medialen Eigensinn der Schrift/Typographie und dem kollektivistischen Ethos, auf dem sich die sowjetische Kultur zu begründen versucht, gewinnt mit dieser tragischen Konstellation eine neue, tiefgreifende, weit über die Literatur hinausreichende, kulturelle Dimension. Indem das literarische Schreiben als „soziales Verhalten“ bewertet und als mit einer solchen prinzipiellen Schuld behaftet vorgeführt wird, die selbst die sozrealistischen Schreibspezialisten und „Ingenieure der Seele“ nicht zu tilgen im Stande sind, sondern – ganz im Gegenteil – sogar verstärkt auf sich ziehen, gewinnt diese Schulddimension von Schrift eine metaphysische Omnipräsenz. Die gesamte schriftliche und typographische Kommunikation gerät dergestalt unter den permanenten und nicht aus der Welt zu schaffenden Verdacht, trügerische Räume der individuell-egoistischen Dissidenz und übelwollender, antisowjetischer Absichten zu öffnen. In dem Maße, wie die sowjetische Kultur sich aber als eine Kultur der Schrift und des Buches versteht, was auch Gor’kij in seinem Referat nochmals bekräftigt,48 bleibt dieser Gefahrenraum der Schrift nicht auf die Literatur beschränkt, sondern umgreift die Kultur als Ganzes, alle Bereiche des sozialen Systems, in denen schriftbasierte Abstraktions- und Individuationseffekte hervorgebracht werden – neben Literatur und Kunst: Wissenschaft, Ökonomie, Recht, Liebe, Verwaltung, Macht, Politik. Das in den 1930er Jahren in allen diesen Sphären zu beobachtende Ringen um eine spezifisch „sowjetische“ oder „sozialistische“ Ausrichtung der Disziplinen, Wissensbereiche und sozialen Teilsysteme, zeugt von diesem Versuch, sich von den gleichsam diabolischen, das kollektivistische Ethos zersetztenden Schrifteffekten zu befreien. Die Literatur ist dabei nicht nur Teil dieses gesamtkulturellen Sowjetisierungsprozesses. Vielmehr kommt ihr in Gestalt des Sozialistischen Realismus in diesem Prozess eine, wie dies Gor’kij ausdrücklich formuliert und wie dies auch in der Forschung in jüngster Zeit immer wieder herausgearbeitet worden ist, konstitutive Funktion zu49: Sie stellt jene zentrale Sphäre dar, 48

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„Книга есть главнейшее и могущественное орудие социалистической культуры. Книг высокого качества требует пролетариат, наш основной, многомиллионный читатель; книги высокого качества необходимы сотням начинающих писателей, которые идут в литературу из среды пролетариата – с фабрик и от колхозов всех республик и областей нашей страны.“ Ebd., 348. „Большинство литераторов, судя по построению их речей, отлично поняло, как огромно на родине нашей значение литературы в её целом, поняло, к чему обязывает их внушительная, непрерывная за всё время съезда демонстрация строгого,

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in der eine moralische Bewältigungstrategie des medialen „bürgerlichen“ Eigensinns von Schrift in Richtung auf ein sowjetisches Schriftkonzept für alle anderen gesellschaftlichen Teilsysteme modellhaft vorgeführt und als eine Art semiologische Matrix für eine spezifische sowjetische Epistemologie bereitgestellt wird. Die Idee einer nicht auf Geld fundierten Ökonomie, die Verdrängung der bürgerlichen quantitativen Mathematik durch eine qualitative, humane Mathematik, die Substitution der Mendelschen Vererbungslehre durch Lysenkos Theorie einer Steuerung der Vererbung durch Milieufaktoren und die daraus abgeleitete Agrartechnologie, die – statt Getreideerträge zu steigern – lediglich katastrophale Missernten produzierte, das sozialistische Rechtssystem mit seinen sich in der Grausamkeit überbietenden Schauprozessen und Straflagern oder auch die sich in immer neuen Personenkulten verdichtende und sich selbst blockierende Politik lassen sich als innerdiskursive Transformationen analysieren, die aus dem Versuch resultieren, eine unentfremdete, konkretistische sowjetische Epistemologie in allen gesellschaftlichen Teilbereichen zu etablieren. Analog zur Institutionalisierungsdynamik in Literatur und Kunst bedingt die gegen den medialen Eigensinn gerichtete sowjetische Epistemologie in allen sozialen Teilsystemen eine Steigerung der administrativen Regulierung und Bürokratisierung. Und es ist dann auch gerade das notwendige und notorische Scheitern der sowjetisierenden Austreibung des schriftfundierten Individuations- und Abstraktionsprinzips, was eine bis zur rechtlichen und körperlichen Liquidierung reichenden Zunahme von psychischer und physischer Inanspruchnahme der Akteure produziert. Mit Foucault lässt sich hier die körperpolitische Dimension von Machtkommunikation ausmachen, die zunächst im Bereich der ästhetischen Kommunikation besonders massiv hervortritt, dann aber alle anderen Diskurse und sozialen Teilbereiche erfasst: Auf die prinzipielle Vieldeutigkeit von Schrift reagieren die funktionalen Teilsysteme zunehmend mit einer institutionellpädagogischen Einbeziehung und Disziplinierung der Körper, was aber das Problem der ideologischen Unwägbarkeit von Schrift selbst nicht aus der massenmedial organisierten Welt schafft, sondern – im Gegenteil – insofern potenziert, als die Institutionen und die zunehmend bürokratisierten Diskurse als Interpretationsinstanzen und damit als Text- und Schriftvervielfältigungsapparate funktionieren, die von neuem das Problem der Uneindeutigkeit von Schriftkommunikation reproduzieren.50

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но любовного отношения читателей к литературе.“ Ebd., 352; vgl. auch Evgenij Dobrenko, der vom Sozialistischen Realismus als einer „zentralen Institution des Stalinismus“ der 1930er Jahre spricht. (Dobrenko, E.: Politėkonomija socrealizma. Moskau 2007, 6 f.) Mit der Institutionalisierungsdynamik zu Beginn der 1930er Jahre wird eine Entwicklungslogik etabliert, die auf mediale Anforderungen nicht mit interner und kontinuierlicher Systemdifferenzierung reagiert, sondern diese durch institutionelle Kopplung von

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10. Die Institution der sowjetischen Literatur und ihre Dynamik Von diesem Zersetzungsprozess wird auch das literarische System selbst erfasst. Auf der Ebene der Produktion zerfällt die Literatur in eine offizielle, mit gigantischen Massenauflagen und entsprechenden literaturkritischen Stützungsmaßnahmen staatlich geförderte und in die Bildungsinstitutionen eingespeiste, die Erfolge der sowjetischen Kultur feiernde Auftragsliteratur – wie beispielsweise die 1968 produzierte Reihe Flammende Revolutionäre (Plamennye revoljucionery), deren Bücher in künstlerischer Form von Lebensgeschichten politischer Revolutionäre erzählen und mit der nach der Tauwetterperiode versucht worden ist, das sowjetische Ethos zu reanimieren – und andererseits in eine inoffizielle Literatur des sam- oder tamizdat, die, von der Publikation durch den sowjetischen staatlichen Literaturbetrieb ausgeschlossen, in Typo- und Manuskriptform in literarischen Zirkeln kursierte und/oder außerhalb der Sowjetunion verlegt wurde. Diese Zersetzung des Literaturbetriebs resultiert zum einen unmittelbar aus der administrativbürokratischen Sanktionierung jener bereits von Gor’kij in seinem Referat auf dem Schriftstellerkongress eingebrachten Kontamination von künstlerischer und ideologisch-moralischer Bewertung literarischer Werke. Zum anderen bedeutete diese Zersetzung des Literaturbetriebs, dass das literarische Schreiben kriminalisiert und dem Zugriff staatlicher Rechtsregulierung ausgesetzt wird: Die strafrechtlichen Prozesse gegen Schriftsteller wie Sinjavskij und Daniel’ oder auch gegen Brodskij, die Einweisung von Schriftstellern in psychiatrische Kliniken zur Heilung ihrer vermeintlich seelisch-sozialen Anomalien und schließlich auch der Entzug der Bürgerrechte sowie die Ausweisung von Autoren geben dafür augenscheinliche Beispiele ab. So strikt diese Grenze von offizieller und inoffizieller Literatur durch Zugehörigkeit oder institutionellen Ausschluss und die damit verbundenen Publikationsmöglichkeiten oder -verbote durch die strikte Alternative von Status verleihender Anerkennung oder Kriminalisierung markiert ist, so unentschieden schicksalshaft stellt sie sich in Hinblick auf die Autoren und ihre Werkbiographien dar. Typologisch gesehen lassen sich zunächst durchaus zwei klar geschiedene Schreib- und Existenzformen sowjetischer Autorschaft ausmachen. Sie unterscheiden sich darin, wie Autoren auf literaturkritische Einwände und damit auf die stets virulenten Vorwürfe dissidentischer Abweichung reagieren, denen seit Gor’kijs Aufruf zu Kritik und Selbstkritik jedes Werk ausgesetzt ist. Auf der einen Seite stehen Schriftsteller, die ihre Teilsystemen (hier Literatur/Kunst, Pädagogik/Ausbildung, Politik) zu bewältigen versucht. Damit aber werden Entwicklungs- und ,Lernoptionen’ des Systems reduziert, ohne die medialen Herausforderungen selbst abbauen zu können. Es wird hier ein Prozess sichtbar, der nicht auf Entwicklung im Sinne von Systemdifferenzierung und Anpassung hinausläuft, sondern der einen Zustand zunehmender Systemblockierung produziert.

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Reputation im sowjetischen Literaturbetrieb begründen, dann aber, obgleich ausdrücklich dem sowjetischen und sozialistischen Ethos verpflichtet, sich im Prozess ihrer künstlerischen Arbeit allmählich aus dem sowjetischen Betrieb heraus- und damit in eine dissidentisch-kriminalisierte Sphäre hineinschreiben: Andrej Platonov und Michail Bulgakov in den 1930er Jahren oder der Nobelpreisträger Boris Pasternak, Vasilij Aksеnov oder Vladimir Vojnovič, die als sowjetische Autoren Reputation erlangen, bevor ihnen ihre nachfolgenden Texte Publikationsverbot bzw. Entzug ihrer Bürgerrechte und Ausweisung einbringen. Auf der anderen Seite finden sich Autoren, die auf die von der Literaturkritik im Prozess ihrer künstlerischen Arbeit immer wieder ausgemachten dissidentischen Abweichung mit Um- und Neuschreiben reagieren und damit versuchen, ihr Werk im Horizont des Sowjetischen und sich als Person in der literarischen Institution zu behaupten. Einen Musterfall dafür stellt Aleksandr Fadeev dar, der mit seinem literarischen Erfolg Razgrom (1926) zu einem der ersten Klassiker der frühen Sowjetliteratur avancierte, an der Seite Gor’kijs bei der Organisation des ersten sowjetischen Schriftstellerkongresses mitwirkt, bevor er zur mächtigsten Figur des sowjetischen Literaturbetriebs unter Stalin reüssiert. Seine institutionelle Position bewahrt ihn aber nicht davor, mit seinem Roman Die junge Garde (Molodaja gvardija, 1946) auf heftige Kritik zu stoßen. Obwohl er versucht, die Erstversion des Romans künstlerisch zu rechtfertigen, legt er 1956 eine überarbeitete Fassung vor, die dann auch in den sowjetischen Literaturkanon eingeht. Während er seinen Schriftstellerkollegen gegenüber als skrupelloser Bürokrat agiert, erscheint er in seinen Briefen als ein Literaturtheoretiker und -kritiker, der sich der tragischen Unvereinbarkeit von künstlerischen und ideologisch-moralischen Ansprüchen zunehmend bewusst wird. Dennoch steht er der Kritik am sowjetischen Schriftstellerverband und an seiner Person, die nach Stalins Tod und nach Chruščevs programmatischer Rede auf dem XX. Parteitag vorgebracht wird, völlig verständnislos gegenüber. Seelisch zerrüttet begeht Fadeev am 13. Mai 1956 Selbstmord. In seinem Abschiedsbrief an das Zentralkomitee der KPdSU wird die für die sowjetische Kultur so eigentümliche und tragisch unerfüllbare Durchdringung von politisch-ethischer Verpflichtung und künstlerischem Schriftstellerdasein nochmals deutlich: Mein Leben als Schriftsteller verliert jeden Sinn, und ich trete aus dem Leben mit übergroßer Freude ob der Befreiung von diesem schändlichen Dasein, in dem sich Niederträchtigkeit, Lüge und Verleumdung über mich ergießen. Die letzte Hoffnung bestand darin, dies wenigsten jenen Leuten zu sagen, die den Staat regieren. Doch im Laufe von bereits drei Jahren werde ich trotz meiner Bitten nicht einmal empfangen.51 51

„Жизнь моя, как писателя, теряет всякий смысл, и я с превеликой радостью, как избавление от этого гнусного существования, где на тебя обрушивается подлость, ложь и клевета, ухожу из жизни. Последняя надежда была хоть сказать это

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Fadeevs Abschiedsbrief verschwindet zunächst in den Archiven des sowjetischen Geheimdienstes KGB, bis er schließlich erst 1990 veröffentlicht wird. Der strukturellen Unmöglichkeit, künstlerische, vom medialen Eigensinn der Schrift hervorgebrachte Individuationseffekte mit den kollektivistischen politischen Ansprüchen zu vereinbaren, waren sich die Theoretiker des Sozialistischen Realismus bereits auf dem ersten Schriftstellerkongress durchaus bewusst. Unter anderem war es vor allem Il’ja Ėrenburg, der auf dem Kongress auf diesen tragischen Gegensatz von künstlerischer Individuation und der Verpflichtung auf das Ethos des sowjetischen Massenpublikums hingewiesen hat.52 Den in diesem Zusammenhang vorgebrachten Begriff des Tragischen greift auch Gor’kij in seinem Abschlussreferat nochmals auf, indem er diesem mit Blick auf die Antike versucht, etwas Sowjetisches und Optimistisches abzuringen: Wir treten in eine von großartiger Tragik erfüllte Epoche ein. Und uns obliegt es, uns vorzubereiten, zu lernen diese Tragik in solche vollkommene Formen zu verwandeln, wie es die alten Tragiker darzustellen vermocht haben. Wir dürfen keine Minute vergessen, was die ganze Welt des werktätigen Volkes von uns denkt, wenn sie uns zuhört, und dass wir vor einem Leser und Zuschauer arbeiten, den es bislang in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben hat.53

Der allgegenwärtige ethisch-moralische Anspruch, der bei Ėrenburg den Schriftsteller in eine tragische Situation bringt, in der das Massenpublikum – gleichsam als Fatum – das moralisch-ideologische Urteil über den Autor spricht, wird bei Gor’kij durch den Verweis auf die Antike mit Dignität versehen. Diese tragische Konstellation wird dabei in die Gemeinschaft der Schriftsteller hineinverlagert, denen es nun zukommt, mit Kritik und Selbstkritik zu versuchen, sich gegenseitig ihre künstlerischen und moralischen Verfehlungen auszutreiben. Der Kampf gegen die alte, bürgerliche, individualistische, schriftfixierte und für eine neue, sowjetisch-kollektivistische Welt wird in die Institution des sowjetischen Schriftstellerverbands selbst hineingetragen. Die Institution wird zum Raum, in dem sich die Schriftsteller im Kampf gegen den allgegenwärtigen Dämon der Schrift und für die sowjeti-

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людям, которые правят государством, но в течение уже 3-х лет, несмотря на мои просьбы, меня даже не могут принять.“ Aus: Predsmertnoe pis’mo A. A. Fadeeva v CK KPSS. 13 maja 1956. In: Izvestija CK KPSS 10, 1990, 147-151. „К методу коллективного труда литераторов Эренбург отнёсся скептически, опасаясь, что метод такой работы может вредно ограничить развитие индивидуальных способностей рабочей единицы.“ Gorkij, M.: Zaključitel’naja reč na pervom Vsesojuznom sezde sovetskich pisatelej 1 sentjabrja 1934 goda. 343. „Мы вступаем в эпоху, полную величайшего трагизма, и мы должны готовиться, учиться преображать этот трагизм в тех совершенных формах, как умели изображать его древние трагики. Нам нельзя ни на минуту забывать, что о нас думает, слушая нас, весь мир трудового народа, что мы работаем пред читателем и зрителем, какого ещё не было за всю историю человечества.“ Ebd., 351.

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sche Zukunft (der Literatur) bewähren. Und auch diese Konstellation gewinnt ihre besondere Dynamik aus der strukturellen Aussichtslosigkeit, das Medium der Schrift von den Effekten der Individuation und Abstraktion zu reinigen, was den Auseinandersetzungen der sowjetischen Schriftsteller untereinander in eine Spirale permanenter Verschärfung hineintreibt. Dass der Versuch, die Tragik des sowjetischen Schriftstellers durch den Verweis auf Kritik und Selbstkritik in einen hoffnungsvollen Kampf um die Zukunft umzuinterpretieren, nicht so recht gelingen kann, mag auch Gor’kij geahnt haben, wenn er die Schriftstellerkollegen mahnt: Ich rufe euch auf, Genossen, zu lernen – lernen zu denken, zu arbeiten, lernen einander zu achten und zu schätzen, so wie Kämpfer einander auf dem Schlachtfeld schätzen, und nicht im gegenseitigen Kampf um Kleinigkeiten die Kräfte zu vergeuden, während wir doch von der Geschichte zum erbarmungslosen Kampf gegen die alte Welt aufgerufen worden sind.54

Als Akteur und Objekt eben einer solchen tragisch forcierten Auseinandersetzung innerhalb des sowjetischen Schriftstellerverbands erscheint auch Aleksandr Fadeev. Die erbitterte Frontstellung zwischen den Autoren der offiziellen und inoffiziellen Literaturszene der späten Sowjetzeit hängt nicht zuletzt mit dieser aus der nicht auflösbaren Konfliktlage zwischen schriftfundierter Individuation und kollektivistisch disponierten Ethos heraus forcierten internen Auseinandersetzung innerhalb der sowjetischen Schriftstellerschaft zusammen.

11. Technologien der literarischen Praxis – Pädagogik – Volkskultur und sowjetische Politik. Zu den Beiträgen Das Verhältnis von Schrift und Macht in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre lässt sich unter drei Komplexen resümieren. Beim ersten Komplex geht es um die technologische Perspektive auf Sprache und Schrift, unter der in verschiedenen künstlerischen und ideologischen Formationen der 1920er Jahre die Herstellung von sprachlich-literarischen Texten thematisiert wird. Fragen der Kontrolle und Normierung der Schriftproduktion durch Vorbild gebende Autoritäten und Anleitungen stellt einen zweiten Problemkomplex dar, der gegen Ende der 20er Jahre und dann verstärkt in den 30er Jahren die literarischen Auseinandersetzungen durchdringt und die technologische Perspektive auf das Schreiben zunehmend überlagert; dieser Problem54

Я призываю вас, товарищи, учиться – учиться думать, работать, учиться уважать и ценить друг друга, как ценят друг друга бойцы на полях битвы, и не тратить силы в борьбе друг с другом за пустяки, в то время когда история призвала вас на беспощадную борьбу со старым миром.“ Ebd. 351.

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komplex lässt sich unter dem Begriff des Pädagogischen fassen. Eine doppelte Entgrenzung der Literatur (und Kunst) lässt sich ab den 1930er Jahren beobachten. Einerseits erscheint Literatur nun als unmittelbarer, spontaner und mythogener Ausdruck einer sowjetischen Volkskultur, andererseits wird sie zunehmend als Manifestation ideologisch-politischer Gesinnung bewertet. Volkskultur und Politik bilden jene beiden Bezugsgrößen, die das literarische System seit dem ersten Schriftstellerkongress 1934 dominieren und jeden künstlerischen Text als Ausdruck des Volksschaffens einer philologisch-hermeneutischen und kritischen Deutung entziehen, gleichzeitig aber den Text als Manifestation von sozialem Handeln und politischer Gesinnung den Autoren aufbürden. Dies stellt den dritten Problemkomplex dar. Die Beiträge des vorliegenden Bandes beleuchten Aspekte dieser drei Komplexe, in die das literarische Schreiben und die literatur- und kulturtheoretischen Auseinandersetzungen in den ersten beiden Dekaden der sowjetischen Kultur involviert sind. Unter dem Fragekomplex Technologie der literarischen Produktion beschäftigt sich Il’ja Kalinin mit dem prominenten formalistischen Verfremdungstheorem, demzufolge das Wesen des Literarischen als Desautomatisierung der pragmatischen und konventionalisierten Sprachverwendung und als Überwindung stereotyper Wahrnehmung definiert wird; die Leistung des Poetischen besteht darin, geistigen und materiellen Realitäten neue Intensität zu verleihen. Kalinin zeigt in seinem Artikel „Von der ‚Gemachtheit‛ des Textes zum ‚literarischen Handwerk‛. Viktor Šklovskij und der sozialistische Formalismus“, wie das Verfremdungstheorem in seiner anthropologischen Dimension zunächst mit Karl Marx’ politökonomischer Vision von der Aufhebung der kapitalistischen Entfremdung konvergiert. Mit einer Neuformulierung seines Verfremdungstheorems reagiert Šklovskij auf die mit dem ersten Fünfjahrplan ab 1928 forcierten Industrialisierung. An der Praxiserfahrung von Werktätigen orientiert, wird „Verfremdung“ aus dem sprachformalen Bereich in das Thematische verlagert und meint nun eine um berufliches Spezialwissen erweiterte literarische Autorschaft: „Um ein Poet zu sein, muss man die Verse in seinen Beruf hineintragen.“ Wie historische Erfahrungen von Werktätigen zur Sprache zu bringen sind, und wie Gor’kij daraus einen neuen Typ sowjetischer Industrie- und Sozialgeschichtsschreibung zu entwickeln versucht, schildert Sergej Žuravlevs Beitrag „In der sowjetischen Schreibwerkstatt: Gor’kijs Projekt Geschichte der Fabriken und Betriebe“. Das in seinen Zielsetzungen anspruchsvolle Projekt scheitert jedoch letztlich an den zunehmenden Schwierigkeiten, die dokumentaristischen Ambitionen und schreibtechnischen Erfordernisse mit den wachsenden institutionellen und politischen Ansprüchen in Einklang zu bringen.

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Während in der Verfremdungspoetik der 1920er Jahre die Zerstörung von kanonischen und traditionellen Ausdrucksformen als ästhetisches Versprechen einer sozialistischen Zukunft erscheint, stehen die 1930er Jahre im Zeichen von Norm- und Traditionssicherung. Beispielhaft lässt sich dies in den Diskussionen um die literarische Sprache verfolgen, die Hans Günthers Beitrag „Gegen Vieldeutigkeit und ideologische Konterbande: Die Diskussion über die Sprache des Jahres 1934“ nachzeichnet. Die zunehmende Kritik an sprachlichem Naturalismus, an Expressivität und Vieldeutigkeit gipfelt schließlich in der Etablierung einer sowjetischen puristischen, an Klassizität ausgerichteten Sprachnorm. Sprachlicher Ausdruck fungiert jetzt als Maßgabe, an der ideologische und politische Gesinnung und soziale Verhaltensweisen überprüfbar werden. Das Bestreben, die Vieldeutigkeit schriftfundierter Diskurse ideologisch zu bannen, produziert – ganz ähnlich wie in Platons Staatsutopie – eine Allgegenwart des Pädagogischen. Damit hängt die bemerkenswerte Konjunktur der Kinder-, Jugend- und Breitenliteratur in der sowjetischen Kultur zusammen, mit der sich die Beiträge von Marina Balina und Catriona Kelly beschäftigen. Besonders bemerkenswert in Balinas Artikel „Die sowjetische Kinderliteratur zwischen ästhetischem Experiment und ideologischer Normierung“ ist abermals Maksim Gor’kijs ambivalente Rolle: Durch seine programmatischen Artikel und seine Herausgebertätigkeit weiß Gor’kij einerseits ästhetisch anspruchsvolle, experimentell spielerische Kinderliteratur von Autoren wie Kornej Čukovskij oder Samuil Maršak zu würdigen, andererseits aber ist er nicht minder bestrebt, Kinderliteratur als eine „politische Institution“ der ideologischen Erziehung zu etablieren. An diesem Punkt setzt Kellys Artikel „,Ein Kämpfer für das Recht auf Glück und Freiheit‘: Shakespeare für den sowjetischen Schüler und das breite Lesepublikum der 1920er und 1930er Jahre“ an. Hier liegt der Akzent auf der ideologisch normierten und restriktiven „sowjetischen Pädagogik“, die ab 1936 etabliert und mit der gleichnamigen Zeitschrift massenwirksam propagiert wird. Am Beispiel William Shakespeares analysiert Kelly den Prozess der Sowjetisierung und Didaktisierung des englischen Autors, der als ein „sozialistischer Realist avant la lettre“ letztlich nur in der Sowjetunion adäquat verstanden und interpretiert werden kann. Vom direkten pädagogischen Zugriff auf die literarische Praxis sowjetischer Autoren handeln Tomáš Liptáks Beitrag „Welche Art Schriftsteller brauchen wir: Die Literarische Umfrage von 1931“ und Evgenij Dobrenkos „Die Geburt der „Meister“ der sowjetischen Literatur 1932 – 1934“. Lipták untersucht eine Autorenumfrage der Zeitschrift Auf literarischem Posten (Na literaturnom postu), die im Laufe des Jahres 1931 etablierte Autoren sowie Nachwuchsschriftsteller verschiedener Gruppierungen nicht nur nach ihren individuellen, künstlerischen Arbeitsweisen befragt, sondern gleichfalls ihre

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weltanschauliche Gesinnung zu erkunden versucht. Im Ergebnis fördert diese Umfrage allerdings ein so diffuses Bild zutage, dass sich die politischen Institutionen veranlasst sehen, eine organisatorisch abgesicherte Erziehung der Schriftsteller zur Linientreue als dringliche Aufgabe auf die Agenda der sowjetischen Kulturpolitik zu setzen. Den anschließenden Zeitraum der Jahre 1932 bis 1934 behandelt Dobrenkos Beitrag. Stalins Forderung nach sowjetischen Eliten leitet eine systematische Professionalisierung und Institutionalisierung der Literatur ein; die verschiedenen Laienschriftstellerbewegungen finden nun ihr endgültiges Ende ebenso wie alle freien, nicht staatlich sanktionierten und organisierten Künstlerformationen. Detailgenau arbeitet Dobrenko dabei die vertrackte Asymmetrie von politischer Macht und Literatur heraus, die in den unterschiedlichen Vorstellungen zum Ausdruck gelangt, wie die Schriftsteller als kulturelle Elite und als „Meister“ Normen setzende Funktionen erfüllen sollen. Während es Gor’kij um kulturelle und moralische Werte geht, setzt der Machtpragmatiker Stalin auf Schriftsteller, wie z.B. Aleksandr F. Fadeev, die ihre Meister- und Führerschaft durch institutionelle Führungsqualität unter Beweis zu stellen verstehen. Diese Debatten um die „Meister“ und ihr Verhältnis zur literarischen Schülerschaft illustriert Dobrenko eindrücklich anhand von Karrikaturen der Graphikergruppe „Kukryniksy“, die diese Auseinandersetzungen zwischen Politik und Literatur satirisch kommentieren. Wie Literatur und Kunst zum einen in Richtung auf eine mythogene Massen- und Volkskultur und zum anderen in Richtung auf eine totale Politisierung entgrenzt werden, beleuchten drei Artikel aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven. In ihrem Artikel „Moskau – Die literalisierte Stadt“ untersucht Katerina Clark die „symbiotische Verbindung von Literatur und Politik als Kern der offiziellen Kultur“ der Sowjetunion der 30er Jahre. Ausgehend vom Begriff „lettered city“, der vom Erzähler und Kulturtheoretiker Angel Rama im Zusammenhang mit der Kolonialisierung Amerikas geprägt worden ist, macht Clark deutlich, wie Schriftlichkeit und Literarizität als moralische Werte für die politische Ordnung von Räumen fungieren – namentlich für Moskau als Zentrum des politischen Systems. Die Umbenennung der Moskauer Straßen, bei der ab den 30er Jahren verstärkt Schriftstellernamen figurieren, der durch das ZK 1935 beschlossene „Generalplan zum Umbau der Stadt Moskau“, das Wechselverhältnis zwischen der sozrealistischen Literatur und Stadtplanung und -entwicklung, die verschiedenen Formen der Inszenierung von Schriftlichkeit in den bildenden Künsten und schließlich auch die Stilisierung der Figur Stalins als „Herr der Schrift“ liefern für die These der „lettered city“ eindrückliche Beispiele. Eine komplementäre Perspektive auf die sowjetische Kultur der 20er und 30er Jahre bringt der Beitrag „Das Akkordeon. Volkskultur im Zeichen der Klanggemeinschaft“ des Autorenteams Thomas Lahusen, Robin LaPasha und Tracy McDonald. Hier geht es um die politische und kulturelle Integrati-

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on vor allem der bäuerlich-agrarischen Räume mit Hilfe der musikalischen Unterhaltungskultur, in der dem Akkordeon eine zentrale symbolische Rolle zukommt, die in Gedichten, Liedern und schließlich in der musikalischen Filmkomödie Das Akkordeon (Garmon’) massenmedial kommuniziert wird. Ausgehend von der Filmkomödie wird die Debatte um das Akkordeon in den 1920er und 1930er Jahren rekonstruiert und deutlich gemacht, wie sich die politische und ideologische Inanspruchnahme des Instruments und sein Status in der sowjetischen Unterhaltungskultur im Übergang von der agitatorischen, performativ-mündlichen Kultur der 20er Jahre zu der massenmedialen, repräsentativ-normativen Kultur der 30er Jahre wandelt – ein Übergang, der sich auch in der ästhetischen Struktur des Films Das Akkordeon manifestiert. Wohl war es dieser Bezug auf die performativ-mündliche Kultur der 20er Jahre, der Stalin 1935 so gereizt auf den Film hat reagieren lassen, was dann auch zur Verbannung des Films aus dem sowjetischen und internationalen Verleih geführt hat. Das Verhältnis von Politik und sowjetischer Volks- und Massenkultur nimmt Konstantin Bogdanov in seinem Artikel „Rituale der Politik und Politik der Rituale. Zur Folklore der sowjetischen Kultur“ in den Blick. Ausgehend von verschiedenen religionswissenschaftlichen Ansätzen (Mircea Eliade, Karl Löwith, René Fülöp-Miller) wird zunächst die Struktur der sowjetischen politischen Geschichtsideologie mit ihrer Zyklizität, Performativität und rhetorischen Sprachformen analysiert. In einem weiteren Schritt werden – auf der Grundlage von Murray Edelmans Studie The Symbolic Uses of Politics (1964) – die rituellen Dimensionen der sowjetischen politischen Kultur ausgeleuchtet. Die „Stimme der Macht“ und die „Stimme des Volkes“ durchdringen sich hier wechselseitig, so dass eine Unterscheidung von vermeintlich authentischer und ideologisch produzierter Volkskultur und -kunst, von Folklore und Fakelore, nicht mehr möglich ist.

I L ’ J A K A LIN IN

Von der „Gemachtheit“ des Textes zum „literarischen Handwerk“ Viktor Šklovskij und der sozialistische Formalismus Die frühen Ansichten Viktor Šklovskijs zur „Verfremdungsfunktion“ (ostranjajuščaja funkcija) der Kunst sind allgemein bekannt. Das Bewusstsein und die Wahrnehmungsfähigkeit des modernen Menschen – des Menschen der bürgerlichen Epoche – definierte er als Gesamtheit der mentalen und rezeptiven Gewohnheiten, welche schon die Möglichkeit einer adäquaten (was für Šklovskij gleichbedeutend war mit einer utopischen Perspektive der „Unmittelbarkeit“, „Natürlichkeit“, „Wahrhaftigkeit“) Weltbetrachtung blockieren. Die Automatisierung entspringt den alltäglichen sozialen Ritualen, welche dem Menschen die Illusion einer organischen Unveränderlichkeit und Ungeschaffenheit der ihn umgebenden Welt vermitteln (wir bemerken die Konventionalität, die „Gemachtheit“ – sdelannost’ – der uns umgebenden soziokulturellen Realität nicht mehr, was im äußersten Fall zum Verlust der natürlichen Wahrnehmung selbst naturgegebener Objekte führt1). Darüber hinaus führt die Aufhebung der unmittelbaren Anschauung zum Verlust eines Kontaktes mit der Realität an sich, zum Verschwinden der Bedingungen für eine existenzielle Erfahrung, die nicht einer vorhergehenden und verfremdenden Einwirkung der sozialen, ökonomischen und kulturellen Praxis unterworfen wäre.2 Die Kunst ihrerseits (und die ihr innewohnende Eigenschaft zur Erneuerung der künstlerischen Formen) ist eine der wenigen Tätigkeiten, die der Automatisierung entgegenzutreten vermag und deshalb auch ein Instrument, welches dem Menschen die „verschwindende Weltwahrnehmung“3 zurückgeben kann. Das Bewusstwerden der „Gemachtheit“ der Welt, das Erkennen der Welt als eine Sache, als Resultat der in sie investierten Arbeit, professioneller Fähigkeiten und speziellen Wissens, macht die 1

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Wie Šklovskij schreibt, spüren wir die phonetische Faktur der Muttersprache nunmehr ebenso wenig wie die „Angst vor dem Kriege“, die „Steinernheit“ des Steins. Šklovskij, V.: Iskusstvo kak priem (1917). In: Šklovskij, V. B.: Gamburgskij sčet. Moskau 1990, 62-63. Vgl. dazu ausführlicher: Kalinin, I. A.: Vernut’: vešči, plat’e, mebel’, ženu i strach vojny. Viktor Šklovskij meždu novym bytom i teoriej ostranenija. In: Wiener Slawistischer Almanach. Sonderband 62. Grigor’eva, N./Schahadat, S./Smirnov, I. (Hrsg.): Nähe Schaffen, Abstand Halten. Zur Geschichte der Intimität der Russischen Kultur. Wien/München 2005, 351-387. Vgl.: Šklovskij, V.: Iskusstvo kak priem.

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Wahrnehmung ihrer Konstruiertheit möglich, was vom Standpunkt des frühen Formalismus aus gleichbedeutend ist mit einer authentischen Wahrnehmung der umgebenden Wirklichkeit. Genau dieses Bewusstwerden der „Gemachtheit“ determiniert in vielem das Verfremdungsprinzip: Der Mensch ist nur dann in der Lage, etwas als verfremdet wahrzunehmen, wenn er begreift, dass es sich dabei um das Resultat der Anstrengungen von jemandem handelt und nicht um das Resultat des natürlichen Gangs der Dinge. Um die rezeptive, existenzielle, unmittelbare Verbindung mit der Welt zu bewahren, muss man „Künstler des alltäglichen Lebens“ sein (Šklovskij), mit anderen Worten, man muss die alltäglichen Handlungen so ausführen, wie ein Künstler (oder Handwerker) die Produkte seiner Arbeit herstellt: Sich auf ein- und dieselbe Fähigkeit stützend, schafft er jedes Mal einen neuen einzigartigen Gegenstand. Auf diese Weise gehen die Aufgaben der Kunst, wie sie Šklovskij beschreibt, weit über den Rahmen eines rein ästhetischen Programms hinaus, wobei sie eine universelle, anthropologische Dimension erhalten. Denn gerade die Kunst erweist sich nicht nur verantwortlich für die Erneuerung der Weltwahrnehmung, sondern darüber hinaus auch für die Erneuerung des Menschen selbst und der ihn umgebenden Wirklichkeit. Gerade die Kunst erweist sich als Trägerin einer Energie für historische Umwälzungen, deren äußerster Ausdruck sich in einer Revolution manifestiert. Anders gesagt, die Kunst ist ebenso wie die Revolution dazu in der Lage, die Entfremdung des Menschen von der Welt zu überwinden und dabei sein Bewusstsein von falschen („automatisierten“) Vorstellungen zu befreien, welche durch die Routine der Denkgewohnheiten hervorgebracht wurden. Hinter dieser anthropologischen Funktion der Kunst kann man die Idee Šklovskijs von der „Gemachtheit“ eines Kunstwerkes erkennen, in dem es kein „von der Konstruktion freies Material“ gibt, da es „ganz und gar gemacht ist“. Dabei die Aufmerksamkeit auf die „Gemachtheit“, „Konstruiertheit“ eines künstlerischen Werkes richtend, entmystifiziert Šklovskij gleichzeitig den traditionellen, in der Kunst verbreiteten Mythos über das Schaffen. Anstelle der Inspiration tritt die künstlerische Technik, anstelle des Schöpfertums ex nihilo – die Arbeit mit dem Material, anstelle der göttlichen Gabe – das Handwerk des Künstlers, anstelle des Künstlers selbst – der Handwerker, der die Fähigkeit besitzt, die Faktur des Materials zu erkennen und dessen Widerstand zu überwinden, anstelle der Schöpfung erscheint der „Gegenstand“ (sdelannaja vešč). Dieselben Vorstellungen über die Gemachtheit des „Kunstgegenstandes“ weitet Šklovskij auf die soziokulturelle Realität in ihrer Gesamtheit aus. Wenn die „Kunst eine Methode ist, das Machen der Dinge nachzuerleben“4, dann ist es die Aufgabe des Kritikers, in der den Menschen umgebenden 4

Ebd., 63.

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Welt diesen Moment der „Gemachtheit“ aufzudecken – den Charakter seiner Arbeit, der die Konstruktion der Realität determiniert – und dem Menschen die tatsächliche Wahrnehmung der Welt zurückzugeben, die von ihm entfremdet ist durch die wirksamen sozialen und ökonomischen Mechanismen, deren Tätigkeit eben gerade darauf abzielt, den Anteil der Arbeit bei der Schaffung der kulturellen Werte zu verschleiern, indem sie ihn mit dem Geheimnis der göttlichen Schöpfung, dem Geheimnis des Industriekapitals oder dem Geheimnis der künstlerischen Inspiration umhüllt.

1. Der Marxismus und der frühe russische Formalismus Der Künstler als Handwerker Indem er das Verfahren der „Verfremdung“ (ostranenie) als grundlegendes, die Beziehungen zwischen Kunst und Leben regulierendes Prinzip akzentuiert, geht Šklovskij von dem in der positivistischen Ästhetik vorherrschenden Prinzip – dem Gesetz der Ökonomie der schöpferischen Kräfte – aus, das er den Werken Herbert Spencers und Richard Avenarius entlehnt hatte. Als Beispiel der naivsten und äußersten Form ihrer Anwendung auf die poetische Sprache zitiert Šklovskij in diesem Zusammenhang einen Gedanken Aleksandr Veselovskijs, demzufolge das Ziel des sparsamen Umgangs mit den Kräften darin besteht, „möglichst viele Gedanken mit möglichst wenigen Worten auszudrücken.“5 Auf der Grundlage der Verneinung der Universalität dieses Gesetzes der Ökonomie entwickelt Šklovskij das Verfahren der „Verfremdung“, welches die Sphäre der praktischen Sprache und „praktischen“ Wahrnehmung („Erkenntnis“) der gegenständlichen Welt, in dem das Gesetz der Ökonomie der Kräfte herrscht, abtrennt von der Sphäre der poetischen Sprache und der erneuerten Wahrnehmung („Anschauung“), die auf der Wirkung eigener „Gesetze der Ausgaben“6 fußt. Die allgemeine Logik dieser Trennung ist folgende: Die gewohnheitsmäßigen Handlungen – von der Feinmotorik angefangen bis hin zur prosaischen Alltagssprache – werden kraft ihrer Wiederholbarkeit automatisiert und unbewusst ausgeführt. Eine solche Automatisierung, bei der die Wahrnehmung der Worte und Gegenstände nicht deren äußere, materielle, körperliche Grundlage tangiert, garantiert eine maximale Ökonomie der Kraftanstrengungen. Auf diese Weise fällt die Alltäglichkeit – sowohl die daseinsbezogene als auch die sprachliche – bei Šklovskij mit dem Bereich einer unbewussten Automatisierung zusammen, der für die Schnelligkeit der Reaktion und die Ver5 6

Zit. nach Šklovskij, V.: Iskusstvo kak priem, 62. Ebd.

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minderung der aufgewandten Energie verantwortlich ist. Doch an diesem Punkt stößt das Gesetz der Ökonomie der Kräfte auf seinem eigenen Territorium an eine bestimmte Grenze, auf ein Hindernis. Wenn nämlich die Alltäglichkeit zu einer absoluten Automatisierung wird, entzieht sie sich nicht nur der Interpretation, sondern auch der Wahrnehmung und wird damit zu einer Sphäre unbewusster, für das Bewusstsein nicht anwesender Tätigkeiten. So verschwindet das sich in ein Nichts verwandelnde Leben. Die Automatisierung frisst die Gegenstände, die Kleidung, die Möbel, die Ehefrau, die Angst vor dem Kriege.7

Die automatisierte Wahrnehmung zerfrisst nicht nur die Gegenstände, sondern auch die Beziehungen zwischen den Menschen und die grundlegenden existenziellen Affekte.8 Daraus resultiert, dass die Automatisierung, indem sie das alltägliche Funktionieren der Subjekt-Objekt-Beziehungen und die Intersubjekt-Beziehungen erleichtert, zu einer totalen Rationalisierung („zu einer algebraischen Denkmethode“ – Šklovskij) dieser Beziehungen führt. Die Wahrnehmung des Gegenstandes erfolgt wie durch ein Prisma, welches den spezifischen Denkinhalt durch eine abstrakte Kategorie erfasst und zu einer Entfremdung in der sozialen Sphäre („Pessimismus“) führt. Indem sie den Umgang mit den Dingen der gegenständlichen Welt erleichtert, verhindert die Automatisierung gleichzeitig den Zugang zu ihrer Gegenständlichkeit. Die Automatisierung entgegenständlicht das Ding und verdinglicht den Menschen. Die Automatisierung (sowohl der Wahrnehmung als auch der Handlung) bringt besondere Mediatoren in Gestalt abstrakter Kategorien und unbewusster Motorik gewohnheitsmäßiger und sich wiederholender Bewegungen hervor, welche den Menschen um die unmittelbare, gefühlsmäßige, intime Weltwahrnehmung bringen. Die Kunst ist nach Šklovskij dazu da, den durch die Instrumentalisierung hervorgerufenen Verlust des Erlebens des Lebens im höchsten Maße zu kompensieren. Sie bringt das Verlorene nicht nur zurück, sondern erzeugt darüber hinaus einen gewissen gefühlsmäßigen und gedanklichen Überschuss. Dieser Überschuss ist nicht mit einer Ökonomie der Anstrengungen verbunden, sondern im Gegenteil mit der Notwendigkeit, zusätzliche Kräfte zu mobilisieren, um die „behinderte Form zu überwinden, welche die Wahrnehmung belastet und verzögert“.9 7 8

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„Так пропадает, в ничто вменяясь, жизнь. Автоматизация съедает вещи, платье, мебель, жену, страх войны.“ Ebd., 63. Dasselbe Gesetz der Automatisierung ist auch im Hinblick auf die Geschichte der Kunst wirksam: „Zu geschmeidig haben die Schriftsteller von gestern geschrieben. Ihre Gegenstände erinnerten an jene polierte Oberfläche, über die Korolenko sagte: Ein abgeschlagener Gedanke eilt darüber hin, ohne etwas auch nur zu berühren.“ Šklovskij, V.: Voskrešenie slova. In: Šklovskij, V. B.: Gamburgskij sčet. Moskau 1990, 41. Šklovskij, V.: Iskusstvo kak priem, 63.

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Die Kunst rehabilitiert die Wahrnehmung, erhöht ihre Dauer und verschiebt den Akzent von ihrer instrumentellen Funktion auf das Erleben der Intensität der Wahrnehmung als solcher. Während die Automatisierung nur dazu beiträgt, Kräfte zu sparen, ohne dabei neue Energie zu erzeugen, erfordert die Kunst im Gegenteil zusätzliche Investitionen zur Erfassung der behinderten Form, entfesselt aber gleichzeitig Energie, die im Weiteren ausreichend ist, um die alltägliche Wahrnehmung aus der Sphäre des Unbewussten heraus zu führen. Das Künstlerische [...] ist „künstlich“ so angelegt, dass die Wahrnehmung darauf konzentriert bleibt, wobei sie eine möglichst hohe Intensität und Dauer erreicht, der Gegenstand wird dabei nicht in seiner Räumlichkeit, sondern sozusagen in seiner ununterbrochenen Dauer rezipiert.10

Die Künstlichkeit der ästhetischen Konstruktion verfremdet die alltägliche Wahrnehmung und ermöglicht dadurch, den Gegenstand nicht nur als einen bestimmten leeren Umfang zu sehen, der einen bestimmten Platz im Raum innehat, nicht als ein Ding, welches fest in die gewohnte Landschaft der Alltäglichkeit eingeschrieben ist, sondern als eine ununterbrochene Dauer einer taktil fühlbaren Oberfläche, wobei Anschauung und Wahrnehmung der Faktur derselben übergehen können zur Wahrnehmung und Erkenntnis der Struktur, der Konstruktion des Gegenstandes. Die durch Šklovskij konstatierte Beziehung zwischen „Anschauung“ und „Erkenntnis“, zwischen dem Verfahren der Verfremdung und dem Prozess der Automatisierung, zwischen dem Gegenstand und der dessen dinglichgefühlsmäßige Merkmale abstrahierenden Kategorie kann mit Begriffen der politischen Ökonomie umschrieben und reinterpretiert werden – nämlich als Verhältnis zwischen dem Gebrauchswert und dem Tauschwert einer Ware. Laut den klassischen Werken von Karl Marx, der die angegebene Definition eingeführt hat,11 geht die ursprüngliche, nicht von der Ökonomie determinierte Anschauung eines Gegenstandes von der Vorstellung seines natürlichen Materials, seiner konkreten dinglichen Eigenschaften, seiner Bestimmung und seinem Nutzen aus, den er erbringen kann, das heißt: von seinem Gebrauchswert.12 Die auf dem Gebrauchswert einer Ware basierende unmittelbare Beziehung eines Menschen zu einem Gegenstand führt weder zu 10

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„Художественное [...] „искусственно“ создано так, что восприятие на нем задерживается и достигает возможно высокой своей силы и длительности, причем вещь воспринимается не в своей пространственности, а, так сказать, в своей непрерывности.“ Ebd., 71. Die Exemplifizierung des mit dem Begriff „ununterbrochene Dauer“ (nepreryvnost’) verbundenen Bergsonschen Kontextes ist im Moment für unsere Analyse nicht von prinzipieller Wichtigkeit. Marx, K.: Das Kapital und Handschriften zur Ökonomie 1857 – 1859. Vgl. Marx, K./Engels, F.: Sočinenija. Izd. 2-e. T. 46- Č. I. Moskau 1964, 82-83 (aus dem Russischen übersetzt).

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einer Verfremdung zwischen Produzenten und Konsumenten (die oft einund dieselbe Person sein können) noch zwischen dem Menschen und dem Gegenstand. Die Marktverhältnisse medialisieren diese Beziehung, indem sie einen gewissen Mittler zwischen Mensch und Gegenstand erzeugen, seinen Tauschwert, der die dingliche Seite des Gegenstandes (der Ware) verschwinden lässt, was schließlich zu einem desubstantivierenden Übergang vom Warenkörper zur Warenform führt. Während die Spezifik und die qualitative Besonderheit des Gebrauchswertes durch die untrennbar mit seinem materiellen Sein verbundenen Merkmale bestimmt werden, manifestiert sich der Tauschwert lediglich als Ausdrucksform, als „Form irgendeines von ihm verschiedenen Inhalts“13, als Form der gesellschaftlichen Beziehungen. Marx beschreibt wie folgt den Verlust der dinglichen, sinnlich wahrnehmbaren Konkretheit bei einem Gegenstand und deren Ersatz durch eine Abstraktion, die ausschließlich im System der sozialen und ökonomischen Ordnung ihre Wurzeln hat: Es ist nicht länger Tisch oder Haus oder Garn oder sonst ein nützlich Ding. Alle seine sinnlichen Beschaffenheiten sind ausgelöscht. Es ist auch nicht länger das Produkt der Tischlerarbeit oder der Bauarbeit oder der Spinnarbeit oder sonst einer bestimmten produktiven Arbeit. […] Es ist nichts von ihnen übrig geblieben als dieselbe gespenstige Gegenständlichkeit, eine bloße Gallerte unterschiedsloser menschlicher Arbeit, d.h., der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft ohne Rücksicht auf die Form ihrer Verausgabung.14

Der Tauschwert verweist schon nicht mehr auf die Qualität des Gegenstandes, sondern auf die Quantität der Gegenstände, die in den Austausch einbezogen werden, verweist auf ein System der Äquivalenz in einem System der Gegenstände, welches im Prozess des Tauschs im Interesse der daran beteiligten anonymen rational-ökonomischen Subjekte geschaffen wird. Die sinnliche Form des Gegenstandes wird durch seine Warenfunktion ersetzt, die auf einer abstrakten qualitativen Äquivalenz des Tauschs beruht. Im Resultat verwandelt sich der Gegenstand in eine Ware, verliert seine sinnlich wahrnehmbare Form, seine Gegenständlichkeit und erhält dabei einen durch den Tauschwert bedingten abstrakten Charakter. Derselbe Effekt des Verlustes der sinnlich spürbaren Gegenständlichkeit entsteht nach Šklovskij auch auf der Ebene der praktischen sprachlichen 13 14

Ebd. (Aus dem Russischen übersetzt). „Теперь это уже не стол, или дом, или пряжа, или какая-либо другая полезная вещь. Все чувственно-воспринимаемые свойства погасли в ней. Равным образом теперь это уже не продукт труда столяра, или плотника, или прядильщика, или вообще какого либо иного производительного труда. […] От них (вещей) ничего не осталось, кроме одинаковой для всех призрачной предметности, простого сгустка лишенного различий человеческого труда, то есть затраты человеческой рабочей силы безотносительно к форме этой затраты.“ Ebd., 67 (aus dem Russischen übersetzt, hier Original Marx, www.marx-forum.de entnommen).

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Kommunikation, wenn das Wort all seine qualitativen Merkmale verliert (sowohl die Wahrnehmung seiner akustischen Hülle als auch seiner inneren Form) und nur noch eine sozial-kommunikative Funktion innehat. Ein solches, im Prozess der sozialen Kommunikation ausgetauschtes Wort ist Träger einer lexikalischen Bedeutung, die vollständig vom pragmatischen Kontext abhängig ist, mit anderen Worten: es verwandelt sich in eine Ware, deren Inhalt sich vollständig in seinem Tauschwert erschöpft. Das Wort der Prosasprache ist ein Instrument der Rechnung,15 welches die Anzahl der einer materiellen Faktur beraubten leeren Begriffshüllen, die im Sprachaustausch anwesend sind, nur registriert. Und je geringer die sinnlich-sinnhafte Bedeutung eines solchen Wortes ist, umso mehr „Warengegenstände“ kann es im Verlauf des kommunikativen Austauschs transportieren und umso höher ist seine Durchlassfähigkeit und damit seine ökonomische Effektivität. Diese Effektivität erweist sich als ein Faktor, der nicht nur in der ökonomischen Sphäre des Warenaustauschs wirksam ist, sondern auch in der Ökonomie der Alltäglichkeit, welche Šklovskij mit Hilfe des Prozesses der Automatisierung beschrieben hat, der sich gemäß dem Gesetz der Ersparnis des Kraftaufwandes entwickelt und sowohl zu einer Reduktion der Wortform – Durch den Prozess der Automatisierung erklären sich die Gesetze unserer Prosasprache mit ihrer nicht zu Ende geführten Redewendung und dem nur halb ausgesprochenen Wort.16

– als auch der Wahrnehmung der materiellen Spezifik des Gegenstandes führt: Die Außenwelt befindet sich außerhalb der Kunst. Sie wird als eine Reihe von Andeutungen, als eine Reihe algebraischer Zeichen wahrgenommen, als eine Ansammlung von Gegenständen, die zwar einen Umfang, aber keine Materialität, keine Faktur besitzen.17

So ist die Automatisierung laut Šklovskij letztendlich nichts anderes als eine parallele Entwicklung zweier einander kongruenter Erscheinungen: der Unbewusstheit der gewohnheitsmäßigen Bewegungen und der alltäglichen Sprachpraxis sowie der Überrationalität des praktischen Denkens. Resultat 15

16

17

„Im Leben spielt das Wort die Rolle einer Kugel auf dem Rechenbrett“, umschreibt Šklovskij metaphorisch diesen Verlust der Form des Wortes (Šklovskij, V. B.: O fakture i kontrrel’efach. In: Gamburgskij sčet, 99). Vgl.: „Als Tauschwert ist die Ware ein Äquivalent und in ihr sind wie in einem Äquivalent alle natürlichen Eigenschaften erloschen.“ (Marx, K./Engels, F.: Sočinenija, 83.) „Процессом автоматизации объясняются законы нашей прозаической речи с ее недостроенной фразой и полувыговоренным словом.“ Šklovskij, V.: Iskusstvo kak priem, 62. „Внешний мир вне искусства. Он воспринимается как ряд намеков, ряд алгебраических знаков, как собрание вещей, имеющих объем, но не имеющих материальности – фактуры.“ Šklovskij, V.: O fakture i kontrrel’efach, 99.

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sowohl ersteren als auch letzteren ist der Verlust unmittelbarer Wahrnehmung der gefühlsmäßigen Konkretheit von den Menschen gewöhnlich umgebenden Gegenständen, ihr Ersatz durch erkennbare Konturen, welche den von der Gewohnheit gezeichneten Raum ausfüllen, und Substitution durch abstrakte Kategorien, die auf die mentale Karte des automatisch bestimmte Operationen ausführenden Bewusstseins aufgetragen werden. Im Prozess der Algebraisierung, Automatisierung des Gegenstandes wird die größtmögliche Ökonomie der Wahrnehmungskräfte erreicht: die Gegenstände werden nur durch ein Kennzeichen, zum Beispiel ihre Nummer, repräsentiert und einfach nur auf einem Formular fixiert, ohne auch nur ins Bewusstsein vorzudringen.18

So beschreibt Šklovskij das durch das automatisierte, abstrakte Denken hervorgerufene Vertauschen. „Die Dinge werden durch die Rechnung und den Raum absorbiert“ – mit diesen Worten unterstreicht Šklovskij den quantitativen, auf Beziehungen der Äquivalenz beruhenden Charakter jener Art zu denken, deren Effekt eben der von Marx beschriebene Ersatz der sinnlichen Form durch eine abstrakte Warenform ist, welche den Tauschwert des Gegenstandes ausdrückt, von dessen Blickpunkt aus „alle Waren qualitativ gleichwertig sind und sich nur quantitativ unterscheiden: Sie alle werden gemessen und sind miteinander austauschbar“.19 Was Šklovskij als eine Gewohnheit der Erkenntnis der Gegenstände offen gelegt hatte, die die angeborene Fähigkeit des Menschen zum Sehen usurpiert, steht in einem Zusammenhang mit der von Marx geübten Kritik an der Warenform, welche – die gegenständlich-sinnlichen Kennzeichen eines Dinges verdrängend – einen Anspruch darauf erhebt, selbst die dingliche, materielle Eigenschaft des Warenkörpers zu sein. Dabei ist es charakteristisch, dass Marx selbst die Natur des Nicht-Erkennens dieses usurpierenden Vertauschens, die im Phänomen des „Warenfetischismus“ ihren Ausdruck findet, eben gerade durch die „Gewohnheit des alltäglichen Lebens“ (Marx) erklärt. Frederik Jameson20 kennzeichnet diesen Warenfetischismus, indem er die analytischen Akzente ähnlich wie Šklovskij bei seiner Beschreibung der Metamorphose setzt, welcher ein Gegenstand unterworfen ist, wenn er in den rezeptiven Abgrund der automatisierten Wahrnehmung gerät. Er identifiziert ihn als ein Phänomen der Mutation eines Objekts, das Auslöschen seiner materiellen Dinglichkeit, als eine „spezifische Pathologie der Materie, bei der die ehemaligen, zuverlässigen und festgefügten Gegenstände der Welt 18

19 20

„При процессе алгебраизации, обавтоматизации вещи получается наибольшая экономия воспринимающих сил: вещи или даются одной только чертой своей, например, номером, или выполняются как бы по формуле, даже не появляясь в сознании.“ Šklovskij, V.: Iskusstvo kak priem, 63. Marx, K.: Sočinenija. T. 23, Č. I., 45. Dieser verbindet symptomatisch das wissenschaftliche Interesse am russischen Formalismus mit einer neomarxistischen theoretischen Position.

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des Gebrauchswertes eine groteske Verwandlung in abstrakte Äquivalenzen durchliefen, welche dennoch die Illusion [...] einer Materialität neuen Typus hervorrufen [...] die Objekte generieren, die uns durchaus gegenständlicher (thing-like) erscheinen, als die Gegenstände selbst“.21 Über dieses Verschwinden der „Steinernheit“ des Steins schreibt Šklovskij: Der Gegenstand geht gleichsam verpackt an uns vorüber, wir wissen, ausgehend vom Platz, den er einnimmt, dass er existiert, doch wir erblicken nur seine Oberfläche. Unter dem Einfluss einer solchen Wahrnehmung trocknet der Gegenstand aus, zuerst als Wahrnehmung und später wirkt sich das auch auf seine Herstellung aus.22

Die automatisierte Wahrnehmung macht den Gegenstand für die wirklich „entpackende“ Wirklichkeit, das heißt, für einen Gebrauch, der auf den natürlichen dinglichen Eigenschaften des Gegenstandes und somit eben nicht auf seiner strukturbedingten Lage im System der symbolischen Äquivalenzen und des Warenaustauschs beruhen würde, unbrauchbar. Und zwar in der Weise, dass dabei diese strukturelle Bedeutung des Gegenstandes als seine natürliche Eigenschaft erkannt wird.23 Die Dynamik der Automatisierung wird durch Šklovskij als eine Bewegung von der Poesie zur Prosa beschrie21 22

23

Jameson, F.: Late Marxismus. Adorno: or, the persistence of the dialectic. London/New York 1990, 180. „Вещь проходит мимо нас как бы запакованной, мы знаем, что она есть, по месту, которое она занимает, но видим только ее поверхность. Под влиянием такого восприятия вещь сохнет, сперва как восприятие, а потом это сказывается и на ее делании.“ Šklovskij, V.: Iskusstvo kak priem, 63. Über diese Übertragung der Bedeutungen, die durch die Beziehungen zwischen Element und System hervorgerufen werden, auf das Element als mentales Produkt des Warenfetischismus selbst, schreibt Slavoj Žižek: „Was in Wirklichkeit ein strukturbedingter Effekt ist, ein Effekt des Systems der Beziehungen zwischen den Elementen, wird als unmittelbare Eigenschaft eines der Elemente wahrgenommen, so, als ob diese Eigenschaft darüber hinaus eine äußere wäre im Verhältnis zu den Verbindungen eines Elements mit den anderen.“ – Žižek, S.: Vozvyšennyj ob’’ekt ideologii. Moskau 1999, 31. Solch eine fetischisierende Übertragung wird auch auf dem Gebiet der poetischen Semantik reproduziert: „Wenn aus der Perspektive eines Systems von Gegenständen die strukturelle Bedeutung sich als Eigenschaft des Gegenstandes selbst ausgibt und dessen natürliche Eigenschaften durch sich ersetzt, so wird aus der Perspektive des poetischen Systems die Bedeutung als Effekt eines referenziellen Hinweises auf den Gegenstand und nicht als struktureller Effekt wahrgenommen. Im ersten Fall ersetzt der Effekt des Systems die unmittelbare Gegenständlichkeit, im zweiten Fall verbietet der Akzent auf der referenziellen Gegenständlichkeit der Bedeutung ihn als einen strukturellen Effekt zu definieren. Es ist charakteristisch, dass beide Vertauschungen durch den Formalismus identifiziert wurden: Die Methode der Verfremdung, welche das Element aus einem System herausriss und es in ein anderes einbrachte, war für Šklovskij ein Verfahren, die unmittelbaren dinglichen Eigenschaften eines Gegenstandes aufzuzeigen, der durch Tynjanov formulierte Begriff der „Enge der Verszeile“ fungierte als ein Instrument, welches die Bedingtheit der Bedeutung durch die Beziehungen der Elemente eines poetischen Textsystems zueinander erklärt.“

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ben, vom Besonderen zum Allgemeinen, von der Maximierung des Inhalts eines Begriffs zur Maximierung seines Umfangs, vom Gegenstand zum Zeichen oder, wie er es schreibt, „Von Karl dem Großen zum Namen König“.24 Bei einer solchen Inflation der Wahrnehmung nutzen wir anstelle des Gegenstandes selbst dessen symbolische Verpackung, welche die Grenzen des Gegenstandes umreißt, doch weder etwas über dessen Faktur aussagt noch über seine Konstruktion und die letztendlich zur schadhaften, simulierten Herstellung der Gegenstände führt, bei welcher nicht die Gegenstände an sich, sondern eher erkennbare Zeichen der Gegenstände geschaffen werden,25 hinter denen die eigentlichen Gegenstände schon nicht mehr zu unterscheiden sind: Die durch Worte ersetzten Gegenstände existieren nicht, werden nicht wahrgenommen; auch die Worte existieren nicht, da sie kaum in Erscheinung treten, kaum ausgesprochen werden,26

schreibt Šklovskij und verweist dabei auf den Verlust der Wahrnehmung, die durch die symbolische Medialisierung der Welt erzeugt wurde, wobei die Materialität des Vermittlers selbst darüber hinaus äußerst reduziert ist. Diese Gegenüberstellung soll nun allerdings nicht dazu dienen, die unmittelbare genetische Quelle der formalistischen Kritik der automatisierten Wahrnehmung in der Politökonomie von Karl Marx aufzufinden. Die Unvergleichbarkeit des Gegenstandes der methodologischen Ausarbeitung und der strategischen Aufgaben dieser beiden Kritiken erlaubt es nicht, von ihrer typologischen Proportionalität zu sprechen. Die Rede ist von der systemischen Gleichgerichtetheit der Verve ihres polemischen, entlarvenden („entblößenden“ – in der Terminologie des Formalismus) Pathos, von der teilweisen Übereinstimmung des Gegenstandes ihrer Kritik, wenn man diesen im weitesten Sinne als ein durch die Gewohnheiten des alltäglichen sozialen Wechselspiels hervorgebrachtes Verfahren des abstrakten Denkens und den damit verbundenen Effekten der Verfremdung, der Verdinglichung der menschlichen Beziehungen und der Automatisierung der Wahrnehmung begreift.27 Zwischen der Kritik des Warenfetischismus und der frühen forma24 25

26

27

Šklovskij, V.: Iskusstvo kak priem. 64. Vgl.: „Neben seiner natürlichen Existenz erhält der Gegenstand eine rein ökonomische Existenz, wo er nur noch Zeichen ist, ein Symbol der Produktionsbeziehungen, nur noch ein Zeichen seines eigenen Wertes.“ – Marx, K.: Sočinenija. T. 23, Č. I, 44. „Не существуют, не воспринимаются вещи, замененные словами; не существуют и слова, едва появляющиеся, едва произносимые, […]“ Šklovskij, V.: O fakture i kontrrel’efach, 99. Gerade auf einer solchen Erweiterung des Bereichs der Anwendung der Kritik der Warenform beharrte zum Beispiel der der späten Frankfurter Schule nahestehende Alfred Sohn-Rethel. Vgl.: „Die Analyse der Warenform beinhaltet nicht nur den Schlüssel zur Kritik der politischen Ökonomie, sondern auch zur historischen Kritik des abstrak-

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listischen Kritik entwickelt sich nicht eine Beziehung der Determiniertheit von Basis und Überbau, sondern vielmehr die einer Homologie – einer strukturellen Analogie, die es gestattet, von einer gewissen Wiederholung auf der Ebene der strukturellen Argumentation zu sprechen, welche aber in stark sich voneinander unterscheidenden Sphären realisiert wird.28 Andererseits ermöglicht eine solche Gegenüberstellung, im frühen Formalismus jene kritischen – ideologischen und philosophischen – Implikationen aufzudecken, welche man nicht aktualisieren kann, wenn man die Interpretation in den engen und im Grunde genommen rigiden Rahmen der „reinen“ Geschichte der Literaturwissenschaft hineinpresst. Die Geschichte selbst gibt uns ein schwerwiegendes Argument an die Hand, das eine solche Annäherung rechtfertigt. Ich beziehe mich hier auf die Person Bertolt Brechts, genauer gesagt, auf die von ihm erarbeitete Konzeption des „Verfremdungseffekts“, welcher die Notwendigkeit einer analytischen kritischen Distanz sowohl zur sozialen Realität als auch zum Material der Kunst selbst betont. Laut Brecht besteht der Verfremdungseffekt darin, dass man einen Gegenstand, den man ins Bewusstsein bringen möchte und auf den die Aufmerksamkeit gerichtet werden soll, aus seiner gewöhnlichen vor unseren Augen befindlichen Lage herausbringen und in etwas Besonderes, in die Augen stechendes Unerwartetes verwandeln muss. Das Selbstverständliche wird in gewisser Weise unverständlich werden, doch wird dies nur dazu gemacht, um dann verständlicher zu sein. Damit man etwas Bekanntes erkennt, muss es aus dem Bereich des Unbemerkten hervortreten.29

Es ist offensichtlich und folgt aus der Definition des „Verfremdungseffektes“, dass der Begriff der „Verfremdung“ sich auf die durch Sergej Tret’ja-

28

29

ten begrifflichen Denkens.“ – Sohn-Rethel, A.: Intellectual and Manual Labor. London 1978, 33. So werden im neomarxistischen genetischen Strukturalismus von Lucien Goldman die Beziehungen der Homologie durch den Fall bestimmt, wenn „dieselbe Struktur in zwei verschiedenen Bereichen zutage tritt.“ – Goldman, L.: Pour une sociologie du roman. Paris 1964, 40. „Эффект очуждения состоит в том, что вещь, которую нужно довести до сознания, на которую требуется обратить внимание, из привычной, известной, лежащей перед нашими глазами, превращается в особенную, бросающуюся в глаза, неожиданную. Само собой разумеющееся в известной степени становится непонятным, но это делается лишь для того, чтобы потом оно стало более понятным. Чтобы знакомое стало познанным, оно должно выйти за пределы незаметного.“ Brecht, B.: Kratkoe opisanie novoj techniki akterskoj igry, vyzyvajuščej tak nazyvaemyj „effekt otčuždenija“ (1949). In: Brecht. B.: Stat’i. Vyskazyvanija. T. 5/2, Teatr. Moskau 1965, 113 (aus dem Russischen übersetzt). Charakteristisch ist, dass Brecht genau wie Šklovskij den „Verfremdungseffekt“ nicht als spezifisches künstlerisches Verfahren betrachtet, sondern als eine „Alltagserscheinung“, welche man im täglichen Leben antrifft (ebd.). Die Aufgabe der Kunst besteht nur darin, diese Erscheinung zu intensivieren und ihr eine bestimmte soziale Tendenz zu geben.

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kov vermittelte Theorie der Verfremdung (ostranenie) Šklovskijs30 zurückführen lässt. Unabhängig davon, ob eine genetische Verbindung zwischen dem Brechtschen Begriff der Verfremdung (očuždenie) und dem von Hegel konstituierten und durch Marx übernommenen Begriff der Entfremdung (otčuždenie) existiert31 – die reflexive Bewegung Brechts erfolgte vollständig innerhalb der philosophischen Koordinaten, die durch den nicht orthodoxen Marxismus vorgegeben waren. In unserem Fall beweist das historische Sujet, in welchem die durch Brecht umgearbeitete und reinterpretierte Theorie Šklovskijs organisch und produktiv in den marxistischen Kontext integriert wird, zusätzlich die Richtigkeit der von uns offen gelegten sozial-kritischen Dimension des frühen Formalismus. Die von Šklovskij in seinen Arbeiten zwischen 1910 und 1920 formulierten theoretischen Prinzipien wurden nach etwas mehr als einem Jahrzehnt von Brecht während seiner Arbeit an der Theorie des „epischen Theaters“ genutzt – wie es scheint, eben dank des durch ihn intuitiv erfassten mächtigen kritischen Potentials, das seiner Anwendung auf Sphären harrte, die weit über die Grenzen der Kunst hinausgingen. Brecht verwirklichte jene Synthese von ästhetischer Theorie und Sozialkritik, die von Šklovskij nicht durchgeführt worden war, dessen wissenschaftliche und künstlerische Suche einerseits und soziale und politische Aktivität andererseits ständig miteinander verflochten waren, wobei sie von ihm niemals totalisiert und in einen gemeinsamen theoretischen Horizont überführt wurden, da dem erstens die deklarierte Behauptung der absoluten Autonomie der literarischen Reihe entgegenstand und zweitens der Umstand, dass Šklovskij nie nach einer klaren Reflexion im Zusammenhang mit seiner politischen Position strebte. Brecht aber wird von uns als eine besondere Mittlerfigur benutzt, die es gestattet, die latente Verbindung zwischen Šklovskij und dem Marxismus zu rekonstruieren: Das Konzept der „Verfremdung“ (očuždenie) wirft aus der Retrospektive ein verfremdetes Licht auf den Begriff der „Verfremdung“ (ostranenie) selbst und macht damit die Konturen der mit der „Entfremdung“ (otčuždenie) verbundenen marxistischen Problematik deutlicher. Auf jeden Fall ist die Feststellung Šklovskijs, dass „wir aufgehört haben, Künstler im Alltag zu sein“, eine Beobachtung, die in dem Maße, wie sie vom Anbruch einer Epoche der totalen Entfremdung zwischen dem Gegen30 31

Zemljanoj, S. N.: Ėtika Bertol’ta Brechta. In: Ėtičeskaja mysl’. 5 (2004), 12. Sergej Zemljanoj verneint irgendeinen Zusammenhang zwischen diesen Begriffen und führt sie auf das Konzept der Verfremdung zurück (ebd.). Vertreten wird jedoch auch die entgegengesetzte Position, die den Einfluss Šklovskijs nicht verneint – vgl. das unlängst erschienene Werk: Robinson, D.: Estrangement and the Somatics of Literature: Tolstoy, Shklovsky, Brecht. Baltimore 2008, vor allem Kapitel 2 (Ostranenie: Shklovsky’s Estrangement Theory, 79-164) und Kapitel 3 (Verfremdung: Brecht’s Estrangement Theory, 167-257).

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stand und seinem Produzenten (respektive seinem Konsumenten) und der Herrschaft der marktorientierten Massenkunst32 zeugt, der sozialen Diagnostik von Marx und seiner Konzeption vom Künstler als einem ProduzentenHandwerker, welcher sich von seinem eigenen Produkt nicht entfremdet, absolut immanent ist. Dieselbe Erscheinung, die Šklovskij mit dem Begriff der Automatisierung umschreibt und damit die Wiederholbarkeit der Bewegungen und Wahrnehmungen, die „Algebraisierung des Denkens“, das Fehlen einer lebendigen Verbindung zwischen Menschen und Gegenstand meint („wir ähneln einem Geiger, der weder Bogen noch Saiten fühlt“33) wird auch – wenngleich schon aus der Perspektive einer unmittelbaren Sozialkritik heraus – durch seinen Zeitgenossen Derdem Lukač fixiert: Der Arbeitsprozess wird immer mehr in abstrakte, rationale Teiloperationen zergliedert und im Resultat zerreißt die Verbindung des Arbeiters mit seinem Produkt als einheitlichem Ganzen und seine Arbeit wird zu einer sich mechanisch wiederholenden speziellen Funktion.34

32

33 34

Vgl.: „Breite Massen geben sich mit der marktorientierten Kunst zufrieden, diese marktorientierte Kunst aber bedeutet schon den Tod der Kunst. [...] Die Jahrhunderte der Blütezeit der Kunst wussten nicht, was Möbel vom Basar sind.“ – Šklovskij, V. B.: Voskrešenie slova, 40. Ebd. „Трудовой процесс во все большей мере разлагается на абстрактно рациональные частичные операции, а в результате разрывается связь рабочего с продуктом как единым целым, и его труд сводится к механически повторяющейся специальной функции.“ Lukač, D.: Oveščestvlenie i soznanie proletariata (1922). In: Lukač, D.: Istorija i klassovoe soznanie. Moskau 2003, 184. Es ist paradox, aber im Lande des sieghaften Proletariats fand diese marxistische Kritik der enthumanisierten Arbeit (genau wie die sich darin einschreibende Kritik Šklovskijs an der Automatisierung des alltäglichen Lebens des Menschen) einen wütenden Gegner. „Die Menschen, die gegen die Automatisierung auftreten, sind Sonderlinge, mit denen man über dieses Thema gerade in einem Moment sprechen muss, wenn sie mit offenem Mund unter die Räder einer Straßenbahn geraten“, schrieb einer der Gründer des Proletkultes, der Direktor des Zentralinstituts für Arbeit, Aleksej Kapitonovič Gastev (Gastev, A. K.: Vosstanie kul’tury. Char’kov 1923, 31). Als Gegengewicht zur behinderten Wahrnehmung, behinderten Form, behinderten Bewegung (vgl. die Arbeit Šklovskijs über den Zirkus: ders.: Iskusstvo cirka. In: Gamburgskij sčet, 106-107), die Šklovskij und der Formalismus insgesamt mit einer Absage an die alten ästhetischen und sozialen Normen verbanden, sah Gastev den Mechanismus des revolutionären Aufschwungs in der Technisierung und Automatisierung der gedanklichen und psychomotorischen Tätigkeit des Menschen. Für ihn verband sich das Streben der Avantgarde nach Innovation nicht mit der individuellen schöpferischen Geste, sondern mit dem Arbeitsrekord, der aufgestellt wird dank der Disziplin der Arbeiterbewegung unter den idealen Bedingungen einer hoch entwickelten Produktion: „Vom Menschen soll man keine Originalität, sondern ein Maximum an Automatisierung fordern“, schrieb Gastev und polemisierte damit implizit gegen die Theorie der Deautomatisierung Šklovskijs (Gastev, A. K.: Vosstanie kul’tury, 31).

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Der nicht reduzierbare Unterschied zwischen der Position Šklovskijs und der von Lukač lässt sich auf die Perspektive und das Ziel der Kritik zurückführen: Bei Šklovskij ist sie auf die Entfremdung zwischen Mensch und Gegenstand gerichtet und wird damit zu einem Effekt der durch die Alltäglichkeit und die alten Kunstformen automatisierten Wahrnehmung; bei Lukač geht es um die Entfremdung zwischen dem Arbeiter und dem von ihm erzeugten Produkt, welches ein Resultat der kapitalistischen Produktionsform ist. Im ersten Fall besteht das Ziel in der Befreiung des Bewusstseins von den verschwindenden Formen mittels einer initiierten Erneuerung der künstlerischen Formen, im zweiten Fall in einer Befreiung von den Formen eines falschen Bewusstseins, garantiert durch die theoretische Sozialkritik und vor allem durch die soziale Revolution. Während im zuletzt genannten Fall die automatisierte Fabrikarbeit zum Kritikpunkt wird, welche nur durch die Revolution und das Verschwinden des Privateigentums an Produktionsmitteln befreit werden kann, so avanciert im Falle Šklovskijs (und des frühen Formalismus im Ganzen) ein politökonomisches Modell zur Alternative, das den Menschen von der Automatisierung und Entfremdung befreit, und zwar die Arbeit des einsamen Handwerkers, der damit zu einem Prototyp des Künstlers wird. Eben diese Figur wird zur Allegorie einer unmittelbaren Beziehung des Schöpfers zu dem von ihm Geschaffenen, wo es weder eines Mediators in Form von Fremdkapital bedarf noch einer kompliziert organisierten Massenproduktion, weder der Marktgesetzte noch der Gesetze der technischen Reproduktion. Genau dieses Modell des einsamen Künstlers (der weder in eine Manufaktur noch in eine Fabrikproduktion eingebunden ist) determiniert das dem frühen Formalismus eigene Interesse an der primitiven Kunst, an der Folklore, an der Volkskunst, an den einsamen Meistern.35 Es ist genau dieses Modell, welches das Bestreben bestimmt, auf die Frage zu antworten, wie Gogol’s Mantel gemacht wurde (Ėjchenbaum) oder wie der Don Quichotte gemacht wurde (Šklovskij). Eben jene Besessenheit vom Handwerk als individueller Fähigkeit motiviert die Leidenschaft zur Beherrschung verschiedener Berufe, die für die Formalisten so charakteristisch war und die für Šklovskij zu einer der entscheidend prägenden wurde. In der Weise wie sich diese grundlegenden, wenn auch nicht immer ausgesprochenen Vorstellungen über die Kunst, über die Wissenschaft (und noch weiter gefasst:_ über die Biographie) als ein Handwerk präsentierten, wurden sie zu einer der theoretischen Barrieren, mit denen der Formalismus 35

Letzterem widmet Šklovskij eine ganze Serie an Skizzen, die von 1947 an in Zeitschriften erscheinen und später in Form eines Buches mit dem Titel O druz’jach starinnych in den Sammelband Ljudi i stanki (Moskau 1950) eingehen. Eine erweiterte Einzelausgabe des Buches siehe: Šklovskij, V. B.: O masterach starinnych. Moskau 1953.

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in jenem Moment konfrontiert wurde, als die Industrialisierung zu einer Hauptaufgabe des neuen Regimes wurde. Die Ausarbeitung der Idee der individuellen, nicht mechanisierten und nicht standardisierten (handwerklichen) Erfahrungen und Fähigkeiten und ihre Verbindung mit dem neuen industriellen Modell der Fabrik36 erwies sich als eine, wenn nicht die Hauptherausforderung, welcher sich der Formalismus nicht nur als einer Richtung der Literaturtheorie, sondern auch als einer aktuellen literaturkritischen Erscheinung, die ihre Positionen im kulturellen Raum der zweiten Hälfte der 1920er Jahre verteidigen musste, gegenübergestellt sah.

2. Der russische sozialistische Formalismus Der Industriearbeiter als Künstler Dieser Exkurs in die nicht expliziten Strategien der poetischen und politökonomischen Kritik des jungen Šklovskij erlaubt, in seiner poetischen Theorie und Praxis einige Perspektiven der folgenden konzeptionellen Mutationen aufzuzeigen, welche er während seiner Arbeit im LEF37 und vor allem im Jahre 1927 im wiedererstandenen Neuen LEF durchlief. Gerade diese Konstellation der kritischen Ideen des jungen Šklovskij (die in vielem das gemeinsame revolutionäre Pathos des jungen Formalismus determinierten) und der literaturpolitischen Ideen des späten LEF (welcher sich gleichzeitig auch auf diese Ideen stützte und sie als Reaktion auf die neue politische und kulturelle Realität überarbeitete) kann man als eine der in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre konkurrierenden Strategien des Übergangs von der „revolutionären Kultur“ zur „Sowjetkultur“ betrachten. Dabei wird diese konzeptionelle Transformation nicht einfach nur im Zusammenhang mit dem aktuellen politischen Kampf und dem Zusammenstoß von Gruppeninteressen im Ringen um die politische Macht betrachtet, sondern auch im Zusammenhang mit dem inneren Potential dieser oder jener theoretischen Programme, deren Tagesordnung durch die Logik der Revolution vorgegeben war, wobei die Kontrolle ihrer Standfestigkeit fast zeitgleich zusammenfiel mit der anbrechenden Epoche der Reaktion und des Bonapartismus. Und genau diesen – letzten – Versuch der Adaption der formalen Theorie an die neue sowjetische Geschichte (die in großem Maße mit dem Namen und dem Wirken Šklovskijs verbunden ist, jedoch ihre Widerspiegelung sowohl in der Ėjchen36

37

Die Fabrik als diejenige Institution, die den Künstler von einem schöpferisch aktiven Subjekt zu einem Objekt der mechanisierten Technologie machte. Über diesen Perspektivwechsel schreibt Šklovskij den Schlussteil seiner autobiographischen Trilogie Tret’ja fabrika (1926). LEF – Linke Front der Kunst (Levyj front iskusstv, 1922 – 1925); Novyj LEF – Neue linke Front der Kunst (1927 – 1929).

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baumschen Theorie des „literarischen Milieus“ als auch in Tynjanovs Theorie des „Zwischenraums“ (teorija promežutka) und in ihren schöpferischbiographischen Strategien findet), habe ich sozialistischen Formalismus genannt. Im Zusammenhang mit der Akzentsetzung des LEF auf die „Literatur“ des Fakts und auf die Bewegung der Arbeiterkorrespondenten, welche diese umsetzen sollten, und auch im Hinblick auf die Polemik, wie die „Literarische Lehre“ auszusehen habe, erweist sich die von Šklovskij unternommene Überarbeitung der Mechanismen, die das Prinzip der Verfremdung determinieren, als besonders aufschlussreich. In seinem Buch Wie man Drehbücher schreiben soll (Kak pisat’ scenarii, 1931) beschreibt Šklovskij das Hauptverfahren, nach dem der Film Friedrich Ėrmlers Trümmer des Kaiserreichs (Oblomok imperii, 1929) gestaltet wurde, wie folgt: Die große Verschiebung, die sich in unserem Land vollzogen hat, besser gesagt, die Veränderung der gesamten Ordnung (Hervorhebung des Verf. – I. K.) dieses Landes anhand eines (aufgewachten) Menschen zu zeigen, der sein Gedächtnis wiedererlangte und der die Revolution verpasst hat, ist höchst interessant.38

Die neue Sprache Šklovskijs – die Präzisierungen, die ergänzenden Bemerkungen, die Korrektur seiner eigenen Ideen – verweisen in seinem eigenen Fall auf den „Umschwung“, den ein Mensch durchläuft, der die stalinistische Kulturrevolution am eigenen Leibe miterlebt (wobei er kraft des historischen Temperaments nicht ausschließlich als ihr Objekt fungieren kann, sondern darum bemüht ist, eine aktive Position einzunehmen und dabei in sich die frühere ideelle Konstruktion mit einem neuen historischen Inhalt füllt, wenn dies auch durch eine innere konzeptionelle Widersprüchlichkeit, formales Paradox und ethische Frustration erkauft wird). Šklovskij verabschiedet sich von dem früher bei ihm zentralen Begriff „Verschiebung“ (sdvig), mit dem er vorher nicht nur die poetischen Gesetze der künstlerischen Sprache beschrieben hat, sondern auch die historische Bewegung und die Gestaltung einer Biographie39 und präzisiert diesen durch den aus dem 38

39

„Колоссальный сдвиг, произошедший в нашей стране, вернее – замену всего уклада (выделено мной – И. К.) этой страны, интересно показать на свежем человеке, – на человеке, который пропустил революцию.“ Šklovskij, V. B.: Kak pisat’ scenarii. Posobie dlja načinajuščich scenaristov s obrazcami scenariev raznogo tipa. Moskau/Leningrad 1931, 12. Ich erinnere daran, dass der Konflikt im Film vor allem durch die Verletzung des Haupthelden motiviert war, die dieser im I. Weltkrieg davongetragen hatte und durch die er das Gedächtnis verliert, das er erst im elften Jahr der Sowjetmacht, am Ende der NĖP (Neue Ökonomische Politik) zurückerhält. Gerade auf dem Mechanismus des Umschwungs, der jeder historischen Bewegung immanent ist, fußt Šklovskijs frühe metafiktionale und gleichzeitig autobiographische Prosa. Vgl.: Sentimental’noe putešestvie (1921 – 1923) und ZOO (1923).

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Bereich der marxistischen Soziologie und Politökonomie entlehnten Begriff der „Ordnung“ (uklad). Die „Verschiebung“ wird durch den „Wechsel der Ordnung“ realisiert: Der poetische Effekt wird in die Arbeit der politökonomischen Mechanismen eingeschrieben und schöpft eben daraus seine verfremdende historische Energie. In dieser Beschreibung von Ėrmlers Film, der als Beispiel einer Musteranalyse galt, der jungen angehenden Regisseuren als Lehrmaterial dienen sollte (was bedeutet, dass er ihnen eine Auswahl an maßgebenden Modellen zur Verfügung stellen sollte), sehen wir auch einen Übergang von der frühformalistischen Konzeption der Verfremdung, die einer Motivierung durch das Milieu nicht bedurfte (und dem Blickwinkel eines Künstlers gleichzusetzen war) zu einer Betonung der Notwendigkeit einer historischen, sozialen und psychologischen Motivierung eines verfremdeten Blickwinkels (etwa Kriegstrauma oder Gedächtnisverlust, die das „Verpassen der Revolution“ bedingen). Hier zeigt sich auch der Wechsel der Subjekt-ObjektPerspektive im Verhältnis von Künstler und Welt zueinander: Während der Künstler-Handwerker früher durch seine verfremdenden schöpferischen Anstrengungen eine historische Dimension in die ihn umgebende Welt einbrachte (damit neue „Dinge“ und neue Wahrnehmungen der „alten Dinge“ schaffend), so wird jetzt der verfremdende Impuls an die „Fabrik“ der Geschichte selbst angekoppelt, deren Arbeit das vorhandene „Menschenmaterial“ überwinden und verwandeln muss, indem es die Werktätigen zu Künstlern macht, zu bewussten Schöpfern des neuen Lebens. In der von uns umrissenen Perspektive des Übergangs vom Modell des „Künstlers als Handwerker“ zum „Industriearbeiter als Künstler“ kann man folgenden theoretischen Umschwung erkennen: Während in der frühformalistischen Version die Verfremdung nach dem Modell des Verhältnisses eines Handwerkers zu den ihn umgebenden Gegenständen und Tätigkeiten konstituiert wurde, so ergibt sich der Effekt der Verfremdung nun auch aus dem „makroökonomischen“ Modell des Wechsels der sozialen und ökonomischen „Ordnungen“. In dem Aufsatz „Der Arbeiterkorrespondent und der Belletrist“ (Rabkor i belletrist40) definiert Viktor Trenin die Methode des Belletristen als Verfahren der Ästhetisierung der Wahrnehmung eines abseits stehenden Menschen. Darauf beruht seiner Meinung nach auch die Methode der Verfremdung. Als Beispiel einer solchen Verfremdung verweist Trenin auf Gogol’s Schmied Vakula41 (Abende auf dem Weiler bei Dikan’ka/Večera na chutore bliz Dikan’ki), der in den Palast von Katharina II. gerät. Ein neuer Blick auf die Dinge („Literatur des Fakts“) soll diese Ästhetik der Verfremdung überwinden, die auf einer Unpassendheit, auf dem Hineingeraten in einen fremden 40 41

Trenin, V.: Rabkor i belletrist. In: Literatura fakta. Pervyj sbornik materialov rabotnikov LEFa (1929). Moskau 2000, 213-217. Der eben die durch uns explizit gemachte Figur des Handwerkers repräsentiert.

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Kontext, auf individuellen Beziehungen beruht. Viktor Trenin stützt sich auf Sergej Tret’jakov42, der zeigt, dass dieser Blickwinkel eines „sich nicht auf seinem Platz befindlichen Menschen“ im Grunde genommen der Blickwinkel eines Konsumenten ist. Zum Muster für die neue Literatur des Fakts der Arbeiterkorrespondenten soll die Produktionsskizze werden, in welcher der „produzierende Spezialist“ als Subjekt der Handlung firmiert. Sowohl zum Gegenstand der Beschreibung als auch zum beobachteten Subjekt soll nun der sich nicht im Palast Katharinas, sondern in einer „Produktionsatmosphäre“ (Trenin) aufhaltende Schmied Vakula werden. Mittel der Darstellung hat der auf die ihm bekannten Gegenstände gerichtete Blick zu sein. „Die normale Rezeption der bekannten Gegenstände“43 – so definiert Trenin die richtige Optik einer sozial bedeutsamen Literatur. In diesem Zusammenhang werden auch bestimmte Parameter von der „literarischen Lehre“ formuliert: Der Arbeiterkorrespondent sollte lernen, die Dinge nicht verfremdet und metaphorisch zu beschreiben, sondern aus dem Blickwinkel der Produktion heraus und dabei jeden Gegenstand im Prozess seiner Wirkungsweise, seiner Arbeiterdialektik betrachten.44

Darüber hinaus darf das Produktionsverhältnis gegenüber der Umgebung nicht mehr von der für einen Handwerker charakteristischen „Illusion“ einer individuellen Wahrnehmung der Dinge gekennzeichnet sein. Nur das Eingeschriebensein in ein Kollektiv, die Wahrnehmung des eigenen Selbst als Teil eines riesigen Produktionsprozesses eröffnet die Möglichkeit, die hinter dem Gegenstand-Produkt stehende „Arbeitsdialektik“ richtig zu beschreiben. Und während die unmittelbare Aufgabe der „Literatur des Fakts“ in der Verwandlung des Betriebes in ein schöpferisches Massensubjekt bestand (dessen „faktisches literarisches“ Schaffen in der unmittelbaren Produktionstätigkeit aufgehen würde), hieß der Idealhorizont eines solchen kollektiven Subjektes, in dem das Ganze die Summe seiner Teile überschreiten würde – Partei: Die Partei befindet sich die gesamte Zeit über in unmittelbarem Kontakt mit dem jeweiligen Fakt. Sie formuliert die entsprechenden Losungen und Direktiven. Diese Direktiven erfassen eine immer größere Fläche der politischen, gesellschaftlichen und daseinbezogenen Verhältnisse. Es würde bei einem einsamen Schriftsteller lächerlich wirken, wollte er über seine philosophische Hegemonie angesichts solch eines kollektiven Gehirns der Revolution sinnieren.45 42 43 44

45

Tret’jakov, S.: Skvoz’ neprotertye očki. In: LEF. 9 (1928). Trenin, V.: Rabkor i belletrist, 215. „Рабкор должен научиться описывать вещи не остраненно и не метафорически, а производственно, рассматривая каждую вещь в процессе ее действия, в ее рабочей диалектике.“ Ebd., 216. „Партия все время, в неустанном соприкосновении с текущим фактом, формулирует очередные лозунги и директивы. Эти директивы охватывают все большую

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Šklovskij antwortet in seinen Aufsätzen, die in den Sammelband Literatur des Fakts (Literatura fakta) aufgenommen wurden, implizit auf diese Kritik (die bei Trenin im Übrigen eines konkreten Adressaten entbehrt). Ohne die Herkunft und Autorschaft solcher Vorstellungen über die Natur der Kunst auch nur aufdecken zu wollen, schreibt Šklovskij, dass in der Literatur oftmals ein Verfahren angewendet wurde, das den Blickwinkel eines „naiven Menschen“, eines „Kindes“ oder eines „Ausländers“ reproduzierte, von Menschen also, die aus den sozialen und kulturellen Bindungen herausfielen und deshalb zum Gegenstand der Darstellung avancierten. Im Gegensatz zu einem solch ästhetisierten Typ der Verfremdung stellte Šklovskij sein neues Verständnis der Verfremdung vor, bei dem der innovative Blickwinkel auf einer maximalen professionellen Kenntnis der Angelegenheiten beruht, von denen die Rede ist. „Das Wichtigste für einen mit dem Schreiben beginnenden Schriftsteller ist die Herausarbeitung eines eigenen Verhältnisses den Dingen gegenüber.“ Oder noch konkreter ausgedrückt: „Um ein Poet zu sein, muss man die Verse in seinen Beruf hineintragen.“46 Während dem frühen Šklovskij zufolge der Effekt der Verfremdung aus der Imitation des Nicht-Kennens der beschriebenen Gegenstände erwächst, definiert er die Verfremdung Ende der 1920er Jahre als ein Resultat der Demonstration eines ausschließlich qualifizierten Verhältnisses den Dingen gegenüber.47 Die Literatur bleibt auch in Zukunft die Wirkungssphäre des Verfahrens der Verfremdung. Nun aber bedeutet Schreiben zu lehren auch die Notwendigkeit, einen eigenständigen, professionellen Blick auf die Dinge zu vermitteln. Die Objektivierung des inneren Blickes eines Arbeiters auf die Produktion, in die er eingebunden ist – darin besteht der Schlüssel zur Technik des literarischen Handwerkes. Auf den Widerspruch, wie er sich aus der Orientierung des LEF auf die „literarische Lehre“ und aus dem Kurs der „Literatur des Fakts“ auf das Absterben der Belletristik ergibt, wurde bereits hingewiesen. Die Bewegung der

46 47

поверхность политических и общественно-бытовых взаимоотношений. Одиночке-писателю смешно и думать о своей философской гегемонии рядом с этим коллективным мозгом революции.“ Tret’jakov, S.: Novyj Lev Tolstoj. In: Literatura fakta, 30-31. Šklovskij, V. B.: O pisatele i proizvodstve. In: Literatura fakta, 196. Aus unserer Perspektive heraus versteht sich die „ästhetisierte Verfremdung“ als die Imitation eines in ein ihm unbekanntes Gebiet geratenen Handwerkers, wenn er begreift, dass die ihn umgebenden Gegenstände „vollständig gemacht“ sind, das heißt, dass sie Produkte der Arbeit sind – allerdings einer fremden Arbeit. Wie sie gemacht wurden, versteht er nicht oder sieht er anders als jene, die sie hergestellt haben; mit anderen Worten, er nimmt diese Dinge als Konsument wahr. Eine solche Verfremdung kann man als Konsumtion der Sonderbarkeiten des Gegenstandes beschreiben. Diesen Platz jedoch soll nun eine auf der Produktion eines professionellen spezialisierten Verhältnisses den Gegenständen gegenüber beruhende Verfremdung einnehmen.

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Arbeiterkorrespondenten hätte eigentlich die Problematik der literarischen Lehre an sich aus der Welt schaffen sollen. Dieser Widerspruch aber wird nach Evgenij Dobrenko tatsächlich aufgehoben, wenn man sich von der Sphäre der Ideen in die Sphäre der Interessen begibt. Im Kampf um die literarische Macht brauchten die Mitglieder des LEF die Reputation von „Spezialisten“, welche die „jungen Nachwuchsschriftsteller“ unterrichteten. Dadurch erklärt sich auch ihre Beteiligung an der Kampagne um die „literarische Lehre“48. Doch scheint es, dass es nicht nur um die Nichtübereinstimmung von theoretischen Deklarationen und realer Kulturpolitik ging. Für Šklovskij existierte keine methodologische Schere zwischen der „literarischen Lehre“ und der Erziehung des „Arbeiterkorrespondenten“, auf jeden Fall waren beide Messer dieser Schere auf ein und derselben Grundlage montiert – und zwar auf dem Prinzip der Verfremdung, welches nur anders konzipiert wurde. „Die literarische Lehre“ galt für Šklovskij und die anderen Vertreter des LEF als Synonym für die Erhöhung der professionellen Qualifikation des in die „Schriftstellerei“ drängenden Arbeiters: „Wenn ihr Schriftsteller werden wollt, so müsst ihr ein Buch genauso aufmerksam betrachten wie der Uhrmacher die Uhren oder ein Fahrer sein Auto.“49 Schreiben zu lernen bedeutet für ihn zweierlei. Erstens, jene universellen Fähigkeiten, die jeder professionell Arbeitende benötigt, zu aktualisieren: gemeint ist damit ein rationales Verhältnis den Dingen gegenüber, Beobachtungsgabe, eine analytische Fähigkeit, Texte und Gegenstände zu „entwirren“, eine konstruktive Einstellung den Dingen gegenüber usw. Zweitens komme es darauf an, das Niveau der Qualifikation in seinem „zweiten Beruf“ entsprechend der ursprünglichen und grundlegenden arbeitsmäßigen Spezialisierung zu erhöhen. Die erste Bedingung ist mit der Beherrschung der Verfahren des Aufbaus der Gegenstände verbunden, wobei irrelevant ist, ob es sich um Poeme, Produktionsskizzen, Werkbänke oder Traktoren handelt. Die zweite Bedingung wird garantiert durch die Vollständigkeit des Materials, die gründliche Kenntnis des Themas, den Blick auf das aufgezeigte Problem von einem inneren, das heißt, professionellen (also einem entsprechend der neuen Interpretation „verfremdeten“) Standpunkt aus. Das Paradox in Šklovskijs Konzeption besteht nicht in einem Widerspruch zwischen den Ideen und den Interessen, sondern darin, dass der so genannte „zweite Beruf“ (der zweite im Hinblick auf die Schriftstellerei) im Grunde genommen so eigentlich der erste bleibt. Nur unter dieser Bedingung kann der in die Literatur drängende Arbeiter die potentielle Möglichkeit bekommen, ein Schriftsteller zu werden. Daher bedeutet das Erlernen des „literarischen Handwerks“ für Šklovskij vor allem das Erlernen einer ande48 49

Dobrenko, E.: Formovka sovetskogo pisatelja. Sankt Petersburg 1999, 383-384. Šklovskij, V. B.: Technika pisatel’skogo remesla. Moskau/Leningrad 1927, 7.

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ren arbeitsmäßigen Spezialisierung, die darüber hinaus lebenslange Fortbildung erfordert. Ehe man ein professioneller Schriftsteller werden kann, muss man andere Fähigkeiten und Kenntnisse erwerben und dann muss man versuchen, diese auf die literarische Arbeit zu übertragen.50

Es ist also zu Beginn erst einmal notwendig, sich diese anderen Fähigkeiten anzueignen, um sich daraufhin zu bemühen, sie in der literarischen Arbeit anzuwenden. Im Folgenden dann wird sich zeigen, was daraus wird. Dabei erfüllt dieser „zweite Beruf“ keine kompensatorische, sondern vielmehr eine konstituierende Funktion in Bezug auf die Schriftstellerei: Der Schriftsteller braucht diesen zweiten Beruf nicht, um nicht Hungers zu sterben, sondern um literarische Dinge schreiben zu können. Er darf diesen zweiten Beruf nicht vergessen, sondern muss damit arbeiten; er muss Schmied oder Arzt oder Astronom sein. Und diesen Beruf sollte man nicht wie Galoschen im Flur ablegen, wenn man in die Literatur kommt.51

Ein weiteres Paradox besteht in der Pragmatik der literarischen Richtlinien Šklovskijs an sich. Es scheint, als würden sie eine ständige Nachfrage nach einer solchen Art von Metaliteratur bedienen und einen Ruf nach neuen Kadern in der Literatur befriedigen. Wir brauchen neue Drehbuchautoren (Hervorhebung des Autors – I. K.). Dieser Nachwuchs muss sich aus Personen rekrutieren, die mit der Produktion verbunden und am Aufbau beteiligt sind.52

Ungeachtet dieses expliziten Aufrufs jedoch orientiert sich Šklovskij an einer Rückkehr zum ursprünglichen Beruf, dessen Beherrschung die einzige Garantie für die Ausübung der schriftstellerischen Tätigkeit ist. Obzwar seine literarischen Richtlinien eine grundlegende literaturwissenschaftliche und kinematographische Terminologie einführen, bestehen sie aus wenig ergiebigen Genre- bzw. Stildefinitionen der Literatur und erschöpfen sich in der ständigen Suggestion, man könne im Rahmen der eigentlichen arbeitsmäßigen Spezialisierung weiter an Professionalität gewinnen. Letztendlich gelangt Šklovskij zu Forderungen an den Nachwuchsschriftsteller, welche die 50 51

52

„Прежде чем стать профессионалом-писателем, нужно приобрести другие навыки и знания и потом суметь внести их в литературную работу.“ Ebd., 5. „Писатель должен иметь вторую профессию не для того, чтобы не умирать с голода, а для того, чтобы писать литературные вещи. И эту, вторую, профессию не должен забывать, а должен ею работать; он должен быть кузнецом или врачом, или астрономом. И эту профессию нельзя забывать в прихожей, как галоши, когда входишь в литературу.“ Šklovskij, V.: O pisatele i proivodstve, 195. „Нам нужны новые кадры сценаристов (выделено автором – И. К.). Эти кадры должны быть созданы из числа людей, которые связаны с производством и принимают участие в строительстве.“ Šklovskij, V.: Kak pisat’ scenarii, 6.

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Natur der schriftstellerischen Arbeit vollständig aus seiner „zweiten“ (das heißt, der unmittelbaren arbeitsmäßigen – I. K.) herleiten: aus dem Beruf. „Um zu schreiben – muss man außer der Literatur einen anderen Beruf haben“ (Hervorhebung des Autors – I. K.).53 Äußerlich unterwirft sich Šklovskij zwar der existierenden Konjunktur „literarischer Lehre“ für die neu in die Literatur „Berufenen“, doch in Wirklichkeit versucht er, diesem Aufruf zu widerstehen, indem er die schöpferische Energie der Massen in die unmittelbare Produktionstätigkeit zurückverweist. Um ein guter Schriftsteller zu werden, muss man vor allem ein guter Schmied oder Astronom sein; das bedeutet letztendlich, Šklovskijs Losung nach dem Muster von 1917 zu realisieren – zum „Künstler des alltäglichen Lebens“ zu werden, wobei dieses „alltägliche Leben“ nun die historisch bedingten Züge der alltäglichen Fabrikarbeit angenommen hat. Während die Literatur, folgt man Šklovskijs Muster der Jahre 1914 – 1917, dafür da ist, „das Gespür für das Leben zurückzugeben, die Gegenstände erlebbar zu machen“ (Kunst als Verfahren/Iskusstvo kak priem), wird die „Literatur des Fakts“ nun als Mittel zur „Verfremdung“ der alltäglichen Tätigkeit des Arbeiters gesehen, das heißt: als ein Instrument zur Intensivierung des schöpferischen Verhältnisses des Arbeiters seiner Tätigkeit gegenüber, als Instrument zur Erhöhung der Effektivität und Produktivität der Arbeit. Šklovskijs Texte fungierten gleichsam als Lehrbücher des „schriftstellerischen Handwerks“ oder als „Richtlinien für den beginnenden Drehbuchautor“ und dennoch wurden sie eher zu Hindernissen auf dem Wege der literarischen Professionalisierung des Nachwuchsschriftstellers aus der Arbeiterschaft, da sie seinen Blickwinkel auf ein gewohntes und damit automatisiertes, jegliches Schöpfertum entbehrendes Verhältnis zum Arbeitsplatz umkehrten. Genau dort, die Werkbank nicht verlassend, sollte der Nachwuchsschriftsteller zu einem echten Industriearbeiter werden, dessen Figur wiederum zum Mustermodell für den Schriftsteller selbst wurde. Die wahre Meinung Šklovskijs, seine wahre Position gegenüber der von der RAPP54 ausgerufenen und initiierten Massenwanderung in die Literatur offenbart sich in seinem Buch Die Spule. Über das Kinohandwerk. Ein nicht für Filmemacher gedachtes Buch (Motalka. O kino remesle. Knižka ne dlja kinematografistov). Wenn sie der Kinematographie helfen wollen, sollten sie nicht auf die Leinwand streben. […] Bleiben sie besser Zuschauer. Ein bewusster, fordernder Zuschauer.

53 54

Šklovskij, V.: O pisatele i proizvodstve, 194. RAPP – Russische Assoziation der proletarischen Schriftsteller (Rossijskaja associacija proletarskich pisatelej).

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Dieser wird vor allem in der Kinematographie gebraucht. Zuschauer, lass dich nicht von der Kinopsychose anstecken.55

Mit besonderer Beständigkeit betont Šklovskij: Bei der Arbeit sollte man daran denken, dass das Filmmaterial aus Zelluloid besteht und dass es brennbar ist. [...] Beim Umspulen muss man darauf achten, dass man sich die Hände nicht an den Rändern des Films ritzt. Die Wunden brauchen lange um zu heilen.56

Übersetzung: Björn Seidel-Dreffke

55

56

„Если хотите помочь кинематографии, то не стремитесь к экрану. […] Лучше всего останьтесь зрителем. Сознательным, требовательным зрителем. Он больше всего нужен кинематографии. Зритель, не поддавайся кинопсихозу.“ Šklovskij, V. B.: Motalka. O kino remesle. Knižka ne dlja kinematografistov. Moskau/Leningrad 1927, 12. „При работе нужно помнить, что кинематографическая лента – это целлюлоза и что она очень огнеопасна. [...] При перемотке нужно следить, чтобы не обрезать руки краями лент. Раны от ленты не заживают очень долго.“ Šklovskij, V.: Kak pisat’ scenarii, 31.

S ER G EJ Ž U R A V LE V

In der sowjetischen Schreibwerkstatt Gor’kijs Projekt Geschichte der Fabriken und Betriebe 1. Der Aufruf Maksim Gor’kijs und die Organisation der Arbeit Im September 1931 trat Maksim Gor’kij, der als proletarischer Schriftsteller eine überwältigende Autorität im Land besaß, in der zentralen Presse mit dem Aufruf hervor, eine Geschichte der Fabriken und Betriebe der UdSSR (Istorija fabrik i zavodov; IFZ) zu schreiben. Dabei sollte nicht nur eine Buchreihe zur Geschichte von Unternehmen gegründet werden, die im Geiste der späten 1920er und frühen 1930er Jahre stehen und besonders den Gegensatz zwischen der „dunklen Vergangenheit“ und den großartigen Errungenschaften des Sozialismus betonen würde. Die Arbeit an der IFZ sollte den Anfang einer grundsätzlichen Revision der Vorstellungen über die russische Geschichte insgesamt bezeichnen. Die Mitarbeiter von Gor’kijs Projekt standen vor der Aufgabe, eine „proletarische Geschichte“ zu schreiben, die als Gegengewicht zu früheren Konzeptionen gedacht war, bei denen die Vergangenheit des Landes vor allem von der Position der gestürzten Ausbeuterklassen interpretiert worden sei. In der IFZ sollte alles innovativ sein: die Form und der Inhalt der Bücher, ihre ideologische und erzieherische Position, der Charakter der vorbereitenden und kreativen Arbeit. Obgleich in den Briefen und Aufsätzen, die Gor’kij zwischen 1931 und 1935 diesem Thema widmete,1 auch viel Naives und Romantisches anzutreffen ist, verbinden sich in ihnen vernünftige Gedanken und originelle Ideen, die auf seiner Erfahrung und Intuition beruhen, auf eigenwillige Weise. Zum ersten Mal in der russischen Geschichtswissenschaft sollten nicht der Unternehmensbesitzer, der Werksdirektor oder die Maschine zum wichtigsten handelnden Subjekt der historischen Ereignisse werden, sondern das werktätige Kollektiv und der Arbeiter, der Revolutionär und Schöpfer mit seiner eigenen Sichtweise der Welt, seiner eigenen Stimme und seiner eigenen Beziehung zu Vergangenheit und Gegenwart. Heute würde man in der Wissenschaft einen solchen Ansatz als Vorläufer der Sozialgeschichte und als den Versuch bezeichnen, dem „einfachen werktätigen Menschen“ die 1

Die beste Arbeit ist bis heute der Sammelband: Zak, L. M./Zimina, S. S. (Hrsg.): A. M. Gor’kij i sozdanie istorii fabrik i zavodov. Sb. dok. i mat. Moskau 1959. Vgl. ferner Žuravlev, S. V.: Fenomen Istorii fabrik i zavodov: gor’kovskoe načinanie v kontekste ėpochi 1930-ch godov. Moskau 1997.

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Möglichkeit zu geben, mit seiner eigenen Stimme über sich und seine Zeit zu erzählen. Indes bestand das Problem darin, dass sich Gor’kijs neue Initiativen, wie bereits zehn Jahre zuvor, als er seine „Unzeitgemäßen Gedanken“ schrieb, in der sich schnell verändernden Situation der 1930er Jahre erneut als nicht völlig zeitgemäß erweisen. Die Rolle der Arbeiter als wichtigste Schöpfer der zeitgenössischen Geschichte sei Gor’kijs Ansicht zufolge von der Geschichtswissenschaft lange ignoriert und ihre Vergangenheit von wissenschaftlichen Arbeiten übergangen worden. Nach der Revolution würden sie die Möglichkeit erhalten, diese Ungerechtigkeit auszugleichen, und am einfachsten sei dies für sie durch eine Geschichte der Unternehmen zu verwirklichen. Da niemand seinen Betrieb so gut kenne wie die Arbeiter, müssten sie zu direkten Akteuren des Projektes werden. Veteranen und die Jugend sollten dokumentarisches Material sammeln, ihre Erinnerungen zur Verfügung stellen und die talentiertesten Arbeiter sollten direkt an der Abfassung der Texte beteiligt werden. Die Aufgabe der professionellen Literaten und Historiker sollte sich darauf beschränken, mit ihrem Wissen und ihrem Talent die Werktätigen dabei zu unterstützen, „anhand des Materials, das uns der Arbeiter gibt, seine ideologische Wehrhaftigkeit zu verbessern und zu verschärfen“.2 Gor’kij träumte davon, dass während der Ausarbeitung der IFZ eine neue Art der Literatur entstehen würde, die Wissenschaftlichkeit und dokumentarischen Charakter mit einem ausdruckstarken, massenkompatiblen und populären Stil verbinden könnte. Hierfür müssten die Anstrengungen der Arbeiter, Literaten und Historiker zusammengeführt werden. Zu Beginn der 1930er Jahre wurde die IFZ auch als ein für die Praxis in höchstem Sinne aktuelles Projekt betrachtet: indem sie den revolutionären Elan der Epoche, den Hass auf die Feinde und den Glauben an den baldigen Sieg des Sozialismus anheizte, sollte sie den Kampfgeist und den Enthusiasmus für die Arbeit unter der Bevölkerung erhöhen. Beides war unter den schwierigen Alltagsbedingungen der ersten Fünfjahrespläne besonders wichtig. Hierfür musste allerdings, wie Gor’kij schrieb, die Arbeit an der IFZ aus der Stille der Büros hinaus in eine kulturelle und erzieherische Massenbewegung übergehen. Es ist nicht verwunderlich, dass die Idee Gor’kijs zunächst auch von der Staatsführung unterstützt wurde. Am 10. Oktober 1931 erschien eine spezielle Anordnung des Politbüros der Partei über die Herausgabe einer „Geschichte der Betriebe“.3 Sie entwickelte sich in der Folge zu einer Direktive für Parteiorganisationen, Unternehmen Künstlerverbände etc. Währenddessen 2

3

„[…] на материале, который даст нам рабочий, усилить, заострить его идеологическое вооружение“. Zak, L. M. – Zimina, S. S. (Hrsg.): A. M. Gor’kij i sozdanie istorii fabrik i zavodov, 27. Pravda vom 11. 10. 1931.

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äußerten nicht nur die Kollektive berühmter Betriebe und Fabriken den Wunsch, ihre Geschichte zu fixieren. Auch Gruppen von Enthusiasten in kleinen Genossenschaftsbetrieben sowie in der Eisenbahn, Bergwerken, Unternehmen der Erdölindustrie, wissenschaftlichen Einrichtungen, Friseursalons, Mühlen, Sowchosen und sogar Lagern der OGPU4 und in Arbeitslagern für minderjährige Straffällige zeigten großes Interesse.5 Es entstand die reelle Gefahr, dass das durch den Aufruf Gor’kijs hervorgerufene gesellschaftliche Engagement, in welchem seine Idee einer massenhaften Einbeziehung der Arbeiter unmittelbar zum Ausdruck kam, außer Kontrolle geraten könnte. Dem Wunsch, eine solche Entwicklung zu verhindern war, bedingt nicht zuletzt durch die begrenzte Anzahl der an diesem Unternehmen beteiligten Literaten und Historiker, von Anfang an ein grundsätzliches Problem immanent: wie sollte man unter Beibehaltung von Massencharakter und gesellschaftlichem Engagement, worauf Gor’kij bestand, das Entstehen von „Anarchie“ verhindern und die Arbeit in geordnete organisatorische Bahnen lenken? Zugleich entstand vor Ort, in den Regionen und in der Hauptstadt ein System entsprechender Strukturen: von den Betriebs-, Gebiets- und Republiksredaktionen bis zur Hauptredaktion und dem Sekretariat der IFZ. Einige der Mitarbeiter arbeiteten gegen Bezahlung, andere auf genossenschaftlicher Basis. Dies hing teilweise von den finanziellen Möglichkeiten der Unternehmen ab, die einen großen Anteil der Kosten übernahmen. Obwohl das gesellschaftliche Engagement offiziell Begrüßung fand, wurde die allgemeine Leitung der Arbeit (und dementsprechend die Verantwortung für die politische Korrektheit) in die Hände der Betriebsparteikomitees gelegt, die daran interessiert waren, die „Eigenständigkeit der Arbeiter“ einzuschränken. Außerdem erhielten nur diejenigen Objekte eine finanzielle, organisatorische und methodische Unterstützung, die ihre Anträge, Berichte und Manuskripte an die Hauptredaktion schickten. Dort mussten sie nach einer entsprechenden Beurteilung in spezielle Listen von Objekten primärer oder sekundärer Priorität aufgenommen werden. Es überrascht nicht, dass der gesellschaftliche Enthusiasmus ohne organisatorische Unterstützung, bzw. wenn er von einem vorsichtigen Parteikomitee ausgebremst wurde, in vielen Fällen langsam einschlief. Je mehr Material gesammelt und je mehr Manuskripte verfasst wurden, desto wichtiger wurde es auch, die Autorenbeiträge einer sorgfältigen redaktionellen Überarbeitung zu unterziehen. Zu diesem Zweck wurden 1932 von der Hauptredaktion der IFZ in jedem der 26 Unternehmen, deren Geschichte in der ersten Etappe aufgearbeitet werden sollte, Zentrale Redaktionskom4 5

OGPU – Vereinigte staatliche politische Verwaltung (Ob’’edinennoe gosudarstvennoe političeskoe upravlenie). Archiv Gor’kogo pri IMLI (Gor’kij-Archiv beim Institut für Weltliteratur). KG-P 1-127.

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missionen (Central’nye redakcionnye komissii, CRK) geschaffen, in denen der verantwortliche Leiter und Spezialisten – Literaten, Historiker, Journalisten, Ökonomen – vertreten waren. Im Oktober 1932 wurde innerhalb der Hauptredaktion der IFZ eine besondere Politische Redaktion (Političeskaja redakcija) gebildet, deren Aufgabe die endgültige Kontrolle fertiger Manuskripte war, bevor diese in den Satz gegeben wurden.6 Anfang 1933 entstand schließlich im System des OGIZ7 der Verlag der IFZ (Izdatel’stvo IFZ).8 Derjenige, der das Unternehmen ganz wesentlich vorantrieb war Gor’kij. Es gelang ihm, eine Reihe von Literaten für die Mitarbeit zu gewinnen: Aleksej Tolstoj, Michail Zoščenko, Il’ja Il’f und Evgenij Petrov, Valentin Kataev, Fedor Gladkov, Boris Pil’njak, Viktor Šklovskij, Vsevolod Ivanov, Jurij Libedinskij und andere. Einige von ihnen schlossen sich den Autorenkollektiven aus eigener Initiative heraus oder auf die persönliche Bitte Gor’kijs hin an, andere wurden von Schriftstellerverbänden zu den Unternehmen geschickt. Im Unterschied zu den Mitarbeitern aus der Arbeiterschaft wurden mit den Literaten Honorarvereinbarungen getroffen. Gor’kij bestand darauf, dass in den leitenden Gremien der IFZ die wichtigsten Personen des Landes zu sitzen hätten. So tauchten in den Mitgliedslisten der Hauptredaktion L. M. Kaganovič, P. P. Postyšev, A. A. Andreev, N. I. Bucharin, L. Z. Mechlis, A. S. Enukidze, A. I. Steckij und andere auf. Dies gab dem Unternehmen zwar einerseits genügend Gewicht, gleichzeitig war aber die Auslastung durch ihre eigentliche politische Arbeit der Grund dafür, dass diese Redaktionsmitglieder streng genommen nur als bloßes „Stimmvieh“ fungierten. Dennoch konnte ohne ihre formale Zustimmung kein wichtiger Beschluss gefasst werden, was mit der Zeit zu einem sehr ernsthaften Problem werden sollte. Es ist leicht zu erkennen, dass Gor’kijs Projekt von Anfang an unter einer Reihe schwer auflösbarer zentraler Widersprüche litt. Einerseits betonte Gor’kij die Notwendigkeit einer wahrheitsgetreuen und historisch korrekten Beleuchtung der Vergangenheit, die unabdingbare Einbeziehung dokumentarischer Zeugnisse usw. Zugleich aber setzten die von den Historikern und Schriftstellern verwendeten Arbeitsverfahren die Möglichkeit fiktiver Elemente voraus, bis hin zur Einführung fiktiver Personen, Dialoge etc. Da sich die Arbeitsverfahren der Historiker und Schriftsteller voneinander stark unterschieden, erwies sich ihre gemeinsame Arbeit an den Manuskripten als problematisch. Auch die Illusionen hinsichtlich der Arbeiter und insbesonde6 7 8

Die politische Redaktion bestand aus einem Fünfergremium: A. M. Gor’kij, L. M. Kaganovič, P. P. Postyšev, A. S. Enukidze und A. S. Steckij. OGIZ – Vereinigung der staatlichen Buch- und Zeitschriftenverlage (Ob’’edinenie gosudarstvennych knižno-žurnal’nych izdatel’stv). Vgl. ausführlicher zum Verlag der IFZ: Žuravlev, S. V.: Fenomen Istorii fabrik i zavodov, 71-77.

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re der Veteranen unter ihnen zerstreuten sich: viele von ihnen besaßen ein für die Mitarbeit an der IFZ mangelhaftes Bildungsniveau. Die Beteiligten des Projektes rekrutierten sich vor Ort vor allem aus in den Unternehmen bereits bekannten Arbeiterkorrespondenten, Teilnehmern von Literaturzirkeln und Arbeiterschriftstellern. Als zentraler Widerspruch erwies sich jedoch der Gegensatz zwischen dem historischen Charakter des Unternehmens und seinen ideologischen Implikationen. Die Politisierung der Arbeit an der IFZ steigerte sich sukzessive, wozu unter anderem die Veröffentlichung von Stalins Brief an die Redaktion der Zeitschrift Proletarische Revolution (Proletarskaja revoljucija)9 Ende 1931 beitrug. In seinem Umfeld entwickelte sich eine Propagandakampagne, die auch die Strukturen der IFZ erfasste. Stalin schlug vor, den „historischen Objektivismus“, der für die von ihm kritisierten Historiker charakteristisch sei, durch den Klasseninhalt der Geschichte zu ersetzen. „Wer, außer hoffnungslosen Bürokraten, kann sich auf papierne Dokumente allein verlassen“10, schrieb er und setzte damit die Bedeutung beliebiger Dokumente als Informationsquellen über die Vergangenheit einem fundamentalen Zweifel aus, während er diejenigen, die solche Dokumente heranzogen, mit dem verächtlichen Ausdruck „Archivratten“ (archivnye krysy) 11 belegte. Das Erscheinen des Stalinbriefes sorgte für eine starke Verwirrung der Betriebskollektive, da die Richtlinien Gor’kijs und die gesamte Ausrichtung seines Projektes in der Anfangsphase im Widerspruch zu den Direktiven Stalins standen.

2. Die Schaffung einer dokumentarischen Grundlage Die Arbeit an der IFZ erzeugte ein öffentliches Interesse an den dokumentarischen Reichtümern der Archive, was dem verächtlichen Ausdruck der „Archivratten“ widersprach. In dieser Hinsicht ist der Brief an Gor’kij von N. F. Limanov, einem Arbeiter und „Aufsteiger“ (vydviženec) mit 22-jähriger Berufserfahrung, vom 15. September 1931 von großem Interesse.12 Von der Partei 1929 zur „Verstärkung des proletarischen Elementes“ in die Zentrale Archivverwaltung (Central’noe Archivnoe Upravlenie – CAU) abkommandiert, hatte Limanov zuvor natürlich nur eine sehr vage Vorstellung von Archiven besessen. Gor’kij teilte er mit:

9 10 11 12

Stalin, I. V.: Voprosy leninizma. Moskau 1952, 612-613. „Кто же, кроме безнадежных бюрократов, может полагаться на одни лишь бумажные документы.“ Ebd. Ebd. Archiv Gor’kogo. KG-rl 15-46-1.

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Ich wusste nur, dass alles Alte ins Archiv zu geben ist; die Organisation hatte sich das auch nicht vorgestellt, als sie mich zu dieser Arbeit geschickt haben; ein paar Genossen haben gesagt: Wo gehst du denn hin, Brüderchen, in den Keller, um mit den Ratten in alten Blättern zu wühlen.13

In diesem Zitat fällt die wörtliche Übereinstimmung der kleinbürgerlichen Einstellung rudimentär gebildeter Arbeiter mit dem später von Stalin gebrauchten Ausdruck ins Auge. Allerdings veränderte sich nach zweijähriger Arbeit in der CAU Limanovs Bewertung von Dokumenten und ihrer Bedeutung. „Ich bin überzeugt“, schrieb Limanov, dass ein großer Anteil der Arbeiter in der Sowjetunion nicht weiß, was ein Archiv ist, wofür es existiert und wie groß sein Wert für das Proletariat ist.14

Er begrüßte Gor’kijs Initiative zur Gründung der IFZ und nahm zu Recht an, dass eine breite Mitwirkung der Arbeiter dabei helfen würde, in der sowjetischen Bevölkerung „den archivarischen Analphabetismus zu liquidieren“ (likvidacija archivnoj negramotnosti) und „die Sorge um die historischen Quellen“ (zabota ob istoričeskich pervoistočikach) zu vertiefen.15 In der ersten Phase der Arbeit (ungefähr von Ende 1931 bis Anfang 1933) richtete sich das Hauptaugenmerk der Betriebsredaktionen vor allem auf das Sammeln von Material für die zukünftigen Bücher. Eine solche Tätigkeit entfaltete sich in mindestens einigen Hundert Unternehmen im ganzen Land. Besonders in diesem Kontext kann man für die Anfangsphase der IFZ von einem Massencharakter von Gor’kijs Projekt sprechen. Die Arbeiterveteranen brachten von zu Hause Fotografien, Briefe und andere persönliche Dokumente mit. In den Unternehmen begann das Sammeln von Autobiographien und Erinnerungen und auf der Baustelle der Moskauer Metro entschlossen sich die Arbeiter, Tagebücher zu führen.16 Nach Schichtende durchforsteten Aktivisten aus den Reihen der Arbeiter und Angestellten in ihrer freien Zeit die Archive der Unternehmen, suchten und studierten alte Zeitungen, durchkämmten die Bibliotheken auf der Suche nach Informationen. Als Mitarbeiter der Redaktion des Moskauer Unternehmens Roter Proletarier (Krasnyj Proletarij) das im Keller gelegene Archiv ihres Unternehmens betraten, erblickten sie ein typisches Bild: „Tausende ungeordneter 13

14 15 16

„Знал лишь одно, что все старое подлежит сдаче в архив; да и организация, когда посылала меня на эту работу, также не представляла себе это; отдельные товарищи говорили: Да куда ты, братец, идешь-то, в подвал копаться в старых бумагах с крысами.“Ebd. (Hervorhebung des Verf. – S. Ž.). „Я убежден, что большой процент рабочих Советского Союза не знают, что такое архив, для чего он существует и как велика его ценность для пролетариата.“ Ebd. Ebd. Vgl. ausführlich zur Tagebuchbewegung: Žuravlev, S. V.: Dnevniki moskovskich metrostroevcev 1930-ch gg. kak istoriko-kul’turnyj fenomen. In: Archeografičeskij ežegodnik za 1997 god. Moskau 1997, 166-171.

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Bündel auf den Regalen entlang der Wände und eine unpassierbare Masse von Büchern und herumfliegenden Papieren auf dem Boden, deren Stapel zum Teil mehr als mannshoch waren…“17 Zunächst war es notwendig, diese Dokumente zu ordnen und zu beschreiben, wofür sich finanzielle Mittel, Zeit und eine entsprechende Vorbereitung als notwendig erwiesen. Arbeiterbrigaden gingen auch in die Lesesäle staatlicher Archive, um selbständig oder mit Hilfe von Archivaren die Archivbestände zu untersuchen, die sich auf die Geschichte ihrer Unternehmen bezogen. Für die Mitarbeiter der Archive war ein solches Interesse in hohem Maße unerwartet. Zu den Aufgaben der Brigaden gehörten die Suche, das Sichvertrautmachen mit den Quellen sowie das Kopieren des wichtigsten und interessantesten Materials. Letzteres ging dann in den Verantwortungsbereich der Betriebsredaktion und stellte für die Autoren das dokumentarische „Rohmaterial“ der Betriebsgeschichte. Allerdings war es für die mit der Betriebsgeschichte wenig vertrauten Arbeiter schwierig, im Voraus zu bestimmen, welche Dokumente besonders wichtig waren, weshalb sie häufig alles mitnahmen, was sie bekommen konnten. Eine andere wichtige Ausrichtung der Betriebsredaktionen war das Sammeln von Memoiren, die für die Autoren später ebenfalls nützlich sein würden. Eigene handschriftlich aufgezeichnete Erinnerungen und Autobiographien von Arbeitern fanden aufgrund ihres sprachlichen und stilistischen Unvermögens kaum Verbreitung. Allerdings waren einige der „Alten“ hervorragende Erzähler. Sie erinnerten sich gut an ihre Jugend, Erlebnisse aus ihrem Leben und Einzelheiten aus dem Alltag der vergangenen Epoche und nahmen die Ereignisse der Betriebsgeschichte seit Ende des 19. Jahrhunderts durch das Prisma ihres eigenen Schicksals war. Die Redaktionen der IFZ suchten Veteranen (unter ihnen waren Rentner – Vydvyženci –, die den Betrieb für eine andere Arbeit verlassen hatten u.a.), stenographierten Einzelund Gruppengespräche mit ihnen und organisierten große Erinnerungsabende, zu denen auch junge Arbeiter eingeladen wurden. Hierzu wurden in der Regel Fragelisten erstellt, um den Eingeladenen eine „Orientierungshilfe“ zu geben, sich sowohl auf die wichtigsten Themen der Betriebsgeschichte zu konzentrieren als auch auf Themen, die in den Dokumenten nur unzureichend abgebildet wurden. Auf diese Weise plante beispielsweise die Redaktion des Moskauer Elektrobetriebs (Ėlektrozavod) die Befragung von 500 Menschen. Im Moskauer Betrieb Hammer und Sichel (Serp i molot) wurden mehr als 220 Veteranen der ersten russischen Revolution von 1905 gefunden, und im Betrieb Trechgorka 76 Kämpfer vom Dezember 1905 und 58 Teil17

„Tысячи беспорядочно лежащих связок на полках вдоль стен и непроходимые дебри книг и разлетевшихся бумаг на полу, горы которых в отдельных местах превышали человеческих рост ...“ Poljanskaj, G.: Iz opyta raboty v zavodskom archive. In: Istorija zavodov 4-5 (1933), 199.

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nehmer der Ereignisse vom Oktober 1917.18 Besonders interessant waren die „thematischen“ Erinnerungsabende, bei denen alte Arbeiter gegenseitig ihre Erzählungen ergänzten, korrigierten und über einzelne Ereignisse diskutierten. Die IFZ wurde zu einem der ersten bedeutenden Versuche einer Oral History in Russland und die erhalten gebliebenen Stenogramme der Erinnerungsabende haben bis heute nichts an ihrem Wert verloren. Im Zusammenhang mit der Sammlung einer dokumentarischen Basis für die IFZ erhielten die Arbeiter breiten Zugang zu sehr differenzierten Informationen über die Vergangenheit ihres Unternehmens. Dabei erwies es sich einfach als unmöglich, im Voraus zu wissen, was genau an „Verbotenem“ ein Veteran der Revolution, der schon längst in Rente war, auf einem Erinnerungsabend erzählen oder welche Dokumente die Arbeiter in den Archiven ihres Betriebes finden und lesen würden. Wie sich aus den erhaltenen Dokumenten erkennen lässt, blieb in der täglichen Arbeit der Betriebsredaktionen längst nicht jener hohe politische Ton erhalten, der auf den Parteiversammlungen und in den offiziellen Resolutionen zu Beginn der 1930er Jahre herrschte. Im Laufe der Arbeit an der IFZ wurden zu Hunderten Fälle festgehalten, bei denen „Feinde hervorkamen“, besonders viele solcher Begebenheiten fielen auf die Jahre 1931 bis 1932, als divergierende Standpunkte noch toleriert bzw. vertuscht wurden oder man auf sie einfach nicht die nötige Aufmerksamkeit verwendete. Viele der Veteranen, deren Erinnerungen während öffentlicher Auftritte in den Betrieben stenografiert wurden, waren früher Mitglieder anderer Parteien bzw. innerparteilicher Oppositionsbewegungen gewesen und verbargen ihre abweichende Meinung zu den Ereignissen der jüngsten Geschichte nicht. Das Aufflackern politischer Diskussionen in den Betrieben wurde zu einem allgemeinen Phänomen. 1932 kam es beispielsweise auf einem Erinnerungsabend im Leningrader Stalinbetrieb (Zavod imeni Stalina) „zu geplanten Versuchen, die Rolle der Sozialrevolutionäre in der revolutionären Geschichte des Betriebes an die erste Stelle zu setzen“19, wie es in einem der Berichte heißt. Im Laufe der Diskussion verkündete einer der Betriebsveteranen: „Wie wollt ihr die Rolle der Sozialrevolutionäre mit Schweigen übergehen, die für ihre revolutionäre Tätigkeit 20 Jahre in Gefängnissen gesessen haben?“20 Unter den Bedingungen des ideologischen Drucks begannen sich Mechanismen der Selbstzensur zu entwickeln. Ein typischer Vorfall ereignete sich im März 1932 im Leningrader Unternehmen Roter Putilovec (Krasnyj 18 19

20

Žuravlev, S. V.: Fenomen Istorii fabrik i zavodov, 92. „[…] имели место обдуманные попытки выпятить роль эсеров в революционном прошлом завода на первое место“. GARF. (Staatsarchiv der Russischen Föderation) F.7952. Op.1. D.39. L.94. „Как же вы хотите замолчать роль эсеров, которые за революционную деятельность по 20 лет сидели в тюрьмах?“ Ebd.

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Putilovec). Im Verlaufe eines Erinnerungsabends stellte der Arbeiter Vlasov dem Vertreter der Leningrader Gebietsredaktion der IFZ die Frage: „Kann ich alles sagen, so wie es war? Und wenn ich alles sage, wird mir dann nicht irgendeine Abweichung angehängt?“21 Ein Mitarbeiter derselben Redaktion, der über diesen Vorfall Bericht erstattete, kam zu dem Schluss, dass „einige Arbeiter verängstigt sind und nicht an den Erinnerungsabenden teilnehmen wollen“22 Offensichtlich führte die voranschreitende Politisierung zur Enttäuschung eines Teils der Aktivisten in der IFZ und ihrer Entfernung von Gor’kijs Projekt. In der Folge wurden diese „Versäumnisse“ der Anfangsphase der IFZ im Zusammenhang mit dem Fehlen totaler „Wachsamkeit“ gestellt und als „Intrigen von Feinden“ und „trotzkistische Schmuggelware“ interpretiert. Allerdings waren bereits viele „zweifelhafte“ Dokumente und Tatsachen über die Geschichte verschiedener Betriebe öffentlich bekannt geworden. Mit ihnen hatten sich die Aktivisten der IFZ vertraut gemacht, über sie hatten Hunderte von Arbeitern auf den Erinnerungsabenden gehört und waren auf den Seiten der Betriebszeitungen und an anderer Stelle veröffentlicht worden.

3. Die ersten Manuskripte und die Erfahrung mit kollektiver Redaktionsarbeit Das Sammeln von Dokumenten wurde lediglich als Vorbereitungsphase betrachtet, die der eigentlichen Arbeit, dem Verfassen der Manuskripte für die IFZ, vorausgehen sollte. Für die Unternehmen mit der höchsten Priorität stand diese Arbeit ungefähr seit Ende 1932, Anfang 1933 im Zentrum, allerdings ging das Abfassen der Texte nur mit großem Stocken voran. Aufgrund einer Reihe objektiver und subjektiver Ursachen wurden die Fristen zur Einreichung der Manuskripte mehrfach nicht eingehalten und auch der Mitarbeiterstab änderte sich häufig. „Der Aufbau […] der Geschichte der Betriebe geht langsamer voran, als er müsste“, schrieb Gor’kij 1935 im Vorwort zu dem Buch Erzählungen vom hohen Berg (Byli gory vysokoj). Die Gründe für die Schwierigkeiten sah er in der Komplexität der gestellten Aufgaben, in der „einzigartigen Verantwortung und den immer höheren Anforderungen an unsere Ausgaben. Deshalb werden die Manuskripte erneut überarbeitet …“23 Die politischen 21 22 23

„Могу ли я все говорить так, как оно было? И если я расскажу правду, то не приклеят ли мне уклон?” Ebd., D.39. L.43. „[…] некоторые рабочие напуганы и не хотят участвовать в вечерах воспоминаний.“ Ebd. „исключительной ответственности и все более высоких требованиях к нашим изданиям. Поэтому рукописи переделываются вновь …“. Zak, L. M./Zimina, S. S. (Hrsg.): A. M. Gor’kij i sozdanie istorii fabrik i zavodov, 243.

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Forderungen wuchsen in der Tat immer weiter an. Es ist nicht überraschend, dass die Mehrzahl der Texte gar nicht erst in den Satz kam und in endlosen Diskussionen, redaktionellen Verbesserungen und Zensurbeschränkungen stecken blieb. Aus den 30 in einem Werbeprospekt aufgeführten Büchern der Hauptreihe der IFZ wurden bis Anfang 1938 lediglich sechs Bücher veröffentlicht und außerdem sechs Titel, die nicht Teil der ursprüngliche Planung waren,24 was man wohl nur als vollkommenes Scheitern bezeichnen kann. Viele der Manuskripte sind in unterschiedlichen Stadien der Fertigstellung in den Archiven erhalten geblieben,25 andere sind verloren gegangen oder waren genauso wie ihre Autoren politischer Verfolgung ausgesetzt. In der Arbeit an der IFZ verbanden sich auf eigenartige Weise politische Probleme mit organisatorischen und künstlerischen Diskussionen. So wurde nicht nur in den Redaktionskollegien und auf Sitzungen der Autorenkollektive, sondern auch in den leitenden Gremien der IFZ immer wieder darüber diskutiert, welche Gestalt die Bücher zur Geschichte der Unternehmen haben sollten, ob in ihnen dem wissenschaftlichen oder dem literarischen Prinzip der Vorrang eingeräumt werden sollte und wer deshalb in diesem Unternehmen wichtiger sei, der Historiker oder der Schriftsteller. Je nach Stadium der Fertigstellung einzelner Kapitel musste der Autor sie sowohl bei der Betriebsredaktion als auch bei der zentralen Redaktionskommission und anderen leitenden Gremien vorstellen. Dort wurden sie diskutiert sowie Rezensionen und Empfehlungen erstellt, auf die eine weitere Ausarbeitung des Manuskripts folgte. Nahezu alle fertigen Texte wurden parallel an Gor’kij geschickt, der in der Rolle eines wohlmeinenden und bisweilen sehr anspruchsvollen Kritikers auftrat.26 Da an der Diskussion um die Manuskripte eine ganze Reihe unterschiedlicher Instanzen und Personen beteiligt waren, nahm die Begutachtung sehr viel Zeit in Anspruch. Häufig benötigten die Manuskripte eine grundlegende Umarbeitung oder erwiesen sich als dermaßen ungeeignet, dass die Arbeit neu begonnen werden musste – mit der Su24

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26

Außer den Ausgaben der Hauptreihe gab es noch eine Reihe von Sonderdrucken einzelner Kapitel oder Abschnitte, die als Broschüren oder Artikel in wissenschaftlichen und populären Zeitschriften, den Sammelbänden der „Geschichte der Betriebe“, in Betriebszeitungen usw. in den 30er Jahren versuchsweise veröffentlicht wurden. Der Hauptanteil der Manuskripte wird im Bestand der Hauptredaktion der „Geschichte der Fabriken und Betriebe“ aufbewahrt (GARF. F. 7952). Außerdem gibt es in Regionalarchiven Bestände der Gebiets- und Republiksredaktionen sowie in Archiven einzelner Literaten, wissenschaftlicher Organisationen und Schriftstellervereinigungen (unter anderem dem RGALI – Russisches Staatsarchiv für Literatur und Kunst – und im Archiv der Akademie der Wissenschaften). Da die Manuskripte unter anderem an Gor’kij geschickt wurden, wurden sie auch in seinem Archiv beim Institut für Weltliteratur (IMLI) aufbewahrt. Vgl. die Rezensionen Gor’kijs zu den Manuskripten für die IFZ: Zak, L. M./Zimina, S. S. (Hrsg.): A. M. Gor’kij i sozdanie istorii fabrik i zavodov, 197-250.

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che nach neuen Autoren. In einigen Fällen wechselten die wichtigsten Autoren zwei bis drei Mal und ließen jeweils unvollendete Manuskripte zurück. Kritische Rezensionen (die fast unvermeidlich sind, wenn ein professioneller Historiker ein von einem Literaten geschriebenes Manuskript begutachtet oder umgekehrt) wurden – wie auch die öffentliche Diskussion – von den Autoren empfindlich aufgenommen. Gleichzeitig zeigte sich ein Teil der Literaten nicht bereit zu einer sorgfältigen Arbeit mit den Dokumenten. „Einige Schriftsteller [...] empfinden für die Archive Antipathie, vor den Archiven besteht bei vielen eine versteckte Angst“27, hieß es in einem Bericht über die Arbeit des Sekretariats der IFZ aus dem Jahr 1935. Ein bezeichnendes Beispiel in dieser Hinsicht ist die Diskussion des Manuskripts Meister (Mastera) von G. Nikiforov zur Geschichte des Moskauer Betriebes Roter Proletarier, in deren Verlauf eine Reihe faktischer Fehler und eine unkritische Verwendung der Quellen aufgezeigt wurden. Der mit den kritischen Bemerkungen an seine Adresse unzufriedene Schriftsteller Nikiforov rechtfertigte sich: – Nikiforov: Fünf Monate habe ich in den Dokumenten gewühlt, die mir zur Verfügung stehen (d.h. die für ihn von der Betriebsredaktion zusammengestellt wurden, S. Ž.), und wenn ich jetzt noch die Dokumente überprüfen sollte, müsste ich im Revolutionsarchiv arbeiten. – Zuruf aus dem Publikum: Das kann nicht schaden… – Nikiforov: Ich weiß, aber jetzt noch ein halbes Jahr wühlen – vielen Dank. – Der Historiker P.Anatol’ev: Wir arbeiten so… – Nikiforov: Dann arbeiten Sie so, aber ich will das nicht. – Никифоров: Месяцев 5 я копался в материалах, которые у меня есть, а если бы еще документы проверять, мне пришлось бы в Архиве революции работать. – Реплика с места: Оно не вредно... – Никифоров: Я знаю, но - спасибо, еще полгода копаться. – Историк П. Анатольев: А мы так работаем... – Никифоров: И работайте, а я так не хочу.28

Teilweise nahmen sich vor Ort in professioneller Hinsicht äußerst unvorbereitete Personen – aktive Mitarbeiter der IFZ aus den Reihen der Arbeiter, Betriebsveterane, Arbeiterkorrespondenten, Parteiarbeiter und anderer – das Recht, über die Manuskripte zu urteilen. In diesem Zusammenhang müssen solch zweifellos einmalige Arbeitsverfahren wie die „kollektiven“ Diskussionen der Manuskripte für die IFZ differenziert betrachtet werden. Bereits 1932 begannen in einigen Unternehmen Moskaus und Leningrads kollektive Säuberungen und Diskussionen der wichtigsten bzw. umstrittensten Fragmente einzelner Autorenbeiträge zur Geschichte dieser Betriebe. Eine zentra27 28

„К архивам некоторые писатели [...] испытывают неприязнь, перед архивами у многих – затаенный испуг.“ Archiv A. M. Gor’kogo. KGizd 27-10-2. GARF. F.7952. Op.3. D.90. L.72., zitiert nach dem Stenogramm.

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le Funktion übernahmen dabei Zusammenkünfte der an der Materialsammlung beteiligten Kollektive und der älteren Arbeiter, welche die dort geschilderte Geschichte noch aus eigener Erinnerung kannten. Ihre Aufgabe war es zu bewerten, ob die Ereignisse richtig wiedergegeben waren oder ob die Manuskripte einer Überarbeitung und Ergänzung bedurften. Außerdem begannen einige Betriebsredaktionen mit der „versuchsweisen“ Publikation einzelner Texte und Kapitel in den Betriebszeitungen und forderten die Arbeiter auf, ihre Meinung abzugeben. Bei der Moskauer Autofabrik (Stalinwerke, Zavod imeni Stalina ZIS) ging man im Sommer 1933 noch weiter: die bis dahin geschriebenen vorläufigen Texte von vier Kapiteln der Geschichte der Autofabrik (Istorija Avtozavoda) wurden als eigene Broschüre mit einer Auflage von 400 bis 500 Exemplaren herausgegeben. Sie wurden unter den alten Arbeitern verteilt und an die Bibliothek übergeben. Über diese gingen mehr als 100 schriftliche Verbesserungswünsche ein und insgesamt sammelte die Redaktion bis Anfang 1935 ungefähr 400 Rezensionen29, nach deren Systematisierung und Studium die Autoren zur Umarbeitung der Manuskripte übergingen. Der Versuch der „massenweisen Redaktionsarbeit“ als Form der Einbeziehung der Arbeiter an der Erstellung einer Geschichte ihrer Unternehmen wurde von den leitenden Gremien der IFZ unterstützt. Ende 1933 entschied das Sekretariat der IFZ: Um die massenweise Redaktionsarbeit und umfassende Kontrolle der für die Veröffentlichung vorgesehenen Bücher zu gewährleisten, wird die Herausgabe von Sonderdrucken der charakteristischsten und wichtigsten Teile und Manuskripte als zielführend erachtet …30

Die Einbeziehung der Veteranen und des Betriebskollektivs wurde als Form der „Arbeiterkontrolle“ am Inhalt und der Arbeit der Autoren betrachtet.

29 30

Für eine Analyse dieser Rezensionen vgl.: Ioslovič V.: Massovoe redaktirovanie Istorii Avtozavoda im. Stalina. In: Istorija zavodov. 3-4 (1934), 191-199. „[…] для обеспечения массового редактирования и всесторонней проверки предполагающихся к изданию книг, считать целесообразным печатание наиболее характерных и важных отрывков и рукописей особыми оттисками …“ Archiv A. M. Gor’kogo. KG izd 25-50-1.

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4. Die Lehren aus der Arbeit an der Geschichte der Trechgornaja-Manufaktur Die ersten Manuskripte, die Gegenstand der Diskussion waren und teilweise bereits 1932 und 1933 unter dem Logo der IFZ zur Publikation gelangten, wurden tatsächlich noch vor dem Aufruf Gor’kijs erstellt und zwar im Rahmen der Tätigkeit wissenschaftlicher Organisationen (vor allem der Kommission für Monographien und der Sektion für die Geschichte des Proletariats der Kommunistischen Akademie) sowie im Rahmen der in den 1920er Jahren auch auf betrieblicher Ebene populären Kommissionen für die Geschichte der Oktoberrevolution und Partei (Komissija po istorii Oktjabrskoj revoljucii i RKP(b), Istpart), der Bewegung der Arbeiterschriftsteller, der Teilnehmer an Literaturkreisen etc. Die Frage, ob man diese Manuskripte im Rahmen der IFZ veröffentlichen sollte, löste lebhafte Diskussionen aus. Schließlich waren sie vor der Herausgabe der Richtlinien durch die Hauptredaktion geschrieben worden und widersprachen deshalb vielen Kriterien, auf denen Gor’kij bestand. Sie wurden beispielsweise nicht kollektiv verfasst, sondern von einzelnen Autoren nach ihrer jeweiligen individuellen Konzeption oder im Rahmen wissenschaftlicher Konzeptionen, also ohne eine entsprechende Angleichung an die Vorstellungen der Hauptredaktion der IFZ, ohne Heranziehung einer breiten proletarischen Öffentlichkeit, ohne die notwendige politische Kontrolle und ohne die spezielle Zielsetzung von Gor’kijs Projekt. Allerdings waren andererseits sowohl die Hauptredaktion als auch Gor’kij selbst sehr daran interessiert, das „Produkt“ möglichst bald konkret vorzustellen. Deshalb wurden die Betriebsredaktionen unter enormen Zeitdruck gesetzt. Es erwies sich allerdings als unmöglich, innerhalb von einem oder zwei Jahren ein gutes Buch zu schreiben. Deshalb wurde einer Reihe von Unternehmen eine höhere Priorität eingeräumt, zu denen es bereits Vorarbeiten und in einigen Fällen sogar fertige Manuskripte gab. Hierbei muss auch der Umstand berücksichtigt werden, dass die Leitung der IFZ bemüht war, diese Thematik zu monopolisieren, um so dafür zu sorgen, dass in Zukunft jede Tätigkeit im Bereich der Unternehmensgeschichte mit den Konzeptionen und Plänen von Gor’kijs Projekt abgestimmt werden und alle Manuskripte unter dem Logo der IFZ herausgegeben werden konnten.31 Die Monopolisierung der herausgegebenen Literatur zur Geschichte der Betriebe war unter den Bedingungen der Zentralisierung des Verlagswesens im OGIZ kein großes Problem. Die bereits fertigen Manuskripte mit den Richtlinien der IFZ in Übereinstimmung zu bringen, erwies sich jedoch als nicht einfach.

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Dies rief unter anderem bei den Istparty Protest hervor, die ihre eigenständige Arbeit in den Betrieben fortsetzen und die Bücher im Parteiverlag herausgeben wollten.

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Unter den Unternehmen, deren Geschichte in einer ersten Phase herausgegeben werden sollte, befanden sich zwei Moskauer Betriebe: die TrechgornajaManufaktur (Trechgornaja manufaktura) und Hammer und Sichel (Serp i molot). Historikerkollektive begannen mit dem Studium der Betriebsgeschichte bereits 1930 und setzten ihre Arbeit nach dem Aufruf Gor’kijs im Rahmen der IFZ fort. Die von den Autoren im trockenen Jargon der Historiker verfassten Manuskripte wurden von Gor’kij allerdings in Grund und Boden kritisiert für die „politische und literarische Stammelei der Autoren“ (političeskoe i literaturnoe kosnojazyčie avtorov).32 Was die mangelnde künstlerische Ausarbeitung angeht, so lässt sich hier schwer streiten: nur selten besaßen die Wissenschaftler das nötige schriftstellerische Talent, ihre Ideen klar und populär darzulegen. Wesentlich ernstere Folgen hatte Gor’kijs Kritik der politischen „Zahnlosigkeit“ (bezzubosti) der Historiker. Es muss angemerkt werden, dass die Vorwürfe eines „wissenschaftlichen Objektivismus“ (naučnom ob-ektivizme) sie von Anfang an bei der Arbeit an der IFZ begleiteten und es überrascht nicht, dass, im Vergleich mit ihnen, professionelle Literaten als zuverlässiger und „lenkbarer“ galten. Zu den wissenschaftlichen Werken, die trotz allem im Rahmen der IFZ herausgegeben wurden, zählt das Buch von S. M. Lapickaja Der Arbeiteralltag in der Trechgornaja-Manufaktur (Byt rabočych Trechgornoj manufaktury).33 Der Vergleich zwischen dem Lapickaja zur Verfügung stehenden Ausgangsmaterial, den ersten Varianten der einzelnen Kapitel und der Endfassung zeigt, wie gründlich die Texte im Hinblick auf die politische Realität der Epoche redigiert wurden. Aus den gleichen politischen Gründen blieb eine große Anzahl von Dokumenten, unter ihnen auch Erinnerungen, die in der Vorbereitungsphase gesammelt worden waren, unveröffentlicht und hat nur in Archiven überlebt. So erfahren wir beispielsweise aus dem Stenogramm eines Gespräches mit G. F. Romanov über die Unzufriedenheit unter den Arbeiten der Fabrik mit der Politik des „großen Umbruchs“ (velikij perelom) Ende der 1920er Jahre. Diese Politik Stalins widersprach ihrer Ansicht nach den Leninschen Positionen: Mit wem auch immer man über Lenin spricht, auch bei dem überzeugtesten Arbeiter, heißt es: „Ja, wenn Lenin noch leben würden, vielleicht wäre es anders, er würde es wie mit der Ankündigung der NĖP machen.“ So kann man die Arbeiter reden hören.34

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Zak, L. M./Zimina, S. S. (Hrsg.): A. M. Gor’kij i sozdanie istorii fabrik i zavodov, 214219. Lapickaja, S. M.: Byt rabočych Trechgornoj manufaktury. Moskau 1935. „Вообще о Ленине с кем ни поговоришь, с самым заядлым рабочим поговоришь: „Да, если бы Ленин был жив, может, было бы что другое, он сделал бы, как с объявлением НЭПа.“ Вот какой разговор можно слышать среди рабочих.“ GARF. F.7952. Op.3. D.90., zitiert nach dem Stenogramm.

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Genauso interessant ist das Zeugnis des Arbeiters I. I. Jurkov über die Trechgorka in den 20er Jahren: Zuerst war ich ein Anhänger Trockijs, da haben wir uns fast in Parteien zersplittert, jetzt glaube ich weder Trockij noch sonst jemanden.35

„Einmal“, so der Kaderarbeiter im Juli 1932, der 1928 aus der Partei ausgeschlossen worden war: ist die Krupskaja zu uns gekommen und ich bin aufgetreten und habe gesagt: ,Ich kann im Alltag keinen Kommunismus erkennen, oben dick und glatt und unten ist alles dürr.‘ […] Mir gefällt immer weniger, dass man alles auf die Bauern abwälzt, sie in die Kolchosen jagt, das ist Unsinn… Mir gefällt nur eins bei Stalin, dass man ab sieben in die Schule muss.36

Schrittweise wurde offensichtlich, dass Gor’kijs Hoffnungen, man könnte im Laufe der Arbeit an der IFZ eine prinzipiell neue Buchform entwickeln und die Zusammenarbeit professioneller Historiker und Literaten würde sich als fruchtbar erweisen, nicht realistisch waren. Die Praxis zeigte, dass ungeachtet aller Aufrufe und Überredungsversuche Gor’kijs der individuellen Arbeit der Vorzug gegeben wurde. Die vereinzelten Versuche eines kollektiven Schreibprozesses erwiesen sich als eindeutige Fehlschläge. Gor’kij und die ihm nahe stehenden Personen an der Spitze des Projekts setzten auf für die Leser verständliche und leicht zugängliche Arbeitsmethoden und literarische Formen. Von einigen Ausnahmen abgesehen beschränkte sich die Rolle der professionellen Historiker im Endeffekt auf methodische Hilfestellung, auf die Rezension der Texte sowie auf die Beratung der Betriebsredaktionen und Autorenkollektive. Abb. 1: M. Gor’kij bei einem Treffen mit Autoren der IFZ (Geschichte der Fabriken und Betriebe; Istorija fabrik i zavodov), 1934.

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„Сперва я к Троцкому принадлежал, тогда мы почти все на партии разбились, сейчас я ни Троцкому и никому не верю.“ Ebd. „Раз Крупская приехала к нам, выступил я, говорю: „Не нахожу я в жизни коммунизма, наверху толсто и гладко, а ниже – там тощее все“. […] Мне стало не нравиться, что на крестьян наваливают, в колхозы гонят – несуразно это... Мне одно нравится у Сталина: от 7 лет обязательно учиться.“ Ebd.

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5. Die Diskussion über die Manuskripte Nikolaj Pajalins Darüber, wie genau die Diskussionen über die Autorenmanuskripte abliefen und welche Faktoren dabei unter den Bedingungen der 1930er Jahre die Hauptrolle spielten, gibt das Beispiel des proletarischen Schriftstellers Nikolaj Petrovič Pajalin Auskunft.37 Dieser Arbeiterkorrespondent reagierte auf den Aufruf des Leningrader Istpart und begann eine Geschichte seines Unternehmens, der Nevskij-Maschinenbauwerke (Nevskij mašinostroitel’nyj zavod imeni Lenina) zu schreiben. 1931, zum Zeitpunkt von Gor’kijs Aufruf zur Gründung der IFZ, hatte Pajalin bereits eine atemberaubende Karriere zurückgelegt: er begann im Leningrader Istpart mit wissenschaftlicher Arbeit, trat in einen Briefwechsel mit Lenins Witwe N. K. Krupskaja (diese war in der Revolutionszeit mit dem Betrieb verbunden und sprach auf Bitten Pajalins über ihre Erinnerungen) und vollendete im Wesentlichen die Arbeit am Manuskript, das zunächst im Parteiverlag (Partizdat) veröffentlicht werden sollte, dann aber Teil des Verlagsprogramms der IFZ wurde. Am 27. März 1932 wurde das Manuskript von N. P. Pajalins Leninwerke (Zavod imeni Lenina) in den Satz gegeben. Die Druckfreigabe erfolgte allerdings erst am 29. Mai 1933. Im Laufe dieses Jahres kamen leidenschaftliche Diskussionen um das Manuskript auf, die ihre Ursache in der Originalität des Buches hatten, das nicht kollektiv, sondern individuell verfasst worden war. Bei der Diskussion dieser Frage auf der Sitzung der Leningrader Bezirksredaktion der IFZ am 4. Juni 1932 wurden bereits erste Stimmen laut, die auf den „bürgerlichen Individualismus“ anspielten, als der Historiker G. S. Zajdel’, Mitarbeiter der Leningrader Abteilung der Kommunistischen Akademie (Leningradskoe otdelenie Kommunističeskoj akademii, LOKA), den Mut fand, gegen die Verabsolutierung der Anweisungen der Hauptredaktion der IFZ hervorzutreten: „Solchen individuell schreibenden Mitarbeitern wie Pajalin muss man uneingeschränkte Unterstützung gewähren und darf ihnen nicht im Weg stehen.“38 Was die politische Etikettierung betrifft, so wurde sie in Verbindung mit der Kampagne, die sich nach der Veröffentlichung des schon erwähnten Stalinbriefes in der Zeitschrift Proletarische Revolution (Proletarskaja Revoljucija) entfaltete, noch gefährlicher. In der Resolution der Leningrader Bezirksredaktion der IFZ vom 27. Dezember 1931 wurde unter anderem folgendes Ziel festgesetzt:

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Vgl. ausführlicher zur Biographie und zum Schaffen von Nikolaj Pajalin: Žuravlev, S. V.: Put’ k tvorčestvu: štrichi k biografii rabočego i istorika Nikolaja Pajalina. In: Ežegodnik istoriko-antropologičeskich issledovanij za 2003 g. Moskau 2003, 263-279. „Таким индивидуальным работникам, как Паялин, надо оказывать всемерную поддержку, а не препятствовать.“ GARF. F.7952. Op.1. D.36. L.81 ob.; D.42. L7 ob.

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In der Arbeit an der Geschichte der Fabriken und Betriebe muss das Hauptaugenmerk auf die Entlarvung von Fälschern und Schmugglern aller Art, von Trotzkisten und rechtsopportunistischen Interpretationen der Geschichte der Partei und Arbeiterbewegung gerichtet werden, und zwar auf der Grundlage des Briefes von Genosse Stalin an die Redaktion der Zeitschrift Proletarische Revolution.39

Während die einfachen Werktätigen mit ihrer Arbeit, ihrem Alltagsleben, ihren Wünschen und Hoffnungen im Manuskript Pajalins im Mittelpunkt standen, wurde die revolutionäre Bewegung nach Meinung der Kritiker im allgemeinen Kontext „aufgelöst“. Aufgrund des schlechten Zustandes vieler Betriebsdokumente griff Pajalin oft auf Notizen zu seinen Gesprächen mit alten Arbeitern zurück, in denen diese mit eigenen Worten erzählten, woran sie sich erinnerten. Im Ergebnis erhielten nach Meinung der Rezensenten der Klassenkampf und die Geschichte der Parteiorganisation nicht die nötige Aufmerksamkeit. Während der Diskussion kamen Vorwürfe auf, Pajalin sei übertrieben deskriptiv, folge blind den Dokumenten und besitze einen syndikalistischen Ansatz. Ein Rezensent brachte dies offen auf den Punkt mit der Feststellung, im Manuskript Pajalins gehe „alles um Arbeiter und immer nur Arbeiter“ (vse rabočie da rabočie). Die proletarische Herkunft des talentierten Autors machte sein Manuskript jedoch einmalig und half ihm, sich gegen die politischen Vorwürfe zu wehren. Hinzu kam, dass seine Arbeit im Betriebskollektiv begeistert aufgenommen wurde. Im Juni 1932 entschied sich das Parteikomitee des Leningrader Leninbetriebes, einen kategorische Beschluss an Gor’kij weiterzuleiten: 1. Die gewaltige Arbeit, die der Arbeiterkorrespondent des Betriebes, Genosse Pajalin, beim Sammeln und Ordnen der Archivmaterialien und Erinnerungen von Arbeitern an die Betriebsgeschichte geleistet hat, wird anerkannt […]. 2. Das Manuskript von Genosse Pajalin wird als erster Band […] der Betriebsgeschichte […] anerkannt […]. 4. Die Veröffentlichung im Namen des Istparts und der Redaktionsmitglieder wird befürwortet. 5. Das Erscheinen wird für das 15-jährige Jubiläum der Oktoberrevolution geplant. Bis zu diesem Zeitpunkt müssen die Arbeiter des Betriebes das Buch in die Hand bekommen […].40

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„В работе по истории фабрик и заводов сосредоточить главное внимание на разоблачении всяких фальсификаторов и контрабандистов, троцкистов и правооппортунистических установок истории партии и рабочего движения на основе письма т. Сталина в редакцию журнала Пролетарская революция.“ GARF. F.7952. Op.1. D.34. L.29. „1. Отметить огромную работу, проведенную рабкором завода тов. Паялиным, по сбору и оформлению архивных материалов и воспоминаний рабочих по истории завода […]. 2. Считать приемлемой рукопись тов. Паялина в качестве 1-го тома […] истории завода […]. 4. Считать правильным издание книги от имени истпарта и членов редакции. 5. Срок выхода книги наметить к 15 годовщине Октября. К этому времени рабочие завода должны получить книгу на руки […].“ Zak, L. M./Zimina, S. S. (Hrsg.): A. M. Gor’kij i sozdanie istorii fabrik i zavodov, 100.

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Damit sprach sich die Parteiorganisation des Betriebes für eine baldige Herausgabe des Manuskriptes in unveränderter Form und gegen weitere Diskussionen und Überarbeitungen des Textes aus. Am 13. Juli 1932 ging beim Betriebsparteikomitee die von Gor’kij unterschriebene Antwort der Hauptredaktion der IFZ ein: Sehr geehrte Genossen! Das Sekretariat der Hauptredaktion ist der Ansicht, dass das Buch des Genossen Pajalin in der allgemeinen Reihe zur Geschichte der Betriebe herausgegeben werden sollte, die unter einheitlicher Leitung und in entsprechender Aufmachung erscheint. Wertvolle Arbeiten über verschiedene Verlage zu verstreuen wäre ganz und gar falsch […]. Deshalb wird es der beste Ausweg sein, wenn das Buch des Genossen Pajalin nach einer weiteren Überarbeitung in Leningrad in zwei Reihen gleichzeitig herausgegeben wird: in der Geschichte der Betriebe und im Parteiverlag als 1. Band der Geschichte des Leninbetriebes, dabei muss man sich von den letzten beiden Kapiteln seiner Arbeit, den kürzesten und schwächsten, trennen […]. Unter solchen Bedingungen wird das im Allgemeinen wertvolle Buch Pajalins in die Reihe der Geschichte der Betriebe aufgenommen und andererseits alles Notwendige unternommen, um es vor Fehlern und Lücken zu bewahren.41

Dieser Brief wirkte ernüchternd, da er eine neue Runde von Überarbeitungen und „Verbesserungen“ sanktionierte. Pajalin entschied sich, Krupskaja um Hilfe zu bitten. Am 19. Juli 1932 schrieb er ihr: Ich wollte Sie mehrmals über den Stand der Dinge zwischen mir und dem Verlag unterrichten, aber jedes mal waren die Angelegenheit so unbestimmt, dass ich irgendwie nicht die Kraft fand zu schreiben. Bis heute führen wir einen Briefwechsel, Verhandlungen usw. Gor’kij hat einen Brief geschrieben, in dem er mitteilt, dass das Buch in der allgemeinen Reihe Geschichte der Betriebe erscheinen soll, und dass man es für die Endfassung noch einmal lesen muss.42

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„Уважаемые товарищи! Секретариат Главной редакции считает, что книга т. Паялина должна быть издана в общей серии Истории заводов, выходящей под единым руководством и в соответствующем оформлении. Разбазаривать ценные работы в разных издательствах было бы совершенно неправильно […]. Таким образом, наилучшим выходом из положения будет, если книга т. Паялина, еще раз отредактированная, будет издана в Ленинграде под двумя марками – Истории заводов и Партиздата в качестве 1-го тома Истории завода им. Ленина, причем придется отказаться от последних глав его работы, наиболее слабых и кратких […]. При таких условиях ценная в общем книга т. Паялина, с одной стороны, войдет в серию истории заводов, а с другой, – будут приняты все необходимые меры, чтобы избавить ее от ошибок и пробелов.“ CGA SPb (Zentrales Staatliches Archiv Sankt Petersburgs). F.9672. Op.1. D.387. L.37. „Много раз я хотел уведомить Вас о состоянии моего дела с издательством, – писал он ей 19 июля 1932 г., – но каждый раз дела эти были так неопределенны, что и писать было как-то не под силу. Ведется и до сего дня переписка, переговоры, то да се. Горький написал письмо, в котором уведомляет, что книга должна идти в общей серии История заводов и что нужно для окончательного ее редактирования еще раз читать.“

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Pajalin verweist im Weiteren darauf, dass seine Arbeit bereits zehn Mal redigiert wurde und fährt dann ironisch fort: Es ist klar, dass aus meinem Buch ein Durcheinander verschiedener „Vorschläge“ der Redakteure wird.43

Schließlich beschwert er sich, dass eine neue Redaktion aus Leuten ernannt wurde, die sich in der Geschichte so gut auskennen wie ich, als ich mit dem Schreiben anfing, aber das Wichtigste ist, dass jeder seine Vorschläge, seine Veränderungen, seinen Geschmack, seinen Stil usw. einbringt. Sie glauben nicht, wie müde ich von dem Ganzen bin.44

Krupskaja sprach mit Gor’kij und teilte Pajalin am 9. August 1932 mit: Genosse Pajalin, gestern habe ich Gor’kij gesehen und mit ihm gesprochen. Bei dem Gespräch ist wenig herausgekommen. Gestern war er in andere Angelegenheiten vertieft. Er sagte mir, dass hier die Kommission und nicht er entscheide. Die Kommission habe einen genauen Arbeitsplan, eine genaue Reihenfolge und er habe es [das Manuskript Pajalins] nicht gelesen, diejenigen, die es gelesen hätten, seien der Ansicht, es müsse ergänzt werden … Auf meine Bitte, sich mit Ihnen zu treffen, antwortete er mir, das ginge vielleicht am 13. [August 1932, auf der Sitzung der Hauptredaktion der IFZ, S. Ž.].45

Krupskaja erinnerte sich daran, dass Pajalin in dieser Zeit in Moskau sein würde und riet ihm, am 13. mit Gor’kij zu reden, teilte ihm allerdings ihre Befürchtung mit, dass dies wohl nicht gelingen werde, da Gor’kij sehr beschäftigt sei. Am Ende des Briefes ermutigte Krupskaja Pajalin: Halten Sie noch ein bisschen aus, das ist das Los der Literaten. Ich drücke Ihnen fest die Hand.46

Zwischen dem 26. und 27. Januar 1933 fand in Leningrad eine Sitzung der Autorenkollektive der IFZ statt, an der auch die Moskauer Führung teilnahm. N. G. Popov, Historiker und Mitglied der Hauptredaktion der IFZ, hielt einen 43 44

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„Можно понять, что из моей книги выйдет хороший винегрет из различных „предложений“ редакторов.“ „[…] назначена новая редакция из людей, которые в истории так же сведущи, как и я, когда начинал писать свою историю, но главное, – что ни голова, то свои предложения, свои изменения, свой вкус, свой стиль и т.д. Вы не поверите, как я устал от всего этого.“ RGASPI (Russisches Staatsarchiv für sozio-politische Geschichte). F.12. Op.1. D.780. L.63. „Тов. Паялин, вчера видела А. М. Горького и поговорила с ним. Из разговора мало что вышло. Вчера он был поглощен другими делами. Он сказал, что тут решает не он, а комиссия. Что у комиссии существует определенный план работ, определенная очередность, что он не читал, а те, кто читал, говорят, что надо внести дополнения ... На мою просьбу повидаться с Вами он ответил, что может быть, 13-го можно будет.“ „Уж потерпите немного, Литераторское дело такое. Крепко жму руку.“ Ebd. L.103.

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programmatischen Vortrag Für die Anhebung des theoretischen Niveaus, für die bolschewistische Parteilichkeit in der Geschichte der Betriebe (Za povyšenie teoretičeskogo urovnja, za bol’ševistskuju partijnost’ v istorii zavodov). Das Stenogramm der Sitzung47 ist voller Ausdrücke wie „kriecherischer Empirismus“ (polzučij ėmpirizm), „sklavisches Ausrichten an den Dokumenten“ (rabskoe sledovanie dokumentam), „empirische Beschreiberei“ (ėmpiričeskoe opisatel’ctvo) usw. Die Gefahr des „kriecherischen Empirismus“, so dozierte der Redner, bestünde darin, dass er „zu leicht zu einem bourgeoisen Objektivismus werden kann“ (možet legko pererasti v buržuaznyj obektivizm). Das Manuskript Pajalins wurde besonders kritisiert, da sein Name überall bekannt war, man sich in Betrieben an ihm maß und andere Arbeiter sich ihn bei ihren Schreibversuchen zum Vorbild nahmen. Dabei weist das Manuskript Pajalins für Popov eine Reihe von „großen prinzipiellen Unzulänglichkeiten“ (krupnye principial’nye nedostatki) auf: das Fehlen eines marxistisch-leninistischen Ansatzes bei der Auswahl und der Interpretation der Dokumente sowie das „sklavische Ausrichten“ an den Dokumenten. Kritik löste auch der Umgang Pajalins mit den Arbeiten Lenins aus, die nicht als methodologische Axiome, sondern nur als „umfassende Quellen“ verwendet würden, sowie Pajalins eigenständige Position als Forscher. Dazu bemerkte Popov: Bei der Untersuchung von Fragen zur revolutionären Bewegung […] analysiert Genosse Pajalin diese nicht ausgehend vom Standpunkt des Kampfes zwischen Bolschewiken und Menschewiken und der Mobilisierung um die Losungen unserer Partei. In diesen Kapiteln stehen bei Genosse Pajalin die revolutionäre Bewegung wie auch die Partei für sich.48

Im Kapitel über die Oktoberrevolution im Nevskij Zavod erwies sich die „streikbrecherische, verräterische Position der Kapitulanten Kamenevs und Zinov’evs als nicht bis zum Ende aufgedeckt“ (ne do konca vskryta štrejkbrecherskaja kapituljantskaja predatel’skaja pozicija Kameneva i Zinov’eva). Dieser vernichtende Auftritt Popovs endete mit der prinzipiellen Schlussforderung, dass das Manuskript Pajalins ein Beispiel dafür sei, wie man die Geschichte eines Betriebes nicht schreiben dürfe. Die Gewitterwolken zogen sich über Pajalin und seinem Buch zusammen. Allerdings wurde der Vortrag im Januar 1933 und nicht im Januar 1938 gehalten und das Gewitter zog vorüber, weil sich der Ton von Popovs Auftritt einfach zu sehr von Gor’kijs Meinung über den Wert von Pajalins Arbeit unterschied. Wichtige Unterstützung fand das Buch auch durch das unerwar47 48

GARF. F.7952. Op.1. D.239. L.20-28. „При рассмотрении вопросов революционного движения... т. Паялин не дает их анализа с точки зрения борьбы большевиков и меньшевиков и мобилизации... вокруг лозунгов нашей партии. В этих главах у т. Паялина революционное движение само по себе, а наша партия сама по себе.“ Ebd.

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tet geschriebene Vorwort von Krupskaja. Diese teilte Pajalin im Februar 1932 mit: Ich habe das Vorwort zu Ihrer Betriebsgeschichte geschrieben; als ich abgelehnt habe, war das ein Moment, in dem ich drohte, mich in einen ,Vorwortschreiberling‘ zu verwandeln. Aber es ist natürlich eine Sache, Vorworte zu allen möglichen, im Vorbeigehen geschriebenen Broschüren zu verfassen, und eine andere, ein Vorwort zu einer Betriebsgeschichte zu schreiben.49

Im Vorwort bewertete Krupskaja das Manuskript Pajalins sehr positiv: Die Geschichte eines solches Betriebes kann nicht in Büroarbeit geschrieben werden. Sie kann nur von denen geschrieben werden, die in diesem Betrieb gearbeitet, seine Luft geatmet, sein Leben gelebt haben, die organisch mit seinem Kollektiv verbunden sind.50

Das Buch Die Leninwerke 1857 – 1917 (Zavod im. Lenina. 1857 – 1917 gg.) erschien mit der Widmung Mein Werk widme ich den Arbeitern des Nevskij Zavod im. Lenina (Свой труд посвящаю рабочим Невского завода им. Ленина) und dem Vorwort Krupskajas im Sommer 1933. Allerdings erschien es in einer für diese Zeit extrem kleinen Auflage von lediglich 6.000 Stück. Aus diesem Grund wegen seines hohen Preises (7,75 Rubel) war es für die meisten der Arbeiter, für die es bestimmt war, unerschwinglich, wie aus dem Bericht des Redaktionskollegiums an das Betriebsparteikomitee hervorgeht. Abb. 2: M. Gor’kij bei einem Treffen mit Arbeitern der Moskauer Autofabrik, 1928.

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„Написала я предисловие к Вашей истории завода, когда отказывалась, это был момент, когда мне грозила участь превратиться в предисловщика. Но, конечно, одно дело писать предисловия ко всяким на бегу написанным брошюркам, другое к истории завода.“ RGASPI. F.12. Op.1. D.780. L.102. „История такого завода не может быть написана в кабинетном порядке. Она может быть написана лишь теми, кто работал на данном заводе, дышал его воздухом, жил его жизнью, кто органически связан с коллективом завода.“ Zak, L. M./Zimina, S. S. (Hrsg.): A. M. Gor’kij i sozdanie istorii fabrik i zavodov, 101-105.

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Zur gleichen Zeit wurde Pajalin, der vorübergehend den Istpart der Leningrader Gebietsredaktion der IFZ leitete, eine Stelle im Autorenkollektiv übertragen, das an einer Geschichte der Putilovwerke arbeitete, mit denen der Anfang von Pajalins Arbeitsbiographie verbunden war. Zwischen 1932 und 1933 veröffentlichte die Zeitschrift Rote Chronik (Krasnaja Letopis’) von Pajalin geschriebene Kapitel zur Geschichte der Putilovwerke von 1914 bis 1917. Die scharfe Kritik auf den Sitzungen und die Schwierigkeiten bei der Veröffentlichung des ersten Buches waren nicht spurlos an Pajalin vorübergegangen: bei seiner neuen Arbeit versuchte er, den sich zu Beginn der 1930er Jahre herausgebildeten ideologischen Vorstellungen und den Anforderungen der Führung zu entsprechen. Dennoch vermied er auch hier offensichtliche Vereinfachungen, unter denen die Arbeiten vieler anderer Autoren bereits litten. Wie auch in der Geschichte des Nevskij zavod, bemühte sich Pajalin aus dem Rahmen einer bolschewistischen Parteigeschichte herauszutreten und die Betriebsgeschichte in einem breiteren Ereignishorizont anzusiedeln. Dies gelang vor allem mit Hilfe der aktiven Einbeziehung neuer Quellen (insbesondere von Archivdokumenten). Beispielsweise wurde im Kapitel zur Geschichte der Putilovwerke in den Jahren des Ersten Weltkriegs viel Raum der Darstellung der patriotischen Stimmung gewidmet, welche die Arbeiter erfasst hatte, ihre aktive Hilfe für die Front (die Tätigkeit des Putilovlazaretts, die Versorgung der Familien der Einberufenen, freiwillige Sammelaktionen für Geschenke an die Soldaten usw.). Auf dieser dokumentarischen Grundlage konnte Pajalin zeigen, dass in den Tagen der Februarrevolution von 1917 die Arbeiter der Putilovwerke solche Polizisten vor Racheakten schützten, die sich in der Vergangenheit als human im Umgang mit ihnen erwiesen hatten. Er führt auch Belege dafür an, dass die Idee der Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung unter den Arbeitern der Putilovwerke sehr beliebt war und zwar nicht nur vor dem Oktober 1917, sondern auch danach, als die Bolschewisten bereits die Macht ergriffen hatten. Dementsprechend erschienen die Arbeiter dieser „Bastion der Revolution“ in Pajalins Interpretation nicht so klassenbewusst und diszipliniert, wie viele sie gerne gesehen hätten. Neben anderen Dokumenten führt Pajalin auch den im Archiv der Betriebskommission gefundenen Aufruf von Arbeitern der Kanonengießerei an. In diesem heißt es, dass neben der Genugtuung über den erfolgreichen Abschluss des langjährigen Kampfes für den Achtstundentag, die Arbeiter „mit Schmerz im Herzen einige unzulässige Dinge bemerken: […] viele nehmen es sich heraus, Zeitung zu lesen, während sie an der Werkbank stehen“, kämen zu spät zur Arbeit und würden vor ihrer Beendigung

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nach Hause gehen.51 Das bedeutete, dass bei weitem nicht alle Arbeiter der Putilovwerke bereit waren, sich einer Arbeitsdisziplin unterzuordnen. Pajalin benutzte in großem Umfang Dokumente des Betriebskomitees der Putilovwerke aus dem ersten Monat nach der Oktoberrevolution, in denen sich eine Reihe negativer Momente widerspiegelte. Unter anderem führte das Anheizen der Klassenfeindschaft im November 1917 zu einer Reihe von Exzessen, die beinah tragisch geendet hätten. Es ging so weit, dass das Betriebskomitee sich genötigt sah, den Ton seiner Aufrufe an die Arbeiter radikal zu ändern. In einem von Pajalin angeführten Dokument, wird dieser Tenor deutlich: Zu unserem Bekümmern gibt es unter den Genossen Arbeitern einige Schlauköpfe, die die Klassenzugehörigkeit der Menschen nach ihrer Kleidung und ihrem Aussehen entscheiden – wer eine Melone und ein gestärktes Hemd trägt und dazu noch dick ist, ist ein Bourgeois. Diese Genossen wollen nicht verstehen, dass die Klassenzugehörigkeit durch die Besitzverhältnisse und vor allem durch die Weltanschauung, die Überzeugung des Menschen bestimmt wird. Man kann eine Schirmmütze und ein Arbeiterhemd tragen, dabei eine Taille von 30 cm haben und dennoch solche Überzeugungen und ein solches Herz haben, dass man nur aus heißer Luft besteht. Und umgekehrt, man kann ein gestärktes Hemd und eine Melone tragen und dabei dick wie ein Staudamm sein und trotzdem kristallklare Überzeugungen haben […]. Genossen, seid vorsichtiger bei der Bestimmung der Klassenzugehörigkeit der Menschen nach ihrem Äußeren, nach eurem Eindruck. Das führt zu traurigen Ergebnissen und nicht zu rechtfertigenden Exzessen.52

Die Publikation von Dokumenten dieser Art konnte nicht mit Begeisterung von denen aufgenommen werden, die sich streng an die Parteilinie halten mussten. Gerade deshalb wurden das Manuskript und die von Pajalin geschriebenen Kapitel häufig Veränderungen unterworfen. Im Resultat wurde das Buch zur Geschichte der Putilovwerke nicht veröffentlicht. Währenddessen begann Pajalin im Auftrag der Hauptredaktion der IFZ seit dem Sommer 1933 mit der Arbeit an einer Geschichte der Jaroslaver Fabrik Rotes Perekop (Krasnyj perekop). Wieder notierte er die Erinnerun51 52

„[…] со скорбью в душе замечают совершенно недопустимые вещи: […] многие позволяют себе читать газеты, стоя у станка“. Krasnaja Letopis’. 3 (1932), 174. „К прискорбию, среди товарищей рабочих встречаются такие умники, которые классовую принадлежность людей определяют по их костюму и внешности – носит котелок, крахмалу и толстый, значит – буржуй. Такие товарищи не хотят понять, что принадлежность к классу определяется имущественным положением, главным образом, мировоззрением, убеждением человека. Можно носить фуражку и блузу и быть в талии 30 см, но убеждения и душу иметь, что твоя дымогарная труба. И наоборот – носить крахмалу и котелок и быть толстым, как дамба, но убеждения иметь кристально чистые […]. Товарищи, будьте осторожней в определении классовой принадлежности людей по внешности, по впечатлению. Это ведет к весьма печальным последствиям, к эксцессам непоправимым.“ Krasnaja Letopis’. 2 (1933), 149-151.

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gen von Arbeitern, in diesem Fall Webern, wieder suchte er in Archiven und Bibliotheken nach Dokumenten. Dieses Mal vergingen während der Arbeit am Manuskript einige Jahre. Während dieser Zeit wurden einzelne Kapitel Pajalins auf Versammlungen alter Arbeiter gelesen und diskutiert. Im Archiv ist das Protokoll der Sitzung der Fabrikkommission aus dem Jahr 1935 erhalten geblieben, auf der über die Vorbereitung zur 30-Jahrfeier der Revolution von 1905 gesprochen wurde. Dort hieß es: Die Kommission […] stellt, nachdem sie sich mit dem Manuskript Pajalins vertraut gemacht hat, fest, dass der Autor der ihm anvertrauten verantwortungsvollen Aufgabe im Wesentlichen gerecht geworden ist.53

Positive Rezensionen erhielt Pajalin von Veteranen der Arbeiterbewegung in Jaroslav und auch von anderen Rezensenten. Der Mitarbeiter des Istpart F. N. Samojlov, der Historiker A. Gajsinovič, der Literaturkritiker V. Percov und der Literat A. Surkov betonten den „großen historischen Wert“ der Arbeit und den Reichtum des vom Autor herangezogenen Materials. In der Auffassung Gajsinovičs stellte das Werk im Vergleich mit der Geschichte des Nevskijwerk (Nevskij zavod) einen Schritt voran dar. Percov hob besonders die Kapitel über die Revolution von 1905 hervor, die seiner Meinung nach „von herausragender Bedeutung“ waren. Zugleich zeigen die schriftlichen Bemerkungen, dass Pajalin bis zum Schluss keine Lehren aus der scharfen Kritik der letzten Jahre zog: noch immer neigte er zu einer sorgfältigen Dokumentierung der Vergangenheit und zur Alltagsbeschreibung. Vor allem schenkte er den Fabrikbesitzern zuviel Aufmerksamkeit, wie Gajsonovič betonte, „bis zur detailgenauen Beschreibung der Grabplatte des Werkbesitzers“ (vplot’ do detal’nejšego opisanija chozjajskoj nadmogil’noj plity). Der Besuch des Friedhofs und die Inaugenscheinnahme des Grabes halfen Pajalin anscheinend dabei, sich besser in den Charakter des Menschen zu versetzen, über den er schrieb. Ein prinzipieller Streit entstand zwischen Pajalin und einem anderen Rezensenten: Percov war der Auffassung, es handele sich nicht um eine Betriebsgeschichte, sondern um eine Betriebsbiographie. Der Unterschied, so legte Percov tiefgründig dar, bestehe darin, dass nicht alle Fakten aus der Biographie des Unternehmens historisch sind und deshalb muss man über vieles nicht schreiben, was Teil der Biographie ist, man kann bestimmte Perioden weglassen, die man aus der Biographie nicht herausnehmen kann, die aber für die Geschichte unerheblich sind.54

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„Комиссия […] ознакомившись с рукописью Паялина, отмечает, что автор с возложенной на него столь ответственной задачей в основном справился.“ GARF. F.7952. Op.8. D.135. L.1-2, 21-23. „[…] не все факты из биографии предприятия являются историческими и, следовательно, не нужно писать об очень многом, что было в его биографии, можно

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Pajalin aber wehrte sich gegen eine „Präparierung“ der Betriebsgeschichte. Klar politisch konnotierte Vorwürfe, er sei nicht in der Lage, „die gesammelten Dokumente zu verallgemeinern und aus dem Rohmaterial eine methodisch geordnete und literarische Erzählung zu machen“ (obobščat’ sobrannye dokumenty, sozdat’ iz syr’ja strojnoe metodologičeski i literaturnoe povestvovanie), finden sich auch in der Rezension A. Surkovs. Interessant ist auch die Rezension von Pajalins Manuskript durch den bekannten Revolutionär, Schriftsteller und Parteifunktionär Emel’jan Jaroslavskij, der 1905 einer der Anführer des Streiks in der Jaroslaver Manufaktur war. Am 8. September 1935 teilte er mit: Ich bitte für die Verzögerung bei der Durchsicht des mir zugesandten Manuskripts […] von Genosse Pajalin um Verzeihung, ich musste einer Verpflichtung des CK hinsichtlich der Zusammenstellung eines kollektiven Lehrbuchs zur Geschichte der Partei nachkommen und konnte mich deshalb nicht der Durchsicht dieser […] Arbeit widmen. Die Arbeit ist interessant geschrieben, die Fakten sind gewissenhaft überprüft […]. Die Rolle der Partei wird gut dargestellt. Es scheint mir aber so, dass sie noch nicht ausreichend aufgezeigt wird. Es wäre sicherlich nicht übertrieben, 2-3 kleine Seiten speziell über die Rolle der Partei hinzuzufügen.55

In Übereinstimmung mit diesen Bemerkungen wurde am Manuskript weitergearbeitet. Das 1936 veröffentlichte Buch Pajalins mit dem Titel VolgaWeber (1. Band, 1722 – 1917) (Volžskie tkači; t.1, 1722 – 1917 gg), war dennoch reich an neuem Material zur zweihundertjährigen Geschichte der Fabrik. „Der Autor hat es nicht an dokumentarischem Beweismaterial fehlen lassen, und es an Stelle einer abstrakten Nacherzählung vorgezogen, mit der Sprache der Zeit zu reden“56, hieß es im Vorwort der Hauptredaktion der IFZ, das keinen Eingang in den endgültigen Text des Buches fand.

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опускать определенные периоды, которые из биографии выбросить нельзя, но для истории они не существенны.“ GARF. F.7952. Op.8. D.136. L.63. „Прошу извинения, что я задержал просмотр присланной мне рукописи […], написанной т. Паялиным: я обязан был выполнить поручение ЦК по составлению коллективного учебника История ВКП(б) и потому не мог заняться просмотром этой […] работы. Работа написана интересно, факты проверены добросовестно […]. Роль партии хорошо показана. Но мне кажется, что она еще недостаточно показана. 2-3 странички прибавить специально о роли партии нелишне будет.“ GARF. F.7952. Op.8. D.135. L.25. „Автор не скупился на документальную доказательность, предпочитая вместо отвлеченного пересказа говорить языком эпохи.“ Ebd. D.102. L.1а.

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6. Die Agonie der IFZ Seit Mitte der 1930er Jahre lässt sich unter den Bedingungen der geforderten Einstimmigkeit bei der Ausarbeitung einer stalinistischen Geschichtskonzeption ein Zurückgehen der Arbeiten an der IFZ beobachten. In dieser Zeit fällt auch die Festnahme einer Gruppe junger Historiker, Schüler von V. I. Nevskij. Unter den Repressierten befanden sich Mitglieder der Leitungsgremien der IFZ, Rezensenten sowie Autoren der IFZ: P. P. Paradizov, V. Z. Zel’cer, P. I. Anatol’ev u.a. Auf diese Weise kam Gor’kijs Projekt in den Ruf der Unzuverlässigkeit. Sofort nach dem Mord an Kirov begannen Säuberungen unter den Kadern der Leningrader Gebietsredaktion und in den Betriebsredaktionen der IFZ. Seit Mitte der 1930er Jahre versiegte auch die Arbeit in den Unternehmen: eine nach der anderen stellten die Betriebsredaktionen ihre Arbeit ein, die Erinnerungsabende wurden zu einer seltenen Veranstaltung. Die Arbeit geriet zur Bürotätigkeit kleiner Autorenkollektive. Im Unterschied zur ersten Arbeitsphase, in der eine dokumentarische Basis für die zukünftigen Bücher geschaffen wurde, stellte eine strenge Kontrolle der Autoren und eine Lenkung in die nötige Richtung kein großes Problem dar. Dennoch unterschieden sich die Texte von 1936–1937 im Hinblick auf ihre Angepasstheit und „Zuverlässigkeit“ wesentlich von den Materialien der frühen 1930er. Die Leitung der IFZ behauptete, weiterhin für die historische Richtigkeit zu kämpfen, in der Praxis aber wurde die Geschichte der Unternehmen einfach dem vorgegebenen allgemeinen Schema angepasst. Das, was dort nicht hineinpasste (Fakten, Namen, Dokumente), wurde in der Regel als untypisch und unwesentlich „ausgesiebt“. Das Projekt Gor’kijs verwandelte sich allmählich offen in ein politisches Unternehmen, das weder mit Wissenschaft noch mit Literatur etwas gemein hatte, sich aber unter dem Deckmantel schöpferischen und wissenschaftlichen Schaffens verbarg. Das Schema mit den wichtigsten Ereignissen, den positiven Helden und den „Schurken“ der Vergangenheit befand sich in den 1930er Jahren in ständiger Bewegung. Deshalb mussten die Mitarbeiter der IFZ, die Autoren, Redakteure und Rezensenten wahre Wunder vollbringen, wenn es darum ging, politische Stimmungen intuitiv zu erfassen. Das bloßes Erraten, wer genau von den gestrigen Helden zum Volksfeind erklärt und automatisch aus der Geschichte verbannt werden würde, erwies sich jedoch als unrealistisch. Teilweise war es unmöglich, die Namen nicht nur von ehemaligen Revolutionären, Betriebsleitern verschiedener Ebenen und Ingenieuren zu nennen, sondern auch die von aus verschiedenen Gründen verhafteten Arbeitern, welche in den Manuskripten vorkamen. Dies bedeutete automatisch die Streichung aller Episoden, die mit der Tätigkeit dieser Personen verbunden waren. Unter den Autoren und Redaktionsmitarbeitern begannen ebenfalls Verhaftungen. Die Repression eines Autors bedeutete zugleich auch die Unter-

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drückung des in der Vorbereitung begriffenen Buches. Die Atmosphäre der Verdächtigungen machte das schöpferische Arbeiten unmöglich. A. N. Tichonov, einer der Leiter im Sekretariat der IFZ, bemerkte am 26. April 1936 in einem Brief an Gor’kij: Sie wissen natürlich, in welchem Zustand jetzt unsere Historiker sind: die einen schweigen, die anderen zittern, und wem es besser geht, ist damit beschäftigt, um die Wette an Lehrbüchern zu schreiben.57

Zu den „Überlebensstrategien“ gehörte es, einen respektablen Grund zu finden, die Arbeit als Autor abzulehnen oder die Abgabe der Texte bewusst in die Länge zu ziehen. Wie unvermeidlich das Ende von Gor’kijs Projekt war, wurde nach dessen Tod 1936 offensichtlich. Anfang 1938 wurde die Arbeit an der Geschichte der Unternehmen offiziell eingestellt.

Übersetzung: Gunnar Lenz

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„Вы знаете, конечно, в каком состоянии находятся теперь наши историки: одни из них молчат, другие – трепещут, а кто получше – заняты, взапуски пишут учебники.“

H A N S G Ü N TH ER

Gegen Vieldeutigkeit und ideologische Konterbande Die Diskussion über die Sprache des Jahres 1934 Und er neigte sich zu meinem Mund Und riss meine sündige Zunge heraus (A. Puškin, Der Prophet) И он к устам моим приник, И вырвал грешный мой язык (А. Пушкин, Пророк)

1. Der Lehrmeister und die Stimme der Macht Maksim Gor’kij liebte schon immer die soziale wie auch die literarische Pädagogik. Im Jahr 1930 gab die Sowjetmacht ihm die Möglichkeit, dieser Neigung in Gestalt der Zeitschrift Literarische Lehre (Literaturnaja učeba) nachzugehen. Ungeachtet der Tatsache, dass es sich um eine Zeitschrift zur Förderung angehender Schriftsteller handelte, widmete sich Gor’kij auch der Belehrung fortgeschrittener Autoren. Es muss jedoch hinzugefügt werden, dass sich vor der Sowjetmacht letztlich alle Schriftsteller in Anfänger verwandelten, die es zu belehren galt. In seinem Artikel „Über Prosa“ („O proze“, 1933) spricht sich Gor’kij gegen die „erlesene Rhetorik von Wortmustern“ (izyskannoj vitievatosti slovesnogo risunka) und unsinnige, verunstaltete Wörter bei Andrej Belyj aus, der gezeigt habe, „wie geschickt er die russische Sprache verderben kann“ (kak lovko on možet portit’ russkij jazyk), aber auch gegen Provinzialismen und hässliche Wörter bei Fedor Panferov und verworrene „Wortkunststückchen“ (slovesnogo fokusničestva) Boris Pil’njaks.1 In der Sprachkonzeption Gor’kijs, die in der Folge einen offiziellen Status erlangen sollte, ist eine gewisse Zwiespältigkeit angelegt, insofern sie sich auf zwei Quellen stützt – auf die Sprache der Klassiker und auf die Sprache des Volkes:

1

Gor’kij, M.: Sobranie sočinenij v 30-i tomach. Bd. 24. Moskau 1949-55, 393-404.

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Hans Günther

Es ist angebracht darauf hinzuweisen, dass die Sprache vom Volk geschaffen wird. Die Einteilung in Schrift- und Volkssprache besagt nur soviel, dass wir sozusagen eine „rohe“ und eine durch die literarischen Meister bearbeitete Sprache haben.2

Die Literatursprache3 ist nach Gor’kij zwar aus der Umgangssprache hervorgegangen, unterscheidet sich jedoch deutlich von ihrer Quelle, weil sie bei der beschreibenden Darstellung aus dem sprachlichen Urelement alles Zufällige, launenhaft Unbeständige, phonetisch Entstellte hinauswirft, das aus verschiedenen Gründen nicht mit dem grundlegenden „Geist“, d.h. mit der Struktur der allgemeinen Volkssprache übereinstimmt.4

Die Umgangssprache (rečevoj jazyk) dürfe nur in dem Maß erhalten bleiben, als sie zur Charakterisierung einer literarischen Figur erforderlich sei. Gor’kij orientiert sich einerseits an dem Vorbild der klassischen russischen Literatur, träumt jedoch andererseits von einer Rückkehr der mündlichen Volkskultur. In seinem Artikel „Die Zerstörung der Persönlichkeit“ („Razrušenie ličnosti“, 1909) wie in seiner Rede auf dem ersten sowjetischen Schriftstellerkongress von 1934 unterscheidet Gor’kij drei Phasen der Entwicklung der Menschheit – den ursprünglichen Kollektivismus, die Epoche des bourgeoisen Individualismus und die Wiederherstellung des ursprünglichen Kollektivismus unter sozialistischen Vorzeichen.5 Man kann vermuten, dass er in der sowjetischen Gesellschaft die Möglichkeit der Realisierung einer Synthese von Volkstümlichkeit und Klassik sah. Im Jahr 1933 beispielsweise verleiht er seiner Begeisterung darüber Ausdruck, dass der sozialistische Aufbau – es geht hier um die Zwangsarbeit beim Bau des Weißmeerkanals! – in der Stimmung verlaufe, die „in der Morgenröte der Kultur den Menschen erlaubte, unvergängliche Poeme und Legenden zu schaffen“ (kotoroe na utrenneej zare kul’tury pozvoljalo ljudjam sozdavat’ neuvjadaemye poėmy, legendy).6

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„Уместно будет напомнить, что язык создается народом. Деление языка на литературный и народный значит только то, что мы имеем, так сказать, „сырой“ язык и обработанный мастерами.“ Gor’kij, M.: Sobranie sočinenij v 30-i tomach. Вd. 24, 491. Bei Gor’kij wie in der gesamten Diskussion wird praktisch nicht zwischen Literatursprаche im Sinn von Standardsprache (literaturnyj jazyk) und Sprache der Literatur (jazyk chudožestvennoj literatury) unterschieden. Die Debatte kreist im Wesentlichen um die Sprache der Literatur. „[...] потому что, изображая описательно, он откидывает из речевой стихии все случайное, капризное, фонетически икаженное, не совпадающее по различным причинам с основным духом, то есть строем общеплеменного языка.“ Gor’kij, M.: Sobranie sočinenij v 30-i tomach. Bd. 27, 213. Vgl. dazu Günther, H.: Der sozialistische Übermensch. Stuttgart/Weimar 1993, 130137. Gor’kij, M.: Sobranie sočinenij v 30-i tomach. Bd. 27, 42-43.

Gegen Vieldeutigkeit und ideologische Konterbande

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Hier tritt eine unaufhebbare Zweideutigkeit in Gor’kijs Verständnis der Volkssprache zutage. Einerseits ist die Rede von der tatsächlich vom Volk gesprochenen „niederen“ Sprache, zum anderen geht es um die „hohe“ Sprache der Folklore, die Sprache des Epos, des Märchens und des Volksliedes. Das Ideal der Folklore ist von der in Gor’kijs Augen entstellten realen Sprache, die das russische Volk nach der Revolution benutzte, von der Sprache der Straße und des Dorfes weit entfernt. In Gor’kijs Publizistik der 1930er Jahre wird dieses im Grunde rückwärtsgewandte Ideal einer Orientierung an der Folklore in den Vordergrund gestellt. Was aber heißt von den Klassikern und vom Volk lernen? Die weitere Entwicklung zeigt, dass die Unbestimmtheit dieser Forderungen einen breiten Spielraum für Manipulationen eröffnet. Auf dieser Grundlage konnten in den 1930er Jahren die Mythen der sowjetischen Folklore und Klassik geschaffen werden. Es entstand gleichzeitig ein Kult der Schrift,7 der sich auf die klassische Literatur berief, wie auch eine verstärkte Ausrichtung auf mündliche Kommunikation, die sich unter anderem im Aufblühen einer sowjetischen Pseudofolklore8 ausdrückte. Die Synthese von Klassik und Volkstümlichkeit avancierte zum obersten Ideal der Stalinschen Kultur. Die Rolle eines Lehrmeisters der Literatur hatte Gor’kij bereits in den 1920er Jahren übernommen. Aber Belehren ist eine Sache, die Fixierung von Normen eine andere. Vor dem Hintergrund der Formierung des Sozrealismus erhielten die Äußerungen Gor’kijs über die Sprache9 in den 1930er Jahren einen anderen Status. In einem Brief an Gladkov aus dem Jahr 1925, in dem Gor’kij den Stil des Romans Zement (Cement) kritisiert, bezeichnet der Autor seine Bemerkungen noch bescheiden als „unerbetene Ratschläge“ (neprošennye sovety)10. Nun verwandeln sich diese Ratschläge in Instruktionen, wie man schreiben soll. Wir haben es hier zweifellos mit einem von der Staatsmacht gestützten Kanonisierungsprozess zu tun. Im Unterschied zu dem im Formalismus beschriebenen literarischen Dominantenwechsel wird hier ein „starker“ Kanon durchgesetzt, dessen Funktionieren nicht primär 7 8

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Vgl. Murašov, Ju.: Pis’mo i ustnaja reč’ v diskursach o jazyke 1930-ch godov. In: Gjunter, Ch./Dobrenko, E. (Hrsg): Socrealističeskij kanon. Sankt Petersburg 2006, 599. Vgl. z.B. Weiss, D.: Mißbrauchte Folklore? Zur propagandistischen Einordnung des „sovetskij fol’klor“. In: Rathmeyer, R./Weitlaner, W. (Hrsg.): Slavische Linguistik 1998. München 1998, 283-321. Vgl. dazu Eismann, W.: Von der Volkskunst zur proletarischen Kunst. München 1986, 123-191. Zur sowjetischen Einschätzung vgl. Muratova, K. D.: Gor’kij v bor’be za jazyk kak orudie kul’tury. In: Voprosy sovetskoj kul’tury. T. 2. Pod red. A. S. Bušmina i K. D. Muratovoj. Moskau/Leningrad 1953, 7-64. Von der Stabilität des normativen Charakters der Ansichten Gor’kijs zeugt die Feststellung Muratovas, die Äußerungen des Autors über die Sprache stellten eine „Anleitung zum Handeln“ (rukovodstvo k dejstviju) dar, die ihre Wirkkraft nicht verloren habe (vgl. 64). Gor’kij, M.: Sobranie sočinenij v 30-i tomach. Bd. 29, 440.

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durch ästhetische Normen, sondern durch ideologische und staatliche Institutionen reguliert wird.11 Die Kanonbildung erfolgt unter Benutzung von bereits im vorkanonischen Stadium angesammeltem Material. Hinsichtlich der Entwicklung der russischen Literatursprache hat Michael Gorham darauf aufmerksam gemacht,12 dass die Forderung nach Überwindung des sprachlichen Chaos und Stabilisierung der sprachlichen Norm, die in der Diskussion von 1934 in den Vordergrund tritt, bereits in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre nachdrücklich von den Zeitschriften Die Muttersprache in der Schule (Rodnoj jazyk v škole) und Die russische Sprache in der sowjetischen Schule (Russkij jazyk v sovetskoj škole) vertreten wurde. Die Berücksichtigung allein des genetischen Aspekts gibt in Bezug auf die Rolle Gor’kijs in diesem Kanonisierungsprozess, dessen Dynamik sich gewissermaßen über den Kopf des Initiators hinweg vollzog, wenig Aufschluss. Beispielsweise hat man versucht, Gor’kij zu entlasten, indem man seine Angriffe gegen Panferov als Kritik der nach Vorherrschaft strebenden Partei-Schriftsteller zugunsten der parteilosen Autoren interpretierte.13 Auch wenn diese Motivation zutrifft, ist festzustellen, dass die Diskussion von 1934 im Endeffekt dazu führte, die Kontrolle der Partei über die Literatur noch weiter zu perfektionieren. Die Tatsache, dass Gor’kijs Ablehnung des „bäuerlichen“ Stils Panferovs in vielem berechtigt sein mag,14 darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Disziplinierung vor allem Autoren wie Babel’, Pil’njak, Zoščenko oder Tynjanov traf.15 Die Panferovs und Gladkovs dagegen konnten sich ohne größere Probleme anpassen und ihre „Jugendsünden“ korrigieren. Als im Februar – März 1934 der Streit zwischen Gor’kij und Panferov über die Regionalismen und hässlichen Wörter in dessen Roman Die Genossenschaft der Habenichtse (Bruski) ausbricht, nehmen an dieser Debatte nicht nur eine Reihe von weiteren Schriftstellern teil; vielmehr werden in die Auseinandersetzung, die auch in den Spalten der Literaturnaja gazeta und später in der Pravda ausgetragen wird, zunehmend ideologische Kriterien hineingetragen. Dies zeichnet sich bereits bei Gor’kij selber ab. Als der Schriftsteller Serafimovič zu einer Verteidigung der „gesunden bäuerlichen Kraft“ (zdorovoj mužič’ej sily) des Stils von Panferov ansetzt, entgegnet Gor’kij unter Berufung auf Lenin, dass ohne einen „schonungslosen Kampf 11 12 13 14 15

Vgl. Gjunter, Ch.: Žiznennye fazy socrealističeskogo kanona. In: Socrealističeskij kanon. Sankt Petersburg 2006, 281. Speaking in Soviet Tongues. Language Culture and the Politics of Voice in Revolutionary Russia. Dekalb, Ill. 2003, 111. Vgl. Flejšman, L.: Boris Pasternak v tridcatye gody. Jerusalem 1984, 159; Primočkina, N. N.: Pisatel’ i vlast’. Moskau 1998, 150. Vgl. Ostrovskaja, S.: Rukoj Gor’kogo. Moskau 1985, 134-174. Darauf weist Golubkov, M. M.: Utračennye al’ternativy. Formirovanie monističeskoj koncepcii sovetskoj literatury. 20–30-e gody. Moskau 1992, 57 hin.

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um die Reinigung der Literatur von Wortplunder“ (bespoščadnaja bor’ba za oščisčenie literatury ot slovesnogo chlama) keine „klare Ideologie“ (četkaja ideologija) möglich sei.16 Die Literaturnaja gazeta gibt Gor’kij als „unübertroffenem proletarischem Meister des künstlerischen Wortes“ (neprevzojdennyj proletarskij master chudožestvennogo slova) in der Auseinandersetzung von Anfang an Rückendeckung. Bekanntlich habe Lenin nachdrücklich zum Kampf gegen die Entstellung der russischen Sprache aufgerufen: Und das deshalb, weil der Kampf für die Reinheit der Sprache nicht nur stilistische, sondern auch politische Bedeutung hat. Willkürliche Wortverwendung, das Ignorieren der Syntax u.ä.m. verdunkeln das Denken des Schriftstellers, befördern das Einschmuggeln von Konterbande und allem möglichen Unsinn jeglicher Art, von fehlerhaften schädlichen Ansichten, bedingen eine Zügellosigkeit des Denkens.17

War bis dahin im Wesentlichen nur die Inhaltsseite der Literatur – Themen, Motive und Handlung literarischer Texte – der Zensur unterworfen, so bedeutet die Durchsetzung der „Leninschen Linie in der Sprache“, dass nun auch die spontane Anarchie (stichijnost’) der Ausdrucksebene durch die Kontrolle der Macht gezähmt werden soll. Im Mittelpunkt der Sprachdebatte18 stand zunächst vor allem der „Naturalismus“ der Dialektismen und Vulgarismen im Werk Panferovs. Im Lauf der Auseinandersetzung weitet sich das Spektrum der kritisierten Erscheinungen jedoch erheblich aus. In seinem Artikel „Über die Gewandtheit“ („O bojkosti“) bezieht Gor’kij auch die „sinnlosen Wörter“ (bessmyslennye slova) und das „Wortchaos“ (slovesnyj chaos) von Autoren wie Velimir Chlebnikov oder Andrej Belyj ein.19 Als Beispiel oberflächlichen Neuerertums wird die Optimistische Tragödie (Optimističeskaja tragedija) Vsevolod Višnevskijs erwähnt. Damit ist neben der „naturalistischen“ nun auch die „formalistische“ Abweichung von der Norm zur Zielscheibe der Kritik geworden.

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Gor’kij, M.: Sobranie sočinenij v 30-i tomach. Bd. 27, 147-148. „И это потому, что борьба за чистоту языка имеет не только стилистическое, но и политическое значение. Произвольное словоупотребление, игнорирование синтаксиса и т. п. затемняют мысль писателя, способствуют контрабандному протаскиванию всякого вздора, неправильных вредных положений, обусловливают разнузданность мышления.“ Literaturnaja gazeta. 12. 2. 1934, 1. Vgl. die Bibliographie von Macuev, N.: Jazyk i stil’. In: Literaturnaja učeba. 5 (1939), 93-98. Gor’kij, M.: Sobranie sočinenij v 30-i tomach. Bd. 27, 164-170.

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2. Die Stimmen der Opponenten Einen Eindruck davon, wie schnell die Diskussion über die Sprache in eine Kampagne überging, vermittelt der redaktionelle Artikel der Literaturnaja gazeta „Mit einer gewissen Verspätung“ (S nekotorym opozdaniem)20, in dem die Zeitschrift Das literarische Leningrad (Literaturnyj Leningrad) beschuldigt wird, keine ausreichend prinzipielle Position in der laufenden Auseinandersetzung zu beziehen. In der Tat finden sich in der Zeitschrift eine Reihe von Äußerungen, die nicht mit der Linie der Literaturnaja gazeta in Einklang stehen. So tritt die Schriftstellerin Ol’ga Forš mit ihrer positiven Einschätzung des Schaffens von Andrej Belyj in eine direkte Polemik mit Gor’kij ein: Möglicherweise werden die neuen schwierigen Erfahrungen nicht auf der ganzen Linie erfolgreich sein, aber in diesem Fall sollte man ihnen gerechterweise die Bezeichnung Laboratoriumserfahrungen zugestehen und sie nicht in den Abfallkorb für unsinnige Schmierereien werfen. [...] Möglicherweise kann der missglückte, aber ernsthafte Versuch eines großen Künstlers zum „schöpferischen Stimulans“ für jemanden aus der nachfolgenden Generation werden. Und möglicherweise kann die eine oder andere Bewahrung der Reinheit und Einfachheit der Sprache in eine ungewollte Kastrierung der unbegrenzten Möglichkeiten dieser Sprache umschlagen.21

Für das Recht des Künstlers auf Laboratoriumsarbeit tritt auch Mariėtta Šaginjan ein. Unter den Möglichkeiten des experimentellen Umgangs mit der Sprache hebt sie besonders die Belebung von erstarrten Bedeutungen der Wörter durch Einbeziehung des neuen Sprachmaterials hervor, das durch Veränderungen in der gesellschaftlichen Psyche nach der Revolution entstanden ist. Sie verweist auf Michail Zoščenko, der eine ausschließliche Orientierung an der Klassik des 19. Jahrhunderts strikt ablehnt und feststellt, dass das Eindringen der lebendigen Umgangssprache in die Sprache der Literatur ein notwendiger Vorgang ist. Diesen Gedanken führt Šaginjan in ihren Ausführungen fort: Der doppelte Prozess, der Zerfall der regionalen Sprache und ihre Einebnung zugunsten der allgemeinen Literatursprache einerseits und die Sättigung der allgemeinen Literatursprache durch den großen Reichtum der Regionalismen andererseits ist schon jetzt ein realer historischer Vorgang in der Entwicklung der russischen Spra20 21

Literaturnaja gazeta. 26. 3. 1934. Herv. im Original. „Возможно, что новые сложные опыты не будут на всем протяжении удачны, но в таком случае им справедливо присвоить наименование лабораторных, но не помещать же их в сорный ящик малосмысленного бумагомарания. [...] Возможно, что неудачный, но серьезный опыт большого и несомненного художника станет „творческим возбудителем“ для кого-нибудь из юной смены. И возможно, что иная охрана чистоты языка может обернуться невольным кастрированием безграничности возможностей этого же языка.“ O kaprize i novatorstve. In: Literaturnyj Leningrad. 8. 4. 1934, 3.

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che. In welchem Maß dieser Prozess real ist, dafür gibt es schon Beweise. Wir besitzen eine ganze Reihe großer Kunstwerke, die nicht nur auf der Grundlage dieses Prozesses entstanden, sondern auch nur durch sein Vorhandensein erklärbar sind. Nehmen Sie Babel’. Versuchen Sie, Babel’ die Sprache wegzunehmen, die aus der Pathetik der rein regionalen melodischen Sprache erwachsen ist, und was bleibt von seinem Thema? Nehmen sie Vsevolod Ivanov und versuchen Sie, aus seinen ersten (und besten) Büchern dieses regionale -at (die Verbendung in der dritten Person Einzahl statt -aet) zu beseitigen, und was bleibt von der Gestalt seines Partisanen, die in die Literatur eingegangen ist? Die Sättigung der allgemeinen Literatursprache durch den lexikalischen und syntaktischen Reichtum der regionalen Sprache ist ein vollendetes Faktum.22

Die „Sprache der Revolution“ steht in den Diskussionsbeiträgen von Fedor Panferov, an dessen „bäuerlichem Stil“ sich die Debatte entzündet hatte, im Vordergrund. Er ist der Ansicht, dass die russische Gegenwartssprache, in der sich die Sprache des Volkes, der Führer der Revolution und der Kultur mischen, sich im Lauf ihrer Entwicklung von allen Schlacken reinigen werde. Von diesem Standpunkt kritisiert er diejenigen, die sklavisch der klassischen Vergangenheit ergeben sind: Es ist am allerleichtesten, auf die Tribüne zu gehen und Tolstoj, Gogol’, Dostoevskij und Lermontov – alle Klassiker zu loben. Manchen erscheint der Lobredner als ein sehr gebildeter Mensch. Aber in Wirklichkeit zeigt sich darin die Furcht, eine im Voraus markierte Grenze zu überschreiten und Unkenntnis unserer Wirklichkeit.23

Von besonderem Interesse ist der Diskussionsbeitrag des Linguisten Lev Jakubinskij, der vor einem heraufziehenden Purismus warnt. Diese Warnung

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„Двойной процесс – расщепление местного языка и выравнивание его под общелитературный язык, с одной стороны, и насыщение общелитературного языка богатейшими местными средствами, с другой – этот двойной процесс и является сейчас реальным историческим событием в развитии русского языка. В какой мере этот процесс реален, мы уже имеем доказательства. У нас есть целый ряд крупных художественных вещей, не только возникших на основе этого процесса, но и объяснимых лишь при его наличии. Возьмите Бабеля. Попробуйте отнять у Бабеля его язык, выросший на патетике чисто местечковой напевной речи, и что останется от его темы? Возьмите Всеволода Иванова и попробуйте вытравить из его первых (и лучших) книг этот местный -ат (окончание глагола третьего лица единственного числа -ат вместо -ает) – и что останется от образа его партизана, вошедшего в литературу? Насыщение общелитературного языка местным словесным и синтаксическим богатством – свершившийся факт.“ Literaturnaja gazeta. 18. 4. 1934, 2. „Самое легкое дело выйти на трибуну и начать расхваливать Толстого, Гоголя, Достоевского, Лермонтова – всех классиков. Иным такой восхвалитель кажется очень культурным человеком. Но на самом деле в этом сказывается боязнь перешагнуть заранее намеченную грань, незнание нашей действительности.“ Pervyj vsesojuznyj s’’ezd sovetskich pisatelej 1934. Stenografičeskij otčet. Moskau 1934 (Reprint Moskau 1990), 274.

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wird allerdings in äsopischer Sprache formuliert, wobei die Beispiele dem russischen Mittelalter entlehnt sind: Vor mir erstehen die Bilder der Puristen der Vergangenheit. Da ist der Metropolit Kiprijan, der das kirchliche Ritual abschrieb; mit Furcht und Leidenschaft beschwört er die Enkel, die Reinheit des heiligen Textes zu bewahren – „nicht ein einziges Wort oder einen einzigen Punkt oder die Notenhäkchen, die unter den Zeilen sind oder irgendeine Silbe hinzuzufügen oder wegzunehmen, damit ihr nicht aus Unachtsamkeit in Sünde fallet“. Und da ist auch Zinovij von Otten’ mit seiner bekannten – und für das Mittelalter klassischen – Formel – „es dünkt mich auch dies eine Erfindung des Bösen, wenn man die Buchwörter angleicht an die allgemeinen Volkswörter und von ihnen ableitet; angemessener dünkt es mich, von den Buchwörtern her die allgemeinen Volkswörter zu verbessern und nicht die Buchwörter durch die aus dem Volk zu entehren“. Und die Buchwörter des Mittelalters, das ist die Sprache der ökonomisch und politisch herrschenden Organisation des Mittelalters, der Kirche; das ist die heilige und unantastbare Sprache, die der Masse der Bevölkerung fremd und unverständlich ist (Latein im Westen, Kirchenslavisch-Altbulgarisch bei uns).24

Die Furcht, in Häresie zu verfallen, trifft genau auf die gegenwärtige Situation zu, in der das falsche Wort mit der fehlerhaften ideologischen Position identifiziert wird. Und die Rede von einer der Masse der Bevölkerung „fremden und unverständlichen Sprache“ des sakralen Textes der „ökonomisch und politisch herrschenden Organisation“ lässt sich unschwer auf die autoritativen Texte der Stalinzeit beziehen. Außerdem spiegelt Jakubinskijs in Gleichnisform gekleidete Kritik eindrücklich die für den neuen Purismus charakteristische Berührungsangst vor dem mündlichen Wort, seine Abwertung gegenüber dem schriftlichen Wort der zum Vorbild erklärten Klassik und der offiziellen Publizistik. Ungeachtet dessen, dass die Diskussion über die Sprache noch bis zum Schriftstellerkongress im September fortdauerte, waren ihre Ergebnisse bereits im März – April 1934 bekannt. Gor’kijs Artikel „Über die Sprache“ („O jazyke“) erscheint nicht nur in der Literaturnaja gazeta, sondern auch in der Pravda, deren Redaktion Gor’kijs Kampf für die Literatursprache nachhaltig 24

„Передо мной встают образы пуристов прошлого. Вот, митрополит Киприан, переписавший в ХIV веке церковный служебник; со страхом и страстью заклинает он потомков блюсти чистоту священного текста „не приложити или отложити едино некое слово или точку едину, или крючки иже суть под строками ниже слогню некоторую, да не от небрежения в грех впадете“. А вот и Зиновий Оттенский с его знаменитой – и классической для средневековья – пуристической формулой: „мню же и се лукавого измышление – еже уподобляти и низводити книжные речи от общих народных речей... приличнейше мню от книжных речей и общие народные речи исправляти, а не книжные народными обесчещати“. А „книжные речи“ средневековья – это язык экономически и политически господствующей организации средневековья – церкви; это священный и неприкосновенный язык, чуждый и непонятный массовому населению (латынь на Западе, церковнославянский – у нас).“ Novatory i puristy. In: Literaturnyj Leningrad. 21. 3. 1934.

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unterstützt. In ihrer „Antwort an die Opponenten“ (Otvet opponentam) rechnet die Literaturnaja gazeta mit ihren Kritikern ab: Jetzt ist allen klar, dass die Äußerungen von A. S. Serafimovič zur Verteidigung der Bruski F. Panferovs im Kern falsch sind. [...] Es ist klar, dass die Gen. Šaginjan wie auch die Gen. Forš uns zurückwerfen, dass sie für „Freiheit“ (lies Willkür und Anarchie) in der Benutzung des sprachlichen Materials sind.25

Die Phase der fruchtbaren Laboratoriumsarbeit von Autoren wie Belyj oder Chlebnikov, so heißt es, sei vorbei, jetzt sei die Zeit der Selektion aus dem wildwüchsigen Prozess der Sprachentwicklung gekommen, die Zeit der Selbstbeschränkung und Einsicht in die Notwendigkeit.

3. Purismus als Diskurs der Säuberung Aus den oben zitierten Ausführungen Jakubinskijs geht hervor, dass das Entstehen von Purismus stets mit bestimmten kulturellen Werten verbunden ist, sei es mit nationalen, religiösen oder politischen.26 Worin besteht die Spezifik des Purismus in unserem Fall? Die „präskriptive Intervention“27, die mit der Diskussion über die Sprache einsetzt, erfüllt zugleich mehrere Funktionen. Zum einen geht es um die Erziehung des neuen Massenlesers im Sinn der nachholenden Aneignung des klassischen kulturellen Erbes.28 Lenin hatte diese Forderung zwar schon kurz nach der Revolution erhoben, die systematische „Formierung des Lesers“29 setzte jedoch erst in den 1930er Jahren ein. Aufgrund seines pädagogischen Eros war Gor’kij in höchstem Maß für die Rolle des Lehrmeisters und Initiators dieses Erziehungsprozesses geeignet. Darüber hinaus sollte die Errichtung von Dämmen gegen die Erosion der sprachlichen Normen eine weitere Aufgabe erfüllen: die Bewahrung der Einheitlichkeit der russischen Literatursprache. Bereits in einem Brief aus dem Jahr 1925 hatte Gor’kij gegenüber Gladkov die Befürchtung geäußert, 25

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„Теперь для всякого ясно, что высказывания А. С. Серафимовича в защиту языка Брусков Ф. Панферова являются в корне неправильными. [...] Ясно, что т. Шагинян, как и т. Форш, тянут нас назад, что они за „свободу“ (читай произвол и стихийность) в использовании языкового материала).“ Literaturnaja gazeta. 18. 4. 1934. Vgl. Thomas, G.: Linguistic purism. London/New York 1991, 2. Der Begriff „prescriptive intervention“ stammt von P. Wexler. Zit. ebd., 79. Brooks, J.: When Russia Learned to Read. Princeton 1995, 317 bezeichnet diese Orientierung als „culturist“. Für Dobrenko, E.: Formovka sovetskogo čitatelja. Sankt Petersburg 1997, 95 ist die Stimme des Lesers der 1920er Jahre noch ein Produkt „ešče ‘neobrabotannogo’ vlast’ju čitatelja“. (Engl. Ausgabe: The making of the state reader, Stanford University Press 1997).

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dass die Verwendung von Elementen regionaler Dialekte in der Literatur nicht überall in Russland verständlich sei und die kommunikative Einheit des „gewaltigen, verschieden sprechenden und vielsprachigen Russland“ (ogromnoj, raznorečivoj, raznojazyčnoj Rossii)30 bedrohe. Eine entscheidende Rolle bei der Durchsetzung der neuen Normen spielte aber das Bestreben, die sprachliche Ausdrucksseite des literarischen Textes einer Kontrolle durch die Macht zu unterwerfen. Im Gegensatz zur Xenophobie eines nationalistisch inspirierten Purismus, für die das Fremde das Gefährliche ist, richtet sich hier der Kampf um die Reinheit der Sprache gegen einen inneren Feind. Das „sozial Fremde“ (social’no čužoe) befindet sich innerhalb der Grenzen des eigenen Sprachraums in Gestalt von gesellschaftlich und ideologisch schädlichen Elementen (Sprache der Bauern und des Kleinbürgertums), Kulturlosigkeit (Vulgarismen, Dialektismen) oder des bürgerlichen Modernismus in der Literatur („sinnlose“, „gegenstandslose“ Wortmuster usw.). Diese fremden Elemente sollen aus der Literatur verdrängt werden. Das Lexikon des sowjetischen puristischen Diskurses wimmelt von Wörtern wie Verschmutzung (zasorenie), Wortplunder (slovesnyj chlam), Wortchaos (slovesnyj chaos), aber auch Entstellung (iskaženie), Verunstaltung (koverkanie), Verderben der Sprache (porča jazyka) usw. Demgegenüber stehen positive Begriffe wie Reinheit (čistota), Einfachheit (prostota), Klarheit (jasnost’) usw. Folgt man den Ausführungen von Mary Douglas, so existiert Schmutz als kulturelles Phänomen nicht als isoliertes Faktum, sondern bezeichnet stets die Bedrohung einer bestimmten symbolischen Ordnung. Unser Verhalten gegenüber der Bedrohung durch Verschmutzung in diesem Sinn „is the reaction which condemns any object or idea likely to confuse or contradict cherished classifications“.31 Die Auseinandersetzung mit Sprachverunreinigung wird noch dadurch erheblich verschärft, dass der kritisierten Seite eine mehr oder weniger bewusste oder – wie man sich in der Stalinzeit ausdrückte – „objektiv“ schädliche Entstellung und Verunstaltung der Sprache vorgeworfen wird. Auf diese Weise verbindet sich die Säuberung der Sprache mit dem seit Ende der 1920er Jahre stetig anwachsenden Schädlings-Diskurs.32 In seiner Kritik des Romans Die Triebache (Veduščaja os’) von Vasilij Il’enkov bezeichnet Gor’kij die leeren Worthülsen als schädliches Unkraut, dessen Samen die reiche russische Sprache verunreinigen können.33 Die Schädlings-Meta30 31 32 33

Gor’kij, M.: Sobranie sočinenij v 30-i tomach. Bd. 29, 439. Douglas, M.: Purity and Danger. An analysis of concepts of pollution and taboo. London 1966, 38. Vgl. Orlova, G.: Roždenie vreditelja: otricatel’naja političeskaja sakralizacija v strane sovetov (20-e). In: Wiener slawistischer Almanach. Bd. 49 (2002), 309-346. Vgl. Gor’kij, M.: Sobranie sočinenij v 30-i tomach. Bd. 26, 293.

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phorik durchdringt alle gesellschaftlichen Bereiche. 1933 vergleicht Gor’kij im Zusammenhang mit der Ermordung des zum Märtyrer erhobenen Pioniers Pavlik Morozov die Vertilgung von Unkraut und kleinen schädlichen Parasiten in der Landwirtschaft mit der Notwendigkeit des schonungslosen Kampfes gegen die „großen zweibeinigen“34.

4. Ambivalenz und Eindeutigkeit In der Diskussion von 1934 ist die Frage nach der Normativität der Sprache untrennbar mit der Opposition von Ambivalenz und Eindeutigkeit verknüpft. Uneindeutigkeit wird – nicht ohne Grund – als Quelle „ideologischer Konterbande“ verdächtigt. Man fühlt sich an die Situation von Cincinnatus, dem Helden von Nabokovs Roman Einladung zur Enthauptung (Priglašenie na kazn’) erinnert, der wegen seiner Undurchdringlichkeit und Opazität verhaftet und „für dieses Verbrechen zur Todesstrafe verurteilt“ wird (prigovorennyj za onoe prestuplenie k smertnoj kazni).35 Als Vorbild einer „durchsichtigen“ Sprache diente, wie G. Vinokur und N. Koževnikova nachgewiesen haben,36 der funktionale Stil der sowjetischen Publizistik. So ist es nicht übertrieben, wenn ein Teilnehmer der Diskussion über die Sprache behauptet, die Publizistik gebe ein „Beispiel bolschewistischen Stils in der literarischen Arbeit“ (primer bol’ševistskogo stilja v literaturnoj rabote)37, wobei natürlich ein Hinweis auf die Werke von Lenin und Stalin nicht fehlen darf. Nicht genug: Der Präsident Michail Kalinin äußert in einem Gespräch mit jungen Schriftstellern: „Also wenn Sie mich fragen würden, wer am besten die russische Sprache kennt, so würde ich antworten – Stalin.“38 Die Unterwerfung der Literatur unter das autoritäre Wort des publizistischen Diskurses begrub endgültig alle Hoffnungen, wie sie beispielsweise Grigorij Vinokur 1923 geäußert hatte, dass die Literatur einen Beitrag zur Desautomatisierung der abgenutzten revolutionären Klischees leisten könnte. Er sah eine Gefahr darin, dass „unsere schablonenhafte Phraseologie uns die Augen für die wirkliche Natur der Dinge und ihre Beziehungen verschließt“ (čto naša štampovannaja frazeologija zakryvaet nam glaza na podlinnuju 34 35 36

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Gor’kij, M.: Sobranie sočinenij v 30-i tomach. Bd. 27, 115. Nabokov, V.: Sobranie sočinenij v 4-ch tomach, Bd. 4. Moskau 1990, 40. Vgl. Vinokur, T. G.: Stilističeskoe razvitie sovremennoj russkoj razgovornoj reči. In: Razvitie funkcional’nych stilej sovremennogo russkogo jazyka. Moskau 1968, 12-100; Koževnikova, N. A.: Otraženie funkcional’nych stilej v sovetskoj proze. In: Voprosy sovremennoj russkoj literatury. Moskau 1971, 222-230, bes. 250. Chavin, P.: Bol’ševistskaja publicistika i literaturnyj jazyk. In: Literaturnaja učeba. 8 (1934), 75. „Вот если бы спросили меня, кто лучше всех знает русский язык, я ответил бы – Сталин.“ Zit. nach Vajskopf, M.: Pisatel’ Stalin. Moskau 2001, 17.

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prirodu veščej i ich otnošenij).39 Die gängigen revolutionären Losungen bezeichnet er als „durchgängig ,metalogische Sprache‘, als Ansammlung von Lauten, an die sich unser stilistisches Ohr so gewöhnt hat, dass es unmöglich scheint, auf diese Aufrufe irgendwie zu reagieren.“40 Hatte schon zu Beginn der 1920er Jahre Vinokurs Idee einer Erneuerung und Belebung der abgenutzten revolutionären Schablonen durch die künstlerische Literatur keinerlei Aussicht auf Realisierung, so stoßen erst recht 1934 die oben zitierten Äußerungen von O. Forš und M. Šaginjan über den Laboratoriumscharakter und die erneuernde und bereichernde Rolle der dichterischen Sprache auf offenen Widerstand. Die Herstellung von „Eindeutigkeit“ in der Literatur erweist sich als Unterwerfung unter den publizistischen Diskurs, der deformierend in alle Kommunikationsbereiche eindringt.

5. Puškin statt Gogol’ Die Diskussion von 1934 markiert einen Wendepunkt nicht nur im Hinblick auf die Sprachpolitik, sondern auch auf die Literatur, insofern sie die Ablösung der über drei Jahrzehnte an der Spitze der literarischen Evolution stehenden Gogol’schen Richtung der Literatur durch eine (pseudo)puškinsche und (pseudo)klassische Linie dekretiert. Es ist der Literaturkritiker Nikolaj Stepanov, der, ausgehend vom Kontrast von „einfacher“ und ornamentaler Prosa, die Polarität der beiden gegensätzlichen Linien ins Bewusstsein hebt und auf die Folgen der Debatte für die langfristige Entwicklung der russischen Literatur hinweist.41 Der Autor signalisiert zunächst Übereinstimmung mit der vorherrschenden Tendenz der Diskussion: „Jetzt stellt sich wieder die Frage nach der ,nackten Einfachheit‘, nach dem genauen und klaren Wort, das maximal mit Sinn erfüllt ist.“42 Wie häufig im offiziellen Diskurs der 1930er Jahre widmet der Artikel den größten Raum nicht der Beschreibung der positiven Norm, sondern der Entlarvung der kritisierten Abweichungen. Im Rahmen der Gogol’schen Linie ist dies der „Naturalismus“ ebenso wie der „Ornamentalismus“. Zeichnet sich letzterer durch das Streben nach dem sinnentleerten, gegenstandslo39 40

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Vinokur, G.: O revoljucionnnoj frazeologii. In: Lef. 2 (1923), 115. „[…] ,заумный язык’ набор звучаний, которые настолько привычны для нашего стилитического уха, хто какнибудь реагировать на эти призуву представляется совершенно невозможно.“ Ebd., 112-113. Stepanov, N.: Slovesnaja butaforija. In: Literaturnaja učeba. 6 (1934), 102-129. Die Übereinstimmung des Ausdrucks mit dem gesellschaflichen Inhalt bezeichnet Gofman, V.: Jazyk pisatelja. In: Jazyk literatury. Leningrad 1936, 16-20 als „Realismus der Sprache“. „Сейчас вновь ставится вопрос о пушкинской „нагой простоте“, о точном и ясном слове, максимально наполненном смыслом.“ Ebd., 111.

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sen Wort, selbstgenügsamen Wortmustern und effekthascherischer Expressivität aus, so ist für den ersteren die Verwendung von Dialektismen und groben, vulgären Wörtern kennzeichnend, die gleichermaßen auf emotionalexpressive Effekte hin berechnet sind. Im Namen einer rigiden logozentrischen Position wird jeglicher Phonozentrismus, sei es naturalistischer oder formalistischer Provenienz, verurteilt: Wir brauchen das „sinnvolle“, nicht das „Übersinn“-Wort, weil unsere Literatur die Wirklichkeit wahrhaftig, objektiv zeigen und nicht an ihrer Oberfläche gleiten soll. Einige unserer Schriftsteller ersetzen es infolge des Fehlens eines bedeutenden Ideengehalts durch ein Wortmuster.43

Nicht weniger verurteilt wird das naturalistische „Fotografieren der Phonetik“ (fotografirovanie fonetiki)44 bei den bäuerlichen Schriftstellern. Was bedeutet dieser „Sieg“ Puškins, dessen Kult in den Feiern seines 100. Todestages im Jahr 1937 seinen Höhepunkt erreichte, über Gogol’? Er markiert den Abbruch der „mündlichen Orientierung“ der russischen Literatur, die sich im Symbolismus, in der Skazmanier, im Ornamentalismus und Futurismus auf unterschiedliche Weise entfaltet hatte. Hier seien nur einige Äußerungen von Autoren und Kritikern zitiert, die diese Ausrichtung am mündlichen Wort belegen. A. Remizov schrieb: Der mündliche Verstand läuft auf den Straßen, der Buchverstand lebt in der Druckerei [...] das Wort ist der Atem der lebendigen ungeschriebenen Rede.45

Oder A. Belyj: Der Schriftsteller erschien mir als Organisator der sprachlichen Bestrebungen des Volkes: er ist ein lebendiger Erzähler und ein Volkssänger, der durch das Timbre seiner Stimme und seine Gestikulation wirkt.46

M. Zoščenko verwendet in seiner Prosa in bewusster Abgrenzung von der klassischen Literatur die „Syntax der Straße“ (sintaksis ulicy)47, um dem

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„Нам нужно „умное“, а не „заумное“ слово, потому что наша литература должна правдиво, объективно показать действительность, а не скользить по поверхности. Некоторые же наши писатели, в силу отсутствия большого идейного содержания, заменяют его словесным узором.“ Ebd., 107. Derman, A.: Realizm i naturalizm v jazyke. In: Literaturnyj kritik. 4 (1934), 28-37. „Устный ум ходит по улицам, а книжный живет в типографии ... слово – это дыхание живой неписанной речи.“ Zit. Belaja, N. G.: Zakonomernosti stilevogo razvitija sovetskoj prozy. Moskau 1977, 40. „Писатель увиделся мне организатором языковых стремлений народа: он – и живой рассказчик, и певец-исполнитель, действующий тембром голоса и жестикуляцией.“ Ebd., 38. Ebd., 21.

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neuen Leser verständlich zu sein, und B. Ėjchenbaum schreibt über das Wort in der Gegenwartsliteratur: „Wir wollen es hören und wie ein Ding fühlen.“48 Benutzt man, wie dies in vielen linguistischen Untersuchungen der Fall ist, den Begriff des Expressiven als summarische Chiffre für die oben genannten stilistischen Verfahren der Moderne, dann kann man die 1934 dekretierte Veränderung als Ablösung der Expressivität durch den „neutralen Stil“49 bezeichnen. Den Übergang von der sprachlichen Vielfalt der 1920er Jahre zu einem neuen „mittleren Stil“ hatte B. Ėjchenbaum bereits Ende der 1920er Jahre vorausgesehen: Die frühere durch die Bemühungen des 19. Jahrhunderts entstandene Einheit der Literatursprache ist zerfallen. Wir haben wieder Vielschichtigkeit, Vielstiligkeit: eine Mischung von Dialekten und Jargons, politische Termini, Zeitungssprache, rhetorische Schablonen, kleinbürgerliche Phraseologie usw. [...] Es vollzieht sich eine Umschichtung aller dieser Elemente [...], eine Umschichtung alter Ausdrücke in neue in Zusammenhang mit dem Gefühl für den neuen Alltag [...]. Wir bewegen uns offenbar auf die Ausarbeitung eines neuen mittleren Stils zu, der zum Stil unserer neuen Klassiker wird, wenn es solche geben wird. Aber bislang vollzieht sich die Arbeit an der Fixierung der sprachlichen Formen, die auf der Straße spazieren und im häuslichen Alltag zirkulieren.50

Der „mittlere Stil“ und die neue Klassik sollten schneller in Erscheinung treten, als Ėjchenbaum sich das vorstellen konnte. Die Austreibung der Mündlichkeit aus der Literatur zugunsten des „genauen“ Wortes, das der sowjetischen Publizistik näher stand als der klassischen Sprache Puškins, bedeutet nicht nur eine Absage an die gesamte Moderne. Nimmt man mit M. Bachtin an, dass jedes Wort, jede Äußerung einen bestimmten sozialen Horizont transportiert, dann bedeutet die Absonderung der Literatur vom lebendigen Kontakt mit dem mündlich-umgangssprachlichen Wort eine Absonderung „vom Leben der Gesellschaft, von ihrem historischen Moment, von der sozialen und individuellen Besonderheit ihres Schöpfers,

48 49 50

„Мы хотим слышать его, осязать как вещь.“ Leskov i sovremennaja proza. In: Ėjchenbaum, B.: O literature. Moskau 1987, 424. Der Terminus wird in den Arbeiten von Vinokur, Kozevnikova und Belaja verwendet. „Прежнее, созданное усилием ХIХ века единство литературного языка распалось. У нас опять – многослойность, многостильность: смесь диалектов и жаргонов, политические термины, газетная речь, ораторские штампы, мещанская фразеология и т. д. [...] Идет перелицовка всех этих элементов [...] перелицовка старых речений на новые, в связи с ощущением нового быта [...]. Мы, по-видимому, двигаемя постепенно к выработке нового „среднего стиля“, который и станет стилем наших новых классиков, если таковые будут. А пока идет работа над закреплением языковых форм, гуляющих по улице, разъезжающих в домашнем быту.“ Zit. nach Vinokur, G.: Stilističeskoe razvitie sovremennoj russkoj razgovornoj reči, 76.

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ihres Adressaten, ihres Trägers – des Menschen.“51 Der soziale Horizont der Literatur verengt sich in Richtung auf die im publizistischen Diskurs der Stalinzeit verkörperte Weltsicht.

6. Von der Sprache der Revolution zur Sprache der Klassiker In der Debatte über die Sprache berufen sich eine Reihe von Opponenten der offiziellen Linie wie z.B. Panferov, Serafimovič, Šaginjan u. a. auf die Sprache der Revolution, die sie der Forderung nach einer Orientierung an den Klassikern gegenüberstellen. Der Begriff der Sprache der Revolution geht auf den Linguisten A. M. Seliščev52 zurück, der seine Untersuchung über die Entwicklung der russischen Sprache nach dem Oktober 1917 mit einer Überlegung über das Französische nach der Revolution von 1789 eröffnet. Die französischen Revolutionäre hätten die Unmöglichkeit gespürt, sich weiter der eleganten Sprache der Aristokraten zu bedienen. Da aber in Russland die Kluft zwischen der Sprache vor und nach der Revolution nicht so groß sei, hätten die Revolutionäre sich hier sogar zum Verteidiger eines richtigen Gebrauchs der Literatursprache berufen gefühlt. Im Weiteren analysiert Seliščev in seiner Studie den Sprachgebrauch verschiedener sozialer Schichten und die aktuell ablaufenden Prozesse der Veränderung wie z.B. das Eindringen der Parteipublizistik in die Sprache des Dorfes und die allmähliche Anpassung der bäuerlichen Sprache an die der Stadt. Ähnliche Ansichten, wie sie in der Nachfolge der linguistischen Theorie Marrs entstanden, werden beispielsweise auch in den Skizzen über die Sprache (Očerki o jazyke)53 von A. Ivanov und L. Jakubinskij vertreten, die davon ausgehen, dass die unterschiedlichen Klassenpsychologien von Adel, Bauerntum und Proletariat in der Sprache ihren Niederschlag finden. Sie verleihen ihrer Überzeugung Ausdruck, dass die Unterschiede zwischen Stadt und Land dank einer bewussten Sprachpolitik im Lauf der Zeit verschwinden würden. Im Rahmen der Kritik an Erscheinungen des „Vulgärsoziologismus“54 in der Literatur und anderen Bereichen setzt in der ersten Hälfte der 1930er 51

52 53 54

„[…] от жизни общества, от его исторического момента, от социальной и индивидуальной характерности его создателя, его адресата, его носителя – человека.“ Belaja, G.: Zakonomernosti stilevogo razvitija sovetskoj prozy. 242-243. Jazyk revoljucionnoj ėpochi. Iz nabljudenij nad russkim jazykom poslednich let (1917 – 1926). Moskau 1928. Očerki o jazyke. Dlja rabotnikov literatury i dlja samoobrazovanija. Moskau/Leningrad 1932. Vgl. Günther, H.: Die Verstaatlichung der Literatur. Stuttgart 1984, 150-151; Lenert, Ch.: Sud’ba sociologičeskogo napravlenija v sovetskoj nauke o literature i stanovlenie socrealističeskogo kanona: perverzevščina/vul’garnyj sociologizm. In: Socrealističeskij kanon, 320-338.

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Jahre eine immer stärker kultische Züge annehmende Verehrung der „großen russischen Literatursprache“ ein, die ihren Höhepunkt und Abschluss in Stalins Traktat über die Sprachwissenschaft des Jahres 1950 und der Kritik an der Marr-Schule findet. In unserem Kontext geht es nicht um eine wissenschaftliche Evaluierung dieser Theorie, sondern um den Stellenwert, den sie in den Debatten des Jahres 1934 einnahm. Und hier ist festzustellen, dass sie den Schriftstellern eine wesentliche Stütze in der Auseinandersetzung mit dem rückwärtsgewandten Postulat einer sowjetischen Klassik bietet. Mit ihr können die Autoren argumentieren, wenn sie sich auf die durch die Revolution in Gang gesetzte Dynamik der Gegenwartssprache berufen und wenn sie Wert auf die Wiedergabe der Vielfalt sozialer Stimmen legen, auf der eine lebendige Literatur basiert. Dabei fällt auf, dass die These von der Sprache der Revolution von den opponierenden Schriftstellern in emphatisch zugespitzter Form vertreten wird, stärker als dies bei ihren linguistischen Schöpfern der Fall ist. Die zur Norm erhobene „Klassik“ führt dazu, dass nach 1934 praktisch alle Werke der sowjetischen Literatur einer – als stilistische „Vervollkommnung“ (soveršenstvovanie) ausgegebenen – puristischen Säuberung unterzogen werden. Der literarische Text wird zu einer manipulierbaren instabilen Größe, einem Palimpsest.55 An dem Prozess der „Vervollkommnung“ sind alle Instanzen des literarischen Lebens vom Autor über die Verlagsredaktion bis hin zum Leser56 beteiligt. Dank der für die sowjetische Kultur kennzeichnenden „Verwandlung des Autors in den eigenen Zensor“ (prevraščenie avtora v sobstvennogo cenzora) sind es in erster Linie die Schriftsteller selber, die sich dieser Mühe unterziehen. Zur Illustrierung sei hier auf das Beispiel von Gladkovs Roman Cement verwiesen, der verschiedene Phasen der stilistischen und ideologischen Säuberung durchlaufen hat. Die Etappen der Umarbeitung des Textes durch den Autor, die bereits in den 1920er Jahren unter dem Einfluss Gor’kijs begann, sind eingehend textkritisch dokumentiert.57 Ein Kritiker der ausgehenden 1950er Jahre würdigt die Arbeit des Schriftstellers positiv, wenn er hinsichtlich einer verbesserten Redaktion des Romans bemerkt, dass die Autorenrede wesentlich vervollkommnet und präzisiert, die Verschwommenheit beseitigt und die expressionistische Überspanntheit und Vagheit der Bilder verein-

55 56 57

Vgl. Friedberg, M.: New Editions of Soviet Belles-Lettres: A Study in Politics and Palimpsests. In: The American Slavic and East European Review 13. 1 (1954), 72-88. Zum Einfluss des Lesers auf den Autor und den Text vgl. Lahusen, Th.: How Life Writes the Book. Ithaca/London 1997, 151-178. Vgl. Smirnova, L. N.: Kak sozdavalsja Cement. In: Tekstologija proizvedenij sovetskoj literatury (Voprosy tekstologii, Bd. 4). Moskau 1967, 140-227; desgl. vgl. Busch, R. L.: Gladkov’s Cement: The Making of a Soviet Classic. In: Slavic and East European Journal 22. 3 (1978), 348-361.

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facht wurde. Auch wurde die Rede nicht nur der Haupthelden, sondern auch der zweitrangigen Helden von groben Vulgarismen und Dialektismen gereinigt.58

Es zeugt von der Stabilität des etablierten Normensystems, wenn der Kritiker wortwörtlich die wesentlichen Postulate wiederholt, die in der Diskussion von 1934 aufgestellt wurden. Allerdings muss derselbe Kritiker ironischerweise in der Fassung des Romans von 1940 eine gewisse Übertreibung bei der Anpassung an die neuen Normen konstatieren: Man kommt nicht umhin zu bemerken, dass das künstlerische Gewebe des Romans im Vergleich zu den ersten Redaktionen auf einzelnen Seiten gewissermaßen ausdünnt, verblasst und dass die lebensstrotzende Darstellung durch äußerlich logische, aber allzu sehr vereinfachte, blasse, nichtssagende Wendungen ersetzt wird [...].59

Eine kleine Kostprobe der publizistischen Überformung des Textes von Gladkovs Zement sei hier angeführt. In einer frühen Fassung liest man: Mit ihrer Rede traf Daša die Frauen mitten ins Herz: Bravo, Frauen, ihr habt es den Männern gezeigt und euer proletarisches Bewusstsein bewiesen.60

Stattdessen finden wir in der Ausgabe von 1940 folgende erbauliche Amplifikation: Mit ihrer Rede hatte Daša sie sehr gerührt: sie bemerkte, dass sie, dem Beispiel der Männer folgend, zu aktiven Kämpfern für die Aufklärung geworden seien und dadurch ihr proletarisches Bewusstsein bewiesen hätten. Es gehe nicht darum, dass dies der Beginn einer Arbeit an sich selber sei. Vielmehr öffne es ihnen die Tür zu staatlicher Tätigkeit. Wissen sei eine große Macht: ohne Wissen kann man das Land nicht lenken.61

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„[…] существенно совершенствовалась, уточнялась авторская речь, устранялась расплывчатость, экспрессионистическая напряженность и смутность образов. Упрощалась, очищалась от грубых вульгаризмов и диалектизмов речь не только главных, но и второстепенных героев.“ Stachov, V.: Tvorčeskaja istorija romana F. Gladkova Cement. In: Russkaja literatura. 1 (1959), 173. „Нельзя не заметить того, что художественная ткань романа в сравнении с первыми редакциями на отдельных страницах как бы редеет, тускнеет, и сочная живопись подменяется внешне логичными, но слишком упрощенными, бледными, малозначащими оборотами [...].“ Ebd., 174. „Своей речью Даша ударила баб в самое сердце: знай, бабы, вы забили мужиков и здорово доказали свою пролетарскую сознательность.“ „Своей речью Даша очень их растрогала: она отметила, что они, в пример мужчинам, являются активными борцами за просвещение и тем самым доказали свою пролетарскую сознательность. Дело не в том, что это – начало большой работы над собою. Это открывает перед ними двери к государственной деятельности. Знание – большая сила: без знаний нельзя управлять страной.“ Zit. nach Smirnova, L. N.: Kak sozdavalsja Cement, 203-204.

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7. Ausblick: Zu den Folgen der sowjetischen Normendiskussion In einem in deutscher Sprache veröffentlichten Artikel Roman Jakobsons aus dem Jahr 1934 finden sich einige Seiten, die der Diskussion über die Sprache gewidmet sind. Darin begrüßt der Autor die sowjetische Debatte und stimmt der Ansicht zu, dass der unhaltbaren Zerrüttung der Sprachnorm nach der Revolution Einhalt geboten werden müsse. Die Schaffung eines allgemein gültigen Sprachkanons und die Annäherung des klassischen Erbes an den zeitgenössischen Massenleser stehe daher auf der Tagesordnung. Auf die durch die Revolution bewirkte Negation der Norm müsse heute die Etappe der Negation der Negation folgen. Angesichts der gegebenen Situation hält Jakobson die futuristische Poetik des provokanten Normbruchs für unangemessen: Kühne Wagnisse und Normverletzungen sind wirksam, wenn ein klarer, unerschütterlicher Sprachkanon vorhanden ist, der dem Dichter sowohl wie dem Leser gleich wahrnehmbar ist, aber in einer Zeit des revolutionären Erdrutsches der Norm verlieren sie ihre Stoßkraft.62

Jakobson teilt nicht die Befürchtung, dass die Diskussion über die Sprache auf eine Abtötung des Experimentierens mit dem Wort abzielt. Es gehe nicht um Aufhebung, sondern um die „Regulierung von Neuerungen, um den Kampf mit der planlosen, anarchistischen Willkür in der Sprachschöpfung“.63 Was sind die Gründe dafür, dass Jakobson zwar die Eindämmung des gefährlichen „Erdrutsches der Norm“ begrüßt, die sich abzeichnende Gefahr einer puristischen Sprachnorm aber nicht erwähnt? Ist es der mangelnden Distanz zu den Ereignissen zuzuschreiben? Im Nachhinein wird jedenfalls deutlich, dass die Diskussion über die Sprache das Präludium zu der berüchtigten Kampagne gegen Formalismus und Naturalismus des Jahres 1936 darstellte, welche für die Entwicklung der russischen Literatur auf Jahrzehnte hinaus schwerwiegende Folgen hatte. Viele der an der Debatte beteiligten Schriftsteller haben, wie deutlich wurde, durchaus vorausgesehen, was sich in der Diskussion von 1934 ankündigte. Überblickt man die Abfolge der Phasen von Normenerosion und –verfestigung im Russland des 20. Jahrhunderts, dann lässt sich unschwer feststellen, dass deren Rhythmus jeweils durch radikale politisch-gesellschaftliche Umschwünge bedingt ist:64 Auf den Oktober 1917 folgte die „Zeit der sprachli62 63 64

Jakobson, R.: Slavische Sprachfragen in der Sovjetunion. In: Slavische Rundschau. 6 (1934), 326. Ebd., 332. Die Sprachentwicklung des 20. Jahrhunderts bestätigt damit die von P. Čaadaev aufgestellte und von Ju. Lotman und B. Uspenskij weiterentwickelte These von der diskontinuierlichen Entwicklung der russischen Kultur. Vgl. Lotman, Ju./Uspenskij, B.: Die Rolle dualistischer Modelle in der Dynamik der russischen Kultur (bis zum Ende des

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chen Wirren“ (jazykovaja smuta) und der „Sprache der Revolution“, in dem nach Stalins Tod einsetzenden „Tauwetter“ brachen viele Verkrustungen der russischen Literatur auf, und die durch die Perestrojka und den Zusammenbruch der Sowjetunion eingeleitete postsowjetische Phase führte zu einer heftigen Erschütterung sprachlicher Normen in allen Bereichen.65

65

18. Jahrhunderts). In: Poetica 9. 1 (1977), 1-40. (Russ.: Rol’ dual’nych modelej v dinamike russkoj kul’tury (do konca XIX veka). In: Uspenskij, B. A.: Izbrannye trudy. T. 1. Moskau 1994, 219-253. Vgl. dazu etwa den Sammelband von Lunde, I./Roesen, T. (eds.): Landslide of the Norm. Language Culture in Post-Soviet Russia. Bergen 2006.

M A R IN A B A L IN A

Die sowjetische Kinderliteratur zwischen ästhetischem Experiment und ideologischer Normierung Die Kinderliteratur der Sowjetzeit gehört heute zu den umstrittensten philologischen Forschungsobjekten. Die westliche Slavistik lehnt es kategorisch ab, diese Literatur im Kontext ästhetischer Kategorien zu analysieren und sieht darin vor allem ein ideologisches Produkt, das auf die Herausbildung sowjetischer Verhaltensnormen ausgerichtet gewesen sei. Eine Ausnahme macht man in diesem Zusammenhang für die Vertreter der „spielerischen“ Poesie der Dichter des OBĖRIU-Kreises1, für den frühen Maršak und Čukovskij, während sich für nicht weniger interessante Kindergedichte von Majakovskij („Das Märchen von Petja, dem Dicken und Sima, dem Dünnen“ / „Skazka o Pete, tolstom rebenke i o Sime, kotoryj ton’kij“, 1925; „Das Feuerpferd“ / „Kon’-ogon’“, 1927; „Was soll ich werden“ / „Kem byt’“, 1928), die in derselben Tradition abgefasst sind, leider kein würdiger Platz in den Annalen der Kinderliteratur findet.2 Forschungen zur graphischen Buchgestaltung der zwanziger Jahre konfrontierten die Slavisten auch mit dem Gebiet der Kinderliteratur, doch wurde die literarische Bewertung dem ideologischen Aspekt hier ebenfalls untergeordnet. Eine Übertreibung in die andere Richtung finden wir in postsowjetischen russischen Forschungen zur Kinderliteratur, die diese nun beinahe zum einzigen „Atemzug der Freiheit“ erheben, der angeblich für die Schriftsteller zu Zeiten der verordneten Methode des Sozialistischen Realismus existiert habe. Zeitgenössische Wissenschaftler behaupten, dass es die Besten waren, die sich der Kinderliteratur gewidmet hätten und man hier eine Verbindung von stilistischer Innovation und klassischer Tradition fände. So schreibt zum Beispiel die Forscherin zur Kinderliteratur, Irina Arzamasceva: Die für Kinder verfassten Texte waren in den 1920er – 1930er Jahren einer der letzten Zufluchtsorte für die Neonarodniki. In Kinderbibliotheken und -verlagen gingen Menschen in den Untergrund, die sich nicht dem Oktober, sondern dem Februar verpflichtet fühlten. Sie arbeiteten in sowjetischen Institutionen, bedienten auch den ideologischen staatlichen Auftrag, brachten aber gleichzeitig, soweit es nur möglich war, die eigenen Gedanken und Befindlichkeiten in ihre Arbeit ein.3 1 2 3

OBĖRIU – Vereinigung der realen Kunst (Объединение реального искусства). Zu Majakovskijs Lyrik für Kinder vgl.: Petrovskij, M.: Knigi našego detstva. Sankt Petersburg 2006, 98-131. Arzamasceva, I. N.: Vek rebenka v russkoj literature 1900 – 1930. Moskau 2003, 81.

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Obwohl Kritiker der Sowjetliteratur wie Mariėtta Čudakova über diesen Fakt mit größter Zurückhaltung sprechen,4 wird doch der Mythos über die freie Kinderliteratur zu einer Zeit, da die Literatur für „Erwachsene“ sich in einem „Belagerungszustand“ befand, weiter kultiviert. Die heutige Forschung zur Kinderliteratur gerät zwangsläufig zwischen Baum und Borke, wenn sie versucht, gleichzeitig die Frage zu entscheiden, inwieweit die Texte für Kinder ideologisch konnotiert waren und inwieweit sich darin so etwas wie„Freiheit“ widerspiegelte. Fakten aber sprechen für sich, und genau diese zeugen davon, wie illusorisch doch die angebliche „Freiheit“ der Kinderliteratur war. Die Kontrolle über diesen wichtigen grundlegenden Bestandteil des literarischen Prozesses in Sowjetrussland wird vom ersten Moment seines Entstehens an ausgeübt, da sich hier eben nicht einfach nur eine neue Kinderliteratur herausbildete, wie dies Kornej Čukovskij mit seinen vorrevolutionären Werken glaubte vorantreiben zu können. Die sowjetische Kinderliteratur verstand sich in erster Linie als politische Instanz, die dazu aufgerufen war, an der Aufgabe der Erziehung des neuen Menschen mitzuwirken. Als Ausgangspunkt dieses ideologischen Prozesses nimmt sich der Artikel L. Kormčijs (Pseudonym von Leonard Julianovič Piragis) „Eine vergessene Waffe“ („Zabytoe oružie“) aus, der am 17. Januar 1918 in der Zeitung Pravda abgedruckt wurde. In ihm sind die Hauptaufgaben für die Entwicklung der postrevolutionären Kinderliteratur klar ausformuliert. Diesen Artikel kann man ohne jeden Zweifel als programmatisch betrachten, zumal Kormčij, ein Kinderbuchautor „demokratischer Ausrichtung“5, kein Neuling auf dem Gebiet der Kinderliteratur war. Vor der Revolution arbeitete er bei der Zeitschrift Rotes Morgengrauen (Krasnye zory, 1904 – 1912) mit und war im Jahre 1912 deren letzter Redakteur. Im Jahre 1919 erneuerte Kormčij die Herausgabe des Journals unter der Schirmherrschaft des Proletkul’ts. Unter diesen Voraussetzungen kann man den Artikel in der Pravda durchaus als einen ganz konkreten Handlungsplan zur Schaffung einer neuen Literatur für Kinder ansehen. Kormčij selbst konnte sich nicht lange in diesem Bereich der Literatur halten: Schon nach der zweiten Ausgabe wurde das Journal eingestellt; allerdings hatte es der Redakteur zuvor noch geschafft, darin seine Erzählung Unter dem roten Banner (Pod krasnym stjagom) zu veröffentlichen, welche die Errichtung der Sowjetmacht im Norden des Landes thematisiert.6 Wie stellt sich nun Kormčij diese neue Literatur für die neuen Kinder vor? 4 5 6

Čudakova, M. O.: Skvoz’ zvezdy k ternijam: smena literaturnych ciklov. In: Novyj mir. 4 (1990), 242-262. Lupanova, I. P.: Polveka: Sovetskaja detskaja literatura, 1917 – 1967. Moskau 1969, 20. Ebd., 21.

Die sowjetische Kinderliteratur

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In erster Linie handelt es sich für ihn um eine Literatur, die nicht auf künstlerischen Besonderheiten fußt, sondern eine erzieherische Funktion hat und Möglichkeiten auslotet, Ansichten und Vorstellungen der jungen Leserschaft zu beeinflussen. Die neue Kinderliteratur wird dabei anhand rein ideologischer und „militärischer“ Kategorien beschrieben: Sie stelle eine „mächtige Waffe“ dar, „die man nicht dem Feind überlassen“ dürfe und sei eine Entlarvung der „bürgerlichen Kinderliteratur, die Sklaven“ erziehe. Es gelte, die Kinderliteratur vom „Gift, Schmutz und Schund“ der vergangenen Jahre zu „reinigen“ und eine neue Literatur zu schaffen, die dazu in der Lage ist, die Umgestaltung des Schulsystems mit zu gestalten. Letztendlich verweist Kormčij als erster auf die organisatorische Rolle des Staates im Prozess der Verbreitung der neuen Bücher: Die Kinder mit neuen Bücher zu versorgen, ist dabei nach Kormčij zentrale Aufgabe des Staates. Auf diese Weise beharrt Kormčij als erster auf einem Klassenstandpunkt in der Kinderliteratur. Er fordert eine Zensur bei der nochmaligen Durchsicht des vorrevolutionären Erbes, schlägt eine praktische Funktion dieser Literatur im System der Herausbildung zukünftiger Sowjetbürger vor und klagt diese auch direkt ein. Das folgende Programm an Handlungen für die Umwandlung der Kinderliteratur in eine staatliche Institution wird praktisch im Rahmen der von Kormčij vorgezeichneten Richtungen durchgeführt, was in der Folge zu einem weiteren „Meilenstein“ in der Formierung der Kinderliteratur als wichtige Institution der neuen politischen Ordnung führt: nämlich zur Verordnung des CK VKP(b)7 vom 9. September 1933 über die Schaffung eines speziellen Verlages für „Kinderliteratur“ – ein Dokument, das die Forderung von 1918 festschreibt, nach welcher der sowjetische Staat gleichzeitig Auftraggeber, Hersteller und Zensor der Literatur für sowjetische Kinder ist. Am Prozess der Konstituierung der Kinderliteratur als politische Institution nimmt Maksim Gor’kij aktiv teil. So schreibt er im Artikel „Über das Neue und das Alte“ („O novom i starom“), der in der Izvestija vom 30. Oktober 1927 veröffentlicht wird: Kinder kann auch ein Huhn lieben. Sie aber zu erziehen – das ist ein zentrales Anliegen des Staates, welches Talent und breite Lebenserfahrung erfordert.8

Weiter führt Gor’kij aus, dass sich der Staat im Hinblick auf Kinder, welche ja ausersehen sind, in Zukunft zu Erbauern des „neuen Lebens“ zu werden, 7

8

CK VKP(b) – Zentralkomitee der allrussischen Kommunistischen Partei der Bolschewiki (Центральный комитет всероссийской Коммунистической партии большевиков). „Любить детей – это и курица умеет. А вот воспитывать их – это великое государственное дело, требующее таланта и широкого знания жизни.“ M. Gor’kij o detskoj literature. Stat’i, vyskazyvanija, pis’ma. Moskau 1968, 84.

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darum kümmern sollte, dass das Buch im Laufe des Erziehungsprozesses die Eltern ersetzt, da letztere [...] bei weitem nicht alles in einem sich verändernden Leben erklären können, [...] möglicherweise die Zukunft unklar darstellen, sich vor dem morgigen Tag fürchten und am Althergebrachten festhalten könnten.9

Obwohl dieser Aufsatz zehn Jahre nach der Oktoberrevolution verfasst wurde, verweist er sehr deutlich auf die Rolle, welche der Staat im Prozess der Gestaltung des „neuen Lebens“ dem Kinderbuch zuweist. Verschiedene Generationen sowjetischer Forscher zur Kinderliteratur (angefangen von Lidija Feliksovna Kon bis hin zu Evgenija Oskarovna Putilova und Irina Petrovna Lupanova) bestätigen einhellig, dass sich der Sowjetstaat von Anfang an mit Fragen hinsichtlich der Schaffung einer neuen Literatur für seine zukünftigen Bürger befasste. Im ersten nachrevolutionären Jahrzehnt herrschte ein verhältnismäßig reges Treiben im Bereich der sowjetischen Kinderliteratur. Selbst vorrevolutionäre Streiter wie Olga Eronimovna Kapica, Aleksandra Michajlovna Kalmykova, Anna Konstantinova Pokrovskaja oder Nikolaj Vladimirovič Čechov finden sich zu dieser Zeit unter den Autorennamen wieder. Gleichwohl waren Publikationen wie die des vorrevolutionären Journals Das vertraute Wort (Zaduševnoe slovo, 1876 – 1917) und die dem Scoutismus nahe stehenden Hefte wie Das Morgenrot des Skautismus (Zarja skautizma) oder Junge Freunde (Junye druz’ja) nur noch von kurzer Dauer. 1920 erschien die letzte Ausgabe von A. A. Fedorova-Davydovas Journal für kleine Kinder Das Glühwürmchen (Svetljačok, 1902 – 1920). Gleichzeitig kamen Kinderjournale neuen Typs heraus, welche die Tendenzen der „neuen“ Kultur widerspiegelten: darunter beispielsweise das Journal Die Trommel (Baraban, 1922), zu dessen redaktionellen Mitarbeitern laut Erinnerungen des ersten Redakteurs M. Stremjakovs – Leiter der ersten Pioniergruppe in Sowjetrussland – „Komsomolzen, die vorher auch nicht die Spur einer Ahnung hatten, wie ein solches Journal herausgegeben wird“, gehörten.10 Diese erste Pionierzeitschrift schockierte die Spezialisten durch den aggressiven, barbarischen Ton des darin präsentierten Materials. So begann die erste Nummer des Journals mit einem Artikel darüber, wie Pioniere einem Vorübergehenden die Haut abziehen, um sie auf ihre Trommel zu spannen. Die Zeitschrift brach mit allen geltenden Richtlinien für die Publikation von Materialien. So lautete zum Beispiel eine Bildunterschrift unter einem Kinderporträt von Volodja Uljanov wie folgt: „V. I. Lenin im Alter eines Pioniers“. 9

10

„[...] далеко не всё умеют объяснить в жизни на переломе, [...] могут неясно представлять будущее, побаиваться завтрашнего дня, хвататься за старенькое.“ Ebd. Lupanova, I. P.: Polveka: Sovetskaja detskaja literatura, 29.

Die sowjetische Kinderliteratur

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Obwohl die „Vorreiter“ alle persönlich mit der Partei verbunden waren (Kalmykova war eine überzeugte Bolschewikin, Pokrovskaja führte gemeinsam mit Nadežda Konstantinova Krupskaja Schulungen in einem Parteizirkel durch, den ihr Mann, Aleksandr Aleksandrovič Pokrovskij, leitete, Čechov war ein „Parteiarbeiter“), unterschieden sie sich von ihren jugendlichen Mitstreitern durch profunde Sachkenntnis, literarischen Geschmack und durch das Bestreben, die Kinderliteratur wissenschaftlich zu untermauern. So wurde am 28. November 1920 in Moskau unter Leitung von Pokrovskaja mit Unterstützung des Narkompros11 ein Institut für Kinderlektüre geschaffen, dessen Aufgabe nicht nur in der Einrichtung einer Spezialbibliothek für Kinder und Erwachsene bestand, sondern auch in der Organisation und Erforschung der kindlichen Lektüre, in der Arbeit mit der des Lesens und Schreibens noch nicht ausreichend mächtigen Bevölkerung sowie in der Organisation von Kursen und Seminaren für Pädagogen. Das Institut existierte bis zum Jahre 1923, bevor es in eine Abteilung des Instituts für „außerschulische“ Arbeit umstrukturiert und im Jahre 1930 dann gänzlich geschlossen wurde, da in den pädagogischen resp. pädologischen Debatten der 1920er Jahre die utilitaristische Auffassung von Kinderliteratur als Teil des allgemeinen Erziehungsprozesses siegte und man damit dieser Literatur ihre künstlerische Besonderheit und Spezifik absprach. Ein ähnliches Schicksal, wenn auch mit kleineren Abweichungen, ereilte das Institut für Vorschullektüre, das in Petrograd unter der Leitung von O. I. Kapica organisiert worden war.12 Neben der Arbeit zur Zusammenstellung einer speziellen Kinderbibliothek leitete Kapica im Jahre 1922 ein Studio, zu dessen Mitarbeitern auch der Verantwortliche für den literarischen Teil des neuen Theaters für den jungen Zuschauer, Samuil Jakovlevič Maršak, gehörte. Hier begann sein redaktionelles Wirken, hier war die Geburtsstunde des neuen Journalismus für Kinder, die sich, wenn auch nicht sehr lange, in Journalen präsentierte wie Der Sperling (Vorobej), Der neue Robinson (Novyj Robinzon), Der Zeisig – Das außerordentlich interessante Journal (Čiž – Čerezvyčajno interesnyi žurnal) oder Der Igel – Die Monatszeitschrift (Ež – Ežemesjačnyj žurnal). In diesem Studio formierte sich die zukünftige Redaktion des Leningrader Detgiz13, der im Jahre 1937 zerschlagen wurde.14 Zur Kinderliteratur kommen die Künstler-Konstruktivisten, welche das Fehlen eines Absatzmarktes im postrevolutionären Russland dazu bringt, 11 12 13 14

Narkompros – Volkskommissariat für Bildung (Narodnyj komissariat prosveščenija). Ausführlicher zu dieser Periode der Entwicklung der Kinderliteratur siehe Arzamasceva, I. N.: Vek rebenka v russkoj literature. 120-129. Detgiz – Staatlicher Verlag für Kinderliteratur (Detskoe gosudarstvennoe izdatel’stvo). Über die Zerschlagung der Redaktion des Leningrader Detgiz siehe Ljubarskaja, A.: Za tjuremnoj stenoj. Leningradskij martirolog, 1937 – 1938. T. 3. Sankt Petersburg 1998, 555-581.

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sich neuen Formen in Leben und Kunst zuzuwenden. Anfang 1918 wurde in Petrograd die Kunstgenossenschaft Heute (Segodnja) gegründet, dessen Organisatorin die zu jener Zeit 26-jährige Vera Michajlovna Ermolajeva (1893 – 1938) war. Später, in den 1920er Jahren, arbeitete Ermolajeva im Detgiz und im Čiž sowie in der Ež und gehörte zu den führenden Künstlern auf dem Gebiet des Kinderbuches. Im Jahre 1918 brachte die Genossenschaft unter ihrer Leitung (dort arbeiteten Natan Al’tman, Jurij Annenkov, Nadežda Ljubavina) Kinderbücher in kleiner Auflage heraus, die mittels der Linographie-Technik hergestellt wurden. Die Texte für die Büchlein verfassten Natan Vengerov, Michail Kuiz’min und Ivan Sokolov-Mikitov.15 Der literarische Stil dieser preiswerten Bilderbücher bewegte sich etwa zwischen den modernen Comics und den Fröhlichen Bildern (Veselye kartinki), einer Zeitschrift für Kinder im Vorschulalter (erscheint seit 1956). Obwohl die Genossenschaft nicht lange existierte (bis zum Herbst 1919), zeigten sich darin dennoch die Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Literaten und Künstlern, die sich ebenso originell im „Industrieroman“ für Kinder wie auch in der Arbeit des privaten Verlags Der Regenbogen (Raduga) widerspiegelten. Der von L. M. Kljačko geleitete Regenbogen, der von 1922 bis 1930 existierte, wurde auf Beschluss des Narkompros mit der Begründung geschlossen, der Verlag würde apolitische Kinderbücher herausgeben, die „weit ab sind von den drängenden Fragen der Gegenwart“16. In diesem Verlag erschienen zum Beispiel die Kinderlyrik Maršaks mit Illustrationen von Vl. Lebedev (Eis/Moroženoe, 1925; Zirkus/Cirk, 1925) und die Märchen Čukovskijs mit den Illustrationen Vl. Konaševičs. Auf der 1925 in Paris stattfindenden internationalen Ausstellung für dekorative Kunst wurden die Kinderbücher des Raduga-Verlages mit einer speziellen Medaille für innovative Gestaltung ausgezeichnet. „Die Stimme der Macht“ beginnt im „kindlichen“ Raum zunächst relativ unbestimmt sich Gehör zu verschaffen. In diesem Zusammenhang ist eine Erinnerung Kornej Čukovskijs an seinen ersten „Staatsauftrag“ interessant, der ihm von der neuen Macht erteilt wurde. Obwohl der Memoirist Čukovskij für seinen „freien“ Umgang mit den Fakten bekannt ist, treten in seinen Erinnerungen dennoch deutlich jene Hebel hervor, welche den Prozess der Schaffung der neuen Kinderliteratur bewegten: Es beginnt das Jahr 1919 und man sagte zu mir: „Du wirst im Smolny verlangt.“ Einen Staatsverlag gab es damals noch nicht, ebenso wenig einen Detgiz oder

15 16

Štejner, E.: Avangard i postroenie novogo čeloveka: iskusstvo sovetskoj detskoj knigi 1920 godov. Moskau 2002, 31-32. Kon, L.: Sovetskaja detskaja literatura vosstanovitel’nogo perioda (1921 – 1925). Moskau 1955, 125.

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Detizdat17, auch keine Kinderliteratur, es gab das Zimmer Nr. 319, in dem, wenn ich mich recht erinnere, der Genosse Ionin saß. Gen. Ionin sagte mir Folgendes, was eher wie eine Beschuldigung denn wie ein Lob klang: „Ich habe gehört, Sie haben ein Märchen mit dem Titel Krokodil geschrieben, wir brauchen dieses Märchen. Geben Sie dieses Märchen heraus.“ Ich war so froh darüber, dass es um ein Märchen ging, dass ich es natürlich sofort hinbrachte. Und innerhalb von drei Wochen kam dieses Büchlein heraus [...] darauf stehen die stolzen Worte: Verlag der Soldaten-, Arbeiter- und Bauerndeputierten. Und Gor’kij selbst hat dem ersten Teil seinen Segen gegeben.18

Die ersten Parteidokumente konstatieren in Form von Parteiresolutionen in ziemlich blumigen Phrasen die Notwendigkeit, eine „Literatur für die Arbeiter- und Bauernjugend zu etablieren, die dem Einfluss seitens der sich entwickelnden Boulevardliteratur auf die Jugend entgegenstehen und zur kommunistischen Erziehung der jugendlichen Massen beitragen könnte“ (Resolution des 11. Kongresses „Zu Presse und Propaganda“ („O pečati i propagande“, 1922), die aber gleichzeitig immer konkreter Formen als „Anleitung zum Handeln“ annimmt. Bereits in der Verordnung des CK VKP(b) vom 6. Februar 1924 „Über die wichtigsten anstehenden Aufgaben auf dem Gebiet der Presse“ („O važnejšich očerednych zadačach v oblasti pečati“) findet sich die Instruktion, „Maßnahmen zur Schaffung einer sowjetischen Kinderliteratur“19 zu ergreifen. In der Resolution des 13. Kongresses zur Presseentwicklung wurde die Gestaltlosigkeit der ersten Erklärung durch konkrete Koordinaten des Auftraggebers und Adressaten der neuen Literatur ersetzt: Es ist unabdingbar damit zu beginnen, eine Kinderliteratur zu schaffen (Adressat – MB) unter der sorgfältigen Kontrolle und der Leitung durch die Partei (Auftraggeber – MB), mit dem Ziel, in dieser Literatur die Momente der klassenmäßigen internationalen Erziehung zur Arbeit zu verstärken (konkrete Aufgaben – MB).20

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19 20

Detskoe izdatel’stvo (Verlag für Kinderliteratur) – das war dasselbe wie Detgiz, nur anders genannt. In den 1920er Jahren war Detizdat ein Teil von Gosizdat (Staatsverlag). Detgiz war seit 1933 ein Sonderverlag für Kinder. „Наступает 19-й год и мне говорят: – тебя требуют в Смольный. Никакого Госиздата тогда не было, не было никакого Детгиза, ни Детиздата, ни детской литературы, была комната № 319, кажется, в которой сидел товарищ Ионин. Тов. Ионин сказал мне так, скорее обвиняя меня, а не то, чтобы лаская: У вас, я слышал, есть сказка Крокодил, нам нужна эта сказка. Дайте эту сказку. Я так обрадовался, что дело обошлось сказкой, что, конечно, сейчас же её принёс. В три недели вышла эта книжка [...] на ней есть гордые слова: – издательство солдатских, рабочих и крестьянских депутатов. И Горький собственно, благославил эту первую её часть.“ Stenogramm, K. Čukovskij wird nach Arzamasceva 2003, 94-95 zitiert. O partijnoj pečati. Sbornik dokumentov. Moskau 1954, 294. „Необходимо приступить к созданию литературы для детей (адресат – МБ) под тщательным контролем и руководством партии (заказчик – МБ), с целью

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Eine besondere Rolle bei der Entwicklung der Kinderliteratur spielten die Resolutionen des CK des VLKSM Komsomol21 zur Schaffung einer Pionierpresse aus dem Jahre 1925 (Über die Pionierzeitungen/O pionerskich pečatnych gazetach; Ein Brief über die Pionierzeitungen/Pis’mo o pionerskich gazetach; Über die Kinderautoren-Bewegung/O detkorovskom dviženii), obwohl Pionierzeitungen und -journale bereits seit 1922 erschienen (Oktoberkinder/Oktjabrjata und Pionier/Pioner in Moskau, Lenins Funken/Leninskie iskry und Das Fünkchen/Iskorka in Leningrad). Es gab viele Pionierzeitungen und -journale, nur an Autoren mangelte es, deshalb war auch das Kollektiv der Schreibenden äußerst ambivalent. Auf Seiten der Pionierpresse kann man daher sowohl sowjetische Funktionäre bzw. ihnen nahestehende Personen finden (Krupskaja, Elizarova, Marija Il’inična Ul’janova, E. M. Jaroslavskij) als auch Autoren, die sich ganz dem neuen Kinderbuch verschrieben hatten (Maršak, Kassil’). In der Pionierpresse erscheint auch Majakovskijs Märchen Über Petja, den Dicken und Sima, den Dünnen (1925). Außerdem gibt es Autoren, die rein zufällig auf die Seiten der Pionierpresse gelangten, zum Beispiel Sergej Gorodeckij, ein Poet der Moderne und Autor solch populärer vorrevolutionärer Märchen wie Der Zarensohn Malyš (Carevič malyš), Die Zarentochter Slastena (Carevna Slastena, 1910). Der Proletkul’t allerdings entfernte die Märchen über Zarenkinder, da sie nicht richtig seien und schädliche Vorstellungen über das Glück verbreiten würden. Angesichts der schwierigen materiellen Bedingungen der 1920er Jahre musste man jedoch irgendwie seine Existenz sichern und so publizierte Gorodeckij im Pionier des Jahres 1924 neue Gedichte für neue Kinder, in denen er verspricht, dass über „jedem zukünftigen Kind“ der „rote Stern“ leuchten werde. Ein Jahr vorher versprach Eduard Bagrickij, die neue Generation die „Wissenschaft von der Rache“ zu lehren und schlug vor, sich ein Beispiel an dem „sich aus dem Grab erhebenden Marat“ zu nehmen. Was aber sollte man bloß mit Kornej Čukovskij machen, in dessen Versen für Kinder bösartigerweise die „Bären Fahrrad fuhren, wobei sie von einer Katze mit dem Hinterteil voran verfolgt werden“! Angesichts dieser ganzen revolutionären Rhetorik tut man sich schwer, von der Partei bestellten Kritikern wie Klavdija Sverdlova, nicht zuzustimmen.22 Sverdlova warf Čukovskij, diesem ihrer Definition nach „kleinbürgerlichen, intellektuellen Kindersänger“ vor, dass seinen Werken die Parteilichkeit ebenso fehle wie das Verständnis für den „neuen Kindertypus, dessen Leben in einem „organi-

21 22

усиления в этой литературе моментов классового интернационального трудового воспитания (конкретные задачи – МБ).“ Ebd., 251. VLKSM Komsomol – Leninsche Allunionsvereinigung der kommunistischen Jugend, auch Komsomol (Vsesojuznyj leninskij kommunističeskij sojuz molodeži). Der Aufsatz von K. Sverdlova wird zitiert nach: Čukovskij, K.: Dnevnik, 1901 – 1929. Moskau 1997, 294.

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sierten Kinderkollektiv verläuft, wo die geistige und körperliche Ertüchtigung im Mittelpunkt stehen“.23 Die neue proletarische Tendenzliteratur für Kinder mit der klassischen Kinderliteratur in Einklang zu bringen, gelang nur einer großen literarischen Autorität, wie sie in Russland durch den wichtigsten proletarischen Schriftsteller Aleksej Maksimovič Gor’kij präsentiert wurde, der nicht nur zum „Nestor“ der sowjetischen Kinderliteratur, sondern auch zum Verteidiger solcher Autoren wie Maršak und Čukovskij wurde. Als Autor von Kinderbüchern debütierte Gor’kij mit Erzählungen über die schwere Kindheit. Im Jahre 1889 wurde in der Kinderzeitschrift Keimende Saat (Vschody) seine Erzählung Seelischer Aufruhr (Vstrjaska) mit dem Untertitel „Eine Seite aus Mischas Leben“ veröffentlicht. Der Hauptheld der Erzählung ähnelt dem Van’ka Žukov Čechovs: Als er ohne Wissen seiner Herren in den Zirkus geht, wird der Junge nach seiner Rückkehr gnadenlos verprügelt und für sein Fehlverhalten schwer bestraft. Gor’kij konzentriert sich bei seiner Beschreibung vor allem auf die Gefühle seines kleinen Helden, ungerecht behandelt und durch die Schläge entwürdigt worden zu sein. Dieselben Motive finden wir, wenn auch in höchst sarkastischer Manier, in der Gor’kijschen Parodie auf eine Weihnachtsgeschichte aus dem Jahre 1894 Über einen Jungen und ein Mädchen, die nicht erfroren sind (O mal’čike i devočke, kotorye ne zamerzli). Das Thema der schweren Kindheit ist für das Schaffen des Autors als Vermittlung seiner eigenen Erfahrungen sehr wichtig; Seelischer Aufruhr ist wahrscheinlich eine Art „Federprobe“, die den Beginn der Arbeit am Roman Kindheit (Detstvo), der 1913 verfasst wurde, markiert. Die „schwere Kindheit“ bleibt für immer ein zentrales Thema für Gor’kij. Erneut wird sie in dem im Sammelband Nordlicht (Severnoe sijanie) abgedruckten antireligiösen Märchen Jaška aufgegriffen: Es war einmal ein Junge namens Jaschka, der wurde oft geschlagen, erhielt kaum etwas zu essen und nachdem er das 10 Jahre ertragen hatte, sagte er sich, dass es wohl nicht besser würde im Leben und so wurde er krank und starb.24

Die Beschreibung einer schweren Kindheit ist immanenter Bestandteil aller Überlegungen Gor’kijs zur literarischen Produktion von Kinderbüchern. Dazu gehört auch eine Liste für den Verlag von Zinovij Gržebin aus dem Jahre 1921, in der unter anderem solche Bücher aufgeführt werden wie die Geschichte des kleinen Kantonisten Mendel Gdanskij von Marija Konopnickaja, Der kleine Bettler (The True History of a Little Ragamuffin) von James Greenwood oder Ohne Familie von Hektor Malow. Dieselben Titel figurieren in den Bemerkungen zum Plan für die Detgiz (Zamečanija k planu 23 24

Ebd., 445. „Жил-был мальчик Яшка, били его много, кормили плохо, потерпел он до 10 лет, видит-лучше не жить ему, захворал да и помер.“

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Detgiza) aus dem Jahre 1935 und in den Notizen über Kinderbücher (Zametki o detskich knigach) aus dem Jahre 1936.25 Ein weiteres, nicht weniger wichtiges Thema in den vor der Revolution entstandenen Erzählungen und Märchen Gor’kijs für Kinder ist das Thema Arbeit, obwohl auch hier der „Klassenstandpunkt“ nicht fehlt. So beschreibt er im Märchen Der Morgen (Utro, 1910) romantisch die Arbeit der Sonne und der Menschen auf der Erde, wobei er nicht vergisst anzumerken, dass die Menschen trotz Arbeit auf der Erde arm bleiben. Am interessantesten aber tritt der Märchenerzähler Gor’kij in den Texten aus dem Jahre 1912 zu Tage: Dazu gehören auch die Märchen über Italien (Skazki ob Italii), Die Sache mit Evsejka (Slučaj s Evsejkoj) und das linguistisch innovative Märchen Das Spätzlein (Vorobyško). Märchen sind für Gor’kij ein natürliches und unabdingbares Genre der Kinderliteratur, das ihm noch aus der eigenen Kindheit sehr vertraut ist, daher stellt er sich in dem in den 1920er Jahren entbrennenden Streit um das Märchen auf die Seite dieses Genres. Ungeachtet der Tatsache, dass im Jahre 1918 die Kinderabteilung des Proletkul’ts das Märchen als etwas der proletarischen Literatur klassenmäßig fremdes „entlarvt“, schreibt und bearbeitet er für den Sammelband Die Tanne (Elka) im selben Jahr zwei Märchen: Der Samowar (Samovar) und Vom dummen Ivanuška (Pro Ivanušku-duračka).26 Der Publizist Gor’kij klopft ebenfalls an die Tür der sowjetischen Kinderliteratur und zwar als Autor polemischer Aufsätze über Literatur für Kinder und Jugendliche in der Samarsker Zeitung (Samarskaja gazeta, 1895), im Nižegorodsker Blatt (Nižegorodskij listok, 1896, 1899) und in der Zeitung Neues Leben (Novaja žizn’, 1918). Gor’kij beschäftigt sich in den Jahren vor der Revolution mit Fragen der Kindererziehung. In einem an den im Jahre 1910 in Brüssel stattfindenden Dritten Internationalen Kongress zur Erziehung in der Familie gerichteten offenen Brief mit dem Titel Märchen des Lebens (Skazka žizni)27 ruft Gor’kij die Teilnehmer dazu auf, in dem Kind sowohl einen Erben der Vergangenheit zu sehen („Gebt den Kindern, den Erben der gesamten grandiosen Arbeit der Vergangenheit der Menschheit, den Weg frei!“) als auch den Erbauer der Zukunft („Führt sie zur Zukunft hin, indem ihr sie lehrt, die Vergangenheit zu achten und wert zu halten“ – womit wohl auch das zukünftige Lernen bei den Klassikern gemeint ist!). In diesem Brief ist das gesamte Erziehungsprogramm Gor’kijs enthalten, das er im Folgenden sowohl als Schriftsteller als auch als Herausgeber bewusst zu realisieren versucht: Achtung für die Arbeit und die Leiden der Vergangenheit verstehen zu lehren sowie aus Fehlern zu lernen und zu verzeihen – von 25 26 27

M. Gor’kij o detskoj literature. Moskau 1968, 110-111, 141. Elka, knižka dlja malen’kich detej. Reprint der Ausgabe des Jahres 1917. Sost. A. Benua i K. Čukovskij. Moskau 2001. M. Gor’kij o detskoj literature, 51.

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der letztgenannten Komponente seines Programms verabschiedet sich der sowjetische Gor’kij allerdings recht bald. Schließlich nennt er noch eine weitere Aufgabe: die Notwendigkeit der Erziehung zum Internationalismus; eine Aufgabe, die schon in den Anfangsjahren der sowjetischen Kinderliteratur eine wichtige Rolle spielte, die aber aus der Sphäre der Familie herausgelöst und klassenmäßig konnotiert wird (so zum Beispiel in dem Poem Nikolaj Tichonovs Sami aus dem Jahre 1921 oder in Agnii Bartos Der kleine Chinese Van Li/Kitajčonok Van Li aus dem Jahre 1925). Besondere Aufmerksamkeit verdient ein weiterer publizistischer Auftritt Gor’kijs: sein Vortrag auf einer speziellen Sitzung der Liga für soziale Erziehung (Liga social’nogo vospitanija), die unter seiner Leitung am 4. Juni 1917, kurz nach der Februarrevolution, organisiert wurde. Die Liga widmete sich der Ausarbeitung von Plänen für die Schaffung einer neuen sozialen Schule. Dort arbeiteten solche – schon vor der Revolution – bekannten Pädagogen wie Stanislav Teofilovič Šackij (Direktor der Fachschule von Teniševsk), V. N. Gippius (der am 25. Juni 1917 in der Liga mit einem Vortrag zum Thema „Revolution und Schule“ auftrat) und andere Pädagogen, die an der Schaffung eines neuen Bildungssystems interessiert waren. Gor’kijs Vortrag „Kinder und Gegenwart“ („Deti i sovremennost’“), der auf derselben Sitzung gehalten wurde, ist voller pessimistischer Resümees und dennoch eng verbunden mit dem positiven Bildungssystem, welches er im Jahre 1910 erarbeitet hatte. Es folgen einige Zitate aus seinem Vortrag, die später in der Zeitung Neues Leben (Novaja žizn’) abgedruckt wurden: Wir sind auf das Fest eines ungeheuren Schweins geladen, das in Wut geraten ist und mit seiner stumpfen Schnauze die ganze Welt vernichtet. [...] Jetzt, da wir in eine Zeit sozialer Katastrophen eingetreten sind, da die Atmosphäre durch Revolutionen aufgeladen ist, müssen wir uns besonders eindringlich daran erinnern, dass wir in einem psychisch nicht besonders gesunden Lande leben, inmitten eines Volkes, dessen Gesundheit angegriffen ist. [...] Wenn wir unsere Lage wirklich verändern wollen, wenn wir die psychologischen Grundlagen des alten Systems verändern wollen, müssen wir diese komplizierte und schwierige Arbeit gerade mit der Erziehung der Kinder beginnen.28

Gor’kij akzentuiert drei Hauptaufgaben der neuen sozialen Erziehung: Ausstattung des Menschen mit Kenntnissen über ihn selbst und die Welt, in der er lebt; Charakterbildung und Entwicklung von Willensstärke; Herausbil28

„Мы присутствуем на празднике какой-то чудовищной свиньи, которая сбесилась и тупым рылом уничтожает весь мир. [...] Теперь, когда мы вступили в полосу социальных катастроф, в атмосферу революции, нам особенно твёрдо нужно помнить, что мы живём в стране не очень здоровой психически, среди народа, здоровье которого подорвано. [...] Если мы действительно хотим пересоздать наш быт, изменить психологические основы старого строя – мы должны начать эту сложную и трудную работу именно отсюда, с воспитания детей.“ Zitiert nach: M. Gor’kij o detskoj literature. 60-70.

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dung und Entwicklung von Fähigkeiten. Das Wissen sollte dabei zu kritischer Betrachtung befähigen und nicht zu mechanischer Wiedergabe, wie es in der alten Schule üblich war. Das von ihm prononcierte Wissen sei nur durch aktive Einbeziehung des Arbeitselements in die soziale Erziehung möglich. „Arbeit ist die Grundlage des Lebens“, sagt Gor’kij. Den Kindern muss Selbständigkeit anerzogen werden: er sieht „großes Potential, eine Wahl zu treffen“, im Kinderkollektiv, im „kameradschaftlichen Gericht“, in „selbständiger Zeiteinteilung für Arbeit, Unterricht und Spiel“. Und diesen gesamten Komplex an Aktivitäten lenkt der Erwachsene, der als „Verstand fungiert, der den Willen lediglich kanalisiert, ihn aber nicht unterdrückt.“ Es ist nicht verwunderlich, dass Gor’kij die ideale Verkörperung seines Projekts 1928 bei einem Besuch in der von Anton Semenovič Makarenko geleiteten und Gor’kijs Namen tragenden Kolonie vorfindet. Die Idee des so genannten „Umschmiedens“ ist Gor’kij sehr nahe und so unterstützt er ihre Einführung in die Literatur auf jede nur erdenkliche Weise: Im Jahre 1927 begrüßt er das Erscheinen der Erzählung Die Republik ŠKID (Respublika ŠKID) von Grigorij Belych und L. Panteleev; mit direkter Unterstützung Gor’kijs wird dreimal die Erzählung Ataman Blase (Ataman Puzyr’) veröffentlicht, die von den drei jugendlichen Kolonisten E. Dul’nev, B. Irtyšinskij und V. Kornev verfasst wurde. Gor’kij korrespondiert mit dem „Autorenkollektiv“, schickt ihnen einen kompletten Satz des Journals Auf zum Sturm der Trasse (Na šturm trassy), das im Dmitlag herauskommt und lenkt ihr Schaffen auf verschiedene Art und Weise. So schreibt er zum Beispiel an die jungen Autoren (das Alter aller drei zusammengezählt belief sich beim Erscheinen des Buches auf 54 Jahre!): Unzureichend in Eurem Buch ist, dass ihr zu wenig auf die Arbeit Eurer Erzieher an Euch – „dem zu erziehenden Material“ – eingeht [...]. Die Tschekisten, die Agenten der GPU29, erreichen in dieser Arbeit (bei der „Umschmiedung“ der obdachlosen Kinder – M. B.) wunderbare Erfolge!30

All das aber sind Randglossen – das Wichtigste in den publizistischen Aufsätzen und Auftritten Gor’kijs ist deren Übereinstimmung nicht nur mit dem Programm von Kormčij (die Erziehungsfunktion des Staates, Literatur als Staatsauftrag), sondern auch mit einem anderen sehr wichtigen „Ausgangsdokument“ zur Ausgestaltung der „sowjetischen Kindheit“: der Rede Lenins auf dem Dritten Kongress des Russischen Kommunistischen Jugendverbandes vom 2. Oktober 1920. Das Leninsche Umgestaltungsprogramm ist eben29 30

GPU – Politische Hauptverwaltung (Главное политическое управление). „Недостаток вашей книжки в том, что вы слабовато отметили работу воспитателей над вами – материалом воспитания [...]. Чекистам, агентам ГПУ удаётся достигнуть в этой работе (по перековке беспризорников – М. Б.) отличных успехов!“ Avtoram povesti Ataman puzyr’. In: Detskaja literatura. 12 (1936).

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falls „verknüpft“ mit Selbständigkeit und Eigeninitiative. In ihm finden wir auch die Forderung zu lernen wieder, wobei aber aus dem Bildungssystem eine „Menge an unwichtigem und überflüssigem Wissen“ auszuschließen sei. Und auch hier liegt der Akzent auf der engen Verbindung mit der Praxis (vgl. die Arbeit als Lebensgrundlage bei Gor’kij), auch hier finden wir die Verbindung von Lernen und gesellschaftlich nützlicher Tätigkeit (vgl. die soziale Aktivität bei Gor’kij). In seinen „Aufgaben des Komsomol“ formuliert Lenin ferner die wichtigsten Prinzipien der neuen Bildung: Kollektivismus, Internationalismus, Atheismus, ein sozialistisches Verhältnis zur Arbeit und Klassensolidarität. Wenn auch nicht vollständig, so handelt es sich dabei doch über weite Strecken um Begriffe aus Gor’kijs Lexikon, in dem er über die neue Schule und dementsprechend über die neue Literatur für diese Schule spricht. Sowohl das Oberhaupt des ersten proletarischen Staates als auch der erste proletarische Schriftsteller sehen ein- und dieselbe Aufgabe als zentral an: den neuen Menschen zu erziehen, umzubilden und zu „schmieden“ (manchmal auch „umzuschmieden“), das heißt, es handelt sich um eine zutiefst didaktische Aufgabe, wovon auch die interessante Übereinstimmung der Prinzipien dieses Erziehungsprozesses herrührt. Nur werden sie den neuen Menschen mit unterschiedlichen Mitteln „schmieden“: Im ersten Falle mit Hilfe des staatlichen Gewaltapparates, im zweiten mit Hilfe der Literatur, die – selbst dem Einfluss dieses Apparates unterworfen – sowohl zum Opfer als auch zu einem Instrument dieser Gewaltherrschaft wird. Wichtiger Bestandteil des Gor’kijschen Erziehungsprogramms ist seine Herausgebertätigkeit. Der Herausgeber Gor’kij, der sich der Kinderliteratur widmet, setzt darin seine Linie des Schriftstellers und Publizisten fort. Nach dem ersten Almanach Die Tanne (Elka), den man nur mit gewissen Einschränkungen zur sowjetischen Kinderliteratur zählen kann (er wurde noch vor der Revolution zusammengestellt, allein sein Erscheinen verzögerte sich wegen Papiermangels), beginnt Gor’kij damit, eine Kinderzeitschrift – das Journal Nordlicht (Severnoe sijanie, 1919 – 1921) herauszugeben. Die Zeitschrift wird unter der Schirmherrschaft des Petrograder Kommissariats für Bildung und soziale Versorgung der nördlichen Kommunen publiziert. Gor’kij ist Vorsitzender des Redaktionskollegiums und schreibt in seinem Appell an die Eltern („Ein Wort an die Erwachsenen“/„Slovo vzroslym“): Im vorliegenden Journal werden wir nach Kräften versuchen, die Kinder zur Aktivität, zum Interesse und zur Achtung der Kraft des Verstandes, zur Wissenschaft und zur großen Aufgabe der Kunst zu erziehen, die darin besteht, den Menschen stark und schön zu machen.31 31

„В предлагаемом журнале мы-по мере сил наших-будем стремиться воспитывать в детях дух активности, интерес и уважение к силе разума, к поискам науки, к великой задаче искусства – сделать человека сильным и красивым.“ M. Gor’kij o detskoj literature. 76.

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Es ist bezeichnend, dass sogar ein Kinderjournal für Gor’kij zum Sprachrohr seiner politischen Sympathien und Antipathien wird: So erscheint ihm die Stadt als „Sammelbecken der rationalen Kräfte, der märchenhaften Einfälle, der großen Errungenschaften“; das Dorf hingegen wird assoziiert mit „schwerem, fadem, passivem Geist“. Die Zeitschrift enthält sowohl eine Rubrik für Belletristik als auch eine für populäre Wissenschaft, und es wird eine spezielle Rubrik unter dem gemeinsamen Titel Klub der Neugierigen (Klub ljuboznatel’nych) eingerichtet, in der kleinere Abhandlungen zu den unterschiedlichsten Disziplinen abgedruckt werden, angefangen von Naturwissenschaft und Technik bis hin zur angewandten Kunst. Es ist nicht schwer, im Nordlicht (Severnoe sijanie) ein Vorbild für die berühmten Kinderzeitschriften von S.Ja. Maršak zu erblicken: etwa Der Spatz (Vorobej, 1923 – 1924) und Der neue Robinson (Novyj Robinzon, 1924 – 1925), die nach demselben Prinzip aufgebaut waren und die auf diese Art und Weise interessante und zufällig entdeckte Autoren versammelten (Vitalij Bianki, Boris Žitkov, Evgenij Švarc). Auch solche vom OBĖRIU-Kreis herausgegebenen Zeitschriften wie Der Igel – Die Monatszeitschrift (Ež – Ežemesjačnyj žurnal, 1928 – 1935),) und Der Zeisig – Das außerordentlich interessante Journal (Čiž – Čerezvyčajno interesnyi žurnal, 1930 – 1941) bewahren die von Gor’kij vorgeschlagene Struktur, um Wissen auf allen Gebieten „zu verbreiten“. Als Herausgeber stellte Gor’kij ausführliche Arbeitspläne für die Russische Literatur (Russkaja literatura) zusammen; ein weiteres nicht verwirklichtes Projekt, darin nach den Vorstellungen des Schriftstellers klassische Literatur für Kinder zu einem erschwinglichen Preis hätte abgedruckt werden sollen. Genau wie in der Literatur für Erwachsene ist Gor’kij auch in der Kinderliteratur darum bemüht, sowohl die Schreibenden als auch die Bewegung der jugendlichen Schreibenden zu unterstützen, welche den Zustand der Erwachsenenliteratur kopierte. Denn woher hätte man auch andere Modelle nehmen sollen? Nach seiner Rückkehr aus dem Ausland beginnt er eine aktive Korrespondenz mit Kindern, schickt ihnen Literatur, hilft Bücher zu veröffentlichen (so zum Beispiel Wir aus Igarka/My iz Igarki, 1938). Es ist interessant, dass Gor’kijs Antwort an die Kinder von Igarka sogar im Radio übertragen wurde. Das Buch selbst erschien erst nach Gor’kijs Tod mit folgender Widmung: „Zum Gedenken an den großen Schriftsteller, unserem Lehrer und Freund Aleksej Maksimovič Gor’kij, ihm ist dieses Werk gewidmet“.32 Genau wie in der Literatur für Erwachsene führten auch in der „großen Literatur für die Kleinen“33 die laut gepriesenen Erfolge der „jungen Schriftsteller“ im Zusammenhang mit der staatlichen Aufsicht über die literarischen Zirkel für Kinder und die „Armee“ der Kinder-Korrespondenten zu Übertrei32 33

Ebd., 410. Ein neuer Begriff, der von S. Maršak auf dem Ersten Kongress der sowjetischen Schriftsteller geprägt wurde.

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bungen und „Extremen“ in diesem besonderen Bereich. Arzamasceva zitiert das Fazit des leitenden Methodikers des Zentralen Hauses für Kunsterziehung für Kinder beim Narkompros der RSFSR und kommt zu folgendem Schluss: Die schreibenden Kinder vermehrten sich in einem solchen Umfang, dass das niedrige Niveau der literarischen „Produktion“ und der zweifelhafte moralische Zustand der Autoren selbst letztendlich öffentlich verurteilt wurden.34

Aus den obigen Ausführungen geht hervor, wie stark die sowjetische Kinderliteratur sich unter ständiger gespannter Aufmerksamkeit der Partei befand. Genau wie in der „Erwachsenenliteratur“ gab es hier einen komplizierten Kampf verschiedener Ideologien und Vorstellungen darüber, wie diese Literatur auszusehen habe. Genau wie der Erwachsenenliteratur wurde der Literatur für Kinder in der neuen Gesellschaft eine Erziehungsfunktion zugewiesen, allerdings mit dem Unterschied, dass die didaktischen Aufgaben für die Kinderliteratur eine organische Erscheinung waren, die dieser Literatur bereits vom ersten Moment ihres Entstehens im alten Griechenland und in Rom immanent war. Der in die Kinderliteratur kommende sowjetische Schriftsteller fühlte sich dieser organisch verbunden und verfügte dabei über ein großes Reservoir an „erzieherischen“ (d.h. künstlerischen) Mitteln. Ohne Furcht konnte man sich ein Land der Winzlinge (Korotyški, N. Nosov) ausdenken, Sannikovs Land (Zemlja Sannikova, V. Obručev) oder sich ohne die Pioniergruppe in die Einsamkeit begeben, über die Waldwege wandern und dabei Neues und Unerwartetes erleben (V. Bianki). Gor’kijs Vermächtnis, demzufolge man für Kinder „interessant“ schreiben solle, war eine recht illusorische Verteidigung gegen die vielfältigen Attacken, denen die Kinderliteratur in Sowjetzeiten unterworfen war. Aber für den Schreibenden war auch diese Illusion ausreichend, um in dieser Literatur den notwendigen „Atemzug der Freiheit“ zu sehen. Übersetzung: Björn Seidel-Dreffke

34

„Пишущие дети размножились до такой степени, что низкое качество литературной продукции и сомнительное моральное состояние самих авторов было наконец публично осуждено.“ Arzamasceva, I. N.: Vek rebenka v russkoj literature, 92.

C A TR IO N A K E LLY

„Ein Kämpfer für das Recht auf Glück und Freiheit“ Shakespeare für den sowjetischen Schüler und das breite Lesepublikum der 1920er und 1930er Jahre Der Kapitalismus ist auch nicht der Erbe seiner eigenen Vergangenheit, denn wie sollte ein Zwerg die Kleidung tragen, die ihm ein Riese hinterließ1

Für das lesende Kind existiert „weder ein Grieche, noch ein Jude“: die Nationalität der Autoren spielt einfach keine Rolle. Es ist im Gegenteil eher wie in der Volkskultur, der Text an sich ist wichtiger als der Autor.2 Eine Ausnahme bilden dabei höchstens die Autoren von Romanserien (z.B.: J. R. R. Tolkien, C. S. Lewis, J. K. Rowling, L. Čarskaja, E. Uspenskij) – diese sieht der junge Leser nach einer Weile als eine Art „Freund“ an, die Persönlichkeit des Autors wird gleichsam zu einem Teil der von ihm dargestellten Welt. Darüber hinaus kann ein Autor, den das Kind als Bekannten ansieht, kein „Fremder“ im Sinne von „Ausländer“ werden. Sowohl zeitliche als auch räumliche Grenzen verwischen sich, die gesamte Lektüre erscheint, wenn sie gefallen hat, als universell und bekannt.3 Auf diese Weise wird ein beliebiger, in der frühen Kindheit (im Alter bis zwölf Jahre) von einem empfänglichen Kind rezipierter Text auf einer bestimmten Ebene zu Material aus dem persönlichen, hiesigen Leben. Dies trifft nicht nur auf spezielle „Kinderbücher“ zu, sondern gilt auch für die Klassiker der Weltliteratur, die Bücher der schulischen Lektüre inklusive. Eine solche „Multikulturalität“ oder, besser gesagt, ein „naiver Universalismus“ (da die Heterogenität des Materials auf der nationalen Ebene einfach nicht erfasst wird) war ebenso für die russische Kinderkultur des 19. und des 1 2

3

Dinamov, S.: Sila Šekspira. In: Sovetskoe iskusstvo. 6. 11. 1936. Eine aussagekräftige Quelle für Informationen über die „volkstümliche“ Wahrnehmung ist eine Sammlung privater Korrespondenz an die Soldaten der Roten Armee, die im Sowjetisch-Finnischen „Winterkrieg“ der Jahre 1939 – 1940 kämpften. Vgl.: Zenzinov, V. (Hrsg.): Vstreča s Rossiej. New York 1944. Hier werden Zeilen von Lermontov, Puškin und anderen ohne genaue Verweise zitiert. Ich erinnere mich gut daran, dass ich Autoren wie Tove Jansson und Texte wie Mrs. Pepperpot, der eigentlich vom norwegischen Autor Alf Prøysen stammt und im Original Teskjekjerringa (Die Frau mit dem Teelöffel) heißt, für zutiefst englisch hielt. Eigentümlichkeiten, dass zum Beispiel Elche in der Küche der Heldin erscheinen könnten, hielt ich eher für Vorgänge in der Märchenwelt bzw. in einem „Paralleluniversum“ als für Gegebenheiten der Lebensumstände eines anderen Landes.

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20. Jahrhunderts charakteristisch. Es ist bekannt, dass in den Jahren vor der Revolution Autoren wie Thomas Maine Reid, James Fenimore Cooper und Jules Verne zu den beliebtesten Autoren bei den russischen Kindern gehörten, gemeinsam mit den später vergessenen (in Russland „vergessen“, in der angelsächsischen Kultur waren sie bekannter als die Abenteuerliteratur des Jahrhundertbeginns) Frances Hodgson Burnett und Louisa May Alcott. Zur „Fusion“ des Einheimischen mit dem Ausländischen trug auch der Umstand bei, dass man die Kinderliteratur oft nicht nur „übersetzte“, sondern bearbeitete, Beispiele dafür sind die Verse des Unordentlichen Stepka (Stepka Rastrepka), als Version des klassischen deutschen Kinderpoems von Heinrich Hoffmann Der Struwwelpeter.4 Es konnte aber auch geschehen, dass man den Kindern die ausländische Literatur innerhalb des Bildungsprozesses gerade als etwas „fremdes“, als ein „Fenster nach Europa“ vermittelte. So mussten zum Beispiel die Kinder in einem während der „Ignat’evschen Reform“ von 1915 zusammengestellten experimentellen Schulprogramm Texte wie Der Angriff der Leichten Brigade (The Charge of the Light Brigade) von Lord Tennyson mit dem Ziel lesen, die Ethik von Tapferkeit und Selbstopferungswillen zu verinnerlichen, die (in den Augen der Reformatoren) für die britische Kultur jener Zeit charakteristisch gewesen sei.5 Für den Bildungsprozess der ersten Jahre der Sowjetmacht war ein Herangehen an das „ausländische“ Material charakteristisch, das einerseits dem „kindlichen“ Lesevermögen und andererseits auch dem in den Ignat’evschen Reformen zum Ausdruck kommenden Blick auf die ausländische Literatur entgegenstand. In den Schulprogrammen der 1920er Jahre wurde die ausländische Literatur nicht als etwas „eigenes“ („svoja“) gesehen, auch nicht als „besser als das eigene“, sondern als „fremd und schlechter“, allerdings vom Klassenstandpunkt und nicht von einer nationalen Perspektive aus betrachtet. Im Zusammenhang mit der Darstellung Sowjetrusslands als das fortschrittlichste Land auf der Welt wurden die westeuropäischen und amerikanischen Autoren in der Schule vor allem als Vertreter eines bestimmten Blickes auf die sozialen Fragen analysiert (sie waren Abkömmlinge der „feudalen Schichten“, der „fortschrittlichen Bourgeoisie“ usw.). Kurz gesagt, das Stu4 5

Ein Beispiel aus der Sowjetzeit ist die Umarbeitung des Pinocchio in das Goldene Schlüsselchen (Zolotoj ključik) durch A. N. Tolstoj. Materialy po reforme srednej školy. Primernye programmy i ob’jaznitel’nye zapiski, izdannye po rasprojaženiju G. Ministra Narodnogo Prosveščenija (Petrograd 1915, 2454). Das Erscheinen solcher Materialien in den Schulprogrammen kann man mit der Einführung der skautischen Bewegung (scouting) in die russischen Schulen vergleichen, die ebenfalls von der o. g. Schulreform angeregt wurde. Der Architekt der Reformen, Petr Ignat’ev, hatte selbst eine „englische“ Ausbildung durchlaufen und seine Familie war ähnlich vieler der russischen Elite jener Zeit anglophil. Vgl.: Ignatieff, M.: The Russian Album. London 1987.

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dium der „nicht-russischen“ Literatur folgte dem Modell des Studiums der vorrevolutionären russischen. Das Vorherrschen der so genannten „komplexen Herangehensweise“ wurde von organisierten Literaturstudien zu den jeweiligen Themen begleitet. So rezipierten die Schüler gemäß den ersten zentralen Empfehlungen zum Schulprogramm des Jahres 1925 unter dem Thema „Bäuerliche Arbeit und Lebensweise“ Autoren wie Nikitin, Kol’cov, A. N. Tolstoj, Esenin, Orešin und Doronin; zum Thema „Neue Lebensweise“ las man Dem’jan Bednyj, Esenin, Volkov, Jakovlev, Dorogojčenko; zum Thema „Bauer und Gutsbesitzer“ Altväterliche Gutsbesitzer (Starosvetskie pomeščiki) von Gogol’, Oblomovs Traum (Son Oblomova) von Gončarov, Puškins Dubrovskij, Saltykov-Ščedrin und Turgenev’s Mumu usw.6 Man muss darauf verweisen, dass das Verhältnis zur Literatur nicht nur Fragen des „Klassenkampfes“ widerspiegelte. Die Verfasser der Programme der 1920er Jahre betonten auch die emotionale und schöpferische Seite der Arbeit mit den Texten: Es war nützlich, Literatur zu lesen, da sie „unserer Zeit entsprechende Emotionen“ hervorrufe. Die Schüler erlernten das „ausdruckvolle Lesen“ und sollten auch die stilistischen Elemente und den Text studieren. Dennoch richtete man die Hauptaufmerksamkeit auf den Inhalt: gemäß den Worten des Programms aus dem Jahre 1925 – „die Analyse des Inhalts eines literarischen Werkes sollte soziologisch sein“.7 Die Konzentration auf die „düstere Vergangenheit und lichte Zukunft“ führte ebenfalls zu einer spürbaren Marginalisierung der ausländischen Literatur. Im Programm von 1925 waren Upton Sinclairs Agitationsroman über Chicagos Lastenträger Der Dschungel (The Jungle) und überraschenderweise Autoren wie O. Henry und Emile Verhaeren seltene Ausnahmen angesichts der praktisch ausschließlich „russischen“ Autorenauswahl. In den Programmen aus dem Jahre 1927 finden wir fast dasselbe Bild vor.8 Zugegeben, die Einbeziehung „fremden“ Materials wurde in den Programmen der 1930er Jahre erweitert. Hier wurde nicht nur die „revolutionäre Weltliteratur“ herangezogen (Bredel, Siao), sondern auch gekürzte Ausgaben von Gullivers Reisen (Gulliver’s Travels) und Don Quijote, Maupassant, Dickens, Alphonse Daudet, Anatole France, Ibsen, Hamsun, Zola und Jack London.9 Allerdings wurde den Schülern dieser Überfluss an Material nicht lange präsentiert. Mitte der 1930er Jahre wurde die Auswahl nicht-russischer Pflichtlektüre bis auf ein Minimum reduziert, wobei die ausländischen Schriftsteller nur noch 6 7 8 9

Programmy dlja pervogo koncentra škol vtoroj stupeni (5, 6 i 7 gody obučenija). Moskau/Leningrad 1925, 142-153. Ebd., 156. O vyrazitel’nom čtenii i stilistike. Siehe ebd., 142-143. Ebd., 144-153.Vgl.: Programmy i metodičeskie zapiski edinoj trudovoj školy. Vypusk 3: 1-j koncentr gorodskoj školy vtoroj stupeni. Moskau/Leningrad 1927, 73-74, 86. Programma fabrično-zavodskoj semiletki. Vypusk 1 – 8. Moskau/Leningrad 1930, 4872.

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in einer Liste für „außerschulischen Lesestoff“ („vneklassnoe čtenie“) auftauchten. So enthielt zum Beispiel die Literaturliste aus dem Jahre 1937 für die Schüler der 7. Klasse Henri Barbusse, Zola, Sinclair, Germanetto, Blasco Ibáñez und eine gewisse „Agnes Medley“.10 Die Programme des Jahres 1938 gaben den Schülern der 5. Klasse die Möglichkeit, zwischen Verne, Dickens (Oliver Twist), Kipling (Auszüge aus dem Dschungel-Buch [Jungle Book]) und Stevensons Schatzinsel (Treasure Island) zu wählen; den Schülern der 6. Klasse wurden David Copperfield und die Werke Jack Londons zur Lektüre empfohlen. Doch die Mehrzahl der für die höheren Klassen empfohlenen Texte entlarvten die Laster der kapitalistischen Welt: So bot man den Schülern der 10. Klasse solch „fortschrittliche“ Autoren zur Lektüre an wie Byron und Romain Rolland, Dickens, Zola, Balzac, Stendhal, Thackeray. Von der vor 1800 verfassten Literatur (d.h. der vorindustriellen Periode) figurierten nur Schillers Die Räuber, Goethes Faust (Teil I) und Shakespeares Othello. Auf diese Weise ging die Abschaffung des „klassenmäßigen Herangehens“ und das Hervorheben der „bedeutenden Persönlichkeiten“ in der Geschichte und Kultur mit einer „Russifizierung“ des Schulprogramms einher (was so auch von den Reformen des Jahres 1932 vorgesehen war, welche die Rolle der vaterländischen Geschichte und Kultur in der Erziehung unterstrichen). Diese „Russifizierung“ machte sich auch in der Textauswahl für das Erlernen von Fremdsprachen bemerkbar. Während in Lehrbüchern und Anthologien Ende der 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre noch Texte von deutschen, britischen und amerikanischen Autoren überwogen, so finden sich demgegenüber in den Lehrbüchern Ende der 1930er Jahre die Klassiker des Marxismus-Leninismus, die häufig nicht von Muttersprachlern, sondern Russen übersetzt wurden.11 10

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Wahrscheinlich meinten die Verfasser Agnes Smedley, Autorin einiger Bücher über China und Verfasserin des Romans Tochter der Erde (The Daughter of Earth, 1929). Vgl. Šapošnikova, A.: Vneklassnoe čtenie v VII klasse. In: Literatura v škole. 4 (1937), 56. Vgl. z.B.: Kiločnickaja, L.: English/Anglijskij jazyk. Č. II. Učebnik dlja 10-go klassa srednej školy. Moskau 1937 (Vgl. z.B.: 36-37, auf denen ein Auszug aus einem Werk von Friedrich Engels erscheint). Selbst wenn Materialien der „fremden“ (tuzemnye) Autoren verwendet wurden, so waren die Auswahlkriterien dieselben wie im Fall der russischen – nämlich soziologische. So fungierten zum Beispiel in A. Wicksteeds und N. Settington’s Buch Anglijskij jazyk (1928) als Helden der landlose Knecht Tom und sein Freund Bill, der philosophierende Schmied, der ihm Predigten über das wunderbare Leben der Arbeiter in der Sowjetunion hielt. Der Lektüreband enthielt auch das berühmte Porträt einer ausgemergelten und verhöhnten Schneiderin von Thomas Hood Das Lied vom Hemd (The Song of the Shirt), Auszüge aus Romanen von Arnold Bennett usw. Vgl.: Wicksteed, A./Settington, N.: English/Anglijskij jazyk. Č. I. Moskau/Leningrad 1928, 34, 48. Vgl auch: Djušen, V./Pel’cer, A.: Učebnik nemeckogo jazyka. Odessa 1931; Hoods Poem wurde übersetzt bzw. eher adaptiert von Eduard Bagritskij im Jahre 1927 (vgl. Udar. Al’manach. Moskau 1927, siehe auch:

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Neben der Frage, was man in der Schule las, spielt natürlich auch die Frage eine Rolle, wie man die Literatur gelesen hat. Die Zeit um Mitte der 1930er Jahre ist die Phase des „großen Umschwungs“ in Bezug auf die Vermittlung der Humanwissenschaften in der Schule. Richtungweisend dabei war der Auftritt Kornej Čukovskijs auf dem X. Komsomolkongress im April 1936, der das „klassenmäßige Herangehen“ anhand des von Georgij Aleksandrovič Gukovskij verfassten Vorwortes zu den Fabeln Krylovs rückhaltlos entlarvte: Das gesamte Vorwort beweist die einzige These, dass Krylov ein Schurke (Lachen), ein Renegat, ein Sklave, ein Lakai, ein Speichellecker war, dass er sich sogar der Völlerei aus einer List heraus ergeben hat (Lachen) und selbst unsauber war, um sich anzudienen. [...] Wie wollen sie denn die Sprachkultur unserer Schüler anheben, wenn sie die Schriftsteller, die den Schüler begeistern sollen, schlecht machen?12

Schuld waren in den Augen Čukovskijs nicht die Lehrer, sondern die Behörden: „Das ist das Programm des Narkompros“.13 Neben den vom Ministerium herausgegebenen Richtlinien waren auch die pädagogischen Materialien für die unbefriedigende Situation mitverantwortlich: Wir haben noch keine solchen pädagogischen Bücher, die wenigstens in Ansätzen die weise Arbeit der Partei widerspiegeln würden, die geleistet wurde unter der Führung des größten Pädagogen der gesamten Menschheit, Iosif Vissarionovič Stalin (lauter Applaus), der all unseren Kindern eine solch prachtvolle und lichte Kindheit garantiert.14

Diese für ihre Zeit typische Analyse wurde einerseits durch die Abrechnung mit dem Narkompros beeinflusst, die mit der berühmten Verordnung vom 4. Juli 1936 über die „pädagogischen Verzerrungen“ ihren Abschluss fand, und andererseits durch das offizielle Ende des „Klassenkampfes“, das in den 1935 organisierten Diskussionen um die neue Verfassung akzentuiert wurde, unterstrichen durch eine auf einer Zusammenkunft für hervorragende Mähdrescherfahrer am 1. Dezember 1935 gemachte Äußerung Stalins gegenüber

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url: http://www.ruthenia.ru/sovlit/c/1026583.html). „Все предисловие доказывает единственный тезис, что Крылов был прохвост (смех), ренегат, раб, лакей, подлипало, что даже обжорству он предавался из-за хитрости (смех), даже неряшлив был из за угодничества. […] Как же вы надеетесь поднять словесную культуру нашего школьника, если вы будете мерзавить писателей, которыми он должен восхищаться?“ Desjatyj s’’ezd vsesojuznogo leninskogo kommunističeskogo sojuza molodeži: Stenografičeskij otčet. T. 2. Moskau 1936, 288. Ebd., 295; Narkompros – Volkskommissariat für Bildung (Narodnyj komissariat prosveščenija). „У нас нет еще таких педагогических книг, которые хотя бы в малой мере отражали мудрую работу всей партии, проделанную под руководством величайшего педагога всего человечества в самом великом значении этого слова – Иосифа Виссарионовича Сталина (шумные аплодисменты), обеспечивающего всем нашим детям такое пышное и светлое детство.“ Ebd., 295.

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einem Arbeiter aus einer entkulakisierten Familie, wonach „der Sohn für den Vater nicht verantwortlich ist“. Auf die allgemeinen Verurteilungen der „pädologischen Entstellungen“ in der Verordnung vom 4. Juli 1936 selbst und in der ersten Ausgabe des neuen Journals Sowjetische Pädagogik (Sovetskaja pedagogika), die im Herbst 1936 erschien, folgten Anprangerungen des negativen Einflusses der „Pädologie“ in bestimmten Fächern, das Literaturstudium eingeschlossen. Sicher, hier mischte sich (im Unterschied zu den Geschichtswissenschaften) das „Genie aller Wissenschaften“ nicht persönlich ein, aber es mangelte nicht an treuen Helfern aus den Reihen der Partei. Noch vor dem Erscheinen der Verordnung erschien der Artikel S. A. Smirnovs Literatur in der Schule (Literatura v škole), welcher die traditionelle Autorität des Lehrers im Unterricht stärkte. Die Schüler aufzufordern, Vorträge zu halten und aufzutreten, war laut Smirnov schädlich, denn eine solche Art der Beschäftigung entwickelt bei einem Teil der Lernenden (den Aktiven) eine schädliche Überheblichkeit und die Gewohnheit zu oberflächlichen Urteilen. [...] Während des Unterrichts in der Klasse dürfen Vorträge als Arbeitsform zur Erschließung des Werkes nicht angewendet werden. Die Form eines Vortrags ist selbst Untersuchungsobjekt, deren Beherrschung das letztendliche Ziel der Schule sein sollte. [...] Im Unterricht sollte das literarische Werk weniger diskutiert als studiert werden; indem wir Urteile und Diskussionen über ein Werk, welches von den Schülern noch nicht völlig erschlossen wurde, in der Klasse zulassen, machen wir einen sehr großen Fehler und lehren eine oberflächliche Betrachtungsweise und schädliches Geschwätz.15

Smirnov fährt fort, mit einer Idee der bekannten Pädologin Marija Rybnikova zu polemisieren, welche es für richtig hält, die Schüler ein bis zwei Seiten im Stil des Schriftstellers verfassen zu lassen, den sie gerade besprechen. In seinen Augen erweist sich die „ungenügende Beachtung der Rolle des Lehrbuchs [...] als fatal, daher sei es höchste Zeit, zum Lehrbuch zurückzukehren“.16 In einem ähnlichen Tenor ist der Artikel von V. K. Grečišnikov verfasst, der zwei Jahre später in der Zeitschrift Literatur in der Schule (Literatura v škole) abgedruckt wurde.

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„[…] развивает у одной части учащихся (актива) вредное самомнение и привычку к поверхностным суждениям. […] В классном преподавании доклады учащихся не должны применяться как форма работы над изучением произведения. Сама форма доклада есть объект изучения, овладение которой является конечной целью школы. […] На уроке следует не столько обсуждать литературный памятник, сколько изучать его; допуская суждения и дискуссии в классе по поводу произведения, не изученного учениками в полной мере, мы совершаем величайшую ошибку, приучаем к верхоглядству и вредной болтовне.“ Smirnov, S. A.: O pedologičeskich izvraščenijach v prepodavanii literatury. In: Literatura v škole. 6 (1936), 11-13. Ebd.

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Das Schulprogramm zum Kurs der Geschichte der Literatur in den 8. bis 10. Klassen stand vor einer verantwortungsvollen und schweren Aufgabe – die Schule einerseits von der Soziologisiererei (sociolizatorstvo) zu befreien und andererseits vom Formalismus während des Literaturunterrichts.17

So sollten „das Schaffen des Schriftstellers und die Epoche, in der er lebte“18, zum Studienobjekt werden. Das Literaturstudium und die Literaturgeschichte an sich finden jetzt in einem größeren Thema zusammen: „Das gesamte Programm wird geprägt von der Linie der Entwicklung des Realismus in der russischen Literatur“.19 Die Auswirkungen der Verordnung vom 4. Juli 1936 und der kulturellen Veränderungen der Jahre 1935 – 1936 auf das Ideal des Literaturstudiums waren insgesamt sehr tiefgreifend. Während die Kinder früher Rezensionen oder literarische Imitationen zu den Büchern, die sie lasen, schreiben oder Vorträge darüber halten durften usw.20, mussten sie nun traditionelle „Aufsätze“ schreiben. An die Stelle der freien Diskussion (eine pädagogische Herangehensweise, die für die „fortschrittlichen“ Lehrer der 1910er Jahre charakteristisch war)21 trat die Initiierung geregelter Gespräche mit den Schülern unter strengster Kontrolle des Lehrers, wobei vor allem dem Inhalt des Lehrbuchs Aufmerksamkeit gezollt wurde.22 Die thematische Analyse wurde von der biographischen abgelöst, wobei man den Akzent weniger auf 17

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„Перед программой по курсу истории литературы в VIII-X классах была ответственная и трудная задача – освободить школу от социолизаторства и, с другой стороны, от формализма в занятиях по литературе.“ Grečišnikov, V. K.: O rabote po novym programmam. In: Literatura v škole. 6 (1936), 26. Ebd. Ebd. Vgl. z.B.: Ševčenko, P. A.: Moj opyt (V poiskach luščich form učeničeskich sočinenij). In: Literatura v škole. 3 (1936), 65-70. Vgl. dazu: Šubkin, N. F.: Povsednevnaja žizn’ v staroj russkoj gimnazii. Iz dnevnika slovesnika N.F. Šubkina za 1911 – 1915. (Pod red. N.F. Šubkina). Sankt Petersburg, 1998. Zum dreifachen Modell der „Wissenskontrolle“, welches aus der Abfrage der Hausaufgaben, der Erklärung des neuen Materials und der Diskussion dieses Materials bestand, vgl. u. a.: Šimbirev, P.: Pedagogika. Moskau 1940, 248. Vgl. folgenden Abschnitt über das ideale Erlernen der russischen Sprache zu jener Zeit: „Wir brauchen Methoden, die beim Lernenden eine tiefe Achtung dem Buch gegenüber entwickeln, das ihnen berichtet, was sie sich selbst nicht ausdenken können; Achtung gegenüber den Gelehrten, die auf der Grundlage langwieriger und beharrlicher Streitgespräche zu Thesen gelangten, welche die Wissenschaft voran brachten; Achtung letztendlich gegenüber der Wissenschaft selbst, welche umfangreiches Wissen und ausdauerndes und ehrliches Verarbeiten umfangreichen Materials erfordert, wobei nur ein solches Vorgehen das Recht auf eine Entdeckung gibt.“ – Petrova, E.: Vospitatel’naja rabota na zanjatijach po russkomu jazyku. In: Russkij jazyk v škole. 5 (1937), 39. Petrova, eine Lehrerin der 1. Schule des Dzeržinskij Rajons in Leningrad wurde in derselben Ausgabe der Zeitschrift (49-55) als eine „ausgezeichnete Lehrerin“ vorgestellt.

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die Psychologie des Schriftstellers legte als vielmehr auf die Psychologie seiner Protagonisten, auf die Periodisierung und den literarisch-gesellschaftlichen Kontext. Zu den Beispielen für Diskussionsthemen, die am Ende der 1930er Jahre den Schülern der 9. Klasse vorgegeben wurden, gehörte „Die Festigung neuer Prinzipien der Lebenseinstellung anhand des Beispiels Čackij“. Den Schülern der 10. Klasse standen Themen zur Verfügung wie Šolochovs „Davydov als typischer Bolschewik-Organisator und Erzieher“ und „Romantische Züge im Frühschaffen M. Gor’kijs“.23 Diese Themen waren nicht nur zutiefst didaktisch und ideologisch ausgerichtet, sie schlossen darüber hinaus praktisch die Möglichkeit aus, die russische Literatur in den Kontext einer vergleichenden Literaturwissenschaft zu stellen. Nicht nur der Unterricht an sich, sondern auch das außerschulische Leben in den Literaturzirkeln kreiste um „unsere“ (naši) Schriftsteller. Die Kinder erschlossen Puškin nicht nur im Klassenzimmer; sie richteten „Puškin-Ecken“ ein, beteiligten sich an der Inszenierung der Puškinschen Theaterstücke und der Erschließung der Erzählungen des „Nestors der großen russischen Literatur“ und sie beteiligten sich an „Puškin-Zirkeln“.24 In der pädagogischen Literatur wurde die ausländische vor allem als Bezugspunkt der russischen dargestellt: In den meisten Artikeln, die in der Zeitschrift Literatur in der Schule (Literatura v škole) in den späten 1930er Jahren veröffentlicht wurden und sich der nicht-russischen Literatur widmeten, wurde diese ungefähr wie folgt vorgestellt: Der Einfluss Shakespeares auf die Tragödie Puškins ,Boris Godunov‘.25 Es ist aufschlussreich, dass selbst die gemäßigt kritischen Stellungnahmen zweier Lehrer über die Einschränkung der Überfrachtung der ausländischen Literatur, welche in Literatur in der Schule (Literatura v škole) im Jahre 1937 publiziert wurden, ebenfalls eine „russozentrische Einstellung“ widerspiegelten. Ein Lehrer der 31. Schule aus dem Petrograder Rajon Leningrads schrieb: „Wir müssen Puškin mit Shakespeare, Griboedov mit Moliere in einen Zusammenhang bringen“.26 Ganz in diesem Sinne äußerte sich ein gewisser „Genosse Stepanov“ aus der 34. Schule des Oktjabr-Rajons Leningrads, der meinte, dass es „unmöglich“ sei, „Griboedov ohne Moliere, Lermontov ohne Byron zu begreifen“.27 Eine weitere wichtige Art der Herangehensweise an die Literatur war die Bekräftigung, dass viele große Schriftsteller schon ihrer Zeit voraus und sozusagen „sowjetisch“ waren – im Sinne ihres uneingeschränkten Optimis23 24 25 26 27

Programmy srednej školy: Russkij jazyk i literaturnoe čtenie V-VI klassy. Literatura (VIII-X klassy). Dopolnitel’noe, ispravlennoe izdanie. Moskau 1938. Sosnickaja, M. D.: Sovetskie škol’niki ljubjat i cenjat velikogo Puškina. In: Literatura v škole. 6 (1937), 134-143. Vgl. dazu: Bobrova, M. N. In: Literatura v škole. 2 (1939), 69-80. Šapošnikova, A.: Vneklassnoe čtenie v VII klasse. In: Literatura v škole. 4 (1937), 59. Ebd., 61.

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mus und ihrer Ergebenheit an die Ideale von Gleichheit und Brüderlichkeit. Zu den für die 9. Klassen im Programm von 1938 genannten allgemeinen Themen gehören solche wie „Der sowjetische Patriotismus; Das Leben ist wunderbar und leben ist wunderbar.“28 Vom Repräsentanten der „Klasseninteressen“ avancierte der Schriftsteller nun zu einem Instrument der Verkörperung des „volkstümlichen“ Lebens und infolgedessen durfte man sich ihm nicht mehr kritisch nähern, sondern nur mit tiefer Achtung und unter besonderer Berücksichtigung seiner großen Rolle bei der Schaffung der menschlichen Zivilisation im Ganzen und der demokratischen Gesellschaft im Einzelnen. Wie paradox es auch anmuten mag – gerade unter diesem Aspekt konnten die „fremden“ Schriftsteller zu den „unseren“ werden. Im Prinzip vermochte jeder dem Sowjetvolk teure Schriftsteller zu dem „eigenen“ zu werden und dies sogar mehr, als er es in seiner kapitalistischen, von Anfang an verdorbenen und verfallenden Heimat je hätte werden können. Entsprechend dem Titel einer Bibliographie aus dem Jahre 1942 könnten „alle herausragenden Vertreter der englischen und amerikanischen Literatur“ „sowjetisch“ werden.29 Man müsse sie nur „adoptieren“ (bzw. sie in symbolische Väter verwandeln). Ähnlich wie die Mormonen ihre Vorfahren posthum zu Partizipanten des einzig wahren Glaubens machen oder wie die gerechten Nicht-Christen durch Christus während seines „Leidensweges“ aus der Hölle befreit wurden, können auch die „fremden“ Genies über ihre eigene Natur hinauswachsen und gleichberechtigte Bewohner des sowjetischen Paradieses30 werden. Ein aussagekräftiges Beispiel dafür ist Vil’jam (oder William)31 Shakespeare, einer der wichtigsten angelsächsischen Schriftsteller für die stalinisti28 29

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Programmy srednej školy: Russkij jazyk i literaturnoe čtenie (V-VII klassy). Literatura (VIII-X klassy). Dopolnitel’noe, ispravlennoe izdanie. Moskau 1938. Luščie predstaviteli anglijskoj i amerikanskoj literatury. Bibliografčieskij ukazatel’ perevodov i kritičeskoj literatury na russkom jazyke. (Sost. Gos. centr. bib. inostrannoj lit.) Moskau 1942. Ich nutze hier den sonderbar klingenden Terminus „Bewohner des Paradieses“, da die sowjetische „heilige Stadt“ von „Menschenhand“ geschaffen wurde, gesetzlich festgelegte Grenzen hat und sich damit grundlegend vom christlichen Paradies unterscheidet. Vgl. zu dieser Argumentation ausführlicher meinen Aufsatz: Sovetskij sojuz: Raj dlja detej? Zu finden auf der Website des Rossijksij gosudarstvennyj gumanitarnyj universitet Kul’tura detstva: normy, cennosti, praktiki: url: http://childcult.rsuh.ru/article.html?id=58601 In den 1930er Jahren war die Transkription „Vil’jam“ noch viel verbreiteter. Ein anderer Aspekt der „Einbürgerung“, der zwar für meinen Gegenstand hier nicht unbedingt relevant ist, da eher soziologisch denn literarisch konnotiert, ist der Fakt, dass „Vil’jam“ kein unbekannter Name im späten zaristischen und frühen sowjetischen Russland war. Daher empfand man Shakespeare auch als „vertrauter“ als Schriftsteller wie Dickens (der ebenfalls sehr populär war) – doch kaum ein sowjetischer Junge wurde „Čarl’z“ genannt.

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sche Kultur, dessen Weltruhm auch im Stalinismus direkte Anerkennung findet. A. A. Zerčaninov drückt es in der Zeitschrift Literatur in der Schule (Literatura v škole) wie folgt aus: Es gibt wahrscheinlich keinen anderen Schriftsteller von Weltbedeutung, der im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte so viele Streitgespräche und widersprüchliche Bewertungen wie William Shakespeare hervorgerufen hat. Und dennoch ist es schwierig, einen anderen Vertreter der Weltliteratur zu benennen, der ein solch unstrittiges Recht besäße, als einer der größten Schriftsteller der Welt bezeichnet zu werden, wie William Shakespeare.32

Das Wort „Recht“ ist genau in dem Sinne, wie es in den „Rechten und Pflichten“ eines Bürgers der Sowjetunion, in der Verfassung von 1936 fixiert wurde, sehr aufschlussreich. Wenn ein Mensch „Rechte“ hat, bedeutet dies, dass er „einer von uns“ ist (d.h. der Ausdruck „Recht“ spiegelt eben nicht eine Autonomie wider, sondern die Fähigkeit, zu einem Mitglied eines bewussten Kollektivs zu werden. Der Begriff reflektiert den Umstand, dass der Autor es verdient, einen „Mitgliedsausweis“ des sowjetischen Schriftstellerverbandes zu erhalten). Sicher übersetzte man Shakespeare in die Sprachen der Völker der UdSSR nicht so intensiv wie zum Beispiel Goethe, doch Übersetzungen in die russische Sprache gab es bedeutend mehr, inklusive einer speziellen Ausgabe für sowjetische Kinder unter der Redaktion von A. A. Smirnov.33 Wie oben schon gezeigt, war er einer der wenigen Schriftsteller, die nach der „Säuberung“ des Schulprogramms von der ausländischen Literatur der Jahre 1937 – 1938 übrig blieben; feierlich wurde 1936 das Jubiläum zu seinem 320. Todestag begangen und ebenso das des Jahres 1939 anlässlich seines 375. Geburtstages. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Zusammenfallen mit den Puškin-Jubiläen (jubilej)34 jener Jahre – vor allem im Jahre 1939, als die Puškin- und Shakespearefeierlichkeiten im Grunde genommen gemeinsam begangen wurden – zu einem Erstarken des Shakespearekultes führte und man hier eine Kongenialität beider Schriftsteller sah; auch dies etwas, das man in anderen Kulturen vielleicht als „mystisch“ beschrieben hätte.

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„Нет, пожалуй, другого мирового писателя, творчество которого вызывало бы на протяжении двух последних столетий столько споров и противоречивых оценок, как творчество Вильяма Шекспира. И трудно, тем не менее, назвать другого представителя мировой литературы, который имел бы столько бесспорных прав на звание величайшего мирового писателя, как Вильям Шекспир.“ Zerčaninov, A. A.: Vil’jam Šekspir. Materialy dlja raboty v škole. In: Literatura v škole. 5 (1937), 64. Šekspir, V.: Izbrannye sočinenija v 4 tomach. Moskau/Leningrad 1938 – 1940. Die Übersetzungen implizieren Versionen von Tatjana Šepkina-Kupernik und Anna Radlova. Vgl. zum „jubilej“ als kulturelle Institution den Aufsatz von Konstantin Bogdanov in diesem Sammelband.

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Ab Mitte der 1930er Jahre nahm die „Sowjetisierung“ des Shakespearebildes deutlich zu. Während Shakespeare in den 1920er und frühen 1930er Jahren noch als Vertreter einer frühbürgerlichen Betrachtungsweise des Lebens gesehen wurde, so wurde in den späten 1930er Jahren schon eine „Vervolkstümlichung“ seines Schaffens spürbar und man unterstrich seine universelle ethische und ästhetische Bedeutung. Zwar beharrten einige in der Provinz verfassten Veröffentlichungen während der Stalinära bis in die 1950er Jahre hinein darauf, dass Shakespeare die tiefen sozial-historischen Prozesse bewegten, die sich während seiner Zeit in England vollzogen (wie dies zum Beispiel dem von N. Guljaev in Tomsk herausgegebenen Lehrbuch für Literaturlehrer zu entnehmen ist)35, doch war die Mehrzahl der Kommentare nicht historisch, sondern eher allgemein gehalten. Wie im Falle der russischen Literatur unterstrich man nun überall die Fehlerhaftigkeit einer „soziologischen“ Betrachtungsweise: Shakespeare wurde nicht mehr als Schriftsteller „des Untergangs der englischen Bourgeoisie“ gesehen, sondern als ein genialer Entlarver einer bürgerlichen Einstellung dem Leben gegenüber.36 Im Jahre 1941 unterzog der aus Baku stammende Lehrer A. G. Dachnovič die Shakespeareforschung Smirnovs einer harschen Kritik, da er angeblich „den großen Dramaturgen in einen hundertprozentigen Ideologen der Bourgeoisie verwandelt“37, wobei dieser dann im Gegensatz dazu die fortschrittliche Bedeutung Shakespeares hervorhebt: Die Ideen des wahren Humanismus, die Shakespeare in seinen Werken vertrat, verkörpern sich heute im gemeinsamen Kampf der Völker der UdSSR und der demokratischen Völker der gesamten Welt mit dem blutrünstigen Faschismus.38 35 36

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Guljaev, N.: V pomošč’ učitelju. Klassiki zapadnoevropejskoj literatury v sredenj škole. Tomsk 1951, 4. Vgl. z.B.: Kemenov, V.: Prizemlennyj Šekspir. In: Sovetskoe iskusstvo. 23. 5. 1936. Kemenov ordnet die „soziologische“ Betrachtungsweise jener Strömung zu, die in einem Artikel von 1934 von D. S. Mirksij über Puškin geäußert wurde (und die zu einem Hauptgrund der Verhaftung Mirskijs im Jahre 1937 wurde). Weiter wird gesagt: „Professor Smirnov bringt im gesamten Buch sehr einfach den Pessimismus Shakespeares mit den Misserfolgen und den Optimismus mit den Erfolgen der englischen Bourgeoisie in Zusammenhang, und leitet das Genie Shakespeares aus den unterntanenhhaften Gefühlen eines Speichelleckers der absoluten Monarchie her. [...] Worin bestehen die Unzulänglichkeiten vom Standpunkt Fritsches aus? In der das Volkstümliche ablehnenden Haltung Shakespeares, die auf der Aristokratisierung Shakespeares fußt, die Fritsche bei den bürgerlichen Shakespeareforschern der imperialistischen Epoche entlehnte und die er nicht überwinden konnte.“ Dachnovič, A. G.: Vil’jam Šekspir i ego tragedija Gamlet: Materialy dlja raboty v X klasse srednej školy. Baku 1941, 5. „Идеи подлинного гуманизма, который отстаивал в своих произведениях и Шекспир, воплощается сейчас в совместной борьбе народов СССР и демократических народов всего мира с кровавым фашизмом.“ Ebd., 3. Die Position Dachnovičs ist deutlich opportunistisch. Die Werke Smirnovs, zum Beispiel: Tvorčestvo

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Mit „klaren Worten“ wurde hier das gesagt, was an anderer Stelle gemeint war, dort aber hinter Phrasen und der Intonation kritischer Aussagen zu Shakespeare verborgen blieb. So wurde zum Beispiel im Konspekt der Geschichte der englischen Literatur (Istorija anglijskoj literatury) aus dem Jahre 1939 auf zentrale Eigenschaften des englischen Schriftstellers verwiesen wie die „Darstellung der Volksmassen und ihrer Rolle in der Geschichte“, „Mitleid mit dem Volk“, „die geniale Entlarvung der Rolle des Geldes“, „breite Anwendung der lebendigen Sprache des Volkes“, „der Realismus der Metaphern und Vergleiche“ und die „Zugänglichkeit Shakespeares für den Zuschauer aus dem Volk und sein Theater“.39 Urteile dieser Art suggerierten, dass Shakespeare wie auch andere sowjetische Schriftsteller den sozialen Auftrag von Kunst realisierte, dass er ein sozialistischer Realist avant la lettre gewesen sei.40 In den zahlreichen Zeitungsartikeln, die von 1936 bis 1939 erschienen, wurde ebenfalls der „sowjetische“ Shakespeare hervorgehoben.41 Wenn man auf die historische Spezifik seiner Epoche verwies, stellte man fest, dass er über diese hinausgewachsen sei. So wurden zum Beispiel in dem Aufsatz von V. Baratov aus dem Jahre 1939 die einige Verwunderung hervorrufenden späten Dramen so dargestellt, als ob sie sich nur auf den ersten Blick von den allgemeinen „humanistischen“ Tendenzen seines Schaffens unterscheiden würden:

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Šekspira. Leningrad 1934, unterstreichen allenthalben die Distanz Shakespeares den bürgerlichen Idealen gegenüber („wir können bei Shakespeare keine spezifischen, das bürgerliche Leben betreffenden Sujets ausmachen“, 51). Es wird der „fortschrittliche“ Charakter seiner Ansichten unterstrichen, „sein unaufhaltsamer Kampf für die Rechte der Frau als Persönlichkeit“ (84) oder seine „geniale Überwindung des Rassenproblems“ im Othello und in Der Kaufmann von Venedig (75). Istorija anglijskoj literatury. (Schema-plan). Tom 1. Sostavleno Otdelom Zapadnoevorpejskich literatur Inst. mirovoj literatury im A. M. Gor’kogo pod. rukovodstvom prof. I. I. Anisimova. Moskau 1939, 19-20. Darüber wurde offen gesprochen. So wurde zum Beispiel auf der Konferenz des Narkompros vom November des Jahres 1935 eine Resolution diskutiert, wie man „die Stücke Shakespeares interpretieren und im Geiste des Sozialistischen Realismus aufführen könnte. (Shakespeare as a Class Hero. Russian Interpretation. In: The Times. 27. 11. 1935). Sicher wurde manchmal sehr banales Material gedruckt, das die Besonderheit eines Verhältnisses zu Shakespeare als das zu einem „eigenen“ Schriftsteller nicht zum Ausdruck brachte: „Wie lässt sich der Umstand erklären, dass die Werke Shakespeares bis heute nichts von ihrer Schärfe eingebüßt haben – und das nicht nur in England? Der Grund ist, dass Shakespeare nicht nur die Menschen einer bestimmten Epoche oder bestimmter gesellschaftlicher Kreise dargestellt hat, die nur eine zeitliche, örtliche Bedeutung hätten. Gegenstand seiner Werke war der Mensch im umfassendsten Sinne dieses Wortes, der Mensch mit all seinen Leidenschaften, seinen guten Eigenschaften und seinen Lastern, wie wir sie für gewöhnlich im Charakter eines jeden Menschen antreffen können.“ (Rybak, Lepkom: Vil’jam Šekspir. In: Golos bumažnika (f-ka Gor’kogo). 21. 4. 1938. Die meisten Rezensionen jedoch waren differenzierter.

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Als er aufgrund der eingeschränkten Bedingungen seiner Epoche keinen anderen Ausweg sieht, versucht er zur humanistischen Utopie zurückzukehren, preist er die Kraft des menschlichen Verstandes, wendet er sich der Phantastik zu (Der Sturm, Das Wintermärchen) und versucht sich hier vor der traurigen Wirklichkeit zu verbergen. Aber auch in dieser Periode bleibt Shakespeare seinen Idealen treu. Er sagt sich nicht von der humanistischen Philosophie los. (Hervorhebung des Verf. – C. K.)42

Das Schaffen Shakespeares verkörperte laut der für die „jüngeren Brüder“ schreibenden Kritiker alle fortschrittlichen Ideen des sowjetischen Staates, die „glückliche Kindheit“ inklusive. Aleksandr Anikst schrieb 1939: Shakespeare ist Anhänger eines sorgsam überlegten Verhältnisses der Eltern ihren Kindern gegenüber, er wendet sich gegen einen Despotismus der Älteren gegenüber den Jüngeren, er tritt gegen die Überbleibsel der barbarischen Gesetze des Mittelalters auf.43

Die Nutzung des Präsens, die suggerieren soll, dass diese Meinung für das Hier und Jetzt der Sowjetgesellschaft zutrifft, ist auffällig. Insgesamt habe der geniale Dramaturg die „lichte Zukunft“ in all ihren Facetten vorhergesehen: Wie wir sehen, war Shakespeare mit seinem ganzen Wesen auf die Zukunft hin ausgerichtet. Er hatte eine kritische Einstellung der Welt der Unterdrückung gegenüber und träumte von allgemeinem Glück und Gerechtigkeit.44

Die Kritik der Stalinära sah Shakespeare als Spezialisten der „optimistischen Tragödie“, um es mit dem Titel eines Stücks von Vsevolod Višnevskij aus dem Jahre 1933 zu sagen. Ein nicht tragischer Tragiker – das ist der allgemeine Tenor der Kommentare aus der Stalinzeit: „Der Poet beendet seine Tragödien niemals mit einem pessimistischen, hoffnungslosen Akzent.“45 Shakes-

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„Не видя иного выхода в силу ограниченности условий своей эпохи, он пытается найти его в возврате к гуманистической утопии, прославляет силу человеческого разума, обращается к фантастике (Буря, Зимняя сказка), пытается здесь укрыться от печальной действительности. Но и в этот период Шекспир остается верен своим идеалам. Он не отрекается от гуманистической философии. (жирный шрифт мой – К. К.)“ Baratov, V.: Velikij gumanist. In: Literaturnaja gazeta. 22 (1939). „Шекспир сторонник бережно вдумчивого отношения родителей к детям, он против деспотизма старших над младшими, он против пережитков варварских законов средневековья.“ Anikst, A.: Vil’jam Šekspir. In: Proletarskaja pravda. Kalinin (Tver’) 23. 4. 1939. Vgl. auch: Ders., Vil’jam Šekspir. 375 let so dnja roždenija. In: Krasnyj Krym. Simferopol’. 23. 4. 1939. Der Artikel wurde auch in den Zeitungen Bol’ševik (Krasnodar), Rabočij put’ (Smolensk), Krasnaja Tatarija (Kazan’) u. a. nachgedruckt. „Как видим, всем своим существом Шекспир был устремлен к будущему. Критически относясь к миру угнетения, он мечтал о веке всеобщего счастья и справедливости.“ Ebd. Gozenpud, A.: Vil’jam Šekspir. In: Sovetskaja Ukraina. 23. 4. 1939.

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peare habe Komödien geschrieben, die „durchdrungen waren von tiefer Trauer, gleichzeitig aber auch vom Glauben des Menschen an die Zukunft“.46 Das würde bedeuten, dass „optimistische Tragödien“ das einzige annehmbare Genre in einer Kultur sind, die Emotionen wie Mitleid und Trauer als „dekadent“ ansieht. Es versteht sich von selbst, dass die „glänzenden, lebensbejahenden Komödien“47 dem Geist der neuen Zeit entsprachen, wie es in der Broschüre Feiertag des Kampfes und des Sieges (Prazdnik bor’by i pobedy) aus dem Jahre 1935 formuliert wurde: Lebensfreude und die Überzeugung von der Unbesiegbarkeit der Sache des Sozialismus, die Gewissheit des Morgens beherrschen unerschütterlich den Geist und die Gefühle von Millionen Werktätigen unseres Landes. Darauf fußt der Optimismus unseres Volkes jeden Alters und aller Generationen. Nur ein sozialistisches Land kann solch unerschütterliche Optimisten hervorbringen wie jenen Jungpionier, der viermal ins Kino ging, um sich den Čapaev mit der Hoffnung anzuschauen, dass Čapaev das nächste Mal unbedingt gesund und heil aus dem Wasser auftauchen wird.48

Unter der Option des „Pessimismusverbots“ entstand eine neue Vorstellung von der Wahrnehmung der Shakespeareschen Gestalten. Während man Protagonisten wie Hamlet früher als Melancholiker angesehen hatte,49 verlagerte die 46 47

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Šrejder, N.: Vil’jam Šekspir. In: Zvezda. Dnepropetrovsk, 23. 4. 1938. Ebd. Vgl. auch: Bemerkungen zu Macbeth. In: Smirnov, A. A.: Tvorčestvo Šekspira. 127-128. „Das hohe tragische Pathos dieses Dramas, welches zu den tiefsten und reifsten gehört, die Shakespeare je geschaffen hat, rief die fehlerhafte Vorstellung von der Außerordentlichkeit seiner „Düsternis“ hervor. Dies mag im Hinblick auf das Thema der Tragödie selbst, der außergewöhnlichen, besonders traurigen Situation richtig sein. Doch an der Peripherie der Tragödie entstehen Bilder, die diese Düsternis in gewisser Weise abmildern und nicht gestatten, den Macbeth als Beispiel für die Verdorbenheit der gesamten Welt aufzufassen.“ Interessant wäre zu erfahren, wen Smirnov damit meint – den betrunkenen Gepäckträger vielleicht? „Радость жизни и уверенность в непобедимости дела социализма, уверенность в завтрашнем дне прочно овладели умами и чувствами миллионов трудящихся нашей страны. Отсюда и оптимизм нашего народа всех возрастов и поколений. Только в социалистической стране могут рождаться такие непоколебимые оптимисты, как тот малыш-пионер, который четыре раза ходил в кино смотреть Чапаева в надежде, что следующий раз Чапаев обязательно выплывет.“ Ivanov, S.: Prazdnik bor’by i pobedy. K XVIII godovščine Velikoj proletarskoj revoljucii. Leningrad 1935, 20. Vgl. z.B. die in England zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr einflussreiche Untersuchung: Bradley, A. C.: Shakespearian Tragedy: Lectures on Hamlet, Othello, King Lear, Macbeth. London 1905, 123: „Diese endlosen Fragen (wie wir sie uns vorstellen können): Was I deceived by the ghost? How am I to do the deed? When? Where? What will be the consequences of attempting it – success, my death, utter misunderstanding, mere mischief to the State? Even if it be right to do it, or noble to kill a defenceless man? What is the good of doing in a world such as this? – all diese Fragen und was sonst noch in Hamlets krankem Verstand herumspukte, war nicht die gesunde und rich-

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sowjetische Kritik der 1930er Jahre den Akzent auf das Motiv der „Erziehung des Willens“ in der Dramaturgie Shakespeares. Sergej Dinamov, Professor am Lehrstuhl für westliche Literatur am Institut der Roten Professoren in Moskau, Herausgeber der Zeitschrift Internationale Literatur (Internacional’naja literatura) und einer der aktivsten Populisatoren Shakespeares im Jubiläumsjahr 1936, drückt es folgendermaßen aus: „Wir finden bei Shakespeare kaum Helden, die ihr Lebensinteresse in der Versöhnung der Kämpfenden sehen, die den Kampf als etwas das Leben Störendes betrachten würden.“50 Neben dem „Kampf für“ (die Freiheit etc.) wurde auch auf den „Kampf mit sich selbst“ („die Arbeit an sich selbst“) hingewiesen, wie es A. I. Veščezerskij anhand der „Umerziehung“ des Königs Lear beschreibt: „Shakespeare zeigt mit außergewöhnlicher Kraft die Verwandlung eines selbstsüchtigen Königs in einen zärtlichen Vater und einen mitleidvollen Menschen.“51 Nicht nur die emotionale Breite Shakespeares, sondern auch seine politischen Ansichten erwiesen sich als sehr aktuell. So hat er angeblich verstanden (im Sinne der stalinistischen Umdeutung der Persönlichkeit Ivan Groznyjs), dass der Absolutismus durchaus auch eine progressive Erscheinung sein kann:

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tige Überlegung eines Mannes, der vor solchen Aufgaben stand, sondern irres Denken, das man kaum Denken nennen kann, ein unbewusstes Geflecht von Begründungen seiner Inaktivität, endloses Aufbäumen auf einem Krankenbett, Symptome von Melancholie, die sich durch die sich vertiefenden Selbstzweifel nur noch verstärkte.“ Dinamov, S.: Sila Šekspira. In: Sovestkoe iskusstvo. 6. 11. 1936. Dinamov gab zu, dass es bei Shakespeare auch eine andere Art von Protagonisten gibt, zum Beispiel Edward IV. oder Prospero, doch maß er ihnen im Gesamtschaffen des Autors wenig Bedeutung bei: „Diese Helden sind farblos.“ (ebd.) Sergej Sergeevič Dinamov (1901 – 1938) erlitt selbst ein interessantes und sehr tragisches Schicksal. Er entstammte dem Arbeitermilieu, arbeitete zuerst in der Textilindustrie, dann als Setzer und diente in der Roten Armee. Ab 1926 begann er, englische Literatur zu studieren. In den 1930er Jahren war er Redakteur der Zeitschrift Internacional’naja literatura, wurde als Mitglied einer „rechtstrotzkistischen Verschwörungs- und Spionageorganisation“ am 28. September 1938 verhaftet und am 16. April 1939 erschossen. Vgl.: url: http://russcience.euro.ru/repress/kom/1939/dinamov.htm. Zur frühen Biographie Dinamovs vgl. die Londoner Times vom 27. November 1935 (Shakespeare as Class Hero: The Russian Interpretation), welche ihn als „einen brillianten 34 Jahre alten Kommunisten“ beschreibt. Vgl. auch: Bljum, A.: Internacional’naja literatura. Podcenzurnoe prošloe. In: Inostrannaja literatura. 10 (2005). url: http://magazines.russ.ru/inostran/2005/10/bl21.html Hier wird Dinamov als „herausragender Kenner der Weltliteratur und einer der größten Shakespeareforscher“ beschrieben, obwohl es nicht einfach ist, jemanden einer solchen Kategorie zuzuordnen, der nicht einmal das 40. Lebensjahr erreichte und sich mit der Wissenschaft nur ca. 15 Jahre lang beschäftigte. Veščezerskij, A. I.: Gamlet i Korol’ Lir (Opyt izučenija v X klasse). In: Literatura v škole. 6 (1940), 46.

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Shakespeare, als ein leidenschaftlicher Feind des Feudalismus, war für die Macht eines einzigen Monarchen – der Absolutismus war zu jener Zeit eine historisch fortschrittliche Erscheinung. Denn diese Macht sah er vor allem eher als eine Summe von Verpflichtungen denn Rechten an.52

Der Autor dieser Zeilen, ein gewisser V. N. Šrejder, unterstrich die Universalität Shakespeares („Shakespeare ist ein großer Menschenkenner, ein Kämpfer für sein Recht auf Glück und Freiheit, ein kämpferischer Humanist – er gehört der fortschrittlichen Menschheit“), deutlich aber wird eher die Spezifik der sowjetischen Situation dieses „kämpferischen Humanisten“, der Heinrich in eine Art Vorläufer Stalins verwandelte: „Er gibt uns die Gestalt Heinrich V., ,eines Königs des Volkes‘, dessen Kraft in der Kenntnis des Volkes und seiner Unterstützung besteht, der seine eigene Volksnähe durch seinen Geschmack, seine Gewohnheiten und Lebensweise unterstreicht.“53 Ganz der Zukunft zugewandt, habe Shakespeare nur mit Mühe die Welt, in der er leben musste, akzeptiert: Shakespeare wusste, dass diese Welt des Feudalismus unabänderlich dem Untergang geweiht war und dies hat ihn erfreut und inspiriert. Seine Freude, Fröhlichkeit und Glücksempfinden drückte er in seinen wunderbaren, leuchtenden, lebensfrohen, mit Scherzen und Lachen angereicherten Komödien aus. Diese „göttlichen Komödien“ spiegelten nicht nur, wie es Engels ausdrückte, die persönliche Freude des Poeten wider, sondern das Gefühl der Lebensfreude einer ganzen Generation von Völkern, die sich vom Joch des Mittelalters befreit haben. Der Poet beschreibt das Leben als Feiertag und Fest, als wunderbares Märchen.54

Auf diese Weise avancierte Shakespeare zu einem Dichter gemäß jener Atmosphäre des „Feiertages“ („prazdnik“), die damals in der offiziellen Mythologie der stalinistischen Ära herrschte. Das Fazit war klar: „Er gehört ganz uns, dem Volk eines sozialistischen Landes, wo seine Träume und Bestre-

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„Шекспир, страстный враг феодализма, стоял за власть единого монарха – абсолютизм в его время был исторически прогрессивной формой. Но эту власть он полагал скорее суммой обязанностей, чем прав.“ Šrejder, N.: Vil’jam Šekspir. In: Zvezda. 23. 4. 1938. Ebd. „Шекспир знал, что этот мир средневековья и феодализма шел безвозвратно к гибели, и это его радовало и восхищало. Свою радость, веселье и счастье он выразил в чудесных, лучезарных, жизнерадостных, искрящихся шуткой и смехом комедиях. Эти божественные комедии, как их называл Энгельс, выражали не только личную радость поэта, а чувство жизнерадостности целого поколения народов, освобождающихся от ига средневековья. Поэт рисует жизнь, как праздник и пир, как чудесную сказку.“ So beschreibt es A. S. Bortman, ein junger promovierter Wissenschaftler am Jaroslawer Pädagogischen Institut in seinem Aufsatz: Vil’jam Šekspir. In: Severnyj rabočij (Jaroslavl’). 23. 4. 1939.

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bungen Wirklichkeit geworden sind.“55 Und nicht von ungefähr kannte und liebte man ihn sogar in der abgelegenen sowjetischen Peripherie (zum Beispiel in Kirov): Die ewig lebendigen, ewig wunderbaren Werke William Shakespeares sind bei den Werktätigen überaus beliebt. In den Karl-Liebknecht-, Saltykov-Ščedrin- und PuškinBibliotheken wurden innerhalb der letzten drei Monate über 353 Bücher Shakespeares ausgeliehen.56

Was dem sowjetischen Publikum eventuell sonderbar vorkommen könnte, wird einfach als bekannt und progressiv deklariert: Die Helden Shakespeares sind Könige, Großfürsten, Heerführer. Shakespeare hat sie nicht deshalb ausgewählt, weil er sich aristokratischen Gefühlen hingegeben und den einfachen Menschen verachtet hat bzw. ihm keinen Platz in der Literatur einräumen wollte. Shakespeare wollte nicht die Revolution darstellen (die es damals noch nicht gab), sondern die Umbrüche am Hof, die auf die Festigung des Staatswesens und dessen Regierungsformen ausgerichtet waren. Ohne die Bourgeoisie verteidigen zu wollen, stand Shakespeare aber auch nicht auf der Seite der Feudalordnung. Er verhielt sich dieser gegenüber in höchstem Maße kritisch und misstrauisch.57

Daraus folgt, dass man Shakespeare also nur in der Sowjetunion richtig begriff: „Der wahre Bewahrer des künstlerischen Erbes Shakespeares ist unser großes sowjetisches Land, das Land des sieghaften Sozialismus.“58 In seiner sogenannten Heimat sei er seit langem vergessen, wie es Aleksandr Abramovič Anikst im Jahre 1939 beschreibt: Bedauernswert ist das Schicksal des großen Shakespeareschen Erbes in der modernen bürgerlichen Gesellschaft. In der Heimat Shakespeares – in England – und in anderen 55

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Dieses Motiv avancierte zu einem Gemeinplatz der späten 1930er Jahre: Shakespeare und die anderen Helden der Welt finden nur in der sowjetischen sozialistischen Welt ihr wahres Vaterland. – Gnatjuk, V.: Proletarskaja pravda. (Kalinin). 23. 4. 1939. „Вечно живые, вечно прекрасные произведения Вильяма Шекспира пользуются большой любовью трудящихся. В библиотеках имени Карла Либнехта, Салтыкова-Щедрина, Пушкина за последние три месяца было выдано читателям на дом 353 книги Шекспира.“ Šekspirovskie dni v gorode Kirove. In: Kirovskaja pravda. 23. 4. 1939. In Wirklichkeit war die Zahl der ausgeliehenen Bücher vermutlich geringer. „В произведениях Шекспира герои короли, вельможи, полководцы. Шекспир избирает их не потому, что питал чувство аристократического презрения к бедному простому человеку и не хотел давать ему место в литературе. Шекспиру нужно было показать не революцию (ее тогда еще не было), а дворовые перевороты, которые были направлены на укрепление государственного строя и формы его правления. Не выступая в защиту буржуазии, Шекспир в то же время и не стоял на стороне феодального строя. Он относился к нему в высшей степени критически, недоверчиво.“ Ernakov, I. (Lehrer für Literatur): Vil’jam Šekspir. In: Rabočij Kronštadt. 23. 4. 1938. Smirnov, A. A.: Velikij chudožnik i myslitel’. In: Kurortnaja gazeta. (Soči) 23. 4. 1939.

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kapitalistischen Ländern zollt man ihm zwar offiziell Achtung, führt aber seine Stücke fast gar nicht auf.59

Und in einem Aufsatz N. Glebovs, der in der „Stalingrader Wahrheit“ („Stalingradskaja pravda“) anlässlich der Feierlichkeiten zum Geburtstag Shakespeares im Jahre 1939 abgedruckt wurde, war die Aussage noch kategorischer: „In Shakespeares Heimat, in England, führt man seine Stücke überhaupt nicht auf.“60 Der Gerechtigkeit halber muss jedoch angemerkt werden, dass ein solch „ideologisierter“ Shakespeare auch in der englischen Kritik für die breite Leserschaft existierte – als Barde der „scepter’d isle“, als Verfasser der Reden Heinrichs V. in Agincourt usw.61 Ein Shakespearebild, das den Dichter 59

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„Плачевна судьба великого наследия Шекспира в современном буржуазном обществе. На родине Шекспира – в Англии – и в других капиталистических странах ему отдают дань официального уважения, но пьес его почти не ставят.“ Anikst, A.: Vil’jam Šekspir. In: Proletarskaja pravda. (Kalinin) 23. 4. 1939. Glebov, N.: V. Šekspir. In: Stalingradskaja Pravda. (Kalinin) 23. 4. 1939. Diese Überlegungen halten einer Überprüfung nicht stand. Im England jener Jahre gab es zwei Schauspieltruppen, die sich Shakespeareaufführungen verschrieben hatten (The Royal Shakespeare Company, die ein neues Theater in Stratford im Jahre 1932 eröffnete und The Old Vic unter Leitung von Lillian Baylis im Stadtbezirk Waterloo im Zentrum Londons). Jedes Jahr fand ein Shakespeare-Festival statt, man führte Shakespeare im „Grünen Theater“ im Regent’s Park, in Provinz- und Amateurtheatern usw. auf. Man kann sogar sagen, dass in den 1930er Jahren die Shakespeareaufführungen in England in gewisser Hinsicht ihren Zenit erreichten. Man begann ihn ungekürzt aufzuführen. Es spielten solch bekannte Schauspieler wie Laurence Olivier oder John Gilwood und auch in der Schule wurde ein „spielerisches“ Herangehen immer moderner (das heißt, man las seine Stücke laut vor, anstatt die textologischen Probleme zu analysieren usw). Allerdings erreichte die zuletzt genannte pädagogische Herangehensweise ihren Höhepunkt in den Nachkriegsjahrzehnten (vgl. dazu: Wood, S.: The New Teaching of Shakespeare in Schools. London 1947; Hudson, A. K.: Shakespeare in the Classroom: Compiled for the Society of Teachers of English. London 1954. Zur Shakespearerezeption in England vgl. z.B.: Taylor, G.: Reinventing Shakespeare: A Cultural History from the Restoration to the Present. London 1991. Doch der „patriotische Shakespeare“ ist wohl eher ein Artefakt des 19. Jahrhunderts. Nach dem I. Weltkrieg begann man den internationalen Status des Schriftstellers zu unterstreichen. Vgl. z.B. folgendes Zitat aus der Times: „Shakespeares Geburtstag wurde als eine symbolische Vereinigung der Nationen gefeiert [...] auf den offiziellen Essen sprach Prof. Lascelles Abercrombie die Gedenkrede. Er sagte, dass Shakespeare der kostbarste Besitz der englischsprechenden Menschen sei, doch dass er genauso zur europäischen Zivilisation in ihrer gesamten Breite gehöre und dass er darüber hinaus ein nicht wegzudenkender Faktor der Entwicklung dieser Zivilisation sei.“ (The Times. 24. 4. 1936). In dem Vortrag von Austen Chamberlain auf den Feierlichkeiten in Stratford im Juni 1936 heißt es: „Die Gesellschaft muss in einer solchen Zeit besonders dankbar sein für Genies wie Shakespeare in unserem eigenen Land, für Dante, Goethe und andere, die die Zeiten überdauerten und alle Menschen in einer gemeinsamen Menschheit zusammenführten.“ (The Times. 13. 7. 1936). In der Schule und auch in der wissenschaftlich-

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zu einem Propheten des Britischen Imperiums zu Beginn des 20. Jahrhunderts machte, hat die Wirklichkeit genauso verzerrt wie seine Darstellung als Anhänger der stalinistischen Lebensbejahung und des Kultes des Stoizismus und der Willenserziehung. Darüber hinaus war die „Einverleibung“ eines ausländischen Schriftstellers in die eigene Kultur, wie es dem „sowjetischen Shakespeare“ in den 1930er und 1940er Jahren erging, keine unikale Erscheinung. Zu jener Zeit glaubten auch die englischen Schriftsteller und Kritiker, dass „wir“ Dostoevskij, Puškin und Tolstoj besser verstehen, als dies in Sowjetrussland der Fall sei. Die Einstellung zu Shakespeare aber ging weit über die Grenzen einer misstrauischen, politisch motivierten Einstellung gegenüber den Interpretationen der literarischen Klassik eines anderen Landes hinaus (obwohl es auch folgendes gab: vgl. zum Beispiel die Bemerkungen zu einer Bibliographie aus dem Jahre 1940: „Es gilt anzumerken, dass die idealistische Konzeption dieser bürgerlichen Monographien uns veranlasst, sie mit größter Vorsicht zu benutzen und sie vor allem als ein Nachschlagewerk zu betrachten, das über einen Reichtum an literarischen und historisch kulturellen Materialien verfügt.“62). Es ging um die vollständige „Nationalisierung“ des Fremden; mit der Zeit wurde Shakespeare ganz und gar „vereinnahmt“, er wurde zu einem der „unseren“ (svoj).63 (Sicher, es gab

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populären Literatur war das Bild Shakespeares im 20. Jahrhundert (wie später übrigens auch noch, in den 1970er Jahren, als ich zur Schule ging) eher auf der Methode der „Begeisterung für literarische Ästhetik“ aufgebaut. Man setzte den Akzent auf die vergleichende Rezeption Shakespeares und seiner Zeitgenossen. „Jeder, der das Ziel hat, die englische Literatur des sechzehnten und frühen siebzehnten Jahrhunderts gut zu verstehen, sollte über einiges Wissen über Petrarch, Boccaccio und die französischen Mystiker verfügen, ebenso wie über Rabelais, Ariosto, Montaigne und die Schriftsteller der Pléiade.“ (McKerrow, R. B.: A Note on the Teaching of English Literature, with some Suggestions. The English Association. Pamphlet Nr. 49, June 1921, 21). Man schrieb auch viel zu Fragen der Textologie. Musterfragen für die fünfzehnjährigen Schüler, welche die Staatsexamen ablegten, umfassten nicht nur Themen der „didaktischen Psychologie“ („Nennen Sie fünf von Shakespeares Helden und beschreiben Sie einen davon näher“, „Geben Sie eine kritische Darstellung von Shakespeares Königen oder Staatsmännern, ausgehend von einem Stück und stützen Sie dies mit ihren eigenen Argumenten“), sondern auch Fragen der Theatergeschichte („Was kann man generell aus Shakespeares Stücken über deren Aufführungsbedingungen ableiten?“) und Fragen der Rezeption („Warum ist Shakespeare populärer als Milton?“) – Robinson, F. W.: Test Papers in English Literature. London 1928. Materialy k očerednym temam programmy po literature. In: Literatura v škole. 1 (1940), 79. Eine interessante Analogie lässt sich im Verhältnis zu Shakespeare zur selben Zeit in Deutschland ausmachen. Vgl. z.B. die Aufzeichnungen eines Vortrags von Max Förster, Professor der Leipziger Universität, den er auf einer Versammlung der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft im Jahre 1921 gehalten hat: „Deutschland verfügt mit seinem hohen Bildungsniveau über eine spezielle literarische und ästhetische Einstellung und stellt damit bessere Bedingungen für eine Theaterkultur zur Verfügung als ein Land,

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kaum Beispiele, die eine neue Variante der Geschichte schufen, wie im etwa Falle der Zeichnung eines sechzehnjährigen Leningrader Jungen aus dem Jahre 1937, die, so der gleichlautende Titel, „Byron und Puškin zusammen in einem Boot“ zeigt.64) Niemand beachtete den Umstand, dass Shakespeare im Jahre 1588 inkognito gemeinsam mit Giles Fletcher Russland bereiste.65 An einer geistigen Verwandtschaft aber zwischen Shakespeare und der sowjetischen Kultur bestand keinerlei Zweifel. Natürlich kann man von einer „Sowjetisierung“ Shakespeares nicht in dem Sinne sprechen, dass alle Bürger der Sowjetunion die offizielle Einstellung ihm gegenüber als eines Meisters des „Genres der optimistischen Tragödie“ und eines lebensfrohen Propheten einer „lichten Zukunft“ übernommen hätten. Für Schriftsteller wie Pasternak oder Maršak war er bekanntermaßen ein Praktiker „der Verschlüsselung“ und ein überzeugter Kämpfer gegen die Tyrannei.66 Was ich hier dargelegt habe, betraf einen vereinfacht wahrgenommenen Shakespeare, einen Shakespeare für die „jüngeren Brüder“. Es ging darum, wie er von Schülern, Arbeitern und Vertretern der „unteren“ und „mittleren“ Intelligencija wahrgenommen wurde.

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dessen Bestrebungen nur auf praktische Geschäftlichkeit orientiert sind und wo dies zur Dominante der Bildung wird. [...] Shakespeare steht in Gedanken und Sensibilität dem heutigen Deutschen näher als seinen Zeitgenossen aus seinem eigenen Lande. [...] Shakespeares Freiheit und Unabhängigkeit des Denkens sind uns viel näher als dem Engländer, der immer noch in seinen eigenen Gedanken zwischen den Polen von Tradition und Konvention hin und her pendelt. Shakespeares Patriotismus hat nichts gemein mit dem aggressiven, verletzenden Patriotismus des heutigen Engländers. Und ein solches Heimatgefühl hat er wohl eher in Deutschland hervorgerufen.“ (German Claim to Shakespeare: A Lost English Possession. Leipzig Professors’s Rhapsody. In: The Times. 23. 4. 1921). Später machte man aus Shakespeare einen Schriftsteller im „nordischen Geiste“, dessen Heldinnen als Beispiele für die gutherzigen Frauen des Dritten Reiches dienen sollten (hier ging es natürlich nicht um Lady Macbeth, Beatrice, Viola, Rosalind oder Miranda). Vom Beginn des II. Weltkrieges an begann man Shakespeare in Deutschland fast gar nicht mehr zu beachten, da man davon ausging, dass er bald durch einen großen Dramaturgen der lichten Zukunft des Dritten Reiches selbst ersetzt würde (Shakespeare as a Eugenist: Germanic View of Women. In: The Times. 12. 5. 1937; Waiting for their Shakespeare. In: The Times. 30. 3. 1940). Davon erzählte mir der Maler des Bildes selbst (ein Mann, geboren 1920 in Vitebsk, aufgewachsen in Leningrad). Leider ist das Werk verloren gegangen. Obwohl etwas ähnliches später in den 1960er Jahren durch Pawel Antokol’skij, der über Shakespeare schrieb, geäußert wurde (vgl.: Kop’etras [Shakespeare – Anm. d. Verf.] ili Moskovskij skomoroch). In gewisser Hinsicht ist diese Interpretation auch eine Variante der offiziellen Betrachtungsweise, denn es impliziert Shakespeares kritische Einstellung der Tyrannei gegenüber als etwas vorausschauendes (so haben es auch die Schriftsteller für die Proletarkaja pravda im Jahre 1930 gehalten), man kann also in der Einstellung dieser Schriftsteller unter der Sowjetmacht nichts ausmachen, was in der sowjetischen Presse hätte verschwiegen werden müssen.

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Sicher war auch im Klassenzimmer prinzipiell, wenn auch versteckt, ein bestimmter Grad an Pluralismus möglich. Die Lehrer konnten den Schülern weiterhin den sowjetischen Kanon (der aus „Hamlet“, „Othello“ und „König Lear“ bestand) als Lektüre empfehlen und über Shakespeare und seine Werke anders als vorgegeben sprechen; dies um so mehr, da es im Unterschied zur russischen Literatur kaum „beständige Schüler“ der englischen Literatur gab. Es ist bekannt, dass die Literatur gerade denjenigen Bereich der Humanwissenschaften ausmachte, in dem sich bei den Lehrern ein gewisses „Freidenkertum“ zuweilen bemerkbar machte. Sogar in der Stalinzeit führten manche Lehrer den Unterricht nach eigenem Gutdünken und nicht nach dem „Programm“ durch.67 Doch die allgemeinen Prinzipien der Literaturwissenschaft der Stalinzeit – in erster Linie die Konzentration auf die „großen Schriftsteller“ – entsprach dem Geschmack der meisten Lehrer mehr als das „Lerngruppensystem“ und die „komplexe Herangehensweise“, die viele als zu aufrührerisch empfanden. Dies geht zum Beispiel aus dem Tagebuch von N. F. Šubkin aus dem Jahre 1930 hervor, einem Lehrer, der vor 1917 an einem Mädchen-Gymnasium in Barnaul unterrichtet hatte und nach der Revolution in der „Einheitlichen Arbeitsschule“ tätig war: Und so lebe ich in den letzten Jahren entgegen meinem Gewissen, sage mich Schritt für Schritt von mir selbst los. Der Unterricht nach dem Prinzip der „Lerngruppen“ ist der größte Hokuspokus, den die Pädagogik seit dem Mittelalter veranstaltet hat. Ich zitiere im Unterricht die nichtigen Gedanken dieser gescheiterten Seminaristen. Ich muss Dostoevskij schlecht machen, erklären, dass Puškin kein volksnaher Poet sei, sondern die Ansichten des Adels widergespiegelt habe, muss an den Wahl-Komödien in der Schule teilnehmen... Jeder hat seine Grenzen. Ich kann nicht mehr.68

Und so war die Idee der „Volkstümlichkeit“ der großen Schriftsteller nebst deren universeller Bedeutung auch für Pädagogen von Wert, die sich dem sowjetischen System gegenüber nicht unbedingt loyal verhielten. In anderer Hinsicht passte die allgemein angenommene Idee der „Universalität“ auch 67 68

Vgl. dazu zum Beispiel die Erinnerungen V. Baevskijs: Škola v svete ėtnografičeskogo issledovanija. In: Antropologičeskij forum. 4 (2006), 11-13. „И так последние годы живу против совести, отрекаюсь от себя шаг за шагом. Преподавая по бригадному методу, хотя большей абракадабры педагогика не знала со времен средневековья. Цитирую на уроках жалкие мысли этих неудавшихся семинаристов. Должен поносить Достоевского, объяснить, что Пушкин не народный поэт, а выразитель взглядов дворянства, участвовать в комедии выборов… У каждого свой предел. Больше не могу.“ Šubkin, N. F.: Povsednevnaja žizn’ staroj russkoj gimnazii. Iz dnevnika slovesnika N. F. Šubkina za 1911 – 1915. Pod. red. Šubkina. Sankt Petersburg 1998, 417. Vgl. auch den anonymen Brief des Lehrers einer Leningrader Schule: „Wir führen es [das Programm – C. K.] natürlich nach unserem eigenen Gutdünken durch und streichen alles aus dem Plan heraus, was nicht dazu passt.“ – Bem, A.: Sovetskaja škola i kompleksnoe prepodavanie. In: Russkaja škola za rubežom. 15 – 16 (1925), 253.

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gut mit der für Kinder traditionellen Gewohnheit zusammen, die Lieblingsautoren als die „eigenen“ anzusehen. Wenn man diesen Prozess einmal mit anderen Worten beschreibt, kann man sagen, dass eine gewisse „Infantilisierung“ der Lesepraxis vor sich ging, die, ausgehend von ihren psychologischen Effekten, der Infantilisierung der sowjetischen Kultur der Stalinzeit an sich entsprach.69 Und man muss hinzufügen, dass auch in der Folgezeit kein „Erwachsenwerden“ der Lesereinstellung bei den Vertretern der „mittleren Intelligenicja“ vor sich ging. Bis in die postsowjetische Ära hinein gab es nicht wenige, welche die internationale Klassik als Gut „unserer“ Kultur betrachteten und die stolz darauf waren, dass sie die französische Literatur besser als die Franzosen und die englische Literatur besser als die Engländer kennen würden. Die meisten von ihnen wuchsen in den 1930er und 1940er Jahren auf.70 Der Gedanke, dass sie ausländische Literatur einfach anders als im Ausland wahrnahmen, dass „dort“ eine andere Ästhetik oder ein anderer Kanon für den kindlichen oder jugendlichen Leser herrscht – so war etwa James Greenwoods Der kleine Bettler (The Little Ragamuffin,71 zwar in der Sowjetunion sehr populär, in England aber wurde er nur ein einziges Mal veröffentlicht – kam diesen Lesern nicht in den Sinn. Dort las man Schriftsteller wie George McDonald, R. D. Blackmore, E. Nesbit und Charlotte M. Yonge – Autoren, die wiederum keiner der russischen Leser kannte. Der Dogmatismus der offiziellen sowjetischen Stellungnahmen führte auch zu dogmatischen Einstellungen beim Lesepublikum: Sie lesen keinen Galsworthy, also kennen sie die hohe Literatur nicht. Sie lesen nicht Timon von Athen (Timon of Athens), ein Werk, das Marx als geniale Entlarvung der Macht des Gelds über alles gelobt hatte, sie führen ihn selten auf – also heißt das, sie verstehen Shakespeare gar nicht. Eine derartig naive Selbstzufriedenheit kann natürlich nur ein Lächeln hervorrufen, aber die Verwandlung der „fremden Großen“ in die „eigenen“ kann man im Kontext der „Spionagemanie“ der sowjetischen Kultur Ende der 1930er und 1940er Jahre eher als eine positive Erscheinung ansehen, als ein Zeichen dafür, dass der Internationalismus überlebt hat. Als die Kampagne gegen die „Kriecherei vor den Ausländern“ in den 1940er Jahren startete, 69

70 71

Vgl.: Dobrenko, E.: Vse lučšee – detjam. Totalitarnaja kultura i mir detstva. In: Wiener Slavistischer Almanach. Band 29, 1992, 159-174. Ich erläutere den Begriff „Globalisierung in einem Land“ („globalisation in one country“) in folgendem Artikel näher: The Little Citizens of a Big Country: Children and International Relations in Early Soviet Russia. Trondheim 2002. Vgl. zum Beispiel mein Interview mit einem im Jahre 1931 geborenen Leningrader (er lebt nun in London), CKQ-Ox-03 PF14A.S.3. Der Roman The Litle Ragamuffin von James Greenwood, der tatsächlich nur einmal in England veröffentlicht wurde, wird auch in den Standardgeschichten der englischen Literatur nicht erwähnt. Dafür waren andere in Großbritannien beliebte Autoren dem russischen Leser völlig unbekannt.

„Ein Kämpfer für das Recht auf Glück und Freiheit“

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bediente man sich einer anderen Haltung. Diese äußerte sich u.a. in der Resolution des CK VKP(b)72 vom 4. September 1946. Darin wurde der Film Ivan der Schreckliche (Ivan Groznyj) von Sergej Ėjzenštejn verurteilt und Hamlet als Beispiel eines dekadenten Menschen vorgestellt, der „nicht der unsere“ sei.73 Die „Aneignung“ Shakespeares ermöglichte es, ihn zu lieben und zu achten und ihn für nicht geringer „als die eigenen“, also die russischen und sowjetischen Autoren anzusehen. Das Geheimnisvolle des „Schwans von Avon“, seine schwer zu fassende Art zu schreiben (die sich so gar nicht in die Vorstellungen vom Sozialistischen Realismus einfügte) wurde von Zeit zu Zeit sogar in den Texten für den sowjetischen Massenleser erwähnt74 und konnte immer noch begeistern.75 72 73

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75

CK VKP(b) – Zentralkomitee der allrussischen Kommunistischen Partei der Bolschewiki (Central’nyj komitet vserossijskoj Kommunističeskoj partii bol’ševikov). Laut den Worten der Resolution, welche die Einstellung von Stalin selbst der Sache gegenüber zum Ausdruck brachte, machte Ėjzenštejn in seinem Film über Ivan Groznyj aus dem Zaren, „der ein Mensch mit starkem Willen und Charakter war, einen charakterschwachen und willenlosen Typen, so etwas wie Hamlet“. O kinofil’me Bol’šaja žizn’: Postanovlenie CK VKP ot 4. sentjabrja 1946. In: Kul’tura i žizn’. 8 (1946). Zitiert nach: Jakovlev, G. N./Ščenkov, A. S.: Problemy nasledija v sovetskoj žizni pervogo poslevoennogo desjatiletija. In: Pamjatniki architektury v Sovetskom Sojuze. Očerki istorii architekturnoj resavtracii. Pod obšč. red. A. S. Ščeglova. Moskau 2004, S. 210. Vgl. z.B.: Dinamov, S.: O narodnosti Šekspira. In: Čeljabinskij rabočij. 18. 7. 1936: „Doch weshalb ist er so kompliziert? Muss denn aber eine für das Volk verständliche Kunst einfach sein?“ Darüber hinaus unterstreich Dinamov, dass „die Sprache Shakespeares – die Sprache der Wirklichkeit“ sei, eine etwas andere Interpretation indes findet sich sozusagen „unterschwellig“ im Text. Was die Biographie Shakespeares betrifft, ist es interessant, dass die meisten Überblicksdarstellungen seines Werkes damit beginnen, dass man mit der angeblich unter englischen Historikern weit verbreiteten Meinung der 1930er Jahre polemisiert, der zufolge die Stücke, die man Shakespeare zuschreibt, angeblich gar nicht von ihm stammten und man damit sozusagen gleichzeitig die Identität des Schriftstellers anzweifle und davon ausgehe, dass seine Identität nicht ganz stabil und zuverlässig sei. Sicher fielen hier auch die Aufführungen Shakespeares ins Gewicht, die sich in den späten 1930er Jahren durch eine gewisse Vielfalt auszeichneten. Einige widersprachen direkt der Vorstellung von Shakespeare als einem „volkstümlichen Schriftsteller“: vgl. zum Beispiel: Sitkovksij, A.: Za osvoenie šekspirovskogo nasledstvija. In: Za komunističeskoe prosveščenie. 12. 5. 1936: „Der Genosse Dinamov wandte sich scharf gegen die Verzerrungen des wahren Shakespeares, die bei der Aufführung von ,Der Widerspenstigen Zähmung’ durch Gutman (Leningrad) und des ,Othello’ durch Ochlopkov (Moskau) zum Ausdruck kamen [die Familiennamen der Regisseure sind auch im Original hervorgehoben – C. K.]. Andere aber unterstreichen eben genau diese volkstümliche Vorstellung vom Dramaturgen: vgl. zum Beispiel: Dement’ev, M.: Šekspir na klubnoj scene. In: Rabočij teatr. 7 (1937): „Schon der Versuch einer solchen Laienaufführung verdient jegliche Anerkennung, und dies um so mehr, da das von V. Deržavin geleitete Kollektiv das Stück Shakespeares nicht zufällig ausgewählt hat und auch nicht aus dem Wunsch heraus, originell zu sein oder alle mit der eigenen

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Auch der Umstand, dass das Leben in der Sowjetunion in den 1930er Jahren in vielem eher dem Leben im England des 16. und 17. Jahrhunderts glich (die Epoche des Star Chamber, der Massenhinrichtungen erfundener Oppositioneller und der „Hexenjagd“) als dem Leben in England der 1930er Jahre, rief in vielen ein verwandtes Gefühl dem Schriftsteller gegenüber hervor. Es ist nicht verwunderlich, dass man den Pessimisten Shakespeare als den „antisowjetischen“, den „polyphonen“ Shakespeare betrachtete. Der Shakespeare aber, der Tyrannei, Wahnsinn und Grausamkeiten beschrieb, avancierte zum Sänger der Freiheit – wenn auch nicht des Glücks – und wurde damit für einige wichtiger als der Autor lebensfroher, lichter Komödien. Es ist dieser Shakespeare, der zum genialen Propheten der sozialistischen Utopie des großen Sowjetlandes wurde. Übersetzung: Björn Seidel-Dreffke

Kühnheit zu beeindrucken.“ Andererseits ist ganz und gar nicht klar, welcher Prozentsatz des russischen Publikums Zugang zu den professionellen Aufführungen Shakespeares zur Stalinzeit hatte – selbst für die „mittlere Intelligencija“ wird wohl eine andere Epoche der Entwicklung seiner Rezeption wichtiger gewesen sein (die späten 1950er und 1960er Jahre, gekennzeichnet vor allem durch die Verfilmungen von Hamlet und König Lear durch Grigorij Kozincev). Interessant ist ebenfalls die Frage nach der Aufarbeitung Shakespeares für das Radio bzw. in der Folgezeit für das Fernsehen. Die meisten der von mir Befragten erinnern sich eben an diese Darstellungen der 1930er und 1940er Jahre. Doch all das gehört schon nicht mehr zum Thema „Schrift und Macht“, sondern zum Thema der Shakespearerezeption im Allgemeinen (siehe dazu den interessanten Sammelband unter der Red. von Dennis Kennedy: Foreign Shakespeare. Cambridge 1993).

T O MÁ Š L IP TÁ K

Welche Art Schriftsteller brauchen wir? Die Literarische Umfrage von 1931 Furchtbar die Gedanken, dass ich nichts mehr schreiben werde, dass es spät ist, spät... (Vera Inber am 2. 11. 1935)

Bis zur Annahme des Parteibeschlusses, der die Fragen von Literatur und Kunst regelte, wurde das Thema der Rolle und der Aufgaben des sowjetischen Schriftstellers lebhaft diskutiert. Die Resolution des Politbüros des CK VKP(b)1 „Über den Umbau der literarischen und künstlerischen Organisationen“ („O perestrojke literaturno-chudožestvennych organizacij“) vom 23. April 1932 bedeutete das Ende für die Verbände proletarischer Schriftsteller (VOAPP, RAPP2) und markierte den Beginn der Vereinigung „aller Schriftsteller, welche das Programm der Sowjetmacht unterstützen und am sozialistischen Aufbau teilnehmen wollen, zu einem einheitlichen Verband der sowjetischen Schriftsteller mit einer kommunistischen Fraktion darin“.3 Im Übrigen wurden ähnliche Veränderungen auch eingeführt „hinsichtlich anderer Kunstformen (Schaffung von Verbänden der Musiker, der Komponisten, der Künstler, der Architekten und weiterer Organisationen)“.4 Von diesem Blickwinkel aus ist eine Umfrage zum Problem, welche Art Schriftsteller gebraucht wird, ein interessantes Zeugnis der politischen, literarischen und künstlerischen Diskussionen, die in den Antworten auf die darin gestellten Fragen zum Ausdruck kommen. Vorliegender Aufsatz unternimmt den Versuch, die wichtigsten Momente der Diskussion um literarische und außerliterarische Probleme zu fixieren, wie sie von den Schriftstellern selbst, kurz vor der offiziellen Regulierung literarischer Fragen durch die Resolution des Politbüros, artikuliert wurden. Das Ziel besteht allerdings nicht darin festzustellen, welche Vorstellungen 1 2

3 4

CK VKP(b) – Zentralkomitee der allrussischen Kommunistischen Partei der Bolschewiki (Central’nyj komitet vserossijskoj Kommynističeskoj partii bol’ševikov). RAPP – Russische Assoziation der proletarischen Schriftsteller (Rossijskaja associacija proletarskich pisatelej). VOAPP – Allrussische Vereinigung der Assoziationen proletarischer Schriftsteller (Vsesojuznoe ob-edinenie Associacij proletarskich pisatelej). Postanovlenie Politbjuro CK VKP(b). O perestrojke literaturno-chudožestvennych organizacij. Siehe z.B.: url: http://www.hist.msu.ru/ER/Etext/USSR/1932.htm Ebd.

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jene von der Macht unterstützten literarischen Organisationen hatten (im gegebenen Falle wäre dies die RAPP), sondern eher darin, den Grad der schriftstellerischen Reflexion hinsichtlich der normativen Überfrachtung einiger Themen, das heißt, der diskursiven Kontrolle der Macht, aufzuzeigen. Der Fragebogen Welche Art Schriftsteller brauchen wir wurde vom Journal Auf literarischem Posten (Na literaturnom postu) vorgelegt und die Antworten im Laufe des Jahres 1931 veröffentlicht.5 Das Genre des Fragebogens war in den 1930er Jahren auf der gesamten Welt sehr populär,6 in der Sowjetunion aber waren diese Befragungen nicht bloßer Tribut an eine Mode Ihre Resultate hatten direkte politische Bedeutung und fungierten nicht selten als Handlungsrichtlinien. So stellte zum Beispiel der Fragebogen der Zeitschrift Das Wachstum (Rost), der in der Märzausgabe des Jahres 1931 veröffentlicht worden war, Arbeitern einiger sowjetischer Betriebe (Ogiz, Dynamo, Serp i molot u.a.) eine auf den ersten Blick völlig neutrale Frage: „Wie erholen Sie sich?“ Nachdem sie den Fragebogen ausgewertet hatte, unterbreitete die Redaktion des Journals einen Plan zur Massenorganisation der freien Zeit der Arbeiter: „Das Bild ist klar. Der freie Tag, die Erholung der Arbeiter ist nicht organisiert. Man muss sich deren Organisation umgehend annehmen.“7 Es folgen als Fazit die Aussagen: „Man muss alle Kultureinrichtungen (Klubs, Bibliotheken usw.) dazu verpflichten, an den freien Tagen (während der rollenden Woche – jeden Tag) ebenso tagsüber wie abends zu arbeiten. [...] Es sollten feste Pläne für kollektive Ausflüge, Theaterbesuche, sportliche Ertüchtigungen, kollektive Vorlesungen und Buchdiskussionen an den freien Tagen organisiert werden.“8 Wahrscheinlich erwartete man vom Fragebogen des Journals Auf literarischem Posten ähnliche Ergebnisse. Die Antworten sollten eine breite Diskussion sowohl zu ideologischen als auch technischen Problemen des literarischen Handwerks anregen und auch die Meinung der daran beteiligten Schriftsteller zu Schlüsselfragen des literarischen Lebens reflektieren. An der Beantwortung des Fragebogens beteiligten sich Nachwuchsschriftsteller aus dem Arbeitermilieu (A. Mitrofanov, P. Oroveckij, F. Vagramov, F. Svjatenko, A. Salov, A. Kudrejko); Berufsschriftsteller – ehemalige Mitglieder des LEF9 (Viktor Percov); Serapionsbrüder wie Veniamin Kaverin; Mitläufer (Vera Inber, Leonid Leonov, Ivan Evdokimov, Efim Zozulja, Vladimir Lidin, Pantejlemon Romanov); Kuznecy (Fedor Gladkov, 5

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Auf interessante Aspekte dieses Fragebogens verwies bereits E. Dobrenko in seinem Buch Formovka sovetskogo pisatelja. Social’nye i ėstetičeskie istoki sovetskoj literaturnoj kul’tury. Sankt Petersburg 1999. Karel Čapek beantwortete zum Beispiel den Fragebogen des amerikanischen Daily Express, M. Gor’kij sandte der populären französischen Zeitschrift Vu seine Antwort. Kak vy otdychaete? In: Rost. 6, März 1932, 6-9, hier: 8. Ebd. 8. LEF – Linke Front der Künste (Levyj front iskusstv).

Welche Art Schriftsteller brauchen wir?

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Georgij Nikiforov, Vladimir Bachmet’ev); Mitglieder der RAPP (Michail Čumandrin, Aleksandr Tarasov-Rodionov, Anna Karavaeva); die Konstruktivisten (Il’ja Sel’vinskij, Kornelij Zelinskij) oder auch die Bauernpoeten (Petr Orešin, Sergej Klyčkov). Der Fragebogen beinhaltete elf Fragen, die nicht nur allgemeine ideologische Themen tangierten, wie zum Beispiel „Worin sehen Sie den Unterschied zwischen dem früheren und dem neuen Schriftstellertypus?“, sondern auch Themen, die zutiefst den literarischen Schaffensprozess betrafen, wie etwa Fragen zu den schöpferischen Plänen („Woran arbeiten Sie gerade?“; „Was haben Sie in den letzten zwei Jahren geschrieben?“), zur Schnelligkeit des Schreibens („Wie hoch ist Ihr ungefährer Zeitaufwand?“) und Fragen, die darüber hinaus auch „Muster“ der schriftstellerischen Selbstreflexion eruierten („Ihre Meinung zum Buch Wie wir schreiben/Kak my pišem?“). Die Fragebögen wurden im Journal Auf literarischem Posten entsprechend der Reihenfolge ihres Eingangs und ohne redaktionelle Bearbeitung im Verlauf fast des gesamten Jahres veröffentlicht. Zu Beginn aber einige Anmerkungen, das Genre des Fragebogens betreffend. Die Fragen sind in hohem Maße wertend und normativ. Schon der Titel des Fragebogens suggeriert eine bestimmte Norm, die existiert oder existieren sollte (Welche Art Schriftsteller brauchen wir), und einen noch stärker normativen Charakter haben die Fragen. Die Frage setzt als dialogische Struktur schon von vornherein in bedeutendem Maße eine Antwort voraus oder stellt den Antwortenden in den Rahmen einer gewissen Präsupposition hinein. So unterstreicht zum Beispiel die Frage „Welche Zeitungen und Journale außer den literarischen lesen Sie regelmäßig?“ schon die Notwendigkeit, die Presse an sich zu verfolgen. Und weiterhin geht man auch davon aus, dass der Respondent die periodisch erscheinenden literarischen Presseerzeugnisse liest bzw. lesen sollte. Letztendlich entbehrt auch die an sich erfragte Information, d.h. welche Zeitungen und Journale der Schriftsteller liest, nicht einer gewissen normativen Kontrollfunktion. Der entscheidende Faktor ist dabei schon das Maß des Einschlusses der Norm in die gestellte Frage. Obwohl die Mehrzahl der Formulierungen im Fragebogen den Typ der Antwort suggeriert, so ist doch das Niveau der Normativität und Variabilität der Antworten unterschiedlich. Im Anschluss an die Frage „Worin sehen Sie den Unterschied zwischen dem früheren und dem neuen Schriftstellertypus?“ erfolgt als mögliche Antwort eine Aufzählung von Unterschieden, aus denen der Respondent die für ihn am meisten relevanten auswählen kann, was freilich die Möglichkeit, es könne für ihn gar keine Unterschiede geben, von vornherein ausschließt. Und die Frage nach dem ungefähren Zeitaufwand impliziert das Vorhandensein eines bestimmten „Zeitbudgets“ beim Schriftsteller, also ein Gebundensein an eine bestimmte zeitliche Skala, einen

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Arbeitsplan, und die Frage besteht nur darin, wie effektiv dieses „Budget“ ist und wie es ausgefüllt wird. Ausgehend davon, dass schon die Frage selbst in einem bestimmten Umfang an eine entsprechende Norm gekoppelt ist und nur in seltenen Fällen deren Fehlen oder schwache Anwesenheit konstatiert, kann man die Fragen nach dem Maß der darin enthaltenen normativen Vorstellungen über die Rolle des sowjetischen Schriftstellers, seine Arbeit usw. auf folgende Weise umgruppieren (von der am stärksten ausgedrückten Normativität bis hin zu der am schwächsten implizierten). 1. Worin sehen Sie den Unterschied zwischen dem früheren und dem neuen Schriftstellertypus? 2. Ihr Platz in der Arbeitspraxis: in welchen Bereichen des sozialistischen Aufbaus arbeiten Sie oder haben Sie gearbeitet; mit welchen Abschnitten des sozialistischen Aufbaus sind Sie grundlegend bekannt (durch die Arbeit, Brigadeausflüge, persönliche Beobachtungen, Weiterbildung, Literatur)? Was hat dies für Ihr Schaffen gebracht? 3. Halten Sie kurzzeitige Aufenthalte in Betrieben oder Kolchosen für nutzbringend oder halten Sie andere Formen der Beteiligung am sozialistischen Aufbau für besser? 4. Welche Zeitungen und Journale, außer den literarischen, lesen Sie regelmäßig? 5. Wie hoch ist Ihr ungefährer Zeitaufwand? 6. Verfolgen Sie die ideologischen und politischen Diskussionen des Landes? Welche Themen (Philosophie, Pädagogik, Geschichte, Politökonomie, Literaturwissenschaft) haben Sie verfolgt? Welche Fragen waren für Sie in diesen Diskussionen von Interesse? Welchen Nutzen hat das für Ihr Schaffen gebracht? 7. Mit welchen Schwierigkeiten werden Sie in ihrer Arbeit konfrontiert? 8. Woran arbeiten Sie gerade? 9. Was halten Sie von der Frage eines zweiten Berufs bei einem Schriftsteller (Ist er notwenig? Wenn er notwendig ist, welche Berufe würden den größten Nutzen für die schriftstellerische Arbeit bringen?) 10. Was haben Sie innerhalb der letzten zwei Jahre geschrieben? 11. Ihre Meinung zum Buch Wie wir schreiben? (Leningrader Schriftstellerverlag)

Es gilt anzumerken, dass es eine ganze Reihe von Fragen-Antworten gibt, in denen die Norm (noch nicht) völlig festgelegt ist, und die daher die Möglichkeit einer individuellen Antwort implizieren. Von keinem geringen Interesse ist auch der Umstand, dass viele Antworten nicht nur die Vorstellung der Schriftsteller zu einem vorgeschlagenem oder zu etablierendem Typus des „idealen“ Schriftstellers geben, sondern auch etwas über die kommunikative Orientierung der Antwortenden aussagen. Die Schriftsteller beantworten die ihnen gestellten Fragen, indem sie sich bewusst an zwei Typen von Rezipienten orientieren, d.h. einerseits an demjenigen, der den Fragebogen im Journal lesen wird und andererseits an dem, der den Fragebogen initiiert hat. Der Kürze halber werden im Folgenden drei Punkte des Fragebogens analysiert, die auf der Skala von Normativität die erste, mittlere und fast die letzte Position einnehmen.

Welche Art Schriftsteller brauchen wir?

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1. Worin sehen Sie den Unterschied zwischen dem früheren und dem neuen Schriftstellertypus? 2. Ihr Platz in der Arbeitspraxis: in welchen Bereichen des sozialistischen Aufbaus arbeiten Sie oder haben Sie gearbeitet; mit welchen Abschnitten des sozialistischen Aufbaus sind Sie grundlegend bekannt (durch die Arbeit, Brigadeausflüge, persönliche Beobachtungen, Weiterbildung, Literatur)? Was hat dies für Ihr Schaffen gebracht? 3. Wie hoch ist Ihr ungefährer Zeitaufwand?

1. Worin sehen Sie den Unterschied zwischen dem früheren und dem neuen Schriftstellertypus? Von größtem Interesse sind die Fragebogenantworten der Nachwuchsschriftsteller (Mitrofanov, Oroveckij, Vagramov, Svjatenko, Salov und Kudrejko). Ihre Antworten sind in höchstem Maße mit der Rhetorik und Semantik der literarisch-ideologischen Proklamationen verbunden und spiegeln hinsichtlich der ideologisch motivierten „Schlüsselfragen“ deutlich die politischen Strategien der Macht in Bezug auf die Literatur wider. Die Respondenten zitieren praktisch die Aufrufe des RAPP, die Ansichten Gor’kijs, und manchmal beziehen sie sich auf Lenin. Wenn die Frage im Gegensatz dazu keine standardisierte, „vorhersehbare“ Antwort impliziert, können ihre Meinungen radikal und ziemlich widersprüchlich sein. Zu einem ersten Typ der Demonstration normativer Vorstellungen kann man die Charakterisierung des „früheren Schriftstellertypus“ nach dem Prinzip von „Aktivität – Passivität“ zusammenfassen. A. Mitrofanov schreibt: „Der vorrevolutionäre Schriftsteller, der Schriftsteller alten Typus, ist mit der ästhetischen Ecke zufrieden, die ihm die Bourgeoisie aus Gnade zugewiesen hat. [...] in staatliche Angelegenheiten wurde er nicht einbezogen [...] er war [...] ein Liebediener der Bourgeoisie.“10 Aktivität und Passivität sind Schlüsselunterschiede zwischen dem sowjetischen und dem bürgerlichen Schriftsteller. Der neue Schriftsteller muss, dem Beispiel Gor’kijs folgend, aktiv sein, und Mitrofanov fügt hinzu: „Der sowjetische Schriftsteller, nicht einer, der auf dem Territorium der UdSSR lebt (sagen wir M. Bulgakov), sondern jemand, der wirklich ein Schriftsteller neuen Typus ist (sagen wir M. Gor’kij), [...] trägt durch seine Schaffenspraxis zum Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion bei und dient damit folgerichtig dem schnellen Ausbruch der Weltrevolution.“11 Aktiv zu sein, bedeutete für viele physische Arbeit. „Die proletarischen Schriftsteller, die sowohl physisch als auch intellektuell 10 11

Mitrofanov, A.: Kakoj nam nužen pisatel’. Anketa. In: Na literaturnom postu. 6, Februar 1931, 42. Ebd.

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in den Reihen des Proletariats arbeiten, schaffen dadurch einen neuen Schriftstellertypus in der Literaturgeschichte.“12 Der zweite Akzent lag auf der Klassenzugehörigkeit. F. Vagramov betont: „Der neue Schriftstellertypus zeichnet sich dadurch aus, dass er untrennbar mit seiner Klasse verbunden ist [...], während er die Erscheinungen des Lebens beobachtet und studiert, richtet er die Hauptschlagkraft in seinem Schaffen darauf, diese in die von seiner Klasse gewünschte Richtung hin zu verändern.“13 F. Svjatenko fügt hinzu: „Früher gab es die Schriftsteller aus der Klasse des Bürgertums. Für den Arbeiter schrieben sie Bova Korolevič, Eruslan Lazarevič, Heiligenlegenden, Romane für das Seelenheil, aber über die Fabrik oder den Betrieb schrieben sie überhaupt nichts. Der heutige, der Arbeiterklasse entstammende Schriftsteller beginnt gerade darüber zu schreiben, wo er arbeitet, über seinen großen Enthusiasmus, über seine Liebe und schafft Romane über die Werkbank und den Betrieb.“14 Svjatenko kritisiert „richtig“, das heißt, innerhalb des Diskurses kritisiert er den Einfluss der kirchlichen Literatur. Über eine passive Lebenseinstellung und den negativen Einfluss der Kirche schrieb zum Beispiel M. Gor’kij im Jahre 1929: „Der Prozess der Auferstehung des riesigen Landes mit einer nicht ,kulturell gebildeten‘ Bevölkerung, deren Wille im Laufe der Jahrhunderte gnadenlos von Kirche und Staat unterdrückt wurde, die künstlich zu einer passiven Lebenseinstellung erzogen wurde – dieser sich ungeheuer rasch vollziehende Prozess wurde und wird in unserer jungen Literatur sehr schwach reflektiert.“15 Allerdings klingt der an die Klassiker gerichtete Vorwurf Svjatenkos, sie hätten nicht über die „Werkbank oder den Betrieb“ geschrieben, nicht nur unsinnig, sondern er widerspricht auch der literarischen Praxis der Ausbildung der Nachwuchsschriftsteller, die in jenen Jahren angewandt und auch von Gor’kij in der Zeitschrift Literarische Lehre (Literaturnaja učeba) unterstützt wurde. Darin publizierte Gor’kij schon in den ersten Nummern, d.h. seit den 1930er Jahren Aufsätze zum Thema „Von den Klassikern lernen“ – dazu gehören Gogol’, Gončarov, Dostoevskij und einige französische Schriftsteller.16

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Kudrejko, A.: Kakoj nam nužen pisatel’. Anketa. In: Na literaturnom postu. 6, Februar 1931, 46. Vagramov, F.: Kakoj nam nužen pisatel’. Anketa. In: Na literaturnom postu. 15, Mai 1931, 44. Svjatenko, F.: Kakoj nam nužen pisatel’. Anketa. In: Na literaturnom postu. 15, Mai 1931, 34. Gor’kij, M.: Molodaja literatura i ee zadači. 96. In: Sobranie sočinenij. T. 25. Moskau 1953, 93-97. In der fünften Ausgabe der Literaturnaja učeba erscheint der Aufsatz Žizn’ i tvorčestvo N. V. Gogol’ja (Leben und Werk N. V. Gogol’s von V. Desnickij), in der sechsten Ausgabe der Aufsatz Das Schaffen Stendhals (A. Skaftymov). Im Jahre 1931 erschienen

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Als dritter und grundlegendster Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Schriftstellertypus werden die Themen ihrer Werke genannt; darüber schreibt zum Beispiel derselbe Svjatenko. Und der Arbeiterkorrespondent des Betriebes AMO, A. Salov, fügt hinzu, dass „der neue Schriftsteller die Erfahrung des Kampfes eines herausragenden Betriebes, Werkes, einer Brigade und eines Helden, wie man arbeiten und sich für den Produktions- und Finanzplan in der sozialistischen Gesellschaft einsetzen muss, weitergibt“.17 Den Maßstab der Festigung der Vorstellungen von der Norm, d.h. dem Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Schriftsteller unterstreicht der in die Literatur berufene Aktivist des Panjutinsker Waggonreparaturbetriebes P. Oroveckij, der seine Gedanken wie folgt artikuliert: „Die Schriftsteller neuen Typus schreiben nicht ,allgemein‘, sondern legen ihrer Arbeit die historische Entwicklung der klassen- und ökonomischen Kräfte im Lande des Proletariats zugrunde“ und gleichzeitig gibt er zu: „In dieser Frage kenne ich mich nicht so gut aus, um konkreter darauf zu antworten.“18 Wie aber haben auf diese Frage die „sich auskennenden“ Berufsschriftsteller geantwortet? Zum Teil genauso. Wenn man die stilistischen Unterschiede zwischen Nachwuchs- und Berufsschriftstellern ignoriert, so kann man auch die von ihnen aufgestellten Behauptungen oftmals in den Aufsätzen Gor’kijs Ende der 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre finden. Es gibt jedoch auch charakteristische Unterschiede, zum Beispiel geht es ihnen nicht nur um die „Widerspiegelung“ der Kampferfahrung in der Literatur (wie dies von den „Aktivisten“ gesehen wird, insbesondere vom Schriftsteller Salov), sondern um die Analogie der Tätigkeit von Schriftsteller und Arbeiter. Und von diesem Blickwinkel aus werden für viele sowjetische Schriftsteller auch eine Reihe weiterer Merkmale wichtig, wie zum Beispiel der Unterschied in der sozialen Rolle des Schriftstellers. Anna Karavaeva – Autorin des Romans Holzfabrik (Lesozavod), später eine der Redakteurinnen Nikolaj Ostrovskijs und Trägerin des Stalinpreises, schrieb, dass „der proletarische Schriftsteller nicht nur ein Kämpfer, Kampfgenosse und Teilhaber am Aufbau des Sozialismus, sondern in gewisser Weise auch für ihn verantwortlich ist.“ In diesem Sinne äußerten sich auch andere Autoren, die ihre Rolle nicht nur in der künstlerischen Widerspiegelung des Aufbaus des Sozialismus sahen, sondern in der direkten Teilnahme daran. Ivan Evdokimov schreibt: „Wer ist der zeitgenössische Schriftsteller? Das war und ist ein Arbeiter in einem schwe-

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Aufsätze verschiedener Autoren über das Schaffen der Klassiker wie zum Beispiel über Flaubert, Zola, Gončarov, Dostoevskij und Hugo. Salov, A.: Kakoj nam nužen pisatel’. Anketa. In: Na literaturnom postu. 15, Mai 1931, 35. Oroveckij, P.: Kakoj nam nužen pisatel’. Anketa. In: Na literaturnom postu. 15, Mai 1931, 35.

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ren gefährlichen Unternehmen. Für den modernen Schriftsteller gibt es weder den Siebenstundentag noch eine Fünftagewoche – seine Schicht endet nie.“ Muss man überhaupt einen Unterschied in der Beantwortung dieser Frage zwischen den Nachwuchs- und Berufsschriftstellern machen? Man kann annehmen, dass die Vorstellungen über die Rolle des Schriftstellers, die Themen der Werke oder die Klassenzugehörigkeit bei den Meistern sich mit denen der Nachwuchsschriftsteller decken. Man kann einige Antworten miteinander vergleichen. I. Sel’vinskij: „Der neue Schriftstellertypus – das ist ein proletarischer Schriftsteller, ein schreibender Kämpfer für den Kommunismus, ein aktiver Erbauer des Sozialismus.“ V. Inber: „Der neue Schriftsteller nimmt unmittelbar und aktiv an der schöpferischen Arbeit des Klassenhegemonen, des Proletariats, teil.“ F. Gladkov äußert sich über Schriftstellertypen dahin gehend, dass man den Unterschied „vor allem nach dem Merkmal seiner gesellschaftlichen Aktivität und der Rolle der Literatur selbst unter den völlig neuen ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen bestimmen“ solle. A. Tarasov-Rodionov hält dazu fest: „Die organische und organisierte Teilnahme des Schriftstellers am unmittelbaren Kampf und der Arbeit seiner Klasse – darin bestehen die wesentlichen Kennzeichen des neuen Schriftstellertypus.“ Bei K. Zelinskij heißt es: „Die Scheidegrenze zwischen gestern und heute ist die Klassenzugehörigkeit.“ Die Analyse der Frage zum neuen Typus des Sowjetschriftstellers zeigt in erster Linie, dass eine klare Vorstellung darüber existierte, wie er sein sollte und dass seine soziale Zugehörigkeit und Rolle bestimmt wurde. Dies zeugt davon, dass die Frage zum Unterschied zwischen dem früheren und dem neuen Schriftstellertypus das geringste Maß an individualisierter Meinungsäußerung zulässt. Hier zeigt sich in höchstem Maße ein Herangehen an die Literatur, wie es von den Machtstrukturen „empfohlen wurde“. Die Respondenten formulierten in ihren Antworten die Aufgaben des neuen Schriftstellers (wie er sein sollte), seinen Status (welcher Klasse er angehören sollte) und die Themen seiner Arbeit (worüber er schreiben sollte). Ein gewisses Interesse ruft auch die keineswegs nur von den ArbeiterSchriftstellern aufgezeigte Analogie zwischen der Tätigkeit des Schriftstellers und des Arbeiters hervor. Eine Analogie, die als solche nicht nur deren Gleichwertigkeit, sondern auch ihren parallelen Verlauf impliziert. Diese Vorstellungen vereinen verschiedene Ebenen der Schriftstellerhierarchie, angefangen von dem „Begründer“ Gor’kij über die Berufsschriftsteller (wie zum Beispiel Gladkov) bis hin zu den erst am Anfang stehenden proletarischen Schriftstellern. Dieser Unterschied jedoch manifestiert sich wesentlicher in den Antworten auf Fragen, die ein größeres Maß an Individualität zulassen und weniger auf standardisierte Antworten abzielen. Dergestalt waren diejenigen Berichte angelegt, die unter Punkt 2 des Fragebogens resümiert wurden.

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2. In welchen Bereichen des sozialistischen Aufbaus arbeiten Sie oder haben Sie gearbeitet? Wie aus den Stellungnahmen zur vorhergehenden Frage deutlich wurde, waren für den „neuen“ Schriftsteller praktische Erfahrungen in den Reihen des Proletariats unabdingbar. So arbeitete zum Beispiel Vera Inber zu Beginn der 1930er Jahre einige Zeit in der Lampenabteilung eines Elektrobetriebes und schätzte den Nutzen dieser neuen Erfahrung sehr hoch ein, da sie so ihrer Meinung nach, die Distanz zwischen Schriftstellerin und Leser verkürzen konnte. Wenn sie zum Beispiel am Abend einen offenen Brief in der Zeitung Elekrobetrieb (Ėlektrozavod) veröffentlichte (über den Ausschuss im Betrieb), so erhielt sie schon am nächsten Morgen Reaktionen darauf von ihren im Betrieb arbeitenden Mitstreitern und Genossen. Diese sicher einzigartige literarische Erfahrung, deren Wert vor allem in der Herstellung der Erfahrung der „Nicht-Entfremdung“ liegt, schreibt sie der Mitarbeit des Schriftstellers auf Baustellen und in den Fabriken zu: „Die Lampenabteilung ist nicht nur dadurch mit meinem Schaffen verbunden, dass meine Feder des Abends von einem in eben dieser Abteilung gefertigten Lämpchen erhellt wird. Die Lampenabteilung hat auch jene Abstraktion mit lebendigem Inhalt erfüllt, die für den Schriftsteller oft der so genannte „neue Leser“ ist.“19 Die Frage der Selbstreflexion der Schriftsteller hinsichtlich des sozialistischen Aufbaus ist auch mit der fünften Frage verbunden: „Halten Sie kurzzeitige Aufenthalte in Betrieben und Kolchosen für nutzbringend?“ In ihren Stellungnahmen erwähnten die Respondenten am häufigsten den Gegensatz zwischen physischer und intellektueller Arbeit. Der Kritiker Kornelij Zelinskij bewertete die Rolle der schriftstellerisch tätigen „Masse“ wie folgt: In einem Lande, wo man in der Tat daran geht, die Kluft zwischen geistiger und körperlicher Arbeit zu schließen, kann kein Schriftstellertypus mit der Gänsefeder hinter dem Ohr kultiviert werden. Die Arbeiter-Aktivisten, die in die Literatur gehen, helfen am besten, diesen üblen Hauch des schriftstellerischen Nischendaseins, des schädlichen Fachidiotentums zu überwinden.20

Michail Čumandrin, Mitglied der RAPP, beantwortete die Frage nach einem zweiten Beruf für den Schriftsteller folgendermaßen: Als erstes hilft er, den Unterschied zwischen körperlicher und geistiger Arbeit aufzuheben. Jetzt sind wir diesem Ziel teilweise schon nahe gekommen. Der ArbeiterAktivist ist nicht nur Schlosser, sondern auch Redakteur der Wandzeitung (Journa-

19 20

Inber, V.: Kakoj nam nužen pisatel’. Anketa. In: Na literaturnom postu. 6, Februar 1931, 45. Zelinskij, K.: Kakoj nam nužen pisatel’. Anketa. In: Na literaturnom postu. 20-21, Juli 1931, 53.

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list) und Beisitzer beim Volksgericht (Jurist) und auch, sagen wir, Mitglied des Leningrader Stadtsowjets (d.h. Vertreter der Macht).21

Die Kluft zwischen geistiger und körperlicher Arbeit sollte dergestalt durch die Verbindung der physischen mit der literarischen Arbeit überwunden werden. Und tatsächlich ließen sich zahlreiche Schriftsteller auf eine solche „Multifunktionalität“ ein. Der Poet des Konstruktivismus und spätere Korrespondent der Pravda, Il’ja Sel’vinskij, schreibt über seine „schriftstellerische“ Erfahrung: Ich habe dabei als Instrukteur des französischen Kampfes und des Schwimmens gearbeitet, als Leiter der Theatersektion des Unarobraz (der Bildungsabteilung), als Dozent für Politökonomie in der Arbeiteruniversität (Eupatoria), dann als Agent für Materialbeschaffung, dann Beauftragter Kirgisiens in Angelegenheiten der Pelzherstellung, Instrukteur im Kožsyr (Leder verarbeitenden Betrieb); Leiter der Federn verarbeitenden Fabrik in Zarajsk; Leiter des Utylsyr (Betrieb für die Wiedergewinnung von Rohstoffen aus Abfällen) usw. Ich habe auch in der Gewerkschaftspresse gearbeitet (Krasnyj transportnik, Chimik, Kommunal’nik). Im letzten Jahr war ich in einem Elektrobetrieb als Schweißer an der Werkbank, Arbeiter in einem Parteikabinett, Brigadier einer Literaturbrigade, künstlerischer Leiter des Zirkels der Poeten, Estradenkünstler für die Mittagspausen und Losungsschreiber für Aktivistenkampagnen tätig.22

N. Aduev, der nicht nur seine literarische Arbeit ebenfalls mit einem Elektrobetrieb verband, bemerkt im Fragebogen: Es ist sogar schwer, die gesamte Wichtigkeit, den gesamten Wert dessen richtig zu würdigen, was mir die Arbeit im Betrieb gegeben hat. Diese Tätigkeit führte zu einem kritischen Resümee meines gesamten schöpferischen Weges und meiner Methoden und wurde zur Quelle einer ständigen politischen und emotionalen Energiezufuhr.23

Während Aduev vorsichtig über die positiven Resultate der Überwindung der Kluft zwischen Arbeiter und Schriftsteller spricht, so sieht Sel’vinskij diese schon als vollständig überwunden an und zieht eine Bilanz, indem er einige seiner Werke aufzählt. Er schreibt, dass ihm die Materialbeschaffung, mit der er sich beschäftigt hatte (wie auch alle anderen oben aufgezählten Berufe), die Möglichkeit gab, solche Werke zu verfassen wie Puštorg, Geschichte eines Fuchses (Istorija odnoj lisicy), Der Lumpenkönig (Trjapičnyj korol’), Der große Spießbürger von der Karl-Marx-Straße (Velikij obyvatel’ s ulicy Karla Marksa) [...] usw. Die Arbeit im Betrieb weckte in mir den Gedanken, das Poem Die Zeitung des Elektrobetriebes (Ėlektrozavodskaja gazeta) zu schaffen, gab mir, und das ist die Hauptsa21 22 23

Čumandrin, M.: Kakoj nam nužen pisatel’. Anketa. In: Na literaturnom postu. 10, April 1931, 27. Sel’vinskij, I.: Kakoj nam nužen pisatel’. Anketa. In: Na literaturnom postu. 6, Februar 1931, 44. Aduev, N.: Kakoj nam nužen pisatel’. Anketa. In: Na literaturnom postu. 20-21, Juli 1931, 57.

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che, auch die Möglichkeit, es zu vollenden. Ein Poet liebt nicht deshalb eines seiner Werke am meisten, weil es besser als die anderen geschrieben ist, sondern weil es ihm neue, bisher unbekannte Möglichkeiten eröffnet. Und ein solches Werk ist für mich die Zeitung des Elektrobetriebes – das schöpferische Resultat meiner Arbeit im Elektrobetrieb.24

Zentraler Streitpunkt war die Frage zur Nützlichkeit kurzzeitiger Aufenthalte in Betrieben und Kolchosen. Der Untertitel zu diesem Punkt lautete folgendermaßen: „Halten Sie andere Formen der Teilnahme am sozialistischen Aufbau für sinnvoller?“ Die Aufenthalte in den Betrieben wurden zu jener Zeit von vielen kritisiert, auch von den an der Literaturumfrage beteiligten.25 Das Mitglied der Gruppe Umsturz (Pereval) Michail Golodnyj sah in diesen Aufenthalten keinen besonders großen Sinn. Er schreibt: Ein kurzer Aufenthalt bringt eine Skizze oder ein Gedicht hervor. Um sich ernsthaft des Problems der komplizierten Verhältnisse auf dem Dorf oder im Betrieb anzunehmen und diese in einem literarischen Werk abzubilden, muss man entweder ein oder zwei Jahre praktisch arbeiten oder aus einem Kolchos oder Betrieb in die Literatur kommen.26

Golodnyj hat so die gesamte paradoxe Situation beschrieben. Den Arbeitern, die aus einem Betrieb in die Literatur gelangten, brachte die Einbeziehung in solche Projekte nichts, da sie ja schon in Kolchosen oder Betrieben gearbeitet hatten. Als während des ersten Fünfjahrplanes einige Aktivisten dazu aufgefordert wurden, den Betrieb zu verlassen und sich an den literarischen Prozessen zu beteiligen (zum Beispiel durch ein Studium in einem Literaturinstitut), gab man den Berufsschriftstellern die Möglichkeit, ihren Schreibtisch zu verlassen und einige Zeit in einem Betrieb zu arbeiten. Für sie wurden diese kurzfristigen Aufenthalte auf den Baustellen konzipiert. Die Gründe dafür waren unterschiedlich und veränderten sich im Laufe der Zeit. Einige Schriftsteller nahmen aktiv am Bau der Turksib teil (Amir Sargidžan alias Sergej Borodin) oder arbeiteten in der Lampenabteilung eines Elektrobetriebes (Vera Inber), die Fahrten aber zum Belomoro-Baltijskij Kanal oder in die Bolševskaja Kommuna hatten ein völlig anderes propagandistisches Ziel. Die auf die Baustelle kommenden Schriftsteller sollten dem positiven Einfluss der durch körperliche Arbeit geschaffenen Errungenschaften der Arbeiter

24 25

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Sel’vinskij, I.: Kakoj nam nužen pisatel’. Anketa. In: Na literaturnom postu. 6, Februar 1931, 44. Als im Jahr 1933 mehr als einhundert sowjetische Schriftsteller die Baustelle des Belomoro-Baltijskij Kanals besuchen, werden solche „Dienstreisen“ anders, einseitig positiv eingeschätzt. Golodnyj, M.: Kakoj nam nužen pisatel’. Anketa. In: Na literaturnom postu, 6. Februar 1931, 46.

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ausgesetzt werden. Über den positiven Effekt der Reisen sprach Gor’kij in seiner Rede auf dem Treffen der Aktivisten des Belomorstrojs: Ihr [d.h. die Aktivisten des Belomorstrojs – T. L.] habt die Stimmung hunderter Literaten gehoben, die zum Kanal kamen und eure Arbeit gesehen haben. Ihr habt sie in diesen Strom lebendiger Arbeit einbezogen, habt sie an den Arbeitsprozess herangeführt, habt gleichzeitig ihnen und euch selbst gezeigt, was ihr geschaffen habt. Ich denke, dass viele jener Genossen Literaten, die noch im Nebel des Unverständnisses schwankten oder nicht den Wunsch verspürten zu begreifen, was in unserem Lande vor sich geht, nachdem sie sich den Kanal angesehen haben, nachdem sie euch kennen gelernt haben, nachdem sie jene Reden gehört haben, die hier gesprochen wurden – beeindruckend ehrliche Reden! – auch etwas gewannen und dieser Gewinn wird sich deutlich in der Literatur widerspiegeln. Es wäre gut, wenn unsere Literatur auf das selbe Niveau gelangen würde wie diese besonderen, gigantischen Ereignisse, die durch die kollektive Arbeit hervorgerufen werden, und die geführt werden von solchen wahren Ingenieuren der Seelenumschmelzung, wie hier sehr treffend gesagt wurde.27

Die im Betrieb gewonnene Erfahrung sollte sich von den durch „Exkursions“Fahrten erhaltenen unterscheiden. Wenn einer der Berufsschriftsteller es für nützlich hielt, eine Weile in einem Betrieb oder einer Fabrik zu arbeiten, so gingen doch die Vorstellungen darüber, wie lange dieser Aufenthalt sein sollte, recht weit auseinander. Fedor Gladkov äußerte seine Meinung wie folgt: Man muss schon richtig dazugehören zu dem Betrieb oder zur Baustelle. Nur in einem solchen Falle kann man es richtig literarisch umsetzen. Ich bin sogar dafür, dass ein Schriftsteller nicht weniger als ein halbes Jahr am Produktionsprozess teilnehmen und dabei unmittelbar in die Angelegenheiten und Veranstaltungen der örtlichen Organisationen und Einrichtungen einbezogen werden sollte.28 27

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„Вы [т.е. ударники Беломорстроя – Т. Л.] подняли настроение сотни литераторов, которые были на канале и видели вашу работу. Вы вдвинули их в этот поток живой работы, приблизили их к трудовому процессу, воочию показали им и себя, и то, что вами сделано. Я думаю, что многие из тех товарищей литераторов, которые колебались в тумане непонимания или не имели желания понять происходящее в нашей стране, после знакомства с каналом, после знакомства с вами, после тех речей, которые здесь вами были сказаны, – поразительно искренних речей! – писатели тоже что-то приобретут, и это приобретение ярко отразится в литературе. Хорошо было бы, если б литература наша стала в уровень с теми особыми, гигантскими событиями, которые создаёт коллективный труд, руководимый такими действительно инженерами перековки душ, как тут метко было сказано.“ Die Rede wurde in der Stadt Dmitrov (Moskauer Gebiet) am 25. August 1933 gehalten. Sie wurde das erste Mal unter dem Titel Eine gute Sache wurde vollbracht (Prekrasnoe delo sdelano) in der Pravda. 243 vom 3. September 1933 veröffentlicht. Sie wurde unter dem Titel Rede auf dem Treffen der Aktivisten des Belomorstrojs (Reč’ na slete udarnikov Belomorstroja) in M. Gor’kijs Sobranie sočinenij. T. 27. Moskau 1953) abgedruckt. Gladkov, F.: Kakoj nam nužen pisatel’. Anketa. In: Na literaturnom postu. 10, April 1931, 29.

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Grigorij Nikiforov hielt es auch für nützlich, „sich richtig am Leben eines Betriebes oder einer Kolchose innerhalb von einem oder zwei Jahren zu beteiligen und zwar nicht als Beobachter, sondern als einfacher Arbeiter“.29 Der Aktivist Oroveckij schreibt: „Der Schriftsteller muss an der Produktion teilnehmen oder irgendwo angestellt sein. Er sollte physisch schaffen, bevor er an die Darstellung der Arbeit herangeht.“30 Der zu jener Zeit erkrankte Poet Petr Orešin entschuldigt sich untertänigst vor den Lesern der Umfrage: Zu meinem großen Bedauern habe ich auf keinem Abschnitt des sozialistischen Baus jemals gearbeitet, wenn man von meiner Arbeit absieht, die ich an meinem Schreibtisch sitzend ableistete, wie ich oben schon gezeigt habe. Ich weiß, dass dies wenig ist für die sowjetische Gesellschaft. Aber, ich wiederhole, ich war zwei Jahre lang schwer krank (ein Zwölffingerdarmgeschwür und eine rechts- und linkseitige (sic!) Mittelohrentzündung. Aus diesem Grunde sah ich mich beim besten Willen nicht dazu in der Lage, zu den Betrieben zu fahren.31

Durch die unmittelbare physische Arbeit im Betrieb oder durch den Kontakt zu ihr während der Reisen kompensiert der Schriftsteller seine weniger bedeutende – so wurde es während des ersten Fünfjahrplanes gesehen – schriftstellerische Arbeit. Wie es Orešin formuliert: „Reine Schreibtischarbeit ist für die sowjetische Gesellschaft zu wenig.“ Die Einbeziehung des Schriftstellers in die Produktion war nicht nur für Themensuche und Materialsammlung wichtig, sondern vor allem als symbolisches Ritual der Überwindung der Kluft zwischen körperlicher und geistiger Tätigkeit.32 Gleichzeitig tragen solche „Einbeziehungen“ dazu bei, wenigstens teilweise die Grenze zwischen dem Berufsschriftsteller und dem Arbeiterschriftsteller zu überwinden. Die Meinungsvielfalt in dieser Frage tritt deutlicher zutage als im ersten Punkt der Umfrage. Auf diese Weise sind normative Vorstellungen über den Typus des „neuen Schriftstellers“ deutlicher und unanfechtbarer ausgedrückt als die über die Methode seiner Formierung.

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Nikoforov, G.: Kakoj nam nužen pisatel’. Anketa. In: Na literaturnom post. 10, April 1931, 32. Oroveckij, P.: Kakoj nam nužen pisatel’. Anketa. In: Na literaturnom postu. 15, Mai 1931, 35. Orešin, P.: Kakoj nam nužen pisatel’. Anketa. In: Na literaturnom postu. 20-21, Juli 1931, 58. Dies bezeugen die Schriftsteller und Journalisten, die auf den Baustellen gearbeitet hatten, wie zum Beispiel Amir Sargidžan, der in der Zeitschrift Das Wachstum (Rost) von 1933 folgendes schreibt: „Ich habe mich am Bau der Turksib als Erdarbeiter beteiligt, um in die tiefsten Tiefen der Arbeit einzudringen, um jene Distanz zu überwinden, die es dem Journalisten oft so schwer macht, einen Zugang zu den Arbeitern zu finden.“ Zit. nach: Dobrenko, E.: Formovka sovetskogo pisatelja. Sankt Petersburg 1999, 444.

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3. Wie hoch ist Ihr ungefährer Zeitaufwand? In den Antworten bezüglich ihres ungefähren Zeitaufwandes legten die Schriftsteller das Geheimnis ihres Arbeitstages offen und damit auch das Geheimnis ihres schöpferischen „Labors“. Die Antworten auf diese Frage geben eine Vorstellung darüber, wie die Schriftsteller arbeiteten und wie sie – wenn dies nötig war – ihre schriftstellerische Tätigkeit mit ihrer Arbeit im Betrieb in Einklang brachten. Vera Inber, Poetin und Journalistin und mit der proletarischen Arbeit in der Lampenabteilung in Kontakt gekommen, kommentierte diese heroische Epoche in einem Gedichtteil:33 Welch eine Epoche ist angebrochen, der Vergangenheit Erben stürmen voran, so dass man weder sterben noch Mittag essen gehen kann. Ведь это какая эпоха! Ведь Это натиск такого племени, Что не только что умереть, – Пообедать – и то нет времени.

Der oben erwähnte, in einem Elektrobetrieb arbeitende Nikolaj Aduev beschreibt sein tägliches Programm als Aufeinanderfolge der unterschiedlichsten Beschäftigungen. „Von 10 Uhr morgens bis 1 Uhr – literarische Arbeit. Von 1 Uhr bis 3 Uhr dienstliche Besuche: Redaktionen, Theater usw. Von 3 Uhr an – in dem Betrieb.“34 Und obwohl Aduev nicht angibt, wie lange er im Betrieb arbeitet, kann man feststellen, dass er der literarischen und „kulturellen“ Arbeit mehr als die Hälfte des Arbeitstages widmet – 5 Stunden. Wie genau die Schriftsteller sich bemühten, ihren Arbeitstag zu planen, kann man an der Antwort des Nachwuchsschriftstellers A. Mitrofanov erkennen, der konstatiert: „5 bis 7 Stunden Arbeit im GICHL35; 1 Stunde (im Durchschnitt) – Parteizelle, Versammlungen; 2 bis 3 Stunden – Zeitungen, Bücher; 1 Stunde – Essen u.a., 8 Stunden – Schlaf. Die restliche Zeit – oh je – ist gar nicht budgetiert.“36 „Außerhalb jeder zeitlichen Budgetierung“ verblieben Mitrofanov nur ganze 4 Stunden am Tage, die man getrost dem Ortswechsel, der Hygiene und anderem zuordnen kann. Allerdings ruft der Verlust dieser Stunden aus der Gesamtheit der zum gesellschaftlichen Nutzen verbrachten Zeit sein Bedauern hervor, da dies nicht der Vorstellung von der maximalen Effektivität der 33 34 35 36

Inber, V.: Kakoj nam nužen pisatel’. Anketa. In: Na literaturnom postu. 6, Februar 1931, 45. Aduev, N.: Kakoj nam nužen pisatel’. In: Na literaturnom poistu. 20-21, Juli 1931, 57. GICHL – Staatsverlag für schöngeistige Literatur (Gosudarstvennoe izdatel’ctvo chudožestvennoj literatury). Mitrofanov, A.: Kakoj nam nužen pisatel’. In: Na literaturnom postu. 6, Februar 1931, 43.

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Ausnutzung der Zeitressourcen entspricht. Hier haben wir es mit subtilen Techniken der Erhöhung der Effektivität der Arbeit zu tun, die sowohl den „Betrieb“ als auch die Literatur betreffen und die mit Vorstellungen über das Primat des gesellschaftlichen Nutzens gekoppelt sind. Über die Möglichkeit, seine Zeit privat, nicht effektiv und nicht produktiv zu nutzen, denkt Mitrofanov lieber nicht nach; mehr noch: er ist betrübt, dass es unmöglich ist, die „nicht nützlich“ verbrachte Zeit in einen „produktiven“ Teil seines zeitlichen „Budgets“ zu verwandeln. Il’ja Sel’vinskij beklagt sich darüber, dass sich die Arbeitszeit auch in Abhängigkeit von territorialen Verhältnissen ändert. Er schreibt: „In Moskau bekommt man mit Mühe 2 bis 3 Arbeitsstunden zusammen, außerhalb von Moskau arbeite ich planmäßig und systematisch, manchmal bis zu vierzehn Stunden am Tage.“37 Aber offensichtlich wirkte sich nicht nur der Ort auf die Produktivität der literarischen Arbeit aus, sondern auch die Tageszeit. Vera Inber berichtet: „Jeden Tag schreibe ich morgens an die vier Stunden. Am Morgen verfasse ich am liebsten Prosa und abends die Gedichte. Allerdings habe ich selten einen freien Abend, und daher habe ich offensichtlich mehr Prosawerke als Gedichte geschrieben.“38 Der zu jener Zeit bereits populäre Schriftsteller Fedor Gladkov verkündet: „Ich arbeite ungefähr 6 bis 8 Stunden am Tage – morgens und abends. 3 bis 4 Monate verreise ich und lebe auf Baustellen und an anderen Orten der Union.“39 Veniamin Kaverin hebt lakonisch hervor: „40 Prozent der Zeit – der gesellschaftlichen Arbeit; 50 Prozent – der Literatur; 10 Prozent – dem Sport.“40 Die Angst vor Uneffektivität äußerte sich bei den Schriftstellern auf unterschiedliche Weise und wurde auch unterschiedlich erklärt – angefangen von geographischen Gründen (Wohnort) bis hin zu gesellschaftspolitischen und manchmal auch infrastrukturellen (administrative Belastung, bürokratische Hürden). Vladimir Lidin zum Beispiel schrieb auf den Seiten des Journals: Die Hälfte meines Arbeitstages muss ich dem Geld hinterher jagen, denn dieses wird nur unter großen Schwierigkeiten herausgegeben; ebenso vergeht die Zeit mit den Versuchen, meinen Mitgliedsbeitrag zu bezahlen, was in der Regel nicht jeden Tag

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Sel’vinskij, I.: Kakoj nam nužen pisatel’. Anketa. In: Na literaturnom postu. 6, Februar 1931, 44. Inber, V.: Kakoj nam nužen pisatel’. Anketa. In: Na literaturnom postu. 6, Februar 1931, 45. Gladkov, F.: Kakoj nam nužen pisatel’. Anketa. In: Na literaturnom postu. 10, April 1931, 30. Kaverin, V.: Kakoj nam nužen pisatel’. Anketa. In: Na literaturnom postu. 10, April 1931, 32.

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möglich ist, sondern sich nach dem Fahrplan einer alten Jungfer richtet, die ihre Ruhe haben will und auch die Steuerzahlungen und andere Nöte brauchen die Zeit auf.41

Möglicherweise teilten viele Autoren und Teilnehmer an der Umfrage die Erfahrungen Lidins, doch im Rahmen der vorliegenden Befragung sind seine Antworten nicht charakteristisch. Kennzeichnender ist eher das Bestreben, die Arbeit (eingeschlossen die schriftstellerische) effektiver zu gestalten und damit eine der grundlegenden Tendenzen des ersten Fünfjahrplanes zu übernehmen.42 Die Umfrage aber zeigt auch, dass man zwischen der genauen Planung des Arbeitstages und der Effektivität und Produktivität der Arbeit kein Gleichheitszeichen setzen kann. Die Frage nach Zeitbudget und Arbeitsweise ist verbunden mit instruierenden Aufsätzen darüber, wie man arbeiten soll. Der vorliegende Fragebogen war eine Reaktion auf einen solchen Versuch – eine Veröffentlichung aus dem Jahre 1930 unter dem Titel Wie wir schreiben. An dieser Umfrage nahmen auch einige Berufsschriftsteller teil wie A. Belyj, E. Zamjatin, M. Zoščenko, B. Pil’njak, A. Tolstoj, Ju. Tynjanov, V. Šklovskij. Andere dazu geladene wie B. Pasternak oder O. Mandel’štam stellten für den Sammelband kein Material zur Verfügung. Das Buch wurde herausgegeben in Form von Antworten auf eine Umfrage zur literarischen Arbeit der sowjetischen Schriftsteller. Es gab insgesamt 16 Fragen. Sie betrafen zum größten Teil Belange der literarischen Technik (die Vorbereitungsphase, die Materialauswahl, den schöpferischen Impuls, Schreibtechnik, Entwurf eines Planes usw.). Wenn man einige originelle Fragen („Drogen während der Arbeit; in welchem Umfang?“) außer acht lässt, dann ist die Ähnlichkeit zur Umfrage aus dem Journal Auf literarischem Posten durchaus sinnfällig (so beziehen sich, worauf schon hingewiesen wurde, die Herausgeber der Umfrage in einem Punkt auf den Sammelband Wie wir schreiben). Insbesondere widmen beide Fragebögen dem zeitlichen Aspekt der literarischen Arbeit einige Aufmerksamkeit. Die Frage in Wie wir schreiben lautete zum Beispiel wie folgt: „Wann arbeiten Sie: am Morgen, am Abend oder nachts? Wie viele Stunden am Tag maximal?“ Gor’kij, der ebenfalls auf die Umfrage Wie wir schreiben geantwortet hatte, stellte für die Nachwuchsschriftsteller ein Beispielmodell für erfolgreiches Arbeiten zusammen. Er schreibt: „Ich arbeite morgens von 9 Uhr an bis

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Lidin, V.: Kakoj nam nužen pisatel’. Anketa. In: Na literaturnom postu. 15, April 1931, 41. Das Wichtigste am volkswirtschaftlichen Fünfjahrplan war die Erhöhung der Produktion. In einigen Bereichen wurde gefordert, die Produktion um einige Dutzend Prozente zu erhöhen. Vgl. z.B. Rogačevskaja, L. S.: Kak sostavljalsja plan pervoj pjatiletki. In: url: http://www.situation.ru/app/j_art_692.htm

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um eins und abends von 8 bis 12. Besser ist es am Morgen.“43 Vermittels dieser Art Antworten – und bedingt nicht zuletzt durch die große Popularität Gor’kijs – beginnt der Prozess der Exemplifizierung, d.h. es werden Beispiele entworfen, die zu Mustern werden sollen. Gor’kij ist ein lebendiges Beispiel für einen Autodidakten, der sich alles (Handwerk, Philosophie, Literatur usw.) selbst aneignet und er ruft alle dazu auf, sich praktischen Studien zu unterziehen. Indem er auf die Umfrage antwortet und damit ein Musterbeispiel für einen erfolgreichen Schriftsteller schafft, dringt Gor’kij bewusst oder unbewusst in ein sehr individuelles Gebiet der schriftstellerischen Arbeit vor und bringt damit den Begriff der Norm in die literarische Arbeit ein. Er löst das Problem, wie man schreiben soll – ob mit Feder oder Schreibmaschine –, wie man sich die Zeit zwischen literarischer Arbeit und außerliterarischen Verpflichtungen einzuteilen hat, wie man das Material bewerten und die Helden darstellen soll usw. Das Buch Wie wir schreiben konnte weder den literarischen Organisationen noch den Vertretern der Macht jener Zeit gefallen. Die Mehrzahl der Schriftsteller sah ihren Schaffensprozess als Ergebnis unbewusst ablaufender Prozesse, was den pädagogischen Initiativen M. Gor’kijs diametral gegenüber stand und seine These verneinte, dass man das literarische Handwerk erlernen könne. Im Buch gab es eindeutige Übertreibungen, wie zum Beispiel die Antwort N. Nikitins zum literarischen Schaffensprozess, welchen er beinahe als ein christliches Ritual beschrieb und den er darüber hinaus mit Hygiene verband: „Während der Arbeit ist die umgebende Atmosphäre sehr wichtig. Der Tisch sollte in Ordnung gebracht und das Zimmer aufgeräumt sowie die Hände sauber sein. Unordnung geht auf die Nerven. Wichtig ist, dass nichts in Aufregung versetzt, außer rein psychische, von der bevorstehenden Arbeit ausgehende Erregungen.“44 Die Vorstellung darüber, welche Art Schriftsteller wir brauchen, erwies sich für die Leser der Zeitschrift Auf literarischem Posten als äußerst ambivalent. Wenn man die drei ausgewählten Fragen zur Rolle des neuen Schriftstellers, zu seiner Beteiligung am sozialistischen Aufbau und zum Zeitaufwand betrachtet, so wird deutlich, dass nicht nur unterschiedliche Meinungen, sondern sogar Widersprüche in den Antworten zum Ausdruck kommen. Die Schriftsteller wissen nicht genau, ob kurzzeitige Fahrten zu und die Arbeit in den Industriebetrieben sinnvoll sind, ob sie von den Klassikern lernen sollen oder nicht, ob ein Schriftsteller eines zweiten Berufes bedarf oder nicht usw. In der Folgezeit wurde das Problem der Ambivalenz 43 44

M. Gor’kij. In: Belyj, A./Gor’kij, M./Zamjatin, E. et al.: Kak my pišem. Vermont 1983 (reprint), 26. N. Nikitin. In: Belyj, A./Gor’kij, M./Zamjatin, E. et al.: Kak my pišem. Vermont 1983 (reprint), 20. Nikitin verband seine Erfahrung mit der eines russischen Klassikers und schrieb: „In den Erinnerungen der Tochter Dostoevskijs wird ausführlich beschrieben, wie sorgfältig er sich wusch und jeden Morgen vor der Arbeit mit dem Wasser plätscherte.“

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institutionell gelöst, der Schriftstellerverband diktierte einheitliche Antworten auf die literarischen Fragen jener Zeit. Ungeachtet des Umstandes, dass die Vorstellung über den sowjetischen Schriftsteller auf den ersten Blick durch eine Vielzahl von an der Diskussion Beteiligten ausgearbeitet wird, gibt es eigentlich nur einen Respondenten, der die tatsächliche Norm in seinen Antworten nicht nur reflektiert, sondern vorgibt und das ist natürlich – Gor’kij. Durch seine Antworten bestimmt er das Herangehen an die Literatur, schafft er das Mustermodell eines erfolgreichen Literaten. Im Prozess der Ausarbeitung aber des idealen Musters für die Nachahmung wird die Norm selbst, das heißt, die genaue Formulierung dessen, welche Art Schriftsteller wir brauchen, zweitrangig, was die „Abweichungen“ in den Antworten der Umfrage beweisen. An erste Stelle tritt der Prozess der diskursiven Kontrolle, der gerade in solchen Überprüfungen auf die Übereinstimmung mit dem neuen Schriftstellertypus zum Ausdruck kommt, wie in der analysierten Umfrage. Und nicht zuletzt wird sogar der Körper des Schriftstellers einer Kontrolle unterworfen, indem er in bestimmte zeitliche und räumliche Rahmen eingeschrieben wird. Auf diese Weise werden sowohl der sowjetische Nachwuchsschriftsteller als auch der Arbeiterkorrespondent und der „Überläufer“ aus anderen literarischen Richtungen unter die Kategorien „Gehorsam – Nützlichkeit“ subsumiert. Die Macht benutzt, wie es Foucault ausdrücken würde, eine „durchgängige Zwangsausübung, die über die Vorgänge der Tätigkeit genauer wacht als über das Ergebnis und die Zeit, den Raum, die Bewegungen bis ins kleinste codiert“45. Wie die Macht diese Bereiche dominiert, nämlich wie Zeit-, Raum- und Bewegungsaufteilung kodifiziert wird, zeigt die hier betrachtete literarische Umfrage sehr gut. Sie demonstriert den Höhepunkt der innerliterarischen Diskussion über den „richtigen“ (aber noch nicht einzig zulässigen) neuen sowjetischen Schriftstellertypus. Das Ende dieser Diskussion aber kam ziemlich bald. Die Zeitschrift Auf literarischem Posten, welche die Umfrage noch im Jahre 1931 publizierte, versprach, diese „in der Folgezeit [...] in den bilanzierenden Aufsätzen zu bewerten“.46 Eine Bewertung der Aufsätze von redaktioneller Seite erfolgte aber letztendlich nicht. Im darauf folgenden Jahr 1932 gab es andere „Folgen“: die Macht ging von den Methoden der diskursiven Kontrolle über zur Methode der offenen Kontrolle und Unterdrückung. Übersetzung: Björn Seidel-Dreffke

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„Lastly, there is the modality: it implies an uninterrupted, constant coercion, supervising the process of the activity rather than its result an it is exercised according to a codification that partitions as closely as possible time, space, movement.“ In: Foucault, M.: Discipline & Punish. The Birth of the Prison. New York 1995, 137. Kakoj nam nužen pisatel’. Anketa. In: Na literaturnom postu. 6, Februar 1931, 42.

E V G E N IJ D O B R EN K O

Die Geburt der „Meister“ der sowjetischen Literatur 1932 – 1934 So wie man die Geburt des „sowjetischen Kolchozbauerntums“ als einer neuen Klasse auf das Jahr 1929 datieren kann, so kann man auch leicht den Entstehungsmoment der sowjetischen Intelligenz auf das Jahr 1932 datieren. Vor der Gründung des sowjetischen Schriftstellerverbandes existierte letztlich keine „sowjetische Intelligenz“ als Klasse, oder genauer als „Zwischenschicht“ (proslojka). Es gab künstlerische Eliten, die ständig um Privilegien und die Unterstützung durch Staat und Partei miteinander kämpften, aber sie bildeten keine einheitliche Klasse, die mit dem Staat institutionell, ökonomisch oder ideologisch verbunden gewesen wäre. Hieraus bezogen sie ihre Stärke und Dynamik, hierin bestand aber auch ihre Schwäche: Zersplittert wie sie waren, entzogen sie sich in den bestehenden institutionellen Rahmen einer vollständigen Kontrolle durch die Machthaber. So konnte die RAPP1 nur einen Teil des künstlerischen Umfeldes kontrollieren. Als sektiererische Organisation trieb sie nicht die Konsolidierung, sondern die Differenzierung voran. Die Losung vom „Kampf um den Mitläufer“ (Bor’ba za poputčika) ersetzte sie durch die Losung „Kein Mitläufer, sondern Verbündeter oder Feind“ (Ne poputčik, no sojuznik ili vrag). Dadurch wurden die professionellen Mitläufer (poputčiki) de facto aus dem Bereich der institutionellen Kontrolle ausgeschlossen. 1935 gab Stalin auf dem Treffen mit Vertretern der Stachanowbewegung die Losung aus „Die Kader entscheiden alles“ (Kadry rešajut vse). Bekanntlich bevorzugte es Stalin, seine Losungen auszugeben, nachdem sie bereits erprobt waren, was es ihm nicht nur ermöglichte, den politischen Kurs zu korrigieren, sondern sie auch für Manipulationen verwendbar machte (ein bezeichnendes Beispiel ist der Aufsatz „Vor Erfolgen von Schwindel befallen“ (Golovokruženie ot uspechov) während der Hochphase der Kollektivierung). Stalin hatte mit seiner Losung natürlich „Kommandokader“, „Kapitäne der Produktion“ im Blick, die bereit und in der Lage waren, die „bourgeoisen Spezialisten“ (specy) und Ingenieure abzulösen, sie galt allerdings auch für die „Ingenieure der menschlichen Seele“. Die frühen 1930er Jahre sind die Entstehungsphase einer neuen Elite, die nicht nur lenken, sondern auch gelenkt werden sollte. Es ist die Epoche der Verwandlung der 1

RAPP – Russische Assoziation proletarischer Schriftsteller (Rossijskaja associacija proletarskich pisatelej)

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Massen in eine Nation, als man ohne „Meister“ (mastera) nicht auskam. Deshalb war die Losung von den Kadern, die die Technik meistern, nicht nur auf die technische Intelligenz, sondern auf die Intelligenz als Ganzes und auf die kulturellen Eliten im Besonderen zu beziehen. Solche Vorstellungen waren für Stalin schon vor 1935 von zentraler Bedeutung, und zumindest in Bezug auf die kulturellen Eliten kann man hier von 1932 als dem spätestens anzusetzenden Zeitpunkt ausgehen. Wie gesagt existierte vor 1932 eine „schöpferische Intelligenz“, so wie sie in der Stalinzeit entstand, ganz einfach nicht. Beim Zustand der sowjetischen Literatur am Vorabend des ZK-Beschlusses „Über den Umbau der literarischen und künstlerischen Organisationen“ (O perestrojke literaturnochudožestvennych organizacij) konnte von einer geschlossenen Gruppe keine Rede sein: es gab die Alten, die sich im Wesentlichen im Umkreis des Allrussischen Schriftstellerverbands VSP2 versammelten, es gab Mitläufer – „Meister“ und „Spezialisten“, die dem ehemaligen LEF3 und der zerschlagenen „Rotes Neuland“ (Krasnaja Nov’) zuneigten, es gab „Aufsteiger“ (vydvižency) und zum großen Teil selbsternannte „Meister“ der proletarischen bzw. proletarischen Kolchosliteratur, die mit RAPP und ROPK4 verbunden waren. Es gab keine Verbindung zwischen diesen Gruppen, und auch die bloße Möglichkeit einer institutionellen Kontrolle oder gar einer Lenkung war nicht gegeben. Die Leitung der RAPP war zwar steuerbar, sie war allerdings auch völlig ineffektiv im Hinblick auf die politischen und ideologischen Zielsetzungen der Literatur zu diesem Zeitpunkt. So wie Stalin bereits 1930 und 1931 verstand, dass eine Industrialisierung ohne ausländische Ausrüstung und Spezialisten, d.h. eben jener „Kader, die die Technik meistern“, unmöglich wäre, verstand er ebenso, dass auch die ideologische Unterstützung des „großen Umbruchs“ (velikij perelom) und die ästhetische Gestaltung seines Regimes ohne Spezialisten nicht auskommen würden. Diese Spezialisten konnten allerdings weder aus dem Ausland bestellt noch ins Ausland zum Studium geschickt werden, wie dies in der Industrie geschah. Nötig war der innere institutionelle Umbau des wichtigsten ideologischen Feldes – der Literatur. So entstand die Idee eines sowjetischen Schriftstellerverbandes als Flagschiff eines solchen Umbaus. Der Schriftstellerverband wurde zur ersten stalinistischen Institution für die Intelligenz und sein Status war in jeder Hinsicht überwältigend. Stalin kannte die Schwäche der Intelligenz für soziales Prestige, für eine herausgehobene gesellschaftliche Stellung und Ehrungen, und er war überzeugt, dass die Intelligenz dem Schriftstellerverband die Türen einrennen würde. Die Gründung 2 3 4

VSP – Allrussische Schriftstellerverband (Vserossijskij sojuz pisatelej). LEF – Linke Front der Kunst (Levyj front iskusstva, 1922 – 1925). ROPK – Russische Organisation proletarischer Kolchozschriftsteller (Rossijskaja organizacija proletarsko-kolchoznych pisatelej).

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des Schriftstellerverbandes bezeichnet de facto die Entstehung der sowjetischen Intelligenz als neuer sozialer Elite. Die neue Intelligenz, die noch bis vor kurzem als sozial defekt galt, unterschied sich von der alten weniger durch ihre soziale Herkunft – die alte russische Intelligenz kam aus dem Milieu der „Raznočincy“ – als durch ihren sozialen Status: Während die alte Intelligenz sich selbst durch Distanz zur Macht definierte, fehlte es der neuen nicht nur an Distanz, sie suchte im Gegenteil ständig deren Nähre und war dabei letztlich zugleich ihr Produkt und ihre Stütze. Die bewährte Entscheidungslogik des Apparats ließ Stalin zu dem Schluss kommen, dass eine Unterordnung der Schriftsteller nur durch eine bürokratische Institution möglich wäre. Diese wiederum wäre nur dann effektiv, wenn sie die Interessen der Schriftsteller artikulieren und vertreten könnte und ihrem Bedürfnis nach sozialem Prestige und einer hohen materiellen Absicherung gerecht würde. Parallel zur Gründung des Schriftstellerverbandes erhöhte man die Honorare in Verlagen und bei Zeitschriften; der Bau der Schriftstellerhäuser im Zentrum Moskaus, der Schriftstellerdatschen und der Schriftstellersiedlung in Peredelkino begann; der Schriftstellerklub wurde gegründet sowie eine Reihe von Kunsthäusern errichtet. Die Idee einer Schriftstellervereinigung lag schon lange in der Luft, als aber am 5. Januar 1927 im Herzenhaus die Gründungsversammlung der FOSP5 stattfand, traten ihr der VSP mit 360 Mitgliedern, der VSKP6 mit 750 Mitgliedern und die VAPP7 mit 4000 Mitgliedern bei. Bald darauf traten der FOSP die mitgliederarmen Vereinigungen der Schmiede (Kuznica) und der LEF bei. Die gesamte Tätigkeit der RAPP in der FOSP war darauf angelegt, deren Presseorgane und Verlage zu übernehmen und sich unterzuordnen sowie die anderen Mitglieder der Vereinigung zu „proletarisieren“. Ohne auf die Einzelheiten der organisatorischen Maßnahmen einzugehen, mit denen in den proletarischen Schriftstellerassoziationen operiert wurde, kann man dennoch die Frage stellen, wer diese 4000 Schriftsteller waren, woher diese unglaubliche Anzahl kam. Die RAPP war vor allem die „Assoziation“ proletarischer Schriftsteller peripherer Kreise. Bis zum April 1932 setzte Stalin auf die RAPP, die vor allem zwei Dinge beschäftigten: die institutionelle Expansion und der „Aufruf an die Stoßarbeiter, sich der Literatur anzuschließen“ (prizyv udarnikov v literaturu). Die FOSP wurde als Organisation konzipiert, die die Bedingungen für eine Kontrolle des „literarischen Kampfes“ schaffen sollte. Die RAPP hätte 5 6 7

FOSP – Föderation der sowjetischen Schriftstellervereinigungen (Federacija ob’edinenij sovetskich pisatelej) VSKP – Allrussische Verband der Bauernschriftsteller (Vserossijskij sojuz krest’janskich pisatelej) VAPP – Allrussische Assoziation proletarischer Schriftsteller (Vserossijskaja associacija proletarskich pisatelej)

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ihre Rolle bei der zunehmenden Kontrollierung der Literatur bis zum „Umbau“ von 1932 nicht erfüllen können, wenn sie einfach eine literarische Gruppierung gewesen wäre. Die RAPP war vor allem eine „literarische Massenbewegung“, die für sich die Funktion der Produktion und der Bewahrung von Parteiliteratur übernahm, eine Funktion die früher weder der "Schriftsteller begannen schnell, „den Druck der persönlichen Autorität der qualitativ neuen Menschenmassen auf das gesamte gewaltige Gewicht des von ihnen geschaffenen Unternehmens“8 zu spüren, um es mit den Worten Marietta Šaginjans zu sagen. Šaginjan berichtet, sie habe bei diesem Prozess zum ersten Mal den Sinn des am weitesten verbreiteten Wortes dieser Jahre verstanden: Meisterung (osvoenie)9. In der Tat meisterte die RAPP die Literatur mit ihrem Aufruf an die Stoßarbeiter. In einem einzigen Jahr (bis zum Herbst 1931) wurden ungefähr 10.000 Menschen „zur Literatur gerufen“ (davon 2.000 in Moskau, mehr als 500 in Leningrad, mehr als 400 im Ural, 245 in Ivanovo, usw.10). So wie die Vertreter der RAPP verstand auch Stalin, dass „die Frage der Schriftstellerkader nur einen Teilaspekt der allgemeinen Frage der neuen Kader bildet“11, wie die Vertreter der RAPP wusste Stalin, dass „die wichtigsten proletarischen und bäuerlichen Kader der sowjetischen Literatur zur Zeit noch zu langsam und zu chaotisch anwachsen“ und dass „die Vorbereitung neuer Schriftstellerkräfte bisher leider nicht über das Stadium des vereinzelten und versprengten Laientums hinausgekommen ist“12. Aber er wusste ebenso, dass die professionellen Schriftsteller noch nicht reif waren, sich freiwillig (!) der staatlichen Kontrolle zu unterwerfen. Die RAPP erwies sich als ideales Instrument, um die Mitläufer zu verängstigen und zu demoralisieren. Deshalb hatte Stalin auf die RAPP gesetzt und ihre absurdesten Initiativen unterstützt (wie zum Beispiel den Aufruf an die Stoßarbeiter, sich der „[…] давление веса качественно новых людских масс на весь объемный вес создаваемого ими дела […].“ Šaginjan, M.: Literatura i plan. Moskau 1934, 64. 9 Ebd. 10Volkov, A.: A.M. Gor’kij i literaturnoe dviženie sovetskoj ėpochi. Moskau 1958, 349. Vgl. mit den Angaben zum „Aufruf“ (prizyv) für das Jahr 1931 im Aufsatz von Fridman, S.: Za perestrojku raboty. In: Chudožestvennaja literatura. 12 (1931), 22. In der Zeitschrift Na literaturnom postu finden sich im Übrigen Zahlen, die die hier angeführten bei weitem übersteigen. So findet sich zum Beispiel 1931 in der zwölften Nummer die Information, dass im Laufe des Jahres 120.000 Menschen in der Ukraine zur Literatur gerufen worden seien (vgl. 45). 11„[…] вопросo o писательских кадрах является лишь частью общего вопроса o новых кадрах.“ O podgotovke kadrov (Leitartikel). In: Literaturnaja gazeta. 25. 11. 1929, 1. 12„[…] основные пролетарские и крестьянские кадры советской литературы растут сейчас еще слишком медленно и хаотично. […] дело подготовки новых писательских сил еще до сих пор, к сожалению, не вышло за пределы разрозненного, распыленного кустарничества“. Ebd. 8

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Literatur anzuschließen), deren Sinnlosigkeit Stalin mit Sicherheit verstand. Die Vertreter der RAPP sahen ihre Aufgabe 1929 darin, neue Kader aus den Reihen der Arbeiter und Bauern zu schaffen und zu erziehen, denn niemand kann so wie sie so tief in das Dickicht des Alltags der Werktätigen blicken, besser ihre Psyche verstehen und vollständiger in seinem Schaffen ihr Leben abbilden […] die gewaltige Aufgabe der Vorbereitung der Schriftstellerkader und des Aufstiegs neuer Künstler aus der Arbeiter- und Bauernschaft liegt zweifellos bei den literarischen Laienorganisationen, die jetzt überall bei den Unternehmen, den Arbeiterklubs, den Lesehütten entstehen, sei es im Zentrum oder vor Ort.13

Während bei den Vertretern der RAPP der Einfluss des Proletkul’t mit seiner Vorliebe für groß angelegte Projekte spürbar war, erwies sich Stalin jedoch als Pragmatiker, der verstand, dass das Programm der RAPP, so richtig es sich auch anhören mochte (Lernen von den Klassikern, literarische Lehre etc.), in absehbarer Zukunft nicht die gewünschten Ergebnisse erzielen würde. Deshalb verfuhr er mit der RAPP so, wie er immer verfuhr: er zog den größtmöglichen Nutzen aus ihr und beseitigte sie, sobald sie keinen Nutzen mehr brachte. Es ist unnötig zu erwähnen, dass die Kulturrevolution und die Tätigkeit der RAPP „an der literarischen Front“ zwischen 1928 und 1932 ein Spiegelbild des „großen Umbruchs“ waren, der zu dieser Zeit an der Parteispitze stattfand. „Der Aufruf an die Stoßarbeiter“ war sowohl in der Methode und dem Tempo als auch seinem Charakter nach ein Abbild der „durchgängigen Kollektivierung des Dorfes“. Der berühmte Aufsatz Stalins Vor Erfolgen von Schwindel befallen, der eine relative Entspannung im Prozess der „durchgängigen Kollektivierung“ brachte, lässt sich als universeller politischer Mechanismus interpretieren. Bis zum heutigen Tag bleibt es beispielsweise rätselhaft, warum 1929 der relativ liberale ZK-Beschluss „Über die Parteipolitik im Bereich der künstlerischen Literatur“ (O politike partii v oblasti chudožestvennoj literatury) von 1925 nicht revidiert wurde. Alles war hierfür bereit. Die Diskussion über die Revision des Beschlusses wurde nicht nur auf den Seiten der Literaturzeitschriften offen ausgetragen, sondern auch in der Zeitung Abendliches Moskau (Večernjaja Moskva). Die Anhänger der Zeitschrift Auf dem Wachposten (Na postu) griffen erneut an und forderten eine eindeutige Parteidirektive, die „alle literarischen Angelegenheiten“ ihrer Kontrolle unterstellen sollte; die „Liberalen“, unter ihnen Gor’kij, Lunačarskij und die Mitläufer, diskutierten in der Presse über mögliche Zugeständnisse. 1929 war создать и воспитать многочисленные новые кадры писателей из среды рабочих и крестьян, ибо никто как они не смогут глубже проникнуть в самую гущу быта трудящихся, лучше понять их психику и полнее отобразить их жизнь в своем творчестве […] огромная роль в деле подготовки новых писательских кадров, в деле выдвижения из рабочей и крестянской среды новых художников слова принадлежит, несоменно, тем самодеятельным литературным организациям, которые сейчас так бурно растут на предприятиях, в рабочих клубах, при избах-читальнях, как в центре, так и на местах.“ Ebd.

13„[…]

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allen klar, dass die Ära einer toleranten Behandlung verschiedener literarischer Gruppierungen von Seiten der Machthaber vorüber war. Und dennoch – eine neue Direktive kam nicht. Die Logik der Ereignisabfolge lässt sich am Beispiel der Kollektivierung und der Rede Stalins „Vor Erfolgen von Schwindel befallen“ ablesen: die Situation wird bis zum Extrem angespannt (bis zum „Schwindel“); hierbei bleibt die Parteiführung vermeintlich außerhalb des Geschehens. Dann wird auf dem Höhepunkt der „Erfolge“, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, eine Parteidirektive durch die Führung erlassen (sei es durch einen Brief Stalins oder durch eine Anordnung des CK, die „die Exzesse vor Ort“ kritisiert. Die Initiative vor Ort wird gezügelt, die Machthaber nehmen die Entwicklung in ihre Hand und die Ordnung wird wieder hergestellt. Es lässt sich in der sowjetischen Geschichte eine Vielzahl von Beispielen anführen, die die Funktionsweise dieses Mechanismus bestätigen. Exakt diesem Szenario folgten die Ereignisse in der Literatur zwischen 1929 und 1932. Im Vergleich mit dem „Aufruf an die Stoßarbeiter“ erschien der Schriftstellerverband der Mehrheit der Schriftsteller als lang erwartete Befreiung und jeder Wunsch, sich zu verschiedenen literarischen Gruppierungen zusammenzuschließen, war anscheinend ein für alle mal besiegt. Der „Aufruf“, der äußerlich mit den Mitläufern in keinem Zusammenhang stand, war eine Drohkulisse und Demonstration dessen, wie die Literatur funktionieren könnte und versammelte so die Mitläufer geschlossener und schneller auf der „Basis der sowjetischen Macht“ als alle Aktionen zur „Einbeziehung in den sozialistischen Aufbau“ zusammen genommen. Dies war ein wohl kalkulierter Effekt. Indem er 1929 von einer offiziellen Revision des ZK-Beschlusses von 1925 absah, provozierte Stalin den erforderlichen „Schwindel“. Die Vertreter der RAPP wiederum waren in einem solchen Maße begeistert von der Unterstützung der Partei für jede ihrer neuen Initiativen, dass sie ihr eigenes Schicksal wohl kaum voraussahen. Sie wurden von den Machthabern als künstliches Gegengewicht verwendet. Der von ihnen vorgegebene extreme Kurs auf eine „Bolschewisierung der Literatur“ hin zwang die Schriftsteller, Hoffnungen auf eine Entspannung mit der Parteielite zu verbinden und trieb sie geradezu mit Gewalt in die Arme Stalins. Als mit dem „Aufruf an die Stoßarbeiter“ der Siedepunkt erreicht war, kam es endlich zur Revision des Beschlusses. Die Schriftsteller wurden von der RAPP befreit, indem sie dem sich formierenden Schriftstellerverband beitraten, jetzt aber zu den Bedingungen, die von oben vorgegeben wurden. Auf die „Stoßarbeiter“ setzte Stalin dabei natürlich nicht. Der Name Gor’kijs allein war ihm wichtiger als die Stimmen der gesamten „tausendköpfigen Armee der Stoßarbeiterschriftsteller“ (mnogotysjačnoj armii pisatelej-udarnikov), die von der RAPP gehegt wurden. Die RAPP war nicht nur in ideologischer Hinsicht Erbin des

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Proletkul’t. Sie war auch selbst eine „literarische Massenbewegung“ (besonders seit August 1930, dem Beginn des Aufrufs an die Stoßarbeiter). Mit der Auflösung der RAPP setzte Stalin jetzt offen auf die professionellen Schriftsteller, für die er auch bereits früher eine versteckte Sympathie empfunden hatte (man denke allein an seine Position zu Bulgakov, dem Kunsttheater Moskaus MChAT und dem Bol’šoj-Theater). Im Laufe der 1920er Jahre versuchten eine Reihe literarischer Gruppierungen mit viel Energie, aber erfolglos ihre Literatur und ihre Elite zu schaffen – zuerst der Proletkul’t, dann Arbeiterfrühling (Rabočaja vesna) und Schmiede (Kuznica), dann Oktober (Oktjabr’) und Junge Garde (Molodaja Gvardija), schließlich die RAPP. Erst als Stalin die Schaffung einer kulturellen Elite in seine Hände nahm, konnte er sie seinen politischen Interessen unterordnen. Dabei erwies sich Gor’kij als Schlüsselfigur, und Stalin täuschte sich nicht, als er auf ihn setzte und hierfür einen richtiggehenden Gor’kij-Kult schuf. Stalin verlieh seinen Namen einer Stadt und Parkanlagen, Straßen und Plätzen, Schiffen und Flugzeugen, Betrieben und Fabriken, Kommunen und Pioniergruppen, Kriegsschiffen und Panzern. In den Zeitungen wurde dem Schriftsteller zu jedem Geburtstag gratuliert und sogar über Ereignisse aus seinem persönlichen Leben berichtet. Es gab sogar Reportagen über die Beerdigung seines Sohnes – nur Stalin erfuhr im Zusammenhang mit dem Tod seiner Frau eine solche Aufmerksamkeit. All dies sollte demonstrieren, dass Gor’kij der Statthalter Stalins in der Literatur und sogar für die gesamte künstlerische Intelligenz war. Durch ihn festigte Stalin seine Beziehung zu den professionellen Schriftstellern. Während Gor’kij keine Mittelsmänner brauchte, benötigte Stalin Kommissare wie Gronskij, Stavskij usw. unter den Schriftstellern. Ivan Gronskij, ein Mann aus dem Umkreis Stalins zu Beginn der 1930er Jahre, Chefredakteur der Izvestija und de facto Leiter des Organisationskomitees des sowjetischen Schriftstellerverbandes zwischen 1932 und 1934, schildert die Art, wie Stalin die nötigen Leute „umwarb“ und „hegte“, wenn er die Arbeit der Kommission des Politbüros für die Vorbereitung der Feiern zum 40jährigen Jubiläum von Gor’kijs literarischer Tätigkeit beschreibt: Auf einer der Sitzungen trat Stalin mit dem Vorschlag hervor: „Nižnij Novgorod und seinem Umland wird der Name Gor’kij verliehen. Die Tverskaja Straße in Moskau wird umbenannt. Aleksej Maksimovič wird der Leninorden verliehen. Dem Künstlertheater wird der Name Gor’kij verliehen…“ – „Genosse Stalin, das ist doch aber viel mehr das Theater Čechovs“, bemerkte ich. „Auch so ist er ja mit allem möglichen Zeugs überhäuft worden“. – „Das hat keine Bedeutung. Das hat keine Bedeutung“, und nachdem er sich zu mir hinuntergebeugt hatte, sagte er leise: „Er ist ein eitler Mensch. Wir müssen ihn an die Partei binden.“ Es wird, wieder auf Vorschlag Stalins, entschieden, Gor’kij die Villa Rjabušinskij auf der Straße Malaja Nikitskaja und ein Schloss am Flussufer mit einem riesigen Park zu übergeben…

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Stalin war ein genialer Schauspieler. Sein Talent zu blitzartigen Verwandlungen kann man wirklich mit Šaljapin vergleichen… Genauso kunstvoll spielte er auch die Freundschaft mit Gor’kij, obwohl er ihm eigentlich nicht vertraute. Es ist erstaunlich, Gor’kij war schließlich ein Schriftsteller, ein „Ingenieur der menschlichen Seele“ und man sollte meinen, dass ein solcher Beruf Menschenkenntnis voraussetzt, aber Stalin ist er meiner Meinung nach trotzdem nicht auf die Schliche gekommen… Stalin hat ganz genau verstanden, dass Gor’kij so wie Barbusse und wie viele andere berühmte Kulturschaffenden ein „politisches Kapital“ darstellten.“14

Man wird Stalin zugestehen müssen, dass er dieses Kapital mit maximalem Ertrag einsetzte, wenn es um den „Umbau der Künstler- und Schriftstellerorganisationen“ und um die Zentralisierung der Kultur ging. In der neuen Ära waren keine Laienschriftsteller aus dem Kreise der Stoßarbeiter, sondern professionelle „Ingenieure der menschlichen Seele“ gefordert, die in der Lage wären, der breiten Leserschaft „eine vollwertige literarische Produktion zu geben“. 1932 war nicht nur das Ende der RAPP und mit ihr aller zumindest nominell bestehenden Gruppierungen, sondern der gesamten kulturellen Infrastruktur. Es mussten anderthalb Jahrzehnte vergehen, bis die „professionellen literarischen Kader“ für die Parteilinie reif waren. Die Exzesse der RAPP waren nur dafür notwendig, diesen „Reifeprozess“ zu beschleunigen, damit die Schriftsteller, die bisher Mitläufer waren, solange litten, bis sie den Schriftstellerverband und den Sozrealismus als „Befreiung“ und Geschenk akzeptierten, bis „aus einer Randfigur in der Epoche der NĖP15 ein mustergültiger Held im Drama vom Aufbau des Sozialismus in einem Land“16 und ein staatlicher Funktionär wurde. 14

15 16

На одном из заседаний Сталин выступил с предложением: Присвоить Нижнему Новгороду и области имя Горького. Переименовать улицу Тверскую в Москве. Дать Алексею Максимовичу орден Ленина. Присвоить Художественному театру имя Горького... – Товарищ Сталин, но это же больше театр Чехова, – заметил я. И без того, мол, нагородили черт-те что. – Не имеет значения. Не имеет значения, – и, наклонившись, тихо так, мне: – Он честолюбивый человек. Надо привязать его к партии. Опять же по предложению Сталина принимается решение дать Горькому особняк Рябушинского на Малой Никитской и дворец на берегу реки с огромным парком... Сталин – гениальный артист. Талант мгновенного перевоплощения был у него поистине шаляпинских масштабов... Так же артистически он разыгрывал дружбу с Горьким, на самом деле, не доверяя ему. Это была очень тонкая игра. Удивительно: Горький – писатель, инженер человеческих душ, казалось бы, сама профессия подразумевает знание человеческого характера, но Сталина, на мой взгляд, Горький так и не сумел раскусить... Сталин прекрасно понимал, что Горький, как и Барбюс, как и многие другие видные деятели культуры, – это политический капитал.“ Gronskij, Ivan: Iz prošlogo… Vospominanija. Moskau 1991, 151-152. NĖP – Die Neue Ökonomische Politik (Novaja ėkonomičeskaja politika). „[…] из маргинальной фигуры эпохи НЭПа писатель превратился в образцового героя драмы построения социализма в одной стране […]“. Frejdin, G.: Vopros vozvraščenija-1. In: Stanford Slavic Studies. 4:2 (1992), 178.

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Der zwischen 1932 und 1934 geschaffene Schriftstellerverband war konzipiert als elitäre Institution, die sich primär an die professionellen Schriftsteller richtete. Die Laienschriftsteller als „literarische Massenbewegung“ in Literaturzirkeln, im Aufruf an die Stoßarbeiter oder in ähnlichen Formen, hatten mit dem Druck auf die „Meister“ ihre Funktion erfüllt und wurden nicht mehr benötigt. Das bedeutete vor allem eine endgültige Absage an die Überbleibsel der revolutionären Utopien eines kollektiven Schaffensprozesses. Die Ära der „schöpferischen Aufhebung der Individualität“ (tvorčeskaja obezlička) ging zu Ende. Es begann ein Institutionalisierungsprozess, in dessen Verlauf alles, was außerhalb des von den entstehenden Strukturen abgesteckten Rahmens lag, assimiliert oder als „trauriges Erbe der RAPP“ vernichtet wurde. Auf diese Weise endete die Epoche der „Laienschriftsteller“. Der Strom der „neuen Schriftstellerkader“ nahm aber nicht nur nicht ab, sondern verstärkte sich sogar. Die Aktionen der Machthaber zwischen 1932 und 1934, die auf die Schaffung eines „sowjetischen Schriftstellers“ ausgerichtet waren, hoben das Prestige des „sowjetischen Literaten“ auf ungekannte Höhen. Bezeichnend dafür sind die Treffen Stalins mit Schriftstellern, die Demonstration der persönlichen Freundschaft zwischen Stalin und Gor’kij, oder die Organisation des Schriftstellerkongresses als gewaltige Show. Die Bezeichnung als Schriftsteller ging jetzt einher mit einer „staatlichen Fürsorge“ durch Stalin selbst, und die Zugehörigkeit zur Literatur wurde zum Zeichen dafür, sich aus der Masse herauszuheben und zur Elite zu gehören. Mit der Gründung des Schriftstellerverbandes wurde dem Begriff Schriftsteller auch jede Uneindeutigkeit genommen: von nun an konnte sich nur derjenige Schriftsteller nennen, der einen Mitgliedsausweis des Schriftstellerverbandes vorweisen konnte; die anderen waren entweder werdende Schriftsteller (načinajuščie pisateli) oder aber „Faulenzer“ (tunejadcy), die sich eigenmächtig diese Bezeichnung anmaßten, wie später im Falle Iosif Brodskijs. Der Auswahlmechanismus kam direkt nach der Auflösung der RAPP in Gang, als man sich fragte, wer in den neuen, vom Staat geförderten Verband aufgenommen werden sollte. Die Anziehungskraft der neuen Organisation wurde von Stalin im Voraus einkalkuliert; entsprechend formulierte er auf einem Treffen mit Schriftstellern im Jahr 1933: „Uns werden die Schriftsteller bald die Türen einrennen“17. „Draußen“ aber blieben nun nicht nur die zehntausend, noch bis vor kurzem zur literarischen Tätigkeit aufgerufenen Stoßarbeiter, sondern auch die Mehrheit derjenigen, die noch Mitte der 1920er Jahre der FOSP beitraten; wie weiter oben dargestellt, brachte allein

17

„У нас писатели скоро пойдут, как плотва.“ Panferov, F.: Vystuplenie na Vsesojuznom slete litkružkov i rabočich avtorov. In: Rezec. (Leningrad) 17-18 (1933), 3.

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die RAPP viertausend Mitglieder mit. Bis 1934 waren im Verband nur 2200 Schriftsteller organisiert.18 Die Professionalität wird zum zentralen Thema, und die Ausgabe der Zeitung Literaturnaja gazeta vom 10. Mai 1934 erscheint mit dem Aufmacher: „Die Aufnahme in den Schriftstellerverband beginnt. Nur diejenigen, die der hohen Bezeichnung eines sowjetischen Schriftstellers wirklich würdig sind, dürfen in den Verband eintreten.“19 Die Aufnahmekommission bestand aus Judin, Pavlenko, Afinogenov, Vs. Ivanov, Gladkov, Aseev und Fedin – kein einziges Mitglied der RAPP war in ihr vertreten. Im weiteren Verlauf teilte die Literaturnaja gazeta von Ausgabe zu Ausgabe mit, wer aufgenommen worden war und wer nicht; diejenigen, die nicht aufgenommen wurden, waren dabei deutlich in der Überzahl. Außerdem wurde in jeder Ausgabe auf der ersten Seite eine Karikatur der Gruppe Kukryniksy auf die „zukünftigen Klassiker“ der sowjetischen Literatur veröffentlicht und mit Losungen versehen wie „Der Schriftsteller muss ein Meister in seinem Fach sein.“ (Pisatel’ dolžen byt’ masterom svoego dela) oder „Gute Bücher – das gibt das Recht, im Verband zu sein“ (Chorošie knigi – vot čto daet pravo byt’ v Sojuze). Ein solches Vorhaben wäre noch ein Jahr früher unmöglich gewesen. All dies ließ die RAPP außen vor, und das Kräfteverhältnis in den literarischen Kreisen änderte sich radikal. In diesem Sinne sind die in der Literaturnaja gazeta veröffentlichten Karikaturen der Kukryniksy bezeichnend, die die Nachrichten über die Aufnahmen in den Schriftstellerverband begleiteten. Eine der Karrikaturen, Ein unerwartetes Hindernis (Neožidannoe prepjatstvie), zeigt eine Gruppe ehemaliger „Literaten“, die die Satzung nicht in den Schriftstellerverband lässt. Unter ihnen befinden sich die ehemaligen Lieblinge – die beginnenden Schriftsteller, Graphomanen und all diejenigen, „die der hohen Bezeichnung eines sowjetischen Schriftstellers nicht würdig sind“ (vgl. Abb. 1). In der Karikatur Am nächsten Tag (Na drugoj den’), werden zwei Schriftsteller gezeigt, von denen einer besorgt ist und auf die Frage seines Freundes: „Was bekümmert dich heute?“ (Čto tebja segodnja volnuet?), antwortet: „Nach der Aufnahme in den Verband… nichts“ (Posle priema v Sojuz... ničto, vgl. Abb. 2).

18

19

Vgl.: Garrard, J./Garrard C.: Inside the Soviet Writers’ Union. New York 1990, 32. Gor’kij nannte in seinem Vortrag auf dem ersten Schriftstellerkongress allerdings die Zahl von 1.500 Schriftstellern. „Начинается прием в Союз писателей. Только действительно достойные великого звания советского писателя должны войти в Союз.“ Literaturnaja gazeta, 10. 05. 1934.

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Abb. 1: Kukryniksy: Ein unerwartetes Hindernis (Neožidannoe prepjatstvie). In: Literaturnaja gazeta, 1934.

Abb. 2: Eliseeva, K.: Am nächsten Tag (Na drugoj den’). In: Literaturnaja gazeta, 1934. „Was bekümmert dich heute?“ – „Nach der Aufnahme in den Verband… nichts.“ (Čto tebja segodnja volnuet? – Posle priema v Sojuz... ničto.)

Schließlich ist der in der Literaturnaja gazeta am Vorabend des Kongresses veröffentlichte Karikaturenzyklus Zukünftige Promenade mit zukünftigen Statuen (Buduščaja alleja buduščich pamjatnikov) der Kukryniksy interessant, bei dem Aleksej Tolstoj (Abb. 3), Vsevolod Višnevskij (Abb. 4) und Vera Inber (Abb. 5) in den monumentalen Posen von Klassikern gezeigt werden. Ein solcher (bereits parodierter) Kult um die „Meister“ war im Jahr vor den Ereignissen zwischen 1933 und 1934 nur schwer vorstellbar.

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Abb. 3: Kukryniksy: Zukünftige Promenade mit zukünftigen Statuen. Aleksej Tolstoj (Buduščaja alleja buduščich pamjatnikov. Aleksej Tolstoj). In: Literaturnaja gazeta, 1934.

Abb. 4: Kukryniksy: Vsevolod Višnevskij. In: Literaturnaja gazeta, 1934.

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Abb. 5: Kukryniksy: Vera Inber. In: Literaturnaja gazeta, 1934.

Professionalität und Meisterschaft wurden zum Leitmotiv der Reden auf dem ersten Schriftstellerkongress. Leonid Sobolev machte sich mit dem viel zitierten und allgemein auf positive Resonanz stoßenden Satz berühmt, dass Partei und Regierung den Schriftstellern alles gegeben und nur eines genommen hätte – das Recht, schlecht zu schreiben. Man kann sich nur schwer einen Eindruck davon verschaffen, wie sehr sich das alles von der Atmosphäre unterschied, die noch am Vorabend der Auflösung der RAPP herrschte. Ein Jahr vor dem ZK-Beschluss war noch etwas völlig anderes typisch: M. Danilov. Bericht an die RAPP (Literaturnaja gazeta vom 24. März 1931) Ich bin ein Schlosser. Meine Rede ist vielleicht krumm: Ich rede und denke ohne modischen Firlefanz. Ich bin nicht gewohnt mit Gift aus Worten, zu hantieren als wäre es ein Heer, während ich auf einem Hengst herumscharwenzle. Macht uns den Weg frei. Stoßt die Türen auf. Wir bringen den Dampf der Stoßarbeit mit. Und uns, den Stoßarbeitern, vertraut die Arbeiterklasse die Kommandohöhen der Literatur an.

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Wir bringen neue Arbeitsformen. Sabotage und Faulenzerei, zerschlagen wir ohne Gnade. Im erbitterten Kampf im Betrieb Schaffen wir die Proletliteratur. Erfolgreich durchschreiten wir die Wachstumsphasen, In die Bücher legen wir den Wechselklang der Hämmer, Ohne Pathos, bolschewistisch, einfach, Grüßen wir die Führung von RAPP und Partei, Die so wie wir auf ihrem Gefechtsposten stehen. Ohne auch nur für eine Sekunde im Betrieb die Arbeit zu verlassen, Ohne Geschäftigkeit, Ohne lärmende Dreistigkeit, Sind wir gekommen, gehen wir, und es kommen noch mehr Zu den bolschewistischen Bannern der RAPP. М. Данилов. Рапорт РАППУ (Литературная газета от 24 марта 1931) Я – слесарь. Речь моя быть может и корява: Я говорю и думаю без модных выкрутас. Я не привык словесною отравой, Как войском управлять, на жеребце крутясь. Дорогу – нам. Распахивайте двери. Мы вносим жар ударнейшей работы. И нам, ударникам, рабочий класс доверит Литературные командные высоты. Мы формы новые работы вводим. Вредительство и разгильдяйство беспощадно бьем. В борьбе ожесточенной на заводе Пролетлитературу создаем. Успешно проходя этапы роста, Влагая в книги молотковый перестук,

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Без пафоса, по-большевистски, просто, Приветствуем партийно-рапповское руководство, Стоящее, как мы, на боевом посту. Не покидая ни на миг заводский труд, Без суеты, Без шумного нахрапа, Пришли, идем, еще идут Под большевистские знамена РАППа.

Am 24. Januar 1934 unternimmt Gor’kij öffentlich eine ungewöhnlich scharfe Attacke auf Fedor Panferov, als er in der Literaturnaja gazeta mit dem Artikel Aus Anlass einer Diskussion (Po povodu odnoj diskussii) hervortritt. Gor’kij solidarisiert sich mit denjenigen, die in der Diskussion im Staatsverlag für schöngeistige Literatur GIChL (Gosudarstvennoe izdatel’stvo chudožestvennoj literatury) die Sprache von Panferovs Roman Die Genossenschaft der Habenichtse (Bruski) kritisieren. Zwei Wochen später veröffentlicht die Literaturnaja gazeta den Artikel von Aleksandr Serafimovič, einem anderen altehrwürdigen sowjetischen Autor, der mit Gor’kij um den Status des Patriarchen konkurrieren könnte. Dieser verteidigt Panferov zwar, ohne Gor’kij zu erwähnen, aber die Herausforderung wird dennoch angenommen. Am nächsten Tag druckt die Literaturnaja gazeta einen Leitartikel gegen Panferov, und zwei Tage später erscheint ein offener Brief Gor’kijs an Serafimovič, wo er ihm in scharfem und beinahe beleidigendem Ton vorwirft, eine „schädliche Verunstaltung“ der russischen Literatursprache durchgehen zu lassen. Noch einmal zwei Wochen später erscheint sein Artikel Über Schlagfertigkeit (O bojkosti), in dem er die Anschuldigungen ausweitet und hinter der „bäurischen“ und „idiotischen“ Sprache das „feindliche Kulakengesicht“ der Literaten erkennen will. Er wirft Panferov und anderen ehemaligen Mitgliedern der RAPP vor, unkultiviert und zu einer fehlerfreien Sprache unfähig zu sein. Gor’kij wird von verschiedenen Literaten unterstützt, und im folgenden Streit erfährt Gor’kij Rückendeckung durch die Veröffentlichung ausführlicher Redaktionsbeiträge und Leserbriefe in der Literaturnaja gazeta, die sich auf seine Seite stellen. Es entwickelt sich die so genannte „Diskussion über die Sprache“, an der A. Tolstoj, Šolochov, Leonov, Kiršon, Šaginjan, Sel’vinskij und viele andere teilnehmen. Wenn man heute die Beiträge dieser Diskussion liest, liegt der Schluss nahe, dass es hier in keiner Weise um die Sprache ging. Das verstanden auch alle Teilnehmer der Diskussion. De facto stellte Gor’kij öffentlich die Behauptung

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auf, die „Klassiker“ der RAPP seien in professioneller Hinsicht unbrauchbar. Das war zu diesem Zeitpunkt der schwerste denkbare Vorwurf. Bezeichnend ist eine Karikaturenreihe, die die Diskussion in der Literaturnaja gazeta begleitete. Zuerst erschien die Literarische Banja (Literaturnaja banja), wo Gor’kij seinen Schriftstellerkollegen „einheizt“, und Serafimovič Gor’kijs Gegnern (Panferov und Višnevskij) eine Abkühlung verschafft (vgl. Abb. 6). Einige Wochen später erscheint die Karikatur Der Olymp auf dem Meeresgrund (Olimp na dne), die zeigt, wie die Masse der Schriftsteller nur in unzureichendem Ausmaße auf die Diskussion reagiert, dass diese nur an der Wasseroberfläche stürmisch ist und sie die „einfachen Schriftsteller“ nicht betrifft, die sich auf ihren Lorbeeren ausruhen oder sich in ihren Muscheln verstecken (vgl. Abb. 7). Schließlich werden in der Karikatur Ein jeder strammer Bursche nach meinem Ebenbild (Vsjak molodec na moj obrazec) die einzelnen Gegner von „Gor’kijs Generallinie“ ganz eindeutig und offen benannt und damit alle Zweifel beseitigt (vgl. Abb. 8). Abb. 6: Literarische Banja (Literaturnaja banja). In: Literaturnaja gazeta, 1934. „1 – Serafimovič, 2 – Panferov, 3 – Novikov-Priboj, 4 – Višnevskij, 5 – Reznikov.“

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Abb. 7: Kukryniksy: Der Olymp auf dem Meeresgrund (Olimp na dne). In: Literaturnaja gazeta, 1934.

Abb. 8: Kukryniksy: Ein jeder strammer Bursche nach meinem Ebenbild (Vsjak molodec na moj obrazec). In: Literaturnaja gazeta, 1934.

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Die „schöpferischen Entwicklungen der sowjetischen Literatur“ (tvorčeskie tečenija sovetskoj literatury) werden von den Karikaturisten durch ehemalige Mitglieder der RAPP dargestellt, die sich hinter Fadeev aufstellen: Višnevskij, Serafimovič, Kiršon, Panferov. Die ehemaligen Mitglieder der RAPP waren zu diesem Zeitpunkt literarische Randfiguren. Ein Teil von ihnen wurde später von Gor’kij unterstützt (Averbach, Makar’ev u.a.), ein Teil von ihnen wurde von Stalin dafür benutzt, die „Parteilinie in der Literatur“ zu festigen (Fadeev, Višnevskij, Panferov). Die Diskussion über die Sprache war noch nicht ganz verstummt, als Gor’kij am Vorabend des Kongresses mit dem ersten Artikel Über literarische Spielereien (O literaturnych zabavach, Literaturnaja gazeta vom 14. Juni 1934) hervortritt, wo die wichtigste Kritik an dem Dichten Pavel Vasil’ev persönlich und sein rowdyhaftes Verhalten gerichtet war. Hierbei verkündete Gor’kij, dass der „Weg vom Rowdytum zum Faschismus kürzer als der einer Spatzennase“ sei (ot chuliganstva do fašizma rasstojanie koroče vorob’inogo nosa). Und obwohl die „literarische Öffentlichkeit“ sofort davon sprach, dass „unter dem Glasdeckel des literarischen Alltags […] neue ungesunde und krankhafte Stimmungen und eine Bohème entstehen“, dass der Ort des Schriftstellers „das Gespräch mit den Menschen ist, die in den Fabriken und Betrieben, auf den Feldern der Kolchosen Geschichte machen“20, war allen klar, dass es ein persönliches Ziel der Attacke gab: die Frauen von Pavel Vasil’ev und Ivan Gronskij waren Schwestern. Vasil’ev lebte bei Gronskij, der als Chefredakteur von Neue Welt (Novyj Mir) dessen Werke veröffentlichte. Auf diese Weise trat Gor’kij öffentlich gegen die Parteifunktionäre auf, die für Stalin die Schriftsteller beobachten sollten und gegen die Parteischriftsteller selbst, die diese Funktionen in der Literatur übernehmen sollten. Diese zwei Gruppen leiteten den Schriftstellerverband de facto bis zum Ende der Sowjetunion, wobei das Personal natürlich wechselte. Man kann hieraus schließen, dass es in der Diskussion um die Sprache und die „literarischen Spielereien“ nicht um die Sprache oder die „Bohèmehaftigkeit“ in intellektuellen Kreisen ging – obwohl diese Probleme natürlich tatsächlich bestanden. Vielmehr ging es um die Sanktionierung des neuen Kurses, der auf die professionellen Schriftsteller, die Meister, ausgerichtet war, worunter Stalin die „neuen Kader“, Gor’kij hingegen „die Kultur“ verstand. In seinen Artikeln Über literarische Spielereien und Über die Sprache führte Gor’kij einen Präventivschlag gegen den Anhang Stalins in den intellektuellen Kreisen aus; schließlich war das wichtigste Thema am Vorabend des Kongresses der Sta20

„[…] под стеклянным колпаком литературного быта […] возникают нездоровые болезненные настроения и рождается богемщина […], общении с людьми, делающими историю на фабриках и заводах, на колхозных полях“. Vospityvat’ pisatelej-bol’ševikov (Leitartikel). In: Literaturnaja učeba. 2-3 (1935), 13.

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tus des Schriftstellers und vor allem die Frage, wer im Schriftstellerverband vertreten sein und wer ihn leiten sollte. Gor’kij erhielt den Mitgliedsausweis mit der Nummer 1, während Nummer 2 an Serafimovič ging, der mit seiner Autorität der Gruppe um Panferov und anderen ehemaligen Vertretern der RAPP Rückendeckung verschaffte. Und dennoch gelang Stalin ein wahrhaft universelles System der Ausbalancierung und des Gleichgewichtes. In eben diesem Kontext muss das Stalinsche Verständnis der „Meisterschaft“ betrachtet werden. Eine elitäre „Meisterschaft“ konnte in der stalinistischen Kultur nicht mit Unterstützung rechnen. Sie musste entweder ideologisch verwendbar und einfacher werden, um wenigstens an der Peripherie zu existieren, wie zum Beispiel in der genialen Einfachheit der Übersetzungen von Pasternak, die dieser für die von der sowjetischen Kultur expropriierten georgischen Klassiker, Shakespeare, Goethe und Petöffi fand. Oder sie musste wie im Falle Achmatovas und Bulgakovs völlig verstummen, „isolieren, aber erhalten“ (izolirovat’, no sochranit’) lautet hier der berühmte Beschluss. Aber auch alles „ohne Meisterschaft“ Produzierte der proletarischen Laienschriftstellerbewegung wurde als entgegengesetzter Grenzfall ebenfalls verurteilt. Diese beiden letztlich verbotenen Extremfälle bildeten die gegensätzlichen Enden eines gewissen Gleichgewichts, auf dem jetzt die Konstruktion der sowjetischen Literatur aufbaute. Im Ergebnis traten mittelmäßige Figuren wie Aleksej Surkov, Petr Pavlenko, Fedor Panferov, Vsevolod Višnevskij oder Aleksandr Fadeev oder dann Gestalten wie Semen Babaevskij, Anatolij Sofronov, Nikolaj Gribačev, Michail Bubennov oder Vsevolod Kočetov an die Spitze. Das Ausbalancieren übernahmen die Machthaber, die mal eine an der Ideologie ausgerichtete Literatur forderten, mal im Gegenteil den „Kampf um die künstlerische Qualität“ ausriefen. Die Quelle des unterschwelligen Konfliktes, aus dem der Schriftstellerverband als Domäne und Maßstab der sowjetischen Elite hervorging, waren die unterschiedlichen Agenden von Stalin und Gor’kij. In vielem überschnitten sie sich, in einer ganzen Reihe von Punkten jedoch waren ihre Positionen diametral entgegengesetzt. Einig waren sie sich darin, dass die Literatur von professionellen Schriftstellern, „Meistern“ gemacht werden müsste, mit Gor’kij als deren wichtigstem Vertreter, während sie sich darin unterschieden, dass es Gor’kij um die Festigung der „Kultur“ und die Entwicklung der „Kulturarbeit“ ging, wohingegen Stalin lenkbare literarische Spezialisten benötigte. Das Ideal der Stalinära war die Umsetzung auf hohem Niveau und keineswegs das künstlerische Schaffen, wie Gor’kij annahm. Im zukünftigen Schriftstellerverband erkannte jeder seine Vorstellungen: Gor’kij den Sieg der „Kultur“ über die ungebildeten Laienschriftsteller – Stalin hingegen verfolgte das Ziel einer lenkbaren Elite, die die Blüte des Stalinkultes durch die Schaffung eines neuen symbolischen Kapitals in allen Lebensbereichen gewährleisten sollte, von der Heroik der Stoßarbeiter in der Stachanovbewegung und dem Sieg der Kollektivierung bis zur Unterwerfung des grenzenlosen Raumes

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der Sowjetunion. Deshalb unterschieden sich die Strategien Gor’kijs und Stalins so stark voneinander. Gor’kij führte seinen Kampf mittels der Diskreditierung der von der RAPP geschaffenen „Meister“ (in der „Diskussion über die Sprache“); gleichfalls polemisierte er gegen die „literarischen Spielereien“ der Parteifunktionäre, die in der Literatur das Sagen haben wollten. für gewöhnlich in der Literatur Anweisungen gaben (die „literarischen Spielereien“). Im Gegensatz hierzu verfolgte Stalin seine Ziele mit der Stärkung der „kommunistischen Fraktion“ im Schriftstellerverband durch Figuren wie Fadeev, Gronskij, Stavskij, Judin, Kirpotin und andere. Indem er durch Gor’kij den Schriftstellerverband gründete und mit Autorität und Prestige ausstattete, gelang es Stalin de facto, die professionellen Schriftsteller auf seine Seite zu ziehen und beraubte Gor’kij dadurch seines Status der Unersetzbarkeit. Während der Vorbereitungsphase auf den Kongress wurden diese Divergenzen zurückgestellt, doch direkt danach traten sie hervor. Gor’kij bemühte sich zwar, seine Vorstellungen vom Schriftstellerverband umzusetzen, aber er war von Anfang an durch die von Stalin ernannten Personen umgeben. Er reagierte scharf auf die Bürokratisierung des Verbandes und bat schon am 1. September 1934, also direkt nach dem Kongress, um seine Entlassung als vorsitzender Leiter. Auf diese Weise protestierte er gegen die faktische Übernahme der Verbandsleitung durch Parteifunktionäre (Gronskij, Kirpotin, Judin, Ščerbakov) sowie durch ungebildete und unprofessionelle, dafür aber arrogante und intrigante Parteischriftsteller wie Panferov, Fadeev, Stavskij, Ermilov und andere ehemalige Mitglieder der RAPP. Er protestierte gegen ihre Ernennung als Mitglieder der Verbandsleitung und behauptete, sie seien dermaßen ungebildet, dass sie nicht nur nicht verstünden, dass sie die Qualität der Arbeit verbessern müssten, sondern dass sie auch die bloße Notwendigkeit eines Kampfes um die Qualität nicht anerkennen würden. Es entstehe eine Situation, so der verzweifelte Gor’kij, in der halbgebildete Leute die wesentlich gebildeteren leiten würden. Gor’kij wählt ein unwiderlegbares Argument: Zu diesem Zeitpunkt interessiert sich Stalin vor allem für das professionelle Niveau (Aber er ist doch ein Meister!?/No ved’ on že master!?). Gor’kij verbarg seine Gereiztheit in dem an das CK gerichteten Brief nicht: Ich persönlich kenne diese Leute als sehr erfahren im Schaffen verschiedener Streitereien, aber ich habe nicht das Gefühl, dass es Kommunisten sind und ich glaube nicht an ihre Aufrichtigkeit … Deshalb lehne ich es ab, mit ihnen zu arbeiten, meine Zeit ist mir kostbar und ich halte mich nicht für berechtigt, sie im Kampf gegen kleinliche Intrigen zu verschwenden, die unvermeidbar sofort entstehen werden.21

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„Лично я знаю людей этих весьма ловкими и опытными в творчестве различных междоусобий, но совершенно не чувствую в них коммунистов и не верю в искренность их ... Поэтому работать с ними я отказываюсь, ибо дорожу моим временем и не считаю себя вправе тратить его на борьбу против пустяковых склок, которые неизбежно и немедленно возникут.“

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Stalins und Gor’kijs Vorstellungen von einem Kommunisten waren sehr verschieden. Das Problem der Aufrichtigkeit beschäftigte Stalin nur am Rande, seiner Vorstellungen von den Menschen waren wesentlich weniger überhöht und dafür um einiges zynischer und „praktischer“. Die „Intrigen“, die, ganz wie Gor’kij es vorhergesagt hatte „unvermeidbar sofort“ entstanden, waren für Stalin ein geeignetes Instrument der Kontrolle und der Beeinflussung. Stalin spielte Gor’kij auf dem institutionellen Feld ohne Probleme aus. Gor’kij war in der UdSSR eingesperrt, gebunden durch die vielen Verpflichtungen in seinen zahlreichen Projekten, die er zwischen 1929 und 1934 initiiert hatte und die von Stalin unterstützt wurden. Er verstand, dass er von vielen Kulturschaffenden und Literaten als Fürsprecher gebraucht wurde und er war finanziell vollständig von Stalin abhängig. Gor’kij war gezwungen, die ihm zugedachte Rolle des Patriarchen der sowjetischen Literatur zu spielen, des Gründervaters des Sozialistischen Realismus, des Lehrers der sowjetischen Schriftsteller, des Organisators des literarischen Lebens, des Freundes und Botschafters Stalins im Lager der westlichen Intelligenz, und dies obwohl in den Schriftstellerverband in seinem Namen Parteifunktionäre geschickt wurden, die schnell das Spiel des Führers verstanden. Gor’kijs Ratschläge und Bitten verloren immer mehr an Einfluss. Man hörte nicht mehr auf ihn, seine Projekte versandeten und wurden nach seinem Tod im Sommer 1936 endgültig abgebrochen. Sein Status als einer der Anführer der linken Schriftsteller des Westens litt unter seiner zu starken und zu offensichtlichen Nähe zu den Machthabern. Nachdem er Gor’kij mit unvorstellbaren Ehren, Ruhm und Machtinsignien ausgezeichnet hatte, verlor Stalin das Interesse an ihm. Letztlich hatte dieser die ihm zugedachte Rolle als Einiger der literarischen und kulturellen Strömungen erfüllt. Die erste und wichtigste Organisation zur Lenkung der Intelligenz war gegründet, und die Intelligenz rannte die Türen der Organisation nicht nur in Erwartung eines hohen sozialen Status ein, sondern in Erwartung eines gewaltigen Prestiges, und auch nicht nur in Erwartung einer Versorgung, sondern in Erwartung eines – gemessen an den Kriterien der Zeit – wirklichen Reichtums (Schriftstellerdatschen, Schriftstellerhäuser im Zentrum Moskaus, Klubs, Kulturhäuser etc.) und schließlich in Erwartung des sozialen und persönlichen Schutzes, der mit der Mitgliedschaft im Verband assoziiert wurde und in gewisser Hinsicht eine offizielle Bestätigung ihres Status und ihrer Loyalität darstellte. Der Schriftstellerverband war nicht nur eine Schriftstellerfabrik, sondern ein Magnet und der Ausgangspunkt des Prestiges, des symbolischen Kapitals, das als einziger Wert übrig blieb, nach dem die sowjetische Intelligenz strebte. Er wurde zum Modell und zur Domäne jener neuen kulturellen Elite, ohne die die Geburt einer Nation unmöglich ist. Übersetzung: Gunnar Lenz

K A TE R IN A C LA R K

Moskau – Die literalisierte Stadt Straßennamen sind oft willkürlich gewählt, banal oder sogar lächerlich, doch wie die Straßen im Zentrum einer Stadt genannt werden, kann Indikator dafür sein, mit welchem Anspruch die honorigen Stadtväter die Identität ihrer Bürger kennzeichnen wollen. Die Behauptung, dass in der Sowjetunion alles genau kodiert war, bestätigt sich in mancher Hinsicht tatsächlich. Unter Stalin wurde das Zentrum von Moskau (im Leben der Durchschnittsbürger) zu dem Punkt, wo die Hauptstraße, die in Gor’kijstraße umbenannt wurde, von einer anderen zentralen Ader, dem umbenannten Marxprospekt gekreuzt wurde.1 Darüber hinaus proklamierte schon die Geografie der Straßen eine Hochzeit von Literatur und Ideologie, von Kunst und Politik. Verschiedene angrenzende und benachbarte Straßen und Plätze in Moskaus Zentrum wurden ebenfalls nach Schriftstellern umbenannt und auf diese Art und Weise zu Partizipanten an dieser Union: die (umbenannten) Belinskij-, Ogarev- und Stankevičstraßen münden in die Gor’kijstraße unterhalb des Marxprospekts; die Gor’kijstraße wird von beiden Seiten von der parallel verlaufenden Herzen- bzw. Puškinstraße flankiert; und zwei der Hauptplätze, welche die Gor’kijstraße im Stadtzentrum unterbrechen, wurden in Majakovskij- und Puškinplatz umbenannt (ein weiterer anderer Platz erhielt bereits im Jahre 1918 den Namen „Sowjetplatz“). Zugegeben, diese Struktur trat nicht als einzige Flut von Umbenennungen auf. Schon während des Bürgerkrieges (um 1920 und möglicherweise vorher) wurden einige der zentralen Straßen nach Schriftstellern der radikalen Tradition wie Herzen und Belinskij umbenannt.2 Als aber die Behörden in den 1930er Jahren damit begannen, Punkte entlang der zentralen Verkehrsader Tverskaja umzubenennen, wählten sie als Namensgeber im Unterschied zu früher soziale Aktivisten, die gleichzeitig Schriftsteller waren: Die beiden Plätze, welche zusammen mit dem Sowjetplatz die Tverskaja im Zentrum Moskaus kreuzten, der Puškin- und der Majakovskijplatz, erhielten ihre neuen Namen 1931 und 1935 und die Tverskaja wurde 1933 zur Gor’kijstraße.3 1 2 3

Entsprechend den Plänen für das „neue Moskau“ sollte der Palast der Sowjets das eigentliche Zentrum von Moskau werden, siehe weiter unten. Putevoditel’ po novoj Moskve, sost. M. S. Moskau 1923, 37-39. Der Puškinplatz wurde einen Monat nach Ankündigung des Plans zur Rekonstruktion Moskaus am 28. Juli 1931 als solcher umbenannt. Der Majakovskijplatz wurde so genannt, nachdem der Poet von Stalin in einer Erklärung von 1935 als ein großer sowjetischer Dichter ausgelobt worden war.

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Was ich aus diesem literarisch konnotierten Umbenennungsmuster von Straßennamen herauslese, könnte man zunächst als Banalität betrachten, zumal ja die Literatur in der Stalinzeit eng mit der Politik verbunden war. Worauf es mir dabei allerdings ankommt ist, dass ich hier den Begriff der Hochzeit dem der Unterjochung vorziehe (auch wenn Hochzeiten, wie wir wissen, keineswegs nur zwischen gleichrangigen Partnern stattfinden). In den dreißiger Jahren war eine enge symbiotische Verbindung zwischen Literatur und Politik Kern der offiziellen Kultur. Als Moskau Mitte der 1930er Jahre mit neuen Statuen dekoriert wurde, feierte man damit drei Hauptkategorien an spezifischen Gestalten. Im Unterschied zu solch generellen Kategorien wie Grenzsoldat, Schwimmer oder Pionier waren dies: die Bolschewiki (Dzeržinskij, Frunze, Kirov, Sverdlov, Kujbyšev), etwas weniger die Helden des Bürgerkrieges wie Čapaev und russische Schriftsteller (Puškin, Gogol’, Saltykov-Ščedrin, Gor’kij und andere).4 Unzählige weitere solcher Details der Hauptstadtgeschichte aus den dreißiger Jahren zeigen die innige Verbindung von Literatur und Politik. So wurde beispielsweise das Jahr 1937 begrifflich dominiert von den öffentlichen Feierlichkeiten zweier Jahrestage, die praktisch ein Tandem bildeten: dem 100. Todestag Puškins und dem 20. Jahrestag der Bolschewistischen Revolution. Die enge Verbindung der beiden kann man an dem Fakt ablesen, dass genau zu der Zeit, als die Stadtregierung nach passenden Wegen suchte, den 20. Jahrestag der Revolution würdig zu begehen, beschlossen wurde, das Strastnoj-Kloster, welches auf dem Puškinplatz stand, anlässlich des Novemberjubiläums zu zerstören. Das Kloster sollte verschwinden, „ohne eine Spur zu hinterlassen“. Im Zuge dessen beschloss man auch, das Puškindenkmal an zentraler Stelle auf dem Platz zu positionieren.5 Dieses nur auf den ersten Blick geringfügig erscheinende Detail aus dem Jahre 1937 lässt die Beziehung zwischen Literatur und Architektur deutlich hervortreten. Sie waren beide privilegierte Beschäftigungen jener Zeit. In jedem von ihnen gab es ein bestimmtes Projekt, das die Aktivitäten in den dreißiger Jahren dominierte, und diese Projekte waren in der Tat zu einem Tandem verbunden, zusammengeschweißt vom nationalen Meistererzähler. In der Literatur handelte es sich dabei um das Projekt der Schaffung des Sozialistischen Realismus als einer Tradition, die um einen biografischen Erzähler herum zentriert wurde. Im April 1932 wurde der Schriftstellerverband gegründet, und im Mai desselben Jahres wurde der Begriff „Sozialistischer Realismus“ zur Bezeichnung der neuen Sowjetliteratur eingeführt. Zu dieser Zeit wurde Gor’kij buchstäblich vom Westen reimportiert, um als nomineller Vorsitzender des Schriftstellerverbandes und als Pate des Sozialistischen Realismus zu dienen (der Begriff wurde angeblich bei einer Zu4 5

Skul’pturnye pamjatniki. In: Stroitel’stvo Moskvy. 12 (1937), 32. Rodin, A. F.: Puškinskaja ploščad’. In: Stroitel’stvo Moskvy. 2 (1937), 13-14.

Moskau – Die literalisierte Stadt

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sammenkunft in seiner Wohnung entworfen und er selbst hielt zwei der kanonischen Reden zum Sozialistischen Realismus auf dem ersten Schriftstellerkongress im Jahre 1934). Als Moskaus Hauptstraße ihm zu Ehren umbenannt wurde, verwies diese Geste auf die zentrale Stellung des Sozialistischen Realismus in der sowjetischen politischen Kultur. Das gleichsam architektonische Pendant dazu war seiner Zeit die Schaffung einer „sozialistischen Stadt“, wobei sich das Hauptaugenmerk der Architektur auf die Umgestaltung der Hauptstadt Moskau richtete. Im Juni 1931 wurde auf einem Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei eine Resolution verabschiedet, die Anleitungen zur Neugestaltung Moskaus herausgab. Zwar nahm man die Arbeit daran schon bald auf, ein systematischer Plan für ein „neues Moskau“ wurde jedoch erst 1935 fertig gestellt und am 10. Juli in einem gemeinsamen Beschluss des Zentralkomitees der Partei und des Ministerrats (Sovnarkom6) unter der Überschrift „Über den Generalplan zum Umbau der Stadt Moskau“ verabschiedet. Dieser Beschluss wiederholte vielfach dieselben richtungweisenden Prinzipien und bestätigte die gleichen Hauptprojekte wie die Resolution aus dem Jahre 1931, fügte allerdings mehr Einzelheiten hinzu, wie Fristen, in denen bestimmte Projekte abzuschließen seien. Der sowjetische Architektenverband wurde im Jahre 1932 im Kielwasser der Gründung des Schriftstellerverbandes geschaffen, hielt aber seinen ersten Kongress nicht vor 1937 ab. In der Zwischenzeit funktionierten die Pläne für das umzugestaltende neue Moskau als beste praktische Anleitung dafür, was Sozialistischer Realismus in der Architektur bedeuten könnte. Das Projekt der Umgestaltung Moskaus war nicht nur auf der geografischen Landkarte beständig präsent, sondern ebenso auf der politischen. Im Jahre 1933 wurde eine neue Behörde, der Archplan, gebildet; gemeinsam getragen vom Moskauer Parteikomitee und dem Stadtrat unter Leitung von Lazar Kaganovič (dem ersten Sekretär des Moskauer Parteikomitees und de facto dem zweiten Parteisekretär nach Stalin und Hohepriester des stalinistischen Personenkultes). Dem Wirken dieser Behörde verdankt die Gor’rkijstraße ab 1933 ihren Namen; seit jenem Zeitpunkt, als einerseits die Mächtigen in Politik und Literatur daran gingen zu formulieren, was man unter Sozialistischem Realismus verstehen solle, d.h. Anleitungen dafür zusammenstellten, welche lautstark auf dem ersten Schriftstellerkongress im darauf folgenden Jahr verkündet wurden, und andererseits geplant wurde, die Gor’kijstraße – als Teil des Projektes, das im Jahre 1931 die Umgestaltung Moskaus einleitete – nun selbst zu begradigen und zu verbreitern und riesige Gebäude an ihren Seiten zu errichten. Das andere Moskauer Vorzeigeprojekt war die Metro, welche den Schnittpunkt zwischen Gor’kijstraße und Marxprospekt als Nabe 6

Sovnarkom – Rat der Volkskomissare (Sovet narodnych komissarov).

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nutzte, von wo aus sich deren strahlenförmiges Netz entfalten sollte. Die Gor’kijstraße selbst bildete die Westachse der Hauptstadt, die sich fast bis zum Kreml hinzog und ihr Hauptgeschäftsviertel am Ende der Gor’kijstraße sollte den Plänen entsprechend von der Leninallee gekreuzt werden, der neuen Nord-Südachse. Anders gesagt, Ideologie, Architektur (bzw. städtisches Design) und Literatur kamen alle an einem Ort zusammen. Tatsächlich war es die Absicht der Planer, das Stadtbild Moskaus neu zu zentrieren und auf der Leninallee ein massives Gebäude zu errichten – den Palast der Sowjets. Er sollte zwei Funktionen haben: einerseits Treffpunkt für nationale Versammlungen (auch Büros sollte es hier geben) und andererseits Ort für Massenversammlungen, wo rituelle Zusammenkünfte und Massenagitationsveranstaltungen in einem großen Saal durchgeführt werden konnten.7 Als man den Palast als neues Zentrum Moskaus entwarf, etablierte sich die Stadt Moskau zum elementaren Dreh- und Angelpunkt der sowjetischen Städte. Zur selben Zeit wurde die Methode des Sozialistischen Realismus formuliert und die Künste in einzelne, nach Branchen aufgeteilte, kreative Verbindungen eingepfercht. Die sowjetische Kultur und Geografie wurde entsprechend dem zentralisierten Staat ebenfalls zentralisiert. Die Parteiführung begann eine viel aktivere Rolle in kulturellen Angelegenheiten zu spielen, besonders das Politbüro; ein ausgewählter Kreis der wichtigsten Persönlichkeiten des Landes, der in der Macht-Hierarchie der Nation – neben der Person Stalins – den höchsten Status innehatte. Waren an legislativen und kulturellen Angelegenheiten des weiteren auch Persönlichkeiten des Zentralkomitees der Partei sowie dessen Sekretariat, das Orgbüro (Organisationsbüro) und der aus verschiedenen Abteilungen bestehende Apparat wie Kultur und Propaganda (Kul’tprop) beteiligt, so fungierte unter diesen verschiedenen Gremien das Politbüro auf jeden Fall als der maßgebliche Entscheidungsträger für den kulturellen Bereich.8 Für ein Land, das sich rühmte das flächenmäßig größte der Welt zu sein („ein Sechstel der Erde“) und das in dieser Periode, verbunden mit einer langwierigen sozialen, politischen und ökonomischen Revolution, eine drakonische Modernisierung und Militarisierung erfuhr, ist der Umstand in der Tat außergewöhnlich, dass sich seine Staatsmänner für ein Großteil ihrer Zeit 7

8

Die Pläne für den Bau des Palastes der Sowjets durchliefen tatsächlich im Laufe der Zeit mehrere Metamorphosen. In der Anfangsphase, als man noch demokratischere Vorstellungen hatte, sah man ihn als einen riesigen Platz für Massenversammlungen und Paraden und er sollte für die Menge offen sein, später aber wurden die Pläne zum Spiegel der wachsenden Hierarchisierung und der Paranoia der sowjetischen Gesellschaft. Es gab nun eigene Fahrstühle, Toiletten etc. für die Elite, wodurch diese von den Massen getrennt wurde, die sich auf jene Zonen des Palastes beschränken mussten, die ihnen zugänglich waren. Vgl. Clark, K./Dobrenko, E. (Hrsg.): Soviet Culture and Power: A History in Documents, 1917 – 1953. Part II. New Haven 2007.

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den kulturellen Angelegenheiten widmeten. In den 1930er Jahren befand sich die Kultur ständig im Blickfeld der sowjetischen Führung, insbesondere Stalins. Als das Politbüro die Aufsicht für die einzelnen Branchen des Staates aufteilte, übernahm das viel beschäftigte Oberhaupt den kulturellen Bereich persönlich. Der Routineapparat der Kontrolle der kulturellen Angelegenheiten funktionierte nicht nur in den kritischsten Momenten des innerparteilichen Kampfes, des Terrors und des Krieges. Auch Entscheidungen selbst über recht zweitrangige Streifragen wurden auf höchster Ebene gefällt; bis hin zu Beschlüssen, wer im Redaktionskollegium eines literarischen Journals sitzen durfte, wer die einzelnen Abteilungen des Journals leiten sollte und wie viel jedem zu zahlen war. Doch warum wurde der Kultur soviel Aufmerksamkeit gezollt? Es war wohl nicht nur eine Sache der willkürlichen „Repression“, und es ging auch nicht nur darum, den Geschmack der Führung auf die gesamte nationale Kultur auszudehnen (obwohl beides natürlich eine Rolle spielte). Vielmehr handelt es sich um ein weitaus umfassenderes Phänomen, das nicht nur mit der Organisation eines Staates, der so zentralisiert war, dass eine „Einmischung“ der Führung in kulturelle Angelegenheiten sogar als unvermeidlich angesehen werden könnte, zu tun hatte, sondern das auch eng mit der nationalen politischen Kultur verknüpft war. Kultur war für die politische Hierarchie deshalb so wichtig, weil sie eine zentrale Rolle in der Artikulation des neuen Glaubenssystems spielte. Der Sowjetstaat hatte erklärt, dass er ohne Religion auskäme, und folglich übernahm die Kultur zahlreiche frühere Funktionen der Religion (was zum Beispiel die Zerstörung des Klosters demonstriert, einen „gereinigten“ Puškinplatz zu schaffen). Im Einklang mit der privilegierten Rolle der Kultur in der neuen Gesellschaft konnte die Kultur (und besonders die Literatur) selbst einigen Einfluss in der politischen Sphäre gewinnen. Das Verhältnis zwischen Kultur und Politik war keine Einbahnstraße. Der Kult um die Literatur war aber nicht nur für die Bolschewiki charakteristisch, auch Intellektuelle aus der Gruppe der Dissidenten lebten in diesem Glauben. Höchst auffallend ist zum Teil die halbreligiöse Ehrfurcht vor der Literatur im ersten Band der Memoiren von Evgenija Ginzburg Eine steile Marschroute (Krutoj maršrut), in welchem ihre Verhaftung im Jahre 1937 beschrieben wird – zu einer Zeit, als die Parteisäuberungen einen Höhepunkt erreichten und auch das Puškinjahr begangen wurde – und in welchem auch ihre Inhaftierung und die Erfahrungen in den Lagern thematisiert werden. Ginzburg und ihre Gefährten schöpften, gleich den Christen in den Katakomben, Kraft auch in der größten Not, indem sie sich Verse Puškins ins Gedächtnis riefen und diese wo nur irgend möglich niederschrieben (auf Papierfetzen, an Wände). In einem dieser sehr trostlosen Momente dachte Ginzburg

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an Selbstmord, richtete sich aber an dem Gedanken auf, dass „morgen Tolstoj und Blok, Stendal und Balzac zu mir kommen werden [aus der Gefängnisbibliothek]. Und du denkst ans Sterben, du Närrin“. Auch wenn die Architektur nicht über eine solche Aura verfügte, so spielte sie gleichwohl eine zentrale Rolle in der stalinistischen politischen Kultur. Während die praktischen Errungenschaften der Neuordnung und Modernisierung der Hauptstadt ohne Zweifel auch ein Ergebnis der Verbreitung des neuen Projektes für die Umgestaltung Moskaus waren, stand doch die symbolische Funktion der „Transformation“ an erster Stelle. Im Jahre 1931, noch bevor die Pläne der Umgestaltung Moskaus öffentlich gemacht wurden, lieferten Begrifflichkeiten aus der Architektur die vorherrschenden Tropen in den offiziellen Reden und Leitartikeln der Pravda, welche das Ziel verfolgten, dasjenige Stadium anzuzeigen, das auf dem Wege zum Kommunismus schon erreicht worden war. Solche Texte begannen üblicherweise mit der Revolution von 1917, als die Führung das Alte zerstört hatte, verwiesen dann auf die 1920er Jahre und teilweise auf die Industrialisierung und Kollektivierung während des ersten Fünfjahrplans, als der Staat die „Grundlagen“ der neuen Gesellschaft schuf. Es sei jetzt an der Zeit, so der Tenor einschlägiger Artikel, das sozialistische „Gebäude“ (zdanie) zu errichten.9 In diesem Falle leitete der offizielle Sprecher die metaphorische Verwendung der Architektur aus der Deutschen Ideologie (1845 – 1846) her, in der Marx und Engels das Symbol eines Gebäudes für die Charakterisierung der Beziehung zwischen Basis und Überbau benutzten – ein Modell, welches das Zusammenspiel aller Elemente einer Gesellschaft umfasste und seine Grundideen aus vorangegangenen philosophischen Systemen bezog. Darüber hinaus signalisierte die neue Betonung des „Gebäudes“ in der Parteirhetorik, dass man die Bilderstürmerei, die ikonoklastische Phase der Kulturrevolution (1928 – 1931), hinter sich gelassen hatte. Parteiführer erklärten in Erweiterung der marxistischen Trope, dass es Zeit sei, Moskau als ein „Modell“ für die Proletarier und Kommunisten der ganzen Welt umzustrukturieren, die dadurch inspiriert werden sollten, diesem Beispiel zu folgen. Der Umbau der Hauptstadt war nicht nur eine politische Geste, die dem bolschewistischen Regime zu größerem Ruhm verhelfen sollte, sondern fungierte gleichzeitig als eine Blaupause für die neue soziopolitische und kulturelle Ordnung, die man zu errichten gedachte. Vom ersten Moment an waren Architektur und Design eng mit anderen Künsten und kulturellen sowie politischen Aktivitäten innerhalb eines koordinierten Wertesystems, welches um die Stadt herum zentriert war, verbunden. Das umgestaltete Moskau sollte zu einer blendenden Hauptstadt werden, deren Ruhm 9

Vgl. K. E. Vorošilov na IX s”ezde VLKSM. In: Pravda. 22. Januar 1931, 2.

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auf das Regime, das sie errichtet hatte, zurückfallen sollte, dabei aber gleichzeitig den Kern seines Symbolsystems bilden, Modell sein für die neue (stalinistische) sozio-politische und kulturelle Ordnung. Symptomatisch ist, dass mit Beginn des Jahres 1933, am Vorabend der großen Revolutionsfeierlichkeiten des 1. Mai und des 7. November, Pläne zum „neuen Moskau“ in Schaufenstern in der unteren Gor’kijstraße ausgestellt wurden und man von den Bürgern erwartete, dass sie ihnen ihre Ehrerbietung durch ihr Kommen und Anschauen bezeugen würden.10 Als im Jahr 1934 der führende Architekt A. Žoltovskij das Modell eines neuen Gebäudes in der Form eines PalladienPalastes entworfen hatte (das zukünftige Intourist-Gebäude), welches als Paradigma einer neuen Architektur beworben wurde, hielten die Massen, die zu den Revolutionsfeierlichkeiten in Richtung des Roten Platzes marschierten, davor inne, um es zu grüßen, bevor sie weitergingen.11 Das Zentrum der stalinistischen Kultur bildete damals ein enges Geflecht von Architektur, Literatur und Führung. Als die zwei Künste zu konvergieren begannen, wurden charakteristischerweise zwei Schriftsteller in den Archplan – jene Behörde, die die Planung des neuen Moskaus beaufsichtigte – berufen: Maksim Gor’kij und Nikolaj Ostrovskij. Und als Ostrovskij, der Autor des klassischen sozrealistischen Romans der dreißiger Jahre, 1936 starb, stellten die Architekten ihm zu Ehren eine Ehrenwache an seiner Bahre. Um für diese Verflechtung ein passendes, wenn auch – bezogen auf den Umbau Moskaus – vielleicht unerwartetes Beispiel zu geben, kann man einige Überlegungen aus Angel Ramas letztem Buch The Lettered City heranziehen. In einem der Kapitel beschreibt der Autor, wie die neuen amerikanischen Städte im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert von den spanischen und portugiesischen Kolonialisatoren gebaut wurden. Rama führt aus, dass die iberischen Monarchen ein frühes urbanes Netzwerk von politischen und ideologischen Zentren entwarfen, um ihrem unermesslichen Reich eine Ordnung aufzuerlegen. Gleichsam am Reißbrett konstruierten sie Städte, die sorgfältig mit Feder und Papier geplant waren, eine Kontrollbehörde hatten und deren geometrischer Entwurf durch detaillierte schriftliche Instruktionen standardisiert wurde. Indem man diese neuen Städte der Amerikaner plante, wurde das Ideal einer Renaissancestadt ohne Bezug zur lokalen Spezifik auf das amerikanische Territorium übertragen, womit man ironischerweise garantierte, dass die Renaissancestadt diesseits des Atlantiks in einer perfekteren Version realisiert wurde, als es jemals in Europa geschehen war.

10 11

Vgl. Pervomajskaja vystavka architektury i planirovki v Moskve. In: Architektura SSSR. 4 (1934), 76. Vgl. Uroki majskoj architekturnoj vystavki. In: Architektura SSSR. 6 (1934), 4-17.

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Wie Rama im Weiteren darlegt, wurde im kolonialisierten Lateinamerika einzig das geschriebene Wort als verbindlich angesehen – im Gegensatz zum gesprochenen Wort und, gravierender noch, ganz im Gegensatz zur Landessprache, die als zu den prekären und unsicheren Dingen gehörig angesehen wurde. In diesen kolonialen Außenposten hing die Beständigkeit des Ganzen von der Unveränderlichkeit der Zeichen selbst ab – von den Worten, die den Willen, eine Stadt zu errichten, in Einklang brachten mit den verbindlichen Normen – und auch von den Diagrammen, die diesen Willen in grafische Begriffe transformierten. Das Schreiben rühmte eine Beständigkeit, eine Art Unabhängigkeit von der materiellen Welt, welche die Ewigkeit imitierte und frei zu sein schien von den Wechselfällen und Metamorphosen der Geschichte. Es konsolidierte die politische Ordnung, indem es ihr einen rigorosen vollendeten kulturellen Ausdruck verlieh. Darüber hinaus artikulierten selbst gegen das Establishment gerichtete intellektuelle Bewegungen, die später in Lateinamerika entstanden, ihre Positionen innerhalb des bestehenden Systems dieser „schriftlichen Kultur“.12 Sicherlich hinkt der Vergleich zwischen der lateinamerikanischen Kolonialstadt und der sowjetischen Metropole ein wenig. Natürlich sollte das umgestaltete Moskau keine reine Renaissancestadt sein, obwohl das Stilmodell der Renaissance eine Hauptreferenz bildete, und die Architektur insgesamt doch etwas eklektisch anmutet, wie weiter unten noch gezeigt wird. Auch entspricht Moskau als die literalisierte Stadt Sowjetrusslands nur bedingt dem Modelltypus einer lateinamerikanischen Kolonialstadt, da die Sowjetmetropole ja bei Weitem nicht an irgendeiner „jungfräulichen“ Peripherie errichtet wurde, sondern seit langem als eine der zwei Hauptstädte existierte (die andere war bekanntlich Petersburg/Leningrad). Zudem wurde „Das neue Moskau“ auch nicht ex nihilo auf einem kolonialen Außenposten gegründet, sondern hatte sich im Laufe der Jahrhunderte von einer mittelalterlichen, im Jahre 1147 gegründeten Siedlung weiterentwickelt, und selbst die ambitionierten Pläne der 1930er Jahre sahen nur einen teilweisen Umbau der Stadt vor. Dennoch ist die Parallele, die ich an dieser Stelle zum kolonialisierten Lateinamerika ziehe, nützlich, da sie die Aufmerksamkeit zunächst auf ein Element der inneren Kolonialisierung richtet: darauf nämlich, dass das Sowjetregime seine „Zivilisation“ auf ein Gebiet auszudehnen versuchte, das als Reich der Finsternis bezeichnet wurde. Die Umgestaltung Moskaus ist exemplarisch für diesen Prozess. Und insofern das Regime auf diese Weise eine von beträchtlichen Errungenschaften geprägte Kultur verdrängte, erscheint diese Entwicklung als Ausgangspunkt für Ambivalenzen, welche die Umgestaltung der alten Hauptstadt kennzeichnen. Sicher – dort, wo es dem 12

Rama, A.: The Lettered City. (translated and edited by J. C. Chasten). Durham 1996.

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sowjetischem Regime um den Umbau Moskaus ging, war es diesem wichtiger, sich eine eigene Legitimation zu verschaffen, als das etwa bei den spanischen Kolonialisatoren der Fall gewesen war, welche die lateinamerikanischen Städte geplant hatten. Was sich indes an Ramas Interpretation bezüglich der neuen Städte Lateinamerikas gerade auch auf das stalinistische Moskau beziehen lässt, ist der spezifische Aspekt von Verschriftlichung, wie er bereits im Titel des Buches in den Vordergrund rückt. Dem Geflecht aus Schriftkultur, Staatsmacht und urbaner Planung kommt bei der Gründung und Erhaltung eine entscheidende Rolle zu, als Rama unter Schriftkultur eine Kultur der letrados versteht, eine Kultur der schriftkundigen Klasse, oder mit anderen Worten: eine Kultur nicht allein der Gelehrten, sondern auch der Planer und Fachleute, die sich mit Verordnungen, Memoranden, Berichten und notarieller Arbeit auskannten, mit all der offiziellen Korrespondenz, die das Reich zusammenhielt. In dem Jahrzehnt, als die sowjetische Führung daran ging, ihr Regime zu legitimieren und zu kodifizieren, erhielten die geschriebenen Texte eine enorme Wichtigkeit. Literatur war aber bei Weitem nicht die einzige Schriftform, die in der Kultur der dreißiger Jahre einen speziellen Status erhielt. Die dreißiger Jahre waren ein Jahrzehnt, welches damit begann, eine Flut an Texten von Marx und Engels zu publizieren, viele von ihnen zum ersten Mal. Sie wurden in maßgeblichen Übersetzungen veröffentlicht, versehen mit Kommentaren der Mitarbeiter des Marx-Engels-Lenin-Instituts. Die Pravda stellte diese neuen Publikationen in den Vordergrund und berichtete unter der Rubrik In I.M.E.L. (womit das oben genannte Institut gemeint ist) wiederholt darüber auf ihren letzten Seiten. Als 1933 die Gor’kijstraße ihren Namen erhielt, jährte sich der Todestag von Marx zum 50. Mal und markierte einen Höhepunkt dieses Jahres. Auch im Zusammenhang mit den Parteisäuberungen von 1933 spielten geschriebene Texte, oder genauer gesagt, spielte vor allem die dürftige Kenntnis der Marxschen Schriften und Ideologie eine wichtige Rolle: im Gegensatz zu den Parteisäuberungen von 1929 und besonders zu denen von 1936 wurde diese Art literaler Unkenntnis zu einem Kriterium für den Ausschluss aus der Partei.13 Demgegenüber war die Abfassung von Texten eine der Hauptbeschäftigungen der Mitglieder des Politbüros und des Zentralkomitees, die damit ihre Aufsicht über die Angelegenheiten des Orgbüros und des Kul’tprop ausübten. In den frühen Jahren der Stalinära, in der Zeit von 1932 bis 1934, wurde in ihren Beratungen zu Kulturfragen nahezu die gesamte Energie in den Be13

O čistke partii. Postanovlenie CK i CKK VKP(b) ot 28. aprelja 1933 g. In: O čistke partii. Moskau 1933, 4; Jaroslavskij, Em.: Čego partija trebuet ot kommunista. Izdanie vtoroe, ispravlennoe. Moskau 1936, 13-18.

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reich der Literatur investiert. Nach dem Schriftstellerkongress von 1934, als der Sozialistische Realismus offiziell definiert worden war und das Jahrzehnt fortschritt, mischten sich Stalin und das Politbüro in wachsendem Maße auch in inhaltliche Fragen anderer Medien ein – etwa bei Theaterstücken, Opern, Filmen und bildender Kunst. Unverändert blieb allerdings der Umstand, dass es der schriftliche Entwurf dieser Arbeiten war, der im Zentrum ihrer Regulierungsmaßnahmen stand.14 Im Unterschied zum gesprochenen und ganz im Gegenteil zum mündlichkeitsbehafteten Dialekt, wurde das geschriebene Wort (pis’mennost’) generell mit besonderer Ehrfrucht betrachtet.15 Unter den verschiedenen Formen der Schriftlichkeit, die eine große symbolische Rolle spielten, waren vor allem die Zeitungsnachrichten populär, insbesondere die Pravda, Publikationsorgan für Stalins Reden und andere, ähnliche Richtlinien vorgebende Texte. Die Serie von Stalins Porträts aus den Jahren 1928, 1931 und 1937, die allesamt von Isaak Brodskij, dem designierten Hofmaler der zwanziger und dreißiger Jahre, stammen, wäre nicht vollständig ohne die Kopie eines im Zusammenhang mit einem in einem Pravda-Artikel publizierten Porträts, das Stalins riesigen Oberkörper samt seines Kopfes, der sonst die Leinwand füllte, vor seinem Schreibtisch sitzend zeigte.16 Die politischen Poster der dreißiger Jahre nutzen oft einen Ausschnitt aus diesem Artikel, der eindeutig als aus der Pravda stammend identifiziert werden kann. Manch einer würde in dem Medium Zeitung vielleicht nur eine vergängliche Form des Schreibens sehen, aber das entspricht nicht der seinerzeit gängigen Einstellung gegenüber dem offiziellen Zentralorgan der Partei. In den entsprechenden Darstellungen Stalins zeigt sich, wie seine Person mit dem Medium Schrift assoziiert wird. In der ikonographischen Präsentation wurde er kaum als Sprechender gezeigt. Sein Wort galt als heilig, sodass es auch nur selten in seiner unmittelbar oralen Form an die Massen weitergegeben wurde – bürgte solche Vermittlung doch stets die Gefahr der Wiedergabe einer dialektisch gefärbten Verbalität (als gebürtiger Georgier sprach er das Russische mit einem Akzent), die Stalins Wort hätte abwerten können. Daraus resultiert, dass die Öffentlichkeit mit seinen Reden generell in gedruckter und editierter Form bekannt gemacht wurde. Die Ära Stalins war 14

15 16

Es finden sich dafür zahlreiche Beispiele im Sammelband: Artizov, A./Naumov, O. (Hrsg.): Vlast’ i chudožestvennaja intelligencija. Dokumenty CK RKP(b) – VKP(b), VČK- OGPU – NKVD o kul’turnoj politike 1917 – 1953 gg. Moskau 1999. Siehe Clark, K.: Petersburg, Crucible of Cultural Revolution. Cambridge, Mass. 1995, 284-289. Portret I. V. Stalina (1928) und Josif Vissarionovič Stalin (1931). In: Portret I. V. Stalina of 1937. Andere Pressenachrichten sind hier hinzugefügt aus: Izvestija, Prožektor, SSSR na strojke.

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maßgeblich gekennzeichnet durch Texte, die ihn als vermeintlichen Autor auswiesen resp. als einem solchen zugeschrieben wurden. Genannt seien beispielsweise sein Brief an die Proletarische Revolution (Proletarskaja revoljucija) von 1931 (vgl. das nächste Kapitel), verschiedene Dekrete über die Geschichtsschreibung und der Kurze Abriss der Parteigeschichte von 1918, der bis zum Tode Stalins im Jahr 1953 als das „kleine rote Buch“ der Sowjetunion galt. Darüber hinaus wurde Stalin auch der Verdienst zugeschrieben, den Begriff „Sozialistischer Realismus“ wesentlich geprägt zu haben, was implizierte, dass er, ungeachtet der tatsächlichen Fakten, der Spiritus Rector dieser übergewichtigen Theorie sei. Als dann im Dezember 1936 mit großem Pomp die neue Sowjetverfassung verkündet wurde, lag es auf der Hand, dass man in diesem Werk Stalin als deren Autor bzw. Schöpfer (tvorec) erkannte. Für die Bedeutsamkeit der Verfassung als schriftlich verfasster Text ist dabei im Besonderen der Umstand bezeichnend, dass die Wände im Großen Saal des Palasts der Sowjets mit Marmortafeln versehen wurden, auf denen jeweils ein Artikel der Verfassung zu lesen war. Stalin wurde gewissermaßen zu einer Art Moses, welcher das göttliche Gesetz auf heiligen Schrifttafeln erhalten hatte. Wie Moses sprach er die Vorschriften nicht aus, sondern brachte sie in geschriebener Form seinem Volk dar.17 Anders aber als Moses hatte er „das Gesetz“ nicht von Gott erhalten, sondern galt selbst als deren Schöpfer, womit ihm im recht besehen die Gabe göttlicher Repräsentation zuteil wurde – ein Grund nicht zuletzt dafür, dass ihm in der symbolischen Ordnung der sowjetischen Schriftwelt der Status eines ultimativen Autors, der für die zahlreichen Schlüsseltexte jener Zeit Urheberschaft zeichnete, gebührte. Von nun an hatte das Schreiben gegenüber dem Lesen Priorität und stand in der Wertehierarchie höher als dieses; Schreiben implizierte in umfassendem Sinne auch die Genese von Entwicklungspläne und wurde als ein Mittel für radikale Umgestaltungen gesehen. Die oben ins Spiel gebrachte Mosesgeschichte erhellt darüber hinaus noch einen weiteren Befund, denn sie artikuliert vor allem eine hierarchische Kosmologie. Moses erhielt das Gesetz (von Gott) auf einem Berg (Zion), dann stieg er herab und brachte es den Menschen. In der stalinistischen Kultur findet sich nun gleichfalls eine hierarchische Kosmologie, die sich sowohl in der Horizontalen als auch in der Vertikalen ausformt. In ihrer horizontalen Dimension lässt sich die räumliche Hierarchie in einer Serie von konzentrischen Kreisen beschreiben, ähnlich der Schachtelung einer 17

Die Sowjetkultur machte generell einen Unterschied zwischen Sprache und Rhetorik, wobei Trockij als der Held der Letzteren gesehen wurden. Zum Beispiel gab es viele positive Helden, die explizit als „arm an Worten“ gekennzeichnet wurden, wenn man sie darum bat, zu sprechen.

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Matrjoschka-Puppe: Den Außenrand bildet das Land als Ganzes (die Peripherie), den ersten inneren Kreis Moskau, gefolgt vom Kreml. In ihm befindet sich schließlich ein letzter innerer Kreis, der von Stalins Studierzimmer gebildet wird. Diese Struktur gleicht dem von Benedict Anderson in Imagined Communities am Beispiel eines „Königreichs“ beschriebenem vertikalen Hierarchiegefüge, in dem – vergleichbar dem Kreml – „alles um ein höheres Zentrum herum organisiert“ ist. „Seine Legitimation leitet sich von der Göttlichkeit her und nicht von den Einwohnern, die hier nur als Subjekte fungieren, nicht als Bürger.“18 Anders als diejenige Moses’ entstammte Stalins Autorität selbstredend eher säkularen Quellen. Im Unterschied zu ihm hatte er keinen Berg, auf dem er Gott begegnen konnte. Allerdings fungierte Stalins Studierzimmer im Kreml nachgerade in der Hagiografie effektiv als jener sakrale Raum, in welchem er Zutritt zu den höheren Formen erfuhr. Stalins Schreiben fand im Kreml statt, in einem von Mauern umgebenen, abgetrennten Raum. Diese Separierung förderte seinen Status als ontologisch unterschiedlicher, autonomer Raum, in dem „kein ausströmendes Subjekt“ agierte, sondern ein in sich selbst ruhender Schreiber, der er nicht in der Tradition eines demokratischen Führers stand.19 Selbst auf Darstellungen, die Stalin auf einem Podium stehend zeigen – das heißt außerhalb des Kremls, im profanen demokratischen Raum –, taucht er generell nicht als Sprechender auf, sondern als eine Person, die ein Schriftstück in den Händen hält oder dieses jemand anderem übergibt, als solle dieser ihm mündlich daraus vortragen (so etwa auf G. Šegal’s häufig in Anthologien abgedrucktem Gemälde Führer, Lehrer Freund/Vožd’, učitel’, drug von 1937). Die Präsentation der Überreichung eines Textes aus der Hand Stalins symbolisierte sehr wirksam die enge Verbindung zwischen Führer und gemeinem Mann, welcher eigentlich in einer anderen Zeitebene lebte.20 18 19 20

Anderson, Benedict: Imagined Communities: reflections on the origins and spread of nationalism. London 1991, 19. Jampol’skij, Michail: Zametki ob ikonoborčestve i vremeni. In: Elementa. 1, 6-7. Vgl. das Gemälde von G. M. Šegal’ aus dem Jahre 1937 Vožd’, učitel’, drug., I. V. Stalin na II s’’ezde kolchoznikov-udarnikov v fevrale 1935 goda. In: Gasner, H./Petrova, E. (Hrsg.): Agitacija za sčast’e. Sovetskoe isskustvo stalinskoj ėpochi. Bremen 1994. Freilich existieren in den visuellen Darstellungen der gewöhnlichen Menschen generell wenig Zeichen, die auf Bücher oder Schreiben hindeuten würden, wobei jene Szenen eine Ausnahme darstellen, in denen diese Menschen in Zusammenhang mit Stalin gezeigt werden. Auf diesen Gemälden oder Plakaten gibt es oft einen handgeschriebenen oder gedruckten Text, wie zum Beispiel einen Brief, den sie an Stalin geschrieben haben (manchmal werden sie auch beim Abfassen gezeigt, in solchen Fällen ist Stalin nur als Implikation präsent wie in V. N. Jakovlevs Starateli pišut pis’mo tvorcu velikoj Konstitucii von 1937.

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Dass Stalin auf diversen Bildnissen typischerweise eher in Verbindung mit Texten als mit der Redekunst gezeigt wird, rührt eben daher, dass er als Quelle des Wortes und als Autor der Autoren fungierte.21 Hätte man ihn dargestellt, wie er von seinem Podium aus die Menge mit feurigen Reden anspricht, wäre dies der Form nach dem Agieren eines demokratischen Führers gleichgekommen, der sich seiner Autorität und Legitimation stets im weltlichen Modus politischer Akklamation rückversichern muss. Doch war Stalin natürlich nicht die Quelle aller Worte. Er war der Ursprung des sakralen Wortes, des Wortes, das nicht umgangssprachlich und nicht vergänglich ist. Das Vorurteil, dass Schreiben wahr sei und Sprechen nicht, findet sich bereits in der Antike. Obwohl Plato selbst in Opposition zum Schreiben stand und orale Formen bevorzugte, eignen dem Schreiben zahlreiche Attribute der Platonischen Idee. In der bolschewistischen Literatur der 1920er Jahre finden sich wiederholt Passagen (vor allem in proletarischen Romanen), in denen die von Herzen kommende mündliche Äußerung eines Arbeiters als authentischer angesehen wurde als die aufpolierte Buchsprache des Gebildeten, aber dieser Trend wurde in den 1930er Jahren bereits mit der nun einsetzenden Manie für das geschriebene Wort überholt. Seit dieser Zeit lässt sich die Herausbildung einer Hierarchie beobachten, die sich in Fragen danach zu erkennen gibt, wer Zugang zu schriftlichen Dokumenten hatte und wer nicht, und wer vor allem die Möglichkeit oder das Recht hatte, ihren Inhalt zu kontrollieren. Insbesondere bei der Beantwortung der letzten Frage stößt man auf ein Rankingsystem, das auf der untersten Ebene mit einfachen Schriftstücken beginnt und bis zu den höheren Stufen der Autor- bzw. Herausgeberschaft reicht, inklusive der Ausübung von Zensur, die in diesem System nur eine andere Version von Autorschaft darstellte. Ramas Überlegungen zur Schriftkultur (lettered culture) zeigen eindringlich, wie stark die symbolische Geografie eines Landes mit der in der Schriftkultur existierenden Hierarchie verbunden ist. Dementsprechend, so lässt sich in Anlehnung an die Ausführungen Ramas sagen, nahm Moskau, in der neuen symbolischen Geografie einen Platz ein, der dem Stalins – oder, weiter gefasst, dem der Führung – analog war: einen Platz vis-à-vis der Bevölkerung; oder noch weiter gefasst, vis-à-vis der ganzen Welt. Moskau war als literalisierte Stadt ebenso zeichenhafter Text wie auch der Ort, an dem autorative Texte generiert wurden.

21

Jampol’skij schreibt: „[…] in Darstellungen Stalins löst das Denken die mündliche Rede ab.“ (Jampol’skij, M.: Zametki ob ikonoborčestve i vremeni. In: Elementa, 1, 108). Ich würde allerdings behaupten, dass es eher Texte waren als speziell das Denken.

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Das neue Moskau Als auf dem Juniplenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei von 1931 eine Resolution mit Richtlinien für ein neues Projekt zum Umbau Moskaus verabschiedet wurde, erhielt dieses Vorhaben große Priorität. Mit der zeichnerischen Konstruktion begann man sehr rasch, wiewohl der Generalplan für die Stadt nicht vor 1935 vorlag. Es wurden gigantische Architekturbüros unter Leitung führender Architekten gegründet, wobei jedes einzelne von ihnen für ein entsprechendes Bauwerk oder einen Architekturkomplex verantwortlich war.22 Im Jahre 1932 arbeitete man bereits an den Metrotunneln (der erste Abschnitt wurde im Mai 1935 eröffnet) und an einigen großen Wohnkomplexen wie auch an verschiedenen Hauptgebäuden, beispielsweise jenen wie Žoltovskijs Palladien-Palast oder dem Hotel Moskau. Mit Fortschreiten des Projekts wurden Straßen begradigt und erweitert sowie zahlreiche Bauten zerstört, um einerseits den Straßenverkehr zu erleichtern, andererseits die Plätze der Stadt zu vergrößern, um somit den Panoramaeffekt der Stadtlandschaft zu erhöhen. Große Aufmerksamkeit kam auch der Modernisierung der Wasserstraßen der Stadt zuteil, indem man granitene Uferanlagen, Brücken und den Moskau-Wolga-Kanal konstruierte. Des Weiteren wurden Pläne auch für den Umbau anderer bedeutender sowjetischer Städte angekündigt, der bekannteste davon war jener zur Neugestaltung Leningrads, das seinen Generalplan ebenfalls im Jahre 1935 erhielt. Nichtsdestotrotz war es aber Moskau, die als Hauptstadt des Landes am meisten von den Umbaumaßnahmen profitierte. Das Ziel bestand allerdings nicht nur darin, Moskau gemäß dem Erscheinungsbild einer wichtigen europäischen Großstadt der Nachkriegszeit zu modernisieren. Moskau sollte im Sinne einer modernen Stadtkonzeption, die als Vorlage für eine neue kulturelle Ordnung diente, remodelliert werden Als Hauptstadt der fortschrittlichsten Gesellschaft der Welt sollte es die Stadt der Welt werden, Zentrum und Sinnbild eines neuen Glaubenssystems mit universellen Ambitionen – und nach und nach den von den faschistischen Diktatoren entworfenen neuen Stadtbildern Berlins und Roms den Rang ablaufen. Wie aber ließ sich dann das neue Moskau als spezifisches Modell einer „sozialistischen Stadt“ überhaupt noch von anderen in Westeuropa nach ähnlichen Prinzipien umgebauten Städten unterscheiden? Und wie konnte ein Bauwerk oder eine Stadt als Exempel für die Überlegenheit des MarxismusLeninismus dienen, wenn ein ähnlicher Plan überall in einem kapitalistischen oder vorkapitalistischen Staat angewandt werden konnte? Als besonders problematisch erwies sich zudem, dass der Generalplan zur Umgestaltung Moskaus auf eine nichtindustriell geprägte Architektursprache setzte: Indust22

Organizacija architekturnoj planirovočnoj raboty (ed.). In: Architektura SSSR. 5 (1933), 3.

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riebetriebe wurden im Zentrum verboten und auch große Wohnkomplexe sollten hier reduziert werden,23 wobei der Planung von Arbeitersiedlungen und Kulturhäusern im Ganzen weit weniger Aufmerksamkeit beigemessen wurde, als das noch während der Kulturrevolution der Fall gewesen war. Moskau, so sahen es seine Entwickler, konnte jede rivalisierende Hauptstadt der Welt überragen, weil es – und das war das am stärksten in den Vordergrund gerückte Argument – eine geplante Stadt war, keine, die chaotisch gewachsen war, wie die kapitalistischen Hauptstädte, wo alles den Börsenschwankungen unterworfen war. Ein zentraler Bestandteil des Plans war die Zerstörung der zahlreichen Moskauer Kirchen und anderer religiöser Plätze, um dadurch die Stadt zu säkularisieren, wozu eben auch gehörte, dass man – wie oben bereits erwähnt – selbst noch die letzte Spur des Strastnoj-Klosters beseitigte. Allerdings wurden zusammen mit den religiösen Monumenten auch viele „kapitalistische“ Bauten zerstört (oder in andere Nutzung überführt), so allen voran die Wechselbörse, Bankgebäude oder die Läden kleinbürgerlicher Händler.24 Offizielle Berichte hoben hervor, wie die Planer daran gingen, die Stadt vom Durcheinander der kleinen Bauten (melkie stroenija) zu befreien, womit man nicht etwa Bauten meinte, die buchstäblich klein waren, sondern solche, die mit den Kapitalisten und der kleinbürgerlichen Welt verbunden waren, wozu Kioske, Marktstände, kleinere Läden und Betriebe gehörten. Diese wurden gemeinsam mit alten Kirchen und anderen historischen Bauten (Türmen, Mauern, Stadttoren) der Zerstörung preisgegeben, welche die offiziellen Redner als mit einem zweifelhaften und beschränkten Sinn verbunden ansahen und die oft, als ob es eine Bestätigung wäre, zu Verkehrshindernissen wurden oder das Straßen- bzw. Parkensemble, auf dem sie sich befanden, verunzierten. Sie sollten durch lange, gerade Straßen, Granitgebäude und riesige, nicht chaotisch angelegte Parks ersetzt werden. Als man die weitläufigen neuen Ensembles plante, zählte zu den wichtigsten Kriterien der sozrealistischen Architektur Moskaus, dass sie in ihrem gesamten Erscheinungsbild einfach (prost) und verständlich (ponjaten) waren. Einfachheit bedeutete, ganz im Sinne einer literalisierten Städteplanung: ein Maximum an Lesbarkeit, gepaart mit einer maximalen (machtvollen und überzeugenden) Wirkung auf die Einwohner. Auf diese Weise wurde das Äußere eines Gebäudes zu einem lesbaren Text, zu einer Art „Gesicht. In einer Gesellschaft, die trunken war von kodifizierter Repräsentation, war die Außenwand bzw. Fassade eines Gebäudes das der äußeren Welt zugewandte Gesicht, das maximal lesbar war, ein Grund, warum die maßgeblichen Red-

23

24

Praktičeskie meroprijatija po ulučeniju i razvitiju moskovskogo gorodskogo chozajstva. Postanovlenie Moskovskogo oblastnogo i gorodskogo sovetov VKP(b). In: Pravda. 25. Juni 1931 goda, 3. Leonov, L.: Padenie zarjada. In: Moskva. Sbornik. Moskau 1935.

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ner keine blanken Fassaden-„Gesichter“ wollten, die so typisch waren für die „neue Architektur“ des Internationalen Stils (International Style). Viele der neuen Gebäude vereinigten in sich darüber hinaus zwei wesentliche Funktionen der sozrealistischen Architektur, die einerseits praktisch gestaltete Büroblöcke mit modern ausgestatteten Wohneinheiten vorsah, andererseits aber mit dem rhetorisch zu konnotierenden Plan einer radikalen Transformation des Raumes aufwartete, was bedeutete, dass Innen und Außen gewissermaßen miteinander die Plätze tauschten. Mit anderen Worten: Der sakrale Raum befand sich nun nicht mehr im Inneren des Gebäudes (wie dies etwa für Tempelbauten charakteristisch ist), er verlagerte sich nach außen. In der stalinistischen Architektur besaß das Innere typischerweise eine banale und profane Funktion, während das Außen eine rhetorische, sakrale Funktion innehatte25 (mit Ausnahme allerdings von Stalins Studierzimmer, das sich als abgeschlossener und sakraler Raum weiterhin im Inneren des Kreml befand). Ein zusätzlicher Aspekt bei der neuen Betonung der Fassade war die Ablehnung all dessen, was auch nur einen Anflug von Innerlichkeit aufwies. Intimität (intimnost’) wurde zu einem negativen Begriff in der Architektenpresse, der oft in einen Gegensatz gebracht wurde zur Staatsbürgerlichkeit (graždanstvennost’).26 Die neuen Gebäude waren innerhalb eines semiotischen Systems kodiert und ihre Funktion war sowohl ästhetisch wie vor allem „diskursiv“.27 Kein dekoratives Detail, auch nicht die kleinste Einzelheit konnte für zufällig oder politisch neutral gehalten werden. Anders gesagt, was die Dekoration an der Oberfläche aussagte, war weniger kritisch als die Interpretation ihrer Bedeutung. In dem Maße, wie Architektur und Literatur in diesem Jahrzehnt konvergierten – wobei die Literatur die führende Rolle übernahm –, verlieh eine exemplarische Biografie, die dem Zusammenspiel von Literatur und Ideologie entstammte, der Architektur einen wirkungsvollen Sinn – machte diese „sozialistisch-realistisch“. Der Roman bekam mit der Zeit seine eigene Morphologie symbolischer Formen und wurde systematischer ausgearbeitet als früher, was der Kodierung der Meistererzähler des Marxismus-Leninismus diente. Genauso wie ein Gebäude kein „zufälliges Gesicht“, keine zufällige Fassade haben durfte, so durften auch Romane nicht als „zufällig“ zusammengestrickt wirken.

25 26 27

Unverkennbar gab es auch einige hoch sakralisierte Innenräume, wie bemerkenswerterweise die Innenausstattung des geplanten Palasts der Sowjets. Vgl. Grabar’, I.: Aktual’nye zadači sovetskoj skul’ptury. In: Iskusstvo. 1-2 (1933), 156; Akademik architektury A. V. Sčusev. In: Iskusstvo. 4 (1934), 19. Martin Jay In: Scott Lash, M./Friedman, J. (eds.): Modernity and Identity. Oxford 1991.

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In den dreißiger Jahren zielte die Standardanleitung, wie die Gesellschaft sich zum Kommunismus hin entwickeln sollte (eine Anleitung, die auch die meisten literarischen Arbeiten, Filme sowie den Journalismus und die Parteirhetorik inspirierte), auf eine Ausarbeitung des Begriffs „Dialektik“, der nun allerdings nicht so sehr auf die Klassen bezogen war, sondern vielmehr auf das Verhältnis von Bewusstsein (soznatel’nost’) und Spontaneität (stichijnost’). Diese Begriffe spielten eine zentrale Rolle in der leninistischen Auslegung des Marxismus, angefangen mit Lenins programmatischer Schrift Was tun? (Čto delat’?) aus dem Jahre 1902. Spontaneität steht hier für Aktionen, die von undisziplinierten und nicht den Prinzipien des MarxismusLeninismus und der Parteiführung untergeordneten Gruppen oder Individuen ausgeführt werden. Dem Meistermodell der Geschichte entsprechend entwickeln sich die Gesellschaft und die Individuen generell von einer Ebene (auf der all ihre Aktionen ihrer Natur nach primär spontan sind), über Ebenen eines breiteren Bewusstseins hin zu jenem ultimativen Punkt (dem Stadium des Kommunismus), an dem alle Handlungen vom Bewusstsein geleitet werden; dies aber mit einer „Form“ von Bewusstsein, die sich nicht im Konflikt befindet mit einer höheren Form von „Spontaneität“, die schließlich sowohl die Gesellschaft als auch die Bürger erreichen werden. Die Pläne zur Umgestaltung Moskaus wurden durch die Meistererzählung eines historischen Fortschritts modelliert, der sich darstellte als ein Prozess, der die Bürger und die Nation als Ganzes zu einem immer höheren Bewusstseinsgrad führen sollte. Die Resolution Über den Generalplan zur Rekonstruktion Moskaus aus dem Jahre 1935 beginnt bezeichnender Weise mit dem Wort Spontaneität (stichijnost’), genutzt als ikonische Charakterisierung der alten Stadt. In dieser Quelle wie auch in der Resolution von 1931 und in vielen offiziellen Reden und Artikeln, welche im Zusammenhang mit dem Projekt entstanden, wurde als Ziel des Aufbaus des neuen Moskaus artikuliert, das alte Moskau – das explizit als spontan, d.h. als willkürlich entstandenes (proizvol findet man an einigen Stellen28), zufälliges, schlecht geplantes, alogisch und ineffizient gestaltetes apostrophiert wird – zu einer neuen, bewusst geordneten Stadt zu machen. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, entwarf diese Dialektik von Spontaneität und Bewusstsein eine Meisterhandlung, welche die sozialistischrealistischen Romane inspirierte.29 Diese Meisterhandlung entwickelte ein Repertoire an Klischees, das die Schriftsteller nutzten, um ihre Romane mit dieser Meisterhandlung zu verbinden, unabhängig von deren subjektiven Inhalt. Die am häufigsten für die Preisung der Bauwerke genutzten Epitheta waren einfach (prostoj), streng (strogij), ernst (surovyj), enthaltsam (vyderžannyj), hell (svetlyj) und ruhig (spokojnyj). Diese Konventionen, die 28 29

Stepanova, V. (Hrsg.): Moskva rekonstruriruetsja. Moskau 1938, 1. Clark, K.: The Soviet Novel: History As Ritual. Bloomington 2000.

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Katerina Clark

für die Identifizierung des positiven Helden und besonders seines Mentors genutzt wurden, konvergierten mit Klischees, die in Standardberichten über den Aufbau Moskaus vorkamen, das nun selbst in das Korsett des marxistisch-leninistischen Geschichtsmodells eingeschrieben wurde. Um die neue Architektur Moskaus zu beschreiben, fanden praktisch dieselben Epitheta Verwendung, die in den stalinistischen Romanen dazu dienten, den positiven Helden als strahlendes Beispiel für „Bewusst-Sein“ zu identifizieren.30 Sowohl im Schreiben über die Architektur als auch in der fiktionalen Literatur wurde das Gesicht – das des Helden oder das der Fassade eines Gebäudes (welches nun oft mit einem personalen Gesicht (lico) in Zusammenhang gebracht wurde) – mit Hilfe der oben genannten Epitheta beschrieben. Der Held wurde zu einer Erscheinung der Oberfläche. Spezielles und Innerlichkeit wurden eliminiert. Wie die Stadt Moskau, so sollte auch das Individuum textuell transformiert werden. Es wurde ebenfalls zu einem Text mit keinerlei idiosynkratischem persönlichem Gedächtnis und Merkmalen; zu einem literalen Äquivalent „blauer Augen“ und „brauner Haare“. Das Innenleben der Menschen, ihre Gedanken, ihre Ziele, wurden nivelliert. Kehren wir an dieser Stelle zu dem Moment zurück, als im Jahre 1937 das Strastnoj-Kloster ausgelöscht wurde und an seiner statt das Puškindenkmal eine herausragende Bedeutung erhielt. Diese Geste könnte darauf hindeuten, dass im stalinistischen Russland die Literatur die Religion abgelöst habe. Im Endeffekt geschah aber etwas anderes. So wie die großen religiösen Systeme um einige biografische Erzählungen herum zentriert sind, erwies sich der Marxismus-Leninismus als dafür zu abstrakt und allgemein. Selbst in der Architektur stieß er als Modell für die neue Gesellschaft an seine Grenzen. Zwar konnte die Architektur des neuen Moskaus die Stadt effizienter und großartiger machen, wovon auch die Einwohner nicht unberührt blieben, doch bedeutete dies letztendlich nicht mehr als eine nur statische Organisation des materiellen Raumes. Es war die Literatur, welche die Abstraktionen und rationalen Parteibeschlüsse in narrativer Form mit Leben füllen sollte, um Beständigkeit zu suggerieren und den Status quo zu legitimieren. Die Hauptfunktion der Literatur zu jener Zeit war, Meistererzählungen für die Sowjetgesellschaft zu schaffen, eine Aufgabe, die sie umfassender und konsequenter ausübte als die Parteirhetorik, die Presse, die Parteimitglieder und Gelehrten oder die kulturelle Medien wie Film, Kunst etc. – wobei diese Erzählungen natürlich sehr eng mit der offiziellen Rhetorik und 30

An diesem Modell kann man auch sehen, wie die zentralen Kategorien des MarxismusLeninismus in die klischeehafte Opposition zwischen Moskau als Stadt der schmalen Gassen etc. und Petersburg als Stadt der breiten Prospekte eingeschrieben wurden. Hier ist diese Opposition zeitlich in das Muster „damals .../jetzt ...“ (alt/neu) bezogen und auf Moskau alleine fokussiert.

Moskau – Die literalisierte Stadt

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Ideologie verbunden waren. Der Sozialistische Realismus oder anders gesagt, die offizielle Literatur stellten die am ausführlichsten ausgearbeitete Version einer Modellbiografie bereit. Daher rührt die Wichtigkeit literarischer Konzepte hinsichtlich der Formierung von Identität in den dreißiger Jahren. Die erdichtete Biografie war eine Synekdoche für die nationale Biografie, für die Bewegung von Mensch und Nation durch die Zeit. Das „neue Moskau“ war mehr eine Synekdoche für die Nation im materiellen Sinne, für die Bewegung der materiellen Welt in der Zeit. In der stalinistischen Praxis konnte die dialektische Bewegung von Spontaneität zu Bewusstsein auf verschiedenen speziellen Ebenen ausgedeutet werden: als eine Biografie, als eine Geschichte der Nation, als eine Geschichte der Welt oder in der Angelegenheit, die uns hier betrifft, als ein Mythos über die Quellen für die neue Hauptstadt der neuen Nation. Man kann sonach das Zusammentreffen von der Gor’kijstraße mit dem Marxprospekt und der Leninallee als eine Art Hochzeitsfeier zwischen Literatur und Politik betrachten, die so entscheidend war für das Konzept einer literalisierten Stadt als Modell für eine neue Gesellschaft. Die einfachen Bürger wurden in riesige Projekte einbezogen, um sie dergestalt in die neue Gesellschaft einzuschreiben, damit sie ihre „eigenen“ vorgezeichneten Muster-Biografien schriftlich niederlegen konnten, wobei Stalin als der eigentlicher Autor fungierte, der – vor den Blicken der Öffentlichkeit versteckt – alles in seinem Studierzimmer plante und aufschrieb. Es handelte sich um ein totalitäres System, das durch einen Kult des Schreibens gestützt wurde. Literatur, Architektur und Politik, Phänomene dezidierter Schriftkultur, flossen in dem Projekt einer „neuen“ Stadt zusammen – eine Stadt, die verschriftlicht wurde, um gelesen werden zu können. Das Schreiben einer Stadt, das Schreiben einer Nation und das Schreiben des Subjekts waren alle in einem System koordiniert, dessen Sinnbild das neue Moskau war.

Übersetzung: Björn Seidel-Dreffke

T H O M A S L A H U S E N , R O B IN L A P A S H A , T R A C Y M C D O N A LD 1

Das Akkordeon Volkskultur als Klanggemeinschaft 1. Die Poesie der sowjetischen Provinz: Von der AkkordeonDebatte zu Igor’ Savčenkos Film Das Akkordeon (Garmon’) Das russische Akkordeon ist deutscher Herkunft Es erwies sich bei uns Nicht als Akkordeon, sondern als musikalischer Schädling У русской гармошки – немец родитель И у нас оказалась она Не гармонь, а музыкальный вредитель

Diese Zeilen bilden den Hauptstrang eines Gedichts von Dem’jan Bednyj, das am 19. Dezember 1926 in der Izvestija erschien. Die Zeilen waren die Antwort auf Das Akkordeon: Ein Gedicht, das zweieinhalb Monate zuvor in der Komsomol’skaja pravda von dem jungen Komsomol-Dichter Alexandr Žarov erschienen war.2 Bednyj bezieht sich auf eine Anzeige, die im 18. Jahrhundert bzw. im Jahre 1798 in Vedomosti erschienen war und die Öffentlichkeit einlud, ihre Freizeit bei dem Akkordeonkonzert eines Fräuleins (devica) namens Kirchgestner aus Berlin zu verbringen. Das Akkordeon, schreibt Bednyj, sei fremder Herkunft und typisch für die feudale Vorzeit. Glücklicherweise würde das Instrument mit dem ökonomischen Wachstum der Sowjetunion und dem unvermeidlichen kulturellen Wachstum der Bevölkerung obsolet werden. Zunächst, so schlägt er vor, könne man den ausländischen Import durch das seit Urzeiten russische Saiteninstrument Gusli ersetzen.3 Sechs Tage später startete Bednyj den nächsten, diesmal boshaften Angriff auf Žarovs Gedicht, abermals in der Izvestija. Für Bednyj war das Akkordeon ein Symbol seiner eigenen bäuerlichen Herkunft, von der er nun glücklicherweise befreit war. Er assoziiert das Instrument mit einer ganzen Reihe von Missständen: dem wilden Lärm und den derben Reden bei den Dorfzusammenkünften, den „posidelki“; der Kuh, die Timoška in der Kneipe 1 2 3

Tracy McDonald verfasste den Abschnitt zur Komsomol’skaja pravda-Debatte, Thomas Lahusen zum Film, Robin LaPasha schrieb den Abschnitt Welches Akkordeon? Žarov, A.: Garmon’. Poėma. In: Komsomol’skaja pravda (1. 9. 1926), 2. Bednyj, D.: Garmon’ ili delo ot bezdeljia. In: Izvestija (19. 12. 1926), 4.

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Thomas Lahusen, Robin LaPasha, Tracy McDonald

vertrinkt; dem Dorfbewohner Ermoška, der gleich sein ganzes Leben versäuft; den Mördern und Dieben in ihren Verstecken; dem antisemitischen Pogrom; der zaristischen Front, an der Millionen in die Gräber geschickt wurden; den „Helden“ von der Čubarov-Allee. „Müssen wir in Europa – fragt Bednyj seine Leser –„Kommunisten rekrutieren, / Um ihnen unsere prämierten Akkordeonspieler vorzuführen?“ (My l’ v Evrope načnem verbovat’ kommunistov, / Premirovannych im pokazat’ garmonistov?), und parodiert Zeilen von Žarovs Gedicht: „Akkordeon, Akkordeon, betrunkener Seufzer! / Ich werde ihm nicht den Boykott erklären“ (Garmon’, garmon’, pjannaja ikota! / Ja ne ob’javljaju ej bojkota). Bednyj zufolge drückte das Akkordeon das niedrige Niveau der sowjetischen Kultur aus. „Die volkstümlichen Streichersymphonien und -fugen fehlen“ (Net narodnych skripičnych simfonij i fug). Er drängt seine Landsleute, der Musik des Kraftwerks Volchovstroj4 zuzuhören und nicht den jämmerlichen Akkordeon-Wettbewerben in Moskau: „Dort singen Turbinen an einer gigantischen Wand,/Hier klingen die ungeschickten Lieder der kulturellen Rückständigkeit“ (Tam – turbiny pojut na gigantskom valu / Tut – bezdarnye pesni kul’turnoj ostalosti). Der Tag werde kommen, schreibt Bednyj, an dem das Akkordeon ein Ausstellungsstück im „Museum des Alltagslebens wird“.5 Žarov antwortete Bednyj am 28. Dezember: „Du beschuldigst unsere Komsomol-Musikanten, als ob sie eine Bande weißer Emigranten seien.“6 Die Komsomol’skaja pravda veröffentlichte einen „Offenen Brief an Dem’jan Bednyj“, ausgewählt aus „mehreren hundert empfangenen Briefen“an die Redaktion, die alle Žarovs Garmon’ verteidigen.7 Offensichtlich ließen die entsprechenden „Organe“, in denen die Dichter publizierten, Komsomol’skaja pravda und Izvestija, ihre eigenen Kämpfe über Stellvertreter austragen. Ihre Gedichte, Briefe und Antworten waren Teil der „AkkordeonDebatte“, die im Frühjahr 1925 begann. Die Debatte selbst war Teil des Aufrufes, sich dem „Dorf zuzuwenden“ (licom k derevne), die Grigorij Zinov’ev 1924 initiiert hatte, indem er die Notwendigkeit betonte, dieses zu großen Teilen unbekannte Territorium in Bezug auf die Diskussionen um die erste ökonomische Krise der NĖP zu verstehen. Ist das Akkordeon ein hoffnungsloses Relikt der Vergangenheit, assoziiert mit Trunkenheit und Rückständigkeit, oder kann es als nützliches Werkzeug in der bolschewistischen kulturellen Bildungs- und Zivilisierungsmission genutzt werden? Dies war der Kern, um den sich die Debatte drehte.

4 5 6 7

Das V. I. Lenin Volchovskaja GĖS war das erste regionale Wasserkraftwerk, das in der Sowjetunion von 1918 bis 1927 am Fluss Volchov gebaut wurde. Bednyj, D.: Muzyka prošlogo. Ešče raz pro garmošku. In: Izvestija (25. 12. 1926), 3. „И нашу комсомольскую гармоньку / Клянешь, как шайку белых эмигрантов?“ Žarov, A.: Otvet Dem’janu Bednomu. In: Komsomol’skaja pravda (28. 12. 1926), 2. Otkrytoe pis’mo Dem’janu Bednomu. In: Komsomol’skaja pravda (22. 12. 1926), 4.

Das Akkordeon

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Aleksandr Žarov vertrat die letztere Position. Sein Gedicht beginnt mit einem Prolog, der das Akkordeon feiert. Es besinge nicht nur das russische, sondern auch das sowjetische Land. Das Akkordeon könne nicht nur die Liebe eines Jungen zu einem Mädchen vertonen, die Tragödie der Einberufung der Soldaten oder die Mischung aus Gelächter und Tränen trunkener Dorffeste, sondern auch die enthusiastischen Lieder der Komsomol über die neue Ordnung, „den Traktor, die Allianz (smyčka) zwischen Arbeitern und Bauern und den Dorf-Korrespondenten (sel’kory)“. Timoška, der Akkordeonspieler des Dorfes und Held des Gedichts, der zufällig gleichzeitig der lokale Vorsitzende des Komsomol und ein Mitglied des Dorf-Rates ist, erfährt einen qualvollen inneren Konflikt zwischen seiner Liebe zu seinem Akkordeon, dem Schlüssel zum Herz seiner Freundin Marusja und seinen offiziellen Pflichten. Um mit seinem Konflikt umzugehen, erinnert sich Timoška, dass „Liebe nicht wie Kartoffeln ist, man kann sie nicht mit einem Mal ausreißen.“ Er beschließt, „seiner Entscheidung treu zu bleiben“ (No vse ž rešil / Komsomolist Timoška / Ne ėtot raž / Postavit’ na svoem!), seine wichtigen politischen Verpflichtungen einzuhalten und sein Akkordeon in der Scheune zu vergraben. Ein Akkordeon ist ja … nur ein Vorurteil (Čto takoj vobšče [sic] garmon’? / Prosto ... predrassudki), denkt Timoška, als er seinen Antrag an das Distrikt-Komitee des Komsomol sendet, in dem er verspricht, gewalttätige Dorffeste durch disziplinierte Studien und Vorträge zu ersetzen. Als die Mädchen des Dorfes ihn stellen und ihn beschuldigen, „sich von der Masse abzusetzen“ (otorvalsja ot mass) und seinen Verstand verloren zu haben, antwortet er, dass ihre „Gehirne repariert werden müssen“ (Tam zaimemsja my vser’ez / Mozgovym remontom) und, dass jede von ihnen ein „Mädchen mit Horizont“ (Devkoj ... c gorizontom) sein solle. Während sich die Mädchen fragen, wie sie Timoška von seiner Bürokratenkrankheit befreien sollen, taucht ein weiterer Akkordeonspieler auf: Antip, der mit Kupfernägeln besohlte Stiefel und einen neuen Mantel trägt. Die Lieder, die er spielt, handeln von Brautwerbung, Vodka „und ähnlich veralteten Dingen“, die Marusja missfallen. In der Zwischenzeit hat Timoška einen Brief des Distrikt-Komitees erhalten. Es stellt sich heraus, dass er sich geirrt hat. Das Akkordeon stellte kein Problem dar. In der Tat ist „das Akkordeon im Dorf eine große Kraft, wenn es in deinen Händen ist“ (na sele garmon’ – bol’šaja, / Kogda garmon’ / V svoich rukach). Verwirrt und beschämt eilt er zur Scheune, um sein Akkordeon wiederzuholen und trifft unterwegs auf Marusja, die ihn um Hilfe bittend sucht. Antip und seine Freunde stellen das Dorf auf den Kopf und heben den Mädchen die Kleider hoch. „Hol ein Gewehr, Komsomol!“ (Zastupisja, Komsomol!), sagt Marusja. Aber Timoška weiß es besser: die Musik seines Akkordeons bringt den Teufel Antip zum Schweigen und leitet die Jugendlichen des Dorfes zum Internationalen Tag der Jugend. Sie werden gemeinsam mit den Wäldern die Internationale singen. Das Gedicht endet mit dem „richtigen“ Refrain:

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Thomas Lahusen, Robin LaPasha, Tracy McDonald

Akkordeon, Akkordeon! Geliebtes Zuhause! Poesie Der sowjetischen Dörfer! [...] Гармонь, гармонь! Родимая сторонка! Поэзия Советских Деревень! […]

Igor Savčenkos Film Das Akkordeon basiert auf Žarovs Gedicht und teilweise auf seiner Dramatisierung, die Žarov 1927 gemeinsam mit dem Dichter Ivan Molčanov für Agitationsbrigaden, das Theater der Jungen Arbeiter (TRAM) und andere Amateur-Gruppen geschaffen hat. Das Akkordeon war die erste musikalische Komödie der Sowjetzeit und kam ein paar Monate vor Grigorij Aleksandrovs Frohe Gesellen (Veselye rebjata) heraus. In den acht Jahren, die seit der ersten Veröffentlichung des Gedichts vergangen waren, hatte sich die politische und künstlerische Landschaft der Sowjetunion dramatisch verändert. Als die Geschichte von Timoška und seinem Akkordeon die Leinwand erreichte, hinkte sie formell und inhaltlich deutlich hinter der neuen Realität hinterher. Wie wir sehen werden, gefiel der Film weder Stalin noch anderen Mitgliedern des Politbüros, die an den Vorführungen im „Kino des Kremls“ teilnahmen. Nicht das Akkordeon, sondern die Debatte selbst war 1934 in Verruf geraten. Das Akkordeon war zwar weiterhin Symbol und Teil der Arbeiterklasse und des Dorflebens, aber der Vorschlag, dass die Partei es brauche, um mit den Massen zu kommunizieren, war nicht mehr populär. Der Film Das Akkordeon war zu tief in dieser Überzeugung und in den Vorstellungen der 1920er Jahre verwurzelt. Um mit Žarovs eigenen Worten vom Ersten Kongress der Sowjetischen Schriftsteller 1934 zu sprechen, war Savčenko einer dieser „Dichter […], die sich als unvorbereitet für die volle poetische Erfassung der heroischen Komplexität und gleichzeitig strahlenden Einfachheit der nahenden Realität erwiesen.“8 So verschwand sein Film Das Akkordeon aus dem offiziellen Repertoire und wurde vergessen. Was das Instrument selbst angeht, so konnte das Akkordeon noch immer seine Melodie der „revolutionären Romantik“ spielen, aber es erreichte nie den „symphonischen“ Glanz von Aleksandrovs oder Pyr’evs sozrealistischen musikalischen Komödien.

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„[…] оказались неподготовленными к полноценному поэтическому восприятию всей грандиозной сложности и вместе с тем ослепительной простоты наступившей действительности.“ Pervyj vsesojuznyj s’’ezd sovetskich pisatelej 1934. Stenografičeskij otčet. (Moscow: GIChL, 1934), 537.

Das Akkordeon

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Savčenkos Film musste auf das digitale Zeitalter warten, um wieder aufgelegt werden zu können. Er erschien 2007 als DVD der Mastera kinoKollektion im Handel, herausgegeben von der Moskauer Firma Vostok.9 Das Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist es, dieses Meisterstück des sowjetischen Kinos zu würdigen, indem wir den historischen Kontext des Films, in dem das Akkordeon – um eine Aussage des Films zu paraphrasieren – „als Klasse liquidiert wurde“, untersuchen und der filmischen und musikalischen Komplexität Tribut zollen.

2. Die Akkordeon-Debatte Anfängliche Referenzen auf das Akkordeon, die garmoška, aus dem Frühjahr 1925, in Artikeln wie Die Stimme des Dorfes (Golos derevni) versteckt, bedauerten die Zusammenkünfte von Männern und Frauen auf Waldlichtungen (na lužajke), um sich dem „traurigen Klagen“ (tosklivye i protjažnye) von „alten Dorfliedern“, wie beispielsweise das auf der garmoška gespielte „Es gab einst frohe Tage“ (Byvali dni veselyje), hinzugeben.10 Sehr schnell jedoch, bereits im Juli 1925, beeilten sich Autoren in der Komsomol’skaja pravda die garmoška zu verteidigen, indem sie argumentierten, das Akkordeon sei auf dem Land so beliebt, dass es dem Komsomol bei der Arbeit behilflich sein würde. Auch kleinere Erzählungen erschienen, wie die von Petja dem Schuster (kustar-sapožnik), der ohne sein Akkordeon vor Einsamkeit und Langeweile sterben würde, weil „nicht ein einziges Mädchen sein pockennarbiges, mit einer Stupsnase und ein paar vollkommen farblosen Augen ausgestattetes Gesicht“ ansehen würde (Ni odna devka ne zasmotrelas’ by na ego rjabovatoe lico, ukrašennoe kurnosym da paroj soveršenno bezcvetnych glas.) Aber da hilft die garmoška (no garmoška delaet svoe delo): Er legt seine Werkzeuge nieder, setzt seinen Hut in forschem Winkel auf, geht mit seinem gürtellosen Bauernhemd, grau wie sein Haar, die Straße hinunter und klimpert auf seinem Akkordeon. [...] Und junge Männer und Frauen nähern sich ihm, schenken ihm ein Lächeln, Äpfel, Sonnenblumensamen oder ähnliche weibliche Süßigkeiten.11

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Bei dem 63. Filmfestival in Venedig 2006 wurde Garmon’ als Teil eines Spezialprogrammes mit dem Titel Die geheime Geschichte des sowjetischen Kinos aufgeführt. Čichačev, P.: Golos derevni (Bytovye očerki). In: Komsomol’skaja pravda (31. 5. 1925), 3. „Петька, заложив на бок фуражку, без пояса, в серой, как его волос, толстовке идет по улице, тилиликая на гармошке. [...] Двигаются к Петьке, угощают улыбками, яблоками, семечками и прочими девичьими сластями.“ Jarovoj, M.: Garmoška. In: Komsomol’skaja pravda (20. 8. 1925), 4.

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Wenn es Feldarbeit zu erledigen gilt, ist es fast unmöglich für den Komsomol, die jungen Menschen dazu zu bewegen, an den abendlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Auch hier kommt die garmoška zu Hilfe, und Pet’ka spielt so gut, dass sogar die alten Frauen, wenn sie abends nach Hause zurückkehren, auf dem Weg einen gopak tanzen. Der Komsomol-Sekretär zermartert sich den Kopf darüber, wie er die jungen Menschen dazu bringen soll, in den Klub zu kommen, aber sobald die garmoška spielt, versammeln sie sich wie „die Motten am Kerzenlicht“ (slovno babočki na svet). Komsomol-Männer und -Frauen sowie nicht der Partei angehörige Jugendliche überfüllen den Klub, hören zwei Stunden lang den Diskussionen und Lesungen zu und verlassen dann zur Musik der garmoška den Klub und plaudern über das, was sie gehört haben. Die Debatte wurde mit der Zeit weiterentwickelt und ausgebaut. Diejenigen, die das Akkordeon unterstützten, verteidigten das Bedürfnis und Recht der Dorfbewohner auf Entspannung, räumten aber ein, dass die Entspannung neuer, revolutionärer Formen bedürfe. Ein Mitarbeiter berichtete, dass in vielen Dörfern der Ukraine sich nur sehr wenige Jugendliche von der Arbeit des Komsomol angezogen fühlten. Er beschwerte sich, dass diejenigen, die bereits im Komsomol seien, Meetings ablehnten, die die ganze Nacht dauerten und in manchen Fällen versuchten, sie als kleinbürgerlich zu verbieten. Sie seien zu ernst (sliškom ser’ezničajut) und schreckten die Jugendlichen von den Komsomol-Einheiten ab. Man müsse sich den Dorfjugendlichen mit mehr als nur Zeitungen und politischen Traktaten nähern, die selbst viele Komsomol-Mitglieder noch nicht bewältigt hätten. Die Bauern müssten nach einem langen Arbeitstag ausruhen. Und sie bräuchten Unterhaltung. Doch diese Unterhaltung könne natürlich nicht in altem Stil aus Küssen und Trinken bestehen, sondern sollte zu den Melodien der neuen revolutionären Lieder über den Bürgerkrieg und zu den častuški von Dem’jan Bednyj stattfinden.12 Ein Befürworter des Akkordeons äußerte:„Wir hatten großen Erfolg mit dem Einsatz der garmoška vor den Meetings. Behindert das die Arbeit des Komsomol? –Selbstverständlich nicht. Aber es ist sehr nützlich, um Jugendliche anzuziehen.“13 Wie ein Mitarbeiter aus Rostov am Don erklärte, fühlten sich die Dorfjugendlichen von Komsomol-Mitgliedern entfremdet, die nur über die internationale Situation sprächen, mit „Aktentasche unter dem Arm, hochnäsig und von oben herab“ (Portfel’ pod ruku, nos v vys’, 12

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Ein Mitarbeiter bemerkte, dass es viel schwieriger sei, Majakovskij musikalisch zu unterlegen: „Ihr bittet um Lieder – wir haben keine.“ (Vy prosite pesen’– ich netu u nas.) In: Komsomol’skaja pravda (24. 8. 1927), 5. „Перед началом собрания обыкновенно начинала играть гармошка, которая привлекла к себе значительное количество молодежи. Вредит ли это работе ячейки? – Конечно, нет. А польза от нее неоспоримая.“ Gorin, D.: O razvlečenijach sel’skogo molodnjaka (Ot našego ukrainskogo korrespondenta). In: Komsomol’skaja pravda (3. 9. 1925), 3.

Das Akkordeon

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glaza ešče vyše). Die Jugend, fuhr er fort, sei die Hoffnung der Zukunft, und der komsomolec stehe an der Frontlinie des kulturellen Kampfes. Im Folgenden skizzierte er ein Porträt des idealen Komsomol-Mitglieds: Er sollte politisch bewusst und alphabetisiert sein, den Unterschied zwischen Dreifelderwirtschaft und Jarowisierung kennen und diesen darstellen können. Gleichzeitig sollte er aber die Fähigkeit haben, sich zu amüsieren, er sollte der beste garmoškaSpieler sein, fähig, den kazačok teuflisch gut zu tanzen, gute Spiele ohne Schwarzgebrannten erfinden können und keine schlechten Manieren haben.14

Journalisten bemerkten, dass bei Dorftreffen der Akkordeonspieler immer im Zentrum der Aufmerksamkeit stünde und dass es wichtig sei zu wissen, wer diese Spieler seien, und ob sie ihren Einfluss nutzen würden, um „pochabščina“ (Obszönität und Liederlichkeit) und „meščanstvo“ (kleinbürgerliches Bewusstsein) zu fördern oder „wahre Kultur und bolschewistische Agitation“.15 Die Wirkung der garmonisty war offensichtlich unterschiedlich, denn auch Kulakensöhne (kulackije synki) beispielsweise besaßen Akkordeons. Aber es gab auch „rote Akkordeonisten“ (krasnye garmonisty) wie komsomol’cy oder demobilisierte rote Soldaten, nicht zuletzt verschiedene junge Menschen, die die revolutionären Lieder kannten und sie in der kulturellen Arbeit zu nutzen wussten. Ein Mitarbeiter schrieb seine Verteidigung des Gebrauchs des Akkordeons im Kulturkampf in Form eines Dialogs mit einem Skeptiker. Der Skeptiker argumentierte, es sei ein „Rückschritt“ (vy povoračivajete nazad), sich dem Akkordeon zuzuwenden. Der Verteidiger des Akkordeons erwiderte: Wir kämpfen um Einfluss auf die Jugend, um sie unserer Richtung entsprechend umzuerziehen, um die Masse der Bevölkerung mit wahrer Kultur zu prägen. Hier wäre es sündhaft nicht die stärkste Waffe an dieser Front zu verwenden – das Akkordeon.16

Der Skeptiker fragt, ob das Akkordeon wirklich Musik sei, und, wenn dem so sei, wie man sicher gehen könne, dass nur kultivierte Musik von diesem Instrument ausgehe? Der Verteidiger antwortete, dass man Akkordeonspieler 14

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„Он должен уметь быть политически развитым, грамотным, обязан знать толк и разницу между трехполкой и многополкой и уметь это показать, но в то же время, он должен уметь веселиться, лучше всех играть на гармошке, чертовски хорошо танцевать казачка, изобретать занимательные игры. Но так, чтобы это веселье не пахло самогоном и дурными привычками.“ Juzovskij, Ju.: Komsomol za garmošku. In: Komsomol’skaja pravda (11. 10. 1925), 4. „От него зависит, будет ли продвигаться в ряды молодежи похабщина и мещанство или настоящая культура и большевистская агитация?“ Kul’turničestvo i garmonika. In: Komsomol’skaja pravda (19. 6. 1926), 3. „Мы боремся за влияние на молодежь, за перевоспитание ее в нужном нам направлении, за внедрение подлинной культуры в массы населения. И тут грешно не использовать сильнейшее орудие на этом фронте – гармонику.“ Kul’turničestvo i garmonika. In: Komsomol’skaja pravda (19. 6. 1926), 3.

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mit guten revolutionären Liedern und častuški versorgen müsse. Sie sollten informiert werden, „dass es eine Schande sei, das Akkordeon dazu zu verwenden, trunkene Ausschweifungen zu verbreiten, und dass es ganz und gar nicht schändlich sei, Lieder über das Drei-Felder-System, den Anbau, das Dampfbad, das Radio usw. zu singen. […] Der Akkordeonspieler muss unser Mann sein.“17 Im Juni 1926 schaltete sich Lev Sosnovskij, der ehemalige Herausgeber von Bednota, in die Debatte ein. Er wies darauf hin, dass die Mehrheit der Bevölkerung keinen Zugang zu Musikinstrumenten außer dem Akkordeon habe, während das Konservatorium nur „intelligente Instrumente“ anerkenne und das Akkordeon für wahre Musikanten als Beleidigung gelte.18 Es ist interessant, dass es Ende 1920 einen erhöhten Bedarf für die AkkordeonAusbildung gab. Das Akkordeon wurde am Konservatorium unterrichtet, jedoch nur in der Rabfak-Sektion und dem Sonntagskonservatorium der Arbeiter, die 1932 mit der Auflösung der Assoziation der proletarischen Musikanten (RAPM) stillgelegt wurden.19 Sosnovskij argumentierte indes, der Akkordeonspieler sei ein genuiner Volkskünstler mit einem unglücklichen Handicap: er kenne weder Theorie noch Noten. Akkordeonspieler würden nur Polkas, Volkstänze und Walzer spielen können, wenn sie doch auch Chopin, Čajkovskij oder Borodin zur Bildung der Massen spielen könnten. Dennoch unterstützte Sosnovksij die Idee des komsomolec-garmonist, der das Land kenne und der „erste Mann im Dorf“ (pervyj paren’ na derevne) sei, der die „wilden Vergnügungen des Dorfes in gebildeten Spaß“ (protivopostavit’ dikim zabavam derevni kul’turnoe vesel’e) verwandele.20 Ein weiterer Beitrag, inspiriert durch Sosnovskijs Unterstützung des Akkordeons, erinnert auf derselben Seite der Komsomol’skaja pravda unbefangen an einen Komsomol-Abend in einem bei Tambov gelegenen Dorf im Jahr 1922: Der Komsomol bat die lokale Miliz um konfiszierten Selbstgebrannten (samogon), den sie als Bezahlung für zwei Akkordeonspieler einsetzten. Von den Mitgliedsbeiträgen kauften sie zwölf Pfund Sonnenblumensamen (ein anderes Symbol der Rückständigkeit, das Savčenko in seinem Film einsetzte) und hielten ihre Feierlichkeiten in einer reparierten Halle der Feuerwehr ab, die gleichzeitig als Komsomolbüro diente. Der Autor erinnert sich, dass „die Musik des Akkordeons abends alle jungen Frauen des Dorfes um sich versammelte“ (Večerom na zvuki garmoški stjanulas’ vsja ženskaja čast’ derevenskoj molodeži). Als Ergebnis waren 17

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„[…] позорно разводить через гармошку пьянку, похабщину и разврат, но отнюдь не зазорно, а нужно [петь] частушки о трехполке, корнеплодах, бане, радио и т. п., […] гармонист должен быть нашим человеком.“ Ebd. Sosnovskij, L.: Garmoška. In: Komsomol’skaja pravda (19. 6. 1926), 3. Edmunds, N.: The Soviet Proletarian Music Movement. Bern 2000, 119-120. Sosnovskij, L.: Garmoška. In: Komsomol’skaja pravda (19. 6. 1926), 3.

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viele gegen die Akkordeonspieler und nannten sie „Faschisten und Kleinbürger (meščane)“. Aber, fuhr der Autor fort, „wenn diese Menschen nur wüssten, dass der Genosse Sosnovskij, der die Grundlagen der Kultur so streng vor kleinbürgerlichen Einflüssen zu bewahren sucht, selbst hervorragend Akkordeon spielt“, dann würden sie selbst Akkordeon spielen, weil das „Akkordeon eine weise Sache ist“. Mehr als das, es sei ein „Klasseninstrument“. Er schloss mit den Worten: „Der Komsomol-Akkordeonspieler ist der rote Anführer der Freizeitgestaltung im Dorf. Das bedeutet, dass das Akkordeon der treue Diener des Komsomol sein wird!“21 In der Tat gingen manche, die sich auf den Seiten der Komsomol’skaja pravda für das Akkordeon einsetzten, so weit, dass sie dazu aufriefen, das Instrument an alle Bataillone der Roten Armee zu verteilen. Dort würde das Akkordeon die Gesundheit und das tägliche Leben der Soldaten verbessern, die dem Klang des Klaviers fern standen und ihn als fremd erlebten. Der Artikel wies darauf hin, dass die Truppen demoralisiert und deprimiert reagieren würden, wenn der Akkordeonspieler die Einheit verließe.22 Bis 1926 erschienen regelmäßig Berichte in der Komsomol’skaja pravda über das Akkordeon, das als Held der Kulturarbeit und der Produktion auf dem Land angesehen wurde. In einem Fall konnten die Mitglieder des Komsomol erst einen Vortrag halten, als sie versprachen, dass nach der Vorlesung eine von Akkordeonmusik begleitete Tanzveranstaltung stattfinden würde. Der Reporter schloss daraus: „Diejenigen, die behaupten, dass das garmon’ ein unwürdiges Musikinstrument sei, sind im Unrecht. Das Akkordeon muss im Dorf eine erhöhte Position in unserer politischen und kulturellen Arbeit einnehmen.“23 Ein anderer berichtete über die Schwierigkeiten des DorfKomsomolzen Pavel Dadykin, die entstanden, als er versuchte, die Dorfbewohner dazu zu bewegen, eine Schotterstraße anzulegen (gat). Er bat den örtlichen Akkordeonspieler Egor Trubkin um Hilfe. Egor ging mit Pavel durch das Dorf und spielte eine muntere Melodie. Daraufhin erschienen sofort Bauern, die fragten, wo man sich treffen würde und Pavel überzeugte sie, sich zu versammeln und zu Akkordeon-Musik an der Straße zu arbeiten.24 Es gab Berichte, in denen beschrieben wurde, dass das Akkordeon 21

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„О, если бы они знали, что сам тов. Сосновский, так строго блюдущий основы культуры от мещанства, сам весьма недурен по части игры на гармошке! […] Комсомолец же гармонист – красный командир деревенского досуга. Значит, гармонь – будет верным слугой нашего Комсомола!“ Lin, I.: Rodnaja muzyka. In: Komsomol’skaja pravda, (19. 6. 1926), 3. Garmoška v Krasnoj Armii. In: Komsomol’skaja pravda (8. 7. 1926), 3. „Глубого ошибаются те, кто говорят, что гармошка –неблагородный инструмент. Гармошке в деревне надо занять благородное положение в нашей политпросветской и культурной работе.“ Magnev, D.: Sila garmoški v derevne. In: Komsomol’skaja pravda (21. 8. 1926), 3. Garmonist-organizator. In: Komsomol’skaja pravda (21.8. 1926), 3.

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besonders hilfreich dabei sei, Wähler für die Wahl des Dorfsowjets zu gewinnen und Frauen zu politischen Meetings zu bewegen. In einem sibirischen Dorf, in dem angeblich 80 Prozent der Bevölkerung an Syphilis erkrankt waren, versteckten sich die Dorfbewohner vor dem Arzt, der ausgesandt wurde, um sie zu behandeln. Das Akkordeon rettete die Situation, indem es die Dorfbewohner zu einer Veranstaltung über Geschlechtskrankheiten und deren Verhütung versammelte. Der Komsomol organisierte den Kauf zweier Akkordeons.25 Bis zum August 1926 gab der erste Kongress der Akkordeonspieler (s’’ezd garmonistov) der Moskauer Region Resolutionen über die Notwendigkeit heraus, Qualität und Preis der Akkordeons zu verbessern, die in der USSR in Massenproduktion gehen sollten. An alle Akkordeonspieler der Union wurde eine Nachricht versandt, die sie daran erinnern sollte, die Jugend zu vereinen, zu bilden und durch das Akkordeon zur Organisation „vernünftiger“ (razumnyj) Freizeit und Entspannung beizutragen.26 Im November 1926 begann sich die Debatte darüber zu erhitzen, welche Art von Musik und welche Lieder auf dem Akkordeon gespielt werden sollten. A. D. Kastal’skij, Professor des Moskauer Konservatoriums, wies darauf hin, dass insbesondere im Dorf die Musik das Individuum von der Wiege bis zum Grab begleite. Es gäbe Wiegenlieder und Kinderspiele, die von Gesang begleitet werden, Frauen- und Männerlieder. Es sei sinnlos, argumentierte er, Schumann und Čajkovskij ins Dorf zu bringen. Die Volksmusik sei die Brücke, die Kultur und Musik vereine. Der Ethnograph A. V. Nikol’skij argumentierte, dass die Volkslieder gesammelt und bewahrt werden müssten, im Unterschied zur Zigeunermusik (cyganščina) und der trunkenen Kneipenkultur.27 Abb. 1: Komsomol’skaja pravda (14. 11. 1926), S. 4.

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Obnovlennaja garmon’! In: Komsomol’skaja pravda (24. 5. 1927), 4. Garmon’ – organizator dosuga molodeži. In: Komsomol’skaja pravda (21. 8. 1926), 3. A. D. Kastal’skij: Kompozitory o pesne. In: Komsomol’skaja pravda (14. 11. 1926), 4.

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Bis 1927 war die – von Žarov selbst favorisierte28 – Hauptrichtung des Arguments: es bestehe Bedarf an neuen Volksweisen, an Komsomol-Liedern, an guten, sauberen Varianten der anrüchigen častuški, die die Mädchen im Film zu Timoškas Leidwesen für Marusja singen. In Savčenkos Das Akkordeon wird diese zivilisierende Rolle des Akkordeons gepriesen. Der Ton der Debatte veränderte sich drastisch 1928 unter dem Druck des ersten Fünfjahresplanes, seinem Drang zur Industrialisierung und die begleitende Kollektivierung des Dorfes. Der Schwerpunkt änderte sich dahingehend, dass es nötig sei, gegen „stümperhafte“ (chalturnye) Konzerte vorzugehen und „ernsthafte (klassische und moderne) Musik“ unter den Massen zu verbreiten. Aber in den noch experimentellen und relativ toleranten Tagen von 1926 waren Akkordeon-Wettbewerbe gefeierte Ereignisse. Im Dezember 1926 begann die erste Serie eines provinzweiten Wettbewerbs mit dem Ziel, den besten Akkordeonspieler zu ermitteln. Die Jury für den Moskauer Wettbewerb liest sich wie ein Who’s Who der zukünftigen Diversanten. Unter den Mitgliedern waren Lunačarskij, Mejerchol’d und Sosnovskij. Lunačarskij sprach über die Wichtigkeit der „Volksmusik“ (narodnaja muzyka), weil sich, in seinen Worten, „die Musik von den Massen abgewandt hatte“ (Muzyka otorvalas’ ot mass). Sosnovskij stimmte ihm zu, das Akkordeon „werde die genuinen künstlerischen Kräfte des Volkes ans Licht bringen.“29 Das Problem hierbei war jedoch, dass die meisten Teilnehmer alte Lieder spielten – Zigeunermusik und traditionelle Klagelieder. 1926 gab es innerhalb der Sowjetunion mehr als 1500 Wettbewerbe mit ca. 20.000 Teilnehmern. Viele Bewerber mussten sogar abgelehnt werden. Selbst ältere Männer und Frauen, die zuvor noch nie ihre Region verlassen hatten, reisten weite Strecken, um die besten Akkordeonspieler aus ihrem Landesteil zu hören.30 Vielleicht bietet diese Anziehungskraft der alten Welt die Erklärung für Stalins Abneigung gegenüber Savčenkos Film. Letzterer wurde im Anschluss an intensive Konflikte und Kämpfe auf dem Land freigegeben: „Wenn der Kopf abgetrennt ist, betrauert man nicht den Verlust der Haare.“31 Der Klassenkrieg hatte sich verstärkt, aber Savčenkos Film plädierte für eine Politik der Versöhnung, für Harmonie zwischen den Generationen und für Lösungen, die nicht mit Gewehren und Gewalt, sondern mit Musik und guter, reiner Unterhaltung erzielt werden sollten. Bis zum Jahr 1934 und

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Bezymenskij, A.: Poėty o social’nom zakaze na pesnju. In: Komsomol’skaja pravda (14. 11. 1926), 4. „Через этот инструмент мы будем выявлять настоящие художественные силы в народе.“ Čudesa prostogo jaščika. In: Komsomol’skaja pravda (14. 12. 1926), 4. Obnovlennaja garmon’. In: Komsomol’skaja pravda (24. 5. 1927), 4. Stalin, J.: K voprosam agrarnoj politiki v SSSR. Reč’ na konferencii agrarnikovmarksistov, 27. dekabrja 1929g. In: Pravda (29. 12. 1929).

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der Uraufführung des Films war dieser friedliche Luxus selbst ein Relikt der Vergangenheit. Um die Akkordeon-Debatte wurde es auf den Seiten der Komsmol’skaja pravda 1927 ruhiger. Die meisten Artikel konzentrierten sich auf die störende Tatsache, dass die Produktion der Akkordeone in der Sowjetunion größtenteils in privater Hand war. Ein Artikel fasste die Ergebnisse der Akkordeon-Kampagne zusammen. Der Autor bemerkt, dass es zu Beginn viel Boshaftigkeit und Provokationen seitens der „ungläubigen Thomase“ (Fomy neverujuščie) gegeben habe, die sich über den Komsomol und dessen Ansicht, das Akkordeon habe einen Platz in der politischen, organisatorischen Aufgabe, lustig machten. Aber inzwischen gäbe es „nicht eine einzige Wandzeitung, nicht zu sprechen von anderen Druckmedien, die diesen Aufruf des „mit dem Akkordeon zur Arbeit“ (garmon’ na službu) nicht übernommen haben.“32 Im Dezember 1927 wurde der zweite jährliche Akkordeon-Wettbewerb mit Lunačarskij, Mejerchol’d und Krupskaja in der Jury33 ausgeschrieben (Sosnovskij war als linker Oppositioneller von der Partei ausgeschlossen worden). Es gab 2.500 Wettbewerbe mit 30.000 Teilnehmern und drei Millionen Zuhörern aus der gesamten USSR. Žarov las beim Wettbewerb, der im Dom Sojuzov gehalten wurde, aus seinem Poem Das Akkordeon. Der Wettbewerb des Jahres 1927 registrierte Erfolge im Kampf gegen die Zigeunermusik (cyganščina). Anstelle der veralteten und rückständigen Musik der Volkslieder und častuški wurden die Zuhörer zu Čajkovskij, Chopin, Schubert und Brahms eingeladen! Der Gewinner des Wettbewerbes hatte im Bol’šoj Theater mit der Ouvertüre von Eugen Onegin eröffnet. Lunačarskij verkündete stolz, dass Prokofiev und Glazunov versprochen hätten, Musik für das Akkordeon zu schreiben.34 Der Volkskünstler der Republik (Narodnyj artist respubliki) M. Ippolitov-Ivanov bemerkte, dass die Akkordeonspieler in dem Jahr seit dem ersten Wettbewerb viel gelernt hätten. Beim ersten Wettbewerb sei eine große „Armee“ von Akkordeonspielern aufgetreten, doch obwohl sie sehr talentiert gewesen seien, habe es keine „Ordnung“ (porjadok) in ihr gegeben.

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„[…] ни одной стенной газеты, не говоря уже о печатных, которая бы не подхватила этот лозунг.“ Obnovlennaja garmon’. In: Komsomol’skaja pravda (24. 5. 1927), 4. Nakanune konkursa garmonistov. In: Komsmol’skaja pravda (1. 12. 1927), 4. Vyrvem garmon’ iz ruk častnika. In: Komsomol’skaja pravda (3. 1. 1928); Garmon’ na službe i komsomola i ... u častnika Govorova. In: Komsomol’skaja pravda (3. 1. 1928), 3; Na konkurse v Dome Sojuzov. In: Komsomol’skaja pravda (3. 1. 1928), 3; Surdin i Osipov vperedi. Včera zakončilsja konkurs garmonistov. In: Komsomol’skaja pravda (10. 1. 1928), 3.

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Abb. 2: Komsomol’skaja pravda (28. 12. 1927), S. 3.

Abb. 3: Komsomol’skaja pravda (9. 2. 1928), S. 2.

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Abb. 4: Komsomol’skaja pravda (13. 6. 1928), S. 5.

Abb. 5: Komsomol’skaja pravda (3. 1. 1928), S. 3.

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Jetzt aber hätten Lehrer und musikalische Zirkel die „musikalische Aufklärung der Akkordeonspieler“ (muzykal’nogo prosveščenija garmonistov) selbst in die Hand genommen. Die Teilnehmer konnten keine Noten lesen und spielten frei nach Gehör, weshalb es zunächst die Hauptaufgabe war, das Lesen der Noten zu lehren, so dass die Musikanten das Repertoire der Aufklärung lernen konnten und künstlerisch spielten mit Verständnis für Ton, Dynamik, Tonhöhe etc. Befriedigt stellte Ippolitov-Ivanov fest, dass es in dem zweiten Wettbewerb eine deutliche Befreiung der Musiker von „banalen častuški und Tänzen“ gab. All diese Veränderungen zeigten an, dass das Akkordeon auf dem richtigen Weg sei und bald eine starke Waffe in der Ausbreitung der musikalischen Kultur spielen würde. Ippolitov-Ivanov setzte sich für die Transformation der primitiven garmoška zum „kultivierten Akkordeon“ (k kul’turnoj garmonike) ein. Er forderte die besten Komponisten auf, für das noble Instrument zu schreiben: Ich bin sicher, dass die Zeit der kirpičiki und častuški für immer aus dem Repertoire der Akkordeonspieler verschwinden wird und dass der Akkordeonspieler immer und überall ein willkommener Gast sein wird.35

3. Die Produktion von Igor’ Savčenkos Film Das Akkordeon (Garmon’) Wenn man von der Rezeption Igor’ Savčenkos Film Das Akkordeon an der höchsten Spitze der Partei ausgeht, war der Gast nicht sehr willkommen. Boris Šumjackij, der administrative Leiter der sowjetischen Filmindustrie von 1930 bis 1938, notierte die Gespräche, die während der Filmvorführungen, die er für Stalin und seinen inneren Kreis organisierte, stattfanden. Das Akkordeon wurde am 9. Juni 1934 aufgeführt, unter dem privilegierten Publikum befanden sich Stalin, Vorošilov, Kaganovič und Ždanov.36 Den Kinofreunden im Kreml gefiel der Anfang des Films und sie scherzten über die Mädchen und den „fremden Kerl“ (čužaka-parnja). Stalin gefiel das Schauspiel von 35

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„Я уверен, что со временем Кирпичики и частушки навсегда исчезнут из репертуара гармонистов, и гармонист всегда и всюду будет желанным гостем.“ Ippolitov-Ivanov, M.: Voinstvujuščaja garmonika. Ot garmoški k kul’turnoj garmonike. In: Komsomol’skaja pravda (25. 1. 1928), 3. Kirpičiki von Valentin Kručinin war ein städtisches Lied über Liebe und Revolution in einer Ziegelfabrik. Šum[jackij], B.: Moja zapis’ besedy s I. V. na prosmotre fil’m 13.VII. (s 21 časa do 1 č. noči na 14.VII.1934 g.). In: Anderson, K. M./Maksimenkov M. V.: Kremlevskij kinoteatr 1928-1953. Dokumenty. Moskau 2005, 932-934. Die Publikation basiert auf den Aufzeichnungen des Russischen Staatsarchives der Politischen Geschichte (RGASPI), f. 558, op. 11, d. 828, ll. 39-40. Auch veröffentlicht in Kinovedčeskie zapiski. 10 (2002), 281-346.

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Marusja, aber ihr Charakter war seiner Meinung nach ein bisschen zu „ländlich“, zudem sah sie auch „nicht aus wie eine wirkliche Dorfbewohnerin“ (ne vygljadit derevenskoj). Darüber hinaus kritisierte Stalin die übertriebene Heiterkeit und die Länge des Filmes und bemängelte, dass die Feldarbeit fälschlicherweise ausschließlich von Hand gezeigt würde, da doch die Kollektivierung – zumindest theoretisch – auf der Mechanisierung der Landwirtschaft aufbaute. Kaganovič stimmte ihm zu, dass alle, im Film gezeigte Feldarbeit, von Hand erledigt würde und bemerkte die Abwesenheit „mindestens eines einzigen Mähdreschers“. Stalin zog Šumjackij zur Verantwortung: „Sie sagten, dies sei ein dynamischer, fröhlicher, heiterer Film. Aber hier gibt es in jeder Szene übertriebene Länge und ausgedachte Psychologismen.“ Kaganovič eiferte Stalin nach, indem er ebenfalls die Psychologismen und den Mangel an Einfachheit kritisierte. „Eure Leute kennen die Kolchosen und die neuen Dörfer nicht.“ Šumjackij bemühte sich mehrmals, Savčenkos Film zu verteidigen und erwiderte, dass der Film angenehme Gefühle, Heiterkeit und Freude verbreite, was seltene Gäste im heimischen Kino seien. Er beschwerte sich, dass die Operette und die Komödie als Genre boykottiert würden und wies auf die Vielzahl an Kontroversen in Bezug auf die gegenwärtige Produktion von Grigorij Aleksandrovs Veselye rebjata (Frohe Gesellen) hin. Stalin antwortete: „Sie sind der Herr im Hause. Wer könnte Sie stören?“ Als Šumjackij Das Akkordeon nochmals verteidigte, indem er argumentierte, die jungen Kinobesucher würden den Film anschauen, fragte Stalin schnell, ob der gesamte Komsomol Das Akkordeon gesehen habe. „Nicht die Organisation, nur einzelne Genossen“, antwortete Šumjackij und wiederholte, dass er wirklich glaube, junge Kinobesucher würden positiv auf den Film reagieren und dass er freudige Emotionen bei ihnen auslösen würde. „Er agitiert uns“, antwortete Stalin humorvoll und fügte hinzu: „Trotzdem werden uns wir den Film kein zweites Mal ansehen.“ Ždanov bestätigte eilig: „Wie könnten wir ihn ein zweites Mal sehen, wenn es so mühsam war, ihn das erste Mal zu Ende zu schauen? Der Film ist bedauernswert primitiv und trieft vor Heuchelei.“ Einen Monat später, während der Vorführung einer Serie anderer Filme, wartete Stalin abrupt mit der rhetorischen Frage auf: „Sie werden nicht mehr solchen Mist wie Das Akkordeon zeigen?“ 37 Warum verfehlte der Film so spektakulär sein Ziel? Warum hatte die Diskussion um Das Akkordeon diese Form angenommen und was hatte den Kreml veranlasst, mit solch spöttischer Abscheu zu reagieren? In einer 1980 veröffentlichten Reminiszenz an Savčenko erzählt der 1987 verstorbene Aleksandr Žarov, wie Savčenko in den frühen 1930er Jahren mit dem Skript einer musikalischen Komödie zu ihm kam, das von seinem Gedicht „Das Akkordeon“ inspiriert worden war. Der Direktor plante mit Blick auf den 37

Šumjackij, B.: Moja zapis’ besedy s I. V. na prosmotre fil’m 13.VII. (s 21 časa do 1 č. noči na 14.VII.1934 g.). In: Kremlevskij kinoteatr 1928 – 1953, 940.

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kommenden Kongress der sowjetischen Schriftsteller einen Film, der einen Bezug zur Literatur hatte. Žarov erinnert sich, dass er sich gegenüber Savčenko beschwert hatte, dass sein Skript die landwirtschaftlichen Maschinen ausließ, die in Žarovs Gedicht so wichtig seien. Savčenko antwortete angeblich, dass „die Helden unseres Filmes nicht Maschinen sondern Menschen sind, Menschen des neuen Dorfes, junge Menschen, die sich auf Forderung der Partei hin gegen die alte Lebensart auflehnen.“ Und, so fügte er hinzu, Traktoren seien auf dem Lande tatsächlich ein seltenes Phänomen. Savčenko tröstete Žarov, indem er darauf hinwies, dass die „Sicheln im Film alt sein mögen, die Lieder über die Sicheln aber neu seien“ (Kosy u nas v fil’me starye, a pesnja kosarej novaja). Žarov behauptet, er habe die Ansicht vertreten, dass „Kunst das Recht habe nach vorne zu schauen“ (o prave iskusstva smotret’ vpered), dass aber Savčenko ihm widersprochen habe, es sei wichtig, „der Wahrheit treu zu bleiben“ (byt’ vernym pravde). Savčenko hatte das Wesen des Sozialistischen Realismus noch nicht wirklich erfasst. Daher wurden die Unzulänglichkeiten des Films Das Akkordeon mit dem charmanten, wenngleich etwas naiven, Mut des jungen, energischen Savčenkos erklärt. Über das Kulakenlied Wo bist du, mein Feld? (Oj gde že ty, moja meža?), von Savčenko selbst gesungen und gespielt, äußerte Žarov die Befürchtung, die Szene sei übertrieben. Savčenko antwortete, dass die Szene nicht übertrieben, sondern typisch sei. „Ich habe mir Antip nicht ausgedacht. Der Feind war so, wie ich ihn gespielt habe.“ Gemäß Žarov ist es Savčenko gelungen, „seine eigene Einstellung zum Feind auszudrücken.“ Savčenko antwortete: „Dies ist die Aufgabe der Kunst!“38 War es die Typisierung, die Savčenko Ärger einhandelte? Tatsächlich mögen Savčenkos Kulaken in ihrer antisowjetischen Intensität zu überzeugend gewesen sein. Als das Klagelied über das verlorene „Feld“ die Menge in Entrüstung versetzt, wird das Lied selbst und die Bildfolge im Film dadurch unterbrochen, dass Antip/Savčenko der „sowjetischen Macht“ den kukiš zeigt – das russische Äquivalent für das Zeigen des Mittelfingers. Als Timofej sein Akkordeon unter dem Stroh aus der Scheune hervor gräbt, die Zerstörer buchstäblich ruhig stellt und dann aus der Stadt treibt, führt er die Jugendlichen aber nicht zum Internationalen Tag der Jugend, um die Internationale zu singen. Stattdessen lädt er die „Mädchen und Jungs“ ein zu tanzen und Spaß zu haben, während die Sonne hinter den Sträuchern und Feldern untergeht, jetzt „wunderbar, grenzenlos und ohne Ende / das ungeteilte kollektive Land“ (Choroša bez konca i bez kraja / Bez mežej kolchoznaja zemlja).

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Žarov, A.: Moj sverstnik i soratnik. In: Hrsg. Lučina, N. J./Derevjanko, T. T.: Igor’ Savčenko: Sbornik statej i vospominanij. Kiev 1980, 66-69.

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Abb. 6, 7: Ausschnitte aus Igor’ Savčenkos Film Akkordeon (Garmon’, 1934)

Igor Savčenko kam vom TRAM, dem Theater der Jugend der Arbeiterklasse. Seiner Biographie von 1946 zufolge war die TRAM-Bewegung die bedeutendste Periode meines Lebens. Trotz verschiedenen, unzähligen Fehlern, die wir machten, bin ich überzeugt, dass TRAM ein gesundes Phänomen war. Wir kämpften wild gegen politisches Desinteresse, wir vertieften uns begierig in das Studium des Marxismus-Leninismus. Wir waren mit der Produktion auf das Engste vertraut und arbeiteten täglich mit dem Komsomol zusammen. Der Parteigeist und der lokale Charakter der TRAM-Aufführungen sowie die Hauptlosung der TRAM „Wir sind kein Theater. Wir sind die Agitprop des Komsomol“ veranlassten uns, unsere kreativen Anstrengungen den Aufgaben der politischen Jugendbildungsarbeit unterzuordnen. Diese TRAM-Qualität möchte ich bis zum Ende meines Lebens aufrechterhalten.

In seiner Autobiographie lesen wir auch, dass Savčenko sehr spät zum Film gekommen ist, da er ihn „leidenschaftlich gehasst hat“ (ja nenavidel kino ljutoj nenavistju). Ob das wahr ist oder nicht – aus den Dokumenten jedenfalls, die wir finden konnten, geht hervor, dass Savčenkos frühe Beziehungen zum Film sehr speziell waren. In seinen Memoiren der frühen dreißiger Jahre erinnert sich der Filmdirektor Aleksandr Makovskij an ein Treffen mit Savčenko im Baku Filmstudio.39 Savčenko bat Makovskij und den Kamera39

Makovskij, A.: Kino vverch nogami. In: Igor’ Savčenko: Sbornik statej i vospominanij. 75-81.

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mann Ivan Manakov um Hilfe, um eine Szene für sein Stück Öl (Neft’) bei der örtlichen TRAM, wo Savčenko zu dem Zeitpunkt arbeitete, zu drehen. Sie stimmten zu. Es war ein Stück „à la Mejerchol’d“, ohne Vorhang, und bezog weitere Stilmerkmale der Avantgarde mit ein. Während der Premiere stellte sich heraus, dass die gedrehten Szenen, einem technischen Fehler zufolge, versehentlich umgekehrt (vverch nogami) projiziert wurden. Savčenko war von dem Resultat begeistert und entschied, den Film so zu lassen, mit dem Argument, dass vor der Revolution die Welt ohnehin auf dem Kopf stünde. Das Stück war ein Riesenerfolg. Ähnlich aufschlussreich ist Makovskijs Beschreibung von seiner Zusammenarbeit mit Savčenko im zweiten Film Nikita Ivanyč und der Sozialismus (Nikita Ivanyč i socializm). Der Film erzählt die Geschichte eines „intelligenten Kulaken“ (umnyj kulak), der einen wilden Kampf gegen den Sozialismus auf einer neu gegründeten kollektiven Farm führt. Gemäß Makovskij war der Film die Synthese der Mejerchol’d-Methode (Savčenko) und des Dokumentarfilms à la Dziga Vertov. Leider ist Nikita Ivanyč und der Sozialismus nicht erhalten geblieben. Durch Makovskijs Zusammenfassung können wir jedoch den politischen und künstlerischen Kontext erschließen, aus dem Das Akkordeon entstanden ist. Die Geschichte geht ungefähr so: Vas’ka möchte seine neuen Schuhe bis zum Letzten tragen (iznašivaja novye galoši na util’), damit die Kolchose Gummi sparen und einen Traktor kaufen kann; der Kulake Nikita Ivanyč wirbt dafür, die Pferde und alles andere auf dem Markt zu verkaufen, weil „ohnehin alles konfisziert werden wird“ (Vse ravno v kolchoz zaberut!); der „linke“ (levak-zagibščik) Sekretär des Dorfrates möchte „zu 120 Prozent zum Kommunismus umkehren“. Es entwickelt sich ein intensiver Klassenkampf. Es kommt zu „Abweichungen“ und zu „terroristischen Akten“ gegen die kollektive Farm. Häuser verbrennen. In den Flammen erscheinen schreckliche Szenen: Führende Weißgardisten – Admiral Aleksandr V. Kolčak, Generalleutnant Anton I. Denikin und Generalleutnant Petr N. Vrangel’; hinter ihnen die Kapitalisten mit Zylindern, Händler und Priester; vor ihnen Nikita Ivanyč mit dem Slogan „Gott ist mit uns“. Dennoch siegt letztlich der Sozialismus. Von Kulaken und „linkem Abschaum“ befreit, organisiert die kollektive Farm die erste Aussaat und feiert ihre erste Komsomol-Hochzeit, als Ul’ka den lockigen Vas’ka heiratet. Der Film endet mit einem spektakulären Traktoren-Ballett, das natürlich nicht ohne Savčenkos „umgekehrte Szenen“ auskam (Zaključitel’nyj attrakcion fil’ma – feeričeskaja pljaska traktorov, v kotoroj, konečno že, ne obošlos’ bez savčenkovskich kadrov vverch nogami). Makovskij erinnert sich an Savčenko als

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den wahren Erfinder unglaublich dramatischer und komödienhafter, grotesker Situationen. Nachdem er flink die Technik der Montage im Film gemeistert hatte, eröffnete er uns die ungewöhnlichsten Montage-Konstruktionen.40

Es ist wichtig hervorzuheben, dass der Kulak in Nikita Ivanyč und der Sozialismus wie auch in Das Akkordeon „talentiert“ (talantlivo) von Savčenko selbst gespielt wurde. Für Evgenij Margolit, der den ersten post-sowjetischen Artikel zu Das Akkordeon geschrieben hat,41 war Aleksandr Dovženkos Erde die Inspiration zu Savčenkos Film. Einige Szenen scheinen tatsächlich von Dovženkos Meisterwerk inspiriert: die Ernte-Szene, die Wellen des Weizens im Wind oder der Kulak, der seine Wut gegen sich selbst wendet, als er nach den Grenzsteinen (meža) sucht. „Vasils Tanz“ (in Erde) jedoch mit der „Tragödie“ und „Wiederauferstehung“ Timoškas, der „das Akkordeon als Klasse liquidiert“ und es dann zurückbringt – was „Das Akkordeon nicht zur Komödie, sondern zu Epik macht“ –, zu vergleichen, ist nicht sehr überzeugend. Die Serie von statischen Szenen von Timofej Vasil’evič vor der Tür seines Dorfsowjets in „heroischer“ Pose könnte, wie Margolit meint, von der „monumentalen statischen Pose“ von Timoš Stojan, dem ukrainischen Arbeiter am Ende von Arsenal inspiriert sein. Aber die Nahaufnahme von Timoškas Stiefeln, die die Treppe hinunter steigen, erinnert uns an andere Stiefel und andere Stufen – an die berühmte Sequenz auf Odessas Stufen in Ėjzenštejns Panzerkreuzer Potemkin, was diese Szene in Das Akkordeon zu einer wunderbaren Parodie machen würde. Oder ist es eine politische Aussage, die impliziert, dass die Bürokraten, „die sich von den Massen abgesetzt hatten“ (Lunačarskijs), die Kosaken des post-kollektivierten Hinterlandes sind? Für Margolit liegt das Geheimnis der mangelnden Wertschätzung von Das Akkordeon im „Übergangscharakter“ des Films und in seinem unklaren Genre, das zwischen Dovženkos „Oper“ Erde und den kommenden „Operetten“ liegt – den musikalischen Komödien von Aleksandrov und Pyr’ev. Für uns hat die mangelnde Wertschätzung von Garmon’ ihre Wurzeln in einer älteren Debatte, die die Empfindlichkeiten von Avantgarde und TRAM kritisierte und deren Hoffnung, dass Gewaltlosigkeit in Form des Akkordeons anstelle von Waffengewalt die Massen überzeugen könnte. Zusätzliche Dokumente erhellen einen anderen Aspekt der Entwicklung vom Drehbuch zum Film.42 Das Russische Staatsarchiv der Literatur und 40

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„Вообще Игорь был настоящим выдумщиком самых невероятных драматических и комедийно-гротесковых ситуаций. Oн открыл для нас всех совершенно необычные монтажные построения.“ Margolit, E.: Zaklinanie ėposom: Garmon’ Igorja Savčenko i genezis sovetskoj muzykal’noj komedii. In: Kinovedčeskie zapiski, 13 (1992), 120-133. Genau genommen, stammt das Skript von einer Dramatisierung in drei Akten von Žarovs Gedicht Timoška-Garmonist aus dem Jahr 1927, dessen Ko-Autoren Aleksandr

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Kunst (RGALI) verfügt über Kopien sowohl des „literarischen Drehbuchs“ als auch des „Regiedrehbuchs“ mit Notizen, Vorschlägen und Diskussionen bezüglich der Veränderungen.43 Beide Texte wurden in diesem Fall von Savčenko geschrieben. Von besonderem Interesse ist hier die literarische Vorlage, da es deutliche Abweichungen sowohl vom Gedicht als auch vom Film aufweist und ein gänzlich neues Element in Form des anti-religiösen Kampfes hinzugefügt wurde. In der literarischen Vorlage wird Marusja, als sie vor den Randalierern flüchtet und einen von ihnen ins Gesicht schlägt, von einer Gruppe von Altgläubigen in Schutz genommen. Das Poster, das Timoška im Dorf aufhängt, lautet nicht wie im Regiedrehbuch (und im Film): „Hilf der Gesellschaft gegen Rowdytum“ (Protiv chaljuganov [sic] sodejstvuj vraz). Stattdessen lautet es: „Ersetze Lerigion“ – [sic!] – gemeint ist „Religion – durch Kultur“ (Izumaj lerigiju v vidu kul’tury!). Der „monotone Gesang“ der religiösen Sektierer über die Jungfrau Maria vermischt sich mit Antips antisowjetischer Provokation. Antip ist der Name, der in Žarovs Gedicht und im Drehbuch für den Charakter benutzt wird, den Savčenko im Film spielt, wo er allerdings nie beim Namen genannt wird. Die religiösen Sektierer und die Kulaken werden letztlich besiegt, nachdem Timoška sein Akkordeon ausgegraben und sie mit seinem Lied vertrieben hat. Marusja, die von dem schlechten Einfluss der Sektierer befreit wurde, stimmt ein: Spiel Akkordeon, fehlerfrei, Zerschlage mit deinen Liedern Den Rausch der Priester, Die Geschäfte der Kulaken […] Жарь гармошка без изъяня, Песней бей со всех боков, По поповскому дурману, По проделкам кулаков [...]

Das Einzige, was im Film von den Altgläubigen übrig bleibt, ist die Art, das Kreuz zu schlagen, wie der Kulak (Savčenko) sich bekreuzigt, wenn er zu Beginn des Filmes mit den Frauen im Dorf spricht. Ein weiterer wichtiger Unterschied, der die literarische Vorlage sowohl von dem Gedicht (und dessen Dramatisierung von 1927-29) als auch vom Film trennt, ist die stärkere visuelle Präsenz von Antip, dessen Beschreibung deutlich auf eine Identität vor der Kollektivierung verweist, weit entfernt von dem „armen Jungen aus Rjazan’“ (gore rjazanskoe) im Film. Die Schauspieler nennen ihn mit Spitznamen „kleiner, süßer Händler“ (kupčik-golubčik). Um Marusjas Aufmerk-

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Žarov und Ivan Molčanov waren. Das Stück wurde 1929 neu aufgelegt, ergänzt durch zusätzliche Musik, die S. Dunaevskij komponierte. Siehe Robin LaPashas Beitrag für weitere Details. RGALI, f. 1992, op.1,d. 56; f. 1992, op.1, d.57. Wir danken Denis Kozlov für seine Übersetzung der Skripte.

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samkeit zu erringen, winkt er ihr mit einem Spitzentaschentuch zu. Er trägt Stiefel aus „Ziegenhaut“ und „die Metallabsätze sind nagelneu“(Sapogi ševrovye / I podkovki novye). Obgleich Das Akkordeon ein „Film des Übergangs“ ist, scheint er sowohl politisch als auch formal ein „Überbleibsel“ (perežitok) der 1920er Jahre zu sein. In der Tat, Savčenkos Film erschien zu spät, so wie ein paar Jahre zuvor Ėjzenštejns Die Generallinie. Stimmen die Beziehungen zwischen Bild, Musik und Schauspiel in Das Akkordeon mit dem überein, was Ėjzenštejn, Pudovkin und Aleksandrov in ihrem berühmten „Tonfilmmanifest“ von 1929 im Sinn hatten? Was die „kontrapunktuelle Methode in der Struktur des Tonfilms“ wirklich war oder sein sollte, lässt sich bis zum heutigen Tag diskutieren. In jedem Fall ist Savčenkos Film ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie der Ton in die Struktur der Montage integriert werden kann. In diesem Sinne machte der Film in der Tat zu viel Anleihen bei der „falschen Theorie“ (ošibočnaja teorija) der TRAM, die „die Gleichberechtigung von Musik, Licht, Ton etc. und dem Schauspieler“ hervorgehoben hatte. 1932 kritisierte die Molodaja gvardija die TRAM-Bewegung: „Die Meinung, dass TRAMVorführungen nicht Theater, sondern ,ein Ausdruck der Dialektik‘ seien […] ist schädlicher Blödsinn“, schreibt der Autor des Artikels, der Savčenko zufällig als zeitgenössischen TRAM-Dramaturgen erwähnt.44 Wir haben gesehen, dass Savčenko vier Jahre vor seinem Tod, in seiner Autobiographie von 1946, diese Definition beibehielt. Sich irgendwie selbst widersprechend, macht der Autor des Artikels das Zugeständnis, dass „TRAM eine neue Art von Vorführung hervorgebracht habe – ein synthetisches Schauspiel, das alle Errungenschaften der Musik, des Kinos und der Körperkultur nutze.“45 Zeitungsartikel von 1934 loben die Freudigkeit des Films, die gute Atmosphäre, den Humor, die Lieder usw. Sie kritisieren jedoch auch „ernsthafte Fehler“. Für die Zeitschrift Vpered wird statt unseres gegenwärtigen kollektiven Dorfes „irgendein fiktives Dorf“ gezeigt, […] die Kolchosejugend erscheint als irgendwelche ,Dorfbewohner‘ (seljan) dargestellt. Es gibt heutzutage 80 ständige Kolchosetheater, hunderte von mobilen Theatern, die oft das Hinterland besuchen, viele der Kolchosen sind radiofiziert und kinofiziert (radioficirovannye i kinoficirovannye) und hier, im Film Das Akkordeon stirbt das Dorf an Langeweile, weil der Akkordeonspieler des Dorfes streikt.

44

45

„[…] утверждение о том, что трамовская постановка – это не спектакль, а диалектическое рассуждение […] вредная болтовня.“ Stroev, A.: TRAM v polose tvorčeskoj perestrojki. In: Molodaja gvardija. 7 (1932), 165-172. Die Zitate sind auf Seite 166. „[…] трамы утвердили новый вид спектакля – спектакль синтетический, использовающий все достижения музыки, кинематографии, физкультуры.“ Ebd., 167.

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Alles ist diesem Akkordeon untergeordnet: die Bilder der kollektivierten Landschaft, die Liebe von Timoška und Marusja und Potockijs Musik.“46 K. Strop der Kameramann schrieb eine „freundliche“ (družeskij), aber niederschmetternde „technische“ Kritik des Films mit dem Titel Kunst oder Handwerk (Isskustvo ili remeslo). Der Autor beschuldigte den Kameramann von Das Akkordeon Evgenij M. Šneider, einen konstanten und gleichmäßig „dunklen und ominösen Himmel als Hintergrund“ (temno-zloveščij fon neba) zu verwenden, der so gar nicht mit der generellen Freude der Lieder (žizneradostnye pesni) korrespondiere. Die fehlende Verwendung von passenden Filtern, die graphische Abbildung von Menschen auf dem Hintergrund von Bildern durch den Gebrauch von Spiegeln, all dies verhindere, dass die spezifischen Emotionen der Charaktere hervorgehoben würden, die alle als Stereotypen repräsentiert würden (trafaretnost’). Der Rezensent sieht den Ursprung dieser Mängel in der mangelnden Bereitschaft des Regisseurs, die Charaktere im Film zu entwickeln. Der Regisseur trage auch die Schuld für das „prinzipienlose Fotografieren“ des Kameramanns.47 Was uns hier begegnet, ist die mit großer „technischer“ Präzision angelegte Entstehung einer neuen Art der künstlerischen und ideologischen Produktion – des Sozialistischen Realismus. Um die „wahrheitsgetreue und historisch spezifische Darstellung der Realität in ihrer revolutionären Entwicklung“ zu erreichen, musste die fotographische Repräsentation in der Tat „von Prinzipien geleitet sein“, oder anders gesagt (in Erinnerung an die Debatte zwischen Žarov und Savčenko): der Auftrag, „wahrheitsgetreu“ (byt’ vernym pravde) zu sein, wurde jetzt durch das „Recht, nach vorn zu schauen“ (o prave iskusstva smotret’ vpered) ersetzt. „Nach vorne schauen“ – genau darum geht es in den musikalischen Komödien der 1930er Jahre. Gegen Ende des Films Der Leuchtende Weg (Svetlyj put’) von Grigorij Aleksandrov, bittet das neue sowjetische Aschenputtel, die Textilarbeiterin Ljubov Orlova, den Spiegel, ihr nicht zu zeigen, „was geschieht“ – das weiß sie – sondern, „was sein wird“ und fliegt, in einer typischen Aleksandrovschen Auflösung, in ihrem amerikanisch aussehenden Auto über Moskau und das „weite, große Heimatland“. Als sie auf dem Gelände der VSChV landet, schwillt der von ihr gesungene „Marsch der Enthusiasten“ zu symphonischer Lautstärke an. Im Gegensatz dazu ernten die Dorfbewohner in Das Akkordeon, so stilisiert sie auch sein mögen, ihre Felder von Hand, ohne Traktoren. Und wenn Timoška und Marusen’ka letztlich erkennen, dass sie einander lieben, wird das Akkordeon durch die Münder, Wangen, Hände und Füße der vereinten 46 47

Polevoj, E.: Garmon’ Mežrabpomfil’m. In: Vpered, 22 (20. 6. 1934). RGALI, 1992, op. 1, d. 59, 1.6. „[…] беспринципное фотографирование событий“. Strop, K.: Iskusstvo ili remeslo. Nicht-identifizierte Quelle. RGALI, 1992, op.1, d. 59, 1.10.

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Dorfbewohner ersetzt, die dadurch – um die Formel zu benutzen – ihre „eigenen (musikalischen) Produktionsmittel übernehmen“. In dem Maß wie a cappella-Gesang und „Mundmusik“ für die „Amateur-Aktivitäten“ (samodejatel’nost’) der frühen 1930er Jahre repräsentativ waren, wird durch sie in Savčenkos Film das, was am sowjetischen Landleben noch „poetisch“ war, in eine im Bachtinschen Sinne wahrhaft karnevaleske Form übertragen. Die „Liquidierung des Akkordeons als Klasse“ hatte in einer Welt stattgefunden, die an die „auf dem Kopf stehenden Szenen“ der frühen TRAM-Experimente Savčenkos erinnerte. Wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, wurde der Film noch eine Weile in der Peripherie erfolgreich mit anderen Amateurproduktionen gezeigt. Der Übergang von dieser „zweiten Welt und einem zweitem Leben, außerhalb des Offiziellen“48 zu der heroischen Komplexität und blendenden Einfachheit des Sozialistischen Realismus war bei weitem komplizierter als gemeinhin angenommen wird. Was die offizielle Reglementierung seiner Aufführung betrifft, so wurde der Film aufgrund des nachstehenden Telegramms, das von dem Vorsitzenden des Volkskommissars V. M. Molotov am 25. August 1936 verschickt wurde, aus den sowjetischen und ausländischen Filmstudios zurückgezogen: An Keržencev, an Šumjackij Ich habe den Film Akkordeon gesehen. Der Film ist dumm, vulgär und fremd. Ich bestehe darauf, dass er vollständig und unwiderruflich, auch im Ausland, von den Leinwänden zurückgezogen wird. Керженцеву, Шумятскому Смотрел кинофильм Гармонь. Картина глупая, пошловатая, чужая. Настаиваю на полном снятии ее с экранов, безусловно, отозвав ее и из-за границы.49

48 49

Bachtin, M.: Rabelais and his World. Bloomington 1984, 5-6. Telegramma V. M. Molotova, P. M. Keržencevu i B. Z. Šumjackomu o kinofil’me Garmon’. In: Kremlevskij kinoteatr 1928-1953. 342. Nach dem Telegramm wurde zwei Tage später ein Memorandum von Šumjackij an Molotov versandt, welches erklärte, dass „der Film im Frühjahr 1934 von dem Kino-Kommitee des Genossen Steckij und dem Hauptkommittee für das Kinorepertoire freigegeben worden war“ (Fil’m razrešen k vypusku kinokomissej t. Steckogo i Glavrepeptkomom) und genaue Anweisungen für die zu ergreifenden Maßnahmen gab, den Film von sowjetischen und ausländischen Leinwänden zurückzuziehen. Es folgte am 29. August ein weiteres Memorandum, von P. M. Keržencev unterzeichnet. Es unterstützte Molotovs Telegramm und bestätigte die Maßnahmen, die erfolgen sollten, um den Film zu verbieten. Siehe Kremlevskij kinoteatr. 343-44. Platon M. Keržencev war Vorsitzender des Komitees für Kunst; Boris Z. Šumjackij war der Leiter der sowjetischen Filmindustrie von 1930 bis Januar 1938.

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4. Die Frage nach dem rechten russischen Akkordeon Wenn Dem’jan Bednyj sich der Polemik von 1926 um das Erbe und die Rolle des sowjetischen Akkordeons angeschlossen hat, so war dies nur eine leicht modifizierte Wiederholung des vorrevolutionären Arguments. Als Vasilij Andreev sein „Großrussisches Orchester“ (Velikorusskij orkestr) gründete, das ausschließlich russische Volksinstrumente wie die Balalajka benutzen sollte, schloss er das Knopfakkordeon aus, obwohl selbst Andreev als Teil des Orchesters regelmäßig bis 1892 auf einem fünfknöpfigen „čerepaška“-Modell Akkordeon gespielt hatte.50 Damals wie auch zur sowjetischen Zeit wurden Akkordeons sowie andere diatonische Volksinstrumente, ob rein russischer Abstammung oder nicht, als ein nicht Ernst zu nehmendes Musikinstrument betrachtet. Aufgrund des Einflusses des Orchesters von Andreev und dessen Vorbild gebender Instrumentalisierung sah man bis in die späten 1930er oder 1940er Jahre selten Akkordeons in russischen Volksorchestern. Nur das Rote Armee Ensemble von Aleksandrov bildete eine Ausnahme. Die Herkunft des Akkordeons in einfachen Worten darzustellen und zu rechtfertigen war nicht einfach. Bednyj bemerkt richtig, dass das Instrument erst spät in Petersburg erschienen und ausländischer Herkunft sei. Im neuzehnten Jahrhundert macht das Knopfakkordeon eine Reihe unterschiedlicher Entwicklungen durch. Anders als die weitgehend „nationale“ Entwicklung des deutschen und west-europäischen Knopfakkordeons, wurden in Russland Instrumente mit einzigartigen regionalen Ausprägungen in Saratov, Vjatka, Liven’, Kasimovo und an anderen Orten entwickelt. Diese regionalen „garmoški“ haben nicht einmal gemeinsame Lieder oder Spielmöglichkeiten: „Das Repertoire des Saratover Garmon’ kann nicht auf dem aus Liven’ gespielt werden, das Repertoire des aus Liven’ nicht auf dem aus Bologoje, das Repertoire des Petersburger nicht auf dem aus Novorževo usw.“51 Nach 1797 stellten insbesondere in St. Petersburg und später in Tula Produktionszentren die bekannteren Formen des Instruments her. Tula galt denn auch aufgrund seiner Geschichte der Garmon’-Bauer-„Dynastien“ (den Brüdern Škunaev, 50 51

Popov, V. B.: Orkestr chora imeni Pjatnickogo. Moskau 1979, 28; Baranov, Ju.: Vasilij Andrejev. Tver’ 2001, 43, 55. „[…] репертуар, например, саратовской гармоники невозможно исполнить на ливенке, репертуар ливенки на бологоевской, репертуар петербургской на новоржевской и так далее.“ Mirek, A.: Garmonika: prošloe i nastojaščee. Moskau 1994, 51. In Bezug auf die aktuell wiederauflebende Popularität von Knopfakkordeons für Cajun, Tex-Mex oder moderne irische Musik gibt es auch bei diesen Instrumenten offensichtliche regionale Stile und Repertoires. Die russische Version wurde wahrscheinlich früher entwickelt und blieb für längere Zeit variantenreich.

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der Voroncov Samowarfabrik, Ivan Sizov, Čulkov, Brdykin, Plakidin, Rudakov, Sorvačev und den Grjaznev-Brüdern52) nach 1830 und wohl auch, weil Tula im Zentrum von Russland lag, keine Hauptstadt war, repräsentativ für das „Russische“. Ein neuer Zustrom von westlichen Ven’ka (Wiener) und deutschen Modellen fand in den 1890er Jahren statt. Diese Modelle waren, anders als die russischen, geeignet, das neue, städtische, „internationalisierte“ Repertoire der Zeit zu spielen.53 Schon bald wurden die zwei- und dreireihigen Ven’kaAkkordeons von russischen Instrumentenbauern kopiert. Das Instrument, das aus dieser Zeit bekannt ist, hat nur wenige Akkorde. Die Dur- und drei MollAkkorde sind dabei so eingerichtet, dass es leicht ist, sich zwischen den Basis-Akkorden zu bewegen, indem man die Richtung des Balgs wechselt oder indem man die Position eines einzelnen Fingers ändert. Um die Jahrhundertwende war die Ven’ka genauso populär wie die Chromka, ein nahezu chromatisches Akkordeon, das eine nordrussische Variante des Instruments darstellt. Diese zwei Modelle unterschieden sich fundamental in ihrer Spielweise. Während sich bei der Ven’ka die Tonhöhe mit der Richtung der Balgbewegung ändert, bleibt diese bei der Chromka gleich.54 Das gleiche Lied klang auf beiden Instrumenten unterschiedlich, was auch auf die komponierten Melodien Einfluss hatte. Die Ven’ka konnte ein schnatterndes Stakkato produzieren, während der Balg schnell hin und her sprang um einen Lauf hervorzubringen (trjasti mechami),55 wohingegen die Chromka einen Legato-Ton in einer melodischen Linie hervorbrachte, da der Balg nur den Luftstrom regulierte. Trotz ihrer Bezeichnung war die Chromka aber nicht komplett chromatisch. Diese Neuerung kam erst mit dem Bajan. Das Bajan ist ein voll chromatisiertes Instrument, das um die Jahrhundertwende erfunden wurde. Zunächst wurden auch unvollständig chromatisierte Instrumente nur wegen der Popularität des Namens, der sich auf den russischen mittelalterlichen Barden Bojan aus dem Igorlied bezieht, „Bajan“ genannt.56 Später in den 1930er Jahren wurden andere, nicht ganz chromatische fabrikgefertigte Instrumente manchmal als „Halb-Bajan“ (polubajan) bezeichnet.57 Während der folgenden Jahrzehnte wurde dann die Chromatik standardisiert. Als schließlich dieses Instrument in ausrei-

52 53 54 55 56 57

Ebd., 294-295. Ebd., 55. Ebd., 95. Banin, A. A.: Russkaja instrumental’naja muzyka fol’lklornoj tradicii. Moskau 1997, 168. Banin zitiert Novosel’skij, A.: Kniga o garmonike. Moskau/Leningrad 1936, 41. Mirek, A.: Garmonika: prošloe i nastojaščee. 108. Novye garmonii – polubajan, In: Rabočij kraj. 4 (18. 9. 1936).

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chenden Stückzahlen hergestellt werden konnte, verdrängte es das Garmon’ als professionelles Instrument. Zu diesem Zeitpunkt begann das Bajan ernsthafte Aufmerksamkeit der russischen und bald auch sowjetischen Autoritäten der Kultur- und Bildungsbürokratie auf sich zu ziehen. Während der vorrevolutionäre Gebrauch auf den populären Bühnen stattfand, nahmen sich die Sowjets entschieden an, die Ausbildung der Akkordeonspieler ebenso wie die der klassischen Musikinstrumente wie Violine und Klavier zu formen. Von 1927 an organisierte das 3. Staatliche musikalische Leningrader Technikum Bajan-Klassen, das Moskauer Krasnaja Presnja Technikum folgte 1928.58 Obwohl die ersten Bajan in der Gegend um Voronež frühestens in den 1920er Jahren eintrafen (sogar erst), wurden die ersten Kurse für Bajan-Unterricht und eine Abteilung für Volksinstrumente schon 1929/1930 an der Musikschule (učilišče) in Voronež organisiert.59 1934 gab es bereits Kurse für Bajan-Spieler der Kolchosen in dieser Region.60 Dieser Unterricht war primär für das chromatische Bajan gedacht, da dieses, ähnlich wie die Balalaika und die Dombra, die Möglichkeit hatte, „seriöse“ Musik zu spielen. Tatsächlich konnte das Bajan seinen vormals zweifelhaften Ruf revidieren. Im Umfeld des Konservatoriums und des professionellen Spiels emanzipiert sich das Bajan bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ökonomisch und gesellschaftlich vom Garmon’. Das blieb das preiswerte Amateurinstrument, während das Bajan zum Instrument ambitionierte Musiker avancierte, die das Konservatorium besuchten. In einem anderen Bedeutungsfeld steht das Garmon’-Akkordeon. Aufgrund der Chromatik vermag der Spieler auf dem Bajan zwar ein umfassenderes musikalisches Repertoire zu realisieren, auf der Ven’ka hingegen, kann man Stücke mit mehreren Tonartwechseln oder chromatischen Läufen nur schwer spielen. Bei den russischen Volksliedern und der populären Musik im Stil der Volksmusik jedoch sind die zusätzlichen chromatischen Tasten des Bajans häufig eher störend. Vasilij Paršins außerordentliches Talent auf der Ven’ka beeinflusste Vladimir Zacharovs musikalischen Hintergrund von „Am Dorfrand entlang“ (Vdol’ derevni), das für den Pjatnickij-Chor 1934 komponiert worden ist. Bei der regionalen Moskauer Musikolympiade von 1936 gerieten die Bajanspieler, die in die Begleitung des „vereinten Chors“ einstimmen sollten, in Schwierigkeit mussten dann von Paršin angeleitet werden, der ihnen ein meisterhaftes Spiel auf der Ven’ka vorführte (Ėto

58 59 60

Zavjalov, V. R.: Ot fol’klora do vysokogo professionalizma (istorija razvitja garmonik v Voronežskoj oblasti). Voronež 1977, 27. Ebd., 20, 27, 34-35. Ebd., 25.

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trudno, ne vyjdet! Pozvali Paršina, i on na venskoj garmoške pokasal im „klass igry“).61 Am Anfang seines Gedichts Garmon’ evoziert Nikolaj Kuznecov die ursprüngliche Herkunft des Tula-Garmon’: Dieses klingende Garmon’ Hat ein Meister aus Tula geschaffen, Er hat solch Feuer in es hineingelegt: Es spielt und dein Blut fängt Feuer. Die Akkorde wählte er Um die Jugend zu erfreuen. Und war selbst hoch erfreut Von der zarten, klingenden Stimme. Und Vanek kaufte es, Ein stattlicher, junger Mann ohne Stiefel. In seinen begabten Händen Sang das Garmon’ zum ersten Mal: Ich bin Tula, Tula, Tula – Tula ist meine Heimat! Эту звонкую гармонь Тульский мастер мастерил, Он вложил в нее огонь: Заиграет – кровь горит. На утеху молодым Подбирал ее лады. Дюже был доволен сам Тонким, звонким голосом. А купил ее Ванек, Бравый парень без сапог. Под его рукой умелой, В первый раз гармонь запела: – Тула, Тула, Тула я, Тула родина моя!

Im weiteren Verlauf des Gedichts scheint das Garmon’ der Hauptcharakter zu sein, während seine Besitzer Nebenrollen spielen. Das Gedicht folgt der Geschichte der Spieler des Instruments, von den Streiks (wahrscheinlich 1905) bis zum Ersten Weltkrieg, Fahnenflucht, Revolutionen und Bürgerkrieg. Kuznecovs Gedicht berührt dabei auch Bednyjs Argument, dass das

61

Kaz’min, P.: S pesnej: stranicy iz dnevnika. Moskau 1970, 111.

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Garmon’ eingesetzt würde, um in traurigen Liedern die Vergangenheit zu beschwören. Das Gedicht endet: Und manchmal… (man muss gut zuhören,) Hört man in den Klängen des Garmon’… In den Liedern über das Neue – Glück, In den Liedern über die Vergangenheit – Trauer. И частенько... (прислушать надо,) В ладах у гармони звучат... В песнях о новом – радость, В песнях о прошлом – печаль.

Das Garmon’ bewahrte nicht bloß die traurigen Lieder der Vergangenheit, es reflektierte sie, wie auch die Lieder der Gegenwart, durch seine Musik. Die Brisanz der Beziehung zwischen Kuznecovs Garmon’ und der „Garmon’Debatte“ von 1925/26 liegt darin, dass das Gedicht zwischen April und Juni 1924 geschrieben wurde – in jenem Jahr, in dem Kuznecov Pereval beitrat, seinen Fabrikjob kündigte, den Komsomol verließ und im September 1924 sein Leben durch Selbstmord beendete. Das Gedicht wurde in Kuznecovs Gedichtsammlung Das arbeitende Herz (Rabočee serdce) nach seinem Tod 1925 veröffentlicht. Aleksandr Žarov benutzte eine frühe Strophe von Kuznecovs Garmon’ als Epigraph für sein eigenes Gedicht unter dem gleichen Titel, mit dem er sich in die Polemik um das Akkordeon einschaltete und das ihn mit dem Schriftsteller Ivan Molčanov (1903 – 1984) zusammenbrachte, um dann eine Dramatisierung von Garmon’ zu produzieren, die für Agit-Brigaden, TRAM und andere Amateurgruppen geeignet war. Die Dramatisierung von 1927 in drei Akten mit dem Titel Der Akkordeonspieler Timoška (Timoška-Garmonist)62 weist einige Veränderungen gegenüber dem Gedicht auf. Die Handlung spielt in dem Dorf Pritykino, wo Timofej Vasil’evič Kapustin mit seiner religiösen und abergläubischen Mutter Fetinja lebt, und Marusjas Vater sich nebenher damit beschäftigt, Paare zu verkuppeln. Wie auch im Gedicht stammt Antip aus einem Nachbardorf (Kulakovka) und sein Schicksal bleibt im vorkollektiven Kontext der 1920er Jahre zum Schluss unbestimmt.

62

Žarov A./Molčanov I.: Timoška-Garmonist (Predstavlenie v 3-kh kartinach s prologom. Inscenirovka poėmy A. Žarova Garmon’). Moskau 1927.

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Abb. 8: Al. Žarov – Iv. Molčanov: Timoška-Garmonist (Inscenirovka v 3-ch kartinach poėmy A. Žarova Garmon’). Moskau 1927.

Der Pionier Miška verteilt Post und andere Nachrichten und liefert die meisten Dialoganlässe für eine Art mündliche Katharsis durch Humor. Statt einfach Timoškas Sturheit als Grund für seine Verweigerung, das Akkordeon zu spielen, anzugeben, bietet die Dramatisierung ein Missverständnis als Entschuldigung. Als Timoška zu Beginn der Geschichte einen Brief des Komsomol erhält, hört er an der Stelle zu lesen auf, an der steht, er müsse sich verweigern und liest infolgedessen nicht, was damit gemeint ist: dass er sich nicht dem Garmon’-Spiel verweigern soll, sondern „der bürokratischen Politik des Komsomol, wenn sie nicht der Unterhaltung der Mehrheit der Jugendlichen im Komsomol dient“ und nicht die Möglichkeit der Agitation nutzt (Nado otkazat’sja ot bjurokratičeskoj politiki komsomol’cev, kogda oni prochodjat mimo massovych razvlečenij molodeži). Er wird erst durch einen zweiten Brief auf seinen Fehler aufmerksam. In der Dramatisierung ist Timoška durch Miška auch über die Rauferei zwischen den jungen Männern des Dorfes informiert, zieht es aber vor, „Thesen zu schreiben“ (Pojdi-ka lučše dopisyvat’ tezisy), statt zu intervenieren. Im Gedicht und in dem späteren Film weiss Timoška nicht im Voraus von den Schwierigkeiten im Dorf, und Marusja stellte die Rauferei nicht als dorfinternen Konflikt, sondern als

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Schlägerei zwischen einigen betrunkenen, aufdringlichen jungen Männern (darunter auch Männer des Dorfes) dar. Die Anmerkungen zur Dramatisierung enthalten einen weiteren Hinweis – eine Referenz auf Žarovs Büchlein Das rote Akkordeon. Politische Častuški für das Dorf (Krasnaja garmoška: Derevenskie polit-častuški).63 Obwohl die Dramatisierung keine Produktion der Agit-Brigade war, erschien das Stück so aktuell, wie dies für ein Stück nur möglich war: Ein Dorfjunge, der bei den Mädchen sitzt, erwähnt einen Artikel in der Komsomol’skaja pravda und den Kongress der Akkordeonspieler von 1926 (am Ende des 2. Aktes, Szene 4) im Kontrast zu Timoškas Aussage, das „Zentrum“ habe Akkordeons und Feste verboten. Žarov macht einen Kompromiss in der Schlussszene der Dramatisierung, die ebenfalls von dem Gedicht abweicht. Timoška geht zum Publikum und sagt, dass es zu einem späteren Zeitpunkt „fesselndere“ (pozaboristej) Musik von einem Orchester geben werde, aber „jetzt ist natürlich das Garmon’ unsere Musik.“ (Budet vremja, budet u nas i drugaja muzyka, pozaboristej. Orkestr budet. Pogodite. A teper’, konešno [sic], garmon’ – naša muzyka.) Die Dramatisierung wurde wiederholt, und bis zu der Ausgabe von 1929 hatten die Autoren 32 Seiten Musik, von S. Dunaevskij komponiert, hinzugefügt. Die hauptsächliche Veränderung in der Ausgabe von 1929 ist die Verwendung von Musik. Zahlreiche Častuški werden zwischen die Dialoge eingebaut, und alle 20 Lieder sind am Ende notiert. Es existieren auch Bühnenanweisungen, die angeben, welche Genres benutzt werden sollten. In einigen Fällen konnten dadurch lokale Melodien eingesetzt werden, falls die verfügbaren Musiker die beigefügten Noten nicht lesen können. Die 20 Lieder, die zum Einsatz kommen, sind so geschrieben, dass sie den Möglichkeiten und dem Repertoire der Zielgruppe entsprechen. Die Lieder sind in den meisten Fällen so gewählt, dass sie die Sänger unterstützen. Das instrumentelle Vorspiel für das Garmon’ bringt die Melodie des Stückes und gibt diskret die Anfangsnote für jede Stimme vor; innerhalb eines Liedes führt das Garmon’ den Wechsel von Stimmen und Tonarten an. Das Themenlied des Dramas und andere Motive werden mehrere Male wiederholt und einige traditionelle Melodien sind mit einbezogen, so dass es unter den 20 verschiedenen Lieder viel Bekanntes gibt. Ein kompetenter, Noten lesender Akkordeonspieler und ein Chor waren für das Werk Žarov, Molčanov und Dunaevskij ausreichend, dessen größte Auflage 1929 aus 9.000 Kopien bestand. Doch gab es überhaupt jemanden, der diese speziellen Lieder aufführte, und wenn ja, wurde dann diese fertige Dramatisierung genutzt oder eine spontane, örtliche Interpretation des ursprünglichen Gedichts? Fest steht, dass Žarovs Gedicht Garmon’ von Agit-Brigaden und anderen Gruppen vor 63

In: Novaja Moskva. Moskau, 1922, 1925.

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und nach dem Erscheinen des Films dramatisiert und aufgeführt wurde. Häufig stellt sich dabei allerdings die Frage, wo und aufgrund welcher Materialien die Dramatisierung stattfand, oder auch die, welches Garmon’ auf die Bühne gebracht wurde. Das Haus der Kultur des Distrikts Vasil’evskij in Leningrad brachte 1932 eine Aufführung mit einem Arbeiterchor, einem Orchester von volkstümlichen Instrumenten, Lesern und einer Tanzgruppe. Berichtet wurde aber, es sei Kuznecovs Garmon’ gewesen!64 Es existieren beide Möglichkeiten: entweder wurde tatsächlich Kuznecovs Gedicht benutzt oder jemand hat Kuznecovs Epigraph zu Žarovs Gedicht gesehen und angenommen, Kuznecov sei der Autor. 1934 wurde bei der Olypiade der provinziellen Amateuraktivitäten in Ivanovo Žarovs Garmon’ von der Agit-Brigade der Elektromechanischen Fabrik Jaroslav’ aufgeführt.65 Die Olympiade fand im frühen Mai, vor dem offiziellen Erscheinungstermin des Films statt, sodass die Aufführung wohl nicht auf dem Tonfilm basieren konnte. Sie stützte sich entweder auf die Publikationen 1927 bis 1929 von Žarov und Molčanov oder war eine komplett unabhängige Dramatisierung, die als Teil der regulären Aktivitäten der Agit-Brigade und der TRAM Gruppen stattfand. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Filmversion von Das Akkordeon veröffentlicht. Die Handlung des Films war von der Dramatisierung zu der ursprünglichen Handlungsskizze des Gedichts zurückgekehrt und enthielt weder die Eltern des Paares als Akteure noch den unvollständig gelesenen Brief. Der Film veränderte Antips Charakter deutlich: er war nun nicht mehr nur Kulakensohn, sondern auch „Schädling“. Gegenwärtige Unsicherheiten über das Leben auf dem Land, die Kollektivierung und die Hungersnot, die nicht Teil des Gedichts und der dramatischen Aufführungen waren, gingen in den Film ein. Fröhliche Szenen heben die Wichtigkeit der gesunden Ernährung für Arbeiter auf dem Land hervor und zeigen, wie sie reife Kornfelder ernten. Das letzte Lied erinnert die Zuschauer daran, „die Ernte zu schützen“ (beregi urožaj). Obwohl der Film Stalin nicht gefiel, wurde er aufgeführt. Die Ausgabe vom 16. August 1934 der Provinzzeitung von Ivanovo Leninec enthielt eine Kritik des Films, „der jetzt im Filmtheater von Ivanovo gezeigt wird“.66 Die Kritik erinnerte Leser daran, dass „das Gedicht Garmon’ von A. Žarov den meisten Komsomol-Lesern bekannt ist“ und dass der Streifen „eine wunderbare musikalische Bearbeitung des Komponisten Potockij“ enthält“.67 Der

64 65 66 67

Kargin, A. S.: Samodejatel’noe chudožestvennoe tvorčestvo: istorjia, tėorija, praktika. Moskau 1988, 191. Gotovkin, V.: S povyšennym kačestvom. In: Rabočij kraj, 4 (6. 5. 1934). An. Gr: Garmon’: Novyj fil’m Mežrabpomfil’ma. In: Leninec, 4 (16. 8. 1934). „Большинству комсомольцев хорошо известна поэма А. Жарова Гармонь. На основе этой поэмы Межрабпомфильм и создал одноименную новую картину,

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Film wurde auch im Artikel „Jugend auf dem Land“ in der späten JuliAusgabe der Klub-Zeitschrift von 1934 aufgeführt.68 Wieder einmal stellt sich die Frage nach dem Akkordeontyp. Das Gedicht ruft das Bild eines dreireihigen Akkordeons hervor: Für die Ordnung greife ich Zu einer lauten dreireihigen […] Прихвачу я для порядку Голосистую трехрядку [...]

Aber der Film zeigt sowohl Timofej als auch Antip als Spieler eines zweireihigen Akkordeons. Wenngleich das benutzte Instrument bei den Spielern von mehreren Seiten gezeigt wird, sieht es verdächtig wie ein und dasselbe zweireihige Akkordeon aus, dessen Problem es ist, dass es während des Films zunehmend mehr Knöpfe verliert. Das Akkordeon war der erste Tonfilm einer musikalischen Komödie, und der Soundtrack des Films wartet mit einigen Überraschungen auf. Dazu gehört insbesondere die Art der Tonproduktion im Film selbst, die sich in zwei Elemente teilt: die Akustik des Akkordeons und die der Menschen. Eingespielt wurde der Soundtrack zunächst offensichtlich nicht von einem Akkordeon-, sondern von einem Bajanspieler – nämlich von Aleksandr Kirjuchin, der nach Das Akkordeon auch den Soundtrack für Volga-Volga aufnahm.69 Potockijs Musik für Garmon’ baut nicht auf dem traditionellen Častuška/Garmoška-Motiv auf, das Dunaevskij in der Dramatisierung benutzt hat, sodass es nicht erstaunlich ist, dass der Soundtrack auf einem Bajan gespielt wird. Ein Großteil der Musik ist eher für den Chor geschrieben, lyrisch, sogar pastoral – ein Stil, der besonders in den Ernteliedern zum Tragen kommt. Das Motiv ist in der Filmversion langsamer und stärker legato als in der Dramatisierung. Potockijs Kompositionen sollten einen positiven Hintergrund für den Film bieten. Vor diesem Hintergrund kämpfen zwei andere musikalische Richtungen – die klagenden, vorrevolutionären Lieder von Antip, die der Film so darstellt, dass sie Trunkenheit, Ausschweifungen oder sogar Schlägereien hervorrufen, und Timoškas fröhliche Tanzmusik, die die jungen Farmarbeiter des Dorfes ermutigt, gemeinsam zu feiern. Für die Schlussfeier jedoch bot das gesamte Dorf eine neue Art von Musik, die in gewisser Weise einen positiven Kontrast zu der nahen Bedrohung der überlang gehaltenen Note „C“ (do) der KulakenSänger darstellte. Timoška beschwerte sich, dass er nie eine Pause bekäme:

68 69

демонстрируемую сейчас в кинотеатрах Ивановa [...] прекрасное музыкальное оформление композитора Потоцкого.“ Ebd. Molodež v derevne. In: Klub 14/31. 20. 1934. Mirek, A., ebd., 234.

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Thomas Lahusen, Robin LaPasha, Tracy McDonald

Tanzen ist gut, Doch mein Akkordeon lässt mich nicht tanzen! Плясать хорошо, Так гармонь моя Ех, не пускает плясать меня!

Statt dem Trinkgelage und den Schlägereien, die daraus resultieren, dass die jungen Männer in Antips Lieder mit einstimmen, erlauben die Frauen des Dorfes Timoška eine Pause vom Garmon’, indem sie Mundmusik aufführen. Der Stil der Mundmusik im letzten Teil des Films besteht aus den nicht traditionellen russischen pod jazyk – gesungenen Silben, die eine rhythmische Linie bilden, die die Melodie des Vokalsolos ohne Musikinstrumente unterstützen soll. Sie entspricht auch nicht dem gälischen puirt-a-beul, oder dem amerikanischen „doo-wop“ oder jazz scat. In Das Akkordeon beschränkt sich Mundmusik auf Rhythmus und Hintergrund, ohne Lied oder Solo. Obwohl es Gesang gibt, der als komplexes musikalisches Interludium interpretiert werden kann, der über den Rhythmus der Mundmusik gelegt ist, gibt es keine zugrunde liegende Liedmelodie bis Timoškas vokale Polka-Verse zurückkehren, die instrumental auf seinem Akkordeon gespielt werden. Obwohl der Effekt einer „symphonischen“ Mundmusik entspricht, hat die tatsächliche Produktion der Mundmusik im Film (inklusive der Gesichtbewegungen als Percussion-Effekte) auf diese Weise einen stärkeren Bezug zur gegenwärtigen amerikanischen Hip-Hop „beatboxing“ Musik als zum russischen pod jazyk oder anderen traditionellen Folk- oder Pop-Stilen. Der Schlüssel zu dieser ungewöhnlichen Vokalisierung liegt vielleicht weniger darin, dass die im Film vorgeführte Mundmusik einer russischen (oder anderen) musikalischen Tradition folgt, sondern eher in der Sequenz von Filmszenen, die buchstäblich die Münder der Dorfbewohner zeigt. Ihr Pfeifen, Essen, Spucken, Tinte probieren, Gähnen und Singen werden letztlich in eine sozial positive und vereinigte Form der Mundmusik überführt, die jedoch „handgemacht“, lokal begrenzt und hinsichtlich ihrer oralrhythmisierten Artikulationsform eigentümlich asemantisch bleibt. In einer seiner letzten Einstellungen lässt dieser, auf der Adaption eines Gedichts beruhende Tonfilm die Dorfbewohner ein Lied aufführen, dass partiell ohne sinnhafte Worte auskommt.

Das Akkordeon

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Abb. 9, 10: Ausschnitte aus Igor’ Savčenkos Film Das Akkordeon (Garmon’, 1934)

Nach der Uraufführung des Films folgten weitere Amateur-Produktionen von Garmon’. Die Agit-Brigade des Ljubimovo-Distrikts eröffnete im April 1935 die Olympiade der Kolchosen in der Provinz von Ivanovo mit einer Vorführung, die sich auf Žarovs Gedicht Garmon’ bezog. Die Gruppe folgte der Dramatisierung des Gedichts anhand einer Reihe von Liedern wie beispielsweise dem Marsch aus dem Film Frohe Gesellen (Veselye rebjata).70 Die Gruppe war offensichtlich mit populären Filmliedern aus dem Vorjahr vertraut. Welche Lieder nutzten sie für ihre Produktion von Das Akkordeon? Welche Handlungselemente wählten sie? Eine Agit-Brigade des Rostov-Distrikts, die der Ljubimovo-Gruppe folgte, hatte eine Aufführung geschaffen, die mit „garmoška, Tanz und Gesang speziell der Olympiade gewidmet war.“71 Es ist möglich, dass die Ljubimovo Agit-Brigade entschieden hatte, mehrere Elemente der verschiedenen Versionen von Das Akkordeon zusammenzuführen. Vielleicht benutzten sie das neue Titellied, das eventuell durch Film und Radio vertrauter war, und setzten Antip als Schädling der Zivilisation ein (was der Gruppe erlauben würde, seine Lieder zu spielen), hielten aber den „Erzähler“ davon ab, die Handlung vorwärts zu treiben. Wir wissen, dass die Ljubimovo-Gruppe sich mit der 70

71

„Перед зрителем развертывается сюжет поэмы Жарова Гармонь. Потом звонкие голоса исполняют марш из Веселых ребят. Все песни театрализованы.“ Načalas’ kolchoznaja olimpijada. In: Leninec, 1 (8. 4. 1935). Ebd.

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Entschuldigung vorstellte, dass „das Kollektiv fast keine Noten lesen“72 könne. Die Agit-Brigade bestand aus elf jungen Mitgliedern, denen in der Rezension ein „kraftvoller Auftritt“ und die Fähigkeit, „in einer einfachen Aufführung ihren Gesang und ihre Fähigkeit zum Tanz zu präsentieren“, bescheinigt wurde.73 Im September 1936 druckte die Zeitschrift Klub ein Bild mit einer Textunterschrift, die eine weitere Gruppe nannte, welche Žarovs Das Akkordeon aufführte – die Konzert- und Bühnengruppe des Leningrader Klubs der Drucker-Gewerkschaft (Koncertno-ėstradnaja gruppa Leningradskogo kluba sojuza pečatnikov).74 In Leningrad können es mehr als elf Schauspieler gewesen sein, manche konnten wahrscheinlich Noten lesen, und sie mögen Zugang zu einer Kopie von Timoška-Garmonist gehabt haben. Žarov schrieb seine Sammlung von Častuški, Das rote Akkordeon (Krasnaja Garmoška), 1922; 1926 verfasste er Garmon’, 1927 TimoškaGarmonist und mit Savčenko arbeitete er 1934 an dem Film Das Akkordeon. Žarov ist dem Thema des Akkordeons treu geblieben. In seinen nach 1945 entstandenen Gedichten Das Akkordeon kehrte aus dem Krieg zurück (Garmon’ s vojny vernulas’) und Timofej erinnert sich an heute (Timofej segodnja vspominaet) wird davon erzählt, wie polnische Bauern in Warschau und Poznan den russischen Akkordeonisten umarmt haben, oder davon, wie sich Timofej an die glorreichen Tage der Kollektivierung erinnert und an „Marusjas Stimme, klar und fließend, wie reifes Getreide“ (U Marusi, slovno kolos – čistyj nalivnoj).75 Žarovs Protagonist Timofej führt dabei die alte Polemik fort, wenn er aus dem Krieg mit den Worten zurückkehrt, „[d]ies sind keine deutschen Trophäen / dies ist unser russisches garmon’“ und seine Erinnerungen mit „[h]at mein garmon’ nicht / für die ersten Kämpfe für die Kolchose gesungen?“ begründet. Schließlich schreibt Žarov ein hymnisches Gedicht mit dem Titel Tul’skij bajan, das an anfängliche Teile von Kuznecovs Garmon’ erinnert und dessen erste Strophe davon handelt, wie ein junger Mann nach Tula fährt, weil „er ein Bajan aus lokaler Produktion kaufen möchte“. Žarovs andere Werke beziehen sich kontinuierlich auf Lieder (Pesnja vljublennogo), Walzer (Amurskij val’s) und schließen sogar Lezginka-Tänze (Kerim). Sein gesamtes poetisches Œuvre war stark dominiert von Liedern und Tänzen. Dennoch gelang es ihm nicht wirklich, dieselbe Popularität zu 72 73

74 75

„Он просил извинить, что коллектив почти совсем не умеет петь по нотам.“ Gotovkin, V.: Častuški na parade. In: Rabočij kraj, 3 (9. 4. 1935). „Любимская бригада дала сочное выступление […] так сильно, в простой инсценировке сумели показать они и свое вокальное искусство, и умение танцевать.“ Ebd. Berlin, A.: Foto mit Untertext O rukovoditeljach samodejatel’nych kollektivov. In: Klub, 18 (1936), 44. Žarov, A.: Garmon’. Poėma. Moskau 1978, 28-29.

Das Akkordeon

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erlangen wie beispielsweise Michail Isakovskij, oder sogar dem Mitautor von Timoška-Garmonist, Molčanov, der später ein Gedicht über das ermordete Komsomol-Mitglied Petr Djakov schrieb, das in den frühen 1930er Jahren musikalisch umgesetzt und aufgenommen wurde. Ähnlich wie dem Regisseur Savčenko mit seinem Film Das Akkordeon blieb Aleksandr Žarov, der das Akkordeon im Geist der 1920er beschwört hatte, ein Hit in der sowjetischen musikalischen Massenkultur verwehrt.

Übersetzung: Eva Rottmann

K O N S TA N TIN B O G D A N O V

Rituale der Politik und Politik der Rituale Zur Folklore der sowjetischen Kultur Das Studium der sowjetischen Vergangenheit ist auf die eine oder andere Weise mit der Frage verbunden: „WIE war das möglich?“ Trotz ihrer scheinbaren Schlichtheit ist diese Frage keineswegs trivial und nicht leicht zu beantworten. Seit den ersten nachrevolutionären Jahren haben Augenzeugen und unbeteiligte Beobachter der in Sowjetrussland statthabenden Ereignisse stets gerne zu Epitheta und Metaphern Zuflucht genommen, welche die sowjetische Wirklichkeit als eine schilderten, die nicht nur der bekannten sozialen Erfahrung, sondern auch dem gesunden Menschenverstand widersprach. Gründe für solche Bewertungen gab es genügend, sowohl für die Zeitgenossen wie für jene, welche retrospektiv über Geschichte, Kultur und Alltagsleben der Sowjetmenschen urteilen und geurteilt haben. Die Vorgänge im Land schienen eine kollektive geistige Verwirrung zu sein, das Resultat eines Denkfehlers und die Offenbarung des Antimenschlichen im Menschen, der Triumph von kultureller Entropie und Antihumanismus. Das Pathos solcher Bewertungen ließ auch wissenschaftliche Forschungen auf dem Gebiet sowjetischer Geschichte und Kultur nicht unberührt. Beispiele von Unsinnigkeit und Absurdität – einer erschreckend unheilschweren oder kuriosen und fast komischen Absurdität – schufen von Anfang an einen Kontext, der das Gebiet der Sowjetologie begleitete – wenn man unter Sowjetologie nicht bloß politologische Kremlkunde verstehen will, sondern eine multidisziplinäre Wissenschaft von den Erscheinungen und Ereignissen, die die Spezifik der sowjetischen sozialen Erfahrung charakterisieren.1 Die Konzeptionen und Methoden, die bemüht wurden, um Licht auf die Besonderheiten der Innenund Außenpolitik der Sowjetmacht zu werfen, appellierten dabei bewusst an die Erklärung nicht einer Norm, sondern einer Pathologie. Die grundlegendsten „anthropologischen“ Argumente in dieser Hinsicht hat der deutsche Altertumshistoriker Otto Seeck formuliert, der auf seiner (auf die Geschichte des altgriechischen politischen Denkens zurückgehen1

Für einen gehaltvollen Überblick zu Begriffs- und Fachgeschichte der Sowjetologie vgl. Men’kovskij, V. I.: Vlast’ i sovetskoe obščestvo v 1930-e gody. Angloamerikanskaja istoriografija problemy. Minsk 2001. (elektronische Version: url: http://nature.web.ru/msg.html). Vgl. auch Petrov, E. V.: Istorija amerikanskogo rossievedenija. Sankt Petersburg 1998.

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den) Lieblingsthese von der prinzipiellen Ungleichheit der Menschen bestand, einer von Anfang an konfliktvollen Koexistenz von herausragenden Individuen und einer talentlosen, neidischen Masse. In der Einleitung zu seiner Entwicklungsgeschichte des Christentums (1921) erklärte Seeck die Ereignisse in Sowjetrussland als eine anschauliche Wiederholung des Endes der antiken Zivilisation – die Revanche der „Schlechteren“ (griech. πονηροι) an den „Besseren“ (griech. αριστοι).2 In den folgenden Jahren griffen gelehrte Sowjetologen in der Erklärung der offenkundigen Ungereimtheiten der sowjetischen Wirklichkeit oft auf geschichtliche Analogien zurück, die die Exzesse willkürlicher Machtherrschaft und die Grenzen sozialen Leidens demonstrieren sollten. Eine Terminologie, mit der die Besonderheiten politischer Herrschaft in den Begriffen von Norm und ihrer Überschreitung dargestellt werden können, scheint auch in diesem Fall – und bei weitem nicht nur in Bezug auf die Geschichte der Sowjetunion – geboten zu sein. Es gibt zu bedenken, dass die Geschichte der Institutionen politischer Macht selbst Beispiel eines Prozesses ist, der, wie Harold Lasswell bemerkte, die irrationalen Grundlagen der Sozialität besonders sichtbar werden lässt. Wenn als Ziel der Politik die Auflösung der Widersprüche gelten kann, die dem menschlichen Zusammenleben von Anfang an eigen sind, dann ist auch klar, dass sich solche Lösungsfindungen nicht auf die Sphäre der Rationalität beschränken.3 Auf dieser Grundlage hielt Lasswell selbst es für möglich, die Politik als Fach der Psychopathologie zu studieren. Von der Verführungskraft einer medizinischen und psychiatrischen Terminologie wurden stärker noch jene Historiker berührt (und in ihrem Gefolge Kultur- und Literaturhistoriker), welche, in Anlehnung an Lloyd DeMause, versuchten, die Vergangenheit auf der Basis von Methoden der Psychiatrie und insbesondere der Psychoanalyse zu verstehen.4 Die geschichtlichen Analogien, die es erlaubten, in der sowjetischen Vergangenheit Gesetzmäßigkeiten (oder Widersprüchlichkeiten) der Menschheitsgeschichte zu erblicken, variierten – die Kampfgenossen Lenins und die Jakobiner, Stalin und Peter der Große, Stalin und Iwan der Schreckliche, der sowjetische Totalitarismus, der deutsche Faschismus, der chinesische Maoismus usw.5 Insgesamt konvergierten sie 2 3 4

5

Seeck, O.: Entwicklungsgeschichte des Christentums. Stuttgart 1921. Vgl. auch Seeck, O.: Geschichte des Untergangs der antiken Welt. Bd. I-VI. Berlin 1894 – 1921. Lasswell, H. D.: Psychopathology and Politics. New York 1930, 184 ff. DeMause, L.: Foundations of Psychohistory. New York 1982. Vgl. dazu insbesondere eine Studie, die den Akzent auf die „pervertierte Moral“ Lenins legt: Mai, G.: Lenin – die pervertierte Moral. Berneck 1988. Backer, G.: The Deadly Parallel: Stalin and Ivan the Terrible. New York 1950; Deutscher, I.: Ironies of History. London 1966 (sowie die frühen Arbeiten dieses Autors); Cassinelli, C.: Total Revolution. A Comparative Study of Germany under Hitler, the

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aber in einer vorhersagbaren Schlussfolgerung: die Ereignisse im sowjetischen Russland können als irrational und absurd bezeichnet werden, sind aber rational erklärbar durch die Gewaltherrschaft eines Machtapparats, durch Propaganda, Angst und den sozialen Fanatismus. Die Abwertung des „totalitären Paradigmas“ der westlichen Sowjetologie hat die Vorstellung von einer einheitlichen Ausrichtung der sozialen Kontrollmechanismen in der sowjetischen Gesellschaft in Frage gestellt und hat dafür mehr Gewicht auf eine Auffächerung der diskursiven Wechselwirkungen zwischen Macht und Gesellschaft gelegt (berücksichtigend, dass die kontrollierenden Machtinstanzen nicht einfach nur von außen an das Subjekt herantreten).6 Doch sie hat nichts an der Vorstellung der sowjetischen Gesellschaft als einer Gesellschaft verändert, die an eine ideologische Utopie glaubt und aus diesem Grund Dinge als unausweichlich oder nötig annimmt, die für den Bewohner einer westlichen Demokratie nur schwer vorstellbar sind.7 Vor diesem Hintergrund der Diskussionen von westlichen, heute auch schon russischen Soziologen und Historikern über die Hierarchie der Faktoren, welche die Langlebigkeit des sowjetischen sozialen Experimentes begünstigt haben (das Erbe der vorrevolutionären Machttradition, kulturelle Trägheit, die Auswirkungen von Terror auf das Massenbewusstsein und die soziale Psychologie), bleiben Argumente für die Anziehungskraft kommunistischer Ideale fruchtbar, und sei es auch nur in jener Hinsicht, dass sie die

6

7

Soviet Union under Stalin, and China under Mao. Santa Barbara 1976. Für eine Kritik an der Begründetheit historischer Analogien, die dem Verständnis der Spezifik des Stalinismus im Weg stehen, vgl. Dallin, A.: Bias and Blunder in American Studies on the USSR. In: Slavic Review. Vol. 32, 3. (1973), 560-576. Von grundlegender Wichtigkeit waren in dieser Hinsicht thematische Ausgaben zu den Perspektiven sowjetologischer Forschung: The Russian Review. Vol. 45, (1986); The Russian Review. Vol. 46, (1987). Zum heutigen Stand der Dinge vgl. Edele, M.: Soviet Society, Social Structure, and Everyday Life. Major Frameworks Reconsidered. In: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History. Vol. 8, 2. (2007), 349-373. Vgl. dazu eine relativ junge Studie, die den sowjetischen Alltag in den 1920er und 1930er Jahren mit der Konzeption abweichenden Verhaltens analysierte: Lebina, N. B.: Povsednevnaja žizn’ sovetskogo goroda. 1920 – 1930 gody. Sankt Petersburg 1999. In Ergänzung zu den Argumenten des Autors kann man daran erinnern, dass am Ende der 1930er Jahre „im Strafapparat und seiner Infrastruktur bis zu einer Million Menschen arbeitete, die ein Interesse hatte an permanenter Repression und Diskrimination“ (Krasil’nikov, S. A.: Na izlomach social’noj struktury. Marginaly v poslerevoljucionnom rossijskom obščestve (1917 – konec 1930-ch gg.). Novosibirsk 1998, zitiert anhand der elektronischen Version des Textes: url: http://www.zaimka.ru/soviet/krasiln1_p6.shtml). Es stellt sich die Frage, ob man auch diese Tatsache als Zeugnis „abweichenden Verhaltens“ werten kann.

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Bereitschaft des Sowjetmenschen erklären, die Unbilden der Gegenwart zu ertragen im Hinblick auf eine unausweichlich glückliche Zukunft.8 Eine eschatologisch „retrospektive“ Beziehung zur laufenden Geschichte, die aus der Perspektive einer quasi schon eingetretenen Zukunft beurteilt wird, tritt in der sowjetischen Variante des Marxismus klar umrissen zutage. „Erinnerungen an die Zukunft“ charakterisieren die sowjetische Propaganda der ersten Jahre nach der Revolution in gesetzmäßiger Übereinstimmung mit dem schon lange festgestellten Widerspruch zwischen den Postulaten über die Determiniertheit der Weltgeschichte und ihre Abhängigkeit vom revolutionären Eingreifen9 einerseits und dem quasireligiösen Charakter der marxistischen Lehre andererseits.10 Mircea Eliade – einer der ersten, der das Empfinden einer linearen (weltlichen) und einer zyklischen (heiligen) Zeit als zu einander scharf entgegengesetzt konzipierte – hat nicht zufällig letztere Zeitempfindung nicht nur mit den archaischen Kulturen in Verbindung gebracht, sondern auch mit der Realisierung der marxistischen Utopie, deren Ziel die Errichtung einer Gesellschaft nach dem Muster der mythologischen Träume vom Goldenen Zeitalter war. Marx hat laut Eliade diesen in archaischen Kulturen so verbreiteten Mythos nur mit der messianischen Ideologie des Juden- und Christentums kompliziert – mit der Rolle des ProphetenProletariats, dessen erlösende Mission zum letzten Kampf zwischen Gut und Böse führen wird (Christus und Antichrist), und zum endgültigen Sieg des Guten.11 Die Rhetorik der Sowjetpropaganda stimmt mit den Überlegungen von Eliade in jener Hinsicht überein, dass die Metaphysik der Geschichte und die Psychologie des Leidens in der Retrospektive der sowjetischen sozialen Erfahrung sich gegenseitig ergänzende Bedingungen des revolutionären Projekts bilden, die von Anfang an die sowjetischen Menschen einer8

9 10

11

Ignatov, A.: Psychologie des Kommunismus. Studien zur Mentalität der herrschenden Schicht im kommunistischen Machtbereich. München 1985; Hellbeck, J.: Revolution on My Mind. Writing a Diary Under Stalin. Cambridge/London 2006. Stammler, R.: Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Leipzig 1906. Jaspers; K.: Möglichkeiten eines neuen Humanismus. Rechenschaft und Ausblick. München 1951. Vgl. auch die klassische Monographie zur „säkulären Religiosität“ der Bolschewiken: Gurian, W.: Der Bolshevismus. Einführung in Geschichte und Lehre. Freiburg im Br. 1931. Ich erinnere auch an die schon von N. Berdjaev bemerkte marxistische „Spiritualisierung“ der Materie, die in den Termini Freiheit, Aktivität und Verstand gedacht wurde (Berdjaev, N. A.: Istoki i smysl russkogo kommunizma. Moskau 1990, 122.) Eliade; M.: The Sacred and the Profane. The Nature of Religion. London 1959. Vgl. auch: Denno, T.: The Communist Millenium. The Soviet View. The Hague 1964; Gilison, J. M.: The Soviet Image of Utopia. Baltimore 1975; Lee, F. N.: Communist Eschatology. A Christian Philosophical Analysis of the Post-Capitalistic Views of Marx, Engels, and Lenin. Nutley (N. J.) 1974.

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seits zu Entbehrung und Unglück zwangen und sie andererseits zum Warten auf Errettung verpflichteten. Soziologische Befragungen vom Anfang der 1990er Jahre zeigen, dass die Vorstellung vom „Sowjetmenschen“ als einem „Menschen des Leidens“ (homo patiens), gleichzeitig mit einem relativ starken Glauben an eine bessere Zukunft ausgestattet, in ihren grundlegenden Zügen immer noch maßgeblich ist für die Beurteilung der sozialpsychologischen Atmosphäre, in welcher die sowjetische Gesellschaft gelebt hat.12 Über ein großes Vertrauen der sowjetischen Menschen in das kommunistische Projekt selbst kann man in jenen Jahren nicht mehr sprechen,13 aber bis Mitte/Ende der 1960er Jahre war die Situation noch eine ganz andere. Anders kann man zum Beispiel den soziologisch beglaubigten Erfolg von Autoren und Büchern nicht verstehen, die eine propagandistische Didaktik mit moralisch-sittlichen Predigten eines erlösenden Stoizismus verbanden. Solches waren insbesondere die Nachkriegsbestseller Das Glück (Sčact’e) von P. Pavlenko, Fern von Moskau (Daleko ot Moskvy) von V. Ažaev, Die Jugend ist mit uns (Molodost’ s nami) und Die Žurbins (Žurbiny) von V. Kočetov, Der Hof in der Steppe (Chutorok v stepi) von B. Polevoj, Sentimentaler Roman (Sentimental’nyj roman) von V. Panova sowie Schlacht unterwegs (Bitva v puti) von G. Nikolaeva. Der Held eines Stücks von Aleksandr Kron, Kandidat der Partei, das einen großen Zuschauererfolg verbuchen konnte, begeisterte sein Publikum mit einer Erörterung darüber, wie ein wahrer Kommunist zu sein hat: Ein wahrer Kommunist – das ist jemand, der im kommunistischen Morgen war, das glückliche Leben auf Erden erblickt hat, jenes Leben schon berührt hat. [...] In seinen Gedanken hat er sich dahin versetzt, mit seinem inneren Blick hat er erblickt, mit dem Herzen berührt. Und für kurze Zeit ist er von dort entlassen worden, um den Menschen von diesem Leben zu erzählen, zu sagen wie nahe es ist, und den Weg zu weisen. Aber man muss kämpfend gehen – kämpfend in der ersten Reihe, begeistern und führen, das Leben zum Opfer bringen, sollte es nötig sein …14

Das angeführte Zitat zeigt ein Denken über Geschichte, das die Gegenwart in ein quasi-sakrales Nacherleben dessen verwandelt, was bereits geschehen 12 13 14

Sovetskij prostoj čelovek. Opyt social’nogo portreta na rubeže 90-ch g. Hrsg. von Ju. A. Levada. Moskau 1993. Yurchak, A.: Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation. Princeton 2006. „Настоящий коммунист – это человек, который в коммунистическом Завтра был, видел счастливую жизнь на земле, прикоснулся уже к этой жизни. [...] В мыслях своих переносился, внутренним взором видел, сердцем прикоснулся. И отпущен он оттуда на короткий срок для того, чтоб рассказать о ней людям, сказать, что близко она, и дорогу указать. А придется с боями идти – биться в первом ряду, вдохновлять и вести, жизнь положить, если надо …“ Kron, A.: P’esy i stat’i o teatre. Moskau 1980, 330.

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ist. In Bezug auf die christliche Historiosophie hat Karl Löwith eine solche Situation treffend als „perfekte Gegenwart“ (perfectum praesens) bezeichnet.15 Hier wird ein Gedankengang reproduziert, der der europäischen Philosophie seit Platon bekannt ist, bei dem das Erlangen der Wahrheit auch nur eine Art Erinnerung an das Zukünftige war – die Erinnerung der Seele daran, was ihr vor ihrer Geburt in die Welt gegeben war. Die Wiederholung ist in diesem Fall nicht einfach – wie in einem lateinischen Sprichwort – „die Mutter des Lernens“, sondern auch Gewähr dafür, dass die Zukunft vorherbestimmt ist, sei es auch nur in der Beziehung auf ihre Vergangenheit. Wie nebulös sich das kommunistische Morgen dem Sowjetmenschen auch immer präsentieren mochte, er konnte überzeugt sein, dass jenem Morgen das gegenwärtige Vorgestern erhalten bleiben würde: Lenin, Stalin, die Revolution, der Vaterländische Krieg, die ersten Flüge in den Kosmos usw. Die ganze Rhetorik der sowjetischen und vor allem der Stalinpropaganda basierte vorhersehbar auf der Figur der Erinnerung, die zu einem solchen Erleben der Geschichte zwang, in welchem die Zeit entweder anhielt oder sich im Kreis bewegte – ähnlich, wie in der Natur die Jahreszeiten aufeinander folgen. So lautet ein Vers der Sowjetzeit: „Der Frühling ist vorbei, der Sommer angebrochen, – wie’s uns die Partei versprochen!“ (Prošla vesna, nastalo leto, – spasibo Partii za ėto!) Am unmittelbarsten lässt sich das Gesagte gewöhnlich in Bezug auf die sowjetische Kultur der Stalinzeit und insbesondere auf ihren Hauptschöpfer, Stalin selbst, illustrieren. Laut eines Befunds von B. S. Ilizarov, der im Detail die Privatbibliothek und die Randbemerkungen von Stalin als Leser studiert hat, muss man als Lieblingshistoriker des Führers „ohne jegliche Konzessionen“ den Akademiker R.Ju. Vipper nennen, Autor der Bücher Skizzen der Geschichte des Römischen Imperiums (1908), Das alte Europa und der Osten (1916) und Geschichte Griechenlands in der klassischen Epoche, 9. – 5. Jh. v. Chr. (1916), ausgiebig von Stalin mit Kommentaren versehen.16 Der Forscher und Archivar Ilizarov hielt sich nicht mit der historischen Konzeption Vippers auf, welche unter anderem gerade deshalb bemerkenswert war, weil Vipper projektive historiosophische Konzeptionen unveränderlich als retrospektive beschrieb. Besonders unzweideutig hat sich Vipper zum Sozialismus geäußert, in dem er nicht ein Projekt der Zukunft sah, sondern eine sich im Heute manifestierende Erfahrung der Vergangenheit – aus der Ge15 16

Löwith, K.: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. 2. Aufl., Stuttgart 1953, 168. Ilizarov, B. S.: Stalin. Štrichi k portretu na fone ego biblioteki i archiva. In: Novaja i novejšaja istorija 2000, 3-4. Vgl. auch: Perrie, M.: The Cult of Ivan the Terrible in Stalin’s Russia. Studies in Russian and Eastern European History. New York 2001, 12 ff.

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schichte bereits bekannte Versuche, eine Gesellschaft auf dem Prinzip der „freiwilligen Zwangsarbeit“ zu gründen.17 Der „Mensch der Epoche des Stalinismus“ war von Anfang an dazu bestimmt, vor der Angst vor der Geschichte durch das „Glück“ der rituellen Rückkehr zu einem unveränderlichen Heiligtum gerettet zu werden. Die Geschichte der Partei und Stalin, der „Lenin von heute“, wie es im hagiographischen Eifer bei Henri Barbusse heißt, verbürgen diese rituelle Rückkehr.18 Der gedruckte Text des kanonischen Kurzen Kurses der Geschichte der VKP(b) endete denn auch bezeichnenderweise mit der abschließenden Meldung: „Ende.“19 Es erstaunt auch nicht, dass das politisch-theologische Porträt des Stalinregimes auf der Idee der Allgegenwart Stalins basierte, dessen Präsenz als zeit- und raumübergreifend gedacht wurde: Der Grubenarbeiter, in die Erde hinabsinkend, verbindet seine Rekorde mit dem Namen Stalins. Der Schmied in der Fabrik widmet seine Leistungen dem großen Führer. Der Bauer, um die neue Ernte kämpfend, beschwört den Namen Stalins. Der Gelehrte, sich an den Schreibtisch setzend, unterhält sich in Gedanken mit Stalin.20

Überflüssig zu sagen, dass Zitate und Beispiele im oben beschriebenen Geist noch seitenweise angeführt werden könnten.21 Deshalb ist es kaum anzunehmen, dass hier nur Unterwürfigkeit, Angst oder prinzipienloser Zynismus am Werk ist. Vielmehr scheinen hier Erklärungen angemessen zu sein, die die sozialen Mechanismen ideologischer Kontrolle komplexer psychologischer Beobachtungen anhand typologisch ähnlicher Beispiele von Massen17

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Vipper, R.: Očerk istorii socializma v novejšee vremja. Vgl. auch: Vipper, R.: Obščestvennye učenija i političeskie teorii. Moskau 1925 ; Vipper, R.: Krugovorot istorii. Berlin 1923. Im Entwurf einer Kurzen Biografie I.V. Stalins (Kratkaja biografija I.V. Stalina) redigierte Stalin selbst den Ausdruck „Stalin ist der Lenin von heute“ mit einem ausführlicheren Satz den ursprünglichen Text ausschmückend: „Stalin ist der würdige Nachfolger des Werks von Lenin, oder – wie man bei uns in der Partei sagt – Stalin ist der Lenin von heute“. (Material dlja Prezidiuma CK KPSS O biografii I.V. Stalina. In: Bol’šaja cenzura. Pisateli i žurnalisty v strane sovetov. Moskau, 2005, 659). Vgl. die Interpretation dieser Endung als Hervorhebung des Endes des Narrativs und somit auch der Geschichte selbst: Dobrenko, E.: Meždu istoriej i prošlym. Pisatel’ Stalin i literaturnye istoki sovetskogo istoričeskogo diskursa. In: Socrealističeskij kanon. Hrsg. von H. Günther und E. Dobrenko. Sankt Petersburg 2000, 670-671. „Шахтер, опускаясь под землю, связывает с именем Сталина свои рекорды. Кузнец на заводе посвящает свои достижения великому вождю. Колхозник, борясь за новый урожай, клянется именем Сталина. Ученый, садясь за письменный стол, мысленно беседует со Сталиным.“ Gulia, G.: Imja ljubimogo voždja. In: Pobeždennye veršiny. Ežegodnik sovetskogo al’pinizma. Moskau 1950, 7. Hinweise auf Charakter und Ausmaß des Stalinkultes in der Belletristik gibt insbesondere die Zusammenstellung musterhafter Beispiele in Čeremin, G. S.: Obraz I.V. Stalina v sovetskoj chudožestvennoj literature. Moskau 1950.

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hysterie und einer kollektiven Psychose betrachten, die nicht nur politischideologische, sondern auch religiöse und folkloristisch-ethnographische Analogien aufzeigt. Hier gibt es die Tatsache zu bedenken, dass sich in der russischen Geschichte Beispiele von Massenhysterien, die nach der bekannten Formulierung von Gustave Le Bon „den Ersatz eines bewussten Wirkens von Individuen durch die unbewusste Tätigkeit einer Masse“ demonstrierten, das ganze 19. Jahrhundert hindurch sporadisch manifestierten – die Massenformen der Hysterie (klikušestvo), die weite Verbreitung von Sekten der Chlysten und Skopzen – und sich gerade am Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts intensiv häuften, womit sie den Anstoß gaben für sozial-psychologische, ethnographische und religionswissenschaftliche Forschungen zu den Gesetzmäßigkeiten kollektiver (Selbst-)Suggestion. Die Begründer solcher Forschungen in Russland – I. M. Balinskij, A. A. Tokarskij, V. N. Ergol’skij, V. Ch. Kandinskij, N. V. Krainskij, P. I. Jakobija, V. I. Jakovenko, aber vor allem I. A. Sikorskij und V. M. Bechterev – betrachteten die Manifestationen von Massenbesessenheit (die „Malevanščina“-Sekte, die „Tiraspolschen Selbstbestattungen“, die „Bewegung von Baltsk“, die Tätigkeit von B. Vaisov im Kazaner Gouvernement, der „Bejlis-Prozess“ u.a.) als Resultat einer „pathologischen Nachahmung“ und einer „herbeigeführten Geistesverwirrung“ mit einem psychologisch ansteckenden Effekt, der unter bestimmten sozialen Bedingungen verstärkt wurde. Zu solchen Verstärkungsfaktoren gehören ein psychologisch starker Führer, die Absonderung einer Gruppe, oder mediale Mittel.22 In übereinstimmenden Bildern werden schon bei Kandinskij und 22

Vgl. zum Beispiel: Kandinskij, V.Ch.: Nervno-psichičeskij kontagij i duševnye ėpidemii. In: Ders.: Obščeponjatnye psichologičeskie ėtjudy (očerk istorii vozzrenij na dušu čeloveka i životnych). Moskau 1881 (erste Publikation in Priroda. 2, 1876); Jakovenko, V. I.: Inducirovannoe pomešatel’stvo (folie a deux) kak odin iz vidov patologičeskogo podražanija. Sankt Petersburg 1887; Tokarskij, A. A.: Psichičeskie ėpidemii. Moskau 1893; ders.: Merjačenie i bolezn’ sudorožnych podergivanij. Moskau 1893; Sikorskij, I. A.: Psichopatičeskaja ėpidemija 1892 g. v Kievskoj gub. Kiev 1893 (die wissenschaftlichen Verdienste der Arbeiten von Sikorskij sollen natürlich die antisemitische Tätigkeit des Gelehrten nicht verschleiern, der überzeugt war von einer anthropologisch rassischen Verwandtschaft zwischen religiöser Besessenheit und revolutionärem Utopismus, vgl. dazu genauer: Menžulin, V.: Drugoj Sikorskij. Neudobnye stranicy istorii psichiatrii. Kiev 2004); Bechterev, V.: Rol’ vnušenija v obščestvennoj žizni. Sankt Petersburg 1898; Krainskij, N. V.: Porča, klikuši i besnovatye kak javlenija russkoj narodnoj žizni. Mit einem Vorwort von V. M. Bechterev. Novgorod 1900; Jakobij, P.: Religiozno-psichičeskie ėpidemii. In: Vestnik Evropy. Buch 10-11 (1903), 732-758, 117-166. Vgl. auch: Rochlin, L. L.: K istorii otnošenij otečestvennoj psichiatrii i social’noj psichologii. In: Psichologičeskij žurnal. 3 (1981), 150-156; Ščigolev, I. I.: Psichičeskie ėpidemii i otečestvennaja psichiatrija. In: Moskovskij psichologičeskij žurnal. 4 (2007) url: http://magazine.mospsy.ru/nomer4/shig01.shtml

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später bei Sikorskij und Bechterev die sozialen Manifestationen eines revolutionären Utopismus beschrieben. In den nachrevolutionären Jahren präzisierte der nach seiner Emigration aus Russland in Prag arbeitende Psychiater G.Ja. Trošin diese Beschreibungen. Er klassifizierte die vielfältigen sozialen Formen „psychischer Ansteckung“ in Formen „kollektiver Psychose“, ethnographische Epidemien sowie dämonologische, ideologische, revolutionäre und alltagsweltliche Epidemien der „laufenden Zeit“.23 Charakteristisch ist, dass von Bechterev die Verbreitung von Vorstellungen und Ideen, innerhalb religiös-mystischer und revolutionärer Gruppen als „psychopathische Epidemien“ interpretiert und ethnologisch-semiotisch mit einem Verweis auf das Prinzip der „symbolischen Ökonomie“ erklärt wurde: „Die Symbolik strebt danach, komplizierte Erscheinungen mit augenfälligen und auf jeden Fall ausdrucksstarken und leicht verständlichen Zeichen zu ersetzen.“24 In dieser Zeit wird auch die Russische Revolution unter dem Gesichtspunkt einer sozialen Pathologie beschrieben. Laut Berdjaev gehören dazu die apokalyptischen Ideen des radikalen Sektentums.25 In Geist und Gesicht des Bolschewismus, einem am Ende der 1920er Jahre populären Buch von René Fülöp-Miller, gewinnt diese Idee mit einem Seitenblick auf die Tradition der Flagellanten an „religionswissenschaftlicher“ und folkloristisch-ethnographischer Bestimmtheit,26 indem die Suche nach möglichen Analogien zwischen der politischen Tätigkeit der Bolschewiki und der „Vielfalt religiöser Erfahrung“ im vorrevolutionären Russland angeregt wird.27 Vor diesem Hintergrund erscheinen aktuelle Forschungen zum Ritual und zu rituellen Sprachformen von weitreichender Relevanz für das Verständnis der sowjetischen Kultur. Besonders produktiv ist der von John Du Bois entwickelte Begriff der „evidentiellen“ Aussagen – von Aussagen, die ihre rituelle Kraft als allgemeine, entpersönlichte, anonyme Texte dadurch gewinnen, dass sie mit ihren Parallelismen (Wiederholungen und Paraphrasen) und Formalisierungen sowie einer esoterischen Entpersönlichung von Urheberschaft strikt komplimentär zur gewöhnlichen Rede funktionieren.28 Die propagandis23 24 25 26 27

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Trošin, G. Ja.: O stroenii psichoza. Prag 1923. Bechterev, V. M.: Kollektivnaja refleksologija. Sankt Petersburg 1921, 358. Berdjaev, N.: Russkaja religioznaja psichologija i kommunističeskij ateizm. Paris 1931. Fülöp-Miller, R.: Geist und Gesicht des Bolschewismus. Leipzig, Wien 1926. Vgl. aus den neusten Untersuchungen in dieser Richtung: Ėtkind, A.: Chlyst. Sekty, literatura i revoljucija. Moskau 1998. Vgl. auch: Ėtkind, A.: Russkie sekty vse ešče kažutsja „obscure“. In: Ders.: Non-fiction po-russki pravda. Moskau 2007, 91-107. Du Bois, J. W.: Self-Evidence and Ritual Speech. In: Evidentiality. The Linguistic Coding of Epistemology. Hrsg. von Chafe, W./Nichols, J.. Norwood 1986, 313-316. Vgl. auch: Urban, G.: The “I” of Discourse. In: Semiotics, Self and Society. Hrsg. von B. Lee / G. Urban. Berlin 1989, 27-51; Boyer, P.: Tradition as Truth and Communication. A Cognitive Description of Traditional Discourse. Cambridge 1990.

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tischen Losungen, die den Sowjetmenschen auf Schritt und Tritt begleiten, erscheinen so als eindrückliche Beispiele eines ritualisierten und in gewissem Sinne bereits schon folklorisierenden Diskurses der kommunistischen Ideologie. Die kommunikative Bedeutung der für den Sowjetmenschen gewohnten Losungen kann in Analogie zu den Bedeutungen deiktischer Worte (Pronomen und persönliche Verbformen) beschrieben werden. Einerseits verweisen diese Wörter auf sich selbst, andererseits auf die Gliederung der Statusrollen unter den Gesprächsteilnehmern – in jene, welche sprechen, jene, über welche gesprochen wird und jene, an welche die Rede adressiert ist.29 Diese Einteilung ist wichtig in kommunikativer und in pragmatischer Hinsicht: Der Text, der an einen „zuhörenden“ oder „lesenden“ Adressaten gerichtet ist, realisiert sich in einem solchen Kontext nicht darin, was er kommuniziert, sondern wer spricht und wem er gilt. Als Beispiel einer solchen, (quasi-)rituellen Deixis kann der Applaus gelten, der „synkopisch“ die Auftritte der Parteiredner begleitete und strukturierte und stets auch in den schriftlichen Publikationen solcher Auftritte als „Applaus“, „starker Applaus“ oder „allgemeine Ovationen“ vermerkt war. Die politische Rhetorik weist ähnliche Züge auf. Das gilt vor allem für das Appellieren an die Augenfälligkeit von Wahrheiten und das unpersönliche Wiederholen von autoritativen Aussagen und das Zitieren, mit dem sich der Sprechende von subjektiver Intentionalität befreit. Der Politiker verfügt nicht über eine eigene Stimme, denn er spricht immer im Namen eines anderen.30 Analogien aus dem Gebiet des Rituals und der zeremoniellen Folklore zeigen sich hier gerade auch daran, dass die Losungen, Grußworte und Sprachwendungen des sowjetischen Soziolektes situativ mit Ereignissen gekoppelt waren – mit Meetings, Parteiversammlungen, Demonstrationen, Parteitagen usw.31 Grundlegend für ritual-theoretische Ansätze bei der Erforschung politischer Institutionen ist Murray Edelmans Studie Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns 29 30

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Zu der kommunikativen Semantik der Deixis vgl.: Uspenskij, B. A.: Ego loquens. Jazyk i kommunikacionnoe prostranstvo. Moskau 2007. Capp, G. R. / Capp, T. P.: Principles of Argumentation and Debate. Englewoods Cliffs 1965, 102-121; Irvine, J. T.: The Creation of Identity in Spirit Mediumship and Possession. In: Semantic Anthropology. Hrsg. von D. Parkin. London 1982, 241-260; Irvine, J. T.: When Talk isn’t Cheap. Language and Political Economy. In: American Ethnology. Vol. 16, 2 (1989), 248-267. Binns, C. A. P.: Sowjetische Feste und Rituale (I). In: Osteuropa 1979, Bd. 29, Heft 1, 12 ff.; Lane, C.: The Rites of Rulers. Ritual in Industrial Society. The Soviet Case. New York 1981; Urban, M. E.: The Ideology of Administration. American and Soviet Cases. Albany 1982; Riegel, K.-G.: Konfessionsrituale im Marxismus-Leninismus. Graz 1985; Glebkin, V. V.: Ritual v sovetskoj kul’ture. Moskau 1998.

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(1964)32, in der mytho-rituelle und politische Symbolik in funktionaler Hinsicht als Sprechakte gegenübergestellt und in ihrer sozialen Wirksamkeit untersucht werden. Unter einer solchen Perspektive betrachtet operieren alle Ideologien mit „rituell-mythologischen“ oder „folkloristischen“ Komponenten – zumal diese auf kanonischen, allgemein bekannten „präzedentalen“ Texten gründen.33 Ein religionswissenschaftlicher, aber auch ethnographischer und folkloristischer Ansatz bei der Beschreibung totalitärer Gesellschaften erscheint in vielerlei Hinsicht produktiv; vor allem deshalb, weil wir es einerseits mit beharrlich reproduzierten Diskursen von sozialer Gewalt zu tun haben und andererseits mit kommunikativen und Verhaltens-Strategien der „freiwilligen“ Unterordnung, welche bis zu einem bestimmten Grad kompensieren sollen, was sich von außen als „Terror der Umgebung“ und „Gewaltherrschaft der Macht“ darstellt. Physische und „symbolische Gewalt“, wie sie von Pierre Bourdieu als unabdingbarer Mechanismus jeder Macht festgestellt worden ist, nimmt in der sowjetischen Geschichte (quasi-)religiöse und (quasi-)folkloristische Formen an. In dieser Hinsicht kann man zu Recht von der sowjetischen Gesellschaft als einer Gesellschaft traditionellen oder sogar archaischen Typs sprechen.34 Ob man eine solche „Archaik“ als Konsequenz einer politisch-wirtschaftlichen Rückkehr zum vorrevolutionären Gemeindewesen durch die Modernisierung betrachten will35, oder ihren Ursprung in der demographischen Situation der UdSSR suchen will, die durch eine vielfache Dominanz der bäuerlichen Bevölkerung und ihres Traditionalismus

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Edelman, M.: The Symbolic Uses of Politics. Urbana 1964. Vgl. dazu zum Beispiel eine ältere Studie mit dem charakteristischen Titel: Arnold, T.: The Folklore of Capitalism. New Haven, 1937. Vgl.: Kertzer, D.: Ritual, Politics, and Power. New York 1988; Karaulov, Ju.N.: Russkij jazyk i jazykovaja ličnost’. Moskau 1987, S. 216 ff.; Kozlova, N.N.: Gorizonty povsednevnosti sovetskoj ėpochi, S. 161. Zu Folklore und Fokloristik vgl.: Bogdanov, K.A.: Povsednevnost’ i mifologija. Issledovanija po semiotike fol’klornoj dejstvitel’nosti. Sankt Petersburg 2001, S. 47-69. Kara-Murza, S. G.: Rossija kak tradicionnoe obščestvo. In: Kuda idet Rossija? Obščee i osobennoe v sovremennom razvitii. Hrsg. von T. I. Zaslavskaja. Moskau 1997, 16-27; Ačkasov, V. A.: Rossija kak razrušajuščeesja tradicionnoe obščestvo. In: Političeskie issledovanija. 3 (2001), 83-92; Achiezer, A. S.: Archaizacija v rossijskom obščestve. Metodologičeskaja problema. In: Obščestvennye nauki i sovremennost’. 2 (2001), 89100. Višnevskij, A.: Serp i rubl’. Konservativnaja modernizacja v SSSR. Moskau 1998; Danilov, V. P.: Padenie sovetskogo obščestva. Kollaps, institucional’nyj krizis ili termidorianskij perevorot? In: Kuda idet Rossija? Krizis institucional’nych sistem. Vek, desjatiletie, god. Moskau 1999, 13. Vgl. auch: Davydov, Ju. N.: Max Weber i sovremennaja teoretičeskaja sociologija. Aktual’nyje problemy veberovskogo sociologičeskogo učenija. Moskau 1998.

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gekennzeichnet war36 – als Grundlage für beide Erklärungen müssen die Texte dienen, anhand derer man die vorherrschenden Diskurse sozialer Selbstbeschreibung analysieren kann. Für die Historiker sind solche Selbstbeschreibungen oftmals von zweitrangiger Bedeutung, im Unterschied zu den eigentlichen historischen Ereignissen. Für Soziologen und Philologen hingegen sind gerade die inhaltlichen und formalen Eigenschaften jener Texte wichtig, die mit den historischen Ereignissen korrelieren. Hier müssen die Untersuchungen mit der traditionellen Ganzheitlichkeit der sowjetischen Kultur rechnen, innerhalb derer die sie repräsentierenden Texte miteinander in Verbindung treten. Aus philologischer Sicht bedeutet das unter anderem die Möglichkeit der Bestimmung nicht nur der eigentlich inhaltlichen und terminologischen Eigenschaften der sowjetischen Kultur,37 sondern auch jener formalen Kriterien, mit denen wir (besonders in den Bereichen der Rhetorik und Poetik) über Unterschiede und Ähnlichkeiten der Texte selbst urteilen. Die Diskussion über „Folklore/Folklorismus“ der sowjetischen Kultur ist selbstverständlich im gegebenen Fall genauso legitim wie die Diskussion über ihre „Literarizität“, allerdings mit dem Unterschied, dass die Beschreibung der sowjetischen Kultur aus einer folkloristischen bzw. ethnographischen Perspektive weniger die individuelle, sondern eher die kollektive Spezifik „diskursiven Konsums“ untersucht. Der vorherrschende Akzent liegt dabei nicht auf dem Autor, sonder auf dem Adressatenkreis, nicht auf der Intention des Textes, sondern auf der Rezeption. Sowohl Literatur als auch Folklore fungieren als symbolische Regulatoren sozialer und kultureller Praktiken, die mit ihren Texten und Gattungen eine bestimmte Gemeinschaft mit einer spezifischen, „sowjetischen“ Kommunikation produzieren.38 In einem weiteren Sinne dient diese Kommunika36

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Hoffmann, D. L.: Peasant Metropolis. Social Identities in Moscow, 1929 – 1941. Ithaca 1994; Alekseev, A. I./Simagin, Ju. A.: Agrarnyj charakter rossijskogo mentaliteta i reformy v sel’skoj mestnosti Rossii. In: Rossijskie regiony v novych ėkonomičeskich uslovijach. Moskau 1996; Milov, L. V.: Velikorusskij pachar’ i osobennosti rossijskogo istoričeskogo processa. Moskau 1998, 564-571. „Lexikalische“ Versuche solcher Beschreibungen: Zemtsov, I.: Encyclopedia of Soviet Life. New Branswick, London 1991; Stepanov, Ju. S.: Konstanty. Slovar’ russkoj kul’tury. Opyt issledovanija. Moskau 1997; Idei w Rosji / Idee w Rosji / Ideas in Russia. Leksykon rosyjsko-polsko-angielski. Hrsg. von Andrzej de Lazari. Łodz, Warszawa. T. 1. 1999 (2003 ist der 5. Band erschienen); Šmelev, A. D.: Russkaja jazykovaja model’ mira. Moskau 2002; Zaliznjak, A. A. /Levontina, A. A./Šmelev, A. D.: Ključevye idei russkoj jazykovoj kartiny mira. Moskau 2005. Für eine detailliertere Beschreibung vgl. Bogdanov, K. A.: Povsednevnost’ i mifologija. Sankt Petersburg 2001, 52-69; vgl. auch: Adon’eva, S. B.: Pragmatika fol’klora. Sankt Petersburg 2004.

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tion der Sozialisierung des Subjekts, „der Verwandlung eines Individuums in ein Mitglied der gegebenen historischen Gemeinschaft mittels der Aneignung der Kultur jener Gemeinschaft“, in einem engeren Sinn der Aneignung sozialen Verhaltens.39 Das Interesse der sowjetischen Kultur für die Folklore erklärt sich unmittelbar auch aus den gemeinschaftsbildenden Effekten der Folkloretradition selbst, die der Gesellschaft die diskursiven Schemata kultureller, nationaler und kollektiver Identität vorgibt.40 Die Verwendung der Folklore zu propagandistischen Zielen liegt durchaus in der Konsequenz der Pragmatik der Folklore selbst. Am Ende der 1960er Jahre hat Richard Dorson ideologisch inspirierte Texte, die sich als Folklore ausgeben, unter dem Begriff „Fakelore“ zusammengefasst, um die Volkskunde vor einer unkritischen Haltung gegenüber „falscher“ Folklore zu warnen.41 Es ist unbestritten, dass „Fakelore“-Texte im Sinne Dorsons die vorhergehende Folkloretradition verzerren, aber in funktionaler Hinsicht modifizieren sie diese Tradition, indem sie diese reproduzieren.42 Die russische Kulturgeschichte kennt ein solches Verschmelzen von Folklore und ideologischen Texten, die politische Ereignisse kommentieren, bereits vor der sowjetischen Epoche – zum Beispiel in Gestalt der verschiedenen Liedvarianten auf den Tod Aleksandrs II.43 Aber in den 1930er bis 1950er Jahren nimmt die Herstellung solcher Texte und auch kunsthandwerklicher Artefakte wie etwa die „Palech“-Schatullen mit Sujets von Revolution, Bürgerkrieg 39 40 41 42

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Tarasov, E. F.: Social’no-psichologičeskie aspekty ėtnopsicholingvistiki. In: Nacional’no-kul’turnaja specifika rečevogo povedenija. Moskau 1977, 38. Olson, L. J.: Performing Russia. Folk Revival and Russian Identity. New York/London 2004. Dorson, R. M.: Fakelore. In: Zeitschrift für Volkskunde 1969, Bd. 65, 56-64. Moser, H.: Folklorismus in unserer Zeit. In: Zeitschrift für Volkskunde 1962, Bd. 58, 117-209; Ders.: Der Folklorismus als Forschungsproblem der Volkskunde. In: Hessische Blätter für Volkskunde 1964, Bd. 55, 9-57; Bausinger, H.: Folklorismus in Europa. Eine Umfrage. In: Zeitschrift für Volkskunde 1969, Bd. 65, 1-8; Gusev, V. E.: Fol’klorizm kak faktor stanovlenija nacional’nych kul’tur v stranach Central’noj i Jugo-Vostočnoj Evropy. In: Formirovanie nacional’nych kultur v stranach Central’noj i Jugo-Vostočnoj Evropy. Moskau 1977, 127-135; Bodemann, U.: Folklorismus – Ein Modellentwurf. In: Rheinisch-Westfälische Zeitschrift für Volkskunde 1983, Bd. 28, 101-110; Niederer, A.: Le folklore manipulé. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 1983, Bd. 79, 175-186; Jeudi, H. P.: Memoires du social. Paris 1986, 114; Strobach, H.: Folklor – Folklorepflege – Folklorismus. In: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte 1985, Bd. 25; Newall, V. J.: The Adaptation of Folklore and Tradition (Folklorismus). In: Folklore. Vol. 98, 2 (1987), 131-151; Kirshenblatt-Gimblett, B.: Authenticity and Authority in Representation of Culture. In: Kulturkontakt, Kulturkonflikt. Hrsg. von I. M. Greverus/K. Kostlin/H. Schilling. Frankfurt am M. 1988; Bendix, R.: Folklorism. The Challenge of a Concept. In: International Folklore Review. 6 (1988), 5-15. Psalom ob imperatore Aleksandre II. In: Istoričeskij vestnik. 3 (1898), 1126-1128.

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und Kolchosalltag44 zu. Dazu bestimmt, die „Stimmungen und Hoffnungen des ganzen sowjetischen Volkes“ auszudrücken, begründen diese Texte und Artefakte die Tradition einer neuen, „sowjetischen Volkskunst“.45 Heute sind uns in den meisten Fällen sowohl die „Auftraggeber“ als auch die „Hersteller“ der sowjetischen „Fakelore“-Texte bekannt,46 aber bedeutend weniger wissen wir über ihre Aufnahme bei jenem Publikum, für das sie bestimmt waren. „Fakelore“ ist ohne Publikum kaum vorstellbar. „Neuigkeiten“ über die Heerführer nach dem Muster alter Heldenmärchen, Lieder und „Sagen“ von Lenin und Stalin, Sprichworte und Redensarten zum Kolchosalltag bauten auf dem Formeninventar der traditionellen Volkskunst auf, auf Verfahren wie Hyperbolizität, Parallelismen, Lautwiederholungen, Metaphern, Antithesen etc. Phraseologische Elemente, die uns heute erlauben, diese Texte als ideologische zu identifizieren reichen aber nicht als Beweis für ihre „Pseudofolklorität“ aus. Sonst müsste man davon ausgehen, dass auch „monarchenfreundliche“ Texte der vorrevolutionären Folklore genauso nicht authentisch seien. Der entscheidende Punkt liegt aber im Imaginären der sowjetischen Kultur selbst, die neben der Folklore über genügend weiterer Formen verfügt, suggestive Effekte zu erzielen. In sozial-psychologischer Hinsicht unterscheidet sich die sowjetische „Fakelore“ kaum von Folklore, und noch mehr: je breiter die Zielgruppe einer solchen „Fakelore“ ist, um so „folkloristischer“ und „authentischer“ ist sie. Das trifft auch umgekehrt zu: 44

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traditionelle Texte der Volkskunst erlangen ihren Echtheitsstatus in dem Maße, wie sie ihr reales oder imaginiertes Publikum verlieren. Die ideologische Rolle, die in solchen Fällen der Volkskunst zugewiesen wird, entspricht dem demagogischen Apell an die „Stimme des Volkes“ (vox populi). Sie ist das Medium, durch das sich die „Wahrheit“ des Volkes realisiert und gleichzeitig auch politisch e Macht rechtfertigt. Der Name der wichtigsten Zeitung der Sowjetunion, die Pravda (deutsch „Wahrheit“), ist nicht nur symptomatisch, sondern auch repräsentativ für die demagogische Tradition, an das Volk als Träger der Wahrheit zu appellieren. Diese Bezugnahme auf Volkstraditionen spielt in der russischen Kultur- und Geistesgeschichte eine erhebliche Rolle. Schon der Aufklärer Aleksandr Radiščev hat dazu aufgerufen, sich „gesetzesschöpferisch“ in die Volkslieder zu vertiefen, um „aus der musikalischen Beschaffenheit des Volksgehörs“ „die Zügel der Regierung zu schaffen“. Und der Autor der ersten versuchten Kodifizierung des russischen Rechts (1811), Zacharij Gorjuškin, erblickte die Grundlagen der Gesetzesschreibung in den Sprichwörtern und Redewendungen, insofern sie ein Urteil darüber erlaubten, „was das gesamte Volk denkt und für unerlässlich zur Tat erachtet“.47 Die Folkloristik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beruhte auf ähnlichen Überzeugungen – dem Glauben an die verborgene Weisheit, die aus der Volksliteratur hervorschimmerte. N. A. Nekrasov, F. M. Dostojevskij, L. N. Tolstoj, G. I. Uspenskij und V. G. Korolenko teilten diese Überzeugung in unterschiedlichem Grad und schufen aus der These von der vom Volk „intuitiv“ verstandenen Wahrheit eines der hartnäckigsten Motive der russischen Literatur und Philosophie.48 In diesem Punkt folgte die sowjetische ideologische Kultur, bei all ihrem deklarativen Atheismus und ihrer Verurteilung der vorrevolutionären Narodnikibewegung49, einer Tradition, in welcher sich die Motive der „Wahrheitssuche“, „Gottsuche“ und „des Volkes als Gottesträger“ in das gleiche Bedeutungsregister einschreiben. In dieser

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Gorjuškin, Z. A.: Rukovodstvo k poznaniju rossijskogo zakonoiskusstva. Moskau 1811, Teil 1. Für mehr Informationen zur rhetorischen Tradition der „Liebe zum Volk“ im russischen gesellschaftspolitischen Denken, besonders zu den Begriffen des „Volksgeists“ und der gesetzeschaffenden Auslegung der Folklore vgl. Bogdanov, K. A.: O krokodilach v Rossii. Očerki iz istorii ėkzotizmov i zaimstvovanij. Moskau 2006, 105142. Lišaev, S. A.: „Pravda“ i „istina“ (jazykovaja konceptualizacja mira i tematičeskoe svoeobrazie russkoj filisofii). In: Vestnik Samarskoj gumanitarnoj akademii. Vypusk Filosofija. Filologija. 1 (4) (2006). url: http://www.phil63.ru/sa-lishaev-teksty Eine Zusammenstellung der doktrinären Äusserungen Lenins zu den Narodniki ist zu finden bei Mejlach, B.: Lenin i problemy russkoj literatury konca XIX-načala XX vv. Moskau/Sankt Petersburg 1951, 37-124.

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Tradition steht auch der sowjetische literarische Kanon. Daran leitet er auch seinen autoritären Repräsentationsanspruch ab. Die sowjetische Propaganda insistierte mit repressiven Mitteln auf der Einheit der „Stimmen“ von politischer Macht und des Volkes.50 Dazu bedient sie sich volkstümlicher Redewendungen wie „Wo das Volk ist, ist auch die Wahrheit“, „Die Partei ist wie die eigene Mutter: die Wahrheit sagt sie und den Weg zum Glück weist sie“, „Das, was das Volk denkt, sagt die Partei“ oder „Die Partei ist die Weisheit des Volkes“51 Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang auch die Empfehlungen der Partei, wie zum Beispiel an die Produzenten des Filmes Džambul, „die organisatorische und führende Rolle der bolschewistischen Partei verstärkt zu zeigen“, „den Einfluss und die Rolle der Partei auf das Schaffen Džambuls hervorzuheben“ und dabei „das Drehbuch verstärkt mit Volksweisheiten anzureichern“.52 Der propagandistische Einsatz der Folklore, um damit sowohl kollektive Identität zu stiften, als auch politische Herrschaft zu legitimieren, ist wohl allen totalitären Ideologien eigen. Dennoch gibt es signifikante Unterschiede. Bei einem Vergleich nationalsozialistischer und sowjetischer „Fakelores“ fällt ins Auge, dass sie sich nicht nur inhaltlich, sondern auch formal im Hinblick auf Stil, Genres und mediale Formen unterscheiden. Sie unterscheiden sich aber auch nach ihrem „Grad der Präsenz“ in Propaganda, Massenkultur und Wissenschaft.53 Die Beobachtungen von Volkskundlern aus den 1930er 50

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Sovetskaja vlast’ – narodnaja vlast’? Očerki istorii narodnogo vosprijatija sovetskoj vlasti v SSSR / The Soviet Union - A Popular State? Studies on Popular Opinion in the USSR. Hrsg. von Timo Vihavainen. Sankt Petersburg 2003. Za kraj svoj nasmert’ stoj. Sbornik poslovic i pogovorok. Zusg. von A. M. Žigulev - N. P. Kuznecov. Moskau 1974. Zitiert nach der elektronischen Ausgabe: url: http://militera.lib.ru/prose/russian/za_kray_svoy/13.html Postanovlenie bjuro CK KP(b) Kazachstana o scenarii filma Džambul (27. September 1950 g.). In: Kremlevskij kinoteatr. 1928 – 1953. Dokumenty. Zusg. von K. M. Anderson/L. V. Maksimenko. Moskau 2005, 46 u. 847. Emmerich, W.: Zur Kritik der Volkstumsideologie. Frankfurt am M. 1971, 95-125; Kamenetsky, C.: Folklore as a political tool in Nazi Germany. In: Journal of American Folklore. 85 (1972), 221-235; Stein, M. B.: Coming to terms with the past: the depiction of Volkskunde in the Third Reich since 1945. In: Journal of Folklore Research. 24 (1987), 157-185; Lixfeld, H.: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Dachverbände der deutschen Volkskunde im Dritten Reich. In: Volkskunde und Nationalsozialismus. Referate und Diskussionen einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde. München, 23. bis 25. Oktober 1986. Hrsg. von H. Gernd. München (Münchner Beiträge zur Volkskunde. Bd. 7) 1987, 69-82; Korff, G.: Change of name as a change of paradigm. The renaming of folklore studies departments at German universities as an attempt at „denationalization”. In: Europaea. Vol. 2, 2. (1996), 9-32; Potter, P. M.: Most German of the Arts. Musicology and Society from the Weimar Republic to the End of Hitler’s Reich. New Haven 1998, 136-42.

Rituale der Politik und Politik der Rituale

275

und 1940er Jahren, die übereinstimmend von der Blüte sowjetischer Folklore berichteten, sind in dieser Hinsicht bemerkenswert, da sie von einer Auffassung ausgehen, der zufolge Folklore sich nicht nur mit der Gesellschaft entwickelt, sondern selbst auf den Wandel einer Gesellschaft einwirkt. Indem die sowjetischen Volkskundler Texte initiierten und redigierten und damit einen Kanon der Folklore produzierten, wurden sie zu Autoren eines groß angelegten Experiments, das die von ihnen rezipierte These Hans Naumanns von zwei kulturellen Schichten, die in ihrer Gesamtheit die nationale Kultur bilden, Wirklichkeit werden ließ: die zivilisatorische Elite und die niedrigeren Schichten, mit der für sie charakteristischen Vermischung von archaischer Gemeinschaftskultur und gesunkenem Kulturgut in der sowjetischen massenmedialen Kultur.54

Übersetzung: Isabelle Vonlanthen

54

Eine eindeutig negative Einstellung zu Naumanns Theorie äußerte Ju. Sokolov in dem Aufsatz „Folklore“ in der Literaturnaja ėnciklopedija (Bd. 11, Moskau 1939) und in seinem Lehrbuch zu Folklore. Interessant ist, dass ungeachtet der ganzen Kritik an Naumanns elitärer Herangehensweise an die Folklore (die sich in den 1930er Jahren als im Einklang mit der nationalsozialistischen Volkskunde stehend zeigte und Naumann selbst in die Reihen der nationalsozialistischen Kulturträger führte) die von ihm verteidigte These von den sozialen Unterschieden innerhalb einer Kultur in bekanntem Maße dem Leninschen Denken über die Dichotomie der Kultur entsprach, der gleichzeitigen Existenz zweier nationaler Kulturen in jeder Nationalkultur – einer bürgerlichbesitzenden und kirchlichen einerseits und einer demokratischen andererseits (Lenin, V. I.: Polnoe sobr. soč, Bd. 24, 129), wobei die sozialistische Kultur laut Lenin dazu berufen war, Nachfolger nicht nur der demokratischen Kultur zu werden, sondern der gesamten nationalen Kultur des vorrevolutionären Russlands: „Wir müssen die gesamte Kultur aufgreifen, die der Kapitalismus hinterlassen hat, und aus ihr den Sozialismus erbauen“ (Lenin, V. I.: Polnoe sobranie sočinenij. Bd. 38. Moskau 1958, 55. Für Detaillierteres zur Theorie Naumanns vgl.: Schmook, R.: Gesunkenes Kulturgut – primitive Gemeinschaft. Der Germanist Hans Naumann (1886 – 1951) in seiner Bedeutung für die Volkskunde. Wien (Beiträge zur Volkskunde und Kulturanalyse. Bd. 7) 1993. Vgl. auch: Bausinger, H.: Folklore und gesunkenes Kulturgut. In: Deutsches Jahrbuch für Volkskunde 1966, XII, 15-25; Markov, G. E.: Očerki istorii nemeckoj nauki o narodach. Moskau 1993, Bd. 2, 282-290.

Liste der Abkürzungen CK VKP(b) Zentralkomitee der allrussischen Kommunistischen Partei der Bolschewiki (Central’nyj komitet vserossijskoj Kommunističeskoj partii Bol’ševikov) Detgiz

Staatlicher Verlag für Kinderliteratur (Detskoe gosudarstvennoe izdatel’stvo)

FOSP

Föderation der sowjetischen Schriftstellervereinigungen (Federacija ob-edinenij sovetskich pisatelej)

GARF

Staatsarchiv der Russischen Föderation (Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii)

GICHL

Staatlicher Verlag für schöngeistige Literatur (Gosudarstvennoe izdatel’ctvo chudožestvennoj literatury)

GPU

Politische Hauptverwaltung (Glavnoe političeskoe upravlenie)

IFZ

Geschichte der Fabriken und Betriebe (Istorija fabrik i zavodov)

Kul’tprop

Abteilung des CK VKP(b) für Kultur und Propaganda (Otdel kul’tury i propagandy leninizma pri CK VKP(b)

LEF

Linke Front der Kunst (Levyj front iskusstv, 1922 – 1925); Novyj LEF – Neue linke Front der Kunst (1927 – 1929)

Narkompros Volkskommissariat für Bildung (Narodnyj komissariat prosveščenija) NĖP

Die Neue ökonomische Politik (Novaja ėkonomičeskaja politika)

OBĖRIU

Vereinigung der realen Kunst (Ob-edinenie Real’nogo Iskusstva)

OGIZ

Vereinigung der staatlichen Buch- und Zeitschriftenverlage (Ob’’edinenie gosudarstvennych knižno-žurnal’nych izdatel’stv)

OGPU

Vereinigte staatliche politische Verwaltung (Ob’’edinennoe gosudarstvennoe političeskoe upravlenie)

Orgbüro

Organisationsbüro des CK (Organizacionnoe bjuro CK VKP(b))

Proletkul’t

Kurzwort aus „proletarskaja kul’tura“ – proletarische Kultur (Proletkul’t – sokraščenie ot proletarskaja kul’tura)

RAPM

Russische assoziation der proletarischen Musikanten (Rossijskaja associacija proletarskich muzykantov)

278

Liste der Abkürzungen

RAPP

Russische Assoziation der proletarischen Schriftsteller (Rossijskaja associacija proletarskich pisatelej)

RGALI

Russisches Staatsarchiv für Literatur und Kunst (Rossijskij gosudarstvennyj archiv literatury i iskusstva)

RGASPI

Russisches Staatsarchiv für sozio-politische Geschichte (Rossijskij gosudarstvennyj archiv social’no-političeskoj istorii)

ROPK

Russische Organisation proletarischer und Kolchozschriftsteller (Rossijskaja organizacija proletarsko-kolchoznych pisatelej)

Sovnarkom

Rat der Volkskomissare (Sovet narodnych komissarov)

TRAM

Theater der jungen Arbeiter (Teatr rabočej molodeži)

VAPP

Allrussische Assoziation proletarischer Schriftsteller (Vserossijskaja associacija proletarskich pisatelej)

VLKSM

Gesamtsowjetischer Leninscher Kommunistischer Jugendverband (Vsesojuznyj leninskij kommunističeskij sojuz molodeži)

VOAPP

Allrussische Vereinigung der Assoziationen der proletarischen Schriftsteller (Vsesojuznoe ob-edinenie associacii proletarskich pisatelej)

VSKP

Allrussischer Verband der Bauernschriftsteller (Vserossijskij sojuz krest’janskich pisatelej)

VSP

Allrussischer Schriftstellerverband (Vserossijskij sojuz pisatelej)

Die Autoren M A R IN A B A L IN A Isaac-Funk-Professur für Russistik an der Universität Illinois Wesleyan, USA. Forschungsschwerpunkte: Literarische Autobiographie, Memoiren, Reiseberichte, russische und sowjetische Kinderliteratur. Publikationen: Russian Children's Literature and Culture. Routledge 2008 (Zs. mit Larissa Rudova). Anthology of Russian and Soviet Fairy Tales, Politicizing Magic. Northwestern UP 2005 (Zs. mit Helena Goscilo u. Mark Lipoveckij). Dictionary of Literary Biography: Russian Writers since 1980. Thomson & Gale Publishers 2003 (Zs. mit Mark Lipoveckij). Sovetskoe bogatstvo: Stat’i o literature, kul’ture i kino. Sankt Petersburg 2002 (Zs. mit Evgenij Dobrenko u. Jurij Murašov). Endquote: Sots-Art Literature and Soviet Grand Style. Northwestern UP 2000 (Zs. mit Nancy Condee u. Evgeny Dobrenko).

K O N S TA N TIN B O G D A N O V Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für russische Literatur der Russischen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg (Puškinskij dom). Forschungsschwerpunkte: Russische Literatur und Folklore, Sozial- und Kulturgeschichte, Geschichte der Rhetorik und Rhetorik der Wissenschaft. Publikationen: Vox populi. Folkloristische Genres der sowjetischen Kultur (2009). O krokodilach v Rossii. Očerki iz istorii zaimstvovanij i ėkzotizmov. Moskva 2006. Vrači, pacienty, čitateli: Patografičeskie teksty russkoj kul’tury XVIII-XIX vekov. Moskva 2005. Povsednevnost’ i mifologija. Issledovanija po semiotike fol’klornoj dejstvitel’nosti. Sankt Petersburg 2001.

K A TE R IN A C LA R K Professorin für Komparatistik, Literatur und Slavistik an der Yale Universität. Forschungsschwerpunkte: Russische Literatur, Theater, Film, Kunst, Architektur und Oper der 1920er und 1930er Jahre und der Gegenwart. Publikationen: Moscow, the Fourth Rome. Stalinism, Cosmopolitanism, and the Evolution of Soviet Culture, 1931 – 1941. Harvard University Press 2011. Soviet Culture and Power. A History in Documents 1917 – 1953. New Haven, 2007 (Zs. mit Evgenij Dobrenko, Andrej Artizov und Oleg Naumov). Petersburg, Crucible of Cultural Revolution. Cambridge 1995. Mikhail Bakhtin. Cambridge 1984, 1985 (Zs. mit Michael Holquist). The Soviet Novel: History as Ritual, Chicago 1981.

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Die Autoren

E V G E N IJ D O B R EN K O Professor am Institut für russische Sprache und Slavistik, University of Sheffield. Forschungsschwerpunkte: Sowjetische und postsowjetische Literatur und Kultur, Sozialistischer Realismus, russischer und sowjetischer Film, sowjetische Kulturgeschichte. Publikationen: Stalinist Cinema and the Production of History: Museum of the Revolution. Edinburgh, Edinburgh & New Haven, 2008. Political Economy of Socialist Realism. New Haven, 2007. Soviet Culture and Power. A History in Documents 1917 – 1953. New Haven, 2007 (Zs. mit Katerina Clark, Andrej Artizov und Oleg Naumov).

H A N S G Ü N TH ER Professor (emer.) für slavistische Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Avantgarde, sowjetische Kultur und Sozialistischer Realismus, Andrej Platonov, Interkulturalität. Publikationen: Die Verstaatlichung der Literatur. Entstehung und Funktionsweise des sozialistisch-realistischen Kanons in der sowjetischen Literatur der 30er Jahre, Stuttgart 1984. Der sozialistische Übermensch. M. Gor’kij und der sowjetische Heldenmythos, Stuttgart/Weimar 1993. Herausgebertätigkeit: Socrealističeskij kanon, Sankt Petersburg 2000 (Zs. mit Evgenij Dobrenko). Sovetskaja vlast’i media. Sankt Petersburg 2006 (Zs. mit Sabine Hänsgen).

I L ’ J A K A LIN IN Philologe, Kulturhistoriker und Chefredakteur der Zeitschrift Neprikosnovennyj zapas. Publikationen: Istorija literatury kak Familienroman (russkij formalizm meždu Ėdipom i Gamletom). In: NLO. 80/2006. Povsednevnost’; "Kotoraja vsegda s toboj". In: Neprikosnovennyj zapas. 4(54)/2007. Dobro požalovat’ v detstvo, v kotoroe postoronnim vhod vospreščёn. In: Neprikosnovennyj zapas. 2(58)/2008. Neslučivšajasja revoljucija ili revoljucija nonstop? In: Neprikosnovennyj zapas. 4(60)/2008.

C A TR IO N A K E LLY Professorin für Russistik, University of Oxford (New College). Mitglied der Britischen Akademie. Forschungsschwerpunkte: Russische Kultur seit 1760, Poesie der Moderne, visuelle Kunst, Gender und Kultur, Kulturgeschichte. Publikationen: Children’s World: Growing Up in Russia 1890 – 1991, Yale 2007. Comrade Pavlik: The Rise and Fall of a Soviet Boy Hero. Granta 2005. Russian Literature: A Very Short Introduction. Oxford 2001.

Die Autoren

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Refining Russia: Advice Literature, Polite Culture, and Gender from Catherine to Yeltsin. Oxford 2001. Russian Literature, Modernism, and the Visual Arts, Oxford 2000 (Zs. mit Stephen Lovell). A History of Russian Women's Writing, Oxford 1994.

THOMAS LAHUSEN Professor in den Departements für Geschichte und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Toronto. Forschungsschwerpunkte: Sowjetische Kulturgeschichte, Filmkunst, Komparatistik. Regiearbeiten im Bereich des Dokumentarfilms. Publikationen: Harbin and Manchuria: Place, Space, and Identity. In: The South Atlantic Quarterly. 2001. How Life Writes the Book: Real Socialism and Socialist Realism in Stalin’s Russia. Ithaca, London 1997. Socialist Realism without Shores. Durham 1997. Intimacy and Terror: Soviet Diaries of the 1930s. New Press 1995.

ROBIN LAPASHA Ph.D. an der Universität Duke, 2001. Forschungsschwerpunkte: Performative und mediale Repräsentationen der russischen musikalischen Folklore. Publikationen: Amateurs and Enthusiasts: Folk Music and the Soviet State on Stage in the 1930s. In: Edmund, Neil (Hg.): Soviet Music and Society under Lenin and Stalin: the baton and sickle. London/New York 2004.

TOMÁŠ LIPTÁK Wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 485 Norm und Symbol an der Universität Konstanz; 2007 – 2008 Chefredakteur des www.RuskoDnes.cz („Russland Heute“). Forschung und Dissertation zum Thema: Maksim Gor’kij und die Schulung des sowjetischen Schriftstellers. Publikationen: Maksim Gorky and His Project History of the Factories. In: Prague Perspectives II. (eds. Lukáš Babka, Petr Roubal). Prague, 2007. Nová mytologie / archetyp hrdiny v sovětském filmu 30. let. (neue Mythologie / Archetyp des Helden im sowjetischen Film der 1930er Jahre). In: Cinepur. Nr. 32, März 2004.

282

Die Autoren

T R A C Y M C D O N A LD Ph.D. an der Universität Toronto. Assistent Professor für russische und sowjetische Geschichte an der McMaster Universität in Hamilton, Ontario Kanada. Gründungsmitglied von Chemodan Films (www.chemodanfilms.com); Dokumentarfilmerin. Forschung zur Landbevölkerung und Sowjetmacht in den 1920er Jahren. Publikationen: Rjazanskaja derevnja v 1929–1930 gg.: Chronika golovokruženija. Moskva 1998 (Mitherausgeberin); diverse Aufsätze u. a. in Journal of Social History und Canadian-American Slavic Studies.

J U R IJ M U R A Š O V Professor für slavistische Literaturen und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Forschungsschwerpunkte: Allgemeine Literaturund Medientheorie, Geschichte der slavischen Literaturen; Oralität und Literalität; Literatur und technische Medien (Radio, Film, Fernsehen). Publikationen: Das Zeit-Bild im osteuropäischen Film nach 1945. Köln, Weimar 2008 (Zs. mit Natascha Drubek-Meyer). SSSR – territorija ljubvi. Moskau 2008 (Zs. mit Konstantin Bogdanov u. Natalia Borissova). Russkaja literatura i medicina. Moskau 2006 (Zs. mit Konstantin Bogdanov u. Riccardo Nicolosi). Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre. München 2003 (Zs. mit Georg Witte). Im Namen des Dionysos. Zur Mythopoetik im russischen Symbolismus am Beispiel von Vjačeslav Ivanov. München 1999.

S ER G EJ Ž U R A V LE V Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Russische Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkt: Sozialgeschichte Russlands des 20. Jhs., Geschichte der Arbeit. Publikationen: Krepost’ socializma: povsednevnost’ i motivacija truda na sovetskom predprijatii, 1928–1938 gg. Moskva 2004 (Zs. mit M. Muchin); „Ich bitte um Arbeit in der Sowjetunion“. Das Schicksal deutscher Facharbeiter im Moskau der 1930er Jahre. Berlin 2003; Malen’kie ljudi“ i bol’šaja istorija: inostrancy moskovskogo Ėlektrozavoda v sovetskom obščestve 1920-1930ch gg. Moskva 2000; Fenomen „Istorii fabrik i zavodov“: Gor’kovskoe načinanie v kontekste ėpochi 1930-ch godov. Moskva 1997.