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German Pages 334 Year 2016
Kay Peter Jankrift, Alexander Kagerer, Christian Kaiser und María Ángeles Martín Romera (Hrsg.) Natur und Herrschaft
Natur und Herrschaft Analysen zur Physik der Macht Herausgegeben von Kay Peter Jankrift, Alexander Kagerer, Christian Kaiser und María Ángeles Martín Romera
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
ISBN 978-3-11-045237-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-045474-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-045242-6 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Kaiser Maximilian I. mit Bianca Maria Sforza und Maria von Burgund. Ausschnitt aus dem Stammbaum Schloss Tratzberg: Hans der Maler von Ulm. © Schloss Tratzberg Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Der vorliegende Sammelband vereint Beiträge, die aus zwei wissenschaftlichen Veranstaltungen der DFG-Forschergruppe ‟ „Natur in politischen Ordnungsentwürfen: Antike – Mittelalter – Frühe Neuzeit (FOR 1986) hervorgegangen sind: der internationalen und ‟ interdisziplinären Tagung „Natur und Herrschaft. Analysen zur Physik der Macht (4. bis ‟ 6. Dezember 2014) und der interdisziplinären Summer School „Politik der Natur (21. bis 24. Juli 2015). Veranstaltungsort war jeweils das Münchner Internationale Begegnungszentrum der Wissenschaft (IBZ). Der besondere Dank der Herausgeber gilt all denen, die durch ihre wertvolle Hilfe zur Entstehung des Bandes beigetragen haben: den Sprechern der Forschergruppe, Prof. Beate Kellner und Prof. Andreas Höfele, für die aktive Begleitung, Prof. Peter Adamson, Magdalena Butz, Kathleen Rabl und Alexandra Urban für die aufmerksame Unterstützung bei der Textredaktion, sowie Bettina Neuhoff und Lucas Meinhardt vom Verlag De Gruyter für die umsichtige Beratung und Betreuung. Großer Dank gebührt ebenso der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für die finanzielle Förderung der Projekte und Publikationen der Forschergruppe.
Inhaltsverzeichnis Kay Peter Jankrift Zur Einführung: Vom Tohuwabohu zum irdischen Abbild des Gottesreiches. Die Physis des Herrschers in ihrer Bedeutung für das Naturgeschehen 1 Petra Schmidtkunz Ein Fels wie ein Geier. Motivgeschichtliche Überlegungen zur Darstellung des göttlichen Herrschers im Moselied (Dtn 32,1–43) 25 Anders Dahl Sørensen Heraclitean Nature and Protagorean Democracy. The Politics of Protagoras’ ‘Secret Doctrine’ in Plato’s Theaetetus 47 Manuel Förg Medizin und Monarchie. Wechselwirkungen politischer und medizinischer Sprache in der Antike 57 Christian Kaiser Blut, Samen, nobilitas: Die Physis des Weltmonarchen bei Dante 75 Oliver Bach Staat und Natur – Zu Bartolusʼ de Sassoferrato Bestimmungen von guter Regierung und Tyrannei 115 Alexander Kagerer Altes und frisches Blut. Genealogische Konstruktionen von Macht unter Habsburgern und Fuggern im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit 137 Christina Lechtermann Herrschaft und Messkunst. Das geometrische Erbe der Kurfürsten von Pfalz(-Simmern) 187 Tabea Strohschneider Leidenschaftliche Herrscher, beherrschende Leidenschaften: Philip Sidneys Arcadia 219
VIII Inhaltsverzeichnis
Annika Willer Herrschaft und die ‚Natur‘ der Geschlechter bei Moderata Fonte, Lucrezia Marinella und Arcangela Tarabotti 233 María Ángeles Martín Romera Embodying Royal Justice in Early Modern Spain: Demeanour and Habitus in the Instructions for the Office of Judge 249 Björn Quiring Milton’s God and Hobbes’ Leviathan: Elective Affinities 273 Karina Korecky Natur als Anfang. Der Beginn des Staates bei Rousseau 285 Ofri Ilany Ruins of the First World: Post-Catastrophe Scenarios of the World after the Flood in Eighteenth-Century Thought 311 Abbildungsverzeichnis 321 Personenregister 323
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Zur Einführung: Vom Tohuwabohu zum irdischen Abbild des Gottesreiches. Die Physis des Herrschers in ihrer Bedeutung für das Naturgeschehen Abbilder Gottes, das dominium terrae und die Beherrschung der Natur Die Erde, so sagt es das Buch Genesis (Bereschit), war zu Beginn des göttlichen Schöpfungsaktes ein Tohuwabohu. Dieser vieldeutige Begriff wird in der deutschen Übersetzung der hebräischen Bibel durch Martin Buber (1878–1965) und Franz Rosenzweig (1886–1929) als „Irrsal und Wirrsal“ wiedergegeben.¹ Der Reformator Martin Luther (1483–1546) übersetzte die Passage mit den Worten „wüst und leer“, während die Einheitsübersetzung „wüst und wirr“ verwendet. In den Ausführungen des Buches Jeremia steht das Tohuwabohu gleichermaßen als Synonym für das chaotische, ungeordnete Durcheinander der durch die Einwirkung des Krieges verwüsteten Städte und unfruchtbar gewordenen Natur.² Gemäß der biblischen Überlieferung brachte die Hand des Schöpfers das heillose Wirrwarr in eine natürliche Ordnung, innerhalb derer dem Menschen als Abbild Gottes das dominium terrae kollektiv übertragen wurde.³ Die Rolle des Menschengeschlechts als Herrscher über die Erde wurde über Jahrhunderte hinweg unterschiedlich gedeutet. Wenngleich der göttliche Auftrag, sich „die Erde untertan“ zu machen und „über die Fische des Meeres, die Vögel des Himmels und alle Tiere, die sich auf dem Land regen, zu herrschen“, unterschiedslos an alle Menschen erging, so ergab sich daraus jedoch keinesfalls die Fähigkeit, die Geschicke der Natur bestimmen oder verändern zu können. Bevor im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts durch Gelehrte wie Francis Bacon (1561–1626) und René Descartes (1596–1650), der die Menschen in seinem Discours de la méthode zu „maîtres et possesseurs de la nature“⁴ stilisierte, schließlich die Idee vorangetrieben wurde, die Natur durch Wissen und Technik steuern und verändern zu können, waren die abendländischen Vorstellungen der Naturbeherrschung untrennbar mit der Konzeption politischer Herrschaft verbunden.⁵
1 Gen 1,1–2 nach Die Schrift 1992. 2 Jer 4,23–26. 3 Gen 1,27–28; Gen 9,2. Zum Begriff des dominium terrae vgl. Rüterswörden 1993; Weippert 1998. 4 Descartes 1902, 62. 5 Eine Übersicht über die Entwicklung der Vorstellung der Naturbeherrschung bieten u. a. Rapp 1981 und von Winterfeld 2006.
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Deren Grundlage bildete bereits in den frühen Hochkulturen Ägyptens und Mesopotamiens die besondere Nähe des Herrschers zu den Göttern, die sich in einer Gottähnlichkeit oder gar göttlichen Zeugung manifestierte. Der Versuch, in der folgenden Betrachtung einen groben Überblick verschiedener Aspekte des Zusammenhangs zwischen herrscherlicher Physis und den Geschicken der Natur in der Antike und Vormoderne zu geben, schließt mithin – nicht zuletzt aufgrund ihrer besonderen Plastizität – Beispiele aus dem antiken Zweistromland und Ägypten ein. Der akkadische König Narām-Sīn (2273–2219 v. Chr. bzw. 2209–2155 v. Chr.) führte den Titel „Gott von Akkad“ und bezeichnete sich als Gemahl der Göttin Ištar.⁶ Die Vergöttlichung fand ihren Ausdruck zudem in der Schreibung des königlichen Namens durch die Beifügung des Gottesdeterminativs Dingir.⁷ Allerdings wurden auch mesopotamische Könige, deren Name ohne diesen Zusatz geschrieben wurde, mit ihrer Herrschaftsübernahme zu Göttern. Die Göttlichkeit erscheint somit nicht an die Person des Königs, sondern an sein Amt geknüpft.⁸ In der Vorstellung der Zeitgenossen bildete die Heilige Hochzeit (ἱερὸς γάμος) zwischen dem Herrscher und der Göttin Inanna, der Tochter des Himmelsgottes An, die Voraussetzung für die Fruchtbarkeit des Landes.⁹ Im Assyrien des 1. Jahrtausends vor Christus nahm der Herrscher bei seiner Inthronisierung als lebendes Abbild eines Gottes Platz zwischen dem Sonnen- und dem Mondgott.¹⁰ Zwar vollzog sich im Zweistromland im Laufe der Jahrhunderte ein Wandel in der Wahrnehmung des Herrschers von einem Gott hin zu einem göttlich auserwählten Stellvertreter auf Erden, doch wirkte der König als „Repräsentant seines Volkes gegenüber den Göttern“¹¹ durch sein Handeln – vor allem bei der Erfüllung kultischer Aufgaben wie der Darbringung von Opfern – auch weiterhin auf die Geschicke der Natur ein. Besondere Bedeutung kam dabei der Ernte zu, von der das Wohlergehen des gesamten Reiches abhing. Wie sehr die Trias aus göttlicher Erwähltheit, Herrschaft und Naturgeschehen das königliche Selbstverständnis prägte, wird nicht zuletzt in zeitgenössischen Inschriften deutlich. So heißt es in einem Text des assyrischen Königs Aššur-bāni-apli (669–631/627 v. Chr.), des biblischen Assurbanipal: Seit … [die Götter] … mich wohlwollend auf dem Thron des Vaters, meines Erzeugers, hatten Platz nehmen lassen, ließ Adad seine Regengüsse los, öffnete Ea seine Quellen, wurde das Getreide fünf Ellen in seinen Ähren hoch, … brachten die Obstpflanzungen die Frucht zu üppiger Entfaltung, hatte das Vieh im Gebären Gelingen. Während meiner Regierung triefte die Fülle, während meiner Jahre wurde Überfluss angehäuft.¹²
6 Sallaberger 2002, 94–96. 7 Frayne 1993, 113. 8 Sallaberger 2002, 94. 9 Hutter 1996, 104–105; Sallaberger 1999, 152–154; Kramer 1980, 5. 10 Pappola 1993, 168. 11 Erkens 2006, 35. 12 Zitiert nach Erkens 2006, 35–36.
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Parallelen zu den mesopotamischen Bildern einer göttlichen Legitimierung von Herrschaft lassen sich in der gesamten antiken Welt ausmachen und zeigen sich in besonders markanter Ausprägung in der altägyptischen Hochkultur.¹³ Wenngleich der Pharao nicht als Gottheit selbst betrachtet wurde, so verkörperte er doch in seiner jeweiligen menschlichen Gestalt den falkengesichtigen Welt- und Himmelsgott Horus und galt als „Sohn des Re“.¹⁴ Der Herrscher galt mithin als gottähnlich und hob sich durch seine Zugehörigkeit zur „Sphäre der Götter“¹⁵ deutlich von den gewöhnlichen Menschen ab. Als irdischer Sachwalter und Repräsentant der einstmals auf der Erde herrschenden Götter spielte der Pharao eine zentrale Rolle für den Opfer- und Totenkult sowie die als „Ma’at“ bezeichnete Welt- und Naturordnung, welche sowohl die Staatsführung nebst der Sicherung des Reiches nach außen als auch die Verteidigung von Wahrheit und Gerechtigkeit sowie die Rechtsprechung umfasste.¹⁶ Diese Vorstellung kommt in mehreren Tempelinschriften des 2. Jahrtausends vor Christus aus Theben zum Ausdruck: Re hat den König eingesetzt auf der Erde der Lebenden für immer und ewig, um den Menschen Recht zu sprechen, um die Götter zu befriedigen, um die Ma’at entstehen zu lassen, um die Isfet [Sünde] zu vernichten. Er (der König) gibt Gottesopfer den Göttern und Totenopfer des Verklärten. Der Name des Königs ist im Himmel wie (der des) Re.¹⁷
Wie die Könige des Zweistromlandes, so wirkten in den Augen ihrer Zeitgenossen auch die Pharaonen durch ihre Göttlichkeit und Handlungen für die Götter auf die Natur ein. Beispielhaft tritt diese Überzeugung in der Grabinschrift eines hohen Würdenträgers zur Zeit Pharao Amenemhets III. (1842–1794 v. Chr.) zutage. Der Pharao, so heißt es darin, sei Re und erleuchte Ägypten mehr als die Sonne. Durch ihn grüne das Land mehr als durch einen hohen Nil, so dass seine Diener mit Lebenskraft und Speise im Überfluss versorgt würden.¹⁸ Erfüllte der Pharao als Mittler zwischen der Götterwelt und den Menschen seine Aufgabe, Staat, Natur und Kosmos zu erhalten und zum Wohl seines Volkes wirken zu lassen, schlecht, währte seine Herrschaft nach allgemeinen Vorstellungen nicht lange.¹⁹ Die Götter setzten seinem Leben ein rasches Ende. Will man dem Zeugnis des römischen Geschichtsschreiber Ammianus Marcellinus (um 330–um 395) und seiner Res gestae glauben, so konnte der ägyptische Herrscher in späterer Zeit gar abgesetzt werden, wenn er in seinen Aufgaben versagte.²⁰
13 Hierzu u. a. Blumenthal 2002, 53–62. 14 Assmann 2005, 216; Bickel 2009, 82–84 u. 87–88; Shaw 2012, 20–21. 15 Blumenthal 2002, 53. 16 Assmann 2006, insbesondere 206–212. 17 Zitiert nach Erkens 2006, 36. Vgl. auch Assmann 1970, 22 und Assmann 2006, 206. 18 Erkens 2006, 37; Erman 1923, 120–121. 19 Assmann 2005, 419–421. 20 Erkens 2006, 37.
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Wenngleich Gott sich bei der Verheißung des Königtums an David dem Propheten Nathan u. a. mit den Worten offenbart „Ich will sein Vater sein und er soll mein Sohn sein“²¹ und auch in den Psalmen verschiedentlich Erinnerungen an frühere Bilder von der Göttlichkeit des Herrschers oder dessen Gottessohnschaft durchscheinen,²² so schloss die streng monotheistische Orientierung im alten Israel eine Divinität des Königs wie in Mesopotamien oder Ägypten aus. Die göttliche Auserwähltheit, auf der das israelitische Königtum gründete, die den Herrscher an die Spitze seines Volkes stellte und ihm seine Rolle für die Pflege und den Erhalt des Glaubens zuwies, bedeutete keinesfalls, dass der König auf die Geschicke der Natur einzuwirken vermochte.²³ Diese Macht besaß der eine und einzige Gott ebenso ausschließlich wie gänzlich für sich allein. Unter den zahlreichen Beispielen der Demonstrationen göttlichen Einwirkens auf die Natur und deren Art sei hier stellvertretend auf die biblischen Plagen im Buch Exodus verwiesen, mit denen Gott die Ägypter schlug.²⁴ Im antiken Griechenland blieb es vor allem durch die spezifische Herrschaftsform der von Gemeinschaften regierten Stadtstaaten allein den Göttern vorbehalten, die Natur nach ihrem Willen zu lenken. Platon (428/427–348/347 v. Chr.) etwa sah in der Gottheit den „Ursprung aller Bewegung“ und das „Maß aller Dinge“.²⁵ Ein Regent, der in göttlicher oder gottähnlicher Weise die Natur beeinflussen konnte, fand in den philosophischen Konzepten der klassischen griechischen Denker zunächst keinen Platz. Erst mit Alexander dem Großen (356–323 v. Chr.), der sich selbst als Sohn des Zeus-Ammon sah und an Traditionen der orientalischen Herrscherkulte anzuknüpfen suchte, hielt die zuvor nur in vereinzelten Ansätzen erkennbare Vorstellung vom göttlichen König auch in der hellenistischen Welt Einzug.²⁶ In Rom hingegen entwickelte sich im Laufe des zweiten und ersten vorchristlichen Jahrhunderts allmählich ein Kaiserkult, der die Divinität des Herrschers betonte.²⁷ Maßgeblich vorangetrieben wurde diese Entwicklung durch den ersten römischen Kaiser Augustus (63 v. Chr.–14 n. Chr.). Nach der im Jahre 42 v. Chr. erfolgten Apotheose seines Adoptivvaters Gaius Julius Caesar (100–44 v. Chr.) führte er den Beinamen Gaius Iulius Divi filius Caesar und unterstrich seine Zugehörigkeit zum julischen Geschlecht, als dessen Ahnherrin die Venus Genetrix galt.²⁸ Aus dieser
21 2 Sam 7,14. 22 Siehe etwa Psalm 2,14; Psalm 45,7. 23 Erkens 2006, 38. Lux 2002, 99–122. 24 Ex 7,20; 8,1; 8,13; 8,16; 9,1; 9,10; 9,22; 10,12; 11,4. 25 Erkens 2006, 43. 26 Green 2007, 23–24. Zur Entwicklung des hellenistischen Herrscherkultes vgl. auch Chaniotis 2003, 435. 27 Erkens 2002, 14–16. Einen Überblick über den römischen Kaiserkult und seine Ausprägungen bieten u. a. Cancik 2003; Iossif/Chankowski/Lorber 2011; Fishwick 1987–2004; Gradel 2002. 28 Bleicken 1998, 35–37; Bringmann 2007, 256; Schuhmacher 1999, 49–70.
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konstruierten Ahnenlinie leitete Augustus seine besondere Nähe zur Götterwelt ab. Der römische Kaiser, der zugleich als oberster Priester (pontifex maximus) fungierte, sorgte durch sein Handeln für das öffentliche Wohl (salus publica), das Glück des Volkes zur gegenwärtigen Zeit (felicitas temporum) sowie die innere Ruhe des Staates (tranquilitas).²⁹ Die Vergöttlichung Caesars, die sich mit Augustus fortsetzte und in der Folge allen Kaisern nach ihrem Ableben zuteilwerden sollte, gipfelte schließlich unter Nero (37–68) und Domitian (51–96) in der Verehrung der lebenden Herrscher als Götter.³⁰ Die voranschreitende Christianisierung im Imperium Romanum führte während der Spätantike zu einem Wandel sakral legitimierter Herrschaftskonzepte. Göttlichkeit und Vergöttlichung der Monarchen wurden mit der Hinwendung zum neuen Glauben ausgeschlossen, doch prägte ein Konglomerat aus verschiedenen Traditionen stammender Elemente des antiken „Sakralkönigtums“³¹ über das Mittelalter hinweg mitunter bis in die jüngste Zeit hinein die Vorstellungen der abendländischen Monarchie. Grundlegend erscheint dabei der Gedanke, dass, wie der Historiker FranzReiner Erkens betont, „das Königtum von Gott geschaffen und sein Träger von Gott erwählt sei, dass also die Herrschaft dei gratia ausgeübt werde, aus der Gnade Gottes.“ Dies werde in unterschiedlicher Weise seit der Karolingerzeit bis hin zu Kaiser Wilhelm II. (1888–1941) und Königin Elisabeth II. von England in offiziellen Verlautbarungen unterstrichen.³² In Anknüpfung an die Idee des der Menschheit in der Bibel übertragenen dominium terrae erfüllte der Herrscher des Weiteren die Aufgabe eines göttlichen Sachwalters als Stellvertreter Christi (vicarius Christi) auf Erden und besaß demzufolge eine „priesterähnliche Verantwortung für die ihm anvertraute Gemeinschaft vor Gott“.³³ Als Idealziel erschien dabei, die Erde als „Abbild des Gottesreiches“ zu gestalten.³⁴ Dass die Geschicke der Natur demnach auch vom Handeln und Verhalten des Herrschers abhingen, wofür dieser Rechenschaft vor dem Allerhöchsten ablegen musste, vermittelt beispielhaft ein Schreiben, das der angelsächsische Kleriker Cathwulf um das Jahr 775 an Karl den Großen (747/748–814) richtete.³⁵ Darin heißt es unter anderem: Memor esto ergo semper, rex mihi, Dei regis tui cum timore et amore, quod tu es in vice illius super omnia membra eius custodire et regere, et rationem reddere in die iudicii, etiam per te.³⁶
29 Erkens 2006, 51. 30 Gering 2012; Witschel 2001, 107; Cordes 2014, 369. 31 Zur Diskussion um den Begriff des „Sakralkönigtums“ vgl. grundlegend die Ausführungen von Erkens 2006, 27–33. 32 Zitiert nach Erkens 2006, 29. 33 Zitiert nach Erkens 2006, 29. Ferner Kantorowicz 1994, 108–109. 34 Erkens 2006, 62. 35 Epistolae II, Nr. 7; vgl. Dümmler 1895, 501–505. 36 Ebd., 502.
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(Erinnere Dich also daran, mein König, dass Du für Deinen Gott mit Furcht und Liebe regierst, dass Du an seiner Statt über alle Glieder wachst und herrschst, und am Tag des Gerichts ebenso durch Dich Rechenschaft abgelegt werden muss.)
Weiter ermahnt der Geistliche den fränkischen Herrscher, dass dieser, dessen Titel rex in ihrer eigentlichen Wortbedeutung ja bereits den Auftrag zu lenken und zu leiten impliziere, durch angemessenes, gottgefälliges Verhalten zu einem gerechten König werde.³⁷ Als solcher bewirke er, dass sein Reich gesegnet und vor Feinden geschützt sei, das Wetter sich ruhig gebe sowie Meer und Land fruchtbar blieben. Ein ungerechter König aber, ein rex iniustus, richte sein Reich durch Hungersnot zugrunde, weil das Wetter die Ernten vernichte, das Land unfruchtbar werde, Krankheiten das Volk heimsuchten und die Feinde ihn schließlich besiegten. Ein ungeeigneter Herrscher, der seiner Aufgabe nicht gerecht wurde, rief mithin in den Augen der Zeitgenossen den Zorn Gottes hervor, der sich in der Entfesselung der Naturgewalten, Hunger, Seuchen wie auch in Kriegen manifestierte und das gesamte Volk traf.³⁸ Als ein weiterer Aspekt herrscherlichen Einwirkens auf die Geschicke der Natur und grundlegender Pfeiler des mittelalterlich-frühneuzeitlichen „Sakralkönigtums“ erscheint die Fähigkeit des Königs, kraft göttlicher Gnade Kranke heilen zu können.³⁹ Tauchen zunächst nur vereinzelt Hinweise auf königliche Heilungen auf, so entwickelte sich seit dem 11. Jahrhundert die Überzeugung, die französischen und englischen Herrscher seien befähigt, die Skrofulose, Geschwülste der Halsdrüsen, durch Handauflegung verschwinden zu lassen. Die zu allen Zeiten herausragende Stellung der Herrscher als Götter, Vergöttlichte, Gottessöhne, Abbilder oder Sachwalter Gottes, deren Verhalten und Handeln die Natur beeinflussen, legt nun nahe, Überlegungen zum Verhältnis zwischen den Herrschern und ihrer eigenen physischen Natur bzw. ihrer Fähigkeit zur Beherrschung der physikalischen Welt anzustellen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes widmen sich in einem interdisziplinären Zugriff verschiedenen Aspekten dieses weiten Themenkomplexes. Dessen groben Rahmen umreißt einführend die weitere Skizze, die sich an folgenden Fragen orientiert: Hatte neben seinem Handeln und Verhalten auch die körperliche Gestalt des politischen Führers Auswirkungen auf das Naturgeschehen? Gab es bestimmte körperliche Voraussetzungen, die einen Herrscher in besonderer Weise für sein Amt prädestinierten? Disqualifizierten physische Defizite den Herrscher für seine Aufgabe? Oder war der natürliche Körper des Königs am Ende gar bedeutungslos, weil zur Erfüllung seines ewig währenden Amtes einzig der von Ernst H. Kantorowicz in seinem aufsehenerregenden Werk The King’s Two Bodies (1957) ausführlich beschriebene metaphysische Körper zählte?
37 Hierzu mit weiteren Ausführungen Erkens 2006, 135. 38 Jankrift 2003, 9–11 u. 63–65. 39 Die Hintergründe der Wunderheilungen sind ausführlich erörtert im Pionierwerk von Bloch 1983. Die Erstauflage des Werkes wurde 1924 veröffentlicht. Bloch 1995 mit der deutschen Übersetzung.
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Die Statur des Herrschers und die Erhaltung der physischen Kraft In seiner Vita Karoli Magni gab der Gelehrte Einhard (um 770–840) eine recht genaue Beschreibung des fränkischen Herrschers in dessen späterer Lebensphase:⁴⁰ Sein Körper war ansehnlich und stark, seine Größe stach heraus, ohne doch das rechte Maß zu überschreiten (denn bekanntlich betrug seine Länge sieben seiner Füße). Sein Haupt oben rund, seine Augen gewaltig und lebhaft, die Nase ein bisschen über das Ebenmaß hinausgehend, sein ergrautes Haar herrlich, sein Gesicht freundlich und heiter. So verschaffte ihm seine Gestalt – ob er saß, ob er stand – viel Autorität und Würde. Sein Nacken freilich schien wulstig und ziemlich kurz und sein Bauch einigermaßen vorgewölbt, doch verdeckte die Ausgewogenheit seiner Gliedmaßen dies.⁴¹
Wenngleich sich Einhard in Gestaltung, Sprachgebrauch und Stil seines Werkes zweifelsohne an den römischen Kaiserviten (De vita Caesarum libri VIII) Suetons (um 70nach 120) orientierte, so zeichnet er doch keinesfalls ein standardisiertes Idealbild der körperlichen Erscheinung Karls des Großen.⁴² Viele der beschriebenen Merkmale lassen sich an der um 870 in Metz gefertigten, 24 Zentimeter hohen Reiterstatuette aus Bronze wiedererkennen, die heute im Louvre zu Paris aufbewahrt wird und möglicherweise den fränkischen Herrscher zeigt.⁴³ Wahrscheinlich ließ dessen Enkel Karl der Kahle (823–877) das Kunstwerk fertigen, um sich selbst an die Herrschaft seines Großvaters anknüpfend in dessen Gestalt darzustellen. Bei dem Reiter handelt es sich um einen großen Mann von kräftigem Bau mit kurzem Nacken, rundem Kopf, fülligen Wangen und langem Oberlippenbart. Sein Haupt wird von einer Lilienkrone geziert, unter deren Rand das dichte, bis über die Ohren gestutzte Haar sichtbar ist. In der Rechten hält er ein Schwert, in der Linken den Reichsapfel als Zeichen der Herrschaft. Jüngste paläopathologische Untersuchungen an den vermeintlich sterblichen Überresten Karl des Großen bestätigen Einhards Darstellung, dass der fränkische Herrscher mit seiner Körpergröße wohl die meisten seiner Zeitgenossen deutlich überragte.⁴⁴ Den Befunden des von Frank Rübli geleiteten Swiss Mummy Project
40 Einhard 1911, 26–27: „Corpore fuit amplo atque robusto, statura eminenti, quae tamen iustam non excederet – nam septem suorum pedum proceritatem eius constat habuisse mensuram –, apice capitis rotundo, occulis praegrandibus ac vegitis, naso paululum mediocritatem excedenti, canitie pulchra, facie laeta et hilari. Unde formae auctoritas ac dignitas tam stanti quam sedenti plurima adquirebatur: quamquam cervix obesa et brevior venterque proiectior videretur, tamen haec ceterum membrorum celabat aequalitas. Incessu firmo totaque corporis habitudine virili; voce clara quidem, sed qui minus corporis formae conveniret.“ 41 Zitiert nach Patzold 2013, 22. 42 Barbero 2007, 134. 43 Heuschkel 2014, 32–33; Imhof/Winterer 2013, 183–185. 44 Vgl. den online bereitgestellten Artikel: Paläopathologie: Karl, der wirklich Große, http://www. zeit.de/wissen/geschichte/2014-01/karl-der-grosse-untersuchung-gebeine [abgerufen am 11. November 2015].
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der Universität Zürich aus dem Jahr 2010 zufolge lässt die Knochenanalyse des fränkischen Herrschers auf eine Größe von 1,84 Meter schließen. Im ausgehenden 8. Jahrhundert lag die ermittelte Durchschnittsgröße männlicher Bewohner des Frankenreiches bei 1,69 Meter. Anhand der erhobenen Daten konnte zudem das Gewicht des Herrschers annähernd bestimmt werden. Mit seinen etwa 78 Kilogramm hatte Karl einen idealen Body-Mass-Index von 22. Die leichte Wölbung des Bauches, die sein Biograf Einhard anführt, scheint mithin Karls bereits vorangeschrittenem Alter zur Abfassungszeit des Berichts geschuldet, worauf die Erwähnung des „ergrauten Haares“ hinweist. Die Ergebnisse der Schweizer Wissenschaftler bestätigen die paläopathologischen Untersuchungen von Skeletten aus frühmittelalterlichen Gräberfeldern.⁴⁵ In Weingarten etwa, wo die Archäologen alemannische Bestattungen des 6. bis 8. Jahrhunderts zutage förderten, maßen männliche Angehörige der Führungsschicht mit durchschnittlich 1,74 Meter Körpergröße rund 5 Zentimeter mehr als Halbfreie.⁴⁶ Noch deutlicher fiel der Größenunterschied bei weiblichen Angehörigen der führenden Familien im Gräberfeld von Kirchheim aus, die mit 1,67 Meter etwa 13 Zentimeter größer waren als die übrigen Frauen. Dem Bericht des spätantiken römischen Geschichtsschreibers Ammianus Marcellinus (um 300-um 395) zufolge wurden die Alemannen von gewählten Königen regiert, die infolge von verlorenen Kriegen oder Missernten wieder abgesetzt werden konnten.⁴⁷ Dieses Heerkönigtum, das die Rolle des Anführers neben dessen Tüchtigkeit als Krieger auf dem Schlachtfeld auch in enger Verbindung zu den Geschicken der Natur sah, erforderte zweifelsohne einen physisch herausragenden, also starken und in der Regel wohl auch großen Mann. Wenngleich der Vater Karls des Großen, Pippin der Jüngere (714–768), auch unter seinem Beinamen „der Kurze“ oder „der Kleine“ bekannt ist, so lässt dieser Zusatz keine Rückschlüsse auf dessen tatsächliche Körpergröße oder gar Kleinwüchsigkeit zu. Vielmehr scheint die erst im 12. Jahrhundert aufgekommene Bezeichnung ein Missverständnis der Geschichtsschreiber zu sein, das auf einer Anekdote basiert, die der Gelehrte und Dichter Notker der Stammler (um 840-912) in seinem Werk Gesta Caroli Magni überliefert.⁴⁸ Demzufolge bewies Pippin seine Stärke – und damit seine Herrscherqualitäten – im Zweikampf gegen einen wilden Löwen. Obwohl er keinesfalls von kleiner Gestalt war, stellte sich Pippin nach seinem Sieg über die reißende Bestie – den König der Tierwelt – gegenüber dem umstehenden Volk in die Tradition König Davids,⁴⁹ der im Kampf gegen den riesenhaften Goliath obsiegt
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Jankrift 2010, 487–488. Wahl/Wittwer-Backofen/Kunter 2001, 338–340. Pohl 2002, 155. Notker der Stammler 1959, 78–80. Zur Bedeutung des sogenannten Davidkönigtums bei den Karolingern siehe Erkens 2006, 133–155.
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hatte, und Alexanders des Großen, um seinen eigenen Triumph symbolisch aufzuwerten: Videtur vobis inquiens utrum dominus vester esse possim? Non audistis, quid fecerit parvus David ingenti ilii Goliath vel brevissimus Alexander procerissimus satellitibus suis? (Überlegt ihr beunruhigt, ob ich euer Herr sein könnte? Habt ihr nicht vernommen, was der kleine David jenem gewaltigen Goliath tat oder der sehr kleine Alexander seinen größten Begleitern?)
Notkers Ausführungen vermitteln den Eindruck, dass in diesem Fall weniger die Körpergröße als vielmehr die Kraft entscheidend war. In Anlehnung an das Heerkönigtum der germanischen Stämme stellten diese beiden Charakteristika auch in anderen Beispielen wichtige physische Voraussetzungen für die abendländischen Herrscher des Früh- und Hochmittelalters dar. Noch Ludwig der Heilige erscheint in einer nach seiner Kanonisierung verfassten Vita als auffällig hochgewachsener König.⁵⁰ Im Laufe der Jahrhunderte verloren diese spezifischen körperlichen Merkmale offenbar allmählich an Bedeutung. Dafür spricht, dass körperliche Größe und Stärke, die man zuvor für selbstverständlich erachtete, später als besondere Eigenschaften durch entsprechende Beinamen herausgestellt wurden. So etwa im Falle König Philipps V. von Frankreich (1292/1293–1322), der aufgrund seines Körperbaus „der Lange“ genannt wurde, oder – um ein viel späteres Beispiel zu nennen – der sächsische Kurfürst und König von Polen, August der Starke (1670–1733). Nach der legendenhaften Überlieferung soll der mit 1,76 Meter für seine Zeitgenossen recht große Herrscher seine körperliche Kraft gern öffentlich demonstriert haben.⁵¹ Am 11. Februar 1711 zerbrach er unter dem Jubel der Menge angeblich ein Hufeisen mit bloßen Händen. Auch in den meisten Kulturen der antiken Mittelmeerwelt spielten Körpergröße und -kraft eine besondere Rolle. In markanter Weise setzen sich dabei die schon von Notker dem Stammler angeführten Beispiele König Davids und Alexanders des Großen ab. Die göttliche Erwählung Davids als König erscheint in erster Linie dadurch legitimiert, dass es sich gemäß den Ausführungen im ersten Buch Samuel um „einen Mann nach Gottes Herzen“ handelte.⁵² Der Philister Goliath, gegen den der Hirtenjunge David nur mit seiner Steinschleuder bewaffnet zum Zweikampf antritt, überragt den jungen Israeliten deutlich an körperlicher Größe. Herausstechend sind indes Davids Eigenschaften – Gottvertrauen, Tapferkeit und die meisterhafte Beherrschung der Harfe – die maßgeblich dessen Rolle als fähiger Feldherr, gerechter Richter und gelehrter Verfasser der Psalmen kennzeichnen. Geistige, nicht körperliche Größe bildete demnach die Grundlage seiner Herrschaft.
50 Le Goff 2000, 458. 51 Doubek 2007, 82–84. 52 1 Sam 13,14.
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Auch Alexander der Große war, will man den diversen Zeugnissen zu seinem Aussehen glauben, selbst im Vergleich zu seinen makedonischen Untertanen eher klein gewachsen, doch durchaus kräftig.⁵³ Körpergröße war demnach in seinem Fall keine Voraussetzung, die ihn für die Herrschaft prädestinierte. In Mesopotamien und im alten Ägypten hingegen bestand offenbar durchaus ein Zusammenhang zwischen Königtum und körperlicher Größe. Dies wird unter anderem durch einen exemplarischen Blick auf die Mumien der altägyptischen Pharaonen bekräftigt. So maßen etwa Thutmosis III. (um 1486–um 1425 v. Chr.) und Sethos I. (1294/1290–1279 v. Chr.) jeweils 1,71 Meter,⁵⁴ Ramses II. (um 1303–1213 v. Chr.) 1,72 Meter⁵⁵ und Tutanchamun (um 1332–1323 v. Chr.) gar 1,80 Meter.⁵⁶ Die Herrscher des Reiches am Nil dürften demnach deutlich größer gewesen sein als die meisten Ägypter zu dieser Zeit. Auch die Etymologie des sumerischen Wortes „lugal“, das sich aus „lú“ (Mann) und „gal“ (großer) zusammensetzt und im Deutschen in der Regel mit „König“ wiedergegeben wird,⁵⁷ legt die Vermutung nahe, dass sich in dieser Bezeichnung nicht allein die herausragende Bedeutung der Herrscher widerspiegelt, sondern dass das Zweistromland möglicherweise von groß gewachsenen Herrschern regiert wurde. Die Körperkraft durch standesgemäße physische Ertüchtigung zu erhalten, erscheint seit jeher als ureigene Pflicht des guten Herrschers. Der Monarch sorgte auf diese Weise dafür, seine von Gott oder der Götterwelt übertragenen Aufgaben möglichst langanhaltend erfüllen zu können, wovon – wie eingangs aufgezeigt – letztlich auch die Geschicke der Natur abhingen. So war etwa das Lenken von Streitwagen im pharaonischen Ägypten ein Zeichen herrscherlicher Stärke.⁵⁸ Auch römische Kaiser zeigten ihre physischen Fähigkeiten dem Volk. Nero (37–68) etwa tat sich als begeisterter Wagenlenker hervor, der an den panhellenischen Spielen teilnahm und in Olympia ein Gespann mit zehn Pferden zu lenken versuchte.⁵⁹ Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit wurden die (angehenden) Herrscher vor allem durch die „Fürstenspiegel“ ermahnt, sich auf verschiedene Weise Erhaltung und Kräftigung ihres Leibes zu widmen. In Anlehnung an das Vorbild der septem artes liberales, welche die Grundlage der Gelehrsamkeit bildeten, entwickelte sich die Idee von den sieben ritterlichen Künsten (septem probitates).⁶⁰ Zu diesen
53 Green 2007, 15–16. 54 Hobson 1993, 97; Partridge 1994, 77–80. 55 Smith 1912, 62. 56 Vgl. Radiological Society of North America (28.11.2006): Radiologists Attempt To Solve Mystery Of Tut’s Demise, http://www.sciencedaily.com/releases/2006/11/061128084450.htm [abgerufen am 16. November 2015]. 57 Erkens 2006, 34. 58 Darnell/Menassa 2007, 63–65. 59 Schneider 2001, 84. 60 Schlegelmilch 2011, 164.
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gehörten unter anderem das Reiten, das Schwimmen und der sichere Umgang mit dem Bogen, die zu den festen Bestandteilen des adeligen Erziehungsprogramms zählten und im Erwachsenenalter weiter gepflegt wurden.⁶¹ So bemerkt etwa Einhard in seiner Vita Caroli Magni, Karl habe sich beständig im Reiten, Jagen und Schwimmen geübt, wobei ihn in letzterem niemand übertroffen habe.⁶² In der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Rittergesellschaft demonstrierten die Herrscher ihr körperliches Geschick im Reiten und im Umgang mit Waffen nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch öffentlich auf Turnieren. Der spätere Kaiser Karl V. (1500–1558), so ist etwa in einem zeitgenössischen Zeugnis zu lesen, beeindruckte den Adel bei seiner Ankunft in Spanien 1517 auf einem Turnier in Valladolid durch seine würdevolle Erscheinung zu Pferd und überragende Körperbeherrschung.⁶³ Dass diese Zurschaustellung majestätischer Fähigkeiten durchaus tragisch enden konnte, belegt das Beispiel König Heinrichs II. von Frankreich (1519–1559). Im Rahmen eines Turniers auf dem Pariser Place des Vosges am 30. Juni 1559 wurde der Herrscher durch einen Lanzensplitter seines Gegners so schwer am Auge verwundet, dass auch der königliche Wundarzt, Ambroise Paré (um 1510–1590), sein Leben nicht mehr zu retten vermochte.⁶⁴ Der tödliche Zwischenfall läutete zugleich das Ende des Turnierwesens ein. Besonderer Ausdruck königlicher Körperkraft, die zugleich die herausgehobene Stellung des Herrschers unterstrich, war über Jahrhunderte hinweg die Jagd. Dabei stellte der Monarch nicht nur sein körperliches Geschick und seinen Mut unter Beweis. Vielmehr wurde durch die Jagd solcher Tiere, deren Tötung dem Adel vorbehalten war – wie etwa im Mittelalter das Hochwild –, das besondere Herrscherrecht zum Eingriff in bestimmte Bereiche der Natur betont. Aus den vorangegangenen Beobachtungen folgt, dass besondere Körperkraft – oftmals in Verbindung mit physischer Größe – als wichtige Kennzeichen des Herrschers angesehen wurden, die ihn befähigten, die Ordnung seines Reiches im Krieg zu schützen und seine Aufgaben als Mittler zur göttlichen Sphäre zu erfüllen. Wenngleich sich die Beziehung zwischen Köperkraft und -größe und der Fähigkeit, das von Gott bzw. den Göttern erwartete Handeln und Verhalten umsetzen zu können, im Laufe des Mittelalters augenscheinlich immer stärker verschliff, so blieben
61 Grundlage bildeten die Ausführungen in Petrus Alfonsis (1057–1130) Disciplina clericalis. Darin heißt es: „Probitates vero hae sunt: Equitare, natare, sagittare, cestibus certare, aucupare, saccis ludere, versificari.“ Vgl. hierzu Petrus Alfonsi 1911, 11. 62 Einhard 1911, 27: „Exercebatur assidue equitando ac venando: quod illi gentilicium erat, quia vix ulla in terris natio invenitur, quae in hac arte Francis possit aequari. Delectabatur etiam vaporibus aquarum naturaliter calentium, frequenti natatu corpus exercens; cuius adeo peritus fuit, ut nullus ei iuste valeat anteferri.“ Zur besonderen Bedeutung des Schwimmens bei Karl dem Großen vgl. auch Bredekamp 2014. 63 Schlegelmilch 2011, 164 Anm. 13. 64 Faria 1992, 964–969.
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Reminiszenzen dieser Vorstellungen vereinzelt weit länger erhalten, wie das Beispiel Augusts des Starken zeigt. Doch welcher physischen Merkmale bedurfte es darüber hinaus?
Das Haupt des Herrschers Dem Haupt des Herrschers als Abbild Gottes oder als Verkörperung einer Gottheit kam seit jeher, wenn auch über Zeiten und Räume hinweg in durchaus unterschiedlicher Weise, eine besondere Relevanz zu. Für das herrscherliche Charisma in seiner ursprünglichen Bedeutung als Gabe von Gottes Gnade,⁶⁵ das die numinose Autorität des Königs durch dessen körperliche Erscheinung betont, ist zweifelsohne der Kopf, insbesondere aber das Gesicht sehr wichtig. Von König David heißt es hierzu im 1. Buch Samuel:⁶⁶ Und er war bräunlich, mit schönen Augen und von guter Gestalt. Und der HERR sprach: Auf, salbe ihn, denn der ist’s.
Unstrittig scheint dabei, dass die Wahrnehmung dessen, was als charismatisch empfunden wurde (und wird), ebenso wie die Beurteilung körperlicher Schönheit durch kultur- und zeitspezifische Muster geprägt wird, die einer stetigen Entwicklung unterworfen sind.⁶⁷ Diese Idealbilder spiegeln sich sowohl in den erzählenden Quellen als auch in der Kunst wider. Sie verstellen dadurch häufig den Blick auf das reale Aussehen der Herrscher, ermöglichen mitunter aber auch eine Annäherung. Den Ausführungen des Plutarch (um 46–120) zufolge, wurden die durch Lysippos (4. Jh. v. Chr.) geschaffenen Statuen der körperlichen Erscheinung Alexanders des Großen in solch treffender Weise gerecht, dass sich dieser gar selbst allein von diesem Künstler modellieren lassen wollte.⁶⁸ Viele der physischen Besonderheiten des makedonischen Herrschers, so fährt der Biograf fort, habe der Bildhauer unnachahmlich durch seine genaue Beobachtungsgabe nachempfunden, wie etwa den leicht nach links geneigten Hals und den schmelzenden Blick seiner Augen.⁶⁹ Will man den späten Zeugnissen des griechischen Geschichtsschreibers Arrian (um 85/90–nach 145/146) sowie des sogenannten „Alexanderromans“ glauben, war
65 Potts 2010, 3. 66 1 Sam 16,12. 67 Zu diesem Aspekt übergreifend beispielsweise Eco 2007. 68 Plutarch 1919 (Alex. 4,1–2). 69 Zu den Skulpturen des Lysippos, die angeblich Alexander den Großen zeigen, vgl. Michon 1906, 79–110 und den Online-Artikel: Portrait of Alexander the Great (356–323 BC); http://www.louvre.fr/ en/oeuvre-notices/portrait-alexander-great-356-323-bc.
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Alexander der Große ein gutaussehender Feldherr, der ein hellblaues und ein braunes Auge besaß.⁷⁰ Eine solche Iris-Heterochromie (Heterochromia iridium), die beim Menschen nur selten auftritt und durch eine Pigmentstörung der Regenbogenhäute hervorgerufen wird,⁷¹ trug zweifelsohne zur Überzeugung bei, der makedonische Herrscher trage in seinem Antlitz ein Zeichen der Göttlichkeit. Dass sich herrscherliche Erhabenheit nach der Auffassung der jeweiligen Zeitgenossen nicht zuletzt im Gesicht des Monarchen widerspiegelte, belegt neben der bereits erwähnten Beschreibung Karls des Großen durch Einhard beispielsweise auch eine kurz nach der Kanonisierung Ludwigs IX. von Frankreich (1214–1270) entstandene Vita. Darin heißt es unter anderem:⁷² Durch seinen Wuchs ragte er mit den Schultern oder höher über alle anderen hinaus, die Schönheit seines Leibes ergab sich aus dem Ebenmaß der Proportionen, sein Kopf war rund, wie es dem Sitz der Weisheit gebührt, sein sanftes und heiteres Antlitz hatte nach außen hin etwas Engelhaftes, seine Taubenaugen sandten liebreiche Strahlen aus, sein Gesicht war zugleich blass und glänzend, die frühzeitige Weißhaarigkeit (an Haupt und Bart) kündete von innerer Reife, wenn nicht gar von der ehrwürdigen Weisheit des Alters. … man war innerlich zur Freude gestimmt, sobald man nur den äußeren Anblick des Königs gewahrte.
Dieser „äußere Anblick“ wird in den Ausführungen unmittelbar mit Ludwigs Heiligkeit und damit seiner besonderen Stellung als Mittler Gottes auf Erden verknüpft, der seinen Untertanen durch seine „innere Güte“ zu allgemeiner Wohltat gereicht. Als besonderes Zeichen göttlicher Gnade, die sich in der äußeren Erscheinung manifestiert, galten nach zeitgenössischer Vorstellung Ludwigs schon zu Lebzeiten gewirkte Heilungswunder, durch welche das durch die Natur vorgezeichnete Schicksal verändert wird.⁷³ Bedeutsam für die Wahrnehmung der herrscherlichen Physis scheint das von mittelalterlich-frühneuzeitlichen Geschichtsschreibern oftmals erwähnte „Ebenmaß“ – die rechte und damit natürliche, gottgewollte Proportion –, hinter welches kleinere Makel des Gesichts oder Leibes zurücktreten. Besonders auffällige „Fehler“ wurden hingegen mitunter kenntlich gemacht. Dies zeigt sich beispielsweise auch in der Schilderung des venezianischen Gesandten Gasparo Contarini (1483–1542), der dem Senat der Seerepublik im November 1525 über seinen Besuch am Hof Karls V. (1500–1558) in Toledo berichtete und dabei ausführlich auf die äußere Erscheinung des Habsburgers einging:⁷⁴ E di statura mediocre, non molto grande, nè picolo, bianco di colore più presto pallido che rubicondo, del corpore ben proporzionato, bellisma gamba, buon braccio, il naso un poco acquili-
70 Grafton/Most/Settis 2010, 27. 71 Imesch/Wallow/Albert 1997, 117–123. 72 Wörtlich zitiert nach Le Goff 2000, 458. 73 Le Goff 2000, 426. 74 Firpo 1970, 60.
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nio, ma poco, gli occhi avari, l’aspetto grave, non però crudele nè severo, né in lui altra parte del corpo si può incolpare, ecetto il mento, anzi tutta la mascella inferiore, la quale è tanto larga, et tanto lunga, che non pare naturale di quel corpore, ma pare posticcia … (Er ist von mittlerer Statur, weder sehr groß, noch klein, hell von einer eher blassen als rötlichen [Haut]Farbe, von wohlproportioniertem Körperbau, sehr schönen Beine, guten Armen, die Nase ein wenig adlerartig, aber nur wenig, die Augen begehrlich, jedoch weder grausam noch streng. Es gibt keinen anderen Teil des Körpers, dem man einen Makel zuweisen könnte, außer dem Kinn, vielmehr dem gesamten Unterkiefer, welcher derart breit und lang ist, dass er nicht natürlich für diesen Körper erscheint, sondern unecht …)
Körperliche Merkmale wie etwa die Haartracht wiesen ihre Träger vor der Öffentlichkeit bisweilen eindeutig als Herrscher aus. Das Haar als Zeichen der Führerschaft und Stärke findet sich in Gestalt des biblischen Helden Samson im Buch der Richter.⁷⁵ Dieser galt als Auserwählter Gottes, dessen langes Haupthaar ihn unbesiegbar machte. Nachdem der Nasiräer durch den Verrat seiner Gattin Delila geblendet und seiner Kraft durch Scheren des Haares beraubt worden war, erlangte er durch dessen Nachwachsen seine ursprüngliche Stärke zum Verderben der verfeindeten Philister wieder zurück. Ein herausragendes Beispiel für die Bedeutung der herrscherlichen Haartracht sind die merowingischen Könige des 6. bis 8. Jahrhunderts. Die dynastische Zugehörigkeit manifestierte sich äußerlich sichtbar im Privileg, die Haare lang und gelockt wachsen zu lassen.⁷⁶ Der Herrschaftsanspruch erlosch mit dem Verlust der Haarpracht, der durch Scheren herbeigeführt werden konnte und in der Regel damit einherging, dass der auf diese Weise seiner königlichen Würde Beraubte in ein Kloster „eingewiesen“ wurde. Welche Symbolkraft für die merowingischen Herrscher als göttliche Sachwalter vom langen Haupthaar ausging, zeigt sich beispielhaft in einem Bericht des 727 vollendeten Liber historiae Francorum eines anonymen neustrischen Geschichtsschreibers.⁷⁷ Dieser schildert, wie dem jungen fränkischen Herrscher Dagobert (608/610–639) im Kampfgetümmel gegen die Truppen des dux Saxonum Bertoald Strähnen seines Haupthaares abgetrennt wurden, was augenblicklich zur Furcht vor einer Niederlage seines Heeres führte (lesum cernens populum suum). Entsprechend gestaltete sich die Reaktion König Chlothars II. (584–629/630), der „von tiefem Schmerz gerührt“ (dolore commotus) das Haar seines Sohnes aus den Händen eines Boten entgegennahm. Das Ereignis erschien den Augenzeugen mithin als unheilvolles göttliches Zeichen dafür, dass der Herrscher seine Sachwalterschaft nicht im angemessenen Maße ausgeübt hatte. Infolgedessen– vor diesem Hintergrund sei erneut auf das bereits erwähnte Mahnschreiben des angelsächsischen Priesters Cathwulf an Karl den Großen erinnert – drohen neben der verlore-
75 Ri 13,1–16,31. 76 Erkens 2006, 106. 77 Krusch 1898, 311–313.
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nen Schlacht auch die Geschicke der Natur sich künftig gegen das Volk des Königs zu wenden. Weit weniger Bedeutung als etwa die Haarpracht und ein ebenmäßiges Antlitz scheint der Stimme des Herrschers zugekommen zu sein. Die optische überflügelte mitunter offenbar die akustische Wahrnehmung bereits in den Kulturen des antiken Mittelmeerraumes, in denen der „Visualprimat“ an der Wende zum vierten vorchristlichen Jahrhundert allmählich Einzug hielt.⁷⁸ Dass Stimme und Sprachgewandtheit für einen gotterwählten Herrscher oder Anführer keine notwendigen natürlichen Eigenschaften waren, zeigt in herausragender Weise das Beispiel des Moses. Dessen Auserwählung hängt an dieser Stelle unmittelbar mit dem Einwirken auf die Natur zusammen.⁷⁹ Nachdem Gott Moses angewiesen hatte, vor den Ägyptern zum Zeichen des göttlichen Willens Wasser in Blut zu verwandeln und dieser auf seine „schwerfällige“ Zunge verwies, stellte ihm der Allmächtige seinen älteren Bruder Aaron als „Mund“ zur Seite. Moses’ Einwirken auf die Natur als irdischer Mittler der Kraft Gottes – von der Verwandlung des Wassers in Blut über die aus dem Stein sprudelnde Quelle bis hin zur Teilung des Schilfmeeres – erfolgte mit Hilfe des Stabes, den der Herr dem Anführer der Israeliten bei der Erteilung seines Auftrages überantwortete, und nicht durch die Stimme. Im Gegensatz dazu besaß Alexander der Große trotz seiner geringen Größe eine raue, barsche Stimme.⁸⁰ Karl der Große, so führt sein Biograf Einhard aus, hatte eine feine Stimme, die nicht recht zu seinem Körper passen wollte.⁸¹ Kaiser Karl V. sprach dem Bericht Gasparo Contarinis zufolge durch die Fehlstellung seines hervorstehenden Unterkiefers kaum verständlich und verschluckte die Worte am Satzende.⁸² Eine weitaus größere Rolle für das physische Idealbild eines Herrschers spielte allerdings dessen Maskulinität.
78 Welsch 2006, 31. 79 Ex 4, 9–16: „Glauben sie aber selbst nach diesen beiden Zeichen nicht und lassen sie sich nicht überzeugen, dann nimm etwas Nilwasser und schütte es auf trockenen Boden! Das Wasser, das du aus dem Nil geholt hast, wird auf dem Boden zu Blut werden. Doch Mose sagte zum Herrn: Aber bitte, Herr, ich bin keiner, der gut reden kann, weder gestern noch vorgestern, noch seitdem du mit deinem Knecht sprichst. Mein Mund und meine Zunge sind nämlich schwerfällig. Der Herr entgegnete ihm: Wer hat dem Menschen den Mund gegeben und wer macht taub oder stumm, sehend oder blind? Doch wohl ich, der Herr! Geh also! Ich bin mit deinem Mund und weise dich an, was du reden sollst. Doch Mose antwortete: Aber bitte, Herr, schick doch einen andern! Da entbrannte der Zorn des Herrn über Mose und er sprach: Hast du nicht noch einen Bruder, den Leviten Aaron? Ich weiß, er kann reden; außerdem bricht er gerade auf und wird dir begegnen. Wenn er dich sieht, wird er sich von Herzen freuen. Sprich mit ihm und leg ihm die Worte in den Mund! Ich aber werde mit deinem und seinem Mund sein, ich werde euch anweisen, was ihr tun sollt, und er wird für dich zum Volk reden. Er wird für dich der Mund sein und du wirst für ihn Gott sein.“ 80 Green 2007, 16. 81 Einhard 1911, 27. 82 Firpo 1970, 60; Jankrift 2014, 32.
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Die männliche Physis als Voraussetzung einer guten Herrschaft und ihr androgynes Gegenbild Eine maskuline Erscheinung zählte während der Antike wie auch der Vormoderne in vielen Kulturräumen zu den grundlegenden Voraussetzungen eines Herrschers, der im Urteil seiner Zeitgenossen und der späteren Rezeption ihrer Berichte als legitimer und guter König erscheint.⁸³ Unterstrichen wurde die männliche Physis oftmals durch einen Bart. Im alten Ägypten war der Königsbart ein wesentlicher Gegenstand der herrscherlichen Insignien, der sich vielfach in den zeitgenössischen Darstellungen der Pharaonen niederschlug.⁸⁴ Der geflochtene, künstliche Kinnbart wurde vor allem bei der Durchführung kultischer Zeremonien angelegt, durch welche der ägyptische Herrscher seine Aufgaben für die Götterwelt erfüllte und durch sein rechtes Handeln für das Wohlergehen seines Volkes sorgte. Der Königsbart als Kennzeichen der Herrschaft kann zugleich als Element einer standardisierten Herrscherphysiognomie gesehen werden, denn auch die Königin Hatschepsut (1479–1458 v. Chr.)⁸⁵ ließ sich mit der pharaonischen Insignie darstellen.⁸⁶ Selbst der androgyne Pharao Echnaton (um 1351–1334 v. Chr.) verzichtete nicht darauf, sich trotz vieler Abweichungen von den Normen der zeitgenössischen Kunst mit der herrscherlichen Barttracht verewigen zu lassen. Im Falle des „Barbarossa“ genannten Kaisers Friedrich I. (um 1122–1190) avancierte der Bart gar zu einem charakteristischen Kennzeichen der herrscherlichen Persönlichkeit. Die Erinnerung späterer Generationen an seine gute Herrschaft ist untrennbar mit dem Bild des schlafenden Staufers im Kyffhäuser verknüpft.⁸⁷ In der 1816 von den Gebrüdern Grimm verfassten Version der 1519 erstmals greifbaren Legende heißt es, Friedrichs Bart sei im Schlaf durch den Tisch hindurch gewachsen und müsse sich bis zu dessen Erwachen dreimal um diesen herum winden. Wenn er dann aus dem Berg heraustrete, werde er seinen Schild an einen verdorrten Baum hängen, der sofort wieder grüne und so den Anbruch einer besseren Zeit verheiße. Die Vorstellung vom entrückten Herrscher, der in seinem physischen Leib eines Tages wiederkehrt, um die gute Ordnung der alten Zeit wiederherzustellen, erscheint dabei – wie auch im Falle Friedrichs I. – mit einer Außerkraftsetzung der Naturgesetze einherzugehen. So gibt nicht nur die Tiefe des Berges den entrückten Herrscher frei. Anderen Fassungen zufolge harrt er gar im sizilianischen Vulkan Ätna seiner
83 So betonte man etwa den männlichen Habitus Karls des Großen. Vgl. Einhard 1911, 27: „Incessu firmo totaque corporis habitudine virili.“ (Vgl. oben, Fußnote 40.) 84 Schlögl 2006, 99–100. 85 Die jeweiligen Herrschaftszeiten werden von den Ägyptologen unterschiedlich angesetzt. 86 Shaw 2002, 170. 87 Jankrift 2008, 113–115.
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Wiederkehr, während Karl der Große gemäß der traditionellen Überlieferung in den Hallen des Untersberges bei Salzburg auf seine Erweckung wartet. Dem maskulin erscheinenden, guten König stand das Zerrbild des effeminierten, androgynen Regenten gegenüber. Als herausragendes Beispiel eines Herrschers, dessen Regierung von der ägyptischen Nachwelt – nicht zuletzt aufgrund der Abwendung von kultischen Traditionen – als schlecht und verdammenswert beurteilt wurde, erscheint vor diesem Hintergrund der nach seinem Ableben als Ketzerkönig gebrandmarkte und weitgehend zur damnatio memoriae verurteilte Pharao Echnaton.⁸⁸ Diese Bewertung orientierte sich auch an der effeminierten körperlichen Erscheinung des Pharao. Mit seinem langen Gesicht, den weiblich anmutenden Hüften und Brüsten sowie dem vorstehenden Bauch wich der Herrscher deutlich von der männlich-athletischen Physis ab, die den ägyptischen Pharaonen durch die zeitgenössische Kunst attribuiert wurde. Die ägyptologische Forschung geht davon aus, dass ein Gendefekt für die ungewöhnliche Physis des Regenten verantwortlich ist, wobei die Spekulationen vom sogenannten Marfan-Syndrom bis hin zum FröhlichSyndrom reichen.⁸⁹ Auch der römische Kaiser Domitian (51–96), dem seine Zeitgenossen die Verantwortung für die beklagenswerten Zustände in der Stadt am Tiber zur Last legten, wird im Panegyricus Plinius’ des Jüngeren (61/62–113) zum Zerrbild eines weibischen Herrschers:⁹⁰ Ad haec ipse occursu quoque visuque terribilis: superbia in fronte, ira in oculis, femineus pallor in corpore, in ore impudentia multo rubore suffusa. (Und dann er selbst, ein schrecklicher Anblick für jeden, der ihm begegnet: Hochmut auf der Stirn, Zorn in den Augen, der Körper von weibischer Blässe, das Gesicht hingegen in schamloser Weise von einer starken Röte übergossen.)
Ein gleichermaßen negatives Urteil fällten die Geschichtsschreiber über König Heinrich IV. von Kastilien und León (1425–1474) mit dem bezeichnenden Beinamen „el Impotente“ („der Unvermögende“) und seine Regierungszeit.⁹¹ Der Beschreibung zufolge war der als homosexuell geltende Monarch groß, blond, mit ausgeprägten femininen Gesichtszügen sowie Beinen und Armen, die denen eines Affen ähnelten.⁹² Doch nicht nur effeminierte Herrscher galten in den Augen ihrer Zeitgenossen als ungeeignet, ihre Aufgaben als göttliche Sachwalter auf Erden zu erfüllen und die natürliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Auch Krankheiten, welche nicht etwa dem
88 Trigger 2001, 186–187. 89 Strachey 1939, 33–42; Burridge 1996, 127–128; Hoffmeier 2015, 130. 90 Witschel 2001, 98; Plinius d. J. 1985 (Panegyricus 48,4). 91 Martín 2003. 92 Tremlett 2011, 13.
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voranschreitenden, naturbedingten Alterungsprozess geschuldet waren, disqualifizierten den Kranken als möglichen Herrscher.
Der kranke Leib des Herrschers Der während der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts erstellte Sachsenspiegel des Eike von Repgow (1180–nach 1233) nimmt sich bei seinen Ausführungen zur Königswahl auch des Problems des kranken Herrschers an.⁹³ Demzufolge war ein Leprakranker automatisch von der Herrschaft ausgeschlossen. Der einige Jahrzehnte später entstandene Schwabenspiegel ergänzte diese Bestimmung um die Möglichkeit, einem König, der erst nach seiner Thronbesteigung erkrankte, einen geeigneten Helfer zur Seite zu stellen.⁹⁴ Grund für den expliziten Ausschluss eines leprakranken Herrschers war, dass die Lepra in den Augen der mittelalterlichen Gesellschaft als göttliche Strafe für einen sündhaften Lebenswandel galt, den Erkrankten stigmatisierte und entsprechend der Vorstellungen des Buches Leviticus in einen Unreinen verwandelte.⁹⁵ Das zivile wie auch das kanonische Recht widmeten sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder dem Umgang mit den Leprakranken, deren unheilbares, aber erst nach langem Siechtum zum physischen Tod führendes Gebrechen sich als gesellschaftliches Problem erwies.⁹⁶ Vor diesem Hintergrund sticht die Herrschaft des leprakranken Königs Balduin IV. von Jerusalem (1161–1185) heraus.⁹⁷ Ohne an dieser Stelle ausführlich auf die Entwicklung von dessen Erkrankung eingehen zu wollen, gilt es festzuhalten, dass der Herrscher von Seiten des Heiligen Stuhls mit direktem Verweis auf dessen körperliche Befindlichkeiten offen für den desolaten Zustand der Kreuzfahrerstaaten sowie die wachsenden Erfolge der Muslime verantwortlich gemacht wurde.⁹⁸ Entscheidend scheint dabei neben dem Umstand, dass die Lepra in besonderer Weise gegen eine Gottgewolltheit des Herrschers sprach, vor allem das mit dem Status als „Unreiner“ einhergehende körperliche Unvermögen zu sein, die irdische Sachwalterschaft Gottes wahrzunehmen und – insbesondere in kultischen Belangen – entsprechend zu handeln. Erlitt ein bereits amtierender König indes durch Kriegsein-
93 Eike von Repgow 1993, Landrecht III 54. Hierzu auch Hiestand 1986, 67. 94 Vgl. von Laßberg 1840, Landrecht 122. 95 Lev 13,43–46; vgl. hierzu Jankrift 2005, 45–54; Pichon 1988, 147–157; Zias 1989, 27–31; Hörger 1982, 53–70. 96 Eine neuere Übersicht der Entwicklung rechtlicher Bestimmungen zum Umgang mit Leprakranken bietet Uhrmacher 2011, 26–30. 97 Mitchell 1993, 283–291. 98 Jankrift 1996, 56–57.
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wirkung oder Unfall einen Schaden oder erkrankte, so wurde seine Legitimation dadurch nicht in Frage gestellt. In diesem Fall war es Aufgabe der königlichen Ärzte, den natürlichen Leib des Herrschers mit Gottes Hilfe wieder zur Gesundheit zurückzuführen.⁹⁹ Dass ein kranker Monarch trotz seiner körperlichen Beeinträchtigung Sorge dafür trug, dass keine Zweifel an seiner herrscherlichen Eignung, Würde und Ehre aufkamen, zeigt etwa das Beispiel König Johanns von Böhmen (1296–1346). Eine wichtige Aufgabe des Herrschers war die Führung des Heeres in Kriegszeiten, was häufig die Teilnahme am Kampfgeschehen einschloss. So war Johann trotz seiner völligen Erblindung am 26. August 1346 auf dem Schlachtfeld von Crécy zugegen, wo er im Kampf fiel.¹⁰⁰
Schlussbetrachtung: Die Physis des Herrschers und die Geschicke der Natur Die vorangegangenen Ausführungen sollten gezeigt haben, dass antiken und vormodernen Vorstellungen zufolge eine kausale Verknüpfung zwischen der Physis des Herrschers und den Geschicken der Natur bestand. Eine geeignete körperliche Beschaffenheit war häufig maßgeblich, um als irdischer Sachwalter Gottes oder der Götterwelt alle mit der Herrschaft verknüpften Aufgaben wahrnehmen zu können, so dass durch dieses gottgefällige Handeln die natürliche Umgebung zum Wohle des Volkes beeinflusst wurde. In der Bewertung der Zeitgenossen erscheint eine solche Regentschaft, die sich durch die Aufrechterhaltung der natürlichen Ordnung nach innen wie nach außen auszeichnet, als ideal: Gute Ernteerträge, kein Auftreten von Naturkatastrophen, Wohlstand, Frieden und Schutz vor Feinden. Die negative Bewertung von Herrschaft, die sich zumeist auf krisenhafte Zustände wie den Zusammenbruch der inneren Ordnung, Bürgerkriege, Hungersnöte, Seuchen und Wetterextreme gründet, erscheint häufig verbunden mit Hinweisen auf den als mit Makeln behafteten oder als krank wahrgenommenen Körper des Herrschers. Dieser erweist sich als unfähig, seine Mittlerrolle zu erfüllen, geschweige denn die Entwicklung hin zu einem irdischen Abbild des Gottesreiches voranzutreiben. Die Zusammenhänge zwischen den Vorstellungen vom natürlichen Körper des Königs und dessen Bedeutung für die Geschicke der Natur anhand weiterer Beispiele aus unterschiedlichen Kulturräumen in ihrer Entwicklung eingehender und interdisziplinär zu betrachten, bleibt weiteren Untersuchungen vorbehalten. Einen Schritt auf diesem Weg gehen die Beiträge des vorliegenden Bandes.
99 Kantorowicz 1994, 38. 100 Neillands 1990, 100.
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Petra Schmidtkunz
Ein Fels wie ein Geier. Motivgeschichtliche Überlegungen zur Darstellung des göttlichen Herrschers im Moselied (Dtn 32,1–43) Persönliche Erlebnisse können durch Sprache immer nur näherungsweise wiedergegeben werden. So kann auch Gotteserfahrung gegenüber anderen Menschen nicht reproduziert, sondern nur nacherzählt und angedeutet werden. Vorstellungen von (einem) Gott sind dementsprechend nicht objektivierbar, sondern bleiben notwendig Gegenstand menschlicher Diskussion und Reflexion. Die Theologin Janet Soskice drückt das so aus: „Knowledge of God, like knowledge of the world, is achieved not outwith but within the bounds of the human condition – human societies, human histories and, of course, human language and literature.“¹ Wie andere Erfahrungen, so macht der Mensch auch Gotteserfahrungen als Mensch in der Welt und bleibt für das Reden von Gott auf die Mittel und Möglichkeiten dieser Welt angewiesen. Wo Inhalte nicht absolut ausgesagt werden können, bieten Analogien einen Weg zur Verständigung, wie der Systematiker Eberhard Jüngel bemerkt: „Gott ist ein sinnvolles Wort nur im Zusammenhang metaphorischer Rede.“² So bedienen sich auch die Autoren des Alten Testaments in ihrer Rede über Gott verschiedenster Sprachbilder. In besonderer Weise zeigt sich dies in den Psalmen und anderen poetischen Texten, die mit einer Fülle von Bildern und Vergleichen den Gott Israels besingen und Erfahrungen seines Handelns zur Sprache zu bringen suchen. Da jedoch sprachliche Bilder – ähnlich Werken der bildenden Kunst – immer das Produkt einer bestimmten Tradition und Gesellschaft sind, lohnt die Frage, welche Lebens- und Denkbedingungen die Gottesdarstellungen der biblischen Dichter geprägt haben mögen. Hierzu formuliert Jüngels Lehrer Karl Barth einleuchtend: „Wie sollten die Psalmisten nicht auch direkt den bekannten Sternenhimmel betrachtet und der bekannten Stimme des Gewitters gelauscht und wie sollten sie, indem sie davon zu reden unternahmen, von dem, was sie die kultivierten Nachbarn Israels von allerlei Lichtgöttern und Schlangenwesen dichten und sagen hörten, nicht nützlichen Gebrauch gemacht haben?“³ Wer also sind die „kultivierten Nachbarn Israels“ mit ihren „allerlei Göttern“? Wie haben sie ihre Erfahrungen unter dem gestirnten Himmel ausgedrückt? Und was ist der „nützliche Gebrauch“, den die biblischen Autoren von diesen altorientalischen Vorlagen gemacht haben?
1 Soskice 1988, 153. 2 Jüngel 1974, 110. 3 Barth 1940, 123.
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Ein Antwortversuch soll anhand zweier Textbeispiele aus dem „Lied des Mose“ (Dtn 32,1–43) unternommen werden. Vom Deuteronomium selbst als „Lied“ ()שׁירה bezeichnet,⁴ ist diese Dichtung in ihrer Gattung, Genese und Datierung bis heute umstritten.⁵ Vermutlich erhielt sie ihre heutige Form erst wenige Jahrhunderte vor der Zeitenwende, also mit deutlichem Abstand zur Spätbronze- oder frühen Eisenzeit, die als Lebenszeit eines historischen Mose in Frage käme.⁶ Darauf deuten Beobachtungen an der Textgestalt und der Einbettung in den biblischen Kontext.⁷ Die im „Lied“ greifbar werdenden Vorstellungen von Israels göttlichem Herrscher aber lassen sich gut in den Kontext der Israel in der Eisenzeit umgebenden Kulturen einzeichnen. Untersuchungen religiöser Text- und Bildzeugnisse aus dem östlichen Mittelmeerraum dokumentieren motivgeschichtliche Parallelen nicht nur in Ägypten und Mesopotamien, sondern auch im Reich der Hethiter in Anatolien, in Ugarit und den phönizischen Stadtstaaten wie Tyros und Byblos sowie in den alt-südarabischen Reichen auf der Arabischen Halbinsel.
Erstes Beispiel: „Wie ein Geier ...“ (Dtn 32,11) Die erste Stelle aus dem Moselied, die in diesem Zusammenhang diskutiert werden soll, ist ein Tierbild in Dtn 32,11. Subjekt des Hauptsatzes ist (wie im vorhergehenden Vers) der Gott JHWH, von dem es heißt: כנשׁר יעיר קנו על־גוזליו ירחף יפרשׂ כנפיו יקחהו ישׂאהו על־אברתו
4 Vgl. Dtn 31,19.21.22.30; 32,44. 5 Eine beispielhaft vorsichtige Charakterisierung findet sich bei Rose 1994, 566: „Das Mose-Lied ist theologische Unterweisung in Poesie-Form.“ Auf Grund archaisch anmutender Elemente wird bis heute gelegentlich eine extreme Frühdatierung des Liedes vorgenommen (vgl. insbes. Sanders 1996, 295–432, 431 u. ö.: „pre-exilic“; eine Aufzählung der Argumente auch bei Tigay 1996, 512f), während andere Exegeten von einer möglicherweise in alten Traditionen gründenden späten Komposition ausgehen (vgl. z. B. Rose 1994, 566; Plaut 2004, 334; Otto 2009, 677). Als Gründe hierfür werden v. a. die klare monotheistische Tendenz und die inhaltlich vorauszusetzende Erfahrung des Exils genannt. Mehrere neuere Kommentare enthalten sich eines diesbezüglichen Urteils, vgl. Christensen 2002 (keine Angabe); Nelson 2002, 369: „Attempts to date the song … have been inconclusive.“ Lundbom 2013, 857 konstatiert lapidar: „a poem of unknown provenance“, identifiziert das Lied jedoch mit dem unter Josia gefundenen Gesetzbuch (ebd., 16); vgl. auch Leuchter 2007. 6 Vgl. für eine Evaluation der Moseforschung Blum 2012. Der Autor spricht sich in Ermangelung gesicherter Daten gegen die Rekonstruktion einer historischen Mosegestalt aus und plädiert stattdessen für eine Konzentration auf nachvollziehbare Prozesse der Traditionsbildung. 7 Zum Verhältnis von Lied und Rahmen vgl. schon Driver 1902, 347; Steuernagel 1900, 114; aber z. B. auch Rose 1994, 566f; Tigay 1996, 510 und anders Otto 2009, 650–657, der annimmt, Lied und Rahmen seien im 4. Jh. v. Chr. zusammen in das Deuteronomium eingefügt worden.
Ein Fels wie ein Geier
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Wie ein Adlervogel, der sein Nest bewacht,⁸ über seinen Jungen schwebt, breitet er seine Flügel aus, nimmt es [d. h. Israel], hebt es auf seine Schwinge.
Grammatisch liegt hier eindeutig ein Vergleich vor. Wie ein Vogel gegenüber seinen Jungen verhält sich JHWH gegenüber seinem Volk. Uneindeutig ist jedoch die Semantik der vergleichend herangezogenen hebräischen Tierbezeichnung נשׁר. Im Gefolge der Hochschätzung des Adlers in der griechisch-römischen Kultur hat sich diese Übersetzung weitgehend durchgesetzt. Tatsächlich aber dürfte das mit נשׁר bezeichnete Tier im Alten Testament zumeist ein Geier sein – der kahl ist, Aas frisst und zu den unreinen Tieren gezählt wird.⁹ Allerdings konnte dieser in großer Höhe fliegend wohl auch mit dem Adler verwechselt bzw. mit ihm zu einer Gruppe zusammengefasst werden.¹⁰ Bei der Suche nach aussagekräftigen altorientalischen Parallelen ist dies zu berücksichtigen. Für die Übersetzung von Dtn 32,11 wäre mithin korrekterweise ein Oberbegriff für „große Raubvögel“ zu verwenden oder von einem adler- und geierartigen Vogel zu sprechen. Mit diesem wird im Alten Testament indessen nicht nur Gott verglichen. Häufig illustriert der Raubvogel die Schnelligkeit und Unentrinnbarkeit, mit der ein Unheil oder der Feind buchstäblich aus heiterem Himmel über Menschen hereinbrechen kann.¹¹ In einem positiven Sinne wird das Tier nur an sehr wenigen Stellen erwähnt. Beispiele geben Ps 103,5 oder Jes 40,31, wo ein נשׁרfür die Erneuerung der Lebenskraft steht. Dieser Aspekt führt in den Bereich mythologischer Zuschreibungen. Denn der aasfressende Geier galt seit der Bronzezeit in Kleinasien, aber auch im alten Ägypten und wohl durch ägyptischen Einfluss auch in Mesopotamien als Sinnbild für den Zusammenhang von Leben und Sterben. Muttergöttinnen wie die ägyptische Mut wurden
8 Gestützt durch LXX (σκεπάζω: „bedecken“/„beschützen“; vgl. GELS, 623: „to provide protective covering or shield“) verstehe ich יעירals Beleg einer Wurzel ( עירvgl. HALAT, 776: „schützen, behüten“) mit der Bedeutung „bewachen“/„beschützen“. Die Herleitung erfolgt aus dem Arabischen über den I. Stamm der Wurzel ġyr (vgl. Wehr 934: „eifersüchtig bewachen, behüten“ und AEL 2315 mit den Beispielen „he was jealous for her“, „he was careful of her“) sowie schon Ginsberg 1938; Hartmann 1967; Stamm 1980, und wird bestärkt durch den sich ergebenden Parallelismus der Verben נצר („bewahren“) und „( עירbewachen“) in Dtn 32,10f. In diesem Sinne übersetzen auch Budde 1920, 48 und mit Vorbehalt Tigay 1996, 304. Gleichwohl gehen etliche Kommentatoren von einem Hif’il der Wurzel עורII (HALAT, 758) bzw. III (Gesenius¹⁸, 939) mit der Bedeutung „aufwecken“ aus und verweisen zur Erklärung des Vergleichsbildes auf das (vermeintlich) in freier Natur beobachtbare Verhalten von Adlern, die ihre Jungen zum Flug „aufstören“; vgl. Dillmann 1886, 399f; Driver 1902, 357f; auch Tigay 1996, 304. 9 Vgl. Mi 1,16 (Kahlheit); Hi 39,27.30; Prv 30,17 (Aasfresser); Lev 11,13; Dtn 14,12 (unreine Tiere). 10 Vgl. Kronholm 1986, 683: „Allerdings ist es richtig, daß ein hoch am Himmel kreisender Geier nicht leicht von einem Adler zu unterscheiden ist … und daß man folglich in der Antike nicht selten den Geier als einen Adlervogel betrachtete …“ 11 Vgl. Dtn 28,49; Klg 4,19; Jer 4,13; Hab 1,8.
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in Form oder in Begleitung eines Geiers dargestellt.¹² Auf diese Weise fand die Herrschaft der Göttin über das Werden und Vergehen bildhaften Ausdruck.¹³ Von zahlreichen Exegeten wird dagegen auf die große Nähe der fraglichen Moseliedstelle zu Ex 19,4 hingewiesen:¹⁴ אתם ראיתם אשׁר עשׂיתי למצרים ואשׂא אתכם על־כנפי נשׁרים ואבא אתכם אלי Ihr habt gesehen, was ich Ägypten getan und wie ich euch auf Geierflügel gehoben und zu mir gebracht habe.
Hier ist im Unterschied zu Dtn 32,11 auf eine Vergleichspartikel verzichtet worden. Da JHWH selbst der Sprecher ist,¹⁵ versteht man die Erwähnung der Vogelflügel an diesem Punkt der Wüstenerzählung als Illustration der besonderen göttlichen Führung, durch die das Volk Israel zum Sinai gelangt. Nicht expliziert wird hingegen, in welcher Hinsicht der Geier das Tun JHWHs charakterisieren soll. Dies deutet darauf hin, dass schon das Naturbild mit einer spezifischen Bedeutung aufgeladen ist, deren Kenntnis beim Leser vorausgesetzt wird und die von ihm auf JHWH zu übertragen ist. Der Text eröffnet die Möglichkeit, neben einem naturalistischen Verständnis des sorgenden Elternvogels auch mythologische und symbolische Vorstellungen vom Geier zu assoziieren.¹⁶ Weiterhin wird ohne Verweis auf einen Bildspender in den Psalmen mehrfach von Gottes Flügeln gesprochen. Am häufigsten begegnet dabei die Wendung „im Schatten deiner Flügel“ ()בצל כנפיך,¹⁷ einmal abgewandelt als „im Schutz deiner Flügel“ ()בסתר כנפיך.¹⁸ Auch ein einzelner Beleg für „Flügel“ im Zusammenhang mit Gott im Buch Rut lautet ähnlich: „JHWH, der Gott Israels, zu dem du gekommen bist, um dich unter seinen Flügeln zu bergen“ (Rut 2,12: )יהוה אלהי ישראל אשר־באת לחסות תחת־כנפיו. Meist ist sogar das verwendete Verb „sich bergen“ ( )חסהdasselbe.¹⁹
12 Vgl. Aldred 1976 sowie Schroer 1995 und 1997. 13 Zur Erläuterung einer Darstellung der Himmelsgöttin Nut in Geiergestalt zitiert Aldred ein Totengebet aus der Zeit Tut-anch-Amuns: „Oh meine Mutter Nut, breite dich über mir aus und nimm mich mit unter die unsterblichen Sterne auf, die in dir sind, damit ich nicht sterbe“ (vgl. Aldred 1976, 217). 14 Vgl. z. B. Bertholet 1899, 97; Christensen 2002, 797; Dillmann 1886, 399; Driver 1902, 357; Nelson 2002, 372; Tigay 1996, 304. 15 Vgl. die Redeeinleitung in Ex 19,3. 16 Vgl. Dohmen 2004, 57: „Hier … scheint ein Aspekt der Naturbeobachtung mit einem Motiv aus davon unabhängigen religiösen oder ikonographischen Traditionen verbunden worden zu sein.“ Im Folgenden verweist der Autor auf die drei Bedeutungsaspekte „göttliches Erscheinen“, „Elternliebe“ und „Lebenssymbolik“/„Neuanfang“, die das Geierbild in Ex 19,4 vereine; vgl. ebd., 59. 17 Ps 17,8; 36,8; 57,2; 63,8. 18 Ps 61,5. 19 Vgl. auch Ps 91,4 („Mit seiner Schwinge beschirmt er dich und unter seinen Flügeln birgst du dich“) mit dem auch in Dtn 32,11 auftretenden Parallelismus von „Flügel“ und „Schwinge“ sowie Dtn 32,37.
Ein Fels wie ein Geier
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Offenbar liegt eine geprägte Wendung vor, deren Ursprungskontext nicht mehr erläutert werden muss. Die konkrete Vorstellung, um welche Art von Flügeln es sich handelt, wird nicht beschrieben. Vielmehr bezieht das Bild seine Eindeutigkeit nicht zuletzt daraus, dass es durch Ausdrücke flankiert wird, die alle wörtlich den Schutz durch Gott bezeichnen. Zu nennen sind neben dem Verb „sich bergen“ auch die Verben „beschützen“ ()שׁמר²⁰ und „sich erbarmen“ ()חנן,²¹ weiter die Substantive „Treue“ ()חסד,²² „Hilfe“ ()עזרה,²³ „Beständigkeit“ ()אמת²⁴ und der ebenfalls bildliche Ausdruck „dein Zelt“ ()אהלך²⁵ im Parallelismus mit den Flügeln. Den religionsgeschichtlichen Hintergrund der Vorstellung einer schützenden Sphäre bei der Gottheit hat Friedhelm Hartenstein untersucht und auf die Cella eines Tempels als wirkmächtig gedachten Thronraum verwiesen.²⁶ Dabei grenzt er die Rede von den „Flügel[n] JHWHs“ in den Psalmen scharf von dem „gelegentlich für JHWH gebrauchten … Vogelbild mit den Assoziationen des schützend die Flügel ausbreitenden Geiers bzw. Muttervogels“²⁷ ab, wie es in Ex 19,4 und Dtn 32,11 vorkommt. Auf Letzteres geht er im Rahmen seiner Rekonstruktion der „Jerusalemer Tempelsymbolik“²⁸ nicht näher ein und sucht stattdessen nach architektonischen und ikonographischen Vorbildern für den „Begriff des durch JHWH vermittelten ,Schattens‘ (“)צל²⁹ der Flügel. So führt er die alttestamentliche Ausdrucksweise „sich im Schatten der Flügel bergen“ ( )חסה בצל כנפיםauf die Ausgestaltung phönizischer Tempel zurück und vermutet, dass diesen entsprechend auch im Jerusalemer Tempel über dem Eingang zum Allerheiligsten ein Flügelsonnenfries angebracht gewesen sei. Auf einen solchen sei die Gleichsetzung von Schutz bei der Gottheit und dem Geborgensein unter deren Flügeln bezogen.³⁰ Im Gegensatz dazu nimmt Silvia Schroer einen Zusammenhang der genannten Psalmenbelege für die „Flügel JHWHs“ (einschließlich Rut 2,12) mit den expliziten „Vogelbildern“ in Ex 19,4 und
20 Ps 17,8. 21 Ps 57,2. 22 Ps 36,8. 23 Ps 63,8. 24 Ps 91,4. 25 Ps 61,5. 26 Vgl. Hartenstein 2008, 142–149 zur „Thronsphäre JHWHs“ sowie 149–170 (Exkurs: „Thronbaldachin und Tempelsymbolik“). 27 Hartenstein 2008, 146. 28 Hartenstein 2008, 148; vgl. ebd. 160: „Der die Stelle der Cella des vorexilischen Jerusalemer Tempels einnehmende kubusförmige Einbau des Debīr … ist sehr wahrscheinlich als ein Götterschrein bzw. Naos anzusprechen, der nach allem zuvor Gesagten am ehesten als Thronbaldachin über dem Kerubenthron JHWHs aufzufassen ist. Der Debīr repräsentierte so die Thronsphäre des unsichtbar riesenhaft vom Zion aufragenden JHWH-Throns.“ 29 Hartenstein 2008, 149. 30 Vgl. Hartenstein 2008, 160f.
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Dtn 32,11 an.³¹ Sie stützt sich dabei auf umfassende Bildzeugnisse aus Anatolien und Ägypten, die „eine dominante Verbindung von Muttergöttin und Geier im Alten Orient, die zugleich mit Schutz- und Regenerationsvorstellungen gefüllt ist“,³² bezeugen. Zwar ist es ein Unterschied, ob ein Vogel seine Flügel schützend über seinen Jungen ausbreitet, wie dies die Psalmen vorauszusetzen scheinen, oder ob er seine Brut auf den ausgebreiteten Flügeln trägt, wie es Ex 19,4 suggeriert.³³ Der Vergleich in Dtn 32,11 vereint jedoch beide Aspekte, indem im ersten Bikolon vom Bewachen und beschützenden Schweben die Rede ist, im zweiten Bikolon dann aber davon, dass Israel auf die ausgebreiteten Flügel gehoben wird. Obgleich für das Tragen von Vogeljungen auf den Flügeln der Elternvögel keine Bildzeugnisse bekannt sind,³⁴ lässt sich das Gesamtbild nach Ansicht Schroers als Übernahme von Attributen archaischer Geiergöttinnen in das alttestamentliche Gottesbild interpretieren.³⁵ Schützend ausgebreitete Flügel zeigen in ägyptischen Darstellungen häufig den Beistand eines Gottes für den Pharao an, so im Falle des Falken-Gottes Horus oder der geiergestaltigen Göttin Nechbet.³⁶ Aber auch Schlangen, Sphingen und andere Mischwesen können in dieser Funktion geflügelt sein und sind manchmal mit einem Geier gemeinsam abgebildet.³⁷ Schließlich bildet das seit dem 2. Jt. v. Chr. von Ägypten aus im ganzen Vorderen Orient verbreitete Motiv der geflügelten Sonnenscheibe vermutlich die ikonographische Abstraktion eines vogelartig vorgestellten
31 Vgl. insbes. Schroer 1995, 70 sowie Schroer 1997, 299f und 308f. 32 Schroer 1997, 308; vgl. auch ebd., 301: „Die Geiersymbolik ist sowohl in Vorderasien als auch in Ägypten alt und in beiden Kulturräumen konstant mit Göttinnen verbunden.“ 33 Hierauf verweist u. a. Kwakkel 2010, 146, 149f. 34 Vgl. Schroer 1995, 70. Die Autorin stellt weiter fest, dass auch von Seiten der Ornithologie eindeutige Belege für ein derartiges Verhalten fehlen (Schroer 1997, 301 Anm. 10); ähnlich Dohmen 2004, 58; Koenen 1995, 180; Peels 1994, 300. 35 Vgl. Schroer 1995, 70 zu Dtn 32,11: „Hier ist der Geier eindeutig ein Bild der Mütterlichkeit des sonst männlich vorgestellten Gottes Israels. … Es ist wahrscheinlich, daß auch die in den Psalmen häufige Metapher vom Schatten der Flügel Gottes, in welchem sich der Beter oder die Beterin vertrauensvoll bergen wollen, auf die schützenden Geierflügel zurückzuführen ist … .“ Schroer 1997, 308: „In diesem Punkt tritt JHWH also das Erbe der Göttin an.“ 36 Kombiniert anzutreffen sind beide z. B. auf einem Ring des Tut-anch-Amun, vgl. Aldred 1976, 216: „Die Gesamtszene wird von den schützenden Schwingen des gekrönten oberägyptischen NechbetGeiers und des unterägyptischen Horus-Falken umschlossen.“ Vgl. dazu Abb. 91, ebd., 96. 37 Vgl. Aldred 1976, 101–105, 216–219 mit Abbildungen (Nr. 92–100) und Erklärungen zu Pektoralen aus dem Grab des Tut-anch-Amun, die allesamt geflügelte Wesen in schützender Funktion zeigen, sowie Schroer 1997, 302: „Geiergöttinnen schützen in Ägypten vor allem den König … . Primär von Bedeutung ist der Schutz, der durch die Flügel zum Ausdruck gebracht wird. Demgegenüber ist die Gestalt, die sich mit der Schutzfunktion verbindet, ob Geiergöttin, Schlangengöttin oder anthropomorphe Schutzgöttinnen sekundär.“ Vgl. dazu auch LeMon 2010, 28–58, zusammenfassend 58: „... when the wings of a falcon or vulture appear around a royal figure, they represent the deity’s protection manifest in that bird (e. g., Nekhbet for the vulture and Horus for the falcon).“
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Gottes.³⁸ Ähnlich wie die zitierten alttestamentlichen Psalmen scheint dieses Emblem besonders die schützende Eigenschaft der Flügel zu betonen, die ursprünglich den Pharao bzw. das Reich beschirmen. Insofern ließe sich aus bildgeschichtlicher Sicht Hartensteins Interpretation der „schützenden Flügel“ in den Psalmen mit den unmittelbar an echten Vögeln orientierten (Sprach-)Bildern in eine gemeinsame Fluchtlinie einordnen. Die ägyptische Ikonographie legt in jedem Fall nahe, dass es Manifestationen von Göttern sind, unter deren Flügeln der Mensch – und zwar in der Regel der König – Schutz finden kann.³⁹ Texte belegen zudem die Vorstellung, dass der HorusFalke mit seinen Flügeln Ägypten „umfängt“ und „schützt“.⁴⁰ Auffällig sind in diesem Zusammenhang die bezeugten Gleichsetzungen von Falke und Adler sowie von Gottheit und König,⁴¹ also einerseits die Bezeichnung des Falken-Gottes als „der herrliche Adler, der die Flügel ausbreitet“⁴² und andererseits die Titulierung beispielsweise des Pharaos Sethos I. als „göttliche[r] Falke mit buntem Gefieder“.⁴³ Aber auch im Süden der Arabischen Halbinsel, in Syrien und in Mesopotamien finden sich Hinweise auf Götter in Vogelgestalt. Inschriften der Sabäer, die zu Anfang des ersten vorchristlichen Jahrtausends die Oberherrschaft über die alt-südarabischen Reiche im Bereich des heutigen Jemen innehatten, zeugen von einem Kult um Adler- oder Geiergötter, die dort niswar heißen und somit etymologisch mit dem biblischen נשׁרaus Dtn 32,11 verwandt sind.⁴⁴ Belegt sind überdies Namen, die diese Wurzel als theophores Element enthalten und dem Namensträger den Schutz des Gottes zusprechen: „Nasr hat uns beschützt“ bzw. „Nasr beschütze dich“.⁴⁵ Ähnliche Namensbildungen tauchen seit dem Beginn unserer Zeitrechnung auch im mesopotamischen Kleinfürstentum Hatra im heutigen Irak auf. Abgesehen von Inschriften, die dem offiziellen Kult zuzurechnen sind, deuten hier Funde an Wohnhäusern auch auf eine Verehrung im Kontext der persönlichen Frömmigkeit.⁴⁶ In Ugarit stellte man sich im 14. bis 12. Jh. v. Chr. Götter und Göttinnen flugbegabt vor. Besonders die Göttin Anat wird in den aus dieser Zeit erhaltenen mythischen Texten gelegentlich als Vogel beschrieben, der sich in die Luft begibt, um den
38 Vgl. Lauber 2008; Wildung 1977, 277: „Ihr primäres Element ist ein Falkenflügelpaar, das zunächst als eigenständiges Emblem auftritt …“. Zur Verbreitung des Symbols in Syrien und Mesopotamien vgl. ausführlich Mayer-Opificius 1984. 39 Vgl. Mayer-Opificius 1984, 190: „Seit ihrer Erfindung in Ägypten war die geflügelte Sonne ein Königssymbol.“ Dazu Wildung 1977, 278: „Als politisch-religiöses Symbol des altäg[yptischen] Staatsund Herrschaftsbegriffes wirkt die F[lügelsonne] als göttliche Schutzmacht des Königtums und zugleich als Bild des in dieser Gottverbundenheit über dem Land waltenden Königs.“ 40 Vgl. Grapow 1924, 89. 41 Vgl. Wildung 1977, 278 sowie Grieshammer 1977, 820. 42 Vgl. Grapow 1924, 90 (Inschrift am ptolemäerzeitlichen Horustempel in Edfu). 43 Vgl. Grapow 1924, 89 mit weiteren Beispielen. 44 Vgl. Müller 1994. 45 Vgl. Müller 1994, 104. 46 Vgl. Vattioni 1981, insbes. 42 (Inschrift 49.3) und 81 (Inschrift 232.e.1).
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eigenen göttlichen Bruder und Ehemann Ba’al aufzusuchen.⁴⁷ Mehrfach erscheint Anat in Begleitung von nšrm, also „Raubvögeln“,⁴⁸ die philologisch wiederum dem biblisch-hebräischen נשׁרentsprechen.⁴⁹ Gegenüber Menschen gebärdet sich die fliegende Göttin jedoch nicht schützend wie die ägyptischen und anatolischen Geiergöttinnen, sondern bedrohlich.⁵⁰ Zu bemerken ist, dass die zitierten ugaritischen Texte niemals auf Vergleiche oder Illustrationen zurückgreifen. Die Göttin Anat kann offenbar ganz selbstverständlich fliegen und wird folglich nicht als vogelähnlich dargestellt, sondern als natürliche Gefährtin der nšrm. Eine bemerkenswerte mesopotamische Parallele zu Dtn 32,11 liefert trotz der unterschiedlichen Textgattung ein aus dem 7. Jh. v. Chr. stammendes Orakel der Ištar von Arbela. Die Göttin vergleicht sich darin gegenüber dem assyrischen König Asarhaddon unter anderem mit einem „geflügelten Vogel“ (iṣṣur akappi): „Jeden Tag, jeden Morgen beschütze ich dich. Deine Krone mache ich fest. Wie ein geflügelter Vogel über seinen Jungen gurre ich über dir, kreise, laufe ich um dich herum.“⁵¹ Noch augenfälliger wird die große Ähnlichkeit mit der Moseliedpassage, wenn man auch deren literarischen Kontext beachtet. Unmittelbar vor dem Vogel-Vergleich heißt es in Dtn 32,10 über JHWH und sein Volk Israel: יסבבנהו יבוננהו יצרנהו כאישׁון עינו Er umhegt es, er hat auf es Acht, er bewahrt es wie seinen Augapfel.
Beide Texte machen zunächst Beistandsversprechen und veranschaulichen anschließend die schützende Haltung der Gottheit mit Hilfe von Vergleichen. Dabei werden in beiden Fällen jeweils unterschiedliche Metaphern kombiniert, die keine zusammenhängenden Bilder ergeben. Während im Moselied die Bezeichnungen Israels als Augapfel der Gottheit und JHWHs als Geier unverbunden nebeneinanderstehen, so folgt im Spruch der Ištar auf den Vergleich mit einem Vogel ein zweiter mit einem treuen Hündchen, das sich an der Seite seines Besitzers hält.⁵² Nicht nur die Verwen-
47 Vgl. z. B. KTU 1.4:V:20–23. Übersetzung vgl. TUAT III/6, 1162: „Es freute sich die Jungfrau Anat. Sie stampfte mit den Füßen auf und flog von der Erde. Siehe, sie richtete sich geradewegs zu Baal auf den Höhen des Zaphon.“ Alternativ s. TUAT NF VIII, 217. Ähnlich auch KTU 1.10:II:10–12. 48 Vgl. DUL 641: „‚bird of prey‘, conventionally ‚eagle‘ or ‚falcon‘ “. 49 Vgl. KTU 1.13:8; 1.18:IV:21.32. 50 Vgl. KTU 1.18:IV:27–34. Übersetzung vgl. TUAT III/6, 1282f: „Sie nahm Yattupan, den Krieger der Dame, sie steckte ihn wie einen Adler in ihren Beutel, wie einen Falken in ihre Hülle. Als Aqhat sich niedersetzte zum Essen, der Sohn Danils zum Speisen, schwebten über ihm Adle[r], beobachtete ihn eine Schar von Falken. [Zwischen] den Adlern schwebte Anat, über [Aqhat] ließ sie ihn los. Er schlug ihm zweimal [auf den Scheitel], dreimal aufs Ohr.“ Alternativ vgl. TUAT NF VIII, 285. 51 NAP 2.3:II:6–8. Für die Übersetzung vgl. Weippert 2014, 214; Transliteration bei Parpola 1997, 15. 52 NAP 2.3:9–10. Vgl. Weippert 2014, 214: „Wie ein tüchtiges Hündchen laufe ich in deinem Palast umher. Deine Feinde erschnüffle ich.“
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dung der Vergleichspartikel (aki) bringt im assyrischen Königsorakel die übertragene Bedeutung des Gesagten zum Ausdruck. Auch die ikonographischen Konventionen sind eindeutig: Im Unterschied zu den oft halb oder gänzlich tiergestaltig vorgestellten ägyptischen Göttern wurden die Götter in Mesopotamien normalerweise nicht in Tiergestalt abgebildet.⁵³ Wenn Ištar dennoch gelegentlich mit Flügeln dargestellt erscheint, sind diese als figurativer „Zusatz“ aufzufassen.⁵⁴ Sowohl bildnerisch als auch sprachlich können mesopotamische Götterbilder demnach aus der Tierwelt inspiriert sein, um bestimmte Eigenschaften zu betonen. Verzichtet wird jedoch auf Identifikationen, wie sie sich in der Literatur Ugarits oder in den Bildwerken des pharaonischen Ägypten vielfach beobachten lassen. Für die auf (Vogel-)Flügel bezogenen Gottesvorstellungen im alten Israel sind folglich aus den Nachbarkulturen Vorbilder auf verschiedenen Stufen der Abstraktion vorauszusetzen. Neben rein literarischen Tiervergleichen finden sich einerseits sprachlich vermittelte mythologische Vorstellungen von Göttern in Tiergestalt und andererseits bildliche Darstellungen von geflügelten anthropomorphen oder gar theriomorphen Gottheiten. Hinzu kommt schließlich in Form der Flügelsonne ein nahezu vollständig auf die Flügel reduziertes Symbol ohne zwingend erkennbaren Bezug auf ein bestimmtes Tier. Mit Blick auf die Psalmen des Alten Testaments urteilt Silvia Schroer: „Es ist nicht ganz auszuschließen, dass die Beterinnen und Beter sich ihren Gott (unter anderem) im Bild eines stattlichen Vogels vorstellten. [… D]och ist es gänzlich unwahrscheinlich, dass hinter den poetischen Bildern nur die willkürliche, subjektive Phantasie der Verfasser oder Verfasserinnen von Psalmen steht und nicht auch lebendige Traditionen und Konkretionen, wie sie aus der Bildkunst bekannt sind.“⁵⁵ Die Ähnlichkeit der alttestamentlichen Sprachbilder mit Texten und Bildern benachbarter Kulturen deutet auf diesen gemeinsamen Vorstellungshorizont. Und archäologische Funde beweisen, dass Abbildungen geflügelter Götter in Israel selbst nicht fremd waren. Auf einer in Samaria gefundenen und in das 8. Jh. v. Chr. datierten Elfenbeinschnitzerei sieht man, wie die ägyptischen Göttinnen Isis und Nephthys ihren symbolisch dargestellten Bruder Osiris mit ihren Flügeln beschützen.⁵⁶ Aus
53 Vgl. Wiggermann 1994, 233: „Anthropomorphism … distinguishes gods from monsters … . Lesser gods of nature … can be represented by hybrids composed out of human and natural elements.“ LeMon 2010, 38: „Mesopotamian art only occasionally depicts gods and goddesses with animal or vegetal attributes, that is, as ‚hybrid beings.‘ These anthropomorphic Mesopotamian deities, then, are presented in ways quite unlike the gods of Egypt, who have numerous animal attributes and can be recognized readily in anthropomorphic as well as theriomorphic depictions.“ 54 Vgl. Wiggermann 1994, 233: „Winged monsters are attested in Mesopotamia from the proto-literate period onwards. … The addition of wings to anthropomorphic figures begins much later, and gains ground only slowly until the second half of the second millennium, when it becomes common practice.“ 55 Schroer 2001, 11. 56 Vgl. Crowfoot/Crowfoot 1938, 16 und Plate III.1.
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Megiddo stammt eine ganze Gruppe, vermutlich Ende des 10./Anfang des 9. Jhs. v. Chr. gefertigter, ägyptisierender Amulette,⁵⁷ von denen mehrere entweder „schützende Falkenflügel“⁵⁸ oder aber eine „Flügelsonne über dem König“⁵⁹ zeigen. Ein besonderer Zug alttestamentlicher Gotteskonzeption ist jedoch festzuhalten: Während ägyptische Bilder und assyrische Orakel in der Regel dem König – oder wie im Falle des Osiris gar einem anderen Gott⁶⁰ – göttlichen Schutz garantieren und andererseits sowohl in Mesopotamien als auch im alten Südarabien offenbar Individuen den ganz persönlichen Beistand eines Geiergottes suchten, wird solche Zuwendung im Moselied dem ganzen Volk zuteil. Wie Ištar dem Asarhaddon Mut zuspricht und die Göttinnen Mut oder Nechbet den Pharao beschirmen, so erhofft man es sich als Einzelner von einem Gott namens Niswar oder Nasr; im Alten Testament jedoch wird ganz Israel von seinem Gott beschützt.
Zweites Beispiel: „Der Fels, der dich gebar...“ (Dtn 32,18) In sieben Versen des Moseliedes ist die Rede vom „Felsen“ ()צור.⁶¹ Nur einmal jedoch ist damit die „rein profane Steinmasse“⁶² gemeint,⁶³ an allen anderen Stellen ist צורein Ausdruck für „Gott“.⁶⁴ So heißt es von ihm, dass „sein Werk vollkommen“ ist (תמים )פעלו⁶⁵ oder dass Israel schändlicherweise „den Fels seiner Rettung verachtet“ hat (נבל )צור ישׁעתו.⁶⁶ Weiter kann der „Fels“ Menschen „verkaufen“, also „preisgeben“ ( מכרim Parallelismus mit )סגר,⁶⁷ oder ihnen Schutz gewähren ( חסה בצורmit menschlichem Subjekt).⁶⁸ Die spektakulärste Aussage aber findet sich in Dtn 32,18. Israel wird an dieser Stelle bezichtigt, seinen Gott vergessen zu haben: צור ילדך תשׁי ותשׁכח אל מחללך
57 Vgl. Keel 1994, 91–134 mit Abbildungen und Erläuterungen. 58 Vgl. Keel 1994, 94. 59 Vgl. Keel 1994, 113. 60 Vgl. dazu die Erläuterung und Übersetzung eines „Liedes an Osiris“ bei Erman 1923, 187–192. 61 Vgl. z. B. Budde 1920, 13, der bemerkt, „dass der Gottesbeiname צור... in unsrem Liede ... eine so große, z. T. auffallende Rolle spielt“. 62 Keel/Schroer 2008, 50. 63 Dtn 32,13: „( וינקהו דבשׁ מסלע ושׁמן מחלמישׁ צור... und er ließ es Honig saugen aus einem Felsen und Öl aus Felsgestein“). 64 Vgl. Dtn 32,4.15.18.30.31.37. 65 Dtn 32,4. 66 Dtn 32,15. 67 Dtn 32,30. 68 Dtn 32,37.
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Den Fels, der dich gebar⁶⁹, hast du missachtet⁷⁰, vergessen hast du den Gott, der dich hervorbrachte.
Insgesamt macht der übertragene Gebrauch der Vokabel צורnahezu die Hälfte aller Belege im Alten Testament aus.⁷¹ In der Mehrheit dieser Fälle wiederum handelt es sich um poetische Texte.⁷² Hier steht צורhäufig im Parallelismus membrorum mit anderen Gottesnamen.⁷³ Ähnlich wie das Bild von den Flügeln wird ferner auch das Motiv des Felsens regelmäßig mit bestimmten Ausdrücken des Schutzes und der Bewahrung kombiniert oder parallelisiert. Zu ihnen gehören beispielsweise „Burg“ ()מצודה,⁷⁴ „Zuflucht“ ()מחסה,⁷⁵ „Rettung“ ()ישׁועה⁷⁶ oder „Festung“ ()משׂגב⁷⁷. Einige Psalmen greifen JHWH gegenüber auf die Wendung „sei mir/werde mir ein Fels“ ()היה לי לצור zurück.⁷⁸ Anders als im Fall der Vogelbilder wird JHWH dabei stets unmittelbar mit einem צורidentifiziert. Niemals wird von ihm ausgesagt, dass er lediglich wie ein Fels sei oder handele. In den Psalmen wird er im Gegenteil gelegentlich sogar mit „mein
69 Das Verb ילדkann im Qal sowohl „gebären“ als auch „(er)zeugen“ bedeuten (vgl. Gesenius¹⁸, 464; HALAT, 393), weshalb Dtn 32,18 entweder als streng synonymer Parallelismus weiblicher Metaphern („gebären“//„hervorbringen“ bzw. „kreißen“) oder aber als Gegenüberstellung eines väterlichen und eines mütterlichen Bildes („zeugen“//„hervorbringen“) aufgefasst werden könnte. Für die zuletzt genannte Alternative vgl. Bertholet 1899, 98; Dillmann 1886, 402; Driver 1902, 363f; Lundbom 2013, 886; Rose 1994, 569; Steuernagel 1900, 117. Eine „rein ‚weibliche‘ Interpretation von V.18“ (Grund 2006, 313) vertreten dagegen Budde 1920, 26.48; Plaut 2004, 328; von Rad 1964, 137; Tigay 1996, 307. Für selbige spricht bezogen auf das gesamte Alte Testament nicht nur die statistisch weit überwiegende Zahl der Fälle, in denen ילדzweifellos „gebären“ bedeutet (vgl. Grund 2006, 313; Tigay 1996, 307.404), sondern auch die Beobachtung, dass an allen übrigen Belegstellen für den Parallelismus von ילדQal und ( חילin verschiedenen Stämmen) ילדstets eindeutig mit „gebären“ zu übersetzen ist, vgl. Hi 39,1; Jes 13,8; 23,4; 26,17f; 54,1; 66,7f; Mi 4,10 sowie ausführlich Grund 2006, 312–317. 70 Statt von einer sonst nicht bezeugten Wurzel שׁיהist mit der samaritanischen Lesetradition (tišša, vgl. Schorch 1997, 59) von einer Kurzform in Pausa des Verbs נשׁהauszugehen, vgl. Gesenius¹⁸, 854f; HALAT, 688; B-L §57f‘. So auch Driver 1902, 364; Lundbom 2013, 886; Steuernagel 1900, 117f. Um den Parallelismus zweier bedeutungsgleicher, aber nicht identischer Verben nachzubilden, übersetze ich mit Lundbom 2013, 886 („ נשׁהmeans ‚forget‘ in the sense of showing neglect“); vgl. auch Driver 1902, 360; Steuernagel 1900, 117; Tigay 1996, 307. 71 Von 82 Belegen (in 78 Versen) wird צורin 37 Fällen bildlich verwendet, dabei nur ein einziges Mal nicht für Gott (vgl. Jes 51,1, wo mit Blick auf den folgenden Vers klar wird, dass Abraham gemeint ist). 72 Neben den Psalmen (vgl. Ps 18,3.32.47; 19,15; 28,1; 31,3; 62,3.7.8; 71,3; 73,26; 78,35; 89,27; 92,16; 94,22; 95,1; 144,1) ist an verschiedene Lieder außerhalb des Psalters zu denken, so das „Lied der Hanna“ (vgl. 1. Sam 2,2), den „Psalm Davids“ (vgl. 2. Sam 22,3.32.47) und die „Letzten Worte Davids“ (vgl. 2. Sam 23,3) sowie einige poetische Stücke in den Prophetenbüchern (vgl. Jes 8,14; 17,10; 26,4; 30,29; 44,8; 51,1; Hab 1,12). 73 1. Sam 2,2; 2. Sam 22,32.47 (= Ps 18,32.47); 23,3; Ps 78,35; 89,27; 95,1; Jes 17,10; 44,8; Hab 1,12. 74 Ps 31,3. 75 Ps 62,8; Jes 10,17. 76 Ps 89,27. 77 Ps 94,22. 78 Ps 31,3; 71,3; ähnlich auch Ps 94,22.
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Fels“ angeredet, das Bild also direkt als Gottesname verwendet.⁷⁹ Dem entspricht die Benennung „unser Fels“ in Dtn 32,31: כי לא כצורנו צורם Denn nicht wie unser Fels ist ihr Fels …
Dass auch außerhalb des vereindeutigenden Parallelismus membrorum und ohne Anwendung eines expliziten Vergleichs צורals Gottesepitheton verstanden wird, ist bemerkenswert, handelt es sich doch um ein Wort, das durchaus rein „profanen“ Charakter haben kann. Noch mehr überrascht seine Verwendung auch für fremde Götter. Mit dieser Redeweise bildet das Moselied einen Spezialfall innerhalb des Alten Testaments.⁸⁰ Mehrfach wird an anderer Stelle gerade verneint, dass es neben JHWH einen Gott geben könnte, der als „Fels“ zu bezeichnen wäre.⁸¹ Durch die zweifache Anwendung von צורauf eine Gottheit, die von JHWH unterschieden ist,⁸² erreicht das Sprachbild im Moselied seinen höchsten Abstraktionsgrad. Das Epitheton „Fels“ wird zum Synonym für „Gott“. In der Folge kann צורauch zum Subjekt von Aussagen gemacht werden, die keinerlei Anhalt an den natürlichen Eigenschaften eines Felsens haben. Sowohl die Idee, ein Fels könne Menschen verkaufen,⁸³ als auch die Vorstellung vom Geborenwerden aus einem Felsen⁸⁴ sprengt eindeutig den Rahmen naturalistischer Assoziationen.⁸⁵ Beispiele für das Motiv eines sich fortpflanzenden Felsens finden sich allerdings außerhalb der Bibel in einigen mythischen Texten des alten Orients. In einem ugaritischen Beschwörungstext gegen Schlangenbisse wird eine Göttin als „Tochter eines Steins“ (bt abn) bezeichnet.⁸⁶ Allerdings ist dies nur ein Element
79 Ps 18,3.47 (= 2. Sam 22,3.47); 19,15; 28,1; 62,3.7; 92,16; 144,1. Dazu auch Ps 73,26: „( צור־לבביFels meines Herzens“) und einmal mit Possessivsuffix der 3. Person pl. in Ps 78,35, vgl. Dtn 32,30.31. 80 Dies wird von den meisten Kommentatoren als „Ironie“ aufgefasst, vgl. Christensen 2002, 819; Dillmann 1886, 410; Driver 1902, 377; Knowles 1989, 314; Lundbom 2013, 873, 899; Tigay 1996, 300, 310: „as if the text said ‚their so-called rock‘ “, 312. Eine Ausnahme bildet Budde, der die Ursprünglichkeit des Epithetons in dieser Verwendung bezweifelt und für eine Konjektur in Dtn 32,31 und 37 plädiert, vgl. Budde 1920, 35, 39. 81 Vgl. 1.Sam 2,2; Ps 18,32; Jes 44,8. 82 Dtn 32,31.37. 83 Vgl. Dtn 32,30. 84 Vgl. Dtn 32,18. 85 Vgl. für diesen Zugang exemplarisch Driver 1902, 350 (zu Dtn 32,4): „The Rock … designates Jehovah, by a forcible and expressive figure, as the unchangeable and support or refuge of His servants … The figure is, no doubt, like crag, stronghold, high place, &c. …, derived from the natural scenery of Palestine …“. Über die mögliche Bedeutung des Motivs in Dtn 32,18 oder 30 schweigt der Autor an den entsprechenden Stellen, vgl. ebd., 363f, 371. Steuernagel geht ohne weitere Begründung davon aus, צורsei in Dtn 32,18 lediglich eine „Bezeichnung Gottes, deren eigentl[iche] Bedeutung vergessen ist“ (Steuernagel 1900, 117). 86 Vgl. KTU 1.100:1.
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in einer längeren Reihe: Dieselbe Göttin wird Tochter „der Quelle, des Steins, des Himmels und des Ozeans“ genannt, zudem erscheint die Sonne als ihre Mutter.⁸⁷ Deshalb ist zu vermuten, dass hier kein konkreter Abstammungsvorgang, sondern eher der Zusammenhang der Gottheit mit dem Weltganzen im Blick ist. Wesentlich eindeutiger schildert ein hethitischer Mythos vom Ende des 14. vorchristlichen Jahrhunderts die Zeugung eines Wesens durch den Beischlaf eines Gottes mit einem Felsen. Im „Lied von Ullikummi“⁸⁸ will sich der durch den Wettergott Tešub⁸⁹ entmachtete alte Hochgott Kumarbi, „Vater der Götter“⁹⁰ und Gott der Gerste, an seinem Rivalen rächen und bietet zu diesem Zweck eine Anzahl an Feinden auf. Eines dieser Rachewerkzeuge ist der Steingott Ullikummi, hervorgegangen aus der Vereinigung des Getreidegottes mit einem Felsen in einem See: Als sich Kumarbi Schlauheit vor seinen Sinn genommen hatte, erhob er sich sogleich vom Thron, nahm mit der Hand den Stab, zog a[n seine Füße die Schuhe] als eilige Winde. Von der Stadt Urkes⁹¹ eilte er fort und gelangte zu (dem See) ikunta luli.⁹² [In ...] ikunta lu[li] liegt ein großer Fels: (Seine) Länge/Höhe (beträgt) drei Doppelstunden,⁹³ (seine) Breite [ein]einhalb Doppelstunden. Was er aber unten hat, darauf richtete sich sein Begehren; und er beschlief den F[elsen]; da [ergoß sich sein] Sperma auf diesen. ... und er nahm ihn fünfmal; [fernerhin] nahm er ihn zehnmal.⁹⁴
Leider bricht die Tafel hier ab. Nach der Lücke des Textes wird von der Geburt des Steinwesens Ullikummi berichtet und ferner davon, wie dieses dem Wettergott entgegentritt und schließlich unterliegt.⁹⁵ Der hethitische Mythos scheint in älteren hurritischen Überlieferungen zu gründen.⁹⁶ Eine ebenfalls hethitische Parallele erzählt außerdem, wie der weiblich vorgestellte Berg Wasitta wiederum durch den Gott Kumarbi geschwängert wird. An der Stelle, da bei Wasitta Wehen einsetzen, bricht auch dieser Text ab.⁹⁷ Das Nebeneinander von „Fels“ und „Berg“ in den Varianten der Ullikummi-Tradition ist jedoch für die Untersuchung des biblischen Felsenmotivs aufschlussreich. Was in der (zur indogermanischen Sprachfamilie gehörenden) hethitischen Literatur als eine motivliche Variation erscheint, entspricht einer philologischen Äquivalenz in der semitischen Lexikographie. Auf dieselbe Wurzel wie das hebräische Wort צור
87 Vgl. KTU 1.100:2. 88 Vgl. zum Folgenden CTH 345 sowie Güterbock 1951; Haas 2006, 130–176; TUAT III/4.2, 830–832. 89 Als alternative Transkription findet sich die Schreibung „Tessop“, vgl. Haas 2006, 131 u. ö. 90 Vgl. CTH 345:I:3f sowie Haas 2006, 158. 91 Tell Mōzān im nord-östlichen Syrien, vgl. Haas 2006, 131. 92 Vielleicht der Van-See; vgl. Haas 2006, 156 Anm. 41 und 157; TUAT III/4.2, 832. 93 Haas 2006, 159 zufolge etwa 37 km. 94 CTH 345 Tafel I I:11–20. Übersetzung nach Haas 2006, 159; vgl. TUAT III/4.2, 832; Transliteration auch bei Güterbock 1951. 95 Vgl. CTH 345 Tafel I IIIff bzw. Haas 2006, 161–172; TUAT III/4.2, 833–844. 96 Vgl. Güterbock 1951, 135; Haas 2006, 130, 172. 97 CTH 346. Übersetzung und Kommentar bei Haas 2006, 159.
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mit der Bedeutung „Fels“⁹⁸ gehen in anderen nordwest-semitischen Sprachen die Worte für „Berg“ zurück, so Ugaritisch ġr,⁹⁹ Reichsaramäisch טורא¹⁰⁰ und Mandäisch ṭur/ṭura.¹⁰¹ Für das biblisch-aramäische טורwerden unterschiedliche Übersetzungen angeboten.¹⁰² Die beiden (einzigen) Belege im Danielbuch könnten ihrem Kontext nach sowohl „Fels“ als auch „Berg“ bedeuten.¹⁰³ Man hat analog zu diesem Phänomen versucht, die Verwendung des Nomens צורals Gottesnamen auf den Zion, den (im Laufe der Geschichte verschieden lokalisierten) heiligen Berg in Jerusalem bzw. den dort befindlichen Felsen zurückzuführen. Zwar heißt dieser „Fels“ im modernen Hebräisch אבן השתייה, also „Gründungs-Stein“ (und nicht Fels!).¹⁰⁴ Die Identifikation eines Gottes mit seinem Wohnsitz entspricht aber altorientalischer Gewohnheit. In ugaritischen Mythen scheinen gelegentlich Götter und Berge abwechselnd Subjekt ein und derselben Handlung zu sein.¹⁰⁵ In einem listenartigen Ritualtext werden zwischen verschiedenen Gottheiten auch „Berge und Täler“ genannt, denen bestimmte Opfer darzubringen sind.¹⁰⁶ Ähnliches lässt sich im Akkadischen beobachten. Neben der Benennung einer Gottheit als „großer Berg“ (šadû rabû)¹⁰⁷ sind aus Mesopotamien Personennamen überliefert, die „Gott X ist mein/unser Berg“ lauten.¹⁰⁸ Die Vorstellung eines fruchtbaren Berges bezeugt ein beinahe mannshohes Steinrelief aus Assur. Es stammt aus der Mitte des 2. Jts. v. Chr. und zeigt eine Gestalt,¹⁰⁹ die durch die von ihr ausgehenden Wasserströme und Zweige mit essbaren Früchten als Fruchtbarkeitsgottheit und wegen ihrer schuppigen Kleidung als Berg erkennbar ist.¹¹⁰ Der nährende Berggott veranschaulicht mithin, wie die natürliche Umwelt des Menschen als göttlich betrachtet wurde. Eine derartige Identifikation findet sich im Alten Testa-
98 Vgl. Gesenius¹⁸, 1111; HALAT 953; vgl. insges. auch Fabry 1989, 974f. 99 Vgl. DUL 319: „1) ‚mountain‘, ‚hill country‘; 2) ‚D[ivine] N[ame] Mountain‘“ mit Verweis auf „O[ld] Aram[aic] ‚rock, mountain‘ “, vgl. Anm. 102. 100 Vgl. Gesenius¹⁸, 1111; DNWSI 974. 101 D-M 178: „mount(ain), hill, range of mountains“. 102 Gesenius¹⁸, 1497: „Felsen, Felsmassiv“; Gesenius¹⁷, 907: „Berg, Fels“; HALAT, 1714: „Berg“. 103 Vgl. Dan 2,35: „( ואבנא די־מחת לצלמא הות לטור רב ומלת כל־ארעאaber der Stein, der das Bild zerschlagen hatte, wurde zu einem großen Felsen/Berg und füllte die ganze Erde“); Dan 2,45: די מטורא אתגזרת אבן („dass von dem Felsen/Berg ein Stein losbrach“) sowie die Übersetzung der Neuen Zürcher Bibel („Fels“) im Unterschied zur Elberfelder und Lutherbibel („Berg“). 104 Im Arabischen allerdings trägt der sich heute darüber befindliche „Felsendom“ den Namen qubbat ʾṣ-ṣaḫra („Felsenkuppel“). 105 KTU 1.19:II:35 und 1.101:1; vgl. auch 1:16:I:6–9 sowie Korpel 1990, 578f. 106 KTU 1.148:6: ġrm w ʿm[q]t; vgl. DUL 320; Übersetzung und Kommentar bei Pardee 2002, 44-49, dort jedoch mit der Transliteration ġrm [w thm]t („Berge und Urfluten“). 107 Vgl. AHw III, 1125; Jirku 1923, 224. 108 Vgl. Stamm 1939, 211: dNN-šadî/šadûni. Das gleiche Phänomen betrifft auch hebräische Namen, vgl. Fabry 1989, 975 sowie Driver 1902, 350; Tigay 1996, 402. 109 Möglicherweise ist sogar der Gott Assur selbst dargestellt. 110 Vgl. Keel/Schroer 2008, 48.
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ment nicht. Im Gegenteil wird betont, dass JHWH als Schöpfer die Berge festsetzt¹¹¹ oder wanken lässt¹¹². Eine jeremianische Götzenpolemik tadelt die Angehörigen des Volkes Israel als solche, „die zum Holz sagen: Mein Vater bist du! und zum Stein: Du hast mich geboren!“.¹¹³ Vollständig lautet der Vorwurf, das Volk habe sich von seinem Gott JHWH, der es aus Ägypten in die Freiheit geführt hat, abgewandt und stattdessen nichtsnutzigen Götzen zugekehrt. In dieser Verkennung der alleinigen Wirkmächtigkeit JHWHs liegt demnach ihr eigentlicher Fehler. Dem gelegentlich als „Felsen“¹¹⁴ titulierten Gott JHWH, der sich des Volkes Israel angenommen hat, werden die fremden Götter entgegengesetzt, bei denen es sich um bloße Materie handelt und die sich folglich niemals durch ihr Handeln auszeichnen könnten. Durch die konsequente Parallelisierung des Felsennamens mit anderen Gottesbezeichnungen wie אלוה,¹¹⁵ אל¹¹⁶ oder יהוה¹¹⁷ verhindert das Moselied eine Verwechslung des Namens mit dem Objekt. Die fortgeschrittene Lexikalisierung der Felsenmetapher im Alten Testament zeigt sich schließlich auch darin, dass der übertragene Gebrauch weithin auf das Wort צורbeschränkt ist. Sowohl der gewöhnliche biblisch-hebräische Terminus für „Berg“ ( )הרals auch das ursprünglich mit צורnahezu bedeutungsgleiche סלעwird fast ausschließlich im wörtlich-natürlichen Sinne gebraucht.¹¹⁸ Die Felsmetapher in der alttestamentlichen Gottesrede lässt sich folglich ihrer Herkunft nach als Phänomen altorientalischer Konventionen umreißen: Wie in den Nachbarkulturen, so schreibt man auch im alten Israel seinem Gott die Qualitäten eines unumstößlich stabilen Felsens zu.¹¹⁹ Hiervon zeugen, v.a. in den Psalmen, die häufigen Parallelisierungen mit anderen bildhaften Ausdrücken, die unmissverständlich Schutz und Stärke symbolisieren und darin den Text- und Bildzeugnissen des alten Orients ähneln. Letztere beschränken jedoch die entsprechenden Zuschreibungen zumeist auf die jeweiligen Herrscher als bevorzugte Empfänger göttlicher Wohltaten. Während beispielsweise mesopotamische und ägyptische Herrscher eine göttliche Abkunft exklusiv für sich beanspruchen,¹²⁰ erweitert das Alte Testament
111 Ps 65,7; vgl. auch Ps 104,8. 112 Ri 5,5; Jes 63,19. 113 Jer 2,27: אמרים לעץ אבי אתה ולאבן את ילדתני. Vgl. die wiederholte Abwertung fremder Götter als עץ ואבן („Holz und Stein“) in Dtn 28,36.64; 29,16. 114 Dies ist jedoch im Jeremiabuch nicht der Fall. 115 Dtn 32,4.18. 116 Dtn 32,15. 117 Dtn 32,30. 118 Seltene Ausnahmen bilden die Anrede „( סלעיmein Fels“), vgl. Ps 18,3 (= 1. Sam 22,2); 31,4; 42,10; 71,3 sowie Jes 31,9, wo es heißt, Assurs (!) Fels werde vor Grauen vergehen: וסלעו ממגור יעבור. 119 Für diese naturalistische Herleitung vgl. o. Driver (Anm. 85) sowie Steuernagel 1900, 115; Plaut 2004, 325; Rose 1994, 567. 120 Vgl. für Mesopotamien z. B. Stol 2000, 83: „Many kings boast in their inscriptions that either they had been engendered by god X and brought to world by goddess Y, or they simply name deities their ‚father‘ or ‚mother‘ ...“ sowie für Ägypten Grieshammer 1977, 820f.
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diese Denkfigur und spricht dem ganzen Volk Gotteskindschaft zu.¹²¹ Im Moselied ist folglich nicht nur der Schutz des Geiers, sondern auch das Herstammen vom göttlichen Felsen auf ganz Israel bezogen. Der Gebrauch von צורals Metapher innerhalb des Liedes deutet jedoch einen noch weiter gefassten Verständnishorizont des Bildes an. Richard D. Nelson bezeichnet es gar als dessen Leitmotiv bzw. „theological axiom“, an das alle grundlegenden Gottesaussagen geknüpft sind.¹²² Nicht nur wird JHWH als Fels besungen, bei dem Israel sich bergen kann, oder die Herkunft des Volkes von diesem Hort der Zuverlässigkeit bekräftigt. Derlei Beteuerungen sind, wie sich gezeigt hat, in Israels Umwelt auch anderen Gottheiten zugefallen. Im Alten Testament jedoch wird das Volk Israel zugleich zur Verantwortung gezogen und sein unstetes Verhalten mit der felsenhaften Stabilität JHWHs kontrastiert. Ähnlich wie in Dtn 32,15¹²³ geschieht dies im Rahmen eines Weherufes in Jes 17,10: כי שׁכחת אלהי ישׁעך וצור מעזך לא זכרת Denn du hast den Gott deiner Rettung vergessen und des Felsens deiner Zuflucht nicht gedacht.
Da sich jedoch das Moselied des Felsenmotivs auch abstrahiert als Chiffre für die Gottheit in der Fülle ihrer Eigenschaften bedient, kann Dtn 32,18 unter Abwandlung desselben Bildes das Gottesverhältnis in seiner umfassenden Dimension zur Sprache bringen. Hierzu verhilft die gleichzeitig stattfindende Kombination (prinzipiell gleichartiger) und Kontrastierung (entgegengesetzter) Illustrationen: Die Erinnerung an seinen „Felsen“ und „Gebärer“ verweist Israel sowohl bezüglich seiner Herkunft als auch mit Blick auf sein anhaltendes Wohlergehen auf JHWH. Umso unverständlicher muss dagegen seine eigene Gottvergessenheit wirken. Die plakativen Aussagen über JHWH gewinnen unmittelbare Verbindlichkeit für die Menschen, indem sie mit ihren tadelnswerten Eigenschaften diesem Gott gegenübergestellt werden.
Fazit: Gottesrede als Bildergeschichte Schöpfend aus einem kulturell bedingten und somit begrenzten Vorrat an Bildern und Vorstellungen, den das alte Israel mit seinen altorientalischen Nachbarn teilt, wird im Moselied die besondere menschliche Erfahrung versprachlicht, dass sich der Gott JHWH seinem Volk Israel in unvergleichbarer Weise zugewendet hat. Durch die
121 Vgl. für das Moselied die Anrede des gesamten Volkes als [ בנים ]ובנתin Dtn 32,5.19 sowie nach LXX und 4QDeutq (vgl. DJD XIV, 141 sowie Plate XXXI) auch in Dtn 32,43. 122 Vgl. Nelson 2002, 370. 123 Subjekt ist „Jeschurun“ = Israel: „( ויטשׁ אלוה עשׂהו וינבל צור ישׁעתוund er verwarf den Gott, der ihn gemacht hat, und verachtete den Fels seiner Rettung“).
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„scheinbare Vermischung verschiedener nicht zueinander passender Bilder“¹²⁴ wird JHWH dabei in doppelter Hinsicht als göttlicher Herrscher in Israel profiliert. Die bisweilen überraschende Kombination der Motive leistet mehr als eine reine Darstellung der Eigenschaften des Herrschers. Vielmehr wird im unmittelbaren Zusammenhang mit der Kennzeichnung JHWHs zugleich auch die Beziehung zu seinem Volk illustriert und mit Hilfe markanter Juxtapositionen eine Abgrenzung gegenüber anderen Gottheiten vollzogen.¹²⁵ Einzigartig ist mithin nicht das Vokabular oder die Motivik des Moseliedes. Offenkundig werden Attribute anderer im alten Orient verehrter Gottheiten für die Charakterisierung des Gottes Israels herangezogen. Diese bekannten Bilder und erwartbaren Zuschreibungen gewinnen indes ihre besondere Aussagekraft in ihrem spezifischen Kontext. Zum einen führt die Auseinandersetzung mit fremden Gottesvorstellungen und Weltbildern zu Abgrenzung und Überbietung. Infolgedessen werden aus den Nachbarkulturen übernommene Motive im Moselied teilweise verändert oder umgedeutet. Nicht zuletzt die Ausrichtung auf einen einzigen Gott bringt notwendigerweise eine Verschmelzung von Attributen mit sich, die in den literarischen und ikonographischen Vorlagen des Alten Testaments unterschiedliche Gottheiten auszeichnen. Zum anderen ermöglicht die Verbindung von Motiven, also die Kombination „nicht zueinander passender Bilder“, ein neues Verständnis zunächst isoliert gedachter Eigenschaften und setzt Assoziationen frei, die über den ursprünglich implizierten Bedeutungsgehalt eines Symbols hinausreichen. Vereinfachungen, Überzeichnungen und einander widersprechende Bilder bilden dabei Versuche, die innere Wirklichkeit von Gotteserfahrungen anzudeuten, ohne sie umfassend und letztgültig abbilden zu können. Deshalb setzt das Lied, wie jeder religiöse Text, die grundsätzliche Zustimmung des Hörers oder Lesers zu seinem Inhalt voraus. Es appelliert an das Gewissen derer, die sich bereits als Anhänger JHWHs begreifen, erinnert sie an seine Wohltaten und konfrontiert sie mit dem Vorwurf der Gottvergessenheit. Die Besonderheit der Beziehung JHWHs zu Israel und seine prinzipielle Überlegenheit gegenüber anderen Gottheiten stehen für das Moselied außer Frage. Doch seine sprachliche Gestaltung beweist auch, dass menschliche Gottesrede nie so exklusiv sein kann wie ihr vorgestellter Gegenstand. Die rhetorischen Mittel dieser Welt können auch dazu verwendet werden, anderen Gottheiten Qualitäten wie Verlässlichkeit oder Schöpferkraft zuzuschreiben. Der Anspruch des alttestamentlichen Moseliedes aber ist es, den Gott Israels als denjenigen Herrscher zu präsentieren, der über Menschen und Götzen erhaben ist und deshalb von Israel vor den Augen der
124 Grund 2006, 312. 125 Vgl. Knowles 1989, 322: „Within this poem in particular the metaphor is used to distinguish the covenant God from the covenant people on the one hand (the faithful Rock from its unfaithful offspring) and the God of Israel from the gods to which the people have turned (the true from false ones) on the other.“
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Welt geehrt und gepriesen werden muss. Inhaltlich stützt es sich hierfür auf bestimmte kollektive Überlieferungen, wie sie in den rückblickartigen Passagen Dtn 32,8–14.15–17 greifbar werden. Diese bilden den ideellen Kern der Botschaft des Moseliedes.¹²⁶ Seine argumentative Leistung besteht folglich darin, mit Hilfe allgemein verständlicher und intuitiv einleuchtender sprachlicher Bilder die Implikationen der besonderen Bindung Israels an JHWH vor Augen zu führen – und nicht darin, diese Beziehung erst zu etablieren oder JHWH bekannt zu machen. Der eingangs zitierte Dogmatiker Barth schlussfolgert treffend: „...die entscheidende Aussage, … daß die Himmel die Ehre Gottes erzählen, daß die Erde sein ist und was darinnen ist, … diese Aussage ist … weder aus einer babylonischen oder ägyptischen Vorlage, noch auch aus dem Text des Kosmos herausgelesen, sondern sie ist richtig und in aller Form sowohl in den Text solcher literarischer Vorlagen als auch in den Text des Kosmos selbst hineingelesen.“¹²⁷ Erst durch die Rückbindung an die identitätsbildende Tradition des Volkes Israel erhalten die auch von anderen Kulturen in anderen Zusammenhängen benutzten Gottesattributierungen ihre eigentliche Relevanz für diese bestimmte Gruppe von Menschen. Mithin leistet Dtn 32,1–43 keine bloße „Darstellung des göttlichen Herrschers“, sondern vielmehr eine „Verdichtung“ der Geschichte JHWHs mit seinem Volk. Unter vergleichendem Aspekt erhellen die angestellten Überlegungen zur Bildsprache den breiten religionsgeschichtlichen Hintergrund der Gottesvorstellung(en) im alten Israel und zeigen auf, wie sie miteinander verflochten sind. Aus der Binnenperspektive des Moseliedes betrachtet aber verweisen „Geier“ und „Fels“ vor diesem Hintergrund gerade auf die besonderen Erfahrungen zurück, die Menschen mit JHWH als ihrem Gott gemacht haben.
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126 Vgl. von Rad, 1964, 140 (zu Dtn 32,7): „von Jahwe weiß man aus der Geschichte“. 127 Barth 1940, 123.
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Anders Dahl Sørensen
Heraclitean Nature and Protagorean Democracy. The Politics of Protagoras’ ‘Secret Doctrine’ in Plato’s Theaetetus Why does Protagoras have a secret doctrine? One of the strangest occurrences in Plato’s dialogue the Theaetetus is Socrates’ introduction of a blatantly fictive story about what the late sophist Protagoras is supposed to have taught his students “in secret” (en aporrētō(i), Theaet. 152c10¹). Protagoras was, of course, the person behind the famous dictum that “man is the measure of all things” (152a2–4), which Socrates here and elsewhere interprets as the denial of objective, non-relativistic truth. Everything is always for someone. “What appears to me is so for me, and what appears to you is so for you” (a6–7). It is in this capacity that Protagoras is initially introduced in the Theaetetus, since his famous doctrine seems to offer a promising way of providing philosophical content to young Theaetetus’ common sense definition of knowledge as, simply, what we perceive (151a). If everything always is for someone, as Protagoras claims, then there will be no appealing to an objective fact of the matter, and so what appears to me will have the incorrigibility required to qualify as knowledge (152c). But, surprisingly, in the Theaetetus Socrates claims that Protagoras’ well-known measure doctrine was merely the exoteric part of his teaching. Having introduced the measure doctrine itself, Socrates immediately goes on to make a further suggestion. But, I say, look here. Was Protagoras one of those omniscient people? Did he perhaps put this out as a riddle for the common crowd of us, while giving his students the truth in secret? (152c8–11; trans. Lewett/Burnyeat, modified, in Cooper 1997.)
Protagoras’ ‘secret doctrine’, Socrates continues, is in fact a version of a well-known peri phuseōs theory, that is, a theory in the tradition of Greek speculation about the fundamental nature of things. In particular, Socrates claims, Protagoras secretly taught the view that the world is fundamentally characterised by radical and universal flux. According to this doctrine, the world is inherently unstable. Everything is at any given point in a process of change, which means that nothing really is anything in itself, but rather “comes to be from movement, change, and mixture relative to each other” (152d6–8). As a proponent of this conception of the world, Socrates adds, Protagoras belongs in distinguished company, not only with Heraclitus with
1 All Stephanus references in the chapter are to Theaetetus unless otherwise indicated.
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whom the theory is famously associated, but with “all the wise”, from Homer over Empedocles to Epicharmus the writer of comedies (152e1–8). Few would now be ready to believe that Plato intended the idea of such esoteric teachings by Protagoras to be a genuinely historical claim.² After all, the very notion of a ‘secret doctrine’ seems intended to signal that we are not to take Plato too seriously here; and as Noburu Notomi has recently shown, there is “no independent evidence (outside the Platonic tradition) that [the historical] Protagoras bases his homo mensura thesis on the Heraclitean ontology” (2013, 22). But then, given that Protagoras’ ‘secret doctrine’ is so clearly fictive, what is the point of suggesting this close relation between Protagoras and his measure doctrine, on the one hand, and Heraclitean flux theory, on the other? This question leads us directly to the much discussed and highly controversial issue of the argumentative structure of the Theaetetus. As Myles Burnyeat has pointed out, the way commentators have understood the relation between Protagoras’ measure doctrine and the Heraclitean flux theory has to a large extent depended on what they assumed to be Plato’s overall strategy in this part of the dialogue. Is he simply considering various philosophical theories that might be getting something right about the world of appearance (even if, as he goes on to show, such appearance can never in fact amount to true knowledge)? If so, then the suggestion that Protagoras secretly taught Heracliteanism becomes simply “a humorous device” for transitioning from one theory to the other (Burnyeat 1990, 7–10; 12).³ Or is he involved in an extended reductio argument aimed to show that one theory falls with the other? If so, then the point of the secret doctrine is to suggest that, on closer scrutiny, Protagoras’ epistemology turns out to somehow logically imply or require something like Heraclitean flux theory as its underlying ontology.⁴ My aim in this paper is not to argue in defence of one or the other of these lines of interpretation. Rather, what I propose to do is to offer a fresh perspective on the problem and look for the significance of Protagoras ‘secret doctrine’ in a place where commentators have not usually looked. The guiding idea is that we can make better sense of the association of Protagoras with flux theory in the Theaetetus once we appreciate the political undercurrent to the discussion of Protagoras in that dialogue. In particular, I argue that Socrates’ claim that the measure doctrine is associated with a Heraclitean ontology serves to undermine the vision of democracy and democratic life that we find in Protagoras’ political thought as well as in Athenian popular ideology.
2 Cf. Cornford 1935, 36; Burnyeat 1990, 12; Sedley 2004, 39; Macé 2013, 200. 3 For this interpretation see Cornford 1935, 36; Nakhnikian 1955–1956; Burnyeat 1990, 12 (Reading A). For further references: Macé 2013, 200 n12. 4 For this interpretation see Taylor 1926, 326 (note 1); MacDowell 1973, 121–122; Burnyeat 1990, 9; 15–16 (Reading B); Fine 1996; Sedley 2004, 40–43. For a modified version of this view see Macé 2013.
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Protagorean democracy At one point in the discussion of Protagoras in the Theaetetus Socrates comments explicitly on the political overtones of the measure doctrine. When Protagoras denies that anyone has “the authority to examine the belief of others in terms of truth and falsehood”, and when he makes “each the measure of his own wisdom”, Socrates asks, “how can we avoid the conclusion that he is saying this with an eye to the demos [dēmoumenon legein]?” (161d2–e4). Why would the measure doctrine appeal to the demos, the people, in particular? Plato spells out the underlying idea in that other great dialogue starring, and named after, the sophist. Thus in the Protagoras, rather than focusing on the measure doctrine itself, Socrates challenges Protagoras to account for the political principle lurking behind that epistemological doctrine. When the popular assembly in Athens deliberates on questions “concerning the management of the city’s affairs”, Socrates points out, the Athenians allow anyone whatsoever – “carpenter, blacksmith, shoemaker, merchant, ship-captain, rich man, poor man, well-born, low-born” – to stand up and offer to give advice (Prot. 319ac–d). Each view is given as much weight as any other, and no one is treated as having any privileged insight. In democratic Athens, in short, each citizen is a ‘measure’, at least on political questions. It is not surprising that Socrates, in the Theaetetus, can suggest that Protagoras’ measure doctrine would appeal to democratic sentiments. The epistemic egalitarianism of that doctrine (every belief is true) provides philosophical support for the political egalitarianism of democratic isēgoria (every citizen is allowed to address the assembly). On both principles, each man judges for himself, and the properties that would normally be associated with specialists and experts – true belief and the privilege of serving as an adviser, respectively – are accorded equally to all. Plato, famously, made this aspect of democratic politics the starting point for his criticism of the Athenian form of government. Like all other areas of human activity, politics and the government of cities ought ideally be conducted by trained experts in accordance with their technē for the benefit of all. But does not the democratic commitment to isēgoria, Plato has Socrates ask in the Protagoras, imply a rejection of such political knowledge? After all, if we allow everyone, regardless of professional background and experience, to take part in political deliberation, then we deny ourselves the opportunity to be ruled in accordance with specialised expertise, technē, do we not? This technocratic argument against the egalitarian principles of democracy remained at the heart of Plato’s political thought. But it is a testament to his intellectual integrity that he was ready to let the ‘Protagoras’ of his dialogues offer an elaborate defence of his position. Protagoras’ strategy is to counter Socrates’ argument by offering a particular vision of democratic political life. As he puts it in the Theaetetus, the claim that every belief is true for the one who has it does not rule out that a
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political community can nonetheless, through public debate and collective experience, come together around a set of particularly “useful” (chrēsta) beliefs (Theaet. 167c2–7). The measure doctrine does not rule out that we can achieve a koinē(i) doxa (172b5), a shared or collective belief, within the community. This notion of a reasoned, pragmatic consensus, rather than objective non-relativistic truth, is what accounts for such phenomena as wisdom and expertise, according to Protagoras in the Theaetetus (166c–167d). The idea is put to use, and further elaborated, in the Protagoras. Allowing every Athenian citizen to offer advice on political questions, Protagoras insists in his famous ‘Great Speech’ from that dialogue, is not to deny the possibility of expert knowledge in this field (as Socrates suggested). The people who get up and approach the bēma may be carpenters or blacksmiths, well-born or lowborn, but they have all grown up as members of society and have, thereby, been given a share in a collective political expertise. Beginning from earliest childhood, everyone is subjected to a continuous process of education in political life, undertaken by the people around him and, later in life, by the city at large (Prot. 325c5–326e5). Human society is like a political ‘craftsman community’ where the older members pass on their useful skill to the young in the same way as language is passed on: everybody teaches it to everybody (Prot. 327e1–4a8; cf. chrēsimoi, 326b4; chrēstē(i), b7). This provides Protagoras with the means to block Socrates’ inference from democratic isēgoria. The Athenians’ willingness to allow any citizen, regardless of background, to give advice in the assembly on political questions does not imply a denial of expert knowledge in this area, as Socrates assumed. Rather, the Athenians (and everybody else) clearly do recognize the possibility and importance of such knowledge (Prot. 323a–324d). But this recognition is fully compatible with their decision-making process because, in the case of politics, every citizen has been trained so as to possess the required expertise. As Protagoras puts it earlier in his mythical story of Prometheus and Epimetheus, a well-functioning human community requires that every member have a share in a particular set of social competences and skills (Prot. 322a–d). We must all possess the same capacities for “justice” and “respect” if there are to be “ordered cities and bonds of friendship and union” (desmoi sunagōgoi, Prot. 322c2–3). With this view of democratic public life, Protagoras in effect offers a philosophical justification of the ideological self-image we find in Athenian political and legal discourse. As Josiah Ober has stressed, it was a central tenet of Athenian ideology that the egalitarian principles of democratic decision making led to the most intelligent and most just decisions, both in the law courts and in the assembly.⁵ This ‘collective wisdom’ was further assumed to reside in a fundamental same-mindedness (homonoia) within the democratic community.
5 Ober 1989, 297–298.
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The term homonoia, as it was used by the political orators, generally implied a condition in which all citizens think the same thing, in which their social and political differences are submerged in a unified community of interest. Hence, the state becomes an organism with a single mind and a single will.⁶
These ideological assumptions, collective wisdom and democratic consensus, had important implications for the practice of political and legal argumentation in democratic Athens. In particular, the social and political authority of beliefs and judgments came to derive from their status as koinon, that is, as commonly held and shared by everyone. In the Athenian law courts, for instance, appeals to ‘what you all know’ or ‘what everyone knows’, that is to rumours, gossip, and common report, were considered particularly just and democratic since it reflected the reasoned belief of the community as a whole. The best defence, in a court case, against an argument based on rumours, therefore, was not to challenge the accuracy of the rumour with an appeal to objective facts, but rather to attempt to counter it with a contrasting koinon belief.⁷ As Socrates puts it in the Phaedrus (expressing the view of contemporary teachers of rhetoric in democratic Athens), in the law courts there is “no concern for the truth”. The only thing that matters is what is “plausible” and “probable”, and this in turn, Socrates goes on explain, is simply “what seems to the common crowd” (to tō(i) plēthei dokoun, Phaedr. 272d–b). For Protagoras as well as for the Athenians themselves, the notion of the koinon, the communality of belief and worldview, lay at the heart of their conception of democracy.
The politics of the private Let us return to the secret doctrine of the Theaetetus. Socrates, as we saw, relates the blatantly fictitious story of Protagoras’ esoteric teaching of Heraclitean ontology. Why? Once we view Protagoras’ measure doctrine against a political background, as outlined above, one important reason of this puzzling suggestion begins to emerge. On the Heraclitean theory allegedly taught by Protagoras, the notion of ‘appearing to someone’ must be understood against a background of universal flux. What appears to someone is simply the result of a unique and momentary constellation of the movements that make up perceiver and perceived (153e–154a; 156a–157c), a constellation which will never occur again, since all perceivers are different and since both perceiver and perceived are in a process of continuous change (154a; 159e–160a). At the core of this Heraclitean interpretation of what it is to appear to someone, Socrates explains, lies the notion of strictly private appearances.⁸
6 Ober 1989, 297; my emphasis. 7 Ober 1989, 150–151; cf. Allen 2000, 168–169. 8 Cf. Sedley 2004, 40; Macé 2013, 202–203.
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The colour that appears to someone, Socrates explains using the example of vision, is not anything itself, nor has it any place for itself either outside or inside the eyes. [Rather], according to this theory, black or white or any other colour will turn out to have come into being through the impact of the eye upon the appropriate motion; and what we naturally call a particular colour is neither that which impinges nor that which is impinged upon, but something private to each [ti hekastō(i) idion] that has come to be between the two. Or would you be prepared to insist that every colour appears to a dog, or to any other animal, the same as it appears to you? (Theaet. 153e5–154a4, trans. Lewett/Burnyeat, modified, in Cooper 1997.)
The notion of “private” (idion) appearances that is spelled out here is central to the secret doctrine. If each case of appearance reflects a unique and unrepeatable state of affairs, then each case of appearance becomes an incorrigible account of what is (for someone). In the passage, Socrates uses the example of sense perception, in particular vision, to illustrate the principle of ‘appearing to someone’. But he goes on to give us unmistakable hints that he takes the Heraclitean model to apply to every kind of appearance. Thus in 156b he includes among the “perceptions” that are explained along these lines, not just “sight, hearing, smelling, feeling cold and feeling hot”, but also “what are called pleasures and pains, desires and fears” (156b2–7); and in 157d he straightforwardly uses normative terms like “good” and “beautiful” as examples of what appears to someone as a result of flux. The implication is that these forms of appearance, too, must be understood according to the model of strict ‘privatisation’. When something seems (and is) ‘dangerous’ or ‘good’ to me then that is necessarily an appearance that is wholly idion, private, to me. Socrates confirms this connection between appearance and privacy through a conspicuous choice of metaphor in his later account of the mechanics of the coming-to-be of appearances. [E]verything is really motion, and there is nothing but motion. Motion has two forms, each an infinite multitude, but distinguished by their power, the one being active [poein] and the other passive [paschein]. And through the intercourse [homilias] and mutual friction [tripseōs] of these two there comes to be an offspring [ekgona] infinite in multitude but always twin births [diduma], on the one hand what is perceived, on the other the perception of it, the perception in every case being generated [gennōmenē] together with what is perceived and emerging along with it. (156a5–b2, trans. Lewett/Burnyeat, in Cooper 1997.)
Strikingly, the passage repeatedly uses the language of family relations and sexual reproduction to explain the generation of appearances in the individual. This has sometimes baffled interpreters. Mi-Kyoung Lee, for instance, rather dismissively refers to what she takes to be Socrates’ intentionally “obscure” and “mysterious” language in the passage.⁹ But once we consider the cultural and political connotations of the
9 Lee 2005, 93.
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metaphor in light of Protagoras’ own political vision, I suggest, its significance and importance begin to emerge more clearly. As many scholars of classical Athens have pointed out, the ideology and values of the democratic city, the polis, were in many respects at odds with those of the private realm of the household-family, the oikos. Whereas the public domain was assumed to centre on and be committed to the public good, the private sphere of the household represented a more parochial outlook associated with obligations towards family and kin and with the pursuit of economic self-sufficiency and self-interest.¹⁰ This tension in turn meant that the values of the oikos could potentially be politicised as a challenge to the ideology of the democratic regime: rich Athenians’ retreat into the private realm, at the expense of an engagement in public affairs, was viewed with suspicion by ordinary democratic citizens,¹¹ and such political quietism accordingly became a conscious strategy of dissent among upper-class Athenians dissatisfied with the current political system.¹² It implied a rejection of the koinon that served as the basis for the democracy’s ideological self-image. In this light, then, Socrates’ choice of metaphor, far from being “obscure” and “mysterious”, points to the political significance of committing Protagoras’ to the secret doctrine. According to that doctrine, as explained by Socrates, what appears to each person is private to him in the same way as the children of his household-family, his oikos, is private to him. That is, it is private to him as opposed to being something that is shaped by, and belongs in, the public sphere of the democratic community as assumed by Protagoras. We can now see how, by thus anchoring the beliefs and outlook of each person to a reclusive, private sphere, rather than to the public domain of democratic politics, the ‘secret doctrine’ in effect serves to undermine Protagoras’ vision of democracy. Protagoras claimed that the Athenians are right to allow each citizen to say what he thinks, for their views are the expression of a reasoned consensus, a commonly shared political expertise established by collective experience and learning. But Socrates suggests that the author of the epistemology reflecting this political principle also ‘secretly’ taught an ontology of appearance that would render problematic the Protagorean view of democratic public life. If every appearance is idion, then, ultimately, no democratic koinē(i) doxa is possible.¹³ According to the assumptions of the secret doctrine, then, genuine democratic homonoia becomes a contradiction in terms. What we get, instead, is something like the famous portrayal of democratic life in Republic 8. The result of giving the citizens “an equal share [ex isou]
10 Knox 1964, 76–77; Humphreys 1983, 11–13; Goldhill 1986, 73–74. 11 Osborne 2010, 221. 12 Cf. the Old Oligarch’s denunciation of those elite Athenians who, despite their upper-class status, chose to engage in democratic politics ([Xen.] Ath. Pol. 2.20; with Ober 1998, 22). 13 This political implication for Protagoras of the secret doctrine’s ‘privatisation’ of appearances has also recently, if briefly, been remarked upon by Arnaud Macé (2013, 213). The present paper expands on and complements the suggestion made by Macé.
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in ruling and in the political system”, Socrates claims in that passage, is to create a city where everyone lives according to his own “private plan” (idian kataskeuēn, Resp. 557b8–9). It is consequently a city that becomes dominated by “all character types” and the greatest variety of political outlooks (Resp. 557c–d). As Socrates vividly describes it with the analogous case of the ‘democratic man’ who “puts all his pleasures on an equal footing [eis ison]”: Sometimes he drinks heavily while listening to the flute; at other times, he drinks only water and is on a diet; sometimes he goes in for physical training; at other times, he’s idle and neglects everything; and sometimes he even occupies himself with what he takes to be philosophy. He often engages in politics, leaping up from his seat and saying and doing whatever comes to his mind. If he happens to admire soldiers, he’s carried in that direction, if moneymakers, in that one. (Resp. 561c7–d6; trans. Grube/Reeve, in Cooper 1997.)
According to this view, Athenian democratic politics becomes nothing more than a heterogeneous cacophony of all and sundry ‘private’ beliefs and opinions. The ‘secret doctrine’ of the Theaetetus suggests that Protagoras, who presented his measure doctrine as supporting a distinctively positive vision of democracy, in fact also taught a theory of flux that leads directly to the situation described in Republic 8: his alleged Hereacliteanism implies a conception of public life as a jumble of individual private beliefs, having their origin in the oikos as opposed to the polis, and as such it threatens to undermine his optimistic portrayal of democratic life. To be sure, this is not an implication that Socrates ever spells out in the Theaetetus. But it does serve to provide at least one important reason why it was important for him to suggest a close association between Protagoras’ epistemology and Heraclitean ontology. The association would in itself serve as an implied criticism of Protagoras’ democratic theory. No wonder that, according to Socrates’ fictive story, Protagoras taught his esoteric doctrine only privately to his own group of students (tois mathētais). He understandably did not want to make it available to “the common crowd” (tō(i) pollō(i) surphetō(i), 152c9–10). The crowd, I suggest, would not have liked what they heard.
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Manuel Förg
Medizin und Monarchie. Wechselwirkungen politischer und medizinischer Sprache in der Antike* Nach Livius schrieb man das Jahr 260 ab urbe condita (494 v. Chr.), als die Stadt Rom von einer beispiellosen Eskalation der Ständekämpfe betroffen war: Die Plebejer waren aus Protest gegen ihre ungerechte Behandlung auf den Mons sacer gezogen.¹ In dieser hilflosen Lage beauftragte der Senat einen Vermittler: Agrippa Menenius Lanatus, dem es schließlich gelingen sollte, die Notlage mit persuasiver Rhetorik durch die Erzählung der Parabel vom Magen und den Gliedern zu lösen.² Die Glieder – darunter waren die Plebejer zu verstehen – hätten die Arbeit eingestellt, um nicht länger einem vermeintlich faulen Magen dienen zu müssen; ein funktionierendes Gemeinwesen sei hingegen auf das koordinierte Zusammenspiel aller Einzelteile angewiesen, ebenso wie in einem funktionierenden, d. h. gesunden Körper die hierarchisch differenzierten Glieder zu einem harmonischen Ganzen zusammenfinden müssten, bei dem jedem einzelnen eine spezifische Aufgabe zugeschrieben sei.³ Ohne an dieser Stelle die Historizität der Episode thematisieren zu wollen – sie
* Die folgenden Überlegungen sind als Vorarbeiten zu einer größer angelegten Studie zur KörperStaat-Metaphorik in der Antike zu verstehen. Für zahlreiche Anregungen bin ich Prof. Dr. Stefan Rebenich (Bern) zu Dank verpflichtet. 1 Der Mons sacer lag in der Antike extra muros nördlich des Stadtgebietes; andere Quellen sprechen auch vom Aventin, der bei Livius (Liv. III,50–54) Ort der zweiten sogenannten secessio plebis ist (304 a. u. c.). Die Auszüge der Plebejer aus der Stadt – je nach Quelle drei oder vier – werden von der historiographischen Literatur als Druckmittel der Plebejer gegenüber den Patriziern geschildert, wobei der Realitätsgehalt der Schilderung des Livius in der Forschung zu Recht angezweifelt wird. Zur (sakral-)rechtlichen Dimension der secessiones vgl. zuletzt Labruna 2009. 2 Liv. II,32,9–12; die Parabel findet sich – in teils modifizierter Form – bei mehreren antiken Autoren (z. B. Dion. Hal. ant. VI,86; Florus I,23; Plut. Coriolanus VI,2–5; Cass. Dio IV,17,10–13); zur Rezeptionsgeschichte in Antike und Neuzeit grundlegend Peil 1985. 3 „Inde apparuisse ventris quoque haud segne ministerium esse, nec magis ali quam alere eum, reddentem in omnes corporis partes hunc quo vivimus vigemusque, divisum pariter in venas maturum confecto cibo sanguinem. Comparando hinc quam intestina corporis seditio similis esset irae plebis in patres, flexisse mentes hominum“; der lateinische Text folgt der Ausgabe Titus Livius 1964 (Liv. II,32,11f.; „Da sei dann klar geworden, dass auch der Bauch eifrig seinen Dienst tue und dass er nicht mehr ernährt werde als er ernähre, indem er das Blut, von dem wir leben und stark sind, gleichmäßig auf die Adern verteilt, in alle Teile des Körpers zurückströmen lasse, nachdem es durch die Verdauung der Nahrung seinen Platz erhalten habe. Indem er [sc. Agrippa] dann einen Vergleich anstellte, wie ähnlich der innere Aufruhr des Körpers dem Zorn der Plebs gegen die Patrizier sei, habe er die Menschen umgestimmt.“ [Übersetzung H. Hillen]).
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dürfte, wie mittlerweile von der Forschung mehrfach postuliert, wohl spätere paradigmatische Konstruktion sein –⁴ soll vielmehr der Blick darauf gelenkt werden, dass Livius hier den Versuch unternimmt, mithilfe des Bildes vom wohl- bzw. missorganisierten Körper den Unterschied zwischen einem funktionalen und einem dysfunktionalen Gemeinwesen deutlich zu machen. Diese Interferenz von politischer und medizinischer Sprache wirkt in der heutigen Praxis kaum spektakulär, sowohl hinsichtlich des medizinisch-organischen Wortschatzes in der Politik – man denke etwa im Deutschen an den gleichermaßen organischen Begriff Gemein-„Wesen“⁵ – als auch hinsichtlich der politischen Begrifflichkeit in der medizinischen Terminologie. Dies zeigt etwa die Definition des Nervensystems in einem anatomischen Standardlehrbuch: Das Nervensystem (Systema nervosum) ist dem Gesamtorganismus übergeordnet. Funktionen: 1. Steuerung der Tätigkeit der Eingeweide und der Skelettmuskulatur; 2. Kommunikation mit der Umwelt und dem Körperinneren; 3. höherwertige Funktionen wie Gedächtnis und Emotionen; nach der Funktion unterscheidet man das autonome Nervensystem … vom somatischen (animalischen) Nervensystem … .⁶
Das Zitat macht innerhalb der lingua anatomica die Verwurzelung lebensweltlicher Referenzmodelle deutlich, die Körperlichkeit in adäquater Sprache veranschaulichen sollen. Gegenstand der obigen Beschreibung sind zum einen hierarchische Verhältnisse des Organismus, d. h. über- und untergeordnete Systeme, zum anderen funktionsspezifische Differenzierungen: Das autonome Nervensystem zur unwillkürlichen Steuerung der Eingeweide wird dem somatisch-animalischen System, das für die willkürliche Perzeption und Bewegungsplanung zuständig ist, gegenübergestellt. Medizin, insbesondere in ihren deskriptiven Bereichen, zu denen die Anatomie zählt, ist genuin auf Sprache angewiesen⁷ – und Sprache kann sich umgekehrt, wenn sie veranschaulichen möchte, medizinischer Vergleiche bedienen. Dies ist freilich keine revolutionäre Erkenntnis, wie spätestens seit Owsei Temkins grundlegendem Aufsatz „Metaphors of Human Biology“ feststeht;⁸ es lohnt sich aber nach den Voraussetzungen des jeweiligen Referenzmodells zu fragen. Um noch
4 Die Angaben zur Person des Agrippa Menenius Lanatus, dessen gens ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. nicht mehr erwähnt wird, und der Parabel sind höchst fraglich. Bereits 1927 wurde von W. Nestle auf sophistische und platonische Parallelen verwiesen, die möglicherweise Vorbild der livianischen Episode waren (Nestle 1927); zum griechisch-historiographischen Ursprung vgl. Hillgruber 1996; zur Konzeption des Livius vgl. Chaplin 2003. 5 Zum deutschen Begriff „Gemeinwesen“ und seiner Geschichte vgl. May 2008, 23–27. 6 Benninghoff/Drenckhahn 2008, 372. 7 Zur Lingua medica und ihrer historischen Bedingtheit vgl. Gadebusch Bondio/Bettin 2007. 8 Vgl. Temkin 1949, der die wechselseitige Beeinflussung der Sprache von Biologie/Medizin und Politik anhand einer Gegenüberstellung antiker Autoren und dem Werk R. Virchows exemplarisch demonstriert; wiederabgedruckt in Temkin 2006.
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einmal auf das eben zitierte aktuelle Beispiel des Lehrbuches zurückzukommen: Der Begriff „autonom“ erfüllt erst dann seinen explikatorischen Effekt, wenn der Rezipient auf eine präfigurierte Vorstellung vom Prinzip der „Autonomie“ zurückgreifen kann, nämlich dergestalt, dass ein „autonomes“ Nervensystem unabhängig, im Wortsinne: „sich selbst Gesetze gebend“, in diesem Zusammenhang: „von allen übrigen Steuerungsinstanzen des Körpers losgelöst“, funktioniert.⁹ Es sei die These vorweggenommen, der ich im Folgenden nachgehen möchte: Naturwissenschaftliche Forschung, die zur Veranschaulichung ihrer Erkenntnisse politische Sprache bemüht, und politische Texte, die zur Beschreibung des Staatsgefüges auf den menschlichen Organismus rekurrieren, beruhen grundsätzlich auf zweierlei Prämissen – zum einen der konkreten wissenschaftlichen, empirisch gewonnenen Erkenntnis vom Wesen eines körperlichen Prozesses (etwa dass das eine Organ dem anderen über- oder untergeordnet ist), zum anderen aber der polittheoretischen Reflexion über die lebensweltlichen Verhältnisse als Bezugsmodell. Ändert oder entwickelt sich einer der beiden Parameter, entweder die wissenschaftliche Erkenntnis oder die politischen Verhältnisse, so beeinflusst dies zwangsläufig auch die jeweils andere Sphäre. Medizinische Erkenntnis ermöglicht sprachliche Differenzierung im politisch-sozialen Kontext; politische Theoriebildung ermöglicht medizinische Veranschaulichung.¹⁰ Insbesondere die Antike in ihrer longue durée kristallisiert sich für die Wechselwirkung von lingua medica und lingua politica als idealer Untersuchungsgegenstand heraus, da sowohl die Disziplin der Medizin als auch die politische Verfassungstheorie (und zumal die Herrschaftsverhältnisse in der Realität) zahlreichen Veränderungen unterlagen. Umso erstaunlicher ist, dass die philologische Forschung vornehmlich auf einige wenige, gleichsam kanonische loci communes verweist – zumeist im Zusammenhang mit den weitaus bekannteren neuzeitlichen Körper-Staat-Vergleichen, etwa bei Thomas Hobbes – und dabei die medizinischen Texte bislang außer Acht gelassen hat; es wurde also vornehmlich die politisch-literarische Hälfte des Diskurses wie etwa die einführend erwähnte Livius-Episode reflektiert.¹¹
9 Bezeichnenderweise ist der Begriff „autonomes Nervensystem“ ein sehr später terminus technicus, der auf den britischen Mediziner J. N. Langley (1852–1925) zurückgeht (monographische Darstellung bei Langley 1921). 10 Als neuzeitlicher Parallelbefund bietet sich die Zellularpathologie R. Virchows an, der, wie K. Sander nachgewiesen hat, in seiner Sprache auf politische Konzepte und Begrifflichkeiten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückgreift – R. Virchow war selbst linksliberaler Politiker – und so die Vorstellung vom Organismus als Zusammenschluss autonomer Zellen („Zellenstaat“) maßgeblich prägt (Sander 2012). Für eine kritische Reflexion des Verhältnisses von Metapher und Krankheit grundlegend ist Sontag 1978. 11 Vgl. z. B. Sander 2012, 63–66. Aus der Fülle an Literatur, die sich mit der neuzeitlichen Interferenz von Körper und Staat beschäftigt, seien an dieser Stelle nur der reichhaltige Sammelband Cameron/ Dickinson/Smith 2013 (mit weiterführender Literatur) sowie die breit angelegte Studie Lüdemann 2004 (bes. S. 101–126) erwähnt. Neben Temkin 1949 nennt auch Harvey 2007, 4–11 einige antike
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Die antike Literatur soll im Folgenden kursorisch entlang dreier Leitfragen analysiert werden¹²: 1. Mit welchen politischen Termini werden körperliche Prozesse in der antiken medizinischen Literatur umschrieben bzw. visualisiert? 2. Wie und in welchem Kontext rekurriert die philosophisch-politische bzw. historiographische Literatur auf körperlich-physische Exempla? 3. Inwieweit ist die jeweilige Begrifflichkeit durch naturwissenschaftliche Erkenntnis beeinflusst? Zur Beantwortung der ersten Frage, ob und wie sich in der antiken medizinischen Literatur politische Analogien in der naturwissenschaftlichen Erklärung physikalischer Prozesse finden lassen, wurde das Material nach gewissen Schlagwörtern bzw. Kriterien analysiert. Zunächst wurde in einschlägigen Texten nach dem Wortfeld „herrschen, beherrschen“ gesucht, d. h. im Griechischen die Felder ἀρχεῖν (archein) und κρατεῖν (kratein) samt ihrer Medium- und Passivformen; zudem standen die Organgruppen, die häufig als Zentrum bzw. Sitz der entscheidungsfindenden Kraft des Körpers angesehen wurden und sich einer hierarchiebildenden Instrumentalisierung besonders verdächtig machen, im Zentrum der Untersuchung: Dies sind in erster Linie Kopf (κεϕαλή/kephale), Gehirn (ἐγκέϕαλος/enkephalos), und Herz (καρδία/ kardia) – und zwar, wie zu sehen sein wird, je nach naturwissenschaftlicher Erkenntnislage in unterschiedlicher Gewichtung.¹³ Das erste Organ, dem im nachhomerischen¹⁴ medizinischen Denken der Griechen eine Steuerungsfunktion über andere Körperteile zugeschrieben wurde, war das Gehirn.¹⁵ In den ältesten Schriften, die den Nukleus des Corpus Hippocraticum¹⁶ bilden, nimmt in Anlehnung an Naturphilosophen wie Alkmaion von Kroton und Anaxagoras¹⁷ dieses – und, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen, nicht das
Quellen; Dawes 1998, 121–167, diskutiert mit Fokus auf Eph. 5,21–33 die Bedeutungsebenen der antiken Kopf- und Körpermetaphorik in der Bibel. Breit angelegt ist die Studie von R. Brock (Brock 2013) zu den politischen Bildern der griechischen Literatur, welcher der Staat-Körper-Metapher ein eigenes Kapitel widmet (S. 69–82); allerdings liegt der Fokus hier mehr auf der Metaphorik des Krankheitsbegriffs, auf den an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann. 12 Die im Folgenden getroffenen Beobachtungen und Ergebnisse sollen später in einer größeren Studie generalisiert werden. 13 Vgl. hierzu Manuli/Vegetti 1977. 14 Zum Sonderfall des homerischen Menschen- und Körperbildes vgl. Schmitt 1990; in den homerischen Epen und in der ältesten griechischen Literatur lässt sich keine explizite Körper-Staat-Interferenz feststellen (Lloyd 2003, 8–13). 15 Einen konzisen Überblick verschafft der Lexikonartikel (s. v. „Gehirn“) von C. Oser-Grote (Oser-Grote 2005). 16 Das im Kern auf das 5. Jahrhundert v. Chr. zurückgehende Corpus Hippocraticum stellt in seiner Heterogenität die Forschung hinsichtlich Datierung und Autorschaft der einzelnen Schriften vor große Probleme; eine Einführung (mit weiterführender Literatur) bietet Golder 2007. 17 Zum (natur-)philosophischen Einfluss im Corpus Hippocraticum vgl. Wittern/Pellegrin 1996.
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Herz¹⁸ – die vornehmliche Steuerungsfunktion ein. Als Übersetzer (ἑρμηνεύς/hermeneus) der Denkkraft (ϕρόνησις/phronesis) hatte es die entscheidende Vermittlungsfunktion zwischen Umwelt und – ansonsten steuerungslosem – Körper.¹⁹ Um dieser Vorstellung Gültigkeit zu verleihen, werden von den hippokratischen Autoren Beobachtungen aus der medizinischen Praxis angeführt. In den Hippokratischen Aphorismen²⁰ heißt es: Bei einer Gehirnerschütterung sei ein Mensch nicht mehr fähig, die übrigen Gliedmaßen zu bewegen; daher müsse man darauf schließen, dass das Gehirn dem restlichen Körper übergeordnet sei. Eine ähnliche Beschreibung findet sich in den Coacae praenotiones.²¹ Dennoch bleibt der Befund im engeren Sinne der Untersuchung ernüchternd. Zwar wird häufig und dezidiert die Vorherrschaft bzw. Überlegenheit des Gehirns über andere Körperteile betont, doch wird dies, wie im obigen Beispiel, lediglich in abstrakter Sprache formuliert. Es dominiert eine Terminologie, die ein allgemeines Über- und Unterordnungsverhältnis beschreibt. Das Gehirn beherrscht und reguliert andere Körperteile, ohne jedoch mit einem lebensweltlichen oder gar politischen Analogon in Verbindung gebracht zu werden. Dass das Corpus Hippocraticum nicht konkreter wird, ist mutmaßlich der noch unzureichenden anatomisch-physiologischen Erkenntnis der genauen Hirnfunktion geschuldet; die Schriften sind, wie bereits angedeutet, fest in der naturphilosophischen Tradition verankert.²² Es ist höchst zweifelhaft, ob in der hippokratischen Medizin systematisch Sektionen am Gehirn vorgenommen wurden,²³ zumal von dessen anatomischem Aufbau lediglich einige wenige, auffällige
18 Vgl. hierzu den systematischen Überblick bei Harris 1973. 19 Die folgenden Zitate aus dem Corpus Hippocraticum folgen der Ausgabe Hippokrates 1839–1861; die Übersetzungen stammen vom Verfasser: „Κατὰ ταῦτα νομίζω τὸν ἐγκέϕαλον δύναμιν πλείστην ἔχειν ἐν τῷ ἀνθρώπῳ· οὗτος γὰρ ἡμῖν ἐστιν τῶν ἀπὸ τοῦ ἠέρος γινομένων ἑρμηνεὺς, ἢν ὑγιαίνων τυγχάνῃ· τὴν δὲ ϕρόνησιν αὐτῷ ὁ ἀὴρ παρέχεται“ (Hippokr. morb. sacr. XVI,1; „Aus diesem Grund halte ich das Gehirn für das mächtigste Organ des Menschen, denn es ist, wenn es gesund ist, der Übersetzer der von der Luft erzeugten Effekte; die Luft aber verschafft ihm die Denkkraft); im weiteren Verlauf führt der hippokratische Autor aus, weshalb auch für die vermeintlich „heilige Krankheit“ – gemeint ist Epilepsie – eine Hirnkrankheit als physiologische Ursache diagnostiziert wird. 20 „Ὁκόσιοισιν ἂν ὁ ἐγκέϕαλος σεισθῇ ὑπό τινος προϕάσιος, ἀνάγκη ἀϕώνους γίνεσθαι παραχρῆμα“ (Hippokr. aph. VII,58; „Diejenigen, bei denen das Gehirn aus welchem Grund auch immer erschüttert worden ist, werden notwendigerweise auf der Stelle stumm“; vgl. auch Hippokr. aph. VII,14). 21 „Ὅσοισιν ἂν ὁ ἐγκέϕαλος σεισθῇ, καὶ πονέσῃ πληγεῖσιν ἢ ἄλλως, πίπτουσι παραχρῆμα, ἄϕωνα γίνονται, καὶ οὔτε ὁρῶσιν, οὔτε ἀκούσι, καὶ τὰ πολλὰ θνήκουσιν“ (Hippokr. coac. 489; „Diejenigen, bei denen das Gehirn erschüttert wurde und leidet – sei es durch Schläge oder anderweitig –, fallen auf der Stelle zu Boden, verstummen und sehen nichts mehr; in den meisten Fällen sterben sie“). 22 Vgl. auch Edelstein 1987, bes. 349–366. 23 Zur Frage nach Sektionen (das Wort Anatomie, gr. ἀνατέμνειν/anatemnein = aufschneiden, begegnet in der heutigen Bedeutung zuerst bei Caelius Aurelianus) im Corpus Hippocraticum vgl. etwa Edelstein 1932; (Vivi-)Sektion von Menschen geht erst auf die alexandrinisch-hellenistische Medizin, namentlich Herophilos von Chalkedon, zurück (von Staden 1989).
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Merkmale beschrieben werden, etwa dass das Hirn von Hirnhäuten umgeben und mit dem Rückenmark verbunden sei.²⁴ Gänzlich anders präsentiert sich das römisch-kaiserzeitliche Bild in den Schriften des wohl bedeutendsten Arztes der Antike, Galen aus Pergamon, der im 2. Jahrhundert n. Chr. lebte und wirkte.²⁵ Dort heißt es in seinem Traktat De usu partium, welches der Funktionsweise der Körperglieder gewidmet ist: Der Kopf scheint bei den meisten Lebewesen des Gehirnes wegen entstanden zu sein, und aus diesem Grunde sitzen dort auch die sinnlichen Wahrnehmungen, wie die Diener und Wächter des Großkönigs.²⁶
Besonders eine Wendung sticht in doppelter Hinsicht hervor: Die Charakterisierung des Kopfes oder des Gehirns, die mit dem Terminus μέγας βασιλεύς (megas basileus) belegt werden. Denn hier wird das Gehirn – dezidiert in politischer Sprache – mit einem monarchischen Souverän gleichgesetzt, dem basileus, der durch das Adjektiv megas noch über den Wortsinn „groß“ hinaus präzisiert wird: Die Antike verband mit dem formelhaften megas basileus eine Vorstellung von einer unumschränkten monarchischen Souveränität, wie sie für den persischen Großkönig oder die hellenistischen Könige in der Nachfolge Alexanders des Großen zutraf.²⁷ Galen schreibt dem Gehirn damit die größtmögliche Steuerungsfunktion zu – und grenzt es hierarchisch unmissverständlich von den Sinnesorganen wie Augen und Ohren ab, die explizit als „Diener“ (ὑπηρέται/hyperetai) und „Wächter“ (δορυϕόροι/doryphoroi) des Gehirns gekennzeichnet sind.²⁸ Er bedient sich einer genuin lebensweltlichen Analogie, um seinen Anspruch mit größtmöglichem Nachdruck zu unterstützen; ebenso gut hätte er (denn die Vokabel war ihm, der in enger Beziehung zum römischen Kaiserhaus stand, durchaus bekannt) auch αὐτοκράτωρ (autokrator/Kaiser) verwenden können – er tat es aber wohl sehr bewusst nicht. Doch weshalb konnte sich Galen so sicher sein, dass gerade das Gehirn als „Großkönig“ (d. h. des Körpers) zu gelten hatte? An dieser Stelle kommt der na-
24 Hippokr. carn. 4. 25 Allgemein zu Galen, zu dessen Werk eine Fülle von Einzelstudien vorliegt, Hankinson 2008 (mit weiterführender Literatur). 26 „Ἡ δὲ δὴ κεϕαλὴ τοῖς μὲν πλείστοις ἔδοξε διὰ τὸν ἐγκέϕαλον γεγονέναι, καὶ διὰ τοῦτο καὶ τὰς αἰσθήσεις ἁπάσας ἔχειν ἐν αὑτῇ, καθάπερ τινὰς ὑπηρέτας τε καὶ δορυϕόρους μεγάλου βασιλέως“ (Gal. usu. part. VIII,2; vgl. die Ausgabe Galen 1907); vgl. auch Gal. De plac. Hipp. et Plat. II,4,17. 27 Zur Wendung μέγας βασιλεύς (megas basileus), die seit dem Hellenismus (oft bedeutungsgleich mit dem Terminus βασιλεύς βασιλέων [basileus basileon; König der Könige]) literarisch und inschriftlich bezeugt ist, vgl. zuletzt Muccioli 2013, 395–417. S. Rebenich hat aufgezeigt, dass die megas-basileus-Terminologie ursprünglich stark im philosophischen Diskurs verankert war; vgl. hierzu Rebenich 2012, 1156f. und 1165. 28 Zur Abhängigkeit des Gehirn-Großkönig-Vergleichs von der kosmologisch-philosophischen Literatur (mit Verweis auf Platons Timaios, wo dieses Motiv seinen Ursprung zu nehmen scheint, s. u.) vgl. Regen 1971, 32 Anm. 114 mit weiteren Parallelstellen.
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turwissenschaftlichen Beobachtung eine Schlüsselfunktion zu. An mehreren Stellen in Galens Œuvre werden detailliert Aufbau und Funktion des Hirns und des Nervensystems beschrieben.²⁹ Galen differenziert in Rückenmark, Hirnstamm, Kleinhirn, Großhirn, die unterschiedlichen Hemisphären, das Ventrikelsystem und die Hirnhäute (Pachy- und Leptomeninx);³⁰ noch heute ist die galenische Begrifflichkeit partiell in Gebrauch. Durch die genaue Beobachtung des Nervensystems und seiner Verschaltungen kommt er zum Schluss, dass das Gehirn im Zentrum dessen gelegen sei, und er wagt es auch, dies in seinem Werk De Placitis Hippocratis et Platonis deutlich zu formulieren: Das Gehirn sei – im Gegensatz zum Herz – das ἡγεμονικόν/hegemonikon³¹ – Zentrum der Sinneswahrnehmung, der willkürlichen Bewegung und von anderem mehr.³² Es kann gefolgert werden: Dieser Vergleich mit der realpolitischen Figur des Großkönigs wird erst dann tragfähig, wenn einerseits medizinisch das Gehirn als unumschränkter „Herrscher“ über den Körper feststeht, andererseits eine ausreichende verfassungspolitische Klarheit über die Machtfülle monarchischer Herrscher, zumal eines Großkönigs, im theoretischen Diskurs greifbar ist. Das Corpus Hippocraticum einerseits und Galen andererseits markieren somit zwei chronologische Fixpunkte, zwischen denen über ein halbes Jahrtausend zunächst griechischer, dann schließlich auch römischer Ereignis-, Geistes- und Wissenschaftsgeschichte liegen. Doch wie lässt sich dieses Spatium schließen? Der medizinhistorische Befund bleibt aufgrund der großen Überlieferungslücke zumeist stumm; besonders interessant wäre es zu erfahren, welche Formulierungen die hellenistischen Ärzte verwendeten, die in einem monarchisch geprägten Umfeld wirkten.³³ Hier lässt sich lediglich, wie Heinrich von Staden gezeigt hat, rekonstruieren, dass etwa Herophilos von Chalkedon in seinem anatomischen Werk systematische Beobachtungen zum Gehirn angefertigt hatte.³⁴ Dafür setzen zwischen dem 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. die Quellen der
29 „Anatomy is Galen’s chief weapon against his opponents“ (Rocca 2003, 20). Vgl. hierzu die systematische Auswertung ebd., 81–199. 30 Zur Methodik der galenischen Hirnforschung sowie dessen Erkenntnisgrad liegen mittlerweile zwei Monographien vor: Manzoni 2001; Rocca 2003; ausführlich zur Dependenz Galens von den hellenistischen Ärzten vgl. von Staden 2000. 31 Gal. De plac. Hipp. et Plat. I,6,7f.; Galen ist sich, wie er zu Beginn von De usu partium ausführt, der Vielzahl unterschiedlicher wissenschaftlicher Vorstellungen durchaus bewusst; vgl. Gal. usu. part. XV,2–5. Rocca 2003, 18 Anm. 7 verweist auf Autoren (z. B. Asklepiades von Bithynien), die aufgrund der schwierigen Lokalisierbarkeit des ἡγεμονικόν im Körper diese Vorstellung gänzlich verwerfen. 32 Rocca 2003, 17–47. 33 Die hellenistische Medizin, die sich an den Höfen der Diadochenherrscher entwickelte und zu deren bekanntesten Vertretern der bereits oben erwähnte Herophilos von Chalkedon und Erasistratos von Keos zählen, ist nur fragmentarisch überliefert. Ein entscheidendes Verdienst ist unter anderem, dass hier zum ersten Mal systematische anatomische Studien vorgenommen wurden (vgl. hierzu Vegetti 1996). 34 Vgl. Herophilos T 122f.; T 85 (ed. von Staden); vgl. von Staden 2000.
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zweiten, der philosophisch-politischen Kategorie ein, die in der Gestalt von Platon, Aristoteles und weiteren Autoren greifbar wird. Es handelt sich um nicht-medizinische Texte, die anhand des menschlichen Körpers politische, gesellschaftliche oder philosophische Sachverhalte veranschaulichen, und, wenn etwa das Staatsganze als komplexer Organismus beschrieben werden soll, weniger auf ein einzelnes Organ als auf den Körper in seiner Gesamtheit als Projektionsfläche rekurrieren. Eines der frühesten bekannten Beispiele bildet eine Passage bei einem Vorsokratiker, Alkmaion von Kroton, der um die Wende vom 6. zum 5. Jahrhundert v. Chr. lebte:³⁵ Gesundheitsbewahrend sei die Gleichberechtigung der Kräfte, des Feuchten, Trockenen, Kalten, Warmen, Bittern, Süßen usw., die Alleinherrschaft dagegen sei bei ihnen krankheitserregend. Denn verderblich wirke die Alleinherrschaft des einen Gegensatzes. (Übersetzung H. Diels)³⁶
In besonders starkem Maße zeitgebunden – und bemerkenswert – ist die Begrifflichkeit, mit der Alkmaion operiert. Gesund ist laut Alkmaion ein Körper, in dem das Prinzip der Isonomie verwirklicht sei, ein Zustand, in dem ein harmonischer Ausgleich widerstrebender Kräfte (hier im Sinne der Säftelehre) gewährleistet ist. In der Forschung ist umstritten, inwieweit mit der Isonomie des Alkmaion auf die realpolitischen Formen des Kleisthenes angespielt wird, welche um 508/7 v. Chr. die Attische Demokratie in ihrer klassischen Gestalt maßgeblich formten.³⁷ In unserem Zusammenhang ist bedeutsam, dass sich Alkmaion bewusst für ein Vokabular des politischen Diskurses entschloss, und damit gewisse aktuelle Vorstellungen eines Gleichheitsideals auf den Körper übertrug. Die Entscheidung für den Isonomiebegriff als Ideal ist gleichsam auch eine Entscheidung für eine bewusste Anknüpfung an einen Verfassungsdiskurs, der aus der Opposition mehrerer gleichberechtigter Athener Dynastien gegen die Vor- bzw. Alleinherrschaft (μοναρχία/monarchia) einer Familie, etwa der Peisistratiden, erwachsen war.³⁸ Alkmaions funktionelle Inanspruchnahme der Körper-Staat-Metaphorik steht am Anfang einer Reihe von philosophischen Texten, in denen einerseits anhand eines zunächst schematischen, dann zunehmend ausdifferenzierten Körperbildes der Aufbau des Gemeinwesens veranschaulicht wird, andererseits, ähnlich wie bei
35 Alkmaion von Kroton wurde bereits in der Antike anekdotisch eine Doppelfunktion als Naturforscher und Arzt zugeschrieben; vgl. hierzu Lloyd 1991. 36 Alkmaion DK 24 Fr. 4: „τῆς μὲν ὑγιείας εἶναι συνεκτικὴν τὴν ἰσονομίαν τῶν δυνάμεων, ὑγροῦ, ξηροῦ, ψυχροῦ, θερμοῦ, πικροῦ, γλυκέος καὶ τῶν λοιπῶν, τὴν δὲ ἐν αὐτοῖς μοναρχίαν νόσου ποιητικήν· ϕθοροποιὸν γὰρ ἑκατέρου μοναρχίαν.“ (Vgl. Diels/Kranz 1951, I, 215.) 37 Besonders Ch. Triebel-Schubert (Triebel-Schubert 1984) spricht sich mit einiger Berechtigung für eine klare Trennung des Isonomiebegriffs Alkmaions von den Reformen des Kleisthenes aus: Hier scheint eher eine Verbindung isonomer, d. h. gleichberechtigter eigenständiger Elemente gemeint zu sein als der „Mischcharakter“ der Verfassung des Kleisthenes. 38 Zum aristokratischen Ursprung des Isonomiebegriffs vgl. Grossmann 1973, 30–89.
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Alkmaion, Gesundheit und Krankheit mit gerechter oder ungerechter Herrschaft von einzelnen Körper- oder Seelenteilen über andere verglichen werden. Ein Beispiel für letzteren Vergleich ist eine Passage aus dem 4. Buch der Politeia Platons, in deren engeren Kontext die Gerechtigkeit der Seelenteile und insbesondere der gerechte Ausgleich zwischen den konkurrierenden Partien diskutiert werden. In diesem Zusammenhang kommt der Körper zur Sprache: [Sokrates spricht:] Gesundheit bewirken heißt aber: die Teile in unserem Leibe so anordnen, dass sie der Natur gemäß herrschen und voneinander beherrscht werden; Krankheit bewirkt aber, dass sie gegen die Natur regieren und voneinander regiert werden. [Glaukon:] Ja, so ist es. [Sokrates:] Und Gerechtigkeit bewirken, sagte ich, heißt doch hinwiederum: die Teile in der Seele so anordnen, dass sie der Natur gemäß herrschen und voneinander beherrscht werden; Ungerechtigkeit aber, dass sie gegen die Natur regieren und voneinander regiert werden? (Übersetzung R. Rufener)³⁹
Wenn es schließlich im 5. Buch der Politeia um die (radikalen) Konsequenzen der eben eingeführten Gerechtigkeit geht, wird hingegen auf die Polis als funktionellen Gesamtorganismus verwiesen, zu dessen Gunsten, so Platon, private Strukturen nahezu gänzlich geschleift werden müssten, um ein größeres Gefühl des Zusammenhalts zu erzeugen. Eine vollständige innergesellschaftliche Übereinkunft zeige sich dann, wenn die politische Gemeinschaft – die Gesellschaft – wie ein einziger Organismus reagiert: [Sokrates spricht:] Und diese [d. h. die Stadt] kommt auch dem Wesen eines einzelnen Menschen am nächsten? Wenn zum Beispiel einer von uns am Finger verletzt wird, so empfindet es die ganze Gemeinschaft, die sich durch den Leib hin bis zur Seele erstreckt zu einer einheitlichen Ordnung unter dem in ihr herrschenden Teil, und sie spürt als Ganzes gleichzeitig den Schmerz überall, wenn ein einzelner Teil leidet. Und so können wir sagen, den Menschen schmerze sein Finger. Und für jedes andere Glied des Menschen gilt derselbe Satz, vom Schmerz, wenn ein Teil leidet, vom Wohlbefinden, wenn es ihm besser geht. (Übersetzung R. Rufener)⁴⁰
Dass Platon bei seiner Seelen- und Körperkonzeption auf explizit politisches Vokabular zurückgreift, zeigt ein abschließendes Zitat aus seinem Spätwerk Timaios,⁴¹
39 Plat. rep. 444d–e: „ἔστι δὲ τὸ μὲν ὑγίειαν ποιεῖν τὰ ἐν τῷ σώματι κατὰ ϕύσιν καθιστάναι κρατεῖν τε καὶ κρατεῖσθαι ὑπ᾽ ἀλλήλων, τὸ δὲ νόσον παρὰ ϕύσιν ἄρχειν τε καὶ ἄρχεσθαι ἄλλο ὑπ᾽ ἄλλου./ἔστι γάρ./ οὐκοῦν αὖ, ἔϕην, τὸ δικαιοσύνην ἐμποιεῖν τὰ ἐν τῇ ψυχῇ κατὰ ϕύσιν καθιστάναι κρατεῖν τε καὶ κρατεῖσθαι ὑπ᾽ ἀλλήλων, τὸ δὲ ἀδικίαν παρὰ ϕύσιν ἄρχειν τε καὶ ἄρχεσθαι ἄλλο ὑπ᾽ ἄλλου;“ (Vgl. hier und im Folgenden die Ausgabe Platon 1958.) 40 Plat. rep. 462c–d: „καὶ ἥτις δὴ ἐγγύτατα ἑνὸς ἀνθρώπου ἔχει; οἷον ὅταν που ἡμῶν δάκτυλός του πληγῇ, πᾶσα ἡ κοινωνία ἡ κατὰ τὸ σῶμα πρὸς τὴν ψυχὴν τεταμένη εἰς μίαν σύνταξιν τὴν τοῦ ἄρχοντος ἐν αὐτῇ ᾔσθετό τε καὶ πᾶσα ἅμα συνήλγησεν μέρους πονήσαντος ὅλη, καὶ οὕτω δὴ λέγομεν ὅτι ὁ ἄνθρωπος τὸν δάκτυλον ἀλγεῖ· καὶ περὶ ἄλλου ὁτουοῦν τῶν τοῦ ἀνθρώπου ὁ αὐτὸς λόγος, περί τε λύπης πονοῦντος μέρους καὶ περὶ ἡδονῆς ῥαΐζοντος;“ 41 Datierung, Einordnung und Interpretation von Platons Timaios sind in der Forschung umstritten und Gegenstand zahlreicher Untersuchungen; an dieser Stelle wird nur auf die Überblicksdarstellung
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das nach seinem Protagonisten benannt ist. Jener geht in seinem langen Vortrag ausführlich auf die Natur des Menschen ein, unter anderem auf die Interaktion von Körper und Seele. Die göttliche Seele, die nach Timaios unsterblich ist – und die von den Göttern, als sie den Menschen gegeben wurde, zum Teil sterblich gemacht werden musste –, ordnet er, zumindest für den göttlichen Teil, in die Nähe des Kopfes ein. [Timaios spricht:] Und nachdem auch von ihr [d. h. der Seele] der eine Teil von Natur aus besser, der andere schlechter war, nahmen sie auch beim Bau der Brusthöhle eine Trennung vor und teilten sie ab, wie man die Wohnung der Frauen von der der Männer trennt, indem man mitten durch sie hindurch das Zwerchfell als Scheidewand einzog. Dem Teil der Seele also, der an Tapferkeit und Mut teilhat, weil er nach Vorrang strebt, gaben sie seinen Sitz näher beim Kopf, zwischen dem Zwerchfell und dem Hals, damit er der Vernunft gehorchen und mit ihr zusammen die Sippschaft der Begierden gewaltsam unten halten soll, wenn sich diese dem Wort und Befehl, der von der Akropolis ausgeht, durchaus nicht freiwillig fügen wollen.⁴²
Die Erwähnungen bei Platon sind die ersten ausführlicheren Passagen der Literatur, in denen anhand physiologischer Zusammenhänge ein philosophisches Ideal veranschaulicht wird. Im Zusammenhang mit den vorherigen Beobachtungen ist dreierlei bedeutsam: Erstens scheint Platon bei der Definition von Gesundheit und Krankheit, auch wenn er statt „Isonomie“ auf allgemeinere Begriffe zurückgreift, auf ähnliche Vorstellungen wie Alkmaion zu rekurrieren⁴³: Gesundheit bedeutet ordnungsgemäße Fügung der einzelnen Körperteile, Krankheit deren widernatürliche Anordnung. Zweitens geht Platon deutlich über Alkmaion hinaus, indem er im 5. Buch der Politeia explizit auf die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Gliedern der Gesellschaft hinweist; in dieser Hinsicht deutet sich bereits eine Konzeption an, wie sie später Livius vertreten wird. Und schließlich drittens: Auch in der platonischen „Anatomie“ bleiben Kopf und Gehirn die zentralen Steuerungsorgane, die den übrigen Körperteilen höhergestellt sind; in der Analogie ist dem herrschenden Seelenteil eine nähere Positionierung in Richtung Kopf zugeteilt als den beherrschten.⁴⁴
bei Erler 2007, 262–272 verwiesen. Mit der Physiologie und der im Timaios vertretenen Körpervorstellung befasst sich Pelavski 2014; zum Verhältnis von Seele und Körper vgl. Sorabji 2003. 42 Plat. Tim. 69e–70a: „καὶ ἐπειδὴ τὸ μὲν ἄμεινον αὐτῆς, τὸ δὲ χεῖρον ἐπεϕύκει, διοικοδομοῦσι τοῦ θώρακος αὖ τὸ κύτος, διορίζοντες οἷον γυναικῶν, τὴν δὲ ἀνδρῶν χωρὶς οἴκησιν, τὰς ϕρένας διάϕραγμα εἰς τὸ μέσον αὐτῶν τιθέντες. τὸ μετέχον οὖν τῆς ψυχῆς ἀνδρείας καὶ θυμοῦ, ϕιλόνικον ὄν, κατῴκισαν ἐγγυτέρω τῆς κεϕαλῆς μεταξὺ τῶν ϕρενῶν τε καὶ αὐχένος, ἵνα τοῦ λόγου κατήκοον ὂν κοινῇ μετ᾽ ἐκείνου βίᾳ τὸ τῶν ἐπιθυμιῶν κατέχοι γένος, ὁπότ᾽ ἐκ τῆς ἀκροπόλεως τῷ τ᾽ ἐπιτάγματι καὶ λόγῳ μηδαμῇ πείθεσθαι ἑκὸν ἐθέλοι.“ (Vgl. die Ausgabe Platon 1905.) 43 Die Abhängigkeit Platons von der Naturphilosophie ist in mehreren Studien dargelegt worden; vgl. z. B. Döring 2010. Speziell zum Vorbildcharakter von Alkmaions Anthropologie vgl. Horn 2005. 44 Auf diese Vorstellung nimmt Cicero in den Tusculanae disputationes Bezug: „Eius doctor Plato triplicem finxit animum, cuius principatum, id est rationem, in capite sicut in arce posuit, et duas partes parere voluit, iram et cupiditatem, quasi locis disclusit: Iram in pectore, cupiditatem supter praecordia locavit“ (Cic. Tusc. I,20; vgl. Cicero 1912); („Sein [d. h. Xenokrates’] Lehrer Platon führte die Lehre
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Eigentümlich und erklärungsbedürftig ist die von Platon im Timaios bemühte Terminologie für den herrschenden Kopf, der als „Akropolis“ (s. o.) bezeichnet wird.⁴⁵ Weshalb wählt Platon diesen Begriff, und was sagt dieser über die platonische Vorstellung von der Akropolis aus? Mehrere Assoziationsmöglichkeiten kulminieren in der Akropolis-Kopf-Metapher. Zum einen scheint die Akropolis – und nicht etwa der Areopag, Ort des Gerichts, die Pnyx, Ort der Volksversammlung, oder andere politisch konnotierte Elemente der Topographie Athens – durchaus eine souverän-politische Steuerungsinstanz zu sein; sie ist Befehlsgeber der übrigen, bisweilen widerspenstigen Partien. Als weitere Facette tritt schließlich eine sakrale Komponente hinzu: Für das Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. war die Akropolis ein Ort höchster Sakralität, der gerade im Zuge der Perserkriege des besonderen Schutzes bedurfte und als monumentalisierte Anlage zentral für die attische Identität war.⁴⁶ Diese Verbindung der Akropolis mit einem Zentralorgan des Körpers bei Platon bleibt auch in späterer Zeit und über die aristotelische Umdeutung (vgl. unten) hinaus geläufig; sie zeigt, wie stark ein einmal gewonnenes Bild im metaphorischen Gedächtnis der Antike verhaftet und genreübergreifend abrufbar bleibt: Nicht zuletzt Cicero und Plinius d. Ä. bedienen sich der Akropolis-Kopf-Metapher.⁴⁷ Dennoch muss betont werden, dass Platons Körper-Staat-Metaphorik stark im Allgemeinen verhaftet bleibt und ein exaktes Interesse an physiologischen Prozessen des Körpers weder erkennbar noch relevant ist. Ihm genügt zur Analogiebildung mit (staats-)philosophischen Inhalten ein relativ simples und stark schematisiertes Konzept des Körpers. Ein stärkeres und differenzierteres Ineinandergreifen von lingua politica und lingua medica ist hingegen bei Platons Schüler Aristoteles (384-322 v. Chr.) etwa eine Generation später zu beobachten, was möglicherweise auch durch dessen universalwissenschaftliches Werk entscheidend katalysiert wurde. Bei Aristoteles lässt sich archetypisch nachvollziehen, wie Naturbeobachtung und neugewonnene naturwissenschaftliche Erkenntnis zu einer Modifikation, gewissermaßen zu einer Umcodierung der Metaphorik führen können.⁴⁸ Das Gehirn, welches bei Hippokrates und
von der Dreiteilung der Seele ein; ihren führenden Teil, das ist die Vernunft, siedelte er im Kopf wie auf einer Burg an; er wollte, dass die beiden übrigen Seelenteile, Leidenschaft und Begierde, ihm gehorchten; diesen wies er getrennte Sitze zu: die Leidenschaft legte er in die Brust, die Begierde unter das Zwerchfell“ [Übersetzung E. A. Kirfel]). Zur Organisation von Körper und Geist im platonischen Spätwerk vgl. zuletzt Carone 2005. 45 Die zitierte Passage ist der Auftakt einer breit angelegten Diskussion einzelner Körperteile; im Anschluss werden u. a. innere Organe, Mark und Hirn, erneut der Kopf, schließlich die Fingernägel besprochen (Plat. Tim. 69d–77a). 46 Krumeich/Witschel 2009. 47 Cic. nat. II,140; Plin. nat. XI,135; weitere Stellen bei Regen 1971, 32 Anm. 114. 48 Zur Arbeitsweise des Aristoteles, insbesondere zum Umgang mit seinen naturwissenschaftlichen Vorgängern, vgl. Althoff 1999; Oser-Grote 2004.
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Platon (und später wieder bei Galen) zentrale Steuerinstanz ist, verliert nun bei Aristoteles entscheidend an Bedeutung. Nach seiner Darlegung in De partibus animalium⁴⁹ müsse das Gehirn losgelöst von den anderen Teilen der sinnlichen Wahrnehmung betrachtet werden, da es mit ihnen offenbar nicht in Verbindung stehe; dies könne man daran erkennen, dass es berührungsunempfindlich sei und in seiner Beschaffenheit an eine „Kombination aus Wasser und Erde“⁵⁰ erinnere.⁵¹ Obwohl Aristoteles an anderer Stelle bisweilen durchaus anatomisch „korrekte“ Beobachtungen trifft und selbst am Gehirn komplexe Strukturen beschreibt,⁵² ist seine funktionelle Deutung aus heutiger Sicht dennoch erstaunlich: Das Gehirn dient ihm zufolge hauptsächlich zur Kühlung der vom Herzen mit dem Blut antransportierten Wärme.⁵³ Infolgedessen erfährt das Herz eine fundamentale Neubewertung, die sich nur auf wenige medizinische Autoren als Gewährsmänner stützen kann⁵⁴: In der Historia animalium⁵⁵ wird das Herz – und nicht das Gehirn – als Hauptorgan des Körpers und Sitz der Lebenskraft eingeführt. Aristoteles ist, aus medizinischer Perspektive, auch eine relativ ausführliche Untersuchung des Herzens zu verdanken, indem er drei der (letztlich vier) Herzräume korrekt beschrieb.⁵⁶ In der bereits oben erwähnten Schrift De partibus animalium, die sich detailliert mit Anatomie und Konstitution der Lebewesen beschäftigt, zählt das Herz (καρδία/kardia) zusammen mit der Leber (ἧπαρ/hepar) zu den wichtigsten Organen, da es für die laut Aristoteles zentrale Eigenschaft eines Organismus, die Wärme,⁵⁷ zuständig sei: Das Herz und die Leber sind für alle Lebewesen zwingend nötig: Das Herz, weil es der Urheber der Wärme ist (es braucht, in der Tat, eine Art Hof, wo die Flamme der Natur konserviert wird, und dieses muss gut beschützt werden, denn das Herz ist wie die Akropolis des Körpers), die Leber, weil sie der Verdauung dient.⁵⁸
49 Aristoteles’ Schrift De partibus animalium ist sämtlichen Elementen des Körpers gewidmet und ist neben der früher erschienenen Historia animalium eine der zoologischen Schriften Aristoteles’. Vgl. hierzu Mielke 1985; zur Biologie des Aristoteles Kullmann/Föllinger 1997. 50 Aristot. part. an. II,7 652b22; vgl. hierzu und zum Folgenden Kullmann 1982, 232–234. 51 Zur aristotelischen Anatomie des Gehirns, das nach Aristoteles in keiner Verbindung zu Augen und Ohren steht, vgl. Clarke/Stannard 1963; Clarke 1963; vgl. dagegen jedoch Papachristou 2010. 52 Vgl. z. B. Aristot. hist. an. I,16 494b32. 53 Aristot. part. an. II,7 652b19–21; IV,10 686a9f. 54 Zu „kardiozentrischen“ Vorgängern des Aristoteles vgl. Manuli 1977. 55 Zusammenfassend zur Historia animalium vgl. Hünemörder 1997. 56 Aristot. part. an. III,4 666b21; vgl. die galenische Kritik daran, z. B. Gal. anatom. administr. VII,10; usu. part. VI,9. Zur Vorstellung des Herzens bei Aristoteles vgl. auch Harris 1973; Jori 2005. Eine tabellarische Gegenüberstellung mit den Hippokratischen Lehren findet sich bei Oser-Grote 2004, 306f. 57 Zum Prinzip der „generativen Wärme“ bei Aristoteles (unter besonderer Berücksichtigung von gen. an. II,3) vgl. Althoff 1992. 58 Arist. part. an. III,7 670a22–26: „Καρδία μὲν οὖν καὶ ἧπαρ πᾶσιν ἀναγκαῖα τοῖς ζῴοις, ἡ μὲν διὰ τὴν τῆς θερμότητος ἀρχὴν (δεῖ γὰρ εἶναι τινα οἷον ἑστίαν, ἐν ᾗ κεῖσεται τῆς ϕύσεως τὸ ζωπυροῦν, καὶ
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Wieder wird, wie schon bei Platon, die „Akropolis“ in die Pflicht genommen.⁵⁹ Doch während bei letzterem auf rein funktionell-hierarchischer Ebene das Gehirn als Befehlsgeber identifiziert wurde, ist die aristotelische Inanspruchnahme deutlich differenzierter gestaltet: Einerseits, weil das Herz und nicht das Gehirn im Zentrum steht, andererseits, weil über den abstrakten Vergleich hinaus noch die physiologische Erklärung mitgegeben wird. Als „Schürkammer“ des Körpers ursächlich für die Wärme, wird das Herz, wie wir im unmittelbaren Kontext der Passage erfahren, buchstäblich eingebettet in das arterielle und venöse Netz. Erstaunlich ist die Flexibilität, mit der der Begriff der Akropolis umcodiert wird: Hier ist sie nicht mehr der befehlende Souverän, sondern ein wichtiger und schützenswerter Umschlagplatz des Körpers. Dieselbe Flexibilität hinsichtlich der politischen Analogie in der Naturwissenschaft zeigt auch Aristoteles’ zoologische Schrift De motu animalium, eine präzise Studie zur Fortbewegung der Lebewesen, in der die Konzeption des Organismus mit einer wohlregierten Stadt verglichen wird: Man hat aber anzunehmen, dass das Lebewesen gleichsam wie eine gut regierte Stadt eingerichtet ist. Denn auf der einen Seite bedarf man, wenn in der Stadt einmal die Ordnung hergestellt ist, in keiner Weise mehr eines besonderen Alleinherrschers, der bei jedem einzelnen Geschehnis zugegen sein muss, sondern jeder einzelne Bürger erfüllt seine Aufgaben, wie es angeordnet worden ist, und das geschieht nach dem anderen, entsprechend der Gepflogenheit; auf der anderen Seite geschieht in den Lebewesen genau dasselbe durch die Natur. (Übersetzung J. Kollesch)⁶⁰
Von besonderer Relevanz sind die griechischen Begriffe, von denen Aristoteles hier Gebrauch macht. Der im Idealstaat nicht benötigte Alleinherrscher wird als μόναρχος (monarchos) und nicht z. B. τύραννος (tyrannos), die Idealstadt πόλις εὐνομουμένη (polis eunomoumene), bezeichnet, als eine mit guten Gesetzen versehene Stadt.⁶¹ Das der Analogie zugrundeliegende politische Konstrukt ist aber auch in einer zweiten Dimension differenzierter als bei Platon: Hier werden (ähnlich wie bei Alkmaion) zwei unterschiedliche politische Konzepte auf den Körper bezogen, nämlich dasjenige in einem funktionierenden Körper, der ohne Alleinherrscher auskommt, und implizit ein anderes, nämlich das, welches den Alleinherrscher als Ord-
τοῦτο εὐϕύλακτον, ὥσπερ ἀκρόπολις οὖσα τοῦ σώματος), τὸ δ’ ἧπαρ τῆς πἐψεως χάριν.“ (Vgl. Aristoteles 1956.) 59 Vgl. Vegetti 1988. 60 Aristot. mot. anim. X,703a29–35: „ὑποληπτέον δὲ συνεστάναι τὸ ζῷον ὥσπερ πόλιν εὐνομουμένην. ἔν τε γὰρ τῇ πόλει ὅταν ἅπαξ στῇ ἡ τάξις, ουδὲν δεῖ κεχωρισμένου μονάρχου, ὃν δεῖ παρεῖναι παρʼ ἕκαστον τῶν γινομένων, ἀλλʼ αὐτὸς ἕκαστος ποιεῖ τὰ αὑτοῦ ὡς τέτακται, καὶ γίνεται τόδε μετὰ τόδε διὰ τὸ ἔθος· ἔν τε τοῖς ζῴοις τὸ αὐτὸ τοῦτο διὰ τὴν ϕύσιν γίνεται ... .“ (Vgl. Aristoteles 1973.) 61 Die Wendung πόλις εὐνομουμένη/polis eu-nomou-mene für eine wohlregierte Stadt war im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. in der Literatur allgemein geläufig; vgl. z. B. Xen. oec. IX,14; Plat. leg. 951; Plat. Krit. 53c.
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nungsinstanz benötigt, ohne dass weiter ausgeführt würde, wie man sich einen solchen „monarchisch“ regierten Körper vorstellen müsse. Bei Aristoteles werden darüber hinaus beide „Kehrseiten“ der Medaille abgebildet: Politische Analogie spielt nicht nur eine Rolle in den naturwissenschaftlichen Schriften, sondern der Körper ebenfalls in den politischen; an mehreren Stellen dient der Körper als Projektionsfläche für die exemplarische Erklärung politischer Zusammenhänge.⁶² Naturwissenschaftliche Beobachtung und politische Theoriebildung gehen somit bei Aristoteles eine terminologische Symbiose ein; ihr jeweiliger Wortschatz wird als sich gegenseitig befruchtender Informationsträger sowohl politischer als auch naturwissenschaftlich-medizinischer Inhalte entdeckt und verwendet.⁶³ Die aristotelische Sprache zeigt ferner, wie flexibel die Metaphorik auf sich verändernde (naturwissenschaftliche) Erkenntnis reagiert, die bereits in der Antike naturgemäß einer gewissen Progression unterworfen ist.⁶⁴ Galen schließlich wird es sein, der, wie oben gezeigt (vgl. Anm. 32), unter expliziter Kritik an Aristoteles⁶⁵ eine Revision des Zentralorgans vornimmt, und aufgrund modifizierten, empirisch gewonnenen Wissens erneut den Kopf als hierarchisch höchstes Organ interpretiert – und dies in politisch gefärbtem Wortschatz. Zusammenfassend lassen sich in der Antike zwei grundsätzliche Arten der Interferenzen zwischen politischer und medizinisch-anatomischer Sprache feststellen. Zum einen in den politischen oder (staats-)philosophischen Schriften: Hier dienen Körper und Körperlichkeit als theoretische Projektionsfläche vor allem des (organischen) Staatsganzen, das sich aus dem möglichst harmonischen Zusammenspiel einzelner Glieder konstituiert. Zum anderen in der Medizin: Hier dient politische Begrifflichkeit dazu, Hierarchieverhältnisse in anschauliche Worte zu kleiden, oder aber wiederum den funktionierenden Körper mit einem gut konstituierten Gemeinwesen zu vergleichen. Beide Sphären sind in der Antike Entwicklungen unterworfen, die auf der einen Seite im medizinischen Erkenntnisgewinn, auf der anderen Seite im Grad der theoretischen Reflexion verwurzelt sind. Je differenzierter das Körperverständnis, desto feiner die Metaphorik (z. B. die aristotelische Akropolis-Vorstellung); je größer der theoretische Reflexionsgrad, desto vielfältiger und anschaulicher die medizinische Sprache – vom Einfach-Hierarchischen des Corpus Hippocraticum zum Großkönig Galens. Zudem lässt sich eine Steigerung der Nutzungsintensität der Körper-Staat-Metaphorik ausmachen: Während im 5. Jahrhundert v. Chr. punktuell
62 Z. B. Aristot. Pol. I,2 1253a 20–24; III,11 1281b 5–7. 63 Neben der eingangs zitierten Episode bei Livius seien hier stellvertretend die Passagen bei Cicero (Cic. off. III,22) und Seneca (Sen. de ira II,31,7) angeführt. Eine eingehende Untersuchung der Körpermetaphorik in der lateinischen Literatur und ihrer jeweiligen Abhängigkeit zu den griechischen Vorgängern bleibt einer eigenständigen Arbeit vorbehalten. 64 Vgl. hierzu Hall 1983. 65 Gal. usu. part. VIII,3.
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und wenig differenziert auf die jeweils andere Sphäre verwiesen wurde, entwickelt sich eine zunehmend größere Wechselwirkung zwischen den beiden Sprachfeldern. Dennoch muss festgehalten werden, dass die Differenziertheit der Metaphorik gerade in den politisch-philosophischen Schriften zumeist nur bis zu einem gewissen Grad erfolgt; oft genügt Autoren wie Platon ein relativ einfach gegliedertes Körperbild, um Analogien zum Gemeinwesen herzustellen. Die Körper-Staat-Metaphorik gehört damit, ähnlich wie z. B. die Staatsschiff-Metapher,⁶⁶ zum Instrumentarium der antiken Reflexion über Körper und Gesellschaft; sie bleibt, wie ihre späteren gelegentlichen Spielarten bei Livius, Cicero oder Seneca zeigen, bei aller Entwicklung über einen langen Zeitraum verständlich, und dient als Folie für die weitaus häufigeren und systematischeren Körper-Staat-Analogien der Frühen Neuzeit.
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Christian Kaiser
Blut, Samen, nobilitas: Die Physis des Weltmonarchen bei Dante Unter den Kennern der Geschichte des Denkens und der Mentalitäten zweifelt niemand mehr an der herausgehobenen Stellung der politischen Theorie Dantes. Sein politischer Ordnungsentwurf, der die Konzentration aller säkularen Gewalt in der Hand des einen Imperators vorsieht, darf getrost als eine der wirkmächtigsten Fürsprachen der Hegemonie der kaiserlichen Herrschaft gegenüber konkurrierenden Machtansprüchen gelten,¹ seien es solche republikanischer, königlicher oder päpstlicher Provenienz. Mitunter ist man sich aber nicht sicher, welchem Genre sein philosophisches Hauptwerk, die Monarchia, zuzuordnen ist. Einige Forscher empfinden das darin beschriebene Profil des Weltmonarchen und der Bedingungen für dessen Herrschaft als derart hoch gegriffen und unrealistisch, dass sie die Schrift weniger als eine für die praktische Umsetzung gedachte politische Denkschrift, sondern eher als einen utopischen Traum eines poetischen Idealisten lesen möchten. Das würde aber bedeuten, dass es für das von Dante erschriebene Weltkaisertum keine Chance auf Realisierung gäbe, weil ihm keine Person gerecht werden könnte. In dem vorliegenden Beitrag soll gezeigt werden, dass die Monarchia sehr wohl für wirkliche Menschen und als Antwort auf konkrete politische Probleme geschrieben wurde. Dabei wird die innerhalb der ozeangleichen Danteforschung kaum je thematisierte Frage erörtert werden, welche die natürlichen Grundlagen der Weltmonarchie sind, genauer gesagt: wie die Physis des Imperators beschaffen sein muss. Einer der größten Anstöße, die Dante seinen Rezipienten bietet, ist die überaus ambitionierte Stellenbeschreibung, die er für seinen Wunschkaiser formuliert, soll dieser doch als unumschränkter Alleinherrscher nicht weniger als die gesamte Menschheit regieren. Durch die übergeordnete Allgemeinverbindlichkeit der imperialen Gesetze nämlich sollen Zwist, Streit und Krieg unter den konkurrierenden Herrschern neutralisiert werden, damit Friede unter den Menschen, und zwar unter allen Menschen, herrschen kann. Wenn die höchste Herrschaftsgewalt einer einzigen Person zukommt, wird diese darüber hinaus keine weltlichen Güter mehr begehren können und erstreiten wollen, da sie ja alles besitzt. Der solchermaßen einsetzende
1 Seit der rezeptionsgeschichtlichen Studie von Francis Cheneval ist die ältere Forschungsmeinung gründlich widerlegt, wonach Dantes Monarchia in der Zeitspanne vom Spätmittelalter bis zur Frühen Neuzeit nur wenig Einfluss ausgeübt habe. Cheneval weist die vielfältigen Diskurse und facettenreichen Kontexte, in denen Dantes politische Philosophie sowohl direkt als auch mittelbar aufgenommen, verarbeitet und in diesem Zuge regelmäßig auch transformiert worden ist, bis zur offiziellen Verurteilung der Monarchia (die Schrift stand ab 1557 auf dem Index der verbotenen Bücher der Römischen Kirche) und ihrer editio princeps (1559) nach; vgl. Cheneval 1995.
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Generalfrieden ist als Prinzip der ganzen Argumentation Dantes deshalb wichtig, weil nur dann, wenn wirklich Ruhe und Frieden vorliegen, gewährleistet werden kann, dass die Menschheit das ihr eigentümliche Ziel erreicht. Dieses Ziel wiederum, das gleichzeitig der eigentliche Zweck der Menschheit ist, verortet Dante in derjenigen Tätigkeit, zu der nur Menschen fähig sind: im Gebrauch der Vernunft, genauer gesagt in der Aktualisierung, d. h. Verwirklichung der Erkenntnisinhalte, die ihrer Potentialität nach allesamt im möglichen Intellekt (intellectus possibilis) angelegt sind. Dante geht dabei aber davon aus, dass die den Menschen mögliche Erkenntnis niemals von einem allein oder von einzelnen speziell trainierten Wissenden (wie z. B. Universitätsgelehrten) aktualisiert wird, sondern nur in der „civilitas universalis humani generis“ als dem Kollektiv aller Menschen in seiner Gesamtheit ausgeschöpft werden kann.² Hier zeigt er sich seines eigenen innovativen Beitrags zu dieser omnipersonalen Forschergruppe durchaus bewusst, wenn er im Prooemium seines Traktats betont, dass er Wahrheiten enthüllen werde, „die noch keiner gewagt hat.“³ Erst im weltumspannenden Frieden wird es also am besten möglich sein, das Ziel der menschlichen Gattung, nämlich die vollständige Erkenntnis, zu aktualisieren, verteilt auf die spezifischen intellektuellen Leistungen aller ihrer Mitglieder in ihrer ganzen Pluralität an Begabungen und Interessen und – da Dante seine eigene Schrift ja explizit als eine Neuerung darstellt – als eine gemeinsame konsekutive Anstrengung über die Zeiten hinweg. Plausibel hat Ruedi Imbach dafür argumentiert, dass Dante damit zwei zentrale Hauptthesen des Aristoteles, nämlich die Lehrsätze vom Menschen als einem von Natur aus politischen Lebewesen (vgl. Politik I,2) und vom Streben aller Menschen nach Wissen (vgl. Metaphysik I,1) miteinander verknüpft, wodurch er eine grundlegende Veränderung beider Thesen bewirkt: Die Naturnotwendigkeit der menschlichen Gemeinschaft wird durch die Natur der menschlichen Vernunft begründet.⁴ Diese sieht Dante in all ihrer notwendigen personalen Pluralität stets auf das Eine ausgerichtet, eben die Erkenntnis. Und diese Ausrichtung auf ein einziges Ziel hat ihr politisch-soziales Pendant in der Unterordnung unter den einen Weltmonarchen, der der Menschheit als Gesamtgruppe mittels seiner globalen Gesetzgebung und der damit einhergehenden Weltfriedensstiftung zur Realisierung ihres Kollektivzieles verhilft.⁵ Das klingt nach einem äußerst schweren Amt, weswegen Ernst Kantorowicz wohl auch dazu verleitet wurde, in seiner vielbeachteten Studie zu den „zwei
2 Vgl. Mon. I,ii,8; iii,8–9. 3 Im Folgenden wird aus der kritischen Ausgabe von Prue Shaw zitiert (Dante 2009). Vgl. hier Mon. I,i,3: „intemptatas ab aliis ostendere veritates“. 4 Vgl. Imbach 1996, 396–397. 5 Mon. I,v,9: „Si ergo sic se habet in hiis et in singulis que ad unum aliquod ordinantur, verum est quod assummitur supra; nunc constat quod totum humanum genus ordinatur ad unum, ut iam preostensum fuit: ergo unum oportet esse regulans sive regens, et hoc ,Monarcha‘ sive ,Imperator‘ dici debet.“
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Körpern des Königs“ in seinem Dante-Kapitel Zweifel an der Realitätskompatibilität des Entwurfs anzumelden. Der Weltherrscher müsse schließlich in sich die Gerechtigkeit und alle anderen Tugenden aktualisieren und quasi ein Spiegel der politischen Tugenden sein, weshalb sich in ihm Kaiser und Philosoph in einer Person vereinigten. Er müsse sich als vollendeter „Roman philosopher-monarch“ erweisen.⁶ Gemäß Kantorowicz wird damit ein überaus hohes Ideal formuliert, das im Duktus seiner Studie einem „perpetual body politic“ gleichkommt, während hingegen über den body natural des Imperators in der Monarchia nichts ausgesagt würde.⁷ Wahrscheinlich zeichnet diese Ansicht Kantorowiczs zu einem guten Teil dafür verantwortlich, dass die von ihm selbst erwünschte Analyse über Dantes Weltmonarchen bis heute ausgeblieben ist. Seine Einschätzung birgt dadurch, dass die im Fokus stehende Theorie durch interpretativ erzeugte Überhöhung zur Wirkungslosigkeit verurteilt wird, ausreichend Abschreckungspotential, um sich nicht weiter mit dieser Frage zu beschäftigen. Dabei hat Dante durchaus etwas zum natürlichen Körper seines Herrschers zu sagen. Dem Mangel, dass es keine Untersuchung zum body natural des Weltkaisers in der Monarchia gibt, soll hier im Rahmen der DFG-Forschergruppe „Natur in politischen Ordnungsentwürfen“ zumindest in einem ersten tentativen Anlauf abgeholfen werden.
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Die Realität des Weltmonarchen
Bedauerlicherweise hat die erwähnte Rekonstruktion Kantorowiczs keinerlei Entsprechung in Dantes Texten, weder in der Monarchia noch in anderen einschlägigen Schriften. Kein einziges Mal wird der Monarcha als philosophus bezeichnet. Im Gegenteil: Dante ist im Zuge seines literarischen Schaffens sehr darum bemüht, die Einflusssphären des Kaisers und des Philosophen strikt voneinander zu trennen. Der Weltherrscher ist weder Natur- noch Moralphilosoph; er soll nicht den Intellekt, sondern den Willen lenken, und zwar bezogen auf alle Menschen.⁸ Was die Philosophie als richtig und gut erkennt, soll der Kaiser durch seine Gesetze steuern und erreichen helfen, damit die einzelnen Menschen gut werden können, eben weil sie es aus eigener Kraft im Normalfall nicht schaffen. Seine Funktion besteht in der Vereinigung der verschiedenen und verstreuten Willen zu einer Einheit – die „concordia“ –, die die Grundlage für den besten Zustand der menschlichen Gattung als Ganzes ist.⁹ Weil für ihn die
6 Vgl. Kantorowicz 1957, 462, 472–473. Diese Meinung über die Koinzidenz von Kaiser und Philosoph in der Monarchia teilt auch Mancusi-Ungaro 1987, 62. 7 Vgl. Kantorowicz 1957, 473 Fn. 56: „What Dante outlines is not the Monarcha ,body natural,‘ but (so to speak) the perpetual Monarcha ,body politic.‘“ 8 Vgl. Mon. III,x,5: „offitium eius [i. e. Imperatoris] sit humanum genus uni velle et uni nolle tenere subiectum ...“ 9 Vgl. Mon. I,xv,8–9.
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„concordia“ aber eine solche Bewegung mehrerer Willen in eine einheitliche Form bedeutet,¹⁰ bezeichnet Dante den höchsten Regenten als „gleichsam einzigen Beweger“, da er als alleiniger Herrscher durch eine einzige Gesetzgebung quasi als „einzige Bewegung“ die menschliche Gattung als seine ihm untergeordneten „Beweger“ und „Bewegte“ lenkt, ähnlich der Art und Weise wie Gott durch richtiges Philosophieren als der einzige Beweger des Himmels begriffen wird.¹¹ Der Weltmonarch ist nicht selbst die moralische Autorität,¹² sondern derjenige, der die Gerechtigkeit als „executor iustitie“ durchsetzen soll.¹³ Zwar ist in ihm die Gerechtigkeit in ihrer größten Macht bzw. Potentialität vorhanden, aber nicht deswegen, weil er ein ausgezeichneter Philosoph wäre (wie Kantorowicz suggeriert), sondern weil er „das am meisten wollende und mächtigste Subjekt“ für die Gerechtigkeit ist,¹⁴ was ja allerdings erst durch die strukturelle Beschaffenheit des Danteschen Monarchenamtes selbst erzeugt wird: Es gibt schlicht nichts, was der Weltimperator noch begehren können sollte, weil er die uneingeschränkte „iurisdictio“ hat, und das daraus resultierende Fehlen der cupiditas macht es erst möglich, dass unter allen Menschen er am besten Gerechtigkeit walten lassen kann.¹⁵ Der Vorzug wird also quasi aus einem „Amtsvorteil“ heraus generiert. Daneben sorgt er als „curator orbis“ für den bereits erwähnten universalen Frieden,¹⁶ damit die Menschen ihr intellektuelles Potential gemeinsam verwirklichen können, und dafür bekleidet der Imperator das Amt des obersten Richters, der in Streitigkeiten zwischen Herrschern immer das letzte Wort hat und zum Zwecke der Befriedung entscheidet.¹⁷ Diese Charakterisierung des Imperatorenamtes lässt sich bereits einer aufmerksamen Lektüre der Monarchia entnehmen;¹⁸ sie findet darüber hinaus in anderen Werken Dantes
10 Vgl. Mon. I,xv,5: „est enim concordia uniformis motus plurium voluntatum“. 11 Vgl. Mon. I,ix,2: „Et cum celum totum unico motu, scilicet Primi Mobilis, et ab unico motore, qui Deus est, reguletur in omnibus suis partibus, motibus et motoribus, ut phylosophando evidentissime humana ratio deprehendit, si vere sillogizatum est, humanum genus tunc optime se habet, quando ab unico principe tanquam ab unico motore, et unica lege tanquam unico motu, in suis motoribus et motibus reguletur.“ 12 Zur Aufgabenverteilung zwischen dem politischen Führer, der die moralische Freiheit gewährleisten soll, und der moralischen Autorität des Philosophen vgl. auch Took 1997, 143–147. 13 Vgl. Mon. II,x,1. Dante kennzeichnet das Aufgabenprofil des Monarchen an anderer Stelle auch als „legis lator“ und „legis executor“; vgl. Mon. I,xiii,7. 14 Vgl. Mon. I,xi,8: „iustitia potissima est in mundo quando volentissimo et potentissimo subiecto inest; huiusmodi solus Monarcha est: ergo soli Monarche insistens iustitia in mundo potissima est.“ 15 Vgl. Mon. I,xi,11–12: „Remota cupiditate omnino, nichil iustitie restat adversum; ... Sed Monarcha non habet quod possit optare: sua nanque iurisdictio terminatur Occeano solum: ... Ex quo sequitur quod Monarcha sincerissimum inter mortales iustitie possit esse subiectum.“ 16 Vgl. Mon. III,xv,11. 17 Vgl. Mon. I,x,1–5; III,x,10. 18 Zu einer gründlichen Kritik an Kantorowiczs auch in mehreren anderen Hinsichten unbefriedigender Dante-Interpretation, die ihre wortmächtigen Generalisierungen allzu oft auf selektiver und/oder oberflächlicher Lektüre des Danteschen Werkes aufbaut, vgl. Davies 1997.
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ihre Entsprechung, wo die Abgrenzung zur Figur und Funktion des Philosophen z. T. noch deutlicher ausfällt.¹⁹ Für dieses höchste Regierungsamt kommt für Dante trotz der immensen Ansprüche nichtsdestotrotz nur ein realer Mensch in Frage. Zwar muss sich dieser – wie übrigens auch der Papst – an der Idee des „besten Menschen“ („optimus homo“) als Maßstab orientieren,²⁰ aber die Formulierung Dantes „wer auch immer jener sein mag“ („quisquis ille sit“) lässt schon erkennen, dass der Herrscher selbst dieses Ideal nicht erreichen muss und dies auch nicht vorausgesetzt wird. Die Weltmonarchie wird nun unmissverständlich dem römischen Imperator zugesprochen. Darin begriffen sind sowohl die antiken Repräsentanten dieses Amtes – ausdrücklich werden Augustus und Tiberius genannt²¹ – als auch die zeitgenössischen Sukzessoren. Es ist in der Danteforschung gut bekannt, wie sehr sich der Dichter für Heinrich VII. eingesetzt hatte. Dieser 1308 von den Kurfürsten in Frankfurt am Main zum römischen König gewählte Regent aus dem Geschlecht der Luxemburger schürte große politische Hoffnungen in ihm.²² Die Entstehung der Monarchia fällt wohl weitgehend mit dem Romzug Heinrichs zusammen.²³ Es lassen sich demnach durchaus wirkliche Menschen finden, die Dante mit seinem politischen Ordnungsentwurf in Verbindung bringt, und dementsprechend kann man getrost davon ausgehen, dass es dem Autor um Realitätstauglichkeit und praktische Wirkung zu tun ist. Echte Menschen haben aber auch natürliche Körper; folglich muss es auch bei Dante einen body natural des Monarchen geben.
2 Das Blut des Herrschers Wie jeder Mensch wird auch der Weltmonarch zunächst einmal auf natürlichem Wege gezeugt, und bereits zu diesem Zeitpunkt bestimmt sich die individuelle Veranlagung. Es ist für Dante von essentieller Bedeutung, wie die natürliche Disposition des künftigen Herrschers ist. Neben der Struktur des Amtes spielt nämlich die persönliche Begabung
19 Vgl. etwa Conv. IV,vi,18. Dazu hat bereits Étienne Gilson instruktive Bemerkungen vorgelegt (vgl. Gilson 1939, 143–151); vgl. jetzt auch (den Kontext stärker einbeziehend) Kaiser 2013, 80–91. 20 Vgl. Mon. III,xi,7: „Unde dico quod alia est mensura ad quam habent reduci prout sunt homines, et alia prout sunt et Papa et Imperator. Nam, prout sunt homines, habent reduci ad optimum hominem, qui est mensura omnium aliorum, et ydea ut dicam – quisquis ille sit – ad existentem maxime unum in genere suo: ut haberi potest ex ultimis ad Nicomacum.“ 21 Vgl. Mon. I,xvi,1–2; II,xi,5. 22 Vgl. dazu Vasoli 1979, 22–23. Sehr ausführlich auch Davies 1957, 139–194. Die Entstehung der politischen Schriften Dantes im Gleichschritt mit der Romfahrt Heinrichs VII. (ab 1310) wird anschaulich beschrieben bei Santagata 2012, 227–261. 23 Die Datierung der Monarchia ist immer noch nicht geklärt; die begründeten Vermutungen hinsichtlich des Beginns ihrer Abfassung reichen von 1307 (vgl. Vasoli 1979, 23) bis 1311 (vgl. Santagata 2012, 252–253), andere Datierungsversuche insbesondere anhand des dritten und letzten Buches kreisen um die Alternativen 1314 bzw. 1317–1318 bzw. 1320–1321 (vgl. Fenzi 2007, 216–219; Dolcini 2007, 145–150).
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eine entscheidende Rolle. Für das höchste Regierungsamt kommt nur derjenige in Frage, der am besten zum Führen geeignet sein kann („ille qui potest esse optime dispositus ad regendum“).²⁴ Es ist wichtig, das posse hier noch einmal ausdrücklich zu betonen; es handelt sich also um ein vorhandenes Potential, das noch nicht unbedingt aktualisiert sein muss. Im vorliegenden Kontext bedeutet das, dass die uneingeschränkte Gesetzgebungsmacht den Monarchen grundsätzlich frei von cupiditas agieren lassen müsste, wie ja bereits erwähnt wurde. Dass damit noch nicht hundertprozentig gesichert ist, dass er im konkreten Fall tatsächlich nichts mehr begehren wird, verdeutlicht der Gebrauch des posse, denn diese im Stellenprofil des Weltherrschers angelegte Freiheit kann der jeweilige Akteur im Einzelfall ja auch ungenutzt lassen. Dante hängt also nicht an einem überhöhten Ideal, sondern hat etwaige Zielverfehlungen durchaus im Blick. Seine Ansichten über die persönliche Disposition leitet Dante aus Aristoteles’ Politik ab, wo der Unterschied zwischen dem naturgemäß Herrschenden und dem naturgemäß Dienenden mithilfe des Kriteriums der Fähigkeit zum vorausschauenden Denken bestimmt wird, die Dante im Sinne intellektiver Kräftigkeit verallgemeinert:²⁵ Im Zusammenhang mit der Tatsache, dass das menschlich Machbare von der politischen Klugheit und das Herstellbare von der Kunst geregelt werden, die jedoch beide der spekulativen Einsicht zuarbeiteten, seien diejenigen, die über einen stärkeren Intellekt verfügten, von Natur aus zur Herrschaft über die anderen bestimmt.²⁶ Zusätzlich zu den Rahmenbedingungen, die dem Monarchen ein begierdeloses und damit einzig wirklich freies Regieren ermöglichen sollen, benötigt dieser also eine natürliche Führungsqualität, die im Intellekt verortet wird. Dante hat in seinem Schrifttum, vor allem im Convivio und im Purgatorio, einiges über den Intellekt geschrieben, auch darüber, wie dieser entsteht und wie die Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen hinsichtlich ihrer intellektuellen Begabung zustande kommen. Sie liegen in der jeweils verschieden ausgeprägten „Gutheit“ („umana bontade“) begründet, die Dante mit dem persönlichen „Adel“ („nobilitade“) gleichsetzt.²⁷ Mit dem Intellekt ist jedoch der intellectus possibilis gemeint, von dem ja schon eingangs die Rede war. Diesen identifiziert Dante mit der anima rationalis, also der indi-
24 Vgl. Mon. I,xiii,1. 25 Vgl. hier und im Folgenden die einschlägige lateinische Übersetzung durch Wilhelm von Moerbeke; Pol. I,2 1252a31–34 (Aristoteles 1872, 3–4): „quod quidem enim potest mente praevidere, principans natura et dominans natura, quod autem potest haec corpore facere, subiectum et natura servum“. 26 Vgl. Mon. I,iii,10: „Quod dico propter agibilia, que politica prudentia regulantur, et propter factibilia, que regulantur arte: que omnia speculationi ancillantur tanquam optimo ad quod humanum genus Prima Bonitas in esse produxit; ex quo iam innotescit illud Politice: intellectu, scilicet, vigentes aliis naturaliter principari.“ Damit repliziert Dante die zu seiner Zeit dominierende Aristoteles-Kommentierung zum Verhältnis zwischen dem Herrn und dem Sklaven „von Natur“. Die entsprechenden Deutungen der Magister aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts sind übersichtlich zusammengefasst bei Köhler 2007, 50–52. 27 Im Folgenden wird das Convivio in der Version der kritischen Ausgabe von Francesca Brambilla Ageno zitiert (vgl. Dante 1995); vgl. hier Conv. IV,xxi,1: „... [del]la umana bontade secondo che in noi è principio di tutto bene, la quale nobilitade si chiama, ...“
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viduellen vernunftbegabten Seele des Menschen. Somit ist derjenige von Natur aus der geeignete Herrscher, der hinsichtlich des Intellekts stärker ist als die anderen, d. h. besser, d. h. von größerem Adel. Was aber mitunter auch von ansonsten bestens unterrichteten Dantisten geflissentlich übersehen wird: Die edle Seele, d. h. der starke Intellekt, ist ohne die natürliche Basis des gut disponierten Blutes nicht denkbar. Mit der Frage nach der nobilitas in Dante betreten wir nun aber ein heikles Forschungsfeld. Nach weit überwiegender Lehrmeinung liegt nämlich ein veritabler Widerspruch zwischen den Nobilitätskonzepten des Convivio und der Monarchia vor. Das würde bedeuten, dass es sich methodisch verböte, zur Erklärung des einen das andere heranzuziehen oder umgekehrt. Es soll hier jedoch der Versuch unternommen werden zu zeigen, dass die vermeintlichen Widersprüche tatsächlich nicht vorliegen, sondern aus einer allzu flüchtigen Interpretation und Vormeinung der Rezipienten herrühren. Worin liegt das Problem?
2.1 Antica ricchezza ‒ belli costumi / divitie antique ‒ virtus Im vierten Buch des Convivio legt Dante seine eigene Canzone Le dolci rime d’amor ch’i’solia aus. Hauptthema ist hier, wie der Begriff „Adel“ richtig zu verstehen sei. Der Dichter setzt dabei nicht nur seine eigene Ansicht detailliert auseinander, sondern wendet sich gleichzeitig dezidiert gegen die Meinung eines „gewissen Kaisers“: Tale imperò che gentilezza volse,/secondo ’l suo parere,/che fosse antica possession d’avere/ con reggimenti belli.²⁸
An späterer Stelle identifiziert Dante die zitierte gentilezza mit der nobilitade²⁹ und nennt den Urheber der dargelegten Adelskonzeption, nämlich Kaiser Friedrich II.³⁰ Dante bestreitet, dass diese Definition von Adel als „antica ricchezza e belli costumi“ richtig ist. In der Dantistik hat sich mittlerweile der allgemeine Konsens durchgesetzt, dass es sich bei dieser Adelsdefinition eigentlich um aristotelisches Gedankengut handle, denn mit der besagten Definition sei die Passage aus dem vierten Buch der Politik identisch, die Dante auch später in der Monarchia zitiert: Est enim nobilitas virtus et divitie antique, iuxta Phylosophum in Politicis.³¹
28 Conv. IV Canzone, 21–24; deutsche Übers. von Thomas Ricklin (Dante 2004, 3): „Ein gewisser Kaiser wollte von Höflichkeit,/in Folge seiner Meinung,/dass sie alter Besitz von Habe sei/zusammen mit schönen Sitten.“ 29 Vgl. Conv. IV,xiv,8. 30 Conv. IV,iii,6: „Dico dunque: ,Tale imperò‘, cioè tale usò l’officio imperiale: dove è da sapere che Federigo di Soave ... domandato che fosse gentilezza, rispuose ch’era antica ricchezza e belli costumi.“ 31 Mon. II,iii,4. Vgl. Pol. IV,8 1294a21–22 (Aristoteles 1872, 409): „ingenuitas enim est virtus et divitiae antiquae“.
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Weithin ist man also davon überzeugt, dass dieser Satz das Gleiche aussage wie die von Dante bekämpfte Meinung Kaiser Friedrichs II.: Wo dieser den Adel in der „antica ricchezza“ verorte, spreche Aristoteles von „divitie antique“, und die „belli costumi“ seien gleichbedeutend mit der in der Politik genannten „virtus“.³² Die Dantisten sind sich nur nicht einig darüber, wie es kommt, dass der angeblich synonyme Passus einmal kritisiert wird und später als Grundlage der Argumentation des natürlichen Vorrangs des römischen Volkes dient. Anders gesagt: Irritierend wirkt die scheinbare Tatsache, dass der Erbadel im Convivio in Bausch und Bogen verworfen wird, wohingegen ihm in der Monarchia ein prominenter Stellenwert zukommt. Während etliche Forscher der Meinung sind, Dante habe Aristoteles’ Politik zur Zeit der Abfassung des Convivio noch nicht gekannt und erst später von der aristotelischen Provenienz des von ihm geschmähten Adelsverständnisses erfahren,³³ ja sogar selbst durch die verspätete Kenntnisnahme ein differenzierteres Verständnis der realen politischen Situation seiner Zeit entwickelt,³⁴ auf jeden Fall aber unter Aristoteles’ Einfluss eine Neubewertung des Erbadels vorgenommen,³⁵ sehen andere in der Widerlegung über den Umweg der Zuschreibung an Friedrich II. eine bewusste Unterlassung der Nennung,³⁶ wenn nicht sogar eine Korrektur der Position des Stagiri-
32 Die weite Verbreitung und rege Diskussion um den Passus (in der antiqua translatio „nobiles enim esse videntur quibus existunt progenitorum virtus et divicie“) behandeln G. und Ph. Contamine; vgl. Contamine 2003, 327–331. Dass es sich bei der Friedrich II. im Convivio zugeschriebenen Ansicht und bei Aristoteles’ Diktum um die gleiche Definition der Nobilität handle, wird behauptet u. a. von Nardi 1967b, 299; Lo Cascio 1967, 125; Vasoli in: Dante 1988, 545; Imbach in: Dante 1989, 296; Bizzocchi 1991, 202; Falzone 2010, 29; Quaglioni in: Dante 2014b, 1073. Sanguineti attestiert Dante wegen dieses angeblichen „difetto“ gar eine „impedonabile leggerezza“; vgl. Sanguineti 1995, 421–424, 432. 33 So u. a. Consoli 1996, 59; Kay in: Dante 1998, 103; Chiesa/Tabarroni in: Dante 2013, 83. Hinweise auf ältere Forschungsliteratur zu dieser Frage bei Sasso 2002, 11, Fn. 24. Paolo Borsa vermeidet es, explizit von einer vorherigen Ignoranz auf Seiten Dantes zu sprechen, sondern konstatiert lediglich, er habe die im Convivio dem Kaiser Friedrich II. zugeschriebene Meinung später in der Monarchia richtig zugeordnet: „aveva infatti correttamente ascritto la definizione proprio ad Aristotele“; vgl. Borsa 2007, 91. 34 Paolo Chiesa und Andrea Tabarroni wollen bei Dante auf diese Weise eine „maturazione del pensiero“ erkannt haben, indem er sich „un certo realismo“ zu Eigen gemacht habe, der wohl auf „una migliore conoscenza delle posizioni aristoteliche“ zurückzuführen sei; vgl. Chiesa/Tabarroni 2013, lv; ähnlich zuvor auch schon Barilli 1921, 42. 35 Vgl. Santagata 2012, 262–264. 36 So z. B. Zingarelli 1927, 413 Fn. 1; Ricklin in: Dante 2004, lxix. Ascoli spricht von einer „convenient forgetfulness“, die den veränderten strategischen Zielen Dantes hinsichtlich der Wirkung auf ein jeweils unterschiedliches Publikum des Convivio und der Monarchia geschuldet sei; vgl. Ascoli 2008, 286–287. Castelnuovo möchte für die (seiner Ansicht nach) „évolution non linéaire des interprétations dantesques de la ,verace nobilitade‘“ die jeweils verschiedenen, mehrdimensional zu verstehenden Kontexte verantwortlich machen, die sich in den Werken hinsichtlich der Literaturgattung, der Sprache, der Argumentationsweisen, der wechselnden persönlichen Umstände und politischen Rahmenbedingungen während der jeweiligen Abfassung niederschlügen; vgl. Castelnuovo 2008, 143. Die beiden zuletzt genannten Autoren lassen allerdings bei der von ihnen mit Recht geforderten Würdi-
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ten.³⁷ Die radikalste Deutungsrichtung ist von Kantorowicz eingeschlagen worden, der diesem Weg dann auch bis zur letzten Konklusion gefolgt ist: Unbeirrbar führt er die Identitätshypothese zu dem Ende, Dante übernehme in der Monarchia letztendlich die Definition Friedrichs II. (!).³⁸ Es ist nun aber, wenn man die einzelnen Interpretationen überblickt, bezeichnend, dass sie allesamt mit den gegebenen Begriffen bzw. Begriffspaaren umgehen, als sei deren spezifische Bedeutung schon immer klar. Kaum ein Exeget macht sich die Mühe darzulegen, wie Dante selbst die „antica ricchezza“ und „divitie antique“ beschreibt, die doch so selbstverständlich das Gleiche meinen sollen, oder was er unter „belli costumi“ einerseits und „virtus“ andererseits versteht. Der überwiegende Teil der Forschung übt damit regelmäßig eine Gleichsetzung, die ihrer eigenen Interpretationsleistung und der damit einhergehenden Voreingenommenheit offenkundig kaum bewusst ist. Dante jedenfalls erklärt die genannten Begriffe je anders.
a) Virtus und belli costumi Zunächst zum Begriff virtù bzw. virtus: Dieser hat mehrere, voneinander durchaus verschiedene Bedeutungen bei Dante, was allein schon vor zu schnellen Gleichsetzungen warnen sollte;³⁹ weiter unten werden die für vorliegenden Kontext wichtigsten ausführlich zur Sprache kommen (vgl. Abschn. 2.2.). Die „belli costumi“ wiederum sind auch für Dante ethische Tugenden, allerdings begreift er diese nicht als Voraussetzung für nobilitade, sondern vielmehr als deren Konsequenz.⁴⁰ Dante klammert die „belli costumi“ ausdrücklich aus seiner Kritik aus,⁴¹ denn der Hauptkritikpunkt gegen die Meinung Friedrichs II. ist nicht die Verwendung der Tugenden als Definitionselemente an sich, sondern die falsche, nach Dantes Ansicht verdrehte
gung der diversen Kontexte ausgerechnet den naturphilosophischen Zusammenhang, in den Dante selbst seine Aussagen explizit stellt (s. unten), unberücksichtigt. 37 Das ist die Hypothese von K. Ley; vgl. Ley 1994, 167–168; implizit so auch Contamine 2003, 329. Cassell scheint selbst nicht genau zu wissen, welche Absicht genau er Dante unterstellen möchte, wenn er dessen Position im Convivio einerseits Unkenntnis über den angeblichen aristotelischen Ursprung der von ihm widerlegten Meinung vorwirft („his earlier ignorance in having attributed the opinion of nobility-as-birthright to Frederick II“), andererseits aber eine dezidiert anti-aristotelische Grundhaltung dahinter vermutet („his earlier anti-Aristotelian position denying inherited nobility“); vgl. Cassell 2004, 67, 305. 38 Vgl. Kantorowicz 1957, 455, Fn. 14. 39 Dazu ist die Übersicht im entsprechenden Artikel in der Enciclopedia Dantesca hilfreich; vgl. Delhaye/Stabile 1996. Im Zuge seiner Kommentierung des Convivio ist wenigstens Gianfranco Fioravanti eine gewisse Diskrepanz in der Semantik der Termini „virtus“ und „belli costumi“ aufgefallen, da die „virtus“ in der Politik nicht die Bedeutung von individueller Tugend habe; vgl. Dante 2014, 559. 40 Vgl. Conv. IV,xvi,10. 41 Conv. IV,x,1–2.
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Kausalrelation im Verhältnis dieser Tugenden zur Edelkeit. Während der Stauferkaiser nämlich die nobilitas aus den schönen Manieren hervorgehen lässt, sieht der Dichter genau umgekehrt die edle Seele als Anfangsgrund, aus deren Handlungen sich dann die Tugenden ergeben. Der Unterschied liegt darin, dass im ersten Fall irgendjemand ‒ im Falle juristisch gültiger Nobilitierungen der jeweilige Gesetzgeber, im Normalfall eben der Kaiser selbst ‒ den zu Adelnden als würdig genug befindet; hier entscheidet also ein Mensch nach seinem Dafürhalten über den Wert eines anderen Menschen. Nach Dante hingegen spielt die menschliche Meinung keine Rolle, auch diejenige des Imperators nicht, sondern der Adel ist die individuelle Qualität der Seele, die durch die Natur und durch Gottes direktes Wirken entsteht.⁴² Diese Hinweise sollten für sich schon hinreichend verdeutlicht haben, dass es sich bei den beiden Begriffen um zwei verschiedene Konzepte mit jeweils unterschiedlichem Inhalt handelt. Dies gilt selbst dann, wenn die „virtus“ aus dem AristotelesZitat tatsächlich als persönliche Tugend aufgefasst wird. Im Folgenden soll aber die viel wahrscheinlichere Lesart begründet und behandelt werden, wonach es bei dem Satz aus der Politik um den Kontext der „virtus generis“ geht, also um einen transpersonalen virtus-Begriff, dem Dante mit seinen Ausführungen zu Aeneas in der Monarchia bedeutend näher zu stehen scheint.
b) Antica ricchezza vs. divitie antique Dante markiert im Convivio eine klare Differenz zwischen materiellen Besitzgütern und Nobilität. In einer langen Erörterung streicht er die Niederträchtigkeit („viltade“) der Schätze („divizie“) heraus. Lukan zitierend bezeichnet er die „ricchezze“ als schlechtesten Teil aller Dinge,⁴³ sie seien deshalb so verwerflich, weil sie unvollkommen seien: Niemals böten sie Ruhe und Frieden, denn anstatt zu beruhigen, werde durch ihren Besitz das Verlangen nach immer mehr davon weiter gesteigert.⁴⁴ Dante benennt mehrfach, was er unter diesen verfehlten Objekten der Begierde versteht: Gold, Perlen, Ländereien, Silberstücke.⁴⁵ Nachdem herausgestellt wurde, dass die divizie bzw. ricchezza nichts mit Adel zu tun haben, weil dieser einen Status der Vollkommenheit bedeutet, der durch ma-
42 Vgl. dazu ausführlich Kaiser 2013, 79–91. 43 Conv. IV,xi,3: „E ciò testimonia Lucano quando dice, a quelle parlando: ,Sanza contenzione periro le leggi; e voi, ricchezze, vilissima parte delle cose, moveste battaglia‘.“ 44 Conv. IV,xi,2–3: „E però, se le divizie sono imperfette, manifesto è che siano vili. E che elle siano imperfette, brievemente pruova lo testo quando dice: ,chè, quantunque collette,/non posson quïetar, ma dan più cura‘: in che non solamente la loro imperfezione è manifesta, ma la loro condizione essere imperfettissima, e però essere quelle vilissime.“ 45 Vgl. Conv. IV,xi,4–5, xiii,3.
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terielle Güter niemals zu erreichen ist,⁴⁶ wechselt die Argumentation unvermittelt zum zweiten Aspekt, nämlich dem Alter des Reichtums. Es fällt auf, dass Dante von diesem Zeitpunkt an nicht mehr von den gerade eben emphatisch geschmähten Besitzgegenständen spricht. Stattdessen thematisiert er ausschließlich die Dimension der Zeit. Ihm ist es darum zu tun, alle Vorstellungen zu widerlegen, wonach Adel vom Verlauf der Zeit abhänge.⁴⁷ Die von ihm ad absurdum geführten Theoreme scheinen davon auszugehen, dass sich Nobilität perpetuiere, und zwar automatisch durch Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie mit einer langen und ehrwürdigen Tradition. Diejenigen täuschten sich, „die, weil sie zu einem berühmten und alten Geschlecht gehören und weil sie von hervorragenden Vätern abstammen, glauben, edel zu sein und dabei keinerlei Edelkeit in sich haben.“⁴⁸ Die Abstammung aus „altem Reichtum“ reicht also nicht aus: So dass weder jene der Uberti in Florenz noch jene der Visconti in Mailand sagen sollten: ,Weil ich von diesem Geschlecht bin, bin ich edel‘; denn der göttliche Samen fällt nicht in das Geschlecht, d. h. in den Stammbaum, sondern er fällt in die einzelne Person, und der Stammbaum macht … nicht einzelne Personen edel, sondern die einzelnen Personen machen den Stammbaum edel.⁴⁹
Der „göttliche Samen“, den Dante hier anschaulich zur Sprache bringt, kehrt im Convivio häufig wieder; der Ausdruck steht für die nobilitade.⁵⁰ Nur das Individuum kann als edel bzw. adlig betrachtet werden, denn Nobilität ist gemäß Dantes Verständnis eine Eigenschaft der Seele, und ein Familienverband hat nun einmal keine eigene Seele und kann somit auch nicht an sich edel sein. Lediglich dadurch, dass ein Geschlecht eine ausreichend große Anzahl an edlen Menschen hervorbringt, kann man es auf eine gewisse Weise als edel bezeichnen.⁵¹ All diese Ausführungen haben nicht wenige Forscher dazu verleitet zu behaupten, Dante lehne im Convivio den Familienadel kategorisch ab und lasse nur den persönlichen Adel, den Geistes- bzw. Tugendadel gelten. Das wäre aber viel zu kurz gegriffen. Allein schon die Formulierung, wonach die einzelnen Familienmitglieder ihren Stamm adeln (und nicht umgekehrt), sollte stutzig machen: Wofür diese Vorstellung, wenn alle Nobilität ohnehin individuell sein soll? Welchen Sinn hätte ein Konzept des geadelten Stammes dann noch? Und
46 Vgl. Conv. IV,xiii,2. 47 Vgl. Conv. IV,xiv,3. 48 Conv. IV,xxix,1: „... coloro che, per essere di famose e antiche generazioni e per essere discesi di padri eccellenti, credono essere nobili, nobilitade non avendo in loro.“ (Deutsche Übersetzung von Thomas Ricklin.) 49 Conv. IV,xx,5: „Sì che non dica quelli delli Uberti di Fiorenza, nè quelli delli Visconti da Melano: ,Perch’io sono di cotale schiatta, io sono nobile‘; ché ’l divino seme non cade in ischiatta, cioè in istirpe, ma cade nelle singulari persone; e … la stirpe non fa le singulari persone nobili, ma le singulari persone fanno nobile la stirpe.“ (Deutsche Übersetzung von Thomas Ricklin.) 50 Vgl. z. B. Conv. IV,xvi,10. 51 Vgl. Conv. IV,xxix,8–11.
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wie kann es sein, dass man an Einzelnen erkennt, ob eine Familie edel ist? Diese Fragen deuten bereits an, dass für Dante die biologische Herkunft sehr wohl eine gewisse Rolle spielt, und zwar gerade weil der Adel im persönlichen Intellekt verortet wird. Das hängt damit zusammen, wie die anima bzw. der intellectus possibilis entsteht, also ‒ um Dantes Bild von eben wieder aufzugreifen ‒ wie das „Säen“ des „divino seme“ vonstattengeht. Das wird gleich noch zu genauer zu besprechen sein. Zuvor noch zu dem Begriff, der der antica ricchezza angeblich entspreche, nämlich divitie antique. Erstere wird von Dante wie gesehen entweder ‒ unter Hintansetzung der Apposition „antica“ ‒ mit materiellem Besitz gleichgesetzt oder aber in seiner weiteren Bedeutung als Erbadel identifiziert, wobei hier zwei Aspekte zentral sind: die Zeit bzw. Dauer der Familientradition sowie ein wie selbstverständlich angenommener Automatismus der Vererbung des Adels. Beidem widerspricht Dante, wenn es um die Bestimmung der nobilitade geht. Doch das heißt noch lange nicht, dass Edelkeit für ihn überhaupt nichts mit Vererbung zu tun hätte. Der Dichter übernimmt in der Monarchia den Satz des Aristoteles aus dem vierten Buch der Politik, der lapidar verkündet, dass Adel „virtus et divitie antique“ sei. Dem stellt Dante eine Stelle bei Juvenal bei, wonach die virtus der einzige Adel sei („nobilitas animi sola est atque unica virtus“).⁵² Damit werden zwei Sentenzen für „zwei Nobilitäten“ angegeben: die eine (nämlich Juvenals) für den eigenen Adel, die andere (nämlich die des Aristoteles) für den Adel der Vorfahren.⁵³ Zuvor hatte er den zugrundeliegenden Syllogismus dargelegt, der dem ganzen Adelskapitel überhaupt Argumentationsstruktur und Wahrheitsfähigkeit verleiht bzw. verleihen soll und für die gezielte Wortwahl im weiteren Verlauf des Traktats verantwortlich ist: Obersatz: Jeder Vorrang ist eine Ehrung („omnis prelatio sit honor“). Untersatz: Die Ehrung ist ein Lohn der virtus („honor sit premium virtutis“). Konklusion: Jeder Vorrang ist ein Lohn der virtus („omnis prelatio virtutis est premium“).
Der Überleitungssatz zu den Sentenzen von Aristoteles und Juvenal bildet die Feststellung, dass in der hier gemeinten virtus die eigene, aber auch diejenige der Ahnen („virtutis videlicet proprie vel maiorum“) miteinbegriffen ist.⁵⁴ Es geht in diesem Ge-
52 Wie immer geht der Dichter sehr kreativ mit seinen Sujets, seinen Quellen und seiner Wortwahl um: Es ist den Forschern schon vor längerer Zeit aufgefallen, dass Dante dem vermeintlichen JuvenalZitat eine eigene Interpretation unterschiebt, indem er nach „nobilitas“ ein in der Vorlage (Sat. VIII,20) nicht aufzufindendes „animi“ einfügt; vgl. Pézard 1969, 75–76. 53 Mon. II,iii,4: „Est enim nobilitas virtus et divitie antique, iuxta Phylosophum in Politicis; et iuxta Iuvenalem: nobilitas animi sola est atque unica virtus. Que due sententie ad duas nobilitates dantur: propriam scilicet et maiorum.“ 54 Mon. II,iii,3: „Assumpta ratione probatur: nam, cum honor sit premium virtutis et omnis prelatio sit honor, omnis prelatio virtutis est premium. Sed constat quod merito virtutis nobilitantur homines, virtutis videlicet proprie vel maiorum.“
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dankengang also letztendlich immer nur um einen Begriff, eben die virtus, die sowohl personal als auch transpersonal zu verstehen ist. Dantes Erklärung zeigt deutlich, dass er das personale Konzept durch Juvenal vertreten lässt, während Aristoteles für die transpersonale Dimension zuständig ist, so dass der Ausdruck „virtus et divitie antique“ im Gesamten auf die Vorfahren bezogen wird und man also umformulieren könnte: „virtus antique et divitie antique“. Das entspricht auch einer alternativen und präziseren Wendung in Aristoteles’ Politik, wonach der Adel die virtus der Familie ist.⁵⁵ Der Erbadel (nobilitas hereditaria), wie Dante ihn paradigmatisch für Aeneas darlegt, besteht nun darin, dass dieser als „Vater des römischen Volkes“ (Mon. II,iii,6) sowohl durch seine Ahnen als auch durch seine Gattinnen geadelt worden ist, weil sie aus allen – nach zeitgenössischer Vorstellung – drei Erdteilen stammten.⁵⁶ Bemerkenswerterweise steht hier nur der geographische Aspekt der Herkunft im Vordergrund: Die Vorfahren des Aeneas kamen aus Asien (Assaracus und andere, phrygische Herrscher), Europa (Dardanus) und Afrika (Elektra, Atlas), wie auch seine coniuges aus Asien (Creusa), Afrika (Dido) und Europa (Lavinia) stammen (Mon. II,iii,10–17). Dass es sich bei diesen Personen jeweils um Herrscher bzw. Abkömmlinge von Königshäusern handelt, wird nicht hervorgehoben, sondern nur beiläufig erwähnt, um die territoriale Herkunft zu bezeichnen. Es geht Dante hier eben nicht um die Aspekte, aufgrund derer er im Convivio die „antica ricchezza“ verworfen hatte: Besitztümer spielen nicht die geringste Rolle und werden bei der Erörterung von Aeneas’ Adel auch gar nicht thematisiert, und auch der zeitliche Gesichtspunkt hat keinen Platz in der Diskussion. Leicht hätte Dante argumentieren können, wie alt und ehrwürdig doch die Geschlechter der Ahnen und der Gattinnen seien, schließlich lassen sich deren Genealogien durchgehend bis zu den antiken Göttern zurückverfolgen. Doch erstens meint Dante, wo er vom „avus antiquissimus“ Dardanus und der „avia vetustissima“ Elektra spricht, schlicht die in seinen Quellen Vergil, Titus Livius und Orosius jeweils am frühesten greifbare Person in der Ahnenreihe des Aeneas, also das relative Alter dieser bestimmten Vorfahren in Bezug auf diesen bestimmten Mann ‒ hier adelt also nicht das Alter des Dardanus oder der Elektra, zumal die anderen, ebenfalls genannten Vorfahren überhaupt nicht als alt, ja mitunter sogar wie die Phrygier als „jüngere Ahnen“ („propinquioribus avis“) gekennzeichnet werden. Und zweitens wird keine einzige tugendhafte Tat dieses illustren Reigens der Vorfahren und Gattinnen benannt. Weder die Ahnen noch die Frauen des Aeneas weisen das Attribut „nobilis“ auf, kein Wort wird über ihre etwaige persönliche virtus verloren. Ihre markante Eigenschaft in diesem Diskurs ist, dass sie aus den verschiedenen Erdteilen der Welt stammen ‒ das einzige Subjekt,
55 Pol. III,13 1283a37 (Aristoteles 1872, 203): „ingenuitas enim est virtus gentis“. 56 Mon. II,iii,10: „Quantum vero ad hereditariam, quelibet pars tripartiti orbis tam avis quam coniugibus illum nobilitasse invenitur.“
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das ausdrücklich als „nobilissima“ auftritt, ist bezeichnenderweise „Ytalia“ als edelste Region Europas.⁵⁷ Der Verfasser der Monarchia widerspricht seiner ablehnenden Haltung aus dem Convivio also keineswegs, denn der Erbadel des Aeneas wird durch seine Verbindung zu Personen konstituiert, die die im Convivio geschmähten Attribute des materiellen Reichtums und der automatischen, sukzessiven Übertragung des Adels der Vorfahren gerade nicht aufweisen. Was hätte im Sinne der „antica ricchezza“ nähergelegen, als den Adel der heroischen Persönlichkeiten hervorzuheben, um dann zu schließen, dass die Tugend der Vorfahren auf ihren Nachkommen Aeneas (wie auch auf alle übrigen nachfolgenden Familienmitglieder) via schlichter Vererbung übergegangen sei? Stattdessen fasst Dante die „virtus et divitie antique“ als Zusammenfluss physiologischer und geographischer, also genuin natürlicher Elemente auf, wie der Passus verdeutlicht, mit dem er seine Konklusion präsentiert: Und wer wäre nach den vorhergehenden Ausführungen zum Beweis des Untersatzes [d. h. „Das römische Volk war am adligsten“; Mon. II,iii,2] nicht ausreichend überzeugt, dass der Vater des römischen Volkes und per consequens das Volk selbst am adligsten unter dem Himmel war? Oder wem wird die göttliche Vorherbestimmung bei diesem zweifachen Zusammenfließen des Blutes („in illo duplici concursu sanguinis“) aus jeglichem Teil der Welt in einem Mann verborgen bleiben?⁵⁸
Aeneas’ und des römischen Volkes Adel beruht nicht auf Zugehörigkeit zu einem oder mehreren bestimmten Herrschergeschlechtern, die sich auf diese oder jene durch ihre besondere Tugendhaftigkeit ausgezeichneten Ahnen zurückführen lassen und somit für den ererbbaren Adel der Nachkommen gesorgt hätten, sondern auf seiner persönlichen virtus propria (dazu gleich weiter unten) und darauf, dass das Blut aller Erdteile „in ihm“ zusammenfließt. Dieses Blut steht also für die „virtus maiorum“ bzw. „virtus et divitie antique“, nicht irgendwelcher Besitz und nicht die Familienehre.⁵⁹ Und diese virtus ist essentiell, damit der oben angeführte Syllogismus über den Vorrang, der gleichzusetzen ist mit Adel, aufgeht, denn der Mittelbegriff ist dort nun einmal die virtus und sonst nichts. Die virtus der Ahnen ist ausschließlich im Blut begründet. Aber wie soll man das verstehen? Und wie ist der Ausspruch zu begreifen, dass das zweifache Zusammentreten „in einem Manne“ stattgefunden habe? Wie bei unzähligen weiteren schwierigen Stellen im Werk des Dichters lohnt es sich, einen Blick auf Passagen in seinen anderen Schriften zu werfen, um so even-
57 Mon. II,iii,17: „Que ultima uxor [i. e. Lavinia] de Ytalia fuit, Europe regione nobilissima.“ 58 Mon. II,iii,17: „Hiis itaque ad evidentiam subassumpte prenotatis, cui non satis persuasum est romani populi patrem, et per consequens ipsum populum, nobilissimum fuisse sub celo? Aut quem in illo duplici concursu sanguinis a qualibet mundi parte in unum virum predestinatio divina latebit?“ 59 Der Artikel von C. Colicchi in der Enciclopedia Dantesca weist zwar immerhin auf unterschiedliche Bedeutungen des Wortes „divizia“ im Convivio und in der Commedia hin, wo es im Sinne von „Fülle“ („abbondanza“) gebraucht wird; es hätte der Aussagekraft seines Beitrags aber sicherlich nicht geschadet, wenn er auch die noch einmal anders begriffenen „divitie“ der Monarchia mit berücksichtigt hätte; vgl. Colicchi 1996, 529.
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tuell zu einem angemessenen Verständnis der in Frage stehenden Aussage zu gelangen.
2.2
Die virtus des Blutes der Ahnen
Die Commedia ist durchtränkt von Blut; es fließt und tropft in allen ihren Teilen. Wie Thomas Ricklin gezeigt hat, fungiert es bereits im Inferno als „Medium der Vergangenheit“ bzw. „der Geschichte“, als etwas, „das den Körper überdauert“.⁶⁰ An zahlreichen Stellen der Commedia beweist es diese Funktion, wobei sich die Verwendungsweisen auf den ersten Blick nicht immer ähneln. Für den vorliegenden Zusammenhang genügt es, die Passage im XXV. Canto des Purgatorio genauer in Augenschein zu nehmen, in der Dante den römischen Dichter Statius über die Zeugung und Entstehung des Menschen referieren lässt: Sangue perfetto, che mai non si beve dall’assetate vene, e si rimane quasi alimento che di mensa leve, prende nel core a tutte membra umane virtute informativa, come quello ch’a farsi quelle per le vene vane. Ancor digesto, scene ov’è più bello tacer che dire; e quindi poscia geme sovr’altrui sangue in natural vasello. Ivi s’accoglie l’uno e l’altro inseme, l’un disposto a patire, e l’altro a fare per lo perfetto loco onde si preme; e, giunto lui, comincia ad operare coagulando prima, e poi avviva ciò che per sua matera fe’ constare. Anima fatta la virtute attiva qual d’una pianta, in tanto differente, che questa è in via e quella è già a riva, tanto ovra poi, che già si move e sente, come fungo marino; e indi imprende ad organar le posse ond’è semente. Or si spiega, figliuolo, or si distende la virtù ch’è dal cor del generante, dove natura a tutte membra intende. ... Apri alla verità che viene il petto; e sappi che, sì tosto come al feto l’articular del cerebro è perfetto,
60 Vgl. Ricklin 2005, 98, 101.
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lo motor primo a lui si volge lieto sovra tant’arte di natura, e spira spirito novo, di vertù repleto, che ciò che trova attivo quivi, tira in sua sustanzia, e fassi un’alma sola, che vive e sente e sé in sé rigira.⁶¹
Dante fasst hier zusammen, was alles geschehen muss, bevor Gott, der erste Beweger („lo motor primo“), dem Menschlein seine individuelle Seele, den „spirito novo“, einhaucht. Dieser vorgängige Prozess ist nichts anderes als die biologische Zeugung und die daran anschließende Entwicklung des Embryos. Dafür erforderlich ist zunächst der Samen des Mannes: Was hier als „vollkommenes Blut“ („sangue perfetto“) bezeichnet wird, ist derjenige Teil des Blutes, der nicht für die körperlichen Vorgänge seines Besitzers zur Verfügung steht, sondern dafür reserviert ist, im Herzen des prospektiven Vaters eine virtus anzunehmen, nämlich die virtus informativa. Dieses gehaltvolle Blut wird nun durch einen Digestionsvorgang (im Verlauf der mehrstufigen Verwandlung des Blutes ist es der vierte) zum Sperma, dem aber weiterhin die gerade angenommene virtus inhärent ist, und wechselt dabei seine
61 Purg. XXV, 37–75. Die Commedia wird hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe von Sapegno (Dante 1957). Herangezogen wird die deutsche Übersetzung von Hartmut Köhler (in: Dante 2011): „Der vollkommenste Teil des Blutes, der von den durstigen Adern nicht getrunken wird, sondern aufgespart wie Speise vom Tisch, nimmt im Herzen die Kraft an, sämtliche Glieder des Menschen auszubilden, wie das übrige Blut, das in die Adern geht, um dort die Glieder zu bilden. Noch einmal umgewandelt, fließt es an die Stelle, die wir besser übergehen als nennen; von wo aus es dann im natürlichen Gefäß des Gegenparts auf dessen Blut tropft. Dort vereint sich das eine mit dem anderen, dieses bereit, aufzunehmen, jenes, zu wirken, dank dem vollkommenen Ort, aus dem es hervorquillt; und einmal zu ihm gelangt, beginnt es sein Werk, indem es zuerst ein Gerinnsel aus beiden schafft, dann aber das belebt, was es selbst als seinen Stoff gerinnen lässt. Die aktive Kraft wird belebt, wie bei einer Pflanze, mit dem Unterschied, dass sie noch unterwegs, die Pflanze aber schon am Ziel ist, und wirkt dann so, dass sie bald schon Bewegung und Empfindung kennt, wie Meeresschwämme [die Textvorlage für die Übersetzung hat „spungo“ statt „fungo“]; darauf unternimmt sie es, die Fähigkeiten, durch die sie selbst entstanden ist, in Organe umzusetzen. Nun entfaltet sich, mein Sohn, nun verbreitet sich die Kraft, die aus dem Herzen des Erzeugers stammt, wo die Natur für alle Glieder sorgt. ... Tue nun deine Brust auf für die Wahrheit, die als nächste kommt, und wisse, dass, sobald beim Fötus die Artikulation des Gehirns abgeschlossen ist, der Erste Beweger sich ihm zuwendet, in Freude über so viel Können der Natur, und ihm neuen Geist voller Wirkkraft einhaucht, der das, was er dort an Tätigem vorfindet, in seine Substanz aufnimmt, und es entsteht eine einzige Seele, die lebt und fühlt und sich auf sich selbst zurückwendet.“
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Farbe von rot zu weiß.⁶² Wenn nun das Sperma auf das andere Blut („altrui sangue“, das ist der sanguis menstruus)⁶³ der Frau in deren Gebärmutter („natural vasello“) tropft, vereinigt sich das vollkommene Blut/Sperma des Vaters mit dem Blut der Mutter und die Ausbildung der Organe des Fötus nimmt seinen Lauf. Dieser natürliche Prozess der Bildung der vegetativen und der sensitiven Seele geschieht strukturiert, und zwar gemäß den biologischen Anlagen, die in der über das väterliche Sperma übermittelten virtus informativa von dem einen Menschen auf den anderen, also vom Vater zum Kind, übergegangen sind (als aktiver Teil bzw. Form) und in der materiellen Grundlage des mütterlichen Blutes bzw. der Gebärmutter (als passiver Teil) wächst und gedeiht. Eine entsprechende Darstellung der Entstehung neuen menschlichen Lebens hatte Dante bereits im Convivio ausgearbeitet: E però dico che quando l’umano seme cade nel suo recettaculo, cioè nella matrice, esso porta seco la vertù dell’anima generativa e la vertù del cielo e la vertù delli elementi legati, cioè la complessione; e matura e dispone la materia alla vertù formativa, la quale diede l’anima del generante; e la vertù formativa prepara li organi alla vertù celestiale, che produce della potenza del seme l’anima in vita. La quale, incontanente produtta, riceve dalla vertù del motore del cielo lo intelletto possibile; lo quale potenzialmente in sé adduce tutte le forme universali, secondo che sono nel suo produttore, e tanto meno quanto più dilungato dalla prima Intelligenza è.⁶⁴
In dieser Beschreibung findet sich der gleiche Vorgang wie im XXV. Canto des Purgatorio, jedoch unterschiedlich gewichtet: Während dort der Weg des vollkommenen Blutes über das Herz und die anschließende Verwandlung bis zur Vereinigung mit dem Blut im weiblichen natürlichen Becken im Vordergrund steht, setzt das Referat im Convivio zu einem späteren Zeitpunkt des gleichen Prozesses ein, nämlich beim „Einfall“ des Samens in die Gebärmutter. Dass hier der Samen nicht explizit als Blut oder dessen Derivat bezeichnet wird, spielt keine Rolle, da es sich nichtsdestotrotz um eben dieses handelt. Gemeinsam ist beiden Darstellungen, dass der Samen die virtus des Erzeugers mit sich führt, die im Convivio als „vertù formativa“ bzw. „vertù dell’anima generativa“ benannt wird und für die Anordnung bzw. Formierung der Materie im mütterlichen Leib zuständig ist.⁶⁵ Beide Male ist es Gott, der die
62 Vgl. dazu die Erläuterungen bei Niccoli 1996, 4. 63 Vgl. Niccoli 1996, 4. 64 Conv. IV,xxi,4–5: „Und deshalb sage ich, daß wenn der Samen des Menschen in das ihn Empfangende fällt, d. h. in die Gebärmutter, er die Tugend der erzeugenden Seele mit sich führt und die Tugend des Himmels und die Tugend der verbundenen Elemente, d. h. der Zusammensetzung; und er reift und ordnet die Materie auf die formende Tugend hin, die die Seele des Erzeugers gegeben hat; und die formende Tugend bereitet die Organe für die himmlische Tugend, die aus der Potenz des Samens die lebende Seele erzeugt. Diese empfängt, kaum geschaffen, von der Tugend des Bewegers des Himmels den möglichen Intellekt; dieser führt der Potenz nach alle allgemeinen Formen mit sich, dem entsprechend, wie sie in seinem Schöpfer sind, und desto weniger, je weiter er von der ersten Intelligenz entfernt ist.“ (Deutsche Übersetzung von Thomas Ricklin.) 65 Vgl. hierzu die Zusammenschau der beiden Passagen bei Delhaye/Stabile 1996, 1053.
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Vernunftseele („lo intelletto possibile“) einhaucht, sobald die Ausbildung der vegetativ-sensitiven Seele abgeschlossen ist. Doch genauer als im Purgatorio gibt Dante zusätzlich noch die Bedingungen dafür an, dass dieser mögliche Intellekt, der von außen kommt, die bestmöglichen Entfaltungsmöglichkeiten hat: E però che la complessione del seme puote essere migliore e men buona, e la disposizione del seminante puote essere migliore e men buona, e la disposizione del Cielo a questo effetto puote essere buona, migliore e ottima (la quali si varia per le constellazioni, che continuamente si transmutano); incontra che dell’umano seme e di queste vertudi più pura [e men pura] anima si produce; e secondo la sua puritade, discende in essa la vertude intellettuale possibile che detta è, e come detto è. E s’elli aviene che, per la puritade dell’anima ricevente, la intellettuale vertude sia bene astratta e assoluta da ogni ombra corporea, la divina bontade in lei multiplica sì come in cosa sufficiente a ricevere quella, e quindi sì multiplica nell’anima di questa intelligenza [dotata la divina influenza] secondo che ricevere puote. E questo è quel seme di felicitade, del quale al presente si parla.⁶⁶
Es ist also von großer Bedeutung, wie der Samen konkret beschaffen ist. In dem vorliegenden Abschnitt aus dem Convivio trägt das Sperma drei „aktive Prinzipien“⁶⁷ mit sich: die virtus des männlichen Erzeugers, den Einfluss der Himmelssphären und die materielle Zusammensetzung, d. h. die jeweilige Komplexion der Elemente.⁶⁸ Und je nachdem, wie gut beschaffen diese Konstituenten jeweils sind, gestaltet sich auch das Wirkpotential des intellectus possibilis: Wenn alles in optimaler Qualität zusammenspielt, kann sich der mögliche Intellekt, der von Gott in den bereits ausgebildeten Fötus eingehaucht wird, in bestmöglicher Weise entfalten, wenn allerdings irgend eine der genannten natürlichen Zusammensetzungen oder Einflüsse minderwertig oder nicht sehr gut ist, vermindert sich die Multiplikationsfähigkeit für den intelletto possibile, d. h. der Intellekt kann die universellen Formen nicht bestmöglich oder sogar schlecht aktualisieren (sprich: erkennen).⁶⁹ Daraus folgt, dass dann ‒ um in der Terminologie der Monarchia zu sprechen ‒ der Intellekt weniger stark ist. Die Menschen mit
66 Conv. IV,xxi,7–8: „Und weil die Zusammensetzung des Samens besser und weniger gut sein kann und weil die Veranlagung des Samengebers besser und weniger gut sein kann und weil die Veranlagung des Himmels, die entsprechend der Konstellation, die sich beständig verändert, variiert, hinsichtlich dieser Wirkung gut, besser oder bestens sein kann, geschieht es, daß aus dem Samen des Menschen und aus diesen Tugenden eine reine oder weniger reine Seele entsteht; und ihrer Reinheit entsprechend steigt in sie die besagte potentielle intellektuelle Tugend nieder, wie es beschrieben worden ist. Und so geschieht es ihr, daß die aufgrund der Reinheit der empfangenden Seele gänzlich von jedem körperlichen Schatten freie und unbehinderte intellektuelle Tugend von der göttlichen Güte in ihr vervielfacht wird wie in einem Ding, das dem Empfang dieser genügt, und folglich vervielfacht sich in der Seele diese Intelligenz dem entsprechend, was [die Seele] empfangen kann. Und dies ist jener Samen des Glücks, von dem gegenwärtig gesprochen wird.“ (Deutsche Übersetzung von Thomas Ricklin.) 67 So werden sie treffend bezeichnet von Falzone 2010, 51. 68 Vgl. Nardi 1985, 209–210. 69 Vgl. dazu Consoli/Stabile 1996, 148.
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dem starken Intellekt sind aber wie gesehen von Natur aus die Herrscher über die anderen (vgl. o., Anm. 26), im Convivio sind sie die Träger des wahren Adels. Für Dante ist also ein in allen Teilen optimal disponierter Körper („corpo d’ogni parte disposto perfettamente“) ein unabdingbares Erfordernis für die bestmögliche Wirkmacht des persönlichen Intellekts, die nur wenigen beschieden ist und die gleichzusetzen ist mit der „nobilitade“ bzw. mit dem „Samen der Glückseligkeit“ („seme di felicitade“).⁷⁰ Diese Disposition wird wie gesagt von den dem Samen inhärenten virtutes angestoßen, die bei der weiteren Herausbildung der materiellen Grundlage für den bald darauf von Gott eingegebenen Intellekt als Strukturgeber wirken. Und wenn sich der Intellekt auf dieser Basis tatsächlich entfalten kann, liegt es am Individuum, dieses Potential zu nutzen und tatsächlich tugendhaft zu sein, also die ethischen und intellektuellen Tugenden als „Früchte“ des „göttlichen Samens“, der die noble Seele ist, durch eigene Leistung hervorzubringen.⁷¹ Mit dieser Lehre bewerkstelligt Dante die Integration verschiedener Vorstellungen von nobilitas, denn einerseits bestätigt er damit diejenigen, die (wie im Juvenal-Zitat ausgewiesen) einzig den persönlichen Seelen- bzw. Tugendadel anerkennen wollen (weil nur die individuelle Vernunftseele edel ist), andererseits bekräftigt er aber auch, dass es einen vererbbaren, durch den körperlichen Samen vermittelten physischen Grundstock, d. h. die Veranlagung, dafür braucht, dass die edle Seele den für die Entwicklung ihres Potentials erforderlichen Raum erhält. Diese Physis aber wird von der Natur, nicht unmittelbar von Gott gegeben. Im vorliegenden Zusammenhang ist die väterliche virtus (in)formativa von eminenter Bedeutung, und das nicht nur, weil sie ihren essentiellen Rang im Zeugungsgeschehen zweifellos sowohl im Convivio als auch im Purgatorio einnimmt, während die anderen virtutes im Sperma wie gesehen nur im früheren Werk ausdrücklich erwähnt werden.⁷² Damit liegt ein intertextuelles Element vor, das Dante offenkundig besonders wichtig war, so dass es naheliegt, es auch auf seine Anwendbarkeit für die Monarchia zu prüfen. Von besonderem Interesse ist sie aber auch und vor allem deshalb, weil sie von allen genannten virtutes, die bei der Schaffung des Menschen eine Rolle spielen (könnten), die einzige ist, die dezidiert von einem menschlichen Vorfahren stammt, namentlich vom Vater. Wenn also überhaupt eine Vorstellung davon, wie die maiores eine virtus vererben können, aus dem in der Monarchia
70 Conv. IV,xx,9: „Ultimamente conchiude ... che Dio questa metta ne l’anima che ben siede, che ,ad aliquanti‘, cioè a quelli che hanno intelletto, che sono pochi, è manifesto che nobilitade umana non sia altro che ,seme di felicitade‘, ,messo da Dio nell’anima ben posta‘, cioè lo cui corpo è d’ogni parte disposto perfettamente.“ 71 Conv. IV,xx,9: „Ché se le vertudi sono frutto di nobilitade, e felicitade è dolcezza [per quelle] comparata, manifesto è essa nobilitade essere semente di felicitade, come detto è.“ 72 Für eine ausführliche Erörterung des im Konzept des Convivio bedeutenden Einflusses der Himmel bzw. der Sterne und seine theoretische Begründung in der arabischen Auslegungstradition zu den biologischen Schriften des Aristoteles vgl. de Libera 1991, 268–298.
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doch recht enigmatisch dargebotenen Zusammenfluss des Blutes abgeleitet werden kann, dann ist das die durch den Zeugungsvorgang übermittelte, den Körper des Fötus formierende virtus (in)formativa, die ja ursprünglich aus dem Herzen des Vaters kommt. Wenn diese Interpretation richtig ist, verknüpft Dante das Diktum aus Aristoteles’ Politik mit aristotelischer Biologie und Seelentheorie. Dieser Gedanke erscheint in keiner Weise abwegig, wenn man bedenkt, wie sehr sich die Schilderungen im Convivio und im Purgatorio auf der Höhe des zeitgenössischen medizinisch-physiologischen Diskurses bewegen.⁷³ Sie korrespondieren nachweislich in höchstem Maße mit den Auslegungen der arabischen Kommentatoren, insbesondere Avicennas und Averroes’, sowie Alberts des Großen und der zeitgenössischen Ärzte zu den physiologischen und seelentheoretischen Schriften des Aristoteles. Darauf weist ja auch Dante selbst hin, wenn er erklärt, die Darstellung seiner Zeugungslehre folge der Meinung des Aristoteles und der Peripatetiker.⁷⁴ In De generatione animalium, wo Aristoteles (in der lateinischen Übersetzung durch Wilhelm von Moerbeke) über die Beschaffenheit und die Funktion des Samens handelt, begegnen uns die gleichen theoretischen Versatzstücke, die Dante in seinen Schriften verwendet: Das Sperma ist gemäß dem Philosophen ein durch die letzte Stufe der Digestion des Blutes entstandener Überfluss, der eine große virtus angenommen hat. Was die Eltern bereits an sich selbst als Form (z. B. der Hand, des Gesichts oder des ganzen Lebewesens) verwirklicht haben, trägt das Sperma als virtus in sich, und so geschieht es nachvollziehbarerweise, dass die Kinder den Eltern ähnlich werden.⁷⁵ Der männliche Part bei der Zeugung ist der des bewegenden, aktiven und machenden, während das Weibchen bzw. die Frau als passiver Gegenpart für den männlichen Samen die „erste Materie“ aus ihrem Blut durch die constitutio menstruorum bereitstellt.⁷⁶ Die Natur benutzt das Sperma ähnlich wie ein
73 Insbesondere die maßstabbildenden Aufsätze von Bruno Nardi weisen die Quellen und Bezugspunkte extensiv aus; vgl. Nardi 1979; Nardi 1985. Vgl. darüber hinaus auch die instruktiven Anmerkungen bei Falzone 2010, 47–55. 74 Con. IV,xxi,3: „procedere si conviene ... secondo l’oppinione d’Aristotile e delli Peripatetici.“ 75 De gen. an. I,19 726b9–726b19 (Aristoteles 1966, 29–30): „manifestum quia sanguinei utique erit superfluitas alimenti sperma, eius quod in partes distributi ultimi. Et propter hoc magnam habet virtutem ‒ et enim puri et sani sanguinis segregatio solutivum ‒ et similia fieri progenita parentibus rationabile: simile enim accedens ad partes ei quod relictum est. Itaque sperma est quod manus aut quod faciei aut animalis totius indeterminate manus aut facies aut totum animal: et quale illorum unumquodque actu, tale sperma virtute, aut secundum molem propriam, aut habet quandam virtutem in se ipso ...“ Eine übersichtliche Zusammenfassung der aristotelischen Theorie über Blut und Sperma bietet Jori 2005. 76 De gen. an. I,20 729a21–729a32 (Aristoteles 1966, 35–36): „Quod quidem igitur femella ad generationem genituram quidem non confert, confert autem aliquid, et hoc est menstruorum constitutio et proportionale in exsanguibus ... Si igitur masculus est ut movens et faciens, femella autem, secundum quod femella, ut passivum, ad masculi semen femella conferet non genituram sed materiam. Quod et videtur accidere: prima enim materia est menstruorum natura.“
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Künstler sein Werkzeug, um in seiner spezifischen Bewegung (motus) die Materie zu formen⁷⁷; Albert versteht die virtus formativa dementsprechend gleichsam als forma artificis.⁷⁸ Nun kann der Samen jedoch, weil er letzten Endes (nur) ein Ausfluss der verwandelten Nahrung ist, den Intellekt nicht hervorbringen; dieser kommt von außen und ist allein göttlich, weil nur er unkörperlich agiert. Dennoch ist das Sperma als „anderer Körper“ göttlicher als die Elemente, und seine Natur bzw. seine Beschaffenheit ist so unterschiedlich, wie sich auch die Ehrenhaftigkeit der Seele und die Nützlichkeit voneinander unterscheiden. Es trägt nämlich die besagte virtus in sich, die auch „Wärme“ („calidus“) genannt wird. Damit ist aber nicht das Feuer gemeint, sondern der im Sperma und dessen schaumiger Konsistenz enthaltene spiritus, dessen Beschaffenheit sich wiederum ausrichtet nach der Ordnung der Sterne.⁷⁹ Albert legt diese Bemerkung so aus, dass die vegetative und die sensitive Seele zwar aus der Materie geschaffen werden, dabei aber die virtus des Schaffenden unkörperlich ist, sei dies nun der Intellekt, der die Sterne bewegt, oder sei es die virtus formativa im Samen der beseelten Körper.⁸⁰ Als unkörperliche Kraft stammt sie von der Seele des Vaters und formt wie gesagt die von der Mutter gegebene Materie.⁸¹ Weil aber die Form edler als die Materie ist, ist der Mann aufgrund seiner virtus for-
77 De gen. an. I,22 730b19–730b23 (Aristoteles 1966, 39): „Similiter autem et natura que in masculo sperma emittentium utitur spermate ut organo, et habente aut motus aut actus, sicut in hiis que secundum artem fiunt organa moventur: in illis enim aliqualiter motus artis.“ 78 De anima I,ii,13 (Albertus Magnus 1968, 53): „Sic etiam dicimus, quod omne semen ex quo fit generatio, sive sit in matrice alicuius animalis sive non sit, habet in se virtutem formativam. Quae absque dubio virtus est in semine non ex elementis, sed sicut artificis forma est operans super ligna, ut fiat artificiatum.“ Vgl. De intellectu II,2 (Albertus Magnus 1890, 505): „operans enim in semine est anima, non ut est endelechia corporis, sed ut artifex qui est virtus formativa ...“ 79 De gen. an. II,3 736b26–737a2 (Aristoteles 1966, 54): „sperma enim superfluum permutati alimenti est. Relinquitur autem intellectum solum deforis advenire et divinum esse solum: nichil enim ipsius operationi communicat corporalis operatio. Omnis quidem igitur anime virtus altero corpore visa est participare, et diviniore vocatis elementis: ut autem differunt honorabilitate anime et vtilitate invicem, sic et talis differt natura; omnium quidem enim in spermate inexistit quod facit gonima esse spermata, vocatum calidum. Hoc autem non ignis neque talis virtus est, sed interceptus in spermate et in spumoso spiritus aliquis et in spiritu natura, proportionalis existens astrorum ordinationi.“ 80 De anima I,ii,13 (Albertus Magnus 1968, 54): „Anima autem vegetabilis et sensibilis producuntur ex materia et radicem habent in materia, sed virtute agentis incorporei, sive hoc sit intellectus movens stellas sive sit virtus formativa in semine animatorum corporum.“ 81 Vgl. dazu das ganze XVI. Buch der Quaestiones super de animalibus, in dem sich Albert ausgiebig mit dem Samen und seiner virtus beschäftigt; vgl. Albertus Magnus 1955, 273–289. Die gleiche Lehre wird u. a. in einer der wichtigsten Quellen für Alberts physikalische Schriften, dem im Mittelalter weit verbreiteten Liber de natura rerum des Dominikaners Thomas von Cantimpré aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, vertreten und auch dort auf Aristoteles und Galen zurückgeführt; vgl. I,71 (Thomas Cantimpratensis 1973, 72). Thomas geht an derselben Stelle auch auf die im Sperma existierende virtus ein.
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mativa im Samen hinsichtlich der Zeugung edler („mas nobilior est in generatione“) als die Frau, die die „impressio“ des männlichen Spermas lediglich empfängt.⁸² In vorliegendem Zusammenhang ist es von großem Interesse, dass wiederum Albert der Große bereits in seinem Kommentar zu Aristoteles’ Politik den Bezug zu dessen Zeugungslehre hergestellt hatte, und zwar im Kontext der Differenzierung zwischen natürlich Herrschenden und natürlich Dienenden im ersten Buch, aus dem wie gesehen auch Dante ein zentrales Argument für sein Modell der sozialen Rollenverteilung gewonnen hatte (vgl. o., Anm. 25 und 26). Aristoteles referiert eine Meinung anderer, wonach wie aus dem Menschen ein Mensch und aus dem Tier ein Tier, so auch ein guter Mensch aus einem Guten entstehe, wenn es nach dem Willen der Natur ginge – was sie aber nicht immer schaffe ‒, so dass also Sklaven und Freie sowie Adlige und Unadlige ausschließlich nach ihrer virtus und ihrer Schlechtigkeit (malitia) bestimmt würden.⁸³ Um ausgehend von dieser Passage zu erklären, wie sich die „Gutheit“ auf natürlichem Wege von den Eltern auf die Kinder vererbt, hatte Albert auf die virtus formativa des väterlichen Samens hingewiesen, die als Repräsentantin des „Willens der Natur“ stets die Erzeugung eines dem Vater Ähnlichen (nämlich einen männlichen Nachkommen) anstrebe, wobei dies aber unter widrigen Umständen nicht gelinge (und dann ein „verunglückter Mann“, also ein Mädchen entstehe).⁸⁴ Von allen denkbaren Bedeutungen des Wortes virtus ist also auch hier die im Samen liegende Formkraft offenkundig die naheliegendste Option, wenn es darum geht, die natürliche Weitergabe positiv konnotierter Charakteristika von den Eltern an die Kinder verständlich zu machen.
82 De animalibus XVI,i,3 (Albertus Magnus 1920, 1059): „In omnibus autem physicis nobilius semper est separatum ab ignobiliori quando perfecta sunt: ... Causa autem separationis est quod mas nobilior est in generatione: eo quod sua virtus est propinqua formae factivae et operativae et femina est propinqua materiae per id quod decisum ex ipsa fit et recipit impressionem spermatis viri.“ Alberts einschlägige Theorien über die Adelshierarchie der natürlichen Dinge gemäß ihrer Nähe bzw. Ferne zum ersten Beweger werden übersichtlich zusammengefasst und diskutiert bei Stürner 1975, 77–89; besonders interessant ist hier das Kriterium der virtus formativa, ebd., 84–85. 83 Pol. I,6 1255a39–1255b3 (Aristoteles 1872, 24): „cum autem hoc dicant, nihil aliud quam virtus et malitia determinant servum et liberum et nobiles et ignobiles. dignificant enim, quemadmodum ex homine hominem et ex bestiis fieri bestiam, sic et ex bonis bonum: natura autem vult quidem hoc facere multotiens, non tamen potest.“ 84 In polit. I,4,h (Albertus Magnus 1891, 35): „Natura autem vult quidem hoc facere, id est, ex bonis bonos, multoties tamen non potest: et hujus rationem reddit in libro de Animalibus: ,Quia licet semen patris, in quo est formativa, semper intendit facere masculum ad similitudinem generantis, tamen quia occasionem patitur semen in virtute alterantis sive alterationis, aliquando fit foemina: propter quod foemina mas occasionatus dicitur.‘ Ita natus ex bonis, occasiones malas nutriturus suscipiens, aliquando erit malus: et tunc natura a parentibus habita non potest eum bonum facere.“ Zur Antwort gelehrter Frauen auf das „mas occasionatus“-Konzept in der Renaissance vgl. den Beitrag von Annika Willer in vorliegendem Sammelband.
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Dante geht mit seiner auf das zusammenfließende Blut bauenden Auslegung der aristotelischen „virtus et divitie antique“ allerdings über das hinaus, was die vorhergehenden Kommentatoren der Politik dazu zu sagen hatten. Wie Marco Toste materialreich gezeigt hat, waren schon die Artisten und Theologen etwa der Pariser Universität mitunter durchaus geneigt, den Passus im Sinne des Geburtsadels zu interpretieren und dem persönlichen Tugendadel als gültige Alternative beizustellen.⁸⁵ Besonderes Augenmerk ist hier auf Petrus de Alvernia zu legen, der den rudimentären Politik-Kommentar des Thomas von Aquin, der gar nicht bis zu der besagten, von Dante zitierten Stelle angelangt war, fortgeführt hat.⁸⁶ Petrus erklärt die „virtus generis“ als „inclinatio ad virtutem descendens a parentibus in filios, et in parentes ab aliis prioribus, et sic secundum quamdam antiquitatem.“⁸⁷ Der Pariser Artist möchte die „virtus des Stammes bzw. der Familie“ demnach als „Neigung zur Tugend“ verstanden wissen. Diese „inclinatio“, die dem Kind von den Eltern vererbt wird ‒ und zwar über die Generationen hinweg, weshalb dies „sozusagen von Alters her“ geschehe ‒, würde dann durch das Individuum mittels der Tugendhaftigkeit realisiert. Vor dem Hintergrund, dass der Erbadel alle materiellen Dispositionen betrifft, die sich zu den Dispositionen des Willens und des Intellekts (also der Fakultäten, die für die Realisierung der moralischen bzw. intellektuellen Tugenden zuständig sind) neigen,⁸⁸ wäre die ererbte potentielle „virtus generis“ demzufolge als „inclinatio“ die Grundlage für die persönlich zu verwirklichende virtus. Besieht man die Lösung, die Petrus de Alvernia für den zweiten Teil der Definition, nämlich die „divitiae antiquae“, vorlegt, tendiert die Deutung noch drängender in Richtung Familienadel:⁸⁹ Für ihn ist es zwar einleuchtend, dass auch Arme und Mittellose die besagte „inclinatio ad virtutem“ von den Eltern vererbt bekommen können, weshalb Reichtum per se nicht zur Begründung der nobilitas heranzuziehen sein kann. Allerdings ist nach gut aristotelischem Denken ein gewisser Wohlstand notwendig, um alle Tugenden vollkommen auszuüben, z. B. die Freigebigkeit. So folgt, dass der alte Reichtum
85 Vgl. Toste 2005, 274–290. 86 Petrus de Alvernia ergänzte den von Thomas von Aquin begonnenen Politik-Kommentar ab dem Beginn des dritten Buches bis einschließlich Buch acht. Zu diesem Scriptum super librum Politicorum und zu Petrus’ eigenständigen Questiones supra libros Politicorum vgl. Flüeler 1992, 86–131. 87 Vgl. In pol. expos. IV, lectio vii (no. 612). Der Text wird zitiert aus der Edition von Spiazzi in: Thomas Aquinas 1966. 88 In pol. expos. III, lectio xi (no. 452): „Attingit autem ad omnes dispositiones materiales quae inclinant ad dispositiones voluntatis et intellectus“. 89 Vgl. In pol. expos. III, lectio xi (no. 452): „De hoc autem quod dicit quod ingenuitas est virtus, intelligendum quod virtus dupliciter dicitur: uno modo secundum actum perfectum: et sic nobilitas [ed. mobilitas] non est virtus, sed in ordine ad ipsam dicitur: alio modo dicitur virtus inchoatio quaedam et dispositio sive inclinatio ad virtutem perfectam. Isto modo dicitur virtus nobilitas, si proveniat ex parentibus et illi ex aliis, et sic secundum quamdam antiquitatem; si autem proveniat ex quacumque causa, facit liberum.“
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zwar nicht konstitutiv für die nobilitas ist, gleichwohl aber die Bedingung dafür, die Tugendhaftigkeit zu realisieren, so dass man ‒ nur auf diese Weise ‒ die beiden zusammendenken kann.⁹⁰ Die inhaltliche Nähe des Adelskonzepts Dantes, insbesondere hinsichtlich des Erbadels, zum Politik-Kommentar von Petrus de Alvernia hat Busnelli und Vandelli veranlasst, eine grundsätzliche Übereinstimmung zwischen den beiden Konzeptionen zu versichern.⁹¹ Doch scheinen sie dabei die nicht unbeträchtlichen Differenzen zu übersehen: Petrus’ „virtus generis“ ist solange keine aktualisierte, sondern nur eine potentielle virtus ‒ eben nur eine „inclinatio“, keine echte Tugend ‒ bis die Reichtümer der Eltern und deren Vorfahren es dem adligen Menschen erlauben, die mitunter durchaus kostspielige Tugendhaftigkeit auszuleben. Virtus ist und bleibt in Petrus’ Verständnis einzig die Tugend der Nikomachischen Ethik und hat wenig bis nichts mit physikalischen Vorgängen zu tun; die Vorfahren stellen im günstigsten Fall die Mittel zur Kostendeckung bereit. Dante hingegen verzichtet nicht nur im Convivio, sondern auch in ausdrücklichem Bezug auf die Aristoteles-Stelle in der Monarchia darauf, den Adel irgendwie durch materielle Besitztümer zu fundieren. „Virtus et divitie antique“ ist für ihn wie gesehen einzig und allein im Zusammenfluss des Blutes zu finden. Diese virtus kann sinnvollerweise nur die Formkraft im Samen sein, den die männlichen maiores von Generation zu Generation auf den sanguis menstruus der weiblichen Ahnen tropfen lassen und der im besten Fall die vegetative und sensitive Seele des Einzelnen so gut auszubilden hilft, dass die Vernunftseele als göttlicher Samen den optimalen Grundstock besitzt, um die moralischen und intellektuellen Tugenden als Früchte auszubilden. Dante bedient sich als Basis für die Interpretation des Erbadels also nicht der moral-, sondern der naturphilosophischen Theorie des Aristoteles, weil Vererbung eine natürliche Sache sein muss. Daher scheint es angemessen, die anfangs erwähnte und für valide befundene These Imbachs von der Verknüpfung und damit einhergehenden Alteration zentraler aristotelischer Theoreme um die physikalisch-biologische Dimension zu erweitern: Die Naturnotwendigkeit der menschlichen Gemeinschaft wird bei Dante durch die Natur der menschlichen Vernunft bestimmt, deren Möglichkeitsspektrum wiederum in der menschlichen Physis begründet liegt. Die physiologisch beschreibbaren Unterschiede zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft sind die Basis für die Ausdifferenzierung der sozialen Rollen von Herrschern und Beherrschten.
90 In pol. expos. IV, lectio vii (no. 612): „Similiter nobilitas est divitiae antiquae: non quod divitiae sint de ratione nobilitatis: possibile enim est quod in pauperibus sit inclinatio ad virtutem orta ex parentibus, et secundum quamdam antiquitatem: sed pro tanto dicitur nobilitas divitiae antiquae, quia sunt necessariae ad virtutem.“ 91 So in einem Anhang zu ihrer Edition des Convivio. Für sie ist die Kongruenz dermaßen einleuchtend, dass sie Dante unterstellen, er spreche selbst von einer „buona inclinazione alla virtù, ossia la nobiltà“; vgl. Dante 1964, 373–374.
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Eneas pater und konkurrierende Vaterschaftsansprüche
Nach der hier vorgelegten Hypothese bleibt Dante auch in der Monarchia dem in seinen anderen Schriften dargelegten Konzept einer „nobilitas naturalis“ ‒ wie sie von Bartolus von Sassoferrato und Coluccio Salutati bezeichnet worden ist⁹² und wie dies auch der anonyme Verfasser der ersten italienischen Übersetzung der Monarchia gesehen hat⁹³ ‒ treu. Nach Dantes Ansicht ‒ und damit bezieht er sich nach eigener Aussage erneut auf Aristoteles’ Politik ‒ gibt es eine natürliche, angeborene Veranlagung zum Herrschen, die sich nicht nur auf Einzelne beschränken muss, sondern sich auch auf ganze Völker beziehen kann.⁹⁴ Für ihn ist das römische Volk von der Natur zur Herrschaft über die gesamte Menschheit bestimmt.⁹⁵ Seine Vorstellungen lassen sich nun, nachdem die Rolle des Blutes im Zusammenhang mit der „nobilitas naturalis“ genauer beleuchtet wurde, sowohl im argumentativen als auch im historischen Kontext besser nachvollziehen. Das Leitthema des gesamten zweiten Buches der Monarchia ist ja die Frage, ob das römische Imperium als Herrschaft über den Erdkreis rechtmäßig war bzw. ist. Dante versteht darunter aber nicht menschliches, sondern göttliches Recht bzw. Naturrecht.⁹⁶ Und was immer durch göttlichen Willen oder durch Natur geschieht, wird durch Zeichen („per efficacissima signa“; „ex manifestis signis“) erkannt.⁹⁷ Das bedeutet, dass man von den Effekten auf die Ursache schließen muss ‒ das ist die wissenschaftliche Methode der Metaphysik und der Physik, also der Wissenschaften vom Göttlichen und vom Natürlichen,⁹⁸ wie Dante an mehreren Stellen in seinem Schrifttum wiederholt ausführt.⁹⁹ Auf diese Weise gelangt man zur Erkenntnis der
92 Die Stellen (Bartolus’ Kommentar zum Codex Iustinianus, tit. De dignitatibus, sowie Salutatis Brief an Domenico Bandini) werden zitiert und diskutiert bei Kaiser 2013, 91–93. 93 Ediert in: Shaw 1970, 156–157: „Le quali due sentenzie a due nobilitadi sono date, cioè alla propia, cioè alla naturale, e alla maggiore.“ 94 Mon. II,vi,7: „non solum singulares homines, quinetiam populi, apti nati sunt ad principari, quidam alii ad subici atque ministrare, ut Phylosophus astruit in hiis que De politicis.“ Die Referenzstelle ist Pol. I,5 1254b16–1255a2. 95 Mon. II,vi,4: „Romanus populus ad imperandum ordinatus fuit a natura.“ 96 Vgl. Mon. II,ii,6: „quod Deus in hominum sotietate vult, illud pro vero atque sincero iure habendum sit.“; II,vi,1: „Et illud quod natura ordinavit, de iure servatur.“ 97 Vgl. Mon. II,ii,7. Auch bei der Erörterung des Adels des Aeneas geht Dante ausdrücklich nach dieser Methode, der durch ein Vergilzitat Aus- und Nachdruck verliehen wird, vor: „summa sequar vestigia rerum“ (Aen. I 342); vgl. Mon. II,iii,7. 98 Vgl. dazu die luziden Beobachtungen bei Maierù 2004, 127–149, insbesondere 146–147. 99 Vgl. etwa Conv. IV,x,6: „chè la diffinizione della nobilitade più degnamente si faccia dalli effetti che da’ principii, con ciò sia cosa che essa paia avere ragione di principio, che non si può notificare per cose prime, ma per posteriori.“ Vgl. auch seine Questio de situ et forma aque et terre XX,61.
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persönlichen nobilitade ebenso wie der nobilitas der Römer, die beide ‒ wie jede Edelkeit ‒ auf das Zusammenwirken von Natur und Gott beruht. Aeneas ist das exemplum sowohl für den individuellen als auch für den Volksadel. Dass Aeneas den persönlichen Adel der Seele besaß, wird aus den „Früchten“, d. h. seinen Tugenden ersichtlich, die er in höchstem Maße unter Beweis gestellt hatte. Nach dem von Dante wiedergegebenen Zeugnis Vergils (Aen. I,544–545) war niemand gerechter („iustior“) als er, und keiner übertraf ihn hinsichtlich seiner Frömmigkeit („pietate“) oder seiner Kampfkraft („bello et armis“),¹⁰⁰ womit er mit der Gerechtigkeit und Tapferkeit genau die Herrschertugenden ausbildet, die auch vom Weltmonarchen erwartet werden müssen. Den Vorstellungen des Convivio entsprechend sind diese ethischen Tugenden die sichtbaren Zeichen des Seelenadels, die Früchte des göttlichen Samens der noblen Seele. Es gelang Aeneas also, die in ihm selbst angelegten Möglichkeiten zu verwirklichen. Nach den vorangegangenen Überlegungen zu den Voraussetzungen ist jetzt klar, dass für diese Edelkeit zuvor die virtus, die zunächst den Körper und die sensitive Seele geformt hatte, in hervorragender Weise gewirkt haben musste, damit die erwiesenermaßen exzellente Vernunftseele des Aeneas ihr Potential ausschöpfen konnte. Damit ist die Verbindung zum ererbbaren Adel geknüpft, denn nach dieser Logik muss das Sperma von Aeneas’ Vater Anchises von sehr guter Beschaffenheit gewesen sein. Dabei spielt es keine Rolle, wie tugendhaft dieser Vater, von dessen Herzen die Formkraft auf ihn übergegangen war, tatsächlich war, denn die Aktualisierung des möglichen Intellekts ist ja jeweils Sache des Einzelnen. Der persönliche Adel des Anchises, der ja eben nicht übertragbar ist, ist in diesem Zusammenhang völlig unbedeutend ‒ Dante erwähnt an dieser Stelle nicht einmal seinen Namen. Für die Vererbung ist nur der Aspekt der virtus, die die zugrundeliegende Materie optimal formt, um die größtmögliche Entfaltung des Intellekts zu gewährleisten, entscheidend. Das ist also der erste Fluss des Blutes, mittels dessen Aeneas der ererbbare Adel zufloss („nobilitas hereditario iure in ipsum confluxit“),¹⁰¹ nämlich von den männlichen Ahnen aus allen drei Erdteilen: Assaracus aus Asien, Dardanus aus Europa und dessen Großvater Atlas aus Afrika.¹⁰² Kein Wort findet sich wie gesagt über deren individuelle Tugendhaftigkeit; die virtus maiorum kann demnach sinnvollerweise nur als virtus formativa zur Ausbildung der vegetativen und sensitiven Seele des Aeneas geflossen sein, wodurch der von außen einhauchte intellectus possibilis in ihm offenkundig ausgezeichnete Vervielfältigungsmöglichkeiten vorgefunden hatte. Dieses Verständnis davon, wie ein Volk oder ein Geschlecht geadelt werden kann, liegt übrigens auch im Convivio vor. Die Dantisten interpretieren die bereits
100 Vgl. Mon. II,iii,8. 101 Vgl. Mon. II,iii,7. 102 Vgl. Mon. II, iii,10–13.
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oben angeführte Stelle (vgl. Anm. 49), wonach der Einzelne den Stamm adelt und nicht umgekehrt, regelmäßig zu einseitig, wenn sie daraus die Konsequenz ziehen, es sei nur der persönliche Adel anzuerkennen. Gleichwohl ist nämlich zu konstatieren, dass Dante damit explizit ausspricht: Der Stamm, d. h. die Blutlinie wird geadelt. Vor dem Hintergrund des ausgebreiteten Nobilitätskonzepts ist dies leicht verständlich, weil der Einzelne durch seine tugendhaften Leistungen unter Beweis stellt, dass er per göttlichem Intellekt etwas realisieren konnte, was zuvor durch die virtus des väterlichen Samens angelegt und vorbereitet worden war. In diesem Sinne gilt auch in der Monarchia: Das römische Volk als Ganzes – nicht automatisch jedes einzelne Mitglied – ist „nobilissimum“, weil sein „Vater“ Aeneas – neben einigen anderen Römern mehr, die an dieser Stelle nicht erwähnt werden, sondern in den weiteren Kapiteln in anderen argumentativen Kontexten gewürdigt werden – den Stamm geadelt hat. Nun war der trojanische Held durchaus bestrebt, selbst auch reproduktiv zu wirken und seine virtus ‒ gemäß der oben dargelegten physiologischen Terminologie ‒ impressiones in die Materie der Frauen bewirken zu lassen. Das Blut, das zuvor über seine (vor-)väterlichen Ahnen aus allen Erdteilen in ihn geflossen war, verströmte er nun wieder (in Gestalt des Spermas als Derivat des Blutes) in die hohen Frauen aus allen Erdteilen: Creusa aus Asien, Dido aus Afrika und Lavinia aus Europa. Dante betreibt mit diesem „duplex concursus sanguinis“, dem Hinein- und dem Hinausfließen „in unum virum“ genau die reductio ad unum, die er während des ganzen Traktats auf den Weltmonarchen hinordnet, nun also im Zeichen des Blutes. Es wurde bereits gesagt, dass die Natur mittels des Spermas im aristotelischbiologischen Verständnis als Beweger der empfangenden Materie betrachtet wurde. Wenn Aeneas derjenige ist, der mittels seiner virtus diese Bewegung in alle Teile der Welt bringt, fungiert er als der Proto-Monarch, der „unicus motor“ (vgl. oben, Anm. 11). Aeneas hat seine biologische Vaterschaft durch seine Partnerinnen, die zusammen alle Teile der Welt repräsentieren, auf den Erdkreis ausgedehnt. Er hat seinen Samen und mit diesem die inhärente Formkraft auf optimale Weise ausgesät, und zwar auf den sanguis menstruus der ihn empfangenden Frauen, d. h. in die materia. Die virtus des väterlichen Samens und der Reichtum der mütterlichen Materie – in dieser Weise interpretiert Dante nach der hier zum ersten Mal vorgeschlagenen Lesart die aristotelischen Definitionsbestandteile für Adel, „virtus et divitie antique“, wenn er sich ausschließlich auf zweifach fließendes Blut und dessen Diversität bezüglich seiner geographischen Herkunft kapriziert. Diese in der Dantistik bisher übersehene Interpretation wird bestärkt, wenn man Dantes Umgang mit seinen Quellen genauer in Augenschein nimmt. Die daraus entnommenen Informationen modifiziert er nämlich, manchmal mehr, manchmal weniger behutsam, und macht sie so seinem Gesamtnarrativ gefügig. Drei der wichtigsten Gesichtspunkte seien kurz angesprochen: a) Für die biologistische Interpretation der virtus maiorum ist es entscheidend, dass diese von den männlichen Ahnen auf Aeneas kommt. Das ist im Fall der
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b)
c)
afrikanischen Linie aber problematisch, weil sich diese eigentlich über eine Frau begründet. Die von Dante zitierte Passage Vergils (Aen. VIII 134–137) benennt Dardanus, den Gründer Trojas, als Enkel des Atlas, doch die Verwandtschaft zu ihm besteht über seine Mutter Elektra.¹⁰³ Bei der Ausgestaltung seines Arguments jedoch, dass das Blut aus allen Erdteilen in Aeneas versammelt ist, verzichtet der Dichter auf die Erwähnung Elektras. Stattdessen ist ihm nur wichtig, dass Atlas tatsächlich aus Afrika stammt – wie der dort zu verortende Berg gleichen Namens, von dem Orosius berichtet, beweise. In dieser Rekonstruktion der afrikanischen Blutlinie werden also, damit ein männlicher Vorfahre aus diesem Erdteil nachgewiesen werden kann, Elektra und deren Sohn Dardanus invisibilisiert, der ja seltsamerweise zugleich für den europäischen Blutstrom verantwortlich zeichnet, da er laut Vergil (Aen. III 165–167) aus Oenotrien bzw. Italien stammt.¹⁰⁴ Dante verschweigt die mythische göttliche Abstammung des Aeneas. Nach seiner Darstellung ist der „pater romani populi“ ein richtiger Mensch von ebenso menschlicher Herkunft. Bei Vergil (z. B. Aen. I 617–618) hingegen war die Göttin Venus die Mutter des Helden, gezeugt mit dem Nachfahren des Dardanus, Anchises. Doch weder die göttliche Mutter noch sein Vater haben hier ihren passenden Platz; die Herkunft wird vielmehr durch die männlichen Ahnen aus aller Welt bestimmt, wobei Atlas kein sagenhafter Riese, sondern wortgetreu nach Vergil lediglich „der Größte“ („maximus“) ist. Auch sonst wird die Verbindung zu den heidnischen Göttern von Dante wohl mit Bedacht verschwiegen, worauf Edoardo Fumagalli aufmerksam gemacht hat. Die einzige Stelle in der Aeneis, in der der Heros für seine Gerechtigkeit ausgezeichnet wird, ist die von Dante herangezogene Passage (vgl. oben, Anm. 100), ansonsten wird er bei Vergil überhäufig als exemplum vollendeter Gottgefälligkeit und Gottesfurcht (pietas) präsentiert. Dante hingegen lässt diesen Aspekt deutlich in den Hintergrund treten, blendet den antiken Götterkosmos aus und macht Aeneas in seinem Schrifttum stattdessen wiederholt zum Repräsentanten höchster Gerechtigkeit (iustitia).¹⁰⁵ Durch das Kappen der Bindung an die Götter wird Aeneas zum schlichten Menschen, und auch seine Nachkommen sind Menschen, wie er hervorgegangen aus Samen und Blut. Für die hier vorgelegte Lesart, wonach Dante die „virtus et divitie antique“ ausschließlich physiologisch interpretiert, ist es essentiell, dass die Frauen des Aeneas seine virtus formativa empfangen und diese so in die ganze Welt getragen wird. Das Problem hierbei ist wieder Afrika, denn dessen Repräsentantin
103 Vgl. Mon. II, iii,11. 104 Vgl. Mon. II, iii,12–13. 105 Vgl. Fumagalli 2012, 20–21.
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Dido, die Königin von Karthago, mag zwar vielleicht den Koitus mit dem trojanischen Helden vollzogen haben, jedoch blieb dies ohne reproduktive Folgen. Nachdem Aeneas sie auf göttliches Geheiß verlassen hatte, stürzte sich Dido in den Freitod. Sie blieb dabei aber kinderlos – sowohl aus ihrer ersten Ehe als auch aus der Verbindung mit Aeneas waren keine Nachkommen erstanden – und hatte auch sonst keine männlichen Verwandten; nach ihrem Tod gab es keine Entwicklung ihrer Linie mehr, es entstand keine genealogische Verknüpfung zwischen den Trojanern und den Karthagern.¹⁰⁶ Weit und breit wäre aus dieser tragischen Geschichte also eigentlich in keiner denkbaren Hinsicht die Möglichkeit gegeben, eine Nobilitierung des Trojaners zu begründen.Was jedoch Aeneas nicht vermochte, bewerkstelligt Dante kurzerhand selbst: Er macht Dido zur Mutter. Über ihre Kinderlosigkeit schweigt er, stattdessen zitiert der Dichter ihr „coniugium“ (Aen. IV 171–172) mit Aeneas und bezeichnet sie hochtrabend als „Königin und Mutter der Karthager in Afrika“ („regina et mater Cartaginensium in Affrica“).¹⁰⁷ Durch das verkürzte Personenprofil Didos und deren behaupteten, ambigen Mutterschaftsstatus insinuiert der Text, dass Aeneas sein Blut bzw. seinen Samen in das karthagische Volk eingebracht habe. Diese knappe Analyse dreier zentraler Aspekte sollte genügen, um zu zeigen, dass Dante in nicht unerheblichem Maße seine kreative Energie darauf verwendet, die Genealogie des Aeneas in der Monarchia gemäß den zeitgenössischen biologischen Grundannahmen zu konstruieren. Diese müssen als elementar für sein Denken betrachtet werden, denn die zugrundeliegenden Theoreme über die Herkunft und Verbreitung sowie die Nobilität des römischen Samens sind in den Schriften Dantes auch sonst häufig anzutreffen. Auch hierzu sei nur auf einige wenige Stellen hingewiesen: Bereits im Convivio hatte er das römische Imperium als von Gott auserwählte Weltherrschaft ausgerufen, weil dem Volk der Latiner das erhabene Blut der Trojaner beigemischt worden sei („l’alto sangue troiano era mischiato“), wodurch das römische Volk die beste natürliche Disposition zum Herrschen erlangt habe („quello popolo che a ciò più era disposto“).¹⁰⁸ Wichtig ist nun, dass sich Dante die spätere translatio imperii nicht als bloße Amtssukzession vorstellt, die von den Römern auf die Deutschen übergegangen sei – und schon gar nicht der Einsetzung durch den Papst oder durch das Volk bedurft hätte –,¹⁰⁹ sondern als biologische Deszendenz. Die exzellente virtus formativa wird seit Aeneas jeweils von den männlichen Abkömmlin-
106 Zu Didos genealogischer Unfruchtbarkeit vgl. auch Kellner 2004, 206–207. 107 Vgl. Mon. II, iii,15. 108 Vgl. Conv. IV,iv,10–11. 109 Zu den Legitimierungs- und Delegitimierungsstrategien hinsichtlich des in der Hand der deutschen Herrscherhäuser liegenden römischen Imperatorenamtes in Dantes Zeit vgl. Goez 1958, 157–237.
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gen durch ihr Sperma, also durch ihr vervollkommnetes und letztverdautes Blut, weitergetragen, so dass die edlen Vernunftseelen ihr intellektuelles Potential in den Einzelnen bestmöglich entfalten können, wodurch diese wie gezeigt am besten zum Herrschen befähigt sind. Die Idee der dem Blut einer Dynastie inhärenten königlichen Qualitäten und Potentiale hat Dante nicht erfunden; sie wurde bereits vorher vertreten und etwa 80 bis 90 Jahre früher sehr prominent im Umkreis des Stauferkaisers Friedrich II. weiterentwickelt.¹¹⁰ An der Modellierung der geschlossenen Blutlinie hatte Vergil – unangefochtener Inhaber des Patronats über die essentiellen Denkfiguren in Dantes Monarchia – mit seiner Abstammungserzählung, die von Aeneas über dessen Sohn Ascanius/Iulus, dann fortgeführt über Julius Caesar bis zu Augustus, dem Friedensund Weltherrscher, reicht (Aen. I 260–296), entscheidenden Anteil.¹¹¹ Dante ist mit den Schriftzeugnissen der Historiker am Hof Friedrichs II. und seiner Erben gut vertraut;¹¹² für ihn ist der Staufer einer derjenigen Herrscher, bei denen man von den äußeren Zeichen (den frutti bzw. signa) auf die causa, d. h. die Nobilität der Seele schließen konnte. Und auch wenn sein Sohn Manfred nach menschlichem Recht ein illegitimer Abkömmling war, so gilt er nach dem dargelegten Verständnis der Danteschen nobilitas naturalis als biologischer Spross des Edlen, der selbst tugendhaft war, konsistenterweise zurecht als „wohlgeboren“.¹¹³ Grundlegendes Merkmal von Wohlgeborenheit ist in dem hier beschriebenen Sinne die Abstammung vom Samen der römischen Vorfahren – und wie bereits dargelegt besteht aller Grund, das wortwörtlich zu verstehen.¹¹⁴ Das betrifft nicht nur, aber vornehmlich auch die Florentiner, die dem Imperator erbitterten Widerstand leisten. Nach Dantes Überzeugung sind dafür nicht diejenigen Einwohner seiner Geburtsstadt verantwortlich, die – wie er selbst und sein Ahn Cacciaguida –¹¹⁵ von den Römern abstammen, sondern die Abkömmlinge des etruskischen Fiesole, denen der Exil-Florentiner die Schlechtigkeit quasi in ihren Erbanlagen attestiert und die
110 Die Quellenverweise hierzu bietet Kantorowicz 1957, 331–332. Aus den von ihm selbst in den Fußnoten angerissenen, aber offensichtlich nicht nachvollzogenen physiologischen Grundtheoremen dieser Konzeption vermag Kantorowicz allerdings keinen Erklärungsansatz zu entfalten. 111 Zu Vergils genealogischem Entwurf vgl. Kellner 2004, 189–190. 112 Ausführlicher dazu Kaiser 2013, 88–91. 113 De vulgari eloquentia I,xii,4 (Dante 1957, 98): „illustres heroes, Fredericus cesar et bene genitus eius Manfredus, nobilitatem ac rectitudinem sue forme pandentes, ...“ 114 Davies’ Neigung, den Samen der Trojaner und Latiner lediglich metaphorisch als „ability to receive and transmit civilization“ zu interpretieren (Davies 1957, 187), erscheint vor dem Hintergrund des hier erörterten Begründungszusammenhangs als verfehlt. 115 Bezugspunkt hierfür ist die nach Vergilschem Vorbild (Aeneas und Anchises) inszenierte Begegnung Dantes mit Cacciaguida im Paradies (Par. XV–XVII), wobei der Ahnherr der Alighieri in einer längeren Erzählung nicht nur die glorreichen Vor-Zeiten seiner Heimatstadt, sondern auch den Blutadel Dantes vor Augen führt. Vgl. dazu Bizzocchi 1991, 206–207.
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gerade die Rädelsführerschaft innehaben.¹¹⁶ Doch das auf das Blut fixierte Denken beschränkt sich nicht auf diese Kontexte: Auch in seinem Brief an „alle und alle einzelnen Könige Italiens, Senatoren der ehrwürdigen Stadt [Rom] sowie Herzöge, Markgrafen, Grafen und Völker“ beschwört der Dichter das „Langobardenblut“ (d. h. die Italiener), der Barbarei zu entsagen und dem Samen der Trojaner und Latiner, falls denn noch etwas davon in den von ihm Angesprochenen vorhanden sein sollte, Raum zu geben.¹¹⁷ Damit verbunden ist die Unterwerfung unter den römischen König, den Gott als Herrscher vorherbestimmt habe, wie aus wunderbaren Zeichen erhelle.¹¹⁸ Das ist auch die Botschaft, die Dante im April 1311 unmittelbar an Heinrich VII. richtet: Er, der Nachfolger Caesars und Augustus’, sei der rechtmäßige Herr, den die ganze Welt erwarte. Unterstrichen wird dieser Anspruch erneut durch Zitate aus der Aeneis, die bezeugen sollen, dass Caesar über den Aeneas-Sprössling Ascanius bzw. Iulus aus dem trojanischen Geschlecht stammt, wobei die Linie unvermittelt bis zu Heinrichs Sohn Johannes, dem „alter Ascanius“, weitergezogen wird.¹¹⁹ Mit all diesen (und weiteren) Andeutungen, vor allem aber mit seinen Ausführungen zur Nobilität des Aeneas, bezieht Dante Stellung im zeitgenössischen Diskurs um die Legitimation herrscherlicher Gewalt durch Abstammung.¹²⁰ Für die Regierenden im Spätmittelalter und vor allem für deren Chronisten, Historiker und sonstige Publizisten war es eine entscheidende und viel diskutierte Frage, auf welche Vorfahren sich das jeweilige Geschlecht zurückführen ließ. Besonders wichtig und häufig vertreten war die Erschließung des trojanischen Ursprungs der jeweiligen Adelshäuser. Damit verglichen ist Dantes Aeneas, dessen Darstellung in der Monarchia ohnehin einen singulären Platz in der Literaturgeschichte einnimmt, vor allem eines: eine wort- und imaginationsmächtige Konkurrenz. Es ist zwar richtig, dass zahlreiche Fürstenfamilien im späten Mittelalter ihre Ursprünge in Troja verorten möchten und die von den Trojanern abgeleiteten Deszendenzen damit prinzipiell als gemeinsamer europäischer Ausgangspunkt für die pluralen Adelsgeschlechter angesehen werden können. Allerdings scheint der Rückbezug zu den aus ihrer Heimat geflohenen und als Städtegründer in verschiedenen Teilen Europas tätig gewordenen Trojanern bei den Zeitgenossen häufig
116 Dantes Unterscheidung zwischen einem guten florentinischen Volk römischer Herkunft und einem schlechten fiesolanischen Stamm etruskischen Ursprungs zieht sich durch sein ganzes Spätwerk; vgl. etwa Ep. VI,vi,24; Inf. XV,61–63; Par. XV,126; Par. XVI,121–126. Vgl. dazu sehr aufschlussreich Cardini 1996; Brilli 2012, 193–215. 117 Ep. V,iv,11 (Dante 2012, 32): „Pone, sanguis Longobardorum, coadductam barbariem; et si quid de Troyanorum Latinorumque semine superest, illi cede, …“ 118 Ep. V,vii,22 (Dante 2012, 36): „Unde Deum romanum Principem predestinasse relucet in miris effectibus.“ 119 Vgl. Ep. VII,i,5; iii,13; iv,17–v,18 (Dante 2012, 56–62). 120 Der Forschungsstand zu den mittelalterlichen Vererbungs- und Verwandtschaftslehren und -praktiken findet sich zusammengefasst bei Jussen 2013, 37–64, hier insbesondere wichtig 50–53.
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weniger durch Integrationsabsichten, sondern vielmehr durch veritable Differenzierungs- und Abgrenzungsbemühungen motiviert gewesen zu sein. In den zahl- und variantenreichen genealogischen Erzählungen des Mittelalters lassen sich in diesem Sinne vor allem drei große separate Linien ausmachen:¹²¹ die Abstammung der Römer von Aeneas, der in das latinische Herrscherhaus eingeheiratet und anschließend die Regierung übernommen hatte; eine zweite Linie begründet von Brutus, dem Urenkel des Aeneas, der aus Latium geflohen war und auf den britischen Inseln eine neue Herrschaft begründet hatte; ein dritter Zweig um eine Gruppe, die sich vom Zug des Aeneas abgespalten hatte und deren Mitglieder, wie etwa Francion, der Sohn Hektors und Enkel des trojanischen Königs Priamos, durch ihre Städtegründungen in Pannonien und anschließend in Germanien und Gallien die Stammväter u. a. der Franken/Franzosen wurden. Zahlreiche europäische Städte und Dynastien führten nach diesem Schema ihre Ursprünge auf die trojanischen Auswanderer zurück, so beispielsweise die Venezianer und Paduaner auf Antenor, der wie Hektor und Francion ebenfalls keine engere verwandtschaftliche Beziehung zu Aeneas hat. Auch im Umkreis der deutschen Adelshäuser, vor allem derjenigen, die Ambitionen auf das Amt des römischen Königs hegten, machte man von derartigen Ursprungserzählungen Gebrauch. Gerade um die Zeit der Abfassung der Monarchia entwickelte sich unter den Habsburgern die Selbstwahrnehmung als Seitenlinie der römischen Colonna, deren Herkunft sich auf Julius Caesar zurückführen ließ,¹²² womit wiederum in letzter Konsequenz des letzteren Ahn Aeneas als Stammvater der Habsburger gelten konnte. Und auch für die Luxemburger, deren erster kaiserlicher Vertreter der von Dante unterstützte Heinrich war, existieren historische Darstellungen aus dem 14. Jahrhundert, die eine Nachkommenschaft von Aeneas und dessen Abkömmling Julius Caesar behaupten.¹²³ Den mit den römischen Königen bzw. Imperatoren konkurrierenden Adelsgeschlechtern, die sich regelmäßig – wenn auch stets in veränderter Form – auf die genannten anderen Ahnen beriefen, war es möglich, den eigentlich universalen Herrschaftsanspruch des Reichsoberhaupts durch Beistellung vermeintlich gleichberechtigter und gleich legitimer Nobilitätslinien zu relativieren, weil Aeneas eben nur einer von mehreren trojanischen Fürsten gewesen war.¹²⁴ Die Situation verkompliziert sich zusätzlich, wenn man in Betracht zieht, dass die Kapetinger als französische Königsdynastie und deren Nebenlinie der Anjou, die die Königsherrschaft in Neapel und Sizilien ausübten, noch eine ganz andere Genealogie geltend machten.
121 Vgl. dazu materialreich Melville 1987a, 418–431; Melville 1987b, 229–238; Kellner 2004, 131–294. 122 Vgl. hierzu die klassische Studie von Lhotsky 1944, hier insb. 190–192, der als Belege Quellen u. a. aus dem ersten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts heranzieht. Im 16. Jahrhundert scheinen sich die Habsburger jedoch sorgsam von Aeneas distanziert zu haben; vgl. dazu die Quellenzitate im Beitrag von Alexander Kagerer im vorliegenden Band. 123 Vgl. Lhotsky 1944, 209–210. 124 Für das französische Königtum zeigt dies Krämer 1996, 181–182.
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Anlässlich der Heiligsprechung des französischen Königs Ludwig IX. im Jahr 1297 verstärkte sich die bereits vorher wahrnehmbare Tendenz, die ganze Familie als beata stirps zu charakterisieren, also als Dynastie, die über Blutsverwandtschaft die Neigung zum heiligmäßigen Leben weitertrage.¹²⁵ Diese Selbststilisierung über den Heiligen – immerhin der Großvater König Philipps IV. von Frankreich und Großonkel König Roberts von Neapel, zwei der mächtigsten Rivalen Heinrichs VII. – hatte das Potential, jegliche Berufung auf trojanische und römische, also dezidiert heidnische Vorväter zu neutralisieren, wenn nicht sogar zu entwerten. Dantes Entwurf positioniert sich klar innerhalb dieser genealogisch-propagandistischen Konstellationen, und damit wird auch die eingangs gestellte Frage nach der Physis des Weltmonarchen beantwortet: Der Monarcha stammt notwendig aus dem Geschlecht des Aeneas, denn die über dessen Blutlinie vermittelte virtus trägt wie oben ausführlich dargestellt die natürliche Anlage zur Herrschaft über die anderen Völker weiter. Wer sich nicht als Aeneide präsentieren kann, hat nicht die von Natur aus beste Disposition, um die Regierungsgewalt über den gesamten Erdkreis innezuhaben. Vor dem Hintergrund des angerissenen Ursprungsdiskurses lassen sich daraus nun mindestens zwei Schlussfolgerungen ziehen, eine naheliegende und eine, die eine weitblickendere interpretatorische Perspektive einnimmt. Die offenkundigere Lesart ist die Parteinahme Dantes für die römischen Könige in Abgrenzung zu den rivalisierenden und dem Imperatorenamt feindlich gesonnenen Herrschergeschlechtern. Kein Kapetinger oder Anjou oder sonst ein nicht von Aeneas abstammendes Haus kann aufgrund der bis dahin gepflegten StammbaumRekonstruktionen legitimerweise die Regierung über Italien, geschweige denn die Welt, beanspruchen, sondern diese Familien sind von Natur aus dazu bestimmt, den Abkömmlingen von Julius Caesars Stammvater zu dienen. Forciert wird diese Attitüde durch Dantes Abwertung Hugo Capets, wenn er den Ahnherrn des französischen Königshauses als Sohn eines Metzgers und in der bereits häufiger zutage getretenen biologistischen Sprache als „Wurzel“ („radice“) des „schlechten Gewächses“ („mala pianta“), also seiner Nachfahren, bezeichnet,¹²⁶ den heiligen Ludwig aber nirgends erwähnt.¹²⁷ Wenn man jedoch von der nahen Betrachtung dieses allzu verlockenden Motivs einen Schritt zurücktritt und dabei das gesamte Werk in den Blick nimmt, bietet sich vielleicht eine umfassendere Komposition dar: Der Dichterphilosoph betreibt wie gezeigt mit der Monarchia eine reductio ad unum, alle Kapitel dringen auf Unterwerfung unter den Einen und die Figur des Aeneas ist dabei nur ein Aspekt. Das Blut und die darin enthaltene virtus fließen aus allen Erdteilen „in unum hominem“ – Aeneas’ Blut ist damit in keiner Weise exklusiv, sondern zeichnet sich vielmehr
125 Dieser Zusammenhang wird konzis dargestellt bei Kelly 2003, 119–129. 126 Vgl. Purg. XX,43–45, 49–52. 127 Vgl. Franke 1992, 73.
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durch seine Universalität aus.¹²⁸ Und anschließend fließt es ja wieder aus ihm heraus, und zwar in alle Richtungen zurück. Er ist nicht nur der König und Vater der Römer, sondern auch Träger der Weltherrscher-virtus, der seinen Samen überall hin verstreut. Durch seine oben skizzierten, nicht selten bemühten Fiktionen schafft Dante die Grundlage dafür, dass Aeneas prinzipiell der Stammvater einer großen Pluralität verschiedener Herrscher sein kann; denkbar wäre in diesem Schema sogar, dass sich künftig ein asiatischer oder afrikanischer Fürst zum Weltmonarchen aufschwingt, sofern er seine Abkunft aus Aeneas’ Stamm glaubhaft machen kann. Darin könnte auch der Grund liegen, warum sich die Argumentation der Monarchia mit keinen zeitgenössischen Herrscherpersönlichkeiten durch namentliche Nennung verbinden möchte.¹²⁹ Denn durch diese unterlassene Verpflichtung auf dieses oder jenes bestimmte Adelsgeschlecht, das gerade einen seiner Sprösslinge zum Imperator emporsteigen gesehen hat, schafft Dante Offenheit dafür, auch andere Fürsten als Weltmonarchen gelten lassen zu können. Voraussetzung ist dabei jedoch stets, dass der Prätendent sich auf das Herrscherblut der Aeneiden beruft, denn nur dieses berechtigt von Natur aus zur Weltherrschaft und ist auf diese Weise durch Gott legitimiert. Bei genügend großem literarischen Gestaltungswillen wäre dann sogar denkbar, dass ein Kapetinger, deren königliche Vertreter sich zu Dantes Zeit immer wieder berechtigte Hoffnungen auf die Übernahme des Reichskönigtums gemacht hatten,¹³⁰ die natürliche Deszendenz von Aeneas und damit im Falle seiner durchaus im Rahmen des Möglichen liegenden Wahl durch die Kurfürsten seine legitime, gottund naturgewollte Weltherrschaft im Danteschen Sinne ausruft.¹³¹ Dante würde sich damit als integraler Denker und Legitimitätssicherer des Weltmonarchen erweisen
128 Darauf hatte bereits Davies 1957, 113 aufmerksam gemacht. 129 Dazu scheint Jürgen Miethkes Beobachtung zu passen, dass Dante „die Aspirationen des Luxemburgers Heinrichs VII. ... nicht erkennbar ausformuliert“. Für Miethke lässt dieser Umstand neben der auch sonst (seiner Meinung nach) fehlenden Bezugnahme auf zeitaktuelle Politik erkennen, dass „bei Dante vom römischen Reich des 14. Jahrhunderts nicht eigentlich die Rede“ sei; vgl. Miethke 2008, 159. Im vorliegenden Beitrag wird jedoch im Gegenteil für eine starke pragmatische Intention Dantes argumentiert, die gerade in der Offenhaltung ihre hohe Anschlussfähigkeit für das wesenhaft kontingente römische Wahlkönigtum unter Beweis stellt. 130 Vgl. dazu Krämer 1996, 189–194. 131 Beliebt war unter den französischen Adelshäusern die Rückführung ihrer Familienfolge bis auf Karl den Großen (vgl. Werner 1952; Krämer 1996, 188–189) – der im Übrigen von verschiedenen, mitunter entgegengesetzten Seiten vereinnahmt wurde –, wobei wie gesagt eine eigenständige „Vorgeschichte“ in Abgrenzung zu den römischen Kaisern gepflegt wurde. Spätestens nachdem Gottfried von Viterbo im Prolog seines Speculum regum (1183) gezeigt hatte, wie sich eine Abstammung Karls des Großen von Aeneas und Ascanius darstellen – oder vielmehr behaupten – ließ (zitiert in: Kellner 2004, 287–288), wäre ein solcher Weg prinzipiell auch den Kapetingern und Anjou offengestanden. Dass sich Gottfried mit seinem Entwurf gerade gegen französische Ansprüche auf Zugehörigkeit zur imperialis prosapia gerichtet hatte (so die plausible Deutung von Kellner 2004, 290–291), muss für nachfolgende Autoren nicht unbedingt maßgeblich oder hinderlich sein.
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– quisquis ille sit –, denn die Monarchia kann prinzipiell jeden gewählten römischen König unterstützen. Das muss man keineswegs als Opportunismus bewerten, sondern kann es mit Dantes Augen auch als Erfüllungshilfe für Gottes Willen sehen: Gott allein wählt („solus eligit Deus“), die Kurfürsten sind lediglich die Verkünder der göttlichen Vorsehung („denuntiatores divine providentie“).¹³² Und wie bereits erwähnt ist Gottes Wille nur nachträglich durch Zeichen ersichtlich (vgl. oben, Anm. 97). Auf wen auch immer also die Wahl fällt, es wird sich dabei stets um göttlichen Ratschluss handeln, der als solcher anzuerkennen ist. Dante hat u. a. mit der „virtus et divitie antique“, also der Form und der Materie der Ahnen seit Aeneas, eine Vorlage entwickelt, wie sich die Legitimität jedes faktisch Gewählten durch Geltendmachung der natürlichen Veranlagung zum Herrschen absichern ließe. In Hinblick auf die genealogischen Narrationen seiner Zeit könnte sich Dante nach dieser Lesart als Denker empfehlen, der in seinem eigenen Wirkungsfeld selbst monarchische Züge offenbart: Niemand weiß besser als er, dass alle Ursprungserzählungen „fingierte Vergangenheit“ sind, die „in unverbrämter Pragmatik Belangen der Gegenwart dienen“¹³³ – wie er es selbst in der Monarchia beherzt praktiziert (vgl. oben, S. 101 bis 103). Die in Umlauf befindlichen Stammbäume variieren ja wie gesagt beträchtlich, und das können sie deshalb, weil es ihren (Re-)Konstrukteuren oft „eher um eine Behauptung der Konsanguinität als um deren exakte Demonstration“ geht, wie Beate Kellner treffend bemerkt hat.¹³⁴ Dantes – auf seine Art einzigartiger – Eneas pater würde somit allen Autorenkollegen, die wie er selbst „Wahrheiten“ erzeugen,¹³⁵ das Angebot unterbreiten, ihre künftigen Darstellungen ihm bzw. seiner Legitimierungsschrift Monarchia zu unterwerfen: Wer den jeweils favorisierten Adligen mit dem Federkiel nobilitieren und als Weltherrscher qualifizieren möchte, sollte dessen Blut tunlichst von dem von Aeneas quellenden Strom ableiten. Damit könnte aber auch gleichzeitig der Versuch unternommen sein, „nach oben zu führen“, denn es impliziert, dass sich die Aspiranten auf das höchste Herrscheramt von ihren jeweiligen dynastischen Partikularinteressen verabschieden. Es würde das Selbstverständnis und den daraus folgenden Regierungsstil eines jeglichen Monarchen wohl nachhaltig prägen, sich selbst als natürliches Mitglied eines immerwährenden Imperatorengeschlechts und nicht mehr etwa als dessen ebenso
132 Vgl. Mon. III,xv,13: „Quod si ita est, solus eligit Deus, solus ipse confirmat, cum superiorem non habeat. Ex quo haberi potest ulterius quod nec isti qui nunc, nec alii cuiuscunque modi dicti fuerint ,electores‘, sic dicendi sunt: quin potius ,denuntiatores divine providentie‘ sunt habendi.“ 133 So charakterisiert Melville das ganze Genre präzise; vgl. Melville 1987a, 416–417. 134 Kellner 2004, 289. 135 Trotz allfälliger Verfügung durch fingierfreudige Autoren nahmen die genealogischen Erzählungen in der Regel einen wahrheitsfähigen Charakter an, mittels dessen sich politische und soziale Forderungen durchsetzen oder zumindest untermauern ließen, insbesondere wenn sie sich auf die ohnehin als „wahre“ Ereignisse rezipierten Trojasagen stützten. Vgl. dazu Melville 1987a, 416–417; Kellner 2004, 134–135.
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natürlichen Konkurrenten zu sehen. Hätte diese Offerte Erfolg gehabt – nach heutigem Kenntnisstand hat sie es nicht –,¹³⁶ wäre Dante selbst als unicus motor in Erscheinung getreten: Sein sich auf die Natur berufender politischer Ordnungsentwurf hätte fürderhin die selbstlegitimatorisch motivierten Schriftzeugnisse der Adelsgeschlechter lenken und durch den so bewirkten Rekurs auf ein Paradigma der Weltmonarchengenealogie die concordia in den publizistischen Fehden seiner Zeit herbeiführen sollen.
Bibliographie Quellen Albertus Magnus (1890): „De intellectu et intelligibili“, in: ders.: Opera omnia. Bd. 9. Parvorum naturalium pars prima. Hrsg. von Auguste Borgnet. Paris: Vivès, 477–525. Albertus Magnus (1891): Opera Omnia. Bd. 8. Politicorum libri VIII. Hrsg. von Auguste Borgnet. Paris: Vivès. Albertus Magnus (1920): De animalibus libri XXVI nach der Cölner Urschrift. Bd. 2. Hrsg. von Hermann Stadler. Münster: Aschendorff (= Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, 16). Albertus Magnus (1955): „Quaestiones super de animalibus“, hrsg. von Ephrem Filthaut, in: Albertus Magnus: Opera omnia. Bd. 12. De natura et origine anime. De principiis motus processivi. Quaestiones super de animalibus. Münster: Aschendorff. Albertus Magnus (1968): Opera omnia. Bd. 7, 1. De anima. Hrsg. von Clemens Stroick. Münster: Aschendorff. Aristoteles (1872): Politicorum libri octo cum vetusta translatione Guilelmi de Moerbeka. Hrsg. von Franz Susemihl. Leipzig: Teubner. Aristoteles (1966): De generatione animalium. Translatio Guillelmi de Moerbeka. Hrsg. von H. J. Drossaart Lulofs. Brügge/Paris: Desclée de Brouwer (= Aristoteles latinus, XVII 2.v). Dante Alighieri (1957): La Divina Commedia. Hrsg. von Natalino Sapegno. Mailand/Neapel: Ricciardi (= La Letteratura Italiana, 4). Dante Alighieri (³1957): De vulgari eloquentia. Hrsg. von Aristide Marigo. Dritte Auflage hrsg. von Pier Giorgio Ricci. Florenz: Felice Le Monnier (= Opere di Dante, nuova edizione, 6). Dante Alighieri (²1964): Il Convivio. Hrsg. von G. Busnelli und G. Vandelli. Zweite Auflage hrsg. von Antonio Enzo Quaglio. Florenz: Felice Le Monnier (= Opere di Dante, nuova edizione, 5). Dante Alighieri (1988): Opere minori. Bd. 1, Teil 2. Hrsg. von Cesare Vasoli und Domenico De Robertis. Neapel: Ricciardi (= La Letteratura Italiana, 5). Dante Alighieri (1989): Monarchia. Studienausgabe. Lateinisch/Deutsch. Eingeleitet, übers. und komm. von Ruedi Imbach und Christoph Flüeler. Stuttgart: Reclam (= Universal-Bibliothek, 8531).
136 Den hier erstmals vorgetragenen Bedeutungszusammenhang hat man, da bisher geflissentlich ignoriert, noch nicht hinsichtlich seiner Nachwirkung erforscht. Es wäre lohnenswert, spätere Legitimisierungsschriften, die ebenso wie die Monarchia auf der genealogischen Universalität des Weltherrschers basieren, auf einen etwaigen Einfluss Dantes hin zu untersuchen.
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Oliver Bach
Staat und Natur – Zu Bartolusʼ de Sassoferrato Bestimmungen von guter Regierung und Tyrannei I
Einleitung: Mittelalter und Frühe Neuzeit zwischen Innovation und Innovationspotential
Als der große Münchner Sonderforschungsbereich (SFB) 573 „Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit“ im Jahr 2011 zu Ende ging, mündete er in dem Sammelband Die Frühe Neuzeit. Revisionen einer Epoche.¹ Titelgebend war die in zwölf Jahren interdisziplinärer Projektarbeit gewachsene Erkenntnis, dass das Neue der Frühen Neuzeit bei genauerem Hinsehen gar nicht immer so neu, das Alte des Mittelalters gar nicht immer so alt ist, wie es traditionelle Narrative der Forschung bislang nahelegten. Mehr noch: Es zeigt sich, dass diese Narrative nicht erst von Größen der Geschichtsphilosophie von Immanuel Kant über Wilhelm Dilthey bis Ernst Cassirer generiert wurden, deren Fortschrittsperspektive einem – mal mehr, mal minder – metaphysikfeindlichen Maßstab vordringlich praktisch-philosophischer Art verpflichtet war.² Vielmehr entstammen sie zu einem nicht unbeträchtlichen Teil den Selbstbeschreibungen der Epoche selbst. Weil es sich hierbei eben um Selbstbeschreibungen handelte, ist ihnen ebenso nur mit Revisionen angemessen zu begegnen. Die Forschergruppe „Natur in politischen Ordnungsentwürfen“ begreift sich auch – nicht durchweg! – als Fortsetzung des SFB 573. Das Teilprojekt 7 „Natur als Argument in juridischen Diskursen und literarischen Imaginationen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit“ untersucht im interdisziplinären Verbund zwischen Literatur- und Rechtsgeschichte sowohl, was bei diesem Argumentieren mit ,Natur‘ in der Frühen Neuzeit an ,Altem‘ von der Tradition übernommen wurde, als auch, was das Mittelalter an ,Neuem‘ schon vorbereitete. Der vorliegende Beitrag unternimmt folglich etwas, das in der history of ideas etwas aus der Mode gekommen ist: Er fragt nach Kontinuitäten, allerdings ohne sie zu verabsolutieren. Dass sich Ideen zumeist zwischen Tradition und Fortschritt entwickeln, war schon Hans-Georg Gadamer bewusst,³ und avancierte Philosophiehistoriker wie Wolfgang Röd sind sich im Hinblick auf philosophische Innovationen selbstverständlich im Klaren drüber, „daß der Eindruck ihrer Neuartigkeit das
1 Höfele/Müller/Oesterreicher 2013. 2 Vgl. Scholz 2003, 141–148. 3 Gadamer 2009, 10.
116 Oliver Bach
Bewußtsein ihrer Abhängigkeit von der Tradition leicht zu verdecken vermag“.⁴ Wenn daher Teilprojekt 7 auf den Komplex „Recht und Natur“ Perspektiven legt, die das Mittelalter und die Frühe Neuzeit ebenso übergreifen wie das Rechtsdenken von Juristen, Philosophen und Literaten, so dürfen dabei weder unübersehbare systematische wie historische Unterschiede nivelliert noch mögliche Gemeinsamkeiten übersehen werden. Es kann dabei Anschluss nehmen an der ideengeschichtlichen Methodologie, die insbesondere seit der Jahrtausendwende von den Anregungen der Wissensarchäologie gelernt hat, ohne indessen Foucaults Verdikt aller Teleologie in seiner ganzen Schärfe mitzumachen. Lutz Danneberg hebt im Gegenteil zurecht hervor, dass Diskontinuitäten ideengeschichtlicher Prozesse nicht als Prämisse gesetzt werden dürfen, um überhaupt als solche qualifiziert werden zu können: Erst das Scheitern des Versuchs [und nur das!], die methodologische Vorannahme der Kontinuität am historischen Material zu bestätigen, lässt sich als gewichtiger Hinweis deuten, dass man es mit einer Art von Diskontinuität zu tun hat. Unsinnig erscheint der umgekehrte Weg.⁵
Für die rechtshistorischen Schwellenphänomene, die das Teilprojekt 7 in den Fokus nimmt, bedeutet dies: Zum einen vollziehen Denker des Mittelalters manch innovationsträchtigen Gedanken, sie buchstabieren und argumentieren ihn aber häufig nicht aus. Das Innovationspotential eines Gedankens ist dem, der ihn formuliert, nicht notwendig bewusst, es unterläuft ihm geradezu. Ob die Innovation am Ende tatsächlich aktualisiert wird, ist insofern eine eigene Frage. Diese Aktualisierung kann zeitlich und räumlich versetzt erfolgen, das Potential also erst in einer späteren historischen Epoche, an einem anderen Ort, in einem anderen gelehrten Milieu ausgeschöpft werden. Man kann die Metapher innovationsträchtig gewinnbringend einsetzen: Was innovationsträchtig ist, ist noch nicht innovativ; wo ein Potential vorhanden ist oder generiert wird, ist noch nicht ausgemacht, ob es auch unter denselben realund denkgeschichtlichen Bedingungen aktualisiert wird. Zum anderen aber verkennen Denker der Frühen Neuzeit die Traditionen, die sie für ihre Zwecke nutzen könnten, aber nicht nutzen, und sie verkennen, was sie von den mittelalterlichen Traditionen nutzen, aber für genuin zeitgenössisch halten. Wenn ich also in diesem Sinne hier und da Kontinuitäten vom Alten zum Neuen nachzeichnen werde, so werde ich damit auf anderer Ebene einem anderen Kontinuitätsnarrativ gerade widersprechen, nämlich dem, dass sich das Neue der Frühen Neuzeit nur als Neues verstehen ließe.
4 Röd 1999, 11. 5 Danneberg 2006, 208.
Staat und Natur – Zu Bartolusʼ de Sassoferrato Bestimmungen von guter Regierung
II
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Frühneuzeitliche Legendenbildung über das Mittelalter: Der neue Pufendorf über den alten Bartolus
Als ein solcher frühneuzeitlicher Denker, der das Potential des spätmittelalterlichen gelehrten Rechts für seine Zwecke vielerorts verkannte, hat Samuel Pufendorf (1632–1694) selbst 1674 eine solche Selbstbeschreibung vollzogen. In seinen gesammelten „skandinavischen Streitschriften“, den Eris Scandica, schreibt Pufendorf, er wolle Rechtsphilosophie betreiben und nicht „dem 999. Kommentar zu den römischrechtlichen Institutiones den 1000. hinzufügen“.⁶ Alsbald wurde unter Pufendorf-Schülern aus dieser Abgrenzung offene Ablehnung und einer von ihnen, Johannes Rolletus, befürchtet 1677, dass Pufendorfs Kritiker „noch zu dieser Zeit neue Bartolusse und Baldusse gebären“.⁷ Obgleich schon im 16. Jahrhundert bezweifelt worden war, ob all jene, die sich auf Bartolus von Sassoferrato berufen, tatsächlich auch Bartolisten seien,⁸ wird im 18. Jahrhundert die Schelte auf die Bartolisten unter Pufendorfianern zur Tradition: 1744 wird der Leipziger Naturrechtslehrer Gottfried Mascov (1698–1760) im Vorwort der Neuauflage von Pufendorfs De Jure Naturae et Gentium dem römischen Recht zwar Anerkennung im Hinblick auf seine Konformität zum Naturrecht zollen, jedoch dessen Auslegung durch die Bartolisten scharf ablehnen: Wisse aber, dass Viele bei der gerichtlichen Anwendung des römischen Rechts Willkürliches und Natürliches nicht auseinander halten können. Sie verschlingen hingegen die Früchte des Bartolus wie ein gefundenes Fressen, benutzen jedoch die Rechtslehre nicht, um der menschlichen Gesellschaft zu helfen, sondern um andere zugrunde zu richten, nach deren Glück sie gieren. Wenn Du die Gesetze des Corpus Iuris Civilis in den Händen solcher Menschen siehst, vergleichst Du sie zurecht mit den Zähnen des Drachen, den Kadmos tötete. Gleichwie nämlich unter ihnen die Menge der Bewaffneten offenkundig ist, die unter sich einen Bürgerkrieg führen, so entstehen aus den Fragmenten der Rechtsgelehrten und den fürstlichen Anordnungen, die sie mit ihren dreckigen Händen anfassen, täglich unzählige und überflüssige Streitereien.⁹
6 Pufendorf 2002, 51 (Apologia § 39): „Id tamen non diffiteor cum anno 1660 à Serenissimo Electore Palatino professio institutionum juris mihi clementissime oblata fuisse, me eam recusasse; quod judicarem, non adeo splendidum exserendi ingenii campum esse, si post nongentos nonaginta novem Institutionum Commentarios, eo millesimum adderem.“ 7 Rolletus 1744, 149: „… nouos hoc tempore Bartolos Baldosque parturiunt.“ 8 Vgl. Colli 1996. 9 Mascov 1744, XX: „Noui, multos etiam in applicatione forensi Iuris Romani, arbitraria naturalibus miscere: sed hi fere Bartoli glandibus vescuntur, pane reperto, Iurisque disciplina non ad iuuandam societatem humanam vtuntur, sed ad pessundandos alios, quorum fortunis inhiant. In quorum hominum manibus si leges Corporis Iuris Iustinianei videas, recte eas compares dentibus Draconis a Cadmo interfecti. Vt enim ex his armatorum multitudo prognata, quae inter se domestico bello conflixit; sic ex fragmentis Iureconsultorum & Constitutionibus Principum, illotis quando manibus tractantur, innumerae indies lites eaedemque superfluae nascuntur.“
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Hier wird die Polemik gegen das Gelehrte Recht von der Methoden- auf eine politische Kritik ausgeweitet, und zwar als Konsequenz ersterer: Eine bruchstückhafte statt systematische Jurisprudenz betreibe nicht nur schlechte Rechtslehre, sondern auch schlechte Rechtspraxis – sie schade der Gesellschaft. Diese Grenzziehung war derart wirkmächtig, dass nicht nur die Geschichte des frühneuzeitlichen Rechtsdenkens getrennt von derjenigen des mittelalterlichen Rechts geschrieben wird, sondern sich die Geschichtsschreibung der Rechtsphilosophie für das mittelalterliche gelehrte Recht gar nicht zuständig fühlt. Schon Hans Welzels vielgelesene Abhandlung Naturrecht und materiale Gerechtigkeit beschränkt sich, obwohl sie sich selbst nicht allein als philosophiehistorische, sondern „problemgeschichtliche Untersuchung zum Naturrecht“ versteht,¹⁰ ganz auf die philosophischen Naturrechtsentwürfe. Selbst wenn sich Ernst-Wolfgang Böckenförde in seiner verdienstvollen Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie mit mittelalterlichem Rechtsdenken beschäftigt, betrachtet er ausschließlich Rechtstheologen;¹¹ Juristen hingegen kommen nicht in den Blick. Und auch Henning Ottmann erübrigt in seiner Geschichte des politischen Denkens für das Gelehrte Recht nur einen Anhang bzw. Ausblick.¹² Ob man die Juristen eines systematischen Gedankens für unfähig, d. h. für intellektuell nicht satisfaktionsfähig hält, kann man nur vermuten. Bei genauerem Hinsehen ist Pufendorfs Vorwurf an das Gelehrte Recht im Grunde trivial: Dass nämlich ein Kommentar nicht in der Sache systematisch vorgeht und ein Denkgebäude vom Allgemeinen bis zum Besonderen verfolgt, sondern entlang eines Gesetzestextes arbeitet und diesen eben kommentiert, ist nun mal konstitutiv für die Gattung Kommentar.¹³ Man darf nun aber von einer Textgattung – und sei sie auch prominent! – nicht vorschnell und unzulässig auf einen Denkstil schließen. Die Frage lautet also: Dachten die Kommentatoren nur kommentatorisch? Mit Blick auf die Geschichte des Kommentarwesens im Allgemeinen kann darauf geantwortet werden, dass sich die Kommentatoren seit Dinus Mugellanus (ca. 1253–ca. 1298) von den Glossatoren gerade durch den Anspruch abzusetzen versuchten, ihr Wirken verstärkt an der ratio auszurichten, wohingegen die Glossatoren ihre Rechtslehre weder geordnet noch umfassend betrieben hätten: Die sogenannten regulae iuris, die zunehmend den Charakter von Maximen gewannen und denen insofern selbst Vernunftstatus zugeschrieben wurde,¹⁴ waren von den „Glossatoren des kanonischen und weltlichen Rechts konfus und nicht vollständig behandelt worden“.¹⁵ Exhaustive
10 Welzel 1962, 7. 11 Böckenförde 2006. 12 Ottmann 2004, 76–82. 13 Vgl. Lepsius 2014. 14 Lange/Kriechbaum 2007, 290–293 und 345. 15 Dinus [Mugellanus] 1530, f. IIIr (prohemium): „videnda sunt quinque communia omnium regularum quia forte per glossatores iuris canonici et ciuilis confuse vel minus plene tractata reperiuntur maxime in libro eodem.“
Staat und Natur – Zu Bartolusʼ de Sassoferrato Bestimmungen von guter Regierung
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und kohärente Jurisprudenz kam schon in den Augen der spätmittelalterlichen Kommentatoren nicht ohne ratio aus. Aufschlussreich ist hier natürlich der Blick auf solche Autoren, die nicht allein Kommentare hinterlassen haben. Glücklicherweise ist dies gerade bei dem bedeutendsten Rechtslehrer des Mittelalters, Bartolus von Sassoferrato (1313/14–1357), der Fall, der uns neben seinen umfangreichen Kommentaren auch Traktatschriften hinterlassen hat, von denen drei 1983 vom italienischen Rechtshistoriker Diego Quaglioni im lateinischen Originaltext kritisch ediert wurden: Die Traktate De Guelphis et Gebellinis (Über die Guelfen und Ghibellinen), De regimine civitatis (Über die Regierung des Stadt-Staates) und natürlich De tyranno (Vom Tyrannen) (ca. 1355). In der den ordo betonenden Traktatform¹⁶ offenbart insbesondere Bartolus, dass der von Pufendorf installierte Mythos vom exklusiven ,Kommentarismus’ der mittelalterlichen Jurisprudenz wenig Stich hält. Obwohl erstens von Rechtshistorikern auch dem Kommentator Bartolus die „systematische Durchdringung“ seiner Gegenstände zugestanden wird¹⁷ und obwohl zweitens die Rechtsgeschichte ebenso festgestellt hat, dass dem Traktatisten Bartolus schlechterdings die Innovation zugerechnet werden muss, als erster Jurist eigene politisch-staatsrechtliche Schriften verfasst zu haben,¹⁸ ist von der Philosophiegeschichte wie gesagt nicht einmal der systematische Anspruch des Traktatisten Bartolus ernstgenommen oder auch nur untersucht worden. Eine gewisse Berühmtheit unter Nicht-Juristen hat Bartolus allein durch seine Unterscheidung von Tyrannen ohne Herrschaftstitel (tyrannus ex defectu tituli) und Tyrannen von Seiten der Herrschaftsausübung (tyrannus ex parte exercitii) erlangt.¹⁹ Diese Unterscheidung ist vor allem von politisch-praktischer Bedeutung: Während gegen den Tyrannen ohne Herrschaftstitel, also gegen den Usurpator, ohne weiteres Widerstand geleistet werden darf, ist gegen einen tyrannischen und doch legitimen Herrscher – wenn überhaupt – nur bedingt Widerstand zulässig. Hierum soll es im vorliegenden Beitrag nicht gehen. Er untersucht stattdessen Bartolusʼ Bestimmungen von guter Regierung, ihre mal mehr mal minder expliziten Naturalisierungen sowie den argumentativen Status der Tyrannei innerhalb dieser Bestimmungen.
16 Vgl. Lange/Kriechbaum 2007, 404–407; Lepsius 2003, 110; Horn 1973, 342f. 17 Repgen 1994, 191, Hervorhebung O.B.; vgl. ebd., 206–214; vgl. bereits Schiemann 1973, 34; vorsichtiger Lange/Schiemann 2003, 26–29. 18 Vgl. Lange/Kriechbaum 2007, 718. 19 Bartolus 1983b, 184f. Vgl. Bach 2014a, 131, 168, 325–329.
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III
Von Bartolus bis zur Hochaufklärung: Der Gemeinwohlzweck in der Bestimmung von Staat und Recht
Bartolus wählt sein Thema nach praktischen Gesichtspunkten, den Anlass gibt ihm die Empirie: Das Heilige Römische Reich ist ihm ein Flickenteppich undurchsichtiger Zuständigkeiten und Mischverfassungen – wie sich zeigen wird, wird Bartolus dies jedoch nicht zu einer Kritik am Wahlkaisertum veranlassen. Der Konflikt zwischen den Ghibellinen als den Parteigängern des Kaisers und den Guelfen als den Anhängern des Papstes reichte vom 13. bis weit hinein in das 14. Jahrhundert. Bartolus sind nicht allein die historisch faktischen Missstände ein Dorn im Auge: Gewaltsame Konflikte können abebben, ohne dass sie einer systematischen und das heißt: nachhaltigen Lösung zugeführt worden sind. Deshalb belässt es Bartolus nicht beim Traktat De Guelphis et Gebellinis, sondern behandelt die guten wie schlechten Regierungsformen im Allgemeinen im genannten Traktat De regimine civitatis und die Tyrannei im Besonderen in De tyranno. In De regimine civitatis übernimmt Bartolus die drei Verfassungspaare des Aristoteles und er übernimmt ebenso ihr finales Bestimmungskriterium: Die Güte bzw. Schlechtigkeit, d. h. die Legitimität bzw. Illegitimität einer Regierung bemisst sich nach dem Gemeinwohlzweck.²⁰ Die Herrschaft der Vielen ist nicht schon deshalb ungerecht, weil sie die Herrschaft der Vielen, die Herrschaft der Wenigen und des Einzelnen ist nicht schon deshalb ungerecht, weil sie die Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit ist. Bestimmend ist vielmehr die adäquate Realisierung des Gemeinwohls. Diese Idee vom Gemeinwohlzweck begleitet das Rechtsdenken bis zu Rousseau und Kant, die erkennen werden, dass unter dem Gemeinwohl das Wohl des Einzelnen nichts zählt. Wer entscheidet nämlich, welches dieser Gemeinwohlzweck ist? Bei Bartolus von Sassoferrato bleibt der Gemeinwohlzweck in der Tat unterbestimmt. Das lässt ihn jedoch nicht schlechter dastehen als andere, ,philosophischere‘ Kollegen. Auch bei diesen werden Staat und Recht teleologisch begründet, wie Julius Ebbinghaus für die Vor- und Frühmoderne nachgezeichnet hat.²¹ Zwar bestimmen Rechtstheologen wie Thomas von Aquin als den Gemeinwohlzweck das Seelenheil des Menschen; die irdischen Bedingungen dieser felicitas communis herzustellen ist der politische Auftrag.²² Auch sie lassen jedoch unterbestimmt, welches die erlaubten Mittel sind, diesen Gemeinwohlzweck zu realisieren, oder ob dieser heilige Zweck in der Tat alle Mittel heiligt, ob mithin Minderheiten entrechtet und Scheiterhaufen
20 Aristoteles: Politik III,7 1279a23–b11. 21 Ebbinghaus 1988. 22 Thomas von Aquin: Summa Theologiae I–II, quaestio 90, art. 2 resp. Vgl. Böckenförde 2006, 244f.
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brennen dürfen.²³ Für Philipp Melanchthon beispielsweise steht fest, dass jeder muslimische Staat deshalb ein tyrannischer Staat ist, weil er seine Bürger nicht auf das Seelenheil vorbereitet.²⁴ Diese Unterbestimmung des Gemeinwohlzwecks und seiner Mittel ist kein speziell rechtstheologischer Irrtum, genauso wenig wie sie ein speziell juristisches Versäumnis des Bartolus gewesen wäre. Sie ist vielmehr ein Problem aller politischen und Rechtstheorie, die das allgemeine Recht aus dem Gemeinwohlzweck ableiten will. Den zentralen Mangel einer solchen praktischen Philosophie hat Georg Geismann in der Idee gemeinschaftlicher Zwecksetzung überhaupt ausgemacht, die für die Begründung von Recht und der Regelung interpersonaler Konflikte a priori unangemessen ist: Denn es würden selbst dann, wenn sogar die unmittelbar das Handeln bestimmenden Zwecksetzungen bei allen Menschen die gleichen wären, deren Handlungen selber trotzdem jederzeit beliebig miteinander konfligieren können. Selbst wenn zwei Personen wirklich dasselbe teleologisch, also in Bezug auf bestimmte menschliche Zwecke begriffene ,bonum commune‘ bezwecken, so haben sie dennoch nicht denselben, sondern nur den gleichen Zweck und verrichten möglicherweise entsprechend auch die gleiche, jedenfalls aber nicht dieselbe Handlung: zwei Personen – zwei Willen, zwei Zwecksetzungen, zwei Handlungen. Ob aber diese zwei Handlungen miteinander übereinstimmen oder nicht, ist ganz unabhängig davon, ob die zwei Personen dabei das gleiche Ziel verfolgen oder nicht.²⁵
Vor Bartolus liegen noch fast 500 Jahre, in denen die Idee vom Gemeinwohlzweck im Rechtsdenken Konjunktur hat. Diese Konjunktur hat einen bestimmten Grund, denn die Gemeinwohlzweckbestimmung von Recht und Staat ist selbst schon eine Naturalisierung. Der Staat hat einen Zweck zu verwirklichen, den Gemeinwohlzweck. Dieser Zweck ist einerseits nicht mit einem Selbstzweck des Staates identisch, mit bloßer politischer Stabilität also, wie sie erst bei Machiavelli oberste Maxime sein wird. Andererseits genügen sich Staat und Recht noch nicht wie bei Rousseau und Kant in der allein wirkursächlichen vernünftigen Übereinkunft über die gegenseitige äußere Schadlosigkeit.²⁶ Eben deshalb wird drittens eine Teleologie angenommen, in deren Rahmen der Staat wesentlich, d. h. natürlicherweise auf ein bestimmtes Ziel zustrebt, das außer seiner selbst liegt. Diese Erhebung eines äußeren Zwecks zur wesentlichen Eigenschaft ist eine der zentralen Naturalisierungen in den politischen Ordnungsentwürfen der Vor- und Frühmoderne. Das Gemeinwohl ist das natürliche Ziel
23 Man braucht sich keine Illusionen machen: Die Geschichte der staatlich institutionalisierten Intoleranz ist mithin auch Teil der Geschichte des Gemeinwohlzweckdenkens. 24 Melanchthon ([1558] 1855), Sp. 623: „Mahomets reich ist fürnemlich dazu angefangen, den Namen vnsers Heilands Christi zu tilgen. … das Mahometisch Gesetz, darauff das Saracenisch vnd Türkisch Reich gegründet ist, gebeut nicht frieden zu halten, sondern die Friedlichen anzugreiffen vnd zu morden.“ 25 Geismann 1992, 330. Hervorhebungen im Text. 26 Vgl. Bach 2014b, 113–123.
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von Staat und Recht. Und als Natur des Staates hat das Gemeinwohlzweckargument deswegen so eine langanhaltende Hochkonjunktur, weil es gleichzeitig faktisch und normativ funktioniert: Der Staat hat de facto seinen Zweck im Gemeinwohl; der Staat soll daher de iure diesen Zweck erfüllen. Unternimmt die Regierung folglich nicht die angemessenen Maßnahmen, um diesen Zweck zu erreichen, handelt sie eben gegen die Natur und insofern ungerecht. Bevor die teleologische Bestimmung von Recht und Staat seit Christian Thomasius allmählich aus dem Natur- und Vernunftrecht der Aufklärung verschwindet,²⁷ ist das bonum commune der letzte Zweck aller staatlichen und politischen Handlungen, und er ist dies bereits bei Bartolus von Sassoferrato.
IV
Naturalisierungen zwischen theoretischer und praktischer Vernunft
Gemäß dieser Teleologie vermag Bartolus dem eigenen Anspruch nach auch die Frage zu klären, welche Regierungsform die beste ist. Auch Bartolus möchte eine Hierarchie unter den guten Regierungsformen Politie, Aristokratie und Monarchie bestimmen. Die beste Regierungsform ist die Monarchie.²⁸ Es ist bemerkenswert, dass sich Bartolus schon hinsichtlich der Tatsache, dass er diese Frage stellt, gegenüber den Kollegen unter einen Rechtfertigungsdruck gesetzt sieht; er beteuert nämlich: Diese Untersuchung ist für die Juristen notwendig, da ja die allgemeinen Herrscher, sobald sie eine Reichsreform vornehmen wollen, entweder Juristen um Rat fragen oder ihnen die Reform anvertrauen werden … ²⁹
Der Peruginer Rechtslehrer sieht die Jurisprudenz einem zugleich praktischen und theoretischen Druck ausgesetzt: Sich der Frage nach der besten Regierung anzunehmen, ist die praktische Aufgabe, mit der die Politik die Jurisprudenz betraut. Dabei drängt diese Aufgabe, so praktisch ihr unmittelbarer Anlass auch ist, zur verstärkten Abstraktion, zum tieferen Gang in die juridische Grundlagentheorie – eine Aufgabe offensichtlich, mit der Bartolus die Juristen nur mit Unbehagen ohne Weiteres betrauen zu wollen scheint. Denn seine Kategorienlieferanten sind abermals der Philosoph Aristoteles und
27 Vgl. Bach 2013, 41–50. 28 Bartolus 1983a, 153: „Primus est modus regendi multitudinis seu ad populum, scilicet hic bonus est si ad rectum finem tendat. Secundus regendi modus est melior, scilicet regimen paucorum. Tertius regendi modus est optimus, scilicet monarchia sive gubernatio unius regis.“ („Die erste Regierungsform ist die Regierung der Menge bzw. die Regierung beim Volk; dies ist dann eine gute Regierung, wenn sie den rechten Zweck verfolgt. Die zweite Regierungsform ist besser, nämlich die Regierung der Wenigen. Die dritte Regierungsform ist die beste, nämlich die Monarchie bzw. die Regierung eines einzigen Königs.“) 29 Ebd.: „Hec investigatio necessaria est iuristis, quoniam domini universales dum de reformatione civitatis tractant, vel iuristas consulunt, vel eis committunt … “
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der Theologe Aegidius Romanus, ein Schüler des Thomas von Aquin. Bartolus bekennt sich dazu, zwar deren Argumente benutzen zu wollen, aber nicht ihre Begrifflichkeiten, denn: „Die Juristen, zu denen ich spreche, verstehen diese Worte nicht“.³⁰ Hierbei handelt es sich weniger um eine disziplinäre Selbstkasteiung als vielmehr um ein methodologisches Problembewusstsein des Staatsrechtsdenkers, nämlich seine Grundlagentheorie nicht unmittelbar juristisch, sondern aus einem Theorietransfer zu beziehen – ein Problembewusstsein also, das Frühaufklärer wie Pufendorf dem Bartolus gerade absprechen werden. Dass sie ihr Vorurteil vom philosophischen Unverstand des gelehrten Rechts auf den Peruginer selbst ausdehnen, zeigt m. E., dass sie ihn als Traktatisten nicht angemessen zur Kenntnis nehmen. Bartolus sieht die Frage nach der besten Regierungsform als eine juristische Aufgabe an, insofern es um die beste Realisierung von Recht geht. Er sieht aber die Antwortmöglichkeiten außerhalb der juristischen Quellen liegen. Der Jurist muss mithin als Jurist über die Grenzen seiner Disziplin hinausschauen – wohin nämlich? Wieder in die Natur. Bartolus referiert zunächst die Auffassung des Aegidius Romanus: Der Friede und die Einheit der Bürger muss die Zweckabsicht des Regenten sein. … Dieser Frieden und diese Einheit können jedoch besser erwirkt und erhalten werden, wenn durch einen Einzigen regiert wird, als wenn mehrere regieren. Dies wiederum wird wie folgt bewiesen: Unter der Herrschaft Mehrerer kann kein Friede herrschen, es sei denn jene Mehrere sind in ihren Willen eins. Dies ist offensichtlich, denn wenn sie uneins sind, wird ihr Handeln durch Hin- und Herschwanken behindert. … Die Regierung Mehrerer ist gut durch ihre Einheit: Folglich ist eine Regierung viel besser, die selbst einheitlich ist, weil sie durch einen Einzelnen erfolgt. … Je mehr die Tugend vereinheitlicht ist, umso stärker ist sie, und zwar stärker, als wenn sie in Mehreren verstreut wäre. … Wenn also die gesamte politische Gewalt in einem Einzigen versammelt wird, ist sie wirksamer und der Fürst kann wegen der größeren Macht besser regieren.³¹
Diese Argumentation des Aegidius – so Bartolus – gehe dabei von einem Prinzip aus Aristotelesʼ Analytica posteriora aus, dass nämlich „jenes, aufgrund dessen ein jedes zutrifft, in höherem Maße zutrifft“.³² Ob Aristoteles selbst mit diesem seinem Satz so umgehen würde, wie Aegidius damit umgeht, muss hier beiseitegelassen werden. Jedenfalls schließt Aegidius hieraus für seine Argumentation: Wenn das Eine der
30 Ebd.: „Ipsius [i.e. Aegidii Romani; O.B.] itaque opinionem ponam et eius rationem faciam; verbis autem suis vel Aristotelis non utar: illa enim iuriste, quibus loquor, non saperent.“ 31 Ebd., 153f.: „[P]ax et unio civium debet esse finalis intentio regentis. … Sed hec pax et unitas magis potest effici et conservari si regatur per unum quam per plures: ergo melius est regi per unum. Hoc probatur sic: in principatu plurium non ptest esse pax nisi quatenus illi plures sunt unum per voluntatem; quod patet, quia si discordant impeditur eorum actio per concursum. … Sed regimen plurium est bonum propter unitatem: ergo multo magis est melius regimen ipsius unitatis, quod fit per unum. … virtus quanto magis est unita tanto fortior est, quam si sit in plures dispersa, … Si igitur tota civilis potentia congregetur in unum erit efficacior et per illam princeps, propter maiorem potentiam, melius poterit gubernare.“ 32 Aristoteles: Analytica posteriora I,2 72a30. Übers. aus Aristoteles 2011, 11.
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Grund von Einheit bzw. der Grund der Einheitlichkeit von Dingen ist, so muss es diese Einheitlichkeit selber in höherem Maße innehaben; mit anderen Worten: Wenn das handlungstheoretische Erfordernis der Politik einheitliche Entscheidungsfindung ist, warum sie nicht auch einem Entscheidenden überantworten? Diese Argumentation stellt wiederum eine Naturalisierung speziell vormoderner Prägung dar: Sätze der theoretischen Vernunft (das Naturgesetz einer bestimmten Ursachen- und Eigenschaftenlehre von Dingen) werden unmittelbar zu Maximen der praktischen Vernunft (dem Naturrecht einer bestimmten Lehre praktischer Gründe für Handlungen). Mit anderen Worten: Was sein soll, wird unvermittelt damit begründet, was ist. Aber Aegidiusʼ Grundsatz lautet: „[D]ie Fertigkeit bzw. das Werk fallen umso besser aus, je mehr sie die Natur nachahmen“ („[A]rs seu artificium tanto est melius quanto magis imitatur naturam“).³³ In der heutigen Wissenschaftstheorie nennt man den unvermittelten Schluss vom Sein auf’s Sollen eben naturalistischen Fehlschluss.³⁴ Aegidiusʼ Irrtum, so wird vor allem Kant bündig zeigen, besteht darin, die technischen Imperative einer ars bzw. eben téchnē der praktischen Vernunft zuzuschlagen und sie damit als den moralischen bzw. rechtlichen Imperativen der prudentia bzw. phrónēsis artverwandt zu erachten. Dieser Irrtum speist sich vor allem aus einer bestimmten Lektüre der Nikomachischen Ethik, in der Aristoteles die téchnē als praktisches Können und die phrónēsis als praktische, sittliche Einsicht bestimmt und sie damit – scheinbar – derselben Reflexionsform zuschlägt.³⁵ Immanuel Kant hingegen wird erst 1789 klarstellen: Insofern Fertigkeit bzw. Werke zwar praktische Zwecke verfolgen, sich aber allein zur Maxime machen, was naturgesetzlich möglich ist, gehören ars bzw. téchnē der theoretischen Vernunft an und betreffen nicht die moralischen Sätze der praktischen Vernunft, der allein die Freiheit das Gesetz gibt.³⁶ Das aber sind genuin neuzeitliche Erkenntnisse.
33 Bartolus 1983a, 154. 34 Vgl. Hoerster 1969; Mavrodes 1968. 35 Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik VI,3ff. 36 Kant 2009, 473–475: „Es herrscht aber ein großer und selbst der Behandlungsart der Wissenschaft sehr nachtheiliger Misverstand [!] in Ansehung dessen, was man für practisch, in einer solchen Bedeutung zu halten habe, daß es darum zu einer practischen Philosophie gezogen zu werden verdiente. Man hat Staatsklugheit und Staatswirthschaft, Haushaltungsregeln, imgleichen die des Umgangs, Vorschriften zum Wohlbefinden und Diätetick, so wohl der Seele als des Körpers, (warum nicht gar alle Gewerbe und Künste?) zur practischen Philosophie zählen zu können geglaubt; weil sie doch insgesammt einen Innbegrif practischer Sätze enthalten. Allein practische Sätze sind zwar der Vorstellungsart, darum aber nicht dem Innhalte nach von den theoretischen, welche die Möglichkeit der Dinge und ihre Bestimmungen enthalten, unterschieden, sondern nur die allein, welche die Freyheit unter Gesetzen betrachten. … [A]lle practischen Sätze, die dasjenige, was die Natur enthalten kan [!], von der Willkühr als Ursache ableiten, gehören insgesammt zur theoretischen Philosophie, als Erkenntniß der Natur, nur diejenigen, welche der Freyheit das Gesetz geben, sind dem Innhalte nach specifisch von jenen unterschieden.“ Hervorhebungen im Text.
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Bis dahin aber gehorchten solche Argumentationen einem in der Ausführung des Theoriegebäudes als Ganzem durchaus konsequenten Denken: Denn es sind bei Aegidius nicht erst die politischen Handlungen im Speziellen, deren Gebote naturalistisch begründet werden, sondern schon das politische System im Allgemeinen wird naturalisiert: Der ganze Staat ist eine Person und ein künstlicher und bildlicher Mensch … Beim natürlichen Menschen sehen wir ein Haupt und viele Glieder: Folglich wird der Staat besser regiert, wenn er auf eben dieselbe Weise regiert wird, weil dies die Natur mehr nachahmt.³⁷
Es ist also eine politische Organologie, die Aegidius die Monarchie bevorzugen lässt; und auch Bartolus bestimmt „das Königtum als die natürliche Herrschaft“.³⁸ Weil der Staat als ein anthropomorphes Gebilde angesehen wird, ist die Verschränkung theoretisch-naturgesetzlicher und praktisch-naturrechtlicher Erwägungen immer schon vollzogen: Praktische Philosophie und philosophische Medizin gehen Hand in Hand und ebenso wie der Mediziner für das Haupt des menschlichen Körpers besondere Sorge trägt, gilt die größte Sorge des Politikers dem Haupt des politischen Körpers – und ebenso wie sich im Haupt des menschlichen Körpers nur ein cerebrum, ein Hirn befindet, so sollte sich auch im Haupt des politischen Körpers nur eine entscheidungsbefugte mens befinden. Anhand Bartolusʼ Stellungnahme zur Argumentation des Aegidius lässt sich nun unsachgemäßen Innovationsnarrativen der Frühen Neuzeit widersprechen. Man kann beim Italiener ein Problembewusstsein dafür nachweisen, dass Aegidiusʼ Naturalisierungen eben nur bedingt weit tragen. Bartolus bevorzugt nämlich anders als Aegidius die Monarchie nur unter der Bedingung, dass der Herrscher das Gemeinwohl anzielt.³⁹ Aegidiusʼ Einheitsargument allein führte zu einer Symmetrie: Ebenso wie der einheitlich gute Monarch die beste Regierung realisiert, realisiert mutatis mutandis der uneinheitliche Monarch die schlechteste Regierung, die Tyrannei. Insofern folglich die Aristokratie und die Politie zwar nicht die besten Regierungsformen sind, sind im Umkehrschluss die Oligarchie und die Ochlokratie nicht die schlechtesten Regierungsformen. Dieser Distanzierung von Aegidius Romanus korrespondiert Bartolusʼ größere Nähe zu Aristoteles.⁴⁰ Dies hat wiederum mit dem Einheitsgedanken zu tun; allerdings vertieft Bartolus ihn um das Problem von Opazität und Transparenz: „So viele Köpfe es gibt, so viele Meinungen sind auch sichtbar, und unter diesen ist der Grund für eine Entscheidung
37 Bartolus 1983a, 154f.: „[T]ota civitas est una persona et unus homo artificialis et ymaginatus … Sed in homine naturali videmus unum caput et multa membra: ergo civitas si sic regatur melius regitur, quia magis imitatur naturam.“ 38 Ebd., 151: „Communi vero nomine appellamus regnum dominium naturale.“ Hervorhebung O.B. 39 Ebd.: „Communi vero nomine appellamus regnum dominium naturale, et hoc si dictus dominus in communem et bonum finem tendit.“ 40 Aristoteles: Politik IV,2 1289b2–5.
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einleuchtender zu finden als in nur einer Person“.⁴¹ Um in der Monarchie den politischen Willen zu erkennen, muss man die mens des Monarchen erkennen: Sobald sich diese mens nicht nur in Gesetzestexten niederschlägt und der politische Wille sich nicht im Willen des Gesetzes erschöpft, liegt „der Grund für eine Entscheidung“ im Bereich der Arcana – und in der Tat spricht man bisweilen von der „monarchischen Arkantradition“.⁴² Zwar wird das Wort „arcanum“ erst in der Frühen Neuzeit zum „Schlüsselwort der Epoche“⁴³; gleichwohl zeigen Bartolus’ Überlegungen, dass das Problem der Sache nach schon im Mittelalter reflektiert wurde. In der Herrschaft Mehrerer hingegen tritt der politische Wille durch deren offenen Austausch zutage. In der Aristokratie und in der Politie muss man nur eine Versammlung einberufen; in der Monarchie muss man politische Psychologie betreiben.
IV
Natur zwischen quantitativer und qualitativer Bestimmung von Tyrannei
Bartolusʼ Problembewusstsein reicht jedoch noch weiter: Denn die Erfahrung wartet nicht nur mit guten und insofern natürlichen Königtümern auf der einen und schlechten Tyranneien auf der anderen Seite auf; sie kennt nicht nur statische Herrschaftsarten, sondern auch Dynamiken:⁴⁴ Wenn wir aber erwägen, dass es bisweilen geschehen kann, dass der König sich zu einem Tyrannen wandelt oder ihm doch zumindest nahekommt, dann – so sage ich – müssen wir erwägen, dass dies geschehen kann, weil das Königtum natürlicherweise oder doch beinahe natürlich zur Tyrannei tendiert.⁴⁵
Bartolus erweist sich hier als alles andere denn als bloßer Deskriptivist: Anders nämlich als Aristoteles, der den Verfall des Königtums zur Tyrannis als handlungstheoretisches Ereignis bestimmt hatte,⁴⁶ erhebt Bartolus die abermals naturalisierende Frage, ob die Tyrannis gegenüber dem Königtum akzidentiell und damit
41 Bartolus 1983a, 156: „[Q]uanto sunt plures tanto plura vident, et in eis est perspicacior ratio ad discernendum.“ 42 Häberle 1970, 102. 43 Stolleis 1990, 37. 44 So bereits Woolf 1913, 163ff.; vgl. Lange/Kriechbaum 2007, 718f. 45 Bartolus 1983a, 161: „Si vero consideramus illud quod evenire potest, quia rex quandoque vertitur in tyrannum, ipse vel descendentes ab eo, tunc dico quod considerare debemus quod evenire potest quando illud de quo agitur ad hoc naturaliter et verisimiliter tendit.“ 46 Aristoteles: Politik V,5 1305 a7–28. Aristoteles verwendet zwar zur Beschreibung von Verfassungsänderungen bzw. Verfassungsverfall zunächst das intransitive μεταβάλλειν (wandeln, umschlagen), erläutert jedoch anschließend ausschließlich intentionale Handlungen, mithilfe derer Könige ihre Herrschaft bewusst und nicht notwendigerweise natürlich zur Tyrannis umgestalten.
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kontingent ist oder ihm als Neigung wesentlich innewohnt und damit notwendig ist. Bartolus macht einen möglichen Widerspruch aus zwischen der Bestimmung der Monarchie als natürlicher Herrschaft einerseits und einer gleichfalls als natürlich befundenen Tendenz der Monarchie zur Tyrannei andererseits. Bartolus versucht diesen Widerspruch durch eine „dreifache Differenzierung von Bürger- und Einwohnerschaften“ zu lösen:⁴⁷ Nicht jeder dieser Gemeinschaften nämlich ist die Monarchie als Herrschaftsform angemessen; mithin ist sie nicht jedweder Gemeinschaft die natürliche Herrschaftsform. Bartolus relativiert also in einem ersten Schritt die bislang angenommene Naturalität der Monarchie; er denaturalisiert sie bis zu einem gewissen Grad: Die Monarchie ist nicht an und für sich die beste Herrschaftsform, sondern nur im Hinblick auf bestimmte Bürger- und Einwohnerschaften. Dabei ist diese Differenzierung selbst in der Tat eine graduelle: Bartolus unterscheidet nicht analog zu den drei Regierungsarten drei Arten von Bürgerschaften, sondern drei Größenstufen von Bürgerschaften: Das erste ist die große Bürgerschaft bzw. das große Volk auf einer ersten Stufe von Größe. Das zweite ist die größere Bürgerschaft bzw. das größere Volk auf einer zweiten Größenstufe. Das dritte ist die sehr große Bürgerschaft bzw. das sehr große Volk auf einer dritten Größenstufe.⁴⁸
Im Rahmen dieser quantifizierenden Bestimmung erklärt Bartolus die Monarchie der kleinen Bürgerschaft für unangemessen. In einem von ihm sogenannten Vernunftbeweis („probatur per rationem“) argumentiert Bartolus, der König kann die Pracht, derer er offensichtlich bedarf, in einer kleinen Bürgerschaft unmöglich auf eine Art und Weise finanzieren, welche die wenigen Bürger nicht unmäßig belastet. Ihm bleibt zur Finanzierung dieser Pracht folglich nur die Ausbeutung seiner Bürger und damit der notwendige Wandel zum Tyrannen: Es liegt in der Natur von Königen, dass sie ihre Pracht nur dadurch erlangen, dass sie große Ausgaben tätigen, wie es auch die Authentica ,de immensis donationibus‘ und Aristoteles in seiner Ethik aussagen. Aber die königlichen Einkünfte eines großen Volkes auf der ersten Größenstufe reichen nicht für königliche Ausgaben aus: Folglich ist es notwendig, dass der König das Volk auspresst, und somit zum Tyrannen wird.⁴⁹
Der Stand eines solchen Königs tendiert folglich gleichsam natürlich zur Tyrannei. In De tyranno bestimmt Bartolus die unmäßige Steuerbelastung als „tyrannische
47 Bartolus 1983a, 162: „Hoc premisso, facio triplicem divisionem civitatum seu populorum.“ 48 Ebd., 162: „[Q]uedam est civitas seu gens magna in primo gradu magnitudinis; quedam est civitas seu gens maior, et sic in secundo gradu magnitudinis; quedam est civitas seu gens maxima, et sic in tertio gradu magnitudinis.“ 49 Ebd., 162: „[D]e natura regum est esse magnificos in faciendo magnas expensas, ut in aut. De immensis donationibus, et per Aristotelem in libro Ethicorum. Sed redditus regales unius populi magni in primo gradu magnitudinis non sufficerent ad expensas regales: ideo oporteret quod extorqueret a subditis et efficeretur tyrannus.“
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Handlung“.⁵⁰ Ein gewisses Steueraufkommen aber ist als Mittel einer angemessenen Finanzierung königlicher Pracht notwendig; das Königtum ist dem Gemeinwohl einer mäßig großen Bürgerschaft im Umkehrschluss notwendig unangemessen. Die angeführte Authentica soll dies durch einen gleichsam analogen Fall väterlicher Fürsorgepflicht belegen;⁵¹ tatsächlich einschlägig indessen ist die angeführte Aristoteles-Stelle, der gemäß sich Torheit besonders im Setzen von Zwecken manifestiert, für die keine Mittel vorhanden sind.⁵² Während Aristoteles hier eine rein handlungstheoretische Bestimmung vornimmt, jedoch ebenso wenig wie in der Politik eine notwendige und somit natürliche Neigung des Königs zur Pracht oder gar zur Tyrannei konstatiert,⁵³ führt Bartolus genau diese Teleologie in seine Argumentation ein. Zwar macht Aristoteles in seiner historischen Analyse das zunehmende Fehlen von ἀρετή, persönlicher Exzellenz, als Ursache dafür aus, dass es immer weniger vollkommene Königtümer gebe;⁵⁴ damit bestimmt der Stagirite ἀρετή jedoch nur als praktische Bedingung des Königtums und spricht in keiner Weise von einem dem Königtum natürlichen Schwund von ἀρετή als theoretischer Ursache der Tyrannei – im Gegenteil: Aristoteles konstatiert schließlich die Kontingenz von ἀρετή ebenso wie die Kontingenz ihres Fehlens. Indem Bartolus Pracht zur notwendigen Ausstattung des Königtums, mithin das Streben nach Pracht zur natürlichen Veranlagung des Königs macht, widerspricht er dieser Behauptung Aristotelesʼ von der Kontingenz der Tyrannei und naturalisiert sie: Sie tritt mit Notwendigkeit dort auf, wo die
50 Bartolus 1983b, 200: „[P]rocurat subditos facere pauperes: hic est simpliciter actus tyrannicus. Nam rectus iudex nichil preter sibi debitum accipere debet nec subditos affligere gravaminibus realibus vel personalibus.“ („Der Tyrann sorgt dafür, dass seine Untertanen verarmen: Hierbei handelt es sich wiederum eine schlechterdings tyrannische Handlung. Denn ein gerechter Richter darf nichts über das notwendige Maß hinaus verlangen und darf die Untertanen nicht durch sachliche oder persönliche Beschwerlichkeiten schwächen.“) 51 Auth. 6.3 (= Nov. XCII). Sie besagt, dass es unbillig (inaequalis) sei, wenn ein Vater allzu große Schenkungen tätigt, so dass seinen Erben kein Vermögen mehr bleibt. Bartolus vergleicht also implizit den nur großen Staat mit einer Familie, zu deren Erhalt eine gewisse Sparsamkeit notwendig ist, eine Sparsamkeit jedenfalls, die einem König wesentlich unangemessen wäre. 52 Aristoteles: Nikomachische Ethik, IV,5 1122 b23–29: „Bei allen Aufwendungen aber ist, wie gesagt, auch bezüglich der Person, die sie macht, zu berücksichtigen, wer sie ist und welche Mittel sie zur Verfügung hat. Hier muss das rechte Maß vorhanden sein, so dass der Aufwand sich nicht nur für das Werk geziemt, sondern auch für die Person. Darum kann kein Unbemittelter hochherzig, das heißt im großen Umfang freigebig sein. Er hat schließlich nicht, wovon er schicklich und geziemend Aufwand machen könnte, und wollte er es versuchen, so wäre er töricht. Denn es wäre eine Verleugnung von Maß und Schicklichkeit, während doch das rechte Handeln sich nach dem Können richtet.“ Übers. nach Aristoteles 1985, 81f. 53 Vgl. nochmals Aristoteles: Politik V,5 1305 a7–28. 54 Aristoteles: Politik V,10 1313 a3–8: „Gegenwärtig entstehen keine Königtümer mehr, sondern was entsteht, sind eher Alleinherrschaften und Tyrannenherrschaften. Denn das Königtum ist eine Herrschaft, die auf freiem Willen beruht und die wichtigsten Angelegenheiten beherrscht. Heute dagegen ist es so, daß es zwar viele Ebenbürtige gibt, aber keiner so ausgezeichnet ist, daß er der Größe und Würde der Königsherrschaft angemessen wäre.“ Übers. nach Aristoteles 1981.
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Bürgerschaft zu klein ist, um die Ansprüche der königlichen Pracht zu finanzieren, und wo die hierfür anfallenden Kosten auf (zu) wenige Schultern verteilt werden müssen. Derselbe Einwand gilt im Übrigen auch noch für die von Bartolus so genannten „größeren“ Völker und Bürgerschaften der zweiten Größenstufe.⁵⁵ Bartolus kann mit dieser zugleich quantifizierenden und naturalisierenden Argumentation die eine Seite des anfänglichen Widerspruchs auflösen: Wo der König eine natürliche Neigung zur Tyrannei hat, dort ist das Königtum nicht die natürliche Herrschaftsform. Interessant bleibt indessen, dass Bartolusʼ Argument nicht eigentlich den König als der kleinen Bürgerschaft für unangemessen befindet, sondern umgekehrt die kleine Bürgerschaft dem König für unangemessen erklärt. Diese ignoratio elenchi wird von Bartolus allerdings weder gesehen noch problematisiert. Es bleibt Bartolus noch die andere Seite jenes drohenden Widerspruchs aufzulösen, dass das Königtum die natürliche Herrschaftsform sei und zugleich natürlich zur Tyrannei tendiere. Dass das Königtum tatsächlich nicht in jeder beliebig großen Bürgerschaft die natürliche Herrschaftsform ist, wurde soeben gezeigt. Nun gilt es also für Bartolus noch zu zeigen, dass dort, wo das Königtum die natürliche Herrschaftsform ist, der König keine natürliche Neigung zur Tyrannei hat. Die natürliche Herrschaftsform ist das Königtum allein beim von Bartolus so genannten „sehr großen Volk, das sich auf der dritten Größenstufe befindet“, und: Dies kann aber innerhalb einer Bürgerschaft für sich nicht vorkommen. Wenn es sich hingegen um einen Staat handelt, der über viele andere Staaten und Provinzen herrscht, dann ist es für dieses Volk gut, durch einen Einzigen regiert zu werden.⁵⁶
Hier bricht Bartolus seine üblicherweise auf Stadtstaaten beschränkte Semantik von civitas auf und dehnt sie auf imperium/Reich aus. Als Grund hierfür führt Bartolus nun an, dass die Suche nach und das Finden eines geeigneten Herrschers gerade im größten Staate unproblematisch ist: „In einer so großen Menge nämlich finden sich notwendigerweise viele gute Männer, durch die sich auf einen König zu einigen und sich auf den Weg der Gerechtigkeit zu begeben zweckdienlich ist“.⁵⁷ Bartolus quantifiziert also nicht allein die Adäquanz des Königtums in großen, größeren und größten Bürgerschaften, sondern auch die Argumentation, weshalb das Königtum nur im größten Staat realisierbar und insofern angemessen ist: Der ,pool‘ an persönlich geeigneten Herrscherkandidaten ist ebenso groß genug wie die Anzahl derer, die kompetent sind, den Herrscher auszuwählen.
55 Bartolus 1983a, 164. 56 Ebd., 165: „Tertio videndum est de gente seu populo maximo, qui est in tertio gradu magnitudinis. Hoc autem vere contingere non potest in civitate una per se. Sed si esset civitas que multis aliis civitatibus et provinciis dominaretur, huic genti bonum esset regi per unum.“ 57 Ebd., 165f.: „In tanta enim magnitudine de necessitate sunt multi boni, per quos oportebit se regem consulere et in iustitie via se ponere.“
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Insbesondere hier wird deutlich, wie – und warum – Bartolus die von Aegidius behauptete Naturalität des Königtums relativiert: Insofern erstens von der praktischen Realisierbarkeit des Königtums im Hinblick auf äußere Realisierungsbedingungen gesprochen wird, ist das Königtum nicht schlechterdings natürlich, sondern seine Naturalität wird zum Potential reduziert. Diesem natürlichen Potential gegenüber ist dessen Aktualisierung nicht ebenso natürlich, sondern akzidentiell. Zweitens zielt die doppelte Konditionalisierung, dass allein im großen Staat und allein von einem hinreichend kompetenten Gremium von Wahlmännern das Potential natürlichen Königtums aktualisiert werden kann, unübersehbar auf die Situation im Reich und vor allem auf ihre Nobilitierung: Das Wahlkaisertum des Heiligen Römischen Reiches wird nicht als Widerspruch gegenüber dem Konzept der Monarchie und des Gottesgnadentums verstanden und wird insofern nicht zur Scheinaristokratie desavouiert; vielmehr ist das politische System des Reiches, in dem die Wahl des Kaisers durch die Kurfürsten vorgesehen ist, für Bartolus allererst dasjenige System, das das natürliche Königtum angemessen realisiert: „Hieraus wird deutlich, dass eine Regierung, die durch Wahl zustande kommt, von größerer göttlicher Legitimation ist als jene Regierung, die durch Erbfolge erworben wird.“⁵⁸
V
Juristische Topik zwischen kanonistischer Allegation und naturrechtlicher Argumentation
Bartolus argumentiert in seinen politisch-staatsrechtlichen Überlegungen nicht allein mit einer solchen allgemeinen Theonomie. Sie eignete sowohl dem weltlichen als auch dem kirchlichen Recht, ohne schon deren anwendungsbezogene Unterschiede zu nivellieren. Allerdings führt Bartolus durchaus kanonistische Allegationen zur Beantwortung weltlich-rechtlicher Fragen an. Und ausgerechnet in der wichtigen Frage des De Tyranno, „ob die Taten eines Tyrannen ohne Herrschaftstitel … Geltung besitzen“,⁵⁹ beruft sich Bartolus nur auf kirchenrechtliche Titel: Diese rechtlichen Handlungen des Tyrannen sind von Grund auf keine Handlungen und besitzen somit zu keiner Zeit Geltung. Dasselbe gilt für diejenigen Handlungen, die von den Amtsträgern vollzogen werden, die durch die Tyrannen selbst eingesetzt wurden, und zwar aus demselben Grund; dies findet sich ausgedrückt im Liber Extra im Titel de scismaticis, im ersten Kapitel, und in der neunten Causa des zweiten Buchs des Decretum Gratiani, erste Frage, fünfter Kanon.⁶⁰
58 Ebd., 166: „Et ex hoc nota, quod regimen quod est per electionem est magis divinum, quam illud quod est per successionem.“ 59 Bartolus 1983b, 188: „[Q]uero an gesta per tales tyrannos manifestos ex defectu tituli vel eorum tempore valeant.“ 60 Ebd.: „[A] fundamento sunt nulla et sic nullo tempore valuerunt. Idem de hiis que fiunt ab officialibus positis per ipsos tyrannos, eadem ratione; et est expressum extra, de scismaticis, c. i, et viiii, q. i, c. ordinationes.“
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Wendet Bartolus also Kirchenrecht unzulässig auf Fragen weltlichen Rechts an? Impliziert seine Anwendung zweier kirchenrechtlicher Titel auf sein weltlich-politisches Problem einen Primat des kanonischen vor dem römischen Recht? Der Blick ist genauer darauf zu richten, wie Bartolus diese Stellen aus dem Liber Extra und dem Decretum Gratiani argumentativ verwendet. Schließlich sprechen beide ausschließlich von religiösen Handlungen, nämlich solchen, die von Schismatikern vorgenommen werden und folglich keine Wirkung haben: Ungültig sind solche Ordinationen, Spendenkollekten sowie die Zusammenlegung und Veräußerung von Kirchengütern, die von Schismatikern vollzogen wurden, und es wird von amtlichen und priesterlichen Würden suspendiert, wer das Schisma befürwortet.⁶¹ Ordinationen, die von exkommunizierten Häresiarchen sowie von denjenigen vorgenommen wurden, die einen Bischofssitz noch zu Lebzeiten des Vorgängers an sich gerissen haben, erklären wir für ungültig, es sei denn, die Ordinierten können beweisen, dass sie nichts davon wussten, dass sie von Verdammten ordiniert wurden.⁶²
Diese kanonistischen Bestimmungen von der Gültigkeit der Handlungen eines Häresiarchen, Schismatikers bzw. eines Usurpators eines Bischofssitzes werden von Bartolus auf Handlungen des illegitimen weltlichen Herrschers übertragen und damit über die kirchenrechtliche Zuständigkeit dieser Titel hinaus verallgemeinert. Dies stellt nur dann keine unzulässige Anwendung genuin kanonistischer Gesetzgebung auf weltlichem Felde dar, wenn Bartolus in diesen kanonistischen Bestimmungen sich ein Prinzip von universaler Geltung niederschlagen sieht, d. h. ein Prinzip, das sowohl für kirchliches als auch für römisches Recht Geltung besitzt. Nur insofern stellt die Allegation kanonistischer Titel auf einen säkularen Fall argumentativ keine unzulässige Verallgemeinerung dar. Es steht zu vermuten, dass Bartolus hier gemäß der topica legalis eine Argumentation a simili vollzieht: Was für die Geltung von Handlungen kirchlicher Amtsträger und ihrer Angewiesenen gilt, muss auch für die Geltung von Handlungen weltlicher Amtsträger und ihrer Angewiesenen gelten. Die Pflichten eines weltlichen Herrschers gegenüber seinen Untertanen werden mit den Pflichten eines Bischofs gegenüber seinen Schäfchen verglichen. Beweiskraft wie der Topos a genere kann eine Argumentation a simili jedoch schon im Hinblick auf die allgemeine und die juristische Topik nicht für sich beanspruchen.⁶³ Auch für Bartolus und insbesondere in den Augen seines Schülers Baldus de
61 X 5.8.1: „Irritae sunt ordinationes, beneficiorum collationes, et ecclesiasticarum rerum alienationes per schismaticos factae, et a dignitate et ordine suspenduntur qui schisma tenere iurant.“ 62 DG II, C. 9, q. 1, c. 5: „Ordinationes, que ab heresiarchis factae sunt nominatim excommunicatis, et ab eis, qui catholicorum adhuc uiuentium episcoporum sedes inuaserunt, irritas esse iudicamus nisi probare ualuerint, se, cum ordinarentur, eos nescisse dampnatos.“ 63 Vgl. Schröder 2012, 44–47.
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Ubaldis hat das argumentum a simili lediglich vermutenden Charakter (a coniecturis), ist also lediglich wahrscheinlich (probabilius), nicht aber gesichert (certe).⁶⁴ Im vorliegenden Falle scheint allerdings offensichtlich, dass sich in der Ähnlichkeit des weltlichen und kirchlichen Regelungsgegenstandes ein Allgemeines manifestiert, und dieses Allgemeine erst stellt die regula iuris dar, eine Maxime also, die an sich weder allein weltlich noch allein kirchlich ist. In diesem Sinne wird schon seit den Glossatoren unter regula iuris weniger das Ausdehnen eines Gesetzes auf einen Fall, der eigentlich nicht unter seinen Zweck fällt, verstanden (interpretatio extensiva), sondern vielmehr die „Zusammenfassung übereinstimmender rationes verschiedener, speziellerer Anordnungen“.⁶⁵ Indem die regula iuris in diesem Sinne zur Maxime vordergründig heterogener rationes im Sinne von Gesetzeszwecken (rationes legis) wird, wird zugleich die rein intentionale Semantik von ratio aufgebrochen: Insbesondere bei Bartolus meint ratio nicht mehr bloß Zweck des Gesetzes, sondern dessen Vernünftigkeit,⁶⁶ aus der sich jede Setzung von Zwecken allererst legitimiert. Die Vernunft legt nahe, dass die kanonistische Lex sich in der Weise verallgemeinern lasse, dass die generalisierte Norm sich eben nicht mehr auf kirchliche Regelungsgegenstände beschränkt. Quelle dieser allgemeinen Norm ist damit aber gerade nicht mehr das kanonistische Recht, sondern die Vernunft. Mag die Bedeutung der ratio für die Kommentare und Rechtsgutachten des Bartolus auch strittig sein,⁶⁷ so ist zumindest im Hinblick auf seine politisch-staatsrechtliche Argumentation hier dem Urteil Maximiliane Kriechbaums und Hermann Langes zuzustimmen: In der Tat trifft wohl zu, daß Bartolus es für seine Argumentation häufig mit einer Allegation von Quellenstellen bewenden läßt. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß er sich auf den bloßen Wortlaut der Gesetzesstelle gestützt habe und nicht weit mehr auf deren ratio.⁶⁸
Mit dieser ratio soll zwar nicht bloßer Spekulation Tür und Tor geöffnet werden; ebenso wenig aber beschränkt sie sich auf die Bedeutung von Zweck. Fernab eines echten Iusnaturalismus oder gar einer apriorischen Rechtslehre scheint hier mit ratio doch allemal eine vernunftgeleitete Verallgemeinerbarkeit gemeint zu sein. Diese ratio, die für das Handeln des weltlichen Herrschers und des geistlichen Oberhaupts gleichermaßen bestimmend ist, besteht zum einen in einem Argument a causa:⁶⁹ Bedingung einer gültigen Handlung einer ,Führungsperson‘ ist, dass diese ihre Führungsposition zurecht innehat; erfüllt der weltliche Herrscher diese Bedingung nicht, so sind seine Handlungen – genauso wie die eines illegitimen Bi-
64 Vgl. Lange/Kriechbaum 2007, 288–290. 65 Ebd., 292. 66 Ebd., 293. 67 Vgl. Coing 1954, 79, der den Rang der ratio bei Kommentatoren für überschätzt befindet. Vgl. dagegen Lange/Kriechbaum 2007, 308f. 68 Lange/Kriechbaum 2007, 309. 69 Vgl. Schröder 2012, 40f.
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schofs – ungültig (cessante causa cessat effectus).⁷⁰ Jene ratio scheint zum anderen in einem Argument a genere⁷¹ zu bestehen: Was von der Gattung ,Führungsperson‘ gilt, das gilt auch von seinen Arten ,weltlicher Herrscher‘ und ,Bischof‘. Mit anderen Worten: Was sich bei Bartolus auf den ersten Blick als schwaches argumentum a simili ausnimmt, ist tatsächlich ein starkes argumentum a causa und argumentum a genere zugleich. Damit ist diese Argumentation des Bartolus weder mehr bloß römischrechtlich noch bloß kirchenrechtlich noch auch beschränkt sie sich überhaupt auf positives Recht. Zwar ist ihre implizite Maxime nicht aus einem naturrechtlichen System gewonnen, wo es – wie bei Pufendorf – aus allein zwei fundamentalen Prinzipien deduziert würde;⁷² nichtsdestoweniger stellt diese regula bei Bartolus aufgrund ihrer Über-Positivität eine schlechterdings naturrechtliche Argumentation dar. Unklar bleibt indessen, ob Bartolus in diesem Fall ebenso schon wie sein Schüler Baldus die ratio legis als causa finalis bestimmt. Die hier offene Frage also ist, ob Bartolus seine gleichsam naturrechtliche regula durch einen bestimmten Zweck bestimmt sieht,⁷³ der dem Auftrag des weltlichen Herrschers und demjenigen des Bischofs gemeinsam ist. Insofern der unmittelbare Zweck der weltlichen Regentschaft im irdischen Wohl, der unmittelbare Zweck der geistlichen Regentschaft hingegen in der Vorbereitung auf das Seelenheil besteht, sich also die Zwecke weltlicher und geistlicher Herrschaft traditionell deutlich unterscheiden, wäre zu fragen, welches der mittelbare, gemeinsame und damit allgemeinere Zweck sein sollte, den beide verfolgen.
VI
Schluss: Materialer Positivismus und methodischer Rationalismus
Im Hinblick auf Bartolusʼ „besondere[s] Interesse an grammatikalischen und logischen Fragen“,⁷⁴ besonders aber mit Blick auf die Naturalisierungen und den Rang, den die ratio in Bartolusʼ politischem Denken einnimmt, ist für den Peruginer zwar sicherlich noch kein materialer Rationalismus festzustellen – die Natur bzw. die natürliche Vernunft an ihr selbst sind keine Rechtsquellen, weder hinreichende noch notwendige. Als Rechtsquelle fungiert stets positives Recht, mal weltliches, mal kirchliches. Jedoch ist bei Bartolus nicht auch ein methodischer Positivismus festzustellen. Die Begriffspaare materialer Positivismus – materialer Rationalismus und methodischer Positivismus – methodischer Rationalismus sollen abschließend vorgeschlagen
70 Ebd. 71 Ebd., 36. 72 Vgl. Bach 2013. 73 Lange/Kriechbaum 2007, 306–308. 74 Ebd., 692.
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werden, um differenzierter über den Status der bartolischen Rechtslehre wie auch denjenigen des frühneuzeitlichen Naturrechts und die Kritik letzterer an ersterer sprechen zu können. Bartolus schätzt ebenso schon wie Dinus den argumentativen Mehrwert und den hohen Rang der ratio: Sie besitzt je schon Geltung; die regula dehnt die ratio nicht konstruktivistisch aus, sondern erhellt nur jenen immer schon vorhandenen Geltungsbereich. In dieser Weise der ratio untergeordnet, soll die regula vom Verdacht der Beliebigkeit freigesprochen und damit schlechterdings mit lex identisch werden.⁷⁵ Bartolus ist in der Tat noch kein Vertreter des materialen Naturrechts. Er hält sich an die tradierte juristische Rechtsquellenlehre. Gleichwohl hat sein materialer Positivismus nicht auch einen methodischen Positivismus zur Grundlage oder zur Folge. Für Bartolus von Sassoferrato gilt wohl in besonderem Maße, was Maximiliane Kriechbaum und Hermann Lange für die Kommentatoren des Mittelalters konstatieren: Für die mittelalterlichen Wissenschaften ist es zweifellos kennzeichnend, daß sie sich maßgeblich mit Texten befaßt und eigene Gedanken in Auseinandersetzung mit überlieferten Texten entwickelt haben. Man sollte diese Art der Vorgehensweise und Methodik wohl von dem Aspekt trennen, wieweit dabei die zugrundegelegten Texte gleichzeitig als auctoritates gegolten haben, und die Methode, sich sachlichen Fragen durch die Erschließung von Texten zu nähern, nicht von vornherein mit der Anerkennung der betreffenden Texte als auctoritates gleichsetzen.⁷⁶
Bartolus legt positives Recht methodisch vernünftig aus, aber leitet es nicht – wie die Naturrechtsschulen des 17. Jahrhunderts – materiell aus der Vernunft ab; er ist materialer Positivist und methodischer Rationalist. Insofern aber seine positiven Rechtsquellen allererst durch ihre Vernünftigkeit Geltung besitzen, ist schon bei Bartolus eine Physik der Macht nur unter den Bedingungen einer Metaphysik der Macht zu haben.
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75 Ebd., 293. 76 Ebd., 305.
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Alexander Kagerer
Altes und frisches Blut. Genealogische Konstruktionen von Macht unter Habsburgern und Fuggern im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit * 1
Die Macht des Blutes um 1500
Macht¹ als „Ensemble wechselseitiger Abhängigkeiten von politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Faktoren“² stellt ein explizites Sinngebilde dar.³ Dieses ist kein factum brutum, keine Gegebenheit und auch keine Struktur, die Bestand hat oder zerfällt. Vielmehr entwickelt, verwandelt, organisiert sich Macht ständig neu und setzt mehr oder weniger gut angepasste Verfahren ein. Dabei wurzeln Machtbeziehungen im gesamten gesellschaftlichen Geflecht.⁴ Sie überlagern und kreuzen sich, stellen Strategien dar, Machtstrategien, wenn man so will, um den Bestand einer bestimmten Situation abzusichern. Als entscheidendes Ziel kann gelten, Machtbeziehungen in einer derartigen Weise zu systematisieren und zu stabilisieren, dass sie Formen von Zuständen annehmen.⁵ Zustände von Macht schlagen sich mitunter in der Sprache, in der Bedeutung der Wörter, in performativen Handlungen, in Denkweisen sichtbar nieder, die damit als Schlüssel der Macht verstanden werden können.⁶ Der Sprache selbst mag man Machtstrukturen unterstellen. Sie ist das schon immer dagewesene Medium der Macht. Regeln der Sprache und jene der Gesellschaft – so die Voraussetzung für diese These – müssen dabei als miteinander korrespondierend betrachtet werden:
* Die Studien stehen im Kontext meiner Dissertation „Kaiser und Kaufmann. Entwürfe von Macht um 1500“. Mein besonderer Dank gilt Beate Kellner für ihren starken persönlichen Rückhalt, ihre Inspiration und besonders für ihre sprichwörtlich Grundstein legende sowie kontinuierliche Förderung. Vor allem Johannes Burkhardt, Uta Goerlitz, Martin Hollegger, Elisabeth Klecker, Alfred Kohler, Jan-Dirk Müller, Ulrich Pfisterer, Barbara Stollberg-Rilinger und den Münchner Kolleginnen sowie Kollegen – allen voran Dominic Bormann und Kathrin Gollwitzer-Oh – sei herzlich für ihr Interesse an meiner Arbeit, besonders für ihre wertvollen Tipps gedankt. 1 Zum Begriff der ‚Macht‘ vgl. grundlegend: M. Weber 1972, 28. Einen Überblick zu Machttheorien bei Göhler 2004, 244–261. 2 Lutter 1998, 12. 3 Kerner 1982, VII. 4 Foucault 2005, 260. 5 Ebd., 298. 6 Grubmüller 1975, 209–230.
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„Makrokosmos [spiegelt] sich im Mikrokosmos, … die Gesellschaftsordnung, ja auch die Konstitution des einzelnen, … [spiegelt] sich in der Sprache.“⁷ Sprache ist als das Bauprinzip der Macht anzusehen.⁸ Sie ist es, die mit ihrer Grammatik, verstanden als Regeln und Bauprinzipien von Texten, Riten und Symbolen, das Fundament der Macht darstellt.⁹ Sogar die ‚Sprache‘, über die sich visuelle Medien ‚mitteilen‘, mag ein Machthaber für sich einzunehmen, zu prägen und zu funktionalisieren. Der Akzent liegt hier auf dem Besonderen: Macht verbindet sich mit Wissen. Und es geht nicht darum zu bestimmen, wie Macht über bestimmte Konstellationen Wissen unterwirft,¹⁰ sondern darum, wie Strategien über Wissen die gesellschaftliche Kommunikation beeinflussen:¹¹ Wie lesbar oder unlesbar Macht ist, hat entscheidende Bedeutung.¹² Spannungen von neuen und alten Medien, von sich überschneidenden und gleichzeitig differenzierenden Strategien, von Expansionen und Veränderungen der Macht scheinen besonders im ausgehenden 15. Jahrhundert und beginnenden 16. Jahrhundert Mitteleuropas als einer Zeit „tief greifender gesellschaftlicher, religiöser und medialer Umbrüche“¹³ offen aufzubrechen, gerade auch daher, weil es zu einer Pluralisierung von Wissensbeständen und epistemischer Ordnungen kommt.¹⁴ Die Vielfalt politischer Propaganda¹⁵ umspannt verschriftlichte Mündlichkeit, gedruckte face-toface-Kommunikation, repräsentative Öffentlichkeit im Druck.¹⁶ Die Ideologie der
7 Kellner 2004, 45. 8 Erweitert man diese These radikal, würde die Verdrängung einer alten Sprache durch eine neue Sprache eine fundamentale Neuorientierung von Werten, Handlungsmustern, im allgemeinen Sinn des Denkens der gesamten Gesellschaft nach sich ziehen: „Wenn die Neusprache erst ein für allemal angenommen und die Altsprache vergessen worden war … sollte sich ein unorthodoxer … Gedanke buchstäblich nicht mehr denken lassen, wenigstens insoweit Denken eine Funktion der Sprache ist.“ (Orwell 2004, 274.) 9 Grubmüller 1975, 209–230. 10 Foucault 1976, 96–97. 11 Kellner 2004, 103. 12 Voigt 2008, 91. 13 Kellner/J.-D. Müller/Strohschneider 2011, 1. 14 „Dieser Pluralisierungsbegriff wie der ihm komplementäre der ‚Autorität‘ entstammt dem Reflexionshorizont des Sonderforschungsbereiches 573 (Autorität und Pluralisierung in Spätmittelalter und Früher Neuzeit) … . Seine Leitthese besagt, daß die Frühe Neuzeit … eine Epoche gesteigerter Pluralisierungen und Pluralitätserfahrungen darstellt, die ihr Widerlager in Strategien der Autorisierung, der Norm- und Ordnungsstiftung findet. … Pluralisierung bedeutet dabei nicht einfach Vervielfältigung, Vielfalt als rein quantitative (statistische) Tatsache; sie setzt vielmehr Konflikte …, Diskrepanzen …, Dissens … oder Disparität … voraus. Pluralisierung in diesem Sinne meint widerständige, unabgegoltene, potentiell konflikthafte Vielfalt, die – ob als solche intendiert oder nicht – Reaktionen der Homogenisierung, der Komplexitätsreduktion oder der Ordnungsstiftung herausfordert.“ (J.-D. Müller/Robert 2007, 8.) 15 J.-D. Müller 2004, 97. 16 Ebd., 103–105.
Altes und frisches Blut. Genealogische Konstruktionen von Macht
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Mächtigen ist auf Schlagbilder,¹⁷ Visiotypen¹⁸ und Riesenschriften¹⁹ angewiesen, will sie sich über genormte Bausteine inszenieren, Wiedererkennungseffekte sicherstellen und eine gewünschte Gegenwärtigkeit evozieren. Macht in der Frühen Neuzeit offenbart sich durch multifunktionale Medien, über Zeremonielle, Rituale, durch Flugschriften, gedruckte Holzschnitte, Monumentalbauten und auch über Lieder wie Sprüche – selbst dann, wenn letztere von sich aus keine offiziell-administrative Funktion haben.²⁰ Einen zentralen Mechanismus zur Fundierung von Macht stellt in Gesellschaften mittelalterlicher beziehungsweise frühneuzeitlicher Prägung die Genealogie dar: Sie ist die „dominante mentale Struktur“.²¹ Sie ermöglicht dem Einzelnen, sich mit der Gruppe zu identifizieren, Kontinuität, Orientierung und Sicherheit zu schaffen. Unter Berufungen auf das Blut seiner Verwandtschaft wird dem Machthaber ein „Transzendenzraum“²² zugeschrieben, der ihm Idoneität²³ verleiht: „Dieser ‚Transzendenzraum‘ war die Tiefe der Vergangenheit seiner Dynastie“, so Gert Melville.²⁴ Als institutionelle Ordnungen können Genealogien auch gerade dann verstanden werden, wenn sie im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit ein basales Modell der Ordnung von Wissen und einen zentralen Mechanismus der Fundierung von Macht darstellen.²⁵ Jürgen Habermas hat das System der Verwandtschaftsbeziehungen in archaischen Gesellschaften als die totale Institution beschrieben: Es regle gänzlich die soziale Zugehörigkeit und die Rollendifferenzierung und ziehe eine Grenze der sozialen Einheit.²⁶ Beispiele für diese Beobachtung sind mehr als sinnfällig, aber je spezifisch.²⁷ Der Geltungsbereich in der Macht des Blutes wurde im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit durch bereits hoch organisierte staatliche und kirchliche
17 Vgl. Diers 1997, 25–27. 18 Vgl. Seelentag 2004, 303. 19 Burckhardt verwendet diesen Begriff im Kontext zur Charakterisierung des Selbstbildes der spätägyptischen Gesellschaft: „Die ägyptischen Monumente sind die mit Riesenschrift geschriebenen Bücher ihrer Geschichte“. Vgl. Burckhardt 1848, 39. 20 J.-D. Müller 2004, 117. 21 Kellner 2004, 15. 22 In Anlehnung an das epistemologische Schichtenmodell von Foucault 2003, v. a. 98 und Foucault 2005, v. a. 19–20; vgl. hierzu: Dünne 2006, 293–294 und Rau 2013, v. a. 90–91. 23 Zur Begriffsbestimmung: Andenna/Melville 2015, 15–17 und v. a. Peltzer 2015, 23–37. 24 Melville 2013, 150. 25 Zur Verwandtschaft im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit mit unterschiedlichen Ergebnissen, Methoden und Zielsetzungen: Bloch 1983; Heck/Jahn 2000; Finucci/Brownlee 2001; Kellner 2004; Melville/Rehberg 2004; Weigel 2002; dies./Parnes/Vedder 2004; Weigel 2006. 26 Habermas 1995, 235; vgl. dazu mit Blick auf das Mittelalter: Kellner 2004, 13–15. 27 Vgl. die Beispiele bei Assmann 1992, v. a. 163–195, 196–228, 259–292. Differenzierter und mit einer Reihe an Beispielen für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit vgl. Kellner 2004, v. a. 46: „Den Rahmen bzw. die Matrix … [der] genealogischen Darstellungsformen bilden im christlichen Mittelalter zweifelsohne die alttestamentarischen Geschichten vom Ursprung der Menschheit und der kontinuierlichen Zeugung der Geschlechter seit Adam sowie die Genealogie Christi im Neuen Testament – pointiert formuliert also die biblische verbürgten Genealogien der Menschheit und des Gottessohnes.“
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Institutionen soweit eingeschränkt, dass er keinesfalls mehr als ‚total‘ verstanden werden kann.²⁸ Dennoch behalten Genealogien als naturalisierende Herrschaftslegitimationen weiterhin einen segmentär-familialen Organisationsmodus noch als so bedeutsam bei, dass sie den Charakter des Institutionellen weiterhin tragen.²⁹ Sie stellen Strukturen der Ordnung dar, die für das Individuum wie auch für das Kollektiv Stabilität und Kontinuität gewährleisten sollen. Genealogien geben dem kollektiven Handeln Konsistenz und lenken es. Weiter gefasst könnte man Genealogien als transpersonale Steuerungssysteme der Gesellschaft auffassen, als Generatoren der Sozialisation zur Stabilisierung und Konstitution einer Gemeinschaft. Genealogien sind als politischer Mythos verifizierbar. Über Genealogien wird Macht konstruiert, werden Eigengeschichten immer wieder neu vergegenwärtigt sowie Brüche verdeckt.³⁰ In der Frühen Neuzeit mitteleuropäischer Prägung fällt auf, dass das Genealogische nicht nur nach wie vor ein zentrales Dispositiv zur Fundierung von Ansehen sowie zur Strukturierung von Wissen darstellt, vielmehr wird es auch in besonders kühnen, medial zum Teil sehr komplexen Konstruktionen in seiner Bedeutung gegenüber dem späten Mittelalter noch gesteigert, vor allem auch dann, wenn im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit verstärkt Skepsis und Zweifel gegenüber genealogischen Konstruktionen und der Macht der Natur aufkommen. Gleichzeitig droht die Familie ihren Charakter als Abstammungsgemeinschaft zu verlieren und zunehmend zu einer ökonomischen Einheit zu werden, besonders im städtischen Bereich.³¹ Die folgende Studie wird die Analyse verstärkt auf die Habsburgerkaiser Friedrich III., Maximilian I. und Karl V. sowie die Fugger von der Lilie konzentrieren. Geradezu komplementär kann so die Konstruktion von Macht in unterschiedlichen Kreisen – dem ‚uralt‘ dynastischen einerseits, dem ‚neuadelig‘ kaufmännischen andererseits, der um 1500 immer mehr Bedeutung gewinnt – in ihrer medialen³² Vielfalt untersucht werden. Anhand der Trias der Kaiser Friedrich III., Maximilian I. und Karl V. soll das jeweilige genealogische Selbstverständnis im dynastischen Raum analysiert werden: Ahnenstolz, Herkunftsbewusstsein, Anspruch und Begründung des herausragenden Ranges der habsburgischen Dynastie, Darstellung des Ruhmes und der Auserwähltheit des eigenen Hauses scheinen die drei Herrscher in komplexen Verflechtungen
28 Kellner 2004, 1–130. 29 Vgl. die detailreichen Ausführungen ebd., 13–15. 30 Zu spätmittelalterlichen Korporationslehren vgl. v. a. Gierke 1868–1913, III, 134–351; Kantorowicz 1994, 279–443; vgl. auch Melville 1987b, 203–309. 31 Kellner 2004, 476. 32 Dass in politischen Ordnungsentwürfen unterschiedliche mediale Dispositionen, Modi von Zeichenhaftigkeit, textuelle und ikonische Strukturmuster nicht als ‚Einkleidungen‘ diskursiver Strategien zu betrachten sind, sondern als substantielle Konstituenten dieser Strategien selbst, ist eine der Ausgangsüberlegungen der DFG-Forschergruppe „Natur in politischen Ordnungsentwürfen: Antike – Mittelalter – Frühe Neuzeit“ (FOR 1986).
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von religiösen und politischen Ideologisierungen, die sich wechselseitig durchdringen, zu vereinen.³³ Memoria und politische Macht sind im Zusammenspiel performativer Inszenierungen unmittelbar aufeinander bezogen.³⁴ Doch legen die Herrscher auch verschiedene eigene Akzente in ihrer Herrscherrepräsentation und Herrschaftskonstitution an den Tag.³⁵ In immer neuen Nuancen und Konstellationen arbeiten die Kaiser am Gedächtnis herrschaftlicher Identität.³⁶ Die weit ausgreifenden Konstruktionsleistungen des habsburgischen Hofes über genealogische Entwürfe werden von der Kaufmannsfamilie der Fugger huldigend aufgegriffen und zugleich auch für ihre Machtkonstruktionen ‚fruchtbar‘ gemacht. Wie nah sich beide ‚Häuser‘, das Kaiserhaus und das Kaufmannshaus, trotz aller gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede in ihren Repräsentationsformen kommen, soll im Folgenden deutlich werden. Zentral wird es um eine Entschlüsselung der Grammatik in der Legitimation und Ostentation von Macht gehen: Das alte Blut der Habsburger sowie das frische Blut der Fugger stehen im Fokus.
2 Das alte Blut: Die ewige Potenz der Habsburger 2.1 Kaiser Friedrich III. und die Konstitution von Macht Allgemein hat sich ein Bild eingebürgert, das Maximilian als einen Kaiser der Wendezeit, seinen Vater Friedrich³⁷ dagegen als personifizierte Erzschlafmütze des Reiches aufweist.³⁸ Die Natur des Kaisers selbst, „seine Wesensart, die bereits Eneas Silvius als pene stupidum bezeichnete,“³⁹ steht dabei für eine vermeintlich träge, unentschlossene, zaudernde Politik ein. Friedrich, der „Maximilians Reformfreudigkeit … von Grund auf [ablehnte]“,⁴⁰ der ein Fürst mit „eingeschränktem Herrschaftsgebiet“ war,⁴¹ dessen „Herz an [nichts] hing“,⁴² der „dem Humanismus … verständnislos gegenüber[stand]“,⁴³ wird als einziges historisches Verdienst – wiederum in ganz
33 Oexle 1994, 171. 34 Ebd., 155. 35 Interessante Anregungen zur Differenzierung der politischen Kommunikation unter Maximilian I. und Karl V., zum Teil auch unter Friedrich III., bei Tischer 2005, 7–28; Lutter 1998, v. a. 145–199. 36 Merveldt 2004, 75. 37 Vgl. zur Person Friedrichs III. mit unterschiedlichen methodischen und thematischen Schwerpunkten: Rill 1987; Koller 2005 und v. a. die opulente Studie von Heinig 1997. 38 Hilscher 2000, 30. 39 Lhotsky 1966, 19. 40 Größing 2002, 113. 41 Wies 2003, 15. 42 Lhotsky 1971, 249. 43 Ebd., 157.
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natürlichen Bildern – die Tatsache zugewiesen, Maximilian gezeugt zu haben.⁴⁴ Maximilian und sein Vater Friedrich stellen allerdings nicht das Gegensätzliche dar – der Hof Maximilians ging aus demjenigen des Vaters hervor –⁴⁵ sondern vielmehr das speziell Andere, das Herrschaft auf ganz eigentümliche Art und Weise stilisiert.⁴⁶ Man mag sogar Gemeinsamkeiten finden. Sensibilisiert durch feine Differenzen sollen im Folgenden kurze Überlegungen zur Herrschaft Friedrichs, exemplarisch an medialen Manifestationen und ihren Rezeptionsweisen, angestellt werden. Musik ist ein wesentliches Medium für politische Inszenierungen im Mittelalter wie der Frühen Neuzeit.⁴⁷ Der Herrschaftsanspruch eines Kaisers, einer Dynastie oder einer Sippe kann sich über Musik ‚wahrer‘ als mit Worten nachweisen.⁴⁸ Lieder sind Medien mündlicher Geschichtsüberlieferung ebenso wie Musik ein Wissensspeicher sui generis ist.⁴⁹ Musik dient beispielsweise im Triumphzug Maximilians, einer 147 Blätter umfassenden Holzschnittfolge, die erstmals im Jahr 1526 gedruckt wurde,⁵⁰ über die Performativität des Rituals, das „nur als Kunstwerk existier[t]“, dem also kein realer Akt entspricht,⁵¹ zur Glorifikation der kaiserlichen Herrschaft.⁵² Sie fungiert als transzendentes Mittel der Macht. Im Triumphzug kommen Instrumente verbunden mit Wesen vor, die es in Wirklichkeit nicht gibt (Abb. 1).⁵³ Musik wird dort zur Phantasmagorie.⁵⁴ Ein kleiner, 112 Blätter zählender Apparat, der heute als Codex 4494 in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt wird,⁵⁵ beinhaltet autographe und persönliche Eintragungen Friedrichs. Manche davon sind mit Musiknoten versehen. Der Codex umfasst elf notierte, lateinische und deutsche literarische und liturgische Lieder (Abb. 2). Zusammen mit den Gebeten und den in einem Kalender zusammengefassten Heiligenfesten kann der Codex vor allem als ein der Buße und Erinnerung gewidmetes Medium betrachtet werden.⁵⁶ Der Herrscher selbst war es, der aus
44 Hilscher 2000, 25. 45 Henig 1993, 11. 46 Noflatscher 2003, 351. 47 Eusterschulte 1999, 199. 48 Wald 2007, 40. 49 Müller 2004, 107. 50 62 kolorierte Blätter von ehemals 109 sind erhalten; vgl. die Edition von Winzinger 1972. Vgl. auch Winzinger 1966, 157–173; Frenzel 2005, 12–18; Appelbaum 1964; Appuhn 1979. Zur Entstehungsgeschichte und zu den verschiedenen Bearbeitungsschichten vgl. J.-D. Müller 1982, 149–153. 51 Stollberg-Rilinger 2013b, 180; dort auch eine ausführliche Einführung zum Thema Ritual sowie zur Ritualforschung. 52 Dammann 1974, 260. 53 Kellner 2013, 66–77. 54 Dammann 1974, 260, 262. 55 Als eine literarische Quelle ist der Codex 4494 von Menhardt 1961, 1041–1043 katalogisiert worden. Auf seinen musikalischen Inhalt geht Stäblein 1975, 74–76 ein. 56 Strom 2007, 252.
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seinem Buch wie aus einem Libretto bei festlichen Anlässen mitlesen und vielleicht auch mitsingen konnte. Es ging dabei wohl nicht so sehr um das Singen für die Zuhörer, sondern um das Sprechen oder Singen zu sich selber. Der Codex stellt, so mag man konstatieren, die innere Grammatik der Herrschaft in Form einer gesungenen und in sich verinnerlichten Machtstrategie dar.⁵⁷ Und es sind nicht literarische Texte, die über ihre Narration einen Beitrag zur Konstitution der Herrschaft leisten könnten, sondern Lieder, verschriftlichte Musikstücke, die in das Gebetbuch Eingang fanden. Sie sind gleichsam das sinnstiftende Medium für Friedrich. Zusammen mit den Kalendern, in die Friedrich eigenhändig Einträge zu Todestagen und auch zu Festtagen wie Ereignissen vornahm, entsprechen sie einer Pflege der gedechtnus, „die um die eigene historische Identität bemüht ist“.⁵⁸ Obwohl der Codex 4494 keinerlei besonderen Schmuck aufweist, inszeniert er mit seinem Inhalt jedoch auf ganz spezifische Weise eine nach innen gerichtete Architektur der Macht, so mag man festhalten, weshalb ihm eine besondere kulturhistorische Stellung zukommt.⁵⁹
Abb. 1: Triumphzug Kaiser Maximilians I.
57 Grundsätzlich hierzu Hascher-Burger 2002. 58 Strom 2007, 251. 59 Ebd., 230.
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Abb. 2: Gebetbuch Kaiser Friedrichs III.: ÖNB cvp 4494, fol. 61r, Illuminare Jherusalem.
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Ein weiteres Medium der Machtkonstruktion sind Wappen, die wohl die denkbar knappste Ausdrucksform genealogischer Manipulation bieten.⁶⁰ Ihrer ‚Sprache‘ ist es möglich, die Anliegen des Herrschers zur Erhöhung seines Hauses diskret und unkompliziert zu gestalten. Sie sind nicht nur komprimierte Beschreibung eines rechtsverbindlichen Status, sondern sie entwickeln geradezu eine Eigendynamik. Unter Maximilian findet die Bildersprache der Wappen vor allem im Riesenholzschnitt der Ehrenpforte, die 1517/1518 erstmals gedruckt wurde, ihren Höhepunkt (Abb. 3).⁶¹ Auf dem dreitorigen, zentralperspektivisch konzipierten Triumphtor spiegeln Wappen, die weitestgehend reale Herrschaften bezeichnen, Komprimierung und Dekomprimierung von Herrschafts- und Geheimwissen wieder: „Monumentalität und Detailreichtum … stehen in Spannung zueinander.“⁶² Die Wappen strukturieren gleichsam das Wissen und setzen verschiedene Traditionslinien zum Panegyricus vereint zusammen. Die Rezeption der Ehrenpforte wird als unmittelbare Partizipation imaginiert.⁶³ Sie ist ein Gedächtnisraum, der einen sinnlichen Gesamteindruck vermitteln will. Als verkürzte Geschichte wird die Ehrenpforte zum theatrum memoriae, das die Rezipienten unterschiedlich weit in ihr Mysterium eindringen lässt.⁶⁴ Als Vorgänger der Ehrenpforte und als ganz eigentümliches Monument heraldischer Baukunst mag man die Wappenwand an der Ostseite der Wiener Neustädter Burgkapelle Friedrichs III. betiteln können (Abb. 4).⁶⁵ Die auf das Jahr 1453 zu datierende, vermutlich von Peter von Pusika erstellte Wappenwand ist trotz oder gerade wegen ihrer zweifelhaften heraldisch-genealogischen Fiktion mit höchstem Aufwand geschaffen worden. Von den 107 dargestellten Wappen sind nur 14 real; 93 Wappen zeigen hingegen Schilde und Helmzierate, die in der Realität nicht existierten.⁶⁶ Die Wappenwand erhält dadurch den Anspruch, die fabulöse Vorgeschichte des Hauses Habsburg zu monumentalisieren, ohne dabei allerdings zu sehr ins Detail gehen zu müssen. Der fiktive Inhalt der Wappenwand dient der Modellierung und der Sonderstellung habsburgischer Länder: Als in Stein gemeißelte Ambition wird die Herrschaft Friedrichs konstituiert. Die Wappenwand ist, so lässt sich festhalten, der untermauerte repräsentative Anspruch Friedrichs auf die österreichischen Erblande. Das Standbild des Herrschers ist in diesem Programm als ein Bestandteil fürstlicher, politisch-dynastischer memoria zu sehen (Abb. 5). 60 Hierzu vor allem der Beitrag von Schauerte 2011, v. a. 351–362. 61 Abdruck bei Chmelarz 1972, Tafel 21. Vgl. dazu Giehlow 1903, 91–110; Strieder 1960, 128–142; J.-D. Müller 1982, 153–159; Schütz 1992, 143–169; Lüken 1998, 449–490; Schauerte 2001; M. Müller 2004, 56–65; Schauerte 2005, 18–23; Kellner 2013, 78–90. 62 Vgl. Kellner 2013, 79. 63 In der von Johannes Stabius beigegebenen Clavis IV, 9–10 (Chmelarz 1886, Tafel 4) wird den Rezipienten vorgeschlagen, die Tore mit lob und eer zierlich [zu] durchwandlen, so wie sie auch der Kaiser in hohen eren durchwandelt hat (Clavis I, 13–14; Chmelarz 1886, Tafel 1). 64 J.-D. Müller 1982, 155. 65 „[Sie] … ist das größte, faszinierendste und auch künstlerisch anspruchsvollste heraldische Monument, das die nordeuropäische Kunstgeschichte des Mittelalters kennt … .“ (Schauerte 2011, 353.) 66 Boeheim 1834, 42–43.
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Abb. 3: Ehrenpforte Kaiser Maximilians I.
Abb. 4: Wappenwand Kaiser Friedrichs III.
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Abb. 5: Wappenwand Kaiser Friedrichs III (Detail).
2.2
Das gedechtnus-Projekt Kaiser Maximilians I.
Unter Maximilian nehmen genealogische Darstellungen und Legitimierungen von Macht eine geradezu programmatische Rolle ein: Die Grammatik seiner Herrschaft wird in umfassenden Projekten herrschaftlicher Repräsentation und gedechtnus ausgebreitet.⁶⁷ Herrschaft wird hier nicht mehr nur einfach über verwandtschaftliche Verflechtungen oder über die Konstruktion der Vorgeschichte entworfen, sondern gleichsam verwissenschaftlicht. Ein gelehrter Hofstab sammelt genealogische Spuren, wertet sie aus und gleicht die entworfenen Fiktionen unter Prämissen wie Methoden der humanistischen Geschichtsschreibung ab.⁶⁸ Den angelegten Großprojekten scheint das Ziel gesetzt zu sein, sämtliche Ebenen multimedialer Sinnstiftung förmlich in einer Materialschlacht mit ähnlichen Themen, aber auf je spezifische Art und Weise, anzusprechen: In Festkultur, Handschrift, Druck, Bild, Wappen,
67 Aus literaturwissenschaftlicher Sicht zu Maximilian I. grundlegend nach wie vor die Arbeiten: J.-D. Müller 1982; J.-D. Müller 1987; J.-D. Müller 1996; J.-D. Müller 1998; J.-D. Müller 2002; J.-D. Müller 2003; J.-D. Müller 2004; J.-D. Müller 2008/9; Strohschneider 1986; vgl. unter historiographischer Perspektive Clemens 2001 und vor allem die Arbeiten von Hermann Wiesflecker und seinem Umfeld, besonders Wiesflecker 1971–1986; Wiesflecker 1999; Hollegger 2005. 68 Kellner 2013, 54–55.
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Flugblättern, Musik, Monument und Architektur manifestiert sich das genealogische Programm auf unterschiedliche Rezeptionsweisen.⁶⁹ Geradezu enzyklopädisch und kaleidoskopartig breitet Jakob Mennel mit seiner voluminösen Fürstlichen Chronik⁷⁰ über fünf Bücher in sechs großformatigen Codices (Österreichische Nationalbibliothek = ÖNB cvp 3072* [Buch 1], 3073 [Buch 2], 3074 [Buch 3], 3075 [Buch 4], 3076 [Buch 5, Teil 1], 3077 [Buch 5, Teil 2]) die Genese des Hauses Habsburg von den Ursprüngen bis in die Gegenwart aus.⁷¹ Die Strategie der Chronik besteht darin, Macht historisch-genealogisch zu konstruieren.⁷² Der Herrschaft Maximilians kommt vor allem dadurch Legitimation zu, dass das Blut seiner Dynastie als ewig ausgegeben und eine mögliche Diskontinuität überschrieben wird.⁷³ Die Tendenz zur Quantifizierung von Herrschaft und Heil schlägt sich auch in der Arbeitsweise des Chronisten selbst nieder: Mennel organisiert die Materialfülle des habsburgischen Blutes sowohl im Text wie Bild. Trotz immenser Quellenverluste, welche durch Krieg, Feuer, Wasser oder auch Achtlosigkeit verursacht worden seien, so Mennel im ersten Buch,⁷⁴ ist es sein Anspruch, die Herkunft der Habsburger möglichst vollständig zu beschreiben. Er dokumentiert ausführlich die verwen-
69 Die Leitidee dieser Unternehmungen zur Sicherung der herrschaftlichen memoria gibt der junge weiß kunig im gleichnamigen autobiographischen Ehrenwerk Maximilians I. in eindringlicher Form wieder: wer ime in seinem leben kain gedachtnus macht, der hat nach seinem tod kain gedächtnus und desselben menschen wird mit dem glockendon vergessen, und darumb so wird das gelt, so ich auf die gedechtnus ausgib, nit verloren, aber das gelt, das erspart wird in meiner gedachtnus, das ist ain undertruckung meiner kunftigen gedächtnus, und was ich in meinem leben in meiner gedächtnus nit volbring, das wird nach meinem tod weder durch dich oder ander nit erstat. (Maximilian I. 1956, I, 226, c. 24.) 70 Fürstliche Chronik, ÖNB cvp 3072*–3077. Die Erschließung der Chronik wird erleichtert durch die Transkription der Handschriften bei Kathol 1999. Detaillierte Forschungen bieten Kathol 1998, 365–376; vgl. zu Jakob Mennel: Burmeister/Schmidt 1987, 389–395. 71 Überblick zu Inhalt und Struktur der Chronik bei Zimmermann 2011, 373–380; Kellner 2013, 55–57. 72 Die Fürstliche Chronik ist eine der zentralen Quellen im Teilprojekt 4 der Forschergruppe „Natur in politischen Ordnungsentwürfen: Antike – Mittelalter – Frühe Neuzeit“ (FOR 1986); ich greife hier auf die Forschungen durch Kellner/Webers 2007, 122–149; Webers/Hagemann 2009, 305–319; Zimmermann 2011, 373–380; v. a. Kellner 2013, 52–103 zurück. 73 Wie stark Mennel aus Nichtwissen fiktives Wissen produziert und wie enorm er seine Chronik aufbläht wird nicht zuletzt in der Gestalt des Ottpert, des ersten Habsburgers und damit Zentralfigur seiner genealogischen Gesamtkonstruktion, prekär. Sukzessive wird Ottpert von Buch zu Buch regelrecht belebt; ausführlich dazu Kellner/Webers 2007, 144–147. 74 Fürstliche Chronik, ÖNB cvp 3072*, fol. 2v–3r: deßgleichen das brieff register, rödel, seelbüecher unnd schrifften daran bey weylen am allermaisten gelegen ist durch kriegslöff, durch fewer, durch wasser unnd ander nöten an vil ortte entfrembt oder villeicht durch unvleiß verwarlost, zerrissen oder gar verloren sind, darzu auch die schryfften, figuren unnd bildnussen in den altten stifften unnd gebewen altters halb dickh verblichen swerlich zeerkhennen.
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deten Quellen⁷⁵ und führt aus, dass er deren Wahrheitswert geprüft und die richtige Version im kritischen Abgleich zu finden versucht habe.⁷⁶ Neben den weiten Beschreibungen zum genealogischen Blut der Dynastie in den ersten vier Büchern führt das zweigeteilte fünfte Buch die Verbindung der Dynastie mit dem Himmel vor. Die transzendente Anbindung zeigt an, dass Maximilian auch einen Großteil der himmlischen Sphäre für sich beanspruchen kann. Nicht mehr ‚nur‘ ein Ahn, sondern alle erdenklichen Repräsentanten von Heiligen und Seligen verleihen dem Geschlecht sakrale Würde. Ein Beispiel, das nicht stellvertretend für alle weiteren Phänomene im fünften Buch stehen kann, aber in seiner Eigenheit und Spezifik Wesenszüge offenbart, mag die von Mennel ausgeführte Legende der seligen Agnes, der Königin von Ungarn, sein.⁷⁷ Über ihre Erzählung bündelt Mennel gleichsam Heil in gedrängter Form und setzt die habsburgische Dynastie in enge Verbindung zu einer individuellen, personalisierten Biographie. Agnes, eine Habsburgerin von großer angeborner tugend,⁷⁸ begab sich, so Mennel, gemäß des Wunsches ihres zweiten Mannes, König Andreas III. von Ungarn, nach dessen Tod zu einer geistlichen Einsiedlerin vom Johanniterorden.⁷⁹ Nach prophetischen Worten dieser, gründete Agnes auf der Todesstätte ihres Vaters das Kloster kungsfeld.⁸⁰ Hier setzt Mennels Erzählung mit einer regelrechten Ansammlung Frieden bringender und Versöhnung stiftender Taten ein: Sie pflegte und tröstete Schwangere, Kranke, Arme, feierte Friedensmahle, um Grafen, Freiherren, Ritter und Städter zu versöhnen, erreichte für viele Verurteilte Begnadigungen, spendete armen Klöster Geld und war stets bemüht, den Dienst an Gott zu fördern.⁸¹ Kurz: Agnes ist liebhaberin deß Friden, die mit allen menschen mitleiden hat.⁸² Davon, so Mennels Intention, soll die habsburgische Dynastie profitieren: So wie ihre Einzelmitglieder heilig in ihrem Schaffen sind, so ist das gesamte Geschlecht heilig und verbunden durch gleiches Blut, das die Fähigkeiten, Begabungen und Einstellungen immer in sich trägt und alle Generationen miteinander verbindet. Die graphischen Darstellungen der Fürstlichen Chronik unterstützen die schriftlichen Ausführungen nicht nur, sondern bringen in der Zweidimensionalität der Fläche die Geschichtskonstruktion in anderer Weise als das Nacheinander der
75 Ebd., fol. 8v–12v. 76 Ebd., fol. 31v. 77 Fürstliche Chronik, ÖNB cvp 3076, fol. 92r–111r. 78 Fürstliche Chronik, ÖNB cvp 3076, fol. 92v. 79 Ebd., fol. 96v–97r. 80 Ebd., fol. 97v. Dass Königsfelden, nach allem was man weiß, nicht von Agnes, sondern von Elisabeth von Götz-Tirol gegründet wurde, ist ein weiterer Beleg für Mennels Tendenz, alles im Sinne einer habsburgischen Politisierung und im Gewande habsburgischer Geschichte umzuschreiben. 81 Fürstliche Chronik, ÖNB cvp 3076, fol. 102v, fol. 103r, fol. 103v, fol. 106r, fol. 108v. 82 Ebd., fol. 103r.
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Schrift zur Anschauung. Schrift und Bild stehen in einem Wechselverhältnis. Sie kommentieren und erläutern sich gegenseitig.⁸³ Die bildlichen Darstellungen fungieren dabei besonders als Orientierungshilfen.⁸⁴ Als repräsentative Gedächtnisräume zur Konstitution der Herrschaft dienen vor allem die Pfauenspiegel des vierten Buches, die Gedächtnisräume der Herrschaft Maximilians entwerfen (Abb. 6). Sie bieten der Zusammenschau der genealogischen Verbindungen eine besondere Plattform durch heraldische Vergegenwärtigung. Sie komprimieren die Geschichte und erfassen sie sozusagen synchron mit einem Blick, was der Schrift in ihrer Linearität nicht möglich ist. So gelingt es ihnen, prozessuale Abläufe der Geschichte simultan vorzuführen. Der Pfau ist ein Memorialzeichen ideologisierter Herrschaft Maximilians,⁸⁵ schreibt über seine mythologische Vergangenheit förmlich Maximilians Herkunft in die Gegenwart ein und manifestiert den prospektiven Führungsanspruch der habsburgischen Dynastie.
Abb. 6: Pfauenspiegel, in: Mennel, Jakob: Fürstliche Chronick genannt Kayser Maximilians Geburtsspiegel, ÖNB cvp 3075, fol. 32v–33r.
83 Kellner/Webers 2007, 126. 84 Indem die Generationenreihen ins graphische Medium der Ketten (detailreich dazu: Kellner/Webers 2007, 122–149; Kellner 2013, 55–60 und Zimmermann 2011, 374–378) übertragen werden, erhöht sich die Suggestion einer strikten linearen Abfolge des Hauses Habsburg (Melville 1987a, 57–114). 85 Zimmermann 2011, 382.
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Im Zaiger fasst Mennel die voluminöse Fürstliche Chronik in wesentlichen Zügen in einem eigenen Codex zusammen (ÖNB cvp 7892), der in eindringlicher Form habsburgische Macht vor allem in Bildern widerspiegeln soll. Das Verhältnis von Texten und Bildern verändert sich in diesem Werk für den Kaiser grundlegend.⁸⁶ Anhand des Zaigers soll dem Kaiser die Möglichkeit gegeben werden, die Genealogie seines Hauses in systematisierter Form rasch durchzublättern, wie Mennel in der Vorrede selbst erläutert.⁸⁷ Über die Visualisierung der Gründung (Abb. 7)⁸⁸ und des weiteren Aufbaus des habsburgischen Geschlechts (Abb. 8)⁸⁹ in Zentralszenen ist der Dialog zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem, zwischen Ursprung sowie der Kontinuität der Dynastie repräsentiert. Schließlich sortieren Medaillons, die an Stammbäumen hängen, die Genealogie und zeigen die ‚lange‘ Macht Habsburgs im Blut (Abb. 9). Das Stammbaumfresko im Habsburgersaal auf Schloss Tratzberg, wohl 1505/ 1506⁹⁰ zur Huldigung Maximilians durch die in den Adelsstand aufgestiegene Kaufmanns- beziehungsweise Bürgerfamilie Tänzl initiiert,⁹¹ präsentiert auf insgesamt 46 Metern 148 Erwachsene und Kinder der Habsburger. Ähnlich der Fürstlichen Chronik verkörpert der Stammbaum die Macht des dynastischen Blutes, allerdings kommt es zu weitreichenden Verschiebungen im Darstellungsmodus. Zu diesem „größten und monumentalsten Stammbaum des Österreichischen Hauses Habsburg …, der bis dahin je geschaffen worden ist“,⁹² können im vorliegenden Rahmen jedoch nur Perspektiven angedeutet werden.⁹³
86 Beschreibung genauer bei: Kellner 2013, 62–65. 87 Fürstliche Chronik, ÖNB cvp 7892, fol. 2r–2v. 88 Kurze Textpassagen kommentieren die Bilder. Der Text unterhalb lautet hier: Hie haben sich ettlich derselben gleich an der seit des raines … nidergelassen und auff ainem hohen grossen berg ain wohlhabend stark vest schloss oder burg gebuwen und freyen willen ward das berg und die burg habendspurg deshalb dieselben als dann nit meer franken sonder habendspurger genampt sind worden. (Ebd., fol. 10*r–v.) 89 Die Textpassage darunter: Hier haben die sieghaften von habspurg über all ihr erobert land ain künig gemacht. (Ebd., fol. 12r.) 90 Zur Datierungs- und Zuschreibungsfrage an Hans den Maler von Ulm vgl. die Überlegungen bei Heye 2003, 10–11. Dort auch die Diskussion, ob Stammbäume der Ambraser Sammlung Ferdinands II., beispielsweise der „Voland-Stammbaum“, als älter zu gelten haben. (Ebd., 11–13.) 91 Nach kontinuierlicher Erweiterung des Landes Tirol, das Maximilian durch Erzherzog Sigmund dem Münzreichen übertragen wurde, kam Schloß Tratzberg „aus seiner bisherigen Randlage“ (Heye 2003, 10) in den Mittelpunkt der habsburgischen Ländereien. Maximilian überantwortet 1499 das Schloß zusammen mit weiteren wirtschaftlichen Rechten der über ihre Bergwerksunternehmen in den Adel aufgestiegenen Kaufmanns- und Bürgerfamilie Tänzl und macht es von „einem landesfürstlichen Lehen z[u] [ihrem] Eigenbesitz.“ (Ebd.) Als Auflage der Übertragung des Schlosses und des Tausches gegen die Feste Berneck verpflichteten sich die Tänzl zum Wiederaufbau des abgebrannten Tratzberg. Sie nutzten den Renaissanceausbau um 1500 auch zur Huldigung des neuen Landesherren durch eine Darstellung seiner mächtigen Genealogie. 92 Heye 2003, 10. 93 Die Analyse des Stammbaums stellt ein Forschungsdesiderat dar. Beispielsweise wäre grundsätzlich zu fragen, ob es sich hier überhaupt um einen Stammbaum handelt: Die folgenden Ausführungen werden immer wieder die Spezifika der Bilderchronik herausarbeiten, die das ursprüngliche ‚Bild‘ eines Stammbaumes modifizieren sollen.
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Abb. 7: Gründung, in: Mennel, Jakob: Kayser Maximilians besonder buch, genant der Zaiger, ÖNB cvp 7892, fol. 10*r.
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Abb. 8: Krönung, in: Mennel, Jakob: Kayser Maximilians besonder buch, genant der Zaiger, ÖNB cvp 7892, fol. 12r.
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Abb. 9: Stammbaum, in: Mennel, Jakob: Kayser Maximilians besonder buch, genant der Zaiger, ÖNB cvp 7892, fol. 39v.
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Der Stammbaum von Tratzberg zeigt in halblebensgroßen Körperportraits bedeutende Vertreterinnen und Vertreter Habsburgs: Sie ‚stehen‘ zwischen König Rudolf I. von Habsburg, mit welchem der Stammbaum beginnt, und den Kindern Johannas von Kastilien und Philipps des Schönen, mit denen das Bilderkabinett endet.⁹⁴ Die Sukzession in der Zeit beziehungsweise das kontinuierliche ‚Fließen‘ des Blutes von Generation zu Generation ist über braune Äste – für die kognatische Linie – und grüne Äste – für die agnatische Linie –, von denen weitere Zweige abführen und sozusagen genealogische Verästelungen dieser Unilinearität bilden, symbolisch nachgezeichnet, damit als ‚natürlich‘ inszeniert. Auf den vier Wänden des Saales verzweigt sich von der Westwand über Nord- und Ost- zur Südwand der Stammbaum Habsburgs. Die einzelnen Vertreter sind mit als Schriftrollen fingierten Texten näher beschrieben;⁹⁵ eine Ausnahme bilden die zum Zeitpunkt des Entstehens des Stammbaums noch lebenden Habsburger, also Maximilian, Philipp der Schöne sowie dessen Töchter Isabella und Maria: Ihre Schriftrollen blieben leer. Die Reihung der Körper steht für die Gesamtgenealogie der Dynastie. Im Kern basiert der Stammbaum jeweils auf einem Doppelpaar, bestehend aus Frau und Mann, das sich gegenübersteht und durch Äste verbunden ist mit Vor- wie Nachfahren im Blut, zugleich mit Vorgängern und Nachfolgern im Amt. Indem der Stammbaum horizontal ausgeführt ist – bedingt durch das Anbringen auf den begrenzten Platz der vier Wände des Habsburgersaals im Schloss –, kommt es zu einer Art ‚Drehmoment‘ in der genealogischen Sukzession. Rezipienten ‚lesen‘ die Genealogie nicht frei, sondern werden eher wie in einem ‚Text‘ linear von links nach rechts geführt.⁹⁶ Beginnt man beim ‚Spitzenahn‘ des Stammbaums, hier bei Rudolf I. an der Westwand, so dreht sich die Sukzession der Figuren jeweils ‚körperweise‘ über die Nord-Ost-Achse weiter bis hin zur Südwand, die mit den Kindern Johannas von Kastilien und Philipps des Schönen – diese sind nur noch in unvollendeten Entwurfsskizzen angedeutet – die Genealogie abschließt; eine Ausnahme bilden die Portraits von Isabella und Maria, die 1501 beziehungsweise 1505 geborenen Töchter von Johanna von Kastilien und Philipp den Schönen: Ihre Bildnisse sind im Gegensatz zu denen ihrer Geschwister vollständig ausgeführt.⁹⁷ Doch sind sie nicht mehr an der abschließenden Südwand bei ihren Eltern oder Schwestern und Brüdern lokalisiert, sondern in die Westwand mit aufgenommen – ein Ast verbindet sie noch mit
94 Isabella und Maria werden noch gezeigt, die Darstellungen von Eleonore, Karl und Ferdinand kamen über Entwurfszeichnungen nicht hinaus, Katharina fehlt vollständig, was für einen Entstehungszeitraum um 1505/1506 spricht. 95 Heye 2003, 15. 96 Sie in entgegengesetzte Richtung zu lesen – also zeitlich gesehen rückwärts – widerspricht der ‚Leseordnung‘ von links nach rechts, die durch den ‚Lauf‘ der Äste wie die überwiegend nach rechts hin orientierten Körperhaltungen der Figuren hergestellt ist. 97 Eindrücklich ist hier die Abbildung bei Heye 2003, 165, die die Entwurfsfassungen der Kinder und zugleich das von der Südwand in die Westwand ‚gerutschte‘ Paarbildnis von Isabella und Maria zeigt.
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ihren Eltern. Als ‚letzte‘ Vertreter Habsburgs im Stammbaum von Tratzberg reichen sie damit eng an ihre ‚ersten‘ Vorfahren heran – sie ‚rutschen‘ in das Umfeld ihres Urahns, Rudolfs I. an der Westwand. In dieser Konstellation ist neben der Sukzession ein Kreislaufmodell dargestellt. Das Blut zirkuliert nicht (nur) von Anfang bis Ende, von ‚links nach rechts‘, von der West- zur Südwand, sondern weitaus einprägsamer dreht sich die Genealogie in Form eines Kreisels, eines perpetuum mobile. Unabhängig davon, wo man den Einstieg im Betrachten des Stammbaums an den Wänden wählt, man kann weder einen Anfang noch ein Ende der Habsburgergenealogie erkennen: Nirgendwo im Stammbaum ließen sich Markierungen finden, die diese anzeigten, beide fallen vielmehr in eins, die Macht der Dynastie ist unendlich. Die Führung in der Blickrichtung der ‚Zuschauer‘ übernehmen dabei die Äste: An ihnen schlängeln sich die Körper der Vertreter Habsburgs entlang. Sieht man genauer hin, so führen die Äste teilweise in die Rücken der Habsburger,⁹⁸ teilweise streifen sie sie,⁹⁹ teilweise sind es nur ihre Blätter, die in die Richtung der menschlichen Körper weisen.¹⁰⁰ Bei den mächtigsten männlichen Vertretern Habsburgs – also denjenigen, die Erzherzogstitel, Königs- und Kaisertitel erworben haben – kommen die Äste direkt aus ihrer Brust: Sie treten im Rücken ein, was die Verbindung mit den Vorfahren anzeigt, und treten mitten aus dem Herzen wieder heraus, was die Verbindung mit den Nachfahren symbolisiert.¹⁰¹ Neben dieser Hierarchisierung innerhalb der habsburgischen Genealogie fällt auf, dass die direkte Linie von Rudolf I. bis Maximilian I. und Philipp den Schönen hervorgehoben ist: Ihre Paarbildnisse sind jeweils mit einem blauen Wolkenhintergrund als besonders tragend und bedeutungsvoll markiert (Abb. 10, 11, 12 und 13).¹⁰²
98 So beispielsweise bei: Graf Hartmann von Habsburg, Herzog Heinrich von Österreich und Herzog Leopold II. von Österreich-Habsburg. 99 Teilweise werden die Äste im Arm gehalten: So z. B. von Herzog Leopold I. von Österreich. 100 So etwa bei Königin Agnes von Ungarn, Herzogin Katharina von Österreich, Herzogin Elisabeth von Österreich, Herzog Friedrich von Österreich. 101 So König Albrecht I. von Habsburg, Herzog Rudolf II. von Österreich, König Rudolf von Böhmen, Herzog Ott der Fröhliche, König Friedrich der Schöne, Herzog Albrecht II. von Österreich, Herzog Albrecht III. von Österreich, Herzog Albrecht IV. von Österreich, Herzog Leopold III. von Österreich, König Albrecht II., Erzherzog Ernst der Eiserne, Herzog Friedrich IV. Kaiser Friedrich III., Kaiser Maximilian I. und Philipp der Schöne. 102 Wie bei König Rudolf I., König Albrecht I., Herzog Albrecht II., Herzog Leopold III., Erzherzog Ernst dem Eisernen, Kaiser Friedrich III., Kaiser Maximilian I. und Philipp dem Schönen. Eine Besonderheit stellt das Portrait bei einem der unbekannt gehaltenen Söhne König Rudolfs von Böhmen dar: Der grüne Ast verläuft sich in einer kleiner dargestellten blauen Wolke, womit wohl „angedeutet wird, daß dieser Ast sehr wohl zum nächsten Stammhalter des Hauses Habsburgs nach König Albrecht I., nämlich zu Herzog Albrecht II. dem Weisen … führen soll. Offenbar aus Gründen der ausgewogenen graphischen Gestaltung wurde der Ast jedoch nicht tatsächlich und linear dorthin geführt, sondern sein Ziel durch die kleine blaue Wolke angedeutet.“ (Heye 2003, 66.)
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Abb. 10: Stammbaum Schloss Tratzberg: Hans der Maler von Ulm, Habsburger-Stammbaum (1505/ 1506), Ausschnitt: Erzherzog Ernst der Eiserne von Österreich mit Margarete von Pommern-Stettin und Cimburgis von Masovien.
Abb. 11: Stammbaum Schloss Tratzberg: Hans der Maler von Ulm, Habsburger-Stammbaum (1505/ 1506), Ausschnitt: Kaiser Friedrich III. mit Eleonore von Portugal.
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Abb. 12: Stammbaum Schloss Tratzberg: Hans der Maler von Ulm, Habsburger-Stammbaum (1505/ 1506), Ausschnitt: Kaiser Maximilian I. mit Bianca Maria Sforza und Maria von Burgund.
Abb. 13: Stammbaum Schloss Tratzberg: Hans der Maler von Ulm, Habsburger-Stammbaum (1505/ 1506), Ausschnitt: König Philipp der Schöne mit Johanna von Kastilien.
Zusammenfassend könnte man den Stammbaum als planimetrisches Gefüge¹⁰³ auffassen: Die Ordnung der historischen Phänomene, also der Sukzession der natürlichen Körper, wird über graphische Mittel – Äste, Blätter und Wolken – vorgenommen; die Texte haben Erläuterungsfunktion. Die Zwei-Dimensionalität der Wandfläche wird produktiv gemacht für die Repräsentation der Macht Habsburgs in der Zeit. Hergestellt
103 Melville 1987a, 68. Besonders entscheidend ist der Hinweis, dass diese Gestaltungstechniken erst im Spätmittelalter auftreten; mit Diskussion ebd., 67.
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wird eine geschlossene Kohärenz der an sich mehrschichtigen Habsburgergenealogie.¹⁰⁴ Mit anderen Worten: Geblüt ist hier als überzeitliche Potenz zur ‚Anschauung‘ gebracht, dynastische Argumentation über das uralte Blut ist im Stammbaum historische, nicht zuletzt machtpolitische Argumentation.¹⁰⁵
2.3
Der ewige Triumph Kaiser Karls V.: Ein neuer Augustus
Nach dem Tode Kaiser Maximilians Anfang 1519 übernahm dessen Enkel Karl das habsburgische Erbe.¹⁰⁶ Um erfolgreich in der anstehenden Königswahl zu bestehen, musste sich Karl gegen Franz I. von Frankreich durchsetzen. Bereits in dieser Situation zeigte sich, mit welch hohem Aufwand die habsburgische Propaganda Karls Wahlkampf betrieb und intensiv mit den Fähigkeiten Karls beispielsweise bei den Kurfürsten argumentierte: Karl wurde als junger, vitaler, starker und zugleich hoffnungsvoller Fürst, der gegen Frankreich und den Papst auftreten würde, dargestellt.¹⁰⁷ Derartige Inszenierungen beschränkten sich nicht nur auf die Zeit des Wahlkampfes. Auch nach der Wahl zum König und in seiner gesamten Regierungszeit als späterer Kaiser wurde Karl besonders dargestellt:¹⁰⁸ Es kam darauf an, den Herrscher als fähig zur Ausübung von Macht zu präsentieren. Karl hat wie sonst wohl kaum ein anderer Kaiser die Kunst für seine Herrschaftsidee und sein Herrscherbewusstsein instrumentalisiert, wobei antike Symbolik hinsichtlich seiner weltumspannenden Macht zunehmend an Bedeutung gewann. Interessant erscheint es, panegyrische Werke zu analysieren, auch wenn diese in der Forschung oft als marginal empfunden werden. Doch nimmt höfische, mitunter auch die päpstliche Panegyrik diverse Formen an, von denen die literarische, vor allem die poetische, Aufschlüsse hinsichtlich kultur- und geistesgeschichtlicher Perspektiven verspricht.¹⁰⁹ Besonders über den Weg literarischer Antikenrezeption wurde unter Karl versucht, dessen Bedeutung als gleichsam neuer Augustus zu bestätigen.¹¹⁰
104 Ebd., 83. 105 Mit Diskussion der Forschung vgl.: ebd., v. a. 216. 106 Allgemein dazu Kohler 1999; Schorn-Schütte 2000, v. a. 24–46; Diller 2000; Seipel 2000. 107 So eine Flugschrift von 1519 mit der Werbung für Karl bei den Kurfürsten: Nun ist die kgl. wirde von Hispani als ain geporner ertzherzog zu Osterreich nit das wenigst glid des hailigen Reichs und teutscher nation, des vordem vom loblichen hauß Osterreich denselben Reich und Teutscher nation alzeit getruwlich angehangen, hilff und beistand gethan … . (Werbung der//potschaften der durch//chleitigsten Künig//künig Karolus von Hispanien … ; zitiert nach der Quellensammlung von Kohler 1990, 46–47.) 108 Umso mehr erstaunt, wie wenig bisher in der Forschung die Inszenierungsformen Karls V. untersucht wurden. Wohlfeil 2002, 21–57 kritisiert, dass sich bisher wenige Autoren beispielsweise mit der Ikonographie Karls V. beschäftigt haben und nur Vorarbeiten erbracht sind. 109 Römer 1998, 195–196; Römer 2002, 67. 110 Vgl. hierzu auch die Inszenierungen bereits unter Maximilian, der gleichsam als neuer Aeneas auftritt: Klecker 1994/95; Klecker 1995. Der Autorin verdanke ich zahlreiche Hinweise und Hilfestellungen.
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So feiert Caspar Ursinus Velius,¹¹¹ noch unter Maximilian zum poeta laureatus gekrönt, in der Ode De mirabili victoria Caesarianorum adversus Gallos ac potentissimi regis captivitate¹¹² den Sieg Karls über Franz I. bei Pavia aus dem Jahr 1525. Die nach Horaz’ bekannter alkäischer Strophe konzipierte Ode hat die virtus des Kaisers zum Thema. Sie ist der Inbegriff seiner Kompetenzen und Leistungen, die ihn zum Weltenherrscher macht:¹¹³ Dicenda virtus Caesaris et domus/Augusta Regum atque Imperii decus,/tot regna terrarumque fines/unius arbitrio subacti.¹¹⁴ Indem in den ersten Strophen berühmte Dichternamen wie Homer, Vergil und Horaz angesprochen werden, zeigt Velius, dass es des höchsten poetischen Geschicks bedarf, um den Taten des Kaisers überhaupt gerecht werden zu können. Mit knappen Andeutungen schildert er diese: Nunc copiosis, nunc opus est modis/et arte multa, nunc opus arduos/qui moliantur dythirambos/et moveant Helicona sacrum.¹¹⁵ In der Mitte des Werkes, im 50. der 100 Verse umfassenden Ode, fällt der Name Karls: His tam secundis auspitiis sua et/virtute Divum CAROLUS impiger/Hispana rursum ad regna tendit/ingrediens mare belluosum.¹¹⁶ Reminiszenzen an horazische Lyrik – vor allem an das Siegeslied carm. 4,14 – sind unverkennbar.¹¹⁷ Über rhetorische Fragen bereiten die folgenden Strophen auf den Sieg Karls vor:¹¹⁸ Credetis o vos talia posteri?/An facta vestram diminuent fidem/miranda non audita priscis/quae properans modo vidit aevum?/Ferrata Caesar contudit agmina/Regis superbi coepit et inclytum/ ipsum triumphatosque Gallos/nunc populis Latioque monstrat.¹¹⁹
Neben Karl lässt Velius in seiner Ode auch dessen Bruder Ferdinand auftreten: Ingens Deorum quale nec antea/munus dederunt nec melius dabunt,/tutela FERDINANDUS orbis/totius Imperiique custos.¹²⁰ Der Text spricht von einem commune terrarum Imperium¹²¹ und preist so die Bedeutung des dynastischen Blutes des habs-
111 Zu weiteren Analysen panegyrischer Dichtungen auf das Haus Habsburg durch Caspar Ursinus Velius, beispielsweise zu seinem ersten Stück „In laudem divi maximi Caesaris et Henrici VIII. Britanniae regis carmen“, das die Siege Maximilians über die Niederlagen der Feinde benennt, vgl. Plotke 2009, 97–100. 112 Text und genaue Interpretation bei Römer 2002, 79–82. Orthographie und Interpunktion sind dort dem modernen Usus angepasst. 113 Römer 2002, 71. 114 De mirabili victoria Caesarianorum, V. 29–32. 115 Ebd., V. 25–27. 116 Ebd., V. 49–52. 117 Vgl. Horaz 2005; carm. 4,14 V. 16: auspiciis pepulit secundis oder carm. 4,14 V. 47–48: beluousus … Oceanus. 118 Römer 2002, 72. 119 De mirabili victoria Caesarianorum, V. 53–60. Die Abschnitte weisen wieder verstärkt HorazBezüge auf, wenn die erste Römerrede carm. 3,1 oder wieder das Siegeslied carm. 4,14 anklingen: Römer 2002, 72–75. 120 De mirabili victoria Caesarianorum, V. 85–88. 121 Ebd., V. 65.
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burgischen Hauses von Ost bis West.¹²² Dieses steige sogar über das Römische Reich, symbolisiert durch das Kapitol, empor: Caedat et Austriae/sacrata moles iam Capitolii … .¹²³ Die Habsburger vollbrachten so Gewaltiges, dass das größte dichterische Talent dafür nicht mehr ausreiche, um es besingen zu können.¹²⁴ Im letzten Vers erscheint Karl geradezu als inspirierende Gottheit mit Jupiter auf eine Ebene gestellt: Nil flante desperemus aura/Caesaris et Iove tam benigno.¹²⁵ Der Kaiser ist verbunden mit dem (Götter-)Himmel. Durch den vielschichtigen Rekurs auf Horaz erreicht Velius eine Vertiefung der Kaiserpanegyrik.¹²⁶ Karl wird dieser Inszenierung gemäß auf die Stufe seines antiken Vorgängers, also Augustus, gehoben und übertrifft ihn zugleich.¹²⁷ Indem auch sein Bruder Ferdinand prominent neben ihm steht, ist die Ode ein Preis des Blutes der Habsburger schlechthin.¹²⁸ Als ein zweites Beispiel panegyrischer Huldigung Kaiser Karls V. mag das drei Bücher umfassende Epos De adventu Caroli V. imperatoris in Italiam Poemata ad Consalvum Pyretium¹²⁹ von Antonio Sebastiano Minturno gelten, das die Krönungsreise Karls von Spanien nach Bologna thematisiert.¹³⁰ Die Handlung spielt schwerpunktmäßig auf der Götterebene, „die historische Realität wird mit Hilfe eines fast schon überzogenen Götterapparates geradezu ausgeblendet.“¹³¹ Buch eins enthält ein consilium deorum: Der pater Divum – es ist Jupiter, der zugleich den Christengott darstellt – bereitet die Ankunft Karls vor und schlichtet Streit unter den Göttern. Buch zwei schildert die unter dem Schutz der Götter stehende Reise Karls nach Italien. Sein künftiges Schicksal wird Karl über eine Vision auf einer Seereise in Buch drei ausgebreitet. Die Krönungszeremonie Karls in Bologna stellt Minturno in Form einer Ekphrasis¹³² dar, die sich an Vergils Schildbeschreibung anlehnt: Dienende Geister des Königs Tybris arbeiten an einem Prachtgewand, das die Reise Karls und seine Doppelkrönung mit der Krone der Lombardei und der Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches entwickelt.¹³³ Karl wird mit Augustus verglichen:
122 Ebd., V. 73–75. 123 Ebd., V. 69–70. 124 Ebd., V. 97–99. 125 Ebd., V. 99–100. 126 Römer 2002, 75. 127 Damit zeigt sich ein gewisses Paradoxon der Inszenierungsstrategien auf höfischem Terrain um 1500: „An der normativen Geltung der Antike festhalten zu müssen, ohne die eigene Unterlegenheit einzugestehen. Nur die Antike, ihre Mythologie und ihr Formenkanon verleihen dem Hof und an seiner Spitze dem Herrscher Glanz und Ruhm, aber die Adaptation muss stets das Adaptierte zu überbieten behaupten.“ (J.-D. Müller 2009, 5.) 128 Römer 2002, 74. 129 Zur Datierung um 1536 und zum einzigen Druck um 1564 vgl. Dröthandl 1993, 75–79. 130 Eine Zusammenfassung des Inhalts bei Reisner 2004, 904–905. Detailreiche Analyse bei Römer 2002, 75–79. 131 Römer 2002, 76; dort auch genauer die Inhaltszusammenfassung. 132 Vgl. Rosenberg 1995, 297–318; Rosenberg 2007, 271–282. 133 De adventu Caroli V. imperatoris, III, V. 348–353; vgl. Minturnus 1564.
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Abb. 14: Francesco Mazzola, Karl V. mit Weltkugel (um 1530 Karl V.): Privatbesitz, New York; Öl auf Leinwand (172 cm × 119,4 cm). Siehe auch die Kopie durch Paul Rubens, Allegorie auf Kaiser Karl V. als Weltenherrscher (um 1605): Residenzgalerie Salzburg. Inv. Nr. 303; Öl auf Leinwand (166,5 cm × 141 cm).
Ipse sedens alte populis dat iura superbis,/cuncta recognoscit placide missosque piorum/undique legatos audit laetamque per omnem/composito Hesperiam divulgat
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foedere pacem/indicitque pius formidanda hostibus arma.¹³⁴ Wie der vergilische Augustus, auf den durch die Übernahme von Friedensprophetien aus der Aeneis hingewiesen wird,¹³⁵ bringt Karl Frieden. Minturno macht dabei „den Formen- und Motivschatz des antiken, speziell des vergilischen Epos sowohl für die Darstellung eines zeitgenössischen Ereignisses als auch für die Zwecke der Kaiserpanegyrik“¹³⁶ nutzbar und überhöht Karl regelrecht in Erwartung eines goldenen Zeitalters: Haec uni certe laus: ipso ut rege per omnem/Hesperiam redeant Saturnia saecula tandem/ optata, ac toto surgat pax aurea mundo.¹³⁷ Karl steht nicht nur für ein befriedetes Riesenreich ein, er verkörpert es sprichwörtlich. Neben den Texträgern symbolisieren diese Sinnrichtung nicht zuletzt visuelle Medien: Mit Horst Bredekamp gesprochen wird Karls Körper darin derart mächtig dargestellt, dass er als Kosmosleib¹³⁸ die Erde zu er- wie umgreifen imstande ist.¹³⁹ Hier sind politische Herrschaftsansprüche bis ins Extreme gesteigert, so könnte man die Ausführungen zu Karl V. über die Allegorie von Francesco Mazzolas Karl V. mit Weltkugel abschließen (Abb. 14).
3 3.1
Das frische Blut der Fugger:¹⁴⁰ Auftritt neuer Machtspieler Die Genealogie der Kaufmannsfamilie¹⁴¹
Die Fugger verwandelten regelrecht, so könnte man zuspitzen, ökonomische in symbolische Macht.¹⁴² Sie sprengten die Konventionen der ständischen Lebensführung, ignorierten als Zunftbürger die bürgerlichen Konsumschranken, als Reichsgrafen
134 Ebd., III, V. 408–412. 135 Genauere Ausführungen bei Römer 2002, 77–78. 136 Römer 2002, 78. 137 De adventu Caroli V. imperatoris, III, V. 427–429. 138 Mit anderen Quellenmaterialien und vor allem unter anderen methodischen Prämissen, aber ähnlichen Ergebnissen: Bredekamp 2012, v. a. 73–94. 139 Zum Globus als Metapher für Weltherrschaft: Bosbach 2002, 97–101. 140 Die Forschungsliteratur zu den Fuggern ist breit: Überblicksdarstellungen geben Ehrenberg 1896; Schulte 1904; Pölnitz 1960; Lieb 1958; Herre 1985; Häberlein 2006; Burkhardt 1996; Burkhardt 2008. Dabei erweist sich in der Forschung immer wieder ein zu ‚ökonomistischer Blick‘ auf die Geschichte der Fugger. Kritisch dazu: Burkhardt 1994, 19. 141 „Die Fugger gab es letztlich nicht, vielmehr schon frühzeitig miteinander konkurrierende Familienzweige bzw. seit 1575 sogar zwei Firmen, … zudem den Gegensatz von der Lilie zu den armen Verwandten vom Reh.“ (Koutná-Karg 1996, 89.) Zur Trennung der Linie Fugger von der Lilie in zwei Gesellschaften: Hildebrandt 1966, v. a. 57–71; Überblick auch bei Karg 1993, 99–109. 142 „Einen ersten Schritt auf diesem Weg unternahmen sie 1473, als Kaiser Friedrich III. finanziell nicht in der Lage war, anlässlich der Verlobung seines Sohnes Maximilian mit der burgundischen Erbtochter Maria [von Burgund] sein Gefolge angemessen einzukleiden. Die dem Kaiser in Augsburg
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verletzten sie die adligen Erwerbsbeschränkungen.¹⁴³ Dabei ist nicht die Frage zu stellen, ab wann sich die Familie nicht mehr als bürgerlich, sondern als adelig verstand;¹⁴⁴ vielmehr ist der Akzent auf die generationenübergreifenden, durch und durch politischen Strategien der Familie zu legen, wie diese sich dem Adel assimilierte und sich als ‚Mitspieler‘ in das Machtgefüge über Inszenierungen ihres Blutes einfügte.¹⁴⁵ Interessant ist dabei, dass das Kaufmannshaus der Fugger keine glorreichen Ursprünge angeben konnte, somit keine weite genealogische Rückführung vorführte; umso mehr inszenierte und repräsentierte es sich in der Gegenwart und übertraf darin nicht selten altadelige Dynastien noch um ein Weites. Die Repräsentation der Macht der Familie nahm, vorsichtig und positivistisch gesprochen, ‚herrschaftsähnliche‘ Züge an: In der Ausgestaltung von Festen und Feiern,¹⁴⁶ von Hochzeiten,¹⁴⁷ von Begräbniszeremonien,¹⁴⁸ in der Zurschaustellung von Kleidern und Wappen,¹⁴⁹ des Besitzes an Tieren¹⁵⁰ und der architektonischen Ausschmückung der Firmensitze¹⁵¹ profilierte sich die Familie. Die Fugger von der Lilie legten großen Wert auf die prospektive memoria. Träger dieser in die Zukunft gerichteten gedechtnus waren einerseits die Körper ihrer Familienmitglieder selbst, andererseits media und Strategien verschiedener Art: Die Brüder Ulrich, Georg und Jakob Fugger führten beispielsweise ihr Vermögen zusammen und übertrugen ähnlich einer ‚dynastisch-agnatischen‘ Erbfolge die Verwaltung des fuggerschen Besitzes auf Anton Fugger. Er nahm die Stelle eines ‚Regentenʻ ein¹⁵² und verkörperte die gedechtnus seiner Familie. Als memoria-Medium erbauten sich die Fugger die St. Anna-Kapelle. Mit dem eingelassenen Lilienwappen und der fuggerschen Handelsmarke im Fußboden diente die Kapelle als Grablege für männliche Mitglieder der Familie Fugger.¹⁵³ Die Epitaphe der Fugger, dominiert wiederum vom Lilienwappen, sind integrale media zur Förderung des überzeitlichen Charakters der Familie. Als weitere Mittler der eigenen Familiengeschichte dienten die in Auftrag gegebenen Werke¹⁵⁴ Fuggerchronik und
empfohlenen Fugger statteten die habsburgischen Gefolgsleute aus ihren Tuchvorräten aus, als Gegengabe verlieh ihnen Friedrich III. das Lilienwappen.“ (Voigt 2008, 332–333.) 143 Mörke 1983, 141–162; Koutná-Karg 1996, 87–106. 144 So die ältere Forschung, z. B.: Pölnitz, 1970; Hildebrandt 1966; Mandrou 1969. 145 Stollberg-Rilinger 1996, 45. 146 Koutná-Karg 1993, 89–98. 147 Hervorzuheben wäre beispielsweise die Hochzeit Antons des Jüngeren im Jahre 1591; ebd., 92. 148 Ebd., 91. 149 Jaritz 1993, 8–31; Dinges 1992, 49–76. 150 Lieb 1958, 401. 151 Ebd., 90–124; Kellenbenz 1990. 152 Scheller 2004, 44, 48–49. 153 „Die agnatische Gemeinschaft des Unternehmens bestand fort in der Gemeinschaft der Toten in der Kapelle.“ (Voigt 2008, 342.) 154 Erste Analyseschritte zu diesen Werken unternimmt Koutná-Karg 1993, 96–106.
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Ehrenbuch;¹⁵⁵ mit dem Oesterreichisch Ehrenwerkh ist ein besonders prägnantes Beispiel der Inszenierungsformen aus dem ‚Hause‘ der Fugger gegeben: Indem das Handelshaus darin die Geschichte der habsburgischen Dynastie bis Kaiser Karl V. nachskizziert – mit besonderem Schwerpunkt wird auf Kaiser Maximilian I. in einem eigenen Codex eingegangen –, imaginiert sie, wie nah sich beide Häuser sind. Die Fugger profitieren regelrecht von der Kraft des alten Blutes der Habsburger für ihr eigenes, frisches Blut: Die Macht Habsburgs wird fruchtbar gemacht für die eigene Machtposition.
3.2
Die Chronik des fuggerschen Blutes
Während man den Fuggern von der Lilie im 19. Jahrhundert den Status eines „wahrhaft aristokratisch gesinnte[n] Geschlecht[s]“¹⁵⁶ zuschreibt und apostrophiert, dass sie „den Handel in würdiger, großartiger Weise betrieben“¹⁵⁷ haben, so hatte man im frühen 18. Jahrhundert konstatiert: Die Grafen von Fugger stammen aus einer alten vornehmen Augspurgischen familie her. Herr Raimundus von Fugger wurde von Kayser Carolo V anfangs zum Freyherrn/hernach an. 1530 auf dem reichs-tage zu Regenspurg in den Grafen-stand erhoben.¹⁵⁸ Die Fugger von der Lilie, die erst 1803 (Fugger-Babenhausen) und 1913 (Fugger von Glött) in den Fürstenstand, also in den Hochadel erhoben wurden, besitzen unter solchen positiven¹⁵⁹ Sichtweisen seit der neueren Geschichte uralte Abstammung: Sie sind gleichsam dynastische Herrscher, ihre niedrige, nichtadelige Herkunft ist vergessen.¹⁶⁰ Für die Strategien der Fugger von der Lilie (vor allem um 1700,¹⁶¹ beginnend bereits mit den Konkurswellen ab 1650), die Handelsfirma abzuwickeln, sich vom so genannten bürgerlichen Erwerb abzuwenden und dem Landadel so erfolgreich anzugleichen, dass sie als ‚alt‘-adelig angese-
155 Entstanden in Augsburg, 1545–1547, mit Nachträgen von 1548/49 und im 18. Jahrhundert [Bayerische Staatsbibliothek München Cgm 9460]. Zum Erwerb des Ehrenbuchs der Fugger (Cgm 9460) zusammen mit dem Werk Fuggerorum et Fuggerarum … imagines (Cod.icon. 380) durch die Bayerische Staatsbibliothek aus dem Hause Fugger siehe den Ausstellungskatalog: Fabian/Bayerische Staatsbibliothek 2010. Ein Abdruck der gesamten Handschrift nach der Babenhausener Version bei: Rohmann 2004b; ausführliche Analyse von Rohmann 2004a. 156 Roth von Schreckenstein 1856, 553. 157 Ebd., 560. 158 Zwantzig 1709, 177. 159 Zur kritischen Perspektive auf die Fugger teilweise im 18., vor allem im 19. und 20. Jahrhundert, die ihren Handel und ihr Gewerbe als Ursache für wesentliche gesellschaftspolitische Schäden sieht und darin auch auf Martin Luther rekurriert: W. Weber 1996, 279–296. 160 Stollberg-Rilinger 1996, 45 liest diese Beispiele als Resultat der „erfolgreiche[n] soziale[n] Anpassung der Familie.“ 161 Häberlein 2006, 119.
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hen werden konnten, scheint man unter dieser Blickrichtung blind zu sein.¹⁶² Im 15. und 16. Jahrhundert setzen die Fugger von der Lilie andere Schwerpunkte: Sie konzentrieren sich um 1500 auf ökonomischen Erwerb, gleichzeitig auf die Konstitution und Legitimation ihrer Macht.¹⁶³ Die Fuggerchronik stellt, im Sinne eines genealogischen Werkes, ein zentrales Element in den Inszenierungen der Fugger von der Lilie über die Natur des Blutes dar. Mit mehr als 56 Handschriften aus dem 16. bis ins 18. Jahrhundert, die unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte setzen,¹⁶⁴ wird der hohe Stellenwert der Geschichte¹⁶⁵ der Familie angezeigt.¹⁶⁶ Ursprünglich von Clemens Jäger¹⁶⁷ ausgeführt,¹⁶⁸ wurde sie von unbekannter Hand zwischen 1561 und 1600 fortgesetzt. Die folgenden Untersuchungen konzentrieren sich auf den Zustand der Chronik im ausgehenden 16. Jahrhundert. Die Fuggerchronik legt den Schwerpunkt auf die Nennung einer Vielzahl von Eheschließungen, Geburten, Todesfällen und Feierlichkeiten, sie ist – wie es in der Vorrede heißt – eine Chronica des gantzen Fuggerischen geschlechts von ihrem Eintreten in Augsburg an bis auf dise jetzige junge herrn der Fugger hinaus in der gemelten stat Augspurg.¹⁶⁹ Erwerbungen von Graf- und Herrschaften, Stiftungen, Turniererfolge, Reisen, auch die Bautätigkeiten der Fugger – wie die Fuggerey¹⁷⁰ – sowie einzelne Landsitze und Schlösser – wie Schloß Kirchberg, Schloß und Dorf Schmiedchen, Schloß Biberbach¹⁷¹ – sind explizit genannt.¹⁷² Die Fuggerchronik führt paradigmatisch das Programm in der Generierung familienhistorischen Wissens vor: Sie speichert die Geschichte der Fugger von der Lilie im Text, sie präsentiert Herkommen¹⁷³ und besondere exempla der Familie. Mit Fugger Hans,
162 Stollberg-Rilinger 1996, 45. Dazu auch die Studien von Hildebrandt 1966. 163 Mandrou 1969, 54; Mörke 1983, 155. 164 „Die inhaltlich je nach spezifischem Interesse stark abweichenden Abschriften wurden offenbar für die verschiedenen Zweige des Hauses anlässlich von Heiratsverbindungen, oder für interessierte Kreise aus der Klientel und dem höfischen Umfeld der Fugger erstellt.“ (Rohmann 2007, 109.) 165 Ebd., 109. 166 Übersicht zur Überlieferung bei Lieb 1952, v. a. 299–301; weitere Exemplare ergänzt Koutná-Karg 1996, 87–106. 167 Zum Verfasser der Chronik, Clemens Jäger, vgl. nach wie vor Pölnitz 1941, 91–101. Den aktuellen Forschungsstand bietet die einschlägige Studie von Rohmann 2001; Rohmann revidiert die Einschätzung der älteren Forschung, Clemens Jäger sei angeblich „Haushistoriker“ der Fugger gewesen: ebd., 263–267. 168 Was aus den textuellen Übereinstimmungen mit dem „Ehrenbuch“ ersichtlich ist: Koutná-Karg 1996, 98. 169 Fuggerchronik, Vorwort; zitiert nach der Ausgabe von Meyer 1902. Eine dringend notwendige Neuausgabe steht bis heute aus. 170 Ebd., 29. 171 Fuggerchronik, 33, 64 und 80. 172 Stollberg-Rilinger 1996, 44. 173 „Herkommen war auch die Summe der Allianzen, und das Wissen um diese Allianzen war ganz unmittelbar Herrschaftswissen.“ (Rohmann 2011, 39.)
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so die Chronik, hat der erste Fugger vor 250 jarn das burgerecht in der stat Augspurg erheurat¹⁷⁴ und hat erstlich einen handl mit garn und wepsen gefüert:¹⁷⁵ Er ist zu einer Art Gründergestalt der Familie stilisiert. Das geblüet¹⁷⁶ der Familie nimmt eine besondere Stellung im Werk ein. Klar differenziert die Chronik zwischen den erfolgreichen Fuggern von der Lilie und den erfolglosen Fuggern vom Reh: Ihre Genealogie ist durch einen unfal gestört, ihr Stamm ist mit der zeit gar erloschen und verdorben, so dass vil derselben kinder … handwerk lernen müessen.¹⁷⁷ Aufstieg und Untergang sind hier dialektisch gedacht, werden aber auch produktiv aufeinander bezogen, wenn gerade der Untergang der Fugger vom Reh dazu führte, dass die Fugger von der Lilie ihre Solidarität mit diesen präsentieren konnten: Sie halfen den Fuggern vom Reh, eben und gerade auch finanziell.¹⁷⁸ Überhaupt hebt die Fuggerchronik die ehrenvollen Taten und Eigenschaften der Fugger von der Lilie besonders deutlich hervor. Sie greift hier auf Adelskonzepte zurück, um die Familienvertreter als würdevoll und tugendhaft zu inszenieren, da der ware adel allein aus gueten künsten und tugenten herfliesst.¹⁷⁹ So wird über Hans Jakob Fugger geschrieben: Er sei, was bekannt ist, … von herzen frumb gewesen, auch ein liebhaber aller gueten künsten.¹⁸⁰ Dabei verschmelzen ehrn und guet miteinander, wie es bei Jakob Fugger heißt, der gerade durch seine ausgezeichnete Bildung den kaufhandl auf vorbildliche Weise betreiben konnte.¹⁸¹ Die Präsentation des redlich und freundlichen gemueths und tugent einzelner Vertreter steht exemplarisch für das gesamte ‚Geschlecht‘, für all[e] herrn Fuggern.¹⁸² Betont wird auch der altchristliche Glaube der Fugger, sie sind ganz wider die Lutherei.¹⁸³ Ähnlich den Konstruktionen feudaler Genealogien obliegt es der Chronik, Brüche zu überbrücken und Kontinuität herzustellen, wenngleich im Text herausgehoben wird, wie schwer es sei, aus alten brieflichen uhrkhunden¹⁸⁴ Informationen der Vorgeschichte der Fugger zu erhalten. Das Herkommen der Fugger wird hier in eine Art Vorzeit verlagert. Auch wenn dies gegenüber habsburgischen genealogischen
174 Fuggerchronik, 1. 175 Ebd., 3. 176 Ebd., 9. 177 Ebd., 17. 178 Ebd., 14. 179 Ebd., 40. 180 Ebd., 40. 181 Ebd., 26. Stollberg-Rilinger 1996, 44 übersieht in ihren Interpretationen, dass das ‚Herkommen‘ der Handelsfamilie in der Fuggerchronik ebenso in ein Konzept des Ausstellens von ‚kaufmännischer‘ Vorbildlichkeit inbegriffen sein kann: Handel und Adel schließen sich nicht aus, werden als sich wechselseitig bedingend ausgestellt; Handelstätigkeit ist dahingehend in der Fuggerchronik ebenso thematisiert und wird eben nicht „fast ohne jeden Hinweis“ (ebd.) verschwiegen. 182 Fuggerchronik, 33. 183 Ebd., 93. 184 Ebd., 1.
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Phantasmen vergleichsweise nur weniger als 250 Jahre sind, so sind strukturelle Analogien zu beispielsweise der Fürstlichen Chronik unter Maximilian, zumindest auf den zweiten Blick, auffällig: Man greift Strategien und Konzepte adliger Inszenierungen auf, passt sie den eigenen Verhältnissen an beziehungsweise macht die eigenen Verhältnisse für genealogische Inszenierungen produktiv.¹⁸⁵ Dabei überdecken die Fugger den Charakter einer Neugründung: Es geht vielmehr mit der Fuggerchronik darum, das Blut ihrer Familie als immer während und kontinuierlich zu präsentieren.
3.3
Gespiegelte Ehren: Das Oesterreichisch Ehrenwerkh
Zu einer Steigerung dieser an der Fuggerchronik herausgearbeiteten Strategien in der Herstellung einer genealogischen Machtposition der Familie, wenngleich in ganz eigener Modifikation, kommt es im prachtvollsten, umfangreichsten und „wohl bedeutendsten“¹⁸⁶ Werk der Fugger von der Lilie: das – wie der Text sagt – Oesterreichisch Ehrenwerkh,¹⁸⁷ eine in mehreren, teilweise kolorierten Versionen¹⁸⁸ in München, Wien, Dresden und Augsburg überlieferte,¹⁸⁹ auf zwei Codices verteilte Geschichte des habsburgischen (Kaiser-)Hauses, durch Clemens Jäger¹⁹⁰ nach Vorarbeiten als Prachtfassung 1555 begonnen¹⁹¹– wobei diese Version mit dessen Tod 1561 unvollständig abgebrochen
185 Ähnlich den genealogischen Bestrebungen des Hochadels, aber auch Ländern und Provinzen, „konnten städtische Oberschichten sich … als Nachkommen der staufischen Reichsministerialität oder auch angeblicher Adelshäuser der Zeit Karls des Großen ausgeben.“ (Rohmann 2004, 27.) Hierzu einschlägig: Mauer 2000, 165–170. 186 Rohmann 2001, 274. 187 Zitiert wird in einer leicht geglätteten Transkription mit moderner Interpunktion und Klein- bzw. Großschreibung nach der Version der Handschrift in der Österreichischen Nationalbibliothek: ÖNB cvp 8613 und ÖNB cvp 8614; hier ÖNB cvp 8613, fol. 3v. Zur Altersreihung der Handschriften: Friedhuber 1973, 106–107. Eine detaillierte Aufarbeitung in der Forschung, die sowohl Text wie Bild aufnimmt, steht aus; eine Edition der Handschrift könnte hier Abhilfe schaffen, müsste allerdings die breite Handschriftenlage, ebenso den Druck von 1668 und nicht zuletzt den immensen Umfang des Werkes berücksichtigen: Potentiale digitaler Editionsmöglichkeiten könnten hier produktiv gemacht werden. 188 Einen Überblick zu den Versionen mit Beschreibungen und Darstellungen in der Forschung gibt: Rohmann 2001, 274–275. 189 Die Fassungen im Überblick: Bayerische Staatsbibliothek, Prachtfassung cgm 895 und cgm 896; cgm 897 als schmucklose Abschrift aus dem 18. Jahrhundert; cgm 898, cgm 899, cgm 900a, cgm 900b als weitere schmucklose Abschriften. Österreichische Nationalbibliothek, Prachtfassung cvp 8613 und cvp 8614; cvp 8614* als eine ins Kursive geschriebene unvollständige Fassung des ersten Bandes. Landesbibliothek Dresden, Cod.elect. 208 und Cod.elect. 209 (im zweiten Weltkrieg zerstört). Stadtbibliothek Augsburg, 2° Cod.Aug. 109 als eine schmucklose Abschrift. 190 Zur Zuschreibungs- und Mitarbeiterfrage vgl. die genaue Darstellung des Forschungsstandes bei Rohmann 2001, 275–276. 191 Roth 1927, 39–41.
Altes und frisches Blut. Genealogische Konstruktionen von Macht
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wurde.¹⁹² Es führt in sieben umfangreichen Büchern, die von zahlreichen kolorierten, fein ausgearbeiteten Wappen, vor allem Wappenstammbäumen, Fahnen, Portraits, Herolds-, Schloss- beziehungsweise Stadt-, Tumben-, wie Schlachtbildern und weiterer Darstellungen, so unter anderem von Besitztümern der Fugger (Abb. 15), begleitet werden, die Geschichte Habsburgs vor Augen:¹⁹³ Buch eins konzentriert sich dabei auf die Entstehung der Markh Oesterreich¹⁹⁴ sowie die Geschichte der Babenberger, nimmt sozusagen die ‚Vor-Geschichte‘ der Habsburger in den Blick ebenso wie Buch zwei, das sich auf das loblich herkhommen der vralten vnd gewaltigen Graven von Habspurg … von den Troianischen fursten aus Rom bis zu König Rudolf von Habsburg konzentriert;¹⁹⁵ Buch drei führt die Geschichte Ruedolffus Grave zue Habspurg¹⁹⁶ aus, während die habsburgischen Herrscher bis einschließlich Kaiser Friedrich III. in den Büchern vier bis sechs präsentiert werden;¹⁹⁷ schließlich geht Buch sieben in einem eigenständigen, an Umfang die Bücher eins bis sechs sogar noch übertreffenden zweiten Codex detailliert auf das leben Khaiser Maximiliani ein, … als dann volgen demselben alle anndere Ertzfursten des Oesterreichischen gebliets mit guetter ordnung ainnander nach,¹⁹⁸ allerdings ohne Karl und Ferdinand zu nennen, für die ein gesonderter Band geplant war.¹⁹⁹ Eine intensive Erforschung des Oesterreichisch Ehrenwerkh unter macht-, medien- und wissensgeschichtlichen Fragestellungen steht bis heute aus: Die folgenden Ausführungen können im Kontext der Rahmenthematik nur Anregungen bieten. Der Bearbeiter des Oesterreichisch Ehrenwerkh, Clemens Jäger, tritt zurück hinter Hans Jakob Fugger, stilisiert als Stifter bzw. Fundator,²⁰⁰ der in der Vorrede die Zielsetzung des Werkes in Ich-Form formuliert bzw. formulieren lässt: Vorred/Gnad, frid vnnd freud in dem heiligen/Geist wunsche ich Hanns Jacob Fugger, Herr vom Kirchberg vnd Weissenhoren,/vnnd zue Pfirdt, der Romischen kaiserlichen vnnd khuniglichen Maiesteten/Rath etc., als ain Stiffter vnd Ordinierer dises newen Oesterreichi/schen Ehernwerkhs, allen meinen Erben vnd Nachkhom/ben, sambt allen wahren/liebhabern des Edlen Oe/sterreichischen gebliets, yetzunder vnnd Jn/khünftiger zeit von gantzem hertzen/, Amen.²⁰¹
192 Ebd. 193 Inhaltsüberblick bei ders., 45–63. 194 So besagt das Inhaltsverzeichnis (Oesterreichisch Ehrenwerkh, ÖNB cvp 8613, fol. 3v): Eingang Ordnung vnnd/Erkhlerung wie ich dises mein Oesterreichisch/Ehrenwerkh in siben büecher aufgethailt vnnd/was Jn yedem buech begriffen vnnd gehandlet/werden soll. 195 Oesterreichisch Ehrenwerkh, ÖNB cvp 8613, fol. 3v. 196 Ebd., fol. 3v. 197 Zur genauen Unterteilung des Werkes im Inhaltsverzeichnis: Ebd., fol. 3v–4v. 198 Ebd., fol. 4v. 199 Roth 1927, 39; so auch Friedhuber 1973, 117. 200 Rohmann 2001, 277. 201 Oesterreichisch Ehrenwerkh, ÖNB cvp 8613, fol. 2r.
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Mit der Vorrede beginnt die Schilderung der habsburgischen Genealogie über den vogel Phoenix,²⁰² der „als Symbol für die Auferstehung und das ewige Leben“, zugleich als „profane Allegorie auf die Verjüngung“ wie als Symbolfigur der memoria mitaufgenommen ist.²⁰³ Nach den Schilderungen der Zerstörung Trojas, von da an sich der Stamm der Habsburger ausbreitet²⁰⁴ – Hector wird als ihr Spitzenahn angeführt, nicht der verrätter Enea²⁰⁵ –, folgen Schilderungen zu Romulus und Remus als Vorfahren der Habsburger.²⁰⁶ Neben detaillierter rechnung von anfanng der/welt²⁰⁷ bis zu den aktuellen Kaisern²⁰⁸ knüpft das Oesterreichisch Ehrenwerkh an die Ausführungen des historischreiber … Jacob Mannlius,²⁰⁹ genauer an seine Fürstlich Cronick an.²¹⁰ Sie gilt dem Oesterreichisch Ehrenwerkh als Beleg für die Genealogie der Habsburger; andererseits zeigt ihre Genese selbst auf, wie sehr Maximilian vonn natur vor allen anndern Oesterreichischen Erzfürsten ainen besonnderen fleiß zue den historien getragen auch hierinnen die rechte warhait zue wissen begert hat.²¹¹ Nach den Troianische[n], Sicambrische[n],/frannckische[n] auch frannckreichische[n] vnnd/burgundisch[en] konig,²¹² welche Mennel aufgeführt hatte, folgen im Ehrenwerk weitere Sukzessionslinien mit den Schilderungen vom Ottoperten.²¹³ Die „Rekonstruktionsversuche verschiedener Autoren [für die trojanische und römische Frühgeschichte] [werden] jeweils direkt mit den Widerlegungen durch Jakob Mennel konfrontiert.“²¹⁴ Das Oesterreichisch Ehrenwerkh fasst schließlich in fünf mainung die Ergebnisse Mennels zusammen.²¹⁵ Die enorme Vertrauensstellung, die Mennel als führender Genealoge bei Maximilian genießt, wird auch in einer Illustration pointiert (Abb. 16); der beigegebene Text unterstützt das Bild eines Kaisers, der sich aus der Fürstlichen Chronik vorlesen lasse: Die Figür zaiget hiemit klarlich an wie der theure
202 Ebd., fol. 3r. 203 Rohmann 2001, 118. 204 Oesterreichisch Ehrenwerkh, ÖNB cvp 8613, fol. 43v nennt in einem Gedicht zum Herkommen der Habsburger aus Troja Alba Longa; eine opulente Stammtafel führt Vertreter der Habsburger bis ins 16. Jahrhundert vor Augen: ebd., fol. 55v. 205 Ebd., fol. 51r. 206 Ebd., fol. 48r. 207 Ebd., fol. 48v. 208 Ebd., fol. 48v–50r. 209 Ebd., fol. 49r. 210 Ebd., fol. 49v. 211 Ebd., fol. 49r. 212 Ebd., fol. 55r. 213 Ebd., fol. 55v. 214 Rohmann 2001, 285; „die Bemühungen Maximilians und Konrad Peutingers um die Ansippung der Habsburger an den König Zwentibold“ (ebd., 285) sind in ÖNB cvp 8614, fol. 303v–304v aufgenommen. 215 Oesterreichisch Ehrenwerkh, ÖNB cvp 8613, fol. 52r–54r. Der Schwerpunkt liegt dabei darauf, woher der Name Habsburg komme.
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Kaiser Maximilian die geschichten seiner Elteren wert vom Herzen gerne hab gehört, sonders da er krankh gewesen die offt durch Manlium lassen lesen.²¹⁶
Abb. 15: Schloss und Markt Kirchberg, in: Fugger, Johann Jakob/Jäger, Clemens [Bearb.]: Oesterreichisch Ehrenwerkh. ÖNB cvp 8614, fol. 218r.
Mennels übersteigerte Konstruktionen aus der Fürstlichen Chronik sind im Oesterreichisch Ehrenwerkh der Fugger nicht mit aufgenommen. Die Verschiebungen der Ursprünge habsburgischer Genealogie bis zum Anbeginn der Menschheit – man könnte mit deren extremen Übersteigerungen davon sprechen, dass die Fürstliche Chronik geradezu enzyklopädischen Charakter gewinnt –²¹⁷ führen sich ja selbst ad absurdum, denkt man sie konsequent weiter: Nach ihnen wäre jede und jeder mit jedem und jeder verwandt, so dass die genealogische Exklusivität des Kaiserhauses in der universalen Genealogie der Menschheit regelrecht aufzugehen droht. „Die Genea-Logik … implodier[t]: Wenn alle Geschlechter miteinander verwandt sind, wird es schwierig, die Exklusivität der Habsburger im engeren Sinne noch zu
216 Ebd., fol. 55r. 217 Kellner/Webers 2007, 148.
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behaupten.“²¹⁸ Genau diese Kritik wird im Oesterreichisch Ehrenwerkh der Fugger in jenen Abschnitten geschildert,²¹⁹ die das Herkommen²²⁰ und die Natur²²¹ des ‚ersten‘ Dieners Kaiser Maximilians beschreiben: Conntz vonn der Rosen sticht in die ‚genealogische Wunde‘ der maximilianeischen Großkonstruktionen.²²² Als Hofnarr bringt er, so das Oesterreichisch Ehrenwerkh, einen Bettler und eine Hure vor den Kaiser und Mennel, als diese zue Augspurg in ihren genealogischen Arbeiten vertieft arbeiten und spricht vor ihnen: Lieber kaiser, du darffest dich diser erbaren leut nit enntsetzen, dann dieweil sie anzaigen, das sie dir nahennd berfreundt sein hab ich dier sie zuegebracht, damit du in deiner grossen arbait nit irrest vnnd das enndt desto belder erlanngen mogest … . Lieber kaiser vnd du Mannlius seinnd ir nit baide grosse Narren, das ir alle dinng inn ewren stammen bringen vnnd ausfuren wellen, dann ie lennger ir hinnder sich suechen, ie mer mein kaiser mir vnnd disen zwaien armmen mennschen befreunndt sein werden, dann es nit muglich, das dein geschlecht one narren, hurren vnnd bueben sein mag. …²²³
Das Bemühen der Habsburger, alles Blut auf Erden in ihren Stamm zu vereinnahmen, ist hier ganz wörtlich gemeint: Auch das Blut der Bettler und Huren, die stellvertretend alle unehrenwerte Schichten verkörpern, befindet sich in der Genealogie des Kaisers. Ihr unreines Blut würde genauso in den als rein inszenierten großgenealogischen Bahnen der Habsburger fließen. Pointiert in den Worten des Bettlers und der Hure: [D]er alt Bettler sagt, wie er vor grosser armuet verdorben, vnnd diewel alle mennschen vonn dem ersten vater Adam her, schwester vnnd brueder sein, so were sein demuettig begern, das sein kaiserliche maiestat ime vonn gemainnet bruederschafft vnnd freundschafft wegen ain stattlich hilff erzaigen vnnd beweisen solt … das weib … hatt … geanntwort, wie das sie ires alters inn dem vierzehennden Jar, bisz anher inn funfftzig iaren inn allen kriegen welch sein kaiserliche maiestat gefiert, auch zue miessigen vnnd fridlichen zeitten ann seiner Maiestat. hoff sich ennthalten, vnnd
218 Ebd. 219 Oesterreichisch Ehrenwerkh, ÖNB cvp 8614, fol. 309v–311r: Nün wellen wir vonn deß loblichen Kaisers Maximiliani diener Conntzen vonn der Rosen genannt welcher seiner Maiestat viel guetter kurtzweil gemachet vnnd seinen herren inn ainicher noth nie verlassen ain meldung thuen. (Ebd., fol. 309v.) 220 Ebd., fol. 309v bietet eine detaillierte Darstellung des Herkommens des Kunz von der Rosen aus khauffbeurn, mit Erklärung seines Namens (ebd., fol. 309v) sowie Ausführungen zu seinem Tod (ebd., fol. 311r); auch ein Portrait ist mitaufgenommen. (Ebd.) 221 Hier zeigt sich ein großes Interesse an diesem Diener, dessen Nahverhältnis zum Kaiser – vor allem auch aus populärwissenschaftlicher Sicht – immer wieder aufgegriffen wird. Der Text stellt dabei nicht nur seine kurtzweil heraus, die er Kaiser Maximilian anbietet, sondern auch seine Unterstützung in Kriegen, wenn es heißt: Dieser Conntz vonn der Rosen war vonn hertzen vnd gemiett vnerschrokhen vnnd ain rechter khuenhafftiger held, der den kaiser inn allen Schlachten vnnd scharmutzlen nie verlassen, im Gegenteil sogar in den gefährlichsten Augenblicken mit seiner ganzen Körperkraft zur Seite gestanden habe. (Ebd., fol. 310r.) 222 Auffällig ist, dass bei dieser Figur die ihm zugewiesene besondere höfische Stellung aus seiner Natur selbst heraus erklärbar gemacht wird. Vgl. ebd., fol. 309v: Da aber Connz vonn nattur gleichwol redlich vnnd warhafft aber vast frecher vnnd muettwilliger bueb war. 223 Ebd., fol. 310r.
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iederman vil liebe diennst mit irem leib erzaigt vnd bewisen habe, vnnd dieweil alle mennschen vonn Adam herkhommen, so bitte sie die kaiserliche Maiestat, das er sie solcher bruederichen sipschafft gemessen vnd also begaben lassen welle … .²²⁴
Kunz von der Rosen ist hier nicht nur als Narr und Gaukler markiert, der die Grenzen des kaiserlichen Machtbereiches überschreiten darf und den Kaiser vorführen kann, sondern eben auch als Vertrauter – das sagt der Text deutlich, wenn er als Diener des Kaisers markiert ist:²²⁵ In dieser Doppelfunktion kann er Kritik anbringen, jedoch nur in ‚verkleideter‘ Form des beißenden Spotts, über Ironie und ausschließlich im privaten Gemach des Kaisers, von der Öffentlichkeit ausgeschlossen. Im Umkehrschluss hieße dies aber auch: Was Kunz von der Rosen in der spezifischen Form seines extremen Nahverhältnisses zum Kaiser – er hat allwegen freien zueganng zue dem kaiser gehabt²²⁶ –, eben auch in seiner ‚außer‘-höfischen Stellung als narrenhafter Berater des Kaisers²²⁷ darf, das ist allen anderen verwehrt. Kritik dieser Art an den genealogischen Werken wird eben nicht über einen ‚normalen‘ Diener oder über gelehrte Mitarbeiter, sondern über die Rolle des Narren vorgeführt. Reaktionen bleiben, bis auf ein beherztes Lachen, aus: darauff Mannlius vnnd der Kaiser lachent gesagt, wir dachten wol das dise hanndlung durch unnseren Conntzen zuegericht worden, fahr hin, vnnd lass vunns zue friden. dann wir jetzunnder weitter zuehanndlen haben.²²⁸ Im Oesterreichisch Ehrenwerkh wird neben der Konzentration auf das genealogische Blut der Habsburger auch auf die einzelnen Herrscher eingegangen. Der Schwerpunkt liegt auf den Verhaltensweisen und Eigenschaften der einzelnen Potentaten, die stellvertretend für das Haus stehen: Vor allem Kaiser Friedrich III.²²⁹ und Maximilian I.²³⁰ stehen im Fokus. Ihre vorbildliche Position, die durch ‚wahre‘ Taten belegt werden kann, rückt in den Fokus: Friedrich und Maximilian sind Figuren, in denen sich das gesamte Reich, so die Inszenierung, aufgehoben vorfinden kann. Sie sind, ein jeder für sich genommen, jeweils optimus princeps und weisen das Habsburgergeschlecht als optima domis aus. Dabei charakterisiert das Ehrenwerk die zwei Herrscher nicht deskriptiv über die Benennung ihrer Taten, sondern ihre Lebensführung gilt als normativer Beweis ihrer ehrenhaften und machtvollen Stellung.²³¹
224 Ebd., fol. 310r. 225 Das Nahverhältnis geht sogar soweit, dass dem Text die Schilderung wert ist, Kaiser und Kunz von der Rosen seien im selben Jahr gestorben: ebd., fol. 311r. 226 Ebd., fol. 310r. 227 Ebd., fol. 310: Sein scharffe gedechtnis ist besonders hervorgehoben. 228 Ebd., fol. 310r. 229 Oesterreichisch Ehrenwerkh, ÖNB cvp 8613, v. a. fol. 311r–322r. 230 Oesterreichisch Ehrenwerkh, ÖNB cvp 8614, v. a. fol. 301r–309r. 231 Daher die intensive Bemühung, die historische ‚Wahrheit‘ auszuweisen.
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Das Sprechen über die Habsburger-Ehre ist im Oesterreichisch Ehrenwerkh nicht (nur) als Dekor für oder Dedikation an das Kaiserhaus gedacht, das durch die Fugger panegyrisch hervorgehoben wird; das Werk vereinigt komplizierter in sich verschachtelt Modi in der Macht-Konstitution des ‚Hauses‘ der Fugger: Das Oesterreichisch Ehrenwerkh ist viel mehr als reines ‚Reden‘ über die Ehre. Es ist als textuelles Medium integrativer Bestandteil in den breit angelegten Inszenierungsformen der Fugger. In der Repräsentation des Handelshauses als ‚Träger‘ der habsburgischen Macht – vermittelt durch die enge Anbindung vor allem an die Kaiser Friedrich III. und Maximilian I. – inszeniert man eine ehrenhafte Adelsfamilie, die mit dem Kaiserhaus generationenübergreifend verbunden ist. Indem die Fugger die als kontinuierlich und exklusiv markierte Macht der Habsburger ausstellen, diese geradezu in Text und Bild als ‚historisch‘ gesichert fingieren, schreibt man auch der eigenen Familie, dem eigenen Haus Geltung zu.²³² Die Fugger ‚adeln‘ ihr neues, frisches Blut über ihr Ehrenwerk selbst, indem sie sich einen ‚Spiegel‘ der Ehren und ihrer Macht erschaffen. Die Exklusivität in der Ausgestaltung des opulenten Doppelcodex spiegelt Ehre für die Fugger über die Habsburger nicht nur zurück, die Handschrift trägt sie bereits in sich, schlicht: Sie ‚verkörpert‘ das uralte habsburgische Blut und damit untrennbar verzahnt das frische fuggersche Blut. In diesem Sinne trifft der Titel des Druckes aus dem Jahr 1668 als Ehrenspiegel²³³ von Sigmund von Birken²³⁴ – erst hier wird das Werk im Auftrag eines Habsburgerkaisers, nämlich durch Leopold I., für die eigene Dynastie adaptiert – durchaus den strategischen Kern der ursprünglichen Handschrift. Gleichwohl deutet diese Intention im Druck darauf hin, dass die Handschrift über die Repräsentation der habsburgischen Leistungen wohl noch nicht ausschließlich einer Honorierung der habsburgischen Dynastie dient: Vielmehr ‚blicken‘ die Fugger selbst in ihr Ehrenwerk und können sich als ehrenvoll und eines besonderen Status würdig ‚an-sehen‘.²³⁵
232 Ginge es den Fuggern in diesen Repräsentationen darum, ihr Haus generationenübergreifend als ‚institutionell‘, zumindest als soziale Ordnung anzusehen, die sich neben die ‚Institution‘ Kaiser und das Haus/die Familie Habsburg stellt, so könnte man mit Stollberg-Rilinger 2013a, 9 festhalten: „Jede institutionelle Ordnung … beruht auf gemeinsam geglaubten Fiktionen. Fiktion bedeutet in diesem Zusammenhang, dass jede soziale Ordnung auf sozialer Konstruktion und kollektiver Sinnzuschreibung beruht.“ 233 Vgl. Fugger 1668. 234 „In dieser Bearbeitung gewann Clemens Jägers Ehrenwerk für die Geschichtsschreibung der Habsburger Bedeutung bis in die Moderne hinein“, so Rohmann 2001, 277; zu Sigmund von Birken vgl. Hausenstein 1908, 217–225. 235 Dies gilt gerade dann, wenn der „Erwerb der für den Eintritt der Fugger in die adelig-höfische Gesellschaft maßgeblichen Herrschaften Kirchberg, Weißenhorn, Schmiechen und Biberbach zu sehen [ist].“ (Rohmann 2001, 283.)
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Abb. 16: Jakob Mennel liest Kaiser Maximilian I. aus der Fürstlichen Chronik vor, in: Fugger, Johann Jakob/Jäger, Clemens [Bearb.]: Oesterreichisch Ehrenwerkh. ÖNB cvp 8613, fol. 55r.
4 Die Grammatik der Macht Ziel der vorliegenden Studie war es, durch die Analyse politischer Entwürfe um 1500 in ihren jeweiligen medialen Manifestationen eine ‚Grammatik‘ von Herrschafts- wie Machtlegitimationen zu erarbeiten. Indem das Augenmerk mikroanalytisch auf einen durch zahlreiche Transformationen wie tief greifende Umbrüche verdichteten Zeitraum gerichtet wurde, sollten Strategien, Regeln, Bauprinzipien, nicht zuletzt Repräsentationsformen und Strukturen in der Behauptung politischer Geltung besonders konturiert werden. Gerade „die Veränderungen adligen und bürgerlichen Selbstverständnisses, die neuen Entwürfe von Gemeinschaft, die Diskurse über Herrschaft und Macht, Haus, Familie und Ehe …,“²³⁶ die sich im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit in Texten wie Bildern manifestieren, bieten darin ein ergiebiges Untersuchungsfeld. Es sollte deutlich werden, wie stark Legitimationen von Macht, Demonstrationen von Geltung und die Konstitution von Ordnung durch die Natur des Blutes konvergieren. Natur kommt kultur- und zeitspezifisch, dennoch epochenübergreifend eine tragende politische Rolle in gesellschaftlichen Kollektiven, vor allem in Fragen des Machterhalts zu.²³⁷ 236 Kellner/J.-D. Müller/Strohschneider 2011, 2. 237 Die Studien arbeiteten an der Ausbildung dieses Bewusstseins; nicht zuletzt auch dann, wenn sich die gegenwärtige Zeit aus dem Verständnis vorangegangener Geschichte und Kulturen speist, um sich zukünftig weiterzuentwickeln. Geschichts- und Zukunftsvergessenheit dürfen darin keinen Bedingungszusammenhang bilden, denn: „Die Zukunft zu gestalten, heißt immer auch die Vergangenheit zu bewältigen.“ (Kellner 2012, 116.)
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Christina Lechtermann
Herrschaft und Messkunst. Das geometrische Erbe der Kurfürsten von Pfalz(-Simmern) Gesten der Herrschaft sind, im Rahmen lateinischer wie volkssprachlicher Texte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, auch mit solchen der Messkunst verbunden. Dies gilt besonders dort, wo die Teilung und Abgrenzung von Raum thematisch wird. Im Kern der zahlreichen Belegstellen entsprechender Gründungsmythen, die Grimms Deutsche Rechtsaltertümer im Einleitungskapitel über die „Maße“ unter den Stichworten „Lauf“, „Land umgehen und umpflügen“, „Land bedecken und umziehen“ versammeln, finden sich geometrisch-mathematische Operationen der Teilung und Messung von Strecken und Flächen.¹ Wenn im gegeneinander gerichteten Lauf von zwei oder mehr Tieren der Ort ihres Zusammenpralls eine Grenzmarke festlegt, wenn eine bestimmte Fläche im Rahmen eines bestimmten Zeitraums – etwa während des Mittagsschlafs eines Herrschers – umpflügt oder (mit einem bestimmten Tier) umritten wird, oder wenn vom Herkunftsort mitgebrachte Erde oder Saatgut so ausgestreut werden, dass sie den zukünftigen Landbesitz bedecken, so sind damit Vermessungs- und Berechnungsverfahren von Strecken und Flächen in die verschiedenen Gründungserzählungen eingebunden, deren rechtsgeschichtliche Belastbarkeit allerdings bereits Jacob Grimm deutlich anzweifelte.² Ein prominentes Beispiel einer solchen Erzählung bietet, zumindest im Blick auf die mittelhochdeutschen Erzählungen, diejenige Königin, die als Gründerin von Karthago eine herrscherliche Erfolgsgeschichte vorzuweisen hat, bevor ihr Niedergang den Beginn des römischen Weltreichs einleitet. Wo Vergil mit nur einem Vers (Aeneis I,368) an die Stierhaut erinnert, mit der Dido den schwierigen Landerwerb in der Fremde zu ihren Gunsten entscheidet, führen Roman d’Enéas und Eneasroman die List der Herrscherin weiter aus und beschreiben das ‚Umziehen‘ des erworbenen Landes deutlich ausführlicher.³ In Heinrichs Eneasroman gerät diese Landnahme nachgerade zum Zirkelschlag, wenn Dido das eine Ende der in feine Riemen geschnittenen Rindshaut an einen Pfahl bindet, den sie in die Erde treiben lässt, und mit dem anderen Ende in der Hand „einen kreiz wîten“ abschreitet.⁴ Herrscherin und Herrscher werden nicht nur in Erzählungen immer wieder als Landvermesser und Bauherren präsentiert oder es wird ihnen Personal mit entsprechenden Fähigkeiten und manchmal auch – wie etwa im Fall des Geometras – mit
1 Grimm 1899, I, 117–127. 2 Ebd., 152f. 3 Roman d’Enéas 375–407; Eneasroman 24,27–26,13; vgl. Schmitz 2007, 118–120. 4 Eneasroman 25,28–37.
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sprechenden Namen zugewiesen. Herrschaft und Messkunst treffen sich jedoch nicht nur im Rahmen von Gründungsmythen oder Stiftungsberichten, komplettieren die Ausbildungskataloge zukünftiger Herrscher oder finden sich dort, wo, wie etwa bei Thomasin von Zerklaere, Messen und Konzepte der mâze miteinander in Verbindung gebracht werden,⁵ sondern sie sind ebenso dort greifbar, wo es um die Bereitstellung konkreter Verfahren der geometria practica geht. Bereits in der kurz vor 1400 entstandenen Geometria Culmensis, der wohl ältesten systematischen Feldmesskunst, die neben dem Lateinischen auch in deutscher Sprache vorliegt, wird dieser Zusammenhang in der Widmung in wenigen Zügen skizziert.⁶ Der Text, den sein anonymer Verfasser mit „Liber magnifici principis Conradi de Jungegen … in quo tractandum est, de agrorum mensura, sub quacunque specie contineantur arearum“ bzw. mit „Eyn buch des irluchten vorsten, heren Conrad von Jungegen, … der wirkende ertmose myt hantvbunge, in dem so sal man leren, wy man messen sal eyn yclych ackerlant vnde * gevilde“ umschreibt,⁷ verdankt seinen Kurztitel und die Verortung seiner Entstehung ins preußische Ordensgebiet, namentlich ins Kulmer Land, der Erwähnung eines ‚kulmischen Maßes‘ sowie besagter Widmung, die sich an den 1393 bis 1407 amtierenden Hochmeister und ehemaligen Tressler des Deutschen Ordens, Konrad von Jungingen, wendet.⁸ Ausgehend vom „vnderscheyt der ryche“ als göttliche Aufteilung der Welt und der Zuteilung bestimmter Herrscher zu den einzelnen Reichen, beginnt der Text mit dem Lob Konrads von Jungingen, der Preußen und den Gebieten, denen er als Fürst und „vorsteer“ gegeben worden sei.⁹ Mit Blick auf den schlechten Zustand anderer Reiche werden die Tugenden des Fürsten und die gute Herrschaft in Preußen hervorgehoben, die inneren Frieden und festen Glauben mit einer Wehrhaftigkeit nach außen vereint, die sich besonders gegen Ungläubige richtet. Der Wunsch des Fürsten, die Rechtspflege im Ordensgebiet weiter zu festigen, wird mit einen Psalmenvers (Ps 58,1) begründet, der angemessene Rechtsprechung fordert, sowie mit einer Bibelstelle (Lk 6,38), die dazu auffordert, „gute, volle gedructe vnde obirvlissende“
5 Der Welsche Gast 8918, 8943f., 9003–9006, 9033–9038. 6 Die deutsche Geometria Culmensis ist bisher durch drei Überlieferungszeugen zu belegen: Wrocław (Breslau), Universitätsbibl., Cod. IV Q 33m, Perg., mitteldeutsch, Anfang 15. Jahrhundert: 1r–26v lateinischer Text, 27r leer, 27v–61v deutscher Text (= A). – Vilnius (Wilna), Bibl. der Litauischen Akademie der Wissenschaften, Fond 15–368 (ehemals: Königsberg, Staatsarchiv, Msc. A 157 2°), Mitte 16. Jahrhundert, nur dt. Text (= B). – Toruń (Thorn), Ratsbibl., Einband des Druckes K 18 (M. Andreae Reyheri Gymn. Goth. Rectoris, Florilegium Epistolicum idque Latino-Germanicum …, Gotha 1668), Teil eines Pergament-Doppelbl., mitteldeutsch, Ende 14. Jahrhundert/Anfang 15. Jahrhundert [?], heute verschollen (= C); vgl. Päsler 1999. 7 Ich zitiere die Geometria Culmensis nach Mendthal 1886, der den lateinischen und deutschen Text einander in zwei Spalten gegenüber stellt, hier: 17 a und b [* markiert den Wechsel von fol. 30 nach 31]. 8 Vgl. Folkerts 1980 und 2004; Jähning 1998; Lechtermann 2015a. 9 Geometria Culmensis 12.b–13.b.
Herrschaft und Messkunst. Das geometrische Erbe der Kurfürsten von Pfalz(-Simmern)
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Maße zu geben.¹⁰ Das Bemühen darum, „dy leygisschen messer“, die mangels einer gründlichen Ausbildung zahlreiche Messfehler produzierten, besser zu instruieren, wird so zu einem zentralen Ausgangspunkt für die Sicherung guter und gerechter Herrschaft, ja des friedlichen Zusammenlebens überhaupt: Alz nue der grosmechtige vorste, homeyster, guteger lyphabir der gerechtekeyt, myt *stetir sorge by den gescheften synes landes stetlychen wachende, vlys czu tut vnd ouch bey der mose des ackers yn dem lande, vnde dy leygisschen messer vngelart in der kunst der czal vnd ertmose pflegen uil czu irren by der mose, dorvon entsprissen vnd ufstehen vil czweytracht vnd kryges czwysschen gebytegern vnd ritteren vnd knechten vnd anderen luten, – vnd of das, das der krig, errunge vnd czweytracht abegnomen werde von dem mittel vnd ouch etlycher mose gestillet werde vnde ouch ydermann syn acker, velt vnd vorwerk mit rechtschuldyger mose uredelich besiczen moge, so han ych mich doryn gegeben, ansehende des grosmechtegen egenannten vorsten rechte begerunge und bete, dy do keyn mir ist beflissende dy ordenunge eyns gebotis, so han ich mich vndirwunden angehende dy swerekeyt dys wer*kes, eyn buch der wirkende ertmose mit hantubunge czu machen mit der hulfe gotis.¹¹
Der mit dieser Erklärung abgeschlossenen Widmungsadresse folgt „Eyne vorrede von der materien des buches“. Sie stellt die Messkunst in einen heilsgeschichtlichen Kontext: Zunächst wird dazu an den Einzug der Israeliten ins gelobte Land erinnert, anlässlich dessen Gott „eym yelychen geslechte von Jsrahel syn lant vnd acker yn demselben geloubeten lande mit gesunderten vnd abegescheyden greniczen czu besiczen“ gegeben habe, „uf das do nicht wurde eyn uormischunge der lute vnd der geslechte vnd der guter“.¹² Ebenso wie damals hänge auch heute die Ordnung der Welt von der Unterscheidung, Teilung und Begrenzung ab, weswegen angesichts der mangelhaften Leistungen ungebildeter Landvermesser dieses ganz neue Lehrbuch auf Wunsch des Hochmeisters angefertigt worden sei.¹³ Mit Blick auf diese Widmung einer frühen volkssprachlichen Messlehre ist es leicht einsichtig, mit welchen Argumenten derjenige Teil der praktischen Geometrie, der sich der abschätzenden Messung widmet, immer wieder neu und bis weit in die Frühe Neuzeit hinein den in den jeweiligen Kontexten entworfenen Konzepten guter
10 Geometria Culmensis 14.b–15.b. 11 Geometria Culmensis 15.b. [* markiert hier den Wechsel von fol. 29 recto nach verso und von dort nach fol. 30]. 12 Geometria Culmensis 16.b. 13 Geometria Culmensis 16.b–17.b: „… alz yst ys hute, daz dese gancze werlt wirt geregiret vnd vorstanden mit der vndirscheyt der riche, der geslechte vnde der geczunge, dy riche geteilt yn gebyte, dor*noch yn gevilde vnde acker, yelychen personen besunderen czu besitczen noch vndirschyt der lute yn mancherleye der weysen vnde rechte mit vndirscheyt der greniczen. In derselben egenanten mose vyndet man ynant czu vil vnd ouch ynant czu wenyng, vnde daz kumpt ofte von dusheyt [bosheyt?] der messer vnde ouch von manchen anderen sachen, dorvmme dys kegenwertige buch, dez materien in anderen bucheren alzo vsgedruck nicht vnczher wunden yst, durch begerunge des grosmechtegen vorsten vnde irluchten des homeysters czu Prusen …“
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Herrschaft und friedlicher Vergesellschaftung zugewiesen und ggf. einem bestimmten Herrscher oder eben „Allen Potentaten/Geistlich vnd Weltlich/Edel vnd Unedel/ welche Landtg[ue]ter haben (Stritt vnd Irunge zu uermeyden vnd zuentscheyden)“ dediziert werden kann.¹⁴ Dort, wo konstruktive Messkunst zum Einsatz gelangt, kann – auch abseits des engeren Bereichs der Fortifikation, der hier nicht besprochen werden soll¹⁵ – auf eine gut überlieferte Argumentationskonvention zurückgegriffen werden, in der die Lehre von der Baukunst als eines der vornehmsten Wissensgebiete immer schon dem Fürsten angehört (s. u.). Wenngleich die Verbindung von Herrschaft und Geometrie also für etliche Belange fachthematischer Schriften nachgerade als zwingend erscheint bzw. immer wieder als zwingend inszeniert wird, so zeigt sich im genauen Blick auf den einzelnen Text, dass Erklärungsmuster, die mit Vorstellungen von höfischer Verwaltung, architektonischer Repräsentation und herrscherlicher Bildung oder gar der Idee des sog. ,Renaissancefürsten‘ einhergehen, die verschiedenen Konstellationen nur ungenau greifen und ihre Komplexität reduzieren. ‚Wissen für den Hof‘¹⁶ bleibt, so scheint es, eng mit den Gegebenheiten und Anliegen des jeweiligen Hofes verbunden, sodass sich auch für das Zusammenspiel von Herrschaft und Geometrie keine ‚Faustformel‘ finden lässt, in der legitimierende oder nobilitierende Funktionen der Geometrie für die Herrschaft oder solche der Herrschaft für die Geometrie und die Formen der wechselseitigen Geltungszuweisung fassbar wären. Zu beschreiben ist daher zunächst nur die jeweilige Handschrift und das jeweilige Druckwerk, in denen dieses Zusammenspiel auf eigene Weise Gestalt gewinnt. Wie verschiedenartig dieses Verhältnis im Rahmen der für den deutschen Sprachbereich neuen Mess- und Reißkunst des 16. Jahrhunderts und unter den Bedingungen des Buchdrucks inszeniert sein kann, zeigt eine Reihe von aufeinander Bezug nehmenden Veröffentlichungen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, an deren Ende die Geometrie, unter Aufbietung eines nicht unerheblichen Begründungsaufwands, zum ‚Erbrecht‘ (s. u.) erklärt wird.
1 Die Widmung Stephan Michelspachers zur Neuauflage von Hans Lenckers Perspectiva Im Jahr 1616 veröffentlicht der Ulmer Drucker Johann Meder in Zusammenarbeit mit dem Augsburger Verleger Stephan Michelspacher erneut die Perspectiva Johannes (Hans) Lenckers. Die 1571 in der Nürnberger Offizin Dietrich Gerlatz’ zuerst gedruckte
14 Die Formulierung entstammt dem Titel der Feldmesskunst Matthäus Nefes, die 1591 in der Offizin des Ambrosius Fritsch in Görlitz zuerst gedruckt worden ist. 15 Vgl. dazu den 2012 erschienenen Band von Bettina Marten, Ulrich Reinisch und Michael Korey sowie etwa zur Fortifikationslehre Dürers: Münkner 2011; Neuber 2003. 16 Vgl. zur Methodik den gleichnamigen Band von J.-D. Müller 1994, bes. die Einleitung 7–28.
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Lehrschrift erklärt ein Verfahren, komplexe geometrische Körper perspektiviert abzubilden.¹⁷ Sie folgte einer bei Ulrich Neuber gedruckten älteren Veröffentlichung Lenckers, der Perspectiva Literaria von 1567,¹⁸ die zwar die Möglichkeiten des neuen Verfahrens am Beispiel eines Antiqua-Alphabets sowie an regelmäßigen und unregelmäßigen Polyedern gezeigt, dabei jedoch auf jede Form der Verfahrenserklärungen verzichtet hatte. Der bereits 1595 durch Paul Kaufmann erneut und ohne größere Veränderungen gedruckten Perspectiva¹⁹ werden in der Ausgabe von 1616 durch Michelspacher und Meder nicht nur ein neues Titelblatt, sondern auch eine neue Widmung und eine neue „Kurtze[.] doch gr[ue]ndtliche[.] vnd verstendtliche[.] Einleitung“ vorangestellt. Bereits 1617 folgt eine zweite Auflage dieser Ausgabe, die lediglich das Erscheinungsjahr auf dem Titelblatt ändert, darüber hinaus jedoch die Gestalt der Ausgabe von 1616 umbruchgenau bewahrt.²⁰ Titelblatt, Widmung und Vorrede der alten Ausgabe von 1571 bleiben dabei fast unverändert erhalten, sodass Lenckers Schrift in beiden Auflagen als Buch im Buch präsentiert wird. Die kaum fünfzig Jahre alte Lehrschrift wird dabei in einem Gestus inszeniert, die dem Text durch den Anschluss an verschiedene Traditionen Geltung zuweist und ihn zugleich als ‚historischen‘ präsentiert: Dem alten Titelblatt unmittelbar voraus geht der Kupferstich Lucas Kilians, der 1616 in Augsburg von Johann Klocker verlegt
17 Hans Lencker: Perspectiva Hierinnen auffs k[ue]rtzte beschrieben/mit exempeln er[oe]ffnet vnd an tag gegeben wird/ein newer besonder kurtzer/doch gerechter vnnd sehr leichter weg/wie allerley ding/es seyen Corpora/Gebew/oder was m[oe]glich zuerdencken vnd in grund zulegen ist/verruckt oder vnuerruckt/ferner in die Perspectyf gebracht werden mag/on einige vergebliche linie/riß vn[nd] puncten/etc. dergleichen weg bißhero noch nit bekant gewesen/… Nürnberg: Dietrich Gerlatz 1571/72. Online unter: http://daten.digitalesammlungen.de/~db/0008/bsb00084126/images/ [zuletzt aufgerufen am 17. Juli 2015]. 18 Hans Lencker: Perspectiva Literaria. Das ist ein clerliche f[ue]rreyssung/Wie man alle Buchstaben des gantzen Alphabets/Antiquitetischer oder R[oe]mischer Schrifften/auff mancherley art vnd stellung/ durch sondere kunstliche behende weys vnd weg/so bißhero nit ans liecht kommen/in die Perspectif einer flachen ebnen bringen mag/… Nürnberg: Ulrich Neuber 1567. 19 Digitalisiert durch die Österreichische Nationalbibliothek unter: http://data.onb.ac.at/ABO/ %2BZ184158001 [zuletzt aufgerufen am 17. Juli 2015] 20 Hansen Lenckers W. Burgers inn N[ue]rmberg Perspectiva, In welcher ein leichter Weg/allerley ding/ es seyen Copora Gebew/vnd was m[ue]glich in Grund zulegen ist/verruckt oder vnverruckt/durch gar geringe Instrument in die Perspectiv zubringen/gezeiget wirdt/Sampt einer vorgehenden gleichwol kurtzen/doch gr[ue]ndtlichen vnd verstendtlichen Einleitung zum Verstandt derselbigen. Allen k[ue]nstlichen Handwerdern/vnd sonderlich den Baw- und Werckmeistern/auch Mahlern/Goldschmiden/Bildhawern/Steinmetzen/Schreinern vnd allen denen/so sich des Circkels vnd Richtscheits gebrauchen/zu sonderem gefallen Nutz vnnd Vortheil an Tag gegeben. Gedruckt zu Ulm/bey Johann Meder/In Verlegung Stephan Michelspachers Im Jahr M.DC.XVI. Digitalisiert durch die Bayerische Staatsbibliothek München unter: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10942 234-9 [zuletzt aufgerufen am 14. März 2015] – Die 1617er Ausgabe enthält auch das sechste Blatt, das dem einzigen im VD 17 nachgewiesenen Exemplar der 1616er Ausgabe (VD17 12:163980T) fehlt und das den Schluss der Einführung Michelspachers sowie das Porträt Lenckers bietet. Die Kustode auf Blatt 5 verso der 1616er Ausgabe legt einen Blattverlust nahe.
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wurde.²¹ Er zeigt die „Vera effigies D. Iohannis Lenckeri. Civis et Avrifabri olim Norinbergae celebratis …“. Die Widmung ordnet den „gegenwertig[en] Tractat“ in die Tradition alten, verlorenen Wissens ein und gewichtet seine inhaltlichen Akzente dabei in verschiedener Hinsicht anders. Zum einen stellt sie die Lehrschrift in die Tradition der Optik und theoretischen Perspektivlehre, zum anderen in den weiteren Bereich der Architektur, indem sie Plinius und Vitruv als Vorgänger nennt und die Neuausgabe durch das Bemühen um eine Förderung von Optik und Perspektive als Herzstück und ‚Seele‘ der Architektur begründet: Nun aber ist der rechten wahren Architectur oder Bawkunst f[ue]nembstes Stuck/ja gleichsam ihr Seel die Optica oder Perspectiva/als von deren sie/das Leben empfahen thut/vnnd ohne solche Optic oder Perspectiv todt zu sein erscheinet/Derowegen ich freylich gemeinen Leben dienen wirdt/weil ich in gegenwart diß so einen theil der Perspectiv oder Optica erkl[ae]ret herf[ue]r gibe/ vnd fast von newem an das tag Liecht bringe/als welche Plinius der f[ue]rtrefflichste Physicus vnd Naturkündiger/deßgleichen Vitruvius der treflichste Architectus vnnd Bawmeister … .²²
Was Michelspacher hier als wesentliche Traditionslinie der Perspectiva hervorhebt, behandelt Lenckers Text höchstens am Rande. Dieser zeichnet sich vielmehr, obschon er in der eigenen „Vorrede zum Leser“ auf Petrus Ramus und Friedrich Reißner verweist, die zusammen an der 1572 unter dem Titel Optica erschienenen Ausgabe von Schriften Alhazens und Witelos gearbeitet haben (Lencker 1571, Bl. Aiij verso), gerade durch den weitgehenden Verzicht auf die Thematisierung von Sehund Perspektivtheorie aus.²³ Über weite Strecken und im in zahlreichen Selbstreferenzen entsprechend ausgewiesenen ‚Kernstück‘ des Buches geht es um die Erklärung eines mechanischen Verfahrens zur perspektivierten Abbildung geometrischer Körper, wie sie zuvor bereits etwa Lencker selbst und 1568 Wenzel Jamnitzer im Druck präsentiert hatten,²⁴ und es geht um die Zubereitung zahlreicher Hilfsmittel
21 Vgl. etwa: Germanisches Nationalmuseum, Graphische Sammlung, Inv.-Nr. MP 13710. 22 Vgl. Lencker-Ausgabe von 1616 und 1617, Widmung Michelspachers, Bl. iij verso. 23 Seidenfuß 2006, 177–201, bes. 179, 200f.: „Lenckers Verzicht auf alle Theorie stellt besonders in Bezug auf die optischen Grundlagen ein Manko dar: Da nirgends eine Analogie zwischen Konstruktionsmethode und dem natürlichen Sehvorgang hergestellt wird, bleiben dem Leser verständniswichtige Zusammenhänge vorenthalten … .“ Vgl. Peiffer 2006, bes. 141–148. 24 Jamnitzers Dedikation an Maximilian II. bringt Herrschaft und Geometrie wiederum auf eigene Weise zusammen: Zum einen findet sie ihre Begründung im „hocherleuchtete[n] verstand/lieb vnd naigung“ des Herrschers zu allen „l[oe]blichen guten Inuentionen vnd k[ue]nsten“ (1568, Aij) [Hervorhebung im Original], zum anderen in der Tatsache, dass Jamnitzers Verfahren zum Aufzug perspektivierter Körper, das er allerdings hier nicht preisgibt, sondern erst für ein zweites (nie im Druck erschienenes) Buch ankündigt, in der Regierungszeit Maximilians II. erfunden worden sei. Das geometrische Spektakel der platonischen Körper und ihrer Mannigfaltigkeiten ist bei Jamnitzer mit den Geheimnissen der Schöpfung verknüpft, insofern die Polyeder die „vier Elementa/vnd derselbigen f[ue]nffte wesenheyt“ (1568, aiij) repräsentieren. Vgl. auch die Einleitung zur zweiten Auflage der Perspectiva Literaria, gedruckt 1595 bei Paul Kaufmann in Nürnberg.
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(etwa bestimmter Winkellineale, Arbeitstafeln und Papp- oder Messingmodule) für dieses Verfahren.²⁵ Bezeichnenderweise ist es erst Michelspachers eigene Einleitung, die diesen behaupteten Zusammenhang des Textes mit dem theoretischen Fundament deutlich stärkt. Er subsumiert dabei die „edle Optica oder Perspectiva“ unter die „Mathesi oder Mathematic“, begründet ihre Position in der Vorrangstellung des Sehens vor den anderen Sinnen, betont ihren Wert für „Physicis“, „Astronomicis“ und „Geometricis“, um dann kurz das Konzept des Augpunkts (unbeachtet der Frage nach einer Emissions- oder Rezeptionstheorie des Sehens) vorzustellen, in dem sich die Seh-Linien und Strahlen der „Superficien oder eusseren Fl[ae]che[n]“ bündeln. Nur das Wissen um diesen Zusammenhang verleihe den „Scientien vnnd K[ue]nsten … ihr rechte vollkommenheit“ und aus diesem Grund sei er „bewogen worden/gegenwertigen Tractat herf[ue]r zusuchen“, der vor allem Handwerkern dienlich sei, in dem aber auch „ein Philosophus/vnnd ein jeglicher was stands er sey/hierauß viel l[oe]bliches/nutzliches vnd nothwendiges werde ersehen m[oe]gen“ – und zwar obgleich er nicht (!) der Meinung sei, „daß eben im solchem exprofesso vnd gantz genugsam vnd vmbstendtlich von der Perspectiva oder Optica gehandelt wurde/sintemal allein vortheil vnd handgriff gezeiget werden“ und vom Auge und seinen Strahlen „als bey Albazeno/Vitellone vnnd andern zufinden“ gar nicht die Rede sei.²⁶ Dennoch verteidigt er Lencker gegen Stimmen, die behaupten, dass dieser „allein gewiessen vnd nicht bewissen habe“ (ebd.) und lobt nicht nur die Evidenz, die bereits die Perspectiva Literaria für Lenckers Verfahren geboten hätte, sondern auch den didaktischen Impetus des Lehrtextes der Perspectiva. Über die – bei Lencker kaum thematisierte – Optik wird so die Lehrschrift in die Baukunst integriert, die seine Lehrschrift ebenfalls nur ganz am Rande thematisiert. Von den Hilfsmitteln und Instrumenten, die Lenckers Schrift präsentiert, stellt Michelspacher besonders die Konstruktion der Figur Nr. 6 (Abb. 1) heraus, die bereits von Johann Faulhaber in seinem „Tractetlein von Geometrischen Instrumenten/Anno 1610. [ae]diert/vnnd zu Franckfurt getruckt/widerholt/vnd etwas verbessert worden“ sei.²⁷ Faulhaber ordnet im entsprechenden Abschnitt seines Instrumentenbuchs die um 1610 vorliegenden Schriften zur Mess- und Reißkunst zu einer kleinen historischen ‚Auctores‘-Liste, die über eine Marginalie auch als solche ausgewiesen wird.²⁸ Er
25 Abstrakte Erklärungen, wie etwa eine Definition des Distanzpunktes, werden bei Lencker nur ausgesprochen selten gegeben. Vgl. Peiffer 2006, 141–147; Gluch 2008, 386–390; zur Materialität des Verfahrens: Lechtermann 2015a. 26 Lencker-Ausgabe von 1616 und 1617, Einleitung Michelspachers, Bl. v recto und verso [Hervorhebung im Original durch Verwendung einer Antiqua-Type]. 27 Lencker-Ausgabe von 1616 und 1617, Einleitung Michelspachers Bl. v verso – vi (Schluss des Zitats nur in Exemplaren der 1617er Ausgabe erhalten; vgl. o., Anm. 20). 28 Johann Faulhaber: Newe Geometrische vnd Perspectiuische Inuentiones Etlicher sonderbahrer Instrument/die zum Perspectiuischen Grundreissen der Pasteyen vnnd Vestungen/wie auch zum Planimetrischen Grundlegen der St[ae]tt/Feldl[ae]ger vnd Landtschafften/deßgleichen zur B[ue]chsenmeisterey
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nennt dazu neben Albrecht Dürer, dem er die Position eines „Anf[ae]nger[s] vnd Author[s]“ zuerkennt, Walther Ryff, den Herausgeber des ersten deutschen Vitruvs und eines Begleitbandes, der in die Grundlagen der konstruktiven Geometrie und praktischen Messkünste einführt, sowie Heinrich Lautensack, Wenzel Jamnitzer, Daniele Barbaro und eben Hans Lencker. Faulhabers Anliegen ist eine Übersicht verschiedener Perspektiv-Apparate zu geben, sie ihren jeweiligen Erfindern zuzuordnen und ihre Verfahrensweisen und ihren Gebrauch zu rekonstruieren. Das ihnen zu Grunde liegende theoretische Wissen wird weitgehend ausgeblendet. Jamnitzer etwa wird im Rahmen dieser Aufzählung für die Erfindung eines Perspektiv-Tisches gelobt, der allerdings in der „Vorrede seines kunstreichen Buchs/so er der R[oe]m. kays. Majest. dediciert“ nicht erklärt sei und auf dessen Gebrauch Faulhaber „ohne alle m[ue]ndtliche oder schrifftliche Instruction selber kommen“ musste (ebd.). Bei Lencker ist das Instrument der Figur 6 als besondere Innovation hervorgehoben, die Faulhaber jedoch noch verbessert habe (ebd. 33f.). Michelspacher präsentiert Lencker also in der Weise, in der dieser ihm in der Schrift des Ulmer Modisten und Rechenmeisters Faulhaber begegnet ist, der ja ebenfalls die in besagtem ‚Instrumentenbuch‘ von 1610 vorgestellten Apparate und Verfahren durch eine entsprechende Titelgebung, Widmung und Vorrede in den weiteren Bereich der Baukünste verschoben hatte. Damit ist ausgerechnet eine Apparatur als wesentliche Erfindung Lenckers beschrieben, die mit ‚körperlichen‘ Modellen arbeitet. Gerade solche aber, so wird zu Beginn seiner Perspectiva erklärt, sollen in seinem Konstruktionsverfahren gar nicht mehr benötigt werden.²⁹ Dementsprechend ist die Arbeit mit Modellen bei Lencker abseits seines Hauptanliegens als ein zusätzliches, nicht aber als das zentrale Verfahren präsentiert. Bei Faulhaber und Michelspacher dagegen gewinnt es eine Zentralität, über die Lenckers Büchlein wohl nicht zuletzt günstiger in solche Schreibbzw. Verlagsprogramme eingepasst werden konnte, die einen besonderen Akzent auf die Präsentation von Apparaten, Instrumenten und Erfindungen setzen. Michelspacher verlegt in den relativ wenigen Jahren, für die sich seine Aktivitäten nachweisen lassen, mehrfach die Instrumentenbücher Georg Galgemairs, die geometrischen Proportional-Tafeln Tobias Volkmers, Faulhabers Buch über die Haus- und Handmühle aber auch den „Extract der Geometri[ae] vnnd Perspectiuae“, den Paul Pfinzing 1599 in Zusammenarbeit mit Valentin Fuhrmann veröffentlichte.³⁰ Neben
sehr n[ue]tzlich vnnd gebrauchsam seynd. Auß demonstriertem vnnd bewehrtem Fundament zusammen geordnet/vnd mit verst[ae]ndlichen kupfferst[ue]cken in Truck gegebe. Frankfurt am Main: Offizin Wolffgang Richter; Verlag Anthon Humm 1610, 31; am rechten Rand: „Etliche Auctores“. 29 Vgl. Lencker 1571. Er nennt gerade diesen Verzicht auf greifbare Modelle als eines von mehreren Vorteilen seines Verfahrens, Bl. Aiv verso: „Erstlich/das niht vonn[oe]ten/das die ding/so man perspectivisch haben will/zuvor c[oe]rperlich sein m[ue]ssen.“ 30 Paul Pfinzing: Soli Deo Gloria. Ein sch[oe]ner kurtzer Extract der Geometri[ae] vnnd Perspecituae/… Welches alles den Alten Avthoribvs zu ehren/damit derselben nicht vergessen werde … Nürnberg: Offizin Valentin Fuhrmann 1599.
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Abb. 1: Hans Lencker, Perspectiva: Instrument zur Vermessung ‚körperlicher‘ Modelle für die perspektivierende Darstellung.
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Euklid, Vitruv und Dürer geraten dort auch Heinrich Lautensack, Wenzel Jamnitzer, Hans Haiden und wieder Hans Lencker in die Reihe der „Alten Avthoribus“, die es zu ehren gilt, „damit derselben nicht vergessen werden“. In der Ausgabe von Michelspacher, die ebenfalls 1616 in der Offizin David Franckens in Augsburg erscheint, wird die Verbindung zur Optica bereits durch ein neues Titelblatt betont.³¹ Im Instrumentenbuch Faulhabers, wie in den Perspektiv-Exzerpten Pfinzings, in seinem eigenen Verlagsprogramm also, findet Michelspacher bestimmte Aspekte seiner Umwertung von Lenckers Lehrtext bereits vorformuliert, die er jedoch noch weiter akzentuiert. Die Widmung, die Michelspacher seiner Ausgabe von Pfinzings Optica voranstellt, richtet sich an den „Junckhern Philip Haynhofer“, einen Augsburger Bürger, und überschneidet sich in etlichen Argumenten und z. T. bis in einzelne Formulierungen hinein mit Punkten, die er in der Widmung zur 1616er Ausgabe von Lenckers Perspectiva anführt. Hier wie dort geht es um den Zusammenhang stabiler Herrschaft und Messkunst und um eine ‚geometrische‛ Heilsgeschichte, die Bauten des Alten Testaments und der Weltgeschichte zurückführt auf Gott als den ersten und letzten Baumeister.³² So kann die „Architectur oder Bawkunst“ als die „Elteste/edleste/herrlichste/nutzlichste vnnd sch[oe]nste“ Kunst ausgewiesen werden, die ‚bürgerliches‘ Leben erst ermögliche, und die von Michelspacher als wesentlicher Faktor in der Differenzierung von Mensch und Tier angeführt wird.³³ Wenngleich damit ein Topos aufgerufen ist, der sich bereits bei Vitruv findet und der in Ryffs Vitruvius Teutsch von 1548 auch einlässig kommentiert wird,³⁴ lässt sich der Akzent auf christliche Lehrinhalte, den Michelspacher setzt und den er in beiden Widmungsschriften immer wieder auch mit den entsprechenden Bibelstellen belegt, doch nachgerade als Gegenprogramm zu Ryffs zwar dezidiert kritischer, doch nichtsdestoweniger einlässiger Beschreibung heidnisch-philosophischer Schöpfungsvorstellungen lesen.³⁵ Wo jener sich auf den
31 Optica, das ist Gr[ue]ndtliche doch kurtze Anzeigung Wie nothwendig die L[oe]bliche Kunst der Geometriae seye inn der Perspectiv … Neben r[ue]hmlicher erzehlung der F[ue]rnembsten Alten/vnd vnserer Zeit Authorn … Offizin David Franck, Verlag: Stephan Michelspacher. Augsburg 1616. Online verfügbar unter: http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/12504/1/cache.off [zuletzt aufgerufen am 17.07.2015]. 32 Lencker-Ausgabe von 1616 und 1617, Widmung Michelspachers, ij recto/verso; vgl. Pfinzing, Ausgabe von 1616, Widmung Michelspachers, Bl. Aij-B. 33 Zitat: Lencker-Ausgabe von 1616 und 1617, Widmung Michelspachers, Bl. iij verso; vgl. ebd., Bl. ij verso. In der Widmung zur Optica erscheinen Geometrie und Perspektive gar als Künste, die dem Paradies entstammen und deren „continuierung“ noch konsequenter auch über die (zerstörten) griechischen und römischen Antiquitäten bis hin zu den deutschen Bauten nachgezeichnet wird, um gerade die neuesten technischen Leistungen in den Bereichen des Buchdrucks, der Büchsengießerei und der Schifffahrt auszustellen, die „auß den L[oe]blichen K[ue]nsten der Geometri vnd Perspectiv, jren Vrsprung Behueff vnd fortsetzung ne[mm]en … .“ (Pfinzing-Ausgabe von 1616, Widmung Michelspachers, Bl. B; vgl. Bl. Aij). 34 Vgl. zu Ryffs Vitruv-Kommentar und seinen Vorlagen: Jachmann 2006, 35–52. 35 Walter Hermann Ryff: Vitruvius Teutsch …, Nürnberg: Offizin Johann Petreius 1548, Bl. LVIII–LXIIII.
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Hinweis beschränkt, es sei nach Kain von einer ‚Verwilderung‘ der Menschen auszugehen, was aber „als dises orts vnnotwendig den Lerern der heilige[n] Schrifft“ anheim zu stellen sei (ebd., Bl. LIX verso), erscheint bei Michelspacher die Bibel als allererste architekturgeschichtliche Quelle. Wenn Michelspacher – abgesehen von der Hervorhebung ausgerechnet desjenigen Apparates, der bei Lencker nur eine zusätzliche Option bieten sollte – die Architektur zum dominanten Anwendungsgebiet der Perspectiva macht, die Lencker ebenfalls nur als einer von vielen möglichen Einsatzorten für das vorgestellte Verfahren gilt,³⁶ so wird der Text damit zugleich anschlieβbar an eine heilsgeschichtliche Rahmung. In dieser Argumentationslinie kann Lenckers Lehrschrift erneut und, wie gesagt, gegen ihren eigenen Impetus³⁷ in die Geschichte der Optiktheorie eingetragen werden, indem Michelspacher deren Zusammenhang mit der Architektur noch einmal betont. Lenckers Buch wird dabei der Status einer ‚alten‘, und das soll wohl heißen ‚bewährten‘ Lehrschrift zur ,Perspektiva‘ und damit letztlich zur Architektur zugewiesen, deren Publikation erfolgt, weil „diese Sachen/die etwan vor Zeiten erfunden vnd geschrieben gewesen/zu vnsern aber verdunckelt worden/widerumb verstanden vnnd herf[ue]r gesucht werden“.³⁸ Darüber hinaus schließt Michelspacher die Neuausgabe von Lenckers Perspectiva jedoch noch in anderer Hinsicht an die Tradition der Architekturlehren an: … vnnd daß ich altem l[oe]blichem gebrauch nach/der bißhero allen Authoribus gefallen/nachgelebe/hab ich vmb ein haupt- oder Schutzherren solches Wercks vnnd f[ue]rnemmens mich vmbzusehen/vnd zubewerben/von n[oe]then gehabt. (ebd.)
Ryffs Vitruv-Ausgabe argumentiert ähnlich, wenn sie – mit Hinweis auf die Widmung des von ihm übersetzten Werks an den Kaiser Julius und dessen Sohn Augustus – den „altherkomen[en] l[oe]blichen brauch“, dem auch die anderen jüngst erschienenen Vitruv-Übersetzungen gefolgt seien, weiterführt und die Schrift über die Architektur, als den vornehmsten aller Wissensbereiche, auch „den mechtigsten Potentaten zu Comendieren/vnd das hohe vnd groß ansehen derselbigen/als ein starcken Schutz/vnd mechtigen Schirm/zu setzen“ unternimmt.³⁹ Im Fall Ryffs handelt es sich bei diesen Potentaten um die Bürgermeister und den Rat der Stadt Nürnberg,
36 Vgl. zu den dezidiert der Architektur zugewiesenen Elementen des Verfahrens: Lencker 1571, Bl. VIII verso; XXV verso–XXVI. 37 Vgl. Lencker 1571, Vorrede zum Leser, Bl. Aiii verso. 38 Lencker-Ausgabe von 1616 und 1617, Widmung Michelspachers, Bl. iiij. 39 Ryff: Vitruvius Teutsch 1548, Widmung, Bl. A4; vgl. ebd., Vorrede Vitruvs an Augustus, I verso; Kommentar zu dieser Stelle der Vorrede, II. Ryffs eigene Widmung findet sich ähnlich bereits in dem der Vitruv-Ausgabe vorausgehenden, von Ryff selbst entsprechend ausgewiesenen ‚Grundlagenband‘: ders.: Der furnembsten/notwendigsten/der gantzen Architectur angeh[oe]rigen Mathematischen vnd Mechanischen k[ue]nst/eygentlicher bericht/vnd vast klare verstendliche vnterrichtung/zu rechtem verstand der lehr Vitruuii … Nürnberg: Offizin Johan Petreius 1547, Widmung, Bl. 4.
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wo Ryff sich zwischen 1546 und Anfang 1548 aufhält, um gerade dort seine drei Schriften zur Architektur in Druck gehen zu lassen.⁴⁰ Michelspacher adressiert als Schutzherren den kurpfälzischen Fürsten Friedrich V., der in der Widmungsüberschrift als Erztruchsess des Römischen Reichs, Herzog in Bayern, Graf von Veldentz und Spanheim sowie als „Ritter deß vhralten k[oe]niglichen Ordens in Engellandt“ erscheint. Diese Widmung allerdings, so zeigt sich gleich zu Beginn, bedarf selbst der Legitimation, nicht nur weil ihr Empfänger den Absender nicht kennt, sondern auch, weil der Inhalt genaugenommen Handwerkerwissen betrifft: Es wirdt Ewer Churf[ue]rstliche Gnaden nicht vnbillich befrembden/daß ich vnbekandter/denselbigen gegenwertigen Tractat offeriere/dediciere/vnnd zuschreibe/als welcher denen so sich k[ue]nstlicher handarbeit/insonders des Baw- vnnd Malwercks befleissigen/am nothwendigsten vnd nutzlichsten zustehet/auch zu lesen vnd betrachten sein wirdt.⁴¹
Im Rahmen dieser Einleitung scheint es gerade dieses Begründungsdefizit zu sein, das zum argumentativen Ausgangspunkt für die beschriebene Neuakzentuierung wird (obschon sie sich, wie gezeigt, bei Faulhaber und Pfinzing bereits vorformuliert findet). Michelspacher räsoniert im Folgenden über das befürchtete kurfürstliche Befremden: Wenn er bedenke, dass die optischen oder perspektivischen Künste die Architektur erst vervollständigten und als „ein Individuus Comes oder vnzertrenlicher Geferte derselben“⁴² nicht von ihr zu lösen seien, und wenn er weiterhin erwäge, dass „der m[ae]chtigste Gott in hoher Potentaten vnnd herren hertzen einpflanzet/vnd ihre Gem[ue]ther neiget/daß allerley sch[oe]ne Gebew/Schl[oe]sser/Flecken vnd St[ae]tt erbawet/vnnd von den Menschen bewohnet werden“, so sei die Ausgabe des Traktats – und damit letztlich auch die Widmung – hinreichend begründet (ebd.). Das Lob der Architektur als Ausgangspunkt nicht nur zivilisatorischer Vergesellschaftung, sondern menschlicher Vernunft überhaupt,⁴³ stellt er dabei unter die Ägide der Herrschaft, die ihrerseits „sch[oe]ne Gebew“ – aus göttlicher Eingebung heraus und in Wiederholung des bauherrlichen Schöpfungsakts – veranlasst. Die Weltgeschichte der Architektur erscheint so zugleich als Heils- und Herrschaftsgeschichte, die den Bezug zwischen fürstlichem und göttlichem Baumeister präsent hält.⁴⁴ Doch neben diesem
40 Jachmann 2006, 17–21; Cramer/Klemm 1995, 692f. 41 Lencker-Ausgabe von 1616 und 1617, Widmung Michelspachers, Bl. ij. 42 Ebd. [Hervorhebung im Original durch Verwendung einer Antiqua-Type]. 43 Vgl. ebd., Bl. ij verso: „Als bald die Menschen aber von Zweig vnnd Laub/von Rohren/von Meerschnecken/von Leimen vnd der gleichen hin vnd wider auff dem Feld h[ue]tten auffgerichtet/vnd allgemach hernach zusamen ko[mm]en v[nd] gleichsam als auß einer verb[ue]ndtnuß der Gesellschafften/bey einander angefangen zuverbleiben/Als bald haben sich auch die Menschen vern[ue]nfftiger erzeigt/vnnd von ihrer viehischen vnart gelassen.“ 44 Ebd., Bl. iij verso: „… Gott selbsten sich derselbigen [i.e. der Baukunst, chrL] aller anfangs gebraucht auch zuletzt gebrauchen wirdt/vnd vnsere Großeltern solche gelehrt/vnnd wie deren/zu seinem aignen Lob sie zugebrauchen hetten/angezeigt/auch grosser Herren Gem[ue]ter noch vnserer
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allgemeinen Argument, das das Lob der Architektur in vitruvianischer Tradition ebenso deutlich aufgreift, wie es dieses dezidiert in christliche Legitimationslogiken einbindet, führt Michelspacher zum Ende der Widmung auch ein ausgesprochen personalisiertes an: Darum in betrachtung alles oberzehlten/zweiffele ich nicht/dann daß an Ewer Churf[ue]rstliche Gnad/ich mir einen solchen Patronen vnnd Defensoren zu diesem Werck erkiset/dergleichen ich tauglerichen sonsten nit haben m[oe]chte/sintemal ihrer Churf[ue]rstlichen Gnaden/eben dieser Tractat nicht nur gleichsam durch Erbrecht gantz eigen/sondern auch ihnen selbsten so wol diese als alle andere l[oe]bliche k[ue]nst wolbelieben vnd gefallen lassen/auch selbige verthedingen vnd schutzen/vnnd dero Liebhabern selbsten gr[oe]ßlich helffen vnd bef[oe]rdern.⁴⁵
Neben die topische Stilisierung eines Fürsten als Förderer der Wissenschaften und ‚Künste‘ ist in der Rede von Friedrichs ‚Erbrecht‘ an Perspektive und Optik – und damit für Michelspacher eben an der ‚Seele‘ der per se der Herrschaft angehörenden Architektur – ein genealogisches Argument gestellt. Dedikationen, die über die Genealogie des Widmungsempfängers begründet werden, finden sich auch andernorts: So widmet etwa Erasmus Reinhold (der Jüngere) seinen zuerst 1574 erschienenen „Bericht vom Feldmessen und vom Marscheiden“⁴⁶ den Markgrafen Georg Friedrich und Albrecht Friedrich zu Brandenburg nicht nur „von wegen E.F.G. Herrn Vetters vnd Vaters/hochl[oe]blicher v[nd] Christlicher gedechtnuß“, sondern auch, weil sein eigener Vater, Erasmus Reinhold (der Ältere) diesem bereits seine „Preussischen Tafeln“ (tabulae prutenicae) und andere astronomische Arbeiten gewidmet habe (ebd., Bl. Av verso). Dürer dediziert 1527 sein Fortifikationsbuch mit ähnlichem Gestus,⁴⁷ und nicht zuletzt Vitruvs Lehrschrift ist entsprechend eingeleitet.⁴⁸ Michelspachers Widmungen von 1616/1617 dürften ihr Argument jedoch vor allem aus der Zueignung gewinnen, die Lencker selbst seinem Text vorangestellt hat.
Zeit/h[ue]psche vnd stattlich Gebew zuf[ue]hren anreitzet.“ Vgl. zur deutlich älteren Vorstellung eines göttlichen Architekten Binding 1996, bes. 428f. 45 Lencker-Ausgabe von 1616 und 1617, Widmung Michelspachers, Bl. iiij. 46 Erasmus Reinhold: Gr[ue]ndlicher vnd Warer Bericht. Vom Feldmessen/Sampt allem/was dem Anhengig. Darin alle die Irthumb/so biß daher im Messen f[ue]rgeloffen/entdackt werden. Desgleichen Vom Marscheiden/kurtzer vnd gr[ue]ndlicher Vnterricht. Erfurt: Offizin Erasmus Baumann d.Ä. 47 Dürer: Etliche vnderricht 1527, Versoseite des Titelblatts, o. Z.: „Von wegen der genad vnnd guetthat/so mir von weilond dem aller durchleuchtigisten vnd großmechtien Kayser Maximilian hochl[oe]blicher gedechtniß ewer Maiestat herren vnd großvater beschehen ist … .“ 48 Vgl. Ryffs Übersetzung der Widmung an Julius Caesar (Vitruvius Teutsch 1548, Bl. I): „Dann ich auch diser ding halben deiner Maiestat Vatter in aller vnterthenigkeit bekant gewesen, … hab ich allen meinen fleiß vnnd vnterthenige gehorsame dienst/doch in stetter gedechtnus deiner Maiestat Vatter/ auch auff deine Maiestat verwenden w[oe]llen.“ – Die Stelle wird im anschließenden Kommentar ausführlich erläutert.
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2 Die Widmung von Hans Lenckers Perspectiva Lenckers Perspectiva ist, obgleich er sie später nachweislich mit den zugehörigen Instrumenten an den sächsischen Hof schicken wird,⁴⁹ Friedrich III. (dem Frommen), dem „Pfaltzgrauen bey Rhein/des heyligen R[oe]mischen Reichs Ertztruchsessen vnd Churf[ue]rsten/Hertzogen in nidern vnd obern Bayern“ gewidmet.⁵⁰ Auch diese Dedikation beginnt bei Adam und Eva und dem Sündenfall, durch den die guten Anlagen (‚die Natur‘) des Menschen sehr geschwächt worden seien. Jedoch sei ihm durch Gottes Gnade noch hinreichend Erkenntniskraft verblieben, Gutes und Schlechtes zu unterscheiden und selbst die Heiden hielten es für die höchste Seligkeit, „wann ein Mensch nach seinem tode etwas hinter jme verließ/dabey sein die nachkommende im besten zu gedencken hetten“ (ebd.). Diese Gedächtnis beinhaltet, so führt Lencker weiter aus, Taten, Tugenden und Künste, was Lencker zur Begründung seiner Widmung führt: Von wegen erzelter vrsachen/Ich auch nicht vnzeitig erwenen/vnd mit allen ehrn wider zu gedechtniß f[ue]ren w[oe]llen/den embsigen fleiß/durch welchen weiland der Durchleuchtig v[nd] hochgeborne F[ue]rst vnd Herr/Herr Johannes Pfaltzgraue bey Rhein/hertzog in Beyern/ vnd Graue zu Sponheim/[etc.] hochl[oe]blicher vnnd Christlicher gedechtniß/E.C.F.G. Herr Vatter neben verrichtung F[ue]rstlicher Regiments sachen/vilen sch[oe]nen/n[ue]tzlichen vnd l[oe]blichen k[ue]nsten beygewonet/in welchen k[ue]nsten die natur seiner F.G. vor allen der zeit hohen Person[en]/auch vile andern (die doch von jugent auff mit ge[ue]bt vnd herkommen) den vorzug verg[oe]nnet vnd zugetheilet hat.⁵¹
Als Beweis für diese Bevorzugung durch die Natur nennt Lencker das Turnierbuch Georg Rüxners, das 1531 von Johann II. geschrieben (!) und publiziert worden sei und dessen Figuren der Fürst „mit eignen henden selbst darein gerissen“ (ebd.) haben soll.⁵² Und ebenso nennt er ein „Buch von der Perspectief“, das dieser „allen k[ue]nstlern zu lieb vnnd gefallen … publicirt vnnd an tag gegeben“ habe und dessen Figuren ebenfalls von Johann II. stammten (ebd.). Weil Lencker selbst nun auch ein geringes Wissen von dieser Kunst vergönnt sei, habe er „zu hochl[oe]blichem vnd seligem widergedechtniß“ das Buch entsprechend dediziert (ebd., Bl. Aiij). Das genaue Verhältnis Lenckers zum Hof in Simmern und zum Kurfürsten
49 Gluch 2008, 394f. Gluch weist nach, dass der Band nicht nur auf das besondere Interesse der Kurfürstin Anna (ebd.) gestoßen ist, sondern dass das Lenckersche Verfahren auch zu einem – wenngleich eher nebensächlichen – Bestandteil der Ausbildung des Kurprinzen Christian wurde, wozu Lencker erneut an den sächsischen Hof geladen wurde. Ein entsprechendes auf das Jahr 1576 datierte Skizzenbuch findet sich in den Beständen des Kupferstichmuseums in Dresden (ebd. 395f. und Anm. 51). 50 Lencker 1571, Bl. Aij. 51 Lencker 1571, Bl. Aij verso. 52 Das Simmerner Turnierbuch ist zwar Johann II. gewidmet (1530, Bl. i), wurde aber von Georg Rüxner verfasst, der sich in der Widmung allerdings für die Beteiligung des Fürsten bedankt. Vgl. Wagner 1997; Arnold 2005, 135f.
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Friedrich III. ist bisher ungeklärt.⁵³ Die literaturgeschichtliche Reichweite dieser Zueignung allerdings ist erheblich, bestimmt sie doch bis heute die Debatte um die Frage, ob bzw. inwieweit die Perspektivlehre, die 1531 die Simmerner Hof-Druckerei, die von Hieronymus Rodler betrieben wurde, verlässt, tatsächlich als Werk Johanns II. betrachtet werden kann. Besonders die Arbeiten Werner Wunderlichs, die neben der Messkunst vornehmlich die Adaptionen des Fierabras sowie der Haimonskinder untersuchen, die 1533 und 1535 zuerst gedruckt werden, votieren für diese Option. Wunderlich beschrieb als erster die Akrosticha, die in Initialen aller drei Drucke sowie in den ersten 57 Zeilen der Reimpaardichtung „Ein lustiger Spruch von der Buolschaft“ gebildet sind und die in unterschiedlicher Ausführlichkeit Namen und Titel Johanns II. nennen.⁵⁴ Gestützt durch den kunsthistorischen Befund Georg Spohns, der einen mit „HH“ signierenden Simmerner Meister, dem die Illustrationen der drei genannten größeren Druckwerke wie auch des 1531 veröffentlichten Turnierbuch zugeschrieben sind, mit „Herzog Hans“ identifiziert und seine Beeinflussung durch Illustrationen des noch unveröffentlichten Weisskunig nachweist, sowie im Blick auf Anspielungen im Erzählerkommentar der Haimonskinder gelten Wunderlich diese Akrosticha als Beleg für Johanns Autorschaft bei allen vier Schriften.⁵⁵ Spohn wie Wunderlich schließen damit an die Vermutung Elsbeth Bonnemanns an, die der Druckerei Rodlers eine eigene Untersuchung gewidmet hat. Sie assoziiert „HH“ mit der für Johann urkundlich belegten Bezeichnung „Herzog Hans vom Hunsrück“ und verweist überdies – ebenso wie Spohn und Wunderlich – auf die Widmung von Lenckers Perspectiva.⁵⁶ Ein Eintrag,
53 Die von Gluch geplante und dringend nötige Archivstudie zu dieser Frage (2008, 293 Anm. 38) ist – soweit ich sehe – noch nicht erschienen. Spohn problematisiert diese Widmung, leitet jedoch gerade daraus ein zusätzliches Argument für seine Identifikation von Meister HH mit Johann II. ab (1973, 90f.): „Wenn Lencker sagt, Johann habe die Turniere im ‚Turnierbuch‘ beschrieben, so ist das eine falsche Nachricht – sei sie aus Schmeichelei oder aus Unkenntnis gebracht – , was für den Wert des gesamten Passus nicht unberücksichtigt bleiben kann. Wenn dieses Zeugnis dennoch für glaubwürdig gehalten werden darf, dann deswegen, weil es dem Künstler Lencker um die zeichnerische Tätigkeit Johanns geht, und weil er kaum ein Werk wie die Perspectiva dem starren Calvinisten und kunstfeindlichen Bilderstürmer Friedrich III., der in der Widmung übrigens kaum angesprochen wird, zugeeignet hätte, wenn er der künstlerischen Betätigung Johanns nicht sicher gewesen wäre.“ 54 Wunderlich 1989 a und b; 1991; 1992, 77–79. 55 Besagter „HH“ signiert auch einen Holzschnitt der Cosmographey Sebastian Münsters von 1598, der Simmern präsentiert. Für die Vorlage der zugehörigen Beschreibung dankt Münster explizit Johann II. Vgl. Spohn 1973, 89–93; Wunderlich 1991, 16f; 1989a, 348–353; 1989b,193f.; Cramer/Klemm 1995, 686. – Ein zusätzliches Argument für diese Position bietet ein Katalogeintrag über eine verlorene Sammelhandschrift des Pfalzgrafen Otto Heinrich von 1551, die einen Text „Von Goldschmid vnnd Malwerch auch anndern Kunststücklin“ enthalten haben soll, der wie folgt ausgewiesen wurde: „Dises buch ist von Hertzog Johannsen Pfalltzgrauen etc. zu Symmern buch abgeschryben wordenn.“ Vgl. dazu Spohn 1973, 93; Wunderlich 1992, 78; vgl. Flamm 1906, 38, Nr. 385. 56 Bonnemann 1938, bes. 41–46; zuerst findet sich diese Vermutung (mit Hinweis auf Lencker) bei Büttinghausen 1773, 182–194, bes. 193.
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der diese Überlegungen aufgreift und Johann die vier Werke – neben einer als Johanns Werk bezeugten, doch nicht überlieferten Bayerischen Reimchronik – als eigene Arbeiten zuschlägt, findet sich im jüngst erschienen Verfasserlexikon für die Frühe Neuzeit;⁵⁷ und auch die Teilausgabe der Messlehre durch Cramer und Klemm nennt Johann als Autor.⁵⁸ Skeptisch zeigt sich dagegen Birgit Seidenfuß, die sich daher entschließt, Rodler weiter als Autor zu führen.⁵⁹ Jacob Klingner, der sich in seiner Untersuchung zu gedruckten Minnereden intensiv mit der Frage nach der Beteiligung von Johann II. an der Entstehung der dort erschienenen Bücher auseinandergesetzt hat, zieht die Möglichkeit in Betracht, das Akrostichon der Messkunst könne „ebenso gut als Huldigungs- oder Widmungsakrostichon an den Druckermäzen verstanden werden“.⁶⁰ Dementsprechend erscheint für ihn der Befund, dass Johann den „Werken seinen Namen einschreibt (oder einschreiben lässt)“ wesentlicher als die Frage nach seinem tatsächlichen Anteil an ihrer Entstehung.⁶¹ Hinsichtlich einer spezifischen Interessenkonstellation reiht Klingner die Messkunst wie auch die Neuausgabe der Kriegsordnung von Ott von Achterdingen, die 1533 und wieder 1535 in Simmern gedruckt wird, in die „zahlreichen, meist handschriftlichen Sammelprojekte“ ein, „in denen seit dem 15. Jahrhundert volkssprachliches ‚Wissen für den Hof‘ gebündelt und gesichert wird“ und stellt sie in die Tradition des Heidelberger Hofes oder der Wissensarchive Maximilians I.⁶² Daneben sieht er sie, wie bereits Bonnemann, in der Tradition der anderen Druckprojekte Maximilians I., hebt jedoch hervor, dass auch die aufwändig gestalteten Simmerner Drucke nicht auf rein repräsentationale Funktionen zu reduzieren seien, sondern sich zugleich einem weiträumiger zu denkenden Adressatenkreis öffneten und so auch das innovative Moment der Druckkunst in Dienst genommen sei.⁶³ Es erscheint mir überzeugend, gerade auch die Simmerner Messkunst vor diesem Hintergrund zu betrachten. Dies gilt nicht nur, insofern auch sie sich bereits in ihrem Titel auf ein breites Publikum hin öffnet und „allen kunstliebhabern/f[ue]rnemlich
57 Mathias Herweg thematisiert die Unsicherheiten, welche die vorgestellte Argumentationskette birgt, und entschärft sie über eine Relativierung des Autorbegriffs, indem er im Anschluss an Jacob Klingner ausführt, dass Johann II. sich zwar mit den Werken ‚identifizierbar‘ mache, jedoch „in nicht mehr näher zu bestimmender Weise Familienmitglieder, Hofgelehrte oder Beamte an ihrer Genese beteiligt gewesen sein“ dürften. Vgl. Herweg 2012, Sp. 480; Klingner 2010, 222. 58 Cramer/Klemm 1995, 685–690; vgl. auch Andersen 2007, 213–220. 59 Seidenfuß 2006, 134, Anm. 610. 60 Klingner zieht darüber hinaus mit aller gebotenen Vorsicht und in Anlehnung an entsprechende Verwendung im Kontext der Simmerner Münze die – bisher nicht diskutierte – Möglichkeit in Betracht, ob nicht auch das Monogramm „HH“ den Charakter „eher als herrscherliches ‚Siegel‘ denn als Künstlersignatur zu deuten“ sein könnte. Klingner 2010, 202–234, Zitate: 220f. und Anm. 87. 61 Turnierbuch, Genealogie und nicht zuletzt die Erzählungen aus dem Stoffkreis der Karlsepen gelten ihm dabei gleichermaßen als Gesten herrscherlicher Repräsentation und als Mittel ständedidaktischer Selbstvergewisserung, für die er weitere Zeugnisse anführen kann. Ebd., 222–224. 62 Ebd., 227; vgl. zum Heidelberger Hof Müller 1994. 63 Klingner 2010, 230–233. Vgl. Bonnemann 1938, 1f.; Wunderlich 1991; 1989a und 1989b.
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den Malern/Bildhawern/Goldschmiden/Seidenstickern/Steynmetzen/Schreinern/auch allen andern/so sich der kunst des Messens (Perspectiua z[uo] latin gnant) zugebrauchen lust haben“ nützlich sein will; und es gilt nicht nur, insofern die konstruktive Geometrie als Wissensgebiet eine Möglichkeit bietet, „dem Simmerner Herzog zumindest in den Augen der Nachwelt den Rang eines gebildeten Fürsten neuzeitlicher Prägung“ zu geben.⁶⁴ Die Messkunst, so wird zu zeigen sein, gerät zum Anlass, die medientechnische Kompetenz eines Hofes in besonderer Weise zu präsentieren.
3 Die Vnderweisung der kunst des Messens der Hofdruckerei Simmern Gerade im Rahmen der mediengeschichtlich interessanten Position, die der ‚innovativen‘ Simmerner Presse bereits bei Bonnemann zugewiesen wird (s. u.), erscheint die Messkunst als Druckprojekt, das durch ein besonderes Spannungsverhältnis von vermitteltem Verfahrenswissen und materieller Gestalt des Buches gekennzeichnet ist. Der mehrfach artikulierte Anspruch des Buches, die Schriften Albrecht Dürers zu Messung, Perspektive und Proportion von 1525 und 1528, die zwar meisterlich, für die Anfänger der Kunst jedoch völlig unbrauchbar seien, weil sie „vberk[ue]nstlich vnd vnbegreifflich gemacht“ sind, durch eine Lehrschrift, die ihre Inhalte „schlechter vnnd begreifflicher“ darstellt, ‚überbieten‘ zu wollen,⁶⁵ ist von Seiten der Forschung immer wieder mit einem beinahe gegenteiligen Befund konfrontiert worden. Nach diesem steht die Simmernsche Messlehre in ihren Verfahren „mittelalterlichen Werkstattanweisungen“ näher als Dürers wissenschaftlichen Abstraktionen, an die sie zwar anzuschließen behauptet, die sie jedoch höchstens punktuell aufgreife und dann in ausgesprochen freier Kompilation thematisiere.⁶⁶ Kühne etwa spricht mit Blick auf den Gebrauch zweier Fluchtpunkte, der empfohlen wird, gar von „obsoleter mittelalterliche[r] Praxis“ und von der Fortsetzung „handwerklicher Methoden“. Und bereits Panofsky stellt fest, dass die Simmerner Perspektivlehre von „der modern-exakten Theorie noch völlig unberührt[.]“ geblieben sei und spricht von ihrem Verfasser als „theoretisch ganz ahnungslos[.]“.⁶⁷ Dieser Sachlage entsprechend bieten einige Illustrationen der Simmerner Messkunst eine im Sinne perspektivischer Richtigkeit ‚misslingende‘ Konstruktion, wie etwa die Wendeltreppen, die
64 Klingner 2010, 233. 65 Simmerner Messkunst 1531, Aij; vgl. Hiij. 66 Cramer/Klemm 1995, 689 und daran anschließend: Klingner 2010, 233 und Anm. 139; Seidenfuß 2006, 135. 67 Kühne 2008, 116–120; Panofsky 1980, Anm. 60; Keil 1985, 134–137, bes. 135; vgl. aber Andersen 2007, 216f.
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einmal als freigestellte Skizzen, einmal in einer fertigen Szene (Bl. Evi verso und F verso) präsentiert sind.⁶⁸ Seidenfuß hält Entsprechendes für die Abschnitte über die Proportionen und Positionen menschlicher Figuren fest.⁶⁹ Die Konstruktion der Innenräume, Straßen und Höfe basiert in der Simmerner Messkunst auf dem Zusammenspiel von ,geheuse‘ (i. e. Boden, Decke, Seitenwände) und Augpunkt, der in der Regel ‚nach Ermessen‘ oder in ungefährer Abschätzung gesetzt wird: Es wird eine Konstruktionsmethode beschrieben, die vor allem nördlich der Alpen gebräuchlich war und sich offensichtlich eher auf empirische Beobachtungen stützte, eine Methode, die durch Pélerin [i.e. Jean Pélerin/Viator, dessen Perspektivlehre 1509 in deutscher Übertragung und unter dem Namen Jörg Glockendon in Nürnberg erscheint, chrL] ihre erste Niederschrift und theoretische Grundlegung erhalten haben dürfte. Der Autor schildert demnach eine durchaus gängige Vorgehensweise, wobei er deren Regeln nur unvollständig systematisiert.⁷⁰
Dass die Simmerner Messkunst jedoch nicht nur auf diese Methoden zurückgreift, zeigt sich im Zusammenhang mit dem Verfahren für die Landschaftsdarstellung, für die ein mit Fäden bespannter Rahmen verwendet werden soll und die so, jedoch nur sehr punktuell, an Empfehlungen Albertis und Dürers anschließt.⁷¹ Aus der ostentativen Bezugnahme auf Dürer, die abseits der Themenwahl auch im Titel greifbar wird, und dem eigenen Anspruch seiner ‚Verständlichmachung‘, die sich in ähnlicher Formulierung in zahlreichen „Messkünsten“ in Dürers ‚Nachfolge‘ findet,⁷² leitet sich demnach zwar der Gestus des Textes und wohl auch das grundlegende Thema der Perspectiva, nicht aber zugleich sein inhaltliches Programm ab, das auch im Umgang mit den älteren Konstruktionsmethoden deutlich eklektizistisch und unsystematisch vorgeht. Neben dem sprachlich explizierten Anschluss an Dürer ist es die Materialität des Simmerner Drucks, die auf Dürers Werke verweist. Bereits Bonnemann betont, dass mit dem dritten Druck der Presse Rodlers – der Unterweisung der Kunst des Messens von 1531 – ein Wechsel in der Wahl der Drucktype stattgefunden hat.⁷³ Sind
68 Ich verwende den Begriff der ‚Szene‘ im Sinne eines mit Objekten und Figuren ‚befüllbaren‘ dargestellten Raums (bzw. einer „gantz außgemachte[n] figur“, Bl. Ciiij verso u. ö.) und hoffe, in dieser Formulierung die Grundstruktur der Simmerner Messkunst zu fassen, die von der abstrakten und perspektivierten Quadratur bzw. dem ‚geheuse‘ ausgeht, um es sukzessive mit baulichen Elementen zu verzieren, mit Objekten (etwa Fenstern, Türen oder Möbeln) zu füllen und schließlich Figuren einzustellen, die immer noch an seinem Grundschema – dem gerasterten Boden bzw. ‚Paviment‘ – orientiert werden und die die eigentlichen ‚bildnüsse‘ bzw. die ‚materi‘ der jeweiligen Darstellung bilden. 69 Seidenfuß 2006, 141: „Grotesk mutet die Darstellung der hier vorgeführten Methode an, die menschliche Figur in Größe und Position in den perspektivisch konstruierten Räumen zu verorten. … An dieser Stelle ist besonders deutlich, wie der rodlersche Perspektivtraktat hinter Dürers bahnbrechenden Leistungen auf dem Feld der Theorie zurückbleibt, wie er vereinfacht und schematisiert.“ 70 Seidenfuß 2006, 144f.; vgl. Kemp 1990, 62–68; Peiffer 2006, 129–131. 71 Seidenfuß 2006, 145. 72 Vgl. Peiffer 2006 und 1996; Müller 1999 und 1993, 272–274. 73 Bonnemann 1938, 24.
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die beiden älteren Drucke, das Turnierbuch Georg Rüxners (1530) und die Hofgerichtsordnung (1530), in der Theuerdankschrift und – für Auszeichnungen – der Gebetbuchtype Maximilians I. gedruckt worden, so wird für die Messkunst nun die Neudörffer-Andreä-Fraktur verwendet und für die Typengrade 2, 3 und 4 um einige Grapheme bereichert.⁷⁴ Der Typensatz dieser Schrift wurde 1522 für Dürers und Pirckheimers Triumphwagen geschnitten und 1525 für Dürers Unterweisung der Messung erstmalig in einem umfangreichen Druck eingesetzt. Die ungeheure Ausstrahlung und den immensen Erfolg dieser neuen Type, in der auch fast alle folgenden „Messund Reißkünste“ des 16. Jahrhunderts gedruckt werden sollten, schlägt Bonnemann nicht zuletzt der Simmerner Hofdruckerei und ihrem Fürsten als Verdienst zu. Darüber hinaus verweist sie auf das neue Initialen-Alphabet, das Rodler hat herstellen lassen und für dessen Buchstaben z. T. „die Anregung von den Formen aus[geht], die sich in Dürers theoretischen Schriften finden“.⁷⁵ Das nach heutiger Befundlage erste Akrostichon, das Johann II. mit einem Druckwerk verbindet, ist also zugleich eines, das ihn auch mit der Weiterentwicklung eines neuen ästhetischen Standards der Druckgeschichte verbindet.⁷⁶ Dem entspricht ein Druckwerk, das sich in technischer Hinsicht insgesamt als sehr anspruchsvoll präsentiert. Der Folioband, der mit 31 cm auch vom Format her Dürers Unterweisung ähnlich sieht, ist recht sorgfältig eingerichtet: Die Textblöcke sind gleichmäßig gesetzt, die Kapitelüberschriften gleichmäßig zentriert und immer wieder finden sich Absatzenden, die als Trichter oder Sanduhren gestaltet sind und einen geschickten Umgang mit Blindzeichen und -zeilen dokumentieren. Vier der insgesamt acht, in der Regel aus drei Doppelblättern bestehenden Lagen, sind – wie auch das Titelblatt – zweifarbig gedruckt (A, D, F, G), wobei die ausgesprochen feinen und den geometrischen Skizzen genau eingepassten roten Linien dazu verwendet werden, ‚Blindstriche‘ des Verfahrens zu markieren, die nach getaner Arbeit ausgelöscht werden müssen (Abb. 2).⁷⁷ Peiffer spricht in diesem Zusammenhang von „un véritable chef-d’oeuvre de typographie“ und konstatiert, im Blick auf die besprochenen Defizite im vorgestellten Verfahren, die Funktion des Textes sei „certainement plus de représentation que d’éducation“.⁷⁸
74 Vgl. zu den Typengraden ebd., 36–41. 75 Ebd., 40. Bonnemann nennt als besonders prägnante Beispiele die Buchstaben D, N und S. Vgl. Dürer 1525, Miij. 76 Die besondere Bedeutung des Akrostichons zeigt sich auch daran, dass es – anders als die konkurrierenden und inkonsequent durchgeführten Strukturierungen des Textes – sorgfältig ausgeführt ist. Die Kapitelzählung etwa, die fast völlig unabhängig (!) von der Inhaltsangabe des zweiten Kapitels zunächst zehn Abschnitte zu Punkt, Linie, Quadratur usw. durchzählt, erstreckt sich nur bis in die Lage C und bricht dann ab. 77 Simmerner Messkunst 1530, Aiiij: „Alle die werden Blindlinien oder strich gene[nn]t/welche man mitt linden kolen oder blei verzeychnet (die an ettlichen enden hieri[nn]/v[mm] merer verstandts willen mit roter farb angezeygt sind) … .“ Vgl. etwa Aiij verso, B verso. 78 Peiffer 2006, 129 und 131.
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Abb. 2: Simmerner Messkunst: Skizze zur gegengesichtigen Perspektive mit rot gedruckten ‚Fluchtlinien‘.
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Gerade die Mess- und Reißlehre, so meine ich, bietet dabei ein Feld, auf dem die technischen Fähigkeiten des Simmerner Hofes im Druck präsentiert werden. Diese zeigen sich allerdings nicht allein auf dem Gebiet der konstruktiven Geometrie selbst, sondern sie zeigen sich ebenso als Leistung auf dem Gebiet des Typenschnitts, des Satzes und des genauen und teilweise sogar zweifarbigen Druckens von Holzschnitten. Die besonderen repräsentationalen Möglichkeiten, die ein Werk über konstruktive Geometrie verlangt und zugleich bietet, werden in einer sich wiederholenden Systematik verwendet oder als ‚Leerformel‘ anzitiert (Abb. 3).⁷⁹ Dabei setzt das Büchlein nicht – wie sein angeblicher Vorgänger und wie etliche nach ihm – auf eine an Euklid orientierte Struktur, die Punkte, Linien, Flächen und Körper nacheinander behandelt, sondern es entwirft eine Form, die einfachste geometrische Diagramme (Abb. 4), abstrahierende Skizzen (Abb. 5) und fertige ‚Szenen‘ (Abb. 6) immer wieder miteinander verschränkt. Mit diesem Gestus greift das Buch erneut nicht nur auf Dürer zurück, sondern z. T. auch auf die Grundstruktur der Viator/Glockendon Perspectiva von 1509. Sie bietet nicht nur ein Vorbild für die immer neue Zusammenstellung von abstrahierender Skizze und (weitgehend) vollendetem Entwurf, die bei Pélerin allerdings immer aus perspektiviertem Grundriss und entsprechender Figur bestehen, sondern auch für etliche Beispiele, wie etwa die verschiedenen ‚Pavimentformen‘.⁸⁰ Die Simmerner Messkunst gelangt demnach nicht nur hinsichtlich der in ihr vorgestellten Verfahren, sondern auch im Blick auf ihre Gestalt als fachthematisches Lehrbuch zu einer eigenen Lösung, die allerdings deutlich an die volkssprachlichen „Reiß- und Messkünste“ anknüpft, die um 1530 in Deutschland bereits vorliegen. Die Simmerner Druckerei wählt somit nicht nur für die Messkunst ein neues Erscheinungsbild, sie wählt auch mit der Messkunst selbst ein Thema, das es ermöglicht, das Potential des Mediums weiter zu erkunden.⁸¹
79 So eröffnet etwa ein Abschnitt, der Säulen- und Gewölbekonstruktionen thematisiert, mit einer Skizze, bietet dann die entsprechende fertige Szene, und wiederholt diesen Wechsel erneut zur Präsentation einer zweiten Konstruktionsvariante. Die beiden Skizzen sind mit zahlreichen Buchstaben versehen, die den Anschein von Index-Zeichen geben, auf die im beigestellten Text jedoch keinerlei Bezug genommen wird. So scheinen sie die in der Underweysung Dürers entworfene Präsentationsform geometrischen Wissens, die Text und Figur über Indexzeichen eng miteinander verbindet (vgl. Lechtermann 2015b), lediglich formal zu zitieren anstatt sie tatsächlich für die bessere Verständlichkeit der Anleitung umzusetzen. 80 Jean Pélerin (genannt Viator) gibt 1505 in Toul eine aufwändig bebilderte, selbst allerdings sehr kurze Lehrschrift mit dem Titel De artificiali perspectiva in Druck. Der Text, der im Buch sowohl auf Latein als auch auf Französisch präsentiert ist, wird für eine neue Auflage von 1509 erweitert. In Nürnberg lässt Jörg Glockendon 1509 den Text auf Deutsch und unter seinem Namen in Druck gehen. Die bei Viator und Glockendon erklärte Distanzpunktmethode wird in der Simmerner Messkunst nicht übernommen (s. o.). Vgl. Andersen 2007, 162–166; Seidenfuß 2006, 144f.; Kemp 1990, 64–66. Vgl. o., Anm. 70. 81 Vgl. dazu etwa die verschiedenen Ansätze bei Giesecke 1991, bes. 587–639; Giesecke 1993; J.-D. Müller 1993; Neuber 2000; Kittler 2002; Zedelmaier 2010.
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Abb. 3: Simmerner Messkunst: Konstruktion eines Gewölbes mit roten Hilfslinien und (referenzlosen) Index-Buchstaben.
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Abb. 4: Simmerner Messkunst: Perspektiviertes Paviment mit rot gedruckten Hilfslinien.
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Abb. 5: Simmerner Messkunst: Abstrahierte Skizze eines gegengesichtigen ‚geheuses‘.
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Abb. 6: Simmerner Messkunst: Fertige Szene mit gerastertem Paviment, Holzdecke und auf den Augpunkt hin ausgerichteten Objekten.
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Damit setzt sie sich erneut deutlich von den beiden älteren Simmerner Drucken ab, denn die Hofgerichtsordnung begleitet ja lediglich die Wappen der Fürstentümer, für die sie gelten soll, und das Turnierbuch greift, abgesehen von den verhältnismäßig einfachen Wappenskizzen, die Austragungsort und Teilnehmer des jeweiligen Turniers anzeigen, für die immer neue Erzählung von Empfängen, Wappenschauen, Kämpfen und Festen immer wieder auf die gleichen Druckstöcke zurück. Die Messkunst zeigt sich dagegen als vorzüglicher Ort, die Herrschaft von Pfalz-Simmern in einem Druckwerk hervortreten zu lassen, das ein im 16. Jahrhundert ausgesprochen anschlussfähiges Wissens- und Könnensgebiet mit der Ostension komplexer neuer Technik und einer innovativen Ästhetik verschränkt.
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Leidenschaftliche Herrscher, beherrschende Leidenschaften: Philip Sidneys Arcadia Die Hybris des Königs von Arkadien, Basilius, bildet den Ausgangspunkt von Philip Sidneys Prosaroman The Countess of Pembroke’s Arcadia.¹ Im heidnisch-antiken Arkadien ist es der Mann und nicht die Frau, der eine Ursünde begeht: Basilius sehnt sich nach Wissen um die Zukunft, das nur den Göttern zugänglich beziehungsweise verständlich ist und erhält eine erschreckende delphische Prophezeiung, die die Zukunft seiner zwei Töchter, seiner Ehe und seines Königtums betrifft: Thy elder care shall from thy careful face By princely means be stolen and yet not lost; Thy younger shall with nature’s bliss embrace An uncouth love, which nature hateth most. Thou with thy wife adult’ry shalt commit, And in thy throne a foreign state shall sit. All this on thee this fatal year shall hit (S. 5).
Die Vorhersage, die ihn selbst und seine Frau Gynecia betrifft („Thou with thy wife adult’ry shalt commit“), versteht Basilius nicht, aber er fürchtet, seine Krone und seine Kinder zu verlieren: Seiner Interpretation des Orakels zufolge sollen ihm seine ältere Tochter, Pamela, und seine Krone von fremden Herrschern geraubt werden, und seine jüngere Tochter, Philoclea, werde eine inzestuöse Liebesbeziehung eingehen („An uncouth love, which nature hateth most“). Um diesem Schicksal zu entgehen, zieht sich Basilius mit seiner Familie in die Abgeschiedenheit einer pastoralen Schäferwelt zurück und überlässt die Regierungsgeschäfte einem Rat der Weisen. Seinen Töchtern verbietet er jeglichen Umgang mit Fremden wie Verwandten: He was resolved for this fatal year to retire himself with his wife and daughters into a solitary place where, being two lodges built of purpose, he would in the one of them recommend his daughter Pamela to his principal herdman … thinking it a contrary salve against the destiny threatening her mishap by a prince to place her with a shepherd. In the other lodge he and his wife would keep their younger jewel, Philoclea; and because the oracle touched some strange love of hers, have the more care of her, in especial keeping away her nearest kinsmen (S. 5f.).
So versucht Basilius, seine Herrschaft in diesem neuen Sozialmodell der Schäferwelt zu sichern.
1 Alle Zitate aus der Old Arcadia beziehen sich auf die Ausgabe: Sidney 1985.
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Die beiden fremden Prinzen Musidorus und Pyrocles kommen auf ihren Reisen nach Arkadien und verlieben sich in die beiden Töchter des Basilius. Daraufhin wechseln sie Geschlecht beziehungsweise Stand, um sich in die pastorale Welt des Königs einschleichen zu können und die Prinzessinnen zu erobern. Pyrocles verkleidet sich als Amazone Cleophila, Musidorus als Schäfer Dorus.² Zunächst trifft Basilius den als Amazone verkleideten Prinzen Pyrocles und Liebe wird – wie der Text es formuliert – seine Herrin (vgl. S. 33). Fortan verhält er sich wie ein Narr, der „absurd follies“ (S. 41) begeht. Dadurch wird eine Kettenreaktion von Geschehnissen ausgelöst, deren Fatalität Basilius nicht erkennen kann, da er von seinen Affekten geblendet wird. Er bringt sowohl seine Familie, als auch sein Königshaus, als auch Arkadien, als auch den griechischen Staatenverbund in größte Gefahr. Denn obwohl Basilius meint, in der passiven, beschaulich-pastoralen Welt in Ruhe und ohne Konsequenzen sein Leben genießen zu können, gelten die gängigen Regeln der arkadischen Gesellschaft auch hier.³ Basilius verhält sich falsch gegenüber seiner Familie: Wiederholt wird kritisierend darauf hingewiesen, dass er seine Töchter vergesse, da er so von seiner Liebe eingenommen sei. Als etwa Philoclea und Pyrocles von einem Löwen angegriffen werden, sorgt Basilius sich nur um Pyrocles und nicht um seine Tochter (vgl. S. 45). Außerdem plant der König, Gynecia zu betrügen und erwartet schon beinahe sehnsüchtig ihren Tod, sodass er die Amazone heiraten kann (vgl. etwa S. 117). Basilius ehrt seine Frau nicht, doch gilt die Ehe ständeübergreifend in Arkadien sowohl in der Schäferwelt, als auch unter den Aristokraten als höchstes Gut: Bei einer Schäferhochzeit wird sie als ‚heilig‘ bezeichnet (S. 213) und ebenso definiert sie der Herrscher Euarchus später als „the most holy conjunction that falls to mankind“ (S. 331). Ein weiteres Problem ist, dass Basilius seinen Töchtern ein Heiratsverbot erteilt und dadurch den Fortbestand der eigenen Dynastie in Gefahr bringt. Auch in der Schäferwelt besitzt das Exogamiegebot Gültigkeit, und ironischerweise ist genau dieses Postulat einer der Gründe, warum Basilius seine Töchter von der Außenwelt abschottet. Wie gefährlich aber diese ungesicherte Nachfolge ist, zeigt sich beim Tod des Basilius. Nicht nur gibt es keinen Konsens darüber, wer Basilius auf den Thron folgen sollte, sondern für das Volk eröffnet sich sogar die Möglichkeit, die Monarchie als solche in Frage zu stellen, wodurch das Land beinahe in einem Bürgerkrieg versinkt: … some there were that cried to have the state altered and governed no more by a prince; marry, in the alteration many would have the Lacedemonian government of few chosen senators; others
2 Im Roman werden die beiden Prinzen fortan Cleophila und Dorus genannt, doch um Unklarheiten vorzubeugen, bleibe ich hier (mit Ausnahme von wörtlichen Zitaten) bei den Namen Pyrocles und Musidorus. 3 Vgl. hierzu auch Lanham 1965, 203f. Zu den grundsätzlichen Problemen einer Gesellschaft, die ein passiv-beschauliches Leben mehr schätzt als das aktive, politische Leben vgl. Norbrook 2002, 82f. und 87: „The Old Arcadia reflects the radical humanists’ suspicion of the aestheticization of politics, of the tendency of princes to compensate their subjects for the loss of liberty by spectacles and courtly festivities“.
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the Athenian, where the people’s voice held the chief authority … they that went nearest to the present case (as in a country that knew no government without a prince) were they that strave whom they should make; whereof a great number there were that would have the princess Pamela presently to enjoy it, some … inclining more to Philoclea; and there wanted not of them which whished Gynecia were delivered and made regent till Pamela were worthily married. But great multitudes there were which, having been acquainted with the just government of Philanax, meant to establish him (S. 278).
Bereits zu Lebzeiten Basilius’ zeigt sich, dass die politische Ordnung durch seinen Rückzug aus der Öffentlichkeit fragil geworden ist. Das Volk traut dem vom König eingesetzten Rat nicht. Den Arkadiern missfällt, dass ihr König sich zurückgezogen hat („they descended to a direct mislike of the duke’s living from among them“; S. 111) und als Gerüchte um eine merkwürdige Frau aufkommen, die sich des Königs und der Herrschaft bemächtigt habe (vgl. S. 111f.) – hier ist der als Amazone verkleidete Pyrocles gemeint – kommt es zu einer gewalttätigen Rebellion, die nur mit Mühe niedergeschlagen werden kann (vgl. S. 108f.). Die innere Ordnung Arkadiens ist also aus den Fugen geraten, was nach dem Tod des Königs offensichtlich wird. Und auch für das griechische Polis-System birgt der Ausfall eines der „principal pillar[s]“ (S. 309) ganz eigene Gefahren: Um den „Asiatics on the one side, the Latins of the other, gaping for any occasion to devour Greece“ (S. 310) entgegentreten zu können, bedarf es der vereinigten Stärke der griechischen Herrscher. Die ist ohne den König Arkadiens nicht gegeben (vgl. S. 310). Um der Prophezeiung des Orakels zu entgehen, handelt Basilius egoistisch und unüberlegt. Sein Rückzug in die Schäferwelt bildet den Ausgangspunkt für den Rollentausch der Prinzen, der – ebenso wie ihre Fremdheit – die arkadische Welt in Unordnung bringt. Sidney spielt mit dem Inventar der Liebes- und Verwechslungskomödie in der Old Arcadia ganz verschiedene Szenarien durch. Die Experimentalanordnung des Romans ist dabei für die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Herrschaft insofern interessant, als in ihr die Beziehung von Affekt und Monarchie in neuer Komplexität durchgespielt wird. Die Affekte sind aufseiten der Natur anzusiedeln und brechen geradezu eruptiv in die arkadische Welt ein. Dort erscheinen sie ambivalent für die Monarchie: Teils sind sie destruktiv und teils konstruktiv. Die Hypothese dieses Beitrages ist, dass die Komplexität dieses Verhältnisses so groß ist, dass die alten Regeln der Affektzähmung um jeden Preis, wie sie etwa Platon formuliert und wie sie in die Tradition eingehen, nicht mehr funktionieren, sondern dass der Umgang mit den Affekten bei Sidney neue, komplexe Züge annimmt. Diese Annahme kann an dieser Stelle nicht in der ganzen Vielschichtigkeit der Liebes- und Verwechslungsgeschichten entfaltet werden, doch soll sie hier in einem ersten Schritt anhand von Figurencharakterisierungen untersucht werden. Dabei gilt es, zwei Ebenen zu beachten: In dieser Studie werden sowohl die internen Relationen der unterschiedlichen Affekte zueinander analysiert, als auch die externen Relationen der Affekte zu Norm und Herrschaft beziehungsweise sozialer Ordnung.
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Basilius’ Affekte harmonieren miteinander. Er spürt Liebe für Pyrocles, die – je nach Situation – einhergeht mit weiteren Affekten wie Traurigkeit, Hoffnung oder Begehren, die alle auf dasselbe hinauslaufen: Der König möchte um jeden Preis mit der Amazone zusammen sein. Doch die Beziehung dieser Affekte zu seiner monarchischen Herrschaft ist destruktiv: Basilius missachtet seine Verpflichtungen als Vater und König und gefährdet Mikro- und Makrokosmos.⁴ Erst als er mit seinem Fehlverhalten direkt konfrontiert wird, wird er sich seiner fatalen Handlungen bewusst: Als er bemerkt, dass er nicht – wie irrtümlich angenommen – Geschlechtsverkehr mit der geliebten Amazone gehabt hat, sondern mit seiner Ehefrau, die ihm die versuchte Untreue vorwirft, und nachdem er durch einen Zaubertrank in einen tiefen Schlaf versetzt wird,⁵ nimmt bei Basilius wieder Vernunft das Zepter in die Hand, sodass es zum ‚Happy End‘ für ihn, seine Familie, die Dynastie, Arkadien und Griechenland kommen kann. Auch Gynecia, die Königin Arkadiens, wird von ihren Affekten gelenkt. Auch sie verliebt sich in den als Amazone verkleideten Pyrocles und sehnt den Ehebruch herbei, durchschaut aber anders als der König die Verkleidung und weiß, dass sich unter dem Amazonenkostüm ein Mann verbirgt. Im Gegensatz zu Basilius’ affektgesteuertem Habitus, der eher lächerlich wirkt, bekommt Gynecias Verhalten durch ihre Soliloquien eine tragische Tiefe.⁶ Dies wird auch so vom Erzähler kommentiert: Basilius’ Eifersucht ist ein „cumbersome folly“ (S. 153), wohingegen Gynecia an ihrer „enraged jealousy“ (S. 153) fast zerbricht, da die Königin nicht nur affektgesteuert ist, sondern auch darum weiß, furchtbar darunter leidet und den Affekten dennoch nachgeben muss:⁷ ‘… O imperfect proportion of reason, which can too much foresee, and so little prevent! Alas, alas,’ Said she, ‘if there were but one hope for all my pains, or but one excuse for all my faultiness! But, wretch that I am, my torment is beyond all succor, and my ill-deserving doth exceed my ill fortune … Yet if my desires, how unjust so ever it be, might take effect, though a thousand deaths followed it, and every death were followed with a thousand shames, yet should not my sepulcher receive me without some contentment …’ (S. 80–81).
Gynecia erlebt ein Gefühlschaos, an dessen Intensität keine der Gefühlsdimensionen der anderen Figuren heranreicht. Ihre Liebe ist leidenschaftlich – das ist bei den anderen Figuren auch so. Aber hinzu kommt eine breite Palette an weiteren Affekten, die miteinander kollidieren: Gynecia hat ein geradezu aggressives Verlangen nach se-
4 Näheres zu der Familienproblematik findet sich bei Isler 1968. Eine ausführliche Untersuchung der politischen Thematik in der Arcadia bietet z. B. Worden 1996. 5 Zur Bedeutung von Schlaf in der Arcadia und insbesondere für den Sinneswandel des Basilius vgl. Sullivan 2007. 6 Vgl. auch Sullivan 1991, 66f. 7 Zu Affekten und ihrer Bedeutung für den Menschen im Gegensatz zum Tier sowie zu einer Entwicklung von Innerlichkeit in der Frühen Neuzeit s. auch: Cummings/Sierhuis 2013, hier insbesondere 7f.
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xuellem Genuss, fühlt Traurigkeit, die sich in ihren finsteren Momenten bis zu Verzweiflung steigern kann, hat Angst und ist zugleich voller Hoffnung und, wenn es um die mögliche Erfüllung ihrer Begierden geht, ungewöhnlich mutig.⁸ Außerdem ist sie von Abneigung und Hass gegen die eigene Tochter, Philoclea, erfüllt. Anders als Basilius sieht sie, dass Pyrocles nur Augen für Philoclea hat: The growing of her daughter seemed the decay of herself. The blessings of a mother turned to the curses of a competitor, and the fair face of Philoclea appeared more horrible in her sight than the image of death. Possessed with these devils of love and jealousy [was] the great and wretched lady Gynecia (S. 107).
In Gynecia – und auch hier unterscheidet sie sich von ihrem Ehemann – harmonieren die Affekte nicht miteinander, sondern kämpfen regelrecht um die Vorherrschaft. In ihren eifersüchtigen Momenten möchte sie Basilius erzählen, dass die Amazone eigentlich ein Mann ist, sodass er verurteilt wird und Philoclea nie mit ihm glücklich werden kann, doch dann verstummt sie immer wieder, weil sie hofft, dass ihre Liebe doch irgendwann erwidert werden könnte: ‘O but’ – cried Gynecia; and therewith she stopped. For then indeed did her spirit suffer a right conflict betwixt the force of love and the rage of jealousy. Many times was she about to satisfy the spite of her mind and tell Basilius what, and upon what reasons, she thought Cleophila to be far other than the outward appearance. But those times were all put back by the manifold forces of her vehement love. Fain she would have barred her daughter’s hap; but loath she was to cut off her own hope (S. 103).
Wie bei Basilius drohen auch bei Gynecia die Affekte die politische Ordnung zu zerstören. Sie könnte Pyrocles bloßstellen, aber aufgrund ihrer egoistischen Liebe schweigt sie. Anders als Basilius in seiner tölpelhaften und im wahrsten Sinne des Wortes blinden Liebe, der nichts wahrnimmt außer dem Objekt seiner Begierde, ist Gynecia in der Lage, ihre Gefühle – die „unlawful desires“ (S. 51)⁹ – und deren moralische Konsequenzen zu verstehen und die Ereignisse und Situationen mit denen sie konfrontiert wird, richtig einzuschätzen. So weiß sie etwa, dass der Staat zusammenzubrechen droht ob ihrer Handlungen. Nur daran etwas ändern, das kann sie nicht. Deswegen ist für sie, anders als für die anderen Figuren, auch kein ‚Happy End‘
8 Vgl. beispielsweise S. 197: „She [Gynecia] that before would not have gone alone so far (especially by night, and to so dark a place) now took a pride in the same courage, and framed in her mind a pleasure out of the pain itself. Thus with thick doubled paces she went to the cave, receiving for herself for her first contentment the only lying where Cleophila had done – whose pillow she kissed a thousand times for having borne the print of that beloved head“. 9 Bereits das Attribut „unlawful“ zeigt, dass nicht jede Begierde per se negativ zu verstehen ist. Unrechtmäßiges Verlangen wird im Text ausdrücklich als solches gekennzeichnet. Dies scheint darauf hinzudeuten, dass es durchaus auch rechtmäßiges Verlangen gibt, das etwa in der exogamen Eheschließung von Herrschern und der Zeugung von Thronfolgern seinen Ausdruck finden kann.
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möglich: Sie hat sich leidenschaftlich in ihren zukünftigen Schwiegersohn Pyrocles verliebt und ihre außerordentliche Intelligenz sowie ihre Fähigkeit zur Selbsterkenntnis machen ihre spätere Scham für sie beinahe unerträglich.¹⁰ Daher klagt sie sich selbst des Mordes an ihrem Ehemann und König an und deswegen muss sie auch in der glücklichen Auflösung aller Konflikte ihre Affekte für sich behalten. Im Gegensatz zu Basilius, dem die Fatalität seines Handelns immer noch nicht in vollem Maße bewusst ist, kann Gynecia ihre Fehler nicht öffentlich zugeben: And so kissing [Gynecia], [Basilius] left her to receive the most honourable fame of any princess throughout the world, all men thinking (saving only Pyrocles and Philoclea who never bewrayed her) that she was the perfect mirror of all wifely love. Which though in that point undeserved, she did in the remnant of her life duly purchase with observing all duty and faith, to the example and glory of Greece – so uncertain are mortal judgements, the same person most infamous and most famous, and neither justly (S. 360).
Bei solchen Eltern kann es kaum überraschen, dass auch die Tochter Philoclea von ihren Affekten gesteuert wird. In ihrer kindlichen Unschuld versteht Philoclea ihre Gefühle für Pyrocles zunächst nicht, da sie ihn für eine Frau hält. Bisher kannte Philoclea „nothing but according as the natural course of each thing required“ (S. 95), doch nun spürt sie, dass diese Liebe nicht dem Lauf der Natur folgt. Sie bezeichnet sie als „impossible desire“, das von Anfang an vergiftet und widernatürlich ist (S. 98).¹¹ Erst als Pyrocles seine wahre Identität als Mann und Prinz vor Philoclea enthüllt, kann Philoclea ihren Gefühlen freudig nachgeben (vgl. S. 106f.), wie auch Beate Kellner zeigt: Indem die männliche Sexusidentität des Pirocles zu Tage tritt, verliert die Liebesleidenschaft Philocleas ihren perversen homoerotischen Charakter. Die verbotenen Bezirke, die die Phantasie im Rahmen der Geschlechterwechselgeschichte abgeschritten hatte, werden verlassen, denn was unnatürlich schien, entpuppt sich jetzt als naturkonform. Die Liebe des Paares bewegt sich im Rahmen der Naturordnung und der gesellschaftlich akzeptierten Geschlechterrollen.¹²
Diese Liebe ist aber von Basilius nicht gestattet. Dennoch geben Pyrocles und Philoclea ihrer Leidenschaft nach und schlafen miteinander. Am Morgen darauf werden sie entdeckt. Philoclea wäre zu diesem Zeitpunkt rechtmäßige Thronfolgerin, da Basilius tot aufgefunden wurde und Pamela mit Musidorus aus Arkadien geflohen ist. Sie sollte nun idealerweise die Garantie für politische Stabilität in Arkadien verkörpern. Ihre sexuellen Aktivitäten machen sie aber, wie Kathryn DeZur zeigt, untauglich für die Rolle der Herrscherin: Zum einen steht auf vorehelichen Geschlechtsverkehr in Arkadien die Todesstrafe und zum anderen ist sie – obwohl ihr Name vom Erzähler kontinuierlich mit Attributen wie „chaste“ (S. 340) oder „pure“ (S. 340)
10 Vgl. auch Duncan-Jones 1991, 184f. 11 Vgl. auch Kellner 1997, 590f. 12 Kellner 1997, 591.
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versehen wird – kein adäquates Modell königlicher Tugend mehr.¹³ Philocleas Verhalten weist auf die totale Auflösung der Ordnung in Basilius’ Haushaltung hin,¹⁴ die wiederum die Auflösung des Staates deutlich macht. An diesem Morgen ist Arkadien ohne Herrscher: Basilius scheint tot zu sein, Gynecia wahnsinnig, die Thronfolgerin ist verschwunden und die zweite Prinzessin in der Erbfolge hat ein schweres Verbrechen begangen. Und an all dem sind aus Sicht des Beraters Philanax die beiden Prinzen Pyrocles und Musidorus schuld, die den König ermordet und – von ihren Affekten getrieben – die Prinzessinnen verführt zu haben scheinen.¹⁵ Der Rezipient weiß, dass die beiden Prinzen nicht am Tod Basilius’ schuld sind, aber es ist nicht zu leugnen, dass sie von ihren Affekten gelenkt werden und die Prinzessinnen zu unrechtmäßigem Handeln verleitet haben. Doch wie konnte es dazu kommen? Das Verhalten der Prinzen ist unbeständig. Einerseits sprechen sie von großer Liebe und wollen die Prinzessinnen immer ehren. So verspricht Pyrocles etwa Philoclea: „My suit is to serve you, and my end to do you honour“ (S. 105). Andererseits verführt Pyrocles Philoclea zum vorehelichen Geschlechtsverkehr und Musidorus drängt Pamela mit ihm zu fliehen, schwört, sie zu ehren und zu beschützen (vgl. S. 173) und vergewaltigt sie dann beinahe: But each of these [Pamela’s charms] having a mighty working in his heart, all joined together did so draw his will into the nature of their confederacy that now his promise began to have but a fainting force, and each thought that rase against those desires was received but as a stranger to his counsel, well experiencing in himself that no vow is so strong as the avoiding of occasions (S. 177).
Später sind die Prinzen wiederum bereit, für Philocleas und Pamelas Ehre und Leben zu sterben. Beispielsweise plant Pyrocles, Selbstmord zu begehen, um Philoclea nach der Entdeckung der gemeinsamen Liebesnacht zu schützen: ‘Be it so,’ said the valiant Pyrocles, ‘never life for better cause, nor to better end, was bestowed; for if death to be followed this fact … who is to die so justly as myself? And if I must die, who can be so fit executioners as mine own hands which, as they were accessaries to the fact, so in killing me they shall suffer their own punishment?’ (S. 252).
Dieses wechselhafte Verhalten ist Ausdruck des sich in ihnen abspielenden Kampfes der Affekte gegeneinander und gegen Vernunft und Anstand. Anders als bei Basilius und Gynecia, bei denen der Liebesaffekt gleichgesetzt ist mit dem der sexuellen Begierde, versuchen die Prinzen aufrichtig und nach platonischen Vorstellungen zu
13 Vgl. DeZur 2013, 49. 14 Vgl. hierzu auch Isler 1968, 369. 15 Vgl. hierzu etwa Philanax’ Anklagerede (S. 334f.).
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lieben,¹⁶ doch gewinnen sexuelles Verlangen und Lust, die „ill-governed passions“ (S. 352),¹⁷ in entscheidenden Momenten die Oberhand, wie es das Zitat über die versuchte Vergewaltigung besonders deutlich zeigt (vgl. o.): Musidorus’ Wille und Verstand haben – ist seine Begierde einmal entfacht – keine Chance gegen sie anzukommen. Nur ein Überfall von Rebellen verhindert, dass Musidorus sich an Pamela vergeht (vgl. S. 177), bringt aber andere Gefahren für den Prinzen und die Thronfolgerin mit sich (vgl. S. 265f.). Wenn sich in Musidorus und Pyrocles sexuelles Verlangen gegen ehrenwerte Liebe und Vernunft durchsetzt, bringen sie sich und die Prinzessinnen in Lebensgefahr. Außerdem stellen sie die mit ihnen verbunden griechischen Provinzen vor schwerwiegende Probleme. Ihre Handlungen als Prinzen und Thronfolger von Thessalien und Mazedonien haben immer auf das Gesamt des griechischen Staatenverbundes Einfluss. Auf ihre Vergehen steht in Arkadien die Todesstrafe, und dies ist ihnen bekannt: Bereits zu Beginn des Romans, als sie frisch in Arkadien angekommen sind, informieren sie sich über „strength and richness of the country … the nature of the people … and the manner of their laws“ (S. 12). Aber da weder Musidorus noch Pyrocles sich selbst beherrschen können, sondern sie von ihren Affekten beherrscht werden, sind sie nicht in der Lage, ihre moralischen Prinzipien oder ihre politische Verantwortung zu bedenken: Beide sind die einzigen dynastisch legitimen Erben ihrer Provinzen. Würde nicht Basilius von den Toten auferstehen und sie begnadigen, hätten ihre Affekte gleich drei griechische Königreiche – Arkadien, Thessalien und Mazedonien – um die Herrscher beziehungsweise Thronfolger gebracht und damit nicht nur die einzelnen Provinzen, sondern auch ganz Griechenland ins Chaos gestürzt. Bis hierhin erscheint der Befund ganz eindeutig: Die zerstörerische Naturgewalt der Affekte bedroht die politische Ordnung. König und Königin, Prinzen und die Prinzessin – sie alle gefährden mit ihrem affektgesteuerten Handeln den Bestand des Gemeinwesens. Man könnte also leicht zu dem Schluss kommen, dass Sidneys Arcadia ein didaktisches Werk sei mit einer zentralen Botschaft, wie z. B. Alan Isler es formuliert: „the doctrine of the Arcadia [is]: responsibility means … the dominance of reason over passions“.¹⁸ Dass Vernunft die Affekte steuern sollte, ist ein Gemeinplatz der abendländischen Kultur, wie etwa Richard Strier zusammenfasst: „It is often taken as a basic truth about the whole ‘Western Tradition’ that the control of ‘passion’ by ‘reason’ is its fundamental ethical-psychological idea. Passion … is the
16 Vgl. hierzu und zu einem Vergleich von platonischer und pastoraler Liebe auch Worden 1996, 305f. 17 Wie bereits in Fußnote 9 zu den „unlawful desires“ beschrieben, findet sich auch hier wieder ein Attribut, das die Affekte näher bestimmt. Sexuelles Verlangen und Lust sind „ill-governed“. Es scheint also auch „well-governed passions“ zu geben, also Leidenschaften, die gekonnt beherrscht werden. Das wiederum entspräche der antiken Lehre der Affektzähmung bzw. -beherrschung, wie sie auch der Stoiker Euarchus in der Arcadia vertritt, von dem das Zitat stammt. Näheres hierzu S. 10f. 18 Isler 1968, 371.
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villain of this story“.¹⁹ So heißt es in Platons Phaidon: „Die Seele eines philosophischen Mannes … [glaubt], Ruhe vor dem allen sich verschaffend, der Vernunft folgend und immer darin verharrend, daß sie das Wahre und Göttliche und der Meinung nicht Unterworfene anschaut“.²⁰ Und auch für die Stoiker ist ein gutes Leben gleichbedeutend mit einem vernünftigen und keinesfalls affektgesteuerten Leben.²¹ Diese Sichtweise findet sich auch in der Arcadia selbst, wenn Musidorus Pyrocles erklärt: „Remember (for I know you know it) that, if we will be men, the reasonable part of our soul is to have absolute commandment, against which if any sensual weakness arise, we are to yield all our sound forces to the overthrowing of so unnatural a rebellion“ (S. 17). Doch scheint Sidneys Einstellung zu dem Thema komplexer zu sein als die Auffassung des Musidorus. Der Prinz selbst muss bereits kurz nach seiner dogmatischen Aussage einsehen, dass Pyrocles’ Liebe mächtiger ist als jegliches auf Vernunft zielende Argument. So beschließt er, Pyrocles bei seinem Bemühen um Philoclea zu helfen. Statt gegen diese Liebe anzukämpfen, fordert er sie nun geradezu von Pyrocles: ‘… But since you are unperfect,’ said he [Musidorus], smiling, ‘it is reason you be governed by us wise and perfect men. And that authority will I begin to take upon me with three absolute commandments: the first, that you increase not your evil with further griefs; the second, that you love Philoclea with all the powers of your mind; and the last commandment shall be that you command me to do you what service I can towards the attaining of your desires’ (S. 23).
Außerdem wird Musidorus wenig später selbst von der, wie es im Text heißt, Gewalt der Liebe verwundet (vgl. S. 37) und ist nun so gar nicht mehr der weise und perfekte Mann, als der er sich noch kurz zuvor darstellte.²² Auch sind ja nicht alle Affekte, die in den Figuren der Arcadia wirksam werden, gleichermaßen ordnungsgefährdend. Die Eifersucht, die Gynecia fühlt, ist zwar widernatürlich – sie richtet sich gegen die eigene Tochter – , doch könnte sie den arkadischen Staat retten. Und auch wenn diese Rettung des Staates gewissermaßen eine zufällige Begleiterscheinung von Gynecias Handeln wäre – die Königin plant ja nicht, Arkadien zu retten, sondern nur, ihre Tochter nicht glücklich werden zu lassen – , so ist es doch bemerkenswert, dass ein so negativ konnotierter Affekt wie Eifersucht auf die eigene Tochter solch einen positiven, stabilisierenden Nebeneffekt haben könnte. Außerdem ist die Liebe der Prinzen nach platonischen Vorstellungen im Roman durchweg positiv konnotiert und führt letzten Endes zu der exogamen dynastischen Absicherung Arkadiens, Thessaliens und Mazedoniens sowie zur Siche-
19 Strier 2004, 24. 20 Phaidon 84a–b; vgl. Platon 1987. 21 Vgl. auch Cummings/Sierhuis 2013, 1f. 22 Vgl. hierzu auch S. 7f.
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rung der politischen Stabilität Griechenlands. Es gibt in der Old Arcadia also Affekte, die nicht per se negativ sind und von der Vernunft beherrscht werden sollten. Außerdem ist der Stoiker in der Arcadia keineswegs nur positiv konnotiert. Euarchus, eine weitere Figur aus der Herrschergallerie der Arcadia und seines Zeichens König von Mazedonien, Vater von Pyrocles, Onkel von Musidorus und Freund von Basilius, wird als Stoiker vorgestellt: „… the line of his actions [was] straight and always like himself, no worldly thing being able to shake the constancy of it“ (S. 309). Er reist im fünften und letzten Buch nach Arkadien, um Basilius zu überzeugen, dass er um der Sicherheit und des Friedens Griechenlands willen die Regierungsgeschäfte wieder aufnehme und um nach Möglichkeit seinen Sohn und seinen Neffen mit den arkadischen Prinzessinnen zu verloben. Die Eheschließung zwischen Musidorus und Pamela sowie Pyrocles und Philoclea ist also von einem Teil der Elterngeneration von vornherein geplant und gewollt: Euarchus … [took] this laboursome journey, to see whether by his authority he might withdraw Basilius from this burying himself alive, and to return again to employ his old years in doing good … Neither was he without consideration in himself to provide the marriage of Basilius’s two daughters for his son and nephew against their return (S. 310).
Als Euarchus in Arkadien ankommt, ist Basilius bereits tot und Pyrocles und Musidorus – die er, da er sie seit Jahren nicht gesehen hat, nicht erkennt – sollen ebenso wie Gynecia vor Gericht gestellt werden. Der Rat Arkadiens bittet Euarchus, den guten Herrscher, darum, das herrscherlose Arkadien zu verwalten und im Prozess als Richter zu fungieren: … we do put the ordering of all these things into his hands, as well touching the obsequies of the duke, the punishment of his death, as the marriage and crowning of our princesses. He is, both by experience and wisdom, taught how to direct his greatness such as no man can disdain to obey him, his equity such as no man need to fear him; lastly, as he hath all these qualities to help so hath he (though he would) no force to hurt (S. 307).
Auch wenn diese Beschreibung Euarchus zunächst positiv erscheinen lassen, ändert sich dieser Eindruck im Laufe der Gerichtsverhandlung. Euarchus hält sich streng an die arkadischen Gesetze, die für jedes Verbrechen drakonische Strafen genau definieren, und verurteilt die drei Angeklagten zum Tode durch Zerreißung, Wurf vom Turm sowie Beerdigung bei lebendigem Leib. Als Euarchus erfährt, dass die von ihm Verurteilten sein Sohn und sein Neffe sind, ist er zwar verzweifelt, nimmt aber sein Urteil – obwohl alle Anwesenden inklusive des rachsüchtigen Philanax das fordern – nicht zurück. Am Abend vor der Gerichtsverhandlung hatte er den Arkadiern bereits befohlen, sein Urteil in jedem Falle zu akzeptieren („… do not easily judge of your judge; but since you will have me to command, think it is your part to obey“; S. 315), und nun betont er noch einmal, dass ein gutes Urteil unter allen Umständen zu gelten hat:
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But, alas, shall justice halt, or shall she wink in one’s cause which had lynx’s eyes in another? Or rather, shall all private respects give place to that holy name? Be it so, be it so. Let my grey hairs be laid in the dust with sorrow. Let the small remnant of my life be to me an inward and outward desolation, and to the world a gazing stock of wretched misery. But never, never, let sacred rightfulness fall. It is immortal, and immortally ought to be preserved. If rightly I have judged, then rightly have I judged mine own children, unless the name of a child should have force to change the never-changing justice. No, no, Pyrocles and Musidorus, I prefer you much before my life, but I prefer justice as far above you (S. 355f.).
Euarchus ist in seiner Rede nicht im stoischen Sinne apathisch, da er Gefühlsregungen zeigt und unter der Situation leidet, aber dennoch erinnert die Situation an Ciceros Charakterisierung des idealen Stoikers in den Tusculanae Disputationes,²³ wo der Stoiker die Nachricht vom Tod seines Sohnes mit den folgenden Worten empfängt: „sciebam me genuisse mortalem“.²⁴ Euarchus wirkt in seiner Verbissenheit unmenschlich, wie auch Kellner herausarbeitet: „Das Todesurteil des Euarchus, der als Verkörperung der ehernen Iustitia dargestellt wird, bedeutet zwar die gerechte, aber in ihren Konsequenzen auch inhumane Ablösung des Gesetzes vor der Rücksichtnahme auf Familienbande“.²⁵ Kurz darauf löst Euarchus diese Familienbande vollständig auf, indem er Pyrocles und Musidorus verstößt. Nay, I cannot in this case acknowledge you for mine; for never had I shepherd to my nephew, nor never had women to my son. Your vices have degraded you from being princes, and have disannulled your birthright … For my part, I must tell you, you have forced a father to rob himself of his children (S. 356).
Durch seine Distanzierung betont Euarchus seine neutrale Rechtsprechung, doch wirkt er dadurch noch unmenschlicher und grausamer als davor: Nicht nur verurteilt er seinen Sohn und seinen Neffen zum Tode, sondern er enterbt sie, erniedrigt sie und nimmt ihnen ihre Identität als Prinzen und Thronfolger. In aller Öffentlichkeit und vor dem Gesetz macht Euarchus Pyrocles und Musidorus zu dem, was sie zuvor nur zu sein vorgegeben haben: Frau und Schäfer. Die zuvor beschriebenen Situationen, in denen Affekte destruktiv auf die politische Ordnung wirken, werden hier geradezu umgekehrt: Nun sind es die stoische Rationalität und Unerschütterlichkeit des Euarchus, die die Monarchie in Gefahr bringen, da sie zwei Königreichen die Prinzen nehmen. Die Unerbittlichkeit und Hartherzigkeit des ‚guten Königs‘ zeigen, dass ohne Affekte keine moralische Entscheidungsfindung möglich ist. Eine wichtige Figur fehlt noch in dieser Herrschergalerie der Arcadia, nämlich Pamela, die Thronfolgerin Arkadiens. Obwohl auch sie eine Figur ist, die durchaus ihre Schwächen hat, möchte ich vorschlagen, dass sie zumindest in der Frage nach
23 Vgl. auch Strier 2004, 25. 24 Tusculanae disputationes III,14. In der Übersetzung durch E. A. Kirfel (vgl. Cicero 2008): „Ich wußte, daß ich einen Sterblichen gezeugt habe“. 25 Keller 1997, 592.
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dem richtigen Umgang mit Affekten in der politischen Ordnung Arkadiens als exemplarisch anzusehen ist. Pamela fühlt, doch lässt sie sich nicht von ihren Affekten beherrschen. Sie weiß, welchen Affekten sie nachgeben darf, ohne sich oder die Welt zu gefährden, oder sogar nachgeben sollte, um ihren Aufgaben als Thronfolgerin gerecht zu werden. Als Beispiel sei hier ihre Liebe zu Musidorus genannt, die sie dazu bringt, aus ihrem Heimatland zu fliehen, um die arkadische Dynastie retten zu können. Denn die von ihrem Vater verfügte unvernünftige Einschränkung ihrer Freiheit – „… the unreasonable restraint of her liberty“ (S. 152) – führt dazu, dass sie ihren Aufgaben und Pflichten als Thronfolgerin nicht nachkommen kann. Nur weil Pamela ihre Liebe zu Musidorus zulässt, als sie erfährt, dass er kein Schäfer, sondern ein Prinz ist, und ihm nach Thessalien folgen möchte, um seine Frau zu werden und Basilius dann vor vollendete Tatsachen zu stellen, ist sie in der Lage, die Dynastie zu retten. Wenn es nach ihrem Vater ginge, stürbe die Dynastie nämlich aus, denn: „the duke would grant his daughters in marriage to nobody“ (S. 11). Die Liebe von Pamela und Musidorus und ihr Fluchtversuch sind also konstitutiv für die politische Ordnung. Dieser Liebesaffekt wird in diesen für die Ordnung tragenden Momenten als eben gerade nicht vernunftgesteuert dargestellt, obwohl er letztendlich vernünftig wirkt. Der Fluchtversuch wird etwa wie folgt beschrieben: But Pamela, who was all this while transported with desire, and troubled with fear, had … [no] free scope of judgement to look with perfect consideration into her own enterprise, but … by the laws of love had bequeathed the care of herself unto him to who she had given herself, now that the pang of desire with evident hope was quieted, and most part of her fear had passed, reason began to renew his shining in her heart, and make her see herself in herself and weigh with what wings she flew out of her native country, and upon what ground she built so strange a determination. But love, fortified with her lover’s presence, kept still his own in her heart … (S. 172, meine Hervorhebungen).
Pamela kann ihr Vorhaben nicht durchdenken, da ihr ihre Affekte – genannt werden Verlangen, Furcht und Liebe – im Weg stehen. Erst als das Verlangen durch Hoffnung gemindert wird und die Angst fast ganz vergangen ist, beginnt Pamela, ihr Handeln zu reflektieren, doch Ergebnisse dieser Reflektion werden nicht genannt. Vielmehr wird betont, dass in ihrem Inneren noch immer der Liebesaffekt vorherrscht. Dementsprechend interpretiert Pamela selbst ihren Fluchtversuch wenig später auch als „contrary to all general rules of reason“ (S. 172). Zugleich versteht Pamela, dass es Affekte gibt, die schädlich sind, und diese kann sie kontrollieren. So ist sie dazu in der Lage, die Liebe zu Musidorus, den sie für einen Schäfer und damit für einen unpassenden Partner hält, zu unterdrücken und dann nicht unter ihr zu leiden, wie etwa Gynecia unter ihrer außerehelichen Liebe und Philoclea unter der unpassenden Liebe zu einer Frau leiden: But sweet Philoclea grew shortly after of all other into worst terms; for taking her [Pyrocles] to be such as she professed [a woman], desire she did, but she knew not what; and she longed to obtain that whereof she herself could not imagine the mean, but full of unquiet imaginations
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rested only unhappy because she knew not her good hap … Pamela was the only lady that would needs make open war upon herself, and obtain the victory; for, indeed, even now find she did a certain working of a new-come inclination to Dorus. But when she found perfectly in herself whither it must draw her, she did overmaster it with the consideration of his meanness (S. 49).
Außerdem lässt sich Pamela anders als die anderen Herrscherfiguren zu nichts hinreißen, was ihr oder ihrer Ehre schaden könnte. Wiederholt bittet sie Musidorus während der Flucht, ihre Ehre zu respektieren: Tender now your own workmanship, and so govern your love towards me as I may still remain worthy to be loved. Your promise you remember, which here by the eternal givers of virtue I conjure you to observe. Let me be your own (as I am), but by no unjust conquest (S. 173).
Pamela kann ihr sexuelles Verlangen steuern. Sie gleicht als einzige Aristokratenfigur den arkadischen Schäfern, die in den zwischengeschalteten Eklogen die Handlungen der Aristokraten kommentieren und in ihren eigenen Handlungen positive Beispiele des richtigen Umgangs mit den Affekten darstellen,²⁶ etwa wenn den moralischen Verfehlungen der Aristokraten im dritten Buch eine pastorale Hochzeit in den dritten Eklogen kontrastierend gegenübergestellt wird.²⁷ Freilich müssen die Schäfer dafür aber auch nicht die Last des Staats auf ihren Schultern tragen. Das jedoch ist eine andere Geschichte.
Bibliographie Cicero (2008): Tusculanae disputationes. Gespräche in Tusculum. Lateinisch/Deutsch. Hrsg. und übers. von Ernst Alfred Kirfel. Stuttgart: Reclam (= Universal-Bibliothek, 5028). Cummings, Brian/Sierhuis, Freya (2013): „Introduction“, in: dies. (Hrsg.): Passions and Subjectivity in Early Modern Culture. Farnham: Ashgate, 1–9. DeZur, Kathryn (2013): Gender, Interpretation, and Political Rule in Sidney’s Arcadia. Newark: University of Delaware Press. Duncan-Jones, Katherine (1991): Sir Philip Sidney. Courtier Poet. London: Hamish Hamilton. Galm, John A. (1973): Sidney’s Arcadian Poems. Salzburg: Institut für Englische Sprache und Literatur (= Salzburg Studies in English Literature/Elizabethan & Renaissance Studies, 1). Isler, Alan D. (1968): „Moral Philosophy and the Family in Sidney’s Arcadia“, in: Huntington Library Quarterly 31, 359–371.
26 Vgl. hierzu etwa auch Ringler 1962, xxxviii: „… [the] eclogues are much more than mere inter-act entertainments, for though they for the most part have a separate cast of characters and do not themselves advance the plot, they nevertheless set the tone and establish the themes that control the action of the main narrative. Here in the remote and abstract world of the pastoral the actions of the princely characters of the courtly world are mirrored and given perspective in the rural songs of the shepherds“. Vgl. auch Galm 1973, 22f. 27 Vgl. auch Galm 1973, 22f. und 176.
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Kellner, Beate (1997): „Zwischen Feuer und Wasser. Chiffrierungen des Geschlechts in der Arcadia der Gräffin vom Pembrock“, in: Neumann, Gerhard (Hrsg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Stuttgart: Metzler (= Germanistische Symposien; Berichtsbände, 18), 575–597. Lanham, Richard A. (1965): „The Old Arcadia“, in: Davis, Walter R./Lanham, Richard A. (Hrsg.): Sidney’s Arcadia. New Haven/London: Yale University Press (= Yale Studies in English, 138), 181–405. Norbrook, David (2002): Poetry and Politics in the English Renaissance. Oxford/New York: Oxford University Press. Platon (1987): Phaidon. Übers. von Friedrich Schleiermacher. Stuttgart: Reclam (= Universal-Bibliothek, 918). Ringler, William A. (1962): „Introduction“, in: ders. (Hrsg.): The Poems of Sir Philip Sidney. Oxford: Oxford University Press, xv–lxvi. Sidney, Philip ([ca. 1580] 1985): The Countess of Pembroke’s Arcadia (The Old Arcadia). Hrsg. von Katherine Duncan-Jones. Oxford/New York: Oxford University Press (= Oxford’s World Classics). Strier, Richard (2004): „Against the Rule of Reason: Praise of Passion from Petrarch to Luther to Shakespeare to Herbert“, in: Paster, Gail Kern/Rowe, Katherine/Floyd-Wilson, Mary (Hrsg.): Reading the Early Modern Passions. Essays in the Cultural History of Emotion. Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 24–42. Sullivan Jr., Garrett A. (2007): „Romance, Sleep, and the Passions in Sir Philip Sidney’s ‘The Old Arcadia’“, in: English Literature History 74, 735–757. Sullivan, Margaret M. (1991): „Amazons and Aristocrats. The Function of Pyrocles’ Amazon Role in Sidney’s Revised Arcadia“, in: Brink, Jean R./Cline Horowitz, Maryanne/Coudert, Allison (Hrsg.): Playing with Gender. A Renaissance Pursuit. Urbana/Chicago: University of Illinois Press, 62–81. Worden, Blair (1996): The Sound of Virtue. Philip Sidney’s Arcadia and Elizabethan Politics. London/ New Haven: Yale University Press.
Annika Willer
Herrschaft und die ‚Natur‘ der Geschlechter bei Moderata Fonte, Lucrezia Marinella und Arcangela Tarabotti „Io non credo, che fra tutti gli huomini pessimi del mondo sia il piggiore del Tiranno …,“¹ („Ich glaube nicht, dass unter all den schlechten Männern der Welt ein schlechterer als der Tyrann existiert …,“) – so beginnt die venezianische Autorin Lucrezia Marinella² ein Kapitel über tyrannische Männer. Dieser rhetorische Paukenschlag entspricht der weitverbreiteten Bewertung der Tyrannei als schlechteste aller Herrschaftsformen und des Tyrannen als Inbegriff des Unterdrückers und Gewaltherrschers. Aufhorchen aber lässt Lucrezia Marinellas demonstrative Verurteilung der Tyrannei vor allem wenn man weiß, dass ihre kleine Abhandlung zu den Tyrannen nicht etwa Teil eines Werkes über Politik oder die beste Verfassung ist, sondern eines der ersten großen Traktate über das Geschlechterverhältnis, das von einer Frau verfasst wurde. Lucrezia Marinellas La nobiltà e l’eccellenza delle donne co’ difetti e mancamenti degli huomini (Der Adel und die Exzellenz der Frauen und die Fehler und Mängel der Männer) wird erstmals im Jahr 1600 in Venedig gedruckt, und bereits ein Jahr später erneut in einer erweiterten und überarbeiteten Ausgabe.³ Doch ehe die Lesenden zu ihrem Tyrannenkapitel im zweiten Teil ihres Buches kommen, hat Marinella den Begriff der Tyrannei bereits als Beschreibung des Verhältnisses zwischen Männern und Frauen etabliert. Insbesondere im sechsten Kapitel des ersten Teils von La nobiltà („Riposta alle leggierissime, e vane ragioni addotte da gli huomini in lor favore“) und den daran angeschlossenen Abschnitten, in denen Marinella die Haltung zeitgenössischer Autoren bezüglich der Frauen kritisiert,⁴ präsentiert die Autorin die Herrschaft
1 Marinella 1621, 234–5 [1601: 177]. Soweit nicht anders angegeben sind die deutschen Übersetzungen meine eigenen. Zur Zitierform siehe Anmerkung 3. 2 Zur Biographie der Autorin: Haskins 2006; Haskins 2007. Eine kurze und aktuelle Einführung stellt die Einleitung zur englischen Übersetzung von Marinellas Spätwerk, den Essortationi alle donne dar: Benedetti 2012, 1–17. Paola Malpezzi Price und Christine Ristaino widmen in ihrer Monographie zu Marinella jedem ihrer größeren Werke ein Kapitel: Malpezzi Price/Ristaino 2008. 3 Der Text wurde in drei Auflagen publiziert, 1600, 1601 und erneut 1621. Von der ersten zur zweiten Auflage hin erfuhr der Text substantielle Veränderungen – vgl. Westwater 2006 –, zur dritten insbesondere orthografische Korrekturen. Weil in der Forschung häufig die zweite Auflage verwendet wird, zitiere ich zwar nach der Ausgabe von 1621, gebe aber in eckigen Klammern zusätzlich die Seitenzahlen aus der Ausgabe von 1601 an. Lediglich Wort „et“ modernisiere ich jeweils zu „e“. Es existiert eine englischsprachige Teilübersetzung: Marinella 1999. 4 Marinella 1621, 145–180 [1601: 108–134].
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der Männer über die Frauen als Tyrannei. Dieser Abschnitt wurde für die zweite Ausgabe des Textes von 1601 überarbeitet und erweitert.⁵ Die Autorin etabliert die Verbindung zwischen männlicher Vorherrschaft und Tyrannei insbesondere im Kontext der Erörterung, ob sich aus den vermeintlich stärkeren und wärmeren Körpern der Männer ihre Überlegenheit oder ein Herrschaftsrecht ableiten lasse. Aristoteles, der die Frauen für schwach und der linken Hand ähnlich halte, schreibt Marinella, sei doch wohl schwächer als die robusten Bauern und auch viele Frauen gewesen – aber könne er deshalb als weniger würdig gelten?⁶ Zwar gehe körperliche Überlegenheit nicht mit größerer Würde einher, dennoch liege die Stärke („forza“) in den Waffen und nicht in Vernunft und Recht. Marinella führt das Beispiel eines zarten („delicato e gentile“⁷) Thronerben an, der von seinem stärkeren Bruder („fratello homicida, e robusto“⁸) der Herrschaft beraubt worden sei. Ähnlich ergehe es den Frauen mit den Männern: ...; e per l’istessa cagione il sesso donnesco, il quale è più delicato del sesso virile, e anco men robusto, per non essere assuefatto alle fatiche, vien tiranneggiato, e calpestrato [sic] da gli insolenti e da gli ingiusti huomini ...⁹ Aus demselben Grund wird das weibliche Geschlecht, das zarter und weniger kräftig als das männliche ist, da es nicht an körperliche Mühen gewöhnt ist, von den unverschämten und ungerechten Männern tyrannisiert und mit Füßen getreten.¹⁰
Ebenso, wie die Herrschaft des stärkeren Bruders allein aufgrund seiner Stärke und Brutalität ungerecht sei, sei die Herrschaft der Männer über die Frauen illegitim und tyrannisch. Von einer „tirannesca signoria del maschio“, einer tyrannischen Herrschaft der Männer, spricht die Autorin an einer anderen Stelle.¹¹ Lucrezia Marinellas Traktat, Moderata Fontes Dialog Il merito delle donne (Das Verdienst der Frauen) von 1600¹² und Arcangela Tarabottis La semplicità ingannata (Die betrogene Unschuld) von 1654¹³ gelten als erste substantielle Beiträge aus weib-
5 Letizia Panizza nennt die Erweiterungen erste Beispiele feministischer Literaturkritik, Lynn Lara Westwater sieht in ihnen die bedeutsamsten Veränderungen am Werk. Vgl. Panizza 2000, 73. Westwater 2006, 101. 6 Marinella 1621, 160 [1601: 120]. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Diese Übersetzung stammt aus: Gerl/Gössmann 2000, 101. 11 Marinella 1621, 165 [1601: 124]. 12 Fonte [1600] 1988. In deutscher Übersetzung: Fonte 2001. Zur Autorin und ihrer Zeit: Martelli 2011. 13 Tarabotti [1654] 2007. In englischer Übersetzung: Tarabotti 2004. Trotz einiger fragwürdiger Passagen ist zur Biographie der Autorin die Monographie von Zanette grundlegend: Zanette 1960. Einen Überblick zu verschiedenen Aspekten ihres Werkes bietet folgender Sammelband: Weaver 2006.
Herrschaft und die ‚Natur‘ der Geschlechter
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licher Hand¹⁴ zur Querelle des sexes,¹⁵ der Debatte über Wert, Würde und Befähigung der Geschlechter in der Frühen Neuzeit.¹⁶ Im Großteil der Texte zu dieser Querelle stritten und scherzten Männer darüber, was Frauen seien, was sie könnten und dürften. Mit Fonte, Marinella und Tarabotti melden sich nach mehreren Jahrhunderten vorrangig männlicher Debatte nun Frauen zu Wort, die in ihren Schriften nicht nur das weibliche Geschlecht verteidigen, sondern auch ‚Männer‘ zum Thema machen. Lucrezia Marinella widmet die zweite Hälfte ihres Buches einer Diskussion männlicher Laster, Moderata Fonte lässt die Sprecherinnen in ihrem Dialog beschließen, eine Debatte über die Männer zu führen,¹⁷ und Arcangela Tarabotti, die in La semplicità ingannata eine Klage über die Praxis der erzwungenen Klostereintritte junger Mädchen mit einer Verteidigung der Frauen verbindet, richtet ihr Wort immer wieder explizit an die Männer.¹⁸ Ich möchte in diesem Aufsatz die Konzeptionen männlicher und weiblicher Herrschaft bei den drei Autorinnen nachzeichnen und aufzeigen, dass diese eng mit der Frage nach der Natur der Geschlechter und dem Verhältnis zwischen Männern und Frauen¹⁹ verbunden sind. Dazu werde ich zunächst ein wenig ausholen: Als erstes soll es um Argumentationen aus der ‚Natur der Geschlechter‘ im Geschlechterstreit gehen. In einem zweiten Schritt will ich aufzeigen, wie Fonte, Marinella und Tarabotti mit diesen Positionen umgehen, um abschließend darzulegen, wie die Autorinnen die Ideen zur Natur der Geschlechter mit Ideen über Herrschaft verknüpfen. Die Frage nach der ‚Natur‘ der Geschlechter ist eine der großen Konfliktlinien der Querelle des sexes, aus ihr heraus werden naturalistische und essentialistische Begründungen für die angebliche Unterlegenheit der Frauen entwickelt. Sehen wir uns ein Beispiel für eine solche Argumentation an: Finalmente la donna è chiamata dal Filosofo, Mas occasionatus, come recita S. Thomaso nella prima parte della somma: e Filone presso ad Antonio Monaco nella seconda parte di Melissa, al capitolo trentesimo terzo, sponendo questa sentenza d’Aristotile, così disse, Dicunt Physici, mulierem nihil aliud esse, quam imperfectum marem. Cioè: errore comesso dalla natura,
14 Vgl. Panizza 2000, 72; Cox 2008, 173; Cox 2011, 236. 15 Häufiger wird der Terminus Querelle des femmes verwendet, aber ich verwende in Anlehnung an Judith Bösch, die die „Einführung des Begriffs ‚Querelle des sexes‘ in die Forschungsdebatte über den historischen Geschlechterstreit“ fordert, diesen erweiterten Begriff, der verdeutlichen soll, dass es in der Debatte eben nicht nur um Frauen ging, sondern auch um Männer. Vgl. Bösch 2004, 137; Bock 2000, 13. 16 Einführend zur Querelle: Bock/Zimmermann 1997. 17 Fonte [1600] 1988, 24; Fonte 2001, 84. 18 Vgl. beispielsweise Tarabotti [1654] 2007, 389–390. 19 Ich möchte mit der Formulierung ‚die Männer‘ oder ‚die Frauen‘ keine festgelegte Wesenheit oder auch nur ausschließende Dualität der Geschlechter behaupten – ich bediene mich hier und im Folgenden dem zur Entstehungszeit der Quellen verfügbaren Vokabular.
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laquale desiderando produrre l’huomo animal perfetto, produsse per disaventura la donna animale imperfettissimo, sottoposto à mille passioni, come dice Averroe.²⁰ Zum letzten wird die Frau vom Philosophen [Aristoteles] ‚verfehlter Mann‘ genannt, wie der heilige Thomas im ersten Teil der ‚Somma‘ darlegt. Philon [von Alexandria], bei Antonius dem Mönch im zweiten Teil der ‚Melissa‘, im 33. Kapitel,²¹ führt diesen Satz des Aristoteles an, der sagt: ‚Die Ärzte sagen, die Frau sei nichts anderes als ein mangelhafter Mann.‘ Das heißt, ein Fehler, begangen von der Natur, welche den Mann als perfektes Wesen zu schaffen wünschte, aufgrund eines Unglücks die Frau als mangelhaftestes Wesen schuf, tausend Leidenschaften unterworfen, wie Averroes sagt.
Die Passage stammt aus Giuseppe Passis I donneschi difetti²² (Die Weibermängel²³), einer Sammlung frauenfeindlicher Argumente, auf die Lucrezia Marinella mit ihrem Traktat antwortet und wegen der wahrscheinlich auch Moderata Fontes Merito delle donne genau zu diesem Zeitpunkt – mehrere Jahre nach dem Tod der Autorin – publiziert wurde. Der mit der Autorität des Aristoteles versehene ‚mas occasionatus‘Satz ist ein paradigmatischer, als naturphilosophische Tatsache geltender Gemeinplatz der misogynen Literatur, den Passi hier zusätzlich noch mit Verweisen auf weitere Autoritäten versieht. Dass die hier als „animale imperfettissimo“ verschriene Frau tausend Leidenschaften unterworfen sein soll, hängt mit dem Körper der Frauen zusammen, dem in der klassischen Temperamentenlehre eine andere Zusammensetzung zugeschrieben wird als dem Körper der Männer – kalt und feucht nämlich, während die Männer als warm und trocken gelten.²⁴ Aus der Zusammensetzung des Körpers, der complexio, werden dann wiederum Eigenschaften der Geschlechter und ihr Ort in der gesellschaftlichen Ordnung abgeleitet. Torquato Tasso stellt das Konzept in seinem Discorso della virtù feminile e donnesca (1582) als aristotelisches Gedankengut²⁵ vor: … tutta questa diversità procede dalla temperatura del corpo. E avendo la natura prodotto l’uomo e la donna di molto differente temperatura e complessione, si può credere che non siano atti ne’ medesimi uffici …²⁶ All diese Verschiedenheit [der Geschlechter] rührt von der Temperatur des Körpers her. Weil die Natur den Mann und die Frau mit sehr verschiedener Temperatur und Zusammensetzung geschaffen hat, kann man glauben, dass sie nicht für die gleichen Aufgaben geeignet seien.
20 Passi 1599, 8. 21 Aristoteles wird in der Quelle nicht erwähnt, Philon in einer Marginalie. Melissa 1555, 342. Das Kapitel ist eigentlich ein Sermon über starke und kluge Frauen. 22 Passi 1599. Weitere Auflagen erschienen 1601, 1605 und 1618, wobei der Text zur Auflage von 1601 erweitert wurde. Zu Passi siehe: Magnanini 2011. 23 Die Übersetzung des Titels ist an die frühneuzeitliche deutsche Übersetzung des Textes angelehnt: Passi 1722. 24 Vgl. Maclean 1995, 28–46. 25 Zur Geschlechterdifferenz bei Aristoteles siehe Föllinger 1996, 118–227. 26 Tasso [1582] 1997, 55. In englischer Übersetzung: Tasso 2011.
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Anders als Aristoteles, so Tasso, habe Platon geglaubt, dass jegliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern von den Gewohnheiten herrührten und nicht von der Natur („sia introdotta dall’uso e non dalla natura“²⁷) – Tasso jedoch hält sich mit seinen Überlegungen an die aristotelische Position von der Naturgegebenheit der Geschlechterdifferenz, und den daraus folgenden verschiedenen Tugenden und Aufgaben für Männer und Frauen.²⁸ Damit ist die alte Vorstellung gemeint, dass der Mann zur Arbeit außerhalb des Hauses gemacht sei, die Frau aber vor allem dazu, im Haus dasjenige zu bewahren, was der Mann außerhalb erworben habe. Tasso, der nicht die gewöhnliche Frau, sondern die Adlige im Blick hat, entwickelt einen speziellen Ansatz, um einerseits die traditionelle Aufgabenteilung beibehalten zu können, und andererseits der Adressatin seines Discorso, Eleonore von Österreich, Herzogin von Mantua, sagen zu können, dass sie ganz anders sei als die anderen Frauen: … ma ad una nata di sangue imperiale, ed eroico, la qual con le proprie virtù agguaglia le virili virtù di tutti i suoi gloriosi antecessori.²⁹ … aber einer, die von herrschaftlichem und heldenhaftem Blut geboren ist, gebühren die mannhaften Tugenden all ihrer glorreichen Ahnen.
Frauen generell käme eine „virtú feminile“ zu, eine weibliche Tugend, die sie für Arbeiten im Haus prädestiniere, Frauen wie die Herzogin aber eine „virtú donnesca“, die Tugend der heroischen, außergewöhnlichen Frau, die sie durchaus zur Herrschaft befähigt.³⁰ „Nè alcuna distinzione d’opere e d’uffici fra loro e gli uomini eroici si ritrova …“,³¹ zwischen heroischen Männern und Frauen sei keinerlei Unterschied in Werken und Aufgaben festzustellen. Tasso findet mit den unterschiedlichen Tugenden eine geschickte Möglichkeit, die Existenz großer Frauen und die alltägliche Subordination des weiblichen Geschlechts ins eins zu bringen. Wer zu dieser Zeit Frauen herrschaftsfähig machen will, muss einen Weg finden, mit ihrer scheinbar naturbedingten Andersartigkeit umzugehen. Wie Tasso, der dies mit seinem Konstrukt der heroischen Frauen tut, müssen Fonte, Marinella und Tarabotti, um das weibliche Geschlecht als dem männlichen überlegen präsentieren zu können, die gängige Lesart der Temperamentenlehre umdeuten und neu bestimmen, was die ‚Natur‘ der Geschlechter sei. In Moderata Fontes Il merito delle donne ist die körperliche Verfasstheit von Männern und Frauen wiederholt Thema des Gesprächs. Im Dialog treffen sich sieben Sprecherinnen diverser Lebensphasen in einem geradezu paradiesischen venezianischen Garten,
27 Tasso [1582] 1997, 54. 28 Ebd., 62. 29 Ebd. 30 Auch wenn sie diese gewöhnlich ablehne, so Tasso. Ebd., 64. 31 Ebd., 67.
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um unter Abwesenheit der Männer das Leiden der Frauen unter denselben zu debattieren. Im zweiten Teil des Dialogs wird schließlich ein enzyklopädisches Wissenspanorama ausgebreitet. Im ersten, den Männern gewidmeten Debattenteil wirft eine Sprecherin die Frage auf, warum die Frauen so freundlich und leichtgläubig seien, dass sie ständig auf unehrliche Männer hineinfielen, woraufhin Corinna, die für die Wissensvermittlung zuständige Protagonistin, antwortet, dass dies mit der natürlichen Veranlagung und Komplexion der Frauen („natural disposizione e complessione“³²) zu erklären sei. Aufgrund ihres kalten und phlegmatischen Temperaments seien Frauen ruhiger, schwächer und leichtgläubiger, was durch den Intellekt ausgeglichen werden müsse: Mit der Fackel der Vernunft („torchio della ragione“) gelte es, sich vor den versteckten Hinterhältigkeiten der Männer zu schützen. Eine andere Sprecherin fährt fort: … noi siamo di tale natura, dove non domina alcuna ferocità, per non vi aver molto luogo la colera ed il sangue e però riusciamo più umane e mansuete, meno inclinate ad essequire i nostri desideri che gli uomini, dove all’incontro gli uomini di complession calda e secca, signoreggiati dalla colera, essendo tutti fiamma e fuoco, sono anco più inclinati ad errare e manco si ponno astenere da i loro disordinati appetiti.³³ … wir sind von einer solchen Natur, dass uns keinerlei Wildheit dominiert, da Galle und Blut in ihr [unserer Natur] nur eine kleine Rolle spielen. Und das macht uns menschlicher und sanfter als Männer und verleitet uns weniger dazu, unseren Leidenschaften zu folgen. Ihr Temperament hingegen ist heiß und trocken; von der Galle beherrscht, sind alle Männer ganz Feuer und Flamme und lassen sich eher dazu verleiten, Fehler zu begehen, und können sich ihrer ungeordneten Begierden kaum enthalten.³⁴
Moderata Fonte greift also die vorherrschende Meinung („come affermano tutti i savi in questa materia“³⁵) auf, dass Frauenkörper kälter und feuchter seien, zieht aber völlig andere Schlüsse daraus. Denken wir zurück an Giuseppe Passi, der aufgrund derselben Prämissen konstatiert hatte, die Frauen seien ‚tausend Leidenschaften‘ unterworfen. Hier wird jedoch das Gegenteil behauptet: Die Hitze der Männer mache sie unbeherrscht und affektgetrieben, die kühlere Komplexion der Frauen hingegen biete der Vernunft die bessere Grundlage. Protagonistin Corinna fasst zusammen: „… si trova che [le donne] sono create di miglior natura di loro e che si governano per ragione e non per appetito ….“³⁶ („… es verhält sich so, dass die Frauen mit besserer Natur erschaffen sind und dass sie sich vom Verstand und nicht von ihren Begierden leiten lassen …“).³⁷
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Fonte [1600] 1988, 47; Fonte 2001, 112. Fonte [1600] 1988, 47. Verändert nach: Fonte 2001, 112–113. Fonte [1600] 1988, 47. Ebd. Verändert nach: Fonte 2001, 113.
Herrschaft und die ‚Natur‘ der Geschlechter
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Lucrezia Marinella, deren La nobiltà uns bereits zu Beginn dieser Ausführungen begegnet war, verfolgt eine ähnliche Strategie. Sie steigert die Wärme der Männer zur Hitze und macht aus dem kühleren Körper der Frauen eine gemäßigte, optimale Umgebung für die Vernunft: „… un corpo temperato, come è quello delle donne, è molto atto alle operationi moderate dell’anima“.³⁸ („… ein wohltemperierter Körper, wie der der Frauen, ist sehr tauglich für die ausgeglichenen Handlungen der Seele.“) Marinella weiß, dass ihr Gegner in dieser Sache kein geringerer als Aristoteles ist, der als Autorität in Sachen Temperamentenlehre gilt, wie wir auch bei Torquato Tasso gesehen haben. Sie führt aus: Non considerò, credo io all’hora Aristotile con maturità d’ingegno l’operationi del calore, e quello, ch’importi l’esser più caldo, e men caldo, e quanti effetti buoni, e rei da questo derivano; percioche s’egli havesse ben pensato quante pessime operationi produce il calore, che eccede quello della donna, non havrebbe detto una minima parola.³⁹ Aristoteles bedachte also, so meine ich, die Werke der Wärme, und das, was es mit sich bringt, wärmer oder weniger warm zu sein, und die guten und schlechten Effekte, die daraus folgen, nicht mit reifem Geist; denn hätte er die üblen Werke, die aus der Wärme hervorgehen – welche die der Frauen übersteigt –, gründlich durchdacht, hätte er kein einziges Wort gesagt.
Die warme und trockene Komplexion erzeuge endlose lasterhafte Effekte, wie etwa brennendere Verlangen und entfesseltere Begierden („infiniti vitiosi effetti, come appetiti piu ardenti, e voglie piu sfrenate“⁴⁰) als der „gemäßigte“ Körper der Frauen. Die Entkräftung der Idee, dass die Frauen den Männern aufgrund ihrer körperlichen Verfassung, ihrer Komplexion und ihres Temperaments von Natur aus untergeordnet seien, ist ein grundlegender Baustein in der Argumentation der beiden Autorinnen. Die dritte und zeitlich etwas spätere Autorin, die Nonne Arcangela Tarabotti, verbindet Argumente der Querelle mit einer Klage über die durch verschiedene ökonomische und gesellschaftliche Faktoren bedingte Praxis, junge Mädchen gegen ihren Willen ins Kloster zu zwingen.⁴¹ Sie gründet ihre Argumentation auf einer frauenfreundlichen Interpretation der Bibel – die Rolle, die bei Fonte und Marinella die ‚Natur‘ einnimmt, hat bei Tarabotti Gott und seine Schöpfung der Geschlechter inne: Constituoì l’uno e l’altra dominatori del mondo, senza parzialità alcuna. … Tanto la femina, quanto il maschio nacquero liberi. … S’appresso Dio, sia o nelle condizzioni del corpo, o nelle qualità dell’ anima, la femina non è meno priveligiata di voi, perché volete, o nemici della verità, farla apparire creata con tanta disuguaglianza, dichiarandola suddita alle vostre capricciose pazzie?⁴²
38 Marinella 1621, 44 [1601: 31]. 39 Ebd., 158 [1601: 119]. 40 Ebd., 182 [1601: 136]. 41 Vgl. zu dieser Praxis beispielsweise Sperling 1995, 12–55. Zum venezianischen Ehemarkt im Zusammenhang mit den Texten der drei Autorinnen vgl. Cox 1995. 42 Tarabotti [1654] 2007, 194.
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Er ernannte den einen und die andere zu Herrschern der Welt, ohne irgendeine Bevorzugung. … Sowohl die Frau als auch der Mann sind frei geboren. … Wenn vor Gott die Frau weder der Verfassung des Körpers, noch der Qualität der Seele nach weniger privilegiert ist als ihr, warum wollt ihr, oh Feinde der Wahrheit, sie als mit großer Ungleichheit geschaffen erscheinen lassen und als Subjekt eures kapriziösen Irrsinns?
Wenn der Herrschaftsanspruch des Mannes über seine inhärente Höherwertigkeit begründet wird, verliert der Mann mit der Zurückweisung der Höherwertigkeit auch seinen Herrschaftsanspruch – während die Frau einen Anspruch gewinnt, wenn durch die Neubewertung der Quellen, sei es nun die Temperamentenlehre oder die Genesis, ihre Höherwertigkeit gezeigt wird. Zugleich wird mit der Umkehr der Bewertung der Geschlechter auch das bestehende Geschlechterverhältnis für illegitim erklärt, wie beispielsweise Moderata Fonte es zwei der Protagonistinnen ihres Dialogs tun lässt: ‚Se ciò fusse vero‘ – disse allora Verginia – ‚che gli uomini fussero di tanta imperfezione, come voi dite, perché ci sono essi superiori in ogni conto?‘ A questo rispose Corinna: ‚Questa preminenza si hanno essi arrogata da loro, che se ben dicono che dovemo star loro soggette, si deve intender soggette in quella maniera, che siamo anco alle disgrazie, alle infermità ed altri accidenti di questa vita, cioè non soggezione di ubidienza, ma di pacienza … e questo tolgono essi per contrario senso e ci vogliono tiranneggiare, usurpando si arrogantemente la signoria, che vogliono avere sopra di noi …‘⁴³ ‚Wenn es wahr wäre und die Männer tatsächlich derart unvollkommen sind, wie Ihr behauptet, warum sind sie uns dann in jeder Hinsicht übergeordnet?‘ fragte Virginia. Darauf antwortete Corinna: ‚Diesen Vorrang haben sie sich selbst angemaßt. Und auch wenn sie sagen, daß wir ihre Untergebenen sind, so sind wir ihnen lediglich wie einem Unglück … unterworfen – keine Unterwerfung des Gehorsams also, sondern der Duldsamkeit … Doch das verstehen die Männer falsch und sie wollen uns tyrannisieren, indem sie selbstherrlich die Herrschaft über uns an sich reißen, die wir vielmehr über sie haben müssten.‘⁴⁴
Fonte überträgt mit dem Begriff des ‚Tyrannen‘ einen Terminus des politischen Diskurses auf die Beziehung zwischen den Geschlechtern und beschreibt diese so als Macht- und Herrschaftsverhältnis, in dem die übergeordnete Position der Männer nicht natur- oder gottgegeben, sondern von den Männern selbst geschaffen ist. Lucrezia Marinella und Tarabotti tun es ihr gleich, alle drei Autorinnen nutzen den Begriff der Tyrannei, um das Verhältnis zwischen Männern und Frauen zu beschreiben. In Arcangela Tarabottis Semplicità ingannata klingt das folgendermaßen: Voi pure, o vanagloriosi, applicati a quel stato di superiorità sovra le donne, il quale vi sète usurpato, mirando voi stessi adorni di molti doni, come della libertà, dominio, signoria e manegi di stato, avendone scacciate esse con empia tirannia inlecita a cristiani …⁴⁵
43 Fonte [1600] 1988, 26. 44 Verändert nach: Fonte 2001, 86. 45 Tarabotti [1654] 2007, 389–90.
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Ihr, oh Prahlhälse, die ihr euch diesen Status der Überlegenheit über die Frauen angemaßt habt, schmückt euch selbst mit vielen Gaben wie Freiheit, Dominanz, Herrschaft und Staatsführung, von denen ihr sie mit ruchloser, den Christen untersagter Tyrannei vertrieben habt …
Die traditionelle Definition des Begriffes ‚Tyrann‘ als einem Alleinherrscher, der nicht rechtmäßig herrscht und/oder sich illegitimer, gewaltsamer Mittel bedient, geht auf Aristoteles zurück.⁴⁶ Auch „nach dem Gesetz“ regierende Herrschende hätten einen tyrannischen Charakter, wenn sie „nach eigenem Gutdünken despotisch regierten“.⁴⁷ Aristoteles führt aus: … die Tyrannis verfolgt … überhaupt nicht das Wohl der Gesamtheit – es sei denn dies dient (zugleich) dem eigenen Vorteil. Das Ziel, das sich der Tyrann setzt, ist Lustbefriedigung, das des Königs hingegen richtiges Handeln.⁴⁸
Zum einen kann die Herrschaft der Männer über die Frauen zur Tyrannei umgedeutet werden, weil sie ihrer Begründung auf Basis der ‚natürlichen‘ Befähigungen der Geschlechter beraubt worden ist, die Herrschaft sozusagen nicht mehr rechtmäßig ist. Zum anderen sind es auch die Maßnahmen, mit denen das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern perpetuiert wird, die die Autorinnen von einer Tyrannei sprechen lassen. Ein wichtiges Motiv in Fontes Il merito delle donne ist es, Frauen für intellektuell ebenbürtig zu erklären und Bildung für sie einzufordern. Dieses Thema hatte sie bereits in ihrem unvollständig gebliebenen Ritterepos, den Tredici canti del Floridoro eingeführt, wo sie Frauen als „von Natur aus“ ebenso lernfähig wie Männer bezeichnet.⁴⁹ Lucrezia Marinella und Arcangela Tarabotti zitieren die folgenden Stanzen aus dem Werk: Se quando nasce una figlia il padre La ponesse col figlio a un’opra eguale, Non saria nelle imprese alte e leggiadre Al frate inferior né disuguale, O la ponesse in fra l’armate squadre Seco o a imparar qualche arte liberale.⁵⁰ Wenn einem Vater eine Tochter geboren wird er ihr und dem Sohn die gleiche Aufgaben stellt wäre sie, bei großen wie kleinen Unterfangen, dem Bruder weder unterlegen noch ungleich, ob man sie zu den bewaffneten Truppen schickt oder einige freie Künste lehrt.
46 47 48 49 50
Vgl. Dreher 1998. Vgl. Politik IV,10 1295a16–17 (Aristoteles 2012). Politik V,10 1311a5–6 (Aristoteles 2012); deutsche Übersetzung von E. Schütrumpf. Fonte [1581] 1995, Canto 4.1. In englischer Übersetzung: Fonte 2006. Fonte [1581] 1995, Canto 4.5.
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Im Merito delle donne baut Fonte das Thema weiter aus. Zunächst nutzt sie die Figur der gelehrten Corinna, um die intellektuelle Freiheit eines zurückgezogenen Lebens als große Errungenschaft zu feiern. Da Corinna allein und keusch lebe, könne sie jeden Gedanken ihres erhabenen Verstands ganz auf das Studium richten („nei cari studi delle lettere, così umane, come divine“⁵¹) und so eine vita celeste, ein himmlisches Leben führen, wenn sie nur den Umgang mit den ‚falschen‘ Männern meide und sich den Tugenden widme, die sie „unsterblich machen werden“⁵² („che vi faranno immortale“⁵³). Der zweite Buchteil wiederum ist eine vielfältige Zusammenstellung von Wissen in kurzweiliger Gesprächsform, in dem alle Sprecherinnen die gebildete Corinna zu verschiedensten Themenbereichen befragen. Der Erwerb medizinischen Wissens und die Kenntnis von Naturzusammenhängen wird ausdrücklich als Möglichkeit präsentiert, sich unabhängiger von „l’aiuto loro“, der Hilfe der Männer zu machen⁵⁴ – Wissenserwerb darf hier durchaus als weibliche Ermächtigungsstrategie verstanden werden.⁵⁵ Fonte greift auch den Gedanken aus dem Floridoro erneut auf: … sì anco perché possiamo ragionare ancor noi come essi, che se ci fusse insegnato da fanciulle (come già dissi) gli eccederessimo in qual si voglia scienza ed arte che si venisse proposta.⁵⁶ Zum anderen haben wir wie sie das Recht zu debattieren, und wären wir von klein auf unterrichtet worden, überträfen wir die Männer, wie gesagt, in jeder Wissenschaft und Kunst, die uns genannt würde.⁵⁷
Lucrezia Marinella erklärt, dass es durchaus im Interesse der Männer läge, Frauen ungebildet zu halten. In ihrem Tyrannenkapitel hatte sie die verschiedenen Maßnahmen aufgeführt, die ein Tyrann nach Aristoteles zum Erhalt seiner Macht nutze: die Bürger einzuschüchtern, Misstrauen unter ihnen zu sähen und sie so arm zu machen, dass sie handlungsunfähig würden.⁵⁸ Eine Analyse von Maßnahmen zum Erhalt des Patriarchats liegt also nahe. Marinella schreibt: Ma poco sono quelle, che dieno opera à gli studi, overo all’arte militare in questo nostri tempi; percioche gli huomini, temendo di non perdere la signoria, e di divenir servi delle donne, vietano à quelle ben spesso anche il saper leggere, e scrivere.⁵⁹
51 Fonte [1600] 1988, 18. 52 Fonte 2001, 77. 53 Fonte [1600] 1988, 18. 54 Ebd., 125; Fonte 2001, 203. 55 Vgl. Ray 2010, 159. 56 Fonte [1600] 1988, 169–70. 57 Fonte 2001, 258. 58 Marinella 1621, 235 [1601: 177]. Vgl. Politik V,11 1313b–1324a (Aristoteles 2012). 59 Marinella 1621, 46 [1601: 32].
Herrschaft und die ‚Natur‘ der Geschlechter
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Aber in unserer Zeit gibt es nur wenige [Frauen], die sich den Studien oder der Militärkunst widmen, weil die Männer ihnen aus Furcht, um nicht die Herrschaft zu verlieren und Diener der Frauen zu werden, sehr häufig auch das Wissen zu lesen und zu schreiben verbieten.
Bildung für Frauen ist auch ein wichtiges Thema in Arcangela Tarabottis Semplicità ingannata, das hauptsächlich im zweiten der drei Buchteile abgehandelt wird. Männer, so Tarabotti, nutzten die Ignoranz der Frauen aus, um sie zu dominieren, was aber nicht bedeute, dass es Frauen an Intellekt mangele – die fehlende Bildung sei das Problem („non per mancamento d’ingegno, ma per difetto di studii“).⁶⁰ Tarabotti setzt zu einer Analyse der Situation an: Wie könne man Frauen für ihre Dummheit schelten, wenn sie doch als Lehrerinnen höchstens andere Frauen vorgesetzt bekämen, die doch selbst kaum das ABC beherrschten?⁶¹ Wie könne ihr Verstand „erwachen“, wenn sie keine Schule, geschweige denn Universität besuchen dürften?⁶² Mit „temeraria tirannide“⁶³ („mutwilliger Tyrannei“) würden die Frauen von jeder Bildung abgehalten. Proibite le lettere alle donne, acciò non possano diffendersi dalle vostre invenzioni, e poi le publicate per ignoranti e vinte!⁶⁴ Ihr verbietet den Frauen das geschriebene Wort, damit sie sich nicht gegen eure Einfälle verteidigen können, und dann präsentiert ihr sie als Ignorante und Besiegte!
Die drei Autorinnen identifizieren neben der Verweigerung von Bildung und militärischer Ausbildung auch den Ausschluss von öffentlichen Ämtern für Frauen als männliche Strategie zum Machterhalt, ebenso wie von Männern gemachte Gesetze und eine tendenziöse Geschichtsschreibung. Gleichzeitig arbeiten sie aber auch daran, die Formen der Herrschaft selbst zu gendern – sie verknüpfen den Begriff der Tyrannei mit dem männlichen Geschlecht und imaginieren eine spezielle Form der weiblichen Herrschaft, die sich von der männlichen Herrschaft unterscheide. Damit komme ich zum letzten Teil dieser Ausführungen, der Verbindung von Herrschaft und Natur der Geschlechter in den drei Texten. An mehreren Stellen in den Texten der drei Autorinnen wird eine Herrschaft der Frauen über die Männer für eigentlich rechtmäßig erklärt. Die betreffende Textstelle in Moderata Fontes Il merito delle donne hatten wir ja bereits gesehen, „die Männer … werden zu Tyrannen, indem sie selbstherrlich die Herrschaft über uns an sich reißen, die wir vielmehr über sie haben müssten. [eigene Hervorhebung]“⁶⁵ Zudem etabliert Fonte mit der Gruppe
60 Tarabotti [1654] 2007, 280. 61 Ebd., 284. 62 Ebd., 292. 63 Ebd., 308. 64 Ebd., 307. 65 Fonte [1600] 1988, 26; Fonte 2001, 86.
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der sieben ausschließlich weiblichen Protagonistinnen ihres Dialogs eine Art Gegenentwurf zur männerdominierten Gesellschaft.⁶⁶ Die sieben Frauen sind zu geordnetem politischen Verhalten in der Lage, wie durch die Wahl einer „Gesprächskönigin“ zu Beginn des Textes demonstriert wird,⁶⁷ eine Freundschaft unter gleichen bildet das verbindende Moment der Gruppe⁶⁸ und die Möglichkeit, ohne Männer zu leben, rückt in den Bereich des Vorstellbaren.⁶⁹ Diese Imagination einer weiblichen Gesellschaft kann als Utopie gelesen werden.⁷⁰ Auch Lucrezia Marinella erklärt das weibliche Geschlecht für herrschaftsfähig, und zwar in einem Kapitel, in dem die Autorin ihre These von der Höherwertigkeit der Frau etymologisch zu belegen versucht, also über die Bedeutungen der Namen, mit denen das weibliche Geschlecht bezeichnet wird. … questo nome di Donna … denota signoria, e imperio: Ma placido dominio à punto corrispondente alla natura della Dominante. Che s’ella signoreggiasse à guisa di Tiranno, come fanno i poco cortesi maschi, forse starebbono mutoli l’insolenti detrattori di questo nobil sesso.⁷¹ … dieser Name ‚donna‘ bedeutet Regierung und Herrschaft. Aber [es ist] eine sanfte Herrschaft, die zur Natur der Herrschenden passt. Wenn sie auf die Art des Tyrannen geherrscht hätte, wie es die wenig höflichen Männer tun, wären die dreisten Verleumder dieses edlen Geschlechts vielleicht stumm geblieben [eigene Hervorhebung].
Besonders auffällig ist hier die direkte Verbindung, die sie zwischen der Natur des Geschlechts und Form der Herrschaft herstellt. Sie kontrastiert eine sanfte Herrschaft der Frauen mir der tyrannischen Herrschaft der Männer. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass die Autorinnen es als ‚Natur‘ der Männer dargestellt hatten, ihre Leidenschaften nicht ausreichend kontrollieren zu können. Das ist auch ein klassisches Charakteristikum des Tyrannen, das Marinella besonders betont: … anzi si come de gli altri Reggi l’oggetto, e il fine di operare è l’honesto, e il giusto, cosi del Tiranno è il proprio utile, e il commodo, che li serve, come scrive Aristotile nel quinto della Politica …⁷² So wie das Ehrenhafte und das Gerechte der Gegenstand und das Ziel der Handlungen anderer Herrschender ist [sind], so ist [es] für den Tyrannen der eigene Nutzen, und Annehmlichkeit, der er dient, wie Aristoteles im fünften [Buch] der Politik schreibt …
66 Vgl. Jordan 1992, 254–7. 67 Fonte [1600] 1988, 23; Fonte 2001, 83. 68 Fonte [1600] 1988, 77. Fonte 2001, 147. Vgl. Ross 2009, 282 f. 69 Fonte [1600] 1988, 169; Fonte 2001, 257. 70 Vgl. Plastina 2011, 56. 71 Marinella 1621, 7 [1601: 5]. 72 Ebd., 234 [1601: 177].
Herrschaft und die ‚Natur‘ der Geschlechter
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Das, was sich der Tyrann nachts erträume, müsse der Untergebene tagsüber ausführen.⁷³ Den Traum als Ort, an dem die Vernunft die Begierden nicht mehr unter Kontrolle hat, kennen wir aus Platons Politeia, wo das Bild ebenfalls zur Beschreibung eines Tyrannen verwendet wird.⁷⁴ Ungezähmte Begierden, Männlichkeit und Tyrannei fallen bei Marinella in eins. Arcangela Tarabotti leitet den Herrschaftsanspruch der Frauen aus dem Zeitpunkt ihrer Schöpfung her und beschreibt die Herrschaft der Frauen als Gegenteil einer männlichen Herrschaft: Avendo l’Omnipotente risservata nel fine di così bell’opra la creazione della donna, volse privileggiarla … onde operò che ‘n virtù d’un guardo, e in valore d’una pura modestia, avesse forza di sogettare e tiranneggiare i più fieri e selvaggi cuori in dolce servitù.⁷⁵ Da der Allmächtige sich die Schöpfung der Frau für den Schluss dieses ach so schönen Werks aufsparte, wollte er sie privilegieren … er veranlasste, dass sie, in der Tugend eines Blickes und dem Wert der reinen Bescheidenheit, die Kraft habe, sich die wildesten und rauesten Herzen in süßer Knechtschaft untertan zu machen und zu tyrannisieren.
Die beiden Verben, mit denen die Herrschaft ausgedrückt wird – „sogettare“ und „tiraneggiare“, also „zum Untertan machen“ und „tyrannisieren“ – werden durch die positive Beschreibung der Herrschaft der Frauen konterkariert: Frauen herrschen nämlich nicht mit Gewalt über die „wildesten und rauesten Herzen“, sondern durch Bescheidenheit und ihren tugendhaften Anblick. So entsteht das Bild einer „süßen“ Herrschaft der Frauen. Wir haben gesehen, wie die drei Autorinnen mit dem Konzept der spezifischen Natur der Geschlechter umgehen, die sich in Körpern von verschiedener Komplexion manifestiert. Sie nehmen die etablierten Ideen über geschlechtliche Natur und Körper auf, kehren aber die aufgrund dieser Prämissen gemachten Folgerungen um. So entziehen sie den üblichen Begründungsmustern für das bestehende Geschlechterverhältnis die Grundlage. Damit schaffen sie die Voraussetzung dafür, einerseits Frauen für herrschaftsfähig zu erklären und andererseits die Tyrannei als typisch männliche Herrschaftsform und Synonym für das Geschlechterverhältnis zu etablieren. Vor allem aber demonstrieren sie, wie flexibel das Konzept ‚Natur‘ gedacht werden kann: Wenn aus der ‚Natur‘ der Geschlechter komplett gegensätzliche Gesellschaftsordnungen hergeleitet werden können, heißt das auch, dass ‚Natur‘ tatsächlich hier nicht für Grundlegendes, Unveränderbares, Essentialistisches steht, sondern für Etwas, das gedeutet, diskutiert und in letzter Konsequenz auch neu definiert werden kann.
73 Ebd. 74 Vgl. Politeia IX,1 574e–575a (Platon 2006). 75 Tarabotti [1654] 2007, 184.
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María Ángeles Martín Romera
Embodying Royal Justice in Early Modern Spain: Demeanour and Habitus in the Instructions for the Office of Judge 1
Introduction
In 1597, Jerónimo Castillo de Bobadilla published his Politica para corregidores, in which, among other subjects pertaining to Hispanic royal judges known as corregidores,¹ he addressed a variety of concerns pertinent to the portrayal of their office.² Regarding their behaviour and demeanour, he wrote: Better proof of worthiness … brings the man with his person, gestures and manners than with any letter of recommendation, because these are an indication that the interior qualities of the spirit are similar to the exterior body parts … From this we infer that the corregidores should not have these or any other deformities … for it is undoubtely crucial to see public men who must command others, and whom all must look upon and respect as an ideal of their own life, with a mild-mannered face and appearance, without a vice in their body, and they must appear to be venerable people; for their appearance increases the authority of their office. Because venerable appearance and good disposition seem to radiate a certain veneration and majesty.³
1 The corregidores were the main representatives of the monarch in a given territory, normally a city and its hinterland. They had judicial and executive duties, presided over the city council and were the head of the royal justice in their jurisdiction. Amongst the classic studies concerning the corregidor cf. Albi 1943; González Alonso 1970; Bermúdez Aznar 1971; Lunenfeld 1987. For more recent works about the corregidores with extensive bibliographical references cf. Fortea Pérez 2012; Asenjo González 2015. 2 Regarding Jerónimo Castillo de Bobadilla and his work cf. González Alonso 1981. He was lieutenant of corregidor in Badajoz (1568) and corregidor in Soria (1574) and in Guadalajara (1585). Graduated in law in the university of Salamanca (1568), since 1590 he worked as a lawyer, as a consultant for the General Assembly of the Kingdom (the Cortes) and as attorney of the Royal Chancellery of Valladolid (1602) (Castillo de Bobadilla 2003). 3 Castillo de Bobadilla 1775 I,1,7: „Mayor testimonio de abono … trae el hombre con su buena persona, gesto, y manera, que con todas las cartas de recomendacion, porque es indicio que las calidades interiores del animo son tales quales son las partes exteriores del cuerpo. … De lo dicho se infiere, que los Corregidores no han de tener estas ni otras deformidades, ni alguna dellas … porque los hombres publicos que han de governar à otros, y à quien todos han de mirar y respetar, como à blanco, y objeto de su vivir, sin duda ninguna haze mucho al caso verlos con rostro y aspesto apacible, sin vicio en el cuerpo, y de venerables personas; como quiera que la presencia acrecienta la autoridad del Oficio. Porque el venerable aspesto y buena disposicion parece resplandece cierta veneracion y magestad“. The English versions of ancient Spanish texts included in this article have been translated by the author.
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This text is only one of the many references to the appropriate demeanour of the corregidores and other royal judges in the Spanish specula and treatises of the sixteenth century. Many of these texts spoke of the civility and self-restrained manners that these public officials should observe. The treatises are especially concerned with how every public expression affected their legitimacy and the image of royal justice that they embodied, from their manner – which should be pleasant and graceful –, to which clothes they wore, how they ate, spoke, walked or whether they laughed or entertained themselves in front of others. It was widely assumed that through these perceptible actions, the judges proved their qualities and moral adequacy for the office. The close relationship between the inner self and the outward appearance already existed in Aristotle and was a constant benchmark both in the Middle Ages and in the Early Modern period, when physical expression was believed to reflect the moral qualities of a person. The body would „betray“ both the inner thoughts and one’s morality; in fact, it could even contradict a person’s words, since it is easier to dissimulate with words than with body language. The connection between the inner and outer self has its antithesis in the concept of dissimulatio, particularly relevant after Machiavelli’s works. Notwithstanding the reluctance of many Spanish authors to accept Machiavelli’s hypotheses,⁴ Baroque Hispanic literature exhibited different examples that embraced the idea of dissimulatio, such as Baltasar Gracián’s books.⁵ The Hispanic tension between the perception of the soul through the body and the cunning concealment of one’s own true emotions and opinions was also to be found in the discussions regarding the archetype of the royal judge. The corregidores were exhorted to bear a deadpan expression that would reflect two qualities particularly associated with judges: impartiality and inaccessibility. In order to look impartial and inaccessible, the royal judge must exercise self-restraint, control over his own body and maintain an unreadable face. Since the judges were constantly scrutinised both by the Crown and by the population, inscrutability became fundamental to the performance of their office. The instructions for the judges’ demeanour and manners were part of a more complex and comprehensive process of development of a particular habitus of officials in the Hispanic monarchy, amongst whom the corregidores occupied a fundamental role.⁶ A number of studies have pointed out the growth of certain ethics among officials during the emergence of Absolutism and the forging of Modern States; a „Beamtenethik“ that would be developed between the sixteenth and the seventeenth
4 Maravall 1999; Prades Vilar 2011. 5 González García 2011. 6 García Marín 1987.
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century.⁷ In the case of Spain, the growing interest and control over the officials crystallised in the development of specific behavioural standards that would be considered a sort of ‚second nature‘ for the officeholders.⁸ The continuous exercise of certain morals and qualities turned them into habits, indeed inherent manners, so internalised that they became almost innate. One of the most famous corregidores, Alonso Ramírez de Villaescusa, author of the Espejo de Corregidores, paraphrased Aristotle and affirmed that when a person consistently repeated an act and made a custom or „hábito“ (habitus) out of it, that custom would become nature: and it is very useful and beneficial to teach young people from childhood on godly issues, because in that way, accustomed from a tender age, they will have them more firmly fixed and emprinted, and they will be unable to remove them, because the custom has turned into a nature; because custom is another nature says the philosopher … who in the second book of the Rhetoric says that the nature is always and the custom is … often; and therefore, being often is close to that which is always and the custom is near and close to the nature.⁹
The identification between the specific office of judge and a second nature is more explicit in Jerónimo Castillo de Bobadilla who, in his Politica para Corregidores, pointed out that the office of judge required the adoption of a particular behaviour as a custom and habitus, that should be publicly displayed and recognisable. Regarding the debate about whether judges should be allowed to receive any kind of presents he stated: The safest and healthiest [behaviour], would be that the corregidor should receive neither a lot nor a little, and he should make a habit and a custom out of it, so that not even such minimal things as a bottle of wine or a basket of fruit should enter his house as presents, and it should be evident and well known among the people, that this is his condition and office.¹⁰
7 Stolleis 1990; Amezúa Amezúa 2002. 8 On the concept of ‚second nature‘ cf. Kelly 1997. Regarding ‚second nature‘ in the Hispanic culture cf. Strosetzki 2012. 9 Ramírez de Villaescusa, Alonso (ca. 1493): Espejo de corregidores y de jueces. Biblioteca Histórica Complutense, Mss. 154: „y es muy utyle y provechoso que los mançebos sean enseñados desde su niñes en las cosas de Dyos porque asy acostumbrados en aquellas desde su tyerna edad mas firmemente las ternan fixas e ympresas, y no se podrán quitar despues por la costunbre convertida ya en natura; porque la costumbre es otra natura segun el philosofo dize … en el segundo de los Rectoricos donde dize que la natura es syempre e la costunbre es … muchas veses e asy lo que es muchas veses esta muy propinco e çercano a aquello que es syempre e asy la costumbre es propinca e çercana a la natura“. It is significant that Donald Kelly, in his article on the ‚second nature‘, quotes the same sentences from Aristotle: Kelly 1997, 131–132: „…Aristotle remarks that ‚that which has become habitual becomes as it were natural; for the distance between ‚often‘ [pollakis] and ‚always‘ [aion] is not great, and nature belongs to the idea of ‚always‘, custom to that of ‚often‘ “. 10 Castillo de Bobadilla 1775 I,1,7: „que lo mas seguro, y mas sano es, que el Corregidor poco, ni mucho no reciba, y que haga habito, y costumbre a ello, que ni la garrafa de vino, ni la cesta de fruta, ni otras cosas tan minimas, ni mayores entren en su casa presentadas, y que sepan, y sea notorio en el pueblo, que esta es su condicion y profession“.
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The concept of second nature consistently related to the self-government that was required of the judges: the performance of a set of habits would tame the more innate and savage nature and bring the man closer to the archetypical official.¹¹ In this article the acquisition of a specific habitus related to the office of the royal judge and in particular of the corregidor is analysed through its bodily expression. The nexus between the habitus and the body was clearly explained by Pierre Bourdieu who asserted that the habitus is learnt through the body, is incorporated to the self by practice instead of through conscious awareness. According to Bourdieu, the values are ‚made body‘ through a transubstantiation of an implicit pedagogy that affects the demeanour and the body and verbal manières:¹² „L’hexis corporelle est la mythologie politique réalisée, incorporée, devenue disposition permanente, manière durable de se tenir, de parler, de marcher, et, par là, de sentir et de penser“.¹³ Despite the bridge that Bourdieu built between structuralist theories and individual action, his insistence on the involuntary character of the habitus differentiates it from the idea of self-fashioning proposed by Stephen Greenblatt as a phenomenon that developed particularly in the sixteenth century in relation to the new notions of identity.¹⁴ The embodiment of a Hispanic royal judge and, particularly, of a corregidor, comprised a series of rules and norms; while many of them, like the adequate deportment, would be acquired as a habitus through the personification of the idea that society had of a corregidor, there would also be room for self-fashioning, for example when it came to a more comprehensive public image that included aspects like the attire, the company kept and the activities undertaken by the official. In order to illustrate how the appropriate manners and appearance of royal judges were conceived as well as the interconnection between the ideal and the practice, examples from mainly two different sources are presented: the treatises and the juicios de residencia. While the former expressed the Crown’s position regarding its officers, the juicios de residencia combined the official discourse with the voices of a broader section of the population that, by demanding an appropriate performance of the office, declared their own conceptions about the corregidores’ deportment. The article asserts that both discourses not only offered a framework for the corregidores’ suitable demeanour, but actually affected their performance by exposing them to the constant observation and censorship of the Crown and the population.
11 Regarding self-government in the sixteenth century cf. Haroche 1993. 12 Bourdieu 1980, 117: „Et l’on n’en finirait pas d’énumérer les valeurs faites corps, par la transsubstantiation qu’opère la persuasion clandestine d’une pédagogie implicite …“. 13 Ibid.; italics in the original. 14 Greenblatt 1980.
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2 The awareness of judges’ demeanour in the case of Spain Since Mauss’ work Techniques of the body, it has been widely accepted that deportment and gestures – the physical display in senso lato –, are learnt.¹⁵ The importance of the transition between the Late Middle Ages and the Renaissance in the birth of a court etiquette, the increase of self restraint and the proliferation of books about education and manners were enhanced by Norbert Elias’ work and, despite the criticism of many aspects of his theory, scholars have generally accepted those elements as central concepts in the history of the body.¹⁶ According to Georges Vigarello, the sixteenth century was a key moment in passing from a period (the Middle Ages) where any mention of deportment was rare to a general intensification of the attention given to demeanour.¹⁷ However, the awareness of deportment was not a linear process of incrementation from the sixteenth century. Jean-Claude Schmitt analysed the evolution of interest in gesture from Ancient History and found a direct relationship between the attention to demeanour and the renewed interest in the classics during Charlemagne’s reign, the twelfth century, the reception of Aristotle and the Renaissance.¹⁸ In Spain, although admonishments regarding the manners and demeanour of the Hispanic royal judges were scarce in the Late Middle Ages and only began to emerge during the sixteenth century, there are nonetheless some aspects that should be considered. The Partidas (one of Castile’s main legal texts, written in the thirteenth century and enforced since 1348) gave a thorough description of the appropriate appearance for the king and ecclesiastics, but ignored many of these concerns in the chapters on royal judges except for prescribing a deadpan expression.¹⁹ Consequently, despite there already being an awareness of the importance of manners in connection to certain political figures, for some reason this awareness had still not been extended to officials of the royal justice system. Such a statement contradicts the idea that this phenomenon can be easily interpreted as a mere automatic reflection of an increasing „civilisation process“. Instead, we must see it as a response to a particular development in the perception of these royal officials and a more relevant presence in Hispanic society.
15 Mauss 1935. 16 Elias 2000. 17 Vigarello 1989, 151. 18 Schmitt 1989. 19 The chapters devoted to the judges insisted on morals and intellectual requirements. The physical aspects were mainly limited to not having a physical handicap that would impede them in exercising their duties (Partidas III, tít. IV, ley III). On the contrary, both the king and the ecclesiastics were to be handsome and their clothes, alimentary habits, way of talking etc. are described (Partidas II, tít. V and I, tít. V).
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Beginning in 1480 the corregidores became permanent figures in every important city of the kingdom and were subject to periodical examinations of their conduct through a procedure called juicio de residencia (trials of residence).²⁰ The great power of the corregidores in the cities and the participation of a part of the population in the juicios de residencia clearly greatly increased the sensitivity towards these judges’ performance and demeanour.²¹ The major development in discourses related to the manners of royal judges in the sixteenth century would be consistent with the general development of a Beamtenethik, the trend towards self restraint registered by the history of the body and the new circumstances of these particular officials in the Hispanic kingdoms. In this century, as main representatives of the king in their respective localities, the corregidores were encouraged to project a dignified image that would increase their legitimacy and authority (and, therefore, that of the Monarchy). The best evidence of this development is the difference between the only two Spanish treatises entirely devoted to the persona of corregidores in this period. The first one, the previously mentioned Espejo de Corregidores, written by Alonso Ramírez de Villaescusa in 1493, already describes some of the manners that a corregidor should observe, but it is limited primarily to the way in which he should talk.²² On the other hand, the Política para Corregidores by Jerónimo Castillo de Bobadilla, published one century later, in 1597, not only devotes many more pages to the subjects of good manners and deportment, but also extends its attention to a considerable number of aspects that did not appear in the Espejo. It cannot be denied that the development of new standards of courtesy are partly behind this phenomenon, but this is not sufficient to explain why these standards existed before for other political figures and not for the judges. The sentences that Castillo de Bobadilla uses to describe how the judges should eat are, indeed, literally taken from the Partidas’ admonishments for the king in the thirteenth century.²³ Therefore, the introduction of new manners and performance standards
20 González Alonso 1983. 21 The early legislation for the juicios de residencia did not provide the number of witnesses that should be questioned ex officio by the judge of the residencia. Although later a number of 24 or 30 was established, in a document sent to the Consejo Real to complain about his residencia, Tomás Puga de Rojas affirmed that, against the custom and the law, the judge had questioned ex officio up to 60 witnesses: Puga y Rojas, Tomás de: Discurso iuridico, y politico, por el Licenciado Don Thomàs de Puga y Roxas, Abogado de los Reales Consejos, sobre que se reboque la sentencia, que sobre ciertos cargos de su residencia, dio el Licenciado Don Francisco de Villarroel, successor de dicho D. Thomàs en dicho oficio, y Corregidor de la Villa de Granada, de los Estados del Excelentissimo Señor Duque de Alva, su señor. Biblioteca Nacional España: PORCONES/96/24, fol. 7. 22 Ramírez de Villaescusa, Alonso (ca. 1493). Regarding this treatise cf. Pérez Priego 1997. 23 Partidas II, tít. V, ley II.
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for royal judges was a complex process that must be directly related to the convergence of several different aspects. One event of crucial significance was the afore-mentioned transformation of the corregidor from an occasional political figure who was sent to a particular place for an exceptional reason (generally to solve a conflict), into a permanent official who was present in all main cities and territories of the kingdom. Their constant presence in urban centers as the representatives of monarchs and their justice made them the most important political figures in their localities. They were viewed additionally as the very incarnation of royal power in the territories to which they were appointed.²⁴ As a result, corregidores became much more important pieces in the general picture of the political structure of the kingdom and, therefore, their regulation required closer attention. In 1500, the first set of rules specifically devoted to these officials appeared, known as the capítulos de corregidores.²⁵ The Revolt of the Comuneros in 1520, although defeated, indicated the breach between the Crown and the cities at the beginning of the reign of Charles I.²⁶ Such a breach turned the corregidores into fundamental figures in the complicated and precarious relationship between the monarch and the heads of their territories. During the conflict, the role of the corregidores was particularly controversial. In defence of the king’s interests, they had the task of demanding the obedience of the urban forces and requiring the cities’ representatives to accept new conditions that were felt by the population to be onerous.²⁷ After the defeat of the comuneros the office of corregidor was reinforced, although the population’s aversion towards them would find new ways to manifest itself.²⁸ The new attention to judges’ behaviour is also related to the great expansion of the Spanish judiciary system in the sixteenth century, a period that Richard Kagan has called „a Golden Age of Litigation“.²⁹ An extraordinary number of people turned to the royal courts seeking justice in what Kagan has interpreted as a sort of popularisation of suing. Between 1500 and 1580 the number of final sentences issued by the Chancery of Valladolid increased by 250 per cent, extensively exceeding the demographic and economic increment. This tendency of the population to resort to justice
24 Regarding the role of earlier royal officials as incarnations of the king in medieval Castile cf. Jular 2002. 25 Orejón Muro 1963. 26 Maravall 1979; Pérez 1985. 27 Diago Hernando 2004. 28 The traditional vision of the cities’ opposition to the corregidores has been revised by the Spanish historiography (Guerrero Navarrete 2000–2002; Asenjo González 2015) but despite the numerous cases of collusion or pacific collaboration between the corregidores and the urban elite or the urban population, there would still be many episodes of confrontation as well as individual attacks on the corregidores during the sixteenth and the seventeenth century. 29 Kagan 1981.
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must have gone hand in hand with a broader understanding of royal judges and their role. The consequent increased exposure of these officials to what we might call a kind of „public opinion“³⁰ is clearly seen in the concern shown in the treatises and is reflected in the satires of the period. In 1574, in his treatise concerning the state of prisons and prisoners, Tomás Cerdán described how lawyers criticised the judges. He also reproduced general opinions and popular proverbs on the corruption of justice via partiality or bribes.³¹ The dangers that a bad judge could cause to the reputation of royal justice and its legitimacy are patent in Tomás Cerdán’s affirmation that a sentence wrongfully judged was not justice or law.³² All these factors conspired to exacerbate the need for more professional justice officials who would adequately embody the royal image and the powers that had been bestowed on them. The extension of interest from the demeanour and manners of the king to those of the corregidores is a manifestation that they (and in particular their bodies) were now identified as purveyors of royal justice, and they had to behave accordingly. Although these phenomena (the imposition of corregidores as permanent royal officials in the cities, the struggles of the monarch to control the cities through the corregidores in the pursuit of much needed stability for the kingdom and the generalised resorting of the population to royal justice) have traditionally been related to the origins of the modern states, they were actually the result of the dialectic between the Crown and a number of social groups. The disciplining of judges and controlling of their conduct was often an imposition from below. In fact, the reluctance of the urban elites to accept royal judges in their cities was one of the reasons why the juicios de residencia were imposed; it was a way to appease the opposition of the elites to royal judges and assure them that there was a method to control and punish the misbehaviour of officials.³³ From the fourteenth century on, the petitions that city representatives presented to the General Assembly of the Kingdom constantly included requests for more frequent and efficient juicios de residencia for royal judges, eventually requesting the extension of such trials for an increasing number of officials.³⁴ This aspect cannot be underestimated since, as Benjamín González Alonso stated, the development of the
30 For the discussion regarding the concept of public opinion in pre-modern times cf. Carrasco Manchado 2006. 31 Cerdán de Tallada 1574. 32 Although in this case he is referring to the arbitrariness of justice and not to the other vices of judges: „Aunque el Iuez juzgue mal y por error se diga que aquello que ha sido mal juzgado es justicia, empero a la verdad no es derecho ni justicia, sino quela llaman assi“ (ibid.). 33 Similar procedures were established in other European countries. Regarding the control procedures over officials in France, the works of Romain Telliez are particularly revealing: Telliez 2004 and Telliez 2005. 34 Colmeiro 1883/1884.
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juicios de residencia is inseparable from the birth of the royal official and everything that the public office represented.³⁵
3
The corregidores in the treatises and literature
The specula of the late Middle Ages were mainly directed towards the Prince,³⁶ but from the end of the fifteenth century, treatises proliferated that were devoted to the Raison d’État, focusing on a wide range of figures surrounding the king: the judges, the counsellors,³⁷ the viceroy, the ministers and even the corregidor specifically. The behavioural standards for royal officials of the Spanish Monarchy that these texts revealed were a cultural product of their time, but they also voiced the official monarchic discourse, since their publication had to be approved by the political authorities and pass the inquisitorial censorship. The source par excellence for the figure of the corregidor in the Early Modern period was the afore-mentioned Política para corregidores, a massive work that Jerónimo Castillo de Bobadilla, a corregidor himself, published in 1597.³⁸ In order to print the text in Spanish, he had to request a licence in 1595, since initially he was only given permission for publication in Latin. González Alonso saw a didactic intentionality in Castillo de Bobadilla’s efforts to publish his work in Spanish that is also patent in his proemio. It is evident that the main scope of the treatise and Bobadilla’s objective was to instruct these royal officials and others with similar prerogatives. A good indication of the repercussions of his work was the fact that it became the main reference on corregidores and municipal government in the following two centuries, being the subject of numerous reeditions in the seventeenth (1608, 1616, 1624 and 1649) and the eighteenth century (1704, 1750, 1759 and 1775).³⁹ The role that demeanour played in the general persona of the corregidores can be measured by the inclusion in the Politica para corregidores of a chapter titled „Qual deve ser el corregidor en la disposicion, y presencia de la persona“, that could be translated as „How should the corregidor be in terms of his disposition and appearance“. According to Jerónimo Castillo de Bobadilla, the corregidor should be elegant and moderate when eating and drinking. He should not participate in games, feasts,
35 González Alonso 1978, 203: „Los comienzos del juicio de residencia castellanizado por las Partidas son indisociables, en suma, de la aparición del oficial real y de todo cuanto el oficio público representa“. 36 Nogales Rincón 2006. 37 Furiò Ceriol 1993. 38 See above, footnotes 1 and 2. 39 Castillo de Bobadilla 2003, 7; in the introduction to the 2003 abbreviated edition, Xavier Fähndrich Richon calls the work a bestseller.
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dances or jocular conversation, because those pursuits might lead to excessive familiarity and, therefore, to scorn and the loss of his dignity. Attire was also an important aspect, affecting not only the corregidor’s own clothes but also those of his servants, family, companions and even his horses. As a popular adage said, „the apparel reflects the office“ and therefore these royal judges had to dress properly every day, not only on special occasions, since they „have a majestic bearing and represent the king“. Their hair should not be curled, dyed or shaved, because this was considered to be effeminate.⁴⁰ Regarding their manners, they should not talk excessively, lose their temper or disregard their subjects’ honour. Their moderation should be apparent in the way they walked and moved; they should exude modesty from every part of their body, they should be calm and serious without seeming pompous. They should not be too slow, nor should they hurry and allow their faces to redden, because „in this movement it would seem that there is lack of temperance, for gravity in one’s walk shows maturity in one’s mind“.⁴¹ Castillo de Bobadilla actually sums up every aspect of the demeanour and physical comportment considered by other authors, except for a very peculiar item that the Jesuit Juan de Santa María added to this expected behaviour in his Tratado de republica y policia christiana in 1619. Although being literate and an expert in law was a traditional requisite for judges, the originality in Santa María’s text is that this expertise should be expressed physically: He must be a literate man from head to toe, replete with knowledge, so that in his intellectual discourse, in the movement of his hands, in the sway of his feet, he shows that he is a wise man, prudent, that he has studied and studies yet …. He should also be surrounded by books, proving how much it matters that judges are literate and that they know the books of their profession.⁴²
Most of the aspects described relate to the idea of self-government. Concern about self restraint and distress is already present in the seventh-century scholar Isidore of
40 Castillo de Bobadilla 1775, 34–40. 41 Ibid. 38: „que no sea inquieto sino reposado y grave, pero sin ser tan lento que parezca pomposo al andar, ni vaya tan aprisa que se ponga colorado, porque la gravedad en el andar muestra la madureza de entendimiento“. 42 Santa María 1619, 44: „para dar a entender, que el hombre que verdaderamente lo es entre los demas, y los ha de aconsejar, y gouernar, las letras le han de ser cabeça, manos, y pies. Ha de ser letrado de pies a cabeça, lleno de letras, que en los discursos del entendimiento, en el obrar de las manos, en el menear de los pies se eche de ver, que es hombre sabio, prudente, que ha estudiado, y estudia, porque siempre de lo sabido se va oluidando algo; y assi no basta auer estudiado, sino que es menester estudiar siempre, para restaurar con lo que se aprende el daño de lo que se oluida, como en la naturaleza corporal, que con lo que se come, y beue cada día, se recupera lo que consume el calor natural … Rodeados de libros para mostrar lo mucho que importa, que Oydores, y Presidentes sean Letrados, y muy leydos en los libros de su facultad“.
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Seville,⁴³ but the profusion of texts and the bigger space devoted to these aspects in relation to the judges from the sixteenth century cannot be considered a minor aspect. According to Jerónimo Castillo de Bobadilla, there are two main reasons why these aspects of demeanour are fundamental for a good corregidor. Firstly, the identification of these officials with the king. As the monarch’s main representatives in their jurisdiction, they would have to be instructed on how to project an appropriate image of royal justice. Secondly, and directly related to this representative role, they had to consider the scope of their actions; the fact that they were constantly under scrutiny meant that they would either set an example or give cause for gossip, contempt for the office and, ultimately, for royal justice. This reference to constant scrutiny refers to the attention that the population paid to them (like the general critics and popular sayings previously mentioned did) but, more specifically, implicitly alludes to the accusations that any person could mount against them during the procedure of the juicio de residencia. While Castillo de Bobadilla and Ramírez de Villaescusa addressed the corregidor specifically, admonishments towards judges in general can be traced as well in the numerous Spanish political treatises that deal with the subject of justice or, more generally, with the Raison d’État. Juan de Pineda, quoting Aristotle, observed that judges, in order to convey authority, superiority, calmness and determination, must be seated while passing judgment. Gravity in the demeanour and control over one’s own movements would assure that they would not be easily convinced by the people they listened to, neither would their mind be easily changed. In addition, quoting Callistratus, Pineda emphasises that the judge should not get angry with the defendant, nor exhibit tenderness to those distraught, since „he who shows in his face what is in his breast, has no constant heart“.⁴⁴ Such an affirmation contradicts other authors, who, after Isidore of Seville’s depiction of Judgement Day, assumed that each person deserved a different treatment according to their conscience and believed that the judge should be placid with the good ones and fearsome with the bad ones in the trial.⁴⁵ Tomás Cerdán de Tallada, in 1574, in his book on the state of prisons and prisoners, pointed out that judges should look harsh, serious, hard and even frightening to criminals, but placid and soft, pleasant and with good manners to those who were good. Nonetheless, he later adds a sentence that recalls that of Juan de Pineda, according to him, a royal judge
43 Schmitt 1989, 135. 44 Pineda 1963–1964, IV, 180: „el juez no se debe airar contra el acusado ni mostrar ternura con los aflictos, porque no tiene pecho constante quien descubre lo que tiene en él con el semblante“. 45 Cf. the medieval Castilian version of Isidore’s Sententiae; Isidoro de Sevilla 1991, 55: „Otrosy, segun la conçiençia departyda que cada vno ovo, tal le pareçera Christo, ca a los escogidos y buenos pareçera manso en el juyzio, y a los malos pareçera espantable, ca cada vno, qual conçiençia truxere, tal juez aura“.
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should not mistreat criminals by word or shout at them, but neither be touched by their tears: „his good judgement and discretion should hide his interior emotion and softness, and covering his exterior with severity, and a proper demeanour in the right situations will increase the authority of justice“.⁴⁶ This afore-mentioned tension between showing mercy or harshness and hiding one’s inner thoughts and feelings with a deadpan expression can be found in many documents. In the Partidas, the admonishment to wear this „poker-face“ refers ultimately to the necessity, not so much of actual impartiality, as to the appearance of impartiality, since partiality would be one of the main accusations used against judges. Clothing and the physical traits, despite not being related to manners, were nevertheless part of the appearance of the judge and, therefore, were also worthy of attention. Regarding attire, criticism exists both of the judges who went too far in the ostentation of their garments, and of those who dressed too poorly. In Relox de Príncipes, Antonio de Guevara narrates the story of the judge who was discharged by Filipo (sic), father of Charlemagne, because he devoted himself to combing and taking care of his hair instead of studying the law and working for the kingdom. His excess of vanity would qualify him as unsuitable for the office.⁴⁷ Nevertheless, in a period where clothing was part of the identity and one of the main means of identifying people and parading their status,⁴⁸ the corregidores, as representatives of the king and his justice, would pay close attention to their outfits. Many of the corregidores would take great pride in their office and expect public treatment and recognition that necessarily implied a preeminent position on special occasions and they would dress accordingly. In fact, there were a number of solemn occasions on which the corregidores, as well as a few municipal officials, were entitled to some additional money in order to have special clothes made. The corregidores, especially those appointed to big cities, would use all the resources of the symbolic apparatus at their disposal, including expensive clothing and valuable jewellery to emphasise
46 Cerdán de Tallada 1574, 84–85: „De tal manera te has de hauer con todos publicamente, y en particular estando retirado, que a los que fueren delinquentes les parezcas aspero, graue, duro y espantoso: y mansueitissimo y blando a todos los que fueren buenos, reposados, y honrrados, y que fueren agradables por sus buenas costumbres, tratandolos como si te fuessen hijos … pero con los que pienses ser delinquentes y no le constare aun de su delicto no les deue maltratar de palabras, ni exasperarles con gritos, ni tampoco enternecerse por ruegos, lagrimas, ni gemidos de los que por su culpa llegaren a tal miseria, de manera que con el buen juyzio y discrecion cubra los mouimientos y blanduras interiores y naturales, y en lo exterior con seueridad, y en sus deuidos casos con buen semblante augmente la autoridad de la Iusticia“. 47 Guevara 1994, 718–719. Juan de Timoneda (1989, 295) relates a different version of the same story where the judge dyed his hair and the king affirms that a person who is not honest in his hair would be still less honest in the administration of the realm: „Quien con sus cabellos no es fiel, menos lo será con el administración del reino“. 48 Eliav-Feldon 2012.
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their power, position and authority. According to the description by Sebastián de Horozco, during the public demonstration for the king Philip II in Toledo, the corregidor don Antonio de Fonseca carried the banner through the city to the church of El Perdón richly dressed, wearing a costume with white brocade, crimson breeches and so many pearls and precious stones, all of them of „excessive price“ and made specifically for that occasion.⁴⁹ In fact, the opposite situation, that of a corregidor insufficiently dressed, was also ridiculed. In El Pasajero by Cristóbal Suárez de Figueroa, the main character uses irony to depict a fickle corregidor who, after mistreating him, finds out that he has the favor of a Duke and completely changes his attitude towards him. The judge is depicted as a person of childish expression and actions, boastful and boisterous, and who always wears the same very poor clothing (shameful shoes and a threadbare cape), all of them badly stained, which the main character assumes to be the cast-offs of a lord.⁵⁰ In the story, the inadequate attire is paired with a series of characteristics ill-befitting a judge: fickle instead of constant and stable, boastful instead of modest, boisterous instead of moderate and calm. In relation to physique, as Bobadilla noted, the corregidores, like many other officials and authority figures, were expected to have no deformities and to be graceful. Whatsmore, inadequate height could be the object of ridicule or criticism.⁵¹ Cristóbal Suárez de Figueroa explains that, since a venerable appearance was imperative for people with relevant offices in all European cities, short people should not be appointed to high positions. As an example, he relates the case of a corregidor of Málaga during Philip II’s reign. The afore-mentioned judge was a good
49 Horozco 1981, 150: „el qual yba vestido riquíssimamente de una ropa de brocado blanco y una quera y calças de carmesí con tantas perlas y piedras preçiosas, la delantera de la quera y la guarniçión de la ropa que era de eçessivo preçio, hecha para solo aquel efecto“. 50 Suárez de Figueroa 1988, II, 53: „Mirábamele yo atentamente, juzgando a mi juez por sujeto notable. En cincuenta de edad, rostro y acciones pueriles, presumido, bullicioso y condenado a bragas de lance (desechos de algún señor), que, como después supe, eran perpetuas en él. Ropilla con manchas asaz, sombrero de copa esquisita con trenza de grasa, zapatos con mucha vergüenza, capa con poca, en razón de raída, con capilla pendiente hasta las corvas“. 51 Castillo de Bobadilla 1775 I,1,7: „Quien no se reyra de ver un Corregidor tan pequeño que parezca un Pigmeo, o tan grande que parezca un Filisteo, o de gesto muy deforme; que aun como dize la divina Escritura, aviendo de hablar al Rey, ofendera su presencia: y en los actos publicos su persona desautorizarà à la dignidad de su Oficio“. („Who won’t laugh before a corregidor so small that he looks like a pigmy, or so big that he seems a philistine, or with a very deformed semblance? That when he must talk to the king, his presence will offend him: and in the public acts his person will discredit the dignity of his office“). Fadrique Furió Ceriol, in his treatise on the prince’s counsellors, noted that the counsellor should have a pleasant face and be graceful, „because those that possess this quality, and simply by possessing this quality, are respected, loved and gain authority“ (Furiò Ceriol 1993, 61–64: „que sea bien carado y de buena gracia, porque los que son dotados desta calidad, con sola ella, son respetados, amados y ganan autoridad“).
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and honourable official who gave no cause for anyone to have any complaint against him,⁵² however, two members of the city council of Málaga turned to the king and begged him to send the corregidor away. They explained that, although he was a good servant of the king, Málaga being a great port and city meant that many foreigners were presented to the corregidor, and due to his lack of height they displayed an obvious disdain towards him: „They laugh when they see him so small and, at the same time, so boisterous“.⁵³ The king found an astute solution by offering the corregidor an office as a counsellor, where his good judgement would be of use, but he would not be so exposed to the public. The opposite situation is exemplified in Pedro Cieza de León’s description of the demeanour of Blasco Núñez Vela, a former corregidor also from Málaga, who is eulogised for being tall, handsome and graceful.⁵⁴ The example of the honourable but short corregidor of Málaga might be the paradigm of the preeminence of appearance over rectitude and good behaviour in the office. However, that preeminence, even if more subtle, can be found in many texts concerned with the public perception of the judges’ actions, including Bobadilla’s work. He insisted: They should take, by the way, this advice: not only in truth must they conserve their reputation unsullied, but also in their appearance they must try to set such good example that the world could not give them a single disapproving look; neither on the street nor in court are they safe, since the attention paid to them is greater, and great is the danger for them to stray from this path.⁵⁵
Fray Antonio de Guevara in his Relox de Príncipes professes the same fears, but he identifies ‚seeming‘ with ‚being‘: a person with a public office who publicly judges must exercise great caution with himself so as not to be pointed out as dissolute, because the inconsiderate and dishonest judge must consider that, as much as he has the authority to condemn a person’s properties, there are thou-
52 Suárez de Figueroa 1988, II 424: „En todas las ciudades de Europa parece se desvelan en colocar en tales cargos las personas de más sabiduría, de más crédito y providencia, cuyas espertas canas, cuyo venerable aspecto provoca en cuantos los miran estimación, respeto y decoro. Por ningún caso se debrían recebir para puestos semejantes (particularmente en las Cortes) hombres pequeños; cuando no por lo poco bueno que promete de sí el con quien la naturaleza se mostró escasa, siquiera por las naciones que concurren en las partes donde asisten reyes y príncipes“. 53 Ibid., 425: „Ríense de verle tan chico, y juntamente tan bullicioso“. 54 Cieza de León 1984, 286. 55 Castillo de Bobadilla 1775: „Y de paso tomen este consejo, que no solo en hecho de verdad conseruen sin manzilla su credito, sino tambien en la apariencia procuren dar tan buen exemplo, que no les pueda hazer cargo el mundo de vna ojeada descompuesta, pues ni en la calle, ni en la Audiencia tienen ninguna segura, que la nota en ellos es mayor, y grande el peligro, respeto de la mano que tienen para perderse por este camino“.
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sands who would judge his life and honour. To give a ruling position to dissolute men is not only against the conscience of princes, but it also vilifies justice; because the sentence is scorned when the one who passed it deserved to be sentenced.⁵⁶
The scrutiny these authors dreaded made it necessary to adopt a particular behaviour, demeanour and self-control, a condition that was particularly evident during the juicios de residencia. We find increasing attention to judges’ public behaviour in treatises and literature from the end of the fifteenth century to the beginning of the seventeenth, the period when the juicios de residencia became regular and periodical. Thanks to the records of these procedures we can assert that the attention to deportment and manners was not just a matter of power discourse or a literary topos; it actually had a parallel development in the expectations and demands of the people, who required proper manners and attitudes from the royal judges during this period.
4 The corregidores’ demeanour and manners in the juicios de residencia Directly related to the new position of the corregidores in the Spanish monarchy was the proliferation, from the sixteenth century on, of a new type of source, the acts of the juicios de residencia.⁵⁷ Many of the officials of the Spanish Monarchy, after a certain period of time in office or when their term ended, had to go through a procedure in which their behaviour during their time as officers was examined and judged. These procedures inquired how the officials had conducted themselves and punished those who had not behaved appropriately. In order to do so, firstly an investigation ex officio was pursued in which a number of witnesses were interrogated by a special judge (this phase was called the „secret residencia“); secondly, all citizens within the jurisdiction of the official on trial were invited to bring forth any personal complaints they might have against him (as opposed to the „secret residencia“, this process was called the „public residencia“). Although there were residencias during the fifteenth century, there are hardly any records of any of them until the very end of the century. On the other hand, beginning with the sixteenth century the subsisting doc-
56 Guevara 1994, 718: „El que tiene oficio público en la república y se assienta públicamente a juzgar en ella, muy gran recaudo deve traer en su persona para que no sea notada de dissoluta; porque el juez inconsiderado y desonesto deve en sí mismo considerar que, si él tiene autoridad para sentenciar a uno la hazienda, ay mil que le juzguen a él la vida y la honra. Dar cargo de regir pueblos a hombres dissolutos y derramados, no sólo es a los príncipes conciencia, mas aun es en gran vilipendio de la justicia; porque en muy poco se tiene la sentencia quando el que la dio merecía ser sentenciado“. 57 González Alonso 1978; Collantes de Terán de la Hera 1998.
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umentation increases rapidly and exponentially. Unlike the other types of enquiries used by the Castilian, and later Spanish, monarchs (the visitas, pesquisas e informaciones),⁵⁸ the juicios de residencia acquired a regularity that undoubtedly affected the behaviour of the officers subject to the procedure. Whereas both contemporary observers and historians have discussed the effectiveness of the procedures, the testimonies of many corregidores dreading their future juicio de residencia or complaining about the harship of a past one, leave no doubt that they were highly aware of the calvary it could become and they felt it could have deep repercussions on their public image, on their wealth (since most of the punishments were pecuniary) and on their career. The daily interaction of the corregidores with the city council officials, the different urban authorities and other officials, as well as the population in general, would conspire to bring about a constant constraint to behave according to the archetype encouraged by the treatises, to perform the role they were expected to and to adopt a deportment that was the exterior proof of their interior qualities and, consequently, of their legitimacy. Such a performance, although it would differ greatly depending on the person undertaking the office, would become a habitus for those able to manage a certain degree of self-government and in so doing, make use of the ideal on their own behalf. Albeit that the constant quotidian vigilance over the corregidores could be erroneously viewed as subtle or inconsequential, its consequence is best perceived through the juicios de residencia, where the testimonies and claims of the population about their performance were the main grounds for judging the officials’ conduct. These procedures are an exemplary source for analysing the actual behaviour of royal justice officials and comparing it to the ideal described in other sources. Despite the testimonies of the two parties involved in the lawsuit (those who accused the official on the one hand, and the official himself on the other) being obviously biased, such testimonies would allegedly lie closer to reality than the image of the judges’ behaviour available in the treatises. However, the documents do not indicate any opposition to the images provided by other material. On the contrary, they confirm that the ideal presented in the treatises was broadly shared by the population. In other words, there was a direct relationship between the archetype that the power discourses proposed and the moral and behavioural requirements that the people under their jurisdiction demanded. The juicios de residencia show that the general population was well aware of the requisites that judges must adhere to and they would state so in their complaints. In fact, the demands did not only refer to illegalities perpetrated by the judges, or even to the neglect of their duties as specified in the norms for corregidores, but to all forms of misconduct that transgressed the established ideal of what a royal judge
58 Macrì 2008.
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should be. Throughout the sixteenth century the accusations increasingly included complaints regarding judges’ manners, habits and demeanour. So much so, that the very default interrogations that were used to question the complainants regarding the corregidores incorporated some of these features. In 1592, one of the questions in the default interrogation for the examination of the justice officials’ performance in Cantabria specifically asked whether the officials had mistreated by word the people who had turned to them demanding justice or whether they had behaved in a neglectful or harsh way.⁵⁹ The words used, like the adverb „desabridamente“ (harshly, rudely), directly recalls the manners of the judge, the praised self-restraint and the necessity of hiding any aversion towards the people demanding justice in order to give the impression of impartiality. It is important to emphasise that instructions regarding manners and moderate behaviour were not explicitly present in the legislation. The norms for corregidores issued in 1500 and 1648 contained a list of legal duties and limits for these officials that did not refer to the above-mentioned courtly aspects.⁶⁰ The same could be said about the regulations that the General Assembly of the Kingdom issued in their multiple sessions over this period of time. However, a couple of examples from the juicios de residencia during the second half of the sixteenth century will illustrate how subjects of the Hispanic Monarchy demanded proper behaviour and manners from these royal judges, even though such manners were not included in the legislation. Such a demand would indeed become an imposition, by accusing those corregidores who did not perform with a minimum of decorum, especially in cases where the accusation led to an explicit conviction in the juicio de residencia’s eventual sentencing. In 1565, after questioning witnesses for the residencia of the corregidor of Palencia Diego de Córdoba, the judge accused Diego of being both a bad tempered and illmannered man and a gambler.⁶¹ Regarding the first charge, the judge wrote that Diego was „a furious man, impetuous, loud-mouthed, who, for the slightest reason, would shout and cry like a man who was out of his mind and brainless“.⁶² He would make a scene „in the city
59 Archivo Histórico Nacional de España [AHN], Consejos, 27808, exp. 2: „si saben que el corregidor y sus oficiales han usado bien, fiel … y si an tratado mal de palabra a los negoçiantes e personas que ante ellos benían a pedir justicia y negociado remisa y desabridamente …“. 60 Orejón Muro 1963. 61 AHN, Consejos 27780, Exp. 1. 62 Ibid.: „hombre furioso arrebatado e boçeador que por muy pequeña ocasión y aun sin causa alguna da bozes e gritos como hombre de fuera de juicio sin seso, lo qual a hecho muchas e diversas vezes e estando en el ayuntamiento con los regidores sy no vienen todos en lo que el quiere, por lo qual y de temor e miedo los dichos regidores probeyan cosas contra su voluntad; e ansi mesmo lo a hecho muchas e dibersas vezes por las calles públicas y en su casa de morada que es en el ayuntamyento desta çivdad, ansi con las personas que piden justizia como con su muger e criados, diziendo
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council, with the councilors, and also on the streets and in his own house, which was the city hall, in front of his wife and servants, as well as with the people who asked for justice, pronouncing words of great rudeness, ugly, slanderous and offensive words“. Diego himself had confessed to his fury and outbursts, and the judge who examined him affirmed that after these outbursts „he admits his fault and begs for pardon for what he has done, and he cries and grieves, bowing and exclaiming, and all kinds of ceremoniousness unbefitting a judge’s authority“. In total, the charges presented against this corregidor amounted to 92, and many of them insisted on the fact that he acted „apasionado“ (with a furious passion and moved by personal interests), and that he filled people with fear, obstructing justice. Diego was the antithesis of the treatises’ archetype of the self-restrained judge incarnate and his failure to embody a corregidor in controlling his emotions and movements would have determinant consequences for his career. This kind of furious and disrespectful manners was the subject of a number of claims in other cases. For example, in 1592, the witnesses in the juicio de residencia for the lieutenant of corregidor in the territory of „las Cuatro Villas“ described him as brusque, harsh and neglectful when in office; they affirmed that he was also known as a harsh judge and that he had mistreated one of his people with his words.⁶³ The docility of the judge, intended as tractability and prescribed by many treatises, became a necessity in the performance of the office of corregidor, since its lack could, under certain circumstances, lead to accusations from the population. Fray Antonio de Guevara, in a letter for Don Alonso de Fonseca, archbishop of Burgos and president of the Consejo de Indias, advised him to be docile and cautioned him that his temper was to be tamed. He argues that, given that those who judge many are to be by many observed, proud judges jeopardise their fame; on the contrary, the good-natured ones will not be harshly scrutinised and people will be indulgent of their faults.⁶⁴ Returning to the concrete charges against Diego de Córdoba, in addition to his over emotional behaviour, the afore-mentioned second ground for complaint was that he was also a gambler, with the aggravating circumstances of being a cheater and either forcing good people to play with him or playing with people supposedly beneath his position, such as servants or black people.
grandes descomedimientos e palabras feas e ynjuriosas e afrentosas a aquellas contra quien se henoja; e muchas bezes vebe luego jarros de agua y se desnuda e acuesta en la cama a qualquier ora del día y le dexan ansi solo y por aquel día no se puede ablar con él; despues de lo qual él mesmo comfiesa de su condizión tener aquellos ympitus e furias, e que pasado él conoze su falta e pide perdón de lo que que a echo e dicho y llora y se acuyta haziendo reberenzias y esclamaçiones y otras çerimonias que no combiene a la autoridad de juez“. 63 AHN, Consejos, 27808, exp. 2. 64 Guevara 1950–1952, I, 279–281.
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As has been already pointed out, the treatises considered card playing and gambling to be inaproppriate activities for a judge. Certain games were forbidden and one of the corregidores’ duties was to punish those who participated. However, here as well as in the following case, the problem is not so much whether he had played cards or not, but rather the example he set, in that people could have witnessed him playing and noted whether his „partners in crime“ were honourable.⁶⁵ Our second example is the juicio de residencia in 1583 of the corregidor of Santo Domingo de la Calzada, Alonso Grandío, who was also accused of gambling.⁶⁶ He defended himself by saying that he always played with illustrious people and never allowed it to affect his duties. The witnesses he presented were of the same opinion, and even pointed out that not only did he play with ecclesiastics and gentlemen, but also at night and in secret, so he would not set a bad example. As has been previously indicated, this latter aspect was important since one of the reasons why the judge was not supposed to participate in such entertainments was the danger of having witnesses who would spread rumours and give cause to scorn royal justice. Besides gambling, the accusations against Alonso tended to be related to his friendships with certain influential and noble persons in the city. Those who were unhappy with the sentences he had pronounced as a judge would use the accusation of partiality in order to try to obtain a review of their trials.⁶⁷ In his defence, Alonso claimed he was an equal friend to all the illustrious people in the city. The witnesses he presented did not believe that he had been partial in his judgement, but admitted that he had befriended many powerful people, and that he was a cheerful man who delighted himself in company.⁶⁸ In spite of his defence, the judge of the residencia condemned him both for gambling and for the familiarity he had demonstrated with other people. In fact, although the judge specifically affirmed that he did not believe that the corregidor had been biased, he estimated that his lack of discretion had been responsible for jeopardising the image of impartiality that he should have embodied: „and for the occasion he gave, with his great friendship and familiarity with the people mentioned in these accusations, to be suspected of this partiality, I declare him seriously guilty“.⁶⁹
65 Ramírez de Villaescusa ca. 1493. 66 AHN, Consejos, 25420, exp. 4. 67 In fact, the accusation of partiality became a common and habitual strategy amongst the complainants in the juicios de residencia. 68 AHN, Consejos, 25420, exp. 4: „tubo amistad con Diego de Gamarra porque hera hombre rregoçijado y amigo de holgarse el dicho liçençiado Alonso Grandío gustava de los hombres de aquella manera“. 69 Ibid: „y por la ocasión que dio con la mucha amistad y familiaridad que con los contenidos en el dicho cargo tubo a que se entendiese del la dicha parçialidad que se le ymputaba le declaro por grabemente culpado e rremito el mas castigo a su magestad e señores de su supremo consejo“.
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In the case of Alonso Grandío there is a combination of two transgressions: a larger one, that refers to the impartiality of judges and their obligation to be socially inaccessible to the residents in their jurisdictions, and another transgression that is not classified as a fault, but which is related to the requirement of having a solemn demeanour: the fact that he displayed familiarity and enjoyed himself with other people in games and feasts (two of the scenarios that the treatises established as dangerous for the corregidor’s reputation, given that they detracted from the gravity and soberness that the judge was meant to exhibit). The importance of this second transgression is proven by the fact that he was only declared guilty of the latter, not of any partiality. Indeed, during their juicio de residencia, other officials of royal justice would insist on how appropriate and self-restrained their behaviour had been at parties, feasts and holidays, „in such a way that no one would see or understand otherwise“.⁷⁰ This residencia, much as the story about the short corregidor of Málaga, but in this case through concrete documented actions, proves that appearance could actually have a preeminence over the interior moral qualities of a judge. While the Málaga case resulted in an informal decision, that of the king allegedly promoting the corregidor to a position where he would be less visible, in the Alonso Grandío example, the preeminence of appearance over reality was confirmed by a judicial decision. The testimonies and accusations of the residents created a legal precedent that condemned the bad manners and dubious behaviour of the corregidores, even though these faults were not classified as such in the legislation. These cases prove that, although deportment might not be the main reason for the opposition and complaints amongst the population, it could certainly be used as an effective discourse against judges who were not clever enough to moderate their temper or dissimulate their affects. José Ignacio Fortea Pérez estimated that during the sixteenth century the juicios de residencia were held on average every three years.⁷¹ Such regularity in the procedures meant that the quotidian vigilance of the people over the corregidores would result in actual testimonies and accusations every few years during the juicios de residencia. This certainty indoubtedly shaped their behaviour in office and their habit of displaying a deportment that was meant to reinforce their authority and, at the same time, protect them from future accusations.
5
Conclusions
As long as the corregidores were exceptional figures sent by the king to impose his judgement in a particular conflict, their main confrontations remained limited to the
70 AHN, Consejos, 25419, exp. 1. 71 Fortea Pérez 2012, 104.
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opposition of the urban oligarchies whose autonomy they threatened. The moment they became permanent officials who presided over the city council and represented the highest authority of royal justice in the territory, their exposure to criticism increased and the control over their behaviour started to concern a wider spectrum of the population, especially so in this „Golden Age of Litigation“, when familiarity with the judicial system implied that the population would resort to the corregidores more often, but also since they knew that certain personal vices of the judges could be used to discredit their sentences. The conviction of corregidores in juicios de residencia for their bad manners and dubious habits is manifest evidence of the imposition of new behavioural standards based not only on the consolidation of an absolutist state, but on the expectations and pressure of the population. In addition to clothing, manners and demeanour – appearance in general – was fundamental in Early Modern society where the status of a person needed to be visually evident. It would be delusional to consider judging the officials merely by their demeanour as primitive. The inner thoughts and feelings of the judge, where his partiality or impartiality lay, were almost as inaccessible to the contemporary men as to the twenty-first century historian. Therefore, real impartiality could be only as good as the appearance of impartiality that the judge could manifest. Even when other qualities could be considered innate by Spanish authors, impartiality was unnatural and, therefore, when it triumphed, it did so despite the person’s own emotions and inner thoughts; it has necessarily to be a second-nature quality. Such a conquest could only be proved by the official flaunting of the corresponding demeanour. Whether the authors understood the appearance as dissimulatio or saw it as an indication of the real inner self, all of them coincided in focusing on the exteriorisation of this quality. In a period in which shaping royal officials’ behaviour was fundamental for the crown, both the writers of the treatises and the general population in the kingdom understood that impartiality was not so much to be truly felt, since that was actually impossible to ascertain, as to be mandatorily flaunted. Consequently, their manners, their demeanour, the people they interacted with and the activities the corregidores indulged in, were decisive in judging their character and, ultimately, their suitability for office. In Spanish culture, just as the continuous repetition of an attitude allowed that behaviour to become a second nature, for all judicial intents and purposes, the ostentation of a virtue equalled the possession of that quality.
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Milton’s God and Hobbes’ Leviathan: Elective Affinities It would seem that Thomas Hobbes and John Milton are positioned at opposite ends of the political and theological spectrum of seventeenth century England: Milton was a republican idealist who insisted forcefully on the idea of human freedom; Hobbes was a royalist, materialist and determinist. Milton was a theocrat, propagating a rule of the saints, while Hobbes’ major work Leviathan is firmly set against the traditional notions of theocracy. However, on closer inspection, things turn out to be more complicated, since one can also detect remarkable similarities in their worldviews: Firstly, after the publication of Leviathan, Hobbes fell out with the English royalists as well as with the court, for it turned out that his absolutism was purely pragmatic. If he prefers monarchy to other state forms, it is mainly for practical reasons; accordingly, the sovereign ruler can legitimately also be a group, it can even be “the people”. Hobbes advises the subject to submit to whomever is in power and in the process brushes away all tenets of the “divine right of kings” and other transcendent justifications of royalty.¹ He thus tends to secularise the political discourse with his notion of the social contract, creating a blueprint for modern society. Consequently, his royalism became a matter of doubt; English monarchists tended to burn copies of the Leviathan on special occasions, and they might have burned Hobbes too, if the king had not protected his former tutor.² Milton, in turn, may have advocated regicide in the name of the people and narrowly escaped execution for his pains, but he is no revolutionary, not even a democrat. He advocates the rule of a limited group of god-fearing, upper-middle-class republicans; and his ideal commonwealth is constituted of many patriarchal micro-kingdoms.³ Similarly, Hobbes’ materialism and Milton’s idealism converge in the common form of monism. Hobbes asserts that spirit is basically a body that is not “visible or palpable”,⁴ while Milton takes bodies to be an inferior component of spirit.⁵ Further convergences derive from this commonality: Most importantly, both are mortalists, i. e. they do not believe in the existence of a soul independent of the body. Hence, once persons die, they are absolutely dead, and eternal life for them will only start
1 Bobbio 1993, 86. 2 Collins 2005, 2. 3 A blueprint of Milton’s ideal society can be found in his pamphlet The Ready and Easy Way to Establish a Free Commonwealth (Milton 1980, 396–463). 4 Hobbes 1998, 447 [4.46.15]. 5 Milton 2012, 294/295.
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with their bodily resurrection.⁶ In addition, freedom remains a central, but ambiguous term in both their cases. In different ways, they both describe freedom in a proto-Kantian way, as a vanishing mediator that is experienced almost exclusively in its surrender.⁷ There is one clear dividing line between them however, namely their response to the question of theocracy. Of course, Hobbes also asserts that he considers God to be the supreme ruler of the universe.⁸ But he differs from Milton on the questions of how God exercises his power and how he is to be represented in the political arena. For Hobbes, the sovereign is the supreme religious authority within his territories; any theological publications, prophetic claims or acts of worship that are not approved by him are a form of rebellion.⁹ Milton, contrariwise, insists on the right of all citizens to a direct and open connection with God, the right to interpret the Bible and to make this interpretation public.¹⁰ However, on another level, one can perceive a strange convergence, namely that between the rule of God the Father in Milton’s Paradise Lost and that of the Hobbesian “mortal god”. The word “nature” plays a decisive role in this context: Generally, the relation between “nature’s law” and “divine law” is much discussed in seventeenth century England. All parties to the Civil War (and there were many) claimed a combination of natural and divine right for their cause. They differed on the questions of how the execution of this natural law was supposed to function, what purpose it served, and how it related to the Bible and the positive law of the commonwealth.¹¹ If one wants to characterise the relationship between the contributions of Hobbes and Milton to this dispute, one is confronted with a difficult task. One reason is that the explicit comments both have made on the work of the other are rather sparse. They knew of each other, but were not personally acquainted. All Hobbes ever wrote about Milton is a remark in Behemoth, his history of the Civil Wars: Without mentioning Milton’s name, Hobbes characterises his pamphlet Pro Populo Anglicano Defensio, which justifies the execution of Charles I, as a combination of “very good Latin” and “very ill reasoning”.¹² Milton’s work, in turn, never explicitly mentions Hobbes. There are possible allusions, however, e. g. a passage in Paradise Lost in which the “arch-fiend” Satan is compared to “that sea-beast Leviathan”,¹³ drawing sailors who mistake it for terra firma into the depths. (We can be quite certain that Milton read the Leviathan, since it was a bestseller in his time.¹⁴) Apart from vague echoes such as these, a posthu-
6 See e. g. Burns 1972. 7 See Quiring 2010. 8 See e. g. Hobbes 1998, 237 [2.31.5]. 9 See e. g. Hobbes 1998, 118–119 [1.18.9]. 10 Milton 1959, 480–570. 11 See e. g. Hughes 1962, 69–70. 12 Hobbes 2010, 329. 13 Milton 2013, 73 [1.200–201]. 14 Skinner 1966, 294.
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mous reference exists: One of the first Milton biographies, John Aubrey’s Minutes of the Life of Mr. John Milton, contains fragments of an interview with Milton’s widow, among them the sentence: His widow assures me that Mr. T. Hobbes was not one of his acquaintances, that her husband did not like him at all, but he would acknowledge him to be a man of great parts, and a learned man.¹⁵
This grudging appreciation of a political opponent is deeply atypical for Milton: Normally, he represents his opponents as both evil and stupid. The mild verdict might be the symptom of a gegenstrebige Fügung,¹⁶ which is not merely of antiquarian interest. With his rather wide-ranging subtraction of transcendent norms from the realm of politics, Hobbes has created what one might call the political myth of modernity. And Milton’s Paradise Lost, published 16 years after the Leviathan, might be read as a reworking of that myth, which was also very influential, although in a more subterranean way: It transfers political sovereignty from the ruler of the state back to God, but it turns out that the goods have been damaged in transport. How is the Hobbesian myth structured? Hobbes purports to develop his philosophy without any preconceptions, in the Cartesian way. However, it is a Cartesianism that very frequently uses biblical metaphors: He begins his philosophical treatise De Corpore/Concerning Bodies with an epistle to the reader which asserts: Philosophy, therefore, the child of the world and your own mind, is within yourself; perhaps not fashioned yet, but like the world its father, as it was in the beginning, a thing confused. … [I]mitate the creation: if you will be a philosopher in good earnest, let your reason move upon the deep of your own cogitations and experience; those things that lie in confusion must be set asunder, distinguished, and every one stamped with its own name set in order; that is to say, your method must resemble that of the creation ….¹⁷
Accordingly, in the Leviathan, he starts with the basic units of a political society, namely disconnected human bodies caught up in what Hobbes calls “the first Chaos of violence and civil war”.¹⁸ In this state of nature in which there is no palpable sovereign, everyone has the right to do all that he is able to do – just as the great fish have the power to eat the small, and therefore have a right to do so. Due to the inherent properties of humans, such as their consistent urge for self-aggrandisement, their unregulated interactions create a state of perpetual war. The resultant life for everybody may be natural, but it is also “solitary, poor, nasty, brutish and short”.¹⁹
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Aubrey 2007, xxx. This is what Jacob Taubes called his interest in Carl Schmitt, in: Taubes 1987. Hobbes 1839, xiii. Hobbes 1998, 290 [3.36.20]. Spelling modified. Hobbes 1998, 84 [1.13.9].
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In strange ways, the creation of the state emerges from this Chaos. A law beyond that of self-preservation can only be instituted if a supreme power can be established as its guarantor. Since the forces of all humans are more or less the same, this supremacy can only be effected if a large group of people transfer their right to everything to a sovereign ruler by way of a social contract, on the condition that the ruler provide them with security and unite them as one body under his authority.²⁰ Subsequently, the ruler may freely define his own rights as well as the rights of everyone else, thereby deciding on what is to be considered good or evil in the commonwealth. However badly the despot may do this, Hobbes asserts that the results will not be as catastrophic as the original state of civil war. He also designates the resultant state as man’s greatest artwork, a creation analogous to God’s creation and maintenance of nature. He writes, at the very beginning of the Leviathan: Nature, the art whereby God hath made and governs the world, is by the ʻartʼ, of man, as in many other things, so in this also imitated, that it can make an artificial animal. For seeing life is but a motion of limbs, the beginning whereof is in some principal part within, why may we not say that all automata … have an artificial life? For what is the heart, but a spring; and the nerves, but so many strings; and the joints, but so many wheels, giving motion to the whole body, such as was intended by the artificer? Art goes yet further, imitating that rational and most excellent work of Nature, man. For by art is created that great LEVIATHAN called a COMMONWEALTH, or STATE (in Latin, CIVITAS), which is but an artificial man, though of greater stature and strength than the natural, for whose protection and defence it was intended; and in which the sovereignty is an artificial soul, as giving life and motion to the whole body ….²¹
Thus, the mechanics of nature seem to be contrasted with the artful mechanics of politics; but the rule of nature is also equated with the law of the state. More precisely, Hobbes asserts that “the law of nature, and the civil law, contain each other, and are of equal extent”.²² The dominant natural law of the Leviathan is: “Obey the sovereign!” “The law is a command”, Hobbes writes, “and a command consisteth in declaration or manifestation of the will of him that commandeth”.²³ And whenever this central natural law is not observed, society tends to degenerate into the anarchic, violent state of nature. Thus, nature seems to do double duty in the world of Hobbes, appearing on both sides of an inequation. Additionally, several commentators have pointed out that there can be no clean break between the truculent “state of nature” and the instauration of the leviathanic sovereign, all the less so since
20 Hobbes 1998, 114 [2.17.13] et passim. 21 Hobbes 1998, 7 [Introduction]. 22 Hobbes 1998, 177 [2.26.8]. 23 Hobbes 1998, 179 [2.26.12]. There are, of course, other natural laws acknowledged by Hobbes, but they are contingent on the first – except for the right to self-preservation whose practical importance within the functioning state is, however, negligible.
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both of them are designated as regulative constructs, marking extremes within a continuum of shifting power relations.²⁴ On the one hand, Hobbes admits that there was probably never a time when the war of all against all prevailed unrestrictedly.²⁵ On the other hand, the explicit submission of the individuals in order to form a commonwealth need not have actually happened empirically, and almost never did, for a commonwealth to come into being. Rather, the legitimating acceptance of sovereigns tends to be represented in state rituals, as an event that has already taken place.²⁶ That is why it is appropriate to designate both the all-encompassing war and its pacification as myths in the Sallustian sense, as “things that never were but always are”.²⁷ In fact, what develops turns out to be even more complicated, for Hobbes additionally perpetuates the Stoic notion that nature itself punishes those who transgress her boundaries with what he calls “natural punishments”: There is no action of man in this life, that is not the beginning of so long a chain of consequences, as no humane providence is high enough, to give a man a prospect to the end. And in this chain, there are linked together both pleasing and unpleasing events; in such manner, as he that will do any thing for his pleasure, must engage himself to suffer all the pains annexed to it; and these pains, are the natural punishments of those actions, which are the beginning of more harm that good. And hereby it comes to pass that intemperance is naturally punished with diseases; rashness, with mischances; injustice, with the violence of enemies; pride, with ruin; cowardice, with oppression; negligent government of princes, with rebellion; and rebellion, with slaughter. For seeing punishments are consequent to the breach of laws, natural punishments must be naturally consequent to the breach of the laws of nature, and therefore follow them as their natural, not arbitrary, effects.²⁸
Thus, nature is not just a chaotic war, but also an order of law that is quite able to punish its transgressors, just as God will punish the transgressors of the divine law. And, of course, the Leviathan is also subject to these laws. The resultant impression is one of overdetermination: The Hobbesian world seems to be structured by the strange coexistence of a state dominated by an absolute earthly sovereign on the one hand, and a natural state where such a domination remains quite restricted and doubtful on the other. These two states are intimately entwined, not only as subsequent, but as coexistent. One might even say that either state becomes inconsistent without the supposition of the other.²⁹ And nature appears on both sides of the fence and connects the two orders.³⁰ The use of the word “nature” covers up their
24 See e. g. Hamacher 2005, 194. 25 Hobbes 1998, 85 [1.13.11]. 26 See Quiring 2013, 65–68. 27 See Pokorný 2011, 55. 28 Hobbes 1998, 244 [2.31.40]. 29 See Agamben 1998, 35–36. 30 See Hamacher 2005, 192.
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inconsistencies, and mutual dependencies, but also points them out, once one starts paying attention to it. Milton’s political pamphlets, written at the time of the Commonwealth, exude a greater optimism. Milton declares that, despite the Fall, all men are still born to command, although dependent on a set of laws that are both natural and divine. For, according to Milton, “God and nature bid the same”.³¹ “From the root of Adam’s transgression”, people may be inclined to do violent wrongs; but “foreseeing that such courses must needs tend to the destruction of them all, they agreed by common league to bind each other from mutual injury”.³² Rulers are just deputies entrusted by the people to enforce this league. But what should really guide every citizen in all walks of life is human reason. Enlightened by its “umpire conscience”³³ and the Bible, it even has the ability to undo the effects of the Fall. Hence, the social contract that binds the citizens and their rulers can be revoked at any time, when the ruler neglects his duties and the demands of reason.³⁴ Echoing Hugo Grotius, these conceptions appear rather conventional. But in Milton’s case, this is also not the whole story. After the restoration of the monarchy, Milton’s political statements assume a darker tone. The godly shrink down to a small elite clinging to God’s ways, and somewhat unorthodox revisions of biblical myth intrude upon his major poetical work, Paradise Lost. In this context, the natural war of all against all appears in another, more encompassing guise. The eternal and infinite Chaos that surrounds Heaven, Earth and Hell in Paradise Lost is represented as an eternal war between natural forces with unclear, constantly shifting party lines and no conceivable objective.³⁵ Chaos generally does not exist in the Christian worldview and in medieval epics such as the Divine Comedy; it is one of the pagan recrudescences with which Paradise Lost is well endowed. But Milton’s Chaos, with its eternal and “universal hubbub”³⁶ of primordial energies, also exhibits remarkable similarities with what Hobbes calls “the first Chaos of violence and civil war”. Milton develops what Joanna Picciotto has called “the physical correlate of the political state of nature as Hobbes imagined it”³⁷ when he describes Chaos thus: For Hot, Cold, Moist, and Dry, four champions fierce, Strive here for mastery, and to battle bring Their embryon atoms: they around the flag Of each his faction, in their several clans, Light-armed or heavy, sharp, smooth, swift, or slow,
31 Milton 2013, 348 [6.176]. 32 Milton 1962, 199. 33 Milton 2013, 179 [3.195]. 34 On this subject, see also Kahn 1995, 96. 35 A similar point is made in Peters 2005, 276. 36 Milton 2013, 157 [2.951]. 37 Picciotto 2010, 453.
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Swarm populous, unnumbered as the sands Of Barca or Cyrene’s torrid soil, Levied to side with warring winds, and poise Their lighter wings. To whom these most adhere He rules a moment ….³⁸
This Miltonian Chaos also reminds John Rogers of “the atomized structure of the originary Hobbesian polity”.³⁹ He additionally points out that this association between physics and politics was already common in Milton’s time: The speculation of an atomistically structured chaos played a special role in the later-seventeenth-century practice of organizational speculation. The theorization of a specifically atomistic abyss permitted the articulation of the relative merits of a liberally organized system of individual, perhaps even equal, elements or particles. It functioned, often explicitly, to ground the philosophical speculation about the promise, or threat, of free-trade economics and democracy, those nonauthoritarian systems of economic and political organization to which the adjective ʻchaoticʼ was most often applied.⁴⁰
Hobbes himself is not too averse to this mixture of “natural philosophy” and politics, basing his political theory to a large extent on his treatise on physics, De Corpore.⁴¹ Likewise, in Milton’s Chaos, a Hobbesian “social atomism” is blended with a natural atomism by way of political metaphors which are occasionally taken quite literally. If Milton’s dominion of Chaos can thus be read as a figuration of society in a combative state of nature,⁴² it is notable that it nevertheless has a ruler, namely personified Chaos, a great “anarch”⁴³ who “by decision more embroils the fray”.⁴⁴ According to this description, the sovereign of Chaos only manages to add to the general confusion by his acts of governance. We’ll leave aside the obtrusive suggestion that this self-sublating allegorical ruler might be interpreted as another parody of the Hobbesian Leviathan and its inconsistencies. Another circumstance is more interesting for our purpose, namely that Chaos is designated as the “womb” that gives birth to Nature: this wild Abyss, The womb of Nature, and perhaps her grave, Of neither sea, nor shore, nor air, nor fire,
38 Milton 2013, 154–155 [2.898–907]. 39 Rogers 1996, 131. 40 Rogers 1996, 131; Rogers cites a text by the poet and politician Edmund Waller as an example. 41 See e. g. Leijenhorst 2007, 98–99. 42 Accordingly, personifications of Chaos and his allegorical followers Rumour, Chance, Tumult, Confusion and Discord did find their way into political caricature and satire. See Kelley 1997, 54; Hardie 2012, 586–587; Pope 1963, 210 and 317–459 [414 ff.]. 43 Milton 2013, 160 [2.988]. 44 Milton 2013, 155 [2.908].
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But all these in their pregnant causes mixed Confusedly …⁴⁵
Chaos has before been “made pregnant” by God. In another passage, the sexualised infusion of divine “virtue” is also represented as the germ from which the natural order of the cosmos develops: on the watery calm His brooding wings the Spirit of God outspread, And vital virtue infused, and vital warmth Throughout the fluid mass …⁴⁶
Afterwards, creation follows the biblical schema, in which God gives order to the world by way of his legislatory commands.⁴⁷ From this description it can be gathered that Milton’s God is a rather peculiar, hybrid character, oscillating uneasily between generative Zeus and creative Yahweh. The awkward conflation of these two divinities is doubtless connected with Milton’s monism and his need to reconcile it with more conventional theological conceptions that insist on God’s thoroughly transcendent status. According to De Doctrina Christiana, Milton’s theological Summa, everything was once part of the unity and simplicity of God and subsequently proceeded from him, including matter.⁴⁸ Matter and spirit are not absolute contraries with distinct essences; they just differ in their degree of excellence.⁴⁹ Admittedly, Milton does not explicitly state that God himself is a material being. But by a careful exegesis John Reesing has shown that the Doctrina enforces precisely this conclusion, even at the price of certain inconsistencies.⁵⁰ Milton is, of course, not the first Christian to have asserted the materiality of God. Tertullian is among his precursors in that respect,⁵¹ and among his contemporaries, we find Spinoza⁵² and, once again, Hobbes.⁵³ But in positing a continuum between body and spirit, Milton implies, just as strongly, that the spirit of God and the spirit of his creatures do not differ in their
45 Milton 2013, 155 [2.910–914]. 46 Milton 2013, 403 [7.234–237]. 47 Milton 2013, 404–423 [7.243–550]. 48 „Verum Materia, uti et forma et natura ipsa Angelorum incorruptibilis ex Deo prodiit, post peccatum etiam quoad essentiam incorruptibilis manet.“ “The fact is, Matter like both the form and the very nature of Angels proceeded incorruptible from God: Even since the fall it remains incorruptible as far as concerns its essence.” (Milton 2012, 292/293.) 49 Milton 2012, 294/295. 50 See Reesing 1957, 159–173. 51 „Quis enim negabit deum corpus esse, etsi deus spiritus est? Spiritus enim corpus sui generis in sua effigie.“ (Tertullian 1948, 96.) 52 „Extensio atributum Dei est, sive Deus est res extensa.“ (Spinoza 1977, 114 [2 prop. 2].) 53 In the Latin version of the Leviathan, Hobbes explicitly states that „Deus est corpus“ (Hobbes 1688, 360). For this claim, he was frequently labeled an atheist (see e. g. Ross 2009, 150–161).
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essence.⁵⁴ Thus, Milton has effectively forfeited the transcendence of the divine intellect in favour of an all-encompassing continuum of hierarchical graduations. When all is said and done, Milton’s God is not essentially different from his creatures but merely possesses a lot more power and knowledge than they do. A slip which has the narrator of Paradise Lost designate the Divine Father as a “created thing” is certainly suggestive in this context.⁵⁵ In the epic, the only undubitable evidence of God’s supremacy is his superior fire power. Thus, God is not the mysterious, abstract, thoroughly transcendent being we encounter at the end of Dante’s Comedy, but an awkward personal union of potency and omnipotence. And this awkwardness is not only due to the limitations of the epic form or Milton’s peculiar philosophical stance, but expresses a basic theological problem, namely the Protestant necessity, on which Milton insists, to derive one’s notion of God from the Bible. For in some passages of the Bible, God is undoubtedly described as a rather physical entity. One might say that a conflict between biblical notions of God is played out in Paradise Lost. Once again, this conflict also involves Nature, who in some passages is represented as a female creature completely subservient to God, but in others seems to restrict his options, as she would those of Zeus.⁵⁶ At some points in the narrative, the immortal Father refuses to show his creatures mercy by referring to the inflexible laws of nature: But, longer in that Paradise to dwell, The law I gave to Nature him forbids …⁵⁷
At other times, he claims to be altogether free from all necessities, natural or otherwise: Necessity and Chance Approach not me, and what I will is Fate. …⁵⁸
The strange result of these theological and aesthetic choices is that Milton’s God, over the course of the narrative, increasingly resembles the Hobbesian “mortal god” Leviathan. Milton’s God is an absolute sovereign, both subjected to the laws of nature and positioned above them. And, as in the case of the Hobbesian sovereign, it is not decisive whether the almighty Father is in fact the best of all possible rulers. It is indeed notable that Milton makes almost no attempts to depict the Father as sympathetic and likable, and even his omniscience and omnipotence seem doubtful at times.⁵⁹ However, it is decisive that he be treated as if he was superior to all com-
54 55 56 57 58 59
See Graves 2003, 510–511. Milton 2013, 144 [2.678–679]. Naddaf 2005, 57. Milton 2013, 601 [11.48–49]. Milton 2013, 399 [7.172–173]. See e. g. Empson 1961.
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petitors, in the interests of a harmonious, unified cosmos and a general peace of mind. Milton suggests, just like Hobbes, that the abolition of his monopoly on power would have catastrophic consequences, a madness without bounds. Accordingly, the God of Paradise Lost is almost never held to the standards of reason and consistency by his supporters.⁶⁰ This convergence also affects the main topic of Paradise Lost, namely the question of original sin. Milton regards the prohibition of the tree of knowledge as a pure signifier of sovereignty, delineating the border between two conceptions of natural law. In his De Doctrina Christiana, Milton declares: Unum autem saltem aut prohibendum erat, aut imperandum, atque id maxime quod neque bonum in se esset, neque malum, ut inde hominis obedientia constaret. Cum enim homo sponte ingenio bene ageret, essetque natura bonus et sanctus, certe nec necesse erat, quod sponte quis faceret, ullo ad id foederis vinculo constringi; neque ullum ex bonis operibus obsequium ostendisset, cum ad ea, sine ullo mandate, naturali prorsus ductu ferretur. … Quoniam autem homo ad imaginem Dei factus, totam naturae legem ita secum natam, et in sese insitam habuit, ut nullo ad eam praecepto indigeret, hinc etiam efficitur, si qua ille praeterea, sive de arbore scientiae, sive de conjugio mandata accepit, ea non ad legem naturae pertinuisse, quae rectae rationi consentanea, id est, per se bona quae sunt, satis ipsa docet, sed ad ius tantummodo, quod aiunt, positivum; quo Deus, aut quis alius iusta potestate praeditus ea iubet aut vetat, quae nisi is iussisset aut vetuisset, per se quidem neque bona fuissent neque mala; ideoque neminem obligassent. But one thing at least had to be either banned or enjoined and in particular what was of a type neither good nor bad in itself, so that mans’s obedience might thereby be established. For since by his own disposition man behaved well, and was by nature good and holy, then surely neither was it necessary for anyone to be constrained by any bond of a covenant to [do] what he would be doing voluntarily, nor would any of his good works have shown obedience since, without any command, he was brought to them entirely by a natural inclination. … But since man, made after God’s image, had the whole law of nature born with him and implanted in him in such a way that he needed no directive towards it, it also follows from this that if he received any further commands either about the tree of knowledge or about marriage, they applied not to the law of nature – which itself teaches well enough the things that are agreeable to right reason, that is, those that are intrinsically good – but simply and solely to what they term positive right, by which God, or anyone else possessed of just power, orders or else forbids those things which, unless he had ordered or else forbidden them, would, intrinsically at any rate, have been neither good nor evil, and would therefore have bound no one.⁶¹
The tree of knowledge is to be understood as “a pledge and a kind of memorial of obedience”.⁶² Thus, at the very core of Christian religion is found the submission to a sovereign God who may freely promulgate arbitrary laws just in order to assert his
60 See e. g. Jenkins 2012, 174–175. 61 Milton 2012, 358–361. 62 „Pignus et monumentum quoddam obedientiae“ (Milton 2012, 358/359).
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sovereignty, even if his decrees do not conform to the inherent laws of nature. On the other hand, the most faithful of angels, Abdiel, asserts that “God and Nature bid the same”;⁶³ and this assertion echoes throughout Milton’s work. The God of Milton, just like the Leviathan of Hobbes, imposes a positive law that turns out to be both in conformity with nature and altogether opposed and supplementary to nature. The Hobbesian absolutism and its contradictions thus find themselves transferred into the realm of the divinity. One may wonder whether this is a more appropriate place for them. At least, this removal prepares the ground for earthlier conceptions of natural law. For example, the attempt has been made to understand Miltonian ethics as an inspiration for Kantian ethics.⁶⁴ Ultimately, it is the term “nature” and its oscillation between autonomy and subordination that enables this problematic transfer from transcendent to immanent rule and back. Nature keeps mediating between two double worlds. It is an X which marks a spot where theology subsists in a state of suspension – a spot where the atheist still believes and, likewise, the believer turns atheist. On this spot, further excavation work may be useful.
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Natur als Anfang. Der Beginn des Staates bei Rousseau Das Denken eines Anfangs führt in Widersprüche. Als Hegel die Durchsetzung aufklärerischer Prinzipien beschrieb, verglich er den Siegeszug der Einsicht über den Glauben mit „dem Verbreiten eines Duftes in der widerstandslosen Atmosphäre“,¹ unmerklich und mit freiem Auge nicht zu erkennen. Der Ursprung der Einsicht ist nicht beobachtbar, ihr Beginn nicht zu bestimmen. Die Theorie des modernen Staates steht vor demselben Problem der Fixierung eines Anfangs ihres Gegenstandes, der logisch verschiedene Voraussetzungen hat und zeitlich zwischen Antike und 19. Jahrhundert ausgemacht werden kann. Die historischen Grenzen des modernen Staates sind dabei unscharf, es lässt sich stets ein Davor, eine Vorform politischer Phänomene erkennen, eine bisher nicht bedachte Voraussetzung definieren. In den neuzeitlichen Staatstheorien seit Thomas Hobbes (1588–1679) wurde der Beginn des Staates als Naturzustand gedacht, der als Kontrastfolie und Grundlage zugleich zeitlich und wesenhaft der politischen Ordnung voranging. Bei näherer Betrachtung stellt sich das Verhältnis der verschieden gefassten Naturzustände zum jeweiligen Gesellschaftszustand jedoch komplexer als eines von Ausgangspunkt und Folge oder gar Ursache und Wirkung dar. In jüngerer Zeit wurde dieses Verhältnis in Begriffen gefasst, welche die kommunikative und legitimatorische Dimension des Naturzustandes betonen: So bezieht sich die Beschreibung von Natur als Begründungsdiskurs² auf das Moment diskursiver Konstitution von Tatsachen sowie normativen Rechtfertigungen, während die Begründungskonstellation³ ihrer etymologischen Herkunft nach daran erinnert, dass etwas eher umständehalber geschieht. Die Charakterisierung des Naturzustandes im politischen Denken als Ursprungserzählung⁴ verweist wiederum auf die erzählerische Schöpfung oder Verarbeitung von etwas, das, dem Eintrag „Ursprung“ im Grimmschen Wörterbuch folgend,⁵ hervorspringt oder -bricht wie Wasser aus einer Quelle. Die Ursprungsdebatte⁶ legt das Augenmerk auf die Verhandlung der tradierten Legenden von einer ersten, plötzlichen Bewegung. Demgegenüber wird hier angenommen, dass nicht die Debatte um die Ursprünge das Denken des Staates bestimmte, sondern umgekehrt der Staat als anvisiertes Resultat sich nachträglich seine Voraussetzungen schafft.
1 Hegel, Phänomenologie; vgl. Hegel 1986, 402. Hervorhebung im Original. 2 Vgl. De Angelis/Gelzer/Gisi 2012. 3 Vgl. Elbe 2009. 4 Vgl. Wright 2004; Delhom/Hirsch 2012. 5 Grimm 1984, 2538–2545. 6 Vgl. Zedelmaier 2003, 7.
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In ihrer Untersuchung Between Decision and Deliberation. Political Paradox in Democratic Theory erörterte Honig die Frage nach dem Ersten ganz ohne Bezug auf den Naturzustand als Henne-und-Ei-Problem, als „Paradox der Politik“.⁷ Honig diskutierte das Paradox der Politik anhand einer Passage aus Rousseaus Contrat social (1762), einer der einflussreichsten vertragstheoretischen Schriften. Im 7. Kapitel des Zweiten Buches schrieb Rousseau, dass der den Staat konstituierende Gesellschaftsvertrag im Grunde genommen sich selbst zur Bedingung habe. Es wäre nötig, „dass die Wirkung zur Ursache werde, dass der Gemeinsinn, der das Werk der Errichtung sein soll, der Errichtung selbst vorausgehe und dass die Menschen schon vor den Gesetzen wären, was sie durch sie werden sollen.“⁸ Als Ausweg bot Rousseau die Figur des Gesetzgebers an, der sich nicht auf ein bereits gemachtes Gesetz berufen kann und deswegen „seine Zuflucht zu einer Autorität anderer Ordnung“ nimmt, die „ohne Gewalt mitreißen und ohne zu überreden überzeugen kann.“⁹ Der Contrat social befasst sich mit dieser Figur nicht weiter, bietet allerdings eine zweite Lösungsmöglichkeit an: „Die allen gemeinsame Freiheit ist eine Folge der Natur des Menschen.“¹⁰ Kann sich der Gesetzgeber auf das Wirken der Natur verlassen, bietet die Natur des Menschen, dargelegt insbesondere im Entwurf des Naturzustandes, die notwendige Voraussetzung, die Bedingung der Möglichkeit des Staates? Das Verhältnis von Freiheit und Natur ist allerdings bereits auf den ersten Blick nicht linear: Einerseits garantiert die Natur der frei geborenen Menschen natürliche Freiheit, andererseits stammt das Recht, das ihre Verwirklichung darstellt und allererst ermöglicht, gerade „nicht von der Natur“, sondern beruht „auf Vereinbarungen“,¹¹ ersetzt also natürliche durch künstliche Beziehungen. Wenn die im Staat verwirklichte Freiheit sich nicht aus der Natur ableitet nach Art einer Kausalbeziehung, sondern gerade im Gegenteil auf einem die Natur überwindenden Akt basieren soll, wie ist die Freiheit als conséquence de la nature zu verstehen? Die Begriffe Paradox, Diskurs, Konstellation, Erzählung oder Debatte des Ursprungs sind Versuche einer Beschreibung des Verhältnisses von Menschennatur und Naturzustand zum einen und Gesellschaftszustand zum anderen. Die vorliegende Arbeit erörtert anhand des Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes von 1755, bekannt als Zweiter Diskurs, den
7 Honig 2007. 8 Du contrat social II 7; vgl. Rousseau 2010, 93. Die Schriften Rousseaus werden im Folgenden zur Erleichterung des Leseflusses nach den verfügbaren deutschen Übersetzungen zitiert. Die Referenz für den Originaltext ist die bei Gallimard erschienene Ausgabe der Œuvres complètes, hrsg. von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond. 9 Ebd. 10 Du contrat social I 2; vgl. Rousseau 2010, 11. 11 Du contrat social I 1; vgl. Rousseau 2010, 11.
Natur als Anfang. Der Beginn des Staates bei Rousseau
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Bezug auf Natur im staatstheoretischen Denken Rousseaus als Problem des Anfangs.¹² Der Anfang wird als Problem begriffen, weil es sich nicht um die widerspruchsfreie Schlussfolgerung auf einen logischen Nullpunkt oder den ersten Impuls einer gesetzmäßigen Entwicklung handelt. Er ist aber auch nicht synonym zum Ursprung zu verstehen. Der Unterschied liegt zunächst in der zeitlichen Perspektive: „Der Anfang ist ein Erstes, von dem etwas ausgeht, mit dem etwas beginnt; der Ursprung ist ein Erstes, zu dem wir zurückgehen, das Späterem voraus- und zugrunde liegt.“¹³ Der Anfang erscheint, trotz des l’origine im Titel des untersuchten Werkes, dem historischen Kontext und der vermuteten Intention des Autors adäquater. Diskurs und Konstellation, kann man sagen, sind schließlich Schöpfungen, die auf die allmähliche Überblendung von Anfang und Ursprung im 20. Jahrhundert reagierten. Die These lautet, dass der Naturzustand und die Form seiner Darstellung nicht als Freilegung einer Wurzel und insofern Bestätigung und Verankerung von Bestehendem zu verstehen ist, sondern als Beginn, der qua Natur sich ergeben sollte. Dies wurde nicht trotz, sondern gerade wegen der oft festgestellten Widersprüchlichkeit des Zweiten Diskurses möglich.
Natur, nein danke Die emphatische Natur Rousseaus, der „den Naturbegriff der Aufklärung radikal zu Ende gedacht“¹⁴ hat, trug im 18. Jahrhundert zu einer regelrechten Naturbegeisterung bei.¹⁵ Wie kaum ein anderer Name steht Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) für die zentrale Rolle des Naturbegriffs im politischen Denken, einer Natur, zu der er genauso voran wie zurück wollte. In gegenwärtiger politischer Theorie hat die Natur ihren einst so prominenten Status allerdings fast ganz verloren. Mit Naturrecht beschäftigt man sich in der Politologie höchstens aus historischer Perspektive, mit der Natur des Menschen nur in Randbereichen der Menschenrechtsdiskussion. Das hat mehrere Gründe, der gewichtigste ist der schlechte Ruf der Natur, die sich von der Berufungsinstanz für Gleichheit zu jener für Ungleichheit gewandelt hat. Von einem „fundamentalen Misstrauen gegenüber allem, was bloß gegeben ist“,¹⁶ sprach
12 Die vorliegende Studie bietet einen Einblick in ein umfassenderes Dissertationsvorhaben der Autorin, das die Facetten des Rousseauschen Naturbegriffes erfasst. Dabei werden die Freiheit begründenden Momente der Natur (Natur als Naturrecht, Natur als Anfang und Natur des Menschen) und die Ausschluss begründenden (Natur des Weibes, Natur des „Wilden“) gegeneinander diskutiert. Systematisiert wird die Natur Rousseaus dabei „im Lichte ihrer Interpretationen“ (Michael Walzer), d. h. von der Gegenwart her gelesen. 13 Angehrn 2007, 23. 14 Spaemann 1967, 66. 15 Siehe etwa Söring 1999; Link-Heer 1986, 127–163. 16 Arendt 2004, 627. Hervorhebung im Original.
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Arendt 1958 in ihren ergänzenden Bemerkungen zu The Origins of Totalitarianism und davon, dass der Mensch „im Sinne der Menschennatur ist nicht mehr der Maßstab“¹⁷ ist. Die Menschennatur hat ihre Kraft zur Begründung allgemeiner Rechte verloren. Im juristischen Diskurs um Menschenrechte und ihre Begründung war „die Berufung auf die Natur des Menschen durch eben die totalitäre Erfahrung, gegen die sie sich richten sollte, fadenscheinig geworden“.¹⁸ Wer heute für Rechtsgleichheit und Gerechtigkeit eintritt, beruft sich nicht auf Natur, sondern kritisiert Naturalisierungen als Festschreibung oder Rechtfertigung von Differenz. Die Natur hat ihre politische Bedeutung gewandelt, seit sie zur Biologie und die Biologie zum politischen Gegenstand wurde, sie wird eher mit Essentialismus assoziiert als mit Freiheit. Davon blieb auch die Rezeption des Rousseauschen Werkes nicht unberührt. Die stringenteste Beweisführung der Ungleichheit generierenden Konsequenz von Rousseaus Natur stammt aus den Gender Studies,¹⁹ vermutete man doch, dass der Weg in die bürgerliche Konzeption von Weiblichkeit „über jene Instanz“ führte, „die die Befreiung des Mannes aus den Fesseln seiner Unmündigkeit zu denken erlaubt: die Natur.“²⁰ Die feministische Kritik stellt den Zusammenhang dar, der zwischen Gesellschaftsvertrag, Natur-Emphase, wirkmächtigen literarischen Frauenbildern und dem Ausschluss von realen Frauen aus den Staatsgeschäften – wie von Rousseau explizit in der Lettre à D’Alembert (1758) gefordert – besteht.²¹ Ebenfalls einen engen Zusammenhang sieht die postkoloniale Forschung zwischen den spezifischen Rousseauschen Annahmen einer Natur des Menschen und der in der Zeit der Aufklärung auftretenden, abwertenden Konstruktion von „Wilden“.²² Die Suche nach der ursprünglichen Natur des Menschen ließ Rousseau im Zweiten Diskurs den „primitiven“ Menschen entdecken, dessen Natur nicht nur ein geschichtlich frühes Stadium allgemeiner Menschennatur erschließen sollte, sondern der auch zur Demonstration aufgeklärt-europäischer Überlegenheit diente.²³ Auch in Ideengeschichten zu Degenerationstheorien,²⁴ Sozialdarwinismus und Rassenbiologie²⁵ taucht Rousseau als geistesgeschichtliche Referenz, insbesondere mit seinem Zweiten Diskurs auf. Gender Studies, Postcolonial Studies und Forschung zu Rassismus reagieren auf die ausschließenden Implikationen der Annahme einer
17 Ebd. 18 Menke/Pollmann 2007, 49. 19 Vgl. Garbe 1992, die einen Überblick der feministischen Rezeption Rousseaus bis Anfang der 1990er Jahre bietet. 20 Steinbrügge 1987, 32. 21 Vgl. z. B. Ehrich-Haefeli 1999; Lange 2002; Kuster 2005; Korecky 2013. 22 Bitterli 1976, 236–238. 23 “Rousseau’s idea of l’homme Sauvage has cosmopolitan potential yet contains distinctly anticosmopolitan elements“ (Gregg 2013, 348). 24 Weingart/Kroll/Bayertz 1992, 42–46. 25 Vogel/Sommer 2000, 180.
Natur als Anfang. Der Beginn des Staates bei Rousseau
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Menschennatur bzw. den Umstand, dass Natur auch Widernatur mit sich brachte, „falsche“ Natur fehlende Anerkennung als vollwertige Bürger nach sich zog. Gender und Postcolonial Studies weisen deshalb nicht nur einen bestimmten Naturbegriff zurück, sondern jeden sozialen oder politischen Bezug auf Natur überhaupt. Vom Blickwinkel der politischen Theorie fasste etwa Benhabib das zunehmende Misstrauen gegenüber der Natur zusammen, die als den Nationalstaat konstituierende „Demarkationslinie zwischen Uns und den Anderen“²⁶ zu betrachten sei. Diese Haltung spiegelt sich auf erkenntniskritischer Ebene: Dekonstruktivistische Theorien wenden sich gegen unbedingte, legitimatorische Begründungen politischer Ordnung, gegen Echtes und Authentisches, beweisen die Bedingtheit des Unbedingten, bezweifeln letzte Erklärungen, vermeintliche Ursprünge und weisen Konstrukte nach. Zu den Letztbegründungen gehört zuvorderst „Natur“, die den „nicht weiter rückführbaren Charakter des Gründungsaktes“, den „letzten Urgrund der Autorität“²⁷ politischer Ordnung bezeichnet. Bei Rousseau war die Natur allerdings noch kein „dunkles Konzept“,²⁸ diente der Bezug auf sie nicht primär dazu, Gegebenes für die Ewigkeit zu fixieren. Natur ermöglichte Freiheit und Wandel, erlaubte Handlung und Gestaltung zu denken. Diese Eigenschaft ist der Natur jedoch abhandengekommen. In einer Untersuchung der Rousseauschen Natur muss man sich vor Augen halten, welche historischen Entwicklungen in den Naturbegriff eingegangen sind.
Das Einzelwesen des Zweiten Diskurses In die richtige Stimmung für den Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité habe er sich, schilderte Rousseau in seinen Confessions (1782), „im Wald vergraben“²⁹ gebracht: Meine Seele, durch diese erhabenen Betrachtungen beschwingt, erhob sich neben die Gottheit, und indem ich von dort meinen Menschenbrüdern in der Blindheit ihrer Vorurteile dem Weg ihrer Irrtümer, Leiden, Verbrechen folgen sah, rief ich ihnen mit einer schwachen Stimme, die sie nicht verstehen konnten, zu: Wahnwitzige, die ihr ständig über die Natur klagt, lernet, daß alle eure Leiden nur von euch kommen.³⁰
Aus der Perspektive neben der Gottheit, das Ganze im Blick, stellen sich die Menschen als Wesen dar, die ihr Schicksal in der eigenen Hand halten, Schöpfer ihres Glücks wie ihrer Leiden sind. Der Nachweis der Gestaltungsmöglichkeiten des Menschen ist das Ziel des Zweiten Diskurses, der für einen Wettbewerb der Akademie
26 Benhabib 1995, 29. 27 Gauchet 1991, 39. 28 Ebd., 43. 29 Rousseau 1961, 315. 30 Ebd.
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von Dijon 1754 verfasst wurde. Die Preisfrage der Akademie lautete: Welches ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen und ist sie durch das natürliche Gesetz autorisiert? Weder, dass Natur Ungleichheit autorisiert, noch das Gegenteil lagen offenbar auf der Hand. Acht der zehn Verfasser, deren Manuskripte erhalten geblieben sind, bejahten, dass Natur Ungleichheit autorisiere.³¹ Rousseau widerlegte diese Ansicht, indem er zugab, dass es natürliche Ungleichheit gäbe (Alter, Kraft, Gesundheitszustand), diese aber keinen Einfluss auf soziale Ungleichheit habe bzw. haben solle: Man kann nicht „danach fragen, ob es nicht eine essentielle Verbindung zwischen den beiden Ungleichheiten gäbe; denn das hieße mit anderen Worten zu fragen, ob jene, die befehlen, notwendigerweise mehr wert sind als jene, die gehorchen.“³² Das sei „eine Frage, die vielleicht dazu gut ist, unter Sklaven erörtert zu werden, wenn ihnen ihre Herren zuhören, die sich aber nicht für vernünftige und freie Menschen schickt, welche die Wahrheit suchen.“³³ Um zu zeigen, dass natürliche auf soziale Ungleichheit keinen Einfluss hat, wollte Rousseau entwirren bzw. unterscheiden, „was in der aktuellen Natur des Menschen ursprünglich und was künstlich ist.“³⁴ Künstliche, menschliche Ordnung konnte hier zur Natur werden, die Natur des Menschen sich verändern, weshalb Natur im Naturzustand und Natur im Gesellschaftszustand verschieden sind. Für die Frage nach der Natur als Anfang ist es wichtig nicht zu vergessen, dass Rousseau die Unterscheidung von Natur und Kunst unternahm, um der Legitimierung von gesellschaftlicher Ungleichheit, wie sie seine Konkurrenten im Wettbewerb bejahten, ins Wanken zu bringen. Er knüpfte dabei an die naturrechtliche Tradition an und ging über sie hinaus, wobei er ein alternatives Verständnis von Natur entwickelte: Statt von der Naturgegebenheit der göttlich-herrschaftlichen Ordnung zu sprechen, sollte „Natur“ den Einzelnen als Menschen an sich aufrufen. Gegenüber dem Naturzustandsentwurf von Hobbes ging Rousseau darin einen Schritt weiter. Das revolutionäre Element seines Naturzustandes war die Zurückweisung einer primären Gesellschaftlichkeit, der Soziabilität des Naturmenschen. Der Mensch in Natur soll ein Einzelwesen sein, ohne die bereits vorhandene Fähigkeit Gesellschaft zu bilden. Die Naturrechtslehre seiner Zeit habe, kritisierte Rousseau scharf, „auf den Naturzustand Vorstellungen übertragen“, die sie „der Gesellschaft entnommen hat“,³⁵ während man sich hingegen bemühen solle Gesellschaft nicht vorauszusetzen, schließlich sei sie, den Naturzustand überwindend, erst herzuleiten. Wolle man an die Grundlagen von Staat, Recht und Gesellschaft herankommen, dürfe Gesellschaftlichkeit nicht als gegeben angenommen werden. Diese Verallgemeinerung Rousseaus ist die Konse-
31 Vgl. Meier in: Rousseau 2008, 64, Fn. 74. 32 Discours sur l’inégalité, Exordium; vgl. Rousseau 2008, 69. 33 Ebd. 34 Ebd., Vorwort, 47. 35 Ebd., Exordium, 69.
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quenz seines kritischen Impulses: Wenn Gesellschaft als solche nicht von Natur kommt, sondern Resultat von Handlung ist, damit transparent und machbar wird statt aus einem per se sozialen Wesen Mensch zu emittieren, kann jede gesellschaftliche Einrichtung als Produkt befragt werden. Gesellschaft überhaupt ist Resultat der Perspektive „neben der Gottheit“, die gestattet zu sehen, dass die Menschen sich selbst erschaffen. Nachdem Rousseau im Vorwort des Zweiten Diskurses auf das Naturwesen Mensch als solitäres, isoliertes Einzelwesen bestand, verfasste er zwei Darstellungen des Naturzustandes, deren Verschiedenheit viele InterpretInnen des Werkes beschäftigt. Der erste Teil beschreibt den homme Sauvage als Spekulation, Schlussfolgerung auf den Naturmenschen, wie sie sich aus der Überlegung ergibt, nicht aus naturhistorischen Tatsachen. Der zweite Teil erzählt schließlich die Geschichte der Menschheitsentwicklung, wie sie aus ur- und frühgeschichtlichen Darstellungen in Schulbüchern und Museen vertraut ist: als Entwicklung der Künste von den einfachsten Werkzeugen über den Gebrauch des Feuers bis zum Ackerbau und der Entstehung von Reichen. In den beiden Teilen des Zweiten Diskurses habe Rousseau eigentlich „zwei Naturzustände“ angeboten, einen „reinen“ und einen als „vorpolitische Voraussetzung“, die schlussendlich in den Gesellschaftszustand mündete,³⁶ einen „logischen Ausgangspunkt der Konstruktion des Gesellschaftszustandes“ und einen historischen.³⁷ Der Status des Naturzustandes, formulierte Herb, sei „ambivalent“:³⁸ Einerseits betone Rousseau ausdrücklich „die Normfunktion des Naturzustandsbegriffs, der gegenüber die Frage nach der historischen Realität dieses Zustands sekundär bleibt“,³⁹ andererseits trete „dann neben die den konjekturalen und normativen Charakter hervorhebenden Bestimmungen der von Rousseau mehrfach erhobene Anspruch, die Theorie des Naturzustands bzw. deren zentrale Bestimmungsmomente bewiesen zu haben.“⁴⁰ Setzung und Beweis scheinen sich zu widersprechen, ihr Verhältnis bildet die spannungsreiche Binnenstruktur des Anfangs.
Erster Teil: Der wilde Mensch ist Negation Der wilde Mensch ist aufgrund der kritischen Verallgemeinerung Rousseaus ein Einzelwesen ohne regelmäßigen Kontakt zu anderen Menschen. Zwischen den solitären Wesen bestehen deshalb keine Beziehungen wie sie Individuen verbinden. Das Einzelwesen ist „ohne jedes Bedürfnis nach seinen Mitmenschen wie auch
36 Scott 1992, 696. 37 Fetscher 1960, 647. 38 Herb 1989, 80. 39 Ebd. 40 Ebd., 81.
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ohne jedes Verlangen ihnen zu schaden, vielleicht sogar ohne jemals einen von ihnen individuell wiederzuerkennen“.⁴¹ Die radikale Beziehungslosigkeit ließ Rousseau über Hobbes hinausgehen, der ebenfalls den einzelnen Menschen in das Zentrum seines Naturzustandes gerückt hat,⁴² allerdings bereits in Konkurrenz und darum potentieller Feindschaft zu anderen gedacht. Rousseau insistierte darauf, dass ohne kontinuierlichen Zusammenhang der Menschen weder Krieg noch Kooperation, weder Hass noch Tugend existieren. Dem wilden Menschen fehlt aufgrund der gesellschaftlichen Beziehung die Sprache wie das Bedürfnis sie zu entwickeln, ihm fehlen Vernunft und Denken. In Anmerkung VI des Zweiten Diskurses heißt es: Toutes les Connoissances qui demandent de la réflexion, toutes celles qui ne s’acquiérent que par l’enchaînement des idées et ne se perfectionnent que successivement, semblent être tout-àfait hors de la portée de l’homme Sauvage, faute de communication avec ses semblables, c’està-dire, faute de l’instrument qui sert à cette communication, et des besoins qui la rendent nécessaire.⁴³
„Alle Kenntnisse“, übersetzte Meier, „die Reflexion erfordern, all jene, die man nur durch die Verknüpfung von Vorstellungen erlangt und die sich nur sukzessive vervollkommnen, scheinen ganz und gar außerhalb der Reichweite des wilden Menschen zu sein – mangels Kommunikation mit seinen Mitmenschen, das heißt mangels des Instruments, das dieser Kommunikation dient und mangels der Bedürfnisse, die sie notwendig machen.“⁴⁴ In der Übersetzung dieser Stelle durch Barck et al. werden die Kenntnisse für den wilden Menschen deswegen unerreichbar, weil ihm „der Austausch mit seinesgleichen“ fehlt,⁴⁵ in deren Dienst die Sprache steht. Der „Austausch“ verweist auf die Interaktion beim Tausch von Produkten. Ritters Übersetzung beleuchtet ein weiteres Moment: Darin ist es nicht das „Bedürfnis“, sondern die „Notdurft“, die als Motor zur Entwicklung von „Begriffen“ und dem Wunsch sie mitzuteilen, fehlt.⁴⁶ Alle drei Übersetzungen zusammen gelesen ergeben das Bild eines solitären wilden Menschen, der über keine Kenntnisse, keine Begriffe und keinen Austausch verfügt, weil er nicht in Beziehung zu anderen Menschen steht. Seine Natur ist weder Sprache oder Warentausch noch ist sie bestimmt von Mangel oder Begehren. Weder eine zu überwindende Not, noch ein drängender Bedarf machen die Entstehung von Kommunikation, Instrument des Austausches,
41 Discours sur l’inégalité, Erster Teil; vgl. Rousseau 2008, 161. 42 Vgl. zum Verhältnis von Rousseau zu Hobbes etwa Strauss 1977, 278–285. Vgl. auch Asbach/ Hüning 1998. 43 Discours sur l’inégalité, Anm. VI; vgl. Rousseau 2008, 290. 44 Ebd., 291. 45 Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit; vgl. Rousseau 1989, 281. 46 Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit; vgl. Rousseau 1988, 271.
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oder abstrakten Begriffen als Subsumtion von Wirklichkeit notwendig.⁴⁷ Damit schloss Rousseau alles Gesellschaftliche, aber auch jede allgemeine Physiologie der Menschen aus der Gesellschaft erklärt werden könnte, aus. Wer in einem allgemeinen Sinn kein Bedürfnis hat, d. h. ein solches als permanenten Zustand erfährt, entwickelt auch kein Denkvermögen: „Wir suchen nur zu erkennen, weil wir zu genießen begehren; und es ist unmöglich zu begreifen, weshalb einer, der weder Begehren noch Besorgnisse hätte, sich die Mühe geben sollte, nachzudenken.“⁴⁸ Damit wollte Rousseau nicht behaupten, dass der wilde Mensch nicht fühlen könne. Aber Begehren und Sorge, Leidenschaft oder Angst treten im Moment auf, erfahren eine Reaktion und verschwinden wieder. Es besteht kein Grund, sie in der Erinnerung präsent zu halten. Sie bestimmen nicht das menschliche Dasein, eignen sich demnach weder in Form der Idee von der Härte des ewigen Konkurrenzkampfes noch als Vorstellung von triebgeleiteter Bedürfnisbefriedigung zur Charakterisierung menschlicher Natur. Bemüht, den wilden Menschen als tatsächlich jenseits von Gesellschaft zu entwerfen, war Rousseau auf Verneinungen angewiesen: Nicht was er ist, war zu beschreiben, sondern was er nicht ist. Der wilde Mensch kennt weder Tod noch Zeit, deren Kenntnis nur aus reflexiver Distanz zum eigenen Leben erworben werden kann, er plant nicht, erwartet keine regelmäßigen Abläufe, hat keine Allgemeinvorstellungen, kennt keine Zahlen. Der verbreiteten Vereinfachung, dass Hobbes den natürlichen Menschen als „böse“, Rousseau ihn hingegen als „gut“ gezeichnet hätte, muss entgegengehalten werden, dass im Naturzustand Rousseaus „weder gut noch böse“ sowie „weder Laster noch Tugend“⁴⁹ vorhanden sind, im Übrigen auch, wie die berühmte gegen Locke gerichtete Anmerkung XII feststellt, keine Familienbindung, kein Wiedererkennen von Verwandten (insofern auch, kann man schlussfolgern, kein Inzesttabu). Die Verbindung der Geschlechter kommt als Paarung zustande, ohne stabile Emotionen: Nur vor dem Hintergrund eines allgemeinen, kontinuierlichen gesellschaftlichen Zusammenhangs ist Liebe eine Leidenschaft, im Naturzustand ist sie undenkbar. Dieser Naturzustand ist kein Paradies, auch wenn verständlich ist, welche Erleichterungen man sich damit verbunden vorstellen kann. Spöttisch, aber nicht ohne einen Unterton von Sehnsucht schrieb Wieland über den Rousseauschen Naturmenschen, der „mit dem ersten besten Weibchen, das einem aufstößt, zusammen laufen“ kann, „ohne sich anfechten zu lassen, was aus ihr und ihren Jungen werden
47 Ohne kontinuierlichen Zusammenhang der Menschen ist keine Weitergabe von Kenntnissen denkbar, kein Wiedererkennen von Mitmenschen und keine Sprache: „Als sie anfingen, das Subjekt vom Attribut und das Verb vom Nomen zu unterscheiden – was keine geringe Geistesanstrengung war – , waren die Substantive zunächst nichts als lauter Eigennamen“; Discours sur l’inégalité, Erster Teil; vgl. Rousseau 2008, 125. Vgl. dazu auch Rousseaus Essai sur l’origine des langues (1781) und die Préface de Narcisse (1753). 48 Ebd., Erster Teil, 107. 49 Ebd., Erster Teil, 135.
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könne“, der außerdem „den größten Theil seines Lebens verschlafen“ kann, „nichts denken, nichts wünschen, nichts thun, sich nichts um andre, wenig um sich selbst, und am allerwenigsten um die Zukunft bekümmern“⁵⁰ muss. Der Naturzustand ist aber keine milde Idylle, kein „seliger Stand“,⁵¹ denn mit der Unabhängigkeit von Gesellschaft geht auch die Abwesenheit von Unterstützung einher. Wer nicht stark und robust wird, den lässt die Natur, „wie das Gesetz Spartas“ die schwachen Kinder, „zugrundegehen“.⁵² Von der Verneinung zur Charakterisierung anfänglicher Menschennatur wich Rousseau zugunsten zweier positiver Bestimmungen des wilden Menschen ab. Im Vorwort zum Zweiten Diskurs postulierte er Prinzipien, „welche der Vernunft vorausliegen“.⁵³ Neben dem Interesse an der Selbsterhaltung, der amour de soi, ist es das Mitleid, welches den wilden Menschen auszeichnen und den Selbsterhaltungstrieb mäßigen soll. Als Gefühl ist es „Stütze der Vernunft“, im „wilden Menschen dunkel und lebhaft, im bürgerlichen Menschen entwickelt, aber schwach.“⁵⁴ Hat Rousseau damit nicht bereits im Naturzustand eine Spur gelegt, die in den Gesellschaftszustand führen soll? Der „angeborene Widerwillen … seinen Mitmenschen umkommen oder leiden zu sehen“⁵⁵ scheint im Widerspruch zur Isolation zu stehen. Mitleid soll im Naturzustand die Mäßigung dessen sein, was der wilde Mensch bereit ist dem anderen anzutun. Man muss jedoch das Mitleid im Lichte der entworfenen radikalen Beziehungslosigkeit diskutieren. Sich in die Lage eines anderen versetzen zu können, ihn als leidend wahrzunehmen, heißt, dass man sich in ihm erkennt, d. h. man hat ihn über den Abgrund der Vereinzelung hinweg als Gleichen wahrgenommen. Rousseau zufolge hat die Vereinzelung jedoch noch nicht stattgefunden, die wilden Menschen erkennen sich nicht als von derselben Art, sind sich nicht ständig der anderen bewusst. Ohne Bezugnahme aufeinander und ohne Konkurrenz gibt es keine beständige Kooperation oder umgekehrt kein dauerpräsentes Potential von Angriffen. Es sind temporäre Situationen, die entstehen können, in denen Identifikation als Mitleid spontan und im Moment stattfindet, „dunkel und lebhaft“. Der wilde Mensch weiß davon nichts, weil das spontane Gefühl sich nicht in Wissen verwandelt, wie beim bürgerlichen Menschen, wo es „entwickelt, aber schwach“ ist. Anmerkung XV stützt diese Interpretation des Mitleids zwischen Menschen, „die sich weder zu schätzen noch zu vergleichen wissen“.⁵⁶ Die Rede vom Mitleid meint demnach keine freundliche Grundstimmung des Naturmenschen in Bezug auf seine Mitmenschen, die sich durchaus gegenseitig verletzen oder töten können. In Rück-
50 Wieland 1795, 263. 51 Ebd. 52 Discours sur l’inégalité, Erster Teil; vgl. Rousseau 2008, 81. 53 Ebd., Vorwort, 57. 54 Ebd., Erster Teil, 147. 55 Ebd., Vorwort, 57. 56 Ebd., Anm. XV, 371.
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sicht auf das Fehlen eines konstanten Verhältnisses bedeuten „wechselseitige Gewalttätigkeiten“⁵⁷ keine andauernde Bedrohung, sondern sind als natürliche Ereignisse weder böse noch Anlass für Rache oder Mitleid im Sinne des Bewusstseins von der Verletzbarkeit anderer.⁵⁸ Auch das zweite, auf die Selbsterhaltung bezogene Prinzip, die amour de soi, verweist zunächst auf Gesellschaftliches. Der solitäre Mensch ist zwar radikal autonom, aber er ist an seiner Selbsterhaltung „brennend interessiert“. So sehr auch Rousseau auf der das Brennen auslösenden amour de soi als „natürliches Gefühl“ bestand,⁵⁹ zeigt sie doch eine innere Spaltung des wilden Menschen an. Wozu braucht es ein eigens benanntes Interesse an der Selbsterhaltung, wenn sie fraglos vonstattengehen soll, von Fall zu Fall, ohne das Bewusstsein ihrer Notwendigkeit? Mit der amour de soi und dem Mitleid ragt näherungsweise Gesellschaftliches in den spekulativen Naturzustand und es ist bemerkenswert, dass das im Kontext der Problematik der Selbsterhaltung geschieht. Rousseau, der umschwärmte Verfasser der Nouvelle Héloïse, einer der erfolgreichsten Romanzen aller Zeiten, hielt Liebe und Familie für keinesfalls naturgegeben, während ihm die Grenze von Natur und Gesellschaft bei der Selbsterhaltung zu verschwimmen schien. Im Zweiten Diskurs finden sich weitere Stellen, wo Rousseau den wilden Menschen anders als verneinend beschrieb und dadurch den Eindruck vermittelt, er wäre von seinem eigenen Programm abgewichen, hätte bloß den gesellschaftlichen Menschen in ursprüngliche Natur projiziert. Die Beobachtung der Projektion per se ist allerdings noch keine fruchtbare Erkenntnis, denn bemerkenswert ist nicht, dass Rousseaus Naturzustand Elemente des gesellschaftlichen enthält, sondern welche das sind. An zwei Stellen entsteht beispielsweise der Eindruck, Rousseau hätte den wilden Menschen zum „frei Handelnden“ deklariert.⁶⁰ Die Formulierung taucht im Zusammenhang der Verhandlung des Unterschiedes von Mensch und Tier auf und man ist versucht, angesichts dieser Äußerung Rousseaus Bemühungen um die Negation des Menschen in Gesellschaft für gescheitert zu erklären. Man muss aber zunächst beachten, dass die Beweisführung des Zweiten Diskurses trotz der Behauptung von der menschlichen Handlungsfähigkeit „nicht auf der Annahme“ gründete, „die Freiheit des Willens sei das Wesen des Menschen“.⁶¹ Statt der Willensfreiheit behauptete Rousseau eine näher an Selbsterhaltung als Selbstbehauptung liegende Eigenschaft: die Perfektibilität, die Fähigkeit zur Vervollkommnung, zum Lernen
57 Ebd. 58 Im Essai sur l’origine des langues bedarf das Mitleid der Aktivierung durch die imagination, ebenfalls im Émile. Forschner bemerkte, dass die pitié für den isolierten Menschen erst „im Status beginnender Vergesellschaftung“ relevant wird (Forschner 1977, 33, Fn. 23). 59 Discours sur l’inégalité, Anm. XV; vgl. Rousseau 2008, 369. Ihm darin folgend zuletzt Neuhouser 2012. 60 Discours sur l’inégalité, Erster Teil; vgl. Rousseau 2008, 99 und 101. 61 Strauss 1977, 277.
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und Erwerben geistiger und physischer Fähigkeiten, welche die Beherrschung von Natur erlauben. Der Widerspruch bleibt hier noch bestehen, denn der wilde Mensch soll die Fähigkeit zur Vervollkommnung besitzen, ohne über Kenntnisse zu verfügen, die sich vervollkommnen lassen. Das Potential zur Vervollkommnung ist ebenso natürlich wie der Instinkt und kann, muss jedoch nicht, aus Natur heraus führen. Der wilde Mensch ist „von der Natur dem bloßen Instinkt überlassen, oder vielmehr für den Instinkt, der ihm vielleicht fehlt, durch Fähigkeiten entschädigt, die ihm zunächst den Instinkt ersetzen und ihn danach weit über die Natur hinzuheben vermögen“.⁶² Zu beachten ist aber auch, abgesehen von Rousseaus eigener Unentschiedenheit, die sich im vielleicht äußert, dass die perfectibilité kein entwicklungslogischer Begriff ist, der eine quantitative Veränderung in der Zeit beschreibt, die aus dem wilden Menschen allmählich etwas anderes macht. Rousseau bestand darauf, dass die Perfektibilität dem natürlichen Menschen bloß „der Möglichkeit nach“⁶³ gegeben war und sich nur durch „äußere Umstände“ und „Zufälle“⁶⁴ realisieren konnte. Dieses Insistieren Rousseaus eröffnet erneut die Frage nach dem Übergang von ursprünglicher Natur in gesellschaftliche, vom ersten Teil des Zweiten Diskurses in den zweiten.
Zweiter Teil: Die Natur der Gesellschaft Der zweite Teil des Zweiten Diskurses ist als historische Darstellung geschrieben. Auf die Herstellung von Steinwerkzeugen folgte die Beherrschung des Feuers und der Bau von Hütten, menschliche Gemeinschaften, Metallverarbeitung, Ackerbau und schließlich die ersten Staaten. Der wilde Mensch des ersten Teils macht in dieser Geschichte eine bemerkenswerte Wandlung durch. War er im spekulativen Naturzustand als bedürfnislos bestimmt, weil ihm das Wissen um seine Bedürfnisse fehlte, wird er im zweiten Teil des Diskurses von äußerer Natur getrieben. Die Menschen, die ein paar Seiten zuvor noch in Ruhe ihre Eicheln sammelten, befinden sich nun im Kampf gegen die Härten einer unbarmherzigen Natur: „Unfruchtbare Jahre, lange und raue Winter, brennendheiße Sommer, die alles verzehrten, verlangten ihnen eine neue Kunstfertigkeit ab.“⁶⁵ Selbsterhaltung findet nicht mehr ungewusst statt, sondern ist vom Scheitern bedroht, ihre Bewältigung bringt hervor, was im ersten Teil des Werkes für den Naturzustand verneint wird: „Eine Art von Reflexion, oder
62 Discours sur l’inégalité, Erster Teil; vgl. Rousseau 2008, 105. 63 Ebd., Erster Teil, 167. 64 Ebd. Vgl. Herb: „Die Perfektibilität ist von sich aus ziellos und reaktiv. Erst mit Hilfe zufällig eintretender Umstände ermöglicht sie die Entfaltung sozialer Eigenschaften und aller genuin menschlichen Fähigkeiten, allen voran Sprache und Vernunft“ (1989, 84). 65 Discours sur l’inégalité, Zweiter Teil; vgl. Rousseau 2008, 175.
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vielmehr eine mechanische Klugheit“⁶⁶ als Vorform des Denkens – noch nicht ganz entwickelt, aber eigentlich schon existent. „Eine Art von freier Assoziation“⁶⁷ ist ebenfalls bereits, vorübergehend und unverbindlich, vorhanden, sowie eine „Art von Eigentum“.⁶⁸ Wiederholte Jagderfolge machten dem Menschen „seine Überlegenheit über die anderen Tiere“ bewusst, deren „Herr“ und „Geißel“ er wurde.⁶⁹ Rousseau legt nahe, dass dem Menschen seine Herrschaft über die anderen Geschöpfe der Erde als kontinuierliche gegenwärtig wurde, nicht bloß als temporärer Jagderfolg, wie er im ersten Teil argumentierte. Diese Naturbeherrschung stellt bereits den Anfang aller gesellschaftlichen Ungleichheit dar.⁷⁰ Auch wenn sie erst „mit der Zeit“,⁷¹ an anderer Stelle „unzählige Jahrhunderte“⁷² später, sich voll entfalten sollte, war die Ungleichheit bereits mit allen späteren Eigenschaften versehen, entdeckt im Naturzustand oder zumindest in einem vor-gesellschaftlichen Zustand. Der Unterschied zum ersten Teil des Zweiten Diskurses ist gewaltig: Lag dort der Naturzustand jenseits von Mangel und Überfluss, gehen in diesem Gefahr, Konkurrenz mit Tieren und Mitmenschen, in der Folge Herdenbildung, Hüttenbau und Familiengründung Hand in Hand. In dieser Darstellung erscheint der Naturzustand „nicht mehr als notwendig in sich ruhend“,⁷³ sondern er treibt voran, lässt eine Periode (prä-)historischer Entwicklung auf die andere folgen. Man kann zudem festhalten, dass diese Geschichte ihr zu erklärendes Resultat kennt, denn Reflexion, Assoziation und Eigentum sind bereits rudimentär ausgeprägt. In dem Augenblick, in dem Rousseau sich daran machte, den Naturzustand als Geschichte zu erzählen, war der gesellschaftliche Zustand schon angekommen wie der Igel vor dem Hasen. Gegen diesen Effekt führte Rousseau die Differenz von Anfang und Fortgang ins Feld: Es „muß bemerkt werden, daß die Anfänge der Gesellschaft und die zwischen den Menschen bereits etablierten Beziehungen in ihnen Eigenschaften erfordern, die von jenen verschieden sind, welche sie von ihrer anfänglichen Verfassung her besaßen“.⁷⁴ Um die Differenz festzuhalten, bestand er auf sprunghaften Übergängen, Zufällen und äußeren Umständen, die zwischen den Perioden innerhalb des Naturzustands sowie zwischen Natur- und Gesellschaftszustand liegen. Insbesondere der Wechsel vom Naturzustand in die ersten Gesellschaften ist als Sprung zu begreifen. Wenn der Sprung jedoch nicht bewusst getan wurde, sondern bloß aus äußeren Um-
66 Ebd., Zweiter Teil, 177. 67 Ebd., Zweiter Teil, 179. 68 Ebd., Zweiter Teil, 181. 69 Ebd., Zweiter Teil, 177. 70 Vgl. ebd. 71 Ebd. 72 Ebd., Zweiter Teil, 181. 73 Ebd., kommentierende Fußnote 216 von Heinrich Meier auf 174. 74 Ebd., Zweiter Teil, 193.
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ständen oder Gewalt bestand, blieb die so entstandene politische Gesellschaft instabil und ungenügend. Der erste politische Zustand – Rousseau sprach von der Antike – sei „unvollkommen“ geblieben, „weil er nahezu ein Werk des Zufalls war“⁷⁵ und deswegen „schlecht begonnen“⁷⁶ habe. So seien Athen und selbst Sparta wieder untergegangen. Ein guter, weil bewusster Beginn wäre hingegen nicht „willkürliche Gewalt“, wie es bei Athen und den folgenden Staaten der Fall war, sondern ein „Grundvertrag“.⁷⁷ Die politischen Gesellschaften, die nicht auf einem solchen Grundvertrag basierten, wurden von Gesetzen beherrscht, „die dem Schwachen neue Fesseln und dem Reichen neue Kräfte gaben“.⁷⁸ Gegen Erzählungen vom Anfang der Staaten, die mit „Eroberungen des Mächtigsten“ anhoben oder mit der „Vereinigung der Schwachen“⁷⁹ wandte Rousseau ein, dass erstere die Transformation vom Kriegszustand in Recht nicht erkläre, und zweitere sich durch eine Verkehrung auszeichne: Die Starken, d. h. die Reichen hätten mehr zu verlieren und demnach mehr Grund ihren Besitz rechtlich abzusichern. Die Herleitung staatlicher Autorität aus väterlicher kritisierte Rousseau ebenfalls mit einer Umdrehung des Arguments: „Statt zu sagen, daß die bürgerliche Gesellschaft sich von der väterlichen Gewalt herleite, müßte man im Gegenteil sagen, daß es die bürgerliche Gesellschaft ist, von der diese Gewalt ihre hauptsächliche Macht bezieht“.⁸⁰ Dergestalt die gängigen Anfangserzählungen politischer Gesellschaft ablehnend, lässt Rousseau nur eine denkbare Option gelten: „die Errichtung des Politischen Körpers als einen wahren Vertrag zwischen dem Volk und den Oberhäuptern …, die es sich wählt“.⁸¹ Der Vertrag habe seiner Natur nach auflösbar zu sein, wenn er tatsächlich die einzige Quelle von Macht und Regierung bilden solle. Mit diesen Betrachtungen zum Vertrag hat Rousseau die Ebene der Geschichtserzählung verlassen und wieder begonnen prinzipielle Erwägungen anzustellen. Sie erlaubten ihm danach zur Geschichte der politischen Gesellschaften zurückzukehren und ihre Fehler messen und begründen zu können. Ohne die richtige Begründung von Gesellschaft garantiere das Gesetz keine Gleichheit, sondern führe gemeinsam mit korrupter Bürokratie zur Verwandlung legitimer Gewalt in willkürliche Gewalt. Diese Entwicklung sei es, welche die Entstehung von Ungleichheit erkläre. Die Natur legitimiert keine Ungleichheit, lautet die Antwort auf die Frage der Akademie von Dijon, sie beseitigt aber auch nicht gesellschaftlich verursachte Ungleichheit durch blindes Wirken. Das garantiere nur der Grundvertrag, die Handlung aus Freiheit. Aber selbst
75 Ebd., Zweiter Teil, 225. 76 Ebd. 77 Ebd., Zweiter Teil, 243. 78 Ebd., Zweiter Teil, 219. 79 Ebd., Zweiter Teil, 223. 80 Ebd., Zweiter Teil, 235. 81 Ebd., Zweiter Teil, 243.
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die auf einem Grundvertrag basierende staatliche Ordnung, das zeigen die abschließenden Passagen des Zweiten Diskurses, ist nicht davor gefeit Entwicklungen zu erfahren, die die hoffnungsvollen Anfänge in ihr Gegenteil verkehren, womit „der Punkt berührt [wird], von dem wir ausgegangen sind. Hier werden alle Einzelnen wieder gleich, weil sie nichts sind“.⁸² Der Vertrag zerbricht, wenn durch verschiedene Umstände sich niemand mehr daran gebunden fühlt, ein neuer Naturzustand tritt ein. Der Zweite Diskurs endet nicht mit jener Fanfare der Rebellion mit der etwa der Contrat social anhebt, er vermittelt einen düsteren Eindruck und wird oft als Verfallsgeschichte gelesen. Tatsächlich drängt sich die Frage auf, wie sich die Schrift im Kontext des Rousseauschen Gesamtwerkes verstehen lässt. Wenn auch die auf Vertrag basierende Gesellschaft wieder in Chaos und Gewalt versinken kann, was hat Rousseau mit dem Zweiten Diskurs gewonnen? Er hat den Nachweis geführt, dass die menschliche Natur jener Erneuerung, wie sie vornehmlich im Contrat social entworfen wird, nicht entgegensteht. Mit anderen Worten: Er zeigte, dass Anfänge getan werden können. Rousseaus Naturzustand demonstrierte sein Gegenteil, das menschliche Vermögen zur Einrichtung von Gesellschaft und Staat. Die von ihm entworfene Natur steht der Gesellschaft gegenüber, wobei sie den Menschen sehr wohl festlegt, aber darauf, jegliche Festlegung zu überwinden. So betrachtet wäre das berühmte „Zurück zur Natur“, das Rousseau zugeschrieben wird, keine Verklärung eines vor-zivilisatorischen Zustandes, sondern eine Beschwörung menschlicher Handlungsfähigkeit. Gegen diese Interpretation spricht beispielsweise die Widmung des Zweiten Diskurses, in der Rousseau davor warnt, Freiheit unwiderruflich zu verspielen: „Sind die Völker erst einmal an Herren gewöhnt, so können sie sie nicht mehr entbehren.“⁸³ Dieselbe Warnung findet sich im Contrat social und wirkt dort im Kontrast zum Plädoyer für einen Gesellschaftsvertrag noch stärker: „Freie Völker, erinnert euch dieser Maxime: Man kann die Freiheit gewinnen, aber man kann sie niemals wiedergewinnen.“⁸⁴ Oder wie es in der Préface de Narcisse heißt: „Ich sage also, daß es mit den Sitten eines Volkes so geht wie mit der Ehre eines Mannes, die ein Schatz ist, der bewahrt werden muß, die man jedoch nicht zurückgewinnen kann, wenn man sie einmal verloren hat.“⁸⁵ Denn: „Die menschliche Natur geht nicht rückwärts, und nie kommt man in die Zeiten der Unschuld und der Gleichheit zurück, wenn man sich einmal von ihnen entfernt hat.“⁸⁶ Dieser Ton einer „negativen Historik“ (Kurt Weigand), die Überzeugung, dass es kein zeitliches Zurück mehr geben kann, scheint genau das Gegenteil eines Nach-
82 83 84 85 86
Ebd., Zweiter Teil, 263. Ebd., Widmung, 15. Du contrat social II 8; vgl. Rousseau 2010, 99. Vorrede zu ,Narcisse‘; vgl. Rousseau 1989, 173–174. Rousseau richtet über Jean-Jacques; vgl. Rousseau 1988, 569.
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weises der Handlungsfähigkeit zu sein: „Wie sehr Rousseaus Geschichtspessimismus am Ende seine politischen Ideale überlagert, gehört zu den gesicherten Erkenntnissen der Rousseauforschung.“⁸⁷ Dagegen ist zu sagen, dass der „Geschichtspessimismus“ Rousseaus sich durchaus mit dem „Gesang der Freiheit“ (Ernst Bloch) verträgt, wenn man den Anfang, wie er im Zweiten Diskurs gemacht wird, nicht bloß als einen in der Zeit versteht. Was wie Geschichtspessimismus oder Kulturkritik aussieht – die zunehmende Schlechtigkeit menschlicher Einrichtungen seit Verlassen des natürlichen Zustandes – demonstriert die Fähigkeit und Notwendigkeit des Setzens neuer Gesellschaft. Die menschliche Natur des ersten Teils der Schrift ging zwar als historische in der Zeit verloren, erlaubt aber als spekulative in Gegenwart und Zukunft eine Erneuerung zu denken. Die Warnungen vor einem unaufhaltsamen Verfall der Welt seit dem Naturzustand haben einen kritischen Zweck: „Wenn ich mich über die Voraussetzungen dieses anfänglichen Zustandes so lange verbreitet habe“, erklärte Rousseau, so deshalb weil es darum ging zu zeigen „wie weit die Ungleichheit, selbst die natürliche, davon entfernt ist, in jenem Zustand soviel Realität und Einfluß zu besitzen, wie unsere Schriftsteller behaupten.“⁸⁸ Wenn die Ungleichheit nicht natürlich ist, ist sie der Veränderung zugänglich. Der Brief an seinen Kritiker Bonnet demonstriert ebenfalls, dass Rousseaus fundamentale Kritik der Gesellschaft seiner Zeit galt, dem Luxus auf der einen Seite und der Armut auf der anderen. Gegen die Einwände Bonnets, der es für das beste hielt, wenn man „den Menschen, so wie er ist“, nähme, „mit allem, was dazugehört“,⁸⁹ wetterte Rousseau in seiner Antwort: „Wenn alles auf das bestmögliche eingerichtet ist, müssen Sie jedwedes Handeln tadeln.“⁹⁰ Der Zweite Diskurs belegte die drängende Möglichkeit wie den Zwang zum Handeln und legte die Reichweite der Handlungsfähigkeit dar, die die von Grund auf zu erneuernde Gesellschaft erheischte. Natur steht dem nicht im Wege.
Zwischen Spekulation und Geschichte: Die Einführung des Eigentums Spekulation und Geschichtserzählung fallen auseinander, erscheinen nicht vermittelt. Sie stellen sich als zwei Anfänge dar, der erste wirkt willkürlich, der zweite entpuppt sich als Anfang, der keiner ist. Für die Frage nach ihrem Verhältnis ist ein genauerer Blick auf die Passage des Übergangs von natürlicher Natur und Natur in Gesellschaft aufschlussreich.
87 Hidalgo 2013, 121. 88 Discours sur l’inégalité, Erster Teil; vgl. Rousseau 2008, 161. 89 Brief von M. Philopolis; in: Rousseau 2008, 455. 90 Brief von J. J. Rousseau an Herrn Philopolis; in: Rousseau 2008, 471.
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Der zweite Teil des Diskurses über die Ungleichheit beginnt mit der Einführung des Eigentums. Sein erster Satz lautet: „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.“⁹¹ Im Naturzustand des wilden Menschen gab es kein gut oder böse, keine Laster oder Tugenden, weil es kein „Dein und Mein“⁹² gab. Aufgrund der Abwesenheit des Eigentums konnte Rousseau annehmen, dass im Naturzustand „die Sorge um unsere Erhaltung der Erhaltung anderer am wenigsten abträglich ist“.⁹³ Rousseau meinte das nicht moralisierend oder im Sinne sonntäglicher Klage über zu viel Egoismus seiner Mitbürger, sondern stellte in Rechnung, dass Eigentum die Aneignung und Nutzung von etwas durch andere ausschließt. Selbsterhaltung, die auf Grundlage von Eigentum an Land geschieht, führe jedoch notwendigerweise zu Konflikten und bringe die Menschen dazu „einander in dem Maße zu hassen, in dem ihre Interessen sich kreuzen“.⁹⁴ Anmerkung IX zum Zweiten Diskurs legt dar, dass Naturbeherrschung in arbeitsteiliger Konkurrenz zum Widerstreit innerhalb privater sowie von privater und öffentlicher Vernunft führen kann: „So finden wir unseren Vorteil im Schaden unserer Mitmenschen, und der Verlust des einen schafft fast immer den Wohlstand des anderen. Noch gefährlicher aber ist, daß das öffentliche Unglück und die öffentliche Not die Erwartung und die Hoffnung einer Menge von Privatleuten ausmachen.“⁹⁵ Anknüpfend an Locke folgerte Rousseau, dass es kein Unrecht geben könne, wo es kein Eigentum gibt.⁹⁶ „Es ist klar, daß dem etablierten Eigentum und folglich der Gesellschaft auch die Morde, die Vergiftungen, die Straßenräubereien und selbst die Strafen für diese Verbrechen angerechnet werden müssen“.⁹⁷ Brack et al. übersetzten la propriété établie mit „Einrichtung des Eigentums“⁹⁸ und legten damit nahe, dass es Rousseau um Eigentum als solches gegangen sei. Das scheint zunächst die bessere Übersetzung zu sein, denn „Dein und Mein“ enthalten keine Spezifizierungen. Trotz der Beobachtung vom Eigentum als Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft und anderer Passagen seines Werkes, die wirken, als würde er sich gegen jegliche arbeitsteilige Ökonomie aussprechen, sollte Rousseau aber nicht als Kritiker von „Dein und Mein“ missverstanden werden. „Unbestreitbar ist das Recht auf Eigentum das heiligste aller Bürgerrechte und in gewisser Hinsicht noch wichti-
91 Discours sur l’inégalité, Zweiter Teil; vgl. Rousseau 2008, 173. 92 Ebd., Erster Teil, 153. 93 Ebd., Erster Teil, 137–139. 94 Ebd., Anm. IX, 303. 95 Ebd. 96 Ebd., Zweiter Teil, 191. 97 Ebd., Anm. IX, 309. 98 Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit; vgl. Rousseau 1989, 288.
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ger als die Freiheit selbst“.⁹⁹ Abgesehen von solchen expliziten Bemerkungen, beweist noch mehr die Argumentationsstruktur des Zweiten Diskurses, wie tief die Überzeugung vom Eigentum in Rousseaus Denken verankert war: Er konnte sich keine kollektive Form der Naturbeherrschung jenseits des Eigentums vorstellen, setzte Arbeitsteilung mit Eigentum gleich. Kollektivität oder Gesellschaft ging mit Eigentum einher, und weil Rousseau entgegen aller Polemik keinesfalls in die Wälder zurückwollte, findet sich auch kein Aufruf zur Aufhebung des Eigentums im Zweiten Diskurs. Stattdessen plädierte er für eine Rückkehr „zur ersten Unschuld“,¹⁰⁰ die von all jenen, die die dabei behilfliche „himmlische Stimme“¹⁰¹ nicht mehr vernehmen können, durchaus in den Wäldern gesucht werden kann, aber nicht um sich dort niederzulassen. Der Wald ermöglichte Rousseau die bereits zitierte göttliche Perspektive, die Erkenntnis der Menschennatur und ihres Potentials zur Einrichtung ihrer Welt. Bezogen auf das Eigentum bedeutet das die Annahme einer allen gemeinsamen Fähigkeit zum Eigentum. Rousseau griff das herkömmliche, etablierte, tradierte Eigentum an,¹⁰² um die Möglichkeit des Eigentums als solches, als Möglichkeit aller, zu begründen. Er griff die durch Adel oder Abkunft erworbenen Vorteile an, um alle gleich ausgestattet an den Start eines erneuten Rennens unter neuen, egalitären Bedingungen zu schicken. Wie kam es zur Einführung des Eigentums, fragte Rousseau, wie kam der erste, der ein Stück Land einzäunte, auf diese Idee? Die Einzäunung des Landes ging einher mit der Entstehung von stabilen Beziehungen der Menschen untereinander. Davor arbeitete jeder für sich, es gab kein Zusammenwirken, aber „von dem Augenblick an, da ein Mensch die Hilfe eines anderen nötig hatte“, sind „Arbeit“ und „Eigentum“ die Folge.¹⁰³ Über das Aufkommen der Bedürfnisse, die nur auf Grundlage von Arbeitsteilung befriedigt werden können, und damit über die Entstehung des Eigentums bemerkte Rousseau, dass man dies nicht erklären könne. Aus den „rein tierischen Funktionen“¹⁰⁴ führe kein Weg in die menschlichen. Es sei schlechterdings „unmöglich zu begreifen“, wie der „tödliche Hass“, den die Menschen „alle gegen kontinuierliche Arbeit haben“,¹⁰⁵ überwunden hätte werden können. Zwischen dem wilden Menschen und dem natürlichen, dem ersten und dem zweiten Teil des Diskurses liegt ein Sprung, der Beobachtung nicht zugänglich. Der Übergang geschah „aufgrund irgendeines unheilvollen Zufalls“,¹⁰⁶ es lässt sich dazu
99 Discours sur l’Economie politique; vgl. Rousseau 1977, 75. Studien zum Eigentumsbegriff bei Rousseau sind vergleichsweise selten. Vgl. Schulz 1980; zuletzt L’Aminot 2014. 100 Discours sur l’inégalité, Anm. IX; vgl. Rousseau 2008, 319. 101 Ebd. 102 Vgl. Schulz 1980, 54. 103 Discours sur l’inégalité, Zweiter Teil; vgl. Rousseau 2008, 319. 104 Ebd., Erster Teil, 105. 105 Ebd., Erster Teil, 113. 106 Ebd., Zweiter Teil, 193.
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nichts weiter sagen. Die Gesellschaft ergibt sich „aus der Natur des Menschengeschlechts“, aber eben „nicht unmittelbar, sondern – wie ich bewiesen habe – nur mit Hilfe gewisser äußerer Umstände, die sein oder nicht sein konnten“.¹⁰⁷ Zwischen Naturzustand und Gesellschaftszustand darf es keine direkte Ableitung geben, sonst wäre das Anliegen Rousseaus desavouiert, der Legitimierung gesellschaftlicher Ungleichheit durch Rekurs auf Natur den Boden zu entziehen.
Form und Logik der Darstellung Der „Hiatus“¹⁰⁸ zwischen natürlichem und gesellschaftlichem Zustand gestattet nicht, die Schrift Rousseaus über den Naturzustand umstandslos als Entwicklungsgeschichte, als menschheitsgeschichtlichen „Drei-Stadien-Prozess“¹⁰⁹ zu lesen. Die Gesellschaft „ergibt“ sich aus Natur, aber nicht als bedingende Ursache und folgende Wirkung oder als allmähliche Entfaltung von bereits keimhaft Vorhandenem. Victor Goldschmidt machte darauf aufmerksam, dass man den Zweiten Diskurs sowohl als Spekulation wie als naturwissenschaftlich-anthropologische Abhandlung lesen kann.¹¹⁰ Man erkennt diese beiden Momente auch am Stilwechsel im Buch, den unterschiedlichen Darstellungsformen. Auf das Gedankenexperiment, die prinzipiellen Erwägungen, folgt die erzählerische Abhandlung, die einem Faden in der Zeit folgt. Rousseau arbeitete mit zeitgenössischen Reiseberichten, prä-völkerkundlichem Wissen über die sogenannten Wilden und erzeugte damit an vielen Stellen der Schrift den Eindruck, einen ersten, verschwundenen Naturzustand zumindest näherungsweise beobachten zu können. Tatsächlich changiert der Naturzustand zwischen Nähe und Ferne, wovon das merkwürdige Benehmen der Zeit zwischen dem Ersten und dem Folgenden zeugt. Einerseits liegt ein „unermeßlicher Zeitraum“¹¹¹ zwischen dem natürlichen und dem bürgerlichen Zustand, andererseits handelt sich bei dem gesamten Zweiten Diskurs „um die Kennzeichnung des Augenblicks im Verlauf der Entwicklung der Dinge, in dem das Recht die Gewalt ablöste und mithin die Natur dem Gesetz unterworfen wurde“.¹¹² Assmann machte darauf aufmerksam, dass „Orientierung in der Zeit“ und historische Forschung zwei sehr verschiedene Dinge sind.¹¹³ In Rousseaus Anfang ist sogar der zeitliche Rahmen flüssig, Jahrtausende und ein Augenblick fallen zusammen. Das liegt daran, dass die Spekulation mit keinem historischen Ort oder Zeitpunkt verbunden ist. Sie ist die Antwort auf die
107 Brief von J. J. Rousseau an Herrn Philopolis; in: Rousseau 2008, 465. 108 Herb 1989, 85. 109 Kersting 2002, 20. 110 Goldschmidt 1974. 111 Discours sur l’inégalité, Zweiter Teil; vgl. Rousseau 2008, 265. 112 Ebd., Exordium, 69. 113 Assmann 2003, 7.
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Frage nach einem Zustand, „der nicht mehr existiert, der vielleicht nie existiert hat, der wahrscheinlich niemals existieren wird“.¹¹⁴ Rousseau postulierte „hypothetische und bedingungsweise geltende Schlußfolgerungen, mehr dazu geeignet, die Natur der Dinge zu erhellen, als deren wahrhaften Ursprung zu zeigen“.¹¹⁵ Strauss und anschließend Meier argumentierten, dass sich diese Aussage Rousseaus auf die biblische Wahrheit bezog, vor deren Hintergrund er „hypothetische“ Schlussfolgerungen gezogen habe, als Absicherung gegenüber Kirche und Zensur.¹¹⁶ Tatsächlich, so Strauss, sei die Rousseausche Methode „ein spezifisch ,wissenschaftliches’ Vorgehen“¹¹⁷ gewesen. Ich stimme Strauss insoweit zu, als Rousseaus Spekulation auf den Naturzustand nicht „nach dem Muster des Phantasierens“¹¹⁸ gebildet ist, im Sinne einer frei erdachten, nur individuell erschließbaren Tagträumerei. Das „wissenschaftliche“ Vorgehen ist aber keines der Feststellung von Fakten, sondern Spekulation in ihrer philosophischen Bedeutung. Rousseau insistierte darauf, dass der anfängliche Naturzustand auch bei den sogenannten „Wilden“ der Reisebeschreibungen längst verloren gegangen ist und damit kein Objekt beobachtender Untersuchung vorliegt. Er konnte nur auf ihn schließen. Dabei war die Schlussfolgerung nicht zufällig erdichtet oder beliebig gewählt. Von der Spekulation her stellt sich Natur dar als „das eigentümliche Wesen, das wahrhaft Bleibende und Substantielle bei der Mannigfaltigkeit und Zufälligkeit des Erscheinens und der vorübergehenden Äußerung der Begriff der Sache, das in ihr selbst Allgemeine.“¹¹⁹ Sie bildete als Allgemeines die Bedingung der Möglichkeit des politischen Subjekts, des moi commune. Aus Individuen bestehend, die qua Vertrag den politischen Körper herstellen, dachte Rousseau das gemeinschaftliche Ich als wieder auflösbar. Der Anfang des Staates liegt damit in den individuellen Einzelnen, aber nicht als Trieb, nicht als primäre Gesellschaftlichkeit oder Soziabilität, sondern als Subjektivität, Fähigkeit zur Selbstbestimmung, Autonomie und Unabhängigkeit. Die beiden Teile des Zweiten Diskurses entsprechen den zwei Hälften eines Widerspruchs, der im Denken des Anfangs entsteht. In seiner Kritik der reinen Vernunft entfaltete Kant diesen Widerspruch im Antinomienkapitel: Entweder nimmt
114 Discours sur l’inégalité, Vorwort; vgl. Rousseau 2008, 47. 115 Ebd., Exordium, 71. 116 Strauss 1977, 278, Fn. 32. 117 Ebd., 280. 118 Starobinski entdeckt eine Ähnlichkeit zwischen dem Gebrauch der Einbildungskraft in der Charakterisierung des Naturzustandes und den autobiographischen Schriften Rousseaus, nicht zuletzt den Rêveries du promeneur solitaire (posthum publiziert 1782): „Die Analogie ist so auffallend, daß man sich fragen kann, ob das Bild des Naturzustandes nicht nach dem Muster des Phantasierens geformt wurde und dessen nach rückwärts projizierte märchenhafte Erweiterung ist“ (Starobinski [1961] 1989, 101. Hervorhebung im Original). 119 Hegel, Wissenschaft der Logik; vgl. Hegel 1986, 26. Hervorhebung im Original.
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man „in der Reihe der Naturursachen einen ersten Anfang aus Freiheit an“,¹²⁰ einen Moment „absoluter Spontaneität“,¹²¹ oder, so lautet die Antithese, „es ist kein Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur“.¹²² Entweder es ist ein aus Freiheit gesetzter und Freiheit ermöglichender, spekulativer Anfang oder es ist ein Anfang, der lediglich einen Punkt auf der naturkausalen Kette bildet. Kant beschrieb die Antinomie von Freiheit und Naturkausalität bekanntlich als unauflöslich, die Vernunft habe das Bedürfnis nach beiden Positionen, sie habe ein „Interesse bei diesem ihrem Widerstreite“,¹²³ am Pingpong-Spiel zwischen Setzung und Ereigniskette. Man kann sagen, dass das Denken Rousseaus ihr tatsächlich nicht entkommen ist, denn er nimmt sowohl einen logischen Anfang an als auch einen chronologischen, eine Schlussfolgerung auf den Naturzustand als Natur der Sache und einen Naturzustand als Folge vorangegangener Ursachen. Die Menschen waren entweder immer schon das, was sie erst werden (haben im Naturzustand bereits den gesellschaftlichen insofern an sich, als etwas sie zum gesellschaftlichen Zustand drängt), oder sie werden ohne Geschichte, ohne Entwicklung. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten besteht ein Abgrund in Form und Zeit. Wirft man einen Blick auf die Auflösung der Kantschen Antinomie durch Hegel, ergibt sich eine erstaunliche Einsicht. Der Unterschied zwischen diesen beiden Möglichkeiten des Anfangs, so Hegel in der Wissenschaft der Logik, existiert und existiert nicht. Entweder war etwas oder es war nichts. Entscheidend sei aber die Bewegung des Übergangs von einem zum anderen, das Werden, das zugleich „haltungslose Unruhe“ und „ruhige Einheit“¹²⁴ ist. Um zu beschreiben, was ein Anfang ist, postulierte Hegel einen widersprüchlichen Satz: Sein und Nichts sind dasselbe. Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe. Was die Wahrheit ist, ist weder das Sein noch das Nichts, sondern daß das Sein in Nichts und das Nichts in Sein – nicht übergeht, sondern übergegangen ist. Aber ebensosehr ist die Wahrheit nicht ihre Ununterschiedenheit, sondern daß sie nicht dasselbe, daß sie absolut unterschieden, aber ebenso ungetrennt und untrennbar sind und unmittelbar jedes in seinem Gegenteil verschwindet. Ihre Wahrheit ist also diese Bewegung des unmittelbaren Verschwindens des einen in dem anderen: das Werden; eine Bewegung, worin beide unterschieden sind, aber durch einen Unterschied, der sich ebenso unmittelbar aufgelöst hat.¹²⁵
Der Unterschied zwischen den beiden Anfangsmöglichkeiten – entfaltet als Spekulation und auserzählte Geschichte – ist nötig, aber nur um sich aufzulösen. Der
120 Kant, Kritik der reinen Vernunft; vgl. Kant 1998, 554 (A 451/B 479). 121 Ebd., 550 (A 447/B 475). 122 Ebd., 549 (A 445/B 473). 123 Ebd., 565 (A 462/B 490). 124 Hegel, Wissenschaft der Logik; vgl. Hegel 1986, 113. 125 Ebd., 83. Hervorhebungen kursiv im Original, in Fettdruck KK.
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Anfang, betrachtet als Bewegung der beiden Pole, ist immer bereits geschehen. Hegel benutzte die zeitliche Form des Perfekt, die eine in der Vergangenheit abgeschlossene Handlung anzeigt, deren Folgen anhalten. Der Anfang ergibt sich nur im Nachhinein.
Schluss: Anfang, nicht Ursprung Der Naturzustand, wie Rousseau ihn fasste, hat eine ganz andere Bedeutung als die gegenwärtige Natur, die Gegenstand von Kritik ist. Die Natur des Menschen ist bei Rousseau wesentlich „anti-essentialistisch“¹²⁶ gefasst, es handelt sich – in Abwandlung eines auf Kant und Fichte gemünzten Wortes von Ernst Bloch – um eine „Natur ohne Natur“. Rousseau hat die Menschen auf eine Natur festgelegt, nach der sie sich Freiheit verschaffen müssen. Sein Beharren auf dem solitären Einzelwesen rückte das Individuum ins Zentrum und seine Fähigkeit sich selbst zu erschaffen. Seit diesem Entwurf im 18. Jahrhundert hat die Natur gewaltige Wandlungen erfahren. Im modernen Denken, stellte etwa Foucault in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fest, ist das Individuum aus dem Anfang verschwunden, es ist „ein solcher Ursprung nicht mehr feststellbar: man hat gesehen, wie die Arbeit, das Leben, die Sprache ihre eigene Historizität angenommen haben“.¹²⁷ Nicht nur die Einheit dessen, was beginnt, hat sich verändert. Der Sprung in die Geschichte ist abhandengekommen, der leere Raum zwischen Spekulation und Erzählung hat sich geschlossen. Hannah Arendt stellte fest: Der Begriff des Naturzustandes weist zumindest auf Realitäten hin, welche der Entwicklungsbegriff des neunzehnten Jahrhunderts auf keine Weise begreifen kann, ob er nun den historischen Prozeß in der Kategorie der Kausalität oder der Aktualisierung von Möglichkeiten oder als eine dialektische Bewegung oder auch nur als einen in sich stimmigen Folgezusammenhang denkt. Denn die Hypothese eines Naturzustandes impliziert, daß es so etwas gibt wie einen Anfang, der als solcher von allem, was nach ihm kommt, wie durch einen Abgrund getrennt ist.¹²⁸
Für die Naturzustandstheorien war es „von geringer Bedeutung, ob dieses Entstehen als fiktiv oder real betrachtet wurde, ob es den Wert einer explikativen Hypothese oder eines historischen Ereignisses hatte“.¹²⁹ Dass der Anfang oder Ursprung keiner ist, braucht man Rousseau nicht nachzuweisen,¹³⁰ denn das war ihm selbst bewusst. Mit der Monopolisierung des Denkens von Natur durch die aufkommende Biologie am Ende des 18. Jahrhunderts wurde begonnen, Wissenschaft und Spekulation,
126 Taureck 2012, 42. 127 Foucault 1974, 397. 128 Arendt 1963, 21. 129 Foucault 1974, 397. 130 Vgl. etwa Einspahr 2010.
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Denken von Naturkausalität und Freiheit, scharf auseinanderzuhalten. Die Spekulation geriet unter Druck: „Tout question sur la nature de l’homme doit se résoudre par l’histoire.“¹³¹ Der Philosoph, der nur aus Vernunftgründen, spekulativen Schlussfolgerungen beweisen will, was der Mensch sein soll, erklärte der RousseauGegner und Aufklärungskritiker Joseph de Maistre, verdiene es nicht angehört zu werden. Das spekulative Moment der Natur, das über die Anschauung hinausgeht, erlaubte ihre revolutionäre Rolle. Als sie diese verlor, wurde sie Teil der Behauptung von Unabänderlichem, als „Substanz und Wesen“ nicht mehr Allgemeines, sondern Erdiges. Der Naturzustand liest sich heute weniger als Beweis eines möglichen Neubeginns denn als Verklärung eines Ursprungs.¹³² Das liegt an der Geschichte von Naturzustand und Natur des Menschen im 19. und 20. Jahrhundert. Die Kategorie des Ursprungs wurde „herrschaftlich, Bestätigung dessen, der zuerst drankommt, weil er zuerst da war; des Autochthonen gegenüber dem Zugewanderten, des Sesshaften gegenüber dem Mobilen.“¹³³ Rousseau hingegen versicherte sich nicht eines Unmittelbaren, sondern machte mit den beiden Teilen des Zweiten Diskurses den Anfang als Problem transparent.
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131 „Jede Frage über die Natur des Menschen soll von der Geschichte entschieden werden.“ (de Maistre 1870, 184.) 132 Vgl. Wright 2004. 133 Adorno 1966, 156.
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Ofri Ilany
Ruins of the First World: Post-Catastrophe Scenarios of the World after the Flood in Eighteenth-Century Thought Our contemporary culture is obsessively concerned with the theme of global catastrophe and the destruction of civilization. Images of a world emptied of its inhabitants, with small groups of survivors wandering between the desolated cities and trying to rebuild civilization from scratch, appear in countless films, books and computer games. This kind of environmental apocalypticism is sometimes conceived of as a feature of the industrial and nuclear world – in which the possibility of total destruction is plausible. However, in pre-modern and early modern perceptions, history actually did include a crucial moment of global catastrophe: the biblical Flood. Throughout the early modern period, the story of the biblical Flood was a focal concern in both popular and scholarly discussions of catastrophes and their natural, social and political consequences.¹ This article explores eighteenth century descriptions of the Flood as an “end of the world” scenario, as well as accounts of how humanity emerged out of the diluvian devastation. It focuses on works of the “Universal History” genre which flourished in the eighteenth century.² Relying on works by English, French and German scholars, it surveys the ways this catastrophe has been portrayed, and the way anthropological notions have been applied to the biblical story. In addition, it argues that the representations of the period after the Flood are central for understanding the presumptions of eighteenth century anthropology, as well as the horizons of their historical conception. In spite of the considerable changes in the approach to history writing which took place during the Enlightenment, most historians who dealt with the beginning of humanity still considered the Bible the only reliable source for this period.³ Thus, the stories contained in the ten first chapters of Genesis – including the earthly Paradise, the first patriarchs and the Flood – still determined the historiographical framework of mankind’s early history. In Friedrich Schiller’s seminal lecture “What Is, and to What End do We Study, Universal History” from 1789, the German poet and thinker presented the starting point of universal historical development: The savage. “A wise hand seems to have
1 Zedelmeier 2005, 253–164. 2 On the history of this genre see: Srbik 1950, vol. I, 70–71; Engel 1959, 223–378. 3 Reill 1975, 79–81; Carhart 2007, 150–167.
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preserved these raw tribes for us down to our times”, he claims, so we can therefore “restore out of this mirror the forgotten origin of our species”. This depiction of the savage resembles many such descriptions, in diverse variations, published in the ethnographic literature of the period: Now what do these travelers tell us about these savages? They found some without any knowledge of the most indispensable skills, without iron, without the plow, some even without the possession of fire. Some still wrestled with wild beasts for food and dwelling, among many languages had been scarcely elevated from animal sounds to understandable signs. In some places, there was not even the simple bond of marriage, as yet no knowledge of property.⁴
Schiller’s description of the savage is a prime example of the late-Enlightenment’s ethnographic mindset. Viewing the project of Enlightenment as the gradual refinement of Man, Schiller portrays prehistoric man as the exact opposite: a savage creature, barely beginning its journey towards maturity. The components of this historical conception were formed in the second half of the eighteenth century, but its wholesale acceptance required overcoming several stubborn difficulties. First and foremost, this depiction stood in complete opposition to the biblical text, considered to be the exclusive historical source regarding the beginnings of human history. Fidelity to the Bible and its accounts was still wholly and prevalently accepted by the major figures of the European Republic of Letters until the early nineteenth century. Despite the disadvantages of using biblical descriptions as a true historical source, scholars considered it to be the almost exclusive documentation of the earliest days of history. Those choosing to dismiss this source, relying only on the fallacy of pure speculation, were doomed to grope their way in the darkness of ignorance. And therefore, even during the second half of the eighteenth century, when historical writing had already been constituted as an academic discipline with its own unique rules for establishing truth, all historical literature still began with the Story of Genesis. History starts its course with Adam and Eve, continues to the days of the early Patriarchs of humanity, to the Flood, and the Tower of Babel. This biblical framework of history prevented historians from sticking to the linear model of progress, whereby mankind is gradually transformed from savagery to refinement.⁵ The question arises: what manner of anthropological and historical approach was dictated by the Bible? Many studies on the Enlightenment – a period that shaped the disciplines of the social and political sciences in the modern age – do not adequately address the unstable nature of key ethnographic concepts and distinctions so commonplace in the mid-eighteenth century, such as “progress”, “barbarity”, or “the State of Nature”. In particular, not enough attention has been paid
4 Schiller 1985, 257 (cf. Schiller 1962). 5 Meek 1976; Zbinden 1996, 21–45; Pocock 2005, 99–110.
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to the clear connection between the anthropological view of the period and the biblical accounts of the beginning of history, and to the historiographical perceptions of the day. As a result, attempts of eighteenth century anthropological depictions to reconstruct the condition of early humanity in history’s first chapter are convoluted and often contradictory. On the one hand, their accounts are clear attempts to organize biblical events in a measured and continuous stream of development from crudity to civilization. However, although the idea of progress already played a part in the eighteenth century structures of experience, it was not the sole principle in the period’s historical perception. It was interwoven with more traditional accounts of degeneration and decline.⁶ The initial conditions of human existence according to Genesis are completely different from the figure of the uncultured savage. Most Early-Enlightenment writers argued that Adam had already believed in the True God, and that belief was passed directly to Noah and his sons. As Frank Manuel has shown in The Eighteenth Century Confronts the Gods, a common view was that idolatry and superstition were born at some point following the Deluge, when the sons of Noah were dispersed in different lands.⁷ Life’s hardship in the era following the Deluge, mankind’s ongoing estrangement from its ancient sources and the successive accumulation of errors having to do with the feeble human mind brought about the gradual weakening and degeneration of belief. Belief in the one True God was left intact only among the sons of Shem, even while idolatry spread among the rest of mankind. This is therefore a narrative recounting the transmission of tradition, religion, faith or ancient divine knowledge. However, unlike previous generations, eighteenth century writers treated the Mosaic history by using a new methodology: The biblical events were not interpreted symbolically, as a prefiguration of the life of Jesus, but situated in a concrete scientific context.⁸ Historians and Bible scholars made strenuous attempts to rewrite the biblical narrative in accordance with contemporaneous knowledge of natural science and social theory. At the same time, the eighteenth century saw an explosion of scientific accounts dealing with natural disasters. As noted by Mary Ashburn Miller, in those texts the divine role was reduced to a secondary one.⁹ Even the biblical Flood was analyzed as a natural occurrence.¹⁰ Many of the essays dealing with the Flood were influenced by Thomas Burnet’s Sacred Theory of the Earth from 1681, in which the physical causes of the Flood were discussed in great detail, with recourse to all available
6 Strauss 1989. 7 Manuel 1967, 128–130. 8 Sheehan 2005a, 182–223. 9 Miller 2011, 33. 10 Kempe 2003, 151–171.
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sciences.¹¹ According to Burnet, the Flood was a major cosmic event, which disfigured the pristine face of the earth, creating mountains and valleys which didn’t exist after the original creation. Hence, the earth as it is today was only the ruins of an unspoiled earth in its paradisical state. Many of those scientific accounts of the Flood also included a very detailed portrayal of the devastation caused by it. An extraordinary description of this kind was given by Henry Winder (1693–1752), a Unitarian minister from Liverpool, in his book A Critical and Chronological History of The Rise, Progress, Declension, and Revival Of Knowledge from 1745. Winder vividly describes the anguish of Noah’s family when they came out of the ark and grasped the scale of the catastrophe – [T]hey, who were the only remnant of the Millions, who possessed the Earth a Year before … had, for several years, no other persons to converse with, but themselves, who had all seen the old world and the Flood. And they could scarce have any subject to converse about, but what must revive the memory … of these past transactions …. Their daily Labours, and most common and necessary Employments, must perpetually renew both the Memory and the Mention of these great Events. ... Every Field they tilled would furnish Marks of the late general Calamity. The Bones of Men and other Animals promiscuously buried in every Furrow they turned up, must awake their Hearts to the various proper Passions and Reflexions, which the melancholy Objects required.¹²
Similar representations appeared in various works of contemporaneous scholars who tried to demonstrate the dreadful condition of the world after the Flood. In some cases, it seems that the description was influenced by reports of actual disasters that occurred at the time. However, one of the fundamental elements of those narratives is the assumption concerning the grandeur, prosperity and progress of the world which existed between the creation of the world and the Flood – sometimes called “the first world”.¹³ The Bible describes the inhabitants of the world before the Flood as people who live in cities (like the city built by Cain) and acquainted with arts and crafts like music and iron-work. And though it is unclear whether the antedeluvians could read and write, scholars held the opinion that all through the 1,600 years before the catastrophe, they did not need script in order to preserve knowledge, due to their extreme longevity.¹⁴ One writer, Samuel Shuckford, claimed that Adam, who lived for more than 900 years, instructed the next generations “in all he knew of the creation of the world”.¹⁵ According to him, “the inhabitants of this world were most sensibly
11 See for example: Rossi 1984, 33–41. 12 Winder 1756, 93–94. 13 Shuckford 1728, 26. 14 Godwin 2010, 427–447. 15 Shuckford 1728, 22.
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convinced of God’s being the creator of all things – they were almost eye-witnesses of it”. In general, the first world was depicted as a distinct phase in history, an era in which the essential relations between humans and nature were significantly different from those of post-diluvian time. Not only did those patriarchs live for many hundreds of years – the stature of their body was much larger than ours.¹⁶ God himself nurtured them and endowed them with knowledge. Consequently, most scholars agreed that mankind was increased to immense multitude before the Deluge, and the world’s population was larger than that of any time after the Flood. The Flood devastated this “first world”, changing the fundamental course of history. Thus, though historians in the eighteenth century, especially writers of “universal histories”, attempted to describe mankind’s early history in accordance with historical linearity and homogenous timeframe, it was almost impossible to apply this historical method to the period after the creation. The day after the flood can therefore be considered the zero point of history as we know it. According to Helmut Zedelmaier, the precondition for the emergence of history as a modern discipline was the exclusion of the pre-diluvian events out of its subject-matter.¹⁷ Indeed, some philosophers of the Social Contract identified the post-diluvian situation with the State of Nature, an era of savagery in which society began its gradual development of language, arts and political institutions. This primal state of crude barbarity, “childhood of humanity” could not be accommodated in the biblical description of the first human couple in paradise; but with some difficulties, it could be considered as the condition of humanity after the diluvian devastation – presuming that all knowledge and social institutions were lost in the Flood or soon after it. “The human race, almost completely engulfed by a universal flood, was once again reduced to a single family, and thus obliged to start afresh”, wrote the French economist Turgot (1751).¹⁸ Jean-Jacques Rousseau claimed in his Essai sur l’origine des langues (written in 1754) that – when they separated, the children of Noah gave up agriculture, and the common language perished together with the first society …. Scattered throughout this vast desert of a world, men relapsed into dull barbarism.¹⁹
To use Jonathan Sheehan’s definitions, this biblically-structured conceptual scheme of humanity’s progress from barbarity derived not from the the Adamic man, but from the Noahic man.²⁰ However, unlike the philosophical treatises, some of the
16 Cockburn 1750, 157. 17 Zedelmeier 2005, 253–264. 18 Turgot 2011, 351. 19 Rousseau 1990, 264. 20 Sheehan 2005b, 321–336.
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Universal Histories that were written in the same period recount a quite different story about the time after the Flood. The French historian Antoine-Yves Goguet (1716–1758) published one of the most influential schemes of Universal History at 1758, titled De l’origine des loix. The first chapter of Goguet’s history begins with “the state of mankind immediately after the Deluge”. He describes how soon after the Flood the descendants of Noah started to disperse, and reached different regions of the earth. Goguet goes on to tell that – [T]his dispersion of mankind must necessarily have considerably diminished the primitive knowledge which they had hitherto been able to preserve. All society being dissolved … they sunk in a little time into the profoundest ignorance. … we shall easily conceive how there was a time in which almost all this world was plunged into the most deplorable barbarity. Men wandered in the woods and fields without laws, without leaders, or any form of government. Their ferocity became so great, that many of them devoured each other.²¹
Goguet equates the world’s population after the Flood with the savage Indians in America, noting that “travellers inform us, that even at this day, in some parts of the world, they meet with men who are strangers to all social intercourse, of a character so cruel and ferocious that they live in perpetual war, destroying and even devouring each other”.²² However, he does not accept John Locke’s famous phrase that “in the beginning, all the world was America”.²³ Instead, he distinguishes between different nations according to their measure of preservation of primitive pre-diluvian knowledge. According to Goguet’s sketch of early history, “the most useful and necessary discoveries were never entirely lost” after the Flood.²⁴ The more refined peoples were those who managed to maintain the “precious seeds” of pre-diluvian traditions, as well as the arts and sciences. Goguet’s work had great impact on German scholars of the second half of the eighteenth century, especially the members of the historical-critical school, also known as the Göttingen School.²⁵ The most prominent among the historians in Göttingen was Johann Christoph Gatterer (1727–1799), the first person to be appointed as a professor of history in a university. One of the most interesting characteristics of Gatterer’s portrayal of the beginning of civilization is the way in which the course of history is described as a gradual recovery process of the devastated world. It can be seen already in his ghastly description of the world after the Flood:
21 Goguet 1761, 1. On Goguet see: Wolloch 2007, 429–449. 22 Ibid., 2. 23 Locke 1690, 155. 24 Goguet 1761, 3. 25 Gierl 2012, 352.
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The air, saturated with so many vapors and especially with the stench of the corpses of so many millions of humans and animals who were slain by the Flood, was not as pure and healthy as it used to be, and people could not reach the old age they previously reached. The earth was also not as fertile as before. However, the people after the Flood became familiar, alongside other plants, herbs and trees, with the vine, or rather its effect, for the first time.²⁶
According to Gatterer, “from the cities that were built before the Flood, some ruins must have been visible after the Deluge, and it was not impossible to rebuild them”.²⁷ Thus, he portrays the commencement of history as the process of recovering the pre-diluvian world. Furthermore: Whereas some scholars sketched the post-diluvian dispersion of humankind as a simple process by which Noah’s sons populated the devastated earth, Gatterer maintained that the Noahides enslaved pre-diluvian populations which survived in different parts of the world.²⁸ Thus, according to Goguet, Gatterer and others, the beginning of history was actually not conceived as beginning at point zero. More precisely, it is a process by which the remnants of the past civilizations are preserved and restituted. Society emerges from the ruins of the devastated world. Historical descriptions of “the civil society after the Flood” can be considered a genre peculiar to the seventeenth and eighteenth centuries. In earlier periods, scholars were less interested in the emergence of society; and in later periods, the story of the Flood was not taken that seriously. Indicating the beginning of history, the portrayal of the post-deluvian moment encodes within itself the formation and configuration of human society. Writing on Universal History placed different nations on different, often diverging, paths. Although the path of history is universal, humanity does not proceed along its route in unison; while the story of some nations is structured as a movement towards progress, other nations’ histories are described as a process of decline and deterioration. Thus, the picture of history produced is fragmented, with each sliver answering to its own laws. Eighteenth century scholars fluctuated between two perceptions or narratives of humanity’s early history: one depicting the Flood as a complete rupture in history, the other portraying a certain continuity between the pre-catastrophe period and the
26 Gatterer 1765, 164: “Die mit so vielen Dünsten, und zumal von dem Gestanke so vieler Millionen, durch die Sündflut getödeter Menschen und Thiere erfüllte Luft war nicht mehr so rein und gesund, als zuvor, und das menschliche Alter erreichte keine solche Anzal von Jahren, als in dem vergangenen Zeitalter. Die Fruchtbarkeit des Erdbodens scheinet durch die Sündflut auch etwas gelitten zu haben: doch lernten die Menschen nach der Sündflut, unter andern Gewächsen, Stauden und Bäumen, den Weinstock, oder vielmehr dessen Kraft, vermuthlich zum erstenmale kennen.” 27 Gatterer 1765, 164: “Von den Städten, die vor der Sündflut gebauet worden sind, müsen doch wol nach dieser Ueberschwemmung die Ruinen noch hier und da sichtbar, und zum neuen Anbau nicht ganz untauglich gewesen seyn.” 28 Gatterer 1785, 19–20.
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era starting after it. Throughout the eighteenth-century, the pre-diluvian past could not be totally excluded from history. It erupted into history, creating a complex setting for the beginning of society.
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Abbildungsverzeichnis Beitrag Alexander Kagerer Abb. 1:
Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4:
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Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10:
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Triumphzug Kaiser Maximilians I.: Abdruck bei Appelbaum, Stanley (Hrsg.) (): The Triumph of Maximilian. Woodcuts by Hans Burgkmair and Others. New York: Dover, Tafel . Gebetbuch Kaiser Friedrichs III.: ÖNB cvp , fol. r, Illuminare Jherusalem. Ehrenpforte Kaiser Maximilians I.: . August , Druck von Raphael Hofhalter, Holzschnitt koloriert, Wien, Albertina, Inv.-Nr. DG/. Wappenwand Kaiser Friedrichs III.: Abdruck bei Schauerte, Thomas (): „Heraldische Fiktion als genealogisches Argument. Anmerkungen zur Wiener Neustädter Wappenwand Friedrichs III. und zu ihrer Nachwirkung bei Maximilian“, in: Kellner, Beate/Müller, Jan-Dirk/Strohschneider, Peter (Hrsg.): Erzählen und Episteme. Literatur im . Jahrhundert. Berlin/New York: De Gruyter (= Frühe Neuzeit, ), –, Abb. . Wappenwand Kaiser Friedrichs III. (Detail): Abdruck bei Schauerte, Thomas (): „Heraldische Fiktion als genealogisches Argument. Anmerkungen zur Wiener Neustädter Wappenwand Friedrichs III. und zu ihrer Nachwirkung bei Maximilian“, in: Kellner, Beate/ Müller, Jan-Dirk/Strohschneider, Peter (Hrsg.): Erzählen und Episteme. Literatur im . Jahrhundert. Berlin/New York: De Gruyter (= Frühe Neuzeit, ), –, Abb. . Pfauenspiegel, in: Mennel, Jakob: Fürstliche Chronick genannt Kayser Maximilians Geburtsspiegel, ÖNB cvp , fol. v–r. Gründung, in: Mennel, Jakob: Kayser Maximilians besonder buch, genant der Zaiger, ÖNB cvp , fol. *r. Krönung, in: Mennel, Jakob: Kayser Maximilians besonder buch, genant der Zaiger, ÖNB cvp , fol. r. Stammbaum, in: Mennel, Jakob: Kayser Maximilians besonder buch, genant der Zaiger, ÖNB cvp , fol. v. Stammbaum Schloss Tratzberg: Hans der Maler von Ulm, Habsburger-Stammbaum (/), Ausschnitt: Erzherzog Ernst der Eiserne von Österreich mit Margarete von Pommern-Stettin und Cimburgis von Masovien. Stammbaum Schloss Tratzberg: Hans der Maler von Ulm, Habsburger-Stammbaum (/), Ausschnitt: Kaiser Friedrich III. mit Eleonore von Portugal. Stammbaum Schloss Tratzberg: Hans der Maler von Ulm, Habsburger-Stammbaum (/), Ausschnitt: Kaiser Maximilian I. mit Bianca Maria Sforza und Maria von Burgund. Stammbaum Schloss Tratzberg: Hans der Maler von Ulm, Habsburger-Stammbaum (/), Ausschnitt: König Philipp der Schöne mit Johanna von Kastilien. Francesco Mazzola, Karl V. mit Weltkugel (um Karl V.): Privatbesitz, New York; Öl auf Leinwand ( cm × , cm). Siehe auch die Kopie durch Paul Rubens, Allegorie auf Kaiser Karl V. als Weltenherrscher (um ): Residenzgalerie Salzburg. Inv. Nr. ; Öl auf Leinwand (, cm × cm). Schloss und Markt Kirchberg, in Fugger, Johann Jakob/Jäger, Clemens [Bearb.]: Oesterreichisch Ehrenwerkh. ÖNB cvp , fol. r. Jakob Mennel liest Kaiser Maximilian I. aus der Fürstlichen Chronik vor, in: Fugger, Johann Jakob/Jäger, Clemens [Bearb.]: Oesterreichisch Ehrenwerkh. ÖNB cvp , fol. r.
322 Abbildungsverzeichnis
Beitrag Christina Lechtermann Abb. 1:
Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6:
Instrument zur Vermessung ‚körperlicher‘ Modelle für die perspektivierende Darstellung. Hans Lencker: Perspectiva (/), Bl. Gii, Figur Nr . Bayerische Staatsbibliothek München, Rar. Beibd. . Skizze zur gegengesichtigen Perspektive mit rot gedruckten ‚Fluchtlinien‘. Simmerner Messkunst (), Bl. Aiiij verso. Bayerische Staatsbibliothek München, Rar. . Konstruktion eines Gewölbes mit roten Hilfslinien und (referenzlosen) Index-Buchstaben. Simmerner Messkunst (), Bl. D. Bayerische Staatsbibliothek München, Rar. . Perspektiviertes Paviment mit rot gedruckten Hilfslinien. Simmerner Messkunst (), Bl. Avi verso. Bayerische Staatsbibliothek München, Rar. . Abstrahierte Skizze eines gegengesichtigen ‚geheuses‘. Simmerner Messkunst (), Bl. Biij verso. Bayerische Staatsbibliothek München, Rar. . Fertige Szene mit gerastertem Paviment, Holzdecke und auf den Augpunkt hin ausgerichteten Objekten. Simmerner Messkunst (), Bl. Bv verso. Bayerische Staatsbibliothek München, Rar. .
Personenregister Aaron 15 Abdiel 283 Abraham 35 Adam 139, 172–173, 200, 278, 312–315 Aegidius Romanus 123–125, 130 Aeneas 84, 87–88, 99–109, 159, 170, 187 Agnes von Ungarn 149, 156 Agrippa Menenius Lanatus 57–58 Alberti, Leon Battista 204 Albertus Magnus 94–96 Albrecht I. (röm.-deutscher König) 156 Albrecht II., der Weise (Herzog von Österreich) 156 Albrecht Friedrich (Markgraf zu Brandenburg) 199 Alexander der Große 4, 9–15, 62 Alhazen 192–193 Alkmaion von Kroton 60, 64–66, 69 Amenemhet III. (Pharao) 3 Ammianus Marcellinus 3, 8 Anat 31–32 Anaxagoras 60 Anchises 100, 102, 104 Andreas III. (König von Ungarn) 149 Antenor 106 Antonius Melissa 235–236 Aqhat 32 Aristoteles 64, 67–70, 76, 80–87, 93–99, 101, 120–128, 234–244, 250–251, 253, 259 Arrian 12 Asarhaddon (assyr. König) 32, 34 Ascanius 104–105, 108 Asklepiades von Bithynien 63 Assaracus 87, 100 Assurbanipal (assyr. König) 2 Atlas 87, 100, 102 Aubrey, John 275 August der Starke (Friedrich August I. von Sachsen) 9, 12 Augustus (röm. Kaiser) 4–5, 79, 104–105, 159, 161, 163, 197 Averroes 94, 236 Avicenna 94 Ba’al 32 Bacon, Francis 1 Balduin IV. (König von Jerusalem) 18
Baldus de Ubaldis 117, 131–133 Barbaro, Daniele 194 Bartolus von Sassoferrato 99, 115–134 Basilius (König von Arkadien) 219–230 Bloch, Ernst 300, 306 Bloch, Marc 6 Bourdieu, Pierre 252 Brutus 106 Buber, Martin 1 Burnet, Thomas 313–314 Cacciaguida 104 Caelius Aurelianus 61 Caesar, Gaius Julius 4–5, 104–107, 199 Callistratus 259 Capet, Hugo 107 Cassirer, Ernst 115 Castillo de Bobadilla, Jerónimo 249, 251, 254, 257–262 Cathwulf 5, 14 Cerdán de Tallada, Tomás 256, 259–260 Charles I. (König von England) 274 Chlothar II. (König der Franken) 14 Christus 121, 139, 259, 313 Cicero 66–67, 70–71, 229 Cieza de León, Pedro 262 Cimburgis von Masovien 157 Cleophila 220, 223 Contarini, Gasparo 13, 15 Colonna 106 Córdoba, Diego de 265–266 Creusa 87, 101 Dagobert I. (König der Franken) 14 Danil 32 Dante Alighieri 75–110, 278, 281 Dardanus 87, 100, 102 David (König von Juda und Israel) 4, 8–9, 12, 35 Delila 14 Descartes, René 1, 275 Dido (Königin von Karthago) 87, 101, 103, 187 Dilthey, Wilhelm 115 Dinus Mugellanus 118, 134 Domitian (röm. Kaiser) 5, 17 Dorus 220, 231 Dürer, Albrecht 190, 194, 196, 199, 203–207
324 Personenregister
Echnaton (Pharao) 16–17 Eike von Repgow 18 Einhard 7–8, 11, 13, 15–16 Elektra 87, 102 Eleonore von Österreich 237 Eleonore von Portugal 157 Elias, Norbert 253 Elisabeth II. (Königin von England) 5 Empedocles 48 Epicharmus 48 Epimetheus 50 Erasistratos von Keos 63 Ernst der Eiserne (Erzherzog von Österreich) 156–158 Euarchus 220, 226, 228–229 Euklid 196, 207 Eva 200, 312 Faulhaber, Johann 193–196, 198 Ferdinand I. (röm. Kaiser) 151, 155, 160–161, 169 Fichte, Johann Gottlieb 306 Fonseca, Alonso de 266 Fonte, Moderata 233–244 Foucault, Michel 116, 137–139, 306 Francion 106 Franck, David 196 Franz I. (König von Frankreich) 159–160 Friedrich I., Barbarossa (röm. Kaiser) 16 Friedrich II. (röm. Kaiser) 81–83, 104 Friedrich III. (röm. Kaiser) 140–147, 156–157, 163–164, 169, 173–174 Friedrich III., der Fromme (Pfalzgraf von Simmern-Sponheim und Kurfürst) 200–201 Friedrich V. (Pfalzgraf und Kurfürst von der Pfalz) 198 Fugger 140–141, 163–171, 174–175 Fugger, Anton 164 Fugger, Georg 164 Fugger, Jakob 164, 167 Fugger, Johann Jakob 167, 169, 175 Fugger, Raimundus 165 Fugger, Ulrich 164 Fuhrmann, Valentin 194 Gadamer, Hans-Georg 115 Galen 62–63, 68, 70, 95 Galgemair, Georg 194
Gamarra, Diego de 267 Gatterer, Johann Christoph 316–317 Geometras 187 Georg Friedrich (Markgraf zu Brandenburg) 199 Gerlatz, Dietrich 190–191 Gilson, Étienne 79 Glaukon 65 Glockendon, Jörg 204, 207 Goguet, Antoine-Yves 316–317 Goliath 8–9 Gottfried von Viterbo 108 Gracián, Baltasar 250 Grandío, Alonso 267–268 Grotius, Hugo 278 Guevara, Antonio de 260, 262–263, 266 Gynecia (Königin von Arkadien) 219–230 Habermas, Jürgen 139 Haiden, Hans 196 Hans der Maler von Ulm 151, 157–158 Hatschepsut (Pharaonin) 16 Haynhofer, Philip 196 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 285, 304–306 Heinrich II. (König von Frankreich) 11 Heinrich IV. (König von Kastilien und León) 17 Heinrich VII. (röm. Kaiser) 79, 105–108 Heinrich von Veldeke 187 Hektor 106, 170 Heraclitus 47–48, 51–52, 54 Herophilos von Chalkedon 61, 63 Hippokrates / Corpus Hippocraticum 60–63, 67–70 Hobbes, Thomas 59, 273–283, 285, 290, 292–293 Homer 48, 60, 160 Horaz 160–161 Horozco, Sebastián de 261 Horus 3, 30–31 Inanna 2 Isabella von Österreich 155 Isidor von Sevilla 258–259 Isis 33 Ištar 2, 32–34 Jäger, Clemens 166–169, 174–175 Jamnitzer, Wenzel 192, 194, 196 Jeremia 1, 27, 39 JHWH (Yahweh) 26–30, 32, 35–36, 39–42, 280
Personenregister
Johann II. (Pfalzgraf und Herzog von Simmern) 200–202, 205 Johanna von Kastilien 155, 158 Johann von Luxemburg (König von Böhmen) 19, 105 Josia 26 Jupiter 161 Juvenal 86–87, 93 Kain 197, 314 Kant, Immanuel 115, 120–121, 124, 274, 283, 304–306 Kantorowicz, Ernst H. 5–6, 19, 76–78, 83, 104, 140 Karl der Große (röm. Kaiser) 5, 7–8, 11, 13–17, 108, 168, 202, 253 Karl II., der Kahle (röm. Kaiser) 7 Karl V. (als König von Spanien Karl I.) (röm. Kaiser) 11, 13, 15, 140–141, 159–163, 165, 169, 255 Kaufmann, Paul 191–192 Kilian, Lucas 191 Kleisthenes 64 Klocker, Johann 191 Konrad von Jungingen 188 Kumarbi 37 Kunz von der Rosen 172–173 Lautensack, Heinrich 194, 196 Lavinia 87–88, 101 Lencker, Hans 190–201 Leopold I. (röm. Kaiser) 174 Livius, Titus 57–59, 66, 70–71, 87 Locke, John 293, 301, 316 Ludwig IX., der Heilige (König von Frankreich) 9, 13, 107 Lukan 84 Luther, Martin 1, 38, 165, 167 Lysippos 12 Machiavelli, Niccolò 121, 250 Mahomet 121 Maistre, Joseph de 307 Manfred (König von Sizilien) 104 Margarete von Pommern-Stettin 157 Maria von Burgund 158, 163 Maria von Ungarn 155 Marinella, Lucrezia 233–245 Mascov, Gottfried 117 Mauss, Marcel 253
325
Maximilian I. (röm. Kaiser) 140–160, 163, 165, 168–175, 199, 202, 205 Maximilian II. (röm. Kaiser) 192 Mazzola, Francesco 162–163 Meder, Johann 190–191 Melanchthon, Philipp 121 Mennel, Jakob 148–154, 170–172, 175 Michelspacher, Stephan 190–194, 196–199 Milton, John 273–275, 278–283 Minturno, Antonio Sebastiano 161, 163 Mose/Moses 15, 25–26, 28, 32, 34, 36, 39–42 Münster, Sebastian 201 Musidorus 220, 224–231 Mut 34 Narām-Sīn (König von Akkad) 2 Nardi, Bruno 82, 92, 94 Nasr 31, 34 Nathan 4 Nechbet 30, 34 Nephthys 33 Nero (röm. Kaiser) 5, 10 Neuber, Ulrich 191 Niswar 31, 34 Noah 313–317 Notker der Stammler 8–9 Núñez Vela, Blasco 262 Nut 28 Orosius 87, 102 Osiris 33–34 Ott von Achterdingen 202 Ottheinrich (Pfalzgraf von Pfalz-Neuburg) 201 Ottpert (Graf von Habsburg) 148, 170 Pamela (Prinzessin von Arkadien) 219, 221, 224–226, 228–231 Panofsky, Erwin 203 Passi, Giuseppe 236, 238 Pélerin, Jean („Viator“) 204, 207 Peter von Pusika 145 Petreius, Johann 196 Petrus Alfonsi 11 Petrus de Alvernia 97–98 Peutinger, Konrad 170 Pfinzing, Paul 194, 196, 198 Philanax 221, 225, 228 Philipp I., der Schöne (König von Kastilien und León) 155–156, 158
326 Personenregister
Philipp II. (König von Spanien) 261 Philipp IV. (König von Frankreich) 107 Philipp V. (König von Frankreich) 9 Philoclea (Prinzessin von Arkadien) 219–228, 230 Philon von Alexandria 235–236 Piccolomini, Enea Silvio 141 Pineda, Juan de 259 Pippin der Jüngere (König der Franken) 8 Pirckheimer, Willibald 205 Platon 4, 47–54, 58, 62–71, 192, 221, 225–227, 237, 245 Plinius der Ältere 67, 192 Plinius der Jüngere 17 Plutarch 12 Priamos (König von Troja) 106 Prometheus 50 Protagoras 47–54 Pufendorf, Samuel 117–119, 123, 133 Puga y Rojas, Tomás de 254 Pyrocles 220–230 Ramírez de Villaescusa, Alonso 251, 254, 259 Ramses II. (Pharao) 10 Ramus, Petrus 192 Re 3 Reinhold, Erasmus 199 Reißner, Friedrich 192 Rodler, Hieronymus 201–202, 204–205 Rolletus, Johannes 117 Rosenzweig, Franz 1 Rousseau, Jean-Jacques 120–121, 285–307, 315 Rudolf I. (röm.-deutscher König) 155–156, 169 Rüxner, Georg 200, 205 Ryff, Walther 194, 196–199 Sallust 277 Salutati, Coluccio 99 Samson 14 Santa María, Juan de 258 Schiller, Friedrich 312–313 Seneca 70–71 Sethos I. (Pharao) 10, 31 Sforza, Bianca Maria 158 Shem 313 Shuckford, Samuel 314 Sidney, Philip 219–231 Sigmund der Münzreiche (Erzherzog von Österreich) 151
Sigmund von Birken 174 Sokrates 47–54, 65 Spinoza, Baruch de 280 Stabius, Johannes 145 Statius 89 Strauss, Leo 292, 295, 304, 313 Suárez de Figueroa, Cristóbal 261–262 Sueton 7 Tarabotti, Arcangela 233–245 Tasso, Torquato 236–237, 239 Tertullian 280 Tešub 37 Thomas von Aquin 97, 120, 123, 235–236 Thomas von Cantimpré 95 Thomasin von Zerklaere 188 Thomasius, Christian 122 Thutmosis III. (Pharao) 10 Tiberius (röm. Kaiser) 79 Timaios 66 Timoneda, Juan de 260 Turgot, Anne Robert Jacques 315 Tut-anch-Amun (Pharao) 10, 28, 30 Uberti 85 Ullikummi 37 Ursinus Velius, Caspar 160–161 Venus 4, 102 Vergil 87, 99–100, 102, 104, 160–161, 163, 187 Virchow, Rudolf 58–59 Visconti 85 Vitruv 192, 194, 196–197, 199 Volkmer, Tobias 194 Wasitta 37 Weber, Max 137 Wilhelm von Moerbeke 80, 94 Winder, Henri 314 Witelo 192–193 Xenophon 53, 69 Xenokrates 66 Yattupan 32 Zeus 4, 280–281 Zwentibold (König von Lotharingien) 170