Der Klang des Gulag: Musik und Musiker in den sowjetischen Zwangsarbeitslagern der 1920er- bis 1950er-Jahre 9783737002592, 9783847102595, 9783847002598


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Der Klang des Gulag: Musik und Musiker in den sowjetischen Zwangsarbeitslagern der 1920er- bis 1950er-Jahre
 9783737002592, 9783847102595, 9783847002598

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Inna Klause

Der Klang des Gulag Musik und Musiker in den sowjetischen Zwangsarbeitslagern der 1920er- bis 1950er-Jahre

Mit zahlreichen Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0259-5 ISBN 978-3-8470-0259-8 (E-Book) Zugl.: Hannover, Hochschule für Musik, Theater und Medien, Diss., 2012. Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort. Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Grigorij Pidoplicˇko: Lagernyj skripacˇ (Der Lagergeiger), Kolyma 1953, dargestellt ist der inhaftierte Geiger K. Bezkaravajnyj, Ausschnitt, Archiv von Memorial Moskau. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Ich schreibe für Menschen, denen ich glaube – für meine Zeitgenossen, für diejenigen, denen andere Menschen mit ihrem schweren Lebensweg nicht fremd sind, für diejenigen, die keine Angst haben zu wissen, die das Leben in seiner Gänze beurteilen werden, ohne nach Rechtfertigungen dafür zu suchen, was nicht zu rechtfertigen ist, für diejenigen, die ich auf meiner Wanderschaft treffe und wieder verliere. Meine Arbeit ist lediglich ein Pfad zu jenen ungezählten Gräbern. All das ist wahr, all das ist geschehen. Die Welt soll davon erfahren. *

Ausschnitte aus dem Poem Kolyma von Elena Vladimirova

* @Yid U\p cVf, [_]d p SVao – U\p b_SaV]V^^Y[_S ]_Yf, U\p cVf, [_]d ^V hdWUl \oUY

b Yf cpW[Y] WYX^V^^l] `dcV], [c_ ^V R_Ycbp X^Qcm, [c_ RdUVc bdUYcm _ WYX^Y gV\Y[_], ^V `_URYaQp _`aQSUQ^mp c_]d, hc_ _`aQSUQcm ^V\mXp, U\p cVf, [_T_ S bS_Yf b[YcQ^mpf SbcaVhQo – Y cVapo p. =_p aQR_cQ – c_\m[_ b\VU [ cV], ^VU_bhYcQ^^l] ]_TY\Q]. 3bV nc_ cQ[, SbV nc_ Rl\_. @db[QZ _R nc_] X^QVc bSVc.

Vladimirova, Elena: Kolyma. Maschinenschriftliches Manuskript (undatiert, vermutlich 1950er-Jahre). RGALI: F. 1702 (Glavnaja redakcija zˇurnala Novyj mir), op. 9, ed. 89, l. 86.

Im Gedenken an meine Großväter Edmund Klause und Theodor Wendt und an meine Großmutter Alma Klause

Inhalt

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A 1920er- und 1930er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.1 Grundlagen: Verordnete Musikausübung in den sowjetischen Haftanstalten 1918 – 1930 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgeschichte: Musikausübung in den zarischen ostrogi . . Institutionelle und rechtliche Grundlagen der Musikausübung in den Haftanstalten . . . . . . . . . . . . . Praktische Umsetzung der Vorschriften . . . . . . . . . . . Musikrepertoire und Freiräume bei der Konzertgestaltung . Institutionalisierung des verordneten Musiklebens ab 1924 . Musikkulturelle Praktiken in den Haftanstalten nach 1924 . A.2 Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.2.1 Musikausübung im ersten großen Zwangsarbeitslager : Solovki 1923 – 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . Gesang der Häftlinge im Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . Gesang der Sozialrevolutionäre . . . . . . . . . . . . Gesang der Gläubigen . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesang der Allgemeinheit der Häftlinge . . . . . . . . Das Solovezker Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Solovezker Theater vor 1929 . . . . . . . . . . . Das Solovezker Theater nach 1929 . . . . . . . . . . . ChLAM und Svoi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Konzertleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Professionelle Musiker auf den Solovki . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand und Quellenlage Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . Danksagung . . . . . . . . . . . . Hinweise zur Benutzung . . . . .

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8

Inhalt

Aleksandr Kenel’ (1898 – 1970) . . . . . . . . . . . . . »Gern hätt’ ich sie alle beim Namen genannt…« – Namentlich bekannte Musiker auf den Solovki . . . . . . . A.2.2 Musik im Dienste der Perekovka-Idee I: Beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals 1931 – 1933 (Belbaltlag) . . . . . . Historische Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . Darstellung des Belbaltlag nach außen: »erste große Schule der perekovka« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Publikation Belomorsko-Baltijskij kanal im. Stalina von 1934 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fotografien von Aleksandr Rodcˇenko . . . . . . . . . Das Theaterstück Aristokraty von Nikolaj Pogodin . . Umerziehung durch Musik. Musik im Dienste des KVO . . Belohnung durch Musikinstrumente . . . . . . . . . Musik am Arbeitsplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Poveneckaja-»Agitationsbrigade« . . . . . . . . . Andere »Agitationsbrigaden« . . . . . . . . . . . . . Diskrepanz zwischen dem Anspruch an das Repertoire und der Realität . . . . . . . . . . . . . . Selbstbestimmtes Singen im Lageralltag . . . . . . . . . . . Theater des Belbaltlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Zentrale Theater des Belbaltlag . . . . . . . . . . Andere Theater des Belbaltlag . . . . . . . . . . . . . Quellen zur Musik des Belbaltlag aus dem Archiv Sergej Alymovs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Gern hätt’ ich sie alle beim Namen genannt…« – Namentlich bekannte Musiker im Belbaltlag . . . . . . . . . A.2.3 Musik im Dienste der Perekovka-Idee II: Beim Bau des Moskau-Wolga-Kanals 1932 – 1938 (Dmitlag) . . . . . . . . Historische Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . Das offizielle Musikleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Anfänge des Musiklebens im Dmitlag . . . . . . . Die ersten »Laienkunstschauen« und die erste »Konferenz der schöpferischen Kräfte« . . . . . . . . Die »Blasmusikbrigaden« des Dmitlag . . . . . . . . Die »Laienkunstschau« 1935 . . . . . . . . . . . . . . Die Musikaktivitäten der nacmeny . . . . . . . . . . Bilanz des »Musikinspektors« nach drei Jahren Dmitlag – »Jahre in Dur« . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Musizierende Frauenzirkel: Die Frauen-»Agitationsbrigade« des Novosel’cevskij-Arbeitsabschnitts und das Frauenorchester von Tanja Sˇevljakova . . . . . . . Die Feierlichkeiten zum 100. Todestag Aleksandr Pusˇkins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Kompositionswettbewerb im Dmitlag 1936 . . . . . Die prämierten Kompositionen und ihre Urheber Wettbewerb um einen »Marsch der Kolyma« . . . Aleksandr Rozanov (1910 – 1994) . . . . . . . . . Sergej Protopopov (1893 – 1954) . . . . . . . . . . »Gern hätt’ ich sie alle beim Namen genannt…« – Namentlich bekannte Musiker im Dmitlag . . . . . . . .

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B 1940er- und 1950er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B.1 Grundlagen: Verordnete Musikausübung in den 1940er- und 1950er-Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Kulturerziehungsarbeit« im Gulag aus der Sicht des KVO GULAG und des GULAG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorschriften des KVO GULAG und des GULAG über die »Kulturerziehungsarbeit« während des Krieges . . . . . . . Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Kulturbrigaden« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Kulturerzieher« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Kulturerziehungsarbeit« aus der Sicht der Häftlinge . . . . . . . Musik während des Arbeitsappells . . . . . . . . . . . . . . »Kulturbrigaden« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musik im Radio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B.2 Fallbeispiel: Am »Pol der Grausamkeit« des Gulag. Die Kolyma und das Sevvostlag 1932 – 1957 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verordnete Musik: »Laienkunst« im Sevvostlag . . . . . . . . . . Eine kurze Geschichte der Stadt Magadan und des Sevvostlag bis 1957 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronologischer Abriss der Entwicklung der »Laienkunst« im Sevvostlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die »Kulturbrigade« des Maglag . . . . . . . . . . . . . . . Die »Kulturbrigade« der Bucht Vanino . . . . . . . . . . . . »Laienkunstschauen« im Sevvostlag . . . . . . . . . . . . . Die Theater in Magadan in den 1930er- bis 1950er-Jahren . . . . . Die ersten bekannten Musiker in Magadan . . . . . . . . .

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Inhalt

Die Anfänge des Gor’kij-Theaters . . . . . . . . . . . . . . . Erste erhaltene Konzertprogramme . . . . . . . . . . Konzertprogramme der Jahre 1939/40 . . . . . . . . . Das Magadaner Revuetheater ME˙T [Magadanskij e˙stradnyj teatr] in den Jahren 1940/41 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gor’kij-Theater während des Zweiten Weltkriegs . . . . Beschäftigung von Häftlingen und ehemaligen Häftlingen am Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontakt der inhaftierten Künstler mit Kindern der zivilen Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Henry A. Wallace besucht die Kolyma . . . . . . . . . Dem Sieg entgegen: die Saison 1944/45 . . . . . . . . . . . Leonid Varpachovskij und Giuseppe Verdis Traviata in Magadan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Musiker am Gor’kij-Theater der Nachkriegszeit . . . . . . . Das neue ME˙T . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theater als lebensrettender Ausnahmeort . . . . . . . . . . Ausblick: Das Magadaner Theater als eines von vielen im Gulag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Lagertheater von Uchta . . . . . . . . . . . . . . Das Lagertheater von Dolinka . . . . . . . . . . . . . Das Lagertheater von Vorkuta . . . . . . . . . . . . . Verflechtung der Häftlings- mit der zivilen Gesellschaft . . Aus der Sicht der zivilen Bevölkerung . . . . . . . . . Aus der Sicht der Häftlinge . . . . . . . . . . . . . . . Tourneen des Theaters im Sommer . . . . . . . . . . . . . . »Gern hätt’ ich sie alle beim Namen genannt…« – Lebenswege professioneller Musiker, die im Sevvostlag inhaftiert waren . . . . Musiker in literarischen Erinnerungen der Kolyma-Häftlinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dmitrij Gacˇev (1902 – 1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ananij Sˇvarcburg (1918 – 1974) und Aleksandr Dzygar (1916 – 2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ananij Sˇvarcburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aleksandr Dzygar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eddie Rosner (1910 – 1976) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wilhelm Otto von Draugel . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sof ’ja Gerbst (1898 – 1947) und Galina Vetrova (1918 – 2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vsevolod Zaderackij (1891 – 1953) . . . . . . . . . . . . . .

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11

Inhalt

Al’bert Kesˇe (1889 – 1961) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lev Termen (1896 – 1993) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vadim Kozin (1905 – 1994) . . . . . . . . . . . . . . . . . . C Selbstbestimmtes Musizieren der Häftlinge: die Lagerlieder . . . . Klänge und Geräusche des Gefängnisses und des Lagers . . . . . . Verordnete Stille im Gefängnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmung von Naturphänomenen im Gefängnis . . . . . Musikhören im Gefängnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sensibilisiertes Gehör auf dem Transport und im Lageralltag . Geräusche zur Strukturierung des Lageralltags . . . . . . . . . Entstehung und Rezeption der Lagerlieder im Gefängnis, auf dem Transport und im Lager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezitation und Verfassen von Gedichten als elementares Bedürfnis im Gefängnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedichte im Lager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lieder im Gefängnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lieder auf dem Transport ins Lager . . . . . . . . . . . . . . . Singen im Lager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blatnye-Lieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Typen von Gulag-Liedern . . . . . . . . . . . . Im Gulag gedichtete und komponierte Lieder . . . . . . Vaninskij port – die Gulag-Hymne . . . . . . . . . . . .

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D Aderlass des sowjetischen Musiklebens: Versuch eines Überblicks Verhaftungen unter Mitarbeitern des Bol’sˇoj-Theaters . . . . . . . Dmitrij Golovin (1894 – 1966) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Repressionen gegen Sänger anderer Musiktheater . . . . . . . . . Strafverfolgung von Instrumentalisten . . . . . . . . . . . . . . . . Nadezˇda Kravec (*1924) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vsevolod Topilin (1908 – 1970) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Genrich Nejgauz (1888 – 1964) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komponisten in Lagerhaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabelle der von Verhaftungen und Lagerhaft betroffenen Komponisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswertung der Komponistentabelle . . . . . . . . . . . . . . Zum Tode verurteilte Komponisten . . . . . . . . . . . . . . . David Gejgner (1898 – 1938) . . . . . . . . . . . . . . . . Einzelne Schicksale von Komponisten, die eine Lagerhaft verbüßen mussten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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600 600 618 618

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Inhalt

Taisija Sˇutenko (1905 – 1975) . . . . . Matvej Pavlov-Azancˇeev (1888 – 1963) Aleksandr Varlamov (1904 – 1990) . . Ausblick auf die Zeit nach der Haft . . . . . . .

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Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . Archivbestände . . . . . . . . . . . Veröffentlichte offizielle Dokumente Literatur . . . . . . . . . . . . . . . Noten . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis und Begriffserklärungen . . . . . . . . . . . § 58 des Strafgesetzbuches der RSFSR in der Fassung von 1926, kurz gefasst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karte der Tourneen des Gor’kij-Theaters auf der Kolyma im Jahr 1947 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abstract (deutsch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstract (englisch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

Miron Markovicˇ E˙tlis aus Magadan, ein ehemaliger Lagerinsasse und Mitverfasser des Buches Sovremenniki GULAGa (Die Zeitgenossen des GULAG),1 nennt die Geschichte der sowjetischen Zwangsarbeitslager eine »Tragödie ohne Katharsis«.2 Meine Auseinandersetzung mit diesem Thema bestätigt seine Aussage: Da es nach der Auflösung des GULAG3 keine staatlich eingesetzte Instanz gegeben hat, welche über die Verbrechen dieser Behörde und ihrer Angestellten Recht gesprochen hätte, ist dieser Aspekt der sowjetischen Geschichte unaufgearbeitet geblieben, geschweige denn dass die Drahtzieher des Terrors in der Regierung bestraft worden wären. Dies lässt sich nicht mehr nachholen, denn die meisten Akteure jener Geschehnisse sind bereits tot. Tengis Abuladzes Aufruf aus dem Film Pokajanie (Die Reue, 1984), die damaligen Verbrecher nicht in Frieden ruhen zu lassen, ist ungehört geblieben. Ein plakatives Zeichen dafür ist das Grab Stalins auf dem Roten Platz, auf dem sogar Blumen niedergelegt werden. Da von staatlicher Seite bislang keine nennenswerten Schritte in der Aufarbeitung des Stalinismus unternommen worden sind, kann die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, nicht hoch genug eingeschätzt werden, allen voran die internationale Gesellschaft Memorial. Vonseiten des russischen Staates gibt es, von Maßnahmen in der Regierungszeit Boris El’cins4 abgesehen, keine Unterstützung für diese Organisationen, vielmehr ist zu beobachten, dass ihnen Steine in den Weg gelegt werden, so z. B. durch das NGO-Gesetz, welches Ende des Jahres 2005 verab1 Sandler, Asir/E˙tlis, Miron: Sovremenniki GULAGa. Kniga vospominanij i razmysˇlenij, 1991. 2 In Interviews mit der Verfasserin im Juli und August 2006. 3 Der Begriff »das GULAG« in Großbuchstaben steht im Folgenden, entsprechend den Unterlagen dieser Behörde, für die Lagerhauptverwaltung [Glavnoe upravlenie ispravitel’no-trudovych lagerej i kolonij – Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager und -kolonien], der Begriff »der Gulag« bedeutet die Gesamtheit der sowjetischen Zwangsarbeitslager. 4 Z. B. finanzielle Hilfe für ehemalige Häftlinge und die Gründung eines staatlichen GulagMuseums in Moskau.

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Einleitung

schiedet wurde. Bezeichnend ist, dass die meisten Gedenkstätten für GulagOpfer in Russland von nichtstaatlichen Initiativen errichtet wurden.

Forschungsstand und Quellenlage Bis Ende der 1980er-Jahre konnten Informationen über den Gulag so gut wie ausschließlich aus Zeugnissen ehemaliger Häftlinge5 und aus Darstellungen, die hauptsächlich anhand dieser Zeugnisse einen Überblick zu geben versuchten,6 geschöpft werden, von denen die meisten im Ausland oder im Samizdat (russ. für Selbstverlag) veröffentlicht wurden. Mit der Perestroika eröffnete sich für ehemalige Häftlinge sowie für Bürgerbewegungen in Russland und anderen Sowjetrepubliken die Möglichkeit, öffentlich über die Geschichte der Lager zu sprechen und Zeugnisse darüber zusammenzutragen. Bürgerinitiativen wie Memorial, das Sacharov-Zentrum oder Vozvrasˇcˇenie (Rückkehr oder Rückgabe, unter dem Vorsitz von SemÚn Vilenskij, Moskau) sammelten mithilfe der Bevölkerung Informationen über ehemalige unschuldig verurteilte Lagerhäftlinge, Erinnerungen an die Lagerhaft und Erinnerungsstücke, um den Opfern ihre Namen zurückzugeben und das von ihnen Erlebte vor dem Vergessen zu bewahren. Diese Arbeit dauert bis in die heutige Zeit an, auch wenn inzwischen nur noch sehr wenige Zeitzeugen des Gulag leben. Durch Bemühungen dieser Initiativen haben Forscher heute die Gelegenheit, auf zahlreiche Häftlingserinnerungen und Dokumente, die hauptsächlich aus Familienbesitz stammen, zurückzugreifen. Einen großen Erkenntnisschub für die Gulag-Forschung bewirkte die Öffnung der staatlichen GULAG-Archive Anfang der 1990er-Jahre. Inzwischen sind die GULAG-Bestände bereits von zahlreichen in- und ausländischen Forschern bearbeitet worden. Dabei haben sich Untersuchungen der 1990er-Jahre vor allem auf statistische Angaben, darunter die Häftlingszahl, ihre soziale Herkunft, ihre Zusammensetzung entsprechend der Urteilsbegründung, die Haftdauer und die Sterblichkeitsrate7 sowie auf die Lagerkartografie8 konzentriert.

5 Die prominentesten Beispiele sind: Solzˇenicyn, Aleksandr : »Odin den’ Ivana Denisovicˇa«, in: Novyj mir, 1962, S. 8 – 71; Ginzburg, Evgenija: Krutoj marsˇrut, 1967; Sˇalamov, Varlam: Kolymskie rasskazy, 1978. 6 Bsp.: Mora, Sylvestre/Zwierniak, Pierre: La justice sovi¦tique, 1945; Dallin, David/Nikolaevsky, Boris: Zwangsarbeit in Sowjetrussland, 1948; Jakovlev, Boris: Koncentracionnye lageri SSSR, 1955; Barton, Paul: L’institution concentrationnaire en Russie (1930 – 1957), 1959; Solzˇenicyn, Aleksandr : Archipelag GULag. 1918 – 1956. Opyt chudozˇestvennogo issledovanija, 1973. 7 Werth, Nicolas: »Der Gulag im Prisma der Archive. Zugänge, Erkenntnisse, Ergebnisse«, in: Sapper, Manfred/Weichsel, Volker/Huterer, Andrea (Hg.): Das Lager schreiben. Varlam Sˇa-

Forschungsstand und Quellenlage

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Darauf folgte seit Ende der 1990er-Jahre eine neue Phase der Forschung, die bis heute andauert und in der versucht wird, die vielschichtige, komplexe und durch zahlreiche Phänomene gekennzeichnete Lagerwelt thematisch zu erschließen.9 Bislang wurden beispielsweise die Bedeutung der Zwangsarbeit für die sowjetische Wirtschaft10 und die Struktur des Lagersystems nebst ihren Mitarbeitern11 behandelt. Der Alltag im Gulag, zu dem auch das Musizieren dort zu zählen ist, bleibt jedoch immer noch unzureichend erforscht.12 Das Thema der vorliegenden Dissertation wurde bislang noch keiner systematischen Erforschung unterzogen. Ein wichtiger Grund dafür scheint die sowohl in Russland als auch im Ausland unter Musikwissenschaftlern13 verbreitete Meinung zu sein, Musiker seien von Verhaftungen und Lagerhaft so gut wie unberührt geblieben.14 Einige Aspekte, die für die vorliegende Untersuchung wichtig sind, waren jedoch schon Gegenstand historischer Abhandlungen. Dazu gehört die »Kulturerziehungsarbeit«, welche bislang von Viktoria Mironova15 und Felicitas Filamov und die Aufarbeitung des Gulag (= Osteuropa, 2007), S. 20; z. B.: Smirnov, Michail (Hg.): Sistema ispravitel’no-trudovych lagerej v SSSR, 1923 – 1960. Spravocˇnik, 1998. 8 Bsp.: Romanov, S.: »Archipelag GULAG. Popytka kartografirovanija«, in: Karta, 1996, S. 62 – 123. 9 Werth, »Der Gulag im Prisma der Archive«, 2007, S. 21. 10 Bsp.: Gregory, Paul/Lazarev, Valery : The Economics of Forced Labour. The Soviet Gulag, 2003; Chlevnjuk, Oleg: E˙konomika Gulaga (= Istorija stalinskogo Gulaga. Konec 1920-ch – pervaja polovina 1950-ch godov. Sobranie dokumentov v semi tomach, Bd. 3), 2004; Borodkin, Lev/Gregory, Paul (Hg.): GULAG. E˙konomika prinuditel’nogo truda, 2005. 11 Bsp.: Petrov, Nikita/Skorkin, Konstantin (Hg.): Kto rukovodil NKVD. 1934 – 1941, 1999; Petrov, Nikita (Hg.): Karatel’naja sistema. Struktura i kadry (= Istorija stalinskogo Gulaga. Konec 1920-ch – pervaja polovina 1950-ch godov. Sobranie dokumentov v semi tomach, Bd. 2), 2004. 12 Bezborodova, Irina (Hg.): Naselenie Gulaga: ˇcislennost’ i uslovija soderzˇanija (= Istorija stalinskogo Gulaga. Konec 1920-ch – pervaja polovina 1950-ch godov. Sobranie dokumentov v semi tomach, Bd. 4), 2004, S. 28; Smirnow, Michail (Hg.): Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960. Ein Handbuch, 2003, S. 9. 13 Bei der Benutzung der maskulinen Form sind stets auch Frauen gemeint. 14 Tichon Chrennikov: Biografie, 2006. Http://www.khrennikov.ru/biography/ (letzter Zugriff am 3. Februar 2009). Die hier in der russischen Version nachzulesende falsche Behauptung, kein Komponist sei von Verhaftung und Lagerhaft betroffen gewesen, hat der jahrzehntelange Vorsitzende des sowjetischen Komponistenverbands Tichon Chrennikov so oder ähnlich auch in Interviews und Reden seit der Perestroika geäußert. Bsp.: http://amorozov.ru/inviews/hrennikov_tihon/ (letzter Zugriff am 3. Februar 2009). Dadurch hat sich die nach seinem Tod in zahlreichen Nachrufen zum Ausdruck gekommene Meinung gebildet, dass Chrennikov Komponisten vor Repressionen bewahrt habe. Sie ist, wohl eher unbewusst, auch auf die Zeit vor Chrennikovs Amtseintritt im Jahr 1948 übertragen worden, sodass in Musikwissenschaftler-Kreisen in Russland bis heute die unbegründete Aussage zu hören ist, dass Musiker weniger als andere Künstler von Verhaftung und Lagerhaft betroffen waren. Vgl. Skubin, Vitalij: »Ja kljanus’: dusˇa moja cˇista«, in: Muzykal’naja zˇizn’, 1989, S. 4. 15 Mironova, Viktorija: Kul’turno-vospitatel’naja rabota v lagerjach GULAGa NKVD-MVD

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Einleitung

scher von Weikersthal16 behandelt wurde. Auch sind bereits einige Artikel und Monografien zu einzelnen inhaftierten Musikern und Komponisten erschienen17 sowie einige Monografien über Lagertheater, in denen teilweise auch die dortige Musikausübung thematisiert wird.18 Zahlreich ist bereits über Lagerfolklore publiziert worden,19 allerdings steht eine Auseinandersetzung damit aus musikwissenschaftlicher Sicht immer noch aus. Die Quellenlage für die Erforschung des gestellten Themas hat sich als sehr gut erwiesen. In Archiven der internationalen Gesellschaft Memorial in Moskau und Sankt Petersburg sowie im Verlag Vozvrasˇcˇenie (Moskau) werden zahlreiche Erinnerungen von Häftlingen in Manuskriptform aufbewahrt, in denen Musikaktivitäten erwähnt werden. Memorial Moskau verfügt über Unterlagen zu 138 Musikern, welche Repressionen erleiden mussten. Außerdem ist bereits eine unübersehbare Fülle von Häftlingserinnerungen veröffentlicht worden. Soweit möglich, wurde das Gespräch mit Überlebenden des Gulag gesucht, und es konnten 20 Interviews mit ehemaligen Häftlingen, ihren Angehörigen sowie einigen weiteren Zeitzeugen in Moskau und Magadan geführt sowie Privatarchive eingesehen werden. Dabei handelte es sich um qualitative Interviews, bei

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SSSR v 1930 – 1950-e gody (na materialach Irkutskoj oblasti) (= Dissertation), Manuskript in der Russischen Staatsbibliothek Moskau, 2004. Fischer von Weikersthal, Felicitas: Die »inhaftierte« Presse. Das Pressewesen sowjetischer Zwangsarbeitslager 1923 – 1937, 2011. Bsp.: Barsova, Inna: »Dokumente zu den Repressionen gegen Aleksandr Mosolov«, in: Geiger, Friedrich/John, Eckhard (Hg.): Musik zwischen Emigration und Stalinismus, 2004, S. 137 – 148; Barsova, Inna: »Opfer stalinistischen Terrors: Nikolaj Zˇiljaev«, in: Geiger/John (Hg.): Musik zwischen Emigration und Stalinismus, 2004, S. 149 – 157; Cejtlin, Jurij: VzlÚty i padenija velikogo trubacˇa E˙ddi Roznera, 1993; Geiger, Friedrich (Hg.): Komponisten unter Stalin. Aleksandr Veprik (1899 – 1958) und die Neue jüdische Schule, 2000; Lobanova, Marina: »Erfinder, Tschekist, Spion. Das bewegte Leben des Lew Termen«, in: Neue Zeitschrift für Musik, 1999, S. 50 – 53; Lobanova, Marina: »Individualist, Konstruktivist, Regimeopfer. Der Komponist Alexander Mosolow«, in: Das Orchester, 2001, S. 15 – 20; Mende, Wolfgang: »Zensur – Klassenkampf – Säuberung – Beugung – Strafverfolgung. Aleksandr Mosolov und Nikolaj Roslavec im repressiven Netzwerk der sowjetischen Musikpolitik«, in: Geiger/John (Hg.): Musik zwischen Emigration und Stalinismus, 2004, S. 70 – 118; Nemtsov, Jascha: »›Ich bin schon längst tot‹. Komponisten im Gulag: Vsevolod Zaderackij und Aleksandr Veprik«, in: Sapper, Manfred/Weichsel, Volker/Huterer, Andrea (Hg.): Das Lager schreiben. Varlam Sˇalamov und die Aufarbeitung des Gulag (= Osteuropa, 2007), S. 315 – 339; Zaderackij, Vsevolod: Per aspera…, 2009; Zaderackij, Vsevolod: »Poterjavsˇajasja stranica kul’tury«, in: Muzykal’naja akademija, 2005 a, S. 75 – 83; 2005 b, S. 67 – 75; 2006, S. 74 – 81. Bsp.: Kaneva, Anna: Gulagovskij teatr Uchty, 2001; Korallov, Marlen (Hg.): Teatr GULAGa. Vospominanija, ocˇerki, 1995; Kozlov, Aleksandr : Teatr na severnoj zemle, 1992; Kuziakina, Natalia: Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995; Savcˇenko, Boris: Kolymskie mizansceny, 1988. Bsp.: Dzˇekobson, Majkl/Dzˇekobson, Lidija (Jacobson, Michael/Jacobson, Lidia): Pesennyj fol’klor GULAGa kak istoricˇeskij istocˇnik, in zwei Bänden, 1998 u. 2001; Mosketti, A. K.: »Ob opyte zapisi fol’klora GULAGa«, in: Bachtin, Vladimir/Putilov, B. N. (Hg.): Fol’klor i kul’turnaja sreda GULAGa, 1994, S. 21 – 27; Sˇumeev, Lev : »Ja pomnju tot Vaninskij port…«, 1997; Zˇiganec, Fima: Blatnaja lirika (auf dem Umschlag: Blatnye pesni), 2001.

Forschungsstand und Quellenlage

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denen den Interviewpartnern viel Raum zur Gesprächsgestaltung geboten wurde. Ziel der Interviews war es, ein besseres Verständnis des Lageralltags zu erreichen, um schriftliche Quellen angemessen beurteilen zu können. Die im Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF) aufbewahrten Unterlagen der Lagerhauptverwaltung, insbesondere ihrer Abteilung für »Kulturerziehung«, geben Auskunft über die offizielle Sicht auf die Musikaktivitäten in den Lagern wieder. Einen ebenfalls umfangreichen Quellenkorpus bildet die Lagerpresse, in der immer wieder über das Musizieren im Lager berichtet wurde.20 Das Russische Staatsarchiv für Literatur und Kunst (RGALI) sowie das Glinka-Musikmuseum (GCMMK) bewahren Akten einzelner Musiker auf, welche von Verhaftung und Lagerhaft betroffen waren. Es hat sich im Laufe der Recherche frühzeitig abgezeichnet, dass ein geografischer Schwerpunkt notwendig ist, um die Fülle des vorhandenen Materials zu bewältigen. Die Wahl fiel auf die Kolyma im Fernen Osten als einen Landstrich mit dem flächenmäßig größten Lager der Sowjetunion, dem Sevvostlag. Das eigentliche Archiv des Sevvostlag war nicht auffindbar. Unterlagen zu seiner Tätigkeit konnten jedoch im Archiv des Trusts Dal’stroj, welcher dem Sevvostlag als wirtschaftliche Dachorganisation vorstand, im Staatsarchiv des Gebiets Magadan (GAMO), eingesehen werden. Ebenfalls in diesem Archiv werden Unterlagen des Magadaner Theaters aufbewahrt, in welchem zahlreiche Häftlinge beschäftigt wurden. Alle erwähnten Quellen sind im Laufe der Untersuchung berücksichtigt worden, um Eindimensionalität zu vermeiden. Die Materialsammlung konnte in Museen in Magadan, Jagodnoe und Moskau, die sich mit der Gulag-Thematik auseinandersetzen und im Abschnitt »Danksagung« weiter unten benannt werden, ergänzt werden. Ein Quellenkorpus, welcher zum tieferen Verständnis der Verurteilungspraktiken beitragen kann und eine Antwort auf die Frage, welchen Stellenwert musikimmanente Gründe bei der Verurteilung von Musikern gehabt haben, ermöglichen würde, wären Verhörprotokolle, welche jedoch nur schwer zugänglich sind. Sie können lediglich mit einer Erlaubnis des Verurteilten oder seiner Nachkommen eingesehen werden, unabhängig davon, ob der Betroffene Nachkommen gehabt hat. Dabei geben die Sicherheitsorgane vor, die Rechte der Verurteilten zu schützen. Mit einer solchen Denkweise wurde bereits Aleksandr Solzˇenicyn konfrontiert:

20 Bsp.: Perekovka (Umerziehung) aus dem Dmitlag; Soloveckie ostrova (Die Solovezker Inseln); The Gulag press: 1920 – 1937, 2000.

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Einleitung

Sogar gegen »Ivan Denisovicˇ« wandten pensionierte Geheimdienst-Mitarbeiter genau das ein: Wozu in den alten Wunden bohren bei denen, die im Lager saßen? Sozusagen: DIE sollte man schützen!21

Eine ähnliche Erfahrung musste die Verfasserin dieser Arbeit über 40 Jahre nach Solzˇenicyn im Magadaner UVD (Verwaltung für Inneres) machen, als sie um Erlaubnis bat, Akten von ehemaligen Häftlingen einzusehen. Der UVD-Mitarbeiter verteidigte seinen Standpunkt mit dem Argument, dass er das Ansehen dieser Menschen schützen wolle. Daher konnten Häftlingsakten aus dem Sevvostlag, von denen 1991 noch 500.000 Stück vorhanden waren, für diese Untersuchung nicht genutzt werden.22

Ziele Man muss so darüber [über das Geschehene] schreiben, dass das Herz stockt und die Haare zu Berge stehen.23

Diese Worte Boris Pasternaks sollte der Leser dieses Buches nicht vergessen, auch wenn sie in der folgenden wissenschaftlichen Darstellung so nicht umgesetzt werden konnten. Es sind »Berge von menschlichem Leid«24, mit denen derjenige konfrontiert wird, der sich mit dem Leben von Gulag-Häftlingen beschäftigt. Dies darf angesichts der Schilderungen des Musiklebens im Gulag nicht vergessen werden, und sie dürfen nicht zur Beschönigung des Gulag missbraucht werden. Da es sich bei dieser Arbeit um die erste umfassende Annäherung an das Thema »Musik und Musiker in den sowjetischen Zwangsarbeitslagern der 1920er- bis 1950er-Jahre« handelt, wird im Folgenden versucht, alle Aspekte dieses Themas anzusprechen: Dazu gehören rechtliche Grundlagen der Musikausübung, Formen und Kontexte des verordneten sowie des selbstbestimmten Musizierens, aber auch Schicksale von einzelnen Musikerinnen und Musikern. Die vielen Aspekte des Themas sollen weitere tiefer gehende Forschungen 21 5QWV `_ »9SQ^d 5V^Yb_SYhd« T_\dRlV `V^bY_^Val [pensionierte Geheimdienst-Mitarbeiter] Y]V^^_ S c_] Y S_XaQWQ\Y : XQhV] WV aQ^l RVaVUYcm d cVf, [c_ S \QTVaV bYUV\ ? =_\, 9F ^QU_ `_RVaVhm ! Solzˇenicyn, Archipelag GULag, Teile I – II, 1973, S. 183. 22 B. PiskarÚv, der Vorsitzende der Kommission zur Untersuchung und Beurteilung der Dal’stroj-Tätigkeit, sprach im Februar 1991 von 2.000.000 Karteikarten mit Angaben zu Häftlingen und 500.000 Akten mit vielen Millionen Dokumenten, die noch von niemandem untersucht worden seien. Vilenskij, SemÚn (Hg.): Dodnes’ tjagoteet, Bd. 2: Kolyma, 2004, S. 12 f. 23 @YbQcm _ ^V] [_ `a_Ybf_UYSiV]] ^QU_ cQ[ , hc_Rl XQ]YaQ\_ bVaUgV Y `_Ul]Q\Ybm UlR_] S_\_bl. Pasternak, Boris: Socˇinenija, Bd. 2, 1961, S. 52. 24 Worte der Sängerin Tat’jana Lesˇcˇenko. Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 581.

Ziele

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und die Begründung einer systematischen Gulag-Forschung innerhalb der Musikwissenschaft anregen. Der zeitliche Rahmen der vorliegenden Arbeit fällt mit der Bestehenszeit des sogenannten stalinistischen Gulag25 zusammen, bezieht aber auch das erste Jahrzehnt des sowjetischen Staates mit ein, weil damals die Grundlagen für die Musikausübung im Gulag gelegt wurden. Wie in der bislang umfangreichsten Dokumentensammlung zum Gulag festgestellt wurde, endete der »stalinistische Gulag« in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre, auch wenn Überbleibsel davon noch im modernen russischen Gerichts- und Strafvollzugssystem beobachtet werden können.26 Dadurch ergibt sich als zeitliche Begrenzung ein Intervall von 1917 bis in die 1950er-Jahre. Die Zwangsarbeitslager der Sowjetunion können weder gezählt noch genau kartografiert werden, weil es sich bei ihnen um flexible Gebilde handelte. Den vielen Lagerverwaltungen unterstanden unzählige Lagerpunkte, welche für längere oder kürzere Zeiträume eingerichtet werden konnten und – in Abhängigkeit von den Arbeiten, welche in ihnen ausgeführt werden mussten – mobil sein konnten. Die Vorstellung von unzähligen mobilen Lagereinheiten auf einer riesigen geografischen Fläche, über die sich die Sowjetunion erstreckte, ist sicherlich ein Merkmal des Gulag, welches dieses Lagersystem von den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten unterscheidet. Da die Haftbedingungen im Gulag vielfach von den Lagerleitern vor Ort abhängig waren und deswegen von Lager zu Lager differieren konnten, schien eine Strukturierung des Themas nach einzelnen ausgewählten Lagerkomplexen am sinnvollsten, denn die musikalische Betätigung der Häftlinge hing unmittelbar von ihrem Lageralltag ab. Durch die Schilderung der Lebensbedingungen in den Lagern soll eine Verharmlosung des Gulag-Systems verhindert werden, zu der Beschreibungen des dortigen Musiklebens missbraucht werden könnten. Es soll stets vor Augen geführt werden, dass Musizierende in den offiziell dafür vorgesehenen Kontexten in einer ständigen Ungewissheit leben mussten, weil sie jederzeit zu schwerer Arbeit abkommandiert werden konnten. In der vorliegenden Untersuchung wird folgenden Fragen zu Musik und Musikern im Gulag nachgegangen: 1. Die Gulag-Häftlinge wurden von den Machthabern vorwiegend als Arbeitskräfte angesehen, die jedoch möglichst wenig kosten sollten und deswegen 25 Vgl. den Titel der Reihe Istorija stalinskogo Gulaga. Konec 1920-ch – pervaja polovina 1950ch godov (Dokumentensammlung in sieben Bänden), 2004. 26 Bezborodova, Naselenie Gulaga: ˇcislennost’ i uslovija soderzˇanija, 2004, S. 41. Die Meinung, dass eine »bestimmte Entwicklungsperiode« der Besserungsarbeitslager in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre zu Ende gegangen ist, teilen auch Nikita Ochotin und Arsenij Roginskij in: Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 8.

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Einleitung

nicht ausreichend verpflegt wurden. Die ohnehin knapp bemessenen Lebensmittelrationen wurden dadurch minimiert, dass sowohl die Häftlinge als auch das Lagerpersonal diese entwendeten. Dasselbe galt auch für Kleidung, Schuhe und andere Dinge des täglichen Bedarfs. Die schlechte Versorgungslage führte dazu, dass sogar nach offiziellen Statistiken der Gulag-Verwaltung die Zahl der verhältnismäßig gesunden Häftlinge im Jahr 1947 nur 8 Prozent aller Lagerinsassen betrug. Die am weitesten verbreiteten Krankheiten und häufigsten Todesursachen in der gesamten Bestehenszeit des Gulag waren Dystrophie und Tuberkulose. Welchen Stellenwert konnte Musik in einer solchen Extremsituation einnehmen, in einer Welt, die von Krankheit, Tod, aufreibender Arbeit und allgegenwärtigem Hunger bestimmt war?27 Diese Frage soll beantwortet werden, indem Kontexte des Musizierens beschrieben werden. 2. Welche verschiedenen Formen des Musizierens hat es gegeben, in welchen Strukturen haben sie sich vollzogen, und welche Funktionen kamen der Musik in sowjetischen Zwangsarbeitslagern zu? Dabei werden sowohl die offiziellen Vorgaben der Lagerhauptverwaltung berücksichtigt, aber vor allem auch, wie diese vor Ort umgesetzt wurden. Es wird gezeigt, welche Beweggründe die Lagerleiter vor Ort hatten, ein Musikleben zu fördern, und welche Bedeutung Musikausübung im offiziell festgelegten Rahmen für ausführende und hörende Häftlinge hatte. Das kulturelle Handeln der Häftlinge im Alltag und seine psycho-soziale Bedeutung stehen hierbei im Vordergrund. Durch eine detaillierte Beschreibung dieses Handelns sollen bislang weitgehend unbekannte Einblicke in den Lageralltag gewonnen werden. Es ist den der Verfasserin vorliegenden Quellen geschuldet, dass in den Kapiteln A.1, A.2.2 und A.2.3 vermehrt die offizielle Sicht auf die Musikausübung, in Kapitel A.2.1 dagegen überwiegend die der Häftlinge behandelt wird. Für die Zeit nach 1941 werden beide Sichtweisen einander gegenübergestellt. Die Sicht auf die Musikausübung wird aus verschiedenen Perspektiven behandelt: der der Lagerleitung, der der Häftlinge und, soweit möglich, der der beteiligten Zivilisten, und zwar sowohl der ausführenden Musiker als auch der Zuhörer. 3. Einen großen Teil der Musik im Gulag machten nicht verordnete Musikaktivitäten aus. An erster Stelle sind hierbei Lagerlieder zu nennen, wobei hier gefragt wird, welche Rolle ihnen innerhalb der heterogenen Häftlingsgesellschaft zukam. 4. Eines der wichtigsten Ziele dieser Arbeit war die Erfassung von Musikerinnen und Musikern, die in den 1920er- bis 1950er-Jahren von Verhaftung und Lagerhaft betroffen waren. Ihre Schicksale und Erinnerungen an die Lagerhaft stehen in großen Teilen der Arbeit im Mittelpunkt. Dabei wird eine Erkenntnis aus der Forschung über nationalsozialistische Konzentrationslager umgesetzt: 27 Bezborodova, Naselenie Gulaga: ˇcislennost’ i uslovija soderzˇanija, 2004, S. 42, 44, 46 – 50.

Ziele

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[…] erst wenn es gelingt, das Stereotyp »KZ = Leichenberge« aufzubrechen und hinter den Schreckensbildern die Opfer als Subjekte, als Individuen mit unterschiedlichen Lebensgeschichten sichtbar zu machen, kann ihr Zeugnis Eingang in das Bewußtsein der Mehrheit der Bevölkerung finden.28

Die Erinnerung an die vielen Opfer des Gulag unter Musikern hat zum Ziel zu verdeutlichen, wie groß die Verluste in der sowjetischen Musikwelt waren, wie viele Musiker und Komponisten in den Lagern inhaftiert waren, um die verbreitete Meinung, dass die Musikwelt nicht wesentlich von Repressionen betroffen war, zu widerlegen. Die Meinung, es könne einen »Schonungsbefehl« für Musiker gegeben haben,29 soll mit dem in den Lagern entstandenen Eindruck der ehemaligen Insassin Ida Ziskina konfrontiert werden, welchen sie in einem Interview im Jahr 1985 äußerte: Es entstand der Eindruck, das Regime habe dafür gesorgt, dass sich gerade in den Lagern möglichst viele begabte Maler, Musiker und Sänger versammelten.30

Im Abschnitt A werden im Anschluss an die drei Fallbeispiele Namenslisten angefügt, in denen die in den entsprechenden Lagern inhaftiert gewesenen Musiker, denen die Autorin bei ihrer Recherche begegnet ist, verzeichnet werden. Dieses Prinzip wurde im Abschnitt B nicht weiter verfolgt, sondern bezüglich des Sevvostlag durch ein Kapitel mit einer ausführlichen Beschreibung von Schicksalen ausgewählter Musiker ersetzt, um zu zeigen, dass hinter jedem Namen in den Listen ein individueller Lebenslauf steht, welchen es zu untersuchen gilt. Einzelne inhaftierte Musiker betreffend, wird hier der Frage nachgegangen, welche Auswirkungen die Haft auf ihren Werdegang hatte. Folgende Definitionen der Häftlingsgruppen liegen dieser Untersuchung zugrunde: Unter Berufsverbrechern werden solche Häftlinge verstanden, die sich bewusst für ein kriminelles Leben entschieden hatten und in feste kriminelle Strukturen eingebunden waren. Im Russischen werden sie als blatnye, urki oder vory bezeichnet. Der Begriff »politische Häftlinge« entspricht nicht der in Europa gängigen Vorstellung. Politische Häftlinge im Sinne von Oppositionellen hat es in der Sowjetunion in den 1920er-Jahren zwar gegeben, sie stellten aber nur einen sehr kleinen Teil der Gulag-Bevölkerung dar, weil nur wenige der Sowjetregierung feindlich gesinnte Kräfte die 1920er-Jahre überlebt haben. 28 Distel, Barbara: »Das Zeugnis der Zurückgekehrten. Zur konfliktreichen Beziehung zwischen KZ-Überlebenden und Nachkriegsöffentlichkeit«, in: Dieckmann, Christoph/Herbert, Ulrich/Orth, Karin (Hg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Bd. 1, 1998, S. 15. 29 Mende, »Zensur – Klassenkampf – Säuberung – Beugung – Strafverfolgung«, 2004, S. 114. 30 B[\QUlSQ\_bm S`VhQc\V^YV, hc_ aVWY] `_XQR_cY\bp, hc_Rl [Q[ ]_W^_ R_\miV cQ\Q^c\YSlf fdU_W^Y[_S, ]dXl[Q^c_S Y `VSg_S b_RaQ\_bm Y]V^^_ S \QTVapf. Kuricyn, Boris: Nevydumannye istorii iz zˇizni Leonida Varpachovskogo, 2003, S. 42.

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Einleitung

Solche Häftlinge, die in Russland als politische Häftlinge bezeichnet werden, waren nach § 58 des Strafgesetzbuches der RSFSR verurteilt, in dem Strafen für »konterrevolutionäre Tätigkeiten« festgelegt waren. In Wirklichkeit bestand in den wenigsten Fällen ein realer Grund für ihre Verurteilung, die Angeklagten waren meist unschuldig und dem Staat gegenüber loyal eingestellt, wurden aber trotzdem verurteilt. Deswegen wird im Text oftmals auch von Nichtkriminellen gesprochen, um diese Häftlingsgruppe zu benennen und von Kriminellen abzugrenzen. Unter ziviler Bevölkerung oder Zivilisten werden nicht inhaftierte Menschen verstanden.31 Durch die Erforschung des Dissertationsgegenstandes sollen Erkenntnisse gewonnen werden, die sowohl zum besseren Verstehen des Phänomens Gulag als auch der sowjetischen Musikgeschichte beitragen sollen. Denn, so ist es die feste Überzeugung der Autorin, nur durch das Zusammenfügen von Untersuchungen zu möglichst vielen Facetten des Gulag kann ein besseres Verständnis dieses Systems erreicht werden. Die Musikgeschichte der Sowjetunion betreffend, sollen Musiker und Komponisten, deren Laufbahn durch eine Verhaftung und Lagerhaft unterbrochen wurde, samt ihren Werken und ihrem kulturellen Handeln der Musikgeschichtsschreibung zugeführt werden. Schließlich enthält die Dissertation eine musikpsychologische und -soziologische Dimension, indem sie die Rolle der Musik in einer Extremsituation beschreibt: in den sowjetischen Zwangsarbeitslagern.

Danksagung Den Anstoß dazu, sich mit Musik und Musikern im Gulag zu beschäftigen, erhielt die Autorin auf einer Reise nach Magadan im Fernen Osten Russlands im Jahre 2004, auf der sie Informationen über den Komponisten Vladislav ZolotarÚv recherchierte. Während der Arbeit in der Pusˇkin-Bibliothek dieser Stadt wurde sie auf die Ausstellung Prosˇcˇeniju ne podlezˇit (Dies darf nicht vergeben werden) aufmerksam, welche Schicksale von Opfern staatlicher Repressionen unter Stalin thematisierte, die ihre Haftstrafe auf der Kolyma verbüßen mussten. Dazu gehörten auch einige Musiker, wodurch der Autorin ein Forschungsdesiderat in der Musikwissenschaft bewusst wurde, welches Musiker im Gulag betraf. Für diese Erkenntnis ist sie den Mitarbeitern der Pusˇkin-Bibliothek, welche die

31 Auf Anregung des Kolloquiums zur Zeitgeschichte der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld wurde der ursprünglich verwendete Begriff »Zivilbevölkerung« für diese Gruppe durch »zivile Bevölkerung« ersetzt, um eine Assoziation mit dem Begriff »Zivilgesellschaft« zu vermeiden.

Danksagung

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damalige Ausstellung vorbereitet haben, sehr dankbar. Ohne sie hätte es diese Arbeit vermutlich nicht gegeben. Als die Autorin im Jahr 2006 erneut nach Magadan zurückkehrte, um für diese Arbeit zu recherchieren, war die erwähnte Ausstellung zwar nicht mehr zu sehen,32 aber die Verfasserin konnte von über 130.000 Eintragungen im regionalen Zettelkatalog der Pusˇkin-Bibliothek profitieren, die systematisch geordnet waren und den Weg zu unzähligen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln gewiesen haben, die für das Thema dieser Abhandlung relevant waren. Dafür, sowie für die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, welche die Verfasserin dort zwei Monate lang erfahren hat, dankt sie den Mitarbeitern dieser Bibliothek ganz herzlich. Des Weiteren dankt sie einem Menschen, den sie leider nicht kennenlernen konnte, weil er wenige Monate vor ihrem Eintreffen in Magadan verstorben ist. Hierbei handelt es sich um den Historiker Aleksandr Kozlov, der in Magadan lebte und durch viele Archiv-Recherchen und Artikel dazu beigetragen hat, dass diese Arbeit in denjenigen Teilen, die sich auf Magadan beziehen, über viele Ereignisse und Personen detailliert berichten kann. Der Leser kann sich durch einen Blick in das Literaturverzeichnis leicht davon überzeugen, wie wichtig die Artikel und Bücher Aleksandr Kozlovs für diese Arbeit waren. Danken möchte die Autorin auch den Mitarbeitern im Staatsarchiv des Gebiets Magadan (GAMO) für ihr Entgegenkommen bei der Arbeit mit Dokumenten des Magadaner Theaters und des Trusts Dal’stroj, die großen Teilen der vorliegenden Abhandlung zugrunde liegen. Weitere Institutionen, denen ein herzlicher Dank gilt, sind die Archive der Gesellschaft Memorial sowohl in Moskau als auch in Sankt Petersburg, das Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF) in Moskau, das Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums in Moskau, das Russische Staatsarchiv für Literatur und Kunst (RGALI) in Moskau, die Russische Staatsbibliothek in Moskau, die Historische Bibliothek in Moskau, die Bibliothek des Instituts für wissenschaftliche Information in den Geisteswissenschaften (INION RAN) in Moskau, die Auslandsabteilung der Universität SMU in Magadan, das Heimatkundemuseum in Magadan, die Bibliothek des Theaters in Magadan, das Museum zum Gedenken an die Opfer politischer Repressionen von Ivan Panikarov in Jagodnoe, das Vadim Kozin-Museum in Magadan, das Staatliche Museum für Gulag-Geschichte in Moskau, der Föderative Sicherheitsdienst (FSB) in Moskau und die Verwaltung für Inneres (UVD) in Magadan. Eine große Hilfe boten die von Memorial und dem SacharovZentrum im Internet zur Verfügung gestellten Datenbanken, die unter http://

32 Die dort ausgestellten Informationen werden nun in der Mappe Uzniki kolymskich lagerej. Kratkie biografii (Gefangene der Kolymsker Lager. Kurze Biografien), zusammengestellt von L. Ron’zˇina (Magadan, 1996), aufbewahrt.

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Einleitung

memo.ru/, http://www.gulag.memorial.de/, http://gulagmuseum.org/start.do und http://www.sakharov-center.ru/museum/ zu finden sind. Besonders wertvoll waren für die Verfasserin Gespräche mit Zeitzeugen, ihren Verwandten und Bekannten, die sie sowohl in Magadan als auch in Moskau sowie in Heidelberg führen durfte. Für ihre Gastfreundschaft, ihr Vertrauen und die Einblicke in ihre Schicksale sei von Herzen folgenden Personen gedankt: Svetlana Arkad’evna Aleksandrova, Bronislava N. (aus Rücksicht auf den Wunsch der Zeitzeugin wird ihr vollständiger Name nicht genannt), Evgenija Aleksandrovna Badova, Marina Bojko, Marija Frulovna Dobrinskaja, Miron Markovicˇ E˙tlis, Jurij L’vovicˇ Fidel’gol’c, Lidija Nikolaevna Jagunova, Marija Aleksandrovna Kobeleva, Gedeon Ambrozievicˇ Kvantaliani, Antonina Charitonovna Novossad, Valentina Popova, Ol’ga Jakovlevna Sedleckaja, Lazar’ Veniaminovicˇ Sˇeresˇevskij (†), Tamara Michajlovna Sergeeva, Elena Jur’evna Tajnickaja, Anna Varpakhovskaya, SemÚn Samuilovicˇ Vilenskij, Evgenija Antonovna Volosˇina, Vsevolod Vsevolodovicˇ Zaderackij. Es wäre nicht möglich gewesen, diese Arbeit ohne großzügige finanzielle Unterstützung zu realisieren, weil für die Recherche lange Auslandsaufenthalte in Russland notwendig waren. Die Recherche in Russland fand in den Jahren 2006 – 2011 statt und dauerte insgesamt 17 Monate, davon zwei in der 9.500 km östlich von Moskau gelegenen Stadt Magadan. Ein überaus großer Dank für das Ermöglichen der Recherchen gilt dem DAAD, dem Deutschen Historischen Institut Moskau, der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Gundlach-Stiftung (Hannover). Der FAZIT-Stiftung sei für die finanzielle Unterstützung während der Auswertung der Materialien gedankt. Die Verfasserin dankt auch den zahlreichen Menschen, die immer wieder Interesse an ihren Forschungen bekundet und durch Gespräche, Diskussionen und Zuspruch zum Abschluss der Arbeit beigetragen haben. Stellvertretend seien hier die Betreuer dieser Untersuchung, Prof. Dr. Stefan Weiss und Prof. Dr. Arnfried Edler, der Komponist Kurt Hopstein (†), sowie Verwandte und Freunde genannt. Allen voran dankt die Verfasserin ihrer Mutter Tabea Klause, ohne deren unermessliche Unterstützung es diese Arbeit nicht gegeben hätte. Ihrem Lebensgefährten Stefan Langer dankt sie für sein großes Verständnis, das er ihrer Arbeit stets entgegengebracht hat. Darüber hinaus geht der Dank an das musikwissenschaftliche Doktorandenkolloquium der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, das Forschungszentrum Musik und Gender der HMTM Hannover, das Kolloquium zur Zeitgeschichte der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld, das Seminar für Osteuropäische Geschichte in Zusammenarbeit mit dem Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Heidelberg und dem Ost-West-Club in Heidelberg, das Musikwissenschaftliche Seminar der Universität Göttingen, das Kolloquium zur Osteuropäischen Ge-

Hinweise zur Benutzung

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schichte der Universität Göttingen sowie das Kolloquium des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin für die Einladungen, die zu Vorträgen über einzelne Aspekte des Themas und zu fruchtbaren Diskussionen geführt haben. Dem Schroubek-Fonds Östliches Europa an der Ludwig-Maximilians-Universität München dankt die Autorin herzlich für die Anerkennung ihrer Arbeit durch die Verleihung des Georg R. Schroubek Dissertationspreises 2013.

Hinweise zur Benutzung Inhaftierte Musiker werden bei der ersten Nennung im Text durch Kapitälchen gekennzeichnet. Namen von Ortschaften auf der Kolyma, die auf der im Anhang abgedruckten Karte verzeichnet sind, sind im Text mit in Klammern beigegebenen Ziffern versehen, welche auf der Karte wiederzufinden sind. Alle Übersetzungen der Zitate stammen, soweit im Text nicht anders vermerkt, von der Verfasserin. Mehrfach wird im Text auf Tonbeispiele verwiesen, die auf der Homepage http://www.sovmusic.ru gehört werden können. Die Autorin distanziert sich ausdrücklich von den auf dieser Homepage vermittelten ideologischen Inhalten und empfiehlt sie lediglich wegen der Fülle an gesammelten Tonbeispielen.

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1920er- und 1930er-Jahre

A.1

Grundlagen: Verordnete Musikausübung in den sowjetischen Haftanstalten 1918 – 1930 Die Kommunistische Partei Russlands muss danach streben, das Strafensystem endgültig durch einen Katalog von Erziehungsmaßnahmen zu ersetzen.33 Aus dem Programm der Kommunistischen Partei Russlands von 1919

Das folgende Kapitel dient der Darstellung der institutionellen und rechtlichen Grundlagen der »Kulturerziehungsarbeit« im Gulag sowie der Betrachtung des in der Anfangszeit der Sowjetunion in den Haftanstalten erklungenen Musikrepertoires. Als Hinführung zum Thema wird die Musikausübung in den zarischen Zwangsarbeitslagern betrachtet, weil zwischen ihr und dem Musikleben im Gulag Kontinuitäten festgestellt werden können. Vorgeschichte: Musikausübung in den zarischen ostrogi Markus Ackeret hat in seiner Untersuchung über die Welt der Katorga (russ. für Zwangsarbeit) von 1861 bis 1917 gezeigt, dass sowohl in den ostrogi (den zarischen Straflagern) als auch in den Gefängnissen der Zarenzeit kulturelle Aktivitäten stattgefunden haben. Diese können als Ursprünge der Kulturaktivitäten in den bolschewistischen Lagern angesehen werden, weil eine Reihe von politischen Häftlingen der Zarenzeit im neuen Sowjetstaat in gesetzgebenden Institutionen tätig wurde. Deswegen sollen sie hier kurz umrissen werden. Ein großes Problem in dem von Ackeret untersuchten Zeitraum war, dass 33 A;@ […] U_\W^Q bcaV]Ycmbp [ c_]d, […] hc_Rl bYbcV]Q ^Q[QXQ^YZ Rl\Q _[_^hQcV\m^_ XQ]V^V^Q bYbcV]_Z ]Va S_b`YcQcV\m^_T_ fQaQ[cVaQ. »Programma Rossijskoj kommunisticˇeskoj partii (bol’sˇevikov)«, in: Gorev, V. K. (Hg.): Chrestomatija po istorii KPSS, Bd. 2, 1989, S. 326.

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Arbeitsmöglichkeiten für die zur Zwangsarbeit Verurteilten fehlten. Dadurch kam es aus Eigeninitiative der Häftlinge zu Aktivitäten, zu denen Lesen, Diskutieren, Lernen und Lehren in verschiedenen Fächern, Singen, Theaterspiel u. a. gehörte. Ackeret sieht in diesen Aktivitäten Freiräume der Häftlinge im Zarenreich.34 Auch hat es Alphabetisierungsangebote der politischen Häftlinge für Kriminelle und Gelegenheitsverbrecher gegeben, welche Bildungsmaßnahmen in bolschewistischen Haftanstalten vorweggenommen haben.35 Ackeret erwähnt in seinen Ausführungen einen Chor der politischen Häftlinge, ein kleines Orchester, in dem von Häftlingen gebaute Balalaikas und Mandolinen gespielt wurden, sowie ein Streichorchester, welches auch von der zivilen Bevölkerung gern gehört wurde. Zu den Theatervorführungen der Häftlinge soll die zivile Bevölkerung teilweise aus bis zu 200 km Entfernung angereist sein. Dadurch kam es zur Verflechtung der Häftlingsgesellschaft mit der zivilen Bevölkerung, welche später eine Fortsetzung unter den Bedingungen des Gulag gefunden hat. Die zarischen Häftlinge hatten, Markus Ackeret zufolge, in der Regel keinen Kontakt mit der in der Nähe lebenden zivilen Bevölkerung. Theatervorführungen stellten jedoch eine Ausnahme dar, wobei es sogar vorkam, dass am Ende der Vorstellung Häftlinge mit der zivilen Bevölkerung tanzten. Auch hat es am Beginn des 20. Jahrhunderts in Zerentuj in der heutigen Region Transbaikalien (Zabajkal’skij kraj) eine Schule gegeben, in der Kinder der Gefängnisangestellten und der zivilen Bevölkerung von Häftlingen unterrichtet wurden.36 Dieses Phänomen fand in der Gulag-Geschichte ebenfalls eine Fortsetzung. In seinen Erinnerungen an das Theater im Gefängnis von Zerentuj schildert der ehemalige Häftling E. Michlin, dass es dort 1909 mehrere Balalaika- und Gitarren-Spieler gegeben hat. Der Gitarrist Mysenko sei ein so großer Liebhaber der Gitarre gewesen, dass er sogar in der Isolierzelle aus einem kleinen Brett und Garn ein Instrument gebastelt hat, welches er leise spielte, obwohl er dafür hart bestraft werden konnte.37 Diese Darstellung zeigt, dass Musikausübung für einzelne Individuen von solcher Wichtigkeit war, dass sie dafür ihr durch die Haft bereits beeinträchtigtes Wohl noch weiter aufs Spiel setzten. Eindrucksvoll schildert FÚdor Dostoevskij im letzten Kapitel des ersten Teils 34 Ackeret, Markus: In der Welt der Katorga. Die Zwangsarbeitsstrafe für politische Delinquenten im ausgehenden Zarenreich (Ostsibirien und Sachalin), 2007, S. 102 f. In dieser im Hinblick auf das Leben der Häftlinge im Zarenreich sehr hilfreichen Arbeit kommt der Autor in Fußnote 572 zu einem einseitigen, undifferenzierten und vorschnellen Urteil über die »Kulturerziehungsarbeit« im Gulag. 35 Ackeret, In der Welt der Katorga, 2007, S. 109. 36 Ackeret, In der Welt der Katorga, 2007, S. 114 f. 37 Michlin, E.: »Teatr v Zerentujskoj tjur’me«, in: Murav’Úv, Vladimir (Hg.): Sred’ drugich imÚn, 1928, S. 91.

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seiner Aufzeichnungen aus einem Totenhaus eine, wie er es nennt, Theatervorführung im zarischen ostrog am 27. Dezember 1851.38 Es handelte sich dabei eher um einen bunten Abend als um eine Theatervorführung, denn die Aufführung wurde durch instrumentale Tanzweisen eröffnet, worauf das populäre Vaudeville Filatka und Miroschka, ein Auszug aus dem Theaterstück Kedril der Vielfraß sowie eine Pantomime mit Musik folgten. Dostoevskij berichtet von einem kleinen Orchester aus zwei Geigen, drei Balalaikas, zwei Gitarren und einem Tamburin; später sollen zwei Ziehharmonikas hinzugekommen sein. Am Ende des zweiten Theaterstücks erklang – so Dostoevskij – die russische volkstümliche Tanzweise Kamarinskaja und dauerte während der ganzen Pantomime an. Die Pantomime endete mit einem gemeinsamen Tanz der daran Beteiligten.39 Ein Bericht über denselben Abend ist auch in den Erinnerungen des polnischen politischen Häftlings Szymon Tokarzewski enthalten, der von 1851 bis 1857 im gleichen Omsker Straflager wie Dostoevskij inhaftiert war und darüber mehrere Bücher verfasst hat. Er widmete dem Theaterabend ein Kapitel in seinen Erinnerungen eines Strafgefangenen (Ze wspomnieni katorznika) von 1911.40 Von ihm erfahren wir, dass die Vorführung nicht bis zu Ende gespielt werden konnte, wie Dostoevskij dies schildert, sondern vom plötzlich aufgetauchten Platzmajor, der das Lager befehligte, beendet wurde, und zwar kurz nachdem die Häftlinge begonnen hatten, die Kamarinskaja zu spielen. Ob die Schilderung Tokarzewskis oder Dostoevskijs den realen Ereignissen näher kommt, kann nicht geklärt werden. Möglicherweise veränderte Dostoevskij die realen Ereignisse und ließ die Szene positiv enden, um überzeugend darstellen zu können, dass Kunst einen Lichtblick, ein Ventil im Häftlingsalltag bedeutete. Denn er schilderte seine Mitgefangenen während des Konzerts auf folgende Weise: Rückhaltlos gaben sie sich ihrem Vergnügen hin […]. Man vergegenwärtige sich das Gefängnis, die Fesseln, die Unfreiheit, die langen, tristen Jahre, die noch vor uns lagen, das Leben dort, eintönig wie das Rieseln des Regens an einem trüben Herbsttag, und auf einmal wird all diesen Bedrückten und Eingesperrten gestattet, ein Stündchen aus sich herauszugehen, sich zu amüsieren, den Alptraum zu vergessen, ein Theater mit allem Drum und Dran zu schaffen, und was für eines!41

38 Jakubovicˇ, Irina/Ornatskaja, T. (Hg.): Letopis’ zˇizni i tvorcˇestva F. M. Dostoevskogo, in drei Bänden, Bd. 1: 1821 – 1864, 1999, S. 187. 39 Dostojewski, Fjodor : Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, Deutsch von Dieter Pommerenke, 2005, S. 231 – 244. 40 Tokarzˇevskij, Sˇimon [Szymon Tokarzewski]: »F. M. Dostoevskij v Omskoj katorge«, in: Zven’ja, 1936, S. 505 – 512. 41 Dostojewski, Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, 2005, 156 f.

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Obwohl also Kulturarbeit in den Haftanstalten vor der Revolution nicht vorgesehen war, wurde sie auf Initiative der Häftlinge ausgeübt, weil sie offenbar ein wichtiges Bedürfnis darstellte und von den Leitern der Haftanstalten geduldet wurde. Sie stellte eine unzensierte Lagerkultur dar, welche später im selbstbestimmten Musizieren der Gulag-Häftlinge ihre Fortsetzung fand. Im Hinblick darauf, dass im Gulag eine institutionalisierte Musikausübung eingeführt wurde und die Häftlinge durch die harten Lebensbedingungen und die Überwachungsstrukturen des Gulag in ihren selbstbestimmten Aktivitäten stark eingeschränkt waren, stellt sich die Frage, ob sie ihre eigene Musikkultur trotzdem pflegen konnten, oder ob es dem Verwaltungsapparat der Lager gelungen ist, eine offizielle Kultur durchzusetzen. Die Wechselbeziehung dieser Kulturen bestimmt die gesamte Kulturgeschichte des Gulag und wird die folgende Untersuchung wie ein roter Faden durchziehen. Institutionelle und rechtliche Grundlagen der Musikausübung in den Haftanstalten Konzentrationslager für politische Gegner der Bolschewiki wurden in der Sowjetunion bald nach der Oktoberrevolution eingerichtet42 und unterstanden der ˇ K [Vserossijskaja Cˇrezvycˇajnaja Komissija po Bor’be s KontrGeheimpolizei VC revoljuciej, Spekuljaciej i Sabotazˇem – Allrussische Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage]. Teilweise waren dies Lager, in denen Gefangene des Ersten Weltkriegs untergebracht gewesen waren. Nach dem Austausch von Gefangenen 1918 wurden sie ˇ K genutzt. 1922 wurde die VC ˇ K zum GPU [Gosudarstvennoe Polivon der VC ticˇeskoe Upravlenie – Politische Hauptverwaltung] und 1923 zum OGPU [Ob’’edinÚnnoe Gosudarstvennoe Politicˇeskoe Upravlenie – Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung] umorganisiert.43 Parallel dazu schuf das Allrussische Zentrale Exekutivkomitee [Vserossijskij Central’nyj Ispolnitel’nyj Komitet] mit dem am 15. April 1919 veröffentlichten Dekret O lagerjach prinuditel’nych rabot (Von den Zwangsarbeitslagern), unterzeichnet von Michail Kalinin,44 eine Abteilung des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten NKVD [Narodnyj komissariat vnutrennich del], die für Zwangsarbeitslager zuständig war. Sie wurde mehrfach umbenannt und trug 1921 den Namen GUPR [Glavnoe upravelnie prinuditel’nych rabot – Haupt42 Konzentrationslager für »Klassenfeinde« wurden mit dem Erlass O krasnom terrore (Vom roten Terror) am 5. September 1918 gesetzlich verankert. Obicˇkin, Gennadij (Hg.): Dekrety sovetskoj vlasti, Bd. 3, 1964, S. 291 – 293. 43 Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 13. 44 »124. O lagerjach prinuditel’nych rabot«, in: Sobranie uzakonenij i rasporjazˇenij rabocˇego i krest’janskogo pravitel’stva, 24. April 1919, S. 148 f.

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ˇ K und der NKVD waren beide für die verwaltung für Zwangsarbeit]. Die VC Zwangsarbeitslager zuständig, wobei es personelle Überschneidungen zwischen diesen Organisationen gab.45 Ein Großteil der Gefängnisse auf dem Gebiet des neuen sowjetischen Staates unterstand in den ersten Jahren der Sowjetregierung einer Abteilung des Volkskommissariats für Justiz NKJu [Narodnyj komissariat justicii] – dem CKO [Central’nyj karatel’nyj otdel – Zentrale Strafabteilung]. Von der Regierung beabsichtigt war, dass der CKO für die Inhaftierung der kriminellen Häftlinge und das GUPR des NKVD für die der politischen Gegner verantwortlich sein sollte. In der Praxis fand eine derart klare Trennung aber nicht statt. Im Oktober 1922, nach dem Ende des russischen Bürgerkriegs, wurden beide Institutionen zu einer Abteilung des NKVD zusammengefasst – dem GUMZ [Glavnoe upravlenie mest zakljucˇenija – Hauptverwaltung der Haftanstalten], dem bis zu seiner Liquidierung im Jahr 1930 der Jurist Evsej Sˇirvindt vorstand. Das GPU als ˇ Kverfügte aber weiterhin über eigene Gefängnisse Nachfolgeorganisation der VC 46 und Lager. Damit wären die Institutionen umrissen, die in der Anfangszeit des Sowjetstaates für Haftanstalten zuständig waren und Vorschriften darüber erließen, wie das dortige Leben samt Musikaktivitäten zu organisieren war. Seit den Anfängen der sowjetischen Strafpolitik spielte darin der Aspekt der Umerziehung [perevospitanie] der Häftlinge eine wichtige Rolle. Die Proklamierung eines erziehenden Charakters der Haftanstalten schlug sich bereits in der Verordnung des Volkskommissariats für Justiz (NKJu) vom 23. Juli 1918 O lisˇenii svobody, kak mere nakazanija, i o porjadke otbyvanija takovogo (Vom Freiheitsentzug als Strafmaßnahme und von seiner Verbüßung) nieder.47 In dieser provisorischen Instruktion wurde die »vollständige Umerziehung« der Häftlinge als ein grundlegendes Prinzip der Strafpolitik festgelegt. Dieser Instruktion zufolge war in jeder Haftanstalt eine »Erziehungsstelle« einzurichten, und es waren sogenannte Erzieher zu beschäftigen.48

45 Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 14. 46 Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 15 u. 17. 47 »598. O lisˇenii svobody, kak mere nakazanija, i o porjadke otbyvanija takovogo (vremennaja instrukcija)«, in: Sobranie uzakonenij i rasporjazˇenij rabocˇego i krest’janskogo pravitel’stva, 25. Juli 1918, S. 636. 48 Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 12; Kuz’mina, Ol’ga: Stanovlenie i razvitie vospitatel’noj sistemy ispravitel’nych ucˇrezˇdenij sovetskogo gosudarstva (20-e, 50 – 70-e gg.) (= Dissertation), Manuskript in der Russischen Staatsbibliothek Moskau, 1994, S. 15 f.

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1920er- und 1930er-Jahre

Schematische Zusammenstellung der für das Verständnis des Textes wichtigen Institutionen und deren Bestehenszeit bis 1924. 1917 1918 ˇK Geheimpolizei VC

1919

Volkskommissariat für Inneres (NKVD) Volkskommissariat für Justiz (NKJu)

Abteilung für Zwangsarbeitslager (GUPR) CKO

1920

1921

1922 1923 1924 OGPU GPU, dem NKVD unterstellt GUMZ, dem NKVD unterstellt

CITO

Das Programm der Kommunistischen Partei von 1919 postulierte als Ziel des zukünftigen Strafvollzugs, den bisherigen Strafenkatalog durch eine Reihe von Erziehungsmaßnahmen zu ersetzen.49 Des Weiteren schrieb Lenin im Februar 1919 den Gedanken nieder, an Stelle von Gefängnissen Erziehungsanstalten einzurichten.50 Schließlich wurde die Anpassung des Verbrechers an das Gemeinschaftsleben durch Besserung [ispravlenie] und Arbeit als Ziel des Strafvollzugs im ersten Strafgesetzbuch der RSFSR von 1922 festgelegt.51 Auf diese Weise wollten sich die Bolschewiki vom zarischen Strafvollzug sowie von dem der »kapitalistischen Länder« abgrenzen, wo – so kritisierten sie – eine Einwirkung auf die Moral der Häftlinge ausschließlich durch Vertreter der Geistlichkeit versucht worden sei.52 Sie wollten, nach eigener Darstellung, eine bis dahin ungekannte menschenwürdige Dimension der Strafpolitik erreichen. Nicht wahrgenommen oder bewusst ausgeblendet wurde von ihnen, dass der Versuch zu bessern und zu erziehen bereits in Frankreich im 18. Jahrhundert während der Strafrechtsreform zum wesentlichen Merkmal der Strafe erklärt worden war.53 Und auch in Russland war die Idee der Umerziehung der Häftlinge keinesfalls neu: Sie war von Intellektuellen schon in den 1860er-Jahren diskutiert worden54 und mündete in die russischen Gefängnisreformen, welche eine Lockerung der Lebensbedingungen in den Gefängnissen und Lagern zur Folge »Programma Rossijskoj kommunisticˇeskoj partii (bol’sˇevikov)«, 1989, S. 326. Lenin, Vladimir: Polnoe sobranie socˇinenij v 55 tomach, Bd. 38, 1969, S. 408. Ugolovnyj kodeks R.S.F.S.R., 1922, § 8. Sˇirvindt, Evsej/Utevskij, Boris: Sovetskoe penitenciarnoe pravo, 1927, S. 175 – 177. Nach Ol’ga Kuz’mina gab es tatsächlich in der Regel in jedem zarischen Gefängnis eine Kirche. Kuz’mina, Stanovlenie i razvitie vospitatel’noj sistemy ispravitel’nych ucˇrezˇdenij sovetskogo gosudarstva (20-e, 50 – 70-e gg.), 1994, S. 15. 53 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 1994, S. 17. 54 Fedorenko, Boris/Jakubovicˇ, Irina: »Primecˇanija«, in: Dostoevskij, FÚdor : Polnoe sobranie socˇinenij v tridcati tomach, Bd. 4: Zapiski iz mÚrtvogo doma, 1972, S. 294 f.

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hatten; beispielsweise war 1863 das Brandmarken der Häftlinge abgeschafft worden.55 Neu war im bolschewistischen Strafvollzug im Vergleich zum zarischen jedoch eine Komponente, welche die Umerziehung der Häftlinge mitbewirken sollte – die sogenannte Kulturerziehungsarbeit. Auch dieser Gedanke war bereits im 19. Jahrhundert in Russland zwar diskutiert worden,56 hatte aber keinen Eingang in die offizielle Strafpolitik gefunden. Der NKJu räumte der Besserung der Häftlinge höchste Priorität ein, wofür nicht zuletzt der Vorsitzende dieser Institution, Dmitrij Kurskij – von 1918 bis 1928 Volkskommissar für Justiz –, verantwortlich war.57 Dies wurde dadurch unterstrichen, dass der NKJu im Oktober 1921 den CKO (Zentrale Strafabteilung) in CITO [Central’nyj ispravitel’no-trudovoj otdel – Zentrale Besserungsarbeitsabteilung] umbenannt hatte. Leiter des CITO war seit Juni 1922 Evsej Sˇirvindt,58 weder ein Verfechter der Umerziehung noch ihr Gegner, der wenige Monate später Vorsitzender des neu gegründeten GUMZ wurde (s. o.) und dadurch großen Einfluss auf die Umsetzung der Umerziehungsidee hatte.59 Er erklärte den Terminus »Besserung« in seinem Sinne in einem Vortrag von 1928 auf folgende Weise: Wir stellen uns nicht die Aufgabe, die Natur des Menschen zu ändern [peredelat’] oder ihn »neu zu gebären« [pererodit’]. […] Wenn wir jedoch danach streben, nicht diejenigen Charakterzüge im Häftling zu fördern, die ihn gegen die Gesellschaft aufbringen oder ihn dazu anregen, in Konflikt mit ihr zu geraten, sondern wenn wir umgekehrt die Entwicklung sozialer Elemente seiner Psyche zu unserem Ziel machen, werden wir diejenige Arbeit vorantreiben, die am besten als Einpassung in die arbeitende Gesellschaft bezeichnet werden kann (als »Besserung« im sowjetischen Verständnis dieses Terminus).60

55 Isaev, Igor’: Istorija gosudarstva i prava Rossii, 1996, S. 265 – 272. 56 Bsp.: Skabicˇevskij, Aleksandr : »Katorga pjat’desjat let tomu nazad i nyne«, in: Russkaja mysl’, 1898, S. 87. 57 Kuz’mina, Stanovlenie i razvitie vospitatel’noj sistemy ispravitel’nych ucˇrezˇdenij sovetskogo gosudarstva (20-e, 50 – 70-e gg.), 1994, S. 17 – 20. 58 Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 15 u. 23. 59 Kuz’mina, Stanovlenie i razvitie vospitatel’noj sistemy ispravitel’nych ucˇrezˇdenij sovetskogo gosudarstva (20-e, 50 – 70-e gg.), 1994, S. 21 f. 60 =l ^V bcQSY] bS_VZ XQUQhVZ hV\_SV[Q `VaVUV\Qcm, `VaVa_UYcm. […] 6b\Y ]l RdUV] bcaV]Ycmbp ^V aQXSYSQcm cVf hVac S XQ[\ohV^^_], [_c_alV S_bbcQ^QS\YSQoc hV\_SVhVb[do \Yh^_bcm `a_cYS _RjVbcSQ Y `_RdWUQoc VV bcQcm b ^Y] S [_^e\Y[c, Q, ^Q_R_a_c, `_bcQSY] bS_VZ XQUQhVZ aQXSYcYV b_gYQ\m^lf n\V]V^c_S S VT_ `bYfY[V, c_ ncY] bQ]l] ]l `_USY^V] cd aQR_cd, [_c_aQp `aQSY\m^VV SbVT_ ]_WVc ^QXlSQcmbp `aYb`_b_R\V^YV] [ cadU_S_]d _RjVbcSd (»Yb`aQS\V^YV« S b_SVcb[_] `_^Y]Q^YY nc_T_ cVa]Y^Q). Sˇirvindt, Evsej: »Bol’sˇe vnimanija kul’turno-vospitatel’noj rabote. Iz doklada na 1-om Vserossijskom sovesˇcˇanii zavedyvajusˇcˇich ucˇebnovospitatel’nymi cˇastjami«, in: Administrativnyj vestnik, 1928, S. 6.

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Dieser vorsichtige Umgang mit dem Terminus der »Umerziehung« durch den für die Strafpolitik unmittelbar Verantwortlichen in den 1920er-Jahren wurde in den 1930ern durch eine Forcierung der Umerziehungsidee abgelöst, was in den Kapiteln über den Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals sowie des Moskau-WolgaKanals thematisiert wird. Die Organisation der Konzentrationslager, die bereits in der Anfangszeit des sowjetischen Strafvollzugs auch als Zwangsarbeitslager [lagerja prinuditel’nych rabot] bezeichnet wurden,61 sowie die Unterbringung der Häftlinge regelte das Allrussische Zentrale Exekutivkomitee in einem Erlass vom 17. Mai 1919. Darin wurde die unbedingte physische Arbeit eines jeden Lagerhäftlings vorgeschrieben.62 Diese wurde als eine Form erzieherischer Maßnahmen gesehen, neben die spätestens 1920 die zweite Form der Einwirkung auf die Häftlinge gestellt wurde – die sogenannte Kulturaufklärungsarbeit [kul’turno-prosvetitel’naja rabota] oder Kulturerziehungsarbeit [kul’turno-vospitatel’naja rabota]. Dies demonstriert ein Dekret des Rats der Volkskommissare: Am 30. Juni 1920 unterschrieb Lenin ein Dokument, demzufolge »Kulturaufklärungsarbeit« in Haftanstalten dem Volkskommissariat für Bildung unterstellt wurde statt wie bis dahin dem Volkskommissariat für Justiz, wobei auch Theatervorstellungen erwähnt wurden.63 Hinter diesem Wechsel der Zuständigkeit stand die Absicht, die schlecht in Gang kommende »Kulturerziehungsarbeit« anzukurbeln.64 Nachdem das Volkskommissariat für Bildung die Kulturarbeit in den Haftanstalten übernommen hatte, verfasste es 1920 zusammen mit der Zentralen Strafabteilung (CKO) des NKJu die Anordnung über Aufklärungsarbeit in den Haftanstalten [Polozˇenie o prosvetitel’noj rabote v mestach zakljucˇenija], in der es hieß: All die ewigen Kulturschätze der vergangenen Epochen, die wir bewahren, und auch Neues, das auf dem Gebiet der Bildung durch das Fortschreiten der Revolution geschaffen wird, muss zu einem Gut der Häftlinge werden.65 61 Diese Begriffe wurden häufig synonym verwendet. Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 14. 62 »235. O lagerjach prinuditel’nych rabot«, in: Sobranie uzakonenij i rasporjazˇenij rabocˇego i krest’janskogo pravitel’stva, 3. Juni 1919, S. 257 – 261. 63 »283. O peredacˇe Narodnomu Komissariatu Prosvesˇcˇenija kul’turno-prosvetitel’noj raboty v mestach lisˇenija svobody«, in: Sobranie uzakonenij i rasporjazˇenij rabocˇego i krest’janskogo pravitel’stva, 12. Juli 1920, S. 304. 64 Kuz’mina, Stanovlenie i razvitie vospitatel’noj sistemy ispravitel’nych ucˇrezˇdenij sovetskogo gosudarstva (20-e, 50 – 70-e gg.), 1994, S. 24. 65 3bV cV SVh^lV [d\mcda^lV gV^^_bcY, [_c_alV b_faQ^pV] ]l _c `aVUlUdjYf n`_f Y c_ ^_S_V, hc_ b_XUQVcbp S _R\QbcY `a_bSVjV^Yp f_U_] aVS_\ogYY, U_\W^_ bcQcm U_bc_p^YV] XQ[\ohV^^lf. Kuz’mina, Aleksandra: Stanovlenie ispravitel’no-trudovych ucˇrezˇdenij v Sibiri (1917 – 1924) (= Dissertation), Manuskript in der Russischen Staatsbibliothek Moskau, 1972, S. 175.

Grundlagen: Verordnete Musikausübung

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Diese Vorschrift erweckt den Eindruck, als ob eine uneingeschränkte Kunstrezeption auf hohem Niveau in Strafanstalten vorgesehen gewesen wäre und den Häftlingen zugute kommen sollte. Solche wohlklingenden Absichtserklärungen waren jedoch offensichtlich nicht ausreichend, um die Kulturarbeit in Gang zu setzen, und das Volkskommissariat für Bildung musste die Zuständigkeit dafür 1922 wieder an den NKJu abtreten.66 Diese Institution hatte schon in der am 15. November 1920 verabschiedeten Verordnung über Gemeinschaftshaftanstalten [Polozˇenie ob obsˇcˇich mestach zakljucˇenija] versucht, genauere Angaben zur Durchführung der Kulturarbeit zu machen.67 An Feiertagen – so heißt es dort in § 68 – sollten »Vergnügungen bildenden und erziehenden Charakters« für die Häftlinge stattfinden. Hierzu sollten neben Vorträgen und Diskussionsrunden auch Konzerte (§ 155) gehören. An der Vorbereitung und Durchführung dieser »Vergnügungen« sollten, so weit möglich, Häftlinge beteiligt werden (§ 156). Die Oberaufsicht oblag aber ˇ [ucˇebno-vospitatel’naja cˇast’], die in dem Leiter der »Lehrerziehungsstelle« UVC allen Haftanstalten vorgesehen war (§ 157). Dabei musste das Programm einer jeden Veranstaltung von der Leitung der Haftanstalt genehmigt werden (§ 158). Im Rundschreiben Nr. 28 des GUMZ vom 29. Juni 1922 wurde Bildungs- und Kulturarbeit in Haftanstalten neben der Erziehung durch Arbeit erstmalig als eine Grundfeste des Strafvollzugs postuliert,68 wodurch ihre Forcierung in den Lagern dieser Behörde als befohlen galt. An erster Stelle sollten dabei die Alphabetisierung und das Erlernen eines Handwerks stehen. Im Rundschreiben Nr. 44 des GUMZ vom 10. Februar 1923 an die Gouvernement- und Gebietsverwaltungen der Haftanstalten hieß es: Die außerschulischen Betätigungen der Häftlinge sollen sowohl die ästhetische Entwicklung der Häftlinge als auch ihr Streben nach Selbstbildung fördern.69

Aber auch diese Maßnahmen und Vorschriften bewirkten offenbar nicht das gewünschte Resultat, und der NKJu musste die Zuständigkeit für die Kulturar66 Vgl. Dekret des Rats der Volkskommissare vom 3. April 1922 »O peredacˇe v vedenie Narodnogo Komissariata Justicii rukovodstva kul’turno-prosvetitel’noj dejatel’nost’ju v mestach lisˇenija svobody«, in: Losev, PÚtr/Ragulin, Gavriil (Hg.): Sbornik normativnych aktov po sovetskomu ispravitel’no-trudovomu pravu (1917 – 1959 gg.), 1959, S. 98. 67 Losev/Ragulin, Sbornik normativnych aktov po sovetskomu ispravitel’no-trudovomu pravu (1917 – 1959 gg.), 1959, S. 54 – 94. 68 Rundschreiben der GUMZ vom 29. Juni 1922. GARF: F. R-4042, op. 4, d. 1, l. 34, 34ob. Sˇirvindt/Utevskij, Sovetskoe penitenciarnoe pravo, 1927, S. 178; Kuz’mina, Stanovlenie ispravitel’no-trudovych ucˇrezˇdenij v Sibiri (1917 – 1924), 1972, S. 176. 69 3^Vi[_\m^lV XQ^pcYp XQ[\ohV^^lf U_\W^l b`_b_RbcS_SQcm, [Q[ nbcVcYhVb[_]d aQXSYcYo XQ[\ohV^^lf, cQ[ Y Yf bcaV]\V^Yp] [ bQ]__RaQX_SQ^Yo. Dokument unterzeichnet vom GUMZ-Leiter, Evsej Sˇirvindt, dem Vorsitzenden der Administrativabteilung der GUMZ, Kornblitt, und dem Leiter der Unterabteilung für »Kulturaufklärung«, Djablo. GARF: F. R4042, op. 4, d. 2, l. 8ob.

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beit 1924 wiederum an das Volkskommissariat für Bildung abtreten.70 Wobei hier nicht die Quantität der kulturellen Maßnahmen ausschlaggebend gewesen sein dürfte, sondern ihre Qualität, denn es gab bereits, internen Berichten aus den Gefängnissen und Lagern zufolge (s. u.), viele Kulturveranstaltungen in den Haftanstalten. Offensichtlich schätzte die sowjetische Regierung das Volkskommissariat für Bildung im Hinblick auf die »kulturellen Maßnahmen« als kompetenter ein. Die zitierten Vorschriften samt der Verordnung des NKJu ließen den örtlichen Lagerleitern großen Spielraum für Interpretationen. Sie enthielten keine genauen Angaben zur Durchführung der Veranstaltungen und zum Repertoire, sodass diese sich erst nach der Methode »Versuch und Irrtum« herausbilden mussten. Wie dies in der Praxis funktionierte, sollen die beiden folgenden Abschnitte zeigen.

Praktische Umsetzung der Vorschriften In den ersten Jahren nach der Revolution war die »Kulturerziehungsarbeit« – so ist in den Veröffentlichungen und Unterlagen sowohl des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten als auch des Volkskommissariats für Justiz zu lesen – aus zwei Gründen schwach aufgestellt: Es mussten zunächst die grundlegenden Bedürfnisse der Häftlinge befriedigt werden, wofür nicht genügend finanzielle Mittel vorhanden waren, sodass ein Teil der Häftlinge regelrecht Hunger leiden musste.71 Hinzu kam, dass klare Anweisungen zur Bedeutung und den Methoden der kulturellen Arbeit fehlten,72 wie bereits festgestellt wurde. Des Weiteren mangelte es an Personal zur Durchführung der Kulturarbeit; beispielsweise mussten noch 1922 70 Prozent der insgesamt 1.754 Erzieher in den Haftanstalten aus den Häftlingen rekrutiert werden. Ein weiteres Problem war die schlechte Ausbildung der Erzieher. Nichtsdestotrotz, so hieß es im abschließenden Bericht des GUMZ für das Jahr 1923, habe es zu jener Zeit beinahe in jeder Haftanstalt eine »Lehrerziehungsstelle« gegeben.73 Was die Grundversorgung der Häftlinge anbetrifft, so blieb sie für den gesamten Zeitraum dieser Untersuchung mangelhaft. Dass trotzdem die Ideologie 70 Ispravitel’no-trudovoj kodeks RSFSR, 1924, S. 20. 71 Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 16. 72 Kuz’mina, Stanovlenie i razvitie vospitatel’noj sistemy ispravitel’nych ucˇrezˇdenij sovetskogo gosudarstva (20-e, 50 – 70-e gg.), 1994, S. 25 f.; Sˇirvindt/Utevskij, Sovetskoe penitenciarnoe pravo, 1927, S. 177; Sˇirvindt, »Bol’sˇe vnimanija kul’turno-vospitatel’noj rabote«, 1928, S. 6 f.; B., Ju.: »Itogi i perspektivy ucˇebno-vospitatel’noj raboty v mestach zakljucˇenija RSFSR«, in: Administrativnyj vestnik, 1928, S. 15 – 22. 73 Kuz’mina, Stanovlenie i razvitie vospitatel’noj sistemy ispravitel’nych ucˇrezˇdenij sovetskogo gosudarstva (20-e, 50 – 70-e gg.), 1994, S. 23 – 26.

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der Besserung durch kulturelle Arbeit aufrechterhalten wurde, zeugt vom naiven Idealismus und der Lebensfremdheit der sowjetischen Strafpolitik sowie davon, dass diese Komponente zur Darstellung der Strafpolitik nach außen als notwendig erachtet wurde. Ungeachtet der schlechten Unterbringungssituation und Versorgung der Häftlinge ist bereits für 1920 nachgewiesen worden, dass sie sich offiziell gelenkt musikalisch betätigten. Die Zeitschrift E˙kran (Filmleinwand) berichtete 1922, dass im Laufe des Jahres 1920 in den Haftanstalten nach dem Vorbild des Moskauer Taganka-Gefängnisses zunehmend Theater und Orchester gegründet, Kunstzeitschriften herausgegeben und manchmal Ausstellungen veranstaltet wurden.74 In ihrer 1972 eingereichten Dissertation über die Entwicklung der »Besserungsarbeitseinrichtungen« in Sibirien (1917 – 1924) berichtet Aleksandra Kuz’mina anhand von Beständen aus Moskauer und regionalen Archiven auch über die Entwicklung der »Kulturaufklärungsarbeit«.75 Hierbei hätten sich anfänglich die meisten Bemühungen auf die Alphabetisierung der Häftlinge gerichtet.76 Aber bereits Anfang der 1920er-Jahre wurden, Kuz’mina zufolge, allerorts in den sibirischen Haftanstalten Bühnen, Klubs und Theater eingerichtet, wo Theater- und Konzertveranstaltungen stattgefunden haben. In Gouvernement-Haftanstalten sei es zur Gründung von Orchestern, Laientheatergruppen und Musikzirkeln gekommen. Im Omsker Gefängnis, wo am 19. September 1920 ein Klub mit dem Namen Vozrozˇdenie (Wiedergeburt) eröffnet worden sei, hätten »stilvolle Konzerte« (so der Wortlaut der historischen Quelle in deutscher Übersetzung) und literarisch-musikalische Abende stattgefunden, die an bestimmte revolutionäre Feiertage gebunden waren. Es habe einen LiteraturMusik-Zirkel gegeben, für den die Gefängnisleitung Noten und ein Klavier gekauft habe, obwohl es allgemein an Ausstattung zur Durchführung der Bildungsmaßnahmen fehlte.77 Im Jahr 1922, so der Professor Michail Gernet, der sich mit der Häftlingspsychologie befasst hat, wurden in denjenigen russischen Haftanstalten, in denen 2/3 aller Häftlinge inhaftiert waren, 3.650 Dramen, Abendveranstaltungen, Konzerte etc. gegeben.78 Betrachtet man die Innenansicht eines Gefängnistheaters Mitte der 1920er74 Kuzjakina, Natal’ja: »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, in: Voprosy teatra. Sbornik statej i publikacij, 1990, S. 241. 75 Der Entstehungszeit der Dissertation entsprechend, werden darin die behandelten Haftanstalten in einem durchwegs positiven Licht dargestellt, weswegen bei ihrer Rezeption größte Vorsicht geboten ist. 76 Kuz’mina, Stanovlenie ispravitel’no-trudovych ucˇrezˇdenij v Sibiri (1917 – 1924), 1972, S. 174. 77 Kuz’mina, Stanovlenie ispravitel’no-trudovych ucˇrezˇdenij v Sibiri (1917 – 1924), 1972, S. 176, 178, 182 – 184. 78 Gernet, Michail: V tjur’me. Ocˇerki tjuremnoj psichologii, 1930, S. 83.

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Jahre (Abb. 1), in dem offensichtlich ein Flügel vorhanden war, fallen Porträts politischer Führer, der rote Stern über der Bühne sowie Spruchbänder in der Inneneinrichtung auf. Es könnte sich genauso gut um einen Veranstaltungsraum in Freiheit handeln. »Hoch lebe die UdSSR!«, »Die Errungenschaft des Oktobers: In ohnmächtiger Verbitterung haben wir wütend die Fesseln verflucht. Nun können wir frei und freudig ohne sie aufatmen. Hoch lebe der 8. [? – unleserlich] Jahrestag des Oktobers!«, so lauten die Losungen.

Abb. 1: Theater in einer Haftanstalt. Sˇirvindt/Utevskij, Sovetskoe penitenciarnoe pravo, 1927, S. 184.

Die Bänke im Zuschauerraum demonstrieren jedoch, dass hier nicht die von den Bolschewiki proklamierte Idee der Gleichheit praktiziert wurde. Die Bänke der vorderen Reihen sind mit Rückenlehnen ausgestattet und waren für Bedienstete der Haftanstalt vorgesehen. Auf den Bänken ohne Rückenlehnen saßen die Häftlinge. An diesem Foto werden zwei Aspekte des sowjetischen Lagersystems deutlich, die auch auf die sowjetische Gesellschaft im Allgemeinen übertragbar sind: das Missverhältnis zwischen den Parolen und der Wirklichkeit auf der einen und eine straffe Hierarchie auf der anderen Seite. Aleksandra Kuz’mina schildert folgende Maßnahmen aus der Anfangszeit der Kulturarbeit in den Haftanstalten: Ehemalige Gefängniskirchen wurden zu Theatern umfunktioniert, beispielsweise im Gefängnis von Barnaul. Eine

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Theatertruppe und ein Chor aus Häftlingen sind dort gegründet und die daran Beteiligten in einer gesonderten Zelle untergebracht worden. Diese sind sogar ohne Begleitkommando und nur unter Anwesenheit des »Kulturerziehers« zur Gerberei der Stadt gefahren, um dort ein Konzert zu geben.79 Im Tomsker Zwangsarbeitsheim Nr. 2 haben Häftlinge, so Kuz’mina, ein Theater für 300 Zuschauer eingerichtet,80 dessen Eröffnung mit einem Konzert am 7. Juli 1920 gefeiert wurde. Die Zeitschrift E˙kran beschrieb es 1922 als eines der besten Theater der Stadt, in dem fast täglich Vorstellungen für Heiminsassen gegeben wurden. Es sollen dort die Opern Boris Godunov, Faust und Rusalka aufgeführt worden sein.81 In diesem Theater haben sowohl Häftlinge als auch ehemalige Häftlinge mitgewirkt.82 In den vorangegangenen Beispielen ist ein Aspekt angesprochen worden, welcher bereits im Zusammenhang mit dem Musikleben in den zarischen ostrogi vorgekommen ist und einem bei der Auseinandersetzung mit Musik im Gulag immer wieder begegnet: Dies ist der Kontakt der Häftlinge mit der zivilen Bevölkerung, ob als Bühnenkünstler, die vor den freien Bürgern auftraten, oder als »Kollegen« von zivilen Personen, die am Theater beschäftigt waren (im zitierten Beispiel ehemalige Häftlinge). Es handelte sich hierbei nicht um Mängel im System in seinen Anfängen. Vielmehr war der Kontakt der Häftlinge mit zivilen Personen in Konzerten ein Merkmal der gesamten Lagergeschichte der Sowjetunion, zumindest im zeitlichen Rahmen dieser Arbeit. Die daran zu untersuchende Frage lautet, inwiefern Konzerte mit Beteiligung der Lagerhäftlinge vor der zivilen Bevölkerung zur Akzeptanz der Lager in der Gesellschaft beigetragen haben könnten. Dies wird in Kapitel B.2 »Verflechtung der Häftlings- mit der zivilen Gesellschaft« diskutiert. Hierbei muss angemerkt werden, dass es neben dem Kontakt der Häftlinge mit Zivilpersonen bei Konzerten und in Theatervorführungen auch anderweitige Kontakte gegeben hat: Dazu gehört, dass manche Häftlinge in den 1920er-Jahren kurze Heimaturlaube gewährt bekamen.83 Nicht nur in Haftanstalten großer, bereits genannter Städte hat es, laut Kuz’mina, Klubs, Theater und Musikzirkel gegeben, sondern auch in Klein-

79 Kuz’mina, Stanovlenie ispravitel’no-trudovych ucˇrezˇdenij v Sibiri (1917 – 1924), 1972, S. 173 u. 184 f. 80 Über dieses Theater auch bei Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 241. 81 Es bleibt unklar, ob es sich um Anton†n Dvorˇ‚ks oder Aleksandr Dargomyzˇskijs Oper handelt, auch wann diese Aufführungen stattgefunden haben sollen und ob sie szenisch oder konzertant waren. 82 Kuz’mina, Stanovlenie ispravitel’no-trudovych ucˇrezˇdenij v Sibiri (1917 – 1924), 1972, S. 186. 83 Kuz’mina, Stanovlenie i razvitie vospitatel’noj sistemy ispravitel’nych ucˇrezˇdenij sovetskogo gosudarstva (20-e, 50 – 70-e gg.), 1994, S. 31.

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städten, beispielsweise in der Haftanstalt von Mariinsk,84 wo ein Theater für 500 Zuschauer existiert haben soll. Zur Eröffnung dieses Theaters am 18. März 1921, dem Tag der Pariser Kommune, sei von Häftlingen die Oper Boris Godunov gegeben worden. Sie hätten diese später auch vor der zivilen Bevölkerung in anderen Städten aufgeführt: einmal in Anzˇero-Sudzˇensk85 und fünfmal in Tomsk.86 Der Aspekt der Kulturträger-Funktion von Häftlingstheatern in der Provinz wird im Laufe der Darstellung an zahlreichen Beispielen verdeutlicht werden. Zunächst mögen solche Berichte unglaubwürdig erscheinen, zumal sie einer Sekundärquelle aus der Sowjetzeit entnommen sind. Jedoch machen Unterlagen des GUMZ für den internen Gebrauch deutlich, dass es tatsächlich bereits in den frühen 1920er-Jahren »Kulturerziehungsarbeit« in den sowjetischen Haftanstalten gegeben haben muss. Besondere Verdienste im Kulturleben wurden von der Hauptverwaltung der Haftanstalten registriert und waren Grund für Auszeichnungen, wie im Befehl Nr. 142 des GUMZ-Leiters Evsej Sˇirvindt vom 15. November 1922 an die Moskauer Haftanstalten zu lesen ist. Dort werden die Leiter des Taganka-Gefängnisses dafür gelobt, dass sie es zu den Feierlichkeiten der Oktoberrevolution geschafft haben, das Gefängnistheater nach einem Brand wieder instand zu setzen und zwei Versammlungen mit Theatervorführungen und Konzertdarbietungen für die Häftlinge stattfinden zu lassen.87 Diese werden im folgenden Abschnitt eingehend beschrieben. Die Oktoberfeierlichkeiten am 7. November 1922 wurden nicht nur im Taganka-Gefängnis mit besonderen Veranstaltungen begangen. Ein Bericht aus dem Moskauer Zwangsarbeitslager in Lianozovo an das GUMZ meldete, dass dort bereits einige Tage vor dem 7. November ein Chor geprobt habe. Am Festtag habe im Lager eine Demonstration unter Beteiligung von Mitarbeitern, Wächtern, Milizionären, Häftlingen und Außenstehenden (!) stattgefunden, die den Klub der Pariser Kommune in der Ortschaft Beskudnikovo zum Ziel gehabt habe, wo sie von Angestellten und Ortsbewohnern empfangen worden sei. Nach einer Versammlung seien alle in den Klub des Lagers Lianozovo zurückgekehrt und hätten unterwegs Revolutionslieder gesungen. Der Festtag sei von einem Auftritt des Häftlingschors und anschließenden Spielen sowie einem Tanzabend abgerundet worden.88 84 Eine sibirische Kleinstadt im Gebiet Kemerovo. Hier war in den Jahren 1934/35 der Komponist Sergej Protopopov inhaftiert, vgl. Kapitel A.2.3 »Der Kompositionswettbewerb des Dmitlag 1936«. 85 Ebenfalls eine Stadt im Gebiet Kemerovo. 86 Kuz’mina, Stanovlenie ispravitel’no-trudovych ucˇrezˇdenij v Sibiri (1917 – 1924), 1972, S. 186 f. 87 GARF: F. R-4042, op. 4, d. 3, l. 74 u. 74ob. 88 GARF: F. R-4042, op. 4, d. 3, l. 102 – 104.

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Dieses Beispiel sowie die nachfolgenden belegen, dass der Kontakt der Häftlinge mit der zivilen Bevölkerung ein verbreitetes Phänomen des sowjetischen Strafvollzugs zu Beginn der 1920er-Jahre gewesen war. Aleksandra Kuz’mina berichtet ergänzend, dass Inhaftierte gegen Eintrittsgeld Konzerte und Aufführungen für zivile Personen gegeben hätten, um die finanziellen Mittel der Haftanstalten zur Durchführung der Kulturarbeit aufzustocken.89 Im »Besserungshaus« der Stadt Penza seien 1924 Theatervorstellungen für die zivile Bevölkerung gegeben worden, um Geld für mittellose Insassen zu sammeln.90 Im GARF werden weitere Belege für Kontakte zwischen den Häftlingen und zivilen Personen aufbewahrt: Es handelt sich in beiden Fällen um Berichte aus den Haftanstalten an das GUMZ über die Oktoberfeierlichkeiten des Jahres 1922. So wird aus dem Zwangsarbeitslager in Pokrovskoe (Gebiet Moskau) berichtet, dass an der Tanzveranstaltung am Oktoberfeiertag sowohl Häftlinge als auch ihre Verwandten teilgenommen hätten.91 Der Kommandant des »Umerziehungsheims« in Ivanovo92, Martynov, drückte in einem Brief an die Moskauer Abteilung des GUMZ im Anschluss an die Oktoberfeierlichkeiten seine Hoffnung aus, dass es wie am 6. und 7. November auch in Zukunft möglich sein würde, ein- bis zweimal im Monat Familien, Verwandten und Bekannten der Häftlinge Zutritt zu Vorführungen im Lager zu gewähren, obwohl das von ihm verwaltete Lager eine geschlossene Anstalt war. Davon versprach er sich – so seine offizielle Begründung – schnellere Erfolge bei der Umerziehung der Häftlinge, und dass sie sich schneller mit ihrer Lage abfinden könnten, weil sie sich während der Oktoberfeier »quasi wie zu Hause gefühlt« hätten.93 Vom Moskau-Beauftragten des GUMZ, Kornblitt, bekam Martynov zunächst die erbetene Erlaubnis. Doch diese wurde vom Vorsitzenden der Administrativabteilung des GUMZ, V. Doman’skij, und dem Leiter der Abteilung für »Kulturaufklärung«, N. A. Popov, für nichtig erklärt. Der Kommandant wurde auf die §§ 159 – 168 der Verordnung über Gemeinschaftshaftanstalten verwiesen,94 welche Besuche im Gefängnis streng regelte.95 Dieser Briefwechsel macht deutlich, dass der Kontakt der Häftlinge mit der zivilen Bevölkerung gesetzlich nicht legitimiert war, sondern von der Hauptverwaltung der Haftorte nur geKuz’mina, Stanovlenie ispravitel’no-trudovych ucˇrezˇdenij v Sibiri (1917 – 1924), 1972, S. 187. Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 242. GARF: F. R-4042, op. 4, d. 3, l. 115ob. Es bleibt unklar, ob es sich um die Stadt Ivanovo oder um eines der Dörfer mit dem gleichen Namen im Gebiet Moskau gehandelt hat. Wahrscheinlich ist aber eines der Dörfer gemeint, da der Kommandant seinen Brief an die Moskauer Abteilung des GUMZ adressiert hat. 93 GARF: F. R-4042, op. 4, d. 3, l. 170 u. 178. 94 GARF: F. R-4042, op. 4, d. 3, l. 179 u. 182. 95 Losev/Ragulin, Sbornik normativnych aktov po sovetskomu ispravitel’no-trudovomu pravu (1917 – 1959 gg.), 1959, S. 54 – 94, hier S. 80 – 82.

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duldet wurde. Weiterhin demonstriert er, dass vieles in den Lagern von der Entscheidung der örtlichen Lagerleitung abhing, ungeachtet der Vorschriften, sonst hätte es den Besuch der zivilen Bevölkerung am 6. und 7. November 1922 im »Umerziehungsheim« von Ivanovo nicht gegeben. Um die Häftlinge zur Mitarbeit in kulturellen und anderen Zirkeln zu motivieren, wurde vom GUMZ im Rundschreiben Nr. 27 vom 29. Januar 1923 angeordnet, die an der »Kulturerziehungsarbeit« beteiligten Häftlinge entsprechend der Anzahl der Stunden, die sie damit verbrachten, von der Arbeit mit der Allgemeinheit der Mitinsassen zu befreien. Zusätzlich wurde für sie der tägliche Aufenthalt an der frischen Luft auf eineinhalb Stunden ausgedehnt.96 In der Verordnung über Gemeinschaftshaftanstalten von 1920 war lediglich eine halbe Stunde, jedoch als Mindestdauer, vorgeschrieben.97 Die Zeitschrift E˙kran berichtete 1922 von einem Balalaika-Orchester im Taganka-Gefängnis, dessen Mitglieder für ihre »hochwertige Interpretation« vorzeitig aus der Haft entlassen worden waren.98 Dies bildete eine weitere Möglichkeit, für die Beteiligung an kultureller Arbeit zu belohnen. All diese Privilegien, die an kulturellen Maßnahmen beteiligte Häftlinge erhalten konnten (weiter oben wurde die Unterbringung in gesonderten Zellen erwähnt), legten die Grundlage dafür, dass solche Insassen auch im weiteren Verlauf der Lagergeschichte von den Lagerleitungen bevorzugt behandelt wurden. Es gab aber auch Häftlinge, die ein so großes Bedürfnis nach Kunst verspürten, dass sie keiner weiteren Motivation zu ihrer Ausübung bedurften. Sergej Armanskij, welcher später am Theater auf den Solovki tätig war (vgl. Kapitel A.2.1 »Das Solovezker Theater«), organisierte bereits in Untersuchungshaft in einer überfüllten Zelle des Butyrka-Gefängnisses in Moskau eine Truppe aus Tänzern, Sängern, Rezitatoren und einem Zauberer.99

Musikrepertoire und Freiräume bei der Konzertgestaltung Die im GARF vorhandenen Quellen erlauben, das Repertoire der Konzerte zu den Oktoberfeierlichkeiten 1922, dem 5. Jahrestag der Oktoberrevolution, in den Gefängnissen und Lagern des Gebiets Moskau näher zu betrachten. Den ersten Programmpunkt bildete – dem Großteil aller erhaltenen Berichte nach – die 96 GARF: F. R-4042, op. 4, d. 2, l. 5. 97 Losev/Ragulin, Sbornik normativnych aktov po sovetskomu ispravitel’no-trudovomu pravu (1917 – 1959 gg.), 1959, S. 54 – 94, hier S. 68 (§ 66). 98 Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 241. 99 Sˇirjaev, Boris: Neugasimaja lampada, 1991, S. 64. Dies wäre im Lubjanka-Gefängnis zur selben Zeit vermutlich nicht möglich gewesen, weil dort lautes Sprechen, Singen und Schreien in den Zellen verboten war. Olickaja, Ekaterina: Moi vospominanija, in zwei Bänden, 1971, Bd. 1, S. 182.

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Internationale, welche bis 1944 als Staatshymne der UdSSR fungierte.100 Darauf folgte, oft nach mündlichen Vorträgen zu politischen Themen, eine bunte Mischung aus Revolutionsliedern, Deklamationen zum Thema des Festtages, russischen Volksliedern und -tänzen, instrumentalen Beiträgen auf Ziehharmonikas, Clownerie, Straßenliedern, Stepptanz, Erzählungen, Gefangenenliedern, Sketchen und Gedichten.101 Im Kolomensker »Umerziehungsheim«,102 in dem am Vorabend des 7. November ein neuer Theaterbau eröffnet wurde, begleitete – dem Bericht an das GUMZ in Moskau zufolge – ein Blasorchester die Feierlichkeiten.103 Aus dem Taganka-Gefängnis sind gedruckte Originalprogramme der beiden Konzerte vom 7. November 1922 erhalten geblieben, für welche, wie oben erwähnt, das Gefängnis vom GUMZ gelobt wurde (Abb. 2 und 3). Das erste Konzert war kostenfrei und nur für Häftlinge vorgesehen, das zweite kostenpflichtig und sowohl für geladene Gäste als auch für Häftlinge gedacht.104 Einladungen erhielten Vertreter der Geheimpolizei, der Staatsanwaltschaft, Rotarmisten aus der Wachmannschaft des Gefängnisses, Wächter aus der zivilen Bevölkerung sowie ihre Familien. Es sollen 900 Häftlinge und ca. 350 Personen aus der zivilen Bevölkerung diese Konzerte besucht haben.105 Für die Programme zeichnete die ˇ des Gefängnisses verantwortlich. UVC

100 GARF: F. R-4042, op. 4, d. 3, l. 113ob (Zwangsarbeitslager in Pokrovskoe), l. 121 (Moskauer »Besserungsarbeitshaus« für Frauen), l. 130 u. 130ob (Taganka-Gefängnis). Auch Aleksandra Kuz’mina berichtet darüber, dass in den sibirischen Haftanstalten die Internationale gesungen wurde, allerdings am Ende von Versammlungen. Kuz’mina, Stanovlenie ispravitel’no-trudovych ucˇrezˇdenij v Sibiri (1917 – 1924), 1972, S. 177. 101 GARF: F. R-4042, op. 4, d. 3, l. 114 – 115ob (Zwangsarbeitslager in Pokrovskoe); l. 154 (»Umerziehungsheim« in Kolomenskoe); l. 121, 121ob (Moskauer »Besserungsarbeitshaus« für Frauen). 102 Kolomenskoe ist ein Dorf bei Moskau. 103 GARF: F. R-4042, op. 4, d. 3, l. 154. 104 Um welche Häftlinge, ob politische oder kriminelle, es sich dabei handelte, geht aus den vorliegenden Quellen nicht hervor, was auf alle Quellen dieses Kapitels zutrifft. Da, wie oben erwähnt, nicht streng zwischen diesen beiden Gruppen bei der Inhaftierung getrennt wurde, waren vermutlich beide Gruppen unter den Zuhörern vertreten. 105 GARF: F. R-4042, op. 4, d. 3, l. 130 u. 130ob.

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Abb. 2: Konzertprogramm für die Häftlinge des Taganka-Gefängnisses. GARF: F. R-4042, f. 4, d. 3, l. 132.

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Abb. 3: Konzertprogramm für geladene Gäste und Häftlinge des Taganka-Gefängnisses. GARF: F. R-4042, f. 4, d. 3, l. 133.

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Der Programmzettel des geschlossenen Konzerts für Häftlinge, welches um 17:30 Uhr begann, ist schlicht gestaltet, der des offenen Konzerts durch die Verwendung einer Vielzahl von Schriften und durch Ornamente verschönert. Der grobe Aufbau der Konzerte ist identisch (im Detail lassen sie sich nicht vergleichen, weil der Programmzettel für das frühere Konzert sehr viel weniger Informationen enthält): Auf einen Vortrag über die Oktoberrevolution und ihre Bedeutung folgte eine theatralische Vorführung. Als Schauspiel wurde beim früheren Konzert der dritte Akt des Dramas Izgnanniki (Die Verbannten) von Jurij Tjuricˇ, bei dem späteren ein »altes Vaudeville« gegeben. Vermutlich haben Überlegungen zum erzieherischen Charakter des Stückes dazu geführt, dass Häftlingen ein anderes Schauspiel dargeboten wurde als dem gemischten Publikum.106 Möglich ist aber auch ein praktischer Grund, beispielsweise dass die am Vaudeville beteiligten professionellen Schauspieler aus Moskauer Theatern, die nicht inhaftiert waren, nicht dafür zur Verfügung standen, dieses Stück zweimal hintereinander aufzuführen. Diese Schauspieler und weitere Künstler, die ebenfalls nicht inhaftiert waren, gestalteten auch den ersten Teil des konzertanten Programms nach einer Pause, in dem sich, wie aus dem zweiten Programm (Abb. 3) hervorgeht, solistische Beiträge auf einem Klavier und Violoncello mit komischen Erzählungen, Liedern, einem »Zigeunertanz«107, einer Arie aus Rigoletto, B¦ranger108-Liedern, lustigen Gedichten, Couplets und einem »Witze-Salat« mischten. Der Auftritt nicht inhaftierter Schauspieler vor Häftlingen eröffnet einen weiteren Aspekt im Rahmen des Kontakts zwischen Häftlingen und zivilen Personen während der Konzerte in Haftanstalten, dass nämlich auch freie Bürger vor Häftlingen auftraten. Dieses Phänomen tritt auch in späteren Zeiten immer wieder auf. Im vierten und abschließenden Teil des Konzerts traten zumindest im Chor Häftlinge auf. Dieser Chor ist im früheren Programm als fünfter Punkt aufgeführt. Ob es sich bei weiteren Künstlern des letzten Teils um Gefängnisinsassen handelte,109 war im Rahmen dieser Untersuchung nicht möglich festzustellen. Allerdings könnte die Verwendung bzw. das Weglassen der Initialen in den gedruckten Programmen einen Anhaltspunkt in dieser Frage bieten. Mögli106 Dies ist eine Vermutung, die nicht weiter untersucht werden konnte, da weder zum Autor Jurij Tjuricˇ noch zu seinem Theaterstück Informationen gefunden werden konnten. 107 Der Begriff »Zigeuner« wird immer dann stehen gelassen und durch Anführungszeichen markiert, wenn es sinnvoll erscheint, den Wortlaut der Originalquelle beizubehalten. 108 Pierre-Jean de B¦ranger (1780 – 1857) – franz. Lyriker und Liederdichter. 109 Es handelte sich dabei um den Geiger [?Boris] Sibor, den Tenor Kurganov, die Tänzerin Gorelova sowie die Schriftstellerin Anastasija Verbickaja. Bezüglich Verbickaja erteilte mir Dr. Dagmar Steinweg, die über diese Schriftstellerin in ihrer Dissertation gearbeitet hat, in einer E-Mail vom 13. Mai 2008 die Auskunft, dass sie in Verbickajas Nachlass keinen Hinweis auf eine Inhaftierung gefunden hat.

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cherweise handelt es sich bei den drei Künstlern, deren Initialen des Vor- und Vatersnamens nicht mitgedruckt wurden, tatsächlich um Häftlinge (vgl. Abb. 2 und 3).110 Eine der Auftretenden im letzten Teil war die Schriftstellerin Anastasija Verbickaja – eine zur damaligen Zeit außerordentlich populäre Bestseller-Autorin, die in die Kritik der neuen Machthaber geraten war, weil sie in ihren Romanen erotische Sujets verarbeitete. In den 1920er-Jahren wurden sogar einige ihrer Texte verboten, und sie veröffentlichte eine Zeit lang unter meist männlichen Pseudonymen.111 Ihre Teilnahme an einem Konzert im Gefängnis, bei dem sie aus ihren Romanen las, bietet einen Anhaltspunkt zur Formulierung einer weiteren These, die im Laufe dieser Darstellung immer wieder zur Sprache kommen wird: In Haftanstalten hatten Künstler einen Freiraum zur Darbietung von Werken, die auf zivilen Bühnen nicht aufgeführt werden konnten. Ein Großteil der ausgewerteten Konzertprogramme dieser Zeit zeigt, dass viele Programmpunkte dem Ziel, der »kommunistischen Umerziehung« der Häftlinge zu dienen, nicht gerecht werden konnten. Ähnliches stellte auch Ol’ga Kuz’mina in ihrer trotz der Entstehungszeit noch völlig im sowjetischen Denken verwurzelten Dissertation fest: Eine Auswertung der Berichte der örtlichen Lehrerziehungsstellen führt zu der Schlussfolgerung, dass vielfach Stücke inszeniert wurden, deren Inhalt, künstlerisch und literarisch betrachtet, qualitativ schlecht war, oftmals eine erotische Komponente enthielt, und sogar einen konterrevolutionären Charakter aufwies.112

Die schlechte Bildung der Gefängnis- und Lagerleiter sowie ihr Bedürfnis nach Unterhaltung, aber auch der oben erwähnte Einsatz von Häftlingen als »Erzieher«, die für Programme mitverantwortlich waren, hatten zur Folge, dass einerseits wenig anspruchsvolle und andererseits ideologiefreie Beiträge zur Aufführung in Haftanstalten zugelassen wurden. Beides zog Abmahnungen nach sich, wie z. B. das Schreiben des Leiters der Administrativabteilung des GUMZ V. Doman’skij vom 10. März 1922 an die 1. Moskauer Arbeitskolonie. Darin wird darauf hingewiesen, dass »Kulturaufklärungsarbeit« nur zu erzieherischen und bildenden Zwecken vorgesehen sei und deswegen auf Tanzabende verzichtet 110 Diese These geht auf Erfahrungen der Verfasserin im Umgang mit Programmen des Theaters von Magadan aus den 1940er-Jahren zurück. 111 Steinweg, Dagmar : Schlüssel zum Glück und Kreuzwege der Leidenschaften. Untersuchungen zur russischen populären Frauenliteratur am Beispiel der Autorinnen Anastasija A. Verbickaja und Evdokija A. Nagrodskaja, 2002. 112 1^Q\YX _chVc_S dhVR^_-S_b`YcQcV\m^lf hQbcVZ b ]Vbc UQVc _b^_SQ^YV bUV\Qcm SlS_U _ ]Qbb_S_Z `_bcQ^_S[V `mVb ^YX[_`a_R^_T_ b fdU_WVbcSV^^_-\YcVaQcda^_Z c_h[Y XaV^Yp b_UVaWQ^Yp, XQhQbcdo na_cYhVb[_Z ^Q`aQS\V^^_bcY, Q c_ Y [_^caaVS_\ogY_^^_T_ fQaQ[cVaQ. Kuz’mina, Stanovlenie i razvitie vospitatel’noj sistemy ispravitel’nych ucˇrezˇdenij sovetskogo gosudarstva (20-e, 50 – 70-e gg.), 1994, S. 26.

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werden müsse. Stattdessen sollten Theatervorführungen veranstaltet werden, die politisch aufklären und zur Umerziehung beitragen sollten.113 Ähnlichen Inhalts ist auch ein Eilbrief Doman’skijs und des Leiters der Abteilung für »Kulturaufklärung« N. A. Popov an den Leiter des »Umerziehungsheims« in Sokol’niki114 vom 26. September 1922. Hier wird nach persönlicher Inspizierung bemängelt, dass die Kulturarbeit hauptsächlich darauf abzielte, Häftlingen leichte Unterhaltung durch Konzerte, »oberflächliche« Theatervorführungen und Ähnliches zu bieten. Es wird abschließend befohlen, die Aufführung von Vaudevilles, Possenspielen, »Operettchen« und Tänzen unbedingt zu unterbinden.115 An dieser Stelle wird deutlich, dass eine Kontinuität zwischen dem Theaterrepertoire in den zarischen ostrogi und dem in sowjetischen Haftanstalten vorhanden war. Im Rundschreiben Nr. 120 des GUMZ vom 19. April 1923 an alle Gouvernement- und Gebietsverwaltungen der Haftanstalten wurde festgestellt,116 dass in vielen Haftanstalten Vorführungen mit »völlig unzulässigem Inhalt« gezeigt worden seien. Die Leiter der »Lehrerziehungsstellen« wurden dazu angehalten, das Repertoire besonders sorgfältig auszuwählen. Wünschenswert seien Stücke revolutionären und agitatorischen Charakters und solche, die eine bessernde und erzieherische Wirkung auf die Psyche der Häftlinge hätten. Abschließend hieß es: Die Veranstaltung von unterhaltenden Kabaretts wie auch von Maskeraden mit Gewinnspielen ist in Haftanstalten unzulässig.117

Die zuletzt zitierten Dokumente können als Beweismittel herangezogen werden, wenn es um die Frage geht, inwiefern den Berichten über Konzerte und ähnliche Veranstaltungen in den Haftanstalten Glauben geschenkt werden darf, zumal in der Anfangszeit des sowjetischen Staates, der mit großen ökonomischen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Da es sich hierbei um interne, nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Anweisungen handelt, und sie zudem aus Sicht der Verfasser negative Erscheinungen thematisieren, sprechen sie zumindest für die Existenz eines wie auch immer gearteten Musiklebens in den Haftanstalten. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die rechtlichen Grundlagen bereits in den ersten Jahren des Sowjetstaates für ein Musikleben in den Haft113 114 115 116

GARF: F. R-4042, op. 4, d. 3, l. 8 u. 8ob. Dabei handelt es sich um einen Stadtteil Moskaus. GARF: F. R-4042, op. 4, d. 3, l. 73 u. 73ob. Unterzeichnet vom GUMZ-Leiter, E. Sˇirvindt, dem Vorsitzenden der Administrativabteilung des GUMZ, Kornblitt, und dem Leiter der Unterabteilung für »Kulturaufklärung«, Djablo. 117 Dbca_ZbcS_ [QRQan [!] \VT[_T_ WQ^aQ, Q cQ[WV ]Qb[QaQU_S b `aYXQ]Y ^VU_`dbcY]_ S ]VbcQf XQ[\ohV^Yp. GARF: F. R-4042, op. 4, d. 2, l. 13.

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anstalten gesorgt haben. Es stellte sich jedoch ebenfalls früh heraus, dass die Lenkung der Musikaktivitäten sowohl im Hinblick auf die Auswahl der Zuhörer als auch auf die des Repertoires durch eine übergreifende Behörde schwierig war. Zu beachten ist dabei, dass bislang lediglich die dem GUMZ unterstellten Anstalten betrachtet worden sind. Ein Lager der Geheimpolizei OGPU wird im Mittelpunkt des folgenden Kapitels »Musikausübung im ersten großen Zwangsarbeitslager : Solovki 1923 – 1939« stehen.

Institutionalisierung des verordneten Musiklebens ab 1924 In der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre hat die »Kulturaufklärungsarbeit« unter Häftlingen zugenommen, so ein Beschluss des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees und des Rats der Volkskommissare vom 26. März 1928.118 Nach der Berichterstattung des GUMZ im Jahr 1926 hat es 820 Theaterzirkel sowie 502 Musik- und Gesangszirkel in Haftanstalten gegeben. Zum Vergleich: Gleichzeitig existierten 438 Polit- und 177 Sportzirkel. Die Umerziehung der Häftlinge war offenbar nicht nur ein Schlagwort der Propaganda, sondern wurde ernsthaft versucht. Dafür spricht neben dem Netz der »Lehrerziehungsstellen« in den Haftanstalten auch die Schaffung eines Staatlichen Instituts zur Erforschung des Verbrechers und der Kriminalität im Jahr 1925 unter der Ägide des NKVD, welches sich mit der Psychologie des Häftlings und den Möglichkeiten der Pädagogik bei seiner Umerziehung befasste.119 1924 wurde das erste »Besserungsarbeitsgesetzbuch« [Ispravitel’no-trudovoj kodeks] der RSFSR verabschiedet, in dem die große Bedeutung der »Kulturerziehungsarbeit« bei der Umerziehung der Häftlinge verankert wurde. Darin hieß es, dass in jeder »Besserungsarbeitseinrichtung« [ispravitel’no-trudovoe ucˇrezˇdenie] »Kulturaufklärungsarbeit« mit Häftlingen durchzuführen sei. Ziel dieser Arbeit sei die »Steigerung des intellektuellen Niveaus und des Entwicklungsstandes der Häftlinge als Bürger«. Die Maßnahmen hatten sich vorrangig auf Inhaftierte aus der Arbeiterschicht zu richten,120 vermutlich weil sie als Vertreter des Proletariats zu derjenigen Bevölkerungsgruppe gehörten, auf welche die Bolschewiki ihre Macht stützten. Grundsätzlich war jedoch keine Häftlingsgruppe von diesen Maßnahmen ausgeschlossen.121 Der Schwerpunkt der »Kulturerziehungsarbeit« sollte auf der Vermittlung 118 Losev/Ragulin, Sbornik normativnych aktov po sovetskomu ispravitel’no-trudovomu pravu (1917 – 1959 gg.), 1959, S. 202. 119 Kuz’mina, Stanovlenie i razvitie vospitatel’noj sistemy ispravitel’nych ucˇrezˇdenij sovetskogo gosudarstva (20-e, 50 – 70-e gg.), 1994, S. 29 f. 120 Ispravitel’no-trudovoj kodeks RSFSR, 1924, S. 19 f. 121 Kuz’mina, Stanovlenie i razvitie vospitatel’noj sistemy ispravitel’nych ucˇrezˇdenij sovetskogo gosudarstva (20-e, 50 – 70-e gg.), 1994, S. 28.

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schulischen Wissens, eines Berufs und von Kenntnissen über den Aufbau der sowjetischen Gesellschaft sowie über die Rechte und Pflichten eines Sowjetbürgers liegen.122 Als Orte der »kulturellen Arbeit« waren Bibliotheken und Klubhäuser, als ihre Formen Vorträge und Zirkel vorgesehen. Für Vorträge waren politische sowie populär-wissenschaftliche Fragestellungen als Themen vorgeschrieben. In Zirkeln sollten sich Häftlinge mit Literatur, Musik, Sport, Schach u. a. beschäftigen und Mithäftlinge durch Konzerte, Theatervorführungen, Lesungen, Sportübungen, Buchbesprechungen, lebendige Nachrichtenvermittlung [zˇivaja gazeta – wörtlich »lebendige Zeitung«] und »andere kulturelle Vergnügungen« daran teilhaben lassen. Als übergeordnete Richtlinie wurde festgesetzt, dass diese Maßnahmen den Zielen der »kommunistischen Umerziehung« [kommunisticˇeskoe perevospitanie] entsprechen sollten. Für die Durchführung der Kulturarbeit waren, wie schon vor der Verabschiedung des »Besserungsarbeitsgesetzbuches«, die »Lehrerziehungsstellen« der einzelnen Lager zuständig.123 Im März 1930 beschäftigten sich das Allrussische Zentrale Exekutivkomitee und der Rat der Volkskommissare erneut mit der »Kulturerziehungsarbeit« in den Haftanstalten. Sie stellten fest, dass diese Erfolg zeitigte und beschlossen, den Etat dafür zu erhöhen.124 In der Verordnung des Rats der Volkskommissare über »Besserungsarbeitslager« von 1930 wurde Kulturarbeit in den Lagern in die ˇ [kul’turno-vospitatel’naja ˇcast’] Hände der Stellen für »Kulturerziehung« KVC gelegt. Diese ersetzten die bis dahin bestehenden »Lehrerziehungsstellen«. Nach Viktorija Mironova und Jacques Rossi wurden die ersten Stellen für »Kulturerziehung« in den Lagern der Geheimpolizei OGPU bereits in der zweiten Hälfte ˇ wurden von einer zentralen der 1920er-Jahre eingerichtet.125 Die einzelnen KVC Stelle für »Kulturerziehung« des OGPU koordiniert. Mit der Verwendung des Begriffs »kulturell« wurde ein im sowjetischen Verständnis weit dehnbarer Terminus in die Bezeichnung dieser Institution eingefügt. Einen Eindruck davon, wie er von sowjetischen Behörden verstanden wurde, vermitteln Dokumente des KVO GULAG [KVO – kul’turno-vospitatel’nyj otdel – Abteilung für »Kulturerziehung«], der Nachfolgeorganisation der Stelle für »Kulturerziehung« des OGPU. In den aus den Jahren 1941 – 1943 stammenden Dokumenten (frühere sind nicht erhalten geblieben oder werden an einem der Verfasserin unbekannten Ort aufbewahrt) kommen Ausdrücke wie »Kultur

122 Ispravitel’no-trudovoj kodeks RSFSR, 1924, S. 19. 123 Ispravitel’no-trudovoj kodeks RSFSR, 1924, S. 20 f. 124 Losev/Ragulin, Sbornik normativnych aktov po sovetskomu ispravitel’no-trudovomu pravu (1917 – 1959 gg.), 1959, S. 230 f. 125 Mironova, Kul’turno-vospitatel’naja rabota v lagerjach GULAGa NKVD-MVD SSSR v 1930 – 1950-e gody, 2004, S. 26; Rossi, Zˇak (Jacques Rossi): Spravocˇnik po GULAGu, in zwei Bänden, 1991, Bd. 1, S. 152.

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und Sauberkeit im Betrieb«, »kulturelle Instandhaltung des Arbeitsplatzes«126, »kulturelle Instandhaltung des Lagers«127, »Einführung der Kultur in den Arbeitsablauf« als mögliche Folge der verbesserten Hygiene im Lager oder »Einführung der Kultur in den Produktionsablauf« vor.128 Kultur steht hier eher für Ordnung, für die Einfügung der Arbeiter in den Produktionsprozess, für Zivilisiertheit und Kultiviertheit.129 In den Zuständigkeitsbereich des KVO fiel unter anderem die Organisation solcher Beschäftigungen wie das Anlegen von Blumenbeeten, AltmetallSammlungen130 oder Gespräche zum Thema »Kampagne gegen Unreinlichkeit und Schlamperei«.131 Ebenfalls in ihren Zuständigkeitsbereich fiel antireligiöse Propaganda unter den Häftlingen.132 »Kulturerziehung« war kein auf die Zwangsarbeitslager beschränktes Phänomen. Vielmehr spielte sie auch im zivilen Leben der Sowjetunion eine wichtige Rolle, und zwar während ihrer gesamten Bestehenszeit. Durch »Kulturaufklärungsarbeit« – so die Große sowjetische Enzyklopädie – sollte die »kommunistische Erziehung« und die »politische Aufklärung« der Arbeiter unterstützt werden, ihr kulturelles Niveau gesteigert, schöpferische Veranlagungen entwickelt sowie ihre Freizeit gestaltet werden.133 »Kulturaufklärungsarbeit« hatte beispielsweise zum Ziel, zur Arbeit, zur Sittlichkeit, zum Atheismus und zum Sport zu erziehen, Wissenschaft und Technik zu propagieren sowie den Sinn für das Schöne zu entwickeln. Dies sollte durch Gesprächsrunden, Vorträge, Schauspiele, Konzerte u. a. bewirkt werden. Einen Zweig innerhalb dieser Arbeit bildete die »Laienkunst« – chudozˇestvennaja samodejatel’nost’, welche musikalische Betätigung von Laien mit einem landesweiten Netz von Wettbewerben und Festivals bedeutete. Zuständig dafür waren unter anderem die Jugendorganisation Komsomol, Künstlerverbände, Chorvereinigungen, Museen, Bibliotheken, »Häuser der Volkskunst« sowie »Häuser der Laienkunst«. Das in der zivilen Gesellschaft entwickelte Modell der »Kulturerziehungsarbeit« wurde auf die Lagergesellschaft übertragen. Kul’turnik als Bezeichnung für jemanden, der »Kultur in die Massen trägt«, war sowohl in Freiheit als auch in den

126 127 128 129 130 131 132 133

GARF: F. 9414scˇ, op. 1, d. 1432, S. 18 f. GARF: F. 9414scˇ, op. 1, d. 1449, S. 23. GARF: F. 9414scˇ, op. 1, d. 1439, S. 71. Zum Konzept der kul’turnost’ (Kultur, Kultiviertheit) siehe: Volkov, Vadim: »The Concept of kul’turnost’. Notes on the Stalinist civilizing process«, in: Fitzpatrick, Sheila (Hg.): Stalinism. New Directions, 2000, S. 210 – 230. GARF: F. 9414scˇ, op. 1, d. 1432, S. 19. GARF: F. 9414scˇ, op. 1, d. 1434, l. 47. GARF: F. 9414scˇ, op. 1, d. 1432, S. 12 f. Rauzen, M. V.: »Kul’turno-prosvetitel’naja rabota«, in: Bol’sˇaja Sovetskaja E˙nciklopedija, Bd. 13, 3. Auflage, 1973, S. 599.

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Haftanstalten üblich.134 Die Verordnung über »Besserungsarbeitslager« von 1930 definierte die Zuständigkeiten der »Kulturerziehungsstellen«, die in jedem Lager eingerichtet werden sollten: Alphabetisierung, berufliche Fortbildung, Theaterarbeit, Bibliotheken, Konzerte, politische Veranstaltungen, Herausgabe von Zeitungen und Wandzeitungen, Sportzirkel sowie die Beobachtung des kriminellen Potenzials der Häftlinge. Gleichzeitig betonte sie, dass die »Kulturerziehungsarbeit« vor allem für Häftlinge aus der Arbeiterklasse und – was neu war – aus dem Bauerntum vorgesehen war. Konzerte und andere Aktivitäten sollten aus Eigeninitiative [samodejatel’nost’] der Insassen heraus veranstaltet werden.135 Die Idee der Umerziehung der Häftlinge als Ziel des Strafvollzugs hat sich bis in das postsowjetische Russland hinein gerettet. Beispielsweise liegt sie der Dissertation von Ol’ga Kuz’mina zugrunde,136 welche bei der Akademie des MVD [Ministerstvo vnutrennich del – Innenministerium] eingereicht worden ist. Bezeichnend für diese Arbeit ist, dass sie die Zeitspanne der 1930er- bis 1950er-Jahre ausspart, obwohl die Idee der Umerziehung gerade in den 1930ern ein Aushängeschild der Haftanstalten war. Durch Arbeiten wie die von Ol’ga Kuz’mina wird eine selektive positive Geschichtsschreibung in Russland gepflegt, welche die Zeitspanne, in der das Gulag-System seine stärkste Ausprägung gefunden hat, ausspart. 1930 kam es innerhalb des OGPU zur Gründung des ULAG [Upravlenie lagerjami – Verwaltung der Lager] als einer Vorläuferorganisation des GULAG. 1934 ging das OGPU und damit auch das GULAG im Volkskommissariat für Inneres (NKVD) auf. Dem GULAG wurde wenige Monate später die Zuständigkeit für den Großteil der Zwangsarbeitslager der UdSSR übertragen. Die Stelle für »Kulturerziehung« wurde zur Abteilung für »Kulturerziehung« des GULAG (KVO GULAG) umorganisiert. Dem KVO GULAG unterstanden entsprechende Abteilungen in den einzelnen Lagern oder Lagerkomplexen (ebenˇ ) der einzelnen falls KVO genannt), die ihrerseits Kulturerziehungsstellen (KVC 137 Lagereinheiten koordinieren sollten. Durch die Einrichtung der Abteilungen und Stellen für »Kulturerziehung« wurde ein Netz von Institutionen geschaffen, die allein für die Organisation von Kulturarbeit in den Lagern zuständig waren. Auf welche Art und Weise sich das Kulturleben in den Lagern des GULAG entwickelte und welchen Einfluss darauf

134 Vgl. die Instruktion des GUMZ vom 30. Juli 1926 für die kul’turniki der Zelle und der Flure in den Haftanstalten. Bechterev, Ju.: »Chuliganstvo i klubnaja rabota v mestach zakljucˇenija«, in: Klub, 1927, S. 49. 135 Kokurin, Aleksandr (Hg.): GULAG: Glavnoe upravlenie lagerej. 1918 – 1960, 2002, S. 66, 71. 136 Kuz’mina, Stanovlenie i razvitie vospitatel’noj sistemy ispravitel’nych ucˇrezˇdenij sovetskogo gosudarstva (20-e, 50 – 70-e gg.), 1994. 137 Rossi, Spravocˇnik po GULAGu, 1991, Bd. 1, S. 151 – 153.

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die Stellen für »Kulturerziehung« ausübten, wird im Laufe der Untersuchung zu klären sein. Musikkulturelle Praktiken in den Haftanstalten nach 1924 Zu den Formen der Kulturarbeit in den Haftanstalten, welche im »Besserungsarbeitskodex« von 1924 erwähnt wurden, gehörte zˇivaja gazeta – eine in den 1920er-Jahren weit verbreitete Form des Laien- sowie teilweise auch professionellen Theaters, welche Zeitungsmeldungen bzw. aktuelle Ereignisse als Vorlage nutzte. Ihren Ursprung hatte sie im Zeitunglesen an der Front im russischen Bürgerkrieg. Neben Monologen konnte zˇivaja gazeta auch Gruppendeklamation oder cˇastusˇki (s. weiter unten in diesem Abschnitt) enthalten. Die 1923 ins Leben gerufene Theatergruppe Sinjaja bluza (Blaue Bluse) war der erste professionelle Zusammenschluss, welcher die Form der zˇivaja gazeta praktizierte.138 Ihre Aktivitäten werden im Abschnitt über Aleksandr Kenel’ in Kapitel A.2.1 näher vorgestellt. Über die Beschaffenheit der zˇivaja gazeta in den Haftanstalten erzählt ein Artikel aus der Zeitschrift Klub aus dem Jahr 1927, herausgegeben von der Moskauer Abteilung für Agitation und Propaganda der Jugendorganisation Komsomol. Verfasst wurde er von Professor Ju. Bechterev, der sich intensiv mit der Umerziehung der Häftlinge auseinandersetzte.139 Sein Artikel handelt davon, wie das Rowdytum und die Trunksucht in den Haftanstalten durch Kulturarbeit bekämpft werden könnten. Daraus geht hervor, dass in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre auch in Freiheit die Unterhaltung im Klub als ein Mittel zur Bekämpfung des Rowdytums galt.140 Zˇivaja gazeta – so Bechterev – wurde in großen Haftanstalten gegeben, und zwar ein- bis zweimal pro Monat. Sie handelte von politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ereignissen in Freiheit sowie vom Innenleben der Anstalt. Als »üblichen« Ablauf stellt der Verfasser folgenden vor: 1) »Leitartikel« zu einem gesellschaftlich-politischen Thema; 2) literarischer Teil (Werke von Häftlingen u. a.); 3) Gespräche über das »Besserungsarbeitsrecht«; 4) Protiv chuliganstva (Gegen das Rowdytum) – Sketche aus dem Alltag der Haftanstalten;

138 Bol’sˇaja Sovetskaja E˙nciklopedija, 3. Auflage, Bd. 9, 1972, S. 182. 139 Bechterev, »Chuliganstvo i klubnaja rabota v mestach zakljucˇenija«, 1927, S. 45 – 53; Kuz’mina, Stanovlenie i razvitie vospitatel’noj sistemy ispravitel’nych ucˇrezˇdenij sovetskogo gosudarstva (20-e, 50 – 70-e gg.), 1994, S. 34. 140 Vgl. Ulickaja, M.: »Tanec v klube«, in: Sovetskoe iskusstvo, 1926, S. 33.

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5) Neuigkeiten aus der Wissenschaft und Technik; 6) Theateraufführungen, Musik, Gesang.141 Die größte Bedeutung als Musikgattung erlangte dabei die cˇastusˇka (Mehrzahl cˇastusˇki, was sich vom Adjektiv cˇastyj [häufig] ableitet), die auch in Freiheit äußerst populär war. Dies war eine vokal-instrumentale Gattung aus der russischen Volksmusik, welche aus Einzelstrophen mit meist vier Zeilen bestand, von denen viele aneinandergereiht werden konnten. Sie wurden meist in schnellem Tempo vorgetragen und von Harmonikas und/oder Balalaikas begleitet. Diese Gattung ist im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden und hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen großen Aufschwung erlebt.142 Zwei CˇastusˇkaMelodien aus dem russischen vorrevolutionären Volksliedgut seien in den Abbildungen 4 und 5 angeführt, um einen Eindruck von ihren Melodien zu vermitteln.

Abb. 4: Ivanov, Azarij: Russkie narodnye pesni, 1966, S. 369 f.

Abb. 5: Ivanov, Russkie narodnye pesni, 1966, S. 373.

Meist folgten sie der harmonischen Folge S T D T oder S T Sp T im 2/4-Takt. Ein Beispiel für ein den cˇastusˇki ähnliches Lied ist in der Schlussszene des Films VesÚlye rebjata (Die lustigen Burschen) von Grigorij Aleksandrov aus dem Jahr 1934 zu hören, der zur ersten sowjetischen Musikkomödie erklärt wurde. Ein weiteres Beispiel stellt Aleksandr Aleksandrovs Lied Dal’nevostocˇnye cˇastusˇki 141 Bechterev, »Chuliganstvo i klubnaja rabota v mestach zakljucˇenija«, 1927, S. 46. ˇ astusˇka«, in: Bol’sˇaja Sovetskaja E˙nciklopedija, 3. Auflage, Bd. 29, 1978, 142 Lazutin, S. G.: »C S. 35; Morgenstern, Ulrich: »Rußland. A. Volksmusik«, in: Blume, Friedrich (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil, Bd. 8, 1998, Sp. 656 f. u. 665.

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(Fernöstliche cˇastusˇki) aus dem Jahr 1938 dar,143 komponiert aus Anlass der militärischen Auseinandersetzungen mit Japan am See Chasan im Fernen Osten Russlands. Der Film Kubanskie kazaki (Kubankosaken) von Ivan Pyrev aus dem Jahr 1949 demonstriert, dass die Gattung der cˇastusˇka auch nach dem Krieg nichts von ihrer Popularität eingebüßt hat. Hier wird ein Konzert der »Laienkunst« gezeigt, in welchem unter anderem cˇastusˇki aufgeführt werden. ˇ astusˇka-Texte in den Haftanstalten der Einen Eindruck davon, welche C 1920er-Jahre gesungen wurden, vermitteln Beispiele aus der Isolieranstalt von Jaroslavl’ aus dem Jahr 1926. Sie wurden in der anstaltinternen Zeitung unter der Überschrift »Der lustige Harmonikaspieler« abgedruckt. In diesen Texten fehlt jedoch jeglicher Humor : Ein Teil davon ist rein agitatorischen Charakters, der andere beschreibt die Grausamkeiten im Alltag der Häftlinge in einer nüchternen Sprache, durchsetzt mit umgangssprachlichen Ausdrücken, beispielsweise: Damit wir uns während der Haft bessern Und Kultur erlernen, Wird es Zeit, tätig zu werden, Sich das Schlechte abzugewöhnen. Wenn der Abend in der Zelle anbricht, Huch, da gibt es ein Durcheinander! Es wird geflucht und gelogen, Und es geschieht viel Böses.144

ˇ astusˇka-Melodien zeigen, dass die Diese Texte in Verbindung mit harmlosen C offizielle Kulturarbeit in den Haftanstalten in ihrer Anfangszeit häufig von schlecht gebildeten und einfallslosen Menschen verantwortet wurde und sich, wie schon von oben zitierten Zeitgenossen festgestellt, in vielen Haftanstalten durch mangelnde Qualität auszeichnete.145 Dagegen überliefert Michail Nikonov-Smorodin einen inoffiziellen CˇastusˇkaText aus dem Jahr 1928, welchen er im Gefängnis von Kazan’ gehört haben soll, 143 Hörbeispiel: http://www.sovmusic.ru/download.php?fname=dalnevos (letzter Zugriff am 22. Januar 2012). 144 Hc_R bYUVcm ^Q] Yb`aQS\pcmbp 9 [d\mcdad YXdhQcm, þQ] `_aQ XQ UV\_ SXpcmbp[,] ?c `\_f_T_ _cSl[Qcm. 3VhVa S [Q]VaV ^QbcQ^Vc[,] Df, [Q[Qp [dcVam]Q ! =QcVajY^d XQTYRQoc[,] 9 cS_aYcbp ]^_T_ X\Q.

Bechterev, »Chuliganstvo i klubnaja rabota v mestach zakljucˇenija«, 1927, S. 47. 145 Kuz’mina, Stanovlenie i razvitie vospitatel’noj sistemy ispravitel’nych ucˇrezˇdenij sovetskogo gosudarstva (20-e, 50 – 70-e gg.), 1994, S. 31 f.

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und zwar gesungen von einem Häftling zur eigenen Balalaika-Begleitung im Gefängnisalltag: Auf dem Gleis brennen Lichter, Die Seele ist unruhig. Der Zug rast nach Solovki, Es ist ein langer Weg.146

Diese cˇastusˇka, welche möglicherweise die nahe Zukunft des Häftlings reflektierte, bot ihm die Möglichkeit, seine Gefühle zu verarbeiten. Dass nicht alle Häftlinge in den 1920er-Jahren gern bei der Musikausübung gesehen wurden, berichtet Veniamin Bromberg in seinen Aufzeichnungen und Briefen aus dem Gefängnis, welche von seinem Sohn veröffentlicht wurden.147 146 þQ `\Qce_a]V _T_^m[Y, þQ UdiV caVS_TQ.

=hYcbp `_VXU S B_\_S[Y – 5Q\m^pp U_a_TQ.

Nikonov-Smorodin, Michail: Krasnaja katorga. Zapiski solovcˇanina, 1938, S. 88. 147 Bromberg, Gerc: Svet ubitoj zvezdy, 1998. Wie sein Sohn ausführt, wurde der Geiger 1923 zum ersten Mal verhaftet, 1926 wurde er zu drei Jahren Haft verurteilt, worauf 1929 eine Verbannung nach Zentralasien folgte, wo er 1932 erneut verhaftet und zu drei weiteren Jahren Verbannung verurteilt wurde. Nach drei anschließenden Jahren Freiheit folgte 1938 eine Verurteilung zum Tode, welche jedoch in 20 Jahre Lagerhaft und fünf Jahre Entzug der bürgerlichen Rechte umgewandelt wurde. Im Lager auf der Kolyma wurde Bromberg erneut verurteilt, und zwar zum Tod durch Erschießen, und diesmal wurde das Urteil auch vollstreckt. Dieses leidvolle Schicksal, welches von unzähligen Umzügen und einem Kindstod geprägt war, hat Brombergs Sohn anhand von Untersuchungsakten und Briefen rekonstruiert. Bromberg, Svet ubitoj zvezdy, 1998, S. 1 f. Seine profunde Musikausbildung half Bromberg oftmals: In der Verbannung in Turkmenien trat er als Geiger auf, wobei er auch eigene Stücke spielte. Er sehnte sich jedoch danach, ein klassisches Konzert mit einem Streichquartett, einem Trio, einer Sinfonie oder eine Oper zu hören, was nur selten möglich war, nämlich nur dann, wenn ein Ensemble auf einer Tournee dort vorbeikam. Im März 1933 durfte Bromberg mit seiner Frau nach Tasˇkent übersiedeln und freute sich sehr über viele berühmte Musiker, die zu Konzerten dorthin kamen. Er gründete dort zusammen mit Arbeitskollegen (er verdiente seinen Lebensunterhalt als Ökonom) ein Klaviertrio, mit dem er wöchentlich spielte, was er als »Erholung für die Seele« bezeichnete. Auch trat er weiterhin als Solist auf und spielte später im Quartett. Bromberg, Svet ubitoj zvezdy, 1998, S. 54 – 56, 60, 72 – 75, 77, 81. Die Verhaftung und Verurteilung zu 20 Jahren Lagerhaft 1938 riss Bromberg von seiner Frau und seinem zweijährigen Sohn weg. 1940 teilte er aus einem Lager in Vladivostok mit, dass eine Geige für ihn gebaut werde. Er sei auch schon mit einer fremden Geige in Baracken aufgetreten, denn in das Klubhaus habe man ihn wegen der Paragrafen, nach denen er verurteilt worden war (§ 58 – 6 – 8 – 11, http://lists.memo.ru/d5/ f290.htm [letzter Zugriff am 5. Juni 2011]), nicht zugelassen. Nachdem er eine Zeit lang mit der Allgemeinheit der Häftlinge gearbeitet hatte, durfte er in die Tischlerwerkstatt wechseln, wo auch Geigen hergestellt wurden. Dadurch schöpfte er die Hoffnung, nicht auf die Kolyma verschifft zu werden, und baute an seiner Geige mit. Er berichtete, dass ihm zahlreiche Fälle bekannt waren, in denen Musik Häftlinge gerettet habe und bat um die Zusendung von Saiten. Er setzte große Hoffnungen darauf, dass er als Musiker bessere Überlebenschancen hätte. Im Juli 1940 wurde er schließlich doch zum Transport bestimmt

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Veniamin Bromberg wurde 1904 in Cherson in der Ukraine geboren und erhielt eine Musikausbildung bei PÚtr Stoljarskij in Odessa, zusammen mit David Ojstrach.148 Zusätzlich verfügte er auch über eine Ausbildung zum Ökonom. Seit seinem 19. Lebensjahr bis zu seinem Tod im Jahr 1942 befand er sich fast ununterbrochen in Haft oder Verbannung, weil er der zionistischen Jugendorganisation Histadrut angehört hatte. Er war ein politischer Häftling, dessen Schicksal in den Händen des OGPU lag. Aus dem Gefängnis teilte Bromberg seinen Eltern im Juli 1926 mit, dass er auf einen Rat von Maksim Gor’kijs erster Frau Ekaterina Pesˇkova, die dem Politischen Roten Kreuz in Russland vorstand, ein Gesuch beim OGPU eingereicht habe mit der Bitte, seine Musikausbildung im Gefängnis fortsetzen zu dürfen. Im August 1926 habe er eine endgültige Ablehnung erhalten,149 obwohl es ihm erlaubt war, sich in Fremdsprachen fortzubilden. Auch wenn er nicht musizieren durfte, versuchte Bromberg sich in Komposition: Im November 1927 berichtete er, dass er ein Duett für zwei Geigen komponiert habe, kurz darauf sandte er vier von ihm verfasste Stücke an seine Eltern. Diese zeigten seine Manuskripte einem Konservatoriumsprofessor, welcher Bromberg empfohlen haben soll, sich mehr dem Klavierspiel zu widmen und mit Harmonielehre zu beschäftigen. Genau dies war im Gefängnis jedoch nicht möglich, und Bromberg konnte die vielen musikalischen Gedanken in seinem Kopf, von denen er berichtet, nicht adäquat zu Papier bringen. Ein Lehrbuch für Harmonielehre, welches seine Eltern ihm daraufhin offenbar zuschickten, allein zu erarbeiten, bereitete ihm große Mühe.150 Auf diese Weise wurde das Streben eines jungen Mannes danach, Komponist zu werden, in den Gefängnissen und Lagern erstickt.151 Ein Bereich der »Kulturerziehungsarbeit«, welcher von einem 1932 veröffentlichten Foto dokumentiert wird,152 in diesem Kapitel aber wegen fehlender

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und nahm die noch nicht fertige Geige mit. Auf der Kolyma arbeitete er zunächst im Schacht, wurde dann aber zum Leiter eines Jazz-Orchesters ernannt, weil kein anderer Geiger im betreffenden Lagerpunkt inhaftiert war, und konnte sich ein Stück weit erholen. Im Juni 1942 wurde Bromberg auf eine Denunziation hin nach § 58 – 10, Teil 2 zum Tode verurteilt und am 31. Juli 1942 erschossen. Bromberg, Svet ubitoj zvezdy, 1998, S. 91 – 97, 99, 102 f., 107 – 109. Stoljarskij war ein sehr erfolgreicher Pädagoge, aus dessen Schule solche namhaften Interpreten wie Natan Mil’sˇtejn, Boris Gol’dsˇtejn, Elizaveta Gilel’s (Schwester des Pianisten E˙mil’) und Michail Fichtengol’c hervorgegangen sind. Elagin, Jurij: Ukrosˇˇcenie iskusstv, 2002, S. 230 – 232. Bromberg, Svet ubitoj zvezdy, 1998, S. 12. Bromberg, Svet ubitoj zvezdy, 1998, S. 18 f., 24 f. Das einzige erhalten gebliebene musikalische Manuskript Brombergs wird in Kapitel C, im Abschnitt »Im Gulag gedichtete und komponierte Lieder« behandelt. Es handelt sich um ein Foto aus dem Gefängnis Lefortovo, welches dem Text »Neue Musik in der Sowjetunion 1931 – 1932« von G. Poljanovskij beigegeben ist. Im Text wird nicht auf das

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Quellen nicht behandelt werden konnte, ist der Einsatz von Radios in den Haftanstalten der frühen Sowjetunion. Während er in den sowjetischen Lagern der 1930er- und späteren Jahre durch eine ausreichende Anzahl von Zeugnissen belegt ist und in Kapitel B.1 behandelt wird, müssten für die Haftanstalten in der frühen Sowjetunion noch Quellen gefunden werden, um die Anfänge des Einsatzes von Radios im sowjetischen Strafvollzug beschreiben zu können. ***

Die Betrachtung des verordneten Musiklebens in den sowjetischen Haftanstalten der 1920er-Jahre hat folgende Merkmale ans Licht gebracht: a) im Rahmen der Musikausübung kam es zum Kontakt zwischen den Häftlingen und der zivilen Bevölkerung, welcher von der Lagerhauptverwaltung nicht vorgesehen war, wodurch das Gulag-System unterwandert wurde; b) für Häftlinge, die sich an der Kulturarbeit beteiligten, ergaben sich Privilegien, die zu ihrem Überleben beitragen konnten; c) das in Konzerten aufgeführte Repertoire enthielt teilweise Stücke, welche in Freiheit nicht aufgeführt werden konnten.

Foto eingegangen, er handelt hauptsächlich von der wachsenden Laienkunst-Bewegung in der Sowjetunion. USSR. Das neue Russland, Juli – August 1932, S. 58 – 62.

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Fallbeispiele: Solovki

A.2

Fallbeispiele

A.2.1 Musikausübung im ersten großen Zwangsarbeitslager: Solovki 1923 – 1939 In dieser ersten Experimentierzone […].153 Aleksandr Solzˇenicyn

Abb. 6: Ein Blick auf das Solovezker Kloster vom Meer aus, aufgenommen im September 2011 von der Verfasserin.

Historische Rahmenbedingungen Das erste große Konzentrationslager der Sowjetunion befand sich auf der Inselgruppe Solovki im Weißen Meer, ca. 530 km nördlich von Sankt Petersburg und 160 km südlich des Polarkreises gelegen.154 Im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts gründeten hier die Mönche Zosima und Savvatij ein Kloster, dessen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erbaute Anlagen heute zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören. Beginnend mit dem 16. Jahrhundert bis zum Jahr 1903 dienten die Solovki den russischen Zaren als Verbannungsort für Oppositionelle und andere Unruhestifter, die dort unter meist grausamen Bedingungen ihr Dasein fristen mussten. 1920 lösten die Bolschewiki das Kloster auf und richteten in den ehemaligen Klosteranlagen im Jahre 1923 ein Kon153 Solschenizyn, Alexander: Der Archipel GULAG. Folgeband. Arbeit und Ausrottung, Seele und Stacheldraht, 1974, S. 37. 154 Die einführenden Informationen beruhen auf Brodskij, Jurij: Solovki. Dvadcat’ let Osobogo Naznacˇenija, 2002, S. 7 – 16 und Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 243 – 252. Jurij Brodskijs Veröffentlichung sei allen empfohlen, die anhand von Zeitzeugenaussagen, Dokumenten und über 700 Fotografien einen umfassenden ersten Eindruck über das Lager auf den Solovki gewinnen wollen.

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zentrationslager ein, welches dem OGPU unterstand.155 Es erhielt den Namen USLON [Upravlenie Soloveckim lagerem osobogo naznacˇenija – Verwaltung des Solovezker Lagers zur besonderen Verwendung] oder abgekürzt SLON [Soloveckij lager’ osobogo naznacˇenija – Solovezker Lager zur besonderen Verwendung].156

Abb. 7: Der Solovezker Kreml in den 1920er-Jahren. GULAG. Das Lagersystem in der UdSSR, CD-ROM-Dokumentation, Memorial Deutschland. Im Internet zu finden unter http://www.gulag.memorial.de/photo.php5?ph=645 (letzter Zugriff am 8. August 2009).

Anfänglich gab es auf den Solovki – aus Sicht der Bolschewiki, wie der ehemalige Häftling Boris Sˇirjaev überliefert hat – drei Gruppen von Häftlingen: Politische, »Konterrevolutionäre« und »soziale Schädlinge«. Unter die Kategorie der Politischen zählten Sozialrevolutionäre, Anarchisten und Sozialdemokraten, die zusammen mit den Bolschewiki für die Revolution gekämpft hatten, danach 155 Die Bezeichnung »Besserungsarbeitslager« wurde im Juni 1929 vom Politbüro für die bis dahin als Konzentrationslager oder Zwangsarbeitslager bezeichneten Einrichtungen verordnet. Quelle: Ausstellung über die Geschichte des SLON im Solovezker Museum, September 2011. 156 Das Wort slon bedeutet im Russischen Elefant. Als Anspielung darauf hatte die Druckerei auf den Solovki einen Elefanten in ihrem Logo (Brodskij, Solovki, 2002, S. 280), und im Blumenbeet vor dem Verwaltungsgebäude des Lagers in der Stadt Kem’, wo USLON in den Jahren 1930/31 seinen Sitz hatte, war mit weißen Steinen die Figur eines Elefanten ausgelegt (Brodskij, Solovki, 2002, S. 405. Auch erwähnt bei Solschenizyn, Der Archipel GULAG. Folgeband, 1974, S. 38, allerdings ohne diese örtliche und zeitliche Angabe).

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aber zu ihren Gegnern geworden waren. Sie waren von den anderen Häftlingsgruppen getrennt untergebracht, mussten keine Zwangsarbeit leisten und wurden nicht nach Geschlechtern getrennt. Der überwiegende Teil dieser Insassen wurde 1925 von den Solovki deportiert. Die sogenannten Konterrevolutionäre – Angehörige der vorrevolutionären Intelligenz, der Weißen Armee, Geistliche u. a. – sowie Kriminelle, die »soziale Schädlinge« genannt wurden, arbeiteten zehn bis zwölf Stunden am Tag und sollten dadurch, wie im vorangehenden Kapitel gezeigt, zu neuen Menschen umerzogen werden. Doch Boris Sˇirjaev, der von 1923 bis 1927 auf den Solovki inhaftiert war, bezweifelt, dass die Tschekisten an die »Umerziehung« glaubten. Seine Zweifel scheinen berechtigt, denn die Tschekisten behandelten die Häftlinge nicht als potenzielle neue Menschen, sondern so, als ob sie unverbesserliche Feinde vor sich hätten, wie viele Häftlingserinnerungen bezeugen. Die Häftlinge empfanden die Zwangsarbeit als eine »Methode des Massenmords«.157 Die Zeitschrift Soloveckie ostrova (Die Solovezker Inseln) berichtete 1925, dass über der Bühne des Theaters auf den Solovki die Losung »Arbeit ohne Kunst ist Barbarei!« hing.158 Wie es sich mit dieser zweiten Komponente der »Umerziehung« – der Kulturarbeit – auf den Solovki verhielt, soll im Laufe dieses Kapitels gezeigt werden. Folgende Arbeiten mussten die Solovezker Inhaftierten beispielsweise verrichten: Be- und Entladen von Schiffen, Torf stechen, Erdarbeiten, Straßen- und Gebäudebau, landwirtschaftliche Arbeiten, Holzgewinnung und Verladen der Baumstämme,159 Fischfang,160 aber auch sinnlose Tätigkeiten, die nur verordnet wurden, damit die Insassen nicht untätig blieben, sondern litten.161 In ihrem Bericht über die Tätigkeit des Lagers in den Jahren 1926/27 berichtete die SLONLeitung, dass die meisten Häftlinge in der Holzgewinnung beschäftigt waren.162

157 Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 51, 134. 158 Soloveckie ostrova, 1925, Nr. 3. Ausstellung über die Geschichte des SLON im Solovezker Museum, September 2011. 159 Brodskij, Solovki, 2002, S. 174. 160 Kriwenko, Sergei: »Solowezki-ITL der OGPU«, http://www.gulag.memorial.de/lager.php5?lag=317 (letzter Zugriff am 17. November 2008). ˇ irkov, Jurij: A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 14. 161 Brodskij, Solovki, 2002, S. 189, 197, 397; C 162 Ausstellung über die Geschichte des SLON im Solovezker Museum, September 2011.

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Abb. 8: Karte der Solovezker Inseln. http://welcome.solovky.ru/exskurs.html (letzter Zugriff am 30. Oktober 2011).

Abb. 9: Historische Karte der Solovki. Mit Quadraten sind Lagerabteilungen gekennzeichnet. Ausstellung im Solovezker Kreml im September 2011.

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Ein großes Problem stellte die Unterbringung und Versorgung der Häftlinge dar – es fehlte an Unterkünften, sodass der vorhandene Wohnraum immer überfüllt war. Häftlinge starben vielfach an Unterernährung. Es mangelte an Winterkleidung, weswegen Erfrierungen im Winter häufig vorkamen. Oft wurde im Wasser oder im Moor gearbeitet, was Krankheiten nach sich zog.163 Unter den Leitern der Lagerpunkte fanden sich immer wieder Sadisten, welche die Häftlinge absichtlich misshandelten und töteten.164 Des Weiteren plagte sie Ungeziefer wie Stechmücken und Wanzen.165 1930 reiste eine Kontrollkommission des OGPU auf die Solovki, um das Lager zu inspizieren. Sie ließ zahlreiche Häftlinge aus der Selbstverwaltung sowie einige Tschekisten verhaften, um, so die offizielle Erklärung, Missstände bei der Unterbringung, Versorgung und Behandlung der Häftlinge zu beheben. Die festgenommenen Häftlinge wurden anschließend größtenteils hingerichtet, die Tschekisten aber zu Lagerhaft verurteilt. Hintergrund der Inspektion waren Berichte in der ausländischen Presse über die unmenschlichen Lebensbedingungen auf den Solovki. Mit der Inspektion sollte demonstriert werden, dass nicht das OGPU, sondern einzelne Personen vor Ort dafür verantwortlich waren.166 Die Strafe traf jedoch nicht die Urheber, sondern die Ausführenden. Die Kommission stellte im Abschlussbericht fest, dass die »Kulturerziehungsarbeit« im Prinzip befriedigend aufgestellt war, die Häftlinge aber wegen der »äußerst harten« Arbeit nicht fähig waren, daran teilzunehmen.167 Sie musste insgesamt konstatieren, dass Schläge und Misshandlungen sowie eine schlechte Unterbringung und Versorgung der Häftlinge die Regel auf den Solovki darstellten. An einer Stelle des Abschlussberichts heißt es: Die Angeklagten [der Leiter einer Lagereinheit und Wachposten] traten die Häftlinge zu Klängen einer Ziehharmonika mit Filzstiefeln, an denen Metallgewichte befestigt waren […].168

Hierbei handelt es sich um eine der wenigen Quellen zur Gulag-Geschichte, die einen Missbrauch der Musik zur Begleitung sadistischer Handlungen dokumentiert. Im Gegensatz zu nationalsozialistischen Konzentrationslagern, aus denen zahlreiche Fälle der Pervertierung von Musik »zu einem Instrument der

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Brodskij, Solovki, 2002, S. 179. Bsp.: Brodskij, Solovki, 2002, S. 185, 331, 340, 342, 348, 351, 354, 374, 380, 395. Brodskij, Solovki, 2002, S. 193. Brodskij, Solovki, 2002, S. 378 – 389. Bezborodova, Naselenie Gulaga: ˇcislennost’ i uslovija soderzˇanija, 2004, S. 145. ?RSY^pV]lV [^QhQ\m^Y[ _U^_Z [_]]Q^UYa_S[Y Y ^QUXYaQcV\Y-bcaV\[Y] `_U XSd[Y TQa]_^YY YXRYSQ\Y XQ[\ohV^^lf SQ\V^[Q]Y b ]VcQ\\YhVb[Y]Y TYap]Y […]. Bezborodova, Naselenie Gulaga: cˇislennost’ i uslovija soderzˇanija, 2004, S. 144.

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Tortur« überliefert sind,169 war ein solcher Einsatz von Musik im Gulag offensichtlich sehr viel weniger verbreitet. Nichtsdestotrotz diente Musik auch hier, und zwar seit den Anfängen des Systems, zur Unterdrückung und Erniedrigung der Häftlinge. Ein Beispiel aus dem Jahr 1921 ist aus dem Archgub-Zwangsarbeitslager des Dorfs Cholmogory bei Archangel’sk überliefert, welches, wie auch das Lager auf den Solovki, der Geheimpolizei OGPU unterstand. In einem undatierten Brief schrieb E. Filipcˇenko, die vom August bis November 1921 in Cholmogory inhaftiert war, an das Moskauer Politische Rote Kreuz: […] der Appell endete mit dem Singen der Internationale. Die Bewacher achteten darauf, dass alle sangen und einigermaßen die Töne trafen. Sie drohten uns ansonsten mit dem Karzer. Insgesamt dauerten die Appelle draußen über eine halbe Stunde, und an herbstlichen kalten Abenden waren sie die Ursache vieler Erkrankungen.170

Bemerkenswert ist, dass hier ausgerechnet die Internationale, welche damals als Staatshymne der UdSSR und gleichzeitig als Hymne der Sozialrevolutionäre fungierte, zur Erniedrigung der Häftlinge eingesetzt wurde. Aber auch die Häftlinge entdeckten bestimmte Wirkungen, die von Musik ausgehen können, schon früh für sich, beispielsweise wie sie unter Musikeinsatz besser Widerstand leisten konnten. Die Moskauer Wochenzeitung der Sozialrevolutionäre Narod (Das Volk) vom 17. August 1919 berichtete über den Beschuss der inhaftierten Sozialrevolutionäre im Butyrka-Gefängnis in Moskau am 9. August 1919. Dem Schießen ging eine Protestaktion der Häftlinge voraus, die vom Klopfen und Singen begleitet war. Daraufhin wurden sie, sowohl Männer als auch Frauen, direkt in den Gefängniszellen von Soldaten beschossen, wobei es in diesem Fall, so der Zeitungsartikel, keine Toten und Verletzten gegeben habe.171 1931 wurde der Großteil der Häftlinge von den Solovki zum Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals [Belomorsko-Baltijskij kanal] abtransportiert. Das USLON ging Anfang 1934 als eine Unterabteilung im Belbaltlag [Belomorsko-Baltijskij lager’ – Weißmeer-Ostsee-Lager] auf, dem Lager, welches für den Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals zuständig war (vgl. Kapitel A.2.2). Nach Baubeginn des Weißmeer-Ostsee-Kanals lebten so gut wie keine kriminellen Häftlinge mehr auf den Solovki, weil sie zum Bau des Kanals abgezogen worden waren. Ab 1937 169 John, Eckhard: »Musik und Konzentrationslager. Eine Annäherung«, in: Archiv für Musikwissenschaft, 1991, S. 6 – 11; Kuna, Milan: Musik an der Grenze des Lebens. Musikerinnen und Musiker aus böhmischen Ländern in nationalsozialistischen Konzentrationslagern und Gefängnissen, 1993, S. 31 – 36. 170 […] `_SVa[Q XQ[Q^hYSQ\Qbm `V^YV] Y^cVa^QgY_^Q\Q. þQUXYaQcV\Y b]_caV\Y XQ cV][,] hc_Rl SbV `V\Y Y `V\Y U_bcQc_h^_ bca_Z^_, dTa_WQp [QagVa_]. 3 _RjV] `_SVa[Y ^Q S_XUdfV `a_U_\WQ\Ybm R_\miV 12 hQbQ, Y S _bV^^YV f_\_U^lV SVhVaQ RlSQ\Y `aYhY^_Z ]^_TYf XQR_\VSQ^YZ. GARF: F. R-8419, op. 1, d. 8, l. 84. 171 GARF: F. R-8419, op. 1, d. 8, l. 16.

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war auf den Solovki ein Gefängnis für politische Gefangene mit der umgangssprachlichen Bezeichnung STON [Soloveckaja tjur’ma osobogo naznacˇenija – Solovezker Gefängnis zur besonderen Verwendung; das Wort ston bedeutet im Russischen Stöhnen, Ächzen] untergebracht, welches 1939 aufgelöst wurde.172 Nach Jurij Brodskij waren auf den Solovki sowie in den Lagern auf dem Festland, die von der Solovezker Lagerverwaltung befehligt wurden, in der gesamten Bestehenszeit des Lagers ca. 1.000.000 Menschen inhaftiert.173 Dies waren ca. 5 Prozent aller bis Mitte der 1950er-Jahre im Gulag inhaftierten Häftlinge.174 Heute liegt ein großer Stein von den Inseln, die als Wiege des Gulag, als »Verkörperung des Systems der Konzentrationslager« in der UdSSR der 1920er-Jahre oder als »Stammvater des Systems der Konzentrationslager« in der UdSSR175 bezeichnet werden können, am Lubjanka-Platz in Moskau176 und erinnert an alle Gulag-Opfer.177 Aufgestellt wurde er von der Gesellschaft Memorial mit finanzieller Unterstützung der Moskauer Regierung am 30. Oktober 1990, dem Tag, der 1991 offiziell zum Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen erklärt wurde. Gesang der Häftlinge im Alltag Gesang der Sozialrevolutionäre Im Häftlingsalltag auf den Solovki wurde von verschiedenen Insassengruppen gesungen. Ekaterina Olickaja (1898 – 1974), eine Sozialrevolutionärin, die 1924/ 25 auf den Solovki interniert war und insgesamt 39 Jahre in Gefängnissen, Lagern und in Verbannung verbringen musste,178 berichtet in ihren in den 1960erJahren verfassten Erinnerungen, dass Sozialrevolutionäre im Chor Revolutionslieder sangen, darunter Vy zˇertvoju pali v bor’be rokovoj (Ihr fielt als Opfer im ˇ Úrnoe Znamja (Die schwarze Fahne), Smelo, verhängnisvollen Kampf),179 C 172 Brodskij, Solovki, 2002, S. 444, 526. 173 Brodskij, Solovki, 2002, S. 16; http://grani-tv.ru/entries/490/ (letzter Zugriff am 29. Januar 2009). 174 Dieser Prozentanteil ergibt sich, wenn von den Ergebnissen der neuesten Forschung ausgegangen wird, wonach ca. 18 bis 20 Millionen Menschen im Gulag der 1920er- bis 1950erJahre inhaftiert waren. Ivanova, Galina: Labor Camp Socialism. The Gulag in the Soviet Totalitarian System, 2000, S. 188; Werth, »Der Gulag im Prisma der Archive«, 2007, S. 17. 175 Zemskov, Viktor : »ZakljucˇÚnnye v 1930-e gody : social’no-demograficˇeskie problemy«, in: Otecˇestvennaja istorija, 1997, S. 54. 176 Am Lubjanka-Platz befindet sich das ehemalige Gebäude des NKVD, später KGB, in dem der russische Sicherheitsdienst bis heute seinen Sitz hat. 177 Der erste Stein dieser Art wurde zum Gedenken an die Opfer des SLON im Juni 1989 auf den Solovki aufgestellt. Weitere Steine stehen in Archangel’sk (seit Oktober 1992) und Sankt Petersburg (seit September 2002). Quelle: Ausstellung über die Geschichte des SLON im Solovezker Museum, September 2011. 178 Brodskij, Solovki, 2002, S. 26. 179 Hörbeispiel: http://sovmusic.ru/download.php?fname=vizhertv (letzter Zugriff am 17. Januar 2012).

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druz’ja, ne terjajte bodrost’ v neravnom boju (Tapfer, Freunde, verliert nicht den Mut im ungleichen Kampf)180 sowie Ne placˇ’te nad trupami pavsˇich borcov (Weint nicht über den Leichnamen der gefallenen Kämpfer).181 Die drei erstgenannten wurden von ihnen auch bei der Beerdigung ihrer sechs Kameraden, die von den Wachen am 19. Dezember 1923 erschossen worden waren, gesungen.182 Beim ersten Lied handelt es sich um eines der berühmtesten Revolutionslieder im Stil eines Trauermarsches. Der Text formuliert die Ideale der Revolutionäre auf eine feierliche Art, wie z. B. in der ersten Strophe: Ihr fielt als Opfer im verhängnisvollen Kampf Der selbstlosen Liebe zum Volk. Ihr habt alles, was ihr konntet, dafür hingegeben, Für sein Leben, seine Ehre und Freiheit.183

Abb. 10: Vy zˇertvoju pali. http://a-pesni.golosa.info/starrev/vygertvoju.htm (letzter Zugriff am 25. November 2009). 180 Brodskij, Solovki, 2002, S. 68; Hörbeispiel: http://sovmusic.ru/download.php?fname=smelodr1 (letzter Zugriff am 17. Januar 2012). 181 Olickaja, Moi vospominanija, 1971, Bd. 1, S. 268; Hörbeispiel: http://sovmusic.ru/download.php?fname=ne_plach (letzter Zugriff am 17. Januar 2012). 182 Brodskij, Solovki, 2002, S. 68; Olickaja, Moi vospominanija, 1971, Bd. 1, S. 223. 183 3l WVacS_o `Q\Y S R_amRV a_[_S_Z ýoRSY RVXXQSVc^_Z [ ^Qa_Ud. 3l _cUQ\Y SbV, hc_ ]_T\Y, XQ ^VT_, 8Q hVbcm VT_, WYX^m Y bS_R_Ud. Http://a-pesni.golosa.info/starrev/vygertvoju.htm (letzter Zugriff am 25. November 2008).

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Die Sozialrevolutionäre (im Russischen nach der Abkürzung SR e˙sery genannt) bildeten eine Untergruppe der politischen Häftlinge. Sie waren bis 1925 zusammen mit den Sozialdemokraten und Anarchisten von anderen Häftlingen getrennt in der Savvat’ev-Einsiedelei sowie auf der Insel Muksolma untergebracht und wurden daraufhin von den Solovezker Inseln deportiert.184 Mit dem Singen der Revolutionslieder pflegten die politischen Häftlinge eine Tradition, die bereits in den zarischen Gefängnissen ihren Anfang genommen hatte. Ekaterina Olickaja schreibt in ihren Erinnerungen, dass dieses chorische Singen von Revolutionsliedern einen mit nichts zu vergleichenden Eindruck bei ihr hinterlassen hat.185 Sie berichtet des Weiteren, dass revolutionäre Liedtexte auf den Solovki entsprechend der Situation umgedichtet wurden. So hieß es in einer Strophe von Smelo, druz’ja, ne terjajte statt wie im Original »Mögen wir auch in Bergwerke verbannt werden« in der neuen Version »Mag man uns auch auf die Solovki verbannen«.186 Ein derartig variierender, improvisatorischer Umgang mit Liedtexten ist charakteristisch für die Tradierung von Folklore im Allgemeinen sowie Lagerfolklore im Besonderen. Durch die Umdichtung aktualisierten politische Häftlinge das Lied, es bezog sich dadurch nicht mehr auf das zarische, sondern auch auf das bolschewistische Regime. Auf diese Weise leisteten die Sozialrevolutionäre Widerstand mit Musik, den sie auch durch andere Aktionen, z. B. Hungerstreiks, bekundeten. Sozialrevolutionäre Häftlinge haben nicht nur im Lager, sondern auch auf Transporten gesungen, beispielsweise eine Gruppe von Jugendlichen auf einem Transport auf die Solovki. Sie sangen unentwegt, wodurch sie die Begleitposten stark ärgerten.187 Auch Solzˇenicyn berichtet von Studenten, die 1924 auf einem Transport ins Lager Revolutionslieder sangen, weswegen ihnen Wasser vorenthalten wurde. Sie protestierten dagegen und wurden von den Wachmännern dafür geschlagen.188 Ekaterina Olickaja beschreibt, auf welche Weise Revolutionslieder zum Kommunikationsmedium zwischen Häftlingen während des Transports werden konnten: Als die Sozialrevolutionäre 1925 von den Solovki ins Uralgebirge transportiert wurden, wurde in Leningrad ein neuer Waggon an den Zug angekoppelt. Um ihre politische Einstellung kundzutun, sangen die sich darin befindenden Häftlinge die Internationale. Da es in den 1920er-Jahren noch keine Massenverhaftungen unter den Bolschewiki gegeben hat, konnten Revoluti184 Nach Kuziakina waren in den Jahren 1923 bis 1925 450 »politische Gefangene« auf den Solovki in Haft. Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 19. 185 Olickaja, Moi vospominanija, 1971, Bd. 1, S. 267. 186 Olickaja, Moi vospominanija, 1971, Bd. 1, S. 267. 187 Olickaja, Moi vospominanija, 1971, Bd. 1, S. 207, 226. 188 Solzˇenicyn, Archipelag GULag, Teile I – II, 1973, S. 464.

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onslieder den damaligen politischen Häftlingen als Erkennungszeichen dienen. Die von den Solovki kommenden Sozialrevolutionäre antworteten zum Ärger des Wachpersonals, welches jedoch, nach Überlieferung der Zeitzeugin, nichts dagegen auszurichten imstande war, mit weiteren Revolutionsliedern.189 Musik diente hierbei als ein Mittel zur Erzeugung bzw. Aufrechterhaltung des Gemeinschaftsgefühls einer politischen Gruppierung sowie als Form des friedlichen Widerstands gegen das Wachpersonal. Die in diesem Kapitel genannten Revolutionslieder stellen prominente Beispiele aus dem Liedgut der Bolschewiki dar. Somit überschnitt sich das offizielle Musikrepertoire in Freiheit mit dem, welches von den aus der freien Gesellschaft ausgeschlossenen Häftlingen selbstbestimmt gesungen wurde. Doch im Lager erfuhren die Revolutionslieder einen Bedeutungswandel, ohne dass ihr Text – abgesehen von kleinen Ausnahmen – umgedichtet werden musste: Sie brachten den Protest der politischen Häftlinge gegen das Regime zum Ausdruck, welches als revolutionär verstanden werden wollte, da die Häftlinge sich damit ihrerseits als Revolutionäre auswiesen. Gesang der Gläubigen Nicht minder wichtig war der Gesang für gläubige Lagerinsassen. Orthodoxe Häftlinge hatten spätestens seit 1926 die Möglichkeit, an Gottesdiensten der auf den Inseln verbliebenen Solovezker Mönche teilzunehmen, die von der Lagerverwaltung bis 1931 als Arbeiter beschäftigt wurden. Gottesdienstbesuche wurden jedoch in den Häftlingsakten vermerkt, was sich negativ auf Entscheidungen über das Schicksal des betroffenen Häftlings auswirken konnte. Während der Gottesdienste erklang der für die Solovki typische, fünfhundert Jahre alte Krjuki-Gesang der Altgläubigen190 – ein Beispiel für ein besonderes Musikrepertoire in Unfreiheit. 1927 soll es täglich Gottesdienste gegeben haben, an denen auch ein Häftlingschor beteiligt war. Nach Erinnerungen des Archimandriten Feodosij berührte der chorische Gesang so sehr, dass er viele Häftlinge zum Weinen brachte. Auch die katholischen Gläubigen hatten ab 1925 die Erlaubnis, Gottesdienste zu feiern,191 in denen sie vermutlich ihre Kirchengesänge gepflegt haben. Ab 1928 wurde es schwieriger, eine Erlaubnis zur Durchführung von Gottesdiensten zu bekommen, es gab jedoch zahlreiche geheime Andachten, die in 189 Olickaja, Moi vospominanija, 1971, Bd. 1, S. 281. 190 Krjuki – russ. für Haken. »Die den westeuropäischen Neumen entsprechende linienlose altrussische Notenschrift.« Krjuki-Gesang – »der alte einstimmige Kirchengesang der russischen Kirche; […] erhielt sich nach der Einführung des Liniensystems nur bei den Altgläubigen.« Balter, Gita: Fachwörterbuch Musik. Deutsch-Russisch und Russisch-Deutsch, 1976, S. 331. 191 Brodskij, Solovki, 2002, S. 212, 215 f., 222, 235.

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den Wäldern oder aber in den Gebäuden des Lagers stattfanden.192 Beispielsweise wurde das orthodoxe Ostern 1936 nachts in der Bibliothek des Lagers mit leisem Gesang insgeheim gefeiert.193 Lieder spendeten gläubigen Insassen nicht nur Trost im Leben, sondern auch angesichts des Todes, wenn beispielsweise eine Gruppe von Gläubigen anfing zu singen, während die Schützen auf sie zu schießen begannen,194 oder wenn Gläubige Gebete sangen, während sie zur Exekution geführt wurden.195 Gesang der Allgemeinheit der Häftlinge Während unter den sogenannten politischen Häftlingen (Sozialrevolutionären, -demokraten und Anarchisten) und gläubigen Insassen ein Liedrepertoire tradiert wurde, welches außerhalb des Lagers und, wie im Falle des Krjuki-Gesangs, mehrere Jahrhunderte zuvor entstanden war, wurden von der Allgemeinheit der Häftlinge auch genuine Lagerlieder gesungen. Dmitrij LichacˇÚv (1906 – 1999),196 welcher von 1928 bis 1932 als Häftling auf den Solovki inhaftiert war, sammelte dort Lagerfolklore, die zum großen Teil aus Liedern bestand. Er berichtet, dass Folklore nur unter denjenigen Häftlingen eine Rolle spielte, die nicht die schwerste Arbeit wie Baumfällen oder Torfstechen zu verrichten hatten. Gesungen wurde das Liedrepertoire der Ganoven aus der Zarenzeit, zeitgenössische städtische Folklore, die zum Repertoire populärer Sänger wie Leonid UtÚsov gehörte,197 aber auch zahlreiche Lieder, die erst auf den Solovki entstanden waren. Oftmals handelte es sich dabei um neue Texte zu bereits existierenden Melodien. Ein Beispiel für die Solovezker Lagerfolklore bietet die folgende cˇastusˇka: Solovki im Weißen Meer, Ein Dampfer, die Neva.198

192 193 194 195 196

Brodskij, Solovki, 2002, S. 224 f., 241, 253. ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 93. C Brodskij, Solovki, 2002, S. 249. Golicyn, Sergej: Zapiski ucelevsˇego, 1990, S. 428. Dmitrij LichacˇÚv – Philologe, Slawist, Mitglied der Sowjetischen und später Russischen Akademie der Wissenschaften. 197 LichacˇÚv nennt als Beispiele: Gop so smykom (eine mögliche Übersetzung: »Plötzlicher Überfall und schnelles Verschwinden«; zu Schwierigkeiten der Übersetzung aus der Sprache der Berufsverbrecher siehe Zˇiganec, Blatnaja lirika, 2001, S. 62) und My so Pskova dva gromily (Wir, zwei Einbrecher aus Pskov). 198 B_\_S[Y ^Q 2V\_] ]_aV, @Qa_f_U, þVSQ. CQ] TadXpc _U^Y RQ\Q^l 9 `Y\pc Ua_SQ. =dXl[Q Y b`_ac. HV] WV ^V [da_ac?

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1920er- und 1930er-Jahre

Dort werden Stämme verladen Und Holz wird gesägt. Musik und Sport. Was fehlt noch zum Kurort?

Der übertriebenen Ironie der Solovezker Lieder begegneten die Häftlinge, so LichacˇÚv, mit traurigem Schmunzeln. Der zitierte Text demonstriert, wie Humor und Bitterkeit in der Lagerfolklore eine Verbindung eingegangen sind.199 Solche Lieder vermochten, wie LichacˇÚv berichtet, psychische Kraft durch Ironie zu spenden, zu beruhigen und den Willen zum Weiterleben zu stärken. Lagerlieder erklangen nicht nur im Alltag, sondern gelangten auch auf die Bühne des Solovezker Theaters (vgl. folgenden Abschnitt),200 wie auch umgekehrt Lieder, die ursprünglich für das Theater geschrieben wurden, nach der Aufführung in den Alltag der Häftlinge Eingang finden konnten. Beispielsweise berichtet der Moskauer Arzt Nikolaj Zˇilov (1892 – 1966), der von 1929 bis 1935 auf den Solovki inhaftiert war, in seinen 1991 beim Abriss eines Hauses in Moskau zufällig gefundenen Erinnerungen201 von einem unter Häftlingen beliebten Lied über die Geschichte der Solovki. Es sei Teil der »kleinen Operette« Solovki na udarnike (Solovki bei der Stoßarbeit) gewesen, welche vom Häftling Boris Glubokovskij (1895 – 1935) verfasst wurde, dem leitenden Regisseur des Solovezker Theaters und einem ehemaligen Schauspieler des Tairov-Kammertheaters in Moskau. Boris Glubokovskij, so überliefert es LichacˇÚv, war eine der treibenden Kräfte des Solovezker Theaters und schrieb dafür mehrere Revuen. Die erfolgreichste sei Soloveckoe obozrenie (Solovezker Revue) gewesen, in der mit bissiger Ironie das Leben auf den Solovki dargestellt und auch die Lagerobrigkeit nicht verschont wurde. Die Revue bestand sowohl aus humoristischen Nummern als auch aus lyrischen und melancholischen Liedern. Die Texte stammten von Glubokovskij, die Musik aber entlehnte er mehrheitlich bekannten Operetten.202 Die Operette Solovki na udarnike durfte, wie alle anderen Programme der

199

200 201 202

Mit »Neva« ist wahrscheinlich nicht der Fluss, sondern der Name eines der Schiffe, welche Häftlinge auf die Solovki brachten, gemeint. Vgl. Brodskij, Solovki, 2002, S. 316, 408. Ein Beispiel für einen weiteren ironischen Liedtext mit einem Hauch Bitternis, welcher von den Solovki stammt, findet sich bei Ovcˇinnikov, »O ›Soloveckom gimne‹«, 1978, S. 422. Im Zusammenhang mit dem hohen Stellenwert des bitteren Humors auf den Solovki sind die dort verwendeten Akronyme ChLAM, SLON, STON, SRAM und andere zu sehen. Häftlinge, die anstelle von Pferden die Aufgabe eines Gespanns übernehmen mussten, wurden ebenfalls mit bitterem Humor vridlo [vremenno ispolnjajusˇˇcij dolzˇnost’ losˇadi – einer, der zeitweise das Amt eines Pferdes erfüllt] genannt. Brodskij, Solovki, 2002, S. 320. LichacˇÚv, Dmitrij: »Mesto pod narami. Solovki. 1928 – 1931 gody«, http://ps.1september. ru/1999/77/5-1.htm (letzter Zugriff am 15. November 2008). Brodskij, Solovki, 2002, S. 23. LichacˇÚv, Dmitrij: Vospominanija, 1995, S. 214 f.

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Solovezker Theater, nur auf den Inseln gegeben werden. Obwohl nur die wenigsten Insassen Zutritt zum Theater hatten, weil das Gros der arbeitenden Häftlinge nur mit einer eigens dafür ausgestellten Genehmigung ins Theater gehen durfte,203 verbreitete sich das Lied aus Solovki na udarnike unter ihnen. Seine Melodie soll aus der Operette Zˇricy ognja (Priesterinnen des Feuers) von Valentin Valentinov-Sobolevskij (1871 – 1929) übernommen worden sein.204 Der Text des Liedes, den Jurij Brodskij den Erinnerungen von Nikolaj Zˇilov entnommen hat, fordert dazu auf, »frei heraus« und »mit kindlichem Lächeln« das »Liedchen« vom Lager zu singen. In der letzten Strophe heißt es, die Häftlinge kämen aus allen Teilen der Sowjetunion und der Häftlingsstrom wolle nicht enden. Alles habe sich hier vermischt, und die Häftlinge seien gesichtslos geworden.205 Dem Text nach zu urteilen, diente dieses Lied zum einen dazu, Abstand zum Lageralltag zu gewinnen, und zum anderen, bittere Wahrheiten auszusprechen. Es konnte dadurch die Rolle eines Ventils für die Häftlinge einnehmen. Der durch das Lied erzeugte Abstand zum Alltag wurde durch die von Boris Sˇirjaev überlieferte Inszenierung des Liedes unterstrichen: Vor einem Bühnenbild mit hellem Mond am tropischen Himmel wurde das Lied von einem als Radscha verkleideten Häftling vorgetragen.206 An den voneinander abweichenden Versionen des Liedtextes in den Erinnerungen verschiedener ehemaliger SolovkiHäftlinge lässt sich, wie auch an den bereits angesprochenen Textabweichungen in Revolutionsliedern, nachvollziehen, dass Lagerfolklore durch die mündliche Überlieferung variiert tradiert wurde.207 Das Singen der Lagerhäftlinge setzte eine Tradition fort, die von FÚdor Dostoevskij in den Aufzeichnungen aus einem Totenhaus geschildert wird. Der Schriftsteller hat in diesem Roman seine Erfahrungen aus vierjähriger Zwangsarbeit und Verbannung von 1850 bis 1854 verarbeitet. Darin erzählt er vom Singen und Musizieren der Zwangsarbeiter zu Weihnachten sowohl in den Baracken als auch draußen auf dem Lagergelände. Dostoevskij erwähnt unbegleiteten Einzelgesang, aber auch einen Chor aus acht Personen sowie die Verwendung von Balalaika, Violine und Gitarre. Gesungen worden seien einige Volkslieder sowie viele Häftlingslieder, darunter sowohl humoristische, in wel203 Brodskij, Solovki, 2002, S. 54, 106. 204 Valentin Valentinov-Sobolevskij war ein Librettist, Komponist, Regisseur und Impresario, der »Operetten-Mosaiken« aus bereits vorhandenen Opern, Operetten und Liedern anderer Autoren zusammenstellte. Http://www.rusarchives.ru/guide/pe-rech_13/perech20061223 152_p_004.shtml; http://www.volkovka.ru/nekropol/view/item/id/28/catid/4 (letzter Zugriff am 24. Oktober 2008). 205 Brodskij, Solovki, 2002, S. 54. 206 Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 305 f. 207 Vgl. beispielhaft die Versionen bei Brodskij, Solovki, 2002, S. 54, und Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 306.

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chen beispielsweise das Leben der Häftlinge dem Leben in Freiheit gegenübergestellt wurde, als auch schwermütige. Von einem beliebten Lied schreibt er, dass es wahrscheinlich von einem Verbannten komponiert worden sei. Auch berichtet er vom anrührenden Gesang einzelner Häftlinge in den Mußestunden des Alltags.208 Ein Beispiel für ein schwermütiges Lied der Solovki-Häftlinge überliefert Emel’jan Solov’Úv (1898 – 1945), der in den Jahren 1925 – 1932 auf den Inseln inhaftiert war.209 Er erinnerte sich Jahrzehnte später an die erste Strophe aus einem auf den Solovki gedichteten Liedtext. Darin wird geschildert, wie drei Häftlinge aus dem Lager flüchten, aber schließlich eingeholt und erschossen werden. Gesungen wurde der Text, so Solov’Úv, zu der Melodie des Volksliedes Mezˇ vysokich chlebov (Im hochstehenden Getreide), die in Abbildung 11 zu sehen ist.

Abb. 11: Mezˇ vysokich chlebov. http://a-pesni.golosa.info/popular20/mezvyshleb.htm (letzter Zugriff am 17. November 2008).

Dem ursprünglichen Text des Volksliedes liegt das Gedicht Nikolaj Nekrasovs Pochorony (Beerdigung) über die Beerdigung eines Selbstmörders zugrunde. Den vollständigen Text, wie er auf den Solovki gesungen wurde, konnte Jurij Brodskij von einem weiteren ehemaligen Häftling erfragen und veröffentlichte ihn.210 Ein weiteres Beispiel für Lagerfolklore, in der von den Verhältnissen im Lager realitätsnah berichtet wird, bildet das Lied Trjum nasˇ tesnyj i glubokij (Unser Schiffsraum ist eng und tief, in anderen Überlieferungen V trjume tesnom i glubokom [Im engen und tiefen Schiffsraum]), welches zur Melodie des Volksliedes Raz polosku Masˇa zˇala (Als Masˇa einst den Acker mähte) gesungen worden sein soll. In der Überlieferung von Azarij Ivanov (vgl. Abbildung 12) trägt es den Titel Raz polosyn’ku ja zˇala (Als ich einst den Acker mähte). 208 Dostoevskij, FÚdor : Sobranie socˇinenij v pjatnadcati tomach, Bd. 3: Selo Stepancˇikovo i ego obitateli. Zapiski iz MÚrtvogo doma. Peterburgskie snovidenija v stichach i proze, 1988, S. 330, 331 – 333, 336. 209 Brodskij, Solovki, 2002, S. 28. 210 Brodskij, Solovki, 2002, S. 358 f.

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Abb. 12: Ivanov, Russkie narodnye pesni, 1966, S. 237.

Im Text werden der beschwerliche Transport auf die Inseln, die verlangte Normerfüllung bei der Zwangsarbeit sowie der Hunger der Häftlinge angesprochen.211 Die Melodie bildet eher einen Kontrast zum Text als eine Verstärkung. Hierbei lässt sich beobachten, dass die Adaption einer Melodie in den Lageralltag vom ursprünglichen Liedtext unabhängig zu sein scheint. Im vorliegenden Fall hat das Original einen ganz anderen Charakter als der im Lager entstandene Text. Der ursprüngliche Text erzählt von einer Frau, die sich während der Mahd einem Fremden hingibt, obwohl sie verheiratet ist. Dass nicht nur der Text, sondern auch die Melodie wegen der mündlichen Überlieferung Veränderungen unterworfen war, zeigt die Tatsache, dass Jakov Vajskopf, der von 1937 bis 1942 in den Republiken Komi und Mordwinien in Haft war, für das Lied V trjume tesnom i glubokom eine abgewandelte Melodie überliefert (vgl. Abbildung 13).212

Abb. 13: V trjume tesnom i glubokom. Vajskopf, Jakov : Blatnaja lira. Sbornik tjuremnych i lagernych pesen, 1981, S. 19.

Ein Vergleich der beiden Melodien ergibt, dass die mündliche Tradierung im Lager offensichtlich zur Vereinfachung der Melodie beigetragen hat: Die abwechslungsreiche Intervallführung der Ausgangsmelodie im ersten und dritten Takt wurde durch Primen ersetzt, die chromatische Schärfung im zweiten und vierten Takt und die modale Wendung nach d-Moll in den letzten Takten ist durch die Änderung der Tonart weggefallen. Durch die Gegenüberstellung zweier überlieferter Liedtexte über den Berg Sekirnaja auf den Solovki, auf dem sich ein gefürchteter Karzer befand, kann gezeigt werden, wie sich Liedtexte durch mündliche Tradierung verändern konnten. Es handelt sich hierbei ebenfalls um ein Lied mit einem schwermütigen Text:

211 Zˇiganec, Blatnaja lirika, 2001, S. 281 f. 212 Offenbar ist hierbei bei der Aufzeichnung ein Fehler unterlaufen: Die ersten zwei Viertel im letzten Takt müssen als Achtel gemeint worden sein.

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Variante 1: Sieben Werst entfernt steht der Berg Sekirnaja, Dort sind schreckliche Dinge geschehen: Wir wurden in Ameisenhaufen gesetzt, Uns wurde bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen, Ach, wofür hat uns die Mutter geboren?! Vieles, vieles hat der Berg Sekirnaja gesehen, An seinem Fuße sind Leichen vergraben. Es stürmt im Wald, Die eigene Mutter weiß nicht, Wo die Knochen ihres Sohnes vergraben sind.213 Variante 2: Acht Werst entfernt ist der Berg Sekirnaja, Und am Fuß des Berges gibt es Leichen. Nur der Wind geht dort spazieren, Die eigene Mutter wird nicht erfahren, Wo ihr begrabener Sohn liegt.214

Außerhalb des Theaters, von dem der folgende Abschnitt berichtet, hatte die Musikausübung auf den Solovki – so sei hier zusammengefasst – verschiedene Funktionen. Sie konnte beispielsweise dem Lagerpersonal als Mittel zur Unterdrückung der Gefangenen dienen. Für die Gefangenen stellte sie eine Möglichkeit dar, Widerstand zu äußern. Sie konnte ihnen Trost spenden und dazu beitragen, ihre individuelle sowie ihre Gruppenidentität zu stärken. Lagerlieder, die sich durch einen variierenden Umgang mit dem Text aus213 þQ bVUm]_Z SVabcV bc_Yc BV[Ya^Qp T_aQ, CQ] cS_aY\Ybm bcaQi^lV UV\Q : 3 ]daQSVZ^Y[ ^Qb bQWQ\Y, I[dad XQWYS_ b^Y]Q\Y, ?f, XQhV] ^Qb ]Q]Q a_UY\Q. =^_T_, ]^_T_ SYUV\Q BV[Ya^Qp T_aQ,

@_U T_a_Z `_U c_Z XQalcl ]VacSlV cV\Q. 2dap `_ \Vbd Td\pVc, =Q]Q a_U^Qp ^V X^QVc, 4UV XQalcl [_bc_h[Y bl^[Q.

Rozanov, Michail: Soloveckij konclager’ v monastyre. 1922 – 1939 gg. Fakty, domysly, parasˇi, 1979, S. 136. Der Autor erinnert sich, dieses »sehr traurige Lied, für welches die Häftlinge in das Gefängnis auf dem Berg Sekirnaja geschickt wurden«, von seinem Zellennachbarn im Kresty-Gefängnis in Leningrad gehört zu haben. 214 þQ S_bm]_Z SVabcV BV[Ya-T_aQ, 1 `_U T_a_o ]VacSlV cV\Q. 3VcVa cQ] _UY^ Td\pVc, =Qcm a_U^Qp ^V dX^QVc, 4UV bl^_[ bf_a_^V^^lZ \VWYc. ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 179. C

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Fallbeispiele: Solovki

zeichneten und vielfach zu bereits existierenden Melodien gesungen wurden, konnten folgende Funktionen übernehmen: Sie stärkten die Psyche durch eine ironische Auseinandersetzung mit dem Lageralltag. Die Vermischung von ironischen und wahrheitsgetreuen Aussagen konnte einen Abstand zum Alltag ˇ astusˇki-Melodien oder anderen zum Text schaffen. Dies wurde von harmlosen C kontrastierenden Melodien unterstützt und bewirkte, dass Lieder die Funktion eines Ventils haben konnten. Doch durch Lieder konnte nicht nur ein Abstand zum Lagerleben aufgebaut werden, sondern sie konnten auch zur Auseinandersetzung mit dem Alltag sowie zur Verarbeitung des alltäglichen Geschehens dienen, insbesondere im Falle solcher Lieder, in denen die Musik die Aussagen über die unmenschlichen Lebensbedingungen durch einen getragenen Charakter unterstützte.215

Das Solovezker Theater Das Solovezker Theater vor 1929 Wherever there is a special spectator, there is special theatre. Boris Glubokovskij216

Die Geschichte des Solovezker Theaters ist bereits von Natal’ja Kuzjakina wissenschaftlich erforscht worden. Die folgende Darstellung baut im Wesentlichen auf ihren Forschungen auf, ergänzt diese aber durch weitere, sowohl veröffentlichte als auch in Archiven aufbewahrte Zeugnisse von Zeitzeugen und zeitgenössische Publikationen. Es wird eine relativ detailreiche Darstellung vorgenommen, um ein Vergleichsobjekt für die in Kapitel B.2 vorgestellten Theater in Magadan zu haben. Das Solovezker Theater, in dem nicht nur Dramen, sondern auch Werke des Musiktheaters, Revuen und Konzerte zur Aufführung kamen, wurde am 23. September 1923 eröffnet und war in den ersten Jahren seines Bestehens in der säkularisierten Verklärungskathedrale untergebracht, deren Zuschauer215 Zu den Funktionen der Musik im Alltag und zur Einwirkung von Musik auf das menschliche Gefühlsleben vgl. la Motte-Haber, Helga de: Handbuch der Musikpsychologie, 1985, S. 150 – 174; Kreutz, Gunter : »Musik und Emotion«, in: Bruhn, Herbert/Kopiez, Reinhard/Lehmann, Andreas C. (Hg.): Musikpsychologie. Das neue Handbuch, 2008, S. 548 – 572; Rötter, Günther : »Musik und Emotion«, in: La Motte-Haber, Helga de/Rötter, Günther (Hg.): Musikpsychologie (= Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft, Bd. 3), 2005, S. 268 – 338. 216 Zit. nach Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. XII.

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raum 400 Menschen fasste.217 Der Bühnenvorhang des Theaters zeigte eine Möwe – ein Symbol des Frühlings auf den Solovki218 sowie eine Korrespondenz mit dem Logo des Moskauer Künstlertheaters (MChAT), das bis heute eine Möwe zeigt. Die Zeitschrift Soloveckie ostrova, welche ab 1926 auch von der zivilen Bevölkerung Russlands abonniert werden konnte, veröffentlichte im Januar 1926 einen Artikel der am Theater tätigen Häftlinge Makar Borin und Boris Glubokovskij. Die offizielle Ideologie wiederholend, schrieben die Autoren einem Theater im Konzentrationslager »gewaltige Durchsetzungskraft bei der erzieherisch-aufklärerischen Einwirkung auf die Häftlinge« zu.219 Dmitrij LichacˇÚv aber bezeichnete das Theater aus Sicht eines Häftlings ironisch als eines der »Tschekistenwunder«, welches dazu bestimmt gewesen sei, »Kulturerziehungsarbeit« mit den Häftlingen zu mimen, sowie als pokazucha – Augenwischerei.220 Die Lagerleitung war stolz auf das Theater, subventionierte es stark und besuchte mit ihren Familienangehörigen alle Premieren.221 Der Theaterbetrieb war zuweilen sogar wichtiger als die Lagerordnung, denn es kam vor, dass mitwirkende Häftlinge für die Dauer einer Vorstellung oder einer Probe direkt aus dem Karzer auf die Bühne gebracht wurden.222 Nichtsdestotrotz bezeugt LichacˇÚv im gleichen Atemzug mit seiner oben zitierten Aussage, dass das Theater auch eine wichtige Einrichtung im Leben der intellektuellen Häftlinge auf den Solovki darstellte. Auch Autoren der Soloveckie ostrova berichteten im Januar 1925 und Mai/Juni 1926 darüber, dass das Theater sich von allen Kultureinrichtungen des Lagers des größten Zuspruchs der Häftlinge erfreute.223 Nutznießer des Theaters waren aber vor allem die Lagerleitung, die besser gestellten Häftlinge224 und die Kommission aus Moskau, welche jährlich auf die Solovki kam.225 Auf diese Weise war das Theater aus Sicht der Häftlinge eine doppeldeutige Institution: Offiziell zu ihrer Umerziehung vorgesehen, diente es der Unterhaltung der Tschekisten, ihrer Unterdrücker ; auf der anderen Seite aber war es für viele kunstinteressierte Häftlinge ein Ort, an 217 Brodskij, Solovki, 2002, S. 262; Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 253; Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 47; Nikitin, G. I.: »Teatr i muzyka. Soloveckij teatr«, in: Soloveckie ostrova, 1925, S. 103. Zunächst befand sich das Theater in der ehemaligen Sakristei, danach im Refektorium, s. weiter unten. Ausstellung über die Geschichte des SLON im Solovezker Museum, September 2011. 218 Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 49. 219 Borin, Makar/Glubokovskij, Boris: »Soloveckij teatr«, in: Soloveckie ostrova, 1926, S. 79. 220 LichacˇÚv, Vospominanija, 1995, S. 212 f.; Brodskij, Solovki, 2002, S. 262. ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 97. 221 C 222 Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 75. 223 Getteras: »Kul’trabota«, in: Soloveckie ostrova, 1925, S. 65; Tabasˇev, S.: »Politprosvet-rabota na Solovkach«, in: Soloveckie ostrova, 1926, S. 120. ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 99. 224 Darunter beispielsweise die Mitarbeiter der Bibliothek. C 225 Brodskij, Solovki, 2002, S. 164.

Fallbeispiele: Solovki

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dem ihre Menschenwürde gestärkt wurde und wo sie sich einen Moment lang als freie Bürger fühlen konnten,226 – eine »Quelle der Freude«, welche die Häftlinge liebten.227 Auch konnte das Theater ihnen dazu dienen, ihre Verwandten in Freiheit zu beruhigen, indem sie ihnen von dem sehr guten Theater im Lager berichteten, damit diese sich nicht zu viele Sorgen um sie machten.228 Die Theaterarbeit wurde von Häftlingen initiiert, welche noch Kraft hatten, sich nach zehn- bis zwölfstündiger Arbeit abends zum Proben zusammenzufinden. Bei ihnen handelte es sich nicht nur um Arbeiter aus den Büros und Werkstätten, sondern auch um solche, die schwere körperliche Arbeit verrichten mussten.229 Am Beginn des Theaters im Gulag standen also keine Ideologie und keine Lagerbehörde, sondern Menschen, denen Kunst trotz der Unmenschlichkeit und der Auszehrung, mit denen sie im Lager konfrontiert waren, ein wichtiges Bedürfnis und Hilfe bedeutete. Erst nachdem das Theater über ein Jahr bestanden hatte, wurden die dort tätigen Häftlinge von anderer Arbeit befreit, wodurch die Lagerleitung die Theaterarbeit unterstützte. Gabriel Ramensky, der Kunst an der Leningrader Universität studiert und Literatur unterrichtet sowie Theater gespielt hatte, war auf den Solovki inhaftiert gewesen und berichtete nach seiner Emigration in die USA, dass die Häftlinge, welche auf den Solovki am Theater arbeiteten, sich durch ihre Arbeit dort in eine freie Welt versetzen konnten, die jenseits der GPU- und sogar der UdSSRGrenzen gelegen habe. Probenarbeit und Aufführungen waren Auszeiten im Lagerleben, welche die Häftlinge moralisch gestärkt hätten. Und es sei den Häftlingen immer schwergefallen, aus der freien irrealen Welt des Theaters in die Realität zurückzukehren. Nachdem die am Theater tätigen Häftlinge von der Arbeit mit der Allgemeinheit befreit worden waren, genossen sie auch physische Vorteile, wie z. B. die Tatsache, dass sie in einem geschlossenen Raum arbeiteten, ˇ irkov, der als Fünfzehnjähriger 1935 oder eine bessere Unterbringung.230 Jurij C auf die Solovki deportiert wurde, weil er angeblich einen Mord am Parteisekretär der Ukraine und Stalin geplant haben sollte, erwähnt in seinen Erinnerungen, dass das Gebäude, in welchem sich die Bibliothek, in der er arbeitete, und das Theater befanden, beheizt wurde und dadurch warm und trocken war.231 Die soziale sowie berufliche Herkunft der Mitwirkenden war sehr unterschiedlich: Es waren professionelle Schauspieler aus Moskau und Leningrad darunter, aber auch Laien, die noch keine Theatererfahrung hatten. Die »Stelle 226 227 228 229 230

Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. XII. ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 96. C ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 114. C Nikitin, »Teatr i muzyka. Soloveckij teatr«, 1925, S. 104. Ramensky, Gabriel: »The Theater in Soviet Concentration Camps«, in: Bradshaw, Martha (Hg.): Soviet Theaters. 1917 – 1941. A Collection of Articles, 1954, S. 206, 212. ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 69. 231 C

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ˇ [vospitatel’no-prosvetitel’naja cˇast’] wurde für Erziehung und Aufklärung« VPC im SLON erst nach der ersten Vorstellung eingerichtet und kontrollierte seitdem das Theater.232 Trotz ihrer Kontrolle war das Theater bis 1927, so Boris Sˇirjaev, der von 1923 bis 1927 auf den Solovki inhaftiert und Mitglied der Theatertruppe war, paradoxerweise freier als ein ziviles Theater. Es wurden so gut wie keine agitatorischen Stücke aufgeführt, sondern umgekehrt sogar solche, die in der übrigen Sowjetunion verboten waren, und hier wurde die Atmosphäre jener Jahre unverhohlener ausgedrückt als an anderen Theatern. Sˇirjaev berichtet, dass der Lagerleiter FÚdor E˙jchmans eine solche Repertoiregestaltung erlaubte, weil er an die Umerziehung der Intelligenz nicht glaubte und die Umerziehung der Kriminellen nicht für lohnenswert hielt.233 Er nennt ein Theater im Lager die »Wiederherstellung des Rechts [der Häftlinge] darauf, sich als Menschen zu sehen« sowie innerlich frei zu fühlen, weswegen es in Haft mehr als sonst geschätzt werde. Es lasse für einen Moment die Haft, die Zwangsarbeit, die Erniedrigung, den Hunger und den Tod vergessen. Auch das Wachpersonal, welches im Publikum saß, vergaß offenbar die Gegebenheiten des Lagers: Es habe »selbstvergessen« denen applaudiert, die es tagsüber zu töten imstande gewesen war.234 Ein Autor der Zeitschrift SLON (anfängliche Bezeichnung der Soloveckie ostrova) berichtet, dass das Theater deswegen von Häftlingen geschätzt wurde, weil dort das »wahre Leben« dargestellt wurde, nach welchem sie sich sehnten und welches sie jederzeit suchten. Im Theater konnten sie ein Gefühl dafür bekommen, dass sie noch lebten.235 Die Stimmung, welche am Theater in den ersten Jahren seines Bestehens herrschte, überliefert Nikolaj Litvin, welcher die Feier des 1. Mai 1925, des Tags der Arbeit, beschreibt, als das Meer noch vereist war. Litvin nennt die Feier einen Karneval, denn alle damals auf den Solovki existierenden Theater, Orchester und Chöre waren zum Meer gekommen, und die Häftlingsmassen bekamen bunte Wagen mit Akrobaten zu sehen, auf denen lustige Texte rezitiert und Rasseln 232 Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 51; Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 65 f., 75 f. In der Ausstellung über die Geschichte des SLON im Solovezker Museum (September 2011) erfährt man, dass die »Kulturerziehungsstelle« auf den Solovki 1924 ins Leben gerufen wurde. 233 Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 74 f., 91. Sˇirjaevs Monografie ist die umfangreichste Erzählung eines Zeitzeugen über das Solovezker Theater. Beim Lesen dieses Dokuments darf jedoch nicht vergessen werden, dass Sˇirjaev als Häftling kein Feind des Sowjetregimes gewesen war oder dies zumindest vorgetäuscht hat. Die Lagerzeitung Novye Solovki (Die neuen Solovki) veröffentlichte 1925 sein Poem Oktjabr’ (Oktober), in welchem dazu aufgerufen wird, das gläubige Russland zu zerstören und ein neues zusammen mit den Kommunisten aufzubauen. Ausstellung über die Geschichte des SLON im Solovezker Museum, September 2011. 234 Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 67 f., 75, 105. 235 Nik. L-n.: »Teatr«, in: SLON, 1924, S. 94.

Fallbeispiele: Solovki

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sowie Hörner gespielt wurden. Die Wagen fuhren auf das Meer zu, um den Winter zu vertreiben. Durch Dutzende Lautsprecher wurden Parolen in Richtung Meer gerufen, die an damalige linke Kunst erinnern: Schlag! Auf die geschlossene Eisschicht, Beginne mutig den Kampf! Aus tausend Werst Entfernung Kommt der Mai uns entgegen!236

In der ersten Vorstellung des Theaters wurden, so schildert es Sˇirjaev,237 der ˇ echov, eine »aktuelle politische Groscherzhafte Einakter Der Bär von Anton C teske« sowie ein »grandioses abwechslungsreiches Divertissement« aufgeführt. Das Letztere bestand aus Tänzen aus dem Kaukasus, sibirischen Chorliedern, Liedern der Sinti und Roma, Couplets von Ivan Panin238 sowie einem BalalaikaSolo eines »Virtuosen« namens Lepesˇa. Mehr als die Hälfte der Zuschauerplätze habe bei der ersten Vorstellung die Wache und die Lagerleitung eingenommen, weswegen die Künstler die Aufführung zunächst hätten boykottieren wollen. Die Zusage, dass es Wiederholungen für die Häftlinge geben sollte, habe sie davon abgehalten.239 Diese Überlieferung Sˇirjaevs macht deutlich, dass am Theater tätige Häftlinge in der Anfangszeit des Gulag zum Teil die Möglichkeit hatten, sich Befehlen zu widersetzen. Dies scheint angesichts der Überlieferungen über die Brutalität des Wachpersonals ein Privileg der am Theater beschäftigten Häftlinge gewesen zu sein. Später hätte ein solches Verhalten mit großer Wahrscheinlichkeit zu Bestrafungen geführt. Anfang 1925 gab das Theater bis zu zehn Vorstellungen im Monat. Auch hat es dort bis zu vier Konzerte klassischer Musik im Monat gegeben, welche vom Pianisten Levkassi organisiert wurden. Bereits in den ersten Jahren seines Bestehens ging das Theater im Sommer auf Tourneen in die Stadt Kem’, die am Ufer des Weißen Meeres auf dem Festland liegt.240 Diese Tourneepraxis wurde in späteren Lagern übernommen (vgl. Kapitel B.2). Das Solovezker Theater trat im Laufe des Jahres 1925 22 Mal in verschiedenen Abteilungen des SLON außerhalb 236 2VZ !

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Litvin, Nikolaj: »Zima vo l’dach«, in: Soloveckie ostrova, 1926, S. 18. 237 Unklar bleibt, ob der in seiner Monografie abgedruckte Plakattext einer erhalten gebliebenen Vorlage entspricht oder seiner Erinnerung entstammt. 238 Nähere Informationen zu Ivan Panin sind im Abschnitt über die Theatertruppe Svoi enthalten. 239 Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 66 f. 240 Nikitin, »Teatr i muzyka. Soloveckij teatr«, 1925, S. 104 f.

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seiner eigentlichen Spielstätte auf, wo es auch eigene Theatertruppen gegeben haben soll. Auf dem Territorium des SLON soll es insgesamt neun Bühnen gegeben haben.241 Boris Sederholm aus Finnland, der 1925 auf den Solovki inhaftiert war, empfand das Solovezker Lager als ein Irrenhaus.242 Die zwei Theatertruppen, welche zum damaligen Zeitpunkt dort tätig waren, trugen zu diesem Eindruck bei, weil sie, so Sederholm, im Kontrast zu den Erschießungen, dem Hunger und den Ohnmachtsanfällen der Häftlinge standen. Wie Sederholm empfanden auch andere Insassen das Theater auf den Solovki als unpassend.243 Beispielsweise verglich der ehemalige Häftling A. Klinger die am Theater tätigen Häftlinge mit Leibeigenen,244 welche die Tschekisten zu unterhalten hatten, obwohl ihnen nach Weinen zumute war. Klinger zitiert einen Professor, welcher das Theater nicht besuchte, weil ihm dort seine ausweglose Situation angesichts der Vorstellungen deutlicher als sonst vor Augen geführt wurde.245 Dies wird in einem Brief eines Solovki-Häftlings aus späterer Zeit, und zwar aus dem Jahre 1935 an seine Verwandten bestätigt: Nach einem Theaterbesuch sei er enttäuscht gewesen und vermutete die Gründe dafür zum einen darin, dass er in Freiheit bessere Inszenierungen jenes Theaterstückes gesehen hatte und zum anderen darin – und das erschien ihm wichtiger –, dass das Stück und die Musik ihn an sein früheres Leben erinnerten.246 Auf diese Weise sind einander völlig entgegengesetzte Sichtweisen des Theaters vonseiten der Häftlinge über241 Borin/Glubokovskij, »Soloveckij teatr«, 1926, S. 81. Näheres über die Tourneen kann bei Ramensky, »The Theater in Soviet Concentration Camps«, 1954, S. 212 – 217, nachgelesen werden. 242 Brodskij, Solovki, 2002, S. 27, 192. 243 Bsp. bei Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 138. 244 Der Vergleich der Theater- und Konzerttruppen der Häftlinge mit künstlerisch tätigen Gruppen der Leibeigenen ist weit verbreitet und z. B. in folgenden Veröffentlichungen nachzulesen: Dvorzˇeckij, Vaclav : Puti bol’sˇich e˙tapov. Zapiski aktÚra, 1994, S. 78; Kaneva, Gulagovskij teatr Uchty, 2001, S. 112; Kersnovskaja, Evfrosinija: Skol’ko stoit cˇelovek, 2004, S. 370; Kuricyn, Nevydumannye istorii iz zˇizni Leonida Varpachovskogo, 2003, S. 39, hier zitiert der Autor Ida Ziskina und auf S. 48 die Leiterin des Maglag, Aleksandra Gridasova, die das Theater ihr eigen nannte; Lesnjak, Boris: »S golovoj Gitlera v cˇemodane«, in: Severnaja pravda, 3. Februar 1995, S. 8; Solschenizyn, Der Archipel GULAG. Folgeband, 1974, S. 479; Vilenskij, SemÚn: Voprosy est’?, 2006, S. 141. Der Geiger Aleksandr Dzygar notierte handschriftlich auf dem Beurteilungsschreiben, das er bei seinem Wegzug aus Magadan 1976 von der Theaterleitung erhielt, über dem Datum seines Eintritts in dieses Theater die Worte »als Leibeigener«. Akte Dzygar im Memorial-Archiv Moskau, f. 1, op. 4, l. 29. Vera Ustieva nennt in ihren Erinnerungen an die Haft im Sevvostlag die Aufführung der Traviata eine »Aufführung der ›Leibeigenen‹«. Ustieva, Vera: »Podarok dlja vice-prezidenta«, in: Vilenskij, SemÚn (Hg.): Osvencim bez pecˇej. Iz podgotovlennogo k izdaniju sbornika »Dodnes’ tjagoteet«, t. II, »Kolyma«, 1996, S. 102. 245 Klinger, A.: »Soloveckaja katorga. Zapiski bezˇavsˇego A. Klingera«, in: Archiv russkoj revoljucii, 1928, S. 184 f. 246 Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 136.

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liefert: Während es für die einen Stärkung bedeutete, führte es den anderen ihre menschenunwürdige Existenz eindringlich vor Augen, sodass sie auf Theaterbesuche lieber verzichteten. Bei den beiden Theatertruppen, die Sederholm in seinem Zitat anspricht, handelte es sich um ChLAM sowie um Svoi. In beiden Zusammenschlüssen kam der Musik eine wichtige Rolle zu (vgl. den Abschnitt »ChLAM und Svoi« in diesem Kapitel). Sie existierten jedoch nur bis spätestens 1927,247 denn ab der Mitte der 1920er-Jahre verschärften sich die Arbeitsanforderungen auf den Solovki, weswegen sich das Kulturleben veränderte. Die Tätigkeit des ChLAM entsprach nicht der Ideologie, so Kuzjakina,248 weswegen es, wie auch die Truppe der Svoi, der Neustrukturierung des Solovezker Theaters zum Opfer fiel. Im Herbst 1926 zog das Theater in ein anderes ehemaliges Klostergebäude um – das Refektorium, wo ihm ein Saal mit über 500 Sitzplätzen zur Verfügung stand.249 Ein Zeitzeuge berichtet, dass auch hier weiterhin die von der Realität des Lagers ablenkende Losung: »Arbeit ohne Kunst ist Barbarei!« über der Bühne hing.250 An die Stelle der beiden erwähnten Theatertruppen trat die vom Chansonnier Zˇorzˇ Leon (Georges L¦on, vgl. den Abschnitt zu professionellen Musikern auf den Solovki in diesem Kapitel) gegründete »Brigade« Krasnaja bluza (Rote Bluse), bestehend aus 15 Personen, welche politische Agitationssketche aufführte.251 Sie gab an Wochenenden kostenpflichtige Vorstellungen 247 Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 108. Kuzjakina zweifelt dieses Datum an und plädiert für eine frühere Datierung, weil 1927 keine Rezensionen mehr über die Aufführungen des ChLAM publiziert wurden. Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 66. 248 Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 66. 249 Andreev, Gennadij: »Soloveckie ostrova«, in: Grani, 2005, S. 75; Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 263. Einige Zeitzeugen berichten von ca. 700 Plätzen, z. B. Reznikov, Leonid: Gor’kij i Sever, 1967, S. 47. Die beiden erwähnten Gebäude, in denen das Theater zu bestimmten Zeiten untergebracht war, waren nicht die einzigen Spielstätten; insgesamt ist das Theater viermal umgezogen. 250 Reznikov, Gor’kij i Sever, 1967, S. 56. 251 Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 264. Während Kuzjakina 1927 als Entstehungsjahr dieser Truppe angibt, geht aus der zeitgenössischen Berichterstattung hervor, dass sie schon 1926 auftrat. Evreinov, B.: »O kul’trabote kul’turno-bytovoj komissii«, in: Soloveckie ostrova, 1926, S. 126. Auch Andreev-Chomjakov spricht von einer »kleinen Truppe«, die jedoch »jeder Provinzstadt Ehre machen würde«. Andreev, »Soloveckie ostrova«, 2005, S. 75. Der Name Krasnaja bluza war an den von Sinjaja bluza (Blaue Bluse) angelehnt, von der im Abschnitt über Aleksandr Kenel’ in diesem Kapitel berichtet wird. Ein Foto der Solovezker Roten Bluse von 1929 ist in einem nicht nummerierten Bildteil bei Reznikov veröffentlicht. Es zeigt allerdings 16 und nicht, wie Kuzjakina berichtet, 15 Personen; alle – sowohl Männer als auch Frauen – tragen helle Blusen und strenge Anzüge bzw. Kostüme. Links daneben ist ein Foto der Roten Bluse in Aktion mit dem Schauspiel Evropejskij kabacˇok (Europäische Spelunke) zu einem vermutlich politischen Thema zu sehen, weil darin offensichtlich die europäischen »Imperialisten« entlarvt werden. Das Foto weist Parallelen zu Aufnahmen von Vorstellungen der Blauen Bluse auf. Reznikov, Gor’kij i Sever, 1967, o. S.

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sowohl für Häftlinge als auch für das Lagerpersonal sowie Vorstellungen an Arbeitstagen, die unentgeltlich und für die Allgemeinheit der Häftlinge bestimmt waren.252 Konsequent war die Wende zur politischen Agitationskunst jedoch nicht: In der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre kam es am Theater beispielsweise zur Aufführung der Operette Tajny garema (Die Geheimnisse des Harems) von Valentin Valentinov-Sobolevskij mit Orchester, Chor und Ballett.253 Gennadij Andreev-Chomjakov, der von 1927 bis 1929 auf den Solovki inhaftiert war, beschreibt in seinen Erinnerungen, auf welche Weise ein Häftling sich im Theater als ein freier Mensch fühlen konnte: Obwohl er dort auf dieselben Personen wie im Lageralltag, darunter auch das über sein Leben bestimmende Lagerpersonal, traf, herrschte am Theater eine »Atmosphäre, in der die Hülle der Haft, welche die Seele umgab, sich auflöste«: Allein die Tatsache, dass du unten an der Kasse selbstständig eine Eintrittskarte kaufst, enthält ein gewisses Körnchen Befreiung. Oben auf der Treppe beim Eingang ins Foyer wird ein Stückchen von deiner Eintrittskarte abgerissen, genau so wie in allen anderen Theatern der Welt. Im Foyer spaziert man, sitzt entlang der Wände; aus dem Saal hallen die Klänge des Orchesters – du kannst dich ganz anders fühlen als in der Kompanie.254 […] Es läutet, die Musik verstummt, das Licht wird gelöscht; der Vorhang öffnet sich, und du hast eine andere Welt vor dir. Genau hier, wenn man seine ganze Aufmerksamkeit auf die Bühne konzentriert, wenn man sich derart in das Stück einlebt, dass man sich als eine der handelnden Personen darin fühlt, kann man sowohl Solovki als auch die Tatsache, dass man ein Häftling ist, vergessen. Solange der Vorhang offen ist, wirst du dich wie ein vollwertiger, echter Mensch fühlen, der nach seinem Willen und seinem Verstand lebt.255

Es war möglich, so Andreev-Chomjakov, dieses Gefühl länger zu bewahren, wenn man sich in der Pause und nach der Vorstellung von der Umwelt abkapselte.256

252 253 254 255

Andreev, »Soloveckie ostrova«, 2005, S. 75. Brodskij, Solovki, 2002, S. 22, 266; Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 75. Die Häftlinge auf den Solovki waren in sogenannte Kompanien eingeteilt, s. weiter unten. DWV c_, hc_ cl S^YXd, S [QbbV, bQ]_bc_pcV\m^_ `_[d`QVim RY\Vc, b_UVaWYc S bVRV ^V[do [ad`Ygd _bS_R_WUV^Yp. þQSVafd , ^Q \Vbc^YgV, `aY Sf_UV S e_ZV, d cVRp _calSQoc [db_hV[ RY\VcQ, – c_h^_ cQ[ WV, [Q[ S_ SbVf cVQcaQf ]YaQ. 3 e_ZV \oUY `a_Td\YSQocbp, bYUpc d bcV^, YX XQ\Q U_^_bpcbp XSd[Y _a[VbcaQ : cl ]_WVim `_hdSbcS_SQcm bVRp b_SbV] ^V cQ[, [Q[ cl hdSbcSdVim bVRp S a_cV. […] 5aVRVXWYc XS_^_[, d]_\[QVc ]dXl[Q, TQb^Vc bSVc : aQb`QfYSQVcbp XQ^QSVb Y `VaVU c_R_Z UadT_Z ]Ya. 3_c cdc , Vb\Y SbV bS_V S^Y]Q^YV b_baVU_c_hYcm ^Q bgV^V, Vb\Y SWYcmbp S `mVbd cQ[, hc_Rl `_hdSbcS_SQcm bVRp _U^Y] YX VV UVZbcSdojYf \Yg – cl ]_WVim XQRlcm Y _ B_\_S[Qf Y _ c_], hc_ cl XQ[\ohV^^lZ. @_[Q _c[alcQ bgV^Q , cl RdUVim _jdjQcm bVRp `_\^_gV^^l], ^Qbc_pjY] hV\_SV[_], WYSdjY] `_ bS_V]d SV\V^Yo Y aQXd]d. Andreev, »Soloveckie ostrova«, 2005, S. 75. 256 Andreev, »Soloveckie ostrova«, 2005, S. 76.

Fallbeispiele: Solovki

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Das Theater war der einzige Ort im Lager, wo Kommunikation zwischen männlichen und weiblichen Häftlingen möglich und erlaubt war, während sie im Lageralltag streng untersagt war. Dies galt sowohl für die Aufführenden als auch für die Zuschauer bei kostenpflichtigen Vorstellungen, jedoch erst seit ca. 1926.257 Eine weitere Besonderheit am Theater war die Zusammenarbeit von Häftlingen und zivilen Personen, und zwar traten hier Angehörige des Lagerpersonals, darunter auch Kinder, gemeinsam mit den Häftlingen auf. Beispielsweise berichtet Boris Sˇirjaev darüber, dass die Nummer Tanec negritjat (Tanz der Negerlein) aus der Operette Tajny garema von Kindern des Solovezker Sonderregiments aufgeführt wurde; eingeübt hatte den Tanz mit ihnen ein Häftling namens Sˇelkovnikov.258 Im Herbst 1929 erhielt das Theater von der Lagerleitung den Auftrag, eine Aufführung für die erwartete Kommission aus Moskau vorzubereiten.259 Diese Kommission kam vor der Einstellung des Schiffsverkehrs auf die Solovki und entließ gewöhnlich, so Andreev-Chomjakov, 200 bis 300 Häftlinge, welche nur noch wenige Monate Haft zu verbüßen hatten.260 Auf seine Nachfrage wurde es dem Theater erlaubt, Kritik am Lager zu üben, was die Aufführenden dann auch taten, wobei sie u. a. den Lagerleiter kritisierten. Sie bereiteten eine von Boris Glubokovskij speziell für diesen Anlass zusammengesetzte Revue vor – Soloveckoe obozrenie (Solovezker Revue), die mit dem Lied Soloveckie ogon’ki (Solovezker Lichter) aus dem Repertoire des ChLAM (s. weiter unten) endete, gesungen von Häftlingen mit kleinen bunten Laternen in den Händen. Die Laternen tauchten in völliger Dunkelheit auf der Bühne auf und bewegten sich sanft hin und her.261 Dieses Lied erhielt später als Teil der Lagerfolklore den Titel Soloveckij gimn (Solovezker Hymne).262 Der Text des Liedes263 erzählt mit offensichtlicher Ironie und übertriebener

257 Andreev, »Soloveckie ostrova«, 2005, S. 75; Brodskij, Solovki, 2002, S. 267; Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 101. 258 Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 75. 259 Ovcˇinnikov, Ju.: »O ›Soloveckom gimne‹«, in: Pamjat’. Istoricˇeskij sbornik, Bd. 3, 1978, S. 419. 260 Andreev, »Soloveckie ostrova«, 2005, S. 77. 261 Andreev, »Soloveckie ostrova«, 2005, S. 76; LichacˇÚv, »Mesto pod narami. Solovki. 1928 – 1931 gody«, 1999. Damit wurde eine Idee aus der ersten Vorstellung des ChLAM wiederaufgegriffen, s. weiter unten. Vgl.: Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 304 f. 262 Ovcˇinnikov, »O ›Soloveckom gimne‹«, 1978, S. 419 – 422. 263 LichacˇÚv, Vospominanija, 1995, S. 214 f. Nach LichacˇÚv stammten sowohl der Text als auch die Musik dieses Liedes von Glubokovskij. Ovcˇinnikov, der mehrere Zeitzeugen bezüglich des Liedes befragt hat, behauptet jedoch, dass die Musik vom Komponisten Aleksandr Kenel’ geschrieben worden ist. Ovcˇinnikov, »O ›Soloveckom gimne‹«, 1978, S. 420. Auch in der Kartei von Memorial Sankt Petersburg wird Kenel’, allerdings ohne Verweis auf eine Quelle, als Komponist der Solovezker Hymne geführt.

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Schönfärberei von den Lebensbedingungen auf den Inseln.264 Jedoch leuchten an einigen Stellen auch, in den ironischen Ton eingebettet, Informationen über das wirkliche Leben dort auf. Beispielsweise handelt er einerseits davon, dass die Häftlinge »mit Liebe« auf die Inseln gebracht wurden, dass sie von allerlei »Stoßarbeit gesünder« wurden, von den »lieben Wachen«, einem »Leben ohne Schwermut« und dem »wohlriechenden« Fisch, den es zu essen gab,265 andererseits aber von Arbeit bis in die Nacht hinein, von Kälte und Schneestürmen. In den letzten zwei Strophen wurde, so gemäß einiger Überlieferungen, die Rückkehr der Häftlinge nach Hause besungen. Im Refrain wagte sich der Textdichter sogar so weit vor, dass er die Tschekisten dazu einlud, einige Jahre auf den Inseln zu verbringen, um sich später »mit Begeisterung« daran zu erinnern.266 Auf diese Weise diente das Lied den Häftlingen zur Selbstbehauptung über diejenigen, die sie befehligten und für ihre Inhaftierung verantwortlich waren. Die Art und Weise, wie Dmitrij LichacˇÚv die Strophe vom Fisch beschreibt, macht deutlich, wie Häftlinge dieses Lied gehört haben können: Sie haben die ironischen Aussagen automatisch in ihr Gegenteil verkehrt, welches der Wirklichkeit entsprach. Folgt man der Behauptung LichacˇÚvs, so wurde dieses Lied in den 1930er-Jahren in ganz Russland gesungen.267 Damit wäre es Ausdruck einer subversiven Haltung in der zivilen Bevölkerung, welche aus Angst vor Repressionen nur eingeschränkt, z. B. durch das Singen dieses Liedes, geäußert werden konnte. Dies ist ein frühes Beispiel dafür, dass Lagerfolklore auch in Freiheit rezipiert wurde. Andreev-Chomjakov berichtet ebenfalls davon, wie er als Häftling das Lied Solovezker Lichter hörte. Seiner Erinnerung nach wurde dieses Lied während der »etablierten Neujahrskonzerte traditionsgemäß« als erste Nummer vorgetragen. Eine einsame Stimme, so Andreev-Chomjakov, setzte mit dem Lied ein, nach zwei Zeilen stimmte der Chor mit ein:

264 Die gleiche Stimmung kommt auch in Gedichten der Zeitschrift SLON zum Ausdruck. Bsp.: Brodskij, Solovki, 2002, S. 180. 265 Darüber, dass der Fisch nicht nur stank, sondern auch ungenießbar war, berichtet bspw. der ehemalige Häftling Emel’jan Solov’Úv. Brodskij, Solovki, 2002, S. 169. In der Überlieferung von Ovcˇinnikov wird in dieser Strophe vom »stinkenden Fisch« gesprochen. Ovcˇinnikov, »O ›Soloveckom gimne‹«, 1978, S. 421. 266 Der variierende Umgang mit dem Text auch bei diesem Lied, welches Teil der Lagerfolklore wurde, lässt sich anhand von folgenden Versionen nachvollziehen: Andreev, »Soloveckie ostrova«, 2005, S. 36, 76 f.; Brodskij, Solovki, 2002, S. 164; LichacˇÚv, Vospominanija, 1995, S. 215; LichacˇÚv, »Mesto pod narami. Solovki. 1928 – 1931 gody«, 1999; Ovcˇinnikov, »O ›Soloveckom gimne‹«, 1978, S. 421. 267 LichacˇÚv, Vospominanija, 1995, S. 214 f., 270.

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Solo: Weißes Meer, Weite des Wassers, Das ehemalige Solovezker Kloster… Chor : Von allen Enden des russischen endlosen Landes Hat man uns zu unserem Leid hierher gebracht…268

In ihren Erinnerungen vermischen Andreev-Chomjakov und LichacˇÚv Solovezker Lichter mit dem bereits im vorangegangenen Abschnitt erwähnten Lied aus Solovki bei der Stoßarbeit. Möglicherweise ging von beiden Liedern eine ähnliche Stimmung aus oder Textabschnitte des zuerst entstandenen Liedes wurden tatsächlich ins später gedichtete übernommen. Andreev-Chomjakov hörte darin Trauer und Schwermut und im Refrain außerdem Ironie sowie Provokation. Die Musik dieser Lieder konnte für diese Untersuchung nicht aufgefunden werden. Bemerkenswerterweise wurden die Theaterleute für die Solovezker Revue trotz der kritischen Texte nicht bestraft, sondern ganz im Gegenteil sogar belohnt: Der Regisseur Boris Glubokovskij sowie der Chansonnier Zˇorzˇ Leon bekamen eine Minderung der Haftdauer von zwei Jahren bzw. einem Jahr zugesprochen.269 LichacˇÚv erklärt die Tatsache, dass die »äußerst grausame« Lagerleitung das Theater für Kritik nicht bestrafte sowie das Singen kritischer Texte am Theater zuließ damit, dass der Kommission aus Moskau die »schöpferische künstlerische Betätigung« der Häftlinge gefallen hat. Gleichzeitig behauptet er, dass eine Aufführung wie die der Solovezker Revue in keinem anderen Theater der Sowjetunion damals möglich gewesen wäre.270

Das Solovezker Theater nach 1929 1929 wurde die Verwaltung des USLON und mit ihr das Solovezker Theater nach Kem’ verlegt.271 Das Theater hieß seitdem übersetzt »Zentrales Theater des USLON OGPU«, und die dort beschäftigten Künstler mussten auch im Restaurant des OGPU auftreten. Im Publikum saßen nun ausschließlich Angehörige 268 =_aV 2V\_V, S_U^Qp iYam,

B_\_SVg[YZ Rl\_Z ]_^Qbclam… B_ SbVZ adbb[_Z RVb[aQZ^VZ XV]\Y þQb ^Q T_aV boUQ `aYSVX\Y…

269 270 271

Andreev, »Soloveckie ostrova«, 2005, S. 76 f. Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 98 f. LichacˇÚv, »Mesto pod narami. Solovki. 1928 – 1931 gody«, 1999. Brodskij, Solovki, 2002, S. 268; Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 267. Nach Kriwenko wurde der Sitz erst 1930 verlegt. Kriwenko, Sergei: »Solowezki-ITL der OGPU«, http://www.gulag.memorial.de/lager.php5?lag=317 (letzter Zugriff am 17. November 2008).

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des Lagerpersonals, ihre Familien und weitere Zivilisten,272 sodass die am Theater tätigen Häftlinge leibeigenen Künstlern gleich ausgebeutet wurden. In Kem’ trafen nun die Traditionen des Solovezker Theaters auf die Ansprüche, die an Theater in Freiheit gestellt wurden: Das Lager blieb nicht länger abgeschottet wie auf den Inseln, sondern kam in Berührung mit der zivilen Bevölkerung, die auf dem Festland lebte. Es kam sogar vor, dass das Lagertheater vor der indigenen Bevölkerung – den Lappen – auftrat. Die Zeitung Krasnaja Karelija (Rotes Karelien) nannte es »ideologisch inakzeptabel« wegen des Vortrags von scherzhaften Volksliedern.273 Dies ist eine Bestätigung dafür, dass das Theater auf den Solovki freier gewesen war als andere Theater in der Sowjetunion. 1931 musste die in Kem’ stationierte Solovezker Truppe auf dem Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals auftreten. Dazu wurde sie dreigeteilt und bewegte sich ohne Wachmänner innerhalb des Lagers, aber auch in Landstrichen, wo die freie indigene Bevölkerung Kareliens lebte. Neben Dramen sowjetischer Schriftsteller wurden dabei Konzerte gegeben. Die Truppen spielten in halbfertigen Klubhäusern oder unter freiem Himmel und mussten teilweise auf Fußböden oder in Baracken zusammen mit Berufsverbrechern übernachten. Natal’ja Kuzjakina benennt den Grund für diese Tourneen: Es handelte sich dabei um keine ideologischen Absichten, sondern um die Möglichkeit des Geldverdienstes für die Lageradministration. 1935 wurden solche Tourneen durch den Belbaltlag-Leiter Uspenskij verboten.274 Auf den Solovki aber formierte sich eine neue Theatertruppe – eine Bestätigung dafür, dass das Theater für die Häftlinge wichtig war. In den letzten Jahren des SLON bestimmte die Idee der Umerziehung – der perekovka (vgl. Kapitel A.2.2 und A.2.3) – das Erscheinungsbild des Lagers. Nachdem die Solovki dem Belbaltlag unterstellt worden waren, schwappte die ˇ irkov war bei seiner Ankunft auf »Welle der perekovka« auf die Inseln.275 Jurij C den Solovki 1935 erstaunt über die Fülle an Spruchbändern, an die er sich jedoch mit der Zeit gewöhnte, sodass er sie nicht mehr beachtete.276 Das PropagandaTheaterstück über die perekovka – Aristokraty (Aristokraten) von Nikolaj Pogodin (vgl. Kapitel A.2.2) – wurde in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre auch am Solovezker Theater aufgeführt.277 272 Brodskij, Solovki, 2002, S. 268; Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 268; Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 99. 273 Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 97. 274 Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 118 f. ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 96 f. 275 Brodskij, Solovki, 2002, S. 412 f.; C ˇ irkov, ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 22. Über dem Eingang zum Solovezker Kreml, so C 276 C hing das Spruchband »HVaVX cadU – [ _bS_R_WUV^Yo !« (»Durch Arbeit zur Entlassung!«) – eine direkte Parallele zum nationalsozialistischen »Arbeit macht frei!«. 277 Tanjuk, Les’: »S pulej v serdce…«, in: Sovetskaja kul’tura, 2. März 1989, S. 6.

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ˇ irkov, konzentrierte ihre Die »Kulturerziehungsstelle« auf den Solovki, so C Arbeit auf die »Laienkunst« und konnte dabei auf eine »Überfülle« von professionellen Musikern und Laien zurückgreifen. Entsprechend den Anforderungen der »Kulturerziehungsstelle« des GULAG in Moskau hätten die Mitglieder der Agitationsbrigade satirische Texte über Missstände, die nicht näher benannt werden, verfasst, aber auch über Errungenschaften im Lager, die teils gesungen, teils erzählt vorgetragen worden seien.278 Die »Stelle für Erziehung und Aufklärung« trat auf den Solovki der 1920erJahre wenig in Erscheinung. Erst Ende der 1920er-Jahre sind Anzeichen für größere Bemühungen der »Kulturerziehungsstelle« in den Häftlingserinnerungen festzustellen: Als im Winter 1929/30 die große Typhus-Epidemie auf den Solovki grassierte, welche 7.500 Menschen das Leben kostete,279 wurde das Theater geschlossen, damit im Zuschauerraum Kranke untergebracht werden konnten. Doch auf der Bühne, hinter dem Vorhang wurden auf Initiative der »Kulturerziehungsstelle« Vorlesungen gehalten, darunter viele über Musik von ˇ brauchte diese Veraneinem Professor namens Ananov aus Tiflis. Die KVC staltungen, um darüber nach Moskau zu berichten.280 Dmitrij LichacˇÚv kommentierte diese Begebenheiten auf folgende Weise und drückte damit seine Gedanken über das Theater auf den Solovki im Allgemeinen aus: Das Soltheater281 mit seinem Vorhang, der den Tod und die Leiden der Typhuskranken von den Versuchen schied, wenigstens die Illusion eines intellektuellen Lebens aufrechtzuerhalten – für jene, die morgen selbst hinter dem Vorhang landen konnten: Es kommt mir beinahe vor wie ein Symbol für unser Leben im Lager (und nicht nur im Lager, sondern während der ganzen Stalinzeit).282

Der ehemalige Häftling Michail Rozanov schrieb über die »Kulturerziehungsarbeit« auf den Solovki, wie er sie 1932 erlebte: Ich denke, dass es der Fürstin Konstantinovskaja nicht sonderlich angenehm ist, von Mücken gestochen auf einer Freilichtbühne irgendwelche sentimentalen Lieder wie Im Schatten der dichten Akazie zu singen, aber sie tut es! Auch sie hofft auf Haftminderung.283

Für das Auftreten in der Öffentlichkeit konnten Häftlinge nicht nur eine Verkürzung der Haftzeit erwarten, sondern auch ein Anrecht darauf, mehr Briefe ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 96, 98 f. C Brodskij, Solovki, 2002, S. 316. LichacˇÚv, Vospominanija, 1995, S. 217. Abkürzung für »Solovezker Theater«. Lichatschow, Dmitri S.: Hunger und Terror. Mein Leben zwischen Oktoberrevolution und Perestroika, aus dem Russischen von Thomas Wiedling, 1997, S. 133. 283 ;^pW^V ;_^bcQ^cY^_Sb[_Z c_WV, Ud]Qo, ^V QfcY [Q[ `aYpc^_, `_hVblSQpbm _c [_]Qa_S, aQb`VSQcm ^Q _c[alc_Z bgV^V Sbp[YV bV^cY]V^cQ\m^lV a_]Q^bl Sa_UV »3 cV^Y Q[QgYY Tdbc_Z«, Q SVUm `_Vc ! 9 _^Q aQbhYclSQVc ^Q »dUQa^lZ XQhVc«. Brodskij, Solovki, 2002, S. 414.

278 279 280 281 282

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schreiben zu dürfen, medizinisch besser versorgt zu werden, freien Eintritt in Theater- und Kinovorführungen des Lagers zu erhalten sowie andere Privilegien in der Versorgung zu bekommen.284 Ehemalige Häftlinge bezeugen in ihren Erinnerungen, dass die Mitarbeiter der »Kulturerziehungsstelle« auf den Solovki oftmals schlecht gebildet und moralisch verkommen waren.285 Denn im Mai 1933 trat ein Erlass des GULAG in Kraft, welcher die Beschäftigung von Häftlingen, die als Konterrevolutionäre verurteilt worden waren, im Apparat der »Kulturerziehungsstellen« verbot.286 Deswegen mussten kriminelle Häftlinge oder Zivilisten diese Posten übernehmen. Das von der »Kulturerziehungsstelle« beaufsichtigte Solovezker Theater existierte bis 1937,287 bis zur Umfunktionierung des Lagers in ein Gefängnis mit sehr strengen Haftbedingungen. In den letzten Jahren seines Bestehens gab es dort neben der Schauspieltruppe eine Opern- und Operettentruppe; des Weiˇ irkov an drei Orchester – ein Sinfonie-, ein Streichteren erinnerte sich Jurij C 288 oder Zupf- und ein Blasorchester sowie eine »Konzertbrigade«, ein Ensemble der Sinti und Roma und eine »Agitationsbrigade«. Unter den darin beschäftigten ˇ irkov, waren sowohl solche, die Zwangsarbeit leisten mussten, Häftlingen, so C als auch solche, die davon befreit waren. Die »Stars« des Theaters hätten Privilegien genossen: Befreiung von der Arbeit vor Aufführungen, Prämienessen sowie das Recht darauf, mehr Briefe an ihre Verwandten zu schreiben.289 Der ehemalige Häftling Valaev erzählt von einer Romni, die russische und »Zigeunerlieder« gesungen hat. In der Zeit der Neuen Ökonomischen Politik hat sie in einer Bar gesungen, in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre aber als Inhaftierte am Theater auf den Solovki. Sie begleitete sich selbst auf der Gitarre ˇ irkov widmet eine längere Passage und hatte damit sehr großen Erfolg.290 Jurij C seiner Erinnerungen dem Ensemble der Sinti und Roma, welches in den letzten Jahren des Solovezker Theaters dort existierte – ein Kollektiv der »Extraklasse« unter der Leitung des »Zigeunerkönigs« Goga Stanesku, welcher Virtuosen unter ˇ irkov, sei sich versammelte. Das nomadisierende Leben der Sinti und Roma, so C

284 Brodskij, Solovki, 2002, S. 414 f. ˇ uchin, Ivan: Kanaloarmejcy. Istorija stroitel’stva Belomorkanala v dokumentach, cifrach, 285 C faktach, fotografijach, svidetel’stvach ucˇastnikov i ocˇevidcev, 1990, S. 35. LichacˇÚv, Dmitrij: Kniga bespokojstv. Stat’i, besedy, vospominanija, 1991, S. 93. 286 Kokurin, Aleksandr/Morukov, Jurij (Hg.): Stalinskie strojki GULAGa. 1930 – 1953, 2005, S. 64. 287 Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 141. 288 Das hier im Original verwendete russische Wort strunnyj kann sowohl ein Streich- als auch ein Zupforchester bezeichnen. ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 96. 289 C 290 Valaev, Rustem: »Les’ Kurbas na Solovkach«, in: Teatral’naja zˇizn’, 1989, S. 26.

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der sowjetischen Regierung ein Dorn im Auge gewesen, sodass sie ihre Verhaftung anordnete.291 In den letzten zwei Jahren seines Bestehens war der Bariton Leonid Privalov als künstlerischer Leiter des Theaters tätig. Vor seiner Verhaftung und Verurteilung zu drei Jahren Lagerhaft hat er als Solist des Leningrader KirovTheaters gearbeitet.292 Privalov sang auf den Solovki beispielsweise die Hauptrolle in Anton Rubinsˇtejns Oper Dämon, welche 1936 auf dem Programm stand.293 Des Weiteren gab er Solokonzerte und wurde dabei von Nikolaj Vygodskij (vgl. den Abschnitt über professionelle Musiker in diesem Kapitel) am Klavier begleitet. Der ehemalige Häftling FÚdor FÚdorov schrieb 1989 an einen ebenfalls ehemaligen Solovki-Häftling: Von den Leningrader Bühnenkünstlern habe ich Leonid Privalov für mein ganzes Leben in Erinnerung behalten. Sie erinnern sich vermutlich auch an ihn: Wenn er auf die Bühne kam und »O, gebt mir meine Freiheit wieder«294 anstimmte, heulte der ganze Saal.295

ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 99. Reimar Gilsenbach schrieb 1994 über die Aufarbeitung 291 C der Geschichte der Sinti und Roma in der Sowjetunion: »Zigeuner-Los im Sowjetstaat, ungeschriebene Geschichte, von der bisher nur Bruchstücke ans Licht gebracht worden sind.« In seiner Chronik berichtet er, dass das Zentrale Exekutivkomitee und der Rat der Volkskommissare am 1. Oktober 1926 das nomadisierende Leben der Zigeuner verboten hatten. Das Ziel dabei war, die Zigeuner sesshaft zu machen. Gilsenbach, Reimar : Rußlands Zigeuner. Ihre Gegenwart und Geschichte. Mit Fotografien von Ljalja Kuznetsova, 1994, S. 19, 115. Von der Verbannung und Lagerhaft der Zigeuner in der Sowjetunion in den 1930er-Jahren erzählen die Artikel von Nikolaj Bessonov : »Cygane: gody ssylok i pobegov«, in: 30 oktjabrja, 2002, Nr. 26, S. 10; »Cygane pod sen’ju rubinovych zvÚzd«, in: 30 oktjabrja, 2002, Nr. 22, S. 6 f.; »Cygane v Rossii. Prinuditel’noe osedanie«, in: Glezer, Ol’ga/Poljan, Pavel (Hg.): Rossija i eÚ regiony v XX veke. Territorija – rasselenie – migracii, 2005, S. 631 – 640; »Ubity za trudoljubie«, in: 30 oktjabrja, 2002, Nr. 23, S. 5. Sie sind online verfügbar unter : http://gypsy-life.net/history-main2.htm (letzter Zugriff am 12. Januar 2012). Im zweitgenannten Artikel berichtet der Autor über Goga Stanesku, dass er im November 1937 von den Solovki in das Waldstück Sandarmoch unweit von Medvezˇ’ja Gora in Karelien (vgl. Kapitel A.2.2) transportiert und dort erschossen wurde. 292 Archiv Memorial Sankt Petersburg: Akte O-B-41, Erinnerungen von FÚdor FÚdorov, S. 13. ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 98; Florenskij, Pavel: Socˇinenija, in vier Bänden, Bd. 4: 293 C Pis’ma s Dal’nego Vostoka i Solovkov, 1998, S. 575 f.; Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 137. Aus den zur Verfügung stehenden Quellen geht nicht hervor, ob die Oper szenisch oder konzertant aufgeführt wurde. 294 Eine Zeile aus der Arie des Fürsten Igor aus Aleksandr Borodins Fürst Igor, welche der Protagonist in Gefangenschaft singt. 295 9X QacYbc_S-\V^Y^TaQUgVS ^Q Sbo WYX^m XQ`_]^Y\ ýV_^YUQ EVU_bVVSYhQ @aYSQ\_SQ. 3l VT_ , ^QSVa^_, c_WV `_]^YcV – [_TUQ _^ Slf_UY\ ^Q bgV^d Y XQ`VSQ\ »? UQZcV, UQZcV ]^V bS_R_Ud…«, SVbm XQ\ alUQ\. Archiv Memorial Sankt Petersburg: Akte O-B-41, Brief F. B. FÚdorovs an Sergej Sˇcˇegol’kov.

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ˇ irkov berichtet, dass am Solovezker Theater unter der Leitung des Fürsten Jurij C Andronnikov die Opera buffa La P¦richole von Jacques Offenbach aufgeführt wurde. Des Weiteren soll Andronnikov nach Motiven von Carlo Goldonis La locandiera eine Operette mit dem Titel Mirandolina zusammengestellt haben, in welcher er Musik aus populären Operetten verwendet hat. Sie soll derart erfolgreich gewesen sein, dass sogar die Lagerleitung des Belbaltlag vom Festland ˇ irkov, anreiste, um sie zu sehen. Das Sinfonieorchester des Theaters wurde, so C ˇ vom ehemaligen Konzertmeister des Bol’sˇoj-Theaters Scˇerbovicˇ dirigiert, der oftmals auch als Sologeiger aufgetreten war.296 ˇ irkov weiter, ist der Leiter der »KulturerIm Winter 1936/37, so berichtet C ziehungsstelle« des Solovezker Lagers durch einen neuen ersetzt worden, welcher entsprechend den Vorschriften gegen die Häftlinge vorging, die nach § 58 verurteilt waren, aber im Lager nicht mit der Allgemeinheit der Häftlinge arbeiteten. Mehrere solche Häftlinge, die am Theater beschäftigt waren, durften dort nicht mehr auftreten.297 Wenige Zeit später wurde das Theater vollends aufgelöst. Die Betrachtung des Solovezker Theaters mit dem Schwerpunkt auf seinen musikalischen Aktivitäten lässt auf Folgendes schließen: Von Häftlingen initiiert und am Leben erhalten, war das Theater eine Ausnahmezone innerhalb des SLON. Es war ein Ausnahmeort, an dem sowohl Häftlinge als auch Lagerbedienstete die Möglichkeit hatten zu vergessen, in welcher Umgebung sie sich befanden. Häftlinge konnten sich hier an ihre Menschenwürde erinnern und sich für die Dauer der Vorstellung als freie Menschen fühlen. Sie erfuhren einen Zuwachs an Rechten im Vergleich zum Lageralltag dadurch, dass sie mit dem anderen Geschlecht kommunizieren konnten. Des Weiteren genossen die am Theater Tätigen teilweise Privilegien und arbeiteten manchmal mit Zivilisten auf der Bühne – Phänomene, die bereits in früheren sowjetischen Haftanstalten anzutreffen waren und zum physischen und psychischen Überleben dieser Häftlinge beitragen konnten. Es gab aber auch Häftlinge, die das Theater mieden, weil es ihnen als ein Kontrast zum Lageralltag erschien und dadurch ihre ausweglose Situation deutlich vor Augen führte. Die Erinnerung an ihr früheres Leben in Freiheit, welche durch das Theater ausgelöst werden konnte, konnte sich sowohl positiv als auch negativ auf die Psyche auswirken. Bezüglich des Repertoires ist festzustellen, dass es, nach Zeitzeugenaussagen, freier war als das eines Theaters in Freiheit. Von dieser Ausnahmezone aus lässt sich der Weg einiger Lieder in die zivile Gesellschaft verfolgen: Aus dem Theater in den Lageralltag, wo sie Teil der Lagerfolklore wurden, und anschließend in den Alltag außerhalb des Lagers, wo ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 98. 296 C ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 148. 297 C

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sie dem Nonkonformismus Ausdruck verleihen konnten. Dabei handelte es sich um Lieder, deren wichtigstes Charakteristikum bittere Ironie und zum Teil Provokation war. Die Lagerleitung ließ sie sich vermutlich gefallen, weil sie über die ironischen Aussagen mitlachen konnte; und Häftlinge konnten sich damit identifizieren, weil sie aus den ironischen Aussagen die Wahrheit heraushörten und die Ironie ihnen half, einen Abstand zum Lageralltag zu gewinnen, wodurch ihre Psyche entlastet werden konnte. ChLAM und Svoi Die beiden im vorangehenden Abschnitt genannten Theatertruppen aus den ersten Jahren des Solovezker Theaters, welche neben einer Schauspieltruppe dort bestanden,298 sollen hier näher betrachtet werden, weil für beide die Einbeziehung von Musik in ihre Vorstellungen wichtig war. ChLAM (Das Akronym steht für Chudozˇniki, literatory, aktÚry, muzykanty – Maler [oder Künstler], Literaten, Schauspieler, Musiker. Das Wort chlam bedeutet im Russischen Gerümpel, Trödel) war ein Kabarett, welches im Februar 1925 von Häftlingen ins Leben gerufen wurde.299 Zwar beschreibt Boris Sˇirjaev, wie einige Solovezker Häftlinge das Akronym erfunden haben,300 jedoch verweisen die Historiker Natal’ja Kuzjakina und Leonid Reznikov darauf, dass populäre Kabaretts in Kiew, Odessa und anderen Städten in der Zeit des russischen Bürgerkriegs bereits diesen Namen getragen haben.301 Die Forschungen von Kuzjakina haben weiterhin ergeben, dass das ChLAM auf den Solovki vorrevolutionäre Kabarett-Programme im Repertoire hatte, beispielsweise solche des Petersburger Kabaretts Krivoe zerkalo (Krummer Spiegel) und des Moskauer Kabaretts Letucˇaja mysˇ (Fledermaus).302 Die Truppe realisierte, so Leonid Reznikov, bis zu 140 Vorstellungen im Jahr, und zwar nicht nur auf der Hauptbühne des Solovezker Theaters, sondern auf acht weiteren Solovezker Bühnen.303 Für sein vorrevolutionäres Repertoire erntete das ChLAM mehrfach Kritik in der Zeitschrift Soloveckie ostrova.304 Dem Beispiel dieses Kabaretts folgend, entstand auf der Insel Anzer, auf welcher die gefürchtete Strafkompanie des Lagers untergebracht war,305 eine 298 299 300 301 302 303 304 305

Lit.: »Teatral’nyj fel’eton«, in: Soloveckie ostrova, 1925, S. 108 f. Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 61. Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 90 f. Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 262; Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 63; Reznikov, Gor’kij i Sever, 1967, S. 55. Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 62 f. Reznikov, Gor’kij i Sever, 1967, S. 56. Akarskij, Sergej: »Pod flagom kollektiva«, in: Soloveckie ostrova, 1925, Nr. 3, S. 87 f.; Akarskij, Sergej: »Vesˇnie vody«, in: Soloveckie ostrova, 1925, Nr. 6, S. 66 f.; Zritel’: »S tocˇki zrenija«, in: Soloveckie ostrova, 1925, S. 86. Brodskij, Solovki, 2002, S. 334, 338 f.

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eigene Theatertruppe mit dem Namen SRAM (Sojuz rabotnikov anzerskoj muzy – Vereinigung von Dienern der Anzer-Muse. Das Wort sram bedeutet im Russischen Schande, Blamage). Die Stücke dieser Truppe wurden von einem Häftling geschrieben, und sie trat auch am Solovezker Theater auf. 1929 wurde auf Anzer auch ein Theatersaal für 300 Zuschauer eingerichtet. An diesem Theater hat es ein Streich- oder Zupforchester gegeben, welches Potpourris, Lieder und populäre Foxtrotts spielte. Dass die Aufführung von Foxtrotts in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre möglich war, ist als eine Besonderheit zu werten, denn in der übrigen Sowjetunion gehörten sie zur verfemten Musik.306 Auch wurden am Theater von Anzer Blatnye-Lieder gesungen (vgl. den Abschnitt über Svoi weiter unten sowie Kapitel C).307 Weitere Theater gab es im Jahr 1928 in Savvat’evo, auf der Insel Bol’sˇaja Muksolma und in Isakovo.308 Theater im Lager waren sicherlich Institutionen, die nur unter den Bedingungen einer minimalen Versorgung der beteiligten Häftlinge sowie einer nicht vollkommen auszehrenden Arbeit entstehen konnten. Es gab aber auch Ausnahmen: Beispielsweise wurde auf der von Solovki aus verwalteten abgelegenen Insel Kondostrov, auf der Häftlinge in Steinbrüchen arbeiten mussten, von einem Häftling ein Theater initiiert.309 Das erste Programm des ChLAM begann, so Sˇirjaev, welcher Mitglied des ChLAM gewesen ist, mit dem damals populären Tango Sˇumit nocˇnoj Marsel’ (Das nächtliche Marseille lärmt) mit Musik von Jurij Miljutin und Text von Nikolaj E˙rdman, welcher von einem Gitarren-Mandolinen-Ensemble gespielt und von den Mitgliedern des ChLAM szenisch dargestellt wurde.

306 Mitte der 1920er-Jahre sagte das Glavrepertkom (Hauptkomitee für Repertoire) »Zigeunerliedern«, Foxtrotts und Jazz einen Kampf an. Zˇeleznyj, I. u. a. (Hg.): ZapresˇˇcÚnnye pesni. Pesennik, 2002, S. 7. Elagin berichtet, dass Jazz und »Zigeunerlieder« im Jahr 1929 verboten wurden, der Jazz 1932 jedoch wieder erlaubt wurde. Elagin, Jurij: Ukrosˇˇcenie iskusstv, 2002, S. 289 f., 311. 307 Cvibel’fisˇ : »Na ostrove na Anzere«, in: Soloveckie ostrova, 1926, S. 8; Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 263. 308 Ausstellung über die Geschichte des SLON im Solovezker Museum, September 2011. 309 Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 266 f.

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Abb. 14: Nikolaj E˙rdman/Jurij Miljutin: Sˇumit nocˇnoj Marsel’. http://www.apesni.golosa.info/dvor/chumitmarcel.htm (letzter Zugriff am 5. August 2011).

Der Text des Tangos handelt von einem Wirtshaus im Hafen von Marseille, in welchem das kriminelle Milieu beheimatet ist. Eine geheimnisvolle Unbekannte betritt das Lokal, trinkt Rotwein und zieht alle Blicke auf sich. Lediglich einer der Gäste, ein Zuhälter und Dieb, bleibt davon unberührt und wird schließlich von der Unbekannten zum Tanz aufgefordert. Dieses Stück ist vom Standpunkt der »proletarischen Musiker«, deren Geschmack sich in der Sowjetunion durchsetzen sollte, eindeutig als »dekadent« und »bourgeois« zu beurteilen. Das Sujet des 1924 entstandenen Liedes gehörte der Vergangenheit an, die es im neuen sowjetischen Staat zu überwinden galt, doch auf den Solovki erfreute sich das Lied großer Beliebtheit. Seine Inszenierung traf auf Zustimmung sowohl der

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kriminellen als auch der nichtkriminellen Häftlinge. Die Dame in der Inszenierung wurde von der Schwägerin eines Wachpostens gespielt, die männliche Hauptrolle von einem Häftling310 – ein weiteres Beispiel dafür, dass am Theater Häftlinge und Zivilisten auf Augenhöhe zusammenarbeiteten. Auf den Tango folgte im ersten Konzert, so weiterhin Sˇirjaev, eine Satire über diejenigen Solovezker Häftlinge, die als Aufseher tätig waren – eine Freiheit, die wohl nur in der Anfangszeit des Gulag unbestraft bleiben konnte. Fast am Schluss des Programms stand ein lustiges Lied, zu dem auch getanzt wurde, über die Liebe unter Lagerbedingungen, die verboten und bestraft, jedoch trotzdem praktiziert wurde. Obwohl die letztgenannten Programmpunkte offensichtliche Kritik gegen bestimmte Personen und Personengruppen des Lagerpersonals enthielten, sollen sowohl Häftlinge als auch Lagerangestellte und leitende Personen, die darin parodiert wurden, darüber gelacht haben. Sˇirjaev erklärt dies damit, dass sowohl die Lagerinsassen als auch deren Bewacher einen Drang nach Freiheit verspürten.311 Sicherlich ist dabei auch das Bedürfnis nach Unterhaltung und nach einem Ventil im Lageralltag nicht zu unterschätzen. Ein zeitgenössischer Bericht aus Soloveckie ostrova bestätigt Sˇirjaevs Überlieferung bezüglich der harten Kritik an der »Lageraristokratie«. Aus diesem Artikel geht weiterhin hervor, dass das ChLAM über einen eigenen Chor verfügte und auch nachts probte. Die Aufführung des Tangos, von der Sˇirjaev berichtet, wird hier bestätigt, jedoch nicht als erstes Stück der ersten Vorführung benannt. Als solches beschreibt der Autor Litvin die Aufführung eines Liedes, welches später unter dem Titel Soloveckie ogon’ki (Solovezker Lichter) berühmt geworden ist und weiter oben bereits beschrieben wurde.312 Dem Artikel nach hat der erste Auftritt des ChLAM am letzten Februartag des Jahres 1925 stattgefunden. Im verdunkelten Saal tauchten bunte Papierlaternen auf, und Vasilij Andrijanov, ein Bariton, sang dazu: Der Schneesturm wird uns im Winter zuwehen Und für ein halbes Jahr in einer Ritze verstecken, Und doch kennen die Solovki Keine Sorgen, keine Unruhe, keine Schwermut…

Ein Chor stimmte im Refrain mit ein, während die Laternen hin und her geschwenkt wurden. Der ironische Text zauberte ein Lächeln auf die Gesichter der Häftlinge, so der Autor. Die Rede war davon, dass die Häftlinge wie die Möwen 310 311 312

Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 94 f. Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 96 f. Die Abweichungen bezüglich der Aufführung dieses Liedes in der oben zitierten Überlieferung von Gennadij Andreev-Chomjakov könnten darauf zurückzuführen sein, dass er Aufführungen Ende der 1920er-Jahre erlebt hat und nicht schon 1925. Möglich ist auch, dass seine Erinnerung ihn hinsichtlich der Details getäuscht hat.

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die Solovki in Richtung Süden verlassen könnten. Der Autor resümiert, das ChLAM habe die Häftlinge in jenem Winter davor gerettet, dass sie sich zu sehr in sich hinein vergruben, es habe ihre Herzen vor der Kälte beschützt.313 Einen Einblick in die Tätigkeit der Theatertruppe Svoi, die nach dem Vorbild des ChLAM spätestens im März 1925 entstanden und mehrmals auf Tourneen innerhalb der Solovezker Inseln gegangen ist,314 gibt Boris Glubokovskij in seiner Monografie mit dem Titel 49. Im Glossar dazu setzt er den Namen Svoi, der wörtlich mit »die Unseren« übersetzt werden könnte, mit dem Begriff vory, also Diebe, gleich. Der Titel seiner Schrift leitet sich vom Artikel 49 des Strafgesetzbuches der RSFSR von 1922 ab, welcher von »sozial schädlichen Elementen« handelt.315 Als deren Lieblingslied nennt Glubokovskij Ach, pojte vy, klavisˇi, pojte (Ach, singt, ihr Tasten, singt), in welchem ein Verbrecher sein früheres Leben mit seiner Geliebten beweint.316 Svoi sangen die genuinen Lieder der Berufsverbrecher, die im Russischen blatnye genannt werden (im Weiteren als Blatnye-Lieder bezeichnet),317 einige alte Zwangsarbeiter- und Gefangenenlieder aus der Zarenzeit318 sowie zeitgenössische städtische Folklore,319 und sie sollen leidenschaftlich Rundtänze getanzt haben.320 Lieder bildeten, nach Glubokovskij, einen festen Bestandteil der Kultur der Berufsverbrecher. Der bolschewistischen Ideologie entsprechend, nennt Glubokovskij diese Lieder »bourgeois, spießbürgerlich und dekadent«. Von der Arbeitsatmosphäre auf den Solovki verspricht er sich – zumindest stellt er dies so in seinem Buch dar –, dass die ehemaligen Verbrecher neue Lieder anstim313 8Q^VbVc ^Qb XY]_o ]pcV\m [!]

9 XQ`aphVc ^Q `_\T_UQ S jV\m, þ_ ^V X^Qoc b_SbV] B_\_S[Y þY XQR_c, ^Y caVS_T, ^Y c_b[Y…

Litvin, »Zima vo l’dach«, 1926, S. 15 – 17. 314 Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 61 u. 72; Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 262; Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 105; Zritel’: »S tocˇki zrenija«, in: Soloveckie ostrova, 1925, S. 86. 315 Glubokovskij, Boris: 49. Materialy i vpecˇatlenija, 1926, S. 3. 316 Glubokovskij, 49, 1926, S. 21 – 23. 317 Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 64. Glubokovskij charakterisierte diese Lieder in einem Artikel in den Soloveckie ostrova als kleinbürgerlich und durch »bourgeoise Ideologie« sowie Dekadenz gezeichnet. Glubokovskij, Boris: »Pesni sˇpany«, in: Soloveckie ostrova, 1925, S. 57 – 60. 318 Glubokovskij nennt als Beispiele Smert’ arestanta (Der Tod des Arrestanten) und Pesnja nescˇastnogo (Das Lied des Unglücklichen). Glubokovskij, 49, 1926, S. 24 f.; Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 64 f.; Litvin, Nikolaj: »Zima vo l’dach«, 1926, S. 12; Zritel’, »S tocˇki zrenija«, 1925, S. 86. 319 Beispiele: Urka (Dieb), Esli urika pojmali (Wenn der Dieb gefasst wird), Sosedka (Nachbarin), Golova ty moja udalaja (Du mein verwegener Kopf), Pozor (Schande), Mame (An die Mutter). Glubokovskij, 49, 1926, S. 24 f. 320 Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 64 f.

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men.321 Doch dieser Wunsch sollte, wie noch zu zeigen ist, während der gesamten Bestehenszeit des Gulag weitgehend unerfüllt bleiben. Die Theatervorführungen der Svoi erinnerten Glubokovskij an die Beschreibung der Theatervorführung in Dostoevskijs Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (vgl. den Exkurs in Kapitel A.1). In den Vorführungen der Svoi soll sich die Figur des sogenannten Coupletsängers der größten Beliebtheit erfreut haben. Er übte, allerdings in Maßen, Kritik an der Lagerleitung, was dem Publikum sehr imponierte. Glubokovskij berichtet von zehn bis 20 solchen Sängern auf den Solovki, die nachts in den Baracken ihre Couplets geschrieben haben sollen; jeder von ihnen habe eine Gruppe von Anhängern um sich geschart. Glubokovskij äußert sich abwertend über ihre »Kübelkunst« – Stepptanz und Couplets zu Alltagsthemen.322 Wenn es sich dabei aber auch um künstlerisch minderwertige Ergebnisse gehandelt haben mag, manifestierte sich darin doch eine Subkultur, welche der sowjetischen Massenkultur entgegengesetzt war und somit subversives Potenzial entfaltete. Einer der Gründer der Theatertruppe Svoi soll ein erfahrener Dieb mit dem Namen Ivan Panin gewesen sein. Er sei ein solcher Coupletsänger gewesen, wie Glubokovskij ihn schildert, habe seine Liedtexte selbst geschrieben und zu gängigen Melodien gesungen. Boris Sˇirjaev bezeichnet ihn als den Lager-Zoilus323 oder den »Solovezker B¦ranger«, der in seinen Liedern genau auf die Begebenheiten des Lagers reagiert und »auf harmonische Weise gutmütigen Humor mit böser Satire« verbunden hat. Die Zensur, der alle Theatervorführungen unterlagen, habe nichts gegen ihn ausrichten können, weil er auf der Bühne improvisierte Abschnitte hinzufügte. Manchmal sei er zwar in den Karzer geworfen worden, wurde aber auch bald wieder freigelassen, weil das Lagerpersonal selbst seine Lieder mochte, auch wenn sie harte Kritik enthielten. Es sei von oben sogar verlangt worden, dass er in allen Konzerten am Theater auftreten sollte, auch in solchen, die ansonsten nur aus klassischen Musikstücken zusammengesetzt waren.324 Glubokovkij beschreibt ein »ungefähres Programm« einer Theatervorführung der Svoi mit Programmpunkten aus dem Jahr 1925:325 Zu Beginn trat ein Chor auf, welcher die Idee der Umerziehung durch Arbeit und kulturelle Maßnahmen besang. Die Existenz eines »wundervollen Chors« der Svoi, bestehend aus 150 Personen und geleitet vom ehemaligen Dirigenten der Zareneskorte, bestätigt Boris Sˇirjaev. Nach Sˇirjaev sangen die daran beteiligten Häftlinge sowohl im Chor als auch in kleinen Besetzungen russische Volkslieder, aber auch 321 322 323 324 325

Glubokovskij, 49, 1926, S. 17, 32, 34, 58, 62, 67. Glubokovskij, 49, 1926, S. 37. Zoilus – ein griech. Kyniker aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 106 f. Glubokovskij, 49, 1926, S. 38 – 49.

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Häftlings- und Zwangsarbeiterlieder.326 Kuzjakina spricht von 25 Mitgliedern im Chor der Svoi bei seiner Gründung und 80 Mitgliedern ein halbes Jahr später.327 Auf den Chor folgt bei Glubokovskij ein Gesang zweier Häftlinge, die sich nach jeweils einer Strophe abwechseln. Welche Melodien von den Svoi in diesem Konzert gesungen wurden, wird nicht überliefert, aber der Textcharakter des Wechselgesangs, in welchem die verschiedenen Häftlingsgruppen auf den Solovki besungen wurden, erinnert an ˇcastusˇki. Der anschließende Sketch in Versform thematisiert die Außenpolitik sowie die Kriegsbedrohung. Darin sang ein Chor von der Freiheit, die es dem russischen Volk zu verteidigen galt. Der Sketch endete mit einer chorischen Deklamation. Anschließend stimmte ein als Arbeiter verkleideter Häftling einen Lobgesang auf die glückliche und freiheitliche Sowjetunion an sowie darauf, dass er das Leben auf der ganzen Erde nach seinen Vorstellungen ändern werde. Ein Chor fiel ein und pries die Arbeit sowie die Stärke des »roten Kremls«. Es kamen im weiteren Verlauf die Figuren eines Bauern, eines Komsomolzen, eines »Spezialisten« sowie eines Verbrechers hinzu. In den gemeinsam gesprochenen Versen wurde zur Arbeit aufgerufen. Die Figur des Verbrechers bat um Aufnahme in die Arbeitsgemeinschaft und die Figur des Arbeiters sicherte ihm zu, dass er seine Schuld durch harte Arbeit begleichen konnte. Im Abschlussvers wurde zynischerweise die Gnade des Kremls angepriesen. Auf eine ebenfalls mit der Staatsideologie konforme Deklamation über die befreiende Wirkung der Arbeit im Kollektiv, vorgetragen von denjenigen, die bald aus der Haft entlassen werden sollten, folgten Couplets, die sich spürbar von den vorangehenden Programmpunkten unterschieden. Es handelte sich offensichtlich um den Auftritt des von Glubokovskij zuvor beschriebenen Coupletsängers. Darin wurden keine propagandistischen Floskeln verwendet, sondern es wurde zum einen versteckte Kritik an staatlichen Strukturen geübt, welche es ermöglichten, dass Verbrecher nicht für ihre Taten belangt wurden, und zum anderen eine unkommentierte Beschreibung der Lagergesellschaft geliefert. Es fällt nicht schwer nachzuvollziehen, warum diese Couplets im Vergleich zu den mit der Staatsideologie übereinstimmenden übrigen Programmpunkten mit Leichtigkeit die Sympathie des Publikums gewinnen konnten. Wenn Glubokovskij sie auch als flach bezeichnet,328 waren sie doch viel lebensnäher als die aufgezwungene Propagandarhetorik. Verglichen mit den Aufführungen des ChLAM nimmt sich die von Glubokovkij beschriebene Vorführung der Svoi fast durchgehend linientreu aus, wobei unklar bleibt, wie viel davon der Realität entsprochen haben mag, und wie 326 327 328

Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 108. Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 69. Glubokovskij, 49, 1926, S. 50.

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viel Glubokovskijs Fantasie entsprungen ist. Das gezeichnete Bild entspricht allerdings den bisherigen Forschungsergebnissen und Häftlingserinnerungen, denen zufolge kriminelle Häftlinge auf den Solovki eine Zusammenarbeit mit der Lagerobrigkeit anstrebten, um sich Erleichterungen im Lageralltag zu verschaffen. Festzuhalten bleibt, dass auf den Lagerbühnen der Solovki, die unter den schwierigen Bedingungen des Lagers entstanden waren, ein Repertoire erklang, welches in Freiheit zur selben Zeit verfemt war : vorrevolutionäre Kabarett-Stücke, Lagerfolklore der Berufsverbrecher sowie mit Musik unterlegte Kritik an Vorgesetzten.

Das Konzertleben Neben den beschriebenen revueartigen Vorstellungen fanden am Solovezker Theater auch Konzerte statt, welche von zahlreichen inhaftierten Musikern realisiert wurden. Boris Sˇirjaev berichtet, dass viele Sänger, Geiger und Pianisten auf den Solovki inhaftiert waren und als Solisten oder in Kammermusikbesetzungen auftraten.329 Dies bestätigt auch ein Autor der Soloveckie ostrova in einem Artikel aus dem Jahr 1926.330 In einer Ausgabe der Zeitschrift SLON von 1924 wird namentlich das Klaviertrio Gorodeckij (Violine), Sˇtrukgof (Violoncello) und Levkassi (Klavier) genannt, welches das Largo von Georg Friedrich Händel aufgeführt hat sowie der Sänger Kuz’min, der zur Begleitung von Levkassi Arien aus Tosca und Pagliacci gesungen hat. Im gleichen Konzert am 30. November 1924 interpretierte Levkassi die Ungarische Rhapsodie Nr. 8 von Liszt sowie Mendelssohns Capriccio.331 Im Dezember 1924 fanden sogenannte Dezemberabende mit Musik und Theater statt. Am 25. und 26. Dezember traten ein Gesangstrio (Kuz’min, Gorodeckij, RODNOV) und das bereits erwähnte Klaviertrio auf; Kuz’min und Milovanov interpretierten einzelne Szenen aus Pagliacci. Ein russischer und ein ukrainischer Chor traten auf, die Sängerin RACHMAN sang »Straßenliedchen«, und Levkassi interpretierte die Ungarische Rhapsodie Nr. 6 von Liszt.332 Mitte der 1920er-Jahre, als im Zuge der Neuen Ökonomischen Politik eine entgeltliche Mensa auf den Solovki eröffnet wurde, spielte dort ein Streichquartett.333 Und bei den Sozialrevolutionären existierte in den Jahren 1924/25 ein Orchester, welches von Jasˇa Rubinsˇtejn ins Leben gerufen wurde und aus 329 Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 76. 330 Tabasˇev, »Politprosvet-rabota na Solovkach«, 1926, S. 119. 331 N. V.: »Koncerty«, in: SLON, 1924, S. 99 f. Der Autor dieses Artikels merkt an, dass es für Solisten im Vergleich zu Chorsängern und Schauspielern schwieriger sei, ihre Technik unter den Bedingungen des Lagers wegen Zeitmangel zu erhalten. 332 N. V.: »Dekabr’skie vecˇera«, in: SLON, 1924, S. 101. 333 Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 101.

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»begabten« Musikern bestand, wie Ekaterina Olickaja überliefert. Beim Bau der gespielten Instrumente mussten sich die Häftlinge allerdings »einiges einfallen lassen«.334 Ein Jahr nach Lenins Tod hat auf den Solovki am 21. Januar 1925 eine Trauerfeier stattgefunden, an der sich sowohl Wachsoldaten und Lagerangestellte als auch Häftlinge beteiligten. Es wurden Trauerreden gehalten, Chöre sangen, darunter ein Kinderchor, und am Ende sangen alle die Internationale.335 Die erste Nummer der Soloveckie ostrova von 1926 berichtete über ein Konzert, an welchem ein Streich- oder Zupforchester und mehrere Sänger, darunter auch kriminelle Häftlinge, beteiligt waren. Des Weiteren wurde darin mitgeteilt, dass im Jahr 1925 139 Theatervorführungen, 40 Konzerte, 17 Vorträge und 37 Kinovorführungen auf den Solovki stattgefunden hatten, womit offensichtlich das gesamte Lager und nicht nur das Solovezker Theater gemeint war. 80.000 Zuhörer sollen die Veranstaltungen besucht haben. Geprobt worden sei 326-mal für Schauspiele und 200-mal für Konzerte.336 1926 kam es unter der musikalischen Leitung des Pianisten S. D. Korobovskij zur konzertanten Aufführung des zweiten Akts aus Rimskij-Korsakovs Oper Sadko, wobei die Hauptrolle von einem Sänger namens Jadrov übernommen wurde.337 All diese Fakten zeugen von einem sehr regen Musikleben auf den Solovki. Im Mai/Juni 1926 berichteten Soloveckie ostrova, dass ein Sinfonieorchester, welches seine Arbeit zwischenzeitlich eingestellt hatte, diese wieder aufnahm. Fast alle daran beteiligten 15 Musiker mussten auch Zwangsarbeit verrichten, sodass nur zwei- bis dreimal in der Woche geprobt werden konnte. Die Zuhörer seien auf die Aufnahme klassischer Musik nicht vorbereitet gewesen, so beendete der Autor seine Ausführungen, und plädierte deswegen für Einführungen und Kommentare zu den Konzerten.338 Spätestens im Jahr 1927 gab es auf den Solovki neben einem Sinfonie- auch ein Blasorchester.339 Musikinstrumente wurden in der handwerklich-künstlerischen Werkstatt des Lagers neben Schatullen, Bildern, Brettspielen, Kinderspielzeug, Möbeln u. a. hergestellt.340 Dabei verwendete man auch alte Ikonen als

334 Olickaja, Moi vospominanija, 1971, Bd. 1, S. 265. Bedauerlicherweise führt die Zeitzeugin in ihren Erinnerungen nicht weiter aus, was damit gemeint ist. 335 Kargopol’skij, Sergej: »Den’ traura na Solovkach«, in: Soloveckie ostrova, 1925, S. 10 – 12, 14. 336 Borin/Glubokovskij, »Soloveckij teatr«, 1926, S. 80. 337 Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 56; o. A.: »Muzyka. Simfonicˇeskij orkestr«, in: Soloveckie ostrova, 1926, S. 217 f. 338 O. A., »Muzyka. Simfonicˇeskij orkestr«, 1926, S. 217 f. 339 Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 76; Moskvin, A.: »Muzykal’naja kul’tura na Solovkach«, in: Soloveckie ostrova, 1929, S. 8. 340 Brodskij, Solovki, 2002, S. 174.

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Rohstoff341 – eine beschämende Missachtung der Geschichte. Auch brachte eine Mitte der 1920er-Jahre eigens dafür nach Moskau delegierte Gruppe Blas- und Streichinstrumente auf die Inseln mit342 – ein Ereignis, welches die Wichtigkeit der musikalischen Freizeitgestaltung für die Lagerleitung unterstreicht. Im Repertoire hatten die Orchester anfänglich eher leichte Stücke wie Lieder von Michail Glinka oder Märsche. 1929 waren sie aber schon so weit, dass sie ˇ ajkovskij aufbeispielsweise die Suite aus dem Ballett Schwanensee von PÚtr C 343 führen konnten. Nach Angaben des Forschers Jurij Brodskij, der viele Jahre auf den Solovki gelebt hat, hatte das Sinfonieorchester Ende der 1920er-, Anfang der 1930er-Jahre ca. 100 Mitglieder. Dabei fehlten ihm solche Instrumente wie Harfe oder Celesta, und ihre Stimmen mussten von einem Flügel übernommen werden.344 Das Musizieren am Theater gehörte zu den Faktoren, welche dazu beigetragen haben, dass die Häftlinge sich beim Theaterbesuch als vollwertige Menschen fühlen konnten.345 Nachdem das Theater nach Kem’ umgezogen war, hatten auch dort die zwei Orchester mit nunmehr insgesamt 134 Musikern weiterhin Bestand.346 Zumindest die Musiker des Blasorchesters, welches 1927 aus 35 Personen bestand,347 waren in einer gesonderten Kompanie zusammengefasst. 1932 bildeten, nach Angaben des polnischen Geheimdienstes, 70 Schauspieler und Musiker eine eigene Kompanie. Die Häftlinge des Solovezker Kremls, in welchem die Erste Abteilung des SLON untergebracht war, waren nämlich in Kompanien eingeteilt, darunter eine für Häftlinge in leitenden Positionen, eine für verurteilte Tschekisten, eine für Geistliche, für Handwerker usw. Von dieser Einteilung hing die Art der Unterbringung, der Verpflegung und der Behandlung ab. Die Kompanie der Musiker war nicht von schwerer körperlicher Arbeit befreit, zu der sie bei jedem Wetter und auch nachts abkommandiert werden konnte.348 Dmitrij LichacˇÚv war als Häftling über den Räumen der Musikerkompanie untergebracht. Seinen Erinnerungen nach übte sie von morgens bis abends Kriegsmärsche. Diese hätten den Musikern Trost gespendet, so LichacˇÚv, denn sie seien ehemalige Offiziere der zarischen Weißen Armee gewesen,349 weswegen sie die Märsche »mit Hingabe« gespielt hätten. Sich ein solches Szenario in der übrigen Sowjetunion vorzustellen, ist schwer möglich, nachdem die Weiße Brodskij, Solovki, 2002, S. 330; Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 116. Brodskij, Solovki, 2002, S. 192. Moskvin, »Muzykal’naja kul’tura na Solovkach«, 1929, S. 8. Brodskij, Solovki, 2002, S. 523. Andreev, »Soloveckie ostrova«, 2005, S. 75. Brodskij, Solovki, 2002, S. 268. Brodskij, Solovki, 2002, S. 264. Nach Kuzjakina leitete I. S. Levkassi-Liberman das Blasorchester. Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 56. 348 Brodskij, Solovki, 2002, S. 105 f., 170 f., 432. 349 Brodskij, Solovki, 2002, S. 267.

341 342 343 344 345 346 347

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Armee im Bürgerkrieg zerschlagen worden war. Kuzjakina nach hatte das Solovezker Blasorchester Stücke aus Opern von Verdi, Gounod, Bizet und ˇ ajkovskij im Repertoire.350 C Das Orchester wurde nicht nur in Konzerten eingesetzt, sondern beispielsweise auch dann, wenn andere Häftlinge alte Kreuze auf dem Friedhof absägen mussten; dabei hat es »bravouröse« Stücke vorgetragen.351 Hierbei übernahmen die Musiker gezwungenermaßen die Aufgabe, eine blasphemische Handlung zynischerweise mit unpassender Musik zu untermalen. Dabei handelt es sich um ein weiteres Beispiel dafür, wie Musik auf den Solovki missbraucht und pervertiert wurde. Das Orchester spielte ebenso vor Veranstaltungen, beispielsweise einem Sportwettbewerb für Häftlinge;352 im Sommer trat es nach dem Abendappell im Freien auf.353 Damit stand es einerseits im Dienste der Lagerleitung und der »Kulturerziehungsstelle«, vermochte aber andererseits sowohl den Musikern als auch anderen Häftlingen, soweit es unter den Bedingungen eines Lagers möglich war, Kraft zu spenden und Freude zu bringen. 1927/28 drehte die Allrussische Foto- und Filmgesellschaft Sovkino einen Stummfilm über die Solovki. Die Filmemacher beabsichtigten, die neuen Formen des Strafvollzugs in der Sowjetunion zu illustrieren, wie eine veröffentlichte Handreichung über den Film für Politarbeiter deutlich macht.354 Hierbei dienten das Häftlingsorchester und die veranstalteten Konzerte neben anderen kulturellen Betätigungen dazu, das Leben der Häftlinge auf den Solovki zu beschönigen. Es wurden zu Orchesterklängen flanierende und tanzende Lagerinsassen gezeigt. Der Film endete mit einer Szene, in welcher entlassene Häftlinge, die nun angeblich umerzogen und für die Gesellschaft nutzbringend waren, mit einem Dampfer von den Inseln wegfuhren, wobei ein Orchester sie verabschiedete.355 Franciszek Olechnowicz (1883 – 1944), der damals auf den Inseln inhaftiert war, erinnerte sich, dass eines Tages, als der Film gedreht wurde, das Orchester zur großen Verwunderung der Häftlinge plötzlich vor der Bibliothek spielte.356 Daraus geht hervor, dass es sich hierbei um eine gestellte Szene handelte – eine Beobachtung, die laut Jurij Brodskij auf einen großen Teil des Films zutrifft.357 Darin kam der Musik die Rolle zu, das Lagersystem gegenüber der zivilen Ge350 351 352 353 354 355 356 357

Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 56. LichacˇÚv, Vospominanija, 1995, S. 271. Brodskij, Solovki, 2002, S. 275. Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 252; Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 56. Dal’, A.: Solovki (SLON), 1929, S. 3 u. 7. Dal’, Solovki (SLON), 1929, S. 5 f., 8. Zit. nach Brodskij, Solovki, 2002, S. 258. Brodskij, Solovki, 2002, S. 258 f.

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sellschaft in einem humanen Licht erscheinen zu lassen und dementsprechend die Realität zu verzerren. In den Konzerten, die auf den Solovki stattgefunden haben, erklang, wie die genannten Beispiele bereits gezeigt haben, klassische Musik; dies änderte sich auch nicht durch die neue Situation Mitte der 1920er-Jahre, als politische Themen in der Kulturarbeit Priorität genießen sollten.358 Beispielsweise wurde am 10. August 1927 ein Konzert zum 100. Todestag Ludwig van Beethovens veranstaltet. Auf dem Programm standen ein Trauermarsch, das Allegretto aus der Siebten Sinfonie, die »Kreutzersonate«, die Egmont-Ouvertüre sowie Arien aus der gleichnamigen Schauspielmusik und eine Klaviersonate.359 Sˇirjaev schätzt den Anteil der klassischen Musik an den Konzerten am Theater auf 90 Prozent – eine Zahl, die angesichts anderer Zeugnisse jedoch überzogen scheint. Es wurden unter anderem Werke aufgeführt, die damals außerhalb des Lagers nicht ohne Schwierigkeiten aufgeführt werden konnten, beispielsweise solche von Sergej Rachmaninov.360 Der von 1926 bis 1928 auf den Solovki inhaftierte Ingenieur Dmitrij Ganesˇin (1904 – 1977) erinnerte sich, dass alte Volkslieder und Kunstlieder einen besonders tiefen Eindruck nach gemischten Konzerten bei den Häftlingen hinterlassen haben. Tänze, cˇastusˇki und Erzählungen haben »allgemeines Lachen« hervorgerufen.361 Daraus kann gefolgert werden, dass humoristische Programmpunkte als Ausgleich zum Lageralltag eine feste Größe in den Solovezker Konzertprogrammen darstellten. Dmitrij LichacˇÚv nennt in seinen Erinnerungen folgende Konzertbestandteile: Stepptanz, ausgeführt von Berufsverbrechern, Akrobatik, Gedichtrezitationen, Auftritte des Orchesters unter Pavel Val’dgardt362 sowie lyrische Lieder. Anhand eines erhalten gebliebenen Anschlagzettels berichtet er von einem Gedenkabend an den Dichter Nikolaj Nekrasov am 12. Januar 1929. LichacˇÚv selbst konnte nicht zugegen sein, weil er an Typhus erkrankt war. Der erste Teil des Konzerts, welches um 21 Uhr begann, da die Häftlinge bis 20 Uhr arbeiten mussten, bestand aus Vorträgen über Nekrasov. Nach der Pause folgte ein Programm mit Rezitation, teilweise im Chor, Auftritten des Blasorchesters, eines Quintetts sowie des Chores. Gespielt wurde unter anderem ein Teil der Oper Kobzar’ (Kobsar363), komponiert vom Häftling Aleksandr Kenel’ (vgl. den

Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 265. Brodskij, Solovki, 2002, S. 268. Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 76 f. Zit. nach Brodskij, Solovki, 2002, S. 268. Nähere Informationen zu Pavel Val’dgardt, der bei LichacˇÚv »Val’dgard« geschrieben wird, sind im folgenden Abschnitt über professionelle Musiker zu finden. 363 Kobsar – »wandernder Volkssänger (häufig blind) in der Ukraine, begleitete seinen Gesang 358 359 360 361 362

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folgenden Abschnitt über professionelle Musiker). Dass ein solches Konzert mitten in einer Typhus-Epidemie und trotz der Quälerei durch die Zwangsarbeit stattgefunden hat, veranlasste LichacˇÚv dazu, die Solovki eine »Insel der Wunder« zu nennen.364 Im Juni 1929 besuchte Maksim Gor’kij die Solovki, um »die Wahrheit über das Lager zu berichten«.365 Die Erwartung der Häftlinge, dass nun das ganze Land über ihr Leid erfahren würde, ging nicht in Erfüllung: Gor’kij berichtete in seinem Essay Solovki auf so eine Weise über die Inseln, wie die Führung des Landes es sich wünschte. Aus Anlass seines Besuchs wurde am 21. Juni ein Konzert am Theater gegeben. Der Zuschauerraum war, so berichtete später ein Zivilist, welcher damals als Funker auf den Solovki tätig war, voller Menschen, die Gor’kij mit stehenden Ovationen begrüßten.366 Der Schriftsteller beschrieb das Solovezker Theater in seinem Essay als »interessant und abwechslungsreich« und bezeichnete viele Ausführende als begabt. Das von Gor’kij beschriebene Programm umfasste die Ouvertüre aus Der Barbier von Sevilla von Rossini, vorgetragen von einem kleinen Sinfonieorchester, eine Mazurka von Henryk Wieniawski und Vesˇnie vody (Frühlingswasser) von Rachmaninov, gespielt von einem Geiger, den Prolog aus Pagliacci von Ruggero Leoncavallo, russische Volkslieder, einen Cowboy- sowie einen »exzentrischen« Tanz, eine Gedichtrezitation, begleitet von einer Ziehharmonika und einem Klavier, sowie eine akrobatische Vorführung, die von Gor’kij in den höchsten Tönen gelobt wurde. In den Pausen spielte im Vorraum ein Blasorchester, dessen Können Gor’kij als »hervorragend« bewertete, Stücke von Rossini und Verdi sowie Beethovens Egmont-Ouvertüre.367 Dieses Konzert mag es vermocht haben, den Schriftsteller vom tatsächlichen Lagerleben abzulenken. Das Musikleben beschränkte sich nicht auf den Solovezker Kreml, wo die meisten Häftlinge untergebracht waren. Es gab beispielsweise in einer anderen Abteilung des Lagers, die der Zeitzeuge nicht benennt, ein Zupforchester aus 15 bis 17 Häftlingen, die nach der Zwangsarbeit probten und Konzerte veranstalteten. Außer den beschriebenen Musikinstitutionen existierten Musikzirkel in den Baracken, welche auf Eigeninitiative der Häftlinge zurückgingen und an »Abenden der Laienkunst« mit Liedern sowie solistischen und kammermusi-

364 365 366 367

auf der Kobsa (Bandura)«. Bandura – »ukrainisches lautenartiges Zupfinstrument«. Balter, Gita: Fachwörterbuch Musik. Deutsch-Russisch und Russisch-Deutsch, 1976, S. 267, 324. LichacˇÚv, Vospominanija, 1995, S. 216 f. Reznikov, Gor’kij i Sever, 1967, S. 40. Reznikov zitiert Gor’kijs Aussagen noch 1967, ohne sie zu hinterfragen. ˇ uchin, Ivan: Kanaloarmejcy, 1990, S. 34 f. C Zit. nach Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 265; Reznikov, Gor’kij i Sever, 1967, S. 48.

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kalischen Beiträgen auf Balalaikas, Gitarren, Mandolinen und Ziehharmonikas auftraten.368 Über das Konzertleben in den letzten Jahren des SLON erzählt der Religionsphilosoph Pavel Florenskij (1882 – 1937), der auf den Solovki inhaftiert war und dort 1937 erschossen wurde. In seinen Briefen schrieb er im Dezember 1934 an seine Mutter, dass es abends, besonders an Feiertagen, üblich war, ins Theater zu gehen, wo meist eine Mischung aus Gesang, Musik, Tanz, Sketchen, Lesungen, Rezitation und Akrobatik vorgetragen wurde, vermengt mit Witzen zu Lagerthemen. Als eine inhaltsreichere Vorführung bezeichnete er einen Abend mit Liedern und Tänzen verschiedener Nationalitäten,369 welche, so Florenskij, alle auf den Solovki vertreten waren. Ihm haben Konzerte, abgesehen von dem Abend mit Liedern und Tänzen verschiedener Nationalitäten, keine Freude spenden können. Er hat sie lediglich deswegen besucht, um den Kontakt zu seiner Umgebung nicht zu verlieren. Aus einem Brief an seine Frau und seine Kinder vom Oktober 1936 erfährt man, dass er das Theater später gar nicht mehr besucht hat.370 ˇ irkov, der als Mitarbeiter der Bibliothek Freikarten für das Theater Jurij C bekam und deswegen allen Premieren beiwohnte, erinnert sich an die Neujahrskonzerte 1936 und 1937 als besonders gelungene Vorstellungen. 1937 seien die Zuhörer gerührt und verzaubert gewesen. Interpretiert wurde unter anderem das Zweite Klavierkonzert von Rachmaninov durch Nikolaj Vygodskij (vgl. ˇ irkov berichtet, dass dieses Stück als eines von folgenden Abschnitt). C ˇ Cajkovskij angekündigt werden musste, da Rachmaninov damals als »weißer Emigrant« galt und seine Werke unter Verbot standen. Moderiert wurden beide Konzerte von einem Häftling namens Andreev, der im Jahr 1933 im Lager beinahe Opfer des Kannibalismus geworden war. Als Conf¦rencier war er »klug« und »bissig« und streute ab und zu spitze Bemerkungen über die Lagerleitung ein.371 Er brachte das Publikum, sowohl die Häftlinge als auch das Lagerpersonal, bei diesem Konzert dazu, Tränen zu lachen, musste aber anschließend für einen Witz, welcher nach Ansicht der Lagerleitung zu gewagt gewesen sei, drei Tage im Karzer verbringen372 – Freiheiten, welche die am Solovezker Theater Beschäftigten sich früher herausnehmen konnten, hatten sie in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre offensichtlich nicht mehr. 368 Moskvin, »Muzykal’naja kul’tura na Solovkach«, 1929, S. 9. 369 Möglicherweise trat in diesem Konzert das von Nikolaj Fersˇtudt, der aus Turkmenistan stammte, ins Leben gerufene Ensemble der Volksinstrumente auf. Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 137. 370 Florenskij, Pis’ma s Dal’nego Vostoka i Solovkov, 1998, S. 152, 575 f. ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 99 f. 371 C ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 133 f. 372 C

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Das vielfältige und vielgestaltige Musikleben auf den Solovki, in dem auch der Musikinstrumentenbau vertreten war, äußerte sich, so lässt sich zusammenfassen, in Konzerten mit meist bunten Programmen. Neben klassischer Musik erklangen lustige sowie lyrische Volkslieder. Auch kriminelle Häftlinge und Berufsverbrecher beteiligten sich und trugen oftmals Stepptänze vor. Die Konzerte begannen spät, nach aufreibender Zwangsarbeit, und doch zogen sie Häftlinge an, weil sie dort Gefühle ausleben konnten, die im Lageralltag keinen Platz hatten. Musikausübung war für einen Teil der Häftlinge ein starkes Bedürfnis, welches ihnen Freude bereitete, sodass sie sogar nach der Zwangsarbeit abends in den Baracken musizierten. Es gab aber auch Häftlinge, für die Konzerte im Lager einen zu großen Widerspruch zur Realität darstellten, weswegen sie darauf verzichteten. Vonseiten der Lagerleitung wurden Konzerte bzw. das Musizieren der Häftlinge dazu missbraucht, eine menschliche Behandlung der Insassen nach außen vorzutäuschen oder auch um blasphemische Handlungen zu untermalen. Offenbar waren Konzerte aus der Sicht der Lagerleitung wichtig, um Vorgesetzten gegenüber den Einsatz für die »Kulturerziehungsarbeit« zu demonstrieren, wobei die Programmgestaltung eine untergeordnetere Rolle spielte, wodurch sich Häftlinge Freiheiten im Repertoire erlauben konnten.

Professionelle Musiker auf den Solovki Einige professionelle Musiker haben sich, wie im Abschnitt über das Solovezker Theater exemplarisch gezeigt, so sehr ins Gedächtnis ihrer Mitgefangenen eingeprägt, dass sie in ihre schriftlich festgehaltenen Erinnerungen Eingang gefunden haben. Auch wurden Musiker namentlich in Theaterprogrammen und der Lagerpresse erwähnt. Einige von ihnen sollen hier in den Blick genommen werden, um zu zeigen, dass in den sowjetischen Zwangsarbeitslagern sehr gut ausgebildete Musiker inhaftiert waren und dadurch dem sowjetischen Musikleben entzogen wurden, welches infolgedessen ärmer war, als es mit ihnen hätte sein können. Durch die Schilderung einzelner Schicksale soll die große Tragödie in der Musikwelt vor Augen geführt werden, denn es können hier nur wenige Musiker von sehr vielen behandelt werden. Stellvertretend für diejenigen Musiker, die hier unerwähnt bleiben, soll das Schicksal einer namentlich unbekannten Frau geschildert werden, welches von Valentina Pavlovskaja überliefert wurde. Diese Frau war Musikerin, sie wurde wegen ihres Ehemanns verhaftet und auf die Solovki transportiert. Ihr Mann starb in Haft, und auch ihre knapp einjährige Tochter, die in Moskau zurückblieb, starb. Die Musikerin musste im Lager schwere körperliche Arbeit ver-

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richten und konnte anschließend nicht mehr Klavier spielen. Auf diese Weise wurde ihr früheres Leben durch die Haft vollständig zerstört.373 Bis 1926 war der Pianist I. S. Levkassi als musikalischer Leiter am Solovezker Theater tätig. Leider konnte bislang keiner Quelle sein Vorname entnommen werden.374 Stücke aus seinem Repertoire wurden im vorhergehenden Abschnitt genannt. Die Zeitschrift SLON veröffentlichte 1924 eine Karikatur mit der Darstellung des Pianisten, die in der Monografie Natal’ja Kuzjakinas reproduziert ist, und der bemerkenswert realistische Worte beigegeben worden sind, die den schweren Weg Levkassis im Lager andeuteten: Verfolgungen, Katastrophen, »Reisen« durch die Kompanien, Stoßarbeit (Eisenstange und Stämme) und anderes haben seine Fähigkeiten und seine Energie nicht verringert, zur Freude der Bewohner von den Solovki.375

Ein weiterer professioneller Musiker, diesmal aus dem Bereich der Unterhaltungsmusik, der seine Haftzeit auf den Solovki verbüßen musste, war der seinerzeit bekannte Chansonnier Zˇorzˇ Leon. Verurteilt wurde er, wie sowohl der Zeitzeuge Sˇirjaev als auch die Forscherin Kuzjakina darstellen, zu drei Jahren Lagerhaft, und zwar angeblich wegen Antisemitismus, weil er jüdische Lieder aus Odessa in Moskau gesungen hatte. Wenn dies tatsächlich der Wahrheit entsprechen sollte, zeigt dieser Fall einmal mehr den paradoxen Charakter des sowjetischen Terrors, denn Leon war selbst Jude. Sein jüdisches Repertoire trug er am Solovezker Theater weiterhin vor und soll damit großen Erfolg gehabt haben.376 Leon gründete auf den Solovki die Truppe Zˇivprofsolgaz »Krasnaja bluza« [Zˇivaja profsojuznaja Soloveckaja gazeta – Solovezker lebendige Gewerkschaftszeitung »Rote Bluse«; vgl. den Abschnitt über das Solovezker Theater] nach dem Vorbild der Moskauer Truppe Sinjaja bluza (Blaue Bluse) (vgl. den Abschnitt über Aleksandr Kenel’), welche im Klub sowie am Theater auftrat.377 373 Igumen Andronik (Trubacˇev): »Obo mne ne pecˇal’tes’…« Zˇizneopisanie svjasˇcˇennika Pavla Florenskogo, 2007, S. 128 f. 374 Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 56. Die Russische Staatsbibliothek bewahrt zwei undatierte Ausgaben seiner Bearbeitung des Studentenliedes Gaudeamus igitur für vier Stimmen und Klavier auf, die wissenschaftliche Dobroljubov-Gebietsbibliothek in Archangel’sk eine ebenfalls undatierte Ausgabe der Bearbeitung des Liedes Sˇumel, gorel pozˇar moskovskij über Napoleon in Moskau im Jahre 1812 für Stimme und Klavier. 375 4_^V^Yp, [QcQbca_el, `dcViVbcSYp `_ a_cQ], dUQa^Y[Y (WV\VX[Q Y RQ\Q^l) Y `a. ^V _b\QRY\Y VT_ b`_b_R^_bcVZ Y n^VaTYY, ^Q aQU_bcm b_\_ShQ^. Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, Abb. 4. 376 Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 262; Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 57, 93. 377 Evreinov, »O kul’trabote kul’turno-bytovoj komissii«, 1926, S. 126.

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Er leitete auch, so Kuzjakina, eine professionelle Operetten-Truppe sowie eine Jazz-Band und wurde bereits nach einem Jahr Haft entlassen.378 Im Zusammenhang mit Musikern auf den Solovki ist eine kleine Häftlingsgruppe erwähnenswert, welche in den Erinnerungen Sˇirjaevs beschrieben wird – die sogenannten Foxtrottisten. Bei ihnen handelte es sich um junge Menschen aus Moskau, größtenteils Künstler, denen Politik »völlig fremd« war. Ihre abendlichen Treffen, auf denen sie Foxtrott getanzt haben, sind von der Geheimpolizei als politische Zusammenkünfte zur Planung eines Komplotts interpretiert worden. Namentlich erinnerte sich Sˇirjaev an die Pianisten B. Frolovskij und N. Radko; der letztere sei Schüler des herausragenden Pianisten und Klavierpädagogen Konstantin Igumnov gewesen.379 Wie die »Foxtrottisten«, so sind zahlreiche Häftlinge in einem sogenannten Gruppenprozess oder -verfahren verurteilt worden, bei dem sie als Teil einer Gruppe angeklagt waren, so auch Aleksandr Kenel’ (vgl. folgenden Abschnitt in diesem Kapitel). Die Verurteilung der »Foxtrottisten« ist im Zusammenhang mit zahlreichen Zeitschriftenpublikationen der 1920er-Jahre zu sehen, in denen gegen den Foxtrott und den Jazz angeschrieben wurde. Beispielsweise beschimpfte eine Autorin in Sovetskoe iskusstvo 1926 den Foxtrott als »widerlich« und der »heutigen Lebensweise fremd«, als »tierischen Tanz«, welcher »krankhafte Erotik, geschlechtliches Dahinsiechen [und] Kraftlosigkeit« verkörperte, als »Blutsbruder des Kokains und des Roulettes« und als »Tanz der degenerierenden Bourgeoisie«.380 Am 18. April 1928 erschien in der Zeitung Pravda (Wahrheit) ein Essay von Maksim Gor’kij, welcher den Jazz verteufelte und für Jahrzehnte die negative Jazz-Rezeption in der Sowjetunion prägte.381 Auch ist der Foxtrott und mit ihm der Jazz auf der ersten Allrussischen Musikkonferenz 1929 heftig angegriffen worden.382 Ende der 1920er-, Anfang der 1930er-Jahre arbeitete Pavel Val’dgardt383 als Dirigent am Solovezker Theater. Seine Mutter, Natal’ja Skalon, war eng mit Sergej Rachmaninov befreundet. Sie unterrichtete Italienisch am Konservatorium in Tambov, Klavier an der dortigen Musikschule und arbeitete als Konzertmeisterin an der Tambover Oper. Pavel Val’dgardt (1904 – 1978) bekam als Kind Musikunterricht bei Rachmaninov und studierte in den Jahren 1922 – 1929 378 379 380 381

Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 74. Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 84. Ulickaja, M.: »Tanec v klube«, in: Sovetskoe iskusstvo, 1926, S. 33 – 35. Lücke, Martin: Jazz im Totalitarismus. Eine komparative Analyse des politisch motivierten Umgangs mit dem Jazz während der Zeit des Nationalsozialismus und des Stalinismus, 2004, S. 128 f. 382 Starr, S. Frederick: Red and hot. Jazz in Rußland von 1917 – 1990, 1990, S. 82 – 86. 383 Brodskij, Solovki, 2002, S. 267; LichacˇÚv, Vospominanija, 1995, S. 216. Die Schreibweise des Nachnamens von Val’dgardt differiert von Quelle zu Quelle. Neben der hier verwendeten kommen noch »Val’gardt« und »Val’dgart« vor.

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am Petrograder bzw. Leningrader Konservatorium Komposition bei Maksimilian Sˇtejnberg, bei dem auch Dmitrij Sˇostakovicˇ gelernt hat, sowie Dirigat bei Nikolaj Mal’ko.384 Parallel unterrichtete er an der Zentralen Musikfachschule.385 Verurteilt wurde Val’dgardt, der Anklageschrift des Leningrader OGPU zum Verfahren Nr. 108 aus dem Jahr 1929 zufolge, als Mitglied des Tajbalin-Zirkels, welcher antibolschewistisch ausgerichtet war. Als gläubige orthodoxe Christen wünschten sich seine Mitglieder die vorrevolutionäre Monarchie zurück. Der Initiator des Zirkels, Grigorij Tajbalin, soll gleichzeitig antisemitisch eingestellt gewesen sein.386 Nach seiner Freilassung wirkte Val’dgardt in Saratov, Stalingrad, Odessa, Voronezˇ, Rostov-na-Donu und schließlich als Dirigent am Novosibirsker Operntheater. Er komponierte mehrere Kinderoperetten und -opern, darunter noch in seiner Leningrader Zeit das bis heute in Russland gespielte musikalische Märchen Kosˇkin dom (Katzenhaus),387 Werke für Sinfonie- und Volksinstrumente-Orchester, über 200 Lieder sowie über 30 Schauspielmusiken.388 In der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre war der Organist, Pianist und Komponist Nikolaj Vygodskij (1900 – 1939) für die musikalische Gestaltung am Solovezker Theater zuständig.389 1924 beendete er das Moskauer Konservatorium in der Orgel-Klasse von Aleksandr Gedike (Alexander Goedicke) und machte seinen Abschluss als Komponist und Dirigent. Er war Mitglied des PROKOLL [Proizvodsvennyj kollektiv studentov-kompozitorov Moskovskoj konservatorii – Produktionskollektiv der Kompositionsstudenten des Moskauer Konservatoriums], einer Studentenorganisation, welche für die Ideen der Revolution einstand und bürgerliche Traditionen der Musikproduktion und -rezeption missbilligte, sowie Anhänger der RAPM [Rossijskaja associacija proletarskich muzykantov – Russische Assoziation proletarischer Musiker].390 Seit 1924 unter-

384 Kaz’min, Oleg: »Tambovskie druz’ja, znakomye i rodstvenniki S. V. Rachmaninova«, http:// www.rachmaninov.ru/rachman/Russian/konf/konf_chteniay2_kazmin.htm (letzter Zugriff am 3. November 2008). 385 Bracˇev, Viktor : Russkoe masonstvo XVIII – XX vv., 2000, S. 412. 386 Flige, Irina/Danie˙l’, Aleksandr (Hg.): »Delo A. A. Mejera«, in: Zvezda, 2006, http:// www.zvezdaspb.ru/index.php?page=8& nput=2006/11/maer.htm (letzter Zugriff am 16. November 2008). 387 Http://www.domaktera.ru/publication/show/44; http://www.grad-kirsanov.ru/author.php ?id=sokolovo (letzter Zugriff am 4. November 2008). 388 Bernandt, Grigorij/Dolzˇanskij, Aleksandr (Hg.): Sovetskie kompozitory, 1957, S. 100; Kaz’min, »Tambovskie druz’ja, znakomye i rodstvenniki S. V. Rachmaninova«, http:// www.rachmaninov.ru/rachman/Russian/konf/konf_chteniay2_kazmin.htm (letzter Zugriff am 3. November 2008). 389 Valaev, »Les’ Kurbas na Solovkach«, 1989, S. 26. Vygodskij wird beispielsweise bei Meyer, Krzysztof: Schostakowitsch. Sein Leben, sein Werk, seine Zeit, 1995, S. 232 erwähnt. 390 Http://mosconsv.ru/page.phtml?11094#prokoll (hier mit Foto); http://www.mmv.ru/p/

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richtete er am Moskauer Konservatorium Klavier als Nebenfach, Orgel sowie Partiturlesen. Er komponierte, arrangierte Orgelwerke für Klavier sowie Orchesterwerke für Orgel und schrieb Aufsätze über Musik. Die Gründe für Vygodskijs Verurteilung konnten bislang nicht ermittelt werden. Der Schriftsteller Rustem Valaev erlebte Vygodskij auf den Solovki als jemanden, für den Musik das Wichtigste im Leben war.391 Am Solovezker Theater trat Vygodskij beispielsweise mit Pr¦ludes von Rachmaninov auf, welche bei den »proletarischen Musikern« verfemt waren, weil ihr Komponist emigriert war. Möglicherweise haben die Haft oder bereits frühere Ereignisse Vygodskij dazu gebracht, seine radikalen Ansichten über Musik zu revidieren. Rustem Valaev erinnerte sich, dass Vygodskij, als er in eine Einzelzelle eingesperrt wurde, ein Brett von der Pritsche losgerissen, eine Klaviatur darauf gezeichnet und stundenlang stumm gespielt habe. Der Wachmann habe Alarm ausgelöst, weil er glaubte, Vygodskij habe den Verstand verloren, worauf der Musiker in den Golovlenkovskaja-Turm gebracht wurde, in dem es sehr feucht war und wo die Erzählung über ihn ihr Ende nimmt. Möglicherweise hat Valaev mit dieser Überlieferung die letzten Tage des Organisten beschrieben. So trafen auf den Solovki Musiker aufeinander, die trotz verschiedener musikalischer Ideologien, Einstellungen und Stile teilweise eng zusammenarbeiten mussten. Unterhaltungsmusiker mit gewissem Bekanntheitsgrad scheinen es dort einfacher gehabt zu haben als klassische Musiker, so beispielsweise Zˇorzˇ Leon, der »nur« zwei Drittel seiner Haftzeit verbüßen musste und danach entlassen wurde. Es ist davon auszugehen, dass die Inhaftierung vieler weiterer professioneller Musiker bis heute verborgen geblieben ist, entweder weil sie sich am Musikleben des Lagers nicht beteiligt haben oder weil ihre Namen bislang unveröffentlicht geblieben sind. Ein Teil dieser Musiker mit meist wenigen weiteren Informationen ist jedoch in Archiven der Organisation Memorial verzeichnet. Wenn nur Solovezker Häftlinge in Betracht gezogen werden, trifft dies z. B. auf den Sänger und Solisten des Mariinskij-Theaters Pavel Vasil’ev (1887 – 1929) zu, welcher im Dezember 1928 verhaftet und im Juli 1929 zu drei Jahren Lagerhaft nach § 58 – 11 verurteilt wurde. Einen Monat später wurde er nach Kem’ transportiert und starb dort während der großen Epidemie im Dezember 1929 an Typhus.392 Ein weiterer auf den Solovki inhaftierter Musiker, dessen Name auf einer Karteikarte im Archiv von Memorial Sankt Petersburg verzeichnet ist, war der Tenor Aleksej Mizonov (1890 – 1958). Mehr über sein Schicksal erzählt der organ/vygodsky.htm (letzter Zugriff am 8. November 2008). O. A.: »Vygodskij Nikolaj Jakovlevicˇ«, in: Keldysˇ, Jurij (Hg.): Muzykal’naja e˙nciklopedija, Bd. 1, 1973, Sp. 848. 391 Valaev, »Les’ Kurbas na Solovkach«, 1989, S. 26. 392 Kartei von Memorial Sankt Petersburg.

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Brief seines Sohnes vom Juli 1989 an Memorial.393 Darin wird berichtet, dass der Musiker seit 1924 Gesang am Moskauer Konservatorium studiert hat. 1927 veranstaltete er eine private Feier, um sein Engagement am Bol’sˇoj-Theater zu feiern. Jemand soll ihn und seine Gäste als »trotzkistische Organisation« angezeigt haben, wofür sie verhaftet und zu Lagerhaft verurteilt wurden; unter den Gästen befanden sich viele Musiker.

Abb. 15: Aleksej Mizonov auf den Solovki, 1929/30. Archiv Memorial Sankt Petersburg, Akte O-B-42.

Mizonovs Verbrechen ist offiziell mit »Mitgliedschaft in einer trotzkistischen Organisation ohne Kenntnis ihrer Ziele« formuliert worden. Er musste eine dreijährige Haft auf den Solovki und anschließend eine dreijährige Verbannung in Archangel’sk verbüßen. In dem erwähnten Brief an Memorial berichtet sein Sohn, wie Mizonovs Stimme ihn einmal vor der Ermordung durch Berufsverbrecher bewahrt hat: Es ist allgemein bekannt, dass es bei den Berufsverbrechern üblich war, das Leben anderer Häftlinge beim Kartenspiel buchstäblich 393 Archiv Memorial Sankt Petersburg: Akte O-B-42.

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auf Spiel zu setzen, indem es ihnen als Einsatz diente.394 Auch das Leben Mizonovs wurde auf diese Weise eines Tages verspielt. Ihn rettete nur der Umstand, dass derjenige, der unter den Berufsverbrechern das Sagen hatte, auf seinen Gesang nicht verzichten wollte. Nach der Lagerhaft durfte Mizonov nicht nach Moskau zurückkehren, lebte in der Provinz und arbeitete als Buchhalter, was er als ersten Beruf erlernt hatte. Er fand aber auch Zeit dafür, beim Lokalradio und in Kulturhäusern zu singen und Gesang zu unterrichten. Als der Große Terror begann, spürte der Sänger die Gefahr, die über ihm als ehemaligem Häftling schwebte, und floh 1937 nach Almaty in Kasachstan. Dort war er an der Musikfachschule und als stellvertretender Leiter am Konservatorium tätig, doch auch hier machte ihm der KGB das Leben schwer und verbot ihm schließlich das Unterrichten am Konservatorium. 1951 soll er infolge eines Briefes, den sein Sohn an den stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats der UdSSR Georgij Malenkov schrieb, rehabilitiert worden sein. Dies ist zu jener Zeit als sehr ungewöhnlich und als eine Ausnahme zu werten. Ein Beispiel dafür, dass unschuldige Musiker auch nach einer bereits verbüßten Haft vor einer erneuten Inhaftierung nicht sicher waren, bietet das Schicksal von Aleksandr Raevskij (1887 – 1942).395 Der Adelige beendete 1920 das Petersburger Lyzeum und ließ sich als Jurist und Kontrabassist ausbilden. Mitte der 1920er-Jahre wurde er verhaftet und war bis 1931 im SLON inhaftiert. Danach arbeitete er als Musiker im Orchester des Moskauer Estrade- und Miniaturentheaters. 1941 wurde er erneut verhaftet und von einem Sonderkollegium zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt. Ins Krasnojarsker Zwangsarbeitslager transportiert, starb er dort 1942; 1956 wurde er posthum rehabilitiert. Aleksandr Kenel’ (1898 – 1970) Das Schicksal Aleksandr Kenel’s, eines inhaftierten Komponisten, welcher vor der Haft zur kompositorischen Avantgarde zählte, soll im Folgenden näher betrachtet werden.396 Kenel’ war Nachfahre eines Franzosen, welcher mit Napo394 Putz, Manuela: »Die Herren des Lagers. Berufsverbrecher im Gulag«, in: Sapper, Manfred/ Weichsel, Volker/Huterer, Andrea (Hg.): Das Lager schreiben. Varlam Sˇalamov und die Aufarbeitung des Gulag (= Osteuropa, 2007), S. 347. 395 Kartei von Memorial Sankt Petersburg. 396 Auf die Tatsache seiner Inhaftierung ist die Autorin im Archiv von Memorial Sankt Petersburg beim Durchsehen der Kartei ehemaliger Häftlinge, die zum großen Teil in Leningrad verhaftet wurden, aufmerksam geworden. Bei der anschließenden Internet-Recherche fand sie einen Artikel über Kenel’, welcher im Jahr 2006 von Aleksej Annenko aus Abakan verfasst wurde (Annenko, Aleksej: »Tajna kompozitora Sˇarlja Lui de Kenelja«, in: http://gorod.abakan.ru/autors_projects/hronograf_annenko/kenel/ [letzter Zugriff am 16. November 2008]) und welcher für die hier vorliegende Rekonstruktion von Kenel’s Biografie von entscheidender Bedeutung war. Große Teile daraus werden, ohne einen

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leons Heer nach Russland gekommen war und dort blieb. Der zukünftige Komponist wurde 1898 in einer bürgerlichen Familie in Sankt Petersburg geboren; sein Vater war Architekt, seine Mutter Hausfrau. Im Alter von sieben Jahren bekam Kenel’ den ersten Klavierunterricht, studierte jedoch zunächst Jura (Abschluss 1919) und Ökonomie. Er beherrschte die Sprachen Russisch, Deutsch, Französisch und Englisch, und las überdies Italienisch und Schwedisch. Nach der Revolution arbeitete Kenel’ in einer Zeitungsredaktion und wurde mit Beginn des Bürgerkriegs in die Rote Armee eingezogen. Nach seiner Rückkehr studierte er parallel Rhythmik am Institut für szenische Kunst (Abschluss 1924) sowie Komposition am Konservatorium bei Maksimilian Sˇtejnberg und Aleksandr Zˇitomirskij (Abschluss 1927). Zu seinen Mitstudenten gehörte Dmitrij Sˇostakovicˇ, welcher Kenel’ 1922 eine Handschrift seines Fantastischen Tanzes Nr. 2 mit einer freundschaftlichen Widmung schenkte.397 Gleichzeitig war Kenel’ musikalischer Leiter der Theatertruppen Sinjaja bluza (Blaue Bluse), Satirikon sowie der Theatertruppe der Baltischen Flotte. Als Komponist war er am Neuen sowie am Internationalen Theater beschäftigt und verfasste zu dieser Zeit u. a. die Festouvertüre für Orchester (1926) sowie die Erste Klaviersonate (1926).398 An dieser Stelle ist ein Exkurs über die Blaue Bluse angebracht, nicht nur, weil er einen tieferen Einblick in die künstlerische Umgebung Kenel’s vor der Haft vermittelt, sondern auch weil, wie oben erwähnt, einige Inszenierungen in den Haftanstalten der 1920er-Jahre und auf den Solovki sich an den Aufführungen der Blauen Bluse orientierten. Es ist ein Album über diese Theatervereinigung aus dem Jahr 1928 erhalten geblieben, dessen reiche Bebilderung einen Einblick in die Arbeitsformen der Blauen Bluse bietet sowie zahlreiche Kollektive aus der gesamten Sowjetunion, Hinweis auf die Quelle, wörtlich in einer Arbeit von Kirill Bebrisˇ übernommen, die für den von Memorial Moskau jährlich ausgeschriebenen Schülerwettbewerb Der Mensch in der Geschichte. Russland im 20. Jahrhundert der Jahre 2007/08 eingereicht wurde und ebenfalls im Internet einsehbar ist (Bebrisˇ, Kirill: »Pervyj kompozitor Chakasii A. Kenel’«, in: http:// www.memorial.krsk.ru/Work/Konkurs/9/Bebrish/0.htm [letzter Zugriff am 16. November 2008]; mit einem Foto Kenel’s). Annenkos Artikel beruht größtenteils auf Informationen, welche Kenel’ in einer Autobiografie 1944 darlegte, als er anfing, am Institut zur Erforschung der chakassischen Sprache, Literatur und Geschichte in Abakan zu arbeiten. Sie wird heute im Archiv dieses Instituts aufbewahrt. 397 Sˇostakovicˇ war schon seit ihrem gemeinsamen Besuch des Musikunterrichts von Ignatij Gljasser mit Kenel’ befreundet. Beide gehörten Anfang der 1920er-Jahre einem Zirkel aus 15 jungen Komponisten an, welcher sich in der Mensa des Konservatoriums traf, um die Musik seiner Mitglieder zu diskutieren. Auch trafen sie sich zusammen mit weiteren Komponisten bei Anna Fogt. Chentowa, Sofja: »Der junge Schostakowitsch«, in: Kunst und Literatur, 1986, S. 545; Micheeva, L.: Zˇizn’ Dmitrija Sˇostakovicˇa, 1997, S. 49 f. 398 Gojowy, Detlef: Neue sowjetische Musik der 20er Jahre, 1980, S. 106; Bernandt/Dolzˇanskij, Sovetskie kompozitory, 1957, S. 267.

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die ähnlich arbeiteten, vorstellt. Folgendes wird im Album berichtet: Die Blaue Bluse hat 1923 damit begonnen, zˇivye gazety (»lebendige Zeitungen«) zu produzieren. Im Laufe der Zeit ist sie zu einer »Synthese kleiner Theaterformen« vorgedrungen, und zwar solcher wie raÚk (eine alte Form der Volkskunst: ein Kasten mit bewegten Bildern), cˇastusˇka, Lubok (russischer Volksbilderbogen), Oratorium,399 Sketch, Buffonade, Groteske, Vaudeville und Musikkomödie. Als ein »Kind der Revolution« hat die Blaue Bluse, die in Moskau entstanden ist, zahlreiche Nachfolger gefunden; 1927 sollen dies ca. 7.000 Truppen in der gesamten UdSSR gewesen sein. Aber auch in »allen Ländern Europas«, so die Herausgeber des Albums, hat es Arbeiterzirkel gegeben, welche sich die Moskauer Blaue Bluse zum Vorbild nahmen.400

Abb. 16: Aus den Auftritten der Blauen Bluse: Puppen. Al’bom Sinjaja Bluza S.S.S.R., 1928, S. 27.

Die Blaue Bluse verstand sich als proletarisches Theater über aktuelle Ereignisse und als Gegensatz zum bürgerlichen Theater. Zu ihren Gestaltungsmitteln zählten die Autoren des zitierten Albums Parolen, »mechanisierte Gesten«, Plakate, Musik und Lieder, sportliche Bewegungen, »exzentrischen Tanz« u. a. Ihre Vorbilder waren die Music Hall sowie »linke Meister« wie Vsevolod Mejerchol’d und Nikolaj Foregger. Dabei distanzierte man sich von »primitiver Agitation« und strebte ein »sowjetisches Vaudeville«, eine »sowjetische Komödie« sowie eine »sowjetische Operette« an. Die Blaue Bluse, heißt es weiter im Album, war ein »sowjetischer Propagandist« und »Organisator der Heiterkeit und der Erholung« in Arbeiterklubs.

399 Die Nennung dieser geistlichen Gattung in einer Reihe mit »kleinen Theaterformen« überrascht zunächst. Sie weist darauf hin, dass zu jener Zeit in der Sowjetunion in bestimmten Kreisen darunter offenbar etwas anderes verstanden wurde. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wäre eine eingehende Untersuchung über die Blaue Bluse notwendig. 400 Al’bom Sinjaja Bluza S.S.S.R., 1928, S. 3 f.

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Abb. 17: Ein sogenanntes Oratorium der Blauen Bluse. Al’bom Sinjaja Bluza S.S.S.R., 1928, S. 26.

An Texte und Musik stellten die Mitglieder der Blauen Bluse den Anspruch, dass sie »straff« und »spitz« sein sollten, wie die Gedichte Vladimir Majakovskijs oder Sergej Tret’jakovs. Das Bühnenbild und die Kostüme sollten maximal ausdrucksstark und einprägsam sein. Die Blaue Bluse wollte auch eine »echte rote sowjetische Estrade« verwirklichen, mit Vorbildern wie der spanischen Komödie, William Shakespeare, MoliÀre und der Comedia dell’arte. Vorbilder aus der russischen Kultur waren die Jahrmarkt-Bühne (balagan), fahrende Zauberer und Jongleure.401 Aus dieser Selbstdarstellung kann gefolgert werden, dass die Blaue Bluse insgesamt eine fortschrittliche linke Kunst, die den Massen verständlich sein sollte, anstrebte. Allerdings demonstriert die Nennung ihrer zahlreichen und gleichzeitig recht unterschiedlichen Vorbilder, dass die Vereinigung sich zur Zeit der Veröffentlichung des Albums noch in einer Selbstfindungsphase befunden, oder aber gar keine klare künstlerische Linie verfolgt hat. Was die von der Blauen Bluse verwendete Musik angeht, so sind dazu noch Forschungen vonnöten.402 Der an den Aufführungen der Blauen Bluse musikalisch beteiligte Aleksandr Kenel’ war ein fortschrittlich denkender Komponist. Er war Mitglied des Leningrader Zirkels für Viertelton-Musik, welcher von Georgij Rimskij-Korsakov, dem Enkel des berühmten Komponisten, ins Leben gerufen wurde. Kenel’s Dva e˙skiza (Zwei Skizzen) für zwei Klaviere, Harmonium und Harfe wurden am 25. Mai 1925 im Rahmen des zweiten Konzerts der Leningrader Vierteltöner vorgetragen.403 401 Al’bom Sinjaja Bluza S.S.S.R., 1928, S. 4 f. 402 Ein Anfang wurde von Wolfgang Mende in seiner Monografie Musik und Kunst in der sowjetischen Revolutionskultur bis 1932. Ein Konzeptvergleich, 2009 gemacht. 403 Ader, Lidia: »Microtonal storm and stress: Georgy Rimsky-Korsakov and quarter-tone music in 1920s Soviet Russia«, in: Tempo, 2009, S. 39.

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Abb. 18: Aus den Auftritten der Blauen Bluse: Tanz der Maschinen. Al’bom Sinjaja Bluza S.S.S.R., 1928, S. 31.

Wie in einer von Detlef Gojowy ins Deutsche übersetzten Notiz aus der Zeitschrift Muzyka i Revoljucija aus dem Jahr 1927 berichtet wird, haben Vertreter der Leningrader Vierteltöner auch in Moskau ein Konzert veranstaltet: Am 11. April fand im Staatlichen Institut für Musikwissenschaft die erste öffentliche Demonstration von Beispielen der Vierteltonmusik in Moskau statt, als deren Propagandisten G.[eorgij] M.[ichajlovicˇ] Rimskij-Korsakov (Enkel des Komponisten) und ein von ihm in Leningrad gegründeter Kreis zum Studium der Vierteltonmusik in Erscheinung treten. Aufgeführt wurden: die Fantasie Nr. 2 op. 19 für Klavier des tschechischen Komponisten Alois H‚ba, […], und Stücke für Fisharmonium, Klavier und Harfe Leningrader Vierteltöner – das »Präludium« von N. Malachovskij, die »Esquisse« von A. Kenel’ und ein »Poem« von G. Rimskij-Korsakov selbst, […]. Die Demonstration rief großes Interesse hervor und diente als Anlaß eines lebendigen Meinungsaustausches.404

Soweit liest sich die Biografie Kenel’s als der Beginn einer vielversprechenden Karriere eines vielseitig begabten Künstlers. Doch am 15. Juni 1927 wurde er verhaftet und im Juli 1927 wegen Mitgliedschaft in einer »illegalen und antiso404 Gojowy, Neue sowjetische Musik der 20er Jahre, 1980, S. 445 f.

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wjetischen Organisation« nach § 58 – 5 des Strafgesetzbuches der RSFSR zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt und auf die Solovki transportiert. Während es sich bei gleichlautenden Urteilen für andere Häftlinge vielfach um fiktive Organisationen handelte, war Aleksandr Kenel’ tatsächlich Mitglied einer Vereinigung, und zwar des sogenannten Ritterordens des Heiligen Grals, eines Freimaurerordens, welcher 1916 in Petersburg gegründet wurde. 1927 hatte er in der Hierarchie des Ordens bereits einen hohen Rang erreicht. Die Leningrader Brüder und Schwestern des Ordens kamen größtenteils aus dem künstlerischen Milieu und strebten geistige Vervollkommnung an. Mit Kenel’ zusammen sind sieben weitere Mitglieder des Ordens verurteilt worden, darunter das ranghöchste Mitglied und der Gründer des Ordens, Alexandre Gaucheron-Delafosse, zu zehn Jahren Lagerhaft, was damals die längstmögliche Haftzeit bedeutete.405 1929, nachdem Kenel’ bereits zwei Jahre Lagerhaft hinter sich hatte, wurde sein Name erneut in der Anklageschrift des Leningrader OGPU zu dem Verfahren Nr. 108 genannt, die sich gegen den Zirkel Voskresen’e (kann sowohl mit »Sonntag« als auch mit »Auferstehung« übersetzt werden) richtete. Daraus geht hervor, dass Kenel’ angeblich, wie auch der bereits erwähnte Musiker Pavel Val’dgardt, Mitglied des Tajbalin-Zirkels gewesen war.406 In den 1920er-Jahren gab es in Leningrad zahlreiche religiös-philosophische Zirkel, die mit Freimaurern sympathisierten. Einer davon, in dem Angehörige der Leningrader Intelligenz zusammenkamen, trug seit Ende 1919 den Namen Voskresen’e. Gegründet wurde dieser Zirkel, welcher allen Interessenten offen stand, im Dezember 1917 von Aleksandr Mejer zum Diskutieren verschiedener Fragen. Den Zusammenkünften des Zirkels waren Merkmale eines Rituals eigen: Eröffnet wurden sie mit einem Gebet, und vor den Gesprächen wurden die Hände der Sitznachbarn gedrückt, sodass sich unter allen Beteiligten ein Kreis bildete. Die Pianistin Marija Judina verkehrte regelmäßig in diesem Zirkel und sprach sich für eine religiöse Wiedergeburt Russlands aus. Die Mitglieder des Zirkels waren antibolschewistisch eingestellt, sie wollten die Ideen des Christentums mit denen einer sozialen Revolution verbinden.407 Das OGPU witterte die Möglichkeit eines großen Verfahrens gegen die Intelligenz, als sie diesen Zirkel überführte. Sie unterstellte Mejer die Leitung von fünf Zirkeln, darunter auch des Tajbalin-Zirkels. Insgesamt wurden 70 Menschen im Laufe dieses Verfahrens verurteilt. Sie gehörten der vorrevolutionären Intelligenz an, stammten mehrheitlich aus dem adeligen Milieu und hatten zum großen Teil eine Hochschulausbildung genossen.408 405 406 407 408

Bracˇev, Russkoe masonstvo XVIII – XX vv., 2000, S. 386 – 389. Flige/Danie˙l’, »Delo A. A. Mejera«, 2006. Bracˇev, Russkoe masonstvo XVIII – XX vv., 2000, S. 395 – 400. Grigorij Tajbalin war ehemaliger Offizier und ehemaliger Buchhalter. Bracˇev, Russkoe masonstvo XVIII – XX vv., 2000, S. 405, 409 f., 412.

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Spuren von Kenel’s Tätigkeit auf den Solovki sind in Erinnerungen von Häftlingen sowie in der Zeitschrift Soloveckie ostrova erhalten geblieben. So berichtet Dmitrij LichacˇÚv, wie weiter oben bereits geschildert, von einem Gedenkabend für den Dichter Nikolaj Nekrasov am 12. Januar 1929. Als den bemerkenswertesten Programmpunkt bezeichnet er Teile aus der Oper Kobzar’ des Häftlings Kenel’.409 Anhand eines Artikels über die musikalische Gestaltung am Solovezker Theater, welchen Kenel’ selbst verfasst hat, und welcher in Soloveckie ostrova veröffentlicht wurde, lässt sich erahnen, mit welchen Schwierigkeiten dieser sehr gut ausgebildete Musiker als mehrjähriger musikalischer Leiter des Solovezker Theaters410 zu kämpfen hatte:411 Das vorgefundene Orchester genügte seinen Ansprüchen nicht, das benötigte Notenmaterial fehlte. Der Komponist sorgte dafür, dass im Lager Noten gedruckt wurden und arbeitete mit dem Orchester, um dessen Niveau zu steigern. Schließlich hatte er über 20 Musiker so weit, so schreibt er zumindest, dass er mit ihnen seinen Vorstellungen entsprechend an Schauspielmusiken arbeiten konnte. Kenel’ nennt in seinem Artikel die Inszenierung von Michail Lermontovs Maskarad (Maskenball) die erste bedeutende Aufführung des Solovezker Theaters. Im Nationalarchiv der Republik Chakassien (NARCh) werden seine Manuskripte zu dieser Aufführung aufbewahrt: Es handelt sich dabei um eine Schauspielmusik für kleines Sinfonieorchester (Flöte, Klarinette, Streicher, Klavier) sowie um Aforizmy-e˙pigrafy (Aphorismen-Epigrafe) für zwei Klaviere und einen Sprecher. Die Schauspielmusik besteht aus zehn Teilen. Sie ist auf Februar 1930 datiert und in Kem’ niedergeschrieben. Das zweite Stück, welches sowohl mit Aforizmy-e˙pigrafy als auch nur mit E˙pigrafy überschrieben ist,412 besteht aus sechs Teilen, von denen jedem ein Zitat aus Lermontovs Schauspiel vorangestellt ist und von einem Sprecher vorgetragen werden könnte. Weiterhin berichtet Kenel’ darüber, dass das Schauspiel Ucˇitel’ Bubus (Der Lehrer Bubus) von Aleksej Fajko vom Orchester des Solovezker Theaters mit atonaler Musik begleitet wurde, welche sich durch starke Polyphonie und Leitmotive auszeichnete und mit dem konstruktivistischen Bühnenbild korrespondierte. Auch enthielt diese Schauspielmusik Jazz-Elemente, darunter einen 409 LichacˇÚv, Vospominanija, 1995, S. 216. Diese Oper wird in den der Verfasserin bekannten Werkverzeichnissen nicht erwähnt. Das Archiv Kenel’s, welches im Nationalarchiv der Republik Chakassien (NARCh) in Abakan aufbewahrt wird, enthält kein Manuskript dieser Oper. Auskunft des Archivs an die Verfasserin vom 25. Februar 2010, Nr. 21-T. 410 Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 92. 411 Kenel’, Aleksandr : »Muzykal’noe oformlenie v soloveckom teatre«, in: Soloveckie ostrova, 1929, S. 26 – 28. 412 Es existieren von diesem Stück jeweils eine Stimme für beide Klaviere sowie eine Partitur im Manuskript des Komponisten.

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im Radio gehörten ausländischen Foxtrott. Es gab darin des Weiteren eine Szene, in der die Taktangabe in jedem Takt wechselte – 1/4, 5/8, 3/4 usw. Für das Schauspiel Luna sleva (Der Mond steht links), das nach dem Vorbild der Blauen Bluse inszeniert wurde, verwendete Kenel’ Musik, welche von Maschinen inspiriert war ; für zwei weitere Schauspiele komponierte er Couplets nach dem Vorbild von Vaudevilles.

Abb. 19: Letzter Teil aus Aleksandr Kenel’s Schauspielmusik zu Lermontovs Maskarad (Maskenball): Panichida (Trauerfeier).

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Abb. 20: Aleksandr Kenel’s E˙pigrafy (Epigrafe) für zwei Klaviere, Anfang des ersten Teils.

Für die Revue Dezinfekcionnaja kamera (Desinfektionskammer) ergänzte er das Sinfonieorchester durch die Instrumente Balalaika, Gitarre, Mandoline, Ziehharmonika sowie Tari und Doli413 aus dem Kaukasus und konnte dadurch mit Klangfarben experimentieren, die in einem Sinfonieorchester gewöhnlicherweise nicht vorkommen. Diese Revue enthielt auch Lieder der Berufsverbrecher. Auf diese Weise bildete das Solovezker Theater für den professionellen Komponisten Kenel’ ein Experimentierfeld, auf dem er sich trotz der schwierigen Bedingungen des Lagers möglicherweise weiterentwickeln konnte. Als das 413 Tari (georgisch) – entspricht der orientalischen Langhalslaute Tar (vgl. Fußnote 762). Doli – georgische, abchasische, adsharische zweifellige Trommel. Balter, Fachwörterbuch Musik, 1976, S. 298, 428.

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Theater 1929 nach Kem’ umzog, wurde auch Kenel’ dorthin gebracht. In Kem’ ˇ ajkovskijs Evwurde unter seiner Leitung eine konzertante Aufführung von C 414 genij Onegin realisiert. Nach Verbüßen der Haft im Jahr 1930 durfte Kenel’ nicht nach Leningrad oder Moskau ziehen. Es begann eine unruhige Zeit zahlreicher Umzüge quer durch die Sowjetunion und die Tätigkeit an Theatern als musikalischer Leiter, Komponist und Dirigent. Nach Angaben von Detlef Gojowy blieb Kenel’ höchstens zwei bis vier Jahre in den Orten Voronezˇ, Tasˇkent, Sverdlovsk, Novosibirsk sowie Krasnojarsk.415 Aleksej Annenko fügt Stalingrad und Fergana als weitere Aufenthaltsorte hinzu. In diesem Lebensabschnitt komponierte Kenel’ beispielsweise ein Streichquartett (1932), die Zweite Klaviersonate (1932) sowie 24 Präludien für Klavier (1934 – 1939).416 1942 ließ sich der Komponist in Abakan nieder, der Hauptstadt des Autonomen Gebiets Chakassien in Süd-Sibirien, wo damals nicht mehr als 50.000 Einwohner lebten, und wo er bis ans Ende seines Lebens im Jahr 1970 als musikalischer Leiter des Gebietstheaters, des Theaters nationaler Minderheiten, als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts zur Erforschung der chakassischen Sprache, Literatur und Geschichte (von 1944 bis 1948) sowie als Lehrer an der Musikschule, welche heute seinen Namen trägt, arbeitete. Ab 1945 nahm er jährlich an Expeditionen teil, bei welchen die Folklore nationaler Minderheiten Chakassiens aufgezeichnet wurde, und transkribierte dabei ca. 900 Melodien.417 Er bearbeitete sie, schrieb theoretische Abhandlungen darüber und verwendete sie in seinen Kompositionen. In Abakan verfasste er nach chakassischen Themen beispielsweise ein Klavierquintett (1949) sowie die Dramatische Fantasie für Klavier und Orchester (1955). Auch komponierte er die Oper Cˇanar Chus nach Motiven des chakassischen Nationalepos,418 die erst zehn Jahre nach seinem Tod in Gänze zur Aufführung kam. Kenel’ war seit 1947 Mitglied des Sowjetischen Komponistenverbands und erhielt 1960 den Ehren-

414 Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 99. 415 Gojowy, Neue sowjetische Musik der 20er Jahre, 1980, S. 106 f. 416 Gojowy, Neue sowjetische Musik der 20er Jahre, 1980, S. 107; Bernandt/Dolzˇanskij, Sovetskie kompozitory, 1957, S. 267. 417 Er brachte 1955 die Sammlung Chakasija poÚt (Chakassien singt) heraus, welche einstimmige Lieder enthält. Viele davon erzählen von der Partei, dem Bau des Kommunismus, dem Komsomol, der Arbeit des sowjetischen Volkes und seiner Heimatliebe. Des Weiteren wird eine Stalin-Kolchose besungen. Es finden sich darunter aber auch einige Liebeslieder und ein Wiegenlied. Damit liegt thematisch gesehen eine typisch sowjetische Liedersammlung vor. Bei den wenigsten Stücken handelt es sich um Volkslieder, meist ist ein Urheber angegeben. Kenel’, Aleksandr : Chakasija yrlapcˇa – Chakasija poÚt, 1955. ˇ anar Chus i Ach C ˇ ibek‹«, in: UcˇÚnye zapiski, 1974, 418 Asinovskaja, A.: »Opera A. Kenelja ›C S. 88 – 106.

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titel »Verdienter Künstler der RSFSR«.419 Bis zu seinem Tod erwähnte er auch gegenüber engen Freunden seine Vergangenheit als Häftling auf den Solovki nicht, und viele Einwohner Abakans fragten sich, warum ein so herausragender Musiker ausgerechnet in ihrer Stadt lebte.420 Wie Kenel’ waren viele professionelle Musiker, wenn sie die Lagerhaft überlebten, dazu gezwungen, in der Provinz zu leben. Dadurch wurde zwar das Niveau des Musiklebens dort erheblich gesteigert, aber dahinter standen zerstörte Schicksale von Menschen, die ihre Veranlagungen nicht in vollem Maße realisieren konnten. Sie wurden aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen, traumatisiert und konnten nur in den seltensten Fällen nach der Haft an ihr früheres Leben anknüpfen. Zum Musikleben in der Provinz aber leisteten sie oft einen nicht zu unterschätzenden Beitrag. »Gern hätt’ ich sie alle beim Namen genannt…«421 – Namentlich bekannte Musiker auf den Solovki Andrijanov, Vasilij – Bariton;422 Ananov, V. – Professor für Musikgeschichte;423 Asatiani, G. G. od. Asatiani-Eristov, Pëtr – Tenor od. Bariton; Chal’fan – Musikprofessor ;424 Chorosˇij, Fedot – Chorlehrer der inhaftierten Kinder ;425 Fersˇtudt, Nikolaj – Initiator des Ensembles der Volksinstrumente;426 Frolovskij, B. – Pianist;427 Gorodeckij – Geiger, Sänger ;428 Grossman – Geiger ;429 Jadrov – Sänger ;430 Kalugin – 419 Bebrisˇ, »Pervyj kompozitor Chakasii A. Kenel’«, 2007/08; http://dic.academic.ru/dic.nsf/ enc_biography/53875/;V^V\m, (letzter Zugriff am 16. November 2008). Zum vierzigjährigen Jubiläum der schöpferischen Tätigkeit Aleksandr Kenel’s verfasste der ehemalige Häftling Ananij Sˇvarcburg (vgl. Kapitel B.2) einen Artikel für die Zeitung Krasnojarskij rabocˇij (veröffentlicht am 22. 11. 1958). Dies kann als Beispiel für die Solidarisierung ehemaliger Häftlinge untereinander verstanden werden. 420 Klause, Inna: »Sud’ba i tvorcˇestvo A. A. Kenelja, soratnika G. M. Rimskogo-Korsakova po ›Kruzˇku cˇetvertitonovoj muzyki‹« (= The life and work of Aleksandr Kenel’, colleague of Georgy Rimsky-Korsakov in the Circle of Quarter-Tone Music), in: Ader, Lidia u. a. (Hg.): N. A. Rimskij-Korsakov i ego nasledie v istoricˇeskoj perspektive. Materialy mezˇdunarodnoj muzykovedcˇeskoj konferencii (= N. Rimsky-Korsakov and his Heritage in Historical Perspective. International Musicological Conference Proceedings), 2010, S. 38, 309. 421 Deutsche Übersetzung der Zeile »F_cV\_bm Rl SbVf `_Y]V^^_ ^QXSQcm […]« aus dem Epilog des Requiems von Anna Achmatova. Achmatowa, Anna: Requiem, aus dem Russischen von Rosemarie Düring, 1987, S. 38. Übersetzung aus: Putz, Manuela/Huhn, Ulrike (Hg.): Der Gulag im russischen Gedächtnis. Forschungsergebnisse einer deutsch-russischen Spurensuche in der Region Perm, 2010, S. 50. 422 Litvin, »Zima vo l’dach«, 1926, 15 f. 423 LichacˇÚv, Vospominanija, 1995, S. 216 f. 424 Brodskij, Solovki, 2002, S. 268 f.; Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 92. 425 Kartei von Memorial Sankt Petersburg. 426 Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 137. 427 Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 84. 428 N. V., »Koncerty«, 1924, S. 99 f.; N. V., »Dekabr’skie vecˇera«, 1924, S. 101.

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Bariton des Leningrader Aleksandrinskij-Theaters;431 Kancel’ – Dirigent; Keep, E. P. – Leiter des Sinfonieorchesters; Kenel’, Aleksandr – Komponist; Korobovskij, S. D. – Pianist, musikalischer Leiter, ehemals Student des Moskauer Konservatoriums;432 Ksendzovskij – Opernsänger, Direktor des Operettentheaters in Leningrad;433 Kuz’min, D. – Tenor ;434 Leon, Zˇorzˇ – Chansonnier;435 Levkassi-Liberman, I. – Pianist;436 Midlin – Musiker ;437 Milovanov – Sänger (?);438 Mizonov, Aleksej – Tenor ;439 N. N. (Romni) – Sängerin;440 Niftan – Geiger ; Novickij – Dirigent; Orlova od. Osnova – Operettensängerin; Osˇman, Elena – Pianistin;441 Osˇman, Nina – Sängerin;442 Panin, Ivan – Coupletsänger in der Theatertruppe Svoi; Privalov, Leonid – Bariton; Rachman – Sängerin;443 Radko, N. – Pianist;444 Raevskij, Aleksandr – Kontrabassist;445 Ravtopullo od. Ravtopulla od. Ravtopulo – Chorleiter des russ. Chores;446 Rodnov – Sänger ;447 Romasˇcˇenko – Chorleiter des ukrainischen Chores;448 Rubinsˇtejn, Jasˇa – Initiator des Orchesters der Sozialrevolutionäre;449 Sˇcˇerbovicˇ – Dirigent des Sinfonieorchesters;450 Speranskij – Dirigent;451 Stanesku, Goga – Sänger und Leiter des Ensembles der Sinti und Roma;452 Sˇtromberg, Nikolaj – Baron, Schüler von Saint429 Brodskij, Solovki, 2002, S. 269. 430 Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 56; o. A., »Muzyka. Simfonicˇeskij orkestr«, 1926, S. 217 f. 431 Ramensky, »The Theater in Soviet Concentration Camps«, 1954, S. 211. 432 Brodskij, Solovki, 2002, S. 268 f., 452; Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 56; Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 263; o. A., »Muzyka. Simfonicˇeskij orkestr«, 1926, S. 217 f.; http://www.martyr.ru/content/view/8/18/ (letzter Zugriff am 14. November 2008). 433 Ramensky, »The Theater in Soviet Concentration Camps«, 1954, S. 205. 434 Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 83; N. V., »Koncerty«, 1924, S. 99 f.; N. V., »Dekabr’skie vecˇera«, 1924, S. 101. 435 Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 262; Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 57, 93. 436 Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 56, Abb. 4; N. V., »Koncerty«, 1924, S. 99 f.; N. V., »Dekabr’skie vecˇera«, 1924, S. 101; Nikitin, »Teatr i muzyka. Soloveckij teatr«, 1925, S. 104 f. 437 Brodskij, Solovki, 2002, S. 269. 438 N. V., »Dekabr’skie vecˇera«, 1924, S. 101. 439 Archiv Memorial Sankt Petersburg: Akte O-B-42. 440 Valaev, »Les’ Kurbas na Solovkach«, 1989, S. 26. 441 Brodskij, Solovki, 2002, S. 268 f., 451. ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 59. 442 C 443 N. V., »Dekabr’skie vecˇera«, 1924, S. 101. 444 Sˇirjaev, Neugasimaja lampada, 1991, S. 84. 445 Kartei von Memorial Sankt Petersburg. 446 Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 255; N. V., »Dekabr’skie vecˇera«, 1924, S. 101; Nikitin, »Teatr i muzyka. Soloveckij teatr«, 1925, S. 105. 447 N. V., »Dekabr’skie vecˇera«, 1924, S. 101. 448 Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 255; N. V., »Dekabr’skie vecˇera«, 1924, S. 101. 449 Olickaja, Moi vospominanija, 1971, Bd. 1, S. 265. ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 98. 450 C 451 Brodskij, Solovki, 2002, S. 269. ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 99. 452 C

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SaÚns;453 Struckhoff od. Sˇtrukgof – Geiger ;454 Vajn, A. O. – Pianist, dirigierte das Sinfonieorchester ;455 Val’dgardt, Pavel – Dirigent;456 Vasil’ev, Pavel – Sänger;457 Vygodskij, Nikolaj – Organist, Pianist;458 Zalesskaja, Asja – Volksliedsängerin.459

A.2.2 Musik im Dienste der Perekovka-Idee I: Beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals 1931 – 1933 (Belbaltlag) Das wichtigste Merkmal der Diktatur der Arbeiterklasse ist es, dass die proletarische Diktatur nebst der Gewalt kulturerzieherische Mittel nutzt – als große Kraft zur Einwirkung auf die Menschen sowie als mächtigsten Faktor sowohl der Neugestaltung der gesellschaftlichen Beziehungen als auch der Neugestaltung der Menschen.460 Andrej Vysˇinskij, stellvertretender Staatsanwalt, ab 1935 Generalstaatsanwalt der Sowjetunion

Die folgenden zwei Kapitel schildern die Umsetzung der Umerziehungsidee, deren Ursprünge im System des sowjetischen Strafvollzugs in Kapitel A.1 dargestellt wurden, in zwei Lagern der 1930er-Jahre. Beide waren hauptsächlich mit dem Bau von Kanälen beauftragt und in beiden wurde auf die Idee der Umerziehung großes Gewicht gelegt. Die Umerziehung wurde nun allgemein als perekovka (Umschmiedung) bezeichnet. Da es in der Forschung keinen Konsens darüber gibt, ob die Umerziehung der Häftlinge in den sowjetischen Haftanstalten der 1920er- und 1930er-Jahre ein ernsthaft angestrebtes Ziel des Strafvollzugs oder nur »bloße Maskerade« darstellte,461 wird im Laufe der folgenden zwei Kapitel versucht zu klären, welche Antwort das Musikleben in den Lagern auf diese Frage liefert.

453 454 455 456 457 458 459 460

Kartei von Memorial Sankt Petersburg. N. V., »Koncerty«, 1924, S. 99 f. Valaev, »Les’ Kurbas na Solovkach«, 1989, S. 25. Brodskij, Solovki, 2002, S. 267; LichacˇÚv, Vospominanija, 1995, S. 216. Kartei von Memorial Sankt Petersburg. Valaev, »Les’ Kurbas na Solovkach«, 1989, S. 26. Brodskij, Solovki, 2002, S. 268. 4\QS^_V S UY[cQcdaV aQR_hVT_ [\QbbQ – […] – XQ[\ohQVcbp S c_], hc_ ^QapUd b ^QbY\YV] `a_\VcQab[Qp UY[cQcdaQ `_\mXdVcbp [d\mcda^_-S_b`YcQcV\m^l]Y baVUbcSQ]Y S [QhVbcSV Yb`_\Y^b[_Z bY\l bS_VT_ S_XUVZbcSYp ^Q \oUVZ Y S [QhVbcSV ]_TdjVbcSV^^VZiVT_ eQ[c_aQ [Q[ `VaVUV\[Y _RjVbcSV^^lf _c^_iV^YZ, cQ[ Y `VaVUV\[Y bQ]Yf \oUVZ. Vysˇinskij, Andrej:

»Predislovie«, in: Ot tjurem k vospitatel’nym ucˇrezˇdenijam, 1934, S. 8. 461 Vgl. Fischer von Weikersthal, Felicitas: Die »inhaftierte« Presse. Das Pressewesen sowjetischer Zwangsarbeitslager 1923 – 1937, 2011, S. 109 – 112.

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Historische Rahmenbedingungen Laut der offiziellen Berichterstattung nach der Fertigstellung des WeißmeerOstsee-Kanals begannen die Arbeiten an diesem größten Bauprojekt des ersten Fünfjahresplans Mitte Oktober 1931.462 In der Realität waren Erkundungstrupps aber bereits im Juni 1930 in den Baugebieten tätig,463 bald nachdem dieses Projekt durch einen Erlass des Rats für Arbeit und Verteidigung beschlossen worden war. Die Verfälschung der Bauzeit diente der Propaganda: Der Kanal sollte in einer Rekordzeit fertiggestellt werden. Stalin wurde in den Medien »tagein, tagaus«, so ist bei Aleksandr Solzˇenicyn nachzulesen, als der Initiator und Organisator des Kanalbaus propagiert.464 Von Anbeginn der Planungen spielte Zwangsarbeit eine wichtige Rolle, weil der Kanal ohne diese zu kostspielig geworden wäre. Die »Versorgung« des Baus mit Arbeitskräften wurde dem OGPU übertragen.465 Der Plan für den Kanalbau wurde ebenfalls von Häftlingen in einem Sonderkonstruktionsbüro [OKB – osoboe konstruktorskoe bjuro] in Moskau entwickelt.466 Das OGPU hatte bereits vor dem Kanalbau mehrere Ingenieure verhaftet, die nun bei diesem Projekt eingesetzt werden konnten. Die fehlenden »passenden Personen« sollten »nachverhaftet« werden, wie in einem internen Rapport des OGPU zu lesen ist.467 Hierbei kommt die Missachtung der Einzelperson, welche dem sowjetischen System inhärent war, deutlich zum Ausdruck. Sie ist auf dem Gemälde von PÚtr Belov von 1985 bildlich dargestellt:468 Ein nicht enden wollender Menschenstrom verschwindet in der Zigarettenschachtel der Marke Belomorkanal (Weißmeer-Ostsee-Kanal), die in der Sowjetunion weit verbreitet war und auch im heutigen Russland immer noch konsumiert wird.469 Davon dass auch »passende« Schauspieler und Musiker für das Belbaltlag in Großstädten verhaftet werden konnten, berichtet der Schauspieler Vaclav Dvorzˇeckij, der als Häftling am Theater des Weißmeer-Ostsee-Kanalbaus tätig war.470 462 Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina. Postanovlenie SNK SSSR, Postanovlenija CIK SSSR, General’nyj akt priÚmki, 1933, S. 45. 463 Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 33. 464 Solschenizyn, Der Archipel GULAG. Folgeband, 1974, S. 85. Ein Beispiel für zeitgenössische Propaganda in: Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1933, zwischen S. 2 und 3. 465 Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 31. 466 Gor’kij, Maksim u. a. (Hg.): Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina. Istorija stroiˇ uchin, Kanaloarmejcy, 1990, S. 19. tel’stva 1931 – 1934 gg., 1934, Reprint 1998, S. 77; C 467 Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 51. 468 Zuerst in der Zeitschrift OgonÚk (Feuerchen/Flämmchen) vom 28. Juli 1988 veröffentlicht. 469 Vgl. Klein, Joachim: »Belomorkanal. Literatur und Propaganda in der Stalinzeit«, in: Zeitschrift für slavische Philologie, 1995/96, S. 53. 470 Im Film Kanal imeni Stalina (Der Kanal zu Ehren Stalins), der im Jahr 1992 vom Petersˇ elovek (Der Mensch) und dem Moskauer Filmstudio Kvart produziert burger Filmstudio C wurde.

Fallbeispiele: Weißmeer-Ostsee-Kanal

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Zunächst stellte das Solovezker Lager Häftlinge für den Kanalbau bereit; Mitte 1931 waren dies 10.000 Arbeitskräfte.471 Aleksandr Solzˇenicyn schreibt über die Solovezker Häftlinge, welche zum Kanalbau geschickt wurden: Düster mögen einem die Solowki erschienen sein, aber erst, wenn ein Solowkianer zum Weißmeer-Kanal verlegt wurde, dortselbst seine Frist (oder gar das Leben) zu vollenden, erst da begriff er, dass der Spaß nun vorbei war, erst da erfuhr er, was ein wirkliches Lager war, so wie wir alle es allmählich kennenlernten.472

Wenn man bedenkt, dass Solzˇenicyns Schilderungen auf Zeitzeugenaussagen beruhen, so wäre daraus zu folgern, dass die Häftlinge beim Kanalbau noch größeres Leid ertragen mussten als auf den Solovki. Im November 1931 wurde durch einen Erlass des OGPU das Belbaltlag [Belomorsko-Baltijskij Lager’ OGPU – Weißmeer-Ostsee-Lager des OGPU] mit dem Sitz in Medvezˇ’ja Gora in Karelien am Ufer des Onegasees ins Leben gerufen.473 Die Arbeiten am Kanal wurden mehrheitlich durch Menschenkraft und mit Schubkarren verrichtet, es standen nur wenige technische Hilfsmittel zur Verfügung.474 Die Häftlingszahl im Belbaltlag betrug, offiziellen Angaben zufolge, am 1. Januar 1932 64.400 Häftlinge, am 1. Oktober 1932 erreichte sie mit 125.000 die Höchstzahl für dieses Lager.475 Hierbei ist bemerkenswert, dass im Winter 1931, entsprechend dem zeitgenössischen Bericht eines Wachmanns, nur ca. drei bis fünf Wachmänner auf 500 Häftlinge kamen, und dass die Mehrheit der Wachmänner sich aus Häftlingen rekrutierte.476 Dies stellt ein Beispiel dafür dar, dass die Grenze zwischen dem Lager und der zivilen Gesellschaft fließend verlief. Ende 1932 berichtete die Zeitung Pravda, dass 50 bis 70 Prozent der Wachmänner des Belbaltlag Häftlinge waren.477 In den Jahren 1931 – 1933 starben im Belbaltlag nach offiziellen Angaben 12.318 Häftlinge.478 Zu den häufigsten Todesursachen gehörten Unterernährung, Pellagra, Tuberkulose sowie Herzschwäche.479 Die Härte der zu verrichtenden ˇ uchin, Arbeit lässt sich aus historischen Fotografien lediglich erahnen.480 Ivan C ein Oberstleutnant der Miliz, welcher die Geschichte des Belbaltlag nach der Perestroika anhand von offiziellen Unterlagen, aber auch anhand von Zeitzeu471 472 473 474 475 476 477 478 479 480

Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 33. Solschenizyn, Der Archipel GULAG. Folgeband, 1974, S. 91. Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 52. ˇ uchin, Kanaloarmejcy, 1990, S. 13; Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, C S. 34 f. Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 33. Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 234 f. Kre˙n, N.: »Soedinenie morej. II. Peredelka ljudej«, in: Pravda, 5. Nov. 1932, S. 3. Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 33 f. ˇ uchin, Kanaloarmejcy, 1990, S. 206. C Kizny, Tomasz: Gulag, 2004, S. 120 – 137.

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genberichten aufgearbeitet hat, ist zu der Schlussfolgerung gekommen, dass das Leben eines Pferdes beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals weitaus mehr zählte als das eines Menschen. Dies spiegelte sich darin wider, dass Auftritte von »Agitationsbrigaden« (vgl. weiter unten in diesem Kapitel) häufig einen Sketch mit dem Titel Vnimanie k losˇadi (Die Sorge um das Pferd) enthielten.481 Ein solcher Sketch, in dem der Umgang mit dem Pferd thematisiert wurde, ist auf einem Foto aus dem Jahr 1932 festgehalten worden.482 Ein Zeitzeuge, welcher den Kanalbau im Dorf Nadvoicy als Kind miterlebt hatte, berichtete nach der Perestroika, dass dort Häftlinge, die für den Kanalbau vorgesehen waren, in Häusern der zivilen Bevölkerung untergebracht waren, solange eine Lagerzone noch nicht errichtet war. Nach der Errichtung des Kanals, so der Zeitzeuge weiter, seien Häftlinge für die Fähre auf dem Kanal zuständig gewesen, und die Kinder der zivilen Bevölkerung hätten mit ihnen ständig Kontakt gehabt. Kinder sollen auch ins Lager hineingegangen sein und von Häftlingen Brot bekommen haben.483 Die Hungersnot in diesen Jahren war so groß, dass Flüchtlinge aus der besonders stark betroffenen Ukraine bis zum Kanal wanderten; ihre inhaftierten Verwandten sollen ihnen dann Essen gebracht haben.484 Auf diese Weise hatten Häftlinge einen engen Kontakt zur zivilen Bevölkerung Kareliens. Dadurch unterschied sich dieses Lager von dem abgeschiedenen auf den Solovki, auch wenn es schon dort gelegentlich vorgekommen war, dass Häftlingskolonnen in zivile Betriebe auf dem Festland zum Arbeiten abkommandiert wurden.485 Der Gulag wurde zu einem sichtbaren Phänomen für die sowjetische zivile Bevölkerung, er breitete sich in ihrer Nachbarschaft aus. Besonders gut wahrnehmbar wurde dies am Dmitlag, einem Lager, dessen Häftlinge hauptsächlich beim Bau des Moskau-Wolga-Kanals eingesetzt wurden, und welches bis in die sowjetische Hauptstadt hinein reichte (vgl. Kapitel A.2.3). Die Tatsache, dass das Belbaltlag auch administrative Funktionen für die Zivilisten in seinem Wirkungsgebiet übernahm, hat Ivan Solonevicˇ, welcher dort inhaftiert war, veranlasst zu schreiben, dass die Grenzen zwischen dem Lager und der »Freiheit« hierbei immer mehr verwischten.486 Ende Juni 1933 war der Weißmeer-Ostsee-Kanal fertiggestellt487 und wurde Anfang August durch den Rat der Volkskommissare für eröffnet erklärt. 12.484 Häftlinge, welche sich als »Stoßarbeiter« profilieren konnten, wurden vorzeitig 481 482 483 484 485 486 487

ˇ uchin, Kanaloarmejcy, 1990, S. 114. C Kizny, Gulag, 2004, S. 262 f. ˇ uchin, Kanaloarmejcy, 1990, S. 227 f. C Solschenizyn, Der Archipel GULAG. Folgeband, 1974, S. 92. Brodskij, Solovki, 2002, S. 184. Solonevicˇ, Ivan: Rossija v konclagere, 2005, S. 17. Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1933, S. 45.

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entlassen, ca. genauso viele, wie es Todesopfer gab, 59.516 Häftlingen wurde die Haftzeit verkürzt, 500 wurden vollständig rehabilitiert.488 31 leitende Personen und Ingenieure erhielten einen Orden, darunter 15 ehemalige Häftlinge den Orden des Roten Arbeitsbanners. Die Inhaftierung dieser Häftlinge ging auf die §§ 58 – 5 und 58 – 6 des Strafgesetzbuches der RSFSR zurück oder aber auf Anklagen wie »Missbrauch der Macht«, »Spekulation« und »Diebstahl«.489 Auch diese Tatsache der Auszeichnung von Personen, welche unmittelbar davor noch inhaftiert waren, zeigt, dass die Grenze zwischen der Haft und der Freiheit in der Sowjetunion stark durchlässig war : Ein freier Bürger konnte jederzeit zur Haft verurteilt werden und umgekehrt ein Häftling zu Ehren kommen und entlassen werden, wobei Letzteres selten vorkam. Solche Phänomene hatten zur Folge, dass der Gulag zu einem Bestandteil des sowjetischen Systems wurde, welcher unmittelbar dazu gehörte und für die zivile Bevölkerung sichtbar war. Ein Teil der Häftlinge, welcher am Kanalbau beteiligt war, wurde nach der Beendigung der Arbeiten zu neuen Bauprojekten transportiert, z. B. zum Bau des Moskau-Wolga-Kanals (vgl. Kapitel A.2.3) oder der Bajkal-Amur-Eisenbahnstrecke (ins Bamlag).490 Durch einen Erlass des Rats der Volkskommissare wurde das Weißmeer-Ostsee-Kombinat des OGPU eingerichtet, welches für die weitere Erschließung des umliegenden Territoriums, für den Bau von Häfen, Schiffen, Wasserkraftwerken, den Abbau von Bodenschätzen und Ähnliches zuständig war.491 Dieses Kombinat bezog seine Arbeitskräfte aus dem noch bis 1941 bestehenden Belbaltlag und aus den Reihen der Zwangsumsiedler [specposelency – wörtl. »Sondersiedler«]. Beispielsweise war Mitte der 1930er-Jahre der inhaftierte Schauspieler Vaclav Dvorzˇeckij für dieses Kombinat tätig. In seinen publizierten Erinnerungen an die Lagerhaft ist eine Urkunde des Weißmeer-Ostsee-Kombinats abgebildet, welche die Eintragung seines Namens in das Rote Arbeitsbuch [Krasnaja trudovaja kniga] des Kombinats bescheinigt. Er wird darin bester Stoßarbeiter genannt; die Auszeichnung wird damit begründet, dass er im Arbeitsprozess, im Alltag und in der »Kulturerziehungsarbeit« herausragende Ergebnisse zeigte. »Kulturerziehungsarbeit« war ein wichtiger Faktor, wenn es um die Auszeichnung von Häftlingen ging. Mutmaßlich erhielt der Häftling in dem auf der Urkunde angegebenen Zeitraum Privilegien, weil die Ausstellung der Urkunde für einen Zeitraum von drei Monaten im Voraus sonst keinen Sinn ergebe.492 Anhand dieses Beispiels lassen sich weitere Gemeinsamkeiten zwischen dem

488 489 490 491 492

Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 35, 52 – 54. Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1933, S. 8 – 10. ˇ uchin, Kanaloarmejcy, 1990, S. 49. C Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 36. Dvorzˇeckij, Puti bol’sˇich e˙tapov, 1994, S. 87.

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Lagerleben und dem Leben in der zivilen Gesellschaft beobachten: die »Stoßarbeiterbewegung« sowie der Einsatz von Urkunden. Darstellung des Belbaltlag nach außen: »erste große Schule der perekovka« Am 5. November 1932 berichtete ein Autor namens N. Kre˙n im Presseorgan der Kommunistischen Partei Pravda von der Umgestaltung [peredelka] der Menschen beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals. Dieser Artikel schildert die offizielle Sicht auf das Phänomen der perekovka (Umerziehung). Demnach gab es ˇ unterstanden; in jedem auf dem Bau des Kanals einen KVO, welchem acht KVC Lagerpunkt war ein Erzieher tätig, der von der übrigen Arbeit freigestellt war. Als »wichtigsten Erzieher des Lagers« nannte der Autor aber die Arbeit der Häftlinge. Das »hehre Ziel« des Kanalbaus, eine sinnvolle Tätigkeit, ein Beruf, den eine Reihe von Häftlingen erst beim Kanalbau erlernte, ließen sie ihren eigenen Wert spüren und bewirkten dadurch ihre Umerziehung, so der Autor. Die »kulturelle Unterhaltung« unterstützte dies, wie er beurteilte, indem sie zum guten Lebensstandard beitrug. Im Zentrum der Umerziehungsbemühungen standen diejenigen »sozial nahen« Häftlinge, welche aus Zufall zu Verbrechern geworden waren; die nach § 58 verurteilten Häftlinge wurden dagegen als »Feinde der Arbeiterklasse« dargestellt.493 Ziel der perekovka war die Schaffung eines neuen Menschen,494 einer »neuen Menschengattung«495, womit an die in der ersten Hälfte der 1920er-Jahre verbreiteten Vorstellungen des Strafvollzugs angeknüpft wurde. Wie der ehemalige Häftling Oleg Volkov berichtet, wurden Anfang der 1930er-Jahre die Berufs- und Gelegenheitsverbrecher zu »sozial nahestehenden« [social’no-blizkie] und die nach dem § 58 Verurteilten zu »sozial gefährlichen« [social’no-opasnye] Häftlingen erklärt.496 Die Konsequenzen daraus machten sich bereits während der Untersuchungshaft bemerkbar : »Sozial nahestehende« ˇ uchin, das Recht auf einen Verteidiger und konnten Häftlinge hatten, laut Ivan C 497 Widerspruch einlegen. Dmitrij LichacˇÚv, der sowohl auf den Solovki als auch 493 Kre˙n, »Soedinenie morej«, 1932, S. 3. Im Gegenteil zu diesem Artikel in der Pravda spricht ein redaktioneller Artikel in der Zeitung des Schriftstellerverbands Literaturnaja gazeta (Literaturzeitung) von der Umerziehung aller Häftlinge beim Bau des Weißmeer-OstseeKanals in »verlässliche Genossen«, unabhängig davon, ob sie »Konterrevolutionäre« oder Diebe waren. O. A.: »Na trasse socialisticˇeskogo tvorcˇestva«, in: Literaturnaja gazeta, 29. August 1933, S. 1. 494 Klein, »Belomorkanal«, 1995/96, S. 61. 495 O. A., »Na trasse socialisticˇeskogo tvorcˇestva«, 29. August 1933, S. 1. ˇ uchin macht dies für das Belbaltlag fest. 496 Brodskij, Solovki, 2002, S. 375. Der Forscher Ivan C ˇ uchin, Kanaloarmejcy, 1990, S. 52. SemÚn Vilenskij spricht von sozial nahen [social’no C blizkie] und sozial fernen [social’no cˇuzˇdye] Häftlingen. Vilenskij, Voprosy est’?, 2006, S. 73. ˇ uchin, Kanaloarmejcy, 1990, S. 77. 497 C

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im Belbaltlag inhaftiert war, schrieb Folgendes zur Unterscheidung von »sozial Nahestehenden« und »sozial Fernen«: Damals gab es eine Theorie von den »sozial Nahen« und den »sozial Fernen«. Die Nahen waren die Verbrecher, die Fernen die Konterrevolutionäre. Die Theorie besagte, dass alles für die »sozial Nahen« getan werden sollte.498

Dass die Umerziehung der Häftlinge in Wirklichkeit nicht so problemlos ablief, wie nach außen dargestellt wurde, demonstriert ein Dokument aus dem Dmitlag, welches viele Methoden sowie einen großen Teil des Belbaltlag-Personals unmittelbar übernommen hatte. Dort wandte sich die Lagerführung (Lazar’ Kogan und SemÚn Firin) im Juni 1934 in einem Rundschreiben an alle Häftlinge.499 Dieses Rundschreiben zeigt, welche geradezu verzweifelten Methoden ergriffen wurden, um die Häftlinge zum besseren Arbeiten zu bewegen. Um gegen Arbeitsverweigerer vorzugehen, wurden alle Baracken dazu angehalten, die darin lebenden Häftlinge in drei Gruppen einzuteilen: in verantwortungsvolle »Kanalarmisten«, Simulanten, welche die Arbeitsnorm nicht erfüllten, sowie Arbeitsverweigerer. Die erste Gruppe sollte in der arbeitsfreien Zeit Vollversammlungen in der Baracke durchführen und die Angehörigen der beiden anderen Gruppen öffentlich darüber befragen, warum sie nicht zu »Kanalarmisten« wurden, obwohl »Kanalarmisten« ja Privilegien genossen. Die erste Gruppe sollte sich verantwortlich für die anderen fühlen und sie beaufsichtigen. Über diejenigen, die durch solche Maßnahmen nicht zu bessern waren, sollte der Lagerleitung Bericht erstattet werden, damit sie in »entlegene nördliche Lager« geschickt werden konnten. In Anlehnung an den Begriff krasnoarmejcy (Rotarmisten) wurden die am Kanalbau eingesetzten Häftlinge mit dem Begriff »Kanalarmisten« (kanaloarmejcy) bezeichnet.500 Dieser Terminus wurde später auch für die Erbauer des Moskau-Wolga-Kanals benutzt. In abgewandelten Formen fand er weitere Verbreitung im Gulag: Die Häftlinge des Sevvostlag auf der Kolyma im Fernen Osten wurden z. B. kolymarmejcy genannt,501 die Häftlinge beim Bau des TulomaWasserkraftwerks tulomoarmejcy (vgl. den Abschnitt über die Theater des Belbaltlag) und die Häftlinge des Bamlag putearmejcy (von put’ – Weg).502 In der zeitgenössischen Monografie Belomorsko-Baltijskij kanal im. Stalina (vgl. folgenden Abschnitt) wird die angebliche Entstehung der Bezeichnung kanalo498 C_TUQ Rl\Q cQ[Qp cV_aYp _ »b_gYQ\m^_ R\YX[Yf« Y »b_gYQ\m^_ UQ\m^Yf«. 2\YX[YV – nc_ S_al, Q UQ\m^YV – [_^caaVS_\ogY_^Val. CV_aYp T\QbY\Q, hc_ ^QU_ SbV UV\Qcm U\p »b_gYQ\m^_ R\YX[Yf«. LichacˇÚv, Dmitrij: Kniga bespokojstv. Stat’i, besedy, vospominanija, 1991, S. 93. 499 GARF: F. R-9489, op. 2, d. 55, l. 46 – 50. 500 Klein, »Belomorkanal«, 1995/96, S. 73. 501 Kozlov, Aleksandr : »Vo vremena kolymskich lagerej«, in: Kolyma, 1992, S. 32. 502 Die Zeitschrift des Bamlag hieß Putearmeec, was der Einzahl von putearmejcy entspricht.

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armejcy überliefert. Sie soll von Lazar’ Kogan stammen, dem damaligen Leiter des ULAG des OGPU (Vorläuferorganisation des GULAG). Er habe sich Gedanken darüber gemacht, so heißt es in der propagandistischen Darstellung, wie er die Häftlinge des Belbaltlag anreden könnte. Die Bezeichnung »Genosse« sei ihm als verfrüht und »Häftling« als beleidigend vorgekommen, also sei er auf die neue Wortschöpfung kanaloarmejcy gekommen, welche sich dann allgemein durchgesetzt habe.503 Im Folgenden werden drei Beispiele behandelt, welche der Darstellung der perekovka im Belbaltlag nach außen dienten. Sie werden daraufhin befragt, was aus ihnen über die Musikausübung im Belbaltlag gefolgert werden kann. Dies sind die Publikation eines Autorenkollektivs Belomorsko-Baltijskij kanal im. Stalina (Weißmeer-Ostsee-Kanal zu Ehren Stalins), Fotografien von Aleksandr Rodcˇenko sowie das Theaterstück Aristokraty (Aristokraten) von Nikolaj Pogodin. Die Publikation Belomorsko-Baltijskij kanal im. Stalina von 1934 1934 erschien die Monografie Belomorsko-Baltijskij kanal im. Stalina (Weißmeer-Ostsee-Kanal zu Ehren Stalins), ein Gemeinschaftswerk von 36 Autoren, darunter Maksim Gor’kij, Michail Zosˇcˇenko und Viktor Sˇklovskij, ein Buch, dessen Exemplare 1937 aus dem Verkehr gezogen und vernichtet wurden,504 weil der ehemalige Leiter des NKVD, Genrich Jagoda, welcher 1937 verhaftet und 1938 hingerichtet wurde, einen wichtigen Platz darin einnahm. 1998 wurde es in einer Reprint-Ausgabe neu herausgegeben.505 Solzˇenicyn nannte es ein »schändliche[s] Werk[…], in dem zum ersten Mal in der russischen Literatur der Sklavenarbeit Ruhm gesungen wurde«.506 Obwohl es sich um ein propagandistisches Buch handelte, lassen sich daraus Informationen entnehmen, welche der realen Situation nahe kommen dürften, beispielsweise wenn beschrieben wird, dass ein Ingenieur bei seiner Ankunft im Belbaltlag von den primitiven Arbeitsmethoden enttäuscht wurde. Auch einige Schilderungen der Häftlinge scheinen realistisch zu sein, beispielsweise im folgenden Abschnitt, welcher nach der deutschen Übersetzung von Solzˇenicyns Archipel GULAG zitiert wird:

503 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 209. 504 Vgl. auch Solschenizyn, Der Archipel GULAG. Folgeband, 1974, S. 77. Hier schildert der Autor, dass auch Privatpersonen dieses Buch vernichteten, um für die Tatsache, dass sie es besaßen, nicht inhaftiert zu werden. 505 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998. 506 Solschenizyn, Alexander: Der Archipel GULAG [Hauptband], 1974, S. 12. Genaueres zur Entstehung und Rezeption dieses Buches kann bei Klein, »Belomorkanal«, 1995/96, S. 64 – 78, nachgelesen werden.

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In einer hässlichen, mit Schnee überzogenen Senke tummelt sich, über die vielen Steine stolpernd, ein Haufen Menschen. Zu zweit, zu dritt beugen sie sich über einen Feldstein und versuchen, ihn zu heben. Der Stein rührt sich nicht vom Fleck. Man ruft also den vierten, den fünften herbei…507

Der Bau des Kanals wird in diesem Gemeinschaftswerk als ein »hervorragend gelungener Versuch der Umwandlung einer Masse von ehemaligen Feinden des diktatorischen Proletariats und der sowjetischen Öffentlichkeit in qualifizierte Mitarbeiter der Arbeiterklasse und sogar Enthusiasten der staatlich notwendigen Arbeit« beschrieben. Zum ersten Mal sei bei diesem Projekt das System der perekovka derart umfassend durchgesetzt worden.508 Das propagandistische Schlagwort perekovka scheint sich so stark in den Köpfen festgesetzt zu haben, dass beispielsweise der dem Belbaltlag gegenüber kritisch eingestellte Forscher ˇ uchin auch nach der Perestroika sich nicht von dieser Propaganda lösen Ivan C konnte und das Belbaltlag die »erste große Schule der perekovka« nannte. Zwar gab es bereits auf den Solovki einen Lagerpunkt mit dem Namen »Perekovka«509, aber dieses Schlagwort spielte weder im Lager noch in der Darstellung des Lagers nach außen eine wichtige Rolle. Nachdem nämlich, wie in Kapitel I dargestellt, die Idee der Umerziehung in den ersten Jahren des Sowjetstaates in der Strafjustiz bestimmend war, geriet sie gegen Ende der 1920er-Jahre in Verruf, weil die Kriminalitätsrate seit der Revolution nicht, wie erwartet, ab-, sondern zugenommen hatte. Nicht die Umerziehung der »Klassenfeinde«, sondern ihre Vernichtung wurde seit dem Ende der Neuen Ökonomischen Politik sowohl von der Politik als auch von der Öffentlichkeit gefordert.510 Der Rat der Volkskommissare beschloss im März 1928, das Lagerregime zu verschärfen.511 In der sowjetischen zivilen Gesellschaft war das Schlagwort der Umerziehung aber in den 1920er- und 1930er-Jahren durchgehend präsent. Es war eine alltäglich propagierte Vorstellung, dass alle Sowjetbürger zu neuen Menschen umgestaltet werden sollten.512 Beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals wurde diese Vorstellung durch die für den Strafvollzug Verantwortlichen aufgenommen und forciert. Der Grund dafür kann darin gesehen werden, dass diese Idee den Bolschewiki als geeignet dafür erschien, große Häftlingsmassen zu guter Arbeit anzuregen und ihren massenhaften Arbeitseinsatz zu rechtfertigen. Die Umerziehungsarbeit im Belbaltlag richtete sich vorrangig auf trid507 Solschenizyn, Der Archipel GULAG. Folgeband, 1974, S. 85. Originalzitat: Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 171 f. 508 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 12. ˇ uchin, Kanaloarmejcy, 1990, S. 25, 47. 509 C 510 Klein, »Belomorkanal«, 1995/96, S. 61 f. 511 Solschenizyn, Der Archipel GULAG. Folgeband, 1974, S. 67. 512 Klein, »Belomorkanal«, 1995/96, S. 61.

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catipjatniki,513 doch erwähnte der Leiter des Kanalbaus und stellvertretender GULAG-Leiter SemÚn Firin in seiner Abschlussrede zur Fertigstellung des Kanals, dass auch politische Häftlinge für die »zukünftige klassenlose Gesellschaft« nicht als verloren gegolten hatten und umerzogen werden konnten.514 Sichtbar wurde eine gelungene Umerziehung, laut zeitgenössischen Darstellungen, durch die Erfüllung und Übererfüllung der planmäßigen Arbeitsvorgaben. Aus Beispielen der Umerziehung einzelner Häftlinge in Belomorsko-Baltijskij kanal im. Stalina kann gefolgert werden, dass das Konzept der perekovka nur durch den Einsatz von Belohnungen für gut arbeitende Häftlinge durchgesetzt werden konnte. Dazu zählten zum einen symbolische Gesten wie die Überreichung der Wanderfahne im Rahmen des Arbeitswettbewerbs an Brigaden, welche die Norm übererfüllten, öffentliche Belobigung, Ehrenurkunden oder die Auflistung der »Stoßarbeiter« auf einer Ehrentafel. Es gab aber auch materielle Vorteile für »Stoßarbeiter«, welche einen großen Anreiz für Häftlinge darstellten: Dies waren eine verbesserte Lebensmittelration, Geldprämien sowie die Verkürzung der Haftzeit bis auf die Hälfte.515 Am häufigsten werden in Belomorsko-Baltijskij kanal im. Stalina bessere Essensrationen als Motor der Umerziehung beschrieben.516 Eine der wenigen Ausnahmen bildet ein Häftling, welcher davon berichtet, dass seine Umerziehung angeblich dadurch ausgelöst wurde, dass sein Vorgesetzter ihn, nachdem er in die Wachmannschaft eingezogen wurde, Genosse genannt hat.517 Auf diese Weise entpuppt sich der Prozess der Umerziehung als erpresserisch und nicht, wie in zeitgenössischen Propaganda-Werken dargestellt, als Überzeugungsarbeit. Bei der Vergabe von Privilegien an »Stoßarbeiter« hatten die ˇ das entscheidende Votum, denn sie waren dafür zuständig, »Erzieher« der KVC für jeden Häftling Beurteilungen auszustellen.518 Dies verdeutlicht die Wichˇ im Leben der Häftlinge. tigkeit der KVC Welche Erkenntnisse sich aus Belomorsko-Baltijskij kanal im. Stalina über die

513 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 249. Tridcatipjatnik (»Fünfunddreißiger«; Mehrzahl tridcatipjatniki) ist die Bezeichnung eines Häftlings, welcher aufgrund des § 35 des Strafgesetzbuches der RSFSR von 1926 verurteilt wurde. Dieser Paragraf sah Strafen für »gesellschaftlich gefährliche« Personen vor. In den Lagern entwickelte sich dieser Begriff zu einer Sammelbezeichnung für kleinkriminelle Häftlinge. Gerade sie wurden von der Lageradministration als die der Gesellschaft »sozial nahestehende Elemente« betrachtet im Gegensatz zu politischen Häftlingen, den sogenannten sozial fremden Elementen. Vorrangig tridcatipjatniki standen beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals im Fokus der Umerziehungsarbeit. 514 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 585. 515 Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 34. 516 Bsp.: Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 290. 517 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 234. ˇ uchin, Kanaloarmejcy, 1990, S. 171. 518 C

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Musikausübung gewinnen lassen, soll im Abschnitt »Umerziehung durch Musik. Musik im Dienste des KVO« dargestellt werden. Fotografien von Aleksandr Rodcˇenko Einen wichtigen Aspekt in der Darstellung des Belbaltlag nach außen stellten Fotografien von Aleksandr Rodcˇenko dar.519 Nachdem dieser aus der Vereinigung der linken Fotografen Oktjabr’ (Oktober) ausgeschlossen worden war, wurde er von ehemaligen Freunden gemieden, und es wurde still um ihn. Im April 1932 schloss er, weil er keine andere Verdienstmöglichkeit hatte, einen Vertrag mit dem Staatsverlag für darstellende Künste Izogiz ab und unternahm in dessen Auftrag im Februar 1933 eine Dienstreise zum Weißmeer-OstseeKanal. Rodcˇenko erhielt von der Lagerleitung des Belbaltlag die Erlaubnis, Häftlinge bei der Arbeit sowie in der »Freizeit« zu fotografieren. Er reiste im Februar und März 1933 zum Bau des Kanals und fotografierte auch seine Eröffnung im Sommer 1933. Insgesamt sind dabei ca. 4.000 Bilder entstanden, und es wäre sicherlich lohnenswert, sie als Quelle über den Alltag im Belbaltlag in einem gesonderten Forschungsvorhaben auszuwerten. Ein kleiner Teil der Bilder wurde in einer dem Kanalbau gewidmeten Ausgabe der Zeitschrift SSSR na strojke (Die UdSSR im Bau) veröffentlicht.520 Für diese Untersuchung konnten fünf Fotografien Rodcˇenkos ausfindig gemacht werden, auf denen Musiker im Belbaltlag abgebildet sind. Da es sich dabei um veröffentlichte Bilder handelt und für diese Arbeit Rodcˇenkos Archiv nicht eingesehen werden konnte, kann lediglich vermutet werden, dass dort noch mehr Musikerdarstellungen zu finden sind. Eins der ausfindig gemachten Bilder trägt den Titel Rabota s orkestrom (Arbeit mit Orchester) und wurde auf der Ausstellung Mastera sovetskogo iskusstva (Meister sowjetischer Fotokunst) 1935 in Moskau gezeigt. Diese Tatsache demonstriert, dass zu jener Zeit der Gulag von offiziellen Institutionen noch unverblümt als Teil der sowjetischen Gesellschaft in der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Der Rodcˇenko-Spezialist und -Enkel Aleksandr Lavrent’ev nennt dieses Foto521 eines der zentralen Bilder des Zyklus über den Kanalbau. Rodcˇenko habe damit zeigen wollen, dass ein Orchester bei der Arbeit genauso wichtig sei wie die Arbeit an sich, so Lavrent’ev. Während das Bild von den Zeitgenossen als pathetisch interpretiert worden sei, stelle es heute ein »enthüllendes Dokument« dar, welches zeige, dass sogar die Kunst beim Kanalbau inhaftiert gewesen sei. Drei der Bilder Rodcˇenkos, welche Musiker im Belbaltlag zeigen, sind in der 519 Zu den folgenden zwei Absätzen vgl. Lavrent’ev, Aleksandr : Rakursy Rodcˇenko, 1992, S. 168 – 171. 520 SSSR na strojke, 1933, Nr. 12. 521 Abbildung einzusehen auf: http://sujet.ru/rodchenko/belomor.html (letzter Zugriff am 30. Juli 2009).

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bereits erwähnten, dem Belbaltlag gewidmeten Sonderausgabe der Zeitschrift SSSR na strojke, welche Rodcˇenko mitgestaltet hat, veröffentlicht worden. Eine der Fotografien zeigt eine ähnliche Situation wie das Bild Arbeit mit Orchester : Ein Blasorchester, welches zur Arbeit anderer Häftlinge aufspielt. Auf einer weiteren Fotografie ist die Poveneckaja-»Agitationsbrigade« abgebildet (vgl. den Abschnitt über diese Brigade weiter unten in diesem Kapitel), auf einer dritten sind Häftlinge zu sehen, welche Theater spielen. Im Vordergrund des letztgenannten Fotos ist ein grinsender ZiehharmonikaSpieler mit Zigarette im Mund montiert. Seine Darstellung soll offensichtlich eine Herkunft aus niederen Schichten suggerieren. Diese Art der Darstellung sollte den Lesern der Zeitschrift SSSR na strojke, welche sowohl in der Sowjetunion als auch im Ausland abonniert werden konnte, vor Augen führen, dass Menschen mit einfacher Herkunft, welche durch die schlechten Lebensumstände in die Kriminalität abgerutscht waren, auf dem Kanal umerzogen werden konnten. Denn der Kommentar zu diesem Bild lautet: Dies waren Menschen der Unterwelt. Menschen, die aus der Unterwelt herausgezogen wurden. Als sie hier landeten, dachten sie: Das Leben ist zu Ende. Aber das echte Leben begann erst für sie. Hier wurde nicht nur die Natur verändert, sondern auch die menschliche Natur. Menschen mit zweifelhafter Vergangenheit verwandelten sich in Arbeiter.522

Diese Fotografien Rodcˇenkos ließen sich gut instrumentalisieren, denn darauf wurde Musik beim Kanalbau so dargestellt, wie die Tschekisten es sich wünschten: als ein Mittel der Umerziehung sowohl während der Arbeit als auch in der »Freizeit«. Gleichzeitig legen sie bis heute ein Zeugnis vom Musikleben im Belbaltlag ab. Das Theaterstück Aristokraty von Nikolaj Pogodin 1934 erlaubte das Glavrepertkom (Hauptkomitee zur Kontrolle über kulturelle Veranstaltungen und das Repertoire) die Aufführung des vom Drehbuchautor und Dramaturgen Nikolaj Pogodin eingereichten Theaterstücks Aristokraty (Aristokraten), welches im Dezember 1934 erfolgreich uraufgeführt und danach von vielen Theatern bis 1937 und erneut ab 1956 gespielt wurde.523 Der Titel verweist auf die Scheu vor Arbeit, welche viele Häftlinge an den Tag legten. Das als Komödie deklarierte Stück handelt von der Umerziehung hauptsächlich 522 Nc_ Rl\Y \oUY U^Q. ýoUY , YXS\VhV^^lV b_ U^Q. @_`QSiY boUQ , _^Y Ud]Q\Y: WYX^m [_^hV^Q. 1 ^Qbc_pjQp WYX^m U\p ^Yf c_\m[_ ^QhQ\Qbm. 8UVbm YX]V^p\Qbm ^V c_\m[_ `aYa_UQ ]Vbc, ^_ Y `aYa_UQ \oUVZ. »2lSiYV« \oUY `aVSaQjQocbp S cadUpjYfbp. SSSR na strojke, 1933, Nr. 12, o. S. 523 Klein, »Belomorkanal«, 1995/96, S. 80 – 82. Genaueres zur Entstehung und Rezeption dieser Komödie kann ebenfalls bei Klein, »Belomorkanal«, 1995/96, S. 78 – 86, nachgelesen werden.

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krimineller Häftlinge beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals. Es demonstriert, dass der Musik eine nicht unbedeutende Rolle zukam, wenn es um die Darstellung des Lagerlebens für die zivile Bevölkerung ging. Denn Musik wird sowohl bei der Charakterisierung der Kriminellen als auch bei der Darstellung des Umerziehungsprozesses als Motiv eingesetzt. Wie Boris Glubokovskij auf den Solovki beobachten konnte, nahm Musik einen wichtigen Platz im Leben der Berufsverbrecher ein (vgl. den Abschnitt über das Solovezker Theater in Kapitel A.2.1). Dies greift Pogodin in seinem Stück auf, indem er einzelne Charaktere im Alltag singen lässt, und zwar vorrangig Blatnye-Lieder.524 Für den Tschekisten Gromov aus Pogodins Stück bedeutet Musikausübung ein Mittel, die Häftlinge für die Umerziehung zu gewinnen. Der Hauptperson, einem Kriminellen, welcher einer Brigade vorsteht und Bajan (Knopfakkordeon) spielen kann, verspricht er, für ihn ein Instrument aus Moskau zu bestellen.525 Auf diese Weise kann er das Vertrauen dieses Kriminellen gewinnen. Seine Umerziehung geht problemlos und ohne klar herausgearbeitete Motive vonstatten – ein Umstand, welcher deutlich macht, dass die Umerziehung ein Etikett war. Sie kann vom wohlwollenden Rezipienten des Theaterstücks mit der guten Behandlung der Häftlinge durch die Lagerleitung in Verbindung gebracht werden. Umerzogen beginnt die Brigade, der die Hauptperson vorsteht, gut zu arbeiten und wird währenddessen von einem Orchester besucht. Unter den Musikern befindet sich ein Pope, welcher Trompete spielt. Die Brigade bestellt einen Foxtrott, worauf die Musiker den Foxtrott Belaja nocˇ’ (Weiße Nacht) intonieren. Danach sind sie zwar sehr erschöpft, werden aber auf einem anderen Arbeitsplatz verlangt und gehorchen.526 Mit dem erwähnten Foxtrott meinte Pogodin sehr wahrscheinlich das in der Abbildung 21 wiedergegebene Liebeslied, dessen Komponist unbekannt ist.

524 RGALI: F. 656 (Glavrepertkom), op. 2, ed. 692, l. 4, 19, 30, 55, 86. Druckausgabe des Theaterstücks: Pogodin, Nikolaj: Sobranie socˇinenij v 4-ch tomach, Bd. 1, 1972, S. 327 – 412. 525 RGALI: F. 656 (Glavrepertkom), op. 2, ed. 692, l. 62. 526 RGALI: F. 656 (Glavrepertkom), op. 2, ed. 692, l. 73 f.

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Abb. 21: Unbekannter Komponist, Bearbeitung von David Asˇkenazi/Text von Boris Timofeev : Belaja nocˇ’ (Weiße Nacht). Pavlinov, A./Orlova, T. (Hg.): Teni minuvsˇego. Starinnye romansy, 2007.

Fallbeispiele: Weißmeer-Ostsee-Kanal

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Dieses in Moll gehaltene Lied erzählt von einem Treffen zweier Liebenden in einer Frühlingsnacht. Musikalisch zeichnet es sich am Anfang durch einen rhythmisch freien Vortrag aus, der Refrain wird von Synkopen beherrscht. Auch wenn der Jazz in den Jahren 1932 bis 1936 rehabilitiert war,527 löste der Text dieses Liedes keinesfalls Ansprüche ein, welche vonseiten des KVO gestellt wurden. Vielmehr stand das Lied in der Tradition russischer Kunstlieder, welche als dekadent galten. Im letzten Akt von Aristokraty wird die Brigade der umerzogenen Kriminellen bei der Erholung am Abend porträtiert. Dabei spielt der Brigadier auf dem ihm überreichten Bajan »unglaublich virtuose Variationen«.528 Die mit den kriminellen Häftlingen sympathisierende Darstellung passt in das damals allgemein propagierte positive Bild von ihnen. Am Ende des Stückes untermalen Musik, Gesang und Tanz die Entlassung der Häftlinge vom Kanalbau.529 Auf diese Weise gelingt es Pogodin, wichtige Funktionen der Musik im Belbaltlag darzustellen: als Bestandteil der kriminellen Kultur, als offizielles Mittel zur Umerziehung, als Belohnung für gute Arbeit und zur Begleitung bei der Freilassung. Gleichzeitig zeigt er, ob bewusst oder nicht, dass das im Lager gespielte Repertoire Stücke enthielt, welche nicht den Ansprüchen der Lagerhauptverwaltung genügen konnten. Es war der Lagerleitung offenbar nicht gelungen, sich gegen die Musikwünsche der Häftlinge durchzusetzen oder sie sah darüber hinweg, welche Musik gespielt wurde, solange die Arbeitsergebnisse dadurch verbessert werden konnten. Umerziehung durch Musik. Musik im Dienste des KVO Belohnung durch Musikinstrumente Pogodin nimmt in Aristokraty Maßnahmen der Belohnung durch Musik als Motive auf, welche nach offizieller Lesart zur Umerziehung beitrugen: die Aushändigung von Instrumenten einerseits sowie Musik am Arbeitsplatz andererseits. Ein Beispiel dafür, dass gute Arbeiter mit Musikinstrumenten ausgezeichnet wurden, beschreibt auch der Häftling Grigorij Pancˇenko in seiner am 26. September 1932 vollendeten Erzählung V gorne strojki (Inmitten des Baus), welche sich im Archiv Sergej Alymovs befindet (vgl. dazu den letzten Abschnitt in diesem Kapitel). Pancˇenko schildert eine Baracke des Belbaltlag, in der gute Arbeiter untergebracht waren:

527 Starr, Red and hot. Jazz in Rußland von 1917 – 1990, 1990, S. 97 – 113. 528 RGALI: F. 656 (Glavrepertkom), op. 2, ed. 692, l. 77. 529 RGALI: F. 656 (Glavrepertkom), op. 2, ed. 692, l. 89.

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[…] auf den Pritschen, welche wie Liegen im Eisenbahnwagen angeordnet sind, liegen Decken. Es ist hell. Es gibt eine Rote Ecke.530 Die Jungs tragen saubere Hemden. Einer spielt auf der Gitarre, einer liest Zeitung, drüben wird Schach gespielt. […] Sogar die Suppe ist mir schmackhafter vorgekommen.531

Die von Pancˇenko beschriebenen Umstände dürfen nicht für bare Münze genommen werden, weil er seine Erzählung für die Lagerzeitung Perekovka geschrieben hat. Die von ihm erwähnte Gitarre kann, falls sie den Häftlingen von der Lagerleitung zur Verfügung gestellt worden ist, was sich nicht überprüfen lässt, als ein Mittel zur Belohnung gedacht worden sein. Dass Musikinstrumente ganz sicher zur Belohnung der Häftlinge eingesetzt wurden, geht aus einer Quelle hervor, welche sich auf die mit dem Belbaltlag zeitgleich existierende Vajgacˇ-»Expedition« des OGPU bezieht: Im Oktober 1933 wurde diese »Expedition« durch den GULAG-Leiter mit Blasinstrumenten und einem Kinoapparat prämiert. Die zwei den Arbeitsergebnissen nach besten Lagerpunkte der »Expedition« bekamen Bücher und Koffergrammophone überreicht. Für die persönliche Auszeichnung der Beteiligten wurden dem Leiter der »Expedition« 5.000 Rubel zur Verfügung gestellt. Diese »Expedition« mit dem Standpunkt auf der Insel Vajgacˇ baute nördlich des Polarkreises zink- und bleihaltiges Erz ab. Die dort arbeitenden Häftlinge sortierten das Erz anschließend in Handarbeit. Der Plan für 1933, so geht aus dem entsprechenden Erlass des GULAG-Leiters hervor, sei durch den Einsatz des Arbeitswettbewerbs und der »Stoßarbeiterbewegung« zu 194 Prozent übererfüllt worden, wofür die »Expedition« die genannten Sach- und Geldprämien erhielt.532 Musikinstrumente waren in zeitgenössischen Darstellungen Ausdruck eines gewissen Wohlstands der Häftlinge, beispielsweise wenn über das Belbaltlag berichtet wurde, dass eine gut arbeitende Brigade ehemaliger Diebe eine Gitarre, eine Mandoline und zwei Balalaikas in der Baracke hatte.533 Sogar Klaviere, wenn auch verzogene und verstimmte, soll es in den Baracken des Belbaltlag gegeben haben.534 530 Unter einer »Roten Ecke« wurde in der Sowjetunion ein Bereich oder ein Raum im Gebäude einer Institution, eines Betriebs oder auch in Wohnheimen verstanden, welcher mit kommunistischen Losungen, Porträts der Parteiführer, Tageszeitungen und Sitzgelegenheiten ausgestattet war. Er war dazu bestimmt, als Kommunikationsraum für politische Agitation und »Kulturerziehungsarbeit« zu dienen. 531 […] ^Qal SQT_^^_Z bYbcV]l – XQbcV\V^l _UVp\Q]Y. BSVc\_ . ;aQb^lZ dT_\_[. AVRpcQ – S hYbclf adRQfQf. ;c_ ^Q TYcQaV YTaQVc , [c_ TQXVcl hYcQVc, Q cQ] XQ iQf]QcQ]Y bYUpc. […] 9 bd` c_ S[db^VV `_[QXQ\bp. RGALI: F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 3, d. 38, l. 167. 532 Petrov, Nikita: »Istorija imperii ›Gulag‹«, http://www.pseudology.org/GULAG/Glava01.htm (letzter Zugriff am 4. August 2011). 533 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 286. 534 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 528.

Fallbeispiele: Weißmeer-Ostsee-Kanal

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Musik am Arbeitsplatz Musik am Arbeitsplatz bildete den Schwerpunkt der Musikarbeit im Belbaltlag, welche vom KVO organisiert wurde. Um diese realisieren zu können, gab es im ˇ ekmazov, ein DonLager eine kleine Instrumentenbauwerkstatt, der Aleksej C 535 Kosak und krimineller Häftling, als Direktor vorstand. Die Innenansicht dieser Werkstatt war auf einem Foto von 1932 in der Ausstellung L¦nine, Staline et la musique in der Cit¦ de la musique in Paris 2010/11 zu sehen. In einem an die Häftlinge gerichteten Aufruf zum besseren Arbeiten stellte der Leiter des Belbaltlag, Dmitrij Uspenskij, in Aussicht, dass über sie in Zukunft Legenden gedichtet und Lieder gesungen werden würden. Dies verdeutlicht, welch große Bedeutung Liedern in der Propaganda des Belbaltlag beigemessen wurde.536 Musiker mussten tagelang zur Arbeit anderer Häftlinge aufspielen und wurden mit Pkw von einem Lagerpunkt zum anderen gefahren. Lieder über den Bau, in denen zu guter Arbeit aufgerufen und das Heldentum der Kanalbauer angepriesen wurde, wurden gedichtet: Mit Angriffsliedern werden wir Die Meere miteinander verbinden!537

Im Gemeinschaftswerk Belomorsko-Baltijskij kanal im. Stalina wird oftmals von Musikern berichtet, welche beispielsweise während der Arbeit anderer Häftlinge, beim Morgenappell, bei der Verlegung guter Arbeiter von einem Lagerpunkt zum anderen, am Ende eines Arbeitstages oder bei der Ankunft neuer Häftlingstransporte spielten. Häufig soll es sich dabei um Märsche gehandelt haben. Wenn sie Arbeiter anführten, sollen die Musiker sogar im Gehen gespielt haben.538 Eine Blaskapelle, welche aus etwas mehr als zehn Musikern mit Klarinetten, Horninstrumenten, einer kleinen sowie einer großen Trommel besteht und zur Arbeit im Belbaltlag aufspielt, ist in einer deutschsprachigen Ausgabe von Solzˇenicyns Archipel GULAG abgebildet. Auffällig ist darauf die qualitativ gute Uniform der beteiligten Musiker.539 Anfang des Jahres 1933 konstituierte sich eine gefährliche Situation am Kanal: Die Frühlingswasser drohten früher als erwartet einzutreffen und die errichteten Anlagen zu zerstören, weil ein Abschnitt des Kanals noch nicht 535 Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 70 f. 536 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 413. 537 =l b `Vb^VZ icda]_S_o =_ap b_VUY^Y] ! ˇ uchin, Kanaloarmejcy, 1990, S. 130. C 538 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 268, 313, 346, 414, 420. 539 Solschenizyn, Der Archipel GULAG. Folgeband, 1974, S. 93.

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fertiggestellt war. Die Tschekisten riefen zum »sˇturm Vodorazdela«, dem »Sturm der Wasserscheide«, auf. Dies bedeutete Arbeit in drei Schichten, auch nachts; die karge und kalte Mahlzeit wurde direkt am Arbeitsplatz ausgeteilt. Im April 1933 gab es einen ununterbrochenen »Sturmangriff«, bei dem laut Solzˇenicyn 30.000 Menschen 48 Stunden am Stück arbeiten mussten.540 Folgt man der offiziellen Berichterstattung, erfüllte Musik dabei eine wichtige Aufgabe bei der Mobilisierung der Häftlinge: Überall habe man Blasorchester und »Agitationsbrigaden« gehört, die unmittelbar zur Steigerung der Arbeitsergebnisse beigetragen hätten.541 Bis zu 16 Stunden ohne Unterbrechung hätten sie dabei gespielt und gesungen.542 Die daran beteiligten Häftlinge hätten aber auch mitgearbeitet und Arbeitsverweigerer sowie schlechte Arbeiter mitgezogen. Eine Reihe von Häftlingsbrigaden habe an einem Wettbewerb teilgenommen, dessen Gewinner das Privileg erhalten hätten, vom Orchester auf dem Weg zur Arbeit und von der Arbeit zurück begleitet zu werden.

Abb. 22: Feier des 1. Mai 1932 im Belbaltlag. http://www.gulag.memorial.de/ photo.php5?ph=636 (letzter Zugriff am 31. Juli 2009).

Regelmäßig fanden Versammlungen der »Stoßarbeiter« des Belbaltlag zu ihrer Belohnung statt, anlässlich derer »Agitationsbrigaden«, aber auch das Sinfonie-, 540 Solschenizyn, Der Archipel GULAG. Folgeband, 1974, S. 90 f. 541 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 434, 436. Historische Aufnahmen von Blasorchestern im Belbaltlag sind im Film Kanal imeni Stalina ˇ elovek (Mensch) (Kanal zu Ehren Stalins) zu sehen, welcher vom Petersburger Filmstudio C und dem Moskauer Filmstudio Kvart im Jahr 1992 produziert wurde. 542 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 437.

Fallbeispiele: Weißmeer-Ostsee-Kanal

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das Blasorchester sowie das Theater des Belbaltlag auftraten.543 Das Überreichen von Wanderfahnen oder Abzeichen wurde durch Blasmusik untermalt. Beim ersten Treffen der »Stoßarbeiter« des Belbaltlag spielte am Beginn ein Orchester aus Mandolinen, Gitarren und Balalaikas die Internationale.544 Auf der Abbildung 22 ist eine solche Versammlung zur Feier des 1. Mai 1932 mit Beteiligung eines Blasorchesters dargestellt. Während der ersten Inbetriebnahme des Kanals sollen Orchester die hineinströmenden Wassermassen begleitet haben. Und auch während der letzten Arbeiten am Kanal vor seiner Eröffnung sollen »den ganzen Tag lang« Orchester gespielt haben, und zwar Märsche nach Noten. Demnach musste es sich dabei um ausgebildete Musiker gehandelt haben. Selbstverständlich gab es bei der Eröffnung des Kanals wiederum Orchester mit Marschmusik und der Internationale zu hören;545 vermutlich handelte es sich dabei ebenfalls um Blasorchester. Doch die Mehrzahl der hart arbeitenden Häftlinge dürfte sich für das Musizieren während der Arbeit kaum interessiert haben. Der ehemalige Häftling Michail Nikonov, welcher im Belbaltlag unter anderem Sand im Schubkarren transportieren musste, beschreibt in seinen Erinnerungen den Arbeitsprozess mit folgenden Worten: Die Beine zittern und knicken ein, vor den Augen sehe ich schwarze Kreise und Sterne. Ich gehe und nehme die Umgebung doch nicht wahr, sehe nur das schmale Brett und höre das Glucksen des rollenden Schubkarrenrads.546

Deswegen müssen Beschreibungen dessen, dass die Belbaltlag-Häftlinge mit Liedern zur Arbeit ausgezogen und in die Baracken zurückgekehrt sind,547 auch wenn sie als Zitate von Häftlingen wiedergegeben werden,548 mit Vorsicht rezipiert werden.

ˇ uchin, Kanaloarmejcy, 1990, S. 128 f.; Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. 543 C Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 582. Ein Sinfonieorchester wird in der gleichen Quelle auch auf S. 488 erwähnt. Die Recherche nach näheren Informationen darüber war erfolglos. 544 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 186, 452. 545 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 449, 477, 536, 546, 548. 546 þ_TY Ua_WQc Y `_UTYRQocbp, Q `VaVU T\QXQ]Y hVa^lV [adTY Y XSVXUl. 9Ud Y UQWV ^V S_b`aY^Y]Qo _[adWQojVV : SYWd c_\m[_ dX[do U_b[d Y b\lid f\Y`QojYZ XSd[ [QcpjQT_bp cQhVh^oT_ [_\VbQ. Nikonov-Smorodin, Krasnaja katorga, 1938, S. 302. 547 Bsp.: Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 204, 208, 381. 548 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 430. Hier heißt es: »=l i\Y ^Q aQR_cd b `Vb^p]Y. =l `V\Y S bca_o , [Q[ b_\UQcl, S _hV^m S_XSliV^^_] UdfV« (Wir sind mit Liedern zur Arbeit ausgerückt. Wir sangen in Reih und Glied, wie Soldaten, in sehr erhabener Stimmung).

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Die Poveneckaja-»Agitationsbrigade« Während das Wasser den Kanal Nr. 182 zu beschädigen drohte, hat, nach Darstellung des oben erwähnten Autorenkollektivs, die Poveneckaja-»Agitationsbrigade« (benannt nach dem Dorf Povenec) die Häftlinge zum Arbeiten angeregt. Diese bestand anfänglich, so wird weiter berichtet, aus 18 Mitgliedern, mehrheitlich tridcatipjatniki, und verfügte über ein »Orchester« aus zwei Gitarren, zwei Ziehharmonikas und einer Mandoline.549 Später soll die Brigade auf 57 Teilnehmer angewachsen sein.550 Sie soll auch nachts aufgetreten sein, um die Häftlinge nach 42 Stunden Arbeit zum Weitermachen zu animieren. Bei ihrer Beschreibung wird hervorgehoben, dass kriminelle Häftlinge sich dort besonders hervortaten. Ihre gute Wandlungsfähigkeit, die zum Schauspielen notwendig sei, wird auf ihr früheres Leben als Verbrecher zurückgeführt. Als ein besonders mutiges Experiment wird beschrieben, dass sogar Häftlinge aus Strafisolatoren in die Brigade aufgenommen und dort umerzogen wurden, indem ihnen ins Gewissen geredet wurde.551 Dabei handelt es sich um eine Idealisierung des Lebens der kriminellen Häftlinge sowie eine Marginalisierung ihrer verbrecherischen Tätigkeit, passend zur offiziellen Denkweise von den »sozial nahen Elementen«. Nur in Klammern wird unter einem Liedtext dieser »Brigade« in BelomorskoBaltijskij kanal im. Stalina der Name des Dichters erwähnt, welcher wenige Seiten später beiläufig als Leiter der Brigade genannt wird. Dies war Igor’ Terent’ev (1892 – 1941), ein Dichter, Maler, Schauspieler und Theaterregisseur, welcher am Vorabend der Oktoberrevolution zusammen mit Aleksej KrucˇÚnych und den Brüdern Il’ja und Kirill Zdanevicˇ die futuristische Gruppe 418 gründete. In den 1920er-Jahren leitete er ein eigenes experimentelles Theater in Leningrad. Zu Beginn der 1930er-Jahre wurde er verhaftet,552 nach § 58 zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt und zum Verbüßen seiner Strafe ins Belbaltlag transportiert. Nach einer vorzeitigen Entlassung konnte er im zivilen Leben nicht mehr Fuß fassen und wurde schließlich als Zivilangestellter für den Bau des MoskauWolga-Kanals angeworben, um auch dort eine »Agitationsbrigade« zu leiten. Am Beginn des Jahres 1937 trat Terent’evs »Agitationsbrigade« im Klub des OGPU auf dem Lubjanka-Platz in Moskau auf und bekam dafür Urkunden überreicht. Im Mai 1937 wurde Terent’ev erneut verhaftet und zu zehn Jahren Haft ohne das Recht auf Korrespondenz verurteilt. 1952 wurde seiner Tochter von einer Behörde mitgeteilt, dass er im Oktober 1941 umgekommen war.553 549 550 551 552

Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 475. Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 112. Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 475. In der Ausstellung des Heimatkundemuseums in Medvezˇ’ja Gora ist nachzulesen, dass Terent’ev 1931 verhaftet wurde (September 2011). 553 Terent’eva, Tat’jana: »Moj otec Igor’ Terent’ev«, in: Luidzˇi Magarotto u. a. (Hg.): Zaumnyj

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Terent’evs »Agitationsbrigade« im Belbaltlag wurde als die erste »wahrhaftige Lager-Agitationsbrigade« propagiert. Sie wird in Belomorsko-Baltijskij kanal im. Stalina dem Theater des Belbaltlag (vgl. den Abschnitt über das Theater in diesem Kapitel) als erstrebenswertes Gegenteil gegenübergestellt: Statt zärtlicher Arien und Präludien ertönte eine cˇastusˇka, sie brummte, sang, alles durchdringend, stachelig, schneidend, liebkosend.554

ˇ astusˇka-Texte der »Agitationsbrigade« entsprachen voll und ganz den Die C Erwartungen der Perekovka-Propagandisten: Sie handelten von der Qualität der Arbeitsergebnisse und vom besseren Arbeiten; sie verhöhnten das Ausland und priesen »Stoßarbeiter« an; sie geißelten schlechte Arbeiter mit Namen und kritisierten Zustände im Lager, für die »kleine Chefs« zuständig waren, z. B. in der Küche.555 Diese »Agitationsbrigade« wird als Vorbild für das gesamte Belbaltlag dargestellt. Sie sei dort eingesetzt worden, wo die Arbeit schlecht vorankam. Dort habe sie beispielsweise beim Morgenappell gespielt oder, wenn nötig, mitgearbeitet. Sie habe sogar versucht, die Unterbringung der Häftlinge, wenn möglich, zu verbessern, z. B. durch die Besorgung von Decken. Dass sie aber auch schnell zum Ärgernis anderer Häftlinge werden konnte, kann zwischen den Zeilen herausgelesen werden, wenn davon berichtet wird, dass sie sogar in die Baracken hineinging, um die Häftlinge zu wecken. Die Beschreibung dieser Brigade wird durch ein Bild, auf dem ein Blasorchester mit Schlagzeug dargestellt wird, illustriert.556 Aus dem Text geht jedoch nicht hervor, um welches Orchester es sich dabei handelt. Ein Foto der Poveneckaja-»Agitationsbrigade« ist aber in der bereits zitierten Ausgabe der Zeitschrift SSSR na strojke zu sehen. Es stammt von Aleksandr Rodcˇenko, der Igor’ Terent’ev aus der Zeit des Novyj LEF (Der neue LEF)557 kannte.558 Darauf sind fröhliche Menschen abgebildet, darunter fünf Musiker mit Gitarre, Ziehharmonika, Geige, Balalaika und Mandoline. Hinter ihnen tanzt ein Mann, acht Frauen und Männer klatschen dazu, und einer hält die Fahne der

554 555 556 557 558

futurizm i dadaizm v russkoj kul’ture, 1991, S. 353 – 360. In der Ausstellung des Heimatkundemuseums in Medvezˇ’ja Gora erfährt man, dass Terent’ev im Butyrka-Gefängnis in Moskau erschossen wurde (September 2011). 3XQ]V^ ^VW^lf QaYZ Y `aV\oUYZ XQXSV^V\Q, XQWdWWQ\Q, XQ`V\Q SbV`a_^Y[QojQp, [_\ohQp, aVWdjQp, \Qb[QojQp hQbcdi[Q. Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 475. Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 473 – 476. Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 476 – 478. Novyj LEF – Zeitschrift der Künstlervereinigung LEF (Levyj front iskusstv – Die linke Kunstfront) unter der Ägide Vladimir Majakovskijs, welche in den Jahren 1927 und 1928 herausgegeben wurde. Terent’eva, »Moj otec Igor’ Terent’ev«, 1991, S. 359.

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»Agitationsbrigade«, auf der zu lesen ist, dass die Brigade den Namen des Lagerleiters Firin trug.559 Diese »Agitationsbrigade« stellt also ein Beispiel dafür dar, dass politische Häftlinge entscheidend zum Funktionieren der »Kulturerziehungsarbeit« im Gulag beigetragen haben, wie hier Igor’ Terent’ev. Ihre Leistung wurde von der Lagerleitung gerne ausgenutzt, aber in den Darstellungen nach außen im Vergleich zu der krimineller Häftlinge nicht genügend gewürdigt oder ganz übergangen. Eine ähnliche Vorgehensweise ist auch beim Kompositionswettbewerb im Dmitlag zu beobachten (vgl. Kapitel A.2.3). Die Tochter Igor’ Terent’evs, die ihren Vater als siebzehnjährige Frau im Belbaltlag besucht hat, erinnert sich, dass er anfänglich mit der Allgemeinheit der Häftlinge gearbeitet hat. Nachdem er angefangen hatte, sich an der »Kulturerziehungsarbeit« zu beteiligen, wurde ihm ein Einzelzimmer zugeteilt. Seine »Agitationsbrigade« sei sehr gefeiert worden; die Häftlinge hätten den Plan übererfüllt, um die Auftritte der Brigade sehen zu können.560 Andere »Agitationsbrigaden« Natal’ja Kuzjakina konstatiert, dass es eine ganze Reihe von »Agitationsbrigaden« im Belbaltlag gegeben hat. Die Schriftstellerin Vera Inber, die am Gemeinschaftswerk Belomorsko-Baltijskij kanal im. Stalina beteiligt war, beschrieb in der Zeitung Sovetskoe iskusstvo vom 26. August 1933 den Auftritt von zwei »Agitationsbrigaden« bei einer Versammlung von »Stoßarbeitern« im Dorf Nadvoicy, wo zwischen Juli 1933 und September 1935 die Verwaltung des Belbaltlag stationiert war : Junge weibliche Kriminelle hätten mit begeistertem Gesang zur Steigerung der Arbeitsergebnisse aufgerufen. Ein Ensemble von Dieben mit zwei Geigen und drei Mandolinen hätte mit geschlossenen Augen »großartig« gespielt. Daraufhin sei der Auftritt einer »Agitationsbrigade der Zigeuner« mit »Zigeunertänzen« gefolgt. Die Vortänzerin sei eine ehemalige mehrfache Mörderin gewesen.561 Im August 1933 besuchte eine Gruppe sowjetischer Schriftsteller mit Maksim Gor’kij an der Spitze die Versammlung der »Stoßarbeiter« des Belbaltlag in der Stadt Dmitrov. Im Bericht darüber, welchen er für die Zeitung Perekovka des Dmitlag verfasste, beschrieb der Schriftsteller K. Zelinskij seine Eindrücke von »Agitationsbrigaden«.562 Überall entlang des Kanals habe die Delegation solche Brigaden gesehen. In Gesprächen mit Lagerinsassen habe sie sich davon über559 560 561 562

SSSR na strojke, 1933, Nr. 12, o. S. Terent’eva, »Moj otec Igor’ Terent’ev«, 1991, S. 358. Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 113 f. GARF: F. R-9414 s, op. 4, d. 1, l. 110. Die Initiale ist schlecht lesbar, es könnte auch ein »N« sein. Möglicherweise handelte es sich hierbei um den Literaturwissenschaftler Kornelij Zelinskij.

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zeugen können, dass die Brigaden einen wichtigen Platz im gesellschaftlichen Leben des Lagers einnahmen. Für viele Häftlinge seien diese Brigaden die erste Hinführung zu Kunst und Kultur überhaupt gewesen. Zelinskij sieht die »Agitationsbrigaden« als einen Zweig der Blauen Bluse (vgl. den Abschnitt über Aleksandr Kenel’ in Kapitel A.2.1) – einer »sehr gut zugänglichen Form der Massenkunstarbeit«. Diese Aussage ist ein Indiz dafür, dass Ideen der Blauen Bluse von »Agitationsbrigaden« des Belbaltlag in ihre Arbeit einbezogen wurden. Im Russischen Staatsarchiv für Literatur und Kunst (RGALI) befindet sich im Archiv des Dichters und Belbaltlag-Häftlings Sergej Alymov (vgl. den letzten Abschnitt in diesem Kapitel) zudem ein Hinweis darauf, dass es im Belbaltlag eine Truppe gegeben hat, welche sich explizit Blaue Bluse nannte. Zu ihren Mitgliedern gehörte Nikolaj Sˇkred, dessen Gedichte in Alymovs Archiv aufbewahrt werden.563 Über die Zentrale »Agitationsbrigade« berichtet Zelinskij, dass sie hauptsächlich neue und »frische« Lieder im Repertoire hatte und Motive der BlatnyeLieder mied. Dies scheint jedoch ein Wunschdenken zu sein, denn gleichzeitig kritisiert er einen Sketch dieser Brigade, in dem die Vergangenheit der kriminellen Häftlinge, untermalt mit Blatnye-Liedern, thematisiert wurde. Dieser sollte, seiner Meinung nach, nicht im Lager gezeigt werden, weil er Erinnerungen wecken konnte. Dass ein solcher Sketch im Belbaltlag gespielt wurde, ist ein Hinweis darauf, dass die Berufsverbrecher an ihrer ursprünglichen Kultur festgehalten haben. Offenbar hatten sie, entgegen offiziellen Vorgaben, die Möglichkeit, diese Kultur auch im Rahmen der »Kulturerziehungsarbeit« im Lager auszuüben. Ein Auftritt der von Zelinskij beschriebenen »Zentralen Agitationsbrigade« am 8. Juni 1932 im Lagerpunkt Nr. 3 ist auf einem Foto festgehalten.564 Dieses zeigt eine Aufführung im Freien. Auf einer ca. einen Meter hohen Bühne sind 21 Personen zu sehen, deren Aufstellung tatsächlich an Abbildungen der Blauen Bluse erinnert. Vor der Bühne ist ein Orchester platziert, von dem nur der Schlagzeuger und der Dirigent als solche identifiziert werden können, weil die anderen Musiker von den Zuschauern, welche sich auf Bänken niedergelassen haben, verdeckt werden. Eine wichtige Rolle in Orchestern und »Agitationsbrigaden« sollen nach offizieller Lesart kriminelle Häftlinge gespielt haben. So soll ein ehemaliger Einbrecher (mit dem Spitznamen Vas’ka-domusˇnik) für die musikalische Gestaltung der Auftritte einer »Agitationsbrigade« verantwortlich gewesen sein und das Orchester dirigiert haben. Ebenfalls ein Einbrecher (Pavlucha-skokar’) soll die Texte dazu geschrieben haben. Die verwendeten Spitznamen sprechen dafür, 563 RGALI: F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 3, d. 34, l. 201 – 206ob, 273 – 277. ˇ uchin, Kanaloarmejcy, 1990, S. 176. 564 C

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dass diese Häftlinge der Berufsverbrecherwelt angehört haben, zu deren Selbstinszenierung solche Spitznamen gehörten.565 Vom Autorenkollektiv wird behauptet, dass ihre Lieder sich durch eine Abkehr vom alten Leben auszeichneten und zu »neuen Kämpfen« und einem neuen Leben aufriefen. Sie handelten, so die offizielle Darstellung, vom Bau des Kanals und enthielten Reaktionen auf die Erlasse über die perekovka.566 Doch der Stolz, mit dem die für Berufsverbrecher typischen Spitznamen der Häftlinge in diesem Zusammenhang verwendet werden, lässt aufhorchen: Das alte Leben dieser Personen scheint mitnichten verworfen worden zu sein. ˇ uchin Der bereits erwähnte Oberstleutnant der Miliz und Forscher Ivan C befragte nach dem Ausbruch der Perestroika einen ehemaligen Solovki-Häftling und späteren Zivilangestellten des Belbaltlag sowie einen weiteren Zivilangestellten über die »Zentrale Agitationsbrigade«. Einer von ihnen erinnerte sich an den Conf¦rencier Alekseev, welcher beispielsweise die folgende cˇastusˇka sang: Du liebe Bank, Du Anklagebank. Kaum hast du dich hingesetzt – steh auf, Lass den nächsten drauf!567

Auf diese Weise verarbeitete er die Verhaftung und Inhaftierung einer großen Masse von Menschen durch bitteren Humor. Solches Repertoire war sicherlich nicht im Sinne der Gesetzgebung über die »Kulturerziehungsarbeit«. Cˇastusˇki, wie sie von den Vertretern der damaligen offiziellen Ideologie – hier von den 36 Autoren des Buches über den Bau des Kanals – am liebsten gehört wurden, handelten von verbesserten Schubkarren, gesteigertem Arbeitstempo, Qualität, rechtzeitiger Fertigstellung der Bauvorhaben und »Stoßarbeit«.568 Nähere Angaben über den Conf¦rencier Aleksej Alekseev (ursprünglicher Name Lifsˇic) konnten im Heimatkundemuseum in Medvezˇ’ja Gora gefunden werden: Er ist 1887 in Sankt Petersburg geboren und arbeitete in den 1910erJahren als Schauspieler und Conf¦rencier in Kiew und Odessa. 1924 wurde er als künstlerischer Leiter des neu gegründeten Satire-Theaters in Moskau angestellt, 1928 als Regisseur des Moskauer Operetten-Theaters, und verfasste OperettenLibretti. 1933 wurde er verhaftet und arbeitete als Lagerhäftling am BelbaltlagTheater, und zwar als sein künstlerischer Leiter. Nach seiner Freilassung 1939 565 Putz, »Die Herren des Lagers. Berufsverbrecher im Gulag«, 2007, S. 345. 566 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 434. 567 B[Q]mp cl, ]Y\Qp, B[Q]mp cl, `_UbdUY]Qp. þV db`V\ cl bVbcm – SbcQSQZ, @_bYUVcm UadT_]d UQZ ! ˇ uchin, Kanaloarmejcy, 1990, S. 178. C 568 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 139, 236, 345.

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wurde er am Moskauer Miniaturen-Theater als Regisseur angestellt, 1940 als leitender Regisseur des Moskauer Operetten-Theaters. Gleichzeitig trat er immer wieder als Conf¦rencier auf. 1948 wurde er bei einer Tournee mit Lidija Ruslanova (vgl. Kapitel B.1) wiederholt verurteilt und musste eine zweite Haft im Siblag569 verbüßen. Nach seiner Freilassung 1954 war er als Pädagoge tätig. ˇ uchin befragte ehemalige Solovki-Häftling behauptete, die »AgiDer von C tationsbrigaden« hätten Großes geleistet, weil ihre Auftritte einen schwer wiederzugebenden Enthusiasmus auslösten.570 Da sich dieser Zeitzeuge jedoch im Belbaltlag in der Position eines leitenden Zivilangestellten befand, muss seine Aussage kritisch beurteilt werden. Sicherlich gibt sie nicht die Sicht der Häftlinge auf die Tätigkeit der »Agitationsbrigaden« wieder. Quellen für ihre Sichtweise konnten bei der Recherche aber nicht gefunden werden. Diskrepanz zwischen dem Anspruch an das Repertoire und der Realität Das Autorenkollektiv von Belomorsko-Baltijskij kanal im. Stalina behauptet, dass an Stelle der alten Vorlieben der Häftlinge für Jazz, Foxtrott und traurige Blatnye-Lieder in der Zeit ihrer Arbeit am Kanal die Kunst der »Agitationsbrigaden« getreten ist, wie sie offiziell verlangt wurde. Demnach war der Musikgeschmack der Häftlinge für die sowjetischen Ideologen ein Indiz für ihre Umerziehung. Die Behauptung des Autorenkollektivs kann jedoch nur als Wunschdenken und Propaganda interpretiert werden, wie es selbst an einer anderen Stelle unwillentlich beweist: Noch im letzten Jahr des Kanalbaus, heißt es dort, fanden vorrevolutionäre Lieder wie Vy prosite pesen, ich net u menja (Ihr fragt nach Liedern, doch ich habe keine), »Zigeunerlieder« P’Út, guljaet tabor kocˇevoj (Das Nomadenlager trinkt und feiert) sowie »Spelunkenlieder« (kabackie motivy) Eingang in die Konzertprogramme des Belbaltlag. »Es ist einfacher, sich von der Kriminalität zu entwöhnen als von den Blatnye-Liedern«, so wird die Aussage eines Häftlings wiedergegeben, welcher als »umerzogen« galt und trotzdem seine alten Lieder sang.571 Nach Ende des Kanalbaus, so berichtet das Gemeinschaftswerk, wurden die freigekommenen Häftlinge von verschiedenen Bauvorhaben als Arbeiter angeworben und verließen unter Begleitung eines Blasorchesters mit Revolutionsliedern den Kanal. Trotz der angeblichen perekovka kam dabei auch die alte Kultur der Berufsverbrecher wieder zum Vorschein: Ein tätowierter junger Mann soll vor der Abfahrt auf die Art der Berufsverbrecher zur Ziehharmonika getanzt haben.572 569 Das Verwaltungszentrum des Lagers Siblag befand sich abwechselnd in Novosibirsk und Mariinsk. ˇ uchin, Kanaloarmejcy, 1990, S. 178. 570 C 571 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 286, 430, 570. 572 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 565, 567.

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In Belomorsko-Baltijskij kanal im. Stalina kommen nur sehr wenige Lieder namentlich vor und es ist bemerkenswert, dass der Titel des vorrevolutionären Liedes Vy prosite pesen, das zwischen 1911 und 1917 entstanden ist, dazu zählt. Dieses Lied demonstriert die Diskrepanz zwischen den offiziellen Ansprüchen des GULAG und dem im Lager gespielten und gesungenen Repertoire sehr deutlich. Es ist Ausdruck eines, vom Standpunkt der damaligen Ideologie aus beurteilt, »dekadenten bürgerlichen Lebens«, beherrscht von Herzschmerz, Langeweile, Antriebslosigkeit und Traurigkeit. Es stellt das direkte Gegenteil zu propagierten enthusiastischen Märschen und fröhlichen Liedern voller Tatkraft dar. Der Text dieses Liedes lautet übersetzt: Ihr fragt nach Liedern, doch ich habe keine. Mein Herz ist voll stummer Sehnsucht. Das Leben ist so langweilig, so traurig; das kalte Herz schlägt so langsam, dass es Zeit wird, mit Liedern aufzuhören. Neue Lieder singe ich keine, die alten meide ich zu singen. Sie beunruhigen die kranke Seele, und durch sie leide ich umso mehr.

Das Moll und die »Seufzer-Sekunden« unterstützen den resignierten Charakter des Liedtextes. Gerade die letzte Strophe, in der davon gesprochen wird, dass der Protagonist keine neuen Lieder singt, stand der sowjetischen Ideologie entgegen, welche neue enthusiastische Lieder für den jungen Sowjetstaat propagierte. Mit der Nennung dieses Liedes demonstriert das Autorenkollektiv, dass das Musikrepertoire in den Lagern, welches eigentlich die Umerziehung der Häftlinge bewirken und widerspiegeln sollte, nicht ausschließlich den Wünschen der Lagerleitung entsprach. Häftlinge nutzten die Möglichkeit des Musizierens vielmehr dazu, Lieder zu singen, die sie gern mochten.

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Abb. 23: Makarov, Sasˇa: Vy prosite pesen (Ihr fragt nach Liedern). http://www.apesni.golosa.info/romans/vyprospesen.htm (letzter Zugriff am 30. Juli 2009). Pavlinov/ Orlova, Teni minuvsˇego, 2007.

Selbstbestimmtes Singen im Lageralltag Für eine umfangreiche Darstellung des selbstbestimmten Musizierens im Belbaltlag fehlt es an einer breiten Quellenbasis. Es sind viel mehr Dokumente überliefert worden, die aus offizieller Sicht über die Musikausübung im Bel-

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baltlag berichten als aus der Sicht der Häftlinge. Es ist während der Recherchen für diese Arbeit nicht möglich gewesen, Zeitzeugen für Interviews zu dieser Thematik ausfindig zu machen, weil die Häftlinge, die das Belbaltlag überlebt hatten, bereits verstorben sind. Die wenigen vorhandenen Zeugnisse zeigen, dass, obwohl viele Häftlinge während der Arbeit kaum Interesse an Auftritten der »Agitationsbrigaden« gehabt haben dürften, weil sie unter den harten Arbeitsbedingungen litten, sie doch aus eigenem Antrieb heraus Lieder sangen, welche sie teilweise selbst dichteten. So entstand etwa beim Holzfällen ein Lied, in dessen Text das Geräusch der Säge nachgeahmt wurde: Vzˇik-vzˇik-vzˇik573 Dir, mir, dem Chef. Vzˇik-vzˇik-vzˇik Dir, mir, dem Bauleiter.574

Dieser kurze Abschnitt transportiert durch die Lautmalerei die Monotonie der Arbeit. Das Lied sollte den Häftlingen womöglich helfen, den Arbeitsrhythmus beizubehalten, wofür auch das grammatikalisch falsche mene statt mne spricht. Der Text scheint hierbei eine nachgeordnete Rolle gespielt zu haben, im Gegenteil dazu, was propagandistische Darstellungen des Gesangs bei der Häftlingsarbeit behaupteten. Darin wurde er als fröhlich beschrieben; es wurde behauptet, die beim Holzfällen gesungenen Lieder hätten Aufrufe zum Feilen der Beile und zu einer »bolschewistischen Flößerei« enthalten. Jedoch finden sich selbst in offiziellen Darstellungen Schilderungen dessen, dass Musikausübung zumindest zum Teil nicht den Vorgaben der Lagerleitung entsprach und sogar bei subversiven Handlungen gegen die Arbeitspolitik Kraft spenden konnte: Gläubige Kulaken sollen Psalmen und Gebete gesungen haben, während sie die Arbeit verweigerten.575 Trotz der schweren Arbeit hatten die Häftlinge auch ein Bedürfnis nach »Kunstmusik«. Der Opernsänger Ksendzovskij, der als Häftling von den Solovki ins Belbaltlag und anschließend ins Dmitlag transportiert wurde, ist im Belbaltlag zum Holzfällen abkommandiert worden. Dort wurde er, nach Aussage zweier Zeitzeugen während der Perestroika, von Mithäftlingen dazu angehalten, auf einem Baumstumpf stehend zu singen, während sie arbeiteten. Sie schätzten 573 Lautmalerei, welche offenbar das Geräusch der Säge nachahmen sollte. 574 3WY[-SWY[-SWY[ CVRV – ]V^V – ^QhQ\m^Y[d. 3WY[-SWY[-SWY[ CVRV – ]V^V – `a_aQRd… ˇ uchin, Kanaloarmejcy, 1990, S. 111. C 575 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 252, 347, 359.

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seinen Gesang so sehr, dass sie dazu bereit waren, seine Arbeitsnorm zusätzlich zu ihrer eigenen zu erfüllen. Als der Lagerleiter ihm das Singen verbieten wollte, baten sie ihn darum, Ksendzovskij möge weiter singen dürfen.576 Von einem professionellen Sänger im Lageralltag berichtet auch Dmitrij LichacˇÚv, der 1931 von den Solovki zum Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals abtransportiert wurde. Nachdem er als Buchhalter im Gebäude der Lagerleitung zu arbeiten begonnen hatte, hörte er, wenn er zu früh zur Arbeit kam, wie ein »wundervoller« Tenor dort vor Arbeitsbeginn übte. Dies empfand er als »wunderbar«, nachdem er mehrere Jahre lang auf den Solovki das direkt unter seiner Zelle übende Blasorchester mit Märschen ertragen musste.577 Weitere professionelle Musiker beim Kanalbau werden beiläufig in Belomorsko-Baltijskij kanal im. Stalina erwähnt: Wenn darin von Häftlingstransporten nach Medvezˇ’ja Gora berichtet wird, erfährt der Leser von einem Konservatoriumsstudenten mit dem Vornamen Vladimir578 und später von einem weiteren Konservatoriumsstudenten namens Tolstov.579 In allen Baracken des Belbaltlag, aber auch draußen sowie auf Lkw waren, so behaupten die Autoren von Belomorsko-Baltijskij kanal im. Stalina, Radios installiert, welche Tag und Nacht lagerinterne Nachrichten sendeten sowie die Umerziehung propagierten.580 Solzˇenicyn bestätigt, dass das Radio im Belbaltlag rund um die Uhr sendete und Radios allerorts vorhanden waren. Er nennt die Sender »unzählige schwarze Mäuler« oder »schwarze blinde Masken«.581 In den Sendungen wurde vor allem zum sozialistischen Wettbewerb aufgerufen, damit die Häftlinge sich gegenseitig zu Arbeitshöchstleistungen anstacheln sollten. Vor allem wurden dabei schlechte Arbeiter kritisiert. Musik wurde lediglich dazu benutzt, die Sendungen zu untermalen. »Eine Ziehharmonika orgelt«, so heißt es mehrmals abfällig in einem Bericht über eine Radiosendung. Doch gab es auch Versuche, Musik im Radio zur Anregung des Arbeitswillens zu instrumentalisieren, wenn z. B. eine Ziehharmonika am Morgen einen Marsch intonierte.582 Die Häftlinge aber wollten diese Sendungen nicht hören. Dies wird so sogar in Belomorsko-Baltijskij kanal im. Stalina geschildert. Dort heißt es allerdings, dass es nur anfänglich so gewesen sei, solange die Häftlinge noch nicht »umerzogen« waren. Sie hätten die in den Baracken angebrachten Radios mit Lappen ˇ uchin, Kanaloarmejcy, 1990, S. 177 f. C LichacˇÚv, Vospominanija, 1995, S. 276. Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 135. Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998. Es lässt sich daraus nicht rekonstruieren, ob es sich dabei um eine Person oder um zwei verschiedene Personen handelte. 580 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 180. 581 Solschenizyn, Der Archipel GULAG. Folgeband, 1974, S. 88. 582 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 304, 344.

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verstopft. Statt sie zu hören, sangen die kriminellen weiblichen Häftlinge lieber Blatnye-Lieder, z. B. die alte Gaunerballade Medvezˇonok (Bärchen), welche von den Abenteuern eines Räubers handelte.583 In derselben Baracke waren auch Gläubige untergebracht, die währenddessen ihre Lobgesänge intonierten.584 Auf diese Weise entstand eine seltsame Polyphonie, welche aus der Tatsache heraus resultierte, dass hier gegensätzliche Menschen gezwungenermaßen auf engstem Raum zusammenleben mussten. Die genannten Beispiele verdeutlichen, dass Gesang ein Bedürfnis für die Häftlinge darstellte, dem sie während oder außerhalb der Arbeitszeiten selbstbestimmt nachgingen und für dessen Befriedigung sie zu mehr Zwangsarbeit bereit waren. Der Umgang mit dem Radio zeigt, dass Häftlinge ihre eigene Musik der offiziellen bewusst entgegensetzten und sich gegen die verordnete Beschallung wehrten. Theater des Belbaltlag Das Zentrale Theater des Belbaltlag Noch vor dem Eintreffen der Belbaltlag-Leitung in Medvezˇ’ja Gora wurde dort – laut Forschungsergebnissen der Historikerin Natal’ja Kuzjakina – ein zweistöckiger Holzbau für ein Theater errichtet. 1932 war dieses bereits in Betrieb und trug den Namen Zentrales Theater des Belbaltlag. Der Zuschauerraum fasste bis zu 330 Personen. Das Theater hatte einen Orchestergraben, einen ersten Rang, ein Foyer sowie eine Kanalisation, was eine große Ausnahme in Medvezˇ’ja Gora darstellte. Das Repertoire des Theaters sei direkt von den Vorstellungen des stellvertretenden Lagerleiters Jakov Rapoport abhängig gewesen, welcher gleichzeitig als einer der zwei Theaterdirektoren fungierte. Er habe ein unterhaltsames Theater in europäischer Tradition angestrebt. Am Kanalbau seien Hunderte von Schauspielern, Künstlern und Musikern beteiligt gewesen und die besten seien für das Zentrale Theater ausgesucht worden, so Kuzjakina.585 Der bedeutende Theater- und Filmschauspieler Vaclav Dvorzˇeckij, welcher zweimal und insgesamt über zehn Jahre lang inhaftiert war, sagte in seinem letzten Interview 1993, dass er im Belbaltlag-Theater, wo er 1933 tätig war, wohl in der herausragendsten Truppe seines Lebens gespielt habe, weil in den Lagern die künstlerische Elite des Landes versammelt gewesen sei.586 In einem Interview 1992 verglich er das Theater mit Hauptstadttheatern, was in der Sowjetunion ein Prädikat für besonders gute Qualität war.587 583 584 585 586

Vgl. dazu Zˇiganec, Blatnaja lirika, 2001, S. 101 – 105. Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 137. Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 117. ˇ elovek soprotivljajusˇcˇijsja«, in: Vecˇernij klub, P’jankova, Valentina: »Homo sapiens – C

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Die Künstler des Theaters, insgesamt ca. 100 Personen, von denen die meisten nach § 58 verurteilt waren, bewohnten eine gesonderte Baracke, in der sie mit fünf bis acht Personen in einem Zimmer untergebracht waren und auch dort verpflegt wurden. Die am Theater beschäftigten Frauen wohnten getrennt in der Frauenzone. Eine erhebliche Erleichterung im Lageralltag muss gewesen sein, dass am Theater tätige Häftlinge nicht zum Appell ausrücken mussten. Ein Teil der Künstler durfte sich zwischen den Baracken und dem Theater ohne Wachen bewegen sowie private Kleidung tragen, während andere Häftlinge lagereigene Kleidung anziehen mussten. Der andere Teil wurde frühmorgens unter Bewachung zum Theater gebracht und nachts nach der Vorstellung wieder abgeführt. Wie der ehemalige Maler des Theaters berichtet, haben die Wachen die Künstler oftmals gequält.588 Einige am Theater höher gestellte Häftlinge genossen weitere Privilegien, beispielsweise durfte ihre Familie zu ihnen ziehen, und sie durften außerhalb des Lagers wohnen. Die am Theater tätigen Häftlinge wurden von der Lagerleitung oftmals ausgezeichnet. Diese Privilegien konnten so schnell eingebüßt werden, wie man sie bekommen hatte, denn das geringste Vergehen zog für gewöhnlich eine Überstellung zu allgemeinen Arbeiten oder die Haft im Karzer nach sich.589 Nach Natal’ja Kuzjakina war der Spielplan des Belbaltlag-Theaters während des Kanalbaus folgendermaßen strukturiert: Am ersten Tag der Woche wurde ein Schauspiel gegeben, am zweiten eine Oper, am dritten eine Operette, am vierten ein Ballett, am fünften ein Sinfoniekonzert, am sechsten ein bunter Abend und am siebten gab es eine Filmvorführung.590 Später, in der Saison 1935/ 36, standen beispielsweise die Opern Evgenij Onegin591 und Pique Dame von

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17. April 1993. Http://www.e-reading.org.ua/chapter.php/17071/4/Groiisman,_Levite_-_ Vaclav_Dvorzheckiii___dinastiya.html (letzter Zugriff am 10. Dezember 2011). Im Film Kanal imeni Stalina (Der Kanal zu Ehren Stalins), welcher vom Petersburger ˇ elovek (Der Mensch) und dem Moskauer Filmstudio Kvart im Jahr 1992 proFilmstudio C duziert wurde. Ausstellung des Heimatkundemuseums in Medvezˇ’ja Gora, September 2011. Dvorzˇeckij, Puti bol’sˇich e˙tapov, 1994, S. 78 – 84; Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 270 – 273; Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 110; Tanjuk, »S pulej v serdce…«, 2. März 1989, S. 6. Im Gegensatz zu seinen schriftlich festgehaltenen Erinnerungen sprach Dvorzˇeckij in einem Interview 1992 davon, dass es zwei Baracken für Künstler des Theaters gegeben habe. Dort hätten sie auf dreistöckigen Pritschen geschlafen. Während andere Quellen davon sprechen, dass Künstler sich ohne Bewachung zwischen der Zone und dem Theater bewegen durften, sagte Dvorzˇeckij in diesem Interview, dass sie gemeinsam unter Bewachung zu Proben gebracht wurden. Interview im Film Kanal imeni Stalina (Kanal zu Ehren Stalins), welcher vom Petersburger Filmstudio ˇ elovek (Mensch) und dem Moskauer Filmstudio Kvart im Jahr 1992 produziert wurde. C Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 273 f. Programme und Plakate des Belbaltlag-Theaters aus den Jahren 1934 bis 1936, die für diese Arbeit aus Zeitgründen nicht eingesehen werden konnten, befinden sich im RGALI: F. 2663 (Imas), op. 1, ed. 119. In der Ausstellung des Heimatkundemuseums in Medvezˇ’ja Gora erfährt man, dass es sich

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ˇ ajkovskij, Bizets Carmen, Rimskij-Korsakovs Zarenbraut sowie das Ballett C Krasnyj mak (Der rote Mohn) von Rejngol’d Glie˙r auf dem Programm. Vaclav Dvorzˇeckij erinnerte sich daran, dass es sehr oft Konzerte am Theater gegeben hat.592 Die Arbeit des Theaters unterstand dem KVO des Belbaltlag, welcher die Rolle eines Zensors übernahm. Beispielsweise bemängelte er die häufige Aufführung der Arie des Fürsten Igor aus Aleksandr Borodins gleichnamiger Oper mit der Zeile »O, gebt mir meine Freiheit wieder«.593 Auch von Häftlingen musste sich das Theater möglicherweise Kritik gefallen lassen. Das Autorenkollektiv von Belomorsko-Baltijskij kanal im. Stalina behauptet, Häftlinge hätten das Theater kritisiert, weil sein klassisches Repertoire nicht ihren Vorstellungen von Stücken, die zu heroischer Arbeit animieren sollten, entsprochen habe.594 Tatsächlich ist vorstellbar, dass Häftlinge aus Bevölkerungsschichten mit mangelnder kultureller Bildung durch das Programm des Theaters überfordert und dadurch unzufrieden gewesen sein könnten. Vaclav Dvorzˇeckij dagegen berichtet von einem besonders theaterbegeisterten Publikum. Während einer Tournee durch das Lager 1932 hatte die Theatertruppe, nach Auskunft des Autorenkollektivs, neben Dramen folgende Stücke des Musiktheaters im Programm: die Ouvertüre aus Jacques Offenbachs Orpheus in der Unterwelt, eine Arie aus der Operette Der Vogelhändler von Carl Zeller, spanische Tänze sowie die Arie Ridi, Pagliaccio aus Leoncavallos Oper Pagliacci. In seinem Repertoire hatte es des Weiteren u. a. die Szene in der Schenke aus Modest Musorgskijs Boris Godunov. Zur Vollendung des Kanals war die Inszenierung der Oper Lakm¦ von L¦o Delibes geplant. Das Theater habe versucht, so warf ihm das Autorenkollektiv vor, das Bol’sˇoj-Theater sowie das Moskauer Künstlertheater (MChAT) zu kopieren und hätte damit abseits des Kanalbaus gestanden.595 Nach Kuzjakina war das Theater mit allem Nötigen ausgestattet und hat auf einem sehr hohen Niveau gearbeitet.596 Für Angehörige des NKVD, zu dem, wie bekannt ist, die Lagerleitung gehörte, hätten damals solche Ausdrücke wie »es gibt keine/-s/-n« oder »dies ist nicht zu beschaffen« nicht existiert.597 Auch Vaclav Dvorzˇeckij bestätigt in seinen Erinnerungen, dass das Theater hervorragend eingerichtet gewesen sei und über eine große professionelle Truppe verfügt habe. Es gab hervorragende Bühnenbilder und Kostüme, und auch die

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bei dieser Inszenierung um die Erstaufführung dieser Oper in Karelien gehandelt hat (eingesehen im September 2011). Dvorzˇeckij, Puti bol’sˇich e˙tapov, 1994, S. 80. Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 273. Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 473 – 475. Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 473 – 475. Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 274. Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 122.

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technische Ausstattung stand der eines hauptstädtischen Theaters in nichts nach. Dieses Theater sei von einem Theater in Freiheit nicht zu unterscheiden gewesen; im Publikum aber saßen sowohl Häftlinge als auch zivile Personen. Den inhaftierten Künstlern sei es dabei verboten gewesen, so Dvorzˇeckij, mit zivilen Personen in Kontakt zu treten.598 Für die musikalische Gestaltung am Zentralen Theater war nach 1933 Boleslav Psˇibysˇevskij (geboren 1892 in Berlin) zuständig.599 Sohn eines polnischen Schriftstellers, stand er von 1929 bis 1931 dem Moskauer Konservatorium vor und war von 1920 bis 1933 Mitglied der Kommunistischen Partei.600 Seinem Ausschluss aus der Partei folgte die Verhaftung sowie der Transport nach Medvezˇ’ja Gora. Sein Fall war relativ früh bekannt geworden: In den Memoiren des Dmitri Schostakowitsch von Solomon Volkov wird Psˇibysˇevskij als ein Opfer der Repressionen genannt.601 Als Direktor des Konservatoriums hatte Psˇibysˇevskij, der mit der RAPM sympathisiert hatte, die Unterrichtszeit für Musikfächer verkürzt und besonderes Gewicht auf die ideologische Ausbildung gelegt.602 Im März 1937 wurde er in Medvezˇ’ja Gora erneut verhaftet und wegen »Spionage und Vorbereitung eines Terroranschlags« vom Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR am 21. August 1937 zum Tod durch Erschießen verurteilt. Das Urteil wurde am gleichen Tag vollstreckt.603 Ein Teil der Orchestermusiker des Belbaltlag-Theaters, von denen es insgesamt ca. 50 gab, war bereits am Theater auf den Solovki tätig gewesen.604 Leopol’d Teplickij (1890 – 1965), ein Schüler Aleksandr Glazunovs, arbeitete seit seiner Gründung am Belbaltlag-Theater und rief dort ein Blas- sowie ein Sinfonieorchester ins Leben. Er war Absolvent des Leningrader Konservatoriums, wo er seit 1915 Klavier studiert hatte. Wegen einer Erkrankung der Hände hatte er 1920 zu Musiktheorie und Komposition gewechselt. Während des Studiums hatte er in Kinos und Theatern als Dirigent und Pianist gearbeitet.

598 Dvorzˇeckij, Puti bol’sˇich e˙tapov, 1994, S. 79. 599 Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 122. 600 Information des Moskauer Konservatoriums über den Lehrenden Psˇibysˇevskij. Http:// www.mosconsv.ru/teachers/about.phtml?456 (letzter Zugriff am 23. Juli 2009). 601 Wolkow, Solomon: Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch, 2003, S. 206. 602 Information des Moskauer Konservatoriums über den Lehrenden Psˇibysˇevskij. Http://old. mosconsv.ru/teachers/about.phtml?456 (letzter Zugriff am 29. Oktober 2011). 603 Http://www.memo.ru/memory/DONSKOE/d37 – 8.htm (letzter Zugriff am 23. Juli 2009). 604 Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 275.

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Abb. 24: Leopol’d Teplickij. Ausstellung des Heimatkundemuseums in Medvez’ja Gora.

Nach Beendigung des Konservatoriums 1925 wurde Teplickij im Frühjahr 1926 vom Volkskommissariat für Bildung (Narkompros) in die USA geschickt, um Filmmusik zu studieren. Dort begeisterte er sich für Jazz und gründete nach seiner Rückkehr die erste Konzert-Jazz-Band der Sowjetunion, welche am 28. April 1927 in Leningrad auftrat. Im Oktober 1930 wurde er verhaftet und nach § 58 – 6 zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt. Nach der Haft lebte er in Petrozavodsk, dirigierte das dortige Sinfonieorchester und unterrichtete an der Musikfachschule. Er komponierte dort Stücke nach karelischen und finnischen Themen sowie Lieder über Karelien. Die von Teplickij gegründeten Orchester des Belbaltlag-Theaters führten Schauspielmusik, Opern und Konzertprogramme auf. Teplickij dirigierte und wurde auch als Stummfilmbegleiter eingesetzt.605 Die Stelle der Assistentin des Dirigenten am Belbaltlag-Theater bekleidete Raisa E˙vers (zuvor Sysoeva, Mädchenname Zˇerebcova). Sie war, laut Natal’ja Kuzjakina, Studentin des Leningrader Konservatoriums gewesen und wurde zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt, weil sie im Kirchenchor gesungen hatte.606 Im Archiv von Memorial in Sankt Petersburg wird eine Karteikarte aufbewahrt, die 605 Ausstellung des Heimatkundemuseums in Medvezˇ’ja Gora, September 2011. 606 Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 281; Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 111.

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auf Grundlage eines 1995 von Raisa E˙vers selbst ausgefüllten Fragebogens weitere Informationen über sie enthält. Zusätzliche Informationen konnten im Heimatkundemuseum in Medvezˇ’ja Gora erworben werden: Raisa E˙vers wurde 1915 in Leningrad geboren. Sie absolvierte die Fachschule an der Akademischen Sängerkapelle und ging 1927/28 als Teil der Kapelle auf Tournee nach Deutschland und Italien. 1932 begann sie, Violine am Leningrader Konservatorium zu studieren. Gleichzeitig war sie als Musiklehrerin an einer Schule tätig und sang in einem Kirchenchor mit.

Abb. 25: Raisa E˙vers. Ausstellung des Heimatkundemuseums in Medvez’ja Gora.

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1935 wurde, nach Angabe des Museums in Medvezˇ’ja Gora, der gesamte Kirchenchor, in dem sie sang, verhaftet. Alle Mitglieder wurden durch ein Sonderkollegium nach den §§ 58 – 10 und 58 – 11 zu Lagerhaft verurteilt. Während ihrer dreijährigen Lagerhaft arbeitete Raisa E˙vers am Theater des WeißmeerOstsee-Kombinats zunächst als Geigerin, jedoch wurde ihr Talent schnell erkannt und sie zur Dirigentin erklärt. Sie dirigierte hier die Opern Tosca (Giaˇ ajkovskij), Pacomo Puccini), Zarenbraut (Rimskij-Korsakov), Pique Dame (C gliacci (Leoncavallo) und Cavalleria rusticana (Pietro Mascagni). In der Ausstellung des Heimatkundemuseums in Medvezˇ’ja Gora wird die Vermutung geäußert, dass E˙vers die erste weibliche Dirigentin in der Sowjetunion gewesen sein mag. Dies müsste jedoch überprüft werden. Nach der Freilassung aus dem Lager blieb Raisa E˙vers im Hohen Norden Russlands. Zunächst arbeitete sie weiterhin am Theater in Medvezˇ’ja Gora, und zwar als Dirigentin und Verantwortliche für die musikalische Gestaltung.607 Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ging sie auf die Solovki und war dort als Chorleiterin an der Matrosenschule tätig. 1959/60 gelang es ihr, die Oper Evgenij Onegin auf den Solovki zur Aufführung zu bringen. In den letzten zwei Jahrzehnten ihres Lebens arbeitete sie als Musiklehrerin an der allgemeinbildenden Schule und trug zur Gründung einer Musikschule auf den Solovki bei. Sie starb dort im Jahr 1995.

Abb. 26: Raisa E˙vers dirigiert das Orchester des Belbaltlag-Theaters. Ausstellung des Heimatkundemuseums in Medvez’ja Gora.

607 Ein Programmzettel zu Aleksej Arbuzovs Schauspiel Tanja, bei dem Raisa E˙vers das Sinfonieorchester dirigierte, ist bei Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, Abb. 27, abgebildet.

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Abb. 27: Programm für die Aufführung der Pique Dame am Zentralen Theater des Weißmeer-Ostsee-Kanals, 1937. Ausstellung des Heimatkundemuseums in Medvez’ja Gora.

Als Sänger arbeiteten am Belbaltlag-Theater u. a. Viktor Armfel’d aus der Leningrader Operette, M. D. Ksendzovskij aus Leningrad (vgl. den Abschnitt über das selbstbestimmte Musizieren in diesem Kapitel), der Bassist A. P. Musatov, S. F. Rachmanov aus dem Moskauer Nemirovicˇ-Dancˇenko-Musiktheater, E˙lli Rozensˇtrauch, der Bariton V. P. Slivinskij aus der Operntruppe der Leningrader Akademischen Theater sowie der Bariton Leonid Privalov.608 Während Dvorzˇeckij behauptet, dass alle Künstler des Theaters Häftlinge gewesen waren,609 hat Natal’ja Kuzjakina herausgefunden, dass einige von ihnen keine Häftlinge waren, sondern als zivile Angestellte am Lagertheater arbeiteten, wie beispielsweise E˙lli Rozensˇtrauch. Bei wem es sich um freie Personen bzw. um Häftlinge handelte, ließ sich für Natal’ja Kuzjakina anhand der erhalten ge608 Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 276; Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 123, 127. 609 Dvorzˇeckij, Puti bol’sˇich e˙tapov, 1994, S. 79.

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bliebenen Quellen nicht immer nachvollziehen. Fest steht jedoch durch ihre Forschungen, dass es in diesem Theater eine Zusammenarbeit zwischen Häftlingen und zivilen Personen gegeben hat. Auch waren Töchter und Frauen von Lagerangestellten am Theater beschäftigt.610 Ein weiterer Sänger des Belbaltlag-Theaters war der Bariton Stepan Zubko (1890 – 1959). In den 1910er- und 1920er-Jahren sang er als Solist an den Operntheatern in Kiew, Char’kov und Odessa, in den Jahren 1933 bis 1945 am Theater in Medvezˇ’ja Gora. Hier war er z. B. als Amonasro in Verdis Aida und als Escamillo in Bizets Carmen zu sehen und zu hören. Nach seiner Freilassung lebte er in Simferopol’. Die Sängerin Sofija Tuchner hielt ihre Erinnerungen an Stepan Zubko schriftlich fest: Als sie ihn 1935 in Medvezˇ’ja Gora kennenlernte, erzählte er ihr, dass er ursprünglich zum Tode verurteilt worden war und acht Monate auf seine Hinrichtung gewartet hatte. Nachdem die acht Monate verstrichen waren, wurde sein Urteil aber in zehn Jahre Lagerhaft umgewandelt. Tuchner schreibt, dass seine Stimme »von seltener Schönheit« gewesen sei. Nach der Haft sei er dann zu alt gewesen, um noch aufzutreten. Sofija Tuchner selbst war Mezzo-Sopranistin und sang im Belbaltlag beispielsweise die Rolle der Carmen. Sie ist 1939 aus der Haft entlassen worden.611 Das Theater stellte ein Aushängeschild des Lagers dar : Gäste der Lagerleitung, darunter Angestellte des GULAG, Regierungsvertreter, Journalisten, aber auch Gäste aus dem Ausland, wurden ins Theater geführt, wenn sie nach Medvezˇ’ja Gora kamen. Für sie wurden sowohl Dramen als auch sinfonische Konzerte gegeben.612 1934 arbeitete der herausragende ukrainische Regisseur Oleksandr (Rufname Les’) Kurbas (1887 – 1937), der zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt war, am Belbaltlag-Theater.613 Im Winter 1935 wurde er auf Diffamierungen in der zentralen Presse hin in den entlegenen Lagerpunkt Vjan’-Guba am Ostufer des Sees Vygozero versetzt.614 Der dort ebenfalls inhaftierte Vasilij Eresˇcˇenko schrieb später in sein Tagebuch, welches in einem Artikel seines Enkelsohns und Historikers M. Novikov zitiert wird, dass Kurbas nicht beim Holzfällen eingesetzt wurde, weil er dafür zu schwach war, sondern einen Weg vom Schnee frei fegen musste. Er sei wortkarg und vollständig ergraut gewesen und habe sich von anderen abgesondert. Dort habe er zusammen mit dem Dramaturgen Miroslav Ircˇan und dem tschechischen Komponisten Urbanik die Operette Son na Vjan’610 Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 281; Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 109. 611 Ausstellung des Heimatkundemuseums in Medvezˇ’ja Gora, September 2011. 612 Dvorzˇeckij, Puti bol’sˇich e˙tapov, 1994, S. 84. 613 Tanjuk, »S pulej v serdce…«, 2. März 1989, S. 6. 614 Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 280; Bsp.: Jura, Gnat: »Nacionalisticˇeskaja e˙stetika Lesja Kurbasa«, in: Za markso[!]-leninskuju kritiku, 1934, Nr. 12.

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Gube (Ein Traum auf Vjan’-Guba) verfasst. Sie sei im Lagerklub zur Begleitung eines aus zwölf bis 15 Musikern bestehenden Orchesters aufgeführt und an mehreren Samstagen vor überfülltem Saal wiederholt worden. Darin seien »auf verschleierte Art und Weise, böse und gleichzeitig kunstvoll die Zustände im Lager verspottet« worden. Die Instrumente des Orchesters habe Urbanik selbst gebaut. Eine Kommission des Belbaltlag habe dieser Aufführung ein Ende bereitet und die Urheber in andere Lagerpunkte transportieren lassen.615 Dies muss 1936 geschehen sein, denn nach Auskunft des Heimatkundemuseums in Medvezˇ’ja Gora wurde Kurbas 1936 auf die Solovki deportiert. 1937 wurde er im Waldstück Sandarmoch unweit von Medvezˇ’ja Gora erschossen. Für die Jahre 1934, 1935 und 1937 gibt Natal’ja Kuzjakina genaue Zahlen für die Beschäftigten am Zentralen Theater an, die in Abbildung 28 zusammengefasst sind.616

Abb. 28: Anzahl der Beschäftigten am Belbaltlag-Theater.

Für 1938 wurde beispielsweise die Inszenierung von Puccinis Tosca, Offenbachs Hoffmanns Erzählungen und Leoncavallos Pagliacci geplant. An Operetten sollten Le Mariage aux Lanternes von Offenbach und Die lustige Witwe von Franz Leh‚r aufgeführt werden. Alle sowjetischen Feiertage sollten mit Konzerten begangen werden.617 Diese Pläne zeigen, wie Natal’ja Kuzjakina zu Recht folgert, dass das Theater eine stark ausgebaute Musikabteilung hatte. Ende der 1930er-Jahre arbeiteten bereits viele zivile Angestellte am Theater; 1940 wurde die Theaterleitung in die Hände der nach Abschluss des Sowjetisch-Finnischen Krieges ins Leben gerufenen Karelisch-Finnischen Sowjetrepublik gelegt, und das Theater zog in die Hauptstadt dieser Republik, nach Petrozavodsk, um.618 Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs

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Tanjuk, »S pulej v serdce…«, 2. März 1989, S. 6. Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 120. Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 126 f. Die Karelisch-Finnische Republik hatte als sechzehnte Sowjetrepublik von 1940 bis 1956

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ging die Truppe als »Konzertbrigade« auf die Solovki.619 Das Theatergebäude des Belbaltlag brannte im Zweiten Weltkrieg ab.620 Andere Theater des Belbaltlag Neben dem Zentralen Theater in Medvezˇ’ja Gora gab es beim Bau des WeißmeerOstsee-Kanals weitere kleinere Theater, beispielsweise in Lejguba, Vazˇino, Zaton und Lodejnoe Pole. Ein Theater existierte auch beim Bau des Wasserkraftwerks auf dem Fluss Tuloma auf der Halbinsel Kola, wo der bereits mehrfach erwähnte Schauspieler Vaclav Dvorzˇeckij Zwangsarbeit leisten musste.621 Im März 1934, so Dvorzˇeckij, sei aus Mitgliedern des Zentralen Theaters eine »Kulturbrigade« zusammengestellt und zum Bau des Tuloma-Wasserkraftwerks abkommandiert worden.622 In Tuloma (so der Name nicht nur des Flusses, sondern auch einer benachbarten Siedlung) musste von Häftlingen zunächst eine Lagerzone errichtet werden, was den ganzen Sommer in Anspruch nahm. Die »Kulturbrigade« sollte dabei für gute Stimmung sorgen, ihre Mitglieder bekamen ein bis zwei Tage pro Woche frei, um Konzerte vorzubereiten. Sie traten unter freiem Himmel auf und trugen Gedichte, Prosa, Lieder sowie Instrumentalstücke auf einem Bajan und einer Gitarre vor. Als der Winter anbrach, war bereits ein Klubhaus fertiggestellt, in welchem es jedoch, trotz eines Ofens, sehr kalt war. Die Temperatur lag bei -20 8C, und es gab kaum Licht. Die Künstler waren tagsüber nicht von der allgemeinen Arbeit der Häftlinge befreit, welche darin bestand, in Kälte und Schneesturm Felsen zu sprengen und abzutragen. Diese Arbeit war gefährlich: Einmal stürzte ein Felsen ein und begrub sehr viele Häftlinge unter sich. Den in der »Kulturbrigade« tätigen Häftlingen kam zugute, dass sie nur die halbe Norm zu erfüllen hatten und nur zwei bis drei Tage die Woche arbeiten mussten. Die »Kulturbrigade« wurde auch in benachbarte Lagerpunkte gefahren, um dort aufzutreten.623 Wie selbstverständlich beschreibt Dvorzˇeckij in seinen Erinnerungen an Tuloma neben der Arbeit der »Kulturbrigade« grausame Morde und Vergewaltigungen im Lager, vor denen auch Künstler nicht sicher waren. Aufgabe des Theaters sei dabei gewesen, für das Schöne zu kämpfen, so Dvorzˇeckij. Dies war

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Bestand. Danach ging sie als Autonome Sowjetrepublik Karelien in der Russischen Föderativen Sowjetrepublik auf. In der Ausstellung des Heimatkundemuseums in Medvezˇ’ja Gora wird dagegen dargestellt, dass das Theater in die Stadt Belomorsk verlegt wurde (September 2011). Möglich ist, dass die Truppe sich aufgesplittet hat. Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 281; Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 129. Dvorzˇeckij stammte aus einer polnischen adeligen Familie. 1929 wurde er im Alter von 19 Jahren verhaftet und zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Zunächst verbüßte er seine Haft auf den Solovki, danach im Belbaltlag. Insgesamt musste er 27 Jahre seines Lebens in Lagern und in Verbannung zubringen. Brodskij, Solovki, 2002, S. 23. Dvorzˇeckij, Puti bol’sˇich e˙tapov, 1994, S. 84. Dvorzˇeckij, Puti bol’sˇich e˙tapov, 1994, S. 85 – 88.

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ˇ und dessen, jedoch keine einfache Aufgabe angesichts der Zensur durch die KVC dass hier Kriminelle den Großteil der Theatermitarbeiter ausmachten. Etwa zweimal im Monat gab es eine Schauspielpremiere. Dazu kam eine Vielzahl von Konzerten mit Liedern, Tänzen, Lesungen und Sketchen. Dramen wurden ein- bis zweimal pro Woche gespielt, Konzerte fast täglich. Mit der Zeit wurden immer mehr professionelle Schauspieler, Musiker und Maler auch an diesen Ort transportiert. Dvorzˇeckij erinnert sich an folgende Musiker, welche von 1934 bis 1937 in Tuloma tätig waren: den Dirigenten des Blasorchesters V. A. Suchodol’skij, den Pianisten und Komponisten N. P. Zabelin, den Gitarristen P. V. Korcˇakovskij sowie den Pianisten V. N. Kurnykov.624 Dvorzˇeckijs Erinnerungen ist ein Programmzettel des Tuloma-Theaters von einem Konzert zur Feier der Beendigung des Baus der Wasserabflussanlage und des gleichzeitigen einjährigen Theater-Jubiläums beigegeben. Aufgeführt wurde eine »Chronik in drei Akten« unter dem Titel Tulomoarmejcy (Tuloma-Armisten) von S. Cejtlin, vermutlich ein eigens zu diesem Anlass geschriebenes Stück. Den Namen der Protagonisten zufolge muss das Stück von Kriminellen gehandelt haben. Als Handlungsort ist der Bau des Wasserkraftwerks auf der Tuloma angegeben. Das Stück wurde musikalisch von einem Blasorchester unter der Leitung von V. A. Suchodol’skij begleitet, mit Musik des inhaftierten Pianisten V. N. Kurnykov. Der Programmzettel hatte eine Auflage von 1.500 Exemplaren625 – eine Zahl, die vorsichtige Rückschlüsse darauf erlaubt, wie viele Zuschauer dieses Stück gesehen haben könnten. Das Theater von Tuloma hatte eine starke musikalische Ausrichtung, so Kuzjakina. Es verfügte über ein sogenanntes Jazz-Orchester, bestehend aus einem Geiger, zwei Trompetern, einem Ziehharmonika-Spieler, einem Gitarristen, einem Bariton-Spieler, einem Tubisten, einem Pianisten sowie einem Schlagzeuger. Auf einem Foto ist dieses Orchester uniformiert in Anzügen abgebildet;626 die Gesichter der Musiker wirken freudlos, fragend und abgespannt. Folgendes kann nach der Betrachtung des Theaters im Belbaltlag in Bezug auf Musik und Musiker im Gulag gefolgert werden: a) In diesem Lager waren zahlreiche Musiker inhaftiert, sodass die besten für das Theater ausgewählt werden konnten. b) Die am Theater tätigen Künstler genossen Privilegien, die sie jedoch durch ein Fehlverhalten jederzeit einbüßen konnten. c) Das Repertoire des Musiktheaters bestand trotz der Kritik des KVO zum großen Teil aus Stücken des Weltrepertoires, sodass die Lagerthematik darin keine Rolle spielte. 624 Dvorzˇeckij, Puti bol’sˇich e˙tapov, 1994, S. 88 – 98. 625 Dvorzˇeckij, Puti bol’sˇich e˙tapov, 1994, S. 95. 626 Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 120 u. Abb. 21.

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d) Die am Theater tätigen Musiker wirkten nach ihrer Entlassung oftmals als Kulturträger in der Provinz. e) Das Theater diente dem Lager als Aushängeschild. f) Am Theater kam es zur Zusammenarbeit von Häftlingen und Zivilisten.

Quellen zur Musik des Belbaltlag aus dem Archiv Sergej Alymovs Sergej Alymov627 besetzte als Häftling im Belbaltlag die Stelle des Instrukteurs ˇ 628 und war als Redakteur der lagerweiten Zeitung Perekovka tätig. der KVC Dmitrij LichacˇÚv berichtet, dass Alymov bei den Häftlingen unbeliebt war, weil er in seinen Gedichten den Bau des Kanals besang.629 Alymovs Archiv beinhaltet zahlreiche Autobiografien, Tagebuch-Ausschnitte, Gedichte, Erzählungen und Liedtexte der Belbaltlag-Häftlinge, welche sie an die Zeitung geschickt hatten.630 Allerdings findet sich darin nur ein einziges mit Noten versehenes Chorlied – eine Tatsache, welche die Seltenheit der Beherrschung der Notenschrift unter den Häftlingen des Belbaltlag, die an die Lagerzeitung schrieben, demonstriert. Dementsprechend beteiligten sich professionell ausgebildete Musiker so gut wie gar nicht an diesem offiziellen Kulturleben der Lagerpresse. Bei den Verfassern, die ihre Erzeugnisse an die Zeitung sandten, handelte es sich, ihren Texten nach zu urteilen, um Menschen mit einfachem Bildungshintergrund. Die aufgefundenen Noten bilden einen Marsch mit dem Titel Sˇturmovik (Stürmer) ab und befinden sich in einer Mappe mit Gedichten und Poemen der Belbaltlag-Häftlinge aus dem Jahr 1932. Sowohl der Text als auch die Musik stammen, laut den Angaben der Quelle, von Aleksandr Pochvalenskij. Auf ˇder Rückseite ist eine Notiz zu lesen, die vermutlich von einem KVO- oder KVC Erzieher stammt: »Der junge Sänger soll überprüft und auf die Probe gestellt werden«.631 Diese Worte, die sich wahrscheinlich auf den Verfasser des Marsches beziehen, sind die einzige Auskunft über ihn, die gefunden werden konnte. Sein Lied stellt sich wie in der Abbildung 29 dar. 627 Sergej Alymov (1892– 1948) war ein Dichter und Schriftsteller, welcher für seine revolutionäre Tätigkeit 1911 nach Sibirien verbannt wurde und von dort aus nach Japan floh. Nach Aufenthalten in China, Australien, auf den Philippinen, in Hongkong, Korea und auf einigen kleineren Inseln lebte Alymov von 1917 bis 1926 in Harbin in China (vgl. den Abschnitt über Ananij Sˇvarcburg in Kapitel B.2). Dort veröffentlichte er unter anderem Liebesgedichte im Stil der Akmeisten sowie Gedichte im proletarischen Stil. 1926 zog er zurück nach Russland, und zwar nach Moskau. Alekseeva, L.: »Alymov, Sergej Jakovlevicˇ«, in: Nikoljukin, A. N. (Hg.): Literaturnaja e˙nciklopedija russkogo zarubezˇ’ja (1918– 1940), Bd. 1, 1997, S. 24 f. ˇ uchin, Kanaloarmejcy, 1990, S. 177. 628 C 629 LichacˇÚv, Vospominanija, 1995, S. 275. 630 Einen Hinweis auf dieses Archiv enthält die Publikation Alla Gorcˇevas Pressa Gulaga (1918 – 1955), 1996, S. 44. 631 RGALI: F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 3, d. 34, l. 135ob.

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Abb. 29: Aleksandr Pochvalenskij: Marsch Sˇturmovik (Stürmer). RGALI: F. 1885 (Alymov S. Ja.), op. 3, d. 34, l. 135.

Die routinierte Notenschrift sowie der vierstimmige Satz des Liedes lassen vermuten, dass es sich bei seinem Urheber um einen gut ausgebildeten Musiker gehandelt hat. Die Worte des Liedes besingen die »munteren, mutigen, stolzen und ehrenhaften« Arbeiter des Kanals, die alle Schwierigkeiten besiegen werden. Sowohl die pathetische Marschmusik als auch die Worte stellen einen Versuch dar, den Anforderungen des KVO zu entsprechen. Auch die biografischen Schilderungen der Häftlinge im Archiv Alymovs entsprechen den offiziellen Erwartungen und sind meist in einer sehr einfachen Sprache verfasst. Sie lassen sich zu einer kollektiven Biografie zusammenfassen: Die Autoren sind durch ihre Herkunft aus der Unterschicht und die damit verbundenen materiellen Schwierigkeiten zum Abrutschen in die Kriminalität gezwungen worden. Im Lager sind sie dann durch Arbeit und die Belohnung guter Arbeit umerzogen worden. Alymovs Archiv enthält sowohl Dokumente, welche von anderen Häftlingen verfasst wurden, als auch Aufzeichnungen, die er selbst im Etappenpunkt

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[peresyl’nyj punkt] Kem’632 am Ufer des Weißen Meeres in den Jahren 1930/31 aufgeschrieben hat. Unter den letzteren befindet sich eine Handschrift vom 15. August 1930, welche mit Pis’mo Masˇe (Brief an Masˇa) überschrieben ist.633 Darin berichtet der Verfasser, wie er nachts in der Baracke einen englischen Sender gehört hat. Gesendet worden sei ein ihm bekannter Walzer mit dem Text: I want [to] say good morning, I don’t want [to] say good-by[e].634

Im Orchester, welches den Gesang begleitete, habe er Saxophone, Hörner und viele Geigen gehört. Er habe diesen Walzer, so der Brief, mehrmals mit der Adressatin getanzt gehabt. Die Baracke schlief, aber er konnte die ganze Nacht nicht einschlafen. Auch am nächsten Tag hörte er innerlich den Walzer : Die Walzer-Melodie schraubt sich schmerzhaft wie die Bohrmaschine eines Zahnarztes ins Herz hinein. Die Qual dauert an. […] Ich werde die Geigen fliehen. Werde ihnen um nichts in der Welt zuhören. Dies ist wohl die schrecklichste Folter.635

Diese Aussage macht deutlich, dass Musik Lagerhäftlingen durch hervorgerufene Erinnerungen wehtun konnte. Ob es sich um eine reale Begebenheit oder um Fiktion handelt, bleibt unklar. Jedoch geht auch aus weiteren Aufzeichnungen Alymovs hervor, dass er in Kem’ tatsächlich die Möglichkeit hatte, nachts ausländische Sender zu hören, und zwar nicht nur europäische.636 Somit haben die Häftlinge mit ihren eingeschränkten Mitteln das Lagersystem subversiv unterwandert, denn das Hören von ausländischen Sendern war sicherlich nicht im Sinne der Lagerhauptverwaltung. Auch wenn es sich bei Alymovs Aufzeichnungen um eine Fiktion handeln sollte, zeigen sie aus der Sicht eines Häftlings, dass Musik im Lager zum Folterinstrument werden konnte. Unter den von Alymov gesammelten Liedtexten der Häftlinge finden sich mehrere cˇastusˇki,637 welche die offizielle Ideologie widerspiegeln, wie die folgende zur Feier des 1. Mai: Ein Wunder, diese sieben Schleusen Der Povencˇanskaja-Stufe: 632 In der Stadt Kem’ war in den Jahren 1930/31 die Verwaltung des USLON stationiert (vgl. den Abschnitt über das Solovezker Theater nach 1929 in Kapitel A.2.1). 633 RGALI: F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 4, d. 19, l. 131ob–132ob. 634 Um welches Stück es sich gehandelt haben mag, konnte nicht festgestellt werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Alymovs Brief und dementsprechend auch der Walzer fiktiv sind. 635 =V\_UYp SQ\mbQ SSY^hYSQVcbp S bVaUgV R_\VX^V^^_ [Q[ R_a-]QiY^Q XdR^_T_ SaQhQ. =d[Q `a_U_\WQVcbp. […] 2dUd RVTQcm [? unleserlich] _c b[aY`_[. þY XQ hc_ ^V bcQ^d Yf b\diQcm. Nc_, `_WQ\dZ, bQ]Qp bcaQi^Qp `lc[Q. RGALI: F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 4, d. 19, l. 132, 132ob. 636 RGALI: F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 4, d. 19, l. 179ob–184. 637 RGALI: F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 3, d. 34, l. 88, 157ob.

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Kommt ein Pope an das Schleusentor, Und auch er bekreuzigt sich.638

Auch sind Texte in seiner Sammlung enthalten, die zu bereits existierenden Melodien gesungen werden sollten, sowohl zu Melodien propagandistischen Charakters als auch zu Blatnye-Liedern.639 Des Weiteren hat Alymov in Kem’ in den Jahren 1930/31 eine Strophe aus einem der zwei berühmtesten BlatnyeLieder aufgezeichnet:640 Wie oft ich auch ins Gefängnis komme, Gibt es dort keine Minute, in der ich nicht singe. Ich stecke die Hände in die Hosentaschen Und gehe umher, vor Langeweile singend… Was kann man denn auch machen, wenn man einsitzt?!641

Diese Strophe ist dem Lied Gop so smykom entnommen und demonstriert die Wichtigkeit der Musik im Leben der Berufsverbrecher, denn der Erzähler spricht darin davon, dass er im Gefängnis ständig singt. Das Interesse an Lagerliedern kam Alymov zugute, als er sich 1936 als Textdichter für die Lieder des Films ˇ ervjakov betätigte. Es handelte sich dabei ZakljucˇÚnnye (Häftlinge) von Evgenij C um eine Verfilmung von Pogodins Aristokraty (vgl. weiter oben in diesem Kapitel); von Pogodin stammte auch das Drehbuch zu diesem Film. Weitere Einblicke in die Musik des Belbaltlag verschafft ein Entwurf der musikalisch-literarischen Vorführung Nasˇ razgovor (Unser Gespräch), welcher von einem Häftling vermutlich 1932 verfasst wurde.642 Das Stück ruft zum besseren Arbeiten auf, kritisiert aber auch einen Erzieher, der weibliche Häftlinge sexuell missbrauchte, nachdem er sie unter dem Vorwand zu sich bestellt 638 HdU_ ncY bV]m i\oX_S

@_SV^hQ^b[_Z \Vbc^Ygl : @_` [ S_a_cQ] `_U_ZUVc 9 c_c `VaV[aVbcYcbp.

RGALI: F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 3, d. 34, l. 310. 639 RGALI: F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 3, d. 34, l. 180; RGALI: F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 4, d. 19, l. 128ob–130ob. 640 Die zwei berühmtesten Blatnye-Lieder sind Gop so smykom und Murka (vgl. den Abschnitt zu Blatnye-Liedern in Kapitel C). Murka wird im Alymov-Archiv ebenfalls erwähnt, und zwar in einem Dokument aus dem Sommer 1930. RGALI: F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 3, d. 34, l. 234 u. 234ob. 641 B[_\m[_ Rl S coam]V p ^V bYUV\, – þVcd c_Z ]Y^dcl, hc_R ^V `V\: – 8Q\_Wd p ad[Y S Rao[Y – 9 f_Wd `_o _c b[d[Y… Hc_ WV UV\Qcm RdUVim, [_\m XQbV\ ?! RGALI: F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 4, d. 19, l. 131. 642 Diese Datierung ergibt sich aus der Zuordnung des Archivs (RGALI), auf dem Dokument selbst findet sich keine Datierung.

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hatte, sie sollten zum Bodenwischen kommen. In dem Entwurf werden Liedertitel genannt, die während der Vorführung gesungen werden sollten. Es sind Volkslieder wie Oj, polnym polna korobusˇka (Das Schächtelchen ist bis an den Rand gefüllt) oder das ukrainische Vijut’ vitri, vijut’ bujny (Starke Winde wehen), das blatnye-Lied Marusja otravilas’ (Marusja hat sich vergiftet), russische Kunstlieder wie Puskaj mogila menja nakazˇet (Das Grab soll mich bestrafen) mit Text und Musik von Jakov Prigozˇij oder Ne nado vstrecˇ (Treffen sind unnötig) mit Text von Pavel German und Musik von Julij Chajt, alte Gefangenen-Lieder Po dikim stepjam Zabajkal’ja (In den wilden Steppen hinter dem Baikal) und Solnce vschodit i zachodit (Die Sonne geht auf und unter) sowie das Revolutionslied Smelo, tovarisˇcˇi, v nogu (Tapfer, Genossen, im Gleichschritt; in der deutschen Nachdichtung – Brüder, zur Sonne, zur Freiheit).643 Diese bunte Mischung demonstriert, dass Häftlingen, die Stücke für den KVO zu verfassen versuchten, zum Teil nicht klar war, welche Kriterien bei der Musikauswahl anzusetzen waren. In dieser frühen Phase des Gulag wurde die Musikpolitik nicht offensiv genug verfolgt, als dass sie alle Häftlinge erreichen konnte. Ob die Vorführung realisiert wurde, geht aus den vorliegenden Quellen nicht hervor. Eine Mappe des Alymov-Archivs enthält Theaterstücke der Häftlinge, welche sie für einen Wettbewerb der Zeitung Perekovka 1932 eingereicht haben. In einigen, so wie in dem zuvor erwähnten Entwurf, sind Angaben zur musikalischen Gestaltung gemacht worden. Da es sich um Wettbewerbsbeiträge handelt, lassen sie Rückschlüsse darauf zu, welche Musik nach Meinung der beteiligten Häftlinge offiziell erwünscht war. Beispielsweise sah David Jansen, der Autor der literarisch-szenischen Montage Na Belmorstroe (Auf dem Belmorstroj [dem Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals]), die aus gesprochenen Oratorien, Sketchen und Clownerie besteht,644 den Vortrag eines neuen Textes zur Melodie des Liedes Proletarii vsech stran, soedinjajtes’ (Proletarier aller Länder, vereinigt euch) vor, der mit der Zeile »E˙j, udarniki kanala, ne plosˇajte« (»He, ihr Stoßarbeiter des Kanals, lasst euch nicht lumpen«) beginnen sollte.645 Weitere Angaben zur Musik in der Montage sind: »[…] muntere, fröhliche Musik. Schnelle rhythmische Steigerung«646, »frischer Marsch«647, »feierlicher Marsch«648. Zweimal sollte ein Lied zur Melodie des Liedes Po vsem okeanam i stranam razveem (Wir werden

643 RGALI: F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 3, d. 34, l. 161ob–163. 644 RGALI: F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 3, d. 35, l. 61 – 79. 645 RGALI: F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 3, d. 35, l. 61. Die Melodie dieses Liedes stammt von Viktor Belyj. Http://sovmusic.ru/download.php?fname=proletar (letzter Zugriff am 23. Januar 2011). 646 RGALI: F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 3, d. 35, l. 65. 647 RGALI: F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 3, d. 35, l. 67. 648 RGALI: F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 3, d. 35, l. 78.

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[die rote Fahne der Arbeit] über alle Meere und Länder hissen) mit folgendem Text gesungen werden:649 Von einem Ende des Sowjetstaates bis ans andere Ist ein großer Bau in vollem Gange. Wer heute ohne Arbeit daneben steht, Ist uns auf unserem Weg kein Kamerad.650

Für sich spricht der Titel des Essays Novye ljudi… Novye pesni (Neue Menschen… Neue Lieder) von M. Koldobenko, welcher ebenfalls 1932 an die Perekovka gesendet wurde.651 Er handelt von zwei Dieben und ihren Blatnye-Liedern, von denen einige Zweizeiler als Beispiele angeführt werden. Nachdem die Umerziehung bei ihnen gegriffen hat, verlangen die Charaktere nach der Liedersammlung des Belbaltlag Morja – Soedinim (Wir werden die Meere miteinander verbinden) mit eigens vom Weißmeer-Ostsee-Kanal handelnden Liedern.652 Diese konnte für die vorliegende Studie nicht ausfindig gemacht werden, es ist jedoch auch durch andere Quellen belegt, dass es eine solche Sammlung gegeben hat.653 Auf diese Weise spiegelt das Archiv Sergej Alymovs das doppelgesichtige Musikleben des Belbaltlag wider, und zwar sowohl seine offizielle als auch die inoffizielle Seite, und erlaubt Rückschlüsse auf Melodien und Liedtexte, die dort erklungen sind bzw. vom KVO gewünscht waren.

»Gern hätt’ ich sie alle beim Namen genannt…« – Namentlich bekannte Musiker im Belbaltlag Armfel’d, Viktor – Operettensänger am Zentralen Theater des Belbaltlag;654 Chejfic – Geiger ;655 E˙l’gurkaev, Musof – Chorleiter eines tschetschenischen Chores;656 E˙vers, 649 Es handelt sich dabei um eine Zeile aus dem Refrain des Liedes VperÚd, Krasnoflotcy (Vorwärts, Matrosen der Roten Flotte) von Klimentij KorcˇmarÚv. Http://sovmusic.ru/ download.php?fname=fleet2 (letzter Zugriff am 23. Januar 2011). 650 ?c [aQp U_ [aQp S B_SVcb[_Z bcaQ^V 3V\Y[Qp bca_Z[Q S aQXTQaV. ;c_ ^l^hV RVX UV\Q bc_Yc S bc_a_^V[,] CQ[_Z ^Q] S `dcY ^V c_SQaYj. RGALI: F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 3, d. 35, l. 65, 79. 651 Die Datierung richtet sich nach der Einordnung des Archivs. 652 RGALI: F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 3, d. 33, l. 107 – 111. 653 Beispielsweise wird sie im Pravda-Artikel von N. Kre˙n »Soedinenie morej«, 1932, S. 3 zitiert. Dort heißt sie Morja soedimin! Stichi i pesni na Belmorstroe. Izdanie kul’turnovospitatel’nogo otdela Bel.-Balt. Lagerja OGPU. 654 Dvorzˇeckij, Puti bol’sˇich e˙tapov, 1994, S. 81; Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 276; Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 122. 655 LichacˇÚv, Vospominanija, 1995, S. 275.

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1920er- und 1930er-Jahre

Raisa (ursprüngl. Zˇerebcova) – Assistentin des Dirigenten am Belbaltlag-Theater ;657 Korcˇakovskij, P. V. – Gitarrist am Tuloma-Theater ;658 Ksendzovskij, M. D. – Sänger am Belbaltlag-Theater ;659 Kurnykov, V. N. – Pianist;660 Musatov, A. P. – Bassist am Belbaltlag-Theater ;661 N. N. – Tenor, den Dmitrij LichacˇÚv üben hörte;662 Ovcˇinnikov – Sänger, sowohl im Belbaltlag als auch im Dmitlag inhaftiert;663 Pochvalenskij, Aleksandr – Verfasser des Marsches Sˇturmovik;664 Privalov, Leonid – Bariton am BelbaltlagTheater ;665 Prozorovskij, Boris – Arzt, Komponist;666 Psˇibysˇevskij, Boleslav – Musikalischer Leiter des Belbaltlag-Theaters;667 Rachmanov, S. F. – Sänger am BelbaltlagTheater ;668 Slivinskij, V. P. – Bariton am Belbaltlag-Theater ;669 Suchodol’skij, V. A. – Dirigent des Blasorchesters beim Bau des Tuloma-Wasserkraftwerks;670 Teplickij, Leopol’d – Dirigent;671 Tolstov – Konservatoriumsstudent;672 Tuchner, Sofija – Sängerin am Belbaltlag-Theater ;673 Urbanik – tschechischer Komponist im Belbaltlag;674 Vejs, Igor’ – Organist;675 Vladimir – Konservatoriumsstudent;676 Zabelin, N. P. – Pianist, Komponist am Tuloma-Theater ;677 Zubko, Stepan – Bariton am Belbaltlag-Theater.678

ˇ ernjak, Michail: »Muzyka lagernikov-nacionalov«, in: Na ˇsturm trassy, 1935, Nr. 5, S. 22. 656 C 657 Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 281; Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 111. 658 Dvorzˇeckij, Puti bol’sˇich e˙tapov, 1994, S. 92. 659 Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 276; Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 123; LichacˇÚv, Vospominanija, 1995, S. 275. 660 Dvorzˇeckij, Puti bol’sˇich e˙tapov, 1994, S. 95. 661 Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 276; Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 123. 662 LichacˇÚv, Vospominanija, 1995, S. 276. ˇ ernjak, Michail: »Mazˇornye gody«, in: Na sˇturm trassy, 1936, Nr. 1, S. 49. 663 C 664 RGALI: F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 3, d. 34, l. 135, 135ob. 665 Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 276; Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 123, 127. 666 Smetanin, Sergej: »Boris Prozorovskij«, http://a-pesni.golosa.info/romans/prozorovsky/aprozorovsky.htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011). 667 Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 122. 668 Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 276; Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 123. 669 Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 276. 670 Dvorzˇeckij, Puti bol’sˇich e˙tapov, 1994, S. 95. 671 Ausstellung des Heimatkundemuseums in Medvezˇ’ja Gora, September 2011. 672 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 323. 673 Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 276; Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 123, 127. 674 Tanjuk, »S pulej v serdce…«, 2. März 1989, S. 6. 675 Anciferov, Nikolaj: Iz dum o bylom. Vospominanija, 1992, S. 383. 676 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 135. 677 Dvorzˇeckij, Puti bol’sˇich e˙tapov, 1994, S. 92. 678 Ausstellung des Heimatkundemuseums in Medvezˇ’ja Gora, September 2011.

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Fallbeispiele: Moskau-Wolga-Kanal

A.2.3 Musik im Dienste der Perekovka-Idee II: Beim Bau des Moskau-Wolga-Kanals 1932 – 1938 (Dmitlag) Wir Tschekisten meinen, dass es keine Menschen gibt, die nicht umerzogen werden könnten.679 SemÚn Firin, Leiter des Dmitlag, bei einer Versammlung der Bestarbeiterinnen des Dmitlag am 8. März, dem Weltfrauentag, 1934

Historische Rahmenbedingungen Handelte es sich beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals um das größte Bauvorhaben des ersten Fünfjahresplans, so entwickelte sich der Bau des MoskauWolga-Kanals zum größten Bauvorhaben des zweiten. Der Bau wurde im Juni 1931 durch das Zentralkomitee beschlossen, um die Versorgung Moskaus mit Wasser zu verbessern und die Möglichkeiten des Schiffsverkehrs auf dem Fluss Moskva auszubauen. Der Kanalbau wurde zum großen Teil von Häftlingen des Lagers Dmitlag [Dmitrovskij ispravitel’no-trudovoj lager’ – Dmitrover Besserungsarbeitslager] realisiert. Am 1. Januar 1934 machten diese 70 Prozent aller beteiligten Arbeiter aus. Das im September 1932 durch das OGPU eingerichtete Dmitlag680 befand sich in unmittelbarer Nähe zu Moskau, die Verwaltung des Lagers war in der Kleinstadt Dmitrov – nur 65 km nördlich der Hauptstadt – stationiert. Im Januar 1935 war das Dmitlag (nach Angaben des GULAG) das größte Lager der Sowjetunion mit 192.649 Häftlingen oder 26,32 Prozent aller damaligen Lagerinsassen.681 Die Häftlinge des Dmitlag wurden neben dem Kanalbau auch beim Bau des Dinamo-Stadions, einiger Hafenanlagen sowie einiger Wohnhäuser für die Mitarbeiter des OGPU in Moskau eingesetzt.682 Dementsprechend waren Häft679 =l, hV[Ybcl, bhYcQV], hc_ ^VYb`aQSY]lf \oUVZ ^Vc. Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 66. Fast gleicher Wortlaut auch in Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 371; hier wird der damalige stellvertretende Leiter des OGPU und spätere Leiter des NKVD Genrich Jagoda zitiert. 680 Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 59, 61, 65, 83. 681 Zemskov, Viktor : »ZakljucˇÚnnye v 1930-e gody : social’no-demograficˇeskie problemy«, in: Otecˇestvennaja istorija, 1997, S. 55. Kokurin und Morukov geben die Zahl der Häftlinge am 1. Januar 1935 mit 192.229 und am 1. April 1935 mit 195.648 an; die letzte Zahl entspricht in ihrer Statistik der höchsten Häftlingszahl im Dmitlag. Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 523. 682 FÚdorov, N.: »Dmitlag«, in: Butovskij poligon. 1937 – 38 gg. Kniga pamjati zˇertv politicˇeskich repressij, Bd. 2, 1998, S. 36.

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1920er- und 1930er-Jahre

lingsbrigaden in Moskau präsent. Im Juni 1935 nahmen sogar 300 Kanalbauer, die im Dmitlag Sportzirkeln angehörten, an der Sportparade auf dem Roten Platz teil.683 Bilder von bildenden Künstlern, die im Dmitlag inhaftiert waren, wurden in Moskauer Ausstellungen gezeigt.684 Am Beispiel des Dmitlag lässt sich demnach die folgende Aussage Solzˇenicyns aus dem Vorwort zu Archipel GULAG bildlich nachvollziehen: Das Inselland […] überschattet seine [des Mutterlands] Straßen […].685

Für Verwandte der Dmitlag-Häftlinge soll es weniger schwierig als in anderen Lagern gewesen sein, ihre Angehörigen zu besuchen.686 Einige zogen sogar in die Nähe des Lagers, um unweit ihrer Verwandten zu wohnen. Im Juni 1934 befahl die Dmitlag-Leitung jedoch, solche Verwandten dazu zu zwingen, einen Abstand von 25 km zum Lager einzuhalten. Auf der anderen Seite gab es auch Häftlinge, welche die Erlaubnis hatten, außerhalb des Lagers bei Privatpersonen zu wohnen.687 Im Unterschied zur Berichterstattung über spätere Bauvorhaben wurde beim Bau des Moskau-Wolga-Kanals wie bereits beim Weißmeer-Ostsee-Kanal nicht verschwiegen, dass Häftlinge entscheidend daran beteiligt waren. Vielmehr wurde an ihrem Beispiel die Fortschrittlichkeit des sowjetischen Strafvollzugs propagiert, welcher die Umerziehung einer Vielzahl von Verbrechern möglich machte. Für das OGPU bedeutete die Nähe zu Moskau lediglich einen erhöhten Aufwand bei der Bewachung der Häftlinge, um die Zahl der Fluchtversuche zu drosseln.688 Für die zivile Bevölkerung aber bedeutete die Nähe des Lagers zur Hauptstadt eine unmittelbare Konfrontation mit Häftlingen. Natal’ja Semper, die als junge Frau Häftlinge des Dmitlag zu Gesicht bekam, schrieb in ihren Mitte der 1990er-Jahre verfassten Erinnerungen: Die Gerüchte gingen seit dem Vorjahr um: Sie werden den Kanal Wolga-Moskau bauen. […] im Sommer 1933 begann es. […] Auf dem Weg zum Bahnhof klafft ein kolossaler Graben, […]; für Fußgänger wurde ein Damm stehen gelassen, zu beiden Seiten dessen unten im flüssigen Lehm grau-braune Wesen in nassen Steppjacken herumkrabbeln, wie Läuse. Es nieselt… Sie schleudern die Erde weg mit Spaten und schieben auf Brettern schwere primitive Schubkarren durch den Dreck. […] Aus Moskau angekommen, gehe ich mit meinem Vater auf diesem Damm zur Herberge. […] Von unten strecken sich knorrige, mit Lehm beschmierte Arme nach uns aus, erkältete Stimmen krächzen: »Gebt uns Brot… Ich würde gern rauchen… Werft eine Kippe runter… Brot…« Wir werfen Brot hinunter, […]. Plötzlich ruft jemand: »He ihr dort, geht 683 684 685 686 687 688

Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 69. FÚdorov, »Dmitlag«, 1998, S. 38. Solschenizyn, Der Archipel GULAG, 1974, S. 9. FÚdorov, »Dmitlag«, 1998, S. 38. Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 67, 99. Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 62.

Fallbeispiele: Moskau-Wolga-Kanal

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weiter, schnell!« Oben stehen Soldaten in Mänteln aus Plane, mit blauen Mützen des NKVD. Sie rauchen kaltblütig Belomor689 und spucken in den Graben.690

Auf vielfache Weise war der Bau des Moskau-Wolga-Kanals eine Fortsetzung des Baus am Weißmeer-Ostsee-Kanal. Ein Teil der Häftlinge sowie Arbeitsgerätschaften aus dem Belbaltlag sind im Dmitlag zum Einsatz gekommen, aber auch die Führungsriege der Bauvorhaben war in der Anfangszeit des Moskau-WolgaProjekts identisch.691 Während der Transporte aus dem Belbaltlag ins Dmitlag, so berichtet das propagandistische Gemeinschaftswerk der 36 Autoren Belomorsko-Baltijskij kanal im. Stalina (vgl. weiter oben in diesem Kapitel), haben die Häftlinge zu Ziehharmonikas und Mandolinen gesungen, und zwar neue Lieder vom Bau des Moskau-Wolga-Kanals.692 Dies ist ein Zeichen dafür, dass offiziell angestrebt wurde, die Kulturpolitik des Belbaltlag im Dmitlag fortzusetzen. Das letzte Treffen der »Stoßarbeiter« des Belbaltlag fand dementsprechend in Dmitrov statt, wohin das Gebäude des Klubhauses aus dem Belbaltlag verlegt wurde. Hier sprach Gor’kij zu den Versammelten, und erwartungsgemäß wurde das Treffen von »donnernder« Musik begleitet.693

689 Abkürzung für die Zigarettenmarke, welche zu Beginn des Kapitels A.2.2 erwähnt wurde. 690 B\dfY SYcQ\Y b `a_i\_T_ T_UQ : RdUdc bca_Ycm [Q^Q\ 3_\TQ – =_b[SQ. […] \Vc_] 1933 T_UQ ^QhQ\_bm. […] @_ U_a_TV ^Q bcQ^gYo XYpVc [_\_bbQ\m^lZ a_S, […]; U\p `ViVf_U_S _bcQS\V^Q dX[Qp »Ra_S[Q«, `_ _RV bc_a_^l VV S^YXd [_`_iQcmbp S WYU[_Z T\Y^V bVa_-RdalV, [Q[ SiY, bdjVbcSQ S ]_[alf cV\_TaVZ[Qf. =_a_bYc U_WUm… ?^Y _c[YUlSQoc XV]\o \_`QcQ]Y Y c_\[Qoc `_ U_b[Q] Y TapXY cpWV\_SVb^lV `aY]YcYS^lV cQh[Y. […] @aYVfQS YX =_b[Sl, ]l b `Q`_Z YUV] `_ nc_Z `VaV]lh[V ^Q cdaRQXd. […] B^YXd cp^dcbp [_apSlV, YX]QXQ^^lV T\Y^_Z ad[Y, faY`pc `a_bcdWV^^lV T_\_bQ : »F\VRdi[Q `_UQZcV… @_[daYcm Rl… ;Y^mcV »Rlh[Q« (_[da_[)… F\VRgQ…« BRa_bY\Y Y] f\VR, […] 3UadT _[aY[: »NZ Sl cQ], `a_f_UYcV, WYS_ !« þQSVafd bc_pc b_\UQcl S RaVXV^c_Slf `\QjQf Y bY^Yf edaQW[Qf þ;35. F\QU^_[a_S^_ [dapc »2V\_]_a« Y b`\VSlSQoc S a_S. Semper (Sokolova), Natal’ja: »Portrety i pejzazˇi«, in: Druzˇba narodov, 1997, S. 95. 691 Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 63, 82 f. 692 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 571 f. 693 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 580 f., 596.

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1920er- und 1930er-Jahre

Abb. 30: Das Theatergebäude des Belbaltlag, welches 1934 nach Dmitrov transportiert wurde. Ausstellung des Heimatkundemuseums in Medvez’ja Gora.

Den Tagesablauf im Lager regelte ein Erlass des Lagerleiters vom Oktober 1932. Demnach hatten die Häftlinge um 5:30 Uhr aufzustehen und um 6:30 Uhr zum Appell anzutreten. Der Arbeitstag sollte von 7:00 bis 17:00 Uhr dauern. Nach dem Abendessen waren drei Stunden, von 19:00 bis 22:00 Uhr, für die Arbeit der ˇ vorgesehen. Um 22:05 war Nachtruhe angesagt.694 Auf diese Weise war für KVC die »Kulturerziehungsarbeit« offiziell relativ viel Zeit im Lageralltag vorgesehen, allerdings zu einer Tageszeit, in der die Häftlinge durch die Zwangsarbeit völlig erschöpft waren. Der Lagerleiter SemÚn Firin, der gleichzeitig auch den Posten des stellvertretenden GULAG-Leiters innehatte, ließ Schriftsteller aus dem Belbaltlag und die gesamte »Agitationsbrigade« unter der Leitung von Igor’ Terent’ev (vgl. den Abschnitt darüber in Kapitel A.2.2) sowie weitere Künstler aus anderen Lagern ins Dmitlag transportieren,695 möglicherweise, um die Produktivität der Häftlinge durch das Wirken der Künstler anzuregen. In Dmitrov existierten eine Theatertruppe, ein Blas- und ein Streichorchester sowie ein »Zentrales KünstlerAtelier«. Die propagandistischen Möglichkeiten der Presse wurden dadurch ausgenutzt, dass allein im Dmitlag über 50 lagerinterne Presseorgane herausgegeben wurden; das am meisten verbreitete war die Zeitung Perekovka. Das 694 Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 61. 695 FÚdorov, »Dmitlag«, 1998, S. 38. Im Dmitlag-Archiv befindet sich ein Erlass des stellvertretenden Dmitlag-Leiters Jakov Rapoport, aus dem hervorgeht, dass im August 1933 fünf Häftlinge aus einer »Agitationsbrigade« des Belbaltlag ins Dmitlag überwiesen wurden. GARF: F. R-9489, op. 2, d. 20, l. 226.

Fallbeispiele: Moskau-Wolga-Kanal

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Dmitlag fungierte als ein Aushängeschild des sowjetischen Strafvollzugs für ausländische Delegationen und für die sowjetische Öffentlichkeit. Jedoch darf das Schlagwort der perekovka nicht vergessen lassen, dass es sich bei diesem Lager um ein Konzentrationslager handelte, in dem Häftlinge an Entkräftung, Misshandlungen, Hunger und schlechter medizinischer Versorgung starben.696 Wie bereits im Belbaltlag existierte auch im Dmitlag ein System zur Belohnung der Bestarbeiter, welche hier Stachanov-Arbeiter genannt wurden. Unter Stachanov-Arbeitern [stachanovcy, Einzahl stachanovec] wurden solche verstanden, welche die Norm deutlich übererfüllten und die Technik so rationell wie möglich einsetzten.697 Ein Erlass des NKVD vom Dezember 1935 schrieb vor, dass Stachanov-Arbeitern ein Arbeitstag für zwei angerechnet werden sollte, wodurch ihre Haftzeit um die Hälfte verkürzt werden konnte. Des Weiteren konnten sie vorzeitig entlassen werden.698 Die Arbeit der Häftlinge durfte, laut einem Erlass des Lagerleiters vom Dezember 1933, erst bei -30 8C und kälter eingestellt werden; für Häftlinge, die aus südlichen Regionen stammten, lag die Grenze schon bei -25 8C. Dies weist auf die gesonderte Behandlung dieser Häftlingsgruppe hin, auf die weiter unten ausführlicher eingegangen wird. Im Juli 1936 waren Angehörige von 46 verschiedenen Nationalitäten aus der Sowjetunion im Dmitlag inhaftiert.699 Im Frühjahr 1937 wurde der Moskau-Wolga-Kanal fertiggestellt. Kurz darauf, Ende April, verhaftete der NKVD den Dmitlag-Leiter SemÚn Firin; eine Welle von Verhaftungen unter den Tschekisten, die im Dmitlag tätig waren, folgte. Dies geschah deswegen, weil Nikolaj Ezˇov, der sich seit September 1936 im Amt des Volkskommissars für innere Angelegenheiten befand, behauptete, ein Komplott seines Vorgängers Genrich Jagoda aufgedeckt zu haben, der einen Regierungssturz mithilfe von Häftlingen geplant haben sollte. Der Kanal aber wurde am 15. Juli 1937 feierlich eröffnet. 404 für den Bau verantwortlich zeichnende Personen wurden mit Orden ausgezeichnet, zivile Arbeiter erhielten Geschenke und Geldbeträge, 55.000 »Stoßarbeiter« unter den Häftlingen wurden vorzeitig entlassen. Das Dmitlag wurde im Januar 1938 aufgelöst. Insgesamt sind – nach offiziellen Angaben – während seines Bestehens 22.842 Häftlinge in diesem Lager gestorben.700

696 FÚdorov, »Dmitlag«, 1998, S. 38 f. 697 Die Bezeichnung ging auf Aleksej Stachanov, einen Hauer aus Donbass, zurück, der 1935 den »Kampf um hohe Produktionszahlen« begonnen hatte. Usˇakov, Dmitrij (Hg.): Tolkovyj slovar’ russkogo jazyka, Bd. 4, 1940, Sp. 498. 698 Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 71. 699 Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 64, 68, 72. 700 Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 74, 77, 101.

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1920er- und 1930er-Jahre

Das offizielle Musikleben Die Anfänge des Musiklebens im Dmitlag »Dass unsere Umerziehungspolitik richtig ist, beweist eindrucksvoll der Belmorstroj.701 Seine Erbauer haben Wunder vollbracht. Sie sind unser Stolz. Über Belmorstroj werden Lieder gesungen«, diese Worte des damaligen stellvertretenden GULAG-Leiters und Leiters des Moskau-Wolga-Kanalbaus, Lazar’ Kogan, verkündete die Zeitung des Dmitlag Perekovka Ende Juni 1933.702 Offensichtlich ist die Erziehungsarbeit, die im Belbaltlag geleistet worden war, als Vorbild für das Dmitlag und andere Lager gesehen worden, und Lieder spielten dabei eine wichtige Rolle.703 Dieses Zitat unterstreicht auch, dass GULAG-Vertreter die Musik als ein wichtiges Propaganda-Mittel ansahen. Im Folgenden werden die Anfänge des Musiklebens beim Bau des MoskauWolga-Kanals anhand der lagerinternen Zeitung Perekovka,704 der lagerinternen Zeitschrift Na ˇsturm trassy (Zum Sturm der Trasse) und einiger Erlasse der Dmitlag-Leitung rekonstruiert. Die älteste Erwähnung einer Musikgruppe im Dmitlag ist ein Erlass vom März 1933, wodurch der Angehörige der Wachmannschaft Maks Kjuss, der im zivilen Leben Komponist des in der Sowjetunion äußerst populären Walzers Amurskie volny (Die Amurwellen) war, zum Kapellmeister der »Musiker-Mannschaft« des Dmitlag ernannt wurde.705 Dieser Erlass zeigt, dass es im Dmitlag bereits sehr bald nach der Lagergründung Musikgruppen gegeben hat. In der Perekovka wird Ende Mai 1933 von der Gründung eines Musikzirkels aus 15 Personen im Etappenpunkt der Stadt Dmitrov berichtet. Dieser Zirkel begleitete, laut dem Zeitungsbericht, die dort gezeigten Filme.706 Diese Musikgruppen sind in der Anfangszeit des Lagers als Ausnahmen zu betrachten, denn im Mai 1933 inspizierten der Dmitlag-Leiter und sein Stellvertreter die einzelnen Lagereinheiten und kamen zu dem Schluss, dass die »Kulturerziehungsarbeit« im Dmitlag noch schlecht entwickelt war.707 701 Belmorstroj – Abkürzung für den Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals. 702 C_, hc_ ^QiQ `_\YcY[Q Yb`aQS\V^Yp SVa^Q, pa[_ U_[QXlSQVc 2V\]_abca_Z. Bca_YcV\Y 2V\]_abca_p `_[QXQ\Y hdUVbQ. ?^Y bcQ\Y T_aU_bcmo. ? 2V\]_abca_V `_oc `Vb^Y. GARF: F. R9414s, op. 4, d. 1, l. 59ob u. 60. 703 Nach seiner Fertigstellung wurde der Moskau-Wolga-Kanal in dem Lied von Vano Muradeli Na kanale Moskva-Volga (Auf dem Moskau-Wolga-Kanal) von 1938 besungen. Hörbeispiel: http://sovmusic.ru/download.php?fname=nakanale (letzter Zugriff am 16. Januar 2012). 704 Diese erreichte im November 1934 eine Auflage von 30.000 Exemplaren. Im Dezember 1935 betrug die Auflagenhöhe 15.000. Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 68, 71. 705 Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 64. 706 GARF: F. R-9414s, op. 4, d. 1, l. 44ob. 707 GARF: F. R-9489, op. 2, d. 20, l. 15, 15ob, 16 – 20.

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Ebenfalls im Mai 1933 wurde, laut dem Artikel des Häftlings und Dmitlagˇ ernjak Mazˇornye gody (Jahre in Dur) ein Kurs »Musikinspektors« Michail C für 20 angehende Blasorchestermusiker in Dmitrov eingerichtet – neben Kursen für technische Zeichner, Betonarbeiter, Fahrer und Elektroschweißer. Die anˇ ernjak, aus dem gesamten Dmitlag, und einige gehenden Musiker kamen, so C von ihnen sollen im Erlernen der Instrumente so schnell gewesen sein, dass sie bereits im Juli als erstes »Kanalarmisten«-Orchester das Lager zu bereisen beˇ ernjak, bemühten sich, ihre Produktivität zu gannen. Die Häftlingsbrigaden, so C steigern, damit das Orchester für einige Tage zu ihnen geschickt wurde.708 Das Orchester wurde hierbei, wie bereits im Belbaltlag, als ein Mittel zur Belohnung der Bestarbeiter eingesetzt. In der Perekovka finden sich weitere Beispiele für eine solche Instrumentalisierung der Musik: Eine Dezember-Ausgabe von 1933 enthält einen Artikel über »fröhliche Musikbegleitung« durch einen Ziehharmonikaspieler beim Mittagessen der Bestarbeiter,709 eine Januar-Ausgabe von 1934 einen Artikel darüber, dass in der Pause einer Brigade Ziehharmonika gespielt wurde, welche die Brigade für gute Arbeit geschenkt bekommen hatte.710 Die im Belbaltlag erprobte Methode der Prämierung von Häftlingen mit Musikinstrumenten für gute Arbeit wurde im Dmitlag dementsprechend fortgeführt. Auf einen Erlass des Dmitlag-Leiters vom Juli 1933 hin wurden die besten Arbeiterbrigaden mit folgenden Prämien ausgezeichnet, unter denen Musikinstrumente und -geräte einen wichtigen Stellenwert hatten: mit einem Grammophon, dem Eintrag auf dem »Roten Brett«,711 mit Musikinstrumenten, einem Anzug, mit Hosen, mit Stoff für ein Kleid, einem Radio, einer Ziehharmonika, einer Bibliothek mit 50 Büchern oder einem Hemd.712 ˇ ernjak deutlich, dass er Musik als Im weiteren Verlauf seines Artikels macht C ein Mittel der perekovka sieht, denn er berichtet, dass mehrfach vorbestrafte Verbrecher durch die Aufnahme in ein Orchester und den dort erteilten Instrumentalunterricht zu besseren Menschen wurden.713 ˇ ernjak wurde 1906 geboren, studierte am Ersten Staatlichen MuMichail C siktechnikum in Moskau bei Boleslav Javorskij und unterrichtete in den Jahren 1928/29 an dieser Einrichtung.714 Am 30. April 1929 wurde er in der Sache der Studentengruppe Demokraticˇeskij sojuz (Demokratischer Bund), die in der Stadt ˇ ernigov ansässig war, verhaftet, weil er aus C ˇ ernigov stammte und einige C 708 709 710 711 712 713 714

ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 47 f. C GARF: F. R-9414s, op. 4, d. 1, l. 171. GARF: F. R-9414s, op. 4, d. 1, l. 185. Damit ist eine Anschlagtafel gemeint, auf der Informationen bekannt gegeben wurden. GARF: F. R-9489, op. 2, d. 20, l. 144 – 145. ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48. C Bernandt/Dolzˇanskij, Sovetskie kompozitory, 1957, S. 631.

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Mitglieder des Demokraticˇeskij sojuz kannte. In jüngster Zeit sind Untersuchungsakten veröffentlicht worden, die diesen Fall dokumentieren.715 Sie demonstrieren sehr anschaulich die Verhaftungs- und Verurteilungspraktiken des OGPU. Den Ausgangspunkt für diesen Fall bildete die Ermordung eines Kommandeurs der Roten Armee durch Lev Ljubarskij, einen Achtzehnjährigen, der aus ˇ ernigov nach Moskau gekommen war, um dort zu studieren. In Moskau wohnte C er bei Verwandten, mit denen der Komponist Michail Kvadri (1897 – 1929) befreundet war. Kvadri war ein Freund Dmitrij Sˇostakovicˇs, dem dieser seine Erste Sinfonie gewidmet hatte.716 Kvadri hatte Komposition am Moskauer Konservatorium bei Georgij Catoire und Nikolaj Mjaskovskij studiert und danach an der Rimskij-Korsakov-Musikfachschule unterrichtet. Er war Gründer und Anführer des Komponistenzirkels Moskovskaja ˇsestÚrka (Die Moskauer ˇ erÚmuchin, Lev Sechs), dem Michail Starokadomskij, Jurij Nikol’skij, Michail C 717 ˇ Oborin und Vissarion Sebalin angehörten. Der Mörder Ljubarskij floh zunächst vom Tatort, stellte sich aber nach wenigen Tagen freiwillig dem OGPU. Dort wurde festgestellt, dass er an Schizophrenie litt. Nichtsdestotrotz wurde er verhört und vermutlich gefoltert, denn nach zweimonatiger Haft gestand er, zu dem Verbrechen von anderen angestachelt worden zu sein, und an erster Stelle von Michail Kvadri.718 Der Mörder gab zusätzlich an, von einem antisowjetischen Zusammenschluss von Jugendˇ erlichen mit dem Namen Demokraticˇeskij sojuz (Demokratischer Bund) in C nigov beeinflusst worden zu sein, welchen es tatsächlich gegeben hat, zu dem der Mörder aber keinen Kontakt hatte. Auf diesen Hinweis hin wurden 68 Personen ˇ ernigov, Moskau, Kiew und Leningrad festgenommen. Zwölf von ihnen aus C wurden erschossen, 18 wurden zu zehn, 19 zu fünf und sieben zu drei Jahren Lagerhaft sowie sechs zu drei Jahren Verbannung verurteilt. Einer der Verhafteten setzte seinem Leben im Gefängnis eigenhändig ein Ende. Nach Stalins Tod wurden alle Verurteilten rehabilitiert. Unter den Verhafteten in Moskau befand ˇ ernjak. sich auch der Komponist Michail C Obwohl nur der Mörder gegen Michail Kvadri ausgesagt hat, genügte dies 715 Mazus, Izrail’ (Hg.): Demokraticˇeskij sojuz. Sledstvennoe delo. 1928 – 1929 gg., 2010. 716 Nachdem Kvadri vom OGPU erschossen wurde, wurde diese Widmung nicht mehr gedruckt. Smirnickij, Jan: »Lucˇsˇij vrag naroda«, in: Moskovskij komsomolec, 30. September 2006, online verfügbar auf: http://1001.ru/arc/mk/issue192/ (letzter Zugriff am 13. Dezember 2011). 717 Für den Hinweis auf Kvadris Schicksal ist die Verfasserin dem Herausgeber der neuen Sˇostakovicˇ-Gesamtausgabe Manasˇir Jakubov zu großem Dank verpflichtet. Die Informationen über den Komponisten sind entnommen aus: Jakubov, Manasˇir : »Vokal’nye cikly Sˇostakovicˇa 1920 – 1930-ch godov«, in: Dmitri Shostakovich: New collected works, Bd. 87, 2006, S. 109 – 112, hier S. 110. 718 Mazus, Demokraticˇeskij sojuz, 2010, S. 28.

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dem Sonderkollegium, um ein Todesurteil gegen Kvadri auszusprechen.719 Dass dieses Verfahren weitere Opfer unter Musikern nach sich hätte ziehen können, geht aus den Verhörprotokollen hervor, in denen z. B. Lev Oborin mehrfach vorkommt und Kvadris bester Freund genannt wird.720 Auch werden in Verhörprotokollen namentlich Boleslav Javorskij, Nikolaj Mjaskovskij, Michail Starokadomskij und Vissarion Sˇebalin als Personen genannt, mit denen Kvadri verkehrt hat. Kvadri wurde am 31. Oktober 1928 verhaftet und am 8. Juli 1929 durch das OGPU-Kollegium nach § 58 – 6 und § 58 – 8 wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer konterrevolutionären Organisation sowie wegen Anstachelung zum Mord zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde am 12. Juli 1929 vollstreckt. Es sind drei Verhörprotokolle Kvadris veröffentlicht worden, ein Verhör fand zusammen mit dem Mörder statt.721 Kvadri verneinte stets entschieden jedwede Beteiligung am Mord. Ergänzend ist seinen Verhörprotokollen eine umfangreiche Liste mit Namen beigefügt, die vermutlich in seinen Notiz- und Adressbüchern gefunden wurden. In Kvadris Handschrift sind kurze Informationen zu jedem Namen eingetragen. Darunter zu finden sind Vissarion Sˇebalin, Aleksandr Gedike, Konstantin Saradzˇev, Nikolaj Mal’ko, Boris Asaf ’ev, Nikolaj Zˇiljaev, Konstantin Igumnov, Michail Ippolitov-Ivanov, Nikolaj Mjaskovskij, Aleksandr Mosolov, Genrich Nejgauz, Dmitrij Sˇostakovicˇ, Boleslav Javorskij und viele andere Musiker.722 Ein Angeklagter gab sogar zu Protokoll, dass Boleslav Javorskij einen großen Einfluss auf die Jugend gehabt und diesen zur konterrevolutionären Agitation genutzt habe, und dass Ivan Sollertinskij (im Verhörprotokoll fälschlicherweise Selertinskij geschrieben), welcher ein Antimarxist gewesen sei, mit seinen Ansichten die Studenten beeinflusst habe.723 Es ist kaum vorstellbar, was aus der sowjetischen Musikwelt geworden wäre, wenn das OGPU auch nur einen Teil der genannten Musiker verhaftet hätte. Nikolaj Zˇiljaev, Aleksandr Mosolov und Genrich Nejgauz (vgl. Kapitel D) wurden später tatsächlich zu Opfern des OGPU bzw. NKVD, jedoch unabhängig von Kvadris Fall. ˇ ernjak wurde verhaftet, obwohl er kein Mitglied des DemokraMichail C ˇ ernjak persönlich kannten, ticˇeskij sojuz war, was von dessen Mitgliedern, die C 719 Negativ hat sich für Kvadri sicherlich ausgewirkt, dass er eine Zeit lang während des Bürgerkriegs aufseiten der Weißen gekämpft hatte und, wie er angeblich selbst zu Protokoll gab, unzufrieden darüber war, dass er wegen dieser Vergangenheit aus dem Konservatorium »hinausgeekelt« wurde. 720 Mazus, Demokraticˇeskij sojuz, 2010, S. 41. 721 Mazus, Demokraticˇeskij sojuz, 2010, S. 86 – 91, 102 f. Hier ist auf S. 86 ein Foto Kvadris aus der Untersuchungsakte veröffentlicht. 722 Mazus, Demokraticˇeskij sojuz, 2010, S. 91 – 102. 723 Mazus, Demokraticˇeskij sojuz, 2010, S. 309.

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vor seiner Verhaftung auch so zu Protokoll gegeben wurde. Von ihm sind lediglich zwei Verhörprotokolle überliefert. In beiden gab er an, dass er Michail Kvadri nicht gekannt habe und auch nie in einer antisowjetischen Organisation Mitglied gewesen sei. Er habe jedoch einmal wöchentlich Boleslav Javorskij besucht. Die Namen Oborins und Javorskijs fielen in diesem Verfahren so regelmäßig, dass es verwunderlich ist, warum sie nicht miteinbezogen wurden. Über Aleksandr Selivanov, eine der Schlüsselfiguren des jugendlichen Bundes, ˇ ernjak, dass jener ihn einige Male in Moskau besucht hat, um C ˇ ernjaks sagte C 724 Musik zu hören. ˇ ernjak abschließend Nichtsdestotrotz erklärte der Untersuchungsführer C zum Mitglied der Moskauer Gruppe des Demokraticˇeskij sojuz. Der Komponist wurde daraufhin aufgrund der §§ 58 – 8 und 58 – 2 zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt. Möglicherweise ist er im Lager wiederholt verurteilt worden, weil er ˇ eerst am 9. Juni 1936 freigelassen wurde. Nach der Haft war er in Kalinin, C 725 ˇ ljabinsk und Cernigov tätig und kehrte erst 1953 nach Moskau zurück. Als ˇ ernjak entscheidend zur Gestaltung des Musiklebens im Dmitlag Häftling hat C beigetragen. Unter anderem komponierte er dort die Operette Ot Volgi do Moskvy (Von der Wolga bis nach Moskau), die mit großem Erfolg im Lager aufgeführt wurde.726 ˇ ernjak, beim Ausrücken der Das erste »Kanalarmisten«-Orchester hat, laut C Häftlinge zur Arbeit und während ihrer Arbeit gespielt. Auch hat es in ihrer Freizeit musiziert, Vorführungen der »Agitationsbrigaden« begleitet sowie Spiel- und Tanzveranstaltungen organisiert. Auch nachts sollen die Musiker gearbeitet haben, sie gaben Instrumentalunterricht und notierten Melodien für »Agitationsbrigaden« oder Musikzirkel. Auf diese Weise soll das erste Orchester das ganze Lager bereist und dazu beigetragen haben, dass sich das Musikleben dort zu entwickeln begann. Nach dieser ersten Tournee durch das Dmitlag habe sich das Orchester im Chlebnikovskij-Bezirk niedergelassen. Dort habe es zusammen mit der »Agitationsbrigade« des Bezirks eigens konzipierte Aufführungen mit Musikbegleitung realisiert, welche beispielsweise zum schonenden Umgang mit Pferden und Arbeitsinstrumenten aufriefen, schlechte Arbeiter »entlarvten« sowie zu »neuen Produktionssiegen« zu animieren versuchten. Eine solche Aufführung habe beispielsweise Parad e˙kskavatorov (Parade der Bagger) geheißen. ˇ ernjak weiter, als es im Spätsommer 1935 darum ging, Das Orchester hat, so C einen Arbeitsabschnitt vorzeitig fertigzustellen, rund um die Uhr in zwei ˇ ernjaks aus 724 Mazus, Demokraticˇeskij sojuz, 2010, S. 327 – 330. Hier ist auf S. 328 ein Foto C der Untersuchungsakte veröffentlicht. 725 Bernandt/Dolzˇanskij, Sovetskie kompozitory, 1957, S. 631. 726 Gorcˇeva, Pressa Gulaga (1918 – 1955), 1996, S. 46.

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Schichten gearbeitet und zur Arbeit anderer Häftlinge musiziert. Überdies hätten die Musiker auch selbst Hand angelegt und mit Schubkarren gearbeitet. Die Mehrheit der Orchestermusiker habe anfänglich keine Noten lesen können. Nach ca. drei Jahren hätten sie aber schon schwierige Stücke gespielt und ihr Repertoire ständig durch tägliche vierstündige Proben erweitert.727 Inwieweit diese Schilderungen der Wahrheit entsprechen, darf angezweifelt werden. Die Erfolge des Orchesters werden höchstwahrscheinlich auf die Teilnahme von Häftlingen zurückzuführen sein, welche bereits vor der Haft musiziert haben, wie das vergleichbar auch im Falle des Kompositionswettbewerbs im Dmitlag war, welcher weiter unten in diesem Kapitel behandelt wird. Ein Erlass des Dmitlag-Leiters Jakov Rapoport vom 26. Juli 1933 handelt von ˇ ernjak beschrieben hat und bestätigt damit zumindest dem Orchester, welches C seine Existenz. Hier werden die 21 Musiker, die den Blasorchester-Kurs absolviert haben, namentlich aufgeführt. Darunter befand sich mindestens eine Frau; aus einigen Namen geht das Geschlecht nicht hervor, da die Vornamen nicht ausgeschrieben sind. Rapoport befahl der KVO, unverzüglich mit der Ausbildung weiterer Musiker für ein zweites Blasorchester zu beginnen. Michail ˇ ernjak wurde zum Leiter der 26 Mann starken »Musiker-Mannschaft«, wie das C erste Orchester des Dmitlag hier bezeichnet wurde, ernannt. Es wurde befohlen, die Musiker mit Uniformen auszustatten und in einem gesonderten Gebäude unterzubringen. Der Befehl, sie mit besseren Essensrationen zu versorgen, wurde bei der Unterzeichnung durchgestrichen. Der Anlage zum Erlass lässt sich des Weiteren die Zusammensetzung des Orchesters entnehmen: Dabei handelte es sich um vier Kornette, zwei Trompeten, drei Althörner, zwei Waldhörner, drei Tenorhörner, zwei Baritonhörner, vier Tuben, eine Flöte, zwei Klarinetten, eine große und eine kleine Trommel sowie einen Kapellmeister.728 Im Juni 1933 berichtete die Perekovka von einem ukrainischen Chor, welcher bei einer Versammlung der Bestarbeiter aufgetreten sei, sowie von einem Musikzirkel aus neun Personen unter der Leitung des Häftlings Vasilevskij im Lagerpunkt Nr. 5 der Abteilung Nr. 7. Gleichzeitig rief die Zeitung zur Gründung von »Laienkunstzirkeln« in anderen Lagerpunkten auf. Aus der Lagerabteilung Nr. 3 wurde mitgeteilt, dass es dort eine »Agitationsbrigade« gab, deren Mitglieder von der Arbeit befreit waren und in ihren Aufführungen schlechte Arbeiter kritisierten.729 Dies lässt vermuten, dass Konfliktsituationen mit arbeitenden Häftlingen hierbei vorprogrammiert waren, wenn die nicht arbeitenden Künstler Kritik an den Arbeitern übten. Für den Sommer 1933 wurden, so weiterhin die Perekovka, Freilichtbühnen in 727 728 729

ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48. C GARF: F. R-9489, op. 2, d. 20, l. 181, 181ob. GARF: F. R-9414s, op. 4, d. 1, l. 48 u. 56ob.

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diversen Lagerpunkten errichtet und neue kleine Musikzirkel gegründet. Bei der Gestaltung der Bühnen spielte »sichtbare Agitation« [nagljadnaja agitacija] (vgl. Kapitel B.1) eine wichtige Rolle. Beispielsweise hing über der Freilichtbühne im Lagerpunkt Kilometer 69 ein Spruchband mit der Aufschrift: »Die Kunst den Massen«. Gleichzeitig war die »Kulturarbeit« im Dmitlag zu diesem Zeitpunkt immer noch im Aufbau begriffen, denn es fehlte an Räumen und Inventar.730 Die ersten »Laienkunstschauen« und die erste »Konferenz der schöpferischen Kräfte« Vermutlich um die »Laienkunst« anzukurbeln, wurde in der Perekovka vom 22. Juni 1933 die Teilnahme an einer das ganze Dmitlag umfassenden »Schau [smotr] der Laienkünstler« ausgeschrieben, welche bereits am 1. Juli in Dmitrov stattfinden sollte.731 Eingeladen waren »Agitationsbrigaden«, Schauspieltruppen, Musikzirkel sowie Solisten: Tänzer, Vorleser, Unterhalter u. a. Es sollten sich auch ausdrücklich nacmeny einfinden. Bezüglich dieser letztgenannten Häftlingsgruppe hieß es in einer Perekovka-Ausgabe vom Juli 1933 in einem Artikel über einen Lesginka tanzenden Georgier : »Bei uns im Lager werden, wie in der ganzen Sowjetunion, der Entwicklung der nationalen Kunst große Möglichkeiten geboten.«732 Dies klingt wie Hohn, wenn man bedenkt, wie nationale Kulturen sowjetisiert wurden, und dass sehr bald, nämlich in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre, Verhaftungen und Erschießungen aufgrund von Zugehörigkeit zu einer Nationalität angeordnet und durchgeführt wurden, beispielsweise gegen Deutsche oder Griechen.733 Nacmeny bildeten eine besondere Häftlingsgruppe bereits im Belbaltlag und später auch im Dmitlag. Ihre Bezeichnung war ein Sammelbegriff für Angehörige der im südlichen Teil der Sowjetunion lebenden Nationalitäten, manchmal wurde der Begriff aber auch auf alle Nationalitäten außer der russischen ausgedehnt.734 Die Bewohner der südlichen Republiken hatten es schwer, sich an die Witterungsbedingungen in Zentralrussland anzupassen. Auch die Kommunikation in russischer Sprache sowie die Verpflegung machten ihnen zu schaffen.735 Die meisten von ihnen waren Muslime und wurden plötzlich mit einer neuen Lebensart konfrontiert. Gleichzeitig stellten sie eine Zielscheibe für die Grausamkeiten der Mithäftlinge dar. Im Winter des Jahres 1932 machten sie der 730 731 732 733 734

GARF: F. R-9414s, op. 4, d. 1, l. 60ob u. 64ob. GARF: F. R-9414s, op. 4, d. 1, l. 58ob. GARF: F. R-9414s, op. 4, d. 1, l. 82ob. Vgl. Dzˇucha, Ivan: Grecˇeskaja operacija, 2006. ˇ ernjak, Michail: »Pojusˇcˇaja trassa«, in: Na ˇsturm trassy, 1935, Nr. 8, S. 24. Hier Bsp.: C werden auch ukrainische Ensembles zu den nacmeny gezählt. 735 Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 396.

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Lagerleitung des Belbaltlag dadurch zu schaffen, dass sie den Ramadan einhielten; in einigen Fällen sollen sie sogar versucht haben, Wachtürme als Minarette zu nutzen. Die Sorge um den Verlust ihrer Arbeitskraft zwang die Lagerleitung dazu, ihnen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. So gab es im Belbaltlag beispielsweise ein Klubhaus, welches nur für die nacmeny vorgesehen war.736 Auch im Dmitlag wurden sie als gesonderte Gruppe behandelt, was sich im Musikleben bemerkbar machte (vgl. den Abschnitt über die Musikaktivitäten der nacmeny in diesem Kapitel). Die Teilnehmer der angekündigten »Laienkunstschau« sollten ihr Können bereits zwei Tage nach der Ausschreibung, am 24. Juni, in den einzelnen Lagerabteilungen unter Beweis stellen. Ein solcher Vorentscheid im Lagerpunkt Nr. 1 der Lagerabteilung Nr. 5 wurde in der Zeitung beschrieben.737 Die über dem Bericht stehenden Sätze »Unsere Kunst ist außerhalb des Kampfes um den Bau [gemeint ist der Kanalbau] undenkbar« und »Ausgeruht zur Arbeit« weisen darauf hin, dass die »Kulturarbeit« als eng mit der Zwangsarbeit der Häftlinge verknüpft gesehen werden sollte. Folgende Gruppen und Solisten nahmen neben anderen, laut der Perekovka, an diesem Vorentscheid teil: Musiker mit Gitarren, Mandolinen und Ziehharmonikas, die das Stück Marsˇ BudÚnnogo (BudÚnnyj-Marsch)738 spielten, eine »Agitationsbrigade« und ein »Geräuscheorchester« [sˇumovoj orkestr] unter der Leitung eines gewissen Kondrat’ev , in dem mit Eimern, Hupen, Topfdeckeln und selbst gemachten Pfeifen Musik gemacht wurde. Die »Agitationsbrigade« gab ein Oratorium vom Rentabilitätsprinzip (Oratorija o chozrascˇÚte) sowie cˇastusˇki über den Lageralltag zum Besten, welche die Teilnehmer selbst geschrieben haben sollen. Als Solist sei M. Svetlov aufgefallen, welcher cˇastusˇki, einen Tanz sowie eine Deklamation aufführte; als besten Tänzer lobte die Zeitung einen alten Rom. Das »Geräuscheorchester« spielte das russische Volkslied Barynja (Herrin),739 zu dem ein junger Rom tanzte, Walzer, Märsche und alte Volkslieder. Vorentscheide gab es, laut der Perekovka, auch in anderen Lagerpunkten. In der Abteilung Nr. 11 sollen z. B. ein Zupforchester und ein Musikzirkel des Lagerpunkts Kilometer 69, eine »Agitationsbrigade«, ein ukrainischer Chor, ein weiteres Zupf- sowie ein »Geräuscheorchester« aufgetreten sein. Auf dem Proˇ uchin, Kanaloarmejcy, 1990, S. 164 – 166. 736 C 737 GARF: F. R-9414s, op. 4, d. 1, l. 58ob, 64ob. 738 Benannt nach SemÚn BudÚnnyj (1883 – 1973), einem sowjetischen Heerführer, Organisator der Roten Armee und Marschall der Sowjetunion. In einer frühen instrumentalen Aufführung anzuhören auf http://sovmusic.ru/download.php?fname=marshbud (letzter Zugriff am 7. Januar 2010). Die Musik stammt von den Brüdern Pokrass, der Text handelt von der siegreichen Roten Reiterarmee. 739 Hörbeispiel: http://www.russian-records.com/details.php?image_id=10867& l=russian (letzter Zugriff am 16. Januar 2012).

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gramm standen Märsche, Walzer, cˇastusˇki, Volkslieder, Tänze und Erzählungen. Die »Agitationsbrigade« aber habe sich mit Alltagsthemen befasst, um die Produktivität der Häftlinge zu steigern. Die in der Zeitung genannten Programmpunkte zeigen, dass fröhliche und zur Arbeit motivierende Musik von der Lageradministration gewünscht wurde. Rechtzeitig zur »Laienkunstschau« wurde am 1. Juli ein Klubhaus im Dmitlag eröffnet. Wie dem Erlass des Dmitlag-Leiters zu entnehmen ist, war der dort tätige Pianist ein Häftling. Insgesamt waren acht der 13 Beschäftigten des Klubhauses Häftlinge. Sie erhielten im Gegenteil zu den zivilen Angestellten kein Gehalt.740 Am 4. Juli berichtete die Perekovka ausführlich über das erste Dmitlager »Laienkunsttreffen« [slÚt chudozˇestvennoj samodejatel’nosti], was vom Begriff her mit »Laienkunstschau« gleichzusetzen ist. Es wurde betont, dass sein Ziel die vollständige Unterordnung der Kunst unter die Aufgaben des Baus gewesen war.741 »Kulturerziehungsarbeit« sei dazu da, das »notwendige Tempo des Baus« und »die richtige Umerziehung der Lagerinsassen« zu garantieren. Die Zeitungsredaktion wetterte gegen »Abgeschmacktheit, Borniertheit, Pseudo-Zigeunertum und vorrevolutionäre Estrade«. Dies lässt darauf schließen, dass Beispiele dafür auf dem Treffen präsent waren. Die Lagerabteilungen wurden dazu angehalten, sich mehr um die »Laienkunst« zu kümmern und darauf zu achten, dass die Arbeit und der Lageralltag in allen Beiträgen oberste Priorität genießen sollten, was vor allem bedeutete, dass schlechte Arbeiter angeprangert und gute gelobt werden sollten. Es wurde verlangt, dass alle Beiträge fröhlich und mitreißend sein sollten und alte Kunstformen vergessen werden. Auch sollte auf die Beteiligung verschiedener Nationalitäten an der »Laienkunst« geachtet werden. Als Preise für die besten Teilnehmer des »Laienkunsttreffens« wurden, laut diesem Artikel, Herrenanzüge, Musikinstrumente, Geld, ein Grammophon sowie Urkunden verteilt. Ein Häftling namens Nemilodinov wurde für eine selbst gemachte Geige mit 30 Rubeln prämiert. Auf diese Weise bemühte sich der Verwaltungsapparat des Lagers, die Musikarbeit im Dmitlag auszubauen. Beachtung im Rahmen dieser Untersuchung verdient der Artikel des KVOˇ ernjak über die Musik beim »Laienkunsttreffen«, welcher Inspektors Michail C ˇ ernjak nannte zusammen mit dem zuvor skizzierten Bericht erschienen war.742 C zunächst die auf dem Treffen gespielten Instrumente: Balalaika, Gitarre, Violine, Bandura,743 die russische Volksschalmei [zˇalejka], Ziehharmonika sowie »Ge740 741 742 743

GARF: F. 9489, op. 2, d. 20, l. 105 – 106. GARF: F. R-9414s, op. 4, d. 1, l. 66. GARF: F. R-9414s, op. 4, d. 1, l. 66. Bandura – lautenähnliches ukrainisches Zupfinstrument.

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räuschinstrumente« wie Bleistift, Löffel u. a. Die Zupforchester betreffend, bemängelte der Verfasser, dass sie zwar gut spielten, aber völlig unvorbereitet waren, wenn es darum ging, »Agitationsbrigaden« zu begleiten. ˇ ernjak, eine große Menge an Sängern und auch gute Es gab des Weiteren, so C Chöre, allerdings sangen die Chöre mehrheitlich nur ukrainische Volkslieder. Sie sollten sich den Chor der Abteilung Nr. 10 zum Vorbild nehmen, welcher sowohl ukrainische als auch Revolutionslieder »kultiviert« vorgetragen habe. Das Phänomen der ukrainischen Chöre im Gulag fand schon in Kapitel A.2.1 im Abschnitt über das Konzertleben auf den Solovki Beachtung; es wird zusammenfassend in Kapitel C im Abschnitt über verschiedene Typen von GulagLiedern thematisiert. Im September 1933, nur zwei Monate nach dem ersten, fand bereits das zweite »Laienkunsttreffen« des Dmitlag statt.744 Die Perekovka-Redaktion propagierte wiederholt, die »Laienkunst« in den Dienst des Kanalbaus zu stellen. Jeder Lagerpunkt sollte eine »Agitationsbrigade« haben, die eine »gewaltige Waffe im Kampf um das Arbeitstempo und um hohe Arbeitsqualität« darstellen sollte. Am zweiten Treffen nahmen laut einem Zeitungsbericht 14 »Agitationsbrigaden« und über 300 Häftlinge teil, welche ca. 100 Programmpunkte aufführten. Zu hören und zu sehen waren Lieder, Tänze, cˇastusˇki, Sketche, Akrobatik und Sportübungen. Hervorgehoben wurde der Gesang eines alten Zentralasiaten, welcher in der Nacmeny-Brigade der Lagerabteilung Nr. 12 mitgewirkt hat. Er habe »fröhliche« Lieder in seiner Muttersprache gesungen und sich auf »einem nationalen Musikinstrument« begleitet. Für die beste Musikbegleitung wurden der Bajanspieler Milenin und der Geiger Kacˇura aus der Lagerabteilung Nr. 3 gelobt. Des Weiteren sei der Vortrag des Bajanisten Jasenovskij »sehr filigran« und »meisterhaft« gewesen. Der Rezensent äußerte aber auch Verbesserungsvorschläge: Angesichts der musikalischen Begleitung von Sketchen forderte er, dass die Musik in den Dienst des Wortes gestellt werde und nicht umgekehrt. Es sollten allgemein schnellere Tempi bei Musikstücken gewählt werden. Die »Zentrale Agitationsbrigade«, welche bei diesem »Laienkunsttreffen« sehr erfolgreich war, ging anschließend auf Tournee durch das Dmitlag. Die Perekovka-Redaktion resümierte, dass noch viel Arbeit bevorstand, um ein hohes künstlerisches Niveau aller »Agitationsbrigaden« zu erreichen. Es sollte dagegen angegangen werden, dass ihre Arbeit nicht genügend gewürdigt wurde, denn sie vermochte es, sowohl zu Produktionserfolgen anzuregen als auch eine »vernünftige kulturelle Erholung« zu bieten. In der Perekovka vom 15. Oktober 1933 ist über die erste »Konferenz der 744 GARF: F. R-9414s, op. 4, d. 1, l. 130ob.

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schöpferischen Kräfte« des Dmitlag zu lesen.745 Ein Ergebnis der Konferenz stellte die Erkenntnis dar, dass das Dmitlag eigene Komponisten brauchte, um die Texte der »Agitationsbrigaden« mit Musik zu unterlegen. Diese verwendeten bis dahin nämlich bereits existierende Melodien, die den Texten oftmals nicht gerecht wurden. »Wir brauchen unsere eigene Musik«, so die Zeitungsredaktion. Es wurde geplant, nach der Konferenz »schöpferische Arbeit und Lehrtätigkeit zu entfalten«, damit das Lager »eigene Komponisten« erhalte. Konferenzen und sogenannte Treffen der Häftlinge stellten keine Seltenheit im Dmitlag dar. Im Januar 1934 trafen sich beispielsweise 380 »Kulturarbeiter« und Leiter der Lagerabteilungen, um zum ersten Mal über die »Kulturerziehungsarbeit« zu beraten, und im Herbst 1934 fand das erste Treffen der Lagerkorrespondenten und Schriftsteller des Dmitlag statt,746 denen Maksim Gor’kij ein Grußwort sandte und vor denen der Schriftsteller Vsevolod Ivanov eine Rede hielt.747 Anfang November 1933 veröffentlichte die Perekovka einen bemerkenswerten Artikel von I. Zˇigul’skij, welcher deswegen auffällt, weil er eine den offiziellen Zielen des Einsatzes von Musik durch »Agitationsbrigaden« entgegengesetzte Meinung vertrat. Darin wurde nämlich zur Pflege einer von der Propaganda unabhängigen Musik aufgerufen.748 Der Autor beschrieb die Arbeit des »Blasorchesters« der Lagerabteilung Nr. 3, welches er als eine »Stoßarbeiter-Musikbrigade« bezeichnete. Dieses bestand aus lediglich sechs Musikern, von denen alle außer dem Leiter Prikazcˇikov Laien waren und ihre Instrumente erst erlernten. In anderthalb Monaten, so der Autor, hat das Orchester 90 Stücke [!] vorbereitet; allein im Oktober war es 80-mal aufgetreten, und zwar nicht nur im Klub, sondern auch jeden Tag, unabhängig vom Wetter, während der Arbeit der anderen Häftlinge am Kanal sowie beim Ausrücken zur Arbeit. Allerdings bemängelt der Verfasser das Repertoire der Musikgruppe: Märsche, Galopps, Walzer, Volkslieder wurden gespielt, »aber der Kanalarmist möchte neben einem fröhlichen Marsch und einem Marschlied auch ernste Stücke klassischer und neuer Komponisten hören.« Um dies zu verändern, schlug der Autor vor, das Orchester mit neuen Stücken zu versorgen und einen Theorieunterricht für die Musiker zu organisieren. Es handelte sich dabei um eine Ausnahmeerscheinung in der Perekovka, und es bleibt rätselhaft, warum dieser Artikel überhaupt veröffentlicht werden konnte. Er kann als ein Hilferuf gelesen werden und lässt die Vermutung zu, dass es sich bei seinem Autor um einen professionellen Musiker gehandelt haben könnte. 745 746 747 748

GARF: F. R-9414s, op. 4, d. 1, l. 138ob. GARF: F. R-9414s, op. 4, d. 1, l. 193, 270. Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 68. GARF: F. R-9414s, op. 4, d. 1, l. 157ob.

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Die »Blasmusikbrigaden« des Dmitlag Im Januar 1934 legte der stellvertretende Dmitlag-Leiter in einem Erlass die Größe der damals im Dmitlag bestehenden Blasorchester fest, damit, so hieß es in diesem Dokument, möglichst viele »Kanalarmisten« mit Musik »versorgt« wurden: Es handelte sich um sechs Orchester mit insgesamt 145 Musikern, welche sich in 1 x 36, 3 x 25 und 2 x 17 Musiker aufteilten. Das Instrumentarium der Orchester sollte so beschaffen sein, dass diese sich in Brigaden zu zwölf Musikern aufsplitten konnten.749 Am 31. Mai 1934 erging schließlich ein Erlass des Dmitlag-Leiters SemÚn Firin, wodurch eine »bessere Versorgung der Kanalarmisten mit Musik« erreicht werden sollte.750 Darin befahl er, die bereits bestehenden »Blasmusikmannschaften« in Brigaden zu zwölf Musikern aufzuteilen. Dadurch ergaben sich für das ganze Dmitlag laut Befehl 17 »Blasmusikbrigaden« mit insgesamt 204 Musikern. Nur zu Feierlichkeiten durften mehrere Brigaden zu einem Orchester zusammengezogen werden. In jedem der neun Bezirke des Lagers sollte die Stelle eines »Musikinstrukteurs« des KVO eingerichtet werden, welcher gleichzeitig Kapellmeister der vereinigten »Musikbrigaden« sein sollte. Die Gründung anderer Blasmusikzirkel, deren Beteiligte nicht von der Arbeit freigestellt waren, wurde verboten, weil solche Häftlinge, so das Dokument, sowohl schlecht arbeiteten als auch schlecht musizierten. Als Leiter aller »Blasmusikbrigaden«, des Sinfonieorchesters sowie der »Musikmannschaft« der Wache wurde der »Musikinspektor« des KVO Miˇ ernjak eingesetzt.751 chail C Pflicht der »Blasmusikbrigaden« war es, beim Appell, beim Ausrücken der besten Arbeiterbrigaden zur Arbeit, bei ihrer Rückkehr sowie während der Arbeit anderer Häftlinge zu spielen. Eine dieser »Blasmusikbrigaden« ist auf einem Foto in der Zeitschrift Na ˇsturm trassy zu sehen.752 Zu den Aufgaben der Leiter der »Musikbrigaden« gehörte die Organisation und Leitung von Zirkeln für Saiteninstrumente753 und Chören auf jedem Arbeitsabschnitt. Des Weiteren waren sie für die musikalische Gestaltung der Auftritte der »Agitationsbrigaden« zuständig und hatten Abende der »Laienkunst«, des Massengesangs, der Massenspiele und Tänze zu veranstalten. Ein Musiker der »Blasmusikbrigaden« hatte, laut dem Erlass vom 31. Mai 1934, täglich Folgendes zu leisten: Er musste eine Stunde lang während des Appells spielen, drei Stunden lang begleitend zur Arbeit der anderen Häftlinge, 749 750 751 752 753

GARF: F. R-9489, op. 2, d. 45, l. 62. GARF: F. R-9489, op. 2, d. 47, l. 89, 89ob. GARF: F. R-9489, op. 2, d. 49, l. 331. Na ˇsturm trassy, 1936, Nr. 1, S. 47. Nennungen von Musikinstrumenten in vorliegenden Quellen lassen darauf schließen, dass damit eher Zupf- als Streichinstrumente gemeint waren.

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zwei Stunden lang sollte er üben, drei Stunden lang im Klub, in den Baracken der besten Arbeiter oder im Freien auftreten und eine Stunde lang mit Gesangs- oder Zupfinstrumentenzirkeln proben. Dies ergab einen zehnstündigen Arbeitstag – eine Zumutung für jemanden, der ein Blasinstrument spielt. Viermal im Monat sollten sich alle »Blasmusikbrigaden« zu einer gemeinsamen Probe zusammenfinden. Sie waren nach dem Vorbild einer militärischen Blaskapelle unter Einhaltung »strengster Disziplin« zu organisieren. Für die Musiker war eine gute Uniform vorgesehen, die im Winter durch warme Kleidungsstücke ergänzt werden sollte, was ein Privileg gegenüber anderen Häftlingen darstellte. Des Weiteren sollten sie mit besserem Essen versorgt werden. Bemerkenswerterweise wurde hierbei ein großer Unterschied zwischen denjenigen, die in Blasorchestern und denjenigen, die in Sinfonieorchestern spielten, gemacht. Ende Mai 1934 erging nämlich ein Erlass von Firin, in dem jedem Posten im Lager eine Verpflegungskategorie zugeordnet wurde.754 Hiernach wurden aus der Zahl der Häftlinge, die an der »Kulturarbeit« beteiligt waren, nur ein Dirigent sowie ein Blasorchestermusiker in der höchsten »verstärkten Versorgungskategorie« verpflegt. Regisseure, Schauspieler, Mitglieder von »Agitationsbrigaden«, »Erzieher« u. a. wurden in die mittlere Kategorie eingestuft, wogegen Pianisten, Sinfonieorchestermusiker und Bibliothekare mit der Allgemeinheit der Häftlinge in der niedrigsten Kategorie verpflegt wurden. Blasorchestermusiker wurden demnach im Vergleich zu anderen Musikern am meisten geschätzt. Im Juli 1934 feierte das Blasorchester des Chlebnikovskij-Bezirks, laut der Perekovka, sein einjähriges Bestehen. Hier arbeitete, so berichtete die Zeitung, der Komponist Gavorskij. Im Repertoire hatte das Orchester die Musikvorführungen 1. Mai sowie Eine Million Kubikmeter.755 Der Titel des zweiten Stücks lässt darauf schließen, dass es zur besseren Arbeit am Kanal aufrief. Vom Orchester des Juzˇnyj-Bezirks wurde im November 1934 berichtet, dass es von zwölf auf 24 Personen angewachsen war und sein Repertoire, welches früher aus Unterhaltungsmusik bestanden hatte, durch Stücke von Wagner, Bizet, Beethoven, Mozart u. a. erweitert hat.756 Die Mitglieder des Orchesters haben zehn Zupfinstrumentenzirkel geleitet und eine Instrumentenbauwerkstatt ins Leben gerufen, in der bereits 56 Instrumente wieder instand gesetzt werden konnten. Diese Arbeit war von den Häftlingen Agafonov, Bykov und Provatorov initiiert worden. Dadurch konnte Musik, so die Zeitung, beim Ausrücken der Häftlinge zur Arbeit, während ihrer Arbeit sowie während der Freizeit am Abend erklingen. 754 GARF: F. R-9489, op. 2, d. 47, l. 90 u. 244 – 268. 755 GARF: F. R-9414s, op. 4, d. 1, l. 270. 756 GARF: F. R-9414s, op. 4, d. 1, l. 313ob.

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Im Juli 1934 wurde ein lagerübergreifendes Treffen der Musiker veranstaltet, bei dem »Musikinstrukteure« und »Kapellmeister des Dmitlag« anwesend waren.757 Zur Sprache kam, dass die »Kulturerziehungsstellen« die Rolle der Orchester unterschätzten. Leiter der Lagerabteilungen haben Musikern, die sich auf einer Tournee durchs Lager befanden, nicht einmal eine minimale Versorgung mit Übernachtungsplätzen geboten. Hinzu kam, dass die Tourneen schlecht geplant gewesen waren: Es hat Arbeitsabschnitte gegeben, auf denen Orchester nur einmal im Monat spielten, während in anderen das Orchester täglich spielte und dementsprechend keine stimulierende Wirkung mehr ausüben konnte. Davon dass die Leiter der »Kulturerziehungsstellen« sich zu wenig um die Musikarbeit kümmerten, zeugen auch mehrere Zeitungsartikel, in denen die schlampige Aufbewahrung der Musikinstrumente beklagt wird, weswegen diese nicht mehr benutzt werden konnten.758 Im Oktober 1934 rief die Perekovka erneut zur lagerumfassenden »Schau der Musik- und Chorzirkel« auf, die am 7. November, dem 17. Jahrestag der Oktoberrevolution, stattfinden sollte.759 Ihr gingen Ausscheide in jedem Lagerpunkt und, als nächsthöhere Stufe, in jedem Lagerbezirk voraus. Der Jahrestag sollte mit »neuen munteren Liedern« begangen werden. Zu dieser Veranstaltung konnten keine weiteren Quellen aufgefunden werden, jedoch zu der »Laienkunstschau« im Jahr 1935.

Die »Laienkunstschau« 1935 ˇ ernjak zum einIm Sommer 1935 berichtete der »Musikinspektor« Michail C jährigen Erscheinen der Lagerzeitschrift Na ˇsturm trassy in einem mit Pojusˇcˇaja trassa (Singende Trasse) überschriebenen Artikel über die Vorbereitungen zur »Laienkunstschau« des Dmitlag, welche im August 1935 stattfinden sollte.760 1934 hatte es im Lager 71 Musik- und Chorzirkel mit wenigen Teilnehmern ˇ ernjak. gegeben, 1935 gab es bereits 287 Zirkel mit 2.500 Mitgliedern, so C Zum Vergleich sei hier die Zahl der Schauspielzirkel im Dmitlag Anfang 1936 angeführt, welche im Artikel Kanaloarmejskij teatr (Das Kanalarmisten-Theater) von Anatolij Pavlov zu finden ist:761 Es handelte sich dabei um 95 Zirkel, die ˇ echov und Ostrovskij im Repertoire hatten. Es war, hauptsächlich Stücke von C nach Pavlov, üblich gewesen, dass vor Theatervorführungen ein Blasorchester spielte. Dass die Zahl der Musikzirkel im Dmitlag die der Theaterzirkel so deutlich überstieg, ist als eine Ausnahme innerhalb des Gulag zu werten. Zu757 758 759 760 761

GARF: F. R-9414s, op. 4, d. 1, l. 268ob. Bsp.: GARF: F. R-9414s, op. 4, d. 1, l. 268ob. GARF: F. R-9414s, op. 4, d. 1, l. 300ob. ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 24 f. C Pavlov, Anatolij: »Kanaloarmejskij teatr«, in: Na ˇsturm trassy, 1936, S. 40.

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rückzuführen ist dies wahrscheinlich auf die rege Tätigkeit des »Musikinspektors« des Dmitlag sowie viele musikalisch vorgebildete Häftlinge. ˇ ernjak weiter, haben im ganzen Lager »Schauen« in den Im Juli 1935, so C einzelnen Lagerpunkten und anschließend in den Lagerbezirken mit insgesamt ˇ ernjak in seinem 3.000 Teilnehmern stattgefunden. Auf die besten Beiträge geht C Artikel näher ein. Er konstatiert als Neuerung, dass die Zirkel für Saiteninstrumente, die aus Mandolinen, Gitarren und Balalaikas bestanden, oftmals andere Instrumente miteinbezogen, darunter Schlaginstrumente, Streicher und, ˇ ernjaks Sicht hervorhebenswert, auch Bläser. Er stellt die Auftritte von vier aus C Orchestern heraus, darunter des Orchesters der Volzˇskaja-»Agitationsbrigade« mit einer selbst gebauten Jazz-Geige [?], einem Banjo und einer Oboe sowie von drei Orchestern der nacionaly (Synonym für nacmeny), beispielsweise des Orchesters des Vostocˇnyj-Bezirks mit den Instrumenten Tar,762 KamanÅa,763 zwei Duduks764 und Dgol.765 Unter den Instrumentalisten hebt der »Musikinspektor« mehrere virtuose Balalaika-Spieler, Gitarristen, Bajanisten sowie einige nacmeny hervor. Dem Gitarristen Sinicyn, der keine Noten lesen konnte, war es, so ˇ ernjak, gelungen, ein »schweres« Präludium von Bach, welches er im Radio C gehört hat, »fast fehlerlos« nachzuspielen. ˇ ernjak die große Die Chöre und Gesangsensembles betreffend, unterstreicht C Zahl solcher Gruppen unter den nacionaly : Fast alle Nationalitäten hatten beim Bau des Moskau-Wolga-Kanals ihre eigenen Chöre. An erster Stelle nennt er ein kürzlich ins Leben gerufenes »Ensemble des chorischen Zigeunerliedes«. Es handelte sich dabei bereits um den dritten Chor der Sinti und Roma im Dmitlag. ˇ ernjak ein Ukrainerinnen-Ensemble, welches er mit Des Weiteren erwähnt C 766 dem Pjatnickij-Chor vergleicht, einen deutschen sowie einen tschetschenischinguschischen Chor. Ein ukrainischer Chor habe in Dmitrov mit großem Erfolg ˇ ernjak, die Operette Natalka Poltavka aufgeführt.767 Alle erwähnten Chöre, so C sangen viele Lieder über den Bau des Kanals, bis auf den deutschen Chor, der nur deutsche Volkslieder im Repertoire gehabt haben soll. 762 Tar – orientalische Langhalslaute; im Kaukasus und Mittelasien verbreitet. Ihr Korpus ist achtförmig und sie wird gezupft gespielt. During, Jean: »Ta¯r«, in: Sadie, Stanley (Hg.): The New Grove Dictionary of Musical Instruments, Bd. 3, 1984, S. 526. 763 KamanÅa – armenische Langhalslaute, welche mit einem Bogen gestrichen wird. During, Jean u. a.: »Kama¯nche«, in: Sadie, The New Grove Dictionary of Musical Instruments, Bd. 2, 1984, S. 353 f. 764 Duduk – armenisches oder georgisches Doppelrohrblattinstrument. At‘ayan, Robert: »Duduk«, in: Sadie, The New Grove Dictionary of Musical Instruments, Bd. 1, 1984, S. 615. 765 Dgol – armenische Trommel. At‘ayan, Robert: »Dhol«, in: Sadie, The New Grove Dictionary of Musical Instruments, Bd. 1, 1984, S. 560. 766 Ein 1911 von Mitrofan Pjatnickij gegründeter Chor für russische Volksmusik, welcher bis heute fortbesteht. Offizieller Internet-Auftritt: http://www.pyatnitsky.ru/ (letzter Zugriff am 8. Januar 2010). 767 Gemeint ist möglicherweise die Oper des ukrainischen Komponisten Nikolaj Lysenko.

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ˇ ernjak denjenigen ein, die sich das MusiEinen besonderen Platz räumt C zieren selbst beigebracht haben: einem Rom namens Ivanov, der einen »schweren Cz‚rd‚s« auf einer Geige spielte, dem »Alten« Savcˇenko, der eine Geige selbst gebaut haben soll, um abends in der Baracke zu spielen, und dem »Kanalarmisten« Beloded, welcher Tänze auf einer selbst gebauten Zimbel spielte. Eine ebenfalls selbst gebaute Zimbel soll auch ein Häftling namens Pavlovicˇ besessen haben. Weitere Instrumente haben sich Eldyrev und Bojcov gebaut. Der erste einen »Agacˇchomuz«,768 zu dem er Lieder der Kumyken sang, und der zweite eine »Bass-Gitarre«. Schließlich berichtet der Artikel von den sogenannten Komponisten des Kanalbaus: A. Sˇapovalov, Strucˇkov, Goncˇarov, Tkacˇenko, Chochlov, Savel’ev und A. Zav’jalov. Sie alle hätten bereits mehrere Stücke geschrieben, ˇ ernjak nennt ihre Stücke jedoch »in die vom Kanalbau inspiriert worden seien. C vielerlei Hinsicht hilflos«. Chochlov und Savel’ev komponierten hauptsächlich für Blasorchester, Strucˇkov für Gitarre und die übrigen konzentrierten sich auf das Lied. Die jungen Komponisten bekamen Unterricht, so der Autor ; von wem ˇ ernjak ihr Lehrer, dieser erteilt wurde, wird nicht gesagt. Möglicherweise war C denn durch die Komponistenausbildung bei Boleslav Javorskij brachte er die Voraussetzungen dafür mit. Der junge Sˇapovalov konnte zwar keine Noten lesen, ˇ ernjak weiter. Eines seiner Lieder mit träumte aber vom Konservatorium, so C dem Titel Gordost’ (Stolz) für ein Gesangsduo ist dem Artikel beigefügt. Der Text ˇ ernjaks Angabe, ebenfalls vom Komponisten. des Liedes stammte, nach C

ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 25. Abb. 31: A. Sˇapovalov : Gordost’ (Stolz). C 768 Agacˇ-kumuz – dagestanisches Zupfinstrument. Balter, Fachwörterbuch Musik, 1976, S. 260.

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Der Text erzählt vom Feierabend im Lager, von den neuen Liedern des Kanalbaus, die in den Herzen der Häftlinge klingen. Doch nicht einmal die schönsten Lieder könnten das wundervollste Land besingen, in dem die Häftlinge lebten, so das Fazit des Liedes. ˇ ernjaks angehängt ist, stammt vom Ein weiteres Lied, welches dem Artikel C Kapellmeister des Juzˇnyj-Bezirks Zav’jalov und trägt den Titel Molva o kanale (Die Kunde vom Kanal).

ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, Abb. 32: Zav’jalov : Molva o kanale (Die Kunde vom Kanal). C 1935, S. 25.

Rhythmisch entsprechen die ersten vier Takte des Liedes der Internationale. Der Text erzählt vom Bau eines Staudamms sowie von einem Zementarbeiter, welcher vom Bau »verzaubert« ist und ihn besingt. Das Lied endet mit einer Vision: Der Protagonist schildert, wie die Wasser der Wolga zum »stalinschen« Moskau fließen werden. Die Texte beider Lieder wirken oftmals unbeholfen und sind an mehreren Stellen semantisch unlogisch. ˇ ernjak berichtet weiter in seinem Artikel, dass die Komponisten neben dem C eigenen Schaffen die Aufgabe hatten, Lieder, welche beim Kanalbau gesungen wurden, zu sammeln und aufzuzeichnen. Neue Lieder seien beim Ausrücken der Häftlinge zur Arbeit erklungen, sie hätten die Häftlinge während der Arbeit »beflügelt« und ihre Freizeit erfüllt. Besungen worden sei dabei »das liebste Kind ˇ ernjak, dass unter diesen – der Kanal«. Folgt man seinem Artikel, so glaubte C Liedern solche vorhanden waren, die des bedeutenden Kanalbaus würdig waren

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und mit denen in Zukunft »der heroischen Tage, des kämpferischen Pathos und des Enthusiasmus der Erbauer des größten Kanals« gedacht werden konnte.769 Die Musikaktivitäten der nacmeny Wie die bisherige Schilderung der Musikaktivitäten im Dmitlag gezeigt hat, nahmen darin inhaftierte Sinti und Roma einen wichtigen Platz ein. Über ihr Musizieren äußert sich der »Musikinspektor« öfter als über das der anderen nacmeny, und zwar nicht weil sie quantitativ eine wichtige Rolle im Musikleben ˇ ernjak ihre Teilnahme am Musikledes Dmitlag gespielt hätten, sondern weil C ben im Lager als besonders wichtig bewertete (vgl. das Ende dieses Abschnitts). Im Kapitel über die Solovki ist bereits von einem Ensemble der Sinti und Roma sowie einer Romni, die zur eigenen Gitarrenbegleitung sang, berichtet worden. Sie trugen ihr ursprüngliches Repertoire wie z. B. »Zigeunerlieder« vor. Diese wurden vom »Musikinspektor« jedoch nicht gern gehört, wie aus seinem im Mai 1935 verfassten Artikel für die Zeitung Na ˇsturm trassy hervorgeht. Darin befasst er sich mit der Musikausübung der »Zigeuner« und stellt diejenigen als Vorbilder hin, die neue Lieder anstimmten.770 Diesem Artikel nach gab es im Dmitlag einen Chor der Sinti und Roma, welcher zur Gitarrenbegleitung sang. Ein weiteres Begleitinstrument war ein »Zigeuner-Tamburin«. Gesungen wurden zwar alte Melodien, darunter die Weise Palso, jedoch mit neuen Texten über die Arbeit, den Kanal und dort ˇ ernjak zitiert zwei Mitarbeitende Pferde. Es ist dazu auch getanzt worden. C glieder des Ensembles, die sich von ihren nomadisierenden Vorfahren distanzierten und »sowjetisch leben« wollten. Beim Bau des Kanals haben sie auch Lesen und Schreiben gelernt. »Wir betteln nicht mehr mit dem Tamburin um Geld, tragen unsere Fröhlichkeit nicht in eine Kneipe zu Händlern und Gutsherren, sondern singen für unsere Genossen, die Stoßarbeiter unter den Kaˇ ernjak, eine Romni. Es ist möglich, dass der »Musikinnalarmisten«, so, laut C spektor« diese Worte der Frau in den Mund gelegt hat, denn sie stimmten mit seinem Anspruch an nationale Minderheiten überein, welcher in seinen Artikeln formuliert wird. ˇ ernjak, war das neue »ZigeuBei der Arbeit am Kanal, in der Grube, so C nerlied« entstanden und wurde von den besten »Stoßarbeitern« gesungen. Das Singen der neuen Lieder bedeutete für ihn eine neue Einstellung, war Ausdruck der Umerziehung zum neuen sowjetischen Menschen. Im neuen »Zigeunerlied« hörte er »Zuversicht im Blick auf die Zukunft« und »Freude an der Stoßarbeit«. ˇ ernjaks Artikel wird von zwei gestellten Bildern von musizierenden HäftC lingen und Liedtexten ergänzt. Darunter befindet sich ein Text der zwanzigˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 25. 769 C ˇ ernjak, Michail: »Pesni cygan-kanaloarmejcev«, in: Na ˇsturm trassy, 1935, Nr. 5, S. 13. 770 C

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ˇ etverikova, welcher den Titel Synocˇek (Söhnchen) jährigen Sängerin Polja C trägt: Beim Kanalbau wächst mein Söhnchen Tag und Nacht. Er wird ein ehrlicher Arbeiter werden. Er wird so sein, wie ihr alle – ein Mensch, Er wird überhaupt nicht stehlen, Wird das Nomadenleben vergessen. Nicht umsonst graben wir Kanäle aus – Wir werden eine Kolchose für die Zigeuner bauen, Den Sohn werden wir zum Helden erziehen.771

Die ungeheuren Schwierigkeiten, welche damit verbunden waren, ein Kleinkind im Lager großzuziehen, werden erwartungsgemäß mit keinem Wort erwähnt. ˇ erMusizierende Sinti und Roma werden auch in einem weiteren Artikel C njaks angesprochen, in dem er die Musikausübung der nacmeny beschreibt.772 In der Einleitung begründet er die künstlerische Betätigung der »Kanalarmisten« damit, dass durch den gemeinsamen Enthusiasmus und die Größe des Bauvorhabens der Einzelne seine Arbeit als ehrenhaft, heroisch und feierlich empfand. Daraus entsprangen Stolz, Liebe zum Leben, Freundschaften sowie das Gefühl der eigenen Vollwertigkeit, welche künstlerische Versuche bewirkten. Die »Kanalarmisten« suchten nach neuen Melodien und Rhythmen, die ihrer ˇ ernjak. Laut diesem Artikel gab es gemunteren Stimmung entsprachen, so C nügend Musikinstrumente für die nacmeny an öffentlichen Begegnungsorten, die eigens für sie eingerichtet worden waren. 1935 hat es neben zahlreichen Solisten elf Orchester der nacmeny gegeben, die ihre Instrumente jedoch vielfach selbst gebaut haben. Sechs Musiker werden namentlich erwähnt, weil sie auch komponierten. ˇ ernjak weiter. Bei Es gab viel mehr Sänger als Musiker unter den nacmeny, so C der »Laienkunstschau« des Dmitlag 1935 haben sich ca. 60 Chöre der nacmeny und eine Vielzahl von Solisten präsentiert. Die Ukrainer hatten die meisten 771 þQ [Q^Q\V ]_Z bl^_hV[ @_UaQbcQVc U^Y Y ^_hY, –

2dUVc hVbc^l] _^ aQR_hY]. 2dUVc _^, [Q[ SbV Sl – \oUY, 3_a_SQcm b_SbV] ^V RdUVc, ;_hVSdo WYX^m XQRdUVc. =l ^V Xap [Q^Q\l a_V] – 5\p glTQ^ [_\f_X `_bca_Y], Bl^Q bUV\QV] TVa_V].

ˇ ernjak, »Pesni cygan-kanaloarmejcev«, 1935, S. 13. C ˇ ernjak, Michail: »Muzyka lagernikov-nacionalov«, in: Na ˇsturm trassy, 1935, Nr. 5, S. 22. 772 C

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Chorzirkel, deren Repertoire im Vergleich zum Vorjahr sehr viel weiter in Richtung einer neuen Musik fortgeschritten war, welche »von der Sowjetischen ˇ ernjak nennt des Weiteren Ukraine der Arbeiter und Bauern geboren wurde«. C tatarische, usbekische, georgische, einen baschkirischen sowie einen tschetschenischen Chor. Schließlich erwähnt er auch zwei »Zigeunerchöre« als eine »ganz besondere Erscheinung der Lagermusikkultur«. Sie hätten »nichts mit dem platten Zigeunertum [cygansˇˇcina, abwertend gemeint] in Restaurants« zu tun, sondern seien »wahrhaft volkstümliche Musikvereinigungen, welche die neue Wirklichkeit gedanklich aktiv verarbeiten und mit einer saftigen [!] und starken Melodie sowie neuen Worten besingen.« Bilanz des »Musikinspektors« nach drei Jahren Dmitlag – »Jahre in Dur« ˇ ernjak eine Bilanz des musikalischen Lebens im Im Januar 1936 zog Michail C Dmitlag nach drei Jahren seit seiner Gründung.773 Er nannte die »Laienkunst« einen unverzichtbaren Bestandteil der Arbeit und des Lebens der »Kanalarmisten« und führte als Beispiele die Bilder der autodidaktischen Maler, die »verschnörkelt geschmückten Bögen« vor den Wachthäusern, Schleusen und an anderen Orten, die Lagerzeitschrift Na ˇsturm trassy, die Bücher der Biblioteka »Perekovki« (Bibliothek der »Perekovka«), die »übermütigen« cˇastusˇki der »Agitationsbrigaden«, die »fröhlichen Lieder« und den Trommelwirbel sowie das Blech der Lagerorchester auf. Tänze, Lieder und Musik nach einem Arbeitstag seien, so der »Musikinspektor«, zum festen Bestandteil der Freizeit der »Kanalarmisten« geworden. Dies ließ ihn ausrufen: »Eine singende Trasse!« ˇ ernjak das Als Erscheinungsformen der Musik im Lagerleben nannte C Wecksignal einer Fanfare am Morgen, die Ankündigung des Feierabends durch eine Trompete, die Klänge einer Ziehharmonika beim Wachthaus während des Ausrückens der Häftlinge zur Arbeit und ihrer Rückkehr in die Zone sowie das Spiel eines Orchesters, welches den »Kanalarmisten« voranging, wenn sie zur ˇ ernjak, konnte das Lied der Trasse Arbeit auszogen. In dieser Umgebung, so C geboren werden, »ein kämpferisches Lied voller Glauben an den Sieg«, ein Lied des »neuen unerwarteten und wundervollen Arbeitslebens«.774 ˇ ernjak beispielsweise, dass sie für die Aus der Orchesterpraxis berichtete C anderen Häftlinge in der Mittagspause Polkas und die Volkslieder Jablocˇko (Äpfelchen) oder Barynja spielten, während die anderen Häftlinge dazu tanzten. Beliebt seien auch kaukasische Tänze gewesen – Kabardinskaja (Kabardinisch), Lesginka und Pesn’ Sˇamilja (Lied des Sˇamil’). Orchester haben Chöre ins Leben gerufen und mit ihnen Lieder sowjetischer Komponisten sowie solche, die beim Kanalbau entstanden waren, eingeübt. Auch klassische Musik ist gespielt worˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 47 – 50. 773 C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 47. 774 C

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den, üblicherweise am Beginn von Konzerten, darunter die Ouvertüre zu Gioachino Rossinis Tankred, Teile aus Ludwig van Beethovens Egmont und Franz von Supp¦s Komödie mit Liedern Dichter und Bauer.775 Diese Berichte lassen sich nicht mehr überprüfen, zeigen aber zumindest, dass der »Musikinspektor« sich dessen bewusst war, dass nicht allein ideologisch ausgerichtete Musik zur Umerziehung und Produktivitätssteigerung beitragen konnte. ˇ ernjak, mit einem Einem Orchester ist es im August 1934 gelungen, so weiter C Mal alle Arbeitsverweigerer eines Arbeitsabschnitts zu »liquidieren«. Dies bedeutete, dass sie zu guten Arbeitern geworden waren und soll dadurch erreicht worden sein, dass die Musiker den im Karzer eingesperrten Arbeitsverweigerern angeboten hätten, sie mit Musik zur Arbeit zu begleiten, wenn sie anschließend gut arbeiten würden. Durch das Spiel der Orchester konnte demnach die schlechte Produktivität einiger Brigaden in gute umgewandelt werden. Das Orchester des Central’nyj-Bezirks hat als erstes aus eigener Initiative heraus angefangen, Konzerte für Stachanov-Arbeiter zu veranstalten. Orchester haben des Weiteren aus dem Lager entlassene Häftlinge verabschiedet sowie neu eintreffende willkommen geheißen.776 ˇ ernjak, stammte aus schwierigen LeDer Großteil der Lagermusiker, so C bensverhältnissen. Diese Aussage macht deutlich, dass die musikalischen Bemühungen des KVO sich auf die »sozial nahen Elemente« richteten, welche nicht wegen »konterrevolutionärer Verbrechen« verurteilt waren. Aus ihrem früheren »freudlosen Leben« hätten sich diese »sozial nahen« Häftlinge Schläue angeeignet, welche sie nun einsetzen konnten, um beispielsweise Musikinstrumente zu bauen, und zwar nicht nur die relativ einfach zu bauenden Balalaikas und Gitarren. Beispielsweise hat der Häftling Beloded aus einem alten Drahtseil Saiten für eine selbst gebaute Zimbel hergestellt. Der Häftling Savcˇenko wollte seine selbst gebaute Geige für nichts in der Welt eintauschen. Eine solche Geige besaß auch Ivanov aus dem Central’nyj-Bezirk. Der Häftling Kovalenko hat eine »JazzGeige« gebaut, indem er einen Trichter auf der Geigendecke angebracht hat. Der im Vodoprovodnyj-Bezirk tätige Häftling Bojcov hat das dortige Orchester erfreut, indem er durch die Verlängerung des Griffbretts einer alten Gitarre eine Art Kontrabass geschaffen hat.777 Auch bauten Häftlinge anderer Nationalitäten als der russischen ihre eigenen Instrumente: Die Häftlinge Sˇaripov und Navruzov, welche den Namen nach zu urteilen aus Zentralasien stammten, mu-

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ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48 f. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49; Muzyka trassy, Sbornik pervyj. Izdanie kul’turnoC vospitatel’nogo otdela Dmitlaga NKVD SSSR, 1936, S. 4. Diese Liedersammlung ist reproduziert auf: The Gulag press. 1920 – 1937, 2000, Mikrofiche 164 – 166.

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sizierten auf einer selbst gebauten Dojra sowie einem Dutar.778 Im SˇcˇukinskijBauabschnitt hat es sogar ein Nacmeny-Orchester gegeben, in dem alle Instrumente selbst gebaut waren.779 Im Laufe der Zeit ist die Zahl der Musiker angewachsen und die Zusammensetzung der Orchester vielfältiger geworden. Besonders hervorgehoben ˇ ernjak ein Jazz-Orchester unter der Leitung von A. Solov’ëv, in dem wird von C neben Gitarren, Mandolinen und Balalaikas auch eine Geige, eine Trompete sowie Geräuschinstrumente vorhanden waren. In Orevo und in Dmitrov soll es ebenso Jazz-Orchester gegeben haben. Der »Musikinspektor« geht des Weiteren auf Musikzirkel der weiblichen Häftlinge ein. Als Solistin hebt er beispielsweise Muchamedzˇan hervor,780 welche virtuos auf einer Ziehharmonika mit Glöckchen gespielt haben soll. Im Jahr 1936 hat es 14 von der Arbeit freigestellte Orchester mit 256 Musikern im Dmitlag gegeben sowie ca. 300 »Laienmusikzirkel und -orchester« mit über 3.000 Teilnehmern, die auch Zwangsarbeit leisten mussten. Chöre wurden dabei nicht mitgezählt.781 Der »Musikinspektor« nimmt die vielen Chöre und Gesangssolisten des Dmitlag genauer in den Blick und erwähnt abschließend auch fünf junge Komponisten, welche Märsche und Lieder über den Kanalbau geschrieben haben sollen. Auf einige Komponisten geht er ausführlicher ein, wodurch ersichtlich wird, dass er Laienmusiker meinte, weil ihre Arbeitsweise nicht der eines professionellen Komponisten entsprach. Als Beispiel sei hier Danja Senderichin genannt, welcher das im Dmitlag angeblich »äußerst populäre« Lied I zˇizn’ budet[,] i kanal budet (Es wird ein Leben und auch einen Kanal geben) komponiert haben soll: Vor der Lagerhaft war er ein Laienmusiker gewesen; zum Komponisten war er erst im Lager geworden und hat viele Stücke für die »Zentrale Agitationsbrigade« geschrieben, in der er Mandoline spielte. Er komponierte ausgehend von bereits existierenden Melodien, beispielsweise »Zigeunerliedern«, die er an seinen Geschmack anpasste. Eines seiner Stücke ist ein Foxtrott mit dem Titel Otdych stachanovca (Die Rast des Stachanov-Arbeiters) gewesen.782 ˇ ernjak, dass fast alle Musiker des Dmitlag vor der Haft Weiter berichtet C keinen Beruf erlernt haben und nach § 35, also als sogenannte tridcatipjatniki, 778 Dojra – eine südosteuropäische, kaukasische, zentralasiatische und südasiatische Rahmentrommel. Atanassov, Vergilij: »Daire«, in: Sadie, The New Grove Dictionary of Musical Instruments, Bd. 1, 1984, S. 536. Dutar – Langhalslaute des Mittleren Ostens und Zentralasiens. Baily, John/During, Jean: »Duta¯r«, in: Sadie, The New Grove Dictionary of Musical Instruments, Bd. 1, 1984, S. 638 f. ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. 779 C 780 Dieser Vorname verweist darauf, dass es sich nicht um eine Angehörige der russischen, sondern vermutlich einer zentralasiatischen Nationalität gehandelt hat. ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49 f. 781 C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 50. 782 C

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verurteilt worden waren. Erst im Dmitlag haben sie die Möglichkeit erhalten, zu lernen sowie der »Kunst zu dienen«. Dass zwischen dieser Sichtweise und der Realität Diskrepanzen bestanden, macht allein schon die Tatsache deutlich, dass ˇ ernjaks Artikel zwei Lieder beigegeben sind, von denen eines nicht aus der C Feder der von ihm erwähnten Komponisten stammt, sondern von dem professionell ausgebildeten Komponisten Sergej Protopopov (vgl. Kapitel A.2.3), der sich seit Dezember 1935 als Häftling im Dmitlag befand.783 Auch das zweite Lied Na ˇsturm lesa (Zum Sturm des Waldes) von Sˇalygin und N. Sˇcˇedrin ist vermutlich von professionell ausgebildeten Musikern geschrieben worden, weil ˇ ernjaks Auskunft, Stücke für ein Blasorchester setzen konnten. sie, nach C

ˇ ernjak, »Mazˇornye Abb. 33: Sˇalygin/N. Sˇcˇedrin: Na ˇsturm lesa (Zum Sturm des Waldes). C gody«, 1936, S. 50.

Der Text des Liedes handelt vom Abholzen der Wälder für den Kanalbau, von der fröhlichen und kämpferischen Arbeit. Er ruft zur zweifachen Übererfüllung des Plans auf und spricht davon, dass die Schneise im Wald in ein neues frohes Leben führen wird. ˇ ernjak beendete seine Bilanz damit, dass er die besondere Situation des C Kanalbaus hervorhob, in der die Musiker eine »glückliche Einigkeit« mit dem Publikum erleben konnten, und in der jedes neu komponierte Lied »sofort von den Arbeitern gesungen« wurde. Er nannte das neue Lied »ein kämpferisches Banner«, welches die Menschenmassen leitete und über sie befahl. Dieses Lied sei immer »frisch, lebensfroh« und müsse in Dur stehen. Der »Musikinspektor« zitierte den Kapellmeister Zav’jalov aus dem Dmitlag, dessen Aussage nach es keine Lieder der »Kanalarmisten« in Moll gegeben hat.784 Einen Einblick in das musikalische Leben im Dmitlag aus der Sicht eines inhaftierten professionellen Komponisten vermitteln Briefe von Sergej Protopopov, welche die allzu optimistische offizielle Sicht darauf relativieren. Auf 783 Briefe Protopopovs an verschiedene Personen, Abschriften von Javorskij. GCMMK: F. 329, Nr. 672, l. 27ob. ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 50. 784 C

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diese wird im Abschnitt über Protopopov an späterer Stelle dieses Kapitels eingegangen. Musizierende Frauenzirkel: Die Frauen-»Agitationsbrigade« des Novosel’cevskij-Arbeitsabschnitts und das Frauenorchester von Tanja Sˇevljakova Die bis Anfang 1935 einzige Frauen-»Agitationsbrigade« des Dmitlag bestand, so erfährt man aus einem Artikel von Igor’ Terent’ev in der Zeitschrift Na ˇsturm trassy, auf dem Novosel’cevskij-Arbeitsabschnitt. Ihre Mitglieder waren alle gemäß § 35 verurteilt worden und hatten im Lager zunächst zu den Arbeitsverweigerinnen gehört. Das auf »sowjetische Weise organisierte Kollektiv« hat sie jedoch verändert. Sie hätten angefangen, »heroisch« zu arbeiten und den Plan bis auf 200 Prozent zu erfüllen. Und sie hätten begonnen, Lieder zu singen, weil sie sich als Teil des »größten Arbeitskollektivs der Welt« gefühlt hätten. Aus Terent’evs Schilderung geht hervor, dass diese Frauen nicht von der allgemeinen Arbeit befreit waren. Die Gruppe ist im Dezember 1933 gegründet worden. Ihre Leitung oblag dem neunzehnjährigen Anatolij Sˇil’cov, wohlgemerkt einem Mann. Die Auftritte der anfänglich aus 16 Frauen bestehenden »Agitationsbrigade« richteten sich, so der Autor des Artikels, gegen Alkoholkonsum, Geschimpfe, Diebstahl und Arbeitsverweigerung. Auch sind kleinere Verantwortliche des Lagers, beispielsweise der Inspektor des Klubhauses, kritisiert worden. Zum Weltfrauentag am 8. März 1934 hat die Brigade den Erlass des Volkskommissars Genrich Jagoda über die Verbesserung des Lageralltags thematisiert. Im April 1934 sind den Frauen Kostüme, Schuhe und Strümpfe ausgehändigt worden, was ein Privileg gegenüber anderen Häftlingen darstellte. Innerhalb eines Jahres ist die Brigade 60-mal auf ihrem Arbeitsabschnitt und 34-mal auf anderen Arbeitsabschnitten aufgetreten. Sie hat auch erfolgreich vor der Kommission aus Moskau gesungen. Insgesamt soll sie 77 Programmpunkte im Repertoire gehabt haben. Ein Teil der ursprünglichen Mitglieder war zu dem Zeitpunkt, als der Artikel verfasst wurde, nicht mehr im Lager. Die letzten neun Teilnehmerinnen sollten am 8. März 1935 zum letzten Mal vor ihrer Freilassung in Dmitrov auftreten. Acht von ihnen sind fröhlich lächelnd auf einem Foto in Na ˇsturm trassy abgebildet, wobei eine Frau auf einer Ziehharmonika spielt.785 Über das Frauenorchester von Tanja Sˇevljakova berichtet ein Artikel in der dritten Ausgabe der Zeitschrift Na ˇsturm trassy von 1936, die dem Frauentag am 8. März gewidmet ist.786 Auf zwei Bildern, die dem Artikel beigegeben sind, ist zum einen die Leiterin des Orchesters mit einer Ziehharmonika und zum an785 Terent’ev, Igor’: »Zˇenskaja Novosel’cevskaja agitbrigada«, in: Na ˇsturm trassy, 1935, Nr. 3, S. 25. 786 »Lucˇsˇij, zˇenskij«, in: Na ˇsturm trassy, 1936, Nr. 3, S. 21 f.

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deren das ganze Orchester zu sehen, welches aus sieben Balalaika- und GitarreSpielerinnen sowie aus einer Ziehharmonika-Spielerin bestand. Das Orchester ist im Dezember 1934 von der »Stoßarbeiterin« Sˇevljakova gegründet worden, berichtet der Artikel. Am 5. März 1935 trat es bereits beim Bezirkstreffen der Frauen erfolgreich auf. Zu dem Zeitpunkt, als der vorliegende Artikel entstanden ist, sei es das beste Frauenorchester des Dmitlag gewesen. Das Orchester hat nach Gehör gespielt, sowohl Stücke aus dem Gedächtnis als auch solche, welche im Radio oder auf Schallplatten zu hören waren. In der Baracke des Orchesters ist nämlich ein Schallplattenspieler vorhanden gewesen. Die Gruppe hatte sich aber zum Ziel gesetzt, Noten zu lernen und danach zu spielen. Wie schon die Frauen-»Agitationsbrigade« des Novosel’cevskij-Arbeitsabschnitts war das Orchester nicht von der Arbeit mit der Allgemeinheit befreit. Einige Musikerinnen des Orchesters werden näher beschrieben: die achtundzwanzigjährige Marusja Mesˇkovskaja, welche elfmal vorbestraft war, aber im Lager zur »Stoßarbeiterin« geworden ist, Sˇura Vetlugina, die einen Banditen geheiratet hatte, dadurch vom rechten Weg abgekommen war und für zehn Jahre ins Lager gekommen ist, sowie die Veruntreuerin Katja Kirjuchina. Alle Orchestermusikerinnen seien gute Arbeiterinnen geworden, die am gesellschaftlichen Leben des Lagers aktiv teilnahmen und einfach »fröhliche Mädchen« waren. Die Leiterin, Tanja Sˇevljakova, soll eine schwierige Kindheit gehabt haben. Eine frühe und unglückliche Heirat hatte sie dazu gebracht, ein Verbrechen zu begehen, wofür sie mit zehn Jahren Lagerhaft bestraft wurde. Das Lager ist für sie, wie für viele andere, zur »Rettung aus der schwierigen Vergangenheit« geworden. Sie hat neue Freude am Leben bekommen und diese zusammen mit ihrem Orchester mithilfe von Musik weitergegeben. Die hier zusammengefassten Artikel machen deutlich, dass Musikvereinigungen von Frauen eine Seltenheit im Dmitlag darstellten. Dies kann mit daran gelegen haben, dass Frauen in der Mitte der 1930er-Jahre nur ca. 6 Prozent aller Gulag-Häftlinge ausmachten.787 Die Feierlichkeiten zum 100. Todestag Aleksandr Pusˇkins 1937 beging die Sowjetunion den 100. Todestag des Dichters Aleksandr Pusˇkin – »eine der größten kulturellen Unternehmungen des Jahres und eine der bedeutsamsten zudem«.788 Nicht nur in der zivilen Gesellschaft gab es zahlreiche Veranstaltungen und Maßnahmen zu diesem Jubiläum,789 sondern auch in den 787 Zemskov, Viktor : »GULAG (istoriko-sociologicˇeskij aspekt)«, in: Sociologicˇeskie issledovanija, 1991, Nr. 6, S. 23. 788 Schlögel, Karl: Terror und Traum. Moskau 1937, 2008, S. 198. 789 Darüber kann zusammenfassend in: Schlögel, Terror und Traum, 2008, S. 198 – 217, nachgelesen werden.

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Lagern. Die Zeitschrift des Dmitlag Na ˇsturm trassy widmete die zweite Ausgabe des Jahres 1937 dem Jubiläum. Darin sind mehrere Porträts des Dichters abgedruckt, mehrheitlich aufwendig in Farbe. Sie sind vermutlich im Dmitlag entstanden, denn inhaftierte Künstler sollen zu den Feierlichkeiten Bildnisse des Dichters gemalt haben, wie in der Zeitschrift berichtet wird.790 Des Weiteren finden sich darin Gedichte, darunter solche von Dmitlag-Häftlingen; eines davon ist auf Ukrainisch geschrieben – eine Demonstration dessen, dass nacmeny auch bei diesem Feiertag miteinbezogen wurden. Diese Ausgabe der Zeitschrift enthält auch die Vertonung von Pusˇkins Gedicht Solovej i roza (Die Nachtigall und die Rose) von Aleksandr Rozanov, welche im Abschnitt über den Kompositionswettbewerb des Dmitlag besprochen wird. Im Artikel Pusˇkinskie dni na trasse (Die Pusˇkin-Tage auf der Trasse) berichtet Roman Mirov über die Feierlichkeiten zum 100. Todestag des Dichters im Dmitlag. Daraus geht hervor, dass Musik dabei eine sehr wichtige Rolle gespielt hat. Zur Vorbereitung der Feierlichkeiten sind Pusˇkin-Zirkel ins Leben gerufen worden, die im Laufe eines Monats in ihrer Mehrheit täglich zusammengekommen sind. Die KVO-Instruktoren und -»Erzieher« haben sich intensiv durch das Lesen von Pusˇkins Werken auf die Feierlichkeiten vorbereitet und anschließend Gesprächsrunden und Lesungen in den Baracken initiiert. In allen Lagerpunkten sind »Pusˇkin-Kommissionen« eingerichtet worden. Viele der Dmitlag-Häftlinge hatten vor den Pusˇkin-Tagen keine Werke des Dichters gekannt, währenddessen aber seine Gedichte auswendig gelernt und vorgetragen. Die Vorbereitungen der Feier sollen sich jedoch keinesfalls negativ auf die Arbeitsproduktivität ausgewirkt haben.791 Die »Laienkunstzirkel« haben zur Feier Vorführungen vorbereitet, welche teilweise auf den dem Artikel Mirovs beigegebenen Fotografien zu sehen sind. ˇ ernomor aus Das Blasorchester des Chlebnikovskij-Bezirks hat den Marsch des C Glinkas Oper Ruslan i Ljudmila sowie den Slawischen Tanz aus Dargomyzˇskijs Oper Rusalka einstudiert. Kunstlieder nach Pusˇkins Gedichten sind zur Gitarren- oder Bajan-Begleitung gesungen worden, darunter Glinkas Ja pomnju cˇudnoe mgnoven’e (Ich erinnere mich an den wundervollen Augenblick) und Borodins Dlja beregov otcˇizny dal’nej (An die Ufer der fernen Heimat). Orchester ˇ ajkovskij, Musorgskij und Glinka, denen Werke von Pusˇkin hatten Werke von C zugrunde liegen, eingeübt. Die Musik der »Laienzirkel« soll einen hohen Stellenwert während der Pusˇkin-Abende gehabt haben.792 Die Vorführung der »Zentralen Agitationsbrigade« der nacionaly ist durch feierliche und traurige Musik eröffnet worden, die auf nationalen Musikin790 Mirov, Roman: »Pusˇkinskie dni na trasse«, in: Na ˇsturm trassy, 1937, Nr. 2, S. 41. 791 Mirov, »Pusˇkinskie dni na trasse«, 1937, S. 35 – 43. 792 Mirov, »Pusˇkinskie dni na trasse«, 1937, S. 41 f.

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strumenten gespielt wurde. Dazu sind »feierliche Eröffnungsworte« erklungen, wonach die Anwesenden sich zu einer Gedenkminute erhoben haben. Während der Vorstellung sind Pusˇkins Gedichte zur Musik gelesen worden. Mehrere Orˇ ajkovskijs Evgenij Onegin und die Ouvertüre sowie den chester haben Teile aus C Marsch des Cˇernomor aus Glinkas Ruslan i Ljudmila gespielt. Ein Jazz-Orchester hat das Lied des Varlaam aus Musorgskijs Boris Godunov und die Arie des Eleckij ˇ ajkovskij vorgetragen. Auch sind Pusˇkin-Vertonungen aus der Pique Dame von C von seinen Zeitgenossen wie Michail Jakovlev und Matvej Vel’egorskij erklungen. Die Aufführung von Pusˇkins Märchen vom Popen und seinem Knecht Balda durch die »Zentrale Agitationsbrigade« ist durch Musorgskijs Gopak und durch die Kamarinskaja begleitet worden, ihre Inszenierung des Poems Die Zigeuner durch Gitarren, auf denen alte »Zigeunerlieder« intoniert wurden. Mirov resümiert, dass die Pusˇkin-Feier die Liebe zur Literatur und den Drang nach »echter Kunst« in den Reihen der »Kanalarmisten« hervorgerufen habe und für immer in ihrer Erinnerung bleiben werde.793 Der Kompositionswettbewerb im Dmitlag 1936 Der vermutlich erste Literaturwettbewerb im Dmitlag wurde bereits Ende 1933 ausgeschrieben.794 Im Juli 1935 wurde eine das ganze Lager umfassende Kunstausstellung organisiert,795 die mit einem Wettbewerb für Maler und bildende Künstler vergleichbar wäre. Wie oben gezeigt, wurden auch schon im Oktober 1933 Stimmen laut, die nach einer lagereigenen Musik verlangten. Jedoch wurde ein Kompositionswettbewerb erst im März 1936 vom KVO ausgeschrieben.796 Möglicherweise gab hierfür den Ausschlag, dass die landesweite Parteizeitung Pravda 1936 zusammen mit dem Schriftsteller- und dem Komponistenverband Wettbewerbe um das beste Massenlied organisiert hat.797 Parallel zum Wettbewerb wurde eine »vorbildhafte Agitationsbrigade des Dmitlag« konstituiert, welche sich aus Häftlingen verschiedener Lagerpunkte zusammensetzte. Davon zeugt ein Erlass des Lagerleiters Firin vom 7. April 1936, in welchem gefordert wird, sofort elf Künstler aus verschiedenen Lagerpunkten nach Dmitrov zu entsenden. Darunter war auch E˙duard Strucˇko, welcher zu den Gewinnern des Wettbewerbs gehören sollte. Einen Monat später erging ein weiterer Befehl mit gleichem Wortlaut, in dem vier zusätzliche Häftlinge benannt wurden.798 793 794 795 796 797 798

Mirov, »Pusˇkinskie dni na trasse«, 1937, S. 35 f., 42 f. GARF: F. R-9414s, op. 4, d. 1, l. 142ob. Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 69. GARF: F. R-9489, op. 2, d. 89, l. 705. Sˇilina, Ol’ga: Vladimir Vysockij i muzyka: »Ja izucˇil vse noty ot i do…«, 2008, S. 83. GARF: F. R-9489, op. 2, d. 94, l. 29, 49.

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Welche Anforderungen an die für den Kompositionswettbewerb einzureichenden Lieder gestellt wurden, kann im Artikel Pesnju – trasse (Ein Lied für die ˇ ernjak in der vierten Ausgabe der Zeitschrift Na ˇsturm Trasse) von Michail C trassy aus dem Jahr 1936 nachgelesen werden.799 »Mit größtem Enthusiasmus« ˇ ernjak, haben die Häftlinge die Ausschreibung des Wettbewerbs begrüßt, so C und in den ersten zwei Wochen waren bereits ca. 40 Melodien beim KVO eingegangen. Der Komponist Ivan Dzerzˇinskij soll auf die Einladung, der Jury anzugehören, geantwortet haben, dass er mit großer Freude kommen werde. Er wünschte den »Kanalarmisten«, solche Lieder zu schaffen, die des »herausragenden Baus« würdig wären. Dadurch dass die Blasorchester der einzelnen ˇ ernjak, von den »KanalarBezirke sich dazu bereit erklärt hatten, so weiter C misten« komponierte Melodien aufzuschreiben, konnten am Wettbewerb auch diejenigen teilnehmen, die keine Notenschrift beherrschten. Auch professionelle Musiker wollten sich offenbar beteiligen, darunter das sinfonische Ensemble unter der Leitung von Visˇneveckij, welcher einen den Stachanov-Arbeitern gewidmeten Marsch geschrieben hatte. Der Maler Lenivov, welcher Klavier gespielt und Noten beherrscht hat, fing an, Volkslieder in den angrenzenden Dörfern zu sammeln – ein weiteres Beispiel dafür, dass Häftlinge Kontakt mit der zivilen Bevölkerung haben konnten. ˇ ernjak im Mittelteil seines Artikels die AnNach dieser Einleitung stellt C forderungen an die einzureichenden Beiträge dar, welche mit der 1934 beschlossenen Doktrin des sozialistischen Realismus korrespondieren. »Echte Volkstümlichkeit« [podlinnaja narodnost’] war das wichtigste Kriterium. Viele der eingesandten Melodien hätten Merkmale der Blatnye-Lieder, der »Zigeuˇ ernjak, wobei nerlieder« und der »abgeschmackten« Foxtrotts aufgewiesen, so C ˇ er nicht näher auf die Merkmale eingeht. Dies war, nach Cernjak, jedoch nicht der richtige Weg zu den erwünschten Liedern. Er beschimpfte die genannten Gattungen als »kunstwidrige musikalische Parnografie [sic!]«.800 Da die Kriminellen im Dmitlag zu neuen Menschen umerzogen wurden, so der »Musikinspektor«, waren Blatnye-Lieder, welche zu ihrem alten Leben gehörten, nicht dazu geeignet, ihre Gefühle und Gedanken auszudrücken.801 Jazz war nicht grundsätzlich unerwünscht, jedoch sollte der »krankhafte abartige Erotismus, die faule Ausgeburt der sich zersetzenden bourgeoisen ˇ ernjak Kultur« darin bekämpft werden. Um dies zu unterstreichen, zitiert C Maksim Gor’kij, der sich sehr abfällig über den Jazz äußerte und ihn als eine 799 800 801

ˇ ernjak, Michail: »Pesnju – trasse«, in: Na ˇsturm trassy, 1936, Nr. 4, S. 18 f. C ˇ ernjak, »Pesnju – trasse«, 1936, S. 19. C Dass Blatnye-Lieder von den Häftlingen im Dmitlag gespielt wurden, zeigt eine Erzählung in der Zeitschrift Na ˇsturm trassy von 1935. Darin ist von einer »Rostover BlatnajaRhapsodie« die Rede. Zˇigul’skij, N.: »Persidskaja siren’«, in: Na ˇsturm trassy, 1935, Nr. 6, S. 33.

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Musik von Wahnsinnigen, die »wegen ihrer Sexualität den Verstand verloren hatten«, bezeichnete. Die Teilnehmer des Wettbewerbs sollten sich an Volksliedern orientieren und düstere Stimmungen vermeiden, denn die Arbeit am Kanal sei schöpferisch und freudig: »Unsere Lieder müssen das Glück ausdrücken, welches ein Leben in der stalinistischen Epoche bedeutet, in der es sich fröhlich lebt, und in der die Arbeit vorangeht.«802 Am 12. Juni 1936 resümierte der Lagerleiter Firin, der sich mit der Durchführung des Kompositionswettbewerbs zufrieden zeigte, in einem Erlass die Ergebnisse des Wettbewerbs.803 112 Werke, komponiert von 73 »Kanalarmisten«, sind eingereicht und von einer Jury bewertet worden, welcher »bedeutendste sowjetische Komponisten« wie Ivan Dzerzˇinskij, Viktor Belyj, Dmitrij Kabaˇ emberdzˇi und Michail Starokadomskij angelevskij, Boris Sˇechter, Nikolaj C 804 hörten. Diese haben 20 Stücke ausgewählt, welche nun ausgezeichnet werden sollten. Firin veranlasste die Prämierung des Häftlings Nikolaj Cedrik für die Musik und des Häftlings Veniamin Kalent’ev, der die Texte zu den meisten Liedern des Wettbewerbs gedichtet hatte, für den Text des erstplatzierten Liedes Marsˇ betonsˇcˇikov (Marsch der Betonarbeiter) mit jeweils 500 Rubeln. Den zweiten Preis in Höhe von 250 Rubeln erhielten der Häftling Grigorij Sˇevcˇenko für das Chorlied Veter (Der Wind) und der Häftling E˙duard Strucˇko für Napev na balalajke (Balalaika-Weise). Auch der dritte Preis in Höhe von 150 Rubeln wurde zweimal vergeben, und zwar an Pëtr Rogov für das Lied Osen’ v Orud’eve (Herbst in Orud’evo) sowie Vasilij Sarancˇa für Melodija dlja bajana (BajanMelodie). Ehrenurkunden erhielten die Häftlinge Nikolaj Valjanskij, Michail Losik, Stepan Kornev, Aleksandr Rozanov, Nikolaj Nosaev, Michail Savel’ev,805 Nikolaj Savel’ev und Nikolaj Sˇcˇedrin. Das Blasorchester des Chlebnikovskij-Bezirks erhielt eine Ehrenurkunde, weil seine Mitglieder Melodien der »Kanalarmisten«, die keine Notenschrift beherrschten, aufgezeichnet hatten. Seinem Kapellmeister, dem Häftling Nikolaj Koralli sowie seinem Ältesten, dem Häftling Gennadij Govorskij, wurde Anerkennung ausgesprochen sowie eine Geldprämie verliehen. Ebenfalls für die Aufzeichnung von Liedern und für ˇ ernjak, »Pesnju – trasse«, 1936, S. 19. C GARF: F. R-9489, op. 2, d. 89, l. 704 f. Die ursprünglich geplante Zusammensetzung der Jury war eine andere, wie aus einem ˇ ernjaks hervorgeht. Ihr sollten neben Dzerzˇinskij, Sˇechter, C ˇ emberdzˇi, Artikel Michail C ˇ ernjak, ˇ eljapov angehören. C Starokadomskij und Kabalevskij Lev Knipper und Nikolaj C »Pesnju – trasse«, 1936, S. 18. Welche Gründe den Ausschlag für die vorgenommenen Änderungen gaben, bleibt unklar. ˇ ernjak, erst auf dem Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals, wo er 805 Michail Savel’ev hat, laut C offensichtlich inhaftiert war, bevor er ins Dmitlag transportiert wurde, Noten gelernt. Muzyka trassy, 1936, S. 5.

802 803 804

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»gute musikalische Arbeit« sollte der inhaftierte Komponist Sergej Protopopov das Abzeichen des »Stoßarbeiters« und 100 Rubel erhalten. Dem »Musikinˇ ernjak, welcher am 9. Juni 1936, wenige Tage vor Firins Erspektor« Michail C lass, aus der Haft entlassen wurde, wurde für die Organisation des Wettbewerbs Anerkennung ausgesprochen und ein zusätzlicher Monatsverdienst ausbezahlt. Im Dmitlag-Archiv sind keine Manuskripte der eingereichten Stücke überliefert worden. Die ausgezeichneten Musikstücke und einige weitere sind jedoch in zwei Publikationen veröffentlicht worden: zum einen in der zweibändigen lagerinternen Sammlung Muzyka trassy (Musik der Trasse) und zum anderen in 16 kleinen Heften der Reihe Muzykal’naja biblioteka »Perekovki« (Musikbibliothek der »Perekovka«), herausgegeben in einer Kooperation zwischen dem Staatsverlag Muzgiz und dem KVO des Dmitlag.806 Für diese Studie konnte der zweite Band von Muzyka trassy nicht aufgefunden werden. Allein im ersten Band sind 21 Stücke veröffentlicht worden, in der Reihe Musikbibliothek der »Perekovka« erschienen 27 Stücke. Dabei kommen nur zum Teil Überschneidungen vor. Beispielsweise sind Stücke von Sergej Protopopov nur in der lagerinternen Veröffentlichung abgedruckt worden, und zwar je zwei im ersten sowie im zweiten Band der Muzyka trassy.807 Der erste Band der Sammlung Muzyka trassy, der vom KVO des Dmitlag im Jahr 1936 herausgegeben wurde, wird durch einen ausführlichen Artikel von ˇ ernjak eingeleitet.808 Als Themen, welche die »Kanalarmisten« in ihren Michail C ˇ ernjak das hohe Arbeitstempo beim Bau des Liedern verarbeiteten, nennt C Kanals sowie »das bewegende Thema der menschlichen Wiedergeburt«.809 Laut ˇ ernjak war das Ziel des Kompositionswettbewerbs die Schaffung von MeloC dien, welche »wahrheitsgetreu den Aufschwung und die schöpferische Anspannung der Kanalarmisten widerspiegelten«. Da nicht alle Teilnehmer über Kenntnisse der Notenschrift verfügten, hatten die Bezirksorchester, nach dem Vorbild des dafür ausgezeichneten Orchesters des Chlebnikovskij-Bezirks, geholfen, ihre Melodien aufzuschreiben. ˇ ernjak die Juroren. Es kann zwar Im weiteren Verlauf seines Vorworts zitiert C nicht überprüft werden, ob die entsprechenden Äußerungen tatsächlich von ihnen stammten, aber es kann davon ausgegangen werden, dass sie die Aussagen 806 Über diese Reihe liegt ein Aufsatz von N. Ryzˇkova vor, welcher eine Einordnung der Reihe in den Lageralltag im Dmitlag versucht und eine Charakterisierung ausgewählter Lieder vornimmt, allerdings einige Ungenauigkeiten enthält. Ryzˇkova, N.: »Muzyka iz GULAGa. Muzykal’naja biblioteka ›Perekovki‹«, in: Neva, 2003, Nr. 7, S. 243 – 250. 807 Eigenhändige Auflistung von Werken und wissenschaftlichen Schriften Protopopovs. GCMMK: F. 329, Nr. 195, l. 31. 808 Dieser Band ist in der Sammlung The Gulag press auf den Mikrofiches 164 – 166 reproduziert. The Gulag press: 1920 – 1937, 2000. 809 Muzyka trassy, 1936, S. 4.

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zumindest autorisiert haben.810 Ivan Dzerzˇinskij äußerte sich erstaunt über die Menge der eingereichten Kompositionen und sah die prämierten Lieder als Zeichen dafür an, dass unter den »Kanalarmisten« »ernstzunehmende kompositorische Talente« vorhanden waren. Viktor Belyj räumte zwar eine gewisse Naivität der Lieder ein, welche jedoch durch ihre Frische und Aufrichtigkeit aufgewogen wurde. Er lobte die »Kulturerziehungsarbeit«, die es vermochte, den Schaffensdrang der Häftlinge anzuregen. Dmitrij Kabalevskij lobte die Vielfalt der Kompositionen und bezeichnete sie als »interessantes Material«. Boris Sˇechter schließlich unterstrich die Wärme, die Aufrichtigkeit und die Emotionalität der Lieder. Er hörte daraus die »neuen Gefühle eines Menschen, welcher durch schöpferische Arbeit seine Einstellung zum Leben umschmiedet«.811 ˇ ernjak kam die »Erneuerung« der Häftlinge darin zum Ausdruck, dass Laut C sie sich von der Musik distanzierten, welche sie früher gehört hatten: von den »Zigeunerliedern«, dem »vulgären Foxtrott« und den Melodien der blatnye. Zwar kamen in der Bajan-Melodie von Vasilij Sarancˇa synkopische Rhythmen vor, doch hat der Häftling »glücklicherweise eine Nachahmung zeitgenössischer Tänze wie Foxtrott und Tango vermeiden können« (vgl. Abbildung 37). Nikolaj Savel’ev, welcher neunmal vorbestraft war, schrieb zwar »unter einem gewissen Einfluss von Zigeunerliedern«, jedoch ohne die diesem Genre eigene »süßliche Schwermut« und den Pessimismus.812 Über Nikolaj Savel’ev berichtete der »Musikinspektor« in einem Artikel vom Januar 1936 etwas ausführlicher : Er ist unter schwierigen Verhältnissen aufgewachsen und hat das Elternhaus im Alter von 16 Jahren verlassen. Trotz der vielen Gefängnis- und Lageraufenthalte hat er seine Liebe zur Musik erhalten können. Beim Kanalbau hat er die Ouvertüre mit dem Titel Na ˇsturm trassy, den Foxtrott Kanal smeÚtsja (Der Kanal lacht) sowie den Marsch Volga – Moskva (Wolga – Moskau) komponiert, welche von den Orchestern des Dmitlag gespielt wurden. Savel’evs Ziel soll gewesen sein, nach der Lagerhaft am Konservatorium zu studieren.813 ˇ ernjak auch zwei professionelle Fast am Schluss seines Vorworts erwähnte C Musiker, die sich am Wettbewerb beteiligt haben. Dies waren der Pianist Aleksandr Rozanov und der Komponist Sergej Protopopov. Rozanov, der nach ˇ ernjak vor der Lagerhaft nicht komponiert hat, reichte fünf Lieder ein, darunter C zwei, welche nach zentralasiatischem Vorbild komponiert waren. Eines der fünf von ihm eingereichten Lieder war ein offensichtliches Geständnis an die Laˇ ernjak, war ein »Lagergerpolitik und hieß Tridcatipjatniki. Protopopov, so C 810 Vgl. in Bezug auf Sˇostakovicˇ : Cholopov, Jurij: »K ponjatiju ›sovetskja‹ muzyka«, in: Otecˇestvennaja muzykal’naja kul’tura XX veka, 1993, S. 211 f. 811 Muzyka trassy, 1936, S. 5. 812 Muzyka trassy, 1936, S. 5. ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 50. 813 C

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komponist«, der sich durch seine »komplizierte Technik« von der »Laienkunst« ˇ ernjak sah es als notwendig an, die große Arbeit Rozanovs und Proabhob. C topopovs zu würdigen, weil sie die Klavierbegleitung zu den Melodien der »Kanalarmisten« geschrieben hatten. Das Vorwort des »Musikinspektors« endete damit, dass er dazu aufrief, sich nicht auf den Ergebnissen des Wettbewerbs auszuruhen, sondern weiter zu arbeiten, um Lieder zu schaffen, welche des »bedeutenden Baus« und der »wunderbaren Epoche Stalins« würdig wären.814 ˇ ernjak in seinem Vorwort anführt, Außer der kurzen Zitate der Jury, welche C sind in der Zeitschrift Na ˇsturm trassy weitere Aussagen professioneller Komponisten über den Wettbewerb erschienen, darunter eine Rückmeldung von Dmitrij Sˇostakovicˇ sowie ein zweiseitiger Artikel von Dmitrij Kabalevskij über die Publikation der Ergebnisse in der Musikbibliothek der »Perekovka«. In dem Artikel Kompozitory o konkurse (Komponisten über den Wettbewerb), in welchem Sˇostakovicˇ zitiert wird, wird die »Freude an der schöpferischen Arbeit« am Kanal als Inspirationsquelle für die Lieder der »Kanalarmisten« benannt. Darauf folgt dieses als Aussage Sˇostakovicˇs deklarierte Zitat: Ich habe mir eine Reihe von Musikstücken der Kanalarmisten des Dmitlag angeschaut. Sie alle zeichnen sich durch ein gutes Niveau aus. Manche sind besser, manche schlechter. Ich möchte die Leiter der Laienmusikzirkel des Dmitlag dazu ermuntern, so viele Komponisten wie möglich unter den Kanalarmisten aufzuspüren. In den von mir gehörten Stücken gibt es viele frische Ideen, welche von begabten Menschen komponiert worden sind. Einen guten Geschmack zeigen die Bearbeitungen des Genossen Rozanov. Die Balalaika-Weise des Genossen Strucˇko ist wunderschön. Das Lied Wind von Sˇevcˇenko verrät ein großes Talent des Autors. Das Wichtigste ist aber zu arbeiten und zu lernen.815

Wie bei den oben zitierten Aussagen anderer Komponisten kann auch hier nicht überprüft werden, ob dieses Zitat tatsächlich von Sˇostakovicˇ stammt. Verwunderlich ist jedoch, dass Sˇostakovicˇ hier als kompositorische Autorität zitiert wird, trotz der im Januar und im April 1936 in der Pravda erschienenen Artikel Sumbur vmesto muzyki (Chaos statt Musik) bzw. Baletnaja fal’sˇ (BallettFalschheit), welche ihn als Komponisten diskreditierten. Es mag eventuell irritieren, dass Sˇostakovicˇ die Häftlinge in diesem Zitat als 814 Muzyka trassy, 1936, S. 6. 815 P `a_b]_caV\ apU ]dXl[Q\m^lf `a_YXSVUV^YZ [Q^Q\_Qa]VZgVS 5]Yc\QTQ. 3bV _^Y bc_pc ^Q f_a_iV] da_S^V. þV[_c_alV \dhiV, ^V[_c_alV fdWV. F_hVcbp b[QXQcm ad[_S_UYcV\p] ]dXl[Q\m^_Z bQ]_UVpcV\m^_bcY 5]Yc\QTQ, hc_Rl _^Y [Q[ ]_W^_ R_\miV SlpS\p\Y [_]`_XYc_a_S YX baVUl [Q^Q\_Qa]VZgVS. BaVUY `a_b\diQ^^_T_ ]^_o Vbcm ]^_T_ cQ\Q^c\YS_T_, bSVWVT_. =^_T_ f_a_iVT_ S[dbQ S _RaQR_c[Qf c_S. A_XQ^_SQ. @aV[aQb^lZ ^Q`VS U\p RQ\Q\QZ[Y c_S. Bcadh[_ . »3VcVa« IVShV^[_ `ap]_ T_S_aYc _ R_\mi_] UQa_SQ^YY QSc_aQ. 1 bQ]_V T\QS^_V – aQR_cQcm Y dhYcmbp. »Kompozitory o konkurse«, in: Na ˇsturm trassy, 1936, Nr. 8, S. 32.

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Genossen bezeichnet, doch war diese Form der Anrede für Häftlinge in der Zeit vor dem Großen Terror noch in Gebrauch.816 Die Korrespondenz Sˇostakovicˇs mit Sergej Protopopov zeigt, dass Sˇostakovicˇ Protopopov seit 1925 gut kannte.817 Warum er ihn in seiner Stellungnahme nicht erwähnt, bleibt unklar. »Diese Noten-Reihe«, schreibt Kabalevskij über die Musikbibliothek der »Perekovka«, »wird mit der Zeit zum Dokument unserer Epoche werden, und zwar zu einem bedeutenderen als viele Bände historischer Arbeiten.« Die Urheber der veröffentlichten Lieder beschreibt er als »Menschen mit einer schweren, freudlosen Vergangenheit«, die mehrfach vorbestraft waren, und macht dafür das zarische Russland verantwortlich. Durch die neue Gesellschaftsform und durch sozialistische Arbeit wurden sie nun zu neuen Menschen erzogen und fanden zur »wahren Kunst«, so Kabalevskij.818 Die »Laienkunst« im Dmitlag stand in nichts der »Laienkunst« in der Sowjetunion insgesamt nach, ja, sie war sogar besser aufgestellt, fährt Kabalevskij fort. Die Kunst im Dmitlag gehörte so sehr zum Alltag, dass das Lager ohne sie undenkbar war, wobei Musik hierbei möglicherweise den ersten Platz einnahm. Das Lied sei der beste Freund und Helfer des Menschen; es mache die Menschen fröhlicher und die Arbeit leichter. Diese Sätze Kabalevskijs lassen an das Titellied aus dem Film VesÚlye rebjata (Die lustigen Burschen) aus dem Jahr 1934 von Grigorij Aleksandrov denken. Dieses von Isaak Dunaevskij für den Film komponierte und äußerst populäre Lied enthält die Zeile: »Das Lied hilft uns zu bauen und zu leben«. Obwohl die meisten Lieder der Musikbibliothek der »Perekovka« von Menschen ohne Musikausbildung verfasst worden waren, so Kabalevskij weiter, kamen viele von ihnen professioneller Kunst nahe. Kabalevskij hob die Lieder Osen’ v Orud’eve von PÚtr Rogov und Veter von Grigorij Sˇevcˇenko als volksliedhaft und lyrisch hervor. Den Marsch der Betonarbeiter von Cedrik lobte er für seine Melodie, bemängelte jedoch die harmonische Komplexität der Begleitung. Weiter unten im Text kritisierte Kabalevskij, dass vielfach die Begleitung nicht von den Autoren der Lieder komponiert worden war. Es ist naheliegend zu vermuten, dass diese Arbeit von Protopopov, Rozanov und anderen professionellen Musikern übernommen wurde. Und tatsächlich schrieb Protopopov 1953 in sein Werkverzeichnis, dass er alle Stücke in der Veröffentlichung Muzyka trassy redigiert und mit einer Begleitung versehen hatte.819 Besonderes Interesse, so Kabalevskij, verdienten die Lieder der nacionaly. 816 817 818 819

Applebaum, Anne: Der Gulag, 2003. S. 140. Bobykina, Irina (Hg.): Dmitrij Sˇostakovicˇ v pis’mach i dokumentach, 2000, S. 133 – 145. Kabalevskij, Dmitrij: »Kanaloarmejskaja pesnja«, in: Na ˇsturm trassy, 1936, Nr. 11, S. 16. Eigenhändige Auflistung von Werken und wissenschaftlichen Schriften Protopopovs 1953. GCMMK: F. 329, Nr. 195, l. 31, 32. Auf Seite 32 schreibt er ausdrücklich, dass er für den Marsch der Betonarbeiter die Melodie redigiert und die Begleitung komponiert hat.

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Den tänzerischen Schlussteil des Liedes Volga von Jusuf-Zija Sˇirvani, welches als freie Variationsform mit vielen Verzierungen komponiert war, rechnete er zu den besten Ergebnissen der Reihe. Kabalevskij kommentierte weitere Stücke der ˇ ernjaks und Reihe und ließ ab und zu auch Kritik verlauten. Die Stücke Michail C Aleksandr Rozanovs beurteilend, wies er darauf hin, dass es sich bei diesen Musikern um die einzigen professionellen Komponisten der Reihe handelte. Ihre Stücke hätten sich von den anderen durch »größere Reife, Kunstfertigkeit und Kultur« abgehoben. Kabalevskij rief am Ende seines Artikels dazu auf, die begabten Teilnehmer des Wettbewerbs zum Lernen anzuregen. Er versprach, dass sie dabei mit der Hilfe professioneller Komponisten rechnen könnten.820 Die Berichte über den Wettbewerb machen deutlich, dass es dabei nicht darum ging, möglichst objektiv die besten eingereichten Stücke zu prämieren. Vielmehr sollte die Geburt genuiner Lagerkomponisten und die Umerziehung der »sozial nahen Elemente« durch den Wettbewerb demonstriert werden. Protopopov und Rozanov waren für den Wettbewerb unverzichtbar, weil sie die einfachen Einfälle der anderen Häftlinge zu Liedern mit Klavierbegleitung arrangierten und auch die Melodien bearbeiteten, um sie in eine sinnvolle Form zu bringen. Sie wurden aber nur am Rande ausgezeichnet, denn sie waren musikalisch gut vorgebildet und gehörten aufgrund der Paragrafen, gemäß derer sie verurteilt worden waren, nicht zu den »sozial nahen« tridcatipjatniki. Auf diese Weise entpuppt sich der gesamte Wettbewerb als gestellt. Die prämierten Kompositionen und ihre Urheber Der erste Preisträger des Wettbewerbs, Nikolaj Cedrik, spielte – nach Angaben ˇ ernjak – Trompete im Blasorchester des zentralen Lagerbezirks. von Michail C Sein Marsch der Betonarbeiter sei für einen Chor mit Blasorchester vorgesehen gewesen. Gedruckt wurde er jedoch in der Fassung für einen Sänger mit Klaˇ ernjak im Vorwort zu Muzyka vierbegleitung. »Die Melodie dieses Stückes«, so C trassy, »wird sich jeder Zirkel, jede Brigade der Betonarbeiter leicht aneignen können. Es besteht kein Zweifel, dass Cedriks Marsch, […], zum populärsten Lied der Trasse werden wird.«821

820 Kabalevskij, »Kanaloarmejskaja pesnja«, 1936, S. 17. 821 Muzyka trassy, 1936, S. 6.

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Abb. 34: Nikolaj Cedrik/Veniamin Kalent’ev : Marsˇ betonsˇcˇikov (Marsch der Betonbauer) (= Muzykal’naja biblioteka »Perekovki«, Nr. 2), 1936.

Der Rhythmus der ersten zwei Zeilen in der Gesangsstimme des Marsches korrespondiert stark mit der Internationale. Der Text handelt vom Bau eines Staudamms und appelliert mit Ausdrücken wie »wir gehen einem fröhlichen Leben entgegen« an die Arbeitsfreude der Betonbauer. Die letzte Strophe lautet übersetzt: So, Abschied nehmend von dem dunklen Sein, Können wir froh in die Welt blicken, In der ein fester und freier Betonweg In ein großes Leben führt.

Die grafische Gestaltung der Hefte dieser Reihe vermittelt nachdrücklich die Wichtigkeit des Kanalbaus, indem sie vielfach industrielle Motive, Maschinensowie Arbeitsdarstellungen aufnimmt. Grigorij Sˇevcˇenko, dessen Lied Veter (Der Wind) mit dem zweiten Preis ausgezeichnet wurde, war ein »Stoßarbeiter« und beteiligte sich am öffentlichen ˇ ernjak. Er hat zwar keine Noten lesen können, leitete aber Leben des Lagers, so C 822 einen Chor. Es kann nicht vollständig ausgeschlossen werden, dass er ohne Notenkenntnisse einen Chor leiten konnte, es ist aber genauso gut möglich, dass ein Chorleiter im Dmitlag Privilegien genoss, welche dieser Häftling für sich ausnutzte, aber jemand anderen für sich arbeiten ließ. Sein Lied konnte er dementsprechend auch nicht selbst aufgezeichnet haben. Dieses ist ein Chorlied mit solistischen Passagen am Beginn jeder Strophe.

822 Muzyka trassy, 1936, S. 5.

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Abb. 35: Grigorij Sˇevcˇenko/N. Medvedev : Veter (Der Wind) (= Muzykal’naja biblioteka »Perekovki«, Nr. 15), 1936, S. 4.

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Sein Text erzählt von der Sehnsucht nach einem Hafen in Moskau sowie nach Anerkennung der Arbeit der Kanalbauer. Der Textautor wendet sich an den Wind, welcher ehemals durch den sumpfigen Kiefernwald geweht hatte, wo nun der Kanal entstand und Menschen mit Maschinen gemeinsam glücklich und einmütig eine Heimat fanden. Der Wind sollte die Jahre des Aufschwungs preisen, so der Text der letzten Strophe, und Flugzeugen fliegen helfen. Der Autor träume aber davon, ein Dichter auf dem geliebten Kanal zu werden. Die ebenfalls zweitprämierte Balalaika-Weise von E˙duard Strucˇko habe die ˇ ernjaks Bericht, bezaubert. Ihr Urheber war Mitglied einer »AgitaJury, laut C tionsbrigade«, und seine Weise soll einer der besten Wettbewerbsbeiträge gewesen sein, wegen ihrer Einfachheit, der Klarheit des musikalischen Gedankens und der »lyrischen Wärme«.823

Abb. 36: E˙duard Strucˇko: Mecˇty. Napev dlja balalajki (Träume. Balalaika-Weise; so der Titel in der gedruckten Ausgabe) (= Muzykal’naja biblioteka »Perekovki«, Nr. 15), 1936, S. 3.

Vasilij Sarancˇa, der den dritten Preis erhielt, hat – wie Grigorij Sˇevcˇenko – ebenfalls keine Noten lesen können. Er war Sohn eines armen Handwerkers, welcher Handzuginstrumente reparierte,824 und hatte vor der Inhaftierung Bajan in Kneipen gespielt. Aus der Überschrift zu seiner Melodie in der lagerinternen Veröffentlichung Muzyka trassy geht hervor, dass er gemäß § 35 verurteilt worden war. Erst im Lager hat er eine schulische Grundausbildung erhalten. Zum Zeitpunkt des Wettbewerbs war er Mitglied der »Agitationsbrigade« des Zentralen Bezirks und erlernte einen Beruf in der Maschinenwerkstatt.825 Seine Melodie besitzt einen improvisatorischen Charakter durch Sequenzen bzw. sequenzähnliche Wendungen und lässt sich durch das tänzerische Element mit der Vergangenheit des Komponisten als Kneipenmusiker in Verbindung bringen.

823 Muzyka trassy, 1936, S. 6. ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 50. 824 C 825 Muzyka trassy, 1936, S. 5, 47.

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Abb. 37: Vasilij Sarancˇa: Melodija dlja bajana (Bajan-Melodie). Muzyka trassy, 1936, S. 47.

Auffällig ist, dass unter den prämierten Stücken gleich zwei Stücke ohne Text zu finden sind, weswegen sie so gut wie keine ideologischen Gedanken transportieren konnten. Merkwürdigerweise wurde die Bajan-Melodie von Sarancˇa in der Musikbibliothek der »Perekovka« nicht veröffentlicht. Beim fünften prämierten Stück, welches ebenfalls mit dem dritten Preis ausgezeichnet wurde, handelte es sich um das Klavierlied Herbst in Orud’evo von PÚtr Rogov.

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Abb. 38: PÚtr Rogov/Veniamin Kalent’ev : Osen’ v Orud’eve (Herbst in Orud’evo) (= Muzykal’naja biblioteka »Perekovki«, Nr. 7), 1936.

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Es ist bemerkenswert, dass dieses Lied im Kompositionswettbewerb des Dmitlag prämiert wurde, denn der Text seiner ersten drei Strophen hat einen pessimistischen Charakter. Er handelt von der Sehnsucht nach einem geliebten Menschen an einem trüben Herbsttag, welcher »nicht singt«, obwohl doch, nach ˇ ernjak, die ganze Trasse eine singende war. Die letzte Strophe wirkt wie anC geklebt: Der Protagonist erzählt, wie er frisch an einem frühen Morgen mit seiner Brigade zum Bau des Kanals ausrückt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die letzte Strophe nachträglich hinzugefügt wurde, möglicherweise ohne Rücksprache mit dem Autor, oder dass er sie selbst angefügt hat, um bessere Chancen im Wettbewerb zu haben. Auf diese Weise stellen sich die Ergebnisse des Wettbewerbs als heterogen dar : Während die Lieder von Cedrik und Sˇevcˇenko den Charakter sowjetischer ideologischer Massenlieder aufweisen, haben die beiden Stücke ohne Text rein unterhaltenden, spielerischen bzw. tänzerischen Charakter. Das Lied von Rogov aber entspricht mit seiner lyrischen getragenen Melodie und dem pessimistischen Text so gar nicht den Anforderungen, die im Vorfeld an die Wettbewerbsbeiträge gestellt wurden. Welche Argumente dazu geführt haben, dass es dennoch ausgezeichnet wurde, kann nicht nachvollzogen werden. Zu resümieren bleibt, dass die Preisvergabe sich nicht durchgehend an den ursprünglichen Anforderungen orientierte: Weder der inhaftierte »Musikinspektor« noch die Lageradministration hatten offenbar das Bedürfnis danach, nur fröhliche Lieder mit ideologischem Text durchzusetzen. Der Kompositionswettbewerb im Dmitlag ist bezüglich der regen Beteiligung der Häftlinge und der Präsentation der Ergebnisse in umfangreichen Veröffentlichungen eher als eine Ausnahmeerscheinung im Gulag zu werten. Dass jedoch auch in anderen Lagern Kompositionswettbewerbe ausgeschrieben wurden, zeigt die Geschichte des Sevvostlag (vgl. Kapitel B.2). Bemerkenswerterweise fand der Kompositionswettbewerb dort ebenfalls 1936 statt, vermutlich in Anlehnung an die bereits erwähnten Ausschreibungen der Pravda. Wettbewerb um einen »Marsch der Kolyma« Anfang des Jahres 1936 schrieb die Zeitung Sovetskaja Kolyma (Die sowjetische Kolyma) einen Wettbewerb aus, bei dem ein marschartiges Massenlied über die Kolyma gesucht wurde. Die Ausschreibung wurde auch in der lagerinternen Zeitung Signal dorogi (Signal für die Straße) verbreitet, welche vom KVO Sevvostlag herausgegeben wurde. Auf der ersten Seite ihrer Ausgabe vom 25. Januar 1936 heißt es im Artikel Konkurs na massovuju pesnju »Marsˇ Kolymy« (Wettbewerb um ein Massenlied »Marsch der Kolyma«), dass Sovetskaja Kolyma einen Wettbewerb um ein marschartiges Lied ausgerufen hat, welches dem Bau und der Erschließung der Kolyma gewidmet sein sollte. Teilnehmen konnten alle Interessenten ohne Ausnahme, die Länge des Liedes sollte 26 Zeilen oder fünf

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Strophen mit einem Refrain nicht übersteigen. Als Abgabedatum wurde der 1. März 1936 festgelegt. Die Preisgelder lagen bei 1.000, 800 und 500 Rubeln.826 Obwohl dieser Wettbewerb an den im gleichen Jahr im Dmitlag durchgeführten Kompositionswettbewerb erinnert, unterschied er sich von jenem dadurch, dass sowohl Häftlinge als auch die zivile Bevölkerung Kolymas daran teilnehmen konnten. Auffällig sind auch die viel höheren Preisgelder. Letztendlich wurde jedoch kein erster Preis vergeben. Aus den wenigen aufgefundenen Quellen über den Wettbewerb geht nicht hervor, wer über die Preisvergabe entschieden hat. Der zweite Preis wurde unter den Autoren N. Serebrovskij und I. Gechtman für Marsˇ Kolymy (Marsch der Kolyma) sowie den Autoren S. Lochvickij und A. Ikonnikov für Kolymskij marsˇ (Kolymsker Marsch) aufgeteilt.827 Der Schauspieler und Musiker Sergej Lochvickij war zu dieser Zeit ein sogenannter politischer Häftling des Sevvostlag (vgl. den Abschnitt über die ersten bekannten Musiker in Magadan in Kapitel B.2). Der Dichter des erstgenannten Liedes, Nikolaj Serebrovskij, war von 1933 bis 1935 im Sevvostlag inhaftiert. Er war ein sogenannter krimineller Häftling, dessen Verurteilung zu drei Jahren Lagerhaft wegen Diebstahl mit seiner »sozialen Gefährlichkeit« begründet worden war. Seine Geschichte ist die eines Kleinkriminellen, der durch eine schwere Kindheit zum Verbrechen gedrängt worden war. Im Lager lernte er, einen Lkw zu fahren und wurde wegen guter Arbeitsleistungen vorzeitig entlassen. Während seiner Jahre auf der Kolyma dichtete er viel, und seine Gedichte genossen, wie Zeitzeugen sich erinnern, hohe Popularität. Trotz der vorzeitigen Entlassung, die ein Zeichen seiner erfolgten Umerziehung war, und trotz des Wettbewerbserfolgs wurde Serebrovskij im September 1936 erneut als Häftling auf ein Schiff verladen. Sein späteres Schicksal ist unbekannt.828 Der dritte Preis ging an I. Bacˇinskij für Marsˇ Kolymcˇan (Marsch der KolymaBewohner). Außerdem empfiehl die Jury zwei Lieder für den Druck, und zwar Pesn’ nasˇej rodiny (Das Lied unserer Heimat) von L. Lebedev sowie Stachanovcy Kolymy (Die Stachanov-Arbeiter der Kolyma) von S. Aleksandrova.829 Leider konnten die Publikationen dieser Lieder nicht aufgefunden werden. Ein Grund dafür ist sicherlich darin zu sehen, dass der überwiegende Teil der auf der Kolyma vor 1937 erschienenen Publikationen im Zuge des Großen Terrors vernichtet wurde, sodass Zeitungen und Zeitschriften aus früherer Zeit nur fragmentarisch überliefert sind. Die einzige aufgefundene Notenpublikation aus dem Jahr 1937 in der Zeitschrift Kolyma gibt ein Stück mit dem Titel Marsˇ 826 Signal dorogi (Spornyj), 25. Januar 1936 (Nr. 6), S. 1. 827 Kolyma, 1936, Nr. 1, S. 93. 828 Kozlov, Aleksandr : »V krugu blatnych ja ne scˇitalsja trusom…«, in: Magadanskaja pravda, 14. September 1990, S. 3. 829 Kolyma, 1936, Nr. 1, S. 93.

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stachanovcev Kolymy (Marsch der Stachanov-Arbeiter der Kolyma) wieder – ohne Nennung des Komponisten. Dass es sich dabei höchstwahrscheinlich nicht um einen Beitrag zum Kompositionswettbewerb handelt, geht aus zwei Publikationen in der Sovetskaja Kolyma hervor: Am 6. Mai 1937 erschien auf S. 3 ein Aufruf dazu, den Text dieses Marsches zu vertonen. Am 12. Mai 1937 wurden die Noten des Marsches in der Zeitung veröffentlicht. Das Notenbild stimmt genau mit dem in der Zeitschrift veröffentlichten überein. Das Stück wurde in beiden Publikationen so inszeniert, als ob StachanovArbeiter es gedichtet hätten; von der Musik wird lediglich gesagt, dass sie ebenfalls auf der Kolyma komponiert wurde. Vermutlich wurde der Name des Komponisten verschwiegen, weil es sich bei ihm um einen politischen Häftling handelte. Der Marsch vermag einen Eindruck davon zu vermitteln, welche Lieder über die Kolyma offiziell gewünscht waren. Sein Vergleich mit den im Dmitlag entstandenen enthusiastischen und marschartigen Massenliedern zeigt Ähnlichkeiten auf.

Abb. 39: Marsˇ stachanovcev Kolymy (Marsch der Stachanov-Arbeiter der Kolyma). Kolyma, 1937, Nr. 1, S. 87.

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Der Text dieses Liedes lautet übersetzt: In den Stürmen sowjetischer Zeiten Sind wir aufgewachsen. Arbeit ist unser Glück und Stolz. Wir lieben das Purpur der Fahnen Im Azurblau des Himmels, Wir lieben das Lächeln und die Frische. Refrain: Für die Sache der sowjetischen Teuren Heimat, Des großen Stalin Sache Lasst uns die graue Kolyma Jugendlich auffrischen, Damit unser Ruhm erschallt. Wir sind in Schneesturm Und Sonnenglut Und um die sternenreiche, stille Mitternacht Dazu bereit, auf dem Posten zu stehen, Das Abbaufeld umzugraben Und allen Gefahren zu begegnen. Refrain Wir werden mit eigenen Händen In der bedrohlichen sowjetischen Redoute Das wilde Land urbar machen, Und im Sommer werden wir von seinen Forts Moskau mit Goldregen Salutieren. Refrain Also vorwärts, Stachanov-Arbeiter! Geh mutig voran, Großes Heldengeschlecht! Das sowjetische Volk Soll überall Von unseren Gruben auf der Kolyma hören. Refrain830 830 =l Sla_b\Y S Rdapf B_SVcb[Yf SaV]V^. 9 cadU – ^QiV bhQbcmV Y T_aU_bcm. =l \oRY] S \QXdaY 2QTap^Vg X^Q]V^, =l \oRY] d\lR[Y Y R_Ua_bcm. @aY`VS : 8Q UV\_ b_SVcb[_Z ?chYX^l a_U^_Z, 3V\Y[_T_ BcQ\Y^Q UV\_ Capf^V] ]_\_UVg[Y BVU_Z ;_\l]_Z,

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Über die Rezeption dieses Liedes und auch der Lieder des Kompositionswettbewerbs ist nichts bekannt, jedoch blieben sie nicht die einzigen Stücke, in denen die Erschließung Kolymas in den ersten Jahrzehnten besungen wurde: Durch zwei Konzertprogramme des Magadaner Theaters ist belegt, dass dort in den 1940er-Jahren Lieder gesungen wurden, die offenbar einen direkten Bezug zum Trust Dal’stroj (vgl. Kapitel B.2) hatten. Dal’stroevskaja heißt ein in Begleitung des Jazz-Orchesters vorgetragenes Lied.831 Drei weitere Lieder sind mit »Dal’stroj-Lieder« überschrieben und wurden ebenfalls zur Begleitung des JazzOrchesters gesungen: Magadan – Moskva (Magadan – Moskau), Belye nocˇi kolymskie (Die weißen Nächte der Kolyma) und Samorodok (Goldklumpen).832 Auch in anderen Lagern des Gulag wurde versucht, ein spezielles Lied als eine Art Hymne der Häftlinge einzuführen. Aus dem Bamlag ist beispielsweise das Lied Lucˇˇsee slovo (Das beste Wort) überliefert, welches in der lagerinternen Veröffentlichung »Lied der Stachanov-Arbeiter des Bamlag« genannt wird.

Hc_R b\QSQ _ ^Qb `a_TaV]V\Q. 4_c_Sl S ]pcV\Y [!], 9 S b_\^Vh^lZ X^_Z, 9 S XSVXU^do `_\^_hm T\dfdo =l SbcQcm hQb_Sl]Y, 3b[daTQ^Ycm XQR_Z 9 SbcaVcYcm _`Qb^_bcm \oRdo. ?cbca_Y] ]l 3 Ta_X^lZ b_SVcb[YZ aVUdc ;aQZ UY[YZ bS_Y]Y ad[Q]Y, 1 \Vc_] c e_ac_S VT_ 4ap^V] bQ\oc =_b[SV X_\_cl]Y U_WUp]Y. 3`VaVU WV, bcQfQ^_Sgl ! B]V\_ S`VaVU, 3V\Y[_V `\V]p TVa_VS ! @dbcm SboUd db\liYc B_SVcb[YZ ^Qa_U ? ^QiYf [_\l]b[Yf XQR_pf.

Kolyma, 1937, Nr. 1, S. 86 f. 831 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 11, l. 47. 832 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 11, l. 57. Obwohl beide Programme undatiert sind, lässt ihre Einordnung im Archiv darauf schließen, dass sie in den 1940er-Jahren verfasst wurden.

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Abb. 40: Boris Prozorovskij (vgl. die Komponistentabelle in Kapitel D)/L. Dmitriev : Lucˇˇsee slovo (Das beste Wort), in: Putearmeec (Zeitschrift des Bamlag), 1936, Nr. 5, S. 20 f.

Aleksandr Rozanov (1910 – 1994) Aleksandr Rozanov absolvierte 1931 das Leningrader Konservatorium, wo er Klavier bei Leonid Nikolaev und Komposition bei Vasilij Kalafati, einem Schüler Rimskij-Korsakovs, studiert hatte. In den 1940er- und 1950er-Jahren komponierte er Kinderopern, ein Klavierkonzert, Suiten für zwei Klaviere, Violinsonaten, Lieder, Klavierstücke, Kinderlieder und fertigte Volksliedbearbeitungen an. In den 1960er- und 1970er-Jahren betätigte er sich hauptsächlich als Musikwissenschaftler. Er forschte und publizierte zur russischen Musik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts und verfasste eine Biografie von Pauline Viardot,833 für die er durch die Association des Amis d’Ivan Tourgu¦niev, Pauline Viardot et Maria Malibran mit einer Ehrenmitgliedschaft ausgezeichnet wurde. Er war Herausgeber des Schrifttums von Michail Glinka im Rahmen der Glinka-Gesamtausgabe.834

833 Rozanov, Aleksandr : Polina Viardo-Garsia, Leningrad (Muzyka) 1969. Bei Valentina Kotljarova erhält man die Information, dass es sich dabei um Rozanovs Dissertation handelte. Kotljarova, Valentina: »Aleksandr Rozanov«, http://www.cio.arcticsu.ru/projects/pr1200/kirovsk.htm (letzter Zugriff am 31. Oktober 2011). 834 Glinka, Michail: Literaturnye proizvedenija i perepiska, in drei Bänden, 1973 – 1977. In-

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So weit reichen die enzyklopädischen Auskünfte über diesen Komponisten, Pianisten und Musikwissenschaftler. Valentina Kotljarova, die seit 1993 das Leben Rozanovs erforscht, ist es zu verdanken, dass weitere Informationen über ihn im Internet verfügbar sind.835 Demnach ist Rozanov nach Beendigung des Konservatoriums als Pianist, Pädagoge und Leiter eines Kammerensembles tätig gewesen. 1933 ist er verhaftet und zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Im Dmitlag, wo er seine Haft verbüßte, leitete er ein Musikensemble. Nachdem er ein halbes Jahr vor Verstreichen der Haftzeit entlassen worden war, musste er sich im Gebiet Murmansk in der Stadt Kirovsk, welche nördlich des Polarkreises liegt, niederlassen, wo er bis 1942 als Klavierlehrer und Begleiter an einer Kunstschule für Kinder tätig war. Hier komponierte er Stücke für Gesang, Chor, Violine und Klavier, ein Violinkonzert, zwei Opern und einige Ballette für Kinder sowie Schauspielmusik.836 Während der Ferien soll er illegal nach Leningrad gereist sein und dort Verwandte sowie Dmitrij Sˇostakovicˇ besucht haben, den er seit seiner Kindheit gut kannte. Im Zweiten Weltkrieg kämpfte er an der Leningrader Front und wurde mit einer Medaille ausgezeichnet. Ab 1945 unterrichtete er an der Musorgskij-Musikfachschule in Leningrad und arbeitete im Haus der Wissenschaftler, Haus der Pioniere sowie im Lesgaft-Institut für Körperkultur (hier begleitete er Kunstturner und Eiskunstläufer bei ihren Übungen und schrieb Musik für Auftritte bei Sportveranstaltungen). Mit Menschen aus seiner Umgebung sprach Rozanov nie über seine Haft, auch wenn es sich um Vertraute handelte – ein Phänomen, welches im Zusammenhang mit Aleksandr Kenel’ bereits angesprochen wurde. Für Aleksandra Orlova, die Rozanovs Lagerhaft in einem Artikel für die ehemals in den USA herausgegebene und inzwischen eingestellte Online-Zeitschrift Vestnik (Der Bote) erwähnt,837 war es selbstverständlich, dass der Komponist nie darüber formationen über A. Rozanov sind entnommen aus: LevasˇÚva, O. E.: »Rozanov Aleksandr SemÚnovicˇ«, in: Keldysˇ, Jurij (Hg.): Muzykal’naja e˙nciklopedija, Bd. 4, 1978, Sp. 684. 835 Kotljarova, Valentina: »Aleksandr Rozanov«, http://www.cio.arcticsu.ru/projects/pr1200/ kirovsk.htm (letzter Zugriff am 31. Oktober 2011); Dies.: »Pianist«, http://www.cio.arcticsu.ru/projects/pr1200/konservatoriya.htm (letzter Zugriff am 31. Oktober 2011). 836 Bei seiner Kinderoper VesÚlyj portnjazˇka (Das fröhliche Schneiderlein), welche am 30. April 1939 uraufgeführt wurde, handelte es sich um die erste in Kirovsk aufgeführte Oper. Rozanovs zweite Kinderoper SerÚzˇa Kostrikov, die im Januar 1940 zum ersten Mal gespielt wurde und sehr großen Erfolg erzielte, thematisierte die Kindheit Sergej Kirovs. Kotljarova, Valentina: »Opery DChVD«, http://www.cio.arcticsu.ru/projects/pr1200/opera.htm (letzter Zugriff am 31. Oktober 2011). 837 Orlova, Aleksandra: »Strannaja kniga«, in: Vestnik Online, 3. März 2004, Nr. 5, http://www. vestnik.com/issues/2004/0303/win/orlova.htm. In diesem Artikel ging es Orlova vorrangig darum zu zeigen, dass die Biografie Michail Glinkas, die unter A. Rozanovs Namen herausgegeben wurde, nicht vollständig von ihm stammen konnte, weil sie Mängel und fehlerhafte Informationen enthielt. Orlova erklärte sie damit, dass jemand nach Rozanovs Tod

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berichtete. Sie hat völlig zufällig davon erfahren, denn ihr Mann Georgij Orlov, welcher als Direktor der Bibliothek der Moskauer Philharmonie sowie des Moskauer Konservatoriums tätig gewesen war und 1940 starb, hatte die zweibändige Liedersammlung Muzyka trassy besessen.838 Die Melodien dieser Sammlung bezeichnete Orlova als »gesichtslos«. Darin entdeckte sie den Namen Rozanovs, sprach ihn aber nie darauf an, obwohl sie viel mit ihm und seiner Frau verkehrte. Dieses Schweigen beurteilte sie in ihrem Artikel wiederum als selbstverständlich. Im Dmitlag hat Rozanov nicht nur im Rahmen des Kompositionswettbewerbs Musikstücke geschrieben. Davon zeugen mehrere Veröffentlichungen seiner Lieder in der Zeitschrift Na ˇsturm trassy : In der Ausgabe Nr. 7 von 1936 ist das Lied Na smert’ A. M. Gor’kogo (Zum Tod A. M. Gor’kijs) und in der Ausgabe Nr. 2 von 1937 das Lied Solovej i roza (Die Nachtigall und die Rose) nach einem Gedicht von Aleksandr Pusˇkin abgedruckt (Abb. 41).839

das unvollendet gebliebene Buch unprofessionell ergänzt und unter Rozanovs Namen herausgegeben haben musste. 838 Wie der Sohn Aleksandra Orlovas, Aleksej, mir in einer E-Mail vom 25. Juli 2008 mitgeteilt hat, hat die Familie beide Bände der Sammlung bei der Ausreise aus der Sowjetunion in die USA 1979 verloren. 839 Na smert’ A. M. Gor’kogo, Text: L. Mogiljanskaja, Musik: A. Rozanov. In: Na ˇsturm trassy, 1936, Nr. 7, S. 19.

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Abb. 41: Aleksandr Rozanov/Aleksandr Pusˇkin: Solovej i roza (Die Nachtigall und die Rose), in: Na ˇsturm trassy, 1937, Nr. 2, S. 27 f.

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Das hier vertonte Gedicht erzählt von einer Nachtigall aus dem Orient, die für eine Rose singt, welche die Nachtigall aber nicht beachtet. In der zweiten Strophe vergleicht der Erzähler sich selbst mit der Nachtigall und seine Geliebte, die ihn nicht wahrnimmt, mit der Rose. Rozanov nimmt die Charakterisierung der Nachtigall als östlich, aus dem Orient stammend auf und schreibt ein Lied voller Exotismen (z. B. die leiterfremden Leittöne in T. 1 und 3 sowie die damit verbundenen Triolen). Die Vortragsbezeichnung lento zusammen mit der Tonart fis-Moll bewirkt eine zurückhaltende Stimmung. Dieses Lied stellt ein weiteres Beispiel dafür dar, dass Lieder pessimistischen Charakters entgegen der offiziellen Ideologie im Dmitlag erklungen sind. Und auch das Tongeschlecht Moll ist in diesem Fall offensichtlich akzeptiert worden.

Sergej Protopopov (1893 – 1954)

Abb. 42: Sergej Protopopov in Kislovodsk, 9. September 1938. GCMMK: F. 329, Nr. 293.

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Die bislang verfügbaren biografischen Artikel über den Komponisten Sergej Protopopov in Nachschlagewerken840 und Monografien841 geben nur wenige Auskünfte über ihn: Protopopov wurde 1893 in Moskau geboren, studierte an der dortigen Universität Medizin und nahm parallel dazu in den Jahren 1913/14 Unterricht in Musiktheorie bei Boleslav Javorskij. Anschließend studierte er von 1918 bis 1921, ebenfalls bei Javorskij, Musiktheorie, Komposition und Klavier am Konservatorium in Kiew. Zurück in Moskau, unterrichtete er bis 1930 am Ersten Musiktechnikum, welches von Javorskij gegründet wurde, leitete den Opernchor des Bol’sˇ oj-Theaters und verkehrte in Kreisen der ASM, der Assoziation für zeitgenössische Musik (Associacija Sovremennoj Muzyki). Mehrere seiner Werke, darunter die Klaviersonaten Nr. 2 von 1924 und Nr. 3, komponiert in den Jahren 1924 – 1928, sind bei der Universal-Edition in Wien erschienen, die einen Kooperationsvertrag mit dem staatlichen Musikverlag der Sowjetunion hatte.842 Nach diesen Angaben klafft in allen Biografien eine zeitliche Lücke im Lebenslauf Protopopovs auf. Die nächste Station, die bekannt ist, ist seine Unterrichtstätigkeit am Moskauer Konservatorium und danach an der Musikpädagogischen Fachschule in den Jahren 1938 – 1943. Wie aus den bisherigen Schilderungen klar geworden ist, befand sich Protopopov in der Zwischenzeit als Häftling in den Lagern des GULAG. Wie das Archiv des Föderativen Sicherheitsdienstes der Russischen Föderation der Verfasserin in einem Brief vom 10. November 2009 mitgeteilt hat, ist Protopopov am 4. März 1934 verhaftet und am 4. April 1934 vom Sonderkollegium des OGPU verurteilt worden, und zwar gemäß dem Beschluss des CIK SSSR [Central’nyj Ispolnitel’nyj Komitet SSSR – Zentrales Exekutivkomitee der Sowjetunion] vom 17. Dezember 1933. Dieser Beschluss sah vor, Männer für homosexuelle Handlungen auch dann zu bestrafen, wenn diese in beiderseitigem Einvernehmen ausgeführt wurden.843 Protopopov wurde zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt. Seine Freilassung aus dem Dmitlag erfolgte am 11. Juni 1936, einen Tag nach der Unterzeichnung des Erlasses über den Kompositionswettbewerb im Dmitlag. Es ist möglich, dass die vorzeitige Freilassung auf Proto. 840 »Protopopov Sergej Vladimirovicˇ«, in: Keldysˇ, Muzykal’naja enciklopedija, Bd. 6, 1982, Sp. 887 (der Artikel über Protopopov ist nicht in Bd. 4 von 1978, wo er alphabetisch eingeordnet werden müsste, sondern erst im Ergänzungsteil erschienen); Powell, Jonathan: »Protopopov, Sergei«, in: Sadie, Stanley (Hg.): The New Grove Dictionary of Music and Musicians, 2. Auflage, Bd. 20, 2001, S. 439; Lobanova, Marina: »Protopopov, Sergej«, in: Blume, Friedrich (Hg.): Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, Personenteil, Bd. 13, 2005, Sp. 997 f. 841 Gojowy, Neue sowjetische Musik der 20er Jahre, 1980, S. 101; Sitsky, Larry : Music of the Repressed Russian Avant-Garde. 1900 – 1929, 1994, S. 283 – 290. 842 Protopopoff, S.[ergej]: 2. Sonate op. 5 = II. Sonata, 1928; Protopopov, Sergej: Tret’ja sonata dlja fortepiano op. 6 = Sonata terza per pianoforte, 1930. 843 Sobranie zakonov SSSR, 1934, Nr. 1, S. 5.

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popovs Einsatz beim Wettbewerb zurückgeführt werden kann. Sicherlich spielte dabei eine Rolle, dass er im Lager eine Zeit lang als Arzthelfer gearbeitet hatte, wodurch er eine Haftminderung erhalten hat. Über Protopopovs Leben im Gefängnis und Lager gibt ein umfangreicher Korpus seiner Briefe Auskunft. Es handelt sich dabei um Briefe an unterschiedliche Adressaten, die Boleslav Javorskij in fünf Hefte abgeschrieben hat. Die meisten davon sind an Protopopovs Mutter und seinen Lebensgefährten Javorskij gerichtet.844 Es ist erstaunlich, wie viele Briefe Protopopov aus dem Gulag schreiben konnte. Aus einigen geht hervor, dass er als Dirigent des Lagerorchesters das Privileg genoss, unbewacht in die Stadt gehen zu dürfen. Dort konnte er die Briefe dann bei der Post aufgeben. Sicherlich sind seine Briefe mit Vorsicht zu lesen, denn er wollte seine Verwandten und Freunde sehr wahrscheinlich nicht beunruhigen und zensierte sich selbst. Andererseits gelang es ihm, die Lagerzensur zu umgehen, und dadurch konnte er vermutlich freier schreiben als andere Häftlinge. Jedenfalls stellen seine Briefe eine wertvolle Quelle für Musikwissenschaftler dar, weil sie als zeitgenössische Dokumente unmittelbar von den Erfahrungen eines Komponisten im Gulag berichten. Ein vergleichbares Zeugnis ist der Autorin nicht bekannt.845 Javorskij schrieb seinerseits über 100 Briefe an Protopopov während dessen Haft, in denen er unter anderem viele Phänomene der Kunst diskutierte. Aus dem Brief vom 5. März 1935 geht hervor, dass er die fachliche Kommunikation mit Protopopov schmerzlich vermisste und in seiner Umgebung niemanden fand, mit dem er einen vergleichbaren Austausch pflegen konnte.846 Am 2. April 1934 schrieb Protopopov seiner Schwester Vera aus dem ButyrkaGefängnis und bat sie darum, für ihn zu packen, und zwar Kleidung, Geschirr, Essen, aber auch Notenpapier, Tinte, Federn und die Skizzen zur Oper Pervaja konnaja (Erste Reiterarmee), welche er zu orchestrieren gedachte. Javorskij notierte am Rande eines Heftes mit den Briefen Protopopovs, dass dieser am 12. April sein Urteil mitgeteilt bekommen hat, am 15. April einen Besuch von seiner Mutter und seiner Schwester Nina empfangen durfte und am 18. April wegtransportiert wurde.847 Aus dem Zug berichtete der Komponist, dass er dort »Kulturarbeit« betrieb: Er leitete einen kleinen Chor, welcher bereits Konzerte im Waggon gegeben 844 Briefe Protopopovs an verschiedene Personen, Abschriften von Javorskij. GCMMK: F. 329, Nr. 670 – 674. 845 Ein vergleichbares Zeugnis aus der Sicht eines Musikwissenschaftlers stellen die Briefe Dmitrij Gacˇevs dar (vgl. Kapitel B.2). 846 Bercˇenko, Roman: V poiskach utracˇennogo smysla. Boleslav Javorskij o »Chorosˇo temperirovannom klavire«, 2005, S. 25; Rabinovicˇ, Isaak (Hg.): Boleslav Leopol’dovicˇ Javorskij. Stat’i, vospominanija, perepiska, Bd. 1, 2. Auflage, 1972, S. 445. 847 GCMMK: F. 329, Nr. 673, l. 2 – 3.

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haben soll. Die Fahrt dauerte 18 Tage, während derer die Häftlinge Durst leiden mussten. Sie wurden in die Stadt Mariinsk im Gebiet Kemerovo gebracht, wo der Komponist als Arzthelfer tätig werden konnte. Er traf im Lager auf Menschen, die seine Oper Pervaja konnaja positiv für das Bol’sˇoj-Theater rezensiert hatten. Es gab sogar so viele Musiker im Lager, dass er zunächst nicht als solcher arbeiten durfte, weil es nur eine Bühne gab, um die konkurriert wurde. Nichtsdestotrotz komponierte er Lieder und ist schon im Mai mit einem Bariton zusammen aufgetreten.848 In einem seiner ersten Briefe aus dem Lager fragte Protopopov bereits danach, ob es für ihn nicht die Möglichkeit gebe, nach Dmitrov versetzt zu werden, ˇ . dabei helfen könne. Offenbar war damit Michail C ˇ ernjak und ob nicht Misˇa C gemeint, welcher wie Protopopov ein Javorskij-Schüler war. Protopopov wollte aber nur dann im Dmitlag seine Haft verbüßen, so schrieb er zumindest, wenn er dort als Musiker arbeiten konnte.849 Im Spätsommer 1934 wurde Protopopov für zweieinhalb Monate zu schweren Arbeiten mit der Allgemeinheit der Häftlinge außerhalb der Stadt abkommandiert. Sie mussten zwölf Stunden täglich ohne freie Tage tätig sein. Um welche Arbeit es sich genau handelte, schreibt Protopopov nicht, sondern nur, dass er sehr müde war, und dass seine Fingergelenke schmerzten. Während dieser Zeit konnte er nicht an Kunst denken. Glücklicherweise wurde er nach zweieinhalb Monaten wieder in die Stadt Mariinsk zurücktransportiert und erneut als Arzthelfer eingesetzt. Sein Dienst dauerte 24 Stunden, danach hatte er 24 Stunden frei und so fort.850 Am 6. Oktober 1934 schrieb er, dass ihm das Geschehene wie ein Albtraum vorkam. Er sehnte sich nach Musik und danach zu komponieren. Im Oktober verfasste der Komponist eine Klavierbegleitung zu dem russischen Volkslied Step’ ˇsirokaja (Weite Steppe). Danach setzte er die Begleitung für ein Orchester und beabsichtigte, die Melodie einem Cello zu übertragen. Er wollte in diesem Werk harte Arbeit und Ausweglosigkeit darstellen, welche bisweilen durch Protestschreie unterbrochen werden sollten.851 In den Briefen bedankte sich Protopopov regelmäßig für Lebensmittelpakete. Es ist ungewöhnlich, dass ein Häftling so viele Pakete erhalten durfte und dass sogar Schokolade und Kleidungsstücke, die seine Mutter ihm strickte, ihn erreichten. Auch geht aus den Briefen hervor, dass er neu komponierte Stücke nach 848 849 850 851

GCMMK: F. 329, Nr. 673, l. 3 – 4ob, 5ob, 6, 7. GCMMK: F. 329, Nr. 673, l. 7. GCMMK: F. 329, Nr. 670, l. 5, 5ob, 7. GCMMK: F. 329, Nr. 670, l. 5, 6. Bei der Recherche in der Kartei des Protopopov-Archivs konnte dieses Lied einzeln nicht gefunden werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es dort doch vorhanden sein könnte, z. B. unter den Bearbeitungen von Volksliedern (F. 329, Nr. 52, 22 Blätter), die aus Zeitgründen nicht eingesehen werden konnten.

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Moskau schicken durfte, und dass diese dort aufgeführt wurden. Als Gegenleistung bekam er Anfang 1935 Notenmaterial und Saiten zugeschickt. Ihm fehlte jedoch die Zeit, um am Klavier zu komponieren, denn das im Lager vorhandene Instrument durfte er nur sehr eingeschränkt nutzen. Es gab, wie schon erwähnt, zu viele Künstler im Lager und für alle nur einen Raum mit einem Klavier.852 Ende November 1934 beauftragte die Lagerleitung Protopopov damit, ein kleines Sinfonieorchester zu leiten und drei Ausschnitte aus Opern mit ihm ˇ ajkovskijs Evgenij Oneeinzuüben, es handelte sich hierbei um Teile aus PÚtr C gin, Anton Rubinsˇtejns Dämon und Aleksandr Dargomyzˇskijs Rusalka. Protopopov musste die Stücke entsprechend den vorhandenen Instrumenten neu orchestrieren. Die Ausschnitte wurden nicht konzertant, sondern szenisch dargeboten, und am 31. Dezember 1934 und 1. Januar 1935 aufgeführt. Die Aufführungen erzielten, nach Protopopovs Auskunft, großen Erfolg. Danach orchestrierte und übte er Ausschnitte aus Aleksandr Borodins Fürst Igor ein. Am 20. Januar schrieb er in einem Brief, dass künstlerische Arbeit unter solchen Lebensbedingungen ihm sehr schwerfiel. Jedoch bedeutete sie für ihn ein Ventil, wie aus einem Brief vom Februar 1935 hervorgeht.853 Am 3. Dezember 1934 berichtete Protopopov darüber, dass er ein neues Lied komponiert hatte: Prosˇcˇaj[,] zˇizn’, radost’ moja (Lebe wohl, Leben, meine Freude). Die Arbeit daran nahm er spätestens Mitte November auf. Im Januar 1935 schrieb er an die Sängerin Olimpiada Gorosˇcˇenko, die auch während Protopopovs Haft viele seiner Stücke in Moskau sang, dass er dieses Lied besonders mochte, weil darin Erlebnisse, die seinen eigenen ähnlich waren, reflektiert wurden.854 Ähnliche Gedanken äußerte er auch in weiteren Briefen, z. B. dass in diesem Lied die Trauer besonders betont wird,855 und kehrte im Laufe seines Schaffens immer wieder zu diesem Lied zurück. In seinem selbsterstellten Werkverzeichnis ordnete er das Lied unter op. 27 ein und vermerkte drei Redaktionen: 1934, 1948 und 1948 für gemischten Chor.856 Die Uraufführung durch Gorosˇcˇenko (Gesang) und Javorskij (Klavier) fand am 26. Januar 1936 im Saal der Kultur Armeniens in Moskau statt,857 während Protopopov noch in Haft war. 1944 verwendete er das Lied als ersten Teil in der Sjuita iz ˇsesti krest’janskich 852 853 854 855 856

GCMMK: F. 329, Nr. 670, l. 6 – 10, 21ob, 22. GCMMK: F. 329, Nr. 670, l. 11, 15, 17, 18, 21ob. GCMMK: F. 329, Nr. 670, l. 11, 12, 15ob. GCMMK: F. 329, Nr. 671, l. 3. Im Archiv des Komponisten im GCMMK befinden sich fünf Autografen dieses Liedes: F. 329, Nr. 36 (für eine Stimme, undatiert), Nr. 88 (für Chor a capella, Moskau, September 1948), Nr. 140 (Orchesterfassung), Nr. 638 (für hohe Stimme und Klavier, Moskau, 1948), Nr. 639 (für Stimme und Klavier, undatiert). 857 GCMMK: F. 329, Nr. 195, l. 6ob–27.

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pesen (Suite aus sechs Bauernliedern) für Sinfonieorchester op. 28.858 Die Vortragsbezeichnungen dazu lauten in der deutschen Übersetzung in der Reihenfolge ihres Auftretens: »von ferne, traurig; dramatisch; mit wachsender Verzweiflung; aufgeregt; düster ; erregt; schmerzerfüllt; traurig; mit plötzlicher Schärfe; innig, hell; traurig«.859 Die Arbeit Protopopovs mit dem Orchester war so erfolgreich, dass er weitere Stücke orchestrieren und einüben durfte. Nichtsdestotrotz musste er auch weiterhin als Arzthelfer arbeiten, sodass ihm die Zeit zum Komponieren fehlte, denn von den Proben kehrte er manchmal erst um drei Uhr nachts in die Baracke zurück. Am 24. Februar 1935 wurde ein Teil aus Borodins Oper Fürst Igor unter seiner Leitung aufgeführt, wobei ein Teil der zivilen Bevölkerung von Mariinsk, welche größtenteils noch nie in einer Oper gewesen war, sie sehen konnte. Der Erfolg war groß, die Vorstellung musste am folgenden Tag wiederholt werden. In der zweiten Hälfte der Vorführung wurde ein Konzert gegeben, an dem Protopopov als Begleiter beteiligt war, mit Stücken von Rimskij-Korsakov, Musorgskij, C¦sar Cui, Anatolij Ljadov und Borodin. Ab Februar 1935 berichtete er von regelmäßigen Proben und Konzerten zu Feiertagen und Jubiläen.860 Im März 1935 begann Protopopov mit der Arbeit an der gesamten Oper Evgenij Onegin, ausschließlich der Chorszenen, weil nur ein Frauenchor im Lager vorhanden war. Er musste die Oper zunächst neu orchestrieren und nahm diese Arbeit mit, als er im Mai 1935 einen Krankentransport durch Sibirien begleiten musste. Auf dieser Fahrt konnte er sich von der doppelten Anstrengung der letzten Monate erholen, weil nur wenige Menschen in seinem Waggon mitfuhren. Er konnte sogar Verwandte in Irkutsk besuchen und in der Natur spazieren gehen. Insgesamt war er über drei Wochen unterwegs und erinnerte sich, so schrieb er, mit Vergnügen an den Baikalsee, den Fluss Angara und die Umgebung von Krasnojarsk.861 Im Juni 1935 machte er eine ähnliche Reise nach Chabarovsk, die jedoch anstrengender war, weil mehr Kranke transportiert wurden.862 Auf der dritten Reise vom Juli bis August 1935 orchestrierte er das Volkslied Prosˇcˇaj, zˇizn’.863 Javorskij überliefert in seinen Abschriften einen Brief von Frida Dobler aus dem Sommer 1935, die Protopopov damals getroffen und darüber an seine 858 GCMMK: F. 329, Nr. 141. 859 Vor Einsehen des Notenmaterials im Archiv ist die Verfasserin im Artikel über Sergej Protopopov 2010 fälschlicherweise davon ausgegangen, dass er mit einer ähnlichen Fassung dieses Liedes gearbeitet haben könnte, wie sie bei Azarij Ivanov in Russkie narodnye pesni, 1966, S. 145 f. abgedruckt worden ist. Dies war jedoch nicht der Fall. 860 GCMMK: F. 329, Nr. 670, l. 19, 19ob, 20, 20ob, 21; Nr. 671, l. 14. 861 GCMMK: F. 329, Nr. 670, l. 20ob; Nr. 671, l. 9, 19ob, 20, 21ob, 23ob, 25ob. 862 GCMMK: F. 329, Nr. 671, l. 26, 27ob, 30. 863 GCMMK: F. 329, Nr. 671, l. 41. Das Manuskript befindet sich im Archiv des Glinka-Musikmuseums: GCMMK: F. 329, Nr. 140.

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Verwandten in Moskau berichtet hat. Er sehe relativ gut aus, schrieb sie, habe zugenommen, sei aber auch grau geworden. Er lebe in Mariinsk in einer großen Baracke zusammen mit weiterem ärztlichen Personal, weswegen die Baracke einigermaßen sauber sei. Das Essen sei dürftig, aber zusammen mit den Lebensmittelpaketen aus Moskau reiche es aus. Durch die Arbeit mit dem Orchester genieße er große Bewegungsfreiheit: Er könne ohne Bewachung in die Stadt und in andere Lagerabteilungen gehen. Wenn er gut arbeite, bekomme er mehr Tage als verbüßt angerechnet, wodurch die Haftzeit sich vermindere.864 Am 12. November 1935 wurde Protopopov ins Dmitlag transportiert, welches er nach einer anstrengenden Reise erst am 8. Dezember erreichte. Sofort nach der Ankunft bat er in einem Brief um Lebensmittelsendungen. Im Gegensatz zu anderen Häftlingen, die 21 Tage in Quarantäne verbringen mussten, konnte Protopopov schon nach einem Tag als Pianist arbeiten. Aus diesem Lager berichtete er von besseren Unterbringungs-, Verpflegungs- sowie Arbeitsbedingungen.865 Nach Protopopovs Ankunft im Dmitlag war es Boleslav Javorskij möglich, ihn zu besuchen – im Laufe des Jahres 1936 hielt er sich mehrmals in Dmitrov auf. Am 9. März gab er dort ein Konzert mit der Sängerin Tamara Sˇ enejch mit Werken von Robert Schumann, Franz Liszt, Aleksandr Borchman und Protopopov. Am 30. Oktober gab er in Dmitrov zwei Konzerte zusammen mit der Sängerin Olimpiada Gorosˇcˇenko. Auf dem Programm standen ausschließlich Werke von Protopopov : Ausschnitte aus der Oper Pervaja konnaja sowie ein Volkslied, welches in der Quelle nicht näher benannt wird.866 Während seiner Haft schrieb Protopopov folgende noch nicht erwähnte Stücke, die er 1953 in seinem Werkverzeichnis auflistete: Drei Poeme für Violoncello und Klavier op. 16 (1935/36), Acht russische Lieder op. 18 (1934 – 1937) und Drei russische komische Lieder op. 19 (1935).867 Im Katalog seines Archivs im Glinka-Museum sind weitere Werke aus dieser Zeit überliefert, darunter Rassudok i ljubov’ (Der Verstand und die Liebe) für tiefe Stimme und Klavier nach Aleksandr Pusˇkin (September 1933).868 Die Stücke, die Protopopov für den Kompositionswettbewerb im Dmitlag eingereicht hatte, sowie die Tatsache, dass er Beiträge anderer Teilnehmer arrangiert hatte, nahm er ebenfalls in sein Werkverzeichnis auf, obwohl es ansonsten lückenhaft ist. Gründe dafür könnten gewesen sein, dass er das Werkverzeichnis für eine Institution erstellte und deswegen ideologische Musikstücke

864 865 866 867 868

GCMMK: F. 329, Nr. 671, l. 28ob–30. GCMMK: F. 329, Nr. 672, l. 27ob, 28; Nr. 674, l. 3. Rabinovicˇ , Boleslav Leopol’dovicˇ Javorskij, 1972, S. 655 f. Protopopovs eigenhändiges Werkverzeichnis von 1953. GCMMK: F. 329, Nr. 195, l. 6ob–27. GCMMK: F. 329, Nr. 25.

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aufnehmen wollte, um Vorteile zu erhalten, oder dass er seine Autorschaft an den von anderen Häftlingen eingereichten Stücken festhalten wollte. Am 7. Mai 1936, etwas mehr als einen Monat vor seiner Freilassung, schrieb der Komponist: Es ist möglich, dass die einschneidenden Erlebnisse der letzten zwei Jahre eine gewisse positive Auswirkung auf mein Schaffen hatten, indem sie es tiefer gemacht haben.869

Die Tiefe einer Komposition zu beurteilen, scheint schwer möglich, offensichtlich ist jedoch, dass Protopopov nach der Lagerhaft die fortschrittliche Musiksprache, welche er bis zum Beginn der 1930er-Jahre gepflegt hatte, endgültig abgelegt hat. Als Komponist hatte er zunächst nämlich in der direkten Nachfolge Boleslav Javorskijs gestanden. In seinen Kompositionen ging er von der Theorie aus, die Javorskij in der 1908 erschienenen Schrift Stroenie muzykal’noj recˇi (Der Bau der Musiksprache) dargelegt hatte, und entwickelte diese weiter. Protopopov hinterließ ebenfalls eine theoretische Schrift – E˙lementy stroenija muzykal’noj recˇi (Bauelemente der Musiksprache), welche 1930/31 in zwei Bänden in Moskau verlegt wurde, und in der er Javorskijs Theorie konkretisierte und grundlegend aufbereitete.870 Klanglich näherte sich Protopopov in seiner fortschrittlichen Musiksprache Aleksandr Skrjabin an und gehörte damit zu den Skrjabinisten, einer Generation russischer Komponisten, die sich durch die Musik Aleksandr Skrjabins inspirieren ließen.871 Eine grundlegende Rolle spielte in Protopopovs Kompositionen der 1920erJahre der Tritonus. Läufe mit Tritoni kommen auch noch in Stücken vor, die er im Lager komponiert hat, z. B. im Pr¦lude op. 32, Nr. 1 und dem Pobednyj marsˇ (Siegesmarsch), beide von 1936 und für Klavier geschrieben. Vereinzelt begegnen Läufe mit Tritoni auch im »dramatischen vokal-sinfonischen Monolog für Stimme und Klavier« Smert’ poe˙ta (Der Tod des Dichters), welchen Protopopov zwischen Januar und März 1937 in Dmitrov komponierte. Er kehrte nämlich nicht sofort nach seiner Freilassung nach Moskau zurück, sondern blieb in Dmitrov. Dort dirigierte er im Jahr 1937 beispielsweise die Uraufführung seines Stückes Pobednyj marsˇ, welches er in einer Fassung für Klavier beim Wettbewerb im Dmitlag eingereicht hatte,872 und das er später für ein Blasorchester setzte.873 869 3_X]_W^_, R_\miYV `VaVWYSQ^Yp `_b\VU^Yf USdf \Vc blTaQ\Y ^V[_c_ado `_\_WYcV\m^do VT_ R_\VV T\dR_[Y]. GCMMK: F. 329, Nr. 674, l. 52. a_\m S cS_ahVbcSV, bUV\QS . 870 Protopopov, Sergej: Elementy stroenija muzykal’noj recˇ i, Bd. 1 – 2, 1930/31. 871 Dazu ausführlich bei: Allende-Blin, Juan: »Die Skrjabinisten oder wie eine Komponistengeneration links liegen blieb«, in: Metzger, Heinz-Klaus/Riehn, Rainer (Hg.): Aleksandr Skrjabin und die Skrjabinisten, 1983, S. 81 – 102, und Goldstein, Michael: »Skrjabin und die Skrjabinisten«, in: Metzger/Riehn, Aleksandr Skrjabin und die Skrjabinisten, München 1983, S. 178 – 190. 872 Muzyka trassy, 1936, S. 64 – 74. 873 GCMMK: F. 329, Nr. 195, l. 6ob–27.

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Protopopovs Stück Smert’ poe˙ta liegt das gleichnamige Gedicht Michail Lermontovs zugrunde, welches er schrieb, nachdem er von Pusˇkins tragischem Tod erfahren hatte. Die Anregung zu dieser Komposition erhielt Protopopov offensichtlich aus einem Brief Javorskijs vom 12. Januar 1937. Javorskij schrieb über Lermontovs Gedicht, dass es voller leidenschaftlicher und emotionaler Intensität sei, »nicht so wie vor einem Sturm, […] sondern wie wenn es bereits geblitzt hätte und es im nächsten Augenblick donnern müsste«.874 Die Uraufführung fand am 3. März 1940 in einem Hauskonzert der Familie Gorosˇcˇenko in Moskau statt. Aufführende waren Olimpiada Gorosˇcˇenko und Boleslav Javorskij.875 Offensichtlich kannte Dmitrij Sˇ ostakovicˇ Protopopovs Smert’ poe˙ta, denn er versuchte im Januar 1941 – laut einem seiner Briefe an Protopopov – den Dirigenten Evgenij Mravinskij zur Aufführung dieses Werkes zu bewegen.876 Eine sinfonische Fassung dieses Werkes mit Solist verzeichnete Protopopov 1953 in seinem selbsterstellten Werkverzeichnis unter der Opus-Nummer 24, sie befindet sich jedoch nicht in seinem Archiv.877 Der Einsatz Sˇ ostakovicˇs für Protopopov ist bemerkenswert. Auch nach dem Tod des von ihm verehrten Javorskij im Jahr 1942 setzte sich Sˇ ostakovicˇ nachdrücklich beim Vorsitzenden des Kunstkomitees Michail Chrapcˇenko für Protopopov ein.878 Und auch im Todesjahr Protopopovs, 1954, versuchte Sˇostakovicˇ im Januar seine Aufnahme im renommierten Botkin-Krankenhaus zu erwirken.879

Rabinovicˇ , Boleslav Leopol’dovicˇ Javorskij, 1972, S. 656. GCMMK: F. 329, Nr. 195, l. 6ob–27. Bobykina, Irina (Hg.): Dmitrij Sˇostakovicˇ v pis’mach i dokumentach, 2000, S. 129, 139 f. Protopopovs eigenhändiges Werkverzeichnis von 1953. GCMMK: F. 329, Nr. 195, l. 6ob–27. Der Verbleib dieser sinfonischen Fassung müsste noch recherchiert werden. Möglicherweise ist die Partitur im Archiv des Komponistenverbands zu finden, denn am 13. Mai 1941 spielte Javorskij zusammen mit der Sängerin Z. FÚdorova einige Lieder Protopopovs nach Texten von Lermontov im Komponistenverband vor. Vgl. Rabinovicˇ , Boleslav Leopol’dovicˇ Javorskij, 1972, S. 660. 878 Perchin, Vladimir (Hg.): Dejateli russkogo iskusstva i M. B. Chrapcˇenko, predsedatel’ Vsesojuznogo komiteta po delam iskusstv, aprel’ 1939 – janvar’ 1948, svod pisem, 2007, S. 634 – 636. 879 Brief Protopopovs an Olimpiada Gorosˇcˇenko vom 15. Januar 1954. GCMMK: F. 329, Nr. 657, l. 3ob [recte 1ob]. 874 875 876 877

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Abb. 43: Sergej Protopopov : Smert’ poe˙ta (Der Tod des Dichters), Anfang des Manuskripts. GCMMK: F. 329, Nr. 642, l. 1ob, 2.

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Smert’ poe˙ta scheint trotz der Lagerhaft keine symbolische Bedeutung für Protopopovs Leben gehabt zu haben: Wie sein umfangreiches Archiv im GlinkaMuseum in Moskau demonstriert, komponierte er auch nach der Haft weiter. Einige seiner Stücke wurden auch verlegt, z. B. Kolybel’naja »Cˇerkesskaja« (Tscherkessisches Wiegenlied) für hohe Stimme und Klavier (Moskau/Leningrad 1939), Drei belorussische Volkslieder für mittlere Stimme und Klavier (Moskau/ Leningrad 1940), das Lied vom Fluss Don Oj, da ty poduj (O, beginne zu wehen) für zweistimmigen Frauenchor und Klavier (Moskau 1944) sowie Zwei Gedichte Michail Lermontovs für hohe Stimme und Klavier (Moskau/Leningrad 1947).880 Ob der Stilwandel seiner Musik zu einem gewissen Teil von der Lagerhaft beeinflusst wurde, lässt sich nicht beantworten, weil keine Aussagen des Komponisten dazu vorliegen. Der Stilwandel und eine Annäherung an den sozialistischen Realismus setzten jedenfalls 1931 ein – vor der Verhaftung – so der Protopopov-Forscher Anton Rovner.881 ***

Die Betrachtungen des Musiklebens im Belbaltlag und im Dmitlag haben ergeben, dass vonseiten der Lagerleitung sehr große Anstrengungen unternommen wurden, um dieses zu intensivieren. Insofern kann die »Kulturerziehungsarbeit« in dieser Zeit nicht lediglich als »Feigenblatt« des Lagersystems gesehen werden. Genauso deutlich ist aber auch geworden, dass die kulturellen Aktivitäten stets mit dem Ziel der Produktivitätssteigerung und Disziplinierung der Häftlinge durchgeführt wurden, wodurch sie instrumentalisiert worden sind. Deswegen darf die »Kulturerziehungsarbeit« durch Musik nicht als Maßnahme gesehen werden, die der Umerziehung der Häftlinge zu ihrem eigenen Wohl dienen sollte, sondern sie sollten für den Staat instrumentalisierbar gemacht werden. Angaben zum Musikrepertoire in beiden Lagern zeigen, dass zu diesem Zweck vielfach Stücke verwendet wurden, die keinen ideologischen Inhalt aufwiesen. Dadurch wird lediglich ein weiteres Mal deutlich, dass die Häftlinge des Gulag als Arbeiter ausgebeutet werden sollten, und es dabei nicht darauf ankam, ideologische Vorgaben einzuhalten. Wenn bestimmte Musikstücke es vermocht haben, zur Arbeit zu motivieren, wurde bei ihrer Aufführung der ideologische Aspekt der »Kulturerziehungsarbeit« vernachlässigt.

880 Nach Angaben des Katalogs der Russischen Staatsbibliothek Moskau. 881 Rovner, Anton: »Sergej Protopopov – maloizvestnyj russkij kompozitor i teoretik pervoj poloviny XX veka«, in: Muzykovedenie, 2009, Nr. 1, S. 31, 34.

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1920er- und 1930er-Jahre

»Gern hätt’ ich sie alle beim Namen genannt…« – Namentlich bekannte Musiker im Dmitlag Abdulaev, Achmadulla – Musiker, Komponist;882 Abdullaj – Solist eines Chores;883 Achubadze – Chorleiter eines georgischen Chores;884 Afanas’ev – Pianist;885 Ageev, K. N. – Kapellmeister des ersten »Kanalarmisten«-Orchesters;886 Al’ber – TarSpieler;887 Ali-Zade, Klare˙nchanum – Teilnehmerin des Kompositionswettbewerbs im Dmitlag;888 Aminov – Organisator eines usbekischen Chores; Andreev – Orchestermusiker ;889 Arap, Olja – Mitglied eines Ensembles der Sinti und Roma;890 Bakaev, Abal – Chorleiter eines tschetschenischen Chores;891 Bakarov, Abdul – ˇ ungur-Spieler;892 Balajan – Musiker, Komponist,893 Leiter eines Zirkels der ZurnaC Spieler;894 Balasanjan – Solist eines Chores;895 Balas’jan – Musiker, Komponist;896 Balbukov – Sänger, trug bei der Pusˇkin-Feier 1937 die Arie des Eleckij aus der Pique Dame vor;897 Barakaev – Leiter eines tatarischen Chores;898 Batov – Bajanist;899 Belousov – Teilnehmer des Kompositionswettbewerbs im Dmitlag;900 Bessonov, P. F. – Musiker des ersten »Kanalarmisten«-Orchesters;901 Biksˇeev, Vejsy – Leiter eines Nacmeny-Chores; Bliznjuk – Leiter eines Gitarren-Mandolinen-Zirkels; Borisov – Leiter des Jazz-Orchesters in Orevo;902 Branovickij – Sänger, Musiker ;903 Bratisˇcˇev – Orchestermusiker;904 Buchvostov – Balalaika-Virtuose;905 Bul’sˇko – Orchestermuˇ aripov – Sänger, Usbeke;907 C ˇ eburakov, I. – siker ; Bykov – Orchestermusiker ;906 C

882 883 884 885 886 887 888 889 890 891 892 893 894 895 896 897 898 899 900 901 902 903 904 905 906 907

ˇ ernjak, »Muzyka lagernikov-nacionalov«, 1935, S. 22. C ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 24. C ˇ ernjak, »Muzyka lagernikov-nacionalov«, 1935, S. 22; C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, C S. 49. Mirov, »Pusˇkinskie dni na trasse«, 1937, S. 42. ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48; GARF: R-9489, op. 2, d. 20, l. 181. C ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 24; C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C ˇ ernjak, »Pesnju – trasse«, 1936, S. 18. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48 f. C ˇ ernjak, »Pesni cygan-kanaloarmejcev«, 1935, S. 13. C ˇ ernjak, »Muzyka lagernikov-nacionalov«, 1935, S. 22. C ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 24; C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C ˇ ernjak, »Muzyka lagernikov-nacionalov«, 1935, S. 22. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 24. C ˇ ernjak, »Muzyka lagernikov-nacionalov«, 1935, S. 22. C Mirov, »Pusˇkinskie dni na trasse«, 1937, S. 42. ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 24; C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C ˇ ernjak, »Pesnju – trasse«, 1936, S. 18. C GARF: F. R-9489, op. 2, d. 20, l. 181. ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C Mirov, »Pusˇkinskie dni na trasse«, 1937, S. 42. ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48. C ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 24; C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48 f. C ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 25. C

Fallbeispiele: Moskau-Wolga-Kanal

241

ˇ etverikova, Polja – Sängerin, Romni;909 Chalat’jan – Musiker, KompoMusiker;908 C 910 nist; Chamedov – Chorleiter ;911 Chamidov – Dutar-Spieler; Chareckaja – Leiterin eines Frauenchores;912 Charisov – Chorleiter eines tatarischen Chores;913 Chasˇisˇev od. Chasˇimov – Chorleiter eines baschkirischen Chores;914 Chejfic – Geiˇ upasˇvili, Foru – ger ;915 Chochlov – Komponist;916 Ciomasˇko – Orchestermusiker ; C Leiter eines Nacmeny-Chores;917 Dajdykov – Chorleiter eines usbekischen Chores;918 Dardykina – Mitglied der Frauen-»Agitationsbrigade« des Nolosel’cevskij-Arbeitsabschnitts;919 Donskoj – Leiter eines ukrainischen Chores,920 Teilnehmer des Kompositionswettbewerbs im Dmitlag;921 Dzˇabarov – Tar-Spieler;922 E˙l’gurkaev, Musof – Chorleiter eines tschetschenischen Chores;923 Gadzˇiev – Naj-Spieler ;924 Gafindzˇa – Musiker;925 Gavorskij, G. F. – Musiker des ersten »Kanalarmisten«-Orchesters; Ginzburg, G. Ja. – Musiker des ersten »Kanalarmisten«-Orchesters;926 Goncˇarov – Mandolinen-Spieler ;927 Govorskij, Gennadij (derselbe wie Gavorskij – ?) – Musiker des ersten »Kanalarmisten«-Orchesters;928 Gurenenko – Mitglied der Frauen-»Agitatiˇ astusˇki-Sängeonsbrigade« des Nolosel’cevskij-Arbeitsabschnitts;929 Guzikova – C 930 rin; Ipatova – Mitglied der Frauen-»Agitationsbrigade« des Nolosel’cevskij-Arbeitsabschnitts;931 Kancerov – Gitarrist;932 Kanin, V. E. – Musiker des ersten »Kanalarmisten«-Orchesters;933 Karlov – Teilnehmer des Kompositionswettbewerbs im Dmitlag;934 Kasymov – Naj-Spieler;935 Kenin – Organisator eines russischen Chores;936 908 909 910 911 912 913 914 915 916 917 918 919 920 921 922 923 924 925 926 927 928 929 930 931 932 933 934

ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48 f. C ˇ ernjak, »Pesni cygan-kanaloarmejcev«, 1935, S. 13. C ˇ ernjak, »Muzyka lagernikov-nacionalov«, 1935, S. 22. C ˇ ernjak, »Muzyka lagernikov-nacionalov«, 1935, S. 22; C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, C S. 49. ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C ˇ ernjak, »Muzyka lagernikov-nacionalov«, 1935, S. 22. C ˇ ernjak, »Muzyka lagernikov-nacionalov«, 1935, S. 22; C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, C S. 49. LichacˇÚv, Vospominanija, 1995, S. 275. ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 50. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48 f. C ˇ ernjak, »Muzyka lagernikov-nacionalov«, 1935, S. 22. C Terent’ev, »Zˇenskaja Novosel’cevskaja agitbrigada«, 1935, S. 25. ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C ˇ ernjak, »Pesnju – trasse«, 1936, S. 18. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C ˇ ernjak, »Muzyka lagernikov-nacionalov«, 1935, S. 22. C ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 24; C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C ˇ ernjak, »Muzyka lagernikov-nacionalov«, 1935, S. 22. C GARF: F. R-9489, op. 2, d. 20, l. 181. ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 24. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48. C Terent’ev, »Zˇenskaja Novosel’cevskaja agitbrigada«, 1935, S. 25. ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C Terent’ev, »Zˇenskaja Novosel’cevskaja agitbrigada«, 1935, S. 25. ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 24. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48; GARF: F. R-9489, op. 2, d. 20, l. 181. C ˇ ernjak, »Pesnju – trasse«, 1936, S. 18. C

242

1920er- und 1930er-Jahre

Kiricˇenko, I. I. – Musiker des ersten »Kanalarmisten«-Orchesters;937 Kirjuchina, Katja – Mitglied des Frauenorchesters von Tanja Sˇevljakova;938 Klassen, Ja. I. – Musiker des ersten »Kanalarmisten«-Orchesters;939 Konovalova – Mitglied der Frauen-»Agitationsbrigade« des Nolosel’cevskij-Arbeitsabschnitts;940 Koralli, Nikolaj – Kapellmeister des ersten »Kanalarmisten«-Orchesters;941 Kozij, A. Ja. – Musiker des ersten »Kanalarmisten«-Orchesters;942 Kravcˇenko, Polina – Mitglied der Frauen-»Agitationsbrigade« des Nolosel’cevskij-Arbeitsabschnitts;943 Krjukov, Ja. L. – Musiker des ersten »Kanalarmisten«-Orchesters;944 Krus’ – Bariton, sang bei der Pusˇkin-Feier 1937;945 Ksendzovskij – Sänger ;946 Kupov – Solist eines Chores;947 Kus’ko – Chorleiter ;948 Kuz’min – Teilnehmer des Kompositionswettbewerbs im Dmitlag;949 Kuznecova, Dusja – Mitglied der Frauen-»Agitationsbrigade« des Nolosel’cevskij-Arbeitsabschnitts;950 Labusˇnjak, D. T. – Musiker des ersten »Kanalarmisten«-Orchesters;951 Lazarev – Tenor, Solist eines Chores;952 Luganceva – Leiterin eines Frauen-Musikzirkels;953 Lukasˇenko – Orchestermusiker ; Makarenko – Chorleiter ;954 Maksimcˇuk, I. E. – Musiker des ersten »Kanalarmisten«-Orchesters; Matveenko, V. R. – Musiker des ersten »Kanalarmisten«-Orchesters; Melesˇkin, D. A. – Musiker des ersten »Kanalarmisten«-Orchesters;955 Merzlikin – Leiter eines Frauen-Musikzirkels;956 Mesˇkovskaja, Marusja – Mitglied des Frauenorchesters von Tanja Sˇevljakova;957 Michajlov – Teilnehmer des Kompositionswettbewerbs im Dmitlag;958 Muchamedzˇan – Musikerin;959 Muchtafutdinov – Solist eines Chores;960 Navruzov – Musiker, Instrumentenbauer ;961 Necˇaj – Sängerin, Mitglied einer »Agitationsbrigade«;962 Niko935 936 937 938 939 940 941 942 943 944 945 946 947 948 949 950 951 952 953 954 955 956 957 958 959 960 961

ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 24; C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48; GARF: F. R-9489, op. 2, d. 20, l. 181. C »Lucˇsˇij, zˇenskij«, 1936, S. 22. ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48; GARF: F. R-9489, op. 2, d. 20, l. 181. C Terent’ev, »Zˇenskaja Novosel’cevskaja agitbrigada«, 1935, S. 25. ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48. C GARF: F. R-9489, op. 2, d. 20, l. 181. Terent’ev, »Zˇenskaja Novosel’cevskaja agitbrigada«, 1935, S. 25. GARF: F. R-9489, op. 2, d. 20, l. 181. Mirov, »Pusˇkinskie dni na trasse«, 1937, S. 42. LichacˇÚv, Vospominanija, 1995, S. 275. ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 24. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C ˇ ernjak, »Pesnju – trasse«, 1936, S. 18. C Terent’ev, »Zˇenskaja Novosel’cevskaja agitbrigada«, 1935, S. 25. GARF: F. R-9489, op. 2, d. 20, l. 181. ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C ˇ ernjak, »Pesnju – trasse«, 1936, S. 18. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48 f. C GARF: F. R-9489, op. 2, d. 20, l. 181. ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C »Lucˇsˇij, zˇenskij«, 1936, S. 22. ˇ ernjak, »Pesnju – trasse«, 1936, S. 18. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 24. C ˇ ernjak, »Muzyka lagernikov-nacionalov«, 1935, S. 22. C

Fallbeispiele: Moskau-Wolga-Kanal

243

lajsˇvili – Chorleiter eines georgischen Chores;963 Novikova – Mitglied der Frauen»Agitationsbrigade« des Nolosel’cevskij-Arbeitsabschnitts;964 Ogurcov – Tenor, Solist eines Chores;965 Orlova – Leiterin eines Musikzirkels der weiblichen Häftlinge; Ovcˇinnikov – Sänger, sowohl im Belbaltlag als auch im Dmitlag inhaftiert;966 Petrov – Solist eines Chores;967 Pevzner – Teilnehmer des Kompositionswettbewerbs im Dmitlag; Pirogov – Teilnehmer des Kompositionswettbewerbs im Dmitlag;968 Pisˇcˇalin – Orchestermusiker ; Podgorskij – Chorleiter ; Podufanova – Sängerin ukrainischer Volkslieder ; Pol’ – Sängerin eines Jazz-Orchesters;969 Poljanskij – Solist eines Chores;970 Polosin – Orchestermusiker ;971 Portanenko, Vasja – Ältester eines Chores der Sinti und Roma;972 Protopopov, Sergej – Komponist; Provotorov od. Provorotov (derselbe wie Provatorov?) – Orchestermusiker,973 Teilnehmer des Kompositionswettbewerbs im Dmitlag;974 Prozorovskij – Teilnehmer des Kompositionswettbewerbs im Dmitlag;975 Rachimov – Leiter eines usbekischen Chores;976 Rachmatulaev od. Rachmatullaev – Musiker, Komponist,977 Komancˇa-Spieler;978 Rozanov, Aleksandr – Musikwissenschaftler, Komponist; Sacharova, Tamara – Mitglied der Frauen-»Agitationsbrigade« des Nolosel’cevskij-Arbeitsabschnitts;979 Sachiev – Sänger, Turkmene;980 Saitov – Musiker, Komponist;981 Sˇalygin – Musiker im Blasorchester, Komponist;982 Sancˇenko – Mitglied der Frauen-»Agitationsbrigade« des Nolosel’cevskij-Arbeitsabschnitts;983 Sˇapovalov, A. – Komponist; Sarancˇa, Vasilij – Bajanist;984 Sˇaripov – Musiker, Instrumentenbauer ;985 Sˇasˇkova – Mitglied der Frauen-

962 963 964 965 966 967 968 969 970 971 972 973 974 975

976 977 978 979 980 981 982 983 984 985

ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C ˇ ernjak, »Muzyka lagernikov-nacionalov«, 1935, S. 22. C Terent’ev, »Zˇenskaja Novosel’cevskaja agitbrigada«, 1935, S. 25. ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 24; C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 24. C ˇ ernjak, »Pesnju – trasse«, 1936, S. 18. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48 f. C ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 24. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48. C ˇ ernjak, »Pesni cygan-kanaloarmejcev«, 1935, S. 13. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48. C ˇ ernjak, »Pesnju – trasse«, 1936, S. 18. C ˇ ernjak, »Pesnju – trasse«, 1936, S. 18. Da diese Stelle die einzige aufgefundene Erwähnung C dieses Musikers im Dmitlag darstellt und hier das Initial seines Vornamens nicht angegeben wird, bleibt unklar, ob es sich bei ihm möglicherweise um den Komponisten Boris Prozorovskij handeln könnte (vgl. die Komponistentabelle in Kapitel D). ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C ˇ ernjak, »Muzyka lagernikov-nacionalov«, 1935, S. 22. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C Terent’ev, »Zˇenskaja Novosel’cevskaja agitbrigada«, 1935, S. 25. ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 25. C ˇ ernjak, »Muzyka lagernikov-nacionalov«, 1935, S. 22. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 50. C Terent’ev, »Zˇenskaja Novosel’cevskaja agitbrigada«, 1935, S. 25. ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49 f. C ˇ ernjak, »Muzyka lagernikov-nacionalov«, 1935, S. 22. C

244

1920er- und 1930er-Jahre

»Agitationsbrigade« des Nolosel’cevskij-Arbeitsabschnitts;986 Savel’ev – Domra-Spieler ;987 Savel’ev, Michail – Teilnehmer des Kompositionswettbewerbs im Dmitlag; Savel’ev, Nikolaj – Teilnehmer des Kompositionswettbewerbs im Dmitlag; Sˇcˇedrin, Nikolaj – Musiker im Blasorchester, Komponist; Sˇcˇeglov – Orchestermusiker,988 Teilnehmer des Kompositionswettbewerbs im Dmitlag;989 Sˇcˇerbina, I. Ja. – Musikerin des ersten »Kanalarmisten«-Orchesters;990 Sˇebeke – Orchestermusiker ; Senderichin, Danja – Mandolinen-Spieler, Komponist der Zentralen Agitationsbrigade des Dmitlag;991 Sˇeremet – Mitglied der Frauen-»Agitationsbrigade« des Nolosel’cevskij-Arbeitsabschnitts;992 Sˇestov – Balalaika-Virtuose;993 Sˇevcˇenko, D. S. (derselbe wie Grigorij Sˇevcˇenko?) – Teilnehmer des Kompositionswettbewerbs im Dmitlag,994 Musiker des ersten »Kanalarmisten«-Orchesters;995 Sˇevljakova, Tanja – Leiterin eines Frauenorchesters;996 Sinicyn – Gitarrist;997 Sivopljas – Chorleiter ;998 Solov’Úv, A. – BalalaikaVirtuose;999 Sorokin, V. N. – Musiker des ersten »Kanalarmisten«-Orchesters;1000 Strucˇko, E˙duard – Gitarrist;1001 Suchinov, B. M. – Musiker des ersten »Kanalarmisten«-Orchesters;1002 Taristy – Musiker ;1003 Terent’ev – Orchestermusiker; Tkacˇenko – Komponist;1004 Toropov – Teilnehmer des Kompositionswettbewerbs im Dmitlag; Trambickij – Teilnehmer des Kompositionswettbewerbs im Dmitlag; Valjanskij, Nikolaj – Teilnehmer des Kompositionswettbewerbs im Dmitlag;1005 Vasil’ev – BalalaikaVirtuose;1006 Vetlugina, Sˇura – Mitglied des Frauenorchesters von Tanja Sˇevljakova;1007 Volkova, Sˇura – Sängerin eines Ensembles der Sinti und Roma;1008 Vostrcˇil – Orchestermusiker ;1009 Zajcev, K. A. – Musiker des ersten »Kanalarmisten«-Orchesters;1010 Zav’jalov, A. – Kapellmeister des Juzˇnyj-Bezirks;1011 Zil’berman, I. A. – Mu986 987 988 989 990 991 992 993 994 995 996 997 998 999 1000 1001 1002 1003 1004 1005 1006 1007 1008 1009 1010 1011

Terent’ev, »Zˇenskaja Novosel’cevskaja agitbrigada«, 1935, S. 25. ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 24. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48, 50. C ˇ ernjak, »Pesnju – trasse«, 1936, S. 18. C GARF: F. R-9489, op. 2, d. 20, l. 181. ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48, 50. C Terent’ev, »Zˇenskaja Novosel’cevskaja agitbrigada«, 1935, S. 25. ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 24; C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C ˇ ernjak, »Pesnju – trasse«, 1936, S. 18. C GARF: F. R-9489, op. 2, d. 20, l. 181. ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49; »Lucˇsˇij, zˇenskij«, 1936, S. 21 f. C ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 24; C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 24; C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C GARF: F. R-9489, op. 2, d. 20, l. 181. ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 24; C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C GARF: F. R-9489, op. 2, d. 20, l. 181. ˇ ernjak, »Muzyka lagernikov-nacionalov«, 1935, S. 22. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48, 50. C ˇ ernjak, »Pesnju – trasse«, 1936, S. 18. C ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 24; C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 49. C »Lucˇsˇij, zˇenskij«, 1936, S. 22. ˇ ernjak, »Pesni cygan-kanaloarmejcev«, 1935, S. 13. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48. C GARF: F. R-9489, op. 2, d. 20, l. 181. ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 24 f. C

Fallbeispiele: Moskau-Wolga-Kanal

245

siker des ersten »Kanalarmisten«-Orchesters;1012 Zil’bersˇtejn – Orchestermusiker ;1013 Zolotov – Solist eines Chores;1014 Zuev, D. F. – Musiker des ersten »Kanalarmisten«-Orchesters; Zˇuk, R. S. – Musiker des ersten »Kanalarmisten«-Orchesters;1015 Zˇukova – Mitglied der Frauen-»Agitationsbrigade« des Nolosel’cevskij-Arbeitsabschnitts;1016 Zul’fikarov, Nasir – Musiker.1017

1012 1013 1014 1015 1016 1017

GARF: F. R-9489, op. 2, d. 20, l. 181. ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48. C ˇ ernjak, »Pojusˇcˇaja trassa«, 1935, S. 24. C ˇ ernjak, »Mazˇornye gody«, 1936, S. 48; GARF: F. R-9489, op. 2, d. 20, l. 181. C Terent’ev, »Zˇenskaja Novosel’cevskaja agitbrigada«, 1935, S. 25. ˇ ernjak, »Muzyka lagernikov-nacionalov«, 1935, S. 22. C

B

1940er- und 1950er-Jahre

B.1

Grundlagen: Verordnete Musikausübung in den 1940er- und 1950er-Jahren

»Kulturerziehungsarbeit« im Gulag aus der Sicht des KVO GULAG und des GULAG Sogar in den schwierigsten Zeiten hat es im Lager eine Laienkunst gegeben. Das Lager ohne Laienkunst war eine Sache der Unmöglichkeit. Jeder Inspekteur hätte der örtlichen Verwaltung das Fehlen der Laienkunst zur Last gelegt.1018 SemÚn Vilenskij, ehemaliger Häftling

Es konnten nur wenige Aussagen des KVO GULAG und des GULAG zur »Kulturerziehungsarbeit« in den 1930er-Jahren gefunden werden. Ein Zeugnis aus dem Karlag [Karagandinskij ispravitel’no-trudovoj lager’ – Karagandinsker Besserungsarbeitslager] in Kasachstan bietet jedoch einen Anhaltspunkt: In einem Schreiben der Lagerhauptverwaltung des OGPU vom 10. Februar 1931 an alle Kommandanten der Lager hieß es, dass durch die Teilnahme der Häftlinge an »kulturerzieherischen Maßnahmen« ihr »Bezug zum Alltag in der UdSSR« erhalten bleiben und ihnen das Gefühl vermittelt werden sollte, »mit allen anderen Werktätigen an der Gestaltung des Aufbaus der Sowjetunion mitzuwirken«.1019 Dieses Schreiben war für den internen Gebrauch bestimmt und erfüllte dementsprechend keine propagandistische Funktion nach außen. Es macht deutlich, dass Häftlinge in dieser Zeit von der Lagerhauptverwaltung auf dem Papier als Teil der sowjetischen Bevölkerung gesehen wurden. Dies ist auch für höchste Regie1018 3 \QTVaV Rl\Q fdU_WVbcSV^^Qp bQ]_UVpcV\m^_bcm UQWV S bQ]lV cadU^lV T_Ul. ýQTVam RVX fdU_WVbcSV^^_Z bQ]_UVpcV\m^_bcY – SVjm ^VS_X]_W^Qp. ýoR_Z Y^b`V[c_a S]V^Y\ Rl nc_ ]Vbc^_]d ^QhQ\mbcSd S SY^d. Vilenskij, Voprosy est’?, 2006, S. 140. 1019 Zit. nach Hedeler, Wladislaw/Stark, Meinhard: Das Grab in der Steppe. Leben im GULAG: die Geschichte eines sowjetischen »Besserungsarbeitslagers« 1930 – 1959, 2008, S. 42.

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rungskreise bis in die 1950er-Jahre hinein belegt. Beispielsweise berichtete der Leiter der Politabteilung des GULAG in einem Schreiben an den Innenminister Sergej Kruglov vom 30. Dezember 1949, dass die Häftlinge eines Lagers im Gebiet Krasnodar ein Geschenk zu Stalins 70. Geburtstag hergestellt hätten. Dieses Geschenk ˇ ernysˇov ins Sekrewurde auf Befehl des stellvertretenden Innenministers Vasilij C tariat des Ministeriums für Inneres befördert.1020 Ein anderes Beispiel ist die Verleihung des Stalinpreises durch den Ministerrat der UdSSR an das Karlag im Juni 1950 für die Zuchterfolge dieses Lagers.1021 Die Lager wurden also als Teil der sowjetischen Gesellschaft gesehen und nicht als Ausnahmezone, was als Zynismus erscheint. Dies bestärkt die These Hannah Arendts, dass Konzentrationslager als »die eigentliche zentrale Institution des totalen Macht- und Organisationsapparats« sowie als seine »konsequenteste Institution« zu sehen sind.1022 Für den Zeitraum von 1941 bis 1954 liegt ein umfangreicher Quellenkorpus zur »Kulturerziehungsarbeit« aus der Sicht des KVO GULAG, des GULAG sowie den KVO der einzelnen Lager vor, welcher im Staatsarchiv der Russischen Föderation aufbewahrt wird.1023 Auch wenn es sich dabei sicherlich zum Teil um »Vorzeigeprosa« handelt, scheint die Schlussfolgerung, diese Dokumente böten dem Historiker »wenig Lohnendes«1024, voreilig zu sein. Auch der Begriff »Vorzeigeprosa« kann missverstanden werden: Da diese Unterlagen ausschließlich für den internen Gebrauch vorgesehen waren, haben sie nur wenigen Vorgesetzten gegenüber als Vorzeigeobjekte gedient, nicht aber einer breiten Öffentlichkeit. Diesen Dokumenten lassen sich die Beweggründe der Lagerverwaltung entnehmen, die zur »Kulturerziehungsarbeit« in den Lagern geführt haben, ohne die der Gulag ein anderer gewesen wäre. Zudem bieten sie Auskünfte über die »Kulturerziehungsarbeit«, welche noch unzureichend erforscht ist. Teilweise erlauben die Dokumente auch Rückschlüsse auf die Ausmaße der »Kulturerziehungsarbeit« im Gulag. Und, was vielleicht das Wichtigste ist: Diese in floskelreicher Bürokratensprache verfassten Dokumente zeigen ganz deutlich, dass es viele Gemeinsamkeiten zwischen den Lagern und dem zivilen Leben gab, sie zeigen die Lager als ein Abbild der zivilen Gesellschaft. Deswegen scheint es wichtig zu sein, diese Dokumente in die Gulag-Forschung miteinzubeziehen, auch wenn ihre Informationen mit Vorsicht gelesen werden müssen. 1020 GARF: F. R-9414s, op. 3, cˇ. 1, d. 65, l. 329. 1021 Hedeler/Stark, Das Grab in der Steppe, 2008, S. 79. 1022 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 2008 (1. Auflage 1986), S. 908, 912. 1023 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, 1432– 1765. Es handelt sich dabei größtenteils um Anweisungen des KVO GULAG und des GULAG bezüglich der »Kulturerziehungsarbeit« in den Lagern sowie um halbjährliche und jährliche Berichte über diese Arbeit aus den einzelnen Lagern an den KVO GULAG sowie die zusammenfassenden Berichte des KVO GULAG an den GULAG. 1024 Werth, »Der Gulag im Prisma der Archive«, 2007, S. 26.

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Im ersten Teil des vorliegenden Kapitels werden diese Dokumente in Bezug auf die »Kulturerziehungsarbeit« mit dem Schwerpunkt auf den »Laienkunstzirkeln« übersichtsartig referiert, im zweiten Teil wird anhand von Häftlingszeugnissen untersucht, wie sie vor Ort umgesetzt wurden. Die Vorsicht, mit der die Quellen gelesen werden müssen, gilt insbesondere für die Berichterstattung der einzelnen Lager an den KVO GULAG. Da es im Interesse der Zuständigen für die »Kulturerziehungsarbeit« vor Ort lag, ihre Arbeit als gut darzustellen, sind sicherlich vielfach Beschönigungen und Verfälschungen der eigentlichen Situation berichtet worden, vermutlich umso mehr, je weiter das Lager von Moskau entfernt lag, weil es schwieriger zu kontrollieren war. Dies gilt auch für die zusammenfassenden Berichte des Leiters des KVO GULAG an den Leiter des GULAG. Eine besonders wichtige Rolle in dieser Berichterstattung spielten Zahlen. Gerade ihnen gegenüber ist größte Vorsicht geboten, denn es lässt sich nicht überprüfen, wie stark sie gefälscht wurden. Doch auch wenn von Fälschungen ausgegangen werden muss, lassen sich daran möglicherweise grobe Entwicklungen der »Kulturerziehungsarbeit« im Gulag ablesen. Der drastische Rückgang der »Laienkunstzirkel« im Jahr 1942 ist sicherlich auf den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zurückzuführen. Doch trotz der schweren Bedingungen des Krieges scheint es einen Druck zur Angabe von immer mehr Kulturveranstaltungen gegeben zu haben (vgl. Abbildung 44), und auch die Zahl der Zirkel stieg ab 1942 fast stetig an.1025 Nimmt man 50.000 als mögliche Zahl der durchschnittlich an der »Laienkunst« während des Krieges mitwirkenden Häftlinge an, so wären, offiziellen Angaben zufolge, zwischen 2 und 5 Prozent der Häftlinge in diesen Jahren aktiv an der »Laienkunst« beteiligt gewesen.1026

1025 Den Eindruck, dass von den Lagerleitern vor Ort wie auch vom KVO GULAG eine stete Steigerung der Anzahl der Aufführungen, »Laienkunstzirkel« u. a. erwartet wurde, unterstreicht die Tatsache, dass in der Berichterstattung mehrfach Vergleiche zum Vorjahr vorkommen, um die Steigerung zu verdeutlichen. Z. B. wird bei der Anzahl der Aufführungen in sechs Monaten des Jahres 1944 (wobei nicht klar wird, um welche Monate es sich handelt) gesagt, dass es ca. 5.000 mehr waren als in der gleichen Zeitspanne des Jahres 1943. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1467, l. 11. 1026 Nach Bezborodova, Naselenie Gulaga: ˇcislennost’ i uslovija soderzˇanija, 2004, S. 36, waren 1941 2.300.000 Häftlinge im Gulag inhaftiert, ihre Zahl sank in den ersten Kriegsjahren um mehr als die Hälfte.

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Abb. 44: Zahl der »Laienkunstzirkel«, der daran beteiligten Häftlinge und ihrer Vorführungen im Gulag während des Zweiten Weltkrieges, entsprechend der internen Berichterstattung. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1434, l. 44; F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1450, l, 38ob; F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1460, l. 34, 97; F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1467, l. 10; F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1467, l. 51 – 61; F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1477, l. 18.

Eine weitere Größe, über welche die Lager zu berichten hatten, war die Zahl der vorhandenen Aufführungsstätten. Sie zeigt wiederum, dass grobe Tendenzen wahrscheinlich nicht verfälscht werden konnten, denn sie geht seit Beginn des Krieges bis 1943 zurück. So waren im ersten Quartal 1941 angeblich 2.050 Klubs und »Kulturecken« in allen erfassten Lagern des GULAG vorhanden.1027 Im zweiten Halbjahr 1942 waren es nur noch 1.330.1028 1943 ging die Zahl noch weiter zurück, nämlich auf ca. 1.200 Klubhäuser und »Kulturecken«. Zum 1. Januar 1944 soll ihre Zahl jedoch wieder gestiegen sein, und zwar auf 1.518. Im Mai 1944 forderte der KVO GULAG vom NKVD, dass in jedem neu geschaffenen Lagerpunkt für 1.500 und mehr Häftlinge von vornherein Klubhäuser gebaut werden sollten. Auch sollten dort Sommerbühnen eingerichtet werden.1029 Das Publikum bei der »Kulturerziehungsarbeit« bestand, nach offiziellen 1027 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1434, l. 45. 1028 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1450, l. 38ob. 1029 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1460, l. 20, 34, 55.

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Angaben, aus Stachanov- sowie »Stoßarbeitern«.1030 Aber auch die Auftretenden bzw. an »Laienkunstzirkeln« beteiligten Häftlinge sollen ausschließlich solche gewesen sein, die gut arbeiteten und das Lagerregime befolgten.1031 Gleichzeitig ist bei dieser offiziellen Berichterstattung festzustellen, dass auch eine Auseinandersetzung mit Missständen und ihre Benennung erwartet wurden. Dazu zählte der KVO GULAG-Leiter am Beginn des Jahres 1941, dass einige »Kulturerzieher« die Ziele ihrer Arbeit nicht verstanden und »reine Kulturerei« [cˇistoe kul’turnicˇestvo] betrieben hätten, welche sich nicht auf die Arbeitsprozesse in den Lagern bezog.1032 Solchen Passagen lassen sich die »Körnchen Wirklichkeit«1033 entnehmen, derentwegen eine Lektüre dieser Dokumente lohnt. Es war der Lagerhauptverwaltung also bekannt, dass »Kulturerziehungsarbeit« zweckentfremdet wurde. Auch werden hier die häufigen Transporte der Häftlinge innerhalb des Gulag als eine Behinderung der »Kulturarbeit« benannt,1034 was auch in Häftlingserinnerungen zum Ausdruck kommt. ***

Im Folgenden wird ein chronologischer Abriss über die Vorstellungen des KVO GULAG und des GULAG von der »Kulturerziehungsarbeit« gegeben. Die früheste bislang aufgefundene Verordnung, welche sich ausschließlich auf diese Arbeit in den Lagern und Kolonien des NKVD bezog, stellt der Erlass Nr. 0161 des NKVD vom 20. April 1940 dar, welcher bis 1952 in Kraft blieb.1035 Als Ziele der »Kulturerziehungsarbeit« wurden hier postuliert, die für Gelegenheitsverbrechen verurteilten Häftlinge [bytoviki] umzuerziehen sowie die Arbeit der Häftlinge effektiv und rational auszunutzen. Dieser Verordnung zufolge genoss die politische Arbeit (Vorträge, Diskussionen und Lesungen) sowie die produktionsbezogene Arbeit mit Inhaftierten (Durchsetzung der »Stoßarbeitermethoden« und des »sozialistischen Wettbewerbs«) Vorrang vor allen anderen Arten der kulturellen Arbeit. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges kam ein neuer 1030 Berichte des KVO der Politabteilung des GULAG über die »Kulturerziehungsarbeit« im ersten Quartal 1941 an die GULAG-Leitung. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1434, l. 12 u. 31; GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1434, l. 45. 1031 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1434, l. 44; GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1450, l. 5. 1032 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1434, l. 45. 1033 Werth, »Der Gulag im Prisma der Archive«, 2007, S. 26. 1034 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1434, l. 46. 1035 GARF: F. R-9401, op. 1a, d. 459, l. 195 – 200; Viktorija Mironova schreibt, mit Verweis auf einen Vermerk auf diesem Erlass, dass er bis 1955 Gültigkeit hatte. Dagegen spricht der Erlass vom 26. Februar 1952 (s. unten), welcher die davor geltenden Regelungen außer Kraft setzen sollte. Mironova, Kul’turno-vospitatel’naja rabota v lagerjach GULAGa NKVD-MVD SSSR v 1930 – 1950-e gody, 2004, S. 28 f.

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wichtiger Leitgedanke hinzu: Nun sollten auch patriotische Gefühle angefacht werden. Doch erstrangig blieb das Ziel, zur Erfüllung und Übererfüllung des Produktionsplans beizutragen.1036 Die sogenannte »Klub-Massenarbeit« [klubno-massovaja rabota], unter der auch musikalische Aktivitäten subsumiert wurden, hatte nach der Verordnung von 1940 die Aufgabe, Häftlinge zur Erfüllung der Produktionsaufgaben und zur Einhaltung der Lagervorschriften zu mobilisieren, zur Freizeitgestaltung beizutragen sowie gegen kriminelle Traditionen anzukämpfen. Die Einrichtung von »Laienkunstzirkeln«, darunter solchen für Theater, Musik, Chor, Malerei und Schach,1037 war für jede Lagereinheit vorgeschrieben. Diese Zirkel waren für Häftlinge vorgesehen, die vorbildlich arbeiteten, und sollten vorrangig jene bedienen, die »Stoßarbeit« leisteten. Insassen, die wegen angeblicher politischer Vergehen verurteilt waren, waren von der »Kulturerziehungsarbeit« auszuschließen. Jedoch war es für sie ausdrücklich möglich, als Musiker in einem Zirkel tätig zu werden,1038 vermutlich um die Qualität musikalischer Darbietungen zu steigern. Die Jahre 1940/41 brachten strukturelle Veränderungen im Bereich der »Kulturerziehungsarbeit« mit sich, die jedoch wieder rückgängig gemacht wurden.1039 Im Mai 1941 erging zudem eine geheime Direktive des GULAG und des KVO der Politabteilung des GULAG an die Lagerleiter, welche eine Umsetzung der Beschlüsse der XVIII. Allunionskonferenz der Kommunistischen Partei zum Ziel hatte. Darin wurde verlangt, die »Kulturerziehungsarbeit« stärker auf den Arbeitsprozess in den Lagern zu beziehen. Unter anderem folgende Maßnahmen wurden den KVO vor Ort empfohlen: Versammlungen und Betriebsbesprechungen, die in Verträge und Verpflichtungen zum besseren Arbeiten seitens der Häftlinge münden sollten; »Kämpfe um die Sauberkeit« der Zone, der Baracken, der Küche und der Arbeitsstätten, die bis zu einem Monat dauern sollten; »Kampagnen« gegen den schlechten Umgang mit der lagerei-

1036 Kokurin, GULAG: Glavnoe upravlenie lagerej, 2002, S. 118 – 120, 313. ˇ organisierten Schachzirkel berichtet Varlam Sˇalamov in der 1037 Über einen von der KVC Erzählung Podpolkovnik Fragin (Oberstleutnant Fragin). Sˇalamov, Varlam: Kolymskie ˇ »ein Nichts« [pustoe tetradi, 2005, S. 418. In dieser Erzählung nennt Sˇalamov die KVC mesto], S. 415. 1038 Kokurin, GULAG: Glavnoe upravlenie lagerej, 2002, S. 125 f. 1039 1940 befahl der NKVD die Vereinigung des KVO GULAG mit der Politabteilung GULAG. Entsprechendes geschah auch mit den Abteilungen für »Kulturerziehung« der einzelnen Lager vor Ort. GARF: F. 9414scˇ, op. 1, d. 1450, l. 50 f. Am 5. Dezember 1941 wurden diese Abteilungen jedoch durch einen Erlass des NKVD wieder aus den Politabteilungen ausgegliedert und dem jeweiligen Lagerleiter und seinem Stellvertreter direkt unterstellt. GARF, F. 9401s, op. 1a, d. 99, l. 157.

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genen Kleidung, Bettwäsche und dem Essen oder gegen die Vergeudung dieser Ressourcen, worüber ausgesuchte Häftlinge zu wachen hatten.1040 Wenige Tage später folgte eine weitere Direktive, wodurch die Agitation unter den Häftlingen verbessert werden sollte. Agitation sei dazu da, den Häftlingen zu vermitteln, dass sie ihre Schuld nur durch ehrliche Arbeit wiedergutmachen könnten. Die Presse, das Radio, das Kino, die Klubarbeit, »Laienkunstzirkel« und »anschauliche Agitation« [nagljadnaja agitacija] sollten zur Verbesserung der Agitationsarbeit eingesetzt werden. Unter »anschaulicher Agitation« wurden – in einem erweiterten Verständnis dieses Begriffs – Tafeln mit Produktionszahlen, Spruchbänder, Plakate, Kinojournale und Radiosendungen, Auftritte der »Kulturbrigaden« und der »Laienkunstzirkel« subsumiert.1041 Im engeren Sinne waren damit Plakate, Wandzeitungen sowie das Anbringen sowjetischer Symbole gemeint.1042

Vorschriften des KVO GULAG und des GULAG über die »Kulturerziehungsarbeit« während des Krieges Kurz nach dem Überfall der deutschen Armee auf die Sowjetunion forderte eine Direktive des GULAG und seiner Abteilung für »Kulturerziehung« vom 15. August 1941, dass die »Kulturerziehungsarbeit« den Erfordernissen des Krieges angepasst werden sollte. Dies bedeutete, dass weiterhin politische Information, politische Gespräche und Zeitunglesen im Vordergrund zu stehen hatten. Die konkreten Aufgaben der Produktionsarbeit sollten den Häftlingen klargemacht werden. Vorbildlich arbeitende Häftlinge sollten vor allen anderen gelobt, Arbeitsverweigerer aber gerügt werden.1043 Eine Neuerung, die mit dieser Direktive eingeführt werden sollte, war die Gründung eines sogenannten Kulturaktivs in jeder Häftlingsbrigade. Ihm sollten »disziplinierte« sowie am besten arbeitende Häftlinge angehören, die den anderen bei der Erfüllung des Plans 1040 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1432, l. 18 f. 1041 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1432, l. 29, 37. 1042 So wurde etwa Brot in Form des fünfzackigen Sterns gebacken, und es wurden Lampen in Form von Sternen auf Produktionsstätten angebracht, wie Ausstellungsstücke im Heimatkundemuseum der Stadt Magadan zeigen. Einen sehr guten Querschnitt der Plakate aus dem Gulag bietet die Sammlung The Gulag press (2000) auf dem Mikrofiche Nr. 70. Dabei ist festzustellen, dass diese, abgesehen von lagertypischen Ausdrücken wie tridcatipjatniki, die darin gelegentlich vorkommen, sich von den Plakaten in der Sowjetunion in Freiheit nicht unterschieden. Diese Beobachtung stärkt die These von der engen Verbindung zwischen der Lagergesellschaft und der zivilen Gesellschaft. Die Existenz der »anschaulichen Agitation« in den Lagern wird von Häftlingen bestätigt, z. B. von Artur Hörmann für das Soroklag im Gebiet Archangel’sk zu Beginn der 1940er-Jahre. Hörmann, Artur: Aber die Heimat winkte in der Ferne. Eine rußlanddeutsche Trilogie, 1999, S. 144. 1043 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1432, l. 36 f.

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helfen sollten.1044 Berichte über solche »Kulturaktive« kommen in Häftlingserinnerungen jedoch nicht vor, sodass davon ausgegangen werden muss, dass ihre Gründung nur ein Wunsch des GULAG geblieben ist. Dies war dem KVO GULAG bekannt, denn in der Direktive vom 18. Februar 1942 stellte er fest, dass solche »Aktive« vielfach noch nicht ins Lebens gerufen worden seien und forderte ihre Schaffung ein. In diesem Dokument wurde angeordnet, dass das »Aktiv«, dessen Mitglieder nicht von der Zwangsarbeit befreit werden sollten, unter anderem dadurch zur Steigerung der Produktivität beitragen sollte, dass es andere Häftlinge in ihrer Freizeit mit Brettspielen, Musikinstrumenten sowie Büchern versorgte.1045 In Bezug auf das Repertoire der »Laienkunstzirkel« während des Krieges wird in dieser Direktive gesagt, dass es »die heroischen Episoden des Kampfes der Roten Armee gegen den deutschen Faschismus, den Enthusiasmus der Völker der Sowjetunion sowie den Kampf der Häftlinge um hohe Produktionszahlen« widerspiegeln sollte.1046 Die ohnehin schwierige Versorgungslage im Gulag verschlechterte sich während des Krieges zunehmend, sodass nicht verwunderlich ist, dass der KVO GULAG die einzelnen Lager dazu aufrief, sorgfältig mit Inventar umzugehen, welches für die »Kulturarbeit« bestimmt war.1047 Bereits vor Ausbruch des Krieges am Beginn des Jahres 1941 beklagte diese Behörde den Mangel an Räumen sowie an Inventar zur Durchführung ihrer Arbeit.1048 Im Oktober 1942 stellte der KVO GULAG fest, dass die »Kulturerziehungsarbeit«, welche hier als »Politmassenarbeit« bezeichnet wird, sich bereits verbessert hatte. Um eine weiterreichende Verbesserung zu erzielen, wurde angeordnet, dass das Konzertrepertoire durch den Sekretär der örtlichen Parteigruppe oder von den Mitarbeitern des KVO kontrolliert werden sollte. Zivile Angestellte des Lagers und der Bauprojekte sollten in die Arbeit mit Häftlingen stark einbezogen werden.1049 Hierbei wird deutlich, dass der KVO GULAG sich angesichts des durch den Krieg verursachten Personalmangels gezwungen sah, der zivilen Bevölkerung aus der Nähe der Lager den Umgang mit Häftlingen zu erlauben. Auch der Leiter der Politabteilung GULAG hat dieses Rundschreiben unterzeichnet. Die vor dem Krieg formulierten Ziele der »Kulturerziehungsarbeit« blieben jedoch erhalten. Um diese Ziele zu erreichen, seien verschiedene »Laienkunstzirkel« ins Leben gerufen worden, schrieb der KVO GULAG-Leiter im Januar 1044 1045 1046 1047 1048 1049

GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1432, l. 38. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1439, l. 27. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1432, l. 38. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1432, l. 68. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1434, l. 12 u. 31. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1439, l. 104.

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1943, solche wie Chöre, Schauspielgruppen, Musikzirkel und Jazz-Orchester. Als wichtigste Missstände des Jahres 1942 werden in diesem Bericht der Mangel an Räumen für Proben und Aufführungen, fehlende Musikinstrumente sowie fehlendes Aufführungsmaterial kritisiert.1050 Dies darf jedoch nicht generalisiert werden: Aus dem Sevvostlag (vgl. Kapitel B.2) wird für die erste Hälfte des Jahres 1943 berichtet, dass drei große Sammlungen mit zeitgenössischen und klassischen Musikstücken für die »Laienkunstzirkel« in die einzelnen Lager gesendet wurden.1051 1945 versuchte der KVO GULAG, dem Mangel an Aufführungsmaterial in den Lagern zu begegnen, indem er eine Sammlung mit Gedichten, Erzählungen und Schauspielen für die »Laienkunst« herausgab.1052 Im April 1945 erhielt der KVO GULAG von der Versorgungsabteilung des GULAG 300 kg Papier zur Vervielfältigung von Schauspielen und Musikstücken.1053 Der Häftling Matvej Grin, der am Lagertheater in Ivdel’, einem Ort im Uralgebirge, tätig war, überliefert jedoch, dass die vom GULAG gelieferten Dramen und Noten vor Ort so gut wie nicht verwendet wurden, weil sie von sehr niedriger Qualität waren. Häftlinge beschafften meist Aufführungsmaterialien durch ihre Verwandten in Freiheit.1054 Zu den wichtigsten Missständen des Jahres 1943 wurden vom KVO GULAG der Mangel an »Kulturerziehern«, ihr »schlechtes kulturelles Niveau«, die fehlende persönliche Verbindung der Behörde zu den Mitarbeitern der fernöstlichen Lager und Kolonien sowie, und darin wiederholte der Bericht den des Vorjahres, der große Mangel an Inventar gezählt.1055 Im April 1943 erging eine Direktive des GULAG-Leiters an alle Lagerleiter, in welcher er dazu aufforderte, die »Kulturerziehungsarbeit« im Frühjahr und Sommer zu intensivieren. Es sollten mehr Theateraufführungen, Konzerte, Kinovorführungen, Lesungen und sportliche Betätigungen stattfinden, und das unter freiem Himmel. Plakate und Spruchbänder, die »zum Kampf um Sauberkeit und Kultur im Lager« aufriefen, sollten die Zonen schmücken. Als Ziel wurde zynischerweise »ein gesundes Leben und eine gute Erholung der Häftlinge« deklariert.1056 Im Mai 1943 unterzeichnete der stellvertretende Volkskommissar für Inneres, Sergej Kruglov, einen Erlass über den Zustand der »Kulturerziehungsarbeit« in

GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1450, l. 5. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1453, l. 303ob. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1465, l. 43. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1467, l. 42. Grin, Matvej: »Zabveniju ne podlezˇit. Zapiski iz teatra za koljucˇej provolokoj«, in: Teatral’naja zˇizn’, 1989, Nr. 14, S. 27. 1055 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1460, l. 9. 1056 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1449, l. 23.

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den Lagern und Kolonien und über Maßnahmen zu ihrer Verbesserung.1057 Darin wurde einleitend festgestellt, dass die »Kulturerziehungsarbeit« ein Prinzip der sowjetischen »Besserungsarbeitspolitik« darstellte und die Umerziehung der überwiegenden Masse der Häftlinge durch Arbeit zum Ziel hatte. Des Weiteren sollte sie zur Schaffung guter Lebensumstände für die Häftlinge beitragen. Der Erlass verkündete, dass eine Reihe von Lagerleitern die Bedeutung dieser Arbeit offenbar unterschätzt hat. In einigen Lagern und Kolonien gab es gar keine »Kulturerziehungsarbeit«, die Stellen der »Kulturerzieher« waren nur zu 40 bis 50 Prozent und größtenteils mit schlecht qualifizierten Mitarbeitern besetzt. Das Niveau der »Kulturerziehungsarbeit« entsprach nicht den Anforderungen. Aus den Maßnahmen, die in diesem Erlass angeordnet wurden, geht klar hervor, dass die »Kulturerziehungsarbeit« auch in hohen Regierungskreisen vorrangig als Mittel zur Verbesserung der Produktivität gesehen wurde. Das »Laienkunstwesen« war demnach nur eine Zugabe im Lageralltag, welche zum Zweck der Produktivitätssteigerung instrumentalisiert wurde. Fünf Monate später musste der stellvertretende Volkskommissar für Inneres, ˇ Cernysˇov, feststellen, dass eine Reihe von Lagern sich der »Kulturerziehungsarbeit« zwar angenommen hatte, die Situation im Großteil der Lager jedoch unverändert blieb.1058 Als positives Beispiel im Bereich der »Laienkunstarbeit« nannte er z. B. das Bogoslovlag,1059 in dem eine »Kulturbrigade«, ein Jazz-Orchester sowie ein Blasorchester existierten. In den Lagerpunkten dieses Lagers soll es 22 »Laienkunstzirkel« gegeben haben, in die 242 Häftlinge involviert waren. Die Häftlingszahl in diesem Lager betrug am 1. Januar 1943 nach offiziellen Angaben 10.864 Insassen, sodass ca. 2 Prozent von ihnen in der »Laienkunst« beschäftigt gewesen sein müssten. Die Sieger des »Arbeitswettbewerbs« wurden bei der Rückkehr ins Lager von einem Orchester empfangen, heißt es über das Bogoslovlag weiter. Das JazzOrchester und die »Kulturbrigade« organisierten regelmäßig Konzerte in den Mittagspausen. Arbeitsverweigerer wurden von »Laienkunstzirkeln« erfolgreich kritisiert, unter anderem durch cˇastusˇki. Vor jedem Konzert gab es Politgespräche, oder es wurden die Namen der »Bestarbeiter« verlesen.1060 So wünschten sich NKVD-Vertreter die »Kulturerziehungsarbeit« im Gulag. Die schwierige Situation des Krieges hinderte das GULAG nicht daran, sich im Januar 1944 erneut der Frage des Inventars zur Durchführung kultureller Arbeit zuzuwenden. Dies verdeutlicht, in welch schlechtem Zustand sich dieses 1057 GARF: F. R-9401, op. 1a, d. 141, l. 109 – 110ob. 1058 GARF: F. R-9401, op. 1a, d. 154, l. 168. 1059 Dieses Lager befand sich im Gebiet Sverdlovsk. Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 173 – 175. 1060 GARF: F. R-9401, op. 1a, d. 154, l. 173ob, 174.

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befunden haben muss. Die Lagerleiter wurden dazu aufgefordert, benötigtes Inventar an das GULAG zu melden, hierbei sollten Film- und Radiogeräte, Lautsprecher, Grammophone, Akkordeons, Harmonikas, Instrumente für Blassowie Jazz-Orchester, Streichinstrumente, Saiten, Papier, Farben, roter Stoff für Spruchbänder usw. berücksichtigt werden.1061 Offenbar konnte die schlechte Versorgungssituation aber nicht durch diese Maßnahme für den größeren Teil der Lager verbessert werden. Denn in einer Zusammenfassung der Berichte über die »Kulturerziehungsarbeit« aus den einzelnen Lagern musste der KVO GULAG im November 1944 feststellen, dass Inventar für die »Kulturarbeit« sowie Musikinstrumente äußerst knapp waren.1062 Die Lage war offenbar sehr problematisch, denn im Juni 1945 meldete der KVO GULAG-Leiter dem GULAG-Leiter, dass er einen Brief über die schlechte Versorgung der Lager mit Inventar für die »Kulturarbeit« sowie mit Büchern an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei gesendet habe.1063 Nichtsdestotrotz verfügten die Lager über gewisse Ressourcen: Nach unvollständigen Angaben des KVO GULAG-Leiters aus dem Jahr 1945, wobei er nur 67 Lager und Kolonien berücksichtigen konnte, waren dort 1.182 Klubhäuser und »Kulturecken«, 291 Filmgeräte, 61 Sätze von Instrumenten für Blasorchester, 407 Knopfakkordeons, 833 Harmonikas, über 15.000 Streich- und Zupfinstrumente sowie 673.174 Bücher vorhanden. Da während des Krieges kein neues Inventar dazugekommen war, waren die Bestände beeinträchtigt und reparaturbedürftig. Dies traf auf 50 Prozent der Musikinstrumente zu; 80 Prozent der Streich- und Zupfinstrumente konnten nicht benutzt werden, weil Saiten fehlten. Gleichzeitig hatten mehrere Lager und insbesondere Kolonien die Möglichkeit, Balalaikas, Gitarren, Mandolinen sowie Saiten vor Ort herzustellen. Dies ˇ eljabmetallurgstroj,1064 war zum Zeitpunkt der Berichterstattung bereits im C 1065 1066 Vjatlag und Uchtoizˇemlag der Fall, wo Gitarren, Mandolinen, Geigen und Akkordeons hergestellt wurden. Um die »Kulturerziehungsarbeit« zu verbessern, schlug der KVO GULAG-Leiter vor, in einigen Lagern die Produktion von 1061 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1459, l. 1 u. 5. 1062 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1459, l. 83. 1063 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1467, l. 95. Wie dieses Schreiben im Zentralkomitee behandelt wurde, müsste noch recherchiert werden. ˇ eljabinsk. Smirnow, Das 1064 Das Verwaltungszentrum dieses Lagers befand sich in der Stadt C System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 292 f. 1065 Ein Lager, welches sich im Gebiet Kirov befand. Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 205 f. In der deutschen Übersetzung wird als Gebietshauptstadt fälschlicherweise Kirowsk angegeben. 1066 Ein Lager auf dem Territorium der autonomen Sowjetrepublik Komi im Gebiet Uchta. Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 545 – 547.

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Musikinstrumenten und Saiten anzustoßen, wobei vor Ort vorhandene Materialien oder Abfälle der eigentlichen Produktion verwendet werden sollten. Als Arbeitskräfte sollten Invaliden und geschwächte Häftlinge eingesetzt werden.1067 Die Idee der »Kulturaktive« wurde im Januar 1944 wieder aufgegriffen, und zwar durch die Verordnung, »Gemeinschaftsgruppen der Häftlinge« [obsˇcˇestvennye sekcii zakljucˇÚnnych] einzurichten. Ziele ihrer Arbeit sollten die Förderung der »Laienkunst« unter den Häftlingen, die »Lenkung der Häftlinge zur nützlichen Tätigkeit im Arbeitsprozess und im Alltag sowie zur Disziplin, das Heben des kulturellen Niveaus der Häftlinge und die Organisation einer kultivierten Freizeitgestaltung« sein. Die »Gemeinschaftsgruppen« sollten im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Lageradministration in allem unterstützen. Folgende Gruppen sollten geschaffen werden: eine produktionsbezogene, eine sanitäre, eine kulturelle, eine sportliche sowie eine Gruppe der allgemeinen Ordnung.1068 Mitglieder dieser Gruppen, die drei bis neun Personen pro Gruppe ausmachen sollten, sollten Häftlinge sein, welche für Gelegenheitsverbrechen verurteilt waren und zu den besten Arbeitern gehörten sowie sich vorbildlich im Alltag verhielten. Häftlinge, die für »konterrevolutionäre Verbrechen« verurteilt waren, durften den Gruppen nicht angehören. Zu den Aufgaben der »Kulturgruppe« zählte es, begabte Häftlinge für die »Laienkunst« zu suchen und sie in die »Kulturarbeit« einzubinden, »Laienkunstschauen« durchzuführen sowie sich insbesondere um die Freizeit der besten Arbeiter zu kümmern.1069 Solche Direktiven machen deutlich, dass der KVO GULAG die »Kulturarbeit« in den Lagern immer noch für verbesserungswürdig hielt und nach Maßnahmen zu ihrer Verbesserung suchte. Das gebetsmühlenartige Wiederholen der Ziele der »Kulturerziehungsarbeit« in den Direktiven zeigt jedoch, dass der KVO seine Vorstellungen nicht zu seiner Zufriedenheit durchsetzen konnte. Viele seiner Formulierungen und Informationen wiederholen sich wörtlich in den Berichten aus den Lagern. Auch gibt es zahlreiche Wiederholungen in den Quartals- sowie zusammenfassenden Jahresberichten der einzelnen Lager. In den zusammenfassenden Berichten des KVO GULAG an das GULAG wurden wiederum Passagen aus den Berichten einzelner Lager wiederholt.1070 Auf diese Weise wurde viel Bürokratie betrieben, damit aber kein nennenswerter Fortschritt erzielt. Offenbar erfuhr die Direktive über »Gemeinschaftsgruppen« schließlich doch eine Umsetzung: Im Rundschreiben des stellvertretenden Leiters des GULAG für Politarbeit an die Lagerleiter vom Mai 1946 heißt es, dass die »Kulturgruppen« 1067 1068 1069 1070

GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1467, l. 46 f. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1459, l. 10. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1459, l. 11, 14. Bsp.: GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1531, l. 3 – 28 u. 40 – 72.

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des Aktjubinlag1071 den »Laienkunstzirkeln« große Hilfe geleistet hätten, indem sie »Bestarbeiter« für die »Laienkunst« rekrutiert, ihnen Plätze im Zuschauerraum reserviert und dafür gesorgt haben, dass ihre Repertoirewünsche berücksichtigt wurden. Und aus einem Rundschreiben des GULAG vom Mai 1946 geht hervor, dass es am 1. Januar 1946 3.454 verschiedene »Gemeinschaftsgruppen« im Gulag gab, denen 60.321 Häftlinge angehörten.1072 Einen weiteren Versuch zur Verbesserung der »Kulturarbeit« bildete die Richtlinie vom 12. Oktober 1944 über den »Organisator der Kulturerziehungsarbeit«, den es in jeder Brigade geben sollte. Diese »Organisatoren« sollten erwartungsgemäß Häftlinge sein, die für Gelegenheitsverbrechen verurteilt waren. Sie sollten nicht von der Zwangsarbeit befreit, jedoch besser untergebracht und verpflegt werden, und zwar so wie die Brigadeleiter, womit die »Organisatoren« in der Lagerhierarchie relativ hoch gestellt waren. Ihre Aufgabe sollte sein, Häftlinge zur »Kulturerziehungsarbeit« zu motivieren. Neben vielen anderen Maßnahmen sollten sie begabte Häftlinge ausfindig machen, darunter Maler, Bildhauer, Holz- und Metallschnitzer, Stickerinnen, Sänger und Musiker, ˇ weiterleiten, damit diese dafür sorgen konnte, dass und ihre Namen an die KVC die Häftlinge »ihre Begabungen weiter vervollkommne[te]n«.1073 Eine neuere Fassung der Richtlinie vom »Kulturorganisator« vom 5. November 1944 präzisiert, dass sie in kleinen Lagerpunkten eingesetzt werden sollten, in denen keine Stellen für Zivilisten als »Kulturerzieher« vorgesehen waren. Als allerwichtigste Aufgabe des »Kulturorganisators« wird hier die individuelle »erzieherische Arbeit« mit jedem Häftling genannt.1074 Diese Vorschrift macht deutlich, dass die GULAG-Beamten bei der Verwaltung des Gulag eine totale Überwachungsgesellschaft angestrebt und auf flächendeckende Kontrolle gesetzt haben, wie sie bislang am besten in einem Panopticon umgesetzt werden konnte,1075 was jedoch an der Realität in der Sowjetunion scheiterte.1076 1071 Das Verwaltungszentrum dieses Lagers war die Stadt Aktjubinsk in Kasachstan. Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 135 f. 1072 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1477, l. 19, 23 – 25. 1073 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1459, l. 65 f. Diese angesichts der Bedingungen im Gulag überraschende Aussage war nicht neu. Bereits im Lehrplan für »Kulturerzieher«, welcher vom KVO GULAG 1943 erstellt wurde, hieß es im ursprünglichen Entwurf, dass »Kulturerziehungsarbeit begabten Häftlingen Fertigkeiten im Musizieren, Singen, Malen und anderen Künsten vermitteln« sollte. In der Endversion lautete die Formulierung: »Begabte und talentierte Menschen unter den Häftlingen sollen ausfindig gemacht werden und die Möglichkeit bekommen, ihre Begabungen unter ›normalen Bedingungen‹ auszuüben.« GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1450, l. 28. 1074 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1459, l. 71 f. 1075 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 1994 (Originalausgabe 1975), S. 251 – 292. 1076 Es lässt sich anhand von Unterlagen des KVO GULAG nachvollziehen, wie die Richtlinie

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Welche konkreten kulturellen Maßnahmen sich der KVO GULAG von den Lagern wünschte, zeigen Beispiele aus Direktiven und Rundschreiben dieser Institution. So wird beispielsweise in der Direktive vom 5. Dezember 1941 gelobt, dass beim Bau 203, welcher dem Jagrinlag im Gebiet Archangel’sk unterstand, die »Kulturbrigaden« mit Programmen auftraten, die der Hygiene und der Verbesserung der sanitären Bedingungen im Lager gewidmet waren.1077 Die Direktive vom 31. Mai 1944, welche allein den »Laienkunstzirkeln« und »Agitationsbrigaden« gewidmet war, nennt viele weitere Beispiele: Im Gebiet Primorskij trat ein Blasorchester während des Appells, in den Mittagspausen und in den Baracken auf, es fanden Abende der »Laienkunst« statt, Wandzeitungen wurden gestaltet u. a. Nachdem die Häftlinge die Inszenierung V ˇstabe (Im Stabsquartier) gesehen hatten, meldeten sich 25 von ihnen freiwillig an die Front. In mehreren Lagern sollen die Häftlinge zusätzliche Zwangsarbeit geleistet haben, nur um zu Konzerten zugelassen zu werden. Im Gebiet Irkutsk hat eine besonders gut arbeitende Brigade ein Wunschkonzert zur Belohnung bekommen. Im Bogoslovlag1078 hat das Blasorchester sowohl an abendlichen Konzerten mitgewirkt als auch zum Morgenappell sowie zur Rückkehr der gut arbeitenden Brigaden von der Arbeit aufgespielt. Im Tagillag1079 haben Häftlinge auf Anregung des KVO Lieder gedichtet und komponiert, darunter Pesnja zemlekopov (Lied der Erdarbeiter), Pesnja lesorubov (Lied der Holzfäller) und

über den »Kulturorganisator« entstanden ist. Im August 1944 beklagte der KVO GULAGLeiter in einer Notiz gegenüber dem GULAG-Leiter, ein wesentliches Manko der »Kulturerziehungsarbeit« liege darin, dass in den Brigaden niemand vorhanden sei, der für die »Kulturerziehungsarbeit« zuständig wäre. Den Brigadier beurteilte er als die einzige »Vertrauensperson« für die Häftlinge, die seine Position jedoch oftmals durch Fälschung der Produktionsziffern und falsche Verteilung der Essensrationen und andere Handlungen missbrauchte, was oftmals ungestraft blieb. Der KVO-Leiter schlug die Einführung des Postens eines »Gruppenorganisators für Kulturerziehungsarbeit« vor. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1460, l. 119. Der stellvertretende GULAG-Leiter stimmte diesem Vorschlag durch eine Notiz zu und schlug die Bezeichnung »Kulturorganisator« [kul’torg] vor. Der KVO GULAG-Leiter beauftragte anschließend seinen Stellvertreter, eine Richtlinie über die Aufgaben des »Kulturorganisators« zu verfassen. Die Bezeichnungen des für die »Kulturerziehung« zuständigen Personals wurden offenbar nicht einheitlich verwendet. So berichtete der KVO Sevvostlag-Leiter schon im Februar 1944 in seinem Bericht über die »Kulturerziehungsarbeit« im Jahr 1943 von 191 »Kulturorganisatoren« im Sevvostlag (GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1462, l. 194), also noch bevor dieser Posten überhaupt geschaffen wurde. Offensichtlich meinte er damit die »Kulturerzieher«. 1077 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1432, l. 63a. 1078 Dieses Lager befand sich im Gebiet Sverdlovsk. Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 173 – 175. 1079 Das Verwaltungszentrum dieses Lagers befand sich in Nizˇnij Tagil im Gebiet Sverdlovsk. Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 515 f.

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Pesnja plotnikov (Lied der Zimmermänner), welche vom Jazz-Orchester und den »Laienkunstzirkeln« gespielt wurden.1080 Eine vorbildliche Veranstaltung wird auch in der Zusammenfassung des KVO GULAG über die »Kulturerziehungsarbeit« aller Lager vom 17. November 1944 genannt: Im Vjatlag soll ein »Erholungstag« für 450 »Bestarbeiter« aus den Reihen der Häftlinge im Dorfstadion stattgefunden haben. Eröffnet wurde er durch einen Vortrag über die internationale Lage, gefolgt von der Lesung des Erlasses der Lagerleitung über die Prämierung der »Bestarbeiter« sowie der Verteilung der Prämien. Danach wurden Sportspiele veranstaltet, und ein Blasorchester sowie ein Knopfakkordeonist spielten. Den Abschluss bildeten ein Konzert sowie ein Film. »Eine solche kulturelle Erholung hatte einen großen Einfluss auf die Steigerung der Arbeitsproduktivität der Häftlinge«, so der KVO.1081 Im Mai 1944 kritisierte der KVO GULAG, dass »Agitationsbrigaden« und Jazz-Orchester oftmals entgegen ihrer eigentlichen Bestimmung Zivilisten, die im Lager arbeiteten, unterhielten.1082 Eine solche Vermischung der Bevölkerungsgruppen war nicht im Sinne dieser Behörde. Ebenfalls im Jahr 1944 berichtete der KVO GULAG-Leiter an den GULAG-Leiter und den Leiter der Politabteilung des GULAG über den Zustand der »Kulturerziehungsarbeit« im Kombinat Vorkutugol’ (Abkürzung für »Vorkuta-Kohle«),1083 welche er als nicht zufriedenstellend bezeichnete.1084 Die Politabteilung des Kombinats hatte vom KVO 50 Lautsprecher, je einen Satz an Instrumenten für ein Blas- und ein Streichorchester sowie einen Großteil der Musikinstrumente und der Requisiten des KVO-Theaters beschlagnahmt. Zudem hatte sie 25 Häftlinge, die in der »Kulturbrigade« des KVO tätig waren, an das Theater für Zivilisten versetzt. Der KVO GULAG-Leiter bemängelte weiterhin, dass die für die »Kulturerziehungsarbeit« unter den Häftlingen vorgesehenen Finanzen oftmals unsachgemäß eingesetzt wurden. So sind damit beispielsweise fünf Aufführungen des Theaters der Autonomen Republik Komi vor Häftlingen für 15.000 Rubel finanziert worden (für einen kurzen Abriss der Geschichte dieses Theaters vgl. Kapitel B.2 »Ausblick«).1085 Im Mai 1945 wandte sich der KVO-Leiter von Vorkutugol’ direkt an den GULAG-Leiter und schilderte, dass in diesem Kombinat Theateraufführungen GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1459, l. 41 – 43. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1459, l. 83. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1459, l. 44. Das Verwaltungszentrum des Vorkutlag, welches dieses Kombinat mit Arbeitskräften belieferte, lag in der Siedlung Vorkuta im Gebiet Archangel’sk. Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 195 – 197. 1084 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1460, l. 132 f., 161. 1085 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1460, l. 133. 1080 1081 1082 1083

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und Konzerte des zivilen Theaters für Häftlinge gang und gäbe waren. Dafür wurden pro Aufführung 3.000 Rubel aus den Mitteln des KVO ausgegeben. 1945 sind 185.000 Rubel dafür veranschlagt worden, sodass das zivile Theater in Wirklichkeit durch Mittel des KVO finanziert wurde. Gleichzeitig wurde das Gesangs- und Tanzensemble des KVO, welches 25 Mitglieder umfasste, kaum eingesetzt. Der KVO-Leiter von Vorkutugol’ versuchte zu intervenieren und den Mitverantwortlichen klarzumachen, dass ein ziviles Theater aus »Gründen des Regimes« nicht vor Häftlingen auftreten durfte,1086 hatte damit aber offenbar keinen Erfolg, weil er sich gezwungen sah, an den GULAG-Leiter zu schreiben. Anhand dieses Beispiels wird deutlich, dass die in der Anfangszeit des Gulag aufgekommene Praxis weiterhin üblich war : Es gab Lager, in deren Theatern sowohl Häftlinge vor Zivilisten als auch umgekehrt Zivilisten vor Häftlingen auftraten. Dieses Phänomen wird in Kapitel B.2 ausführlicher behandelt. Auch machen die zitierten Schreiben klar, dass die »Kulturerziehungsarbeit« aus der Sicht der örtlichen Lagerverwaltung in Vorkuta weniger wichtig war als das Lagertheater. In einem umfangreichen Bericht an den GULAG-Leiter fasste der KVO GULAG-Leiter im Juni 1944 die »Kulturerziehungsarbeit« während der ersten drei Kriegsjahre zusammen. Als Schwierigkeiten nannte er, dass ein Großteil der erfahrenen Mitarbeiter 1941 an die Front gegangen war, wodurch die Lagerleiter dazu gezwungen waren, weniger qualifizierte junge Mitarbeiter sowie Frauen als »Kulturerzieher« zu beschäftigen, die zuvor nicht in Lagern gearbeitet hatten. Ein weiterer Punkt war die Kürzung der Finanzen, was zur Folge hatte, dass Inventar für die »Kulturarbeit« nicht erworben werden konnte. Auch hatte sich die Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft verändert, und zwar waren viele bytoviki, auf die sich die »Kulturerziehungsarbeit« richtete, in die Armee eingezogen worden,1087 sodass der Anteil an sogenannten Konterrevolutionären und Schwerverbrechern in den Lagern gestiegen war. In den ersten Monaten des Krieges, als viele Lager und Kolonien in Richtung Osten evakuiert wurden, gab es in diesen Lagern so gut wie keine »Kulturerziehungsarbeit«. Einige Lagerleiter haben die Bedeutung der »Kulturerziehungsarbeit« gerade unter den Bedingungen des Krieges unterschätzt und diese eingestellt: Es gab keine Diskussionen über Politik, Vorträge, Filme und kein Zeitunglesen mehr, Radiogeräte wurden abgenommen und »Laienkunstzirkel« liquidiert. Dies hat zu Unmut unter den Häftlingen, niedrigeren Produktionszahlen und zur Nichteinhaltung des »Lagerregimes« geführt.1088 Deswegen ist eine Umstellung [perestrojka] der »Kulturerziehungsarbeit« 1086 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1467, l. 71 f. 1087 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1460, l. 77 – 94. 1088 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1460, l. 78.

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notwendig gewesen: Ihr Ziel war es, »durch breite politische und erklärende Massenarbeit den Einfluss der feindlich gesinnten Elemente zu paralysieren«, Patriotismus und Heimatliebe zu wecken und dadurch die Erfüllung und Übererfüllung des Produktionsplans zu erreichen.1089 Dieses Dokument macht zum wiederholten Mal deutlich, dass die »Kulturerziehungsarbeit« zu ökonomischen Zwecken instrumentalisiert wurde. Nichtsdestotrotz wurden auch während des Krieges Maßnahmen unternommen, die auf den ersten Blick nicht unmittelbar mit der Lagerökonomie zu tun hatten. Im Mai 1944 fand ein Malwettbewerb mit Ausstellungen zum Thema des »Großen Vaterländischen Krieges« in den Lagern statt. Die besten Bilder wurden an den KVO GULAG weitergeleitet, damit qualifizierte Maler sie beurteilen konnten.1090 Maler, die in Moskau lebten, wurden auf diese Weise mit der Lagerwelt konfrontiert, wie auch schon Komponisten beim Kompositionswettbewerb im Dmitlag. Auch die seit dem Frühjahr 1942 im Gulag durchgeführten »Laienkunstschauen« gehörten zu Maßnahmen, die nicht unbedingt notwendig waren, um die Ökonomie zu verbessern (vgl. Kapitel B.2). Im Bericht über das Siegesjahr 1945 heißt es, dass es in vielen Lagern Sommerbühnen, Wettbewerbe und »Schauen« gegeben hat. Gleichzeitig wird aber auch die schlechte Qualität der Auftritte einiger »Laienkunstzirkel« konstatiert.1091 Häftlingsberichte bestätigen, dass das Ende des Zweiten Weltkrieges in den Lagern gefeiert wurde. Ninel’ Monikovskaja erinnert sich beispielsweise, dass im Usol’lag mit dem Verwaltungszentrum in Solikamsk Kundgebungen und Konzerte stattgefunden hatten und eine hoffnungsvolle Stimmung aufgekommen war.1092

Nachkriegszeit In der Nachkriegszeit erließ das Innenministerium am 27. März 1947 eine Instruktion über das Regime der Häftlinge in den »Besserungsarbeitslagern und -kolonien«, die bis 1954 ihre Gültigkeit behielt. Die Ziele der »Kulturerziehungsarbeit«, wie sie vor dem Krieg formuliert wurden, blieben erhalten. Unter den zehn Arten von Maßnahmen im Rahmen dieser Arbeit wie Vorträge, Gespräche, Lesungen, Versammlungen guter Arbeiter, Weiterbildungen, Alphabetisierung, »anschauliche Agitation«, stachanovsche Arbeitsmethoden und Filmvorführungen wurden an siebter Stelle »Laienkunstzirkel« genannt, die Aufführungen und Konzerte zu realisieren hatten. Als Zeiten für die »Kultur1089 1090 1091 1092

GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1460, l. 79. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1460, l. 58. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1477, l. 18 f. u. 21. Monikovskaja, Ninel’: Gody utrat i minuty scˇast’ja, 2001, S. 12.

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erziehungsarbeit« waren arbeitsfreie Stunden am Mittag und Abend sowie freie Tage vorgesehen. In der Freizeit durften die Häftlinge künstlerisch tätig werden, allerdings nur unter der Kontrolle der Lagerleitung, welche ihrerseits zur Unterstützung der künstlerisch tätigen Häftlinge verpflichtet wurde. Kunstwerke von Häftlingen, die für die »Laienkunst« im Lager hergestellt wurden, durften nicht außerhalb der Lager verbreitet werden. Wenn sie aber »einen Wert darstellten«, sollten sie zusammen mit den persönlichen Sachen des Häftlings aufbewahrt und bei seiner Befreiung aus der Haft mitgeben werden. Dies galt aber nicht für Werke, die das Leben und die Arbeit in den Lagern thematisierten. Als infrage kommende Erzeugnisse wurden ausdrücklich auch Musikstücke genannt.1093 Am 26. Februar 1952 erging ein Erlass des Innenministers Sergej Kruglov mit methodischen Anweisungen zur Durchführung der »Kulturerziehungsarbeit« im Gulag, welcher die davor geltenden Regelungen außer Kraft setzte.1094 An der Umerziehung der Häftlinge durch »hochproduktive Arbeit« als Ziel der »Kulturerziehungsarbeit« wurde festgehalten. Als wichtigste Aufgaben der »Kulturerziehungsarbeit« wurden definiert: tägliche Erklärung der Innen- und Außenpolitik mit der Darstellung der Erfolge beim Bau des Kommunismus, Durchsetzung des »Arbeitswettbewerbs«, berufliche Weiterqualifizierung der Häftlinge, Erklärung der sowjetischen »Besserungsarbeitspolitik«, welche dazu führen sollte, dass die Häftlinge freiwillig die Disziplin einhielten und Ruhestörer bekämpften, sowie Hebung des kulturellen Niveaus der Häftlinge. Zu den einzelnen Bestandteilen der »Kulturerziehungsarbeit« zählten die »Agitationsmassenarbeit«, die »Produktionsmassenarbeit«, die »kulturelle Aufklärungsarbeit«, die »Arbeit zur Einhaltung des Regimes durch die Häftlinge« sowie die »Arbeit zur Verbesserung der Lebensumstände der Häftlinge«.1095 Die »kulturelle Aufklärungsarbeit« sollte dazu dienen, dass die Häftlinge die Arbeitsvorgaben erfüllten und das Lagerregime sowie die Arbeitsdisziplin ein1093 GARF: F. R-9401s, op. 1a, d. 234, l. 49ob–50ob. 1094 GARF: F. R-9401, op. 1a, d. 459, l. 195 – 200. 1095 Unter der »Agitationsmassenarbeit« verbargen sich Maßnahmen wie Vorträge, Gespräche, »Politinformationen«, Lesungen aus Zeitungen und Zeitschriften, Lagerpresse, Wandzeitungen sowie Radiosendungen. Als Beispiele für Titel von Wandzeitungen wurden Krokodil, Koljucˇka (Stachel) und Metla (Besen) genannt. Diese Maßnahmen sollten durch Lagermitarbeiter, zivile Angestellte sowie bytoviki realisiert werden. Die »Produktionsmassenarbeit« sollte hauptsächlich darauf gerichtet sein, dass die Häftlinge den Plan erfüllten und übererfüllten, dass ihre Arbeit den Qualitätsansprüchen entsprach und dass sie mit Geräten richtig und schonend umgingen. Dies sollte durch folgende Maßnahmen bewerkstelligt werden: Arbeitswettbewerb, Popularisierung der Methoden der »Bestarbeiter«, berufliche Ausbildung sowie Förderung des Erfindertums. Zur Durchsetzung dieser Maßnahmen sollten unter anderem die Möglichkeiten der »Laienkunst« genutzt werden.

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hielten. Sie sollte ihre Lebensumstände verbessern, ihr kulturelles Niveau heben sowie eine kulturelle Erholung gewährleisten. Dazu gehörten: »Laienkunst«, Bibliotheken, Alphabetisierung, Russisch-Unterricht, Filmvorführungen, Radio (jede Lagerabteilung sollte über einen Radioempfang verfügen), »wissenschaftlich-aufklärerische Propaganda« und Vorträge über die Hygiene. In jeder Lagerabteilung sollte zwingend ein Raum für die Kulturarbeit vorhanden sein, welcher nicht zweckentfremdet werden durfte. Folgende Zirkel für »kulturelle Aufklärungsarbeit« konnten eingerichtet werden: Theaterzirkel, Musikzirkel, Chöre, Schach-/Dame-Zirkel, Sportzirkel u. a. Alle Häftlinge, die das Lagerregime und die Arbeitsdisziplin einhielten, durften daran teilnehmen. Häftlinge, die für »konterrevolutionäre Verbrechen« verurteilt waren, waren von der Leitung solcher Zirkel strikt ausgeschlossen, jedoch nicht von der Teilnahme. Damit wurden die zuvor geltenden Vorschriften für sogenannte Konterrevolutionäre ein Stück weit gemildert. Offenbar ist eingesehen worden, dass die »Kulturerziehungsarbeit« ohne »politische Häftlinge« schwer zu bewerkstelligen war. In der Realität war der Einsatz von »Konterrevolutionären« in der »Laienkunst« auch vor diesem Erlass ein weit verbreitetes Phänomen. Das Repertoire der »Laienkunst« sollte die Kraft und die Größe der Sowjetunion widerspiegeln und einen gewissenhaften Umgang mit Arbeit bewirken. Es sollte regelmäßig »Schauen« und Wettbewerbe für »Laienkunstzirkel« geben. Zusätzlich durften »reisende Kulturbrigaden« ins Leben gerufen werden, deren Mitglieder nicht für »konterrevolutionäre Verbrechen«, Flucht, Bandenkriminalität und Bandenraub verurteilt sein durften. Bei ihren Reisen mussten die »Kulturbrigaden« unbedingt von Wachposten begleitet werden. Durch diese gesetzliche Verankerung von »reisenden Kulturbrigaden« wurde eine Entwicklung sanktioniert, die in der Realität der Lager schon längst stattgefunden hatte (vgl. den nächsten Abschnitt »Kulturbrigaden«). Um die »Kulturerziehungsarbeit« unter den Häftlingen durchzusetzen, sollte es in jeder Lagerabteilung einen »Kulturrat« [kul’tsovet] geben, zu dessen sieben ˇ -Leiter, die Leiter der Zirkel und die engagiertesten bis neun Mitgliedern der KVC Mitglieder der Zirkel gehören sollten. Des Weiteren waren »Kulturorganisatoren« in allen Brigaden vorgesehen. Von der »Kulturerziehungsarbeit« ausgeschlossen waren Häftlinge, die in Karzern eingesperrt waren, aber nicht solche in Strafabteilungen, wo die »Kulturerziehungsarbeit« entsprechend dieses Erlasses durchgeführt werden sollte. Nach Stalins Tod kam es zu einer Neubewertung der »Kulturerziehungsarbeit« in den Lagern. Aus einem »absolut geheimen« Erlass des Innenministeriums vom 30. März 1954 geht hervor, dass das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei in einem Beschluss vom 12. März 1954 die Arbeit des Innenministeriums in Bezug auf die Umerziehung der Häftlinge als unzureichend

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bewertet hatte. Seinerseits rügte nun das Innenministerium die ihm unterstellte Behörde GULAG und die Lagerleitungen dafür, dass sie die Produktionsarbeit der Lager als vorrangig behandelt und die Umerziehungsarbeit vernachlässigt haben. Es wurde ebenfalls festgestellt, dass viele GULAG-Angestellte für ihre Tätigkeit schlecht ausgebildet waren, und dass es sich bei ihnen um Personen handelte, die sich im Arbeitsleben vor ihrer Beschäftigung im Apparat des GULAG meist nicht bewährt hatten.1096 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es sich beim KVO GULAG, der für die offizielle Musikausübung in den Lagern verantwortlich war, um eine stark durchbürokratisierte Behörde handelte, die Berge von Dokumenten mit vielfachen inhaltlichen Überschneidungen produziert hat. Sie konnte ihre Vorstellungen offenbar nicht flächendeckend durchsetzten, wovon die immer neuen Maßnahmen zur Verbesserung der »Kulturerziehungsarbeit« zeugen.

»Kulturbrigaden« Wie eine dem Anspruch des KVO GULAG genügende »Kulturbrigade« auszusehen hatte, wird in einem Rundschreiben dieser Behörde vom 9. Dezember 1942 an alle KVO der Lager geschildert. Darin wird über die »zentrale Kulturbrigade« des Kraslag im Gebiet Krasnojarsk berichtet.1097 Diese Brigade bestand laut dem Schreiben aus 16 Häftlingen, die vor der Haft zum großen Teil professionelle Schauspieler, Maler und Musiker gewesen waren; geleitet wurde sie von zwei Zivilisten. Ihre Arbeit war darauf ausgerichtet, die Häftlinge zur Erfüllung und Übererfüllung des Plans zu mobilisieren sowie ihre Freizeit zu gestalten. Patriotische Handlungen der Häftlinge und die besten Arbeiter wurden popularisiert und Arbeitsverweigerer kritisiert. Die Brigade organisierte auch den Arbeitswettbewerb unter den Häftlingen. Missstände im Arbeitsprozess und im Alltag wurden ausfindig gemacht und bekämpft. Weitere offizielle Dokumente aus dem Jahr 1942 sprechen davon, dass musikalische Mittel dafür eingesetzt wurden, um die Arbeitsproduktivität der Häftlinge zu steigern und ihre Disziplin zu belohnen: Im Karagandinsker Lager soll es Prämien wie Radiogeräte, Musikinstrumente sowie Brettspiele für die saubersten Baracken gegeben haben.1098 Im Sevvostlag soll es für die besten Brigaden nach Arbeitsschluss die Möglichkeit gegeben haben, ein Konzert oder eine Vorlesung zu hören sowie Schach, Dame, Domino oder Billard zu spielen.1099 1096 1097 1098 1099

GARF: F. R-9401s, op. 1a, d. 524, l. 293 u. 293ob. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1439, S. 114 f. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1439, l. 71. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1443, l. 106ob.

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In einer Zusammenfassung der Berichte über die »Kulturerziehungsarbeit« aus den einzelnen Lagern vom 17. November 1944 hielt der KVO GULAG fest, dass in vielen Lagern und Kolonien »zentrale Kulturbrigaden« in Form von Theatern, Ensembles oder Jazz-Orchestern existierten. Sie setzten sich aus 15 bis 25 Häftlingen zusammen, welche von anderer Arbeit befreit waren. Viele von ihnen sollen das Niveau professioneller Theater erreicht haben. Als Beispiele werden die »Kulturbrigaden« des Uchtizˇemlag (vgl. Ausführungen zum Theater des Uchtpecˇlag in Kapitel B.2 »Ausblick«),1100 des Temlag,1101 des Kraslag1102 sowie der Omsker Lager und Kolonien genannt.1103 Im Bericht an die GULAG-Leitung vom Januar 1945 präzisierte der KVO GULAG, dass »Kulturbrigaden« nach Plänen des KVO systematisch vor Häftlingen aller Lagereinheiten auftraten. Es wurde aber auch erwähnt, dass »Kulturbrigaden« regelmäßig Konzerte und Theaterstücke für die zivilen Angestellten der Lager aufführten.1104 Obwohl dies, wie weiter oben erwähnt, nicht den Vorstellungen des KVO GULAG entsprach, wurde diese Praxis bis zum Zerfall des GULAG-Systems beibehalten. Es ist des Weiteren vorgekommen, dass »Kulturbrigaden« nur vorübergehend eingerichtet wurden. So teilte der stellvertretende GULAG-Leiter für Politarbeit in einem Bericht an alle Lagerleiter vom Mai 1946 mit, dass in den landwirtschaftlichen Lagern im Gebiet Saratov für die Dauer der Saat sowie der Ernte »Kulturbrigaden« aus fünf bis sieben Häftlingen eingerichtet wurden, die von der Arbeit mit der Allgemeinheit befreit waren.1105 Dies könnte dafür sprechen, dass »Kulturbrigaden« tatsächlich zur Steigerung der Produktivität beitragen konnten, denn während der Saat und der Ernte wurde jede Arbeitskraft gebraucht. Aus Häftlingserinnerungen ist bekannt, dass auch der umgekehrte Fall praktiziert wurde: Wenn mehr Arbeit für die Allgemeinheit der Häftlinge anfiel als gewöhnlich, wurden auch die Teilnehmer der »Kulturbrigaden« vorübergehend zu allgemeinen Arbeiten abkommandiert.1106

1100 Ein Lager auf dem Territorium der Autonomen Sowjetrepublik Komi mit dem Zentrum in ˇ ib’ju, die 1939 in Uchta umbenannt wurde. Es handelte sich dabei um das der Siedlung C Nachfolgelager des Uchtpecˇlag. Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 544 – 547. 1101 Dieses Lager befand sich in Mordwinien, im Gebiet Temnikov. Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 521 – 524. 1102 Das Verwaltungszentrum dieses Lagers befand sich in der Stadt Kansk im Gebiet Krasnojarsk. Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 322 – 324. 1103 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1459, l. 83. 1104 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1467, l. 11. 1105 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1477, l. 20. 1106 Bsp.: Demidov, Georgij: »Klassiki literatury i lagernaja samodejatel’nost’«, in: Volja, Nr. 8 – 9, 2002, S. 147.

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»Kulturerzieher« Wie aus den vorangegangenen Ausführungen deutlich geworden sein dürfte, waren die sogenannten Kulturerzieher für die Umsetzung der Vorschriften des KVO GULAG vor Ort zuständig. Aus der offiziellen Berichterstattung des KVO GULAG geht hervor, dass es während der gesamten Bestehenszeit des Gulag zu wenige »Kulturerzieher« in den Lagern gegeben hat und dass diese schlecht ausgebildet waren.1107 Es heißt in offiziellen Quellen, ihr »politisch-ideologisches Niveau« sowie ihre Allgemeinbildung seien unzureichend gewesen.1108 Sie hätten nur mangelhafte Kenntnisse über die aktuelle politische Lage vorweisen können, und nicht selten sei »moralischer Verfall« unter ihnen festgestellt worden.1109 Diese Situation sollte durch Fortbildungskurse für »Kulturerzieher«, Einzel- und Gruppengespräche sowie die Verpflichtung aller »Kulturerzieher«, »systematisch an sich selbst zu arbeiten«, geändert werden.1110 In Häftlingserinnerungen wird ein drastischeres Bild gezeichnet. So berichtet ˇ -Leiterin des zentralen Lagerpunkts des Ivdel’lag, Matvej Grin, dass die KVC Oberstleutnant Solomonovicˇ, ein »riesiges Weib mit heiserer, versoffener Stimme, mit von Tabak zerfressenen faulen Zähnen und dem unruhigen Blick einer Fanatikerin oder Drogensüchtigen« gewesen sei. Sie habe nacheinander mehrere Ämter im Ivdel’lag bekleidet und sei überall versetzt worden, weil sie ˇ gelandet sei. Dort keine gute Arbeit geleistet habe, bis sie schließlich in der KVC habe sie dann beispielsweise versucht, das Singen der Arie des Fürsten Igor mit den Worten »O, gebt mir meine Freiheit wieder« zu verbieten, weil sie meinte, dass Häftlinge keine Freiheit verdienten.1111 Und Ernst Tallgren, der zwischen 1940 und 1942 im Gulag inhaftiert war, überliefert: All diese Erzieher, die ich in den Lagern sah, waren halbe Analphabeten.1112

Die weiter oben erwähnte Verordnung über die »Kulturerziehungsarbeit« von 1940 sah vor, dass, falls in Lagerpunkten Personalmangel herrschen sollte, in der Abteilung für »Kulturerziehung« auch Häftlinge die Aufgaben eines »Kulturorganisators«1113 übernehmen konnten. Nach einem Befehl der zentralen GULAGVerwaltung von 1933 waren politische Häftlinge davon jedoch ausdrücklich ausgeschlossen.1114 Aber die Umsetzung der Befehle wich häufig von VerordBsp.: GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1434, l. 36; F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1460, l. 9. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1434, l. 36. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1439, l. 38 f. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1439, l. 40. Grin, »Zabveniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 15, S. 26. Dallin/Nikolaevsky, Zwangsarbeit in Sowjetrussland, 1948, S. 23. Hiermit ist offensichtlich der Posten des »Kulturerziehers« und nicht der im Oktober 1944 geschaffene Posten des »Kulturorganisators« gemeint (s. o.). 1114 GULAG: Glavnoe upravlenie lagerej, 2002, S. 120. Dies wurde in der Instruktion über das

1107 1108 1109 1110 1111 1112 1113

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nungen ab und ließ sich trotz der enormen Berichterstattungspflicht nicht flächendeckend kontrollieren. So war beispielsweise der politische Häftling Varlam Sˇalamov, nach Überlieferung des ehemaligen Häftlings Boris Lesnjak, als »Kulturorganisator« auf der Kolyma (vgl. Kapitel B.2) tätig.1115 Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verschlechterte sich, wie schon erwähnt, die personelle Situation im Gulag. Einen zusätzlichen Nachteil stellte dar, dass das für die »Kulturerziehungsarbeit« zuständige Personal zu Arbeiten herangezogen wurde, die nicht in seinen Tätigkeitsbereich fielen, so eine Direktive des GULAG vom 5. Dezember 1941.1116 Die Abbildung 45 zeigt das Kontingent der »Kulturerzieher« während des Krieges und macht grafisch deutlich, dass es immer unter der erforderlichen Anzahl blieb.1117 Viktorija Mironova weist auf den Grund für die schlechte Auslastung der Stellen der »Kulturerzieher« hin: Es sei schlichtweg die schlechte Bezahlung gewesen. Auch hätten die »Kulturerzieher« sowohl bei den Lagerangestellten als auch bei den Häftlingen einen schlechten Ruf gehabt, denn es sei kein Geheimnis gewesen, dass sie gleichzeitig als Denunzianten fungieren mussten. Es hat nur wenige Ausnahmen unter ihnen gegeben, die versucht haben, politischen Häftlingen zu helfen.1118

Abb. 45: Prozentuale Auslastung der Stellen für »Kulturerzieher« während des Zweiten Weltkriegs, entsprechend der internen GULAG-Statistik.

Der prozentuale Anteil der Häftlinge an den »Kulturerziehern« war während des Krieges sehr hoch. Im zweiten Halbjahr 1942 arbeiteten beispielsweise 1.843 »Kulturerzieher« in den Lagern. 1.129 von ihnen waren Häftlinge, 797 Partei-

1115 1116 1117 1118

Regime der Häftlinge vom 2. August 1939 genau so wiederholt. Bezborodova, Naselenie Gulaga: cˇislennost’ i uslovija soderzˇanija, 2004, S. 164. Lesnjak, Boris: Ja k vam prisˇÚl!, 1998, S. 209. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1432, l. 66. Angaben dafür sind entnommen aus: GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1434, l. 34; F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1450, l. 38; F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1460, l. 79; F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1467, l. 11 u. 60. Mironova, Kul’turno-vospitatel’naja rabota v lagerjach GULAGa NKVD-MVD SSSR v 1930 – 1950-e gody, 2004, S. 35, 37, 44, 49 f.

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mitglieder, 734 Frauen sowie 516 Mitglieder des Komsomol. Die Zahl der fehlenden »Kulturerzieher« betrug 1.223.1119 Um die Situation zu verbessern, befahl der GULAG-Leiter dem KVO GULAGLeiter zu Beginn des Jahres 1943, neues Personal für die »Kulturerziehungsarbeit« zu schulen und dafür einen Lehrplan zu entwickeln. Im März 1943 lag ein Entwurf des damaligen KVO GULAG-Leiters Kuz’min vor.1120 Er war als Lehrgang zur »Politerziehungsarbeit« im Umfang von 60 Stunden konzipiert, wobei zwölf Stunden für die »Produktionsmassenarbeit«, 14 Stunden für die »Politmassenarbeit« und acht Stunden für die »Kulturmassenarbeit« vorgesehen waren. Diese Gewichtung macht deutlich, dass die Kulturarbeit als die unwichtigste angesehen wurde. Dieser Entwurf änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass die Stellen der »Kulturerzieher« unterbesetzt waren. Zum Abschluss der Betrachtungen der offiziellen Sicht auf die »Kulturerziehungsarbeit« sei noch erwähnt, dass diese, vor allem von ehemaligen Lagermitarbeitern, als ein Mittel zur retrospektiven Beschönigung des Lageralltags missbraucht wurde. Der ehemalige stellvertretende Leiter eines Lagerpunkts im Karlag, Michail Jusipenko, äußerte gegenüber der kasachischen Presse im Jahr 1988, nachdem einer der ersten Berichte über das Karlag erschienen war, dass es in jeder Lagerabteilung eine Bibliothek mit Büchern, Zeitungen und Zeitschriften gegeben habe sowie Klubhäuser mit »Laienkunstzirkeln«. Dort waren professionelle Schauspieler beschäftigt, die nicht weniger als zwei Vorstellungen pro Monat gegeben hatten, und zwar sowohl für Gefangene als auch für zivile Angestellte.1121 Auch der ehemalige Lagerleiter des Ozerlag im Gebiet Irkutsk sagte Ende der 1980er-Jahre, dass es dort eine hervorragend funktionierende »Kulturerziehungsarbeit« gegeben habe, wogegen sich wiederum ehemalige Häftlinge des Ozerlag zu Wort meldeten.1122 Während die Instrumentalisierung der Kulturarbeit in den Lagern zum Zweck der Verharmlosung des Gulag vonseiten der Lagerangestellten nachvollziehbar erscheint, überrascht es sehr, Ähnliches auch von einem Häftling zu hören, der nicht im Apparat der »Kulturerziehung« tätig gewesen war : Die Lager seien nicht so schlimm gewesen, schließlich habe man dort auch Sport treiben können, wenn man wollte.1123 Diese Meinung scheint jedoch eine große Ausnahme darzustellen. Wichtig für die Rezeption der vorliegenden Studie scheint, nochmals ausdrücklich zu betonen, dass ihre Ergebnisse nicht zur Beschönigung des Gulag genutzt werden dürfen, da den Berichten über die Kulturarbeit GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1450, l. 38. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1450, l. 19, 21 – 28. Hedeler/Stark, Das Grab in der Steppe, 2008, S. 124. Mironova, Kul’turno-vospitatel’naja rabota v lagerjach GULAGa NKVD-MVD SSSR v 1930 – 1950-e gody, 2004, S. 116. 1123 Interview der Verfasserin mit Gedeon Kvantaliani im Sommer 2006 in Magadan. 1119 1120 1121 1122

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mühelos zahlreiche Zeugnisse über großes Leid entgegengestellt werden können, die dem Leser stets präsent sein sollten.

»Kulturerziehungsarbeit« aus der Sicht der Häftlinge Wie bereits in der Einleitung erwähnt, liegen zum Musikleben auf den Solovki mehrheitlich Zeugnisse von Häftlingen vor und im Gegensatz dazu mehrheitlich Quellen aus offizieller Sicht über das Musikleben im Belbaltlag sowie im Dmitlag. Für die Zeit ab 1941 halten sich aber offizielle Quellen und Häftlingserinnerungen die Waage, weil während und nach der Perestroika viele noch lebende ehemalige Häftlinge schriftliche Zeugnisse verfasst haben. Nachdem die offizielle Sicht auf die »Kulturerziehungsarbeit« nun dargestellt worden ist, wird ihr im Folgenden die der Häftlinge gegenübergestellt. Musik während des Arbeitsappells Viele Häftlinge berichten in ihren Erinnerungen vom Einsatz der Musik beim Arbeitsappell. Irmgard Schünemann, die seit 1941 zehn Jahre lang in einem Lager in Nizˇnij Tagil interniert war und dort schwere körperliche Arbeit im Industrie- und Eisenbahnbau verrichten musste, erinnerte sich in einem Interview mit Meinhard Stark in den 1990er-Jahren an den täglichen Arbeitsappell: Da haben wir dann ewig gestanden, bevor wir aus dem Lager rausgelassen wurden. Mit Musik wurden wir rausgelassen. So ein Hohn! Mit einem Blasorchester. Und da standen wir lange. Brigadeweise wurden wir gezählt und rausgelassen, mit dem Brigadier.1124

Auch Kazimierz Zarod, der in den Jahren 1940/41 westlich der Halbinsel Jamal im Nordwesten der Sowjetunion in Haft war, berichtet über die Musikausübung während des Arbeitsappells. Das Lager, in dem er interniert war, musste von den zusammen mit ihm dort eingetroffenen Häftlingen erst erbaut werden. Angesichts dieses Umstands und der widrigen winterlichen Witterung ist der schnelle Aufbau der Kulturarbeit in diesem Lager bemerkenswert: Among so many prisoners there were represented all the professions and very soon after our arrival the commandant had organized a ›band‹ of musicians. Some were professionals other amateur, but together they made quite good music. Each morning the ›band‹ stood near the gate playing military-style music and we were exhorted to march out ›strongly and happily‹ to our day’s work. Having played until the end of the column had passed through the gate, the musicians abandoned their instruments and, 1124 Stark, Meinhard: »Ich muß sagen, wie es war«. Deutsche Frauen des GULag, 1999, S. 145.

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tacking themselves on to the end of the column, joined the workers walking into the forest.1125

Ernst Tallgren, welcher zwischen 1940 und 1942 in Haft war, berichtet: Man stelle sich einmal fünf Uhr früh eines grauen regnerischen Herbsttages vor ; die Wachen treiben hungrige Menschen vor sich her, die sich in ihren durchnäßten und zerrissenen Stiefeln ermattet und mißmutig vorwärtsschleppen – und auf einer Plattform am Stacheldrahtzaun spielt eine Kapelle muntere Marschweisen.1126

In den Schilderungen des Schriftstellers Valerij Frid, der in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre im Kargopol’lag im Gebiet Archangel’sk inhaftiert war, heißt es: Bei uns im Lagerpunkt Komendantskij fand das Ausrücken zur Arbeit zur Begleitung eines Bajans statt. Ein Häftling, der von anderen Verpflichtungen befreit war, spielte muntere Melodien zu unserer Aufrichtung.1127

Karl-Heinz Langhagel erzählte in einem Interview mit Viktorija Mironova, dass im 19. Lagerpunkt des Ozerlag im Jahr 1950 jeden Morgen beim Arbeitsappell ein kleines Orchester aus acht bis zehn Musikern Märsche spielte, und das auch im Winter bei Temperaturen von bis zu -40 8C. Zu den gespielten Instrumenten gehörten Schlagzeug, Blasinstrumente, Geige und Gitarre. Danach arbeiteten die Musiker in der Lagerzone und hatten weniger schwere Arbeiten zu verrichten als die zur Arbeit außerhalb der Zone ausgerückten Häftlinge.1128 Aus diesen Zeugnissen geht hervor, dass Häftlinge beim Arbeitsappell fröhliche (Marsch-)Melodien hören mussten, welche meist von einer Gruppe von Musikern gespielt wurden, und dass sie das Erklingen der Musik beim Arbeitsappell als unpassend und teilweise als beleidigend empfunden haben. Die Musiker sind je nach Lager unterschiedlich behandelt worden: Mal waren sie von der Arbeit befreit, mal mussten sie weniger hart arbeiten als andere Häftlinge, es gab aber auch Lager, in denen sie mit der Allgemeinheit zu arbeiten hatten. Ein weiteres Zeugnis über die Musikverwendung während des Appells gibt der ehemalige Häftling Vladimir Sosnovskij, der von 1942 bis 1953 im Fernen Osten, jedoch nicht auf der Kolyma inhaftiert war, in seinem Poem Indija (Indien).1129 Das Poem schrieb er während der Haft in den Jahren 1949 – 1953: 1125 Zarod, Kazimierz: Inside Stalin’s gulag. A true story of survival, 1990, S. 101 f. 1126 Dallin/Nikolaevsky, Zwangsarbeit in Sowjetrussland, 1948, S. 24. 1127 D ^Qb ^Q »[_]V^UQ^cb[_]« aQXS_U iV\ `_U Q[[_]`Q^V]V^c RQp^Q. ?bS_R_WUV^^lZ _c UadTYf _RpXQ^^_bcVZ XV[ YTaQ\ R_UalV ]V\_UYY – U\p `_U^pcYp UdfQ. Frid, Valerij: 58 12. Zapiski lagernogo pridurka, 1996, S. 136. 1128 Mironova, Kul’turno-vospitatel’naja rabota v lagerjach GULAGa NKVD-MVD SSSR v 1930 – 1950-e gody, 2004, S. 122. 1129 Der Titel steht nicht für das Land Indien, sondern bedeutete in der Lagersprache, wie der

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Und damit die Kraft zum Arbeiten wächst, Schmettert die Jazz-Band Foxtrotts und Märsche.1130

Bemerkenswert ist, dass hier in einer Zeit der Verfolgung des Jazz ein entsprechendes Ensemble im Lager musizieren konnte.1131 Auch SemÚn Vilenskij, der seine Haft ab 1949 im Sonderlager Berlag auf der Kolyma verbüßte, bezeugt, dass die Häftlinge beim Ausrücken zur Arbeit von heiterer Musik begleitet wurden, die von Mithäftlingen gespielt wurde. Bei der Rückkehr nach dem Arbeitstag ist keine Musik mehr erklungen.1132 Ein besonders drastisches Beispiel für den Einsatz von Musik während der Appelle gibt Varlam Sˇalamov, der in den Jahren 1937 bis 1951 auf der Kolyma inhaftiert war, im Zyklus Künstler der Schaufel in der Erzählung Wie alles begann: Monatelang wurden Tag und Nacht bei den Morgen- und Abendkontrollen zahllose Erschießungsbefehle verlesen. Bei fünfzig Grad Frost spielten Musiker, Häftlinge aus der Gruppe der bytowiki, vor und nach der Verlesung jedes Befehls einen Tusch. […] Alles war wie fremd, zu schrecklich, um real zu sein. Aber der Tusch existierte, er schmetterte. Die Musiker erfroren sich die Lippen an den Mundstücken der Flöten, der silbernen Helikontuben, der Ventilkornetts.1133

Eine ähnliche Erfahrung machte auch Michail Vygon, der 1937 verhaftet wurde und in der Mine Partizan im Sevvostlag inhaftiert war : Der Tag begann mit dem Arbeitsappell. Wir mussten uns auf dem Platz aufstellen, die Fahne wurde gebracht; mir scheint, es war die Fahne unserer Mine. Dann hielten die Kommandeure des NKVD Reden darüber, dass der Feind nicht schläft, und zur Bestätigung dessen wurde wieder einmal ein Befehl zur Erschießung »japanischer«, »deutscher« und anderer Spione und Diversanten, Trotzkisten und Saboteure verlesen. Danach wurden die Aufgaben für den Tag gestellt und zu den Klängen eines Blasorchesters und dem Bellen der Wachhunde führte die Wache die Häftlingskolonnen zu den Arbeitsstätten.1134 Verfasser des Poems in den ersten Strophen deutlich macht, eine Baracke der dochodjagi. Vgl. auch Rossi, Spravocˇnik po GULAGu, 1991, Bd. 1, S. 136. 1130 1 hc_R U\p aQR_cl `aYRQSY\_bm bY\l, E_[bca_cl Y ]QaiY i`QaYc UWQX.

Sosnovskij, Vladimir : »Indija«, 2000, S. 3 u. 6. 1131 Lücke, Jazz im Totalitarismus, 2004, S. 161 – 164. 1132 Vilenskij, Voprosy est’?, 2006, S. 88. 1133 Schalamow, Warlam: Künstler der Schaufel. Erzählungen aus Kolyma 3, aus dem Russischen von Gabriele Leupold, 2010, S. 38. 1134 5V^m ^QhY^Q\bp b aQXS_UQ. þQb bca_Y\Y ^Q `\Qgd, Sl^_bY\Y X^Q]p, [QWVcbp, X^Q]p `aYYb[Q. @_c_] aVhm UVaWQ\Y [_]Q^UYal þ;35, [_c_alV T_S_aY\Y, hc_ SaQT ^V UaV]\Vc, Q S `_UcSVaWUV^YV c_]d XQhYclSQ\Y _hVaVU^_Z `aY[QX _ aQbbcaV\V Tad``l »p`_^b[Yf«, »TVa]Q^b[Yf« Y `a_hYf i`Y_^_S Y UYSVabQ^c_S, ca_g[Ybc_S Y bQR_cQW^Y[_S. @_b\V nc_T_

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Diese Beispiele demonstrieren, dass Musik beim Arbeitsappell eindeutig im Dienst des Lagersystems stand. Ebenfalls aus dem Sevvostlag ist ein ergreifendes Zeugnis überliefert, welches einen Eindruck davon vermittelt, wie Musik beim Ausrücken zur Arbeit von den Häftlingen gehört werden konnte. Dies ist ein Ausschnitt aus dem Poem Kolyma von Elena Vladimirova (1902 – 1962).1135 Das im Archiv der Zeitschrift Novyj mir (Die neue Welt) aufbewahrte und in seiner Gänze bislang noch unveröffentlichte Manuskript des Poems umfasst 86 maschinenschriftliche Seiten.1136 Nach Auskunft der Autorin umfasst das Poem ca. 4.000 Zeilen.1137 Lidija Komarova, eine Mitarbeiterin des Heimatkundemuseums in Magadan, berichtet, dass die Dichterin die Idee zu dem Gedicht gehabt habe, während sie im Krankenhaus des Sevvostlag arbeitete, welches auf der Kolymsker Trasse 23 km von Magadan entfernt lag. Sie hat es in den Jahren 1945 bis 1952 gedichtet. Einige Einzelheiten über den Lageralltag hat sie Erzählungen des im Januar 1943 in die Psychiatrie eingelieferten Häftlings Valerij Ladejsˇcˇikov entnommen. Dazu gehört auch die Szene mit dem Orchester beim Ausrücken der Häftlinge zur Arbeit am frühen Morgen:1138 bcQSY\Y XQUQhY ^Q UV^m Y `_U Udf_S_Z _a[Vbca Y \QZ bc_a_WVSlf b_RQ[ [_^S_Z aQXS_UY\ _capUl [Qc_aW^Y[_S `_ _RkV[cQ]. Timcˇenko, Svjatoslav : »Pod laj sobak…«, in: Territorija,

9. Oktober 1990, Nr. 7, S. 4, 13. 1135 Elena Vladimirova war eine Kommunistin und hat vor ihrer Haft als Journalistin gearbeitet. 1937 wurde sie verhaftet und war insgesamt über 18 Jahre lang inhaftiert. Ljuba, Jurij: »Ob avtore«, in: Vilenskij, SemÚn (Hg.): Dodnes’ tjagoteet, Bd. 1: Zapiski vasˇej sovremennicy, 1989, S. 124 f. Ihr Poem ist während der Haft entstanden, vor der sie keine Gedichte geschrieben hatte. Sie notierte es in ganz kleinen Buchstaben auf Zigarettenpapier, auf Papierresten und in einem selbst gebastelten kleinen Block, manchmal in verschlüsselter Schreibweise. Diese Zeugnisse sind ihrer Personalakte beigegeben, welche während des zweiten Untersuchungsverfahrens gegen sie auf der Kolyma angelegt wurde. Lidija Komarova, die 1991 einen Einblick in diese Akte bekommen konnte, schrieb in einem Artikel über Vladimirovas Poem, dass es ihr schwergefallen war, das Gedicht in den originalen Aufzeichnungen zu lesen, und zwar weniger wegen der verblassten Tinte oder des gelöschten Bleistifts, sondern vielmehr wegen des Schmerzes, welcher angesichts der in Gefängnissen und Lagern des GULAG zugrunde gerichteten Begabungen in ihr ausgelöst wurde. Häftlinge verbreiteten Vladimirovas Gedichte mündlich auf der Kolyma, und ehemalige Häftlinge taten dies außerhalb des Lagers und der Kolyma. Ol’ga AdamovaSliozberg gibt davon ein Zeugnis in: Vilenskij, Dodnes’ tjagoteet, 1989, S. 128. Der Schauspieler Georgij ZˇzˇÚnov zitierte einen Ausschnitt aus dem Poem Kolyma z. B. in einem Interview im November 1988; Roj Medvedev, dessen Vater auf der Kolyma inhaftiert war, gab einen Ausschnitt daraus in seinem Buch Das Urteil der Geschichte wieder. Medvedev schrieb in einem Brief an Komarova, dass in den 1960er-Jahren viele ehemalige Häftlinge Abschriften der Gedichte und des Poems von Elena Vladimirova besessen hatten. Ihre Lyrik zeichnete sich zwar durch kein hohes künstlerisches Niveau aus, so Medvedev, war aber wahrheitsgetreu. Komarova, Lidija: »›Severnaja povest’‹ Eleny Vladimirovoj«, in: Na Severe dal’nem, 1991, Nr. 1, S. 176 – 183. 1136 RGALI: F. 1702 (Glavnaja redakcija zˇurnala Novyj mir), op. 9, ed. 89. 1137 Vladimirova, Elena: »Druz’jam«, in: Vilenskij, Dodnes’ tjagoteet, 1989, S. 129. 1138 Komarova, »›Severnaja povest’‹ Eleny Vladimirovoj«, 1991, S. 181 f., 192.

Grundlagen: Verordnete Musikausübung

Um uns herum war es still, wie nach dem Tod, im Packeis, in den Traumlücken oder im Unglück. Ohne zu merken, wie die Kolonne sich langsam anfing zu bewegen, schritt Matvej, nachdenklich, mit allen durch das Tor und schaute sich erstaunt um. Undenkbar fast an diesem Ort, falsch, wild, grell, trocken, wie Blech auf Blech geschlagen, erklang dort ein Orchester. Es spielte nahebei: Am Zaun stand es, extravagant, bestand aus mageren und blassen Musikern, aus solchen, die für die Grube nicht mehr taugten oder sich davor zu retten versuchten, solchen, die eine beliebige Tätigkeit zu erlernen bereit waren, nur um dem bedrohlichen Bergwerk zu entkommen. Die Krücke in den Schnee gesteckt, in der zerrissenen Joppe steif vor Kälte, klopfte ein beinloser Bursche auf das straff gespannte Leder einer Trommel. Mager und gelb wie ein Skelett, das jeden Augenblick zusammenfallen könnte, blies der Klarinettist, das Instrument erhoben, wie den schwarzen Schnabel eines Riesenvogels. An den blau gewordenen toten Lippen zweier Trompeter, die dort standen, glänzte das Kupfer ihrer riesigen Instrumente, die der Frost grausam zum Glühen brachte. Es schien, als ob Geister sich im kalten Dunkel der Morgendämmerung versammelt hätten, um das Leben endgültig mit eigentümlichem Irrsinn zu erfüllen. Das Orchester gab sich Mühe, wie es nur konnte, durch die grausame Kälte abgehetzt, und seine Trommel dröhnte, und trocken klapperten die Pauken. Über der elenden Menschenmasse, die Erholung und Brot ersehnte, stieg in seiner zynischen Unverschämtheit ein zackiger Marsch zum Himmel auf. Er trieb den Menschenstrom an, der langsam aus der Zone floss,

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276 und peitschte auf die krummen Rücken mit einer Gerte aus angespannten Tönen. […] Er konnte niemanden zum Mitfühlen bewegen, hat Freiheit simuliert, wurde jedoch von der toten Natur und den halbtoten Menschen zurückgewiesen… …Das Ausrücken dauerte lang. Auf dem Berg waren die ersten Brigaden zu sehen, während das Ende der Kolonne sich auf dem Hof drehte und hinter der Absperrung wand. Es schien, als ob eine graue Schlange langsam den Hang hinaufkroch. Und der Marsch dröhnte, klirrend, pfeifend, doch plötzlich erstarb er. Möglicherweise wollten die Trompeter, müde vom eigenen Lärm, mit einer vertrauten lieben Melodie ihre durchgefrorenen Münder wärmen. Jedenfalls floss nun eine innige und traurige Weise über den Schnee, vom Seemann auf weiter Irrfahrt, der starb, ohne von seiner alten Mutter Abschied nehmen zu können. Und die Menschen fuhren zusammen: Ein unbeherrschbarer Schmerz durchfuhr ihre Herzen in stummer Vorahnung des Endes. Die Hoffnung schwand dahin wie Rauch. Doch nein! Der Rauch war ehrlicher als diese Hoffnung – dahinter glimmte immerhin noch etwas. In seinem grauen Gewand betrog der Rauch die Menschen nicht, bevor er sich am Himmel traurig auflöste. Und die Menschen folgten dem Lied und begegneten ihrem Schicksal. Sie schauten auf die Erde, auf den Schnee, versteckten die Gesichter. Und dennoch sah Matvej, wie der neben ihm Gehende anfing zu weinen. Er selbst schritt so wütend, wie er schon lange nicht mehr wütend war. Dieser Marsch und diese rote Fahne, die auf dem Berg gehisst war und ihre Farbe schon verloren hatte, und damit auch die Größe und die Würde… Welch eine ungeheuerliche Schmähschrift

1940er- und 1950er-Jahre

Grundlagen: Verordnete Musikausübung

konnte sich mit diesem Spott vergleichen? »Schon gut, nicht jeder hat ein solches Glück! – bemerkte jemand an seiner Schulter. – Nicht oft marschieren Tote zum Trauermarsch. Ich denke, dass die Lagerleitung durch das Orchester in uns selbst den kleinsten Protest ersticken möchte, welcher ohnehin nur selten ist zurzeit. Vielleicht ist es aber auch Barmherzigkeit: eine Narkose, auch wenn sie nutzlos ist, die uns im unbeholfenen Eifer von jemandem geschenkt wird.«1139 1139 3_[adT bc_p\Q cYiY^Q – cQ, hc_ `aYbcQ\Q c_\m[_ b]VacY, `_\pa^l] \mUQ], `a_SQ\Q] b^Q Y T_ao. 5QWV ^V XQ]VcYS, [Q[ cYf_ ca_^d\bp aQXS_U, =QcSVZ, S aQXUd]mV `_TadWV^^lZ, iQT^d\ b_ [/XQ] SbV]Y YX S_a_c Y _RVa^d\bp, `_aQWV^^lZ. @_hcY ^V]lb\Y]Qp XUVbm, eQ\miYS_, UY[_, bdf_, aVX[_, [Q[ WVbcm, TaV]pjQp _ WVbcm, XSdhQ\Q ]dXl[Q _a[VbcaQ. 9TaQ\Y apU_]: `_U bcV^_Z

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Grundlagen: Verordnete Musikausübung

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In ihrem Poem zeichnet Vladimirova die Musiker als dermaßen geschwächt, dass sie nicht in der Lage scheinen, Musik zu machen, zu deren Ausübung sie jedoch verpflichtet sind. Ihr Aussehen unterstreicht den irrationalen und diskrepanten Charakter, der hier der Musikausübung zugesprochen wird. Wie auch von anderen zitierten Häftlingen bezeugt, wird hier ein Marsch gespielt, welcher von den Häftlingsreihen nicht angenommen wird. Es erklingen aber auch traurige Lieder, mit denen sich Häftlinge identifizieren können. Diese traurigen Lieder führen ihnen die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage vor Augen. Auf diese Weise demonstriert Vladimirovas Poem, dass die offiziellen Zielsetzungen der »Kulturerziehungsarbeit« in der von ihr dargestellten Situation nicht erfüllt werden konnten. Vielmehr konnten Häftlinge die Ordnung des Lagersystems unterwandern, indem sie auch Lieder spielten, die ihrer Stimmung und nicht den Wünschen des KVO entsprachen. Die Abbildung 46 zeigt eine Zeichnung von Viktor Grebennikov,1140 auf der eine ähnliche Situation wie die von Elena Vladimirova beschriebene dargestellt ist, und zwar in einem Lager in Karabasˇ im südlichen Ural im Jahr 1950. Auch hier wirken Musiker wie ein Fremdkörper im harten Lageralltag. UQS^l]-UQS^_ _^ ^V Rl\ SXRViV^. 9 nc_c ]Qai, Y [aQb^lZ e\QT, hc_ Rl\ ^QU b_`[_o `_SViV^ Y `_cVapSiYZ UQWV gSVc, [_c_al] Rl\ SV\Y[ Y b\QSV^… ;Q[_Z hdU_SYj^lZ `Q]e\Vc ^Qb]Vi[V nc_Z Rl\ Rl aQSV^? »þd-^d, ^V SbV] cQ[_V bhQbcmV ! – XQ]VcY\ [c_-c_ XQ `\Vh_]. – @_U `_f_a_^^lZ ]Qai ^V hQbc_ YUdc `_[_Z^Y[Y `Vi[_]. P `_\QTQo, hc_ _a[Vcca_] ^QhQ\mbcS_ XQT\diQVc S ^Qb f_cp Rl `a_R\Vb[Y `a_cVbcQ, cQ[_T_ aVU[_T_ bVZhQb. 1 ]_WVc, nc_ ]Y\_bVaUmV : f_cm RVb`_\VX^lZ, Q ^Qa[_X, [_c_alZ [c_-c_ ^Q] `_U^Vb S bS_V] RVb`_]_j^_] dbVaUmV.«

Komarova, »›Severnaja povest’‹ Eleny Vladimirovoj«, 1991, S. 188 – 190; RGALI: F. 1702 (Glavnaja redakcija zˇurnala Novyj mir), op. 9, ed. 89, l. 28 – 31. In eckigen Klammern sind die wenigen Abweichungen des Manuskripts zur gedruckten Fassung wiedergegeben. 1140 Grebennikov wurde im Alter von 20 Jahren zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilt. Im Sommer 1953, nach Stalins Tod, ist er jedoch schon nach sechsjähriger Lagerhaft freigekommen. In den 1990er-Jahren hielt er seine Erinnerungen an den Gulag zeichnerisch fest. Sein einziger Mallehrer sei, seinen eigenen Erinnerungen nach, ein Leningrader Maler im Lager gewesen. Die abgebildeten Situationen hatten sich so sehr in sein Gedächtnis eingegraben, so Grebennikov, dass er die Zeichnungen quasi nach der Natur gemalt hat. Volja, Nr. 8 – 9, 2002, S. 269 – 276.

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Abb. 46: Viktor Grebennikov. »Ausrücken der Brigaden der Konteragenten zu den ˇ apaevka [beides Ortschaften]. 1950.« Volja, Nr. 8 – 9, 2002, Arbeitsobjekten. Karabasˇ, C S. 276.

Jurij Fidel’gol’c hielt seine Empfindungen bezüglich der während des Morgenappells erklungenen Musik ebenfalls in Versform fest. Sein Gedicht entstand während seiner Inhaftierung im Ozerlag im Lagerpunkt Kilometer 185 ˇ una, wo er in den Jahren 1948/49 einsaß. der Trasse »Bratsk – Tajsˇet« am Fluss C Dort spielte beim Morgenappell manchmal ein kleines Ensemble aus zwei bis drei Musikern auf den Instrumenten Geige, Gitarre und anderen, an die sich der ehemalige Häftling während des fast 60 Jahre später geführten Telefoninterviews mit der Verfasserin nicht mehr erinnern konnte. Sie spielten Märsche und, was beim Zeitzeugen besonders haften blieb, den Czardasz von Vittorio Monti: Montis Czardasz, Montis Czardasz! Schnell, Jungs, zum Appell! Lasst das Musikantchen in Ruhe – Das reißt hitzig an seiner Harmonika.

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Sollen wir diese Harmonika mal Gegen ein ungarisches Fagott austauschen? Sie treiben die Häftlinge in aller Frühe, Sie treiben die Häftlinge zum Appell. Jenes Motivchen ist nicht traurig, Die Finger laufen nur so hin und her. Es wird auch in der entferntesten, Gar in der fünfzehnten Baracke gehört. Der Knüppel donnert auf die Köpfe. Überall sind Wachsoldaten. Mit dem Nebel Steht die ganze Sowjetunion auf.1141 »Die Kugel für uns, die Hülse für euch«, Und beim Wachthaus, dem Teufel gleich, Der Musikant, schwärzer als Ruß, Wirft dir einen Akkord hinterher. An meinem frischen Grab Vergieße bitte keine Tränen. Und erinnere in unserem rauen Sein Montis Czardasz!1142 1141 Eine Anspielung auf die Zeilen »@a_bl`QVcbp b aQbbSVc_] Sbp B_SVcb[Qp XV]\p« [»Mit dem Sonnenaufgang steht die ganze Sowjetunion auf«] aus dem Lied Moskva majskaja (Moskau im Mai) von den Brüdern Pokrass mit einem Text von Vasilij Lebedev-Kumacˇ. Eine Einspielung aus dem Jahr 1937 mit dem Chor und Orchester des Bol’sˇoj-Theaters steht unter http://sovmusic.ru/download.php?fname=moskvama (letzter Zugriff am 11. Juni 2011) zur Verfügung. 1142 »HQaUQi« =_^cY, »HQaUQi« =_^cY! 7YS_ f\_`gl, ^Q aQXS_U ! =dXl[Q^cY[Q ^V ca_^mcV – ?^ S bVaUgQf cQ\mp^[d aSVc. 8Q]V^Ycm Rl cd cQ\mp^[d þQ ]QUmpab[YZ, hc_ \m, eQT_c ? 4_^pc XV[_S b`_XQaQ^[d, 8V[_S T_^pc ^Q aQXS_U. C_c ]_cYShY[ – ^V `VhQ\m^lZ, F_UYc `Q\mgQ]Y S_c cQ[. 6T_ b\liYc bQ]lZ UQ\m^YZ 1W `pc^QUgQclZ RQaQ[. 5al^ Td\pVc `_ RQh\Q^Q]. ;_^S_Ya_S – U_ faV^Q. @_U^Y]QVcbp b cd]Q^_] 3bp b_SVcb[Qp bcaQ^Q. »@d\p – ^QiQ, TY\mXQ – SQiQ«, 1 d SQfcl, RdUc_ hVac, =dXl[Q^c, hVa^VV bQWY, HViVc Sb\VU cVRV Q[[_aU.

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Die Wut gegen die beim Appell erklungene Musik, die schon mehrfach angesprochen wurde, kommt in diesem Gedicht in aller Deutlichkeit zum Ausdruck. Und auch die Deplatziertheit der offiziellen Musikausübung im Lager wird erneut auf eindrückliche Weise vor Augen geführt. Häftlingserinnerungen über die Musik beim morgendlichen Appell machen deutlich, dass die Ziele, welche der KVO GULAG damit angestrebt hat, nicht erreicht werden konnten. Nicht die Hebung der Arbeitsmoral der Häftlinge war die Folge, sondern Ablehnung, Trauer und Wut. »Kulturbrigaden« Der ehemalige Häftling Georgij Demidov (vgl. Kapitel B.2 »Musiker in literarischen Erinnerungen«) berichtet, dass in den Lagern auf der Kolyma, in denen er inhaftiert war, die »Kulturerziehungsarbeit« nur funktionierte, weil politische Häftlinge sich daran beteiligten. 1937 wurde ihnen verboten, an der »Laienkunst« teilzunehmen, weswegen diese fast zum Erliegen kam. Politische Häftlinge konnten nicht einmal Musikinstrumente bekommen, auch wenn es sich bei ihnen um professionelle Musiker handelte und sie lediglich ihr Instrument einmal wieder spielen wollten. Im Herbst 1939 wurde das Verbot aufgehoben, vermutlich infolge des XVIII. Parteitags, und die »Laienkunstzirkel« begannen erneut, intensiv zu arbeiten. Dies freute nicht nur die Häftlinge, sondern auch die zivile Bevölkerung des nahe liegenden Dorfes, weil sie die Vorführungen der Häftlinge besuchen konnten. Während des Zweiten Weltkrieges kam die Kulturarbeit aber wieder zum Erliegen, weil die Häftlinge stark hungerten.1143 Stellt man seine Schilderung der offiziellen Berichterstattung gegenüber, wie sie im ersten Abschnitt dieses Kapitels referiert wurde, wird deutlich, dass diese zwar möglicherweise allgemeine Tendenzen wiedergeben konnte, aber keinesfalls die Situation in den einzelnen Lagern, denn danach müsste sich die »Laienkunst« während des Krieges im Vergleich zum ersten Kriegsjahr erholt haben, was aber auf das Lager, in dem Demidov inhaftiert war, nicht zutraf. Lagerhäftlinge, die in »Kulturbrigaden« tätig waren, haben diese Arbeit vielfach in ihren Erinnerungen beschrieben. Adolf Pfeiffer z. B. war als D ]_VZ bla_Z ]_TY\l B\VX, `a_id p, ^V a_^pZ. 9 S bda_S_Z ^QiVZ Rl\Y =_^cY »HQaUQi« Sb`_]Y^QZ !

Dieses Gedicht rezitierte Jurij Fidel’gol’c während eines von der Verfasserin geführten Telefoninterviews in Moskau am 12. November 2007. Er diktierte dabei auch die Interpunktion. Mit unwesentlichen Abweichungen, die vor allem die Interpunktion betreffen, ist es auch in Vilenskij, SemÚn (Hg.): Poe˙zija uznikov GULAGa. Antologija, 2005, S. 788, veröffentlicht. 1143 Demidov, »Klassiki literatury i lagernaja samodejatel’nost’«, 2002, S. 145 – 149, 170.

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Mandolinen-Spieler Mitglied eines ca. zwölf Musiker umfassenden Lagerorchesters, welches in einem Lagerpunkt des Karlag in Kasachstan nach getaner Zwangsarbeit probte. Der Lagerleiter hat mit diesem Orchester vor seinen Vorgesetzten geprahlt. Für ein vor der Lageradministration vorgetragenes Konzert ließ er die Häftlinge mit weißen Anzügen und Essen prämieren. Am Abend hat dieses Orchester während der Essensausgabe für die Häftlinge spielen müssen, um sie zum besseren Arbeiten zu animieren. Dabei spielte es Volkslieder, alte Walzer und Kunstlieder. Für die zuhörenden Häftlinge war dies eine Zeit, in der sie sich als »vollwertige Menschen fühlen konnten«, so Adolf Pfeiffer. Die Musiker versuchten, allen Häftlingen etwas zu bieten, und haben russische, ukrainische, polnische, ungarische sowie deutsche Volksmusik gespielt.1144 Dies ist ein Beispiel dafür, dass Häftlinge den Befehl zur Musikausübung für sich ausnutzen konnten. Artur Hörmann war ab März 1940 im Soroklag im Gebiet Archangel’sk inhaftiert und durfte in der »Agitationsbrigade« seines Lagerpunkts Geige spielen, obwohl er nur ein Laienmusiker war. Vor der Gründung der »Agitationsbrigade« hatte es im Lager bereits eine »Laienkunst« gegeben, welche sich in der »Roten Ecke« versammelte. Teilnehmer dieser »Laienkunst« sind Kleinkriminelle gewesen, die »keinerlei Not litten«. Neben »Zigeunerliedern« hatten sie sowjetische Lieder gesungen, Mandoline und Gitarre gespielt sowie gesteppt. Sobald die »Agitationsbrigade« eingerichtet worden war, mussten die daran beteiligten Insassen nicht mehr mit der Allgemeinheit der Häftlinge zur Arbeit ausrücken, sondern bekamen als einzige Aufgabe, Konzerte vorzubereiten und damit die verschiedenen Lagerpunkte ihres Lagers zu bereisen.1145 In dieser Zeit hat Hörmann kaum daran gedacht, dass er Häftling war, berichtete er später in seinen Erinnerungen, denn die Mitglieder der »Agitationsbrigade« mussten ihr Haar nicht abrasieren und durften »anständige« Kleidung tragen. Auch durften sie sich relativ frei bewegen. Die Konzerte der Brigade fanden oftmals auf improvisierten Bühnen unter freiem Himmel statt. Die Mückenplage war in jener Gegend so stark, dass die nicht an einem Programmpunkt beteiligten Mitglieder der Brigade als »Mückenverscheucher« für die gerade auftretenden Künstler fungieren mussten. Auf dem Programm standen russische Kunstlieder und Duette aus Operetten, beides zur Begleitung von Gitarre und Geige, sowie Gedichte (Hörmann nennt nichts weiter). Manchmal veranstaltete die Brigade unerlaubterweise Konzerte in Siedlungen der zivilen Bevölkerung,1146 um Geld zu verdienen und dafür 1144 Hedeler/Stark, Das Grab in der Steppe, 2008, S. 257 f. 1145 Hörmann, Aber die Heimat winkte in der Ferne, 1999, S. 145 – 147. 1146 Auch andere »Kulturbrigaden« traten auf ihren Tourneen vor der zivilen Bevölkerung in abgelegenen Dörfern auf und brachten dadurch hochwertige Kunst in Regionen, die »noch

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Alkohol zu kaufen.1147 Die einzige Notenausgabe, die Hörmann während seiner ˇ ajkovskijs Inhaftierung im Norden zu sehen bekam, war ein Klavierauszug von C Canzonetta (so der Beiname des zweiten Satzes aus seinem Violinkonzert). Diese übte er in langwieriger Arbeit zusammen mit einem Gitarren- und einem Balalaika-Spieler ein.1148 Nach einigen Monaten wurde die Brigade Hörmanns mit der »Zentralen Agitationsbrigade« des Soroklag zusammengelegt. Musikalischer Leiter dieser Brigade soll der ehemalige Dirigent der Char’kover Oper mit dem Namen Bud’Dobryj gewesen sein, ein weiteres Mitglied der professionelle Geiger Boris Cybul’nik (Künstlername Vetrov). Abends hat er für seine Mithäftlinge auf der ˇ ajkovskijs. Auch Mandoline gespielt, z. B. Bearbeitungen von einigen Sinfonien C soll er in freien Stunden zusammen mit Hörmann Bachs Violinduette gespielt haben. Das Repertoire dieser Brigade enthielt z. B. ein Potpourri aus Rossinis Wilhelm Tell. Auch war ein Jazz-Orchester Bestandteil der Brigade, und zwar in folgender Besetzung: zwei Geigen, zwei Trompeten, eine Posaune, zwei Saxophone, zwei Gitarren, ein Banjo, ein Bajan und Schlagzeug. Da die beiden namentlich genannten professionellen Musiker für »schwere politische Verbrechen« inhaftiert waren, mussten sie die »Agitationsbrigade« bald wieder verlassen. Artur Hörmann durfte nach dem Überfall der deutschen Armee auf die Sowjetunion ebenfalls nicht mehr in der »Agitationsbrigade« mitwirken, weil er deutscher Abstammung war.1149 Mehrere ehemalige Häftlinge haben Zeugnisse über die »Zentrale Kulturbrigade« des Ozerlag im Gebiet Irkutsk hinterlassen.1150 Diese »Kulturbrigade« zeichnete sich dadurch aus, dass die berühmte russische Volksliedsängerin Lidija Ruslanova in den Jahren 1949/50 in ihr tätig gewesen war.1151

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völlig rückständig« lebten und nie ein Konzert erlebt hatten. Bsp.: Grin, »Zabveniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 15, S. 26; E˙psˇtejn, Evgenij: »Iskusstvo za koljucˇej provolokoj«, in: Muzykal’naja zˇizn’, 1990, Nr. 24, S. 10. Im Gegenteil dazu berichtet Matvej Grin, dass das Theater des Ivdel’lag sich mit nur einer Ausnahme streng an die Vorschrift gehalten hat, nicht vor der zivilen Bevölkerung aufzutreten, und zwar aus Angst vor Bestrafung. Grin, »Zabveniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 15, S. 26. Hörmann, Aber die Heimat winkte in der Ferne, 1999, S. 149 f., 152. Hörmann, Aber die Heimat winkte in der Ferne, 1999, S. 152 – 155, 168. Die folgende Darstellung fußt auf Kravec, »Sˇest’ let ›rezˇima‹«, 1988, S. 82 f., und einem Telefoninterview der Verfasserin mit dem ehemaligen Häftling Jurij Fidel’gol’c in Moskau am 12. November 2007. Er war von 1948 bis 1950 im Ozerlag inhaftiert und wurde danach auf die Kolyma transportiert. Lidija Ruslanova (1900 – 1973) war eine außerordentlich berühmte Sängerin russischer Folklorelieder. Sie begann ihre Konzerttätigkeit bereits mit 17 Jahren, nachdem sie zwei Jahre lang vom Opernsänger Michail Medvedev (1852 – 1925) in Saratov Gesangsunterricht bekommen hatte. Besondere Berühmtheit erlangte ihre Interpretation des Liedes der Roma Valenki (Filzstiefel), zu hören auf http://www.russian-records.com/details.php?image_id=9699& l=russian (letzter Zugriff am 17. Januar 2012). Ivanov, A.:

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Trotz einer Verurteilung zu zehn Jahren Lagerhaft hatte sich Ruslanova einen Sinn für Humor und auch ihren Stolz im Lager bewahrt.1152 Sie ging mit der »Kulturbrigade« des Ozerlag auf Tourneen entlang der Eisenbahnstrecke »Tajsˇet – Lena«, um vor Häftlingen aufzutreten. Begleitet wurde sie dabei vom Bajanisten Iosif Susˇko, der 1945 als Vierzehn- oder Fünfzehnjähriger des »Vaterlandsverrats« angeklagt und durch ein Sonderkollegium zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt worden war. Man erlaubte ihm im Lager, nach der Arbeit in einem abgesonderten Raum zu üben. Im Jahr 2002 sagte er in einem Interview, dass er die Inhaftierung trotz all des Schlechten, was sie mit sich gebracht hatte, als eine glückliche Fügung empfand, weil er dort mit berühmten Musikern zusammengetroffen war. Nachdem die »Kulturbrigade« im Jahr 1950 aufgelöst worden war, durfte der Bajanist nicht mehr üben. Da die anderen Häftlinge gesehen haben, wie sehr ihm das fehlte, haben sie ein tonloses Bajan für ihn gebaut, sodass er nachts stumm üben konnte. Nach der Freilassung arbeitete Susˇko als Musiker, 2002 war er Leiter eines belorussischen Folklore-Ensembles.1153 Das tonlose Bajan von Susˇko stellt nicht den einzigen Fall eines tonlosen Instruments im Gulag dar. In den 1950er-Jahren bauten Mithäftlinge in Vorkuta ein tonloses Klavier für den Komponisten Ja¯nis Lı¯cı¯tis (vgl. die Komponistentabelle in Kapitel D), welches heute im Okkupationsmuseum in Riga und im virtuellen Gulag-Museum zu sehen ist.1154 »Ruslanova Lidija Andreevna«, in: Keldysˇ, Muzykal’naja e˙nciklopedija, Bd. 4, 1978, Sp. 755 f. Nachdem der Reichstag in Berlin von den sowjetischen Truppen eingenommen worden war, gab Lidija Ruslanova, die seit 1942 den Titel »Verdiente Künstlerin der RSFSR« trug, zunächst im Reichstag und dann auf seiner Treppe ein Konzert zusammen mit einer Kosaken-Sing- und Tanzgruppe. Im Reichstag glimmte noch das Feuer, welches die Kämpfe hinterlassen hatten. Der Chor sang zunächst ein Lied über Stalin, danach trug Ruslanova das Volkslied Step’ da step’ ˇsirokaja (Steppe, weite Steppe) und eine Vielzahl anderer Volkslieder vor. Die Zeitung Izvestija (Nachrichten) schrieb darüber : »Das russische Volkslied, welches direkt im Zentrum der deutschen Hauptstadt erklang, erfüllte das Herz eines jeden Menschen, der in diesen Tagen des ruhmreichen Sieges hier war, mit großem Stolz.« [»Adbb[Qp ^Qa_U^Qp `Vb^p, XSdhQjQp S bQ]_] gV^caV bc_\Ygl 4Va]Q^YY, `aVYb`_\^Y\Q hdSbcS_] SV\Y[_Z T_aU_bcY bVaUgV [QWU_T_ hV\_SV[Q, ^Qf_UpjVT_bp XUVbm S ncY U^Y b\QS^_Z `_RVUl.«] Dolgopolov, M.: »Russkaja pesnja v Berline«, in: Izvestija, 18. Mai 1945, S. 3. Am 27. September 1948 wurde Ruslanova verhaftet. Während der Untersuchungshaft war sie in den Moskauer Gefängnissen Lubjanka und Lefortovo inhaftiert und musste eine Folter erleiden, bei der sie in einem unterkühlten Raum eingesperrt wurde. Safosˇkin, Valerij: Lidija Ruslanova. Ot Rejchstaga do GULAGa, 2002, S. 142 f. Verurteilt wurde sie durch ein Sonderkollegium wegen angeblicher »antisowjetischer Propaganda« am 28. September 1949 (http://lists.memo.ru/d28/f386.htm [letzter Zugriff am 2. Juni 2011]). 1152 Safosˇkin, Lidija Ruslanova, 2002, S. 145 f. 1153 Kucˇerova, »Zˇestokij romans«, 2002; Muchin, Leonid: »›Pticˇka v kletke ne poÚt‹«, in: Vostocˇno-Sibirskaja pravda, 19. Juli 1989, S. 4. Der Bajanist wird als Juzik Susˇko auch in Safosˇkin, Lidija Ruslanova, 2002, S. 146 f erwähnt. 1154 Http://gulagmuseum.org/showObject.do?object=1685429 (letzter Zugriff am 3. Januar 2011).

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Ehemalige Mithäftlinge erinnerten sich nach der Haft, dass Ruslanova sich geweigert hatte, Konzerte allein für das Lagerpersonal zu geben, aber vor Inhaftierten im Publikum gesungen hatte. Dieses selbstbewusste Verhalten führte dazu, dass das russische Sprichwort »Der Vogel singt nicht im Käfig« zumindest im Gebiet Irkutsk mit Ruslanova assoziiert wird.1155 Dies konnte die Lagerleitung nicht dulden, zumal es auch andere Häftlinge zu selbstsichererem Auftreten anregte. Ruslanova wurde auf Bitten der Ozerlag-Leitung nach zwei Monaten Lager durch die Entscheidung eines Sonderkollegiums vom 7. Juni 1950 ins Gefängnis der Stadt Vladimir verlegt. Im Juli 1953 wurde die Sängerin rehabilitiert und aus der Haft entlassen.1156 Der ehemalige Häftling Jurij Fidel’gol’c berichtete in einem Telefoninterview, welches er der Verfasserin am 12. November 2007 gegeben hat, dass in Tajsˇet ein Männerlager existierte, welches als vorbildlich galt, und in welchem er inhaftiert gewesen war. Dort stand in der Baracke, in der das Essen ausgeteilt wurde, ein Klavier. Der Leiter des Ozerlag, Sergej Evstigneev,1157 der in Tajsˇet lebte, rief dort eine »Kulturbrigade« ins Leben. Jurij Fidel’gol’c erinnerte sich, dass viele Musiker der »Kulturbrigade« aus dem Baltikum und aus der Mandschurei 1155 Muchin, »›Pticˇka v kletke ne poÚt‹«, 1989, S. 4; Safosˇkin, Lidija Ruslanova, 2002, S. 149. 1156 Safosˇkin, Lidija Ruslanova, 2002, S. 149, 151; Strongin, Varlen: Tjur’ma i volja Lidii Ruslanovoj, 2005, S. 196 – 202; http://lists.memo.ru/d28/f386.htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011). Anfang August 1953 kehrte sie nach Moskau zurück. Da ihr Besitz und auch ihre Wohnung bei der Verhaftung beschlagnahmt worden waren, hatte sie keine Bleibe. Der Marschall Georgij Zˇukov stellte ihr deswegen ein Hotelzimmer zur Verfügung. Ende August kehrte auch Ruslanovas Mann, General Vladimir Krjukov, aus der Haft zurück. Des Weiteren erwirkte die Sängerin, dass der mit ihr zusammen verhaftete Harmonika-Spieler Vladimir Maksakov, der sie begleitet hatte, ebenfalls freigelassen wurde. Ruslanova schaffte es, erfolgreich auf die Bühne zurückzukehren. Bei ihrem ersten Konzert nach ˇ ajkovskij-Saal in Moskau war der 1.500 Zuhörer fassende Raum fünfjähriger Pause im C ausverkauft, das Publikum empfing die Künstlerin mit lang anhaltendem und stürmischem Beifall. Es folgten Tourneen durch die ganze Sowjetunion, die Ruslanova nur einmal für ein Jahr unterbrach, nachdem ihr Mann sechs Jahre nach seiner Rückkehr aus der Haft an deren Folgen gestorben war. Safosˇkin, Lidija Ruslanova, 2002, S. 172 – 176. Im Jahr 1958 unternahm die Sängerin eine Tournee auf der Kolyma. Trotz des politischen Tauwetters sendete der Zentrale Rundfunk in Magadan keine Reportage über ihr Konzert, obwohl die Korrespondentin des Gebietsrundfunks der Stadt Susuman, Tamara Smolina, eine vorbereitet hatte, und obwohl ihre übrigen Beiträge immer problemlos angenommen worden waren. Auch lokale Zeitungen schwiegen über den Auftritt. Offenbar, so vermutet Tamara Smolina, haben die Vertreter des Magadaner Parteikomitees jegliche Berichterstattung verboten. Smolina, Tamara: »Lidija Ruslanova na Kolyme«, in: Magadanskaja pravda, 15. September 1994, S. 3. Dies ist ein Beispiel dafür, dass ehemals inhaftierte Musiker ungeachtet ihrer Berühmtheit auch nach der Rehabilitierung diskriminiert wurden. Erst in den 1960er-Jahren wurde Ruslanova wieder im Rundfunk gespielt. Sie starb 1973 an einem Herzinfarkt. 1157 Es ist bemerkenswert, dass Jurij Fidel’gol’c sich noch 60 Jahre später richtig an den Namen des Lagerleiters erinnerte. Vgl. Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 368.

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stammten. Obwohl Fidel’gol’c im Lager als Ingenieur arbeitete, also eine gehobene Stellung unter den Häftlingen hatte, konnte er nie ein Konzert der »Kulturbrigade« hören, denn im Publikum saßen Lagerangestellte und ihre Familien und nahmen dadurch den Häftlingen die Plätze weg.1158 Der ehemalige Häftling E. Rudakovskij berichtet, dass die »Kulturbrigade« des Ozerlag im Jahr 1949 ins Leben gerufen wurde. Es waren dort u. a. Künstler der Kiewer Oper, des Theaters von Dnepropetrovsk, der Komponist Julij Chajt (vgl. die Komponistentabelle in Kapitel D) und Instrumentalisten aus dem Baltikum tätig gewesen.1159 Als Nadezˇda Kravec (vgl. Kapitel D) in diese »Kulturbrigade« aufgenommen wurde, war Lidija Ruslanova bereits abtransportiert worden.1160 Nadezˇda Kravec berichtet in ihren Erinnerungen, dass es im Männerlager von Tajsˇet eine kleine Zone gegeben hat, welche ihrerseits mit einem Stacheldrahtzaun begrenzt war, und in der sich lediglich eine Baracke befand. Hier lebten, so Nadezˇda Kravec, 20 inhaftierte Frauen – 16 Mitglieder der »Kulturbrigade« sowie vier Näherinnen. Die Inneneinrichtung dieser Baracke unterschied sich von dem, was die Geigerin vor ihrer Ankunft in der »Kulturbrigade« im Lager gewohnt war : Statt der durchgehenden zweistöckigen Pritschen gab es einzelne Betten, einen Tisch und sogar Nachtschränkchen. Die männlichen Mitglieder der »Kulturbrigade« lebten aber im Männerlager. Dies bestätigte genau so auch Jurij Fidel’gol’c. Nadezˇda Kravec wurde in der »Kulturbrigade« herzlich aufgenommen und traf dort z. B. die ehemalige Solistin des Bol’sˇoj-Theaters Lidija Baklina, die Sängerin Marina Spendiarova, Tochter des Komponisten und Rimskij-Korsakov-Schülers Aleksandr Spendiarov, und die Pianistin Tat’jana Perepelicyna. Jurij Fidel’gol’c erinnerte sich, dass er die Pianistin Spendiarova nur 1158 Mironova, Kul’turno-vospitatel’naja rabota v lagerjach GULAGa NKVD-MVD SSSR v 1930 – 1950-e gody, 2004, S. 116. 1159 Safosˇkin, Lidija Ruslanova, 2002, S. 141. An Julij Chajt als Häftling erinnert sich auch Iosif Susˇko in: Kucˇerova, Marija: »Zˇestokij romans«, http://sb.by/article.php?articleID=17618, veröffentlicht am 8. Juni 2002 (letzter Zugriff am 15. Juli 2009). 1160 Im ersten Lagerwinter der Geigerin in den Jahren 1949/50 arbeiteten die Häftlinge ihres Lagerpunkts als Holzfällerinnen in der Taiga. Wegen der widrigen Arbeits- und Lebensbedingungen kam die »Laienkunst« zum Stillstand. Eines Abends wurde die Musikerin zum Leiter des Lagerpunkts bestellt, wo der »KVO-Inspekteur« des Ozerlag auf sie wartete. Er suchte nach einer Geigerin für die seit ca. einem Jahr bestehende »KVO-Kulturbrigade«. Da Nadezˇda keine Geige besaß, musste sie zum Test ein beliebiges Geigen-Stück aufschreiben. Nachdem sie dies getan hatte, erlaubte ihr der Inspekteur, einen außerordentlichen Brief nach Hause zu schreiben und um die Zusendung ihrer Geige zu bitten. Als sie diese nach ca. einem Monat in den Händen hielt, kam sie ihr so leicht vor, als wäre sie aus Papier gemacht. Ihre Finger waren durch die Lagerarbeit steif geworden. Im Frühling wurde die Geigerin nach Tajsˇet transportiert, wo sie in der »Kulturbrigade« tätig wurde. Kravec, »Sˇest’ let ›rezˇima‹«, 1988, S. 82.

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1940er- und 1950er-Jahre

einige wenige Male auf dem Klavier in der Essbaracke üben hörte, weil weibliche Häftlinge eine Lagerzone für Männer eigentlich nicht betreten durften. Nadezˇda Kravec schreibt, dass sie bei ihrer Ankunft in der »Kulturbrigade« des Ozerlag Reste vom festlichen Abschiedsessen für Ruslanova bekommen hat. Dies wäre, so lässt sich aus der Lektüre zahlreicher Häftlingserinnerungen folgern, im Lager außerhalb der »Kulturbrigade« undenkbar gewesen, weil dort wegen des ständigen Hungers der Insassen keine Reste übrig geblieben wären. Nadezˇda Kravec berichtet, dass die »Kulturbrigade« ein Orchester aus ca. 20 Musikern umfasste, welches von einem bulgarischen Dirigenten namens Kantutis geleitet wurde. Kantutis hat die gespielten Werke den Möglichkeiten des kleinen Orchesters entsprechend instrumentiert. Darunter ist beispielsweise die Ouvertüre aus Bizets Oper Carmen gewesen. Die »Kulturbrigade« hat Teile aus ˇ ajkovskijs Evgenij Onegin sowie eine etwas gekürzte Fassung der Operette Die C lustige Witwe von Franz Leh‚r aufgeführt, und zwar mit einem neuen Text des inhaftierten Literaten Arsenij Bogoljubov. Nadezˇda Kravecs leichtere Haftbedingungen in der »Kulturbrigade« waren jedoch nur von kurzer Dauer : Zwei Monate nachdem sie dorthin überstellt wurde, ist die Brigade aufgelöst worden, und ihre Mitglieder mussten mit der Allgemeinheit der Häftlinge arbeiten. Nach Angaben der Historikerin Viktorija Mironova hat die »Kulturbrigade« des Ozerlag lediglich ca. ein Jahr Bestand gehabt und musste aufgelöst werden, weil sie sich vollständig aus politischen Häftlingen zusammensetzte.1161 Wie im ersten Teil dieses Kapitels gezeigt, entsprach dies nicht den Anforderungen des KVO GULAG. Bezüglich der Aufführungsräume berichten viele Häftlinge, dass keine eigens für die »Kulturarbeit« vorgesehenen Räume in den Lagern vorhanden waren, sondern dass Konzerte in Essbaracken stattgefunden haben.1162 Dies korrespondiert mit offiziellen Angaben, dass generell nicht genügend Räume für Aufführungen zur Verfügung standen. »Kulturerziehungsarbeit« rief bei potenziellen Teilnehmern gemischte Gefühle hervor. Während sie einerseits ein Mittel darstellte, der schweren Arbeit mit der Allgemeinheit zu entgehen und kleine Privilegien im Hinblick auf die Unterbringung und die Verpflegung zu erhalten,1163 stellten die darin tätigen 1161 Mironova, Kul’turno-vospitatel’naja rabota v lagerjach GULAGa NKVD-MVD SSSR v 1930 – 1950-e gody, 2004, S. 117. 1162 Bsp.: Demidov, »Klassiki literatury i lagernaja samodejatel’nost’«, 2002, S. 157; Telefoninterview der Verfasserin mit dem ehemaligen Häftling Jurij Fidel’gol’c am 12. November 2007 in Moskau; Zavadskaja, Nina: »Ostanovlennoe vremja«, in: Muzykal’naja zˇizn’, 1989, Nr. 7, S. 26. 1163 Es ist jedoch von Lagerpunkt zu Lagerpunkt unterschiedlich gehandhabt worden, wie die in »Kulturbrigaden« tätigen Häftlinge versorgt wurden. Es kam oftmals vor, dass ihre Essensrationen sich nicht von denen der übrigen Häftlinge unterschieden. So berichtet die ehemalige Ballerina des Bol’sˇoj-Theaters Raisa Sˇtejn, dass die Lagerleitung des Usol’lag

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Häftlinge ihre Kunst in den Dienst des Lagersystems. Deswegen vertraten nicht wenige Häftlinge die Meinung von E˙mmanuil Kotljar : Ein unschuldig Verurteilter, der seine Lagerhaft verbüßt, darf in keiner Weise zum Erstarken der Machtstrukturen beitragen. Dies gilt im doppelten Maße für Künstler.1164

Eine Insassin des Ivdel’lag im Uralgebirge verweigerte ihre Mitarbeit am Theater, weil sie nicht vor der Lageradministration auf der Bühne stehen und sie unterhalten wollte.1165 Und der ehemalige Häftling Miron E˙tlis nannte »Kulturerziehungsarbeit« nachträglich eine »besonders bösartige Form der schöpferischen Zwangsarbeit«.1166 Eine kritische und abweisende Einstellung zur »Laienkunst« äußerte auch SemÚn Vilenskij in einem Interview mit der Verfasserin am 18. Dezember 2007 in Moskau. Unter den kriminellen Häftlingen gab es ebenfalls solche, die nicht an der »Laienkunst« teilnehmen wollten: Grigorij Litinskij berichtet, dass die Berufsverbrecher in Vorkuta eine solche Beschäftigung ablehnten, weil sie diese als unter ihrer Würde empfanden.1167 Arbeitsverweigerung gehörte als Prinzip zum Leben dieser Häftlingsgruppe.1168 Nadezˇda Kravec war anfänglich in einem Lagerpunkt des Ozerlag inhaftiert, der ca. 100 km von der Stadt Tajsˇet entfernt lag. Kurz nach ihrer Ankunft fand im Lagerklubhaus ein Konzert der »Häftlingslaienkunst« statt. Sie wurde zum Zuhören gerufen, winkte aber zunächst gereizt ab: »Ist das denn möglich?«1169 Musikausübung unter den Bedingungen des Lagers war für sie zunächst undenkbar gewesen. Dennoch wurde sie überredet. Als sie das überfüllte Klubhaus betrat, empfand sie das Geschehen auf der Bühne als etwas Unglaubliches: Ganz junge Frauen in bestickten ukrainischen Blusen und dunklen Röcken sangen im Chor mit sauberen hellen Stimmen und sehr begeistert:

1164

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mit dem Verwaltungszentrum in Solikamsk die Mitglieder der »Kulturbrigade« zwar nicht schwer arbeiten ließ, denn die Unterhaltung durch Konzerte im tristen Alltag ist ihr wichtig gewesen, gegessen haben die Künstler aber mit der Allgemeinheit der Häftlinge, wobei die Verpflegung schlecht und die Portionen zu klein waren. E˙psˇtejn, Evgenij: »Iskusstvo za koljucˇej provolokoj«, in: Muzykal’naja zˇizn’, 1990, S. 9. 2VXSY^^_ _bdWUV^^lZ, _cRlSQojYZ \QTVa^lZ ba_[ XQ[\ohV^Yp, ^V U_\WV^ ^Y S hV] b`_b_RbcS_SQcm d[aV`\V^Yo S\QbcY. 9 SUS_Z^V nc_ _c^_bYcbp [ \oUp] Yb[dbbcSQ. Kotljar, E˙mmanuil: »›Faust‹ v ITL«, in: Korallov, Marlen (Hg.): Teatr GULAGa. Vospominanija, ocˇerki, 1995, S. 50. Grin, »Zabveniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 15, S. 25. E˙tlis, Miron: Smysly i formy lagernoj muzyki, Manuskript (im Archiv der Verfasserin), 2006, S. 17. Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 80. Putz, »Die Herren des Lagers«, 2007, S. 348. Kravec, »Sˇest’ let ›rezˇima‹«, 1988, S. 82.

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1940er- und 1950er-Jahre

Wie der Himmel bist du hoch, Wie das Meer bist du weit, Unermesslicher Weg Der Jugend!!!

Es handelte sich dabei um das Lied MolodÚzˇnaja (Lied der Jugend) von Isaak Dunaevskij aus Stalins Lieblingsfilm Volga-Volga von 1938.1170 Die durch dieses Lied transportierte Fröhlichkeit und sein Enthusiasmus können leicht als übertrieben erscheinen. Als Nadezˇda Kravec dieses Lied hörte, erlitt sie einen Schock und hatte »das deutliche Gefühl, verrückt geworden zu sein«.1171 Doch später nahm sie selbst an der »Laienkunst« teil, weil sie festgestellt hatte, dass diese sowohl den ausführenden als auch den zuhörenden Häftlingen guttat. Konzerte weckten bei Häftlingen Erinnerungen an die Zeit vor der Haft, welche ihnen »teuer« waren. Davon berichtet z. B. Ida Nappel’baum in einem Brief an ihre Verwandten vom 12. September 1953 aus dem Ozerlag. Sie hatte einen Film mit dem Titel Koncert leningradskich masterov (Konzert der Leningrader Meister) gesehen und dabei geweint.1172 Die Ballerina Ida Penzo, welche in der Nähe von Pot’ma inhaftiert war, erinnerte sich später daran, dass die Häftlinge während der Konzerte der »Laienkunst« still und dankbar zuhörten. Klassische Musik in der Bearbeitung für Bajan sei gut aufgenommen worden, insbesondere aber Operettenarien und ein getanzter argentinischer Tango.1173 Matvej Grin berichtet, dass Konzerte den Häftlingen den »Geruch der Freiheit« brachten, Erinnerungen an die Familie, an ihre Arbeit und Freunde. Diese auszulösen, sei nur das Lagertheater in der Lage gewesen.1174 Zuhörenden Häftlingen boten Konzerte der »Kulturbrigaden« die Möglichkeit, sich eine Zeit lang als Menschen zu fühlen. SemÚn Vilenskij erzählte, dass die »Laienkunst« für Häftlinge ein Ventil bedeuten1175 und ihnen Wärme und ein Gefühl des Lebens vermitteln konnte, welches jedoch durch ideologische Pro1170 B\_S^_ ^VR_, Slb_[Q cl, B\_S^_ ]_aV, iYa_[Q cl, þV_Rkpc^Qp U_a_TQ =_\_UVW^Qp !!!

1171 1172 1173 1174 1175

Montefiore, Simon Sebag: Stalin. Dvor krasnogo monarcha, 2005, S. 177. Ein Hörbeispiel ist auf http://www.sovmusic.ru/download.php?fname=molodezh (letzter Zugriff am 22. Januar 2012) verfügbar. Kravec, »Sˇest’ let ›rezˇima‹«, 1988, S. 82. Mironova, Kul’turno-vospitatel’naja rabota v lagerjach GULAGa NKVD-MVD SSSR v 1930 – 1950-e gody, 2004, S. 101. Bernsˇtejn, A.: »Muzy i ternii«, in: Muzykal’naja zˇizn’, 1990, S. 27. Grin, »Zabveniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 14, S. 26. Interview mit SemÚn Vilenskij am 18. Dezember 2007 in Moskau.

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grammpunkte bezahlt werden musste.1176 Auch der Geiger Georgij Fel’dgun berichtet, dass Kunst und vor allem Musik den Häftlingen halfen, die Dunkelheit und die Verzweiflung des Lagerdaseins zu überwinden; sie vermochten, einen Funken Hoffnung zu spenden.1177 Für die Lagerleitung stellten Konzerte einen unterhaltsamen Zeitvertreib und »Kulturbrigaden« Prestige-Objekte dar, sodass sie an der Schaffung solcher Brigaden interessiert war. Dies schließt jedoch nicht aus, dass es auch Lagerleiter gab, die der »Laienkunst« nichts abgewinnen konnten und diese zu verhindern suchten.1178 Nicht nur offizielle Dokumente, sondern auch ehemalige Häftlinge überliefern, dass »Laienkunst« zur Belohnung guter Arbeiter eingesetzt wurde. Vladimir Sosnovskij bezeugt in den Erinnerungen an seine Lagerhaft in den Jahren 1942 bis 1953 im Fernen Osten, jedoch nicht auf der Kolyma, dass eine Brigade, die sehr gut arbeitete, damit belohnt wurde, dass der Lagerleiter eine »Agitationsbrigade« kommen ließ, die in der Baracke der vorbildlichen Brigade auftrat.1179 Konzerte konnten auch Lagermitarbeitern als Ventil im Lageralltag dienen, wie die ehemalige Lagerinsassin Ida Nappel’baum beschreibt, wenn sie die Reaktion der Lagerbediensteten auf die Konzerte der »Laienkunst« darstellt: Wie veränderten sich doch die Lagerleitung, die Wache, die Begleitposten und die Aufseher! Sie wurden Menschen ähnlich. Ich erinnere mich, wie eine kleine Aufseherin, ein Aas, böse wie ein junger Wolf, […], an der Schulter ihres Mannes, ebenfalls eines Aufsehers, heulte. Und auch Männer holten Taschentücher hervor und konnten auf den Bänken nicht still sitzen.1180

Zusammenfassend lässt sich über »Kulturbrigaden« feststellen, dass sie sich sowohl auf die Beteiligten als auch auf die verschiedenen Rezipienten positiv auswirken konnten und sich wahrscheinlich gerade deswegen im Gulag etablieren konnten. 1176 Interview mit SemÚn Vilenskij am 4. Februar 2008 in Moskau. 1177 Fel’dgun, Georgij: »Zapiski lagernogo muzykanta«, in: Vozvrasˇcˇenie pamjati. Istoricˇeskoarchivnyj al’manach, Bd. 3, 1997, S. 333. 1178 Demidov, »Klassiki literatury i lagernaja samodejatel’nost’«, 2002, S. 166 – 170. Georgij Fel’dgun spricht sogar davon, dass es einigen Lagerleitern Freude bereitete, Künstler bei schweren körperlichen Arbeiten eingesetzt zu sehen. Fel’dgun, »Zapiski lagernogo muzykanta«, 1997, S. 336. 1179 Sosnovskij, »Indija«, 2000, S. 18. 1180 þ_ [Q[ `VaVS_`\_jQ\_bm \QTVa^_V ^QhQ\mbcS_, _faQ^Q, [_^S_Yal, ^QUXYaQcV\Y ! ?^Y bcQ^_SY\Ybm `_f_WY]Y ^Q \oUVZ. @_]^o , hc_ _U^Q ]Q\V^m[Qp bcVaSQ-^QUXYaQcV\m^YgQ, X\Qp, [Q[ S_\h_^_[, […], alUQ\Q, b[\_^ppbm [ `\Vhd bS_VT_ ]dWQ, c_WV ^QUXYaQcV\p. 9 ]dWY[Y SlcQb[YSQ\Y `\Qc[Y Y VaXQ\Y ^Q b[Q]VZ[Qf. Nappel’baum, Ida: »Solnecˇnye zajcˇiki na tjuremnoj stene«, in: Nappel’baum, Ida/Perc, V.: Ugol otrazˇenija. Kratkie vstrecˇi dolgoj zˇizni, 1995, S. 137.

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1940er- und 1950er-Jahre

Die an der »Laienkunst« beteiligten Künstler konnten zum Teil subversiv gegen das System vorgehen, indem sie Stücke aufs Programm setzten, welche nicht der Ideologie dienten, sondern die Identität der Häftlinge zu stärken vermochten, z. B. Volkslieder. Einige von ihnen empfanden ihre Arbeit als Mission.1181 Matvej Grin berichtet beispielsweise, dass in einem Lagerpunkt des Ivdel’lag, in welchem nur Frauen inhaftiert waren, eine Insassin in Konzerten der »Laienkunst« zu Beginn der 1950er-Jahre Gedichte Anna Achmatovas, Marina Cvetaevas, Igor’ Severjanins und Sergej Esenins vorgetragen hat, ohne die Namen der Dichter anzukündigen, denn in Freiheit waren sie entweder verboten oder vergessen. Obwohl die Vorschriften des KVO GULAG es verlangten, hat Matvej Grin selbst in seiner Konzertmoderation so gut wie nie Themen aus dem Lageralltag behandelt.1182 Die Bedeutung der »Kulturbrigaden« für das Überleben der daran Beteiligten und als Refugium für einen Teil der inhaftierten professionellen Musiker kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. In vielen Lagern genossen sie Vorteile wie z. B. die Befreiung von anderer Arbeit oder leichtere Arbeiten, zivile Kleidung, keine Kahlrasur, bessere Unterbringung und Verpflegung sowie eine gewisse Bewegungsfreiheit.1183 Es lag jedoch jederzeit in den Händen der willkürlichen Lageradministration, einen Häftling aus der »Kulturbrigade« zur Arbeit mit der Allgemeinheit zu versetzen.1184 Das Repertoire der »Kulturbrigaden« war bunt und hatte einen eher zufälligen Charakter, je nach dem, welche Stücke die Häftlinge der betreffenden Brigade beherrschten. Es umfasste Volkslieder, Operettenarien, sowjetische Lieder, Stepptanz, Gedichte, Jazz, klassische Musik und vieles mehr. Matvej Grin, der zu Beginn der 1950er-Jahre im Ural inhaftiert war, bezeugt, dass die Eingangsszene in Vasilij Sˇuksˇins Film Kalina krasnaja (Der rote Schneeballstrauch) von 1973 die Atmosphäre eines Konzerts der »Laienkunst« im Lager genau wiedergibt. Solche Konzerte enthielten stets Gedichte Esenins, sentimentale Blatnye-Lieder, das Lied Vaninskij port (vgl. Kapitel C), einen Boston sowie eine Akrobaten-Vorführung.1185 Für die an der »Laienkunst« beteiligten Häftlinge bedeutete ihre Tätigkeit aber nicht nur Positives: Die Welt der Kunst schuf eine Illusion, sie mussten sich 1181 Grin, »Zabveniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 14, S. 26. 1182 Grin, »Zabveniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 15, S. 24 f. 1183 Beispielsweise berichtet Asir Sandler, der in der »Kulturbrigade« des Dorfs Jagodnoe auf der Kolyma gearbeitet hat, dass Mitglieder dieser Brigade sich ohne Wachen bewegen durften. Sandler/E˙tlis, Sovremenniki GULAGa, 1991, S. 304. 1184 Dies konnte auch als Reaktion auf aktuelle politische Ereignisse geschehen. Matvej Grin erinnert sich, dass während des »Ärzteprozesses« im Jahr 1952 alle 26 Künstler jüdischer Abstammung aus dem Lagertheater des Ivdel’lag zum Holzfällen abkommandiert wurden. Grin, »Zabveniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 13, S. 30. 1185 Grin, »Zabveniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 15, S. 25.

Grundlagen: Verordnete Musikausübung

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zwischen dieser »heilen Welt« und der des Lagers bewegen. Auf der Bühne durften und sollten sie Persönlichkeiten darstellen, im Leben mussten sie sich aber unter die Häftlingsmasse mischen. Dies hat, den Beobachtungen des ehemaligen Häftlings SemÚn Vilenskij zufolge, die künstlerisch veranlagten, sensiblen Menschen überfordert. Vilenskij führt die Selbstmorde unter Künstlern im Gulag auf diesen inneren Konflikt zurück.1186

Musik im Radio Wie bereits mehrfach erwähnt, bildeten Radiosendungen einen Bestandteil der »Kulturerziehungsarbeit« im Gulag. In Häftlingserinnerungen nehmen Berichte darüber zwar einen geringen Raum ein, jedoch scheinen sie wichtig zu sein, um die Betrachtung des offiziell organisierten Musiklebens in den Lagern zu vervollständigen. Die Radios im Gulag übertrugen sowohl lagerinterne als auch landesweite Sendungen. Sergej Protopopov z. B. schrieb in einem Brief vom 14. Dezember 1935 aus dem Dmitlag an seine Mutter, dass er dort Konzertübertragungen aus dem Moskauer Konservatorium im Radio hören konnte.1187 Die Mezzo-Sopranistin Regina Gurevicˇ berichtete vom Lagerpunkt Jaja des Siblag, dass dort Ende der 1930er-, Anfang der 1940er-Jahre das Hören von Radiosendungen den kriminellen Häftlingen als Privileg vorbehalten war.1188 Dies scheint eine Ausnahme gewesen zu sein, denn aus anderen Lagern wird keine solche Trennung der Häftlinge beim Radiohören überliefert. Vielmehr waren Radiogeräte meist so angebracht, dass die Häftlinge ihnen nicht entfliehen konnten. Beispielsweise wurde bereits im Kapitel über das Belbaltlag erwähnt, dass dort in allen Baracken, aber auch draußen sowie auf Lkw Radiosender installiert waren, welche Tag und Nacht lagerinterne Nachrichten sendeten und die Umerziehung propagierten. Doch der Versuch einer gewaltsamen Beschallung der Häftlinge mit Radiosendungen konnte an der Wahrnehmung der Häftlinge scheitern. Wie aus dem Zitat über die Melodie des Stacheldrahts von Sergej Alymov hervorgeht, welches im Kapitel C im Abschnitt »Sensibilisiertes Gehör auf dem Transport und im Lageralltag« zitiert wird, überdeckte diese Melodie in seinen Ohren das Radio. Die Tatsache, dass er sich in Unfreiheit befand, stand derart im Vordergrund, dass die Radioübertragung sich in seinem zeitgenössischen Bericht als ein Fremdkörper im Lageralltag darstellt. Einem im gleichen Notizbuch am 15. August 1930 festgehaltenen Eintrag Alymovs lässt sich jedoch entnehmen, 1186 Interviews mit SemÚn Vilenskij am 18. und 21. Dezember 2007 in Moskau. 1187 GCMMK: F. 329, Nr. 672, l. 27ob. 1188 Glusˇnev, Stanislav : »S nebes v preispodnjuju«, in: Muzykal’naja zˇizn’, 1989, S. 28.

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1940er- und 1950er-Jahre

dass Musik aus dem Radio auch Überhand über die Melodie des Stacheldrahts gewinnen konnte (vgl. Zitat in Kapitel A.2.2) und die Häftlinge durch hervorgerufene Erinnerungen an ihr Leben vor der Haft quälen konnte. Anfang der 1950er-Jahre, so erzählt Aleksandr Vardi in seinem Roman Podkonvojnyj mir (Bewachte Welt) von 1971, hing an einem Pfahl mitten in der Baracke eines Lagerpunkts ein Radio, welches das übliche staatliche Programm übertrug, das alle satt hatten, weil es stereotyp die Erfolge des Landes und die Regierung verherrlichte sowie unentwegt Feindbilder aufbaute. Es gab Streit wegen des Radios, so Vardi, weil die 96 in dieser Baracke zusammengepferchten Häftlinge in drei Schichten arbeiten mussten und jederzeit solche in der Baracke anwesend waren, die schlafen wollten. Um zu Schlaf zu kommen, wurde manchmal sogar getötet. Nach Vardis Schilderung gewannen meist diejenigen Häftlinge die Oberhand, die das Radio zum Schweigen bringen wollten.1189 Eine Ausnahme, an die sich auch andere ehemalige Häftlingen so erinnern, bildete Stalins Todestag, an dem die Häftlinge das Radio hören wollten, um aus erster Hand vom Tod des Regierungsoberhaupts zu erfahren. Vardi erinnert sich an die an diesem Tag erklungene Musik als zähflüssig, unangenehm und unpassend zu seiner Stimmung.1190 Dies lässt sich gut nachvollziehen, denn für ihn bedeutete Stalins Tod eine positive Nachricht, zu der die an diesem Tag gespielte Trauermusik nicht passte. Auch Evgenija Ginzburg berichtet über die Radioübertragung an Stalins Todestag; sie erinnert sich, dass Bach gespielt wurde.1191 Zinaida LichacˇÚva erzählt, dass an diesem Tag aus einem Lautsprecher, welcher an einem Pfosten befestigt war, ein zäher Totenmarsch zu hören war. Dabei handelte es sich um eine Übertragung vom Roten Platz in Moskau, welche die Häftlinge zum Weinen zwang.1192 Für manche Häftlinge scheinen Übertragungen »guter Musik« von lebenswichtiger Bedeutung gewesen zu sein, wie aus einem Zeugnis von Nikolaj Sˇestopal hervorgeht. Er war Anfang der 1950er-Jahre im Lagerpunkt Mjaundzˇa auf der Kolyma inhaftiert und erinnerte sich später, dass es dort nur selten Radioübertragungen gegeben hat. Wenn aber gute Musik gesendet wurde, haben die Häftlinge in schrecklicher Kälte ausgeharrt und Ojstrach oder Sˇaljapin zugehört. Als konkretes Stück, welches im Radio übertragen wurde, erinnerte er die Elegie von Jules Massenet.1193 Das Verlangen nach Musik, die den Häftlingen gefiel, konnte demnach für einen Teil von ihnen wichtiger sein als ihre Physis, 1189 Vardi, Aleksandr : Podkonvojnyj mir, 1971, S. 96 f. 1190 Vardi, Podkonvojnyj mir, 1971, S. 97 f. 1191 Ginsburg, Jewgenia: Gratwanderung, aus dem Russischen von Nena Schawina, 1980, S. 416. 1192 LichacˇÚva, Zinaida: »Detal’ monumenta«, in: Na Severe dal’nem. Literaturno-chudozˇestvennyj al’manach, 1988, S. 125. 1193 Sandler/E˙tlis, Sovremenniki GULAGa, 1991, S. 435.

Grundlagen: Verordnete Musikausübung

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woraus gefolgert werden kann, dass Musik für einige Häftlinge ein lebenswichtiges Bedürfnis darstellte. Weitere positive Erfahrungen mit dem Radio im Gulag – genauer gesagt während der Untersuchungshaft – machten Nadezˇda Kravec und Evfrosinija Kersnovskaja (vgl. Kapitel C, Abschnitt »Musikhören im Gefängnis«). Miron E˙tlis, der in den Jahren 1953/54 in E˙kibastuz in Kasachstan inhaftiert war, berichtete, dass eine Woche vor Neujahr des Jahres 1954 Radiogeräte in den Baracken aufgehängt wurden. Sie dienten lediglich der Übertragung von Erlassen, an Sonntagen aber wurde auch Musik gesendet. Diese Geräte haben den Häftlingen das Neujahr vergiftet, denn sie übertrugen keine menschlichen Stimmen, sondern nur Blasmusik, und das den ganzen Tag. Die Aufseher haben am Morgen in jeder Baracke angesagt, dass die Geräte nicht abgeschaltet werden durften. Die Häftlinge haben die Übertragung der Blasmusik als eine Gewalttat empfunden. E˙tlis zitiert im Anschluss an diesen Bericht ein Gedicht des auf der Kolyma inhaftiert gewesenen Schriftstellers Valentin Portugalov mit dem Titel Radio: Wir leben in einer ungeheizten Baracke, Sind stets hungrig, wie Hunde, Heulen wie Hunde mit dem Wind, Fördern Gold für unser Land. Ein Radio wurde in der Baracke angebracht, Damit wir uns »kultiviert erholen«, Damit wir uns nicht zu sehr grämen, Damit wir unser Zuhause vergessen. Ein Radio wurde in der Baracke angebracht, Ein kleiner schwarzer Kasten. Dort, in der Wache, wird ein Knopf gedrückt: Das Radio singt wie ein Kanarienvogel, Quälende Sehnsucht nagt an unseren Herzen… Durch jenen klassischen Gesang Wirkt sogar der dneval’nyj1194 wie ein Schatten. Unter der löchrigen Decke liegend (Hier ist schließlich keine Opernloge), Sich an den verlausten Rücken kratzend, Fluchen unsere Lohengrine…1195 1194 Dneval’nyj – der für die Ordnung in der Baracke zuständige Häftling. 1195 =l WYSV] S ^Vc_`\V^_] RQaQ[V, 4_\_U^l SbVTUQ ]l, [Q[ b_RQ[Y, @_-b_RQhmY SVcad `_USlSQV], 8_\_c_ bcaQ^V ]l U_RlSQV].

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1940er- und 1950er-Jahre

Wie in der Zusammenfassung der offiziellen Vorgaben für die »Kulturerziehungsarbeit« im ersten Teil dieses Kapitels gezeigt, sollten Radiosendungen im Gulag, ebenso wie andere Bestandteile dieser Arbeit, zur Disziplinierung der Häftlinge und zur Steigerung ihrer Arbeitsproduktivität beitragen. Aus den vorliegenden Berichten der Häftlinge über Radiosendungen kann jedoch gefolgert werden, dass dieses Konzept nicht aufgegangen war : Niemand von ihnen berichtet von einer Rezeption der Sendungen im Sinne der Lagerhauptverwaltung. Musiksendungen im Radio wurden von ihnen sehr unterschiedlich aufgenommen: Während sie für einen größeren Teil, so scheint es gemäß den vorliegenden Quellen zu sein, einen störenden Kontrast zum Lageralltag bildeten und schmerzhafte Erinnerungen auslösten oder das Ausgeschlossensein aus der zivilen Gesellschaft schmerzlich vor Augen führten, waren sie für einige andere Häftlinge Kraft spendend, sogar in kritischen Situationen.

AQUY_ `_bcQSY\Y S RQaQ[V, Hc_Rl ]l »[d\mcda^_ _cUlfQ\Y«, Hc_Rl ]l ^V b\Yi[_] T_aVSQ\Y, Hc_Rl ]l _ U_]V XQRlSQ\Y. AQUY_ `_bcQSY\Y S RQaQ[V – =Q\V^m[do hVa^do [_a_R[d. CQ], ^Q SQfcV, ^QWY]Qoc [^_`[d : AQUY_ `_Vc, [Q[ [Q^QaVZ[Q,– 4\_WVc ^Q] bVaUgQ c_b[Q-X\_UVZ[Q… ?c c_T_ [\QbbYhVb[_T_ `V^mp BQ] U^VSQ\m^lZ f_UYc bVa_Z cV^mo. @_U UlapSl] _UVp\_] \VWQ (Nc_ SQ] ^V _`Va^Qp \_WQ), 3iYSlV `_hVblSQp b`Y^l, =QcVapcbp ^QiY \_n^TaY^l…

Sandler/E˙tlis, Sovremenniki GULAGa, 1991, S. 433 – 435.

Fallbeispiel: Die Kolyma und das Sevvostlag

B.2

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Fallbeispiel: Am »Pol der Grausamkeit« des Gulag. Die Kolyma und das Sevvostlag 1932 – 1957 Kolyma is a river, a mountain range, a region, and a metaphor.1196

Uns erreichte der Wind aus dem Süden, Aus dem Land der zärtlichen Wunder, Wo es keinen Schneesturm gibt, sondern nur Gestöber, Wo es keine Taiga gibt, sondern nur Wald; Und der zehnjährige Winter Wich zurück, ging vorüber, Der, den wir mit dem beißenden Wort Kolyma nannten.1197 Elena Tager, ehemalige Insassin des Gulag

Verordnete Musik: »Laienkunst« im Sevvostlag Am 2. Mai 1938 wurden, so ist bei Solzˇenicyn zu lesen, die neu angekommenen Häftlinge auf der Kolyma mit Orchestermusik begrüßt. Solzˇenicyn nennt die damals spielende Kapelle das »dal’nestroevskij-Orchester«.1198 Es habe Märsche und Walzer gespielt, während die Angekommenen über die noch zugefrorene Nagaevo-Bucht nach der kräfte- und gesundheitsraubenden Überfahrt zum Ufer gehen mussten.1199 Wie kam es an diesem unwirtlichen Ort, an dem bis 1929 1196 Stephan, John J.: The Russian Far East. A History, 1994, S. 225. 1197 5_ ^Qb U_]hQ\bp SVcVa b oTQ, 9X [aQp \Qb[_Slf hdUVb, 4UV ^V `daTQ, Q `a_bc_ SmoTQ, 4UV ^V cQZTQ, Q `a_bc_ \Vb; 9 _cbcd`Y\Qbm, ]Y^_SQ\Qbm 5VbpcY\Vc^pp XY]Q, CQ, hc_ d ^Qb Y]V^_SQ\Qbm ;_\ohY] b\_S_] ;_\l]Q. Vilenskij, Dodnes’ tjagoteet, Bd. 2: Kolyma, 2004, S. 515. 1198 Abgeleitet von Dal’stroj (s. u.). 1199 Solzˇenicyn, Archipelag GULag, Teile I – II, 1973, S. 575.

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1940er- und 1950er-Jahre

noch keine Siedlung existierte, binnen weniger Jahre zu einem Kulturleben? Dies soll im folgenden Kapitel geschildert werden. Eine kurze Geschichte der Stadt Magadan und des Sevvostlag bis 1957 Magadan, Magadan, Magadan! Altes Symbol für Leid und Unwetter.1200 Anatolij Zˇigulin, ehemaliger Gulag-Häftling

Auf Magadan trifft im gleichen Maße die Aussage des Zeitzeugen Aleksandr Kavinin über die Stadt Angarsk zu, welche 1990 zusammen mit anderen Leserbriefen über den Gulag in der Zeitschrift Rodina (Heimat) veröffentlicht wurde: Jeder kennt heute die Stadt Angarsk. Es heißt, dass Komsomolzen sie erbaut haben. Aber was waren das für Komsomolzen! Man nannte sie damals »eingefleischte Komsomolzen« [das Wort für »eingefleischt« beginnt im Russischen mit einem »z«, sodass beide Worte mit »z« und »k« abgekürzt werden können, entsprechend z/k, der Abkürzung für Häftlinge] oder einfach zeki.1201

Diese Aussage widersprach der offiziellen Darstellung, wie sie bezüglich der Erschließung des Kolyma-Gebiets beispielsweise in der landesweiten Zeitung Izvestija (Nachrichten) im Jahr 1936 verkündet wurde: Es wurden keine Häftlinge erwähnt, sondern die Rede war von Pionieren, auch das nichtssagende »wir« wurde verwendet. »Gewöhnliche Sowjetmenschen« [obyknovennye sovetskie ljudi], »gewöhnliche Bolschewiken«, die für den Sieg des Sozialismus kämpfen wollten und auch konnten, hätten diese Gegend urbar gemacht. Die Begeisterung der Arbeiter für die Sache wurde angepriesen, und es wurde durch die Erwähnung der guten Aufstiegschancen um weitere Arbeiter geworben. Herausgestellt wurde die große Beachtung, welche die Partei, die Regierung und Stalin persönlich der Kolyma schenkten.1202 Nach dem Zerfall der Sowjetunion ist bereits von zahlreichen Wissenschaftlern Kavinins Einwand Recht gegeben und der Tatbestand registriert worden, dass die Urbarmachung der Kolyma überwiegend durch den Einsatz von Gulag1200 =QTQUQ^, =QTQUQ^, =QTQUQ^ !

5QS^YZ bY]S_\ RVUl Y ^V^Qbcmp. Na Severe dal’nem, 1988, Nr. 1, S. 202. 1201 3bV] bVT_U^p YXSVbcV^ T_a_U 1^TQab[. BhYcQVcbp, hc_ VT_ bca_Y\Y [_]b_]_\mgl. þ_ [Q[YV nc_ Rl\Y [_]b_]_\mgl ! 9f c_TUQ ^QXlSQ\Y »XQ[_aV^V\l]Y [_]b_]_\mgQ]Y« Y\Y `a_bc_ XV[Q]Y. »Obratnyj adres – GULAG«, in: Rodina, Nr. 4, 1990, S. 48. 1202 Berzin, E˙duard: »Kolyma«, in: Izvestija, 14. Januar 1936, S. 6; ders.: »Kolyma segodnja«, in: Izvestija, 16. Januar 1936, S. 6.

Fallbeispiel: Die Kolyma und das Sevvostlag

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Häftlingen realisiert wurde.1203 Unter Zeitzeugen in Magadan aber sorgte die Frage danach, ob Komsomolzen oder Häftlinge die Stadt erbaut hätten, bis in die jüngste Vergangenheit für heftige verbale Auseinandersetzungen.1204 Die Siedlung Magadan ist 1929 gegründet worden und hieß zunächst Nagaevo, so wie die Bucht, in der sie lag. Ihre Gründung geschah infolge von Entdeckungen der in den Jahren 1926 – 1929 durchgeführten geologischen Expeditionen, welche auf große Goldvorkommen gestoßen waren. Diese Vorkommen wurden dringend gebraucht, um die Industrialisierung der sowjetischen Wirtschaft voranzubringen. Von dieser neu gegründeten Siedlung an der Küste des Ochotskischen Meeres aus sollte die Kolyma erschlossen werden.1205 Anfang 1931 betrug die Einwohnerzahl in Magadan lediglich ca. 500 Personen.1206 Dies sollte nicht lange so bleiben, denn am 13. November 1931 wurde durch einen Erlass des Rats für Arbeit und Verteidigung [Sovet truda i oborony] der UdSSR der staatliche Trust Dal’stroj ins Leben gerufen, welcher seinen Verwaltungssitz in Magadan nahm.1207 Seine Aufgabe war die Förderung der auf der Kolyma vorhandenen Bodenschätze und die Urbarmachung der Region. Zuvor waren lediglich kleine Einheiten der Aktiengesellschaft Sojuzzoloto (Goldunion) im Goldabbau auf der Kolyma tätig gewesen. Der Trust hatte einen Landstrich von zunächst ca. 500.000 km2 zu verwalten.1208 Die Größe dieser Fläche wurde jedoch wiederholt erweitert,1209 bis sie 1951 auf 3 Mio. km2 angewachsen war und damit fast 1/7 der Gesamtfläche der UdSSR ausmachte.1210 Die 1203 Bsp.: Sˇirokov, Anatolij: Istorija formirovanija i dejatel’nosti »Dal’stroja« v 1931 – 41 gg. (= Dissertation), Manuskript in der Russischen Staatsbibliothek Moskau, 1997, S. 179; Mel’nikov, Sergej: Dal’stroj kak repressivno-proizvodstvennaja struktura NKVD-MVD SSSR (1932 – 1953 gg.) (= Dissertation), Manuskript in der Russischen Staatsbibliothek Moskau, 2002, S. 168; Sˇulubina, Svetlana: Sistema Sevvostlaga. 1932 – 1957 gg. (= Dissertation), Manuskript in der Russischen Staatsbibliothek Moskau, 2002, S. 197. 1204 Beobachtung der Autorin im Sommer 2006 bei einem Ausflug, an dem sowohl ehemalige Zivilisten als auch ehemalige Häftlinge teilgenommen haben. 1205 Sˇirokov, Istorija formirovanija i dejatel’nosti »Dal’stroja« v 1931 – 41 gg., 1997, S. 177 f. 1206 Kozlov, Aleksandr : Magadan. Konspekt prosˇlogo, 1989, S. 14. 1207 Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 419 f. Diesem Erlass ging ein Erlass des Politbüros vom 11. November 1931 voraus, welcher von Stalin persönlich unterzeichnet wurde. Darin wurde der Trust Dal’stroj unmittelbar dem Zentralkommitee unterstellt, und zwar war Genrich Jagoda persönlich dafür verantwortlich. Nikolaev, K.: »Mesto Dal’stroja v stanovlenii repressivnoj sistemy totalitarizma: 1931 – 1940 gg.«, in: Birjukova, Ljudmila (Hg.): Kolyma. Dal’stroj. GULAG: Skorb’ i sud’by, 1998, S. 5 f. 1208 Nikolaev, »Mesto Dal’stroja v stanovlenii repressivnoj sistemy totalitarizma«, 1998, S. 9. 1209 1941 wurde dem Dal’stroj eine Fläche von 2.266.000 km2 übertragen, was 10 Prozent der Gesamtfläche der Sowjetunion entsprach. Sˇirokov, Istorija formirovanija i dejatel’nosti »Dal’stroja« v 1931 – 41 gg., 1997, S. 65. 1210 Nikolaev, K.: »K voprosu izucˇenija Dal’stroja«, in: Lesnjakov, Vasilij (Hg.): Istoricˇeskie aspekty Severo-Vostoka Rossii, 1996, S. 44. Zum Vergleich: Deutschland erstreckt sich über eine Fläche von 357.000 km2, Spanien über 505.000 km2.

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1940er- und 1950er-Jahre

ˇ ukotka, Verwaltungsfläche umfasste das heutige Gebiet Magadan, die Halbinsel C ˇ einen Teil Jakutiens, des Gebiets Chabarovsk und des Gebiets Kamcatka.1211 Welch eine große Wichtigkeit dem Dal’stroj beigemessen wurde, kommt vor allem in den Punkten 9 und 10 seines Gründungserlasses zum Ausdruck: Dadurch wurde seine Belieferung »unabhängig von jeglichen Warteschlangen« und die Behandlung seiner Belange in allen Institutionen an erster Stelle angeordnet.1212 Der Trust war von der Steuerpflicht befreit und unabhängig von allen staatlichen Organisationen; er unterstand direkt dem Rat für Arbeit und Verteidigung.1213 Um die finanziellen Ausgaben für die Arbeit des Dal’stroj so niedrig wie möglich zu halten, wurde von vornherein mit Häftlingsarbeit kalkuliert, die sich davor bereits bei Großprojekten wie den behandelten Kanalbauten bewährt hatte. Kurz nach der Gründung des Dal’stroj, am 1. April 1932, wurde auf Befehl Genrich Jagodas das Lager USVITL [Upravlenie Severo-Vostocˇnych ispravitel’notrudovych lagerej – Verwaltung der Nordöstlichen Besserungsarbeitslager] oder Sevvostlag [Severo-Vostocˇnyj ispravitel’no-trudovoj lager’ – Nordöstliches Besserungsarbeitslager] eingerichtet,1214 welches den Trust gegen Entgelt mit Arbeitskräften zu versorgen hatte. Diese wurden ab Sommer 1932 nach Magadan verschifft und stellten die Hauptarbeitskraft des Dal’stroj dar, beispielsweise waren 1937 lediglich 15 Prozent der Arbeitskräfte Zivilisten, während die anderen 85 Prozent der insgesamt 77.000 Arbeitskräfte von Häftlingen gebildet wurden.1215 Insgesamt kann für die 1930er-Jahre festgestellt werden, dass Häft-

1211 1212 1213 1214 1215

Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga, 2002, S. 200. Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 420. Sˇirokov, Istorija formirovanija i dejatel’nosti »Dal’stroja« v 1931 – 41 gg., 1997, S. 62, 178 f. Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 422 f. Einen Eindruck von der Arbeit des Dal’stroj vermittelt ein Fotoalbum aus dem Jahr 1938, welches für die Lagerhauptverwaltung in Moskau erstellt wurde und sowohl Aufnahmen vom Schiff Dzˇurma, mit welchem Häftlinge auf die Kolyma transportiert wurden, vom Bau der Kolymsker Trasse, von den Autos, die auf der Kolyma eingesetzt wurden, als auch solche von den Minen und den verwendeten Geräten enthält. Es zeigt Aufnahmen von Schubkarren, welche in Häftlingserinnerungen unzählige Male beschrieben werden, sowie von Brettern, auf welchen sie geschoben werden mussten. Es sind auch Fotografien von Goldwaschanlagen vorhanden, an denen offenbar Häftlinge unter Bewachung beschäftigt werden. GARF: F. R-9401s, op. 3, d. 38. Ein weiteres Album enthält Fotografien aus den Jahren 1942/43. Es zeigt zunächst eine Karte mit dem Gebiet, in dem Dal’stroj tätig war. Es folgen Aufnahmen von den Minen des Dal’stroj, von Goldwaschanlagen und anderer Technik. Der Betrachter kann sich davon überzeugen, wie groß der Aufwand war, welcher vom Dal’stroj getrieben wurde: Riesige Flächen wurden aufgerissen, um Gold zu fördern, immens große Holzkonstruktionen wurden dafür gebaut. Es folgen Fotografien zu den Themen Straßen und Transportmittel, wobei hier Schneemassen von bis zu 5 m Höhe zu sehen sind, Betriebe, Landwirtschaft, Fischfang, Handel und Lebensmittel, die Stadt Magadan, Pionierlager und Erholungshäuser. GARF: F. R-9401scˇ, op. 3, d. 42.

Fallbeispiel: Die Kolyma und das Sevvostlag

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linge stets über 80 Prozent der Arbeitskräfte ausgemacht haben, während ihre Zahl in den 1940er-Jahren bei ca. 60 Prozent lag.1216 Anfänglich wurde das Sevvostlag weder dem GULAG noch dem GUMZ, sondern in administrativer und wirtschaftlicher Hinsicht direkt dem Leiter des Dal’stroj unterstellt.1217 Dieser Umstand machte das Sevvostlag zu einer Ausnahme im System der sowjetischen Zwangsarbeitslager, denn alle anderen Lager wurden vom NKVD, in dessen Struktur das GULAG und das GUMZ gehörten, verwaltet. Das GULAG fungierte für das Sevvostlag zunächst lediglich als Lieferant von Arbeitskräften.1218 Der Dal’stroj besaß das Recht, vom GULAG so viele Häftlinge zu verlangen, wie der Trust es für nötig hielt.1219 Auf diese Weise übte der Dal’stroj gegenüber dem Sevvostlag dierselbe Funktion aus wie das GULAG für die anderen Lager der Sowjetunion.1220 Die Leitung des Sevvostlag oblag also dem Dal’stroj-Leiter, wobei er für beide Institutionen über Stellvertreter als Mitarbeiter verfügte. In den ersten Jahren vereinigte E˙duard Berzin beide Leiterpositionen auf sich, als stellvertretender Sevvostlag-Leiter fungierte der ehemalige SLON-Mitarbeiter Rodion Vas’kov.1221 Der Dal’stroj und das Sevvostlag waren dadurch aufs Engste miteinander verwoben. Eine Kontrollfunktion über das Sevvostlag sollte vom bevollmächtigten Vertreter des OGPU ausgeübt werden. Diese Funktion wurde jedoch ebenfalls dem Dal’stroj-Leiter übertragen, sodass sich alle wichtigsten Positionen in dieser Region auf einer Person vereinigten.1222 Am 26. Oktober 1932 kamen auch die administrative Leitung über das ganze zu erschließende Gebiet sowie die Leitung der Partei in diesem Gebiet zu seinen Funktionen hinzu, wodurch er universale Gewalt über die Kolyma erhielt und das politische Leben eines riesigen Gebiets vollständig kontrollierte.1223 Dieses Prinzip hat Berzin im gesamten Verwaltungsapparat auf der Kolyma durchgesetzt: Jeder Leiter vereinte administrative, parteiliche und repressive Aufgaben

1216 Mel’nikov, Dal’stroj kak repressivno-proizvodstvennaja struktura, 2002, S. 168. 1953 wurden 70 Prozent der zivilen Angestellten des Dal’stroj von ehemaligen Häftlingen gebildet. Ebd. 1217 Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga, 2002, S. 43 f.; Nikolaev, »Mesto Dal’stroja v stanovlenii repressivnoj sistemy totalitarizma«, 1998, S. 8. 1218 Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga, 2002, S. 45. 1219 Nikolaev, »Mesto Dal’stroja v stanovlenii repressivnoj sistemy totalitarizma«, 1998, S. 8. 1220 Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga, 2002, S. 199. 1221 Ein Foto von ihm ist im virtuellen Gulag-Museum zu sehen: http://gulagmuseum.org/ showObject.do?object=11738888 (letzter Zugriff am 19. Juni 2011). 1222 Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga, 2002, S. 43 – 45. 1223 Alla Gorcˇeva bemerkte, dass bereits auf den Solovki die Tschekisten nicht nur das Lager befehligten, sondern auch die Funktionen der staatlichen Gewalt übernahmen. Gorcˇeva, Pressa Gulaga (1918 – 1955), 1996, S. 40. Die Kolyma war dementsprechend kein Einzelfall. Ein weiteres Beispiel dafür wäre das Belbaltlag.

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auf sich, was die Willkür der Entscheidungen förderte.1224 Svetlana Sˇulubina unterstreicht in ihrer Dissertation über das Sevvostlag, dass eine maximale Anpassung des Lagers an die betrieblichen Belange des Trusts das wichtigste Prinzip bei der Verwaltung des Sevvostlag darstellte.1225 Erst im März 1938 wurde das bis dahin dem Rat für Arbeit und Verteidigung unterstellte Dal’stroj Teil des NKVD.1226 Die Ausnahmestellung des Dal’stroj in den ersten fünf Jahren seines Bestehens hat Aleksandr Piljasov dazu bewogen, den Trust als eine Superorganisation zu definieren. Als ihre Merkmale nennt der Forscher unter anderem eine strenge Hierarchie, umfangreiche Vollmachten, ein autonomes Versorgungs- sowie ein autonomes Produktionssystem.1227 Die strenge Hierarchie hatte zur Folge, dass die einzelnen Lagerpunkte untereinander nur wenig Kontakt hatten, sondern überwiegend mit den übergeordneten Strukturen kommunizierten.1228 Die Zahl aller von 1932 bis 1953 im Sevvostlag inhaftierten Menschen betrug nach Angaben von Aleksandr Kokurin und Jurij Morukov, die sie anhand der Statistik der Lagerhauptverwaltung errechnet haben, 809.601 Menschen (das Lager bestand aber noch bis 1957 weiter). Von diesen starben 119.647 Personen bereits im Lager.1229 Ihr Leiden und Sterben war der Preis für 1.187,1 Tonnen chemisch reinen Goldes, die vom Sevvostlag in den Jahren 1932 – 1956 gefördert worden sind.1230 Die Förderung aller anderen Bodenschätze durch das Sev1224 Ein wichtiges Charakteristikum des sowjetischen Verwaltungs- und Wirtschaftssystems stellte die Tatsache dar, dass die jeweiligen Leiter persönlich für die Nichterfüllung des Plans verantwortlich gemacht und angeprangert wurden. Z. B. hieß es in der in Ust’Omcˇug (3) erscheinenden Zeitung Za metall (Fürs Metall) im Jahr 1942: »?U^Q[_ p^SQam ^YhV]d ^V ^QdhY\ ad[_S_UYcV\p ›3Vaf^VT_‹ dhQbc[Q c_S. ;aQb^_\dg[_T_. ?^ `_`aVW^V]d [!] `_X_a^_ _cbcQVc, dSV\YhYSQp XQU_\WV^^_bcm T_bdUQabcSd« (»Doch der Januar hat den Leiter des ›Oberen‹ Abschnitts, Genossen Krasnoluckij, nichts gelehrt. Er bleibt nach wie vor schmählich zurück und vergrößert dadurch die Schulden gegenüber dem Staat«). Za metall (Ust’-Omcˇug), 8. Februar 1942, S. 1. 1225 Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga, 2002, S. 55, 60. 1226 Nikolaev, »Mesto Dal’stroja v stanovlenii repressivnoj sistemy totalitarizma«, 1998, S. 9 f. 1227 Piljasov, Aleksandr : »Trest ›Dal’stroj‹ kak superorganizacija«, in: Birjukova, Kolyma. Dal’stroj. GULAG, 1998 , S. 12. Der Begriff »Superorganisation« wurde schon von Anatolij Sˇirokov in seiner Dissertation von 1997 verwendet. Sˇirokov, Istorija formirovanija i dejatel’nosti »Dal’stroja« v 1931 – 41 gg., 1997, S. 178. Auch Sergej Mel’nikov nahm ihn in seiner Dissertation von 2002 wieder auf. Mel’nikov, Dal’stroj kak repressivno-proizvodstvennaja struktura, 2002, S. 121 – 167, 169. 1228 Piljasov, »Trest ›Dal’stroj‹ kak superorganizacija«, 1998, S. 18. 1229 Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 537. Nach Svetlana Sˇulubina waren von 1932 bis 1953 740.450 Häftlinge im Sevvostlag inhaftiert, von denen 120.000 bis 130.000 im Lager starben. Sˇulubina, Svetlana [Autorreferat, 2003], S. 27. Bei Massenerschießungen im Sevvostlag starben nach Angaben von Svetlana Sˇulubina mehr als 10.000 Häftlinge. Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga, 2002, S. 201. 1230 Sˇulubina, Svetlana: Sistema Sevvostlaga. 1932 – 1957 gg. (= Autorreferat der Dissertation), Manuskript in der Russischen Staatsbibliothek Moskau, 2003, S. 27.

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vostlag war ein Verlustgeschäft.1231 Die Summe der staatlichen Investitionen in den Trust war mehr als doppelt so hoch wie der Wert seiner Produktion. Daraus lässt sich folgern, dass durch die Gründung und Aufrechterhaltung des Trusts vor allem geopolitische Ziele verfolgt wurden.1232 Aber auch die repressiven Aufgaben, welche der Trust erfüllte, sind bei der Bewertung seiner Tätigkeit nicht zu vernachlässigen. Zum 1. Januar 1933 gab es 11.100 Häftlinge im Sevvostlag, ein Jahr später waren es bereits 29.659.1233 Der Großteil von ihnen blieb nicht in der Siedlung Magadan, sondern wurde zum Goldabbau und Straßenbau in die Taiga gebracht. Aber auch in Magadan ist viel mit Beteiligung der Häftlinge gebaut worden, darunter das 1941 fertiggestellte Theater (vgl. Kapitel B.2).1234 Die Einheiten des Sevvostlag erstreckten sich über die gesamte Fläche des vom Dal’stroj verwalteten Gebiets, es war das flächenmäßig größte Lager der Sowjetunion. Der Landstrich, über den sich die meisten Lagereinheiten verteilten, hat seinen Namen von dem weit verzweigten Fluss Kolyma erhalten. Aleksandr Solzˇenicyn nennt im Vorwort zu Archipel GULAG Kolyma »die größte und berühmteste Insel«, den »Grausamkeitspol« des Gulag.1235 Diese Verteilung der Lagereinheiten über eine riesige Fläche und die Mobilität der Lagereinheiten machen es heute unmöglich, die Zahl und die Lage der Sevvostlag-Einheiten anzugeben.1236 Die zivile Bevölkerung Magadans wuchs viel langsamer als die Häftlingszahl im Sevvostlag. Außer Lagerpersonal samt seinen Familien reisten Arbeiter an, die an der Urbarmachung einer noch unbesiedelten Region mitarbeiten wollten und an gutem Verdienst mit Zuschlägen wegen extremer Lebensbedingungen interessiert waren. 1936 lebten an diesem Ort mehr als 10.000 Zivilisten.1237 1939, als Magadan den Status einer Stadt zuerkannt bekam, hatte es 27.000 Einwohner.1238 Zum 1. Januar 1939 betrug die Häftlingszahl im Sevvostlag bereits 138.170, was 10,47 Prozent aller Gulag-Häftlinge zu diesem Zeitpunkt entsprach. Ein erstes Maximum erreichte die Häftlingszahl im Sevvostlag 1940, als 176.685 Menschen dort inhaftiert waren.1239 Der Großteil der Zivilisten kam aus Moskau 1231 Seit 1937 baute der Dal’stroj beispielsweise auch Zinn ab und avancierte in wenigen Jahren zu einem der wichtigsten Zinnlieferanten weltweit. Sˇirokov, Istorija formirovanija i dejatel’nosti »Dal’stroja« v 1931 – 41 gg., 1997, S. 181. 1232 Piljasov, »Trest ›Dal’stroj‹ kak superorganizacija«, 1998, S. 19. 1233 Kokurin/Morukov, Stalinskie strojki GULAGa, 2005, S. 536. 1234 Kozlov, Magadan. Konspekt prosˇlogo, 1989, S. 113. 1235 Solzˇenicyn, Archipelag GULag, Teile I – II, 1973, S. 6. 1236 Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga, 2002, S. 200. 1237 Berzin, Kolyma segodnja, 16. Januar 1936, S. 6. 1238 Kozlov, Magadan. Konspekt prosˇlogo, 1989, S. 35. 1239 Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 413; Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga (= Autorreferat der Dissertation), 2003, S. 18.

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oder Leningrad auf die Kolyma, erst ab 1943 überstieg ihre Zahl die der Häftlinge.1240 Magadan konnte nur auf dem See- oder dem Luftweg erreicht werden. Dies war eine von der übrigen Sowjetunion abgeschottete Stadt, die sich in unmittelbarer Nähe eines Zwangsarbeitslagers befand, welches erst 1957 aufgelöst wurde. Eine weitere Bevölkerungsgruppe, ohne die eine Geschichte des Dal’stroj und Magadans nicht geschrieben werden sollte, sind die Ureinwohner Kolymas, welche Opfer von Kollektivierung geworden waren und vom Dal’stroj ausgebeutet wurden. Da sie in den gefundenen Zeugnissen zur Musikausübung im Lager jedoch keine Rolle spielen, wird hier auf diesen Aspekt verzichtet. Die Dal’stroj-Leitung vermerkte im Bericht über die 1932 geleistete Arbeit des Trusts, dass die kulturellen Aktivitäten in seinem Einzugsgebiet noch nicht befriedigend aufgestellt waren,1241 da das Hauptaugenmerk auf der Unterbringung und Versorgung der Arbeitskräfte gelegen hatte. Der größte Teil der Bevölkerung wohnte in Hütten, welche zum Teil in den Erdboden hineingegraben waren, die übrigen Einwohner Magadans in ca. 20 bis 40 Baracken und Häuschen aus Ganzholzbalken und Furnier.1242 Alle Unterkünfte waren überfüllt.1243 Diese angesichts der kalten und feuchten Winter katastrophale Lebenssituation konnte erst im Sommer 1933 durch den Bau von Häusern teilweise behoben werden.1244 Die Hauptarbeit des Dal’stroj in den ersten drei Jahren seiner Tätigkeit, die erst 1932 mit dem Eintreffen der ersten Häftlinge beginnen konnte, bildete aber der Straßenbau.1245 Klubhäuser sowie »Rote Ecken« für Veranstaltungen gab es im Jahr 1932 nur in sehr wenigen Betrieben, weswegen keine nennenswerte »Kulturerziehungsarbeit« durchgeführt werden konnte. Da im Etat für 1932 der Bau von Kulturhäusern jedoch einen Kostenpunkt darstellt, ist davon auszugehen, dass der Dal’stroj tatsächlich im ersten Jahr seines Bestehens mit dem Bau von Kultureinrichtungen begonnen hatte.1246 1933 wurden sogar mehr Mittel für kulturelle Einrichtungen als für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung ausgegeben, und zwar 464.700 Rubel im Vergleich zu 380.000 Rubeln.1247 Die in Magadan, welches noch als Bucht Nagaevo bezeichnet wurde, 1932 erscheinende Zeitung berichtete zwar schon im Januar 1932 von einem Klubhaus 1240 Piljasov, »Trest ›Dal’stroj‹ kak superorganizacija«, 1998, S. 16. 1241 GAMO: F. R-23, op. 1, d. 22, l. 70 f. 1242 So die Angabe in der Quelle. Ihre Ungenauigkeit mag daher rühren, dass nur ca. die Hälfte dieser Unterkünfte zum Zeitpunkt der Abfassung des Berichts fertiggestellt war. 1243 GAMO: F. R-23, op. 1, d. 45, l. 164. 1244 Kolyma, 1992, Nr. 10 – 11, S. 32. 1245 Navasardov, A.: »Dal’stroj: pervye stranicy istorii«, in: Magadanskaja pravda, 3. Juni 1990, S. 3. 1246 GAMO: F. R-23, op. 1, d. 22, l. 182ob. 1247 GAMO: F. R-23, op. 1, d. 45, l. 164.

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und einer dort tätigen »Kulturbrigade« des Komsomol.1248 Dieses Klubhaus ist jedoch, laut einem anderen Zeitungsbericht, spätestens im November 1932 vom Dal’stroj als Wohnheim für »neu eingetroffene Arbeitskräfte« genutzt worden und die »Kulturarbeit« musste eingestellt werden.1249 Die katastrophale Versorgungslage mit Lebensmitteln im Jahr 1932 schildert der erste Leiter des Dal’stroj, E˙duard Berzin, wohl eher unwillentlich, wenn er in dem 1936 für die Zeitschrift Kolyma verfassten Bericht Pjat’ let Dal’stroja (Fünf Jahre Dal’stroj) die Notwendigkeit der Entwicklung einer Landwirtschaft auf der Kolyma begründet: 1932 sei er zufällig drei Frauen begegnet, welche bei einer Temperatur von ca. -50 8C auf ihren Knien im Schnee krochen und etwas einsammelten. Es handelte sich um eingelegten Kohl, welcher bei einem Transport verschüttet und teilweise mit Pferdedung vermischt wurde.1250 Ob es sich bei diesen Frauen um Häftlinge oder um Zivilisten handelte, geht aus dem Bericht nicht hervor. Noch bis 1936 richtete sich das Hauptaugenmerk des Dal’stroj auf den Straßenbau, auch ein Hafen in der Nagaevo-Bucht wurde gebaut.1251 In den Jahren 1932 bis 1941 baute der Trust insgesamt 3.100 km Straßen durch die unwegsame Tundra.1252 Hervorzuheben ist dabei die Kolymsker Trasse, eine Straßenverbindung von Magadan nach Ust’-Nera bzw. nach Jakutsk in Jakutien. Einen Einschnitt in der Geschichte des Dal’stroj und des Sevvostlag stellt das Jahr 1937 dar, in welchem E˙duard Berzin verhaftet und zum Tod durch Erschießen verurteilt wurde. Im März 1938 wurde der Dal’stroj in die Verwaltungsstruktur des NKVD übernommen und als eine Lagerverwaltung behandelt, welche es faktisch auch schon zuvor gewesen ist. Auf diese Weise stand es seitdem verwaltungstechnisch auf einer Stufe mit dem GULAG.1253 Bis zum Ausbruch des Großen Terrors gilt das Lagerregime im Sevvostlag in der Forschung als »verhältnismäßig liberal«. Beispielsweise waren die meisten Lagereinheiten nicht durch Zäune und Wachtürme gesichert, es fehlte an Wachpersonal, sodass Häftlinge als solches eingesetzt werden mussten,1254 und es gab die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung. Trotzdem bedingten die schlechten Unterbringungs- und Versorgungsbedingungen sowie die schwere Arbeit eine hohe Kranken- und Sterblichkeitsrate.1255 Nach Ausbruch des Gro1248 »Pochoor [Druckfehler?] ili kul’trabota«, in: Orocˇelsko-E˙venskaja pravda, 6. Januar 1932, S. 2. 1249 »Klub – komsomolu«, in: Orocˇelsko-E˙venskaja pravda, 14. November 1932, S. 4. 1250 Berzin, E˙duard: »Pjat’ let Dal’stroja«, in: Kolyma, 1936, S. 11 f. 1251 Sˇirokov, Istorija formirovanija i dejatel’nosti »Dal’stroja« v 1931 – 41 gg., 1997, S. 180. 1252 Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga, 2002, S. 115. 1253 Sˇirokov, Istorija formirovanija i dejatel’nosti »Dal’stroja« v 1931 – 41 gg., 1997, S. 178; Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga, 2002, S. 44, 53 f. 1254 Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga, 2002, S. 96. 1255 Mel’nikov, Dal’stroj kak repressivno-proizvodstvennaja struktura, 2002, S. 169.

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ßen Terrors erließ der erste Dal’stroj-Leiter Berzin mehrere Befehle zur Verschärfung des Lagerregimes: Jede Lagereinheit sollte durch bauliche Vorrichtungen und durch bewaffnetes Wachpersonal gesichert werden.1256 Mit dem neuen Dal’stroj-Leiter Karp Pavlov verschärften sich 1937 die Lebensbedingungen für die Häftlinge des Sevvostlag noch mehr : Während sie zuvor acht Stunden täglich zu arbeiten hatten, wurde der Arbeitstag nun auf bis zu 16 Stunden verlängert. Freie Tage wurden vorübergehend abgeschafft. Die Isolierung der Häftlinge in den Lagerzonen sollte verschärft werden, und auch alle »Kolonisten«1257 sowie teils auch ihre Angehörigen, die ihnen auf die Kolyma gefolgt waren, sollten hinter Stacheldraht untergebracht werden.1258 Die Versetzung der Häftlinge in neue Lagereinheiten, ihr Weg zu den Arbeitsstätten sowie ihre Arbeit sollten streng bewacht werden.1259 Die Arbeitsnormen wurden erhöht,1260 die Versorgung mit Lebensmitteln dagegen heruntergefahren.1261 Als Folge des Großen Terrors änderte sich auch die Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft: 82,4 Prozent von ihnen stellten in den Jahren 1932 bis 1936 bytoviki und enteignete Bauern dar, zu Beginn des Jahres 1938 waren 37,8 Prozent der Lagerinsassen für »konterrevolutionäre Verbrechen« verurteilt. Im Laufe des Jahres 1938 soll die Zahl der »Konterrevolutionäre« sogar bis auf 76,8 Prozent angestiegen sein.1262 1946 lag sie bei 43,6 Prozent und fiel bis 1953 auf 29,1 Prozent.1263 Zu Beginn der 1940er-Jahre stellte der Dal’stroj den größten Betrieb zur 1256 Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga, 2002, S. 109. 1257 »Kolonisten« lebten in eigens eingerichteten Kolchosen und setzten sich sowohl aus Zivilisten als auch aus Häftlingen zusammen, welche außerhalb des Lagers siedeln und ihre Familien zu sich ziehen lassen durften. Diese Form der Kolyma-Besiedlung wurde nach Berzin abgeschafft. Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga, 2002, S. 96, 113. Sie war jedoch keine Erfindung Berzins, was ihm fälschlicherweise von Zeitzeugen zugute gehalten wurde. In der Verordnung des Rats der Volkskommissare »Von der Ausnutzung der Häftlingsarbeit« vom 11. Juli 1929 wurde bereits von der Möglichkeit gesprochen, Häftlinge, die sich gut benahmen und gut arbeiteten, vorzeitig außerhalb der Zone leben zu lassen. Kokurin, ˇ K – OGPU – NKVD – NKGB – MGB – MVD – Aleksandr/Petrov, Nikita (Hg.): Lubjanka. VC KGB. 1917 – 1960. Spravocˇnik, 1997, S. 64 f. 1258 Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga, 2002, S. 113; Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga (= Autorreferat der Dissertation), 2003, S. 19 f. 1259 Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga, 2002, S. 113. 1260 Kozlov, Aleksandr : »Garanin i ›garaninsˇcˇina‹«, in: Birjukova, Kolyma. Dal’stroj. GULAG, 1998, S. 34; Piljasov, »Trest ›Dal’stroj‹ kak superorganizacija«, 1998, S. 16; Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga (= Autorreferat der Dissertation), 2003, S. 19 f. 1261 Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga, 2002, S. 112. 1262 Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga, 2002, S. 98; Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga (= Autorreferat der Dissertation), 2003, S. 20 – 22. Es gibt diesbezüglich unterschiedliche Angaben, z. B. spricht Sergej Mel’nikov von 45 Prozent als höchstem Anteil an politischen Häftlingen Ende der 1930er-Jahre. Mel’nikov, Dal’stroj kak repressivno-proizvodstvennaja struktura, 2002, S. 171. 1263 Mel’nikov, Dal’stroj kak repressivno-proizvodstvennaja struktura, 2002, S. 130.

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Goldförderung in der Sowjetunion dar und war weltweit einer der wichtigsten Goldlieferanten.1264 1941 waren im Sevvostlag mehr als 10 Prozent aller sowjetischen Lagerhäftlinge interniert.1265 Während des Zweiten Weltkriegs wurden so gut wie keine Häftlinge auf die Kolyma transportiert und die Häftlingszahl sank auf über die Hälfte, doch trotzdem und trotz der hohen Häftlingssterblichkeit während des Krieges stellte das Sevvostlag bevölkerungsmäßig das drittgrößte Lager nach dem Vorkutlag und dem Tajsˇetlag dar.1266 Insgesamt gesehen, erreichte die Häftlingszahl im Gulag zwei Spitzenwerte, und zwar 1941 und 1953. Sergej Mel’nikov führt die erste Spitze auf die Verhaftungen während des Großen Terrors und die zweite auf die Erlasse vom 4. Juni 1947 zurück, aufgrund derer viele Menschen zu jahrelangen Strafen wegen Kleinstvergehen verurteilt wurden. Im Sevvostlag erreichte die Häftlingszahl 1940 und 1952 ihre Höchstwerte mit 176.685 bzw. 198.700 Inhaftierten.1267 Am 22. Juni 1941, dem Tag, an dem deutsche Truppen die Sowjetunion überfielen, erging eine Direktive des NKVD-Leiters Berija und des Staatsanwalts der UdSSR BocˇkarÚv darüber, dass sogenannte Konterrevolutionäre, Banditen, Schwerverbrecher und andere gefährliche Verbrecher nicht mehr aus den Lagern entlassen werden durften, sondern zusammen mit fremden Staatsangehörigen in verschärft bewachten Zonen zu konzentrieren waren. Die Bewachung der Häftlinge sollte insgesamt verstärkt werden.1268 Die Unterbringungsbedingungen für die Häftlinge verschlechterten sich rapide während des Krieges. Die medizinische Versorgung war nicht ausreichend, die Sterblichkeit stieg stark an. Besonders starke Beachtung der Leitung fand während des Krieges die Unterbringung der »Konterrevolutionäre«, für die gesonderte Lagereinheiten mit verschärftem Regime eingerichtet wurden.1269 1943 wurde angesichts der hohen Häftlingssterblichkeit, die 1942 bei 15,5 Prozent lag, versucht, die Lebensbedingungen der Häftlinge zu verbessern, indem z. B. neue Krankenhäuser eröffnet wurden. Dies geschah sicherlich deswegen, weil Arbeitskräfte gebraucht wurden und es zu wenig Nachschub gab. Dadurch konnte die Sterblichkeit, nach offiziellen Angaben, im Jahr 1943 auf 6,8 Prozent gesenkt werden.1270 1264 1265 1266 1267 1268 1269 1270

Sˇirokov, Istorija formirovanija i dejatel’nosti »Dal’stroja« v 1931 – 41 gg., 1997, S. 181. Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga, 2002, S. 114. Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga, 2002, S. 125, 127; Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga (= Autorreferat der Dissertation), 2003, S. 20 – 22. Das Verwaltungszentrum des Vorkutlag befand sich in Vorkuta, das des Tajsˇetlag in Tajsˇet im Gebiet Irkutsk. Mel’nikov, Dal’stroj kak repressivno-proizvodstvennaja struktura, 2002, S. 129 f. Bezborodova, Naselenie Gulaga: cˇislennost’ i uslovija soderzˇanija, 2004, S. 576. Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga, 2002, S. 136, 148. Mel’nikov, Dal’stroj kak repressivno-proizvodstvennaja struktura, 2002, S. 118.

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Das Eintreffen neuer Häftlingsströme nach dem Krieg führte zur Verschlechterung der Wohnsituation: 19 Prozent der Häftlinge hatten im Winter der Jahre 1949/50 keinen Schlafplatz. Zum 1. Mai 1951 betrug die durchschnittliche Wohnfläche eines Häftlings 1,72 m2, in einigen Lagereinheiten lag sie sogar unter einem Quadratmeter. Lebensmittel wurden sowohl durch das Lagerpersonal als auch auf dem Weg ins Lager in großen Mengen gestohlen und erreichten die Häftlinge deswegen nur zum Teil.1271 Zu Beginn der 1950er-Jahre wurden viele Lagerzonen im Sevvostlag neu gesichert, was zu einer Reduzierung der Fluchtversuche beigetragen hat. Die Jahre ab 1951 müssen als eine Krise des GULAG-Systems gesehen werden, welche sich in zahlreichen Streiks und Aufständen der Häftlinge quer durch die Sowjetunion äußerte. Ihre Folge war die Einführung eines milderen Regimes. Auch wirtschaftlich gesehen zeigten sich die Lager immer mehr als ein Verlustgeschäft.1272 Ende der 1940er-Jahre kam es zu einer zunehmenden Mechanisierung der Arbeitsprozesse im Dal’stroj, weil die an Gold reichen Böden größtenteils abgebaut worden und nun kompliziertere Arbeitsabläufe vonnöten waren. Diese konnten nicht mehr von unqualifizierten Häftlingen übernommen werden. Die Folge war eine Reform des Dal’stroj und seine Unterordnung unter das Ministerium für Hüttenindustrie. Dadurch wurde dem Dal’stroj seine politische Macht entzogen und an seiner Statt im Dezember 1953 die administrative Einheit des Magadaner Gebiets geschaffen.1273 Das Sevvostlag aber wurde im Jahr 1953 dem GULAG unterstellt. Im Januar 1954 befehligte das GULAG 48 »Besserungsarbeitslager«, von denen elf in die Zuständigkeit des Sevvostlag fielen, womit dieses das größte System innerhalb des Gulag bildete.1274 1956 befanden sich noch 39.645 Häftlinge in den Lagern des Sevvostlag, womit es damals nach dem Vorkutlag das zweitgrößte Lager der Sowjetunion darstellte.1275 Magadan als Verwaltungszentrum des Sevvostlag verdient in den 1930er- und 1940er-Jahren die Bezeichnung »Lagerstadt«, weil Lagerzonen sein Stadtbild dominierten. Es handelte sich um eine Stadt, in der die Gebäude des Lagers und der zivilen Bebauung so nahe zusammenstanden, dass beide für den Betrachter unmittelbar zum Stadtbild gehörten. Wanda Bronska-Pampuch, die von 1938 bis 1946 in Magadan inhaftiert war, beschreibt die Stadt, wie sie vom zentralen Lager aus zu sehen war :

1271 1272 1273 1274 1275

Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga, 2002, S. 181 – 183. Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga, 2002, S. 194 f. Mel’nikov, Dal’stroj kak repressivno-proizvodstvennaja struktura, 2002, S. 172. Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga (= Autorreferat der Dissertation), 2003, S. 23, 27. Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga, 2002, S. 200.

Fallbeispiel: Die Kolyma und das Sevvostlag

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Von dem neuen Bauplatz aus war die ganze Stadt zu übersehen. In dem Gewirr der krummen Straßen zeichneten sich klar und deutlich die großen regelmäßigen Vierecke der Lager mit den ausgerichteten Barackenreihen ab: in der Mitte das zentrale Männerlager, gleich dahinter und etwas rechts das nicht minder große Quarantänelager, Karpunkt, jedes mit viertausend Gefangenen. Links zwei kleine Lager, das der Straßenarbeiter etwas höher und das der Fabrikarbeiter, der Autoreparaturwerkstätte »Aremse« tiefer im Tal. […] Rechts hinter der Brotfabrik wieder ein Lager. Wachturm hinter Wachturm bis hinab zum Hafen Nagajewo, der rechts hinter der Anhöhe mit der Siedlung Martschekan lag.1276

Die Nähe der zum Lager gehörenden und der zivilen Gebäude zueinander verdeutlicht ein Stadtmodell im Museum des Magadaner Theaters, welches die Bebauung der Stadt in unmittelbarer Nähe des 1941 fertiggestellten Theaterbaus in den 1940er-Jahren wiedergibt. Es zeigt, dass eine der vielen Lagerzonen keine 200 Meter vom Theater entfernt lag. Chronologischer Abriss der Entwicklung der »Laienkunst« im Sevvostlag In einem nicht öffentlichen Bericht der Dal’stroj-Leitung über ihre Arbeit im Jahr 1933 ist von der »spezifischen Arbeitskraft« des Trusts, den Lagerhäftlingen, die Rede, auf welche die »kulturerzieherische Arbeit« abgestimmt werden müsse. Im Jahr 1932, so wird fortgefahren, konnte keine gute »kulturerzieherische Arbeit« geleistet werden, da es zunächst galt, ein großes Lager an einem buchstäblich leeren Ort zu errichten.1277 1933 sind dann »Erzieher« rekrutiert sowie in Kursen geschult worden. Ob es sich dabei um Häftlinge oder Zivilisten handelte, geht aus dem Dokument nicht hervor, jedoch ist angesichts der Bevölkerungszusammensetzung in Magadan und Umgebung davon auszugehen, dass auch Häftlinge darunter vertreten waren. 1933 war das Jahr der Eröffnung zweier »zentraler Klubhäuser« in Magadan – des Klubs des USVITL sowie des der Gewerkschaften. Auch Schulen und verschiedene Zirkel nahmen ihre Arbeit auf. Ein zahlenmäßiger Vergleich der für das Musikleben relevanten Einrichtungen auf der Kolyma nach zwei Jahren der Dal’stroj-Tätigkeit stellt sich, nach offizieller Berichterstattung, folgendermaßen dar :

1276 Bronska-Pampuch, Wanda: Ohne Maß und Ende, 1963, S. 255 f. 1277 GAMO: F. R-23, op. 1, d. 45, l. 166.

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Abb. 47: Zahl der für das Musikleben relevanten Einrichtungen auf der Kolyma nach Angaben der Dal’stroj-Leitung.

Die Abbildung 47 zeigt einen sprunghaften Anstieg der Einrichtungen, was demonstriert, dass der erste Leiter des Trusts, Berzin, das Kulturleben für wichtig erachtete. Die Zahl der Radiopunkte stieg im Laufe des Jahres 1933 rapide an. Die Entwicklung des Radionetzes ermöglichte eine Ausstrahlung von Nachrichten, Vorträgen, aber auch Konzerten. Mangelhaft blieb die Versorgung der Kultureinrichtungen mit Inventar, darunter beispielsweise mit Musikinstrumenten. Auch die Qualität der kulturellen Veranstaltungen ließ noch vielfach zu wünschen übrig, konnte aber im Laufe des Jahres 1933 angeblich gesteigert werden, sodass Berzin sie 1934 als »der Höhe des Produktionswachstums des Dal’stroj entsprechend« beschreiben konnte.1278 Die »Kulturarbeit« wurde demnach forciert, während Missstände in der elementaren Versorgung der Häftlinge weiterhin bestanden. Im Herbst 1934 inspizierte eine Kommission die Lager auf der Kolyma und stellte gravierende Mängel in der Verpflegung und Unterbringung der Häftlinge in einer Reihe von Lagerpunkten fest, welche verschiedene Krankheiten zur Folge hatten. Die Häftlinge hausten in ungeheizten Zelten ohne Verglasung und Licht, Waschhäuser fehlten, und Ungeziefer plagte sie. Gekocht wurde teilweise in Töpfen, welche aus Fässern gebastelt wurden, Essgeschirr fehlte; das Brot wurde nicht durchgebacken ausgeteilt.1279 Die Forcierung der »Kulturarbeit« führte dazu, dass Anfang 1937 allein in Magadan mindestens fünf Klubhäuser existierten: der Arbeiterklub, der Klub des USVITL, der Klub des NKVD, der Klub der VOChR [Voenizirovannaja ochrana – Bewaffnete Wachmannschaft] sowie der Klub des DITR [Dom in1278 GAMO: F. R-23, op. 1, d. 45, l. 167. 1279 Kozlov, Aleksandr : »Vo vremena kolymskich lagerej«, in: Kolyma, 1992, Nr. 10 – 11, S. 34 f.

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zˇenerno-technicˇeskich rabotnikov – Haus der Ingenieure und Techniker].1280 In ihnen kam der Musikausübung eine wichtige Rolle zu: Einen Musikzirkel gab es im Klub des NKVD und des DITR,1281 der Klub des USVITL beherbergte ein Blasorchester, welches u. a. Stücke von Musorgskij aufführte und im Radio auf der gesamten Kolyma übertragen wurde.1282 Auch existierte bereits spätestens im Januar 1937 ein Jazz-Orchester in Magadan, welches abwechselnd in den verschiedenen Klubhäusern zum Tanz aufspielte.1283 Die seit 1936 erscheinende lagerinterne Zeitung Signal dorogi (Signal für die Straße) aus dem Dorf Jagodnyj (später Jagodnoe) (37), welches 500 km westlich von Magadan auf der Kolymsker Trasse entfernt lag, berichtete regelmäßig von der Gründung neuer Musikzirkel auf der Kolyma, z. B. am 14. März 1936 von einem Orchester im Lagerpunkt Kilometer 375 und einem Musikzirkel in der Ortschaft Atka (2).1284 Am 14. Januar 1937 erschien in der in Magadan herausgegebenen Zeitung Sovetskaja Kolyma (Sowjetische Kolyma) ein Artikel über die »Laienkunst« in Jagodnoe: Wo es vor kurzem noch gar keine »Laienkunst« gegeben hatte, traten nun Sänger, Tänzer und Rezitatoren auf. Auslöser für den Aufbau der »Laienkunst« war ein Befehl des Kommissars der Staatssicherheit, Terentij Deribas, gewesen, welcher die Kolyma besucht hatte. Der Leiter des OLP UDS [Otdel’nyj lagernyj punkt Upravlenija dorozˇnogo stroitel’stva – Einzelner Lagerpunkt der Verwaltung für Straßenbau] hat daraufhin begonnen, eine »Laienkunst« aufzubauen. Das am 6. Januar stattgefundene Konzert hat gezeigt, so der Verfasser, welch ein großes schöpferisches Potenzial in den Erbauern der Kolymsker Trasse steckte.1285 Er erwähnte mit keinem Wort, dass es sich dabei um Häftlinge handelte. Ein solch schnelles Aufblühen der »Laienkunst« lässt vermuten, dass unter ihnen einige professionelle Künstler gewesen sein müssen. Im Mai 1937 berichtete die Sovetskaja Kolyma, dass die »Agitationsbrigade« des OLP UDS beim Bau der Brücke über den Fluss Kolyma die Arbeiter angefeuert hat, indem sie cˇastusˇki sang. Zwei Beispiele seien hier wiedergegeben: Von einem Sturm ist nichts zu hören, Und doch ist das ganze Volk aufgeregt. Weil nämlich der Stachanov-Arbeiter Apurin Einen Arbeitsrekord aufstellt. 1280 »Segodnja vecˇerom«, in: Sovetskaja Kolyma, 8. Januar 1937 (Nr. 5), S. 4. 1281 »Segodnja vecˇerom«, in: Sovetskaja Kolyma, 9. Januar 1937 (Nr. 6), S. 4; »Segodnja vecˇerom«, in: Sovetskaja Kolyma, 29. Januar 1937 (Nr. 20), S. 4. 1282 »Segodnja vecˇerom«, in: Sovetskaja Kolyma, 9. Januar 1937 (Nr. 6), S. 4. 1283 »Segodnja vecˇerom«, in: Sovetskaja Kolyma, 11. Januar 1937 (Nr. 7), S. 4; »Segodnja vecˇerom«, in: Sovetskaja Kolyma, 12. Januar 1937 (Nr. 8), S. 4. 1284 Signal dorogi (Spornyj), 14. März 1936 (Nr. 19), S. 3 f. 1285 »Na scene zemlekopy i grabari«, in: Sovetskaja Kolyma, 14. Januar 1937 (Nr. 9), S. 2.

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Sollen Gewitterwolken am Himmel aufziehen, Ich werde mich doch nicht geschlagen geben, Wir werden die beste Brücke über unsere Kolyma bauen.1286

Musik wurde von der Lageradministration des Sevvostlag, wie auch in anderen bereits erwähnten Lagern, als ein Mittel zur Auszeichnung von Häftlingen eingesetzt. Ein Beispiel dafür bietet der Erlass des Dal’stroj-Leiters Karp Pavlov vom 25. Oktober 1938.1287 Ziel dieses Dokuments war es, die Aufseher aus den Reihen der Häftlinge mit Privilegien auszustatten, sodass sie sich eindeutig von den übrigen Häftlingen abhoben. Eine Maßnahme, welche dies sicherstellen sollte, war die Unterbringung in gesonderten Zelten mit bestmöglicher Ausstattung, zu der auch, je nach Möglichkeit der betreffenden Lagerabteilung, Schallplattenspieler oder Musikinstrumente wie Handharmonikas, Gitarren und Balalaikas gehören sollten. Ein weiteres Beispiel dafür, dass Musik als Mittel zur Belohnung guter Arbeit eingesetzt wurde, bietet der Erlass des Dal’stroj-Leiters vom 2. Oktober 1939 über die Prämierung der Mine Zolotistyj (Die Goldene).1288 Für eine vorzeitige Erfüllung des Jahresplans sollten die »Bestarbeiter« dieser Mine mit fünf Anzügen, fünf Uhren sowie zwei Schallplattenspielern mit Schallplatten ausgezeichnet werden. Ende 1940 wurde in der Abteilung »Westliches Lager« [Zapadnyj lager’] des Sevvostlag eine »Zentrale Kulturbrigade« ins Leben gerufen. Ihr gehörten 32 Mitglieder an, deren Aufgabe es war, die einzelnen Minen zu bereisen und dort Konzerte für »Bestarbeiter« zu geben. In ihrem Programm sollen folgende Punkte enthalten gewesen sein: Sketche über das Alltagsleben im Lager, in denen Arbeitsverweigerer kritisiert wurden, und die von einem Jazz-Orchester begleitet wurden, ein ungarischer Tanz,1289 gespielt auf einer Violine und einem

1286 þY[Q[_Z ^V b\li^_ RdaY,

þ_ SXS_\^_SQ^ SVbm ^Qa_U : C_ bcQfQ^_SVg 1`daY^ BcQSYc cadU_S_Z aV[_aU. @dbcm `_ ^VRd f_Upc cdhY, 3bV aQS^_ ^V bUQcmbp ]^V, =l `_bca_Y] bQ]lZ \dhiYZ =_bc ^Q ^QiVZ ;_\l]V.

»Pesnja na strojke«, in: Sovetskaja Kolyma, 27. Mai 1937 (Nr. 116), S. 3. 1287 GAMO: F. R-23, op. 1, d. 414, l. 113 f. 1288 GAMO: F. R-23, op. 1, d. 651, l. 163. Die Mine Zolotistyj befand sich im Kreis Srednekan (42). Vilenskij, Dodnes’ tjagoteet, Bd. 2: Kolyma, 2004, S. 557. 1289 Gemeint ist vermutlich einer der Ungarischen Tänze von Johannes Brahms.

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Knopfakkordeon, russische Volkslieder und -tänze, Zaubertricks, akrobatische und sogenannte exzentrische Nummern1290 sowie Opernarien.1291 Bereits vor der Gründung der »Zentralen Kulturbrigade« hat es im Gebiet der Westlichen Bergbauverwaltung schon eine »Laienkunst« gegeben. Am 24. Juli 1939 z. B. war ein Konzert in der Mine Mal’djak (21) geplant, welches von einer »Laienkunst«-Truppe aus Susuman (14) gegeben werden sollte. Auf dem Programm standen Lieder und Tänze sowie der Auftritt eines Ensembles der Sinti und Roma. Die gleiche Truppe gab auch Ende September 1939 ein Konzert in der »Roten Ecke« der Mine Udarnik (Stoßarbeiter) (19).1292 Im Dorf Susuman (14) wurde 1940 ein neues zweistöckiges Klubhaus für 236 Zuschauer mit einer 8,5 x 10,5 Meter großen Bühne gebaut. Die Zeitung Stachanovec sprach dabei vom größten Klubhaus auf der Kolyma, wobei die Klubhäuser in Magadan sicherlich auszuschließen wären. Zur Feier des 1. Mai sollte in Susuman zum ersten Mal ein Blasorchester auftreten, des Weiteren ein Chor mit Volksliedern, ein Trio mit Volksinstrumenten, der Bajanist Ionov, welcher erst Ende März 1940 aus der Haft freigelassen worden war1293 und später am Theater in Magadan tätig wurde, sowie ein Sänger mit Liedern der Sinti und Roma.1294 Eigens für das Fest im Dorf installierte Radiosender sollten Sendungen aus Moskau, Chabarovsk und Magadan übertragen. Auch in den einzelnen Minen kam es zum ˇ aj-Ur’ja (16) für 100 Zuschauer. In Susuman wurden Bau von Klubhäusern, z. B. in C im Jahr 1940 Kurse für moderne westliche Tänze wie Foxtrott, Walzer und Tango angeboten, die von über 40 Personen besucht wurden.1295 In der Mine Svetlyj (Die Helle) der Westlichen Bergbauverwaltung hat am 7. November 1940 ein Konzert zum Jahrestag der Revolution stattgefunden, bei dem ein Zupforchester aufgetreten ist. Auch in der Mine Skrytyj (Die Verborgene) hat es an diesem Tag ein Konzert gegeben.1296 In der Mine Udarnik (19) existierte im ˇ astusˇki-Sänger auf.1297 November 1940 ein Jazz-Orchester, und es traten C ***

1290 Darunter werden im Russischen groteske und/oder humorvolle Beiträge verstanden. 1291 »Ukomplektovana kul’tbrigada«, in: Na boevom postu (Magadan), 5. Dezember 1940 (Nr. 20), S. 4. 1292 Stachanovec (Susuman), 18. Juli 1939 (Nr. 4), S. 4; 21. September 1939 (Nr. 27), S. 4. 1293 Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 72. 1294 Ebenfalls zur Feier des 1. Mai wurde 1943 in Neksikan (12), 25 km westlich von Susuman, ein neues großes Klubhaus gebaut. Gacˇev, Dmitrij: Kolymskie pis’ma, hg. und mit einem Vorwort versehen von Georgij Gacˇev, 2003. S. 117. 1295 Stachanovec (Susuman), 15. April 1940 (Nr. 37), S. 4 u. 6; 24. April 1940 (Nr. 40), S. 4. 1296 Na boevom postu (Magadan, Zeitung für Lagerangestellte), 7. November 1940 (Nr. 16), S. 4. 1297 Na boevom postu, 15. November 1940 (Nr. 17), S. 4.

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Obwohl während des Zweiten Weltkriegs die Gold- und Zinnförderung höchste Priorität bei der Dal’stroj-Leitung genoss und die medizinische Versorgung sowie die Bildung der Bevölkerung in nur minimalen Ausmaßen sichergestellt wurden, stieg die Zahl der Klubhäuser, Bibliotheken und »Roten Ecken« sogar noch in dieser schweren Zeit rapide an: Während es 1940 34 Klubhäuser auf der Kolyma gegeben hat, waren es 1945 bereits 114. Die Zahl der »Roten Ecken« betrug entsprechend 101 zu 265.1298 Für die 1940er-Jahre existieren Berichte des KVO des Sevvostlag (im Folgenden entsprechend dem russischen Original als »KVO Sevvostlag« bezeichnet) an den KVO GULAG über seine Arbeit. Diese Berichte vermitteln, wie bereits in Kapitel B.1 festgestellt, ein idealisiertes Bild, welches mit Vorsicht rezipiert werden muss, jedoch enthalten sie auch einige verwertbare Informationen. Sie beginnen stets mit der Beschreibung der Produktionserfolge, wobei in Einzelfällen von einer Übererfüllung des Plans bis zu 700 Prozent gesprochen wird.1299 Wie stark verzerrt die Informationen in diesen Berichten sind, kann sich leicht ausmalen, wer Erinnerungen von Häftlingen den Aussagen der Berichte gegenüberstellt. So wird in einem Bericht über die »Kulturerziehungsarbeit« im Sevvostlag im Jahr 1948 geschildert, dass als Folge von Wettbewerben um die beste Baracke und um ein gepflegtes Aussehen der Lagerzone die Lagerpunkte des Sevvostlag attraktiv und schön aussahen und über begrünte Erholungsplätze mit Bühnen, Lauben und Tischen verfügten.1300 Eine solche Idylle wird man in den Erinnerungen der Häftlinge, die in großer Zahl vorliegen,1301 vergeblich suchen. Für das Jahr 1942 enthalten diese Berichte Informationen über Programme der »Laienkunst«, die von Heldentaten an der Front und hinter der Front handelten sowie die Häftlinge zu mehr Arbeit motivierten. Konzerte sollen sowohl auf Bühnen als auch an Arbeitsstätten und in den Baracken der »Bestarbeiter« stattgefunden haben. Es soll neun »zentrale Kulturbrigaden« in den einzelnen Abteilungen des Sevvostlag gegeben haben, welche abgelegene Lagerpunkte bereisten und Konzerte gaben, tagsüber aber mit anderen Häftlingen zusammen arbeiteten. Es existierten Gesangs- und Tanzensembles, Streich-, Blas- sowie Jazz-Orchester. Als beste »Laienkunstzirkel« werden beispielsweise die Zirkel 1298 Zeljak, Vitalij: »Razvitie social’noj infrastruktury Dal’stroja v gody velikoj otecˇestvennoj vojny«, in: I Dikovskie cˇtenija, 2001 S. 214, 216. 1299 Für einzelne Häftlinge in der Goldförderung im Jahr 1943. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1462, l. 186ob. 1300 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1531, l. 25 f. Dass der KVO Sevvostlag in der ersten Phase dieses Lagers bis zur Absetzung Berzins alle möglichen Wettbewerbe ausgerufen hat, zeigt ein Blick in die Ausgaben der Zeitung Signal dorogi von 1936. Dort begegnet man Wettbewerben um die beste Küche, den besten Fahrer, den besten Lagerpunkt oder um die Rationalisierung der Arbeit. 1301 Vgl. z. B. Vilenskij, Dodnes’ tjagoteet, Bd. 2: Kolyma, 2004.

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der Lagerpunkte E˙lgen (35) und Butugycˇag (5; auf der Karte als Butygycˇag geschrieben) genannt.1302 Es erscheint als purer Zynismus, dass in diesen Unterlagen die im Sommer eingerichteten »Erholungsecken an der frischen Luft« erwähnt werden.1303 Im Sommer 1943 soll die »Kulturarbeit« ebenso draußen durchgeführt worden sein. Der Leiter des KVO Sevvostlag spricht in einem Bericht für die Lagerhauptverwaltung von begrünten Plätzen in diversen Lagerpunkten mit Gartenlauben, Tischen und Stühlen. Die besten Brigaden hätten nach der Arbeit die Möglichkeit, Orchester zu hören sowie Brettspiele auszuleihen. In den Mittagspausen gebe es direkt an den Arbeitsplätzen Auftritte der »Laienkunst« zu sehen sowie Berichte über den Fortgang der Arbeit zu hören. Auch in diesem Schreiben wird von neun »zentralen Kulturbrigaden« gesprochen, die in ihren Auftritten vorrangig Kriegs- und Arbeitsthemen behandelten. Bemängelt wird in diesem Bericht als Selbstkritik jedoch, dass durch die Konzentration auf die »zentralen Kulturbrigaden« in einigen Lagerpunkten die örtliche »Laienkunst« gelitten habe, was aber schon auf dem Weg der Besserung sei.1304 Im September 1943 berichtete der KVO Sevvostlag nach Moskau, dass es im Sevvostlag mehrere Agitationsautomobile gab, welche auch abgelegene Lagereinheiten ansteuerten. Sie haben neben Chroniken und Filmen über den Krieg auch Musiksendungen an Bord gehabt und die besten Arbeiter propagiert.1305 Einem Rapport vom Februar 1943 zufolge hat es im Sevvostlag kleinere Unterhaltungsorchester, Gesangs- und Tanz-Ensembles, Streich-, Blas- sowie Jazz-Orchester gegeben, welche die Häftlinge zur besseren Arbeit motivieren sollten. Die besten »zentralen Kulturbrigaden« der einzelnen Abteilungen, genannt werden die des Maglag [Magadanskij ispravitel’no-trudovoj lager’ – das 1302 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1443, l. 105ob, 106. Im Sommer 2006 ist es der Verfasserin gelungen, eine ehemalige Inhaftierte des Lagerpunkts Butugycˇag zu interviewen. Zwar war sie erst ab 1949 dort, ihre Auskunft soll aber dennoch hier festgehalten werden. Der Name der Zeitzeugin war Ol’ga Sotcˇak (Mädchenname Margolicˇ). Sie ist als Achtzehnjährige aus der Ukraine nach Butugycˇag transportiert worden, weil sie mit den banderovcy (Angehörige der Ukrainischen Aufstandsarmee) Kontakt gehabt hatte. Insgesamt war sie siebeneinhalb Jahre im Gulag inhaftiert. In Butugycˇag wurde zinn- und uranhaltiges Erz abgebaut, und es gab nur 300 g Brot am Tag als Verpflegung. Ungeziefer plagte die Häftlinge, Ol’ga Sotcˇak litt dort an Dystrophie. Sie sagte im Interview, dass es überhaupt keine »Laienkunst« dort gegeben habe, weil die Häftlinge von der harten Arbeit zu ausgelaugt gewesen seien, und dass Butugycˇag nie von »Kulturbrigaden« besucht worden sei. Ihre Auskunft bedeutet aber nicht, dass die offizielle Berichterstattung falsch ist. Es ist möglich, dass die Zeitzeugin im Sonderlager Berlag (s. weiter unten in diesem Kapitel) interniert war, welches ab 1948 auch einen Lagerpunkt in Butugycˇag verwaltete, und dass vor der Einrichtung des Sonderlagers dort eine »Laienkunst« existiert haben könnte. 1303 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1443, l. 106ob. 1304 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1453, l. 303ob. 1305 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1453, l. 298ob.

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Magadaner Besserungsarbeitslager], des Sevlag [Severnyj ispravitel’no-trudovoj lager’ – Nördliches Besserungsarbeitslager, mit dem Zentrum in Jagodnoe (37)], des Zaplag [Zapadnyj ispravitel’no-trudovoj lager’ – Westliches Besserungsarbeitslager, mit dem Zentrum in Susuman (14)] und des Ten’lag [Ten’kinskij ispravitel’no-trudovoj lager’ – Ten’kinskij-Besserungsarbeitslager, mit dem Zentrum in Ust’-Omcˇug (4)], traten nicht nur auf Bühnen, sondern auch in Gruben, in Lagerzonen und in den Baracken derjenigen Häftlinge, die den Plan zu mindestens 200 Prozent übererfüllten, auf.1306 Anfang 1943 fanden »Laienkunstschauen« statt, bei denen die besten »Laienkunstzirkel« ermittelt werden konnten. Dies waren die Zirkel des MaglagFrauenlagerpunkts, des Lagerpunkts Utinaja (45) des Juglag [Juzˇnyj ispraviˇ kalov-Lagertel’no-trudovoj lager’ – Südliches Besserungsarbeitslager], des C ˇ ˇ ˇ ajpunkts (18) des Caj-Urlag [Caj-Ur’inskij ispravitel’no-trudovoj lager’ – C ˙ Ur’inskij-Besserungsarbeitslager], des Lagerpunkts El’gen (35) des Sevlag sowie des Lagerpunkts Butugycˇag (5) des Ten’lag. Im April 1943 wurde eine »Schau der zentralen Kulturbrigaden« durchgeführt, wobei die Brigade des Maglag den ersten Preis zuerkannt bekam. Der zweite Preis ging an das Zaplag, der dritte an das Sevlag.1307 Gleichzeitig bemängelte der Leiter des KVO Sevvostlag, dass einige Lagerleiter keine kontinuierliche »Laienkunstarbeit« gewährleisteten. Dies war beiˇ aj-Urlag und Dorlag [Dorozˇnyj ispravitel’no-trudovoj lager’ – spielsweise im C Straßenbau-Besserungsarbeitslager] der Fall, wo sich die Aufmerksamkeit zu stark auf die »zentralen Kulturbrigaden« richtete.1308 Im ersten Halbjahr 1943 sollen durchschnittlich 175 Personen jede Aufführung der »Laienkunst« gesehen haben,1309 was insgesamt 220.850 Zuhörern entspräche. Für das gesamte Jahr 1943 wird von insgesamt 498.400 Zuschauern berichtet, was genau 200 Personen pro Aufführung entspricht.1310 Diese runde Zahl verstärkt die Skepsis gegenüber dieser Berichterstattung. Die Häftlingszahl im Sevvostlag betrug, nach offiziellen Angaben, am 1. Januar 1943 99.843 und am 1. Januar 1944 76.388.1311 Wenn die durchschnittliche Häftlingszahl mit ca. 88.000 Häftlingen angenommen wird, müsste 1943 jeder Häftling durchschnittlich fünf bis sechs Konzerte und Theatervorführungen gesehen haben; dies ist jedoch eine ideelle Rechnung, denn ehemalige Häftlinge berichten, dass sie teilweise jahrelang keine Künstler im Lager zu Gesicht bekommen hätten.1312 1306 1307 1308 1309 1310 1311 1312

GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1462, l. 192ob. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1462, l. 192ob, 193. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1462, l. 193. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1453, l. 304. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1462, l. 194. Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion, 2003, S. 413. Sˇvarcburg, Natal’ja: »Muzy v snegach«, in: 30 oktjabrja, 2007, Nr. 77, S. 3.

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Für die über 90.000 Häftlinge in der ersten Hälfte des Jahres 1943 standen nur ˇ -Inspektoren zur Verneun KVO-Leiter, zwölf KVO-Inspektoren und 144 KVC 1313 fügung. Am Ende dieses Jahres waren es nur noch zehn KVO-Inspektoren ˇ -Inspektoren.1314 Das bedeutet, dass ein KVC ˇ -Inspektor mehr als und 125 KVC 600 oder sogar mehr als 700 Häftlinge zu betreuen hatte.

Abb. 48: Zahlen zur »Kulturerziehungsarbeit« im Sevvostlag während des Zweiten Weltkriegs. Trotz der steigenden Anzahl von Aufführungsstätten gingen kulturelle Aktivitäten 1943 im Vergleich zum Vorjahr drastisch zurück. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1443, l. 106 u. 106ob; F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1453, l. 304; F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1462, l. 194.

***

Auch für die Nachkriegszeit existieren umfangreiche Berichte des KVO Sevvostlag über seine »Kulturerziehungsarbeit«. Im Folgenden werden wegen der großen Anzahl der vorhandenen Quellen exemplarisch nur Berichte aus den Jahren 1948 bis 1951 herangezogen. Als wichtigste Stränge dieser Arbeit werden 1948 die »Erklärung der Ziele des stalinschen Fünfjahresplans und des Staatsplans für die Metallförderung«, die »Erläuterung der Außenpolitik«, der »Kampf um einen dauerhaften und lang andauernden Frieden« sowie die »Organisation und Durchführung eines um1313 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1453, l. 304. 1314 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1462, l. 194.

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fassenden Arbeitswettbewerbs« genannt. Ziel sei gewesen, die »Kulturerziehungsarbeit« stetig auszubauen sowie das ideelle Niveau der Veranstaltungen zu steigern. Im Vergleich zur Kriegszeit konnte die Nachfrage nach »Kulturerziehern« laut dem Bericht zufriedenstellender gelöst werden, weil dafür mehr Kommunisten und Komsomolzen zur Verfügung standen; die Rede ist von insgesamt 48 Personen. Auch konnten 35 Offiziere der Roten Armee, die in der Armee als »Politerzieher« oder in den Lagern für Kriegsgefangene tätig gewesen waren, als »Kulturerzieher« eingestellt werden.1315 Angesichts dieser kleinen Zahlen ist nicht verwunderlich, dass weiter unten im Bericht von 28,5 Prozent unbesetzter Stellen für »Kulturerzieher« zu lesen ist und davon, dass 15 Prozent von ihnen derart ungenügend gebildet waren, dass sie hätten ausgetauscht werden müssen.1316 Alle Lagereinheiten haben 1948 folgende Feiertage begangen: den 30. Jahrestag der Roten Armee am 23. Februar, den 1. Mai sowie den Tag des Sieges über Deutschland am 9. Mai. Es gab zur Feier dieser Tage besondere Arbeitswettbewerbe sowie Versammlungen der Häftlinge mit Prämierungen der »Bestarbeiter« mit Lebensmitteln. Danach fanden Konzerte und Kinovorführungen statt. Die »Klubmassenarbeit« hatte zum Ziel, die Häftlinge zur Planübererfüllung zu mobilisieren, sie zu neuen Menschen zu erziehen sowie patriotische Gefühle zu wecken. Wichtigste Formen dieser Arbeit waren »Laienkunstzirkel« sowie Filmvorführungen.1317 Als konkrete Musikstücke, die 1948 zur Aufführung durch die »Laienkunstˇ ajkovzirkel« gekommen waren, wurden folgende genannt: Pique Dame von C skij, Die lustige Witwe von Leh‚r, Der stille Don von Ivan Dzerzˇinskij sowie ˇ ajkovskij, Rimskij-Korsakov, Borodin, Glie˙r u. a. Am weitere Musikstücke von C Rande des Dokuments ist der Absatz, in dem diese Werke zusammen mit Dramen von Gogol’ und Lermontov genannt werden, angestrichen und – vermutlich vom KVO GULAG – mit »ist das nötig?« kommentiert. Unkommentiert und demnach vermutlich für gut befunden wurden die vielen Aufführungen von Volksliedern und Tänzen der Russen, Ukrainer, Belorussen und anderer Völker der Sowjetunion. Es sollen ganze Abende mit russischer und ukrainischer Volksmusik stattgefunden haben, »um die Häftlinge mit dieser Kunst bekannt zu machen«.1318 1315 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1531, l. 3 u. 4. 1316 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1531, l. 5. Die Zahl der fehlenden »Kulturerzieher« wurde vom KVO GULAG unterstrichen und mit zwei Minuszeichen am Rand versehen. Bei den 15 Prozent der »Kulturerzieher« mit schlechter Bildung war dies nicht der Fall. Zu folgern wäre, dass der KVO GULAG mehr Wert auf die Quantität als auf die Qualität bei der »Kulturerziehungsarbeit« legte. 1317 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1531, l. 9, 23. 1318 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1531, l. 23, 25.

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Als Lagerpunkte mit bester »Laienkunst« wurden Kilometer 72 (46) des Maglag, Zˇelannyj (Der Erwünschte; nicht auf der Karte verzeichnet) des Zaplag sowie E˙l’gen (35) des Sevlag genannt.1319 Wie in Kapitel B.1 erwähnt, scheint die Quantität bei den Berichterstattungen an den KVO GULAG und das GULAG eine wichtige Rolle gespielt zu haben, denn der Leiter des KVO Sevvostlag unterstrich, dass es 1948 mehr »Kulturbrigaden« und mehr »Laienkunstzirkel« als 1947 gegeben habe.1320 Mit Beginn der Goldwaschsaison sind die »Kulturbrigaden« aufgeteilt worden, um vor den Häftlingen unmittelbar an deren Arbeitsorten aufzutreten, wobei Konzerte vorrangig für gut arbeitende Häftlinge gegeben wurden. In der Mehrzahl der Lagerpunkte sollen einmal wöchentlich Konzerte, Schauspiel- oder Kinovorführungen stattgefunden haben.1321 Im Jahr 1948 richtete die Lagerhauptverwaltung »Sonderlager« [osobye lagerja] für »besonders gefährliche Staatsverbrecher« ein; darunter wurden vorrangig Häftlinge verstanden, welche nach § 58 verurteilt worden waren. Dort herrschte ein besonders hartes Regime,1322 und die Häftlinge sollten ausschließlich bei schweren körperlichen Arbeiten eingesetzt werden.1323 Sogenannte politische Häftlinge wurden, wie schon in den 1930er-Jahren, als »Feinde des Volkes«, die Kriminellen aber als dessen Freunde behandelt.1324 Auf der Kolyma existierte seit dem Frühjahr 1948 das Sonderlager Nr. 51325 mit dem Namen Berlag [Beregovoj lager’] für politische Häftlinge,1326 die 1319 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1531, l. 23 f. 1320 Es handelte sich, dem Bericht nach, um zwölf »Kulturbrigaden« im Jahr 1948 im Vergleich zu acht im Jahr 1947 und um 87 »Laienkunstzirkel« im Jahr 1948 im Vergleich zu 62 im Jahr 1947. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1531, l. 24. 1321 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1531, l. 24, 62. 1322 Bezborodova, Naselenie Gulaga: ˇcislennost’ i uslovija soderzˇanija, 2004, S. 43. So sollten etwa die Baracken in Sonderlagern nachts verschlossen werden, und die Häftlinge mussten Nummern auf ihrer Kleidung tragen. Der Arbeitstag dauerte offiziell zehn Stunden mit nur drei freien Tagen im Monat. Mel’nikov, Dal’stroj kak repressivno-proizvodstvennaja struktura, 2002, S. 145. 1323 Mel’nikov, Dal’stroj kak repressivno-proizvodstvennaja struktura, 2002, S. 144. 1324 Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003, S. 199. 1325 Wie stark sowjetische Lager von der im Westen verbreiteten Vorstellung von einem Lager abwichen, verdeutlicht die Tatsache, dass im Sonderlager Nr. 5 Ende 1949 nur sechs von 27 Lagerzonen gesichert waren. Die übrigen hatten keinerlei Umzäunung, Beleuchtung oder Signalisation. An den Fenstern fehlten Gitter, es gab keine Schlösser an den Baracken. Sˇulubina, Sistema Sevvostlaga, 2002, S. 190. Dies alles entsprach nicht den Vorschriften und zeigt Schwächen des GULAG-Systems auf. Dass die Unterdrückung der Häftlinge trotzdem funktionierte, ist wohl auf widrige klimatische Bedingungen und strenge Strafen bei Fluchtversuchen zurückzuführen. 1326 Die sogenannten politischen Häftlinge der Nachkriegsjahre unterschieden sich wesentlich von solchen der 1930er-Jahre. Es handelte sich bei ihnen zum Teil um Menschen, die an der Front gewesen waren und teilweise gegen die Sowjetregierung gekämpft hatten. Der größte Teil der politischen Häftlinge der Nachkriegszeit war aber im Grunde genommen, wie schon zuvor, unschuldig (ihre »Schuld« bestand z. B. darin, dass sie in den von Deutschen

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hauptsächlich in der Gold-, Zinn-, Kobalt- und Uranförderung eingesetzt wurden.1327 Die »Kulturerziehungsarbeit« in diesen Lagern wurde durch eine eigens dafür verfasste und im August 1949 in Kraft getretene provisorische Instruktion geregelt, welche jedoch im März 1954 ihre Gültigkeit verlor. Seitdem galt auch für diese Lager die allgemeine Instruktion für Lager und Kolonien vom Februar 1952 (vgl. Kapitel B.1).1328 Kurz darauf, im Juni 1954, wurden die Sonderlager aufgelöst und die darin inhaftierten Häftlinge in »gewöhnliche« Lager überstellt.1329 Entsprechend der provisorischen Instruktion des GULAG von 1949 sollte die »Kulturerziehungsarbeit« in den Sonderlagern darauf gerichtet sein, die Einhaltung des Lagerregimes durch die Häftlinge und ihre Isolierung zu gewährleisten sowie für die Disziplin im Alltag und bei der Arbeit zu sorgen. Des Weiteren sollte sie zu einer hohen Produktivität der Häftlinge beitragen.1330 Von einer Umerziehung ist in dieser Instruktion keine Rede, was dadurch zu erklären ist, dass das Konzept der Umerziehung von Anfang an auf die Berufs- und Gelegenheitsverbrecher gerichtet war, die Sonderlager aber für politische Häftlinge vorgesehen waren. Die Inkonsequenz des Gulag-Systems kommt darin zum Vorschein, dass trotzdem auch Kriminelle in diesen Lagern einsaßen.1331 Als Mittel der »Kulturerziehungsarbeit« waren in Sonderlagern folgende erlaubt: »anschauliche Agitation« zu Themen des Arbeitsprozesses, Radiogeräte in Baracken und Betrieben, allerdings nicht in Karzern und Strafbaracken, sowie Bibliotheken. Die Herstellung von Wandzeitungen sowie der Druck von Lagerzeitungen waren verboten. Während es sich bei den genannten Maßnahmen um Möglichkeiten handelte, war die Gründung von »Laienkunstzirkeln« vorgeschrieben. Einmal im Monat sollten ihre Aufführungen und Konzerte in den »Klub-Kantinen« stattfinden. Auch war vorgesehen, einmal im Monat Filme vorzuführen. In den Genuss dieser Veranstaltungen sollten nur gut arbeitende Häftlinge kommen, die das Regime befolgten. In den Baracken war das Spielen von Brettspielen und Musikinstrumenten erlaubt.1332 Zunächst wurde im Berlag eine eigene Abteilung für »Kulturerziehung« eingerichtet, jedoch kurze Zeit

1327 1328 1329 1330 1331 1332

besetzten Gebieten weiterlebten). Mehr als die Hälfte der Häftlinge im Sonderlager Nr. 5 stellten Einwohner der Westukraine und des Baltikums dar. Sie waren in der Lage, sich mit ehemaligen Soldaten oder innerhalb ihrer Nationalitäten zu solidarisieren und Widerstand zu leisten, was für politische Häftlinge zuvor fast undenkbar war. Dies soll einer der Gründe für die Einrichtung der Sonderlager gewesen sein. Mel’nikov, Dal’stroj kak repressivno-proizvodstvennaja struktura, 2002, S. 143 f., 150, 152. Mel’nikov, Dal’stroj kak repressivno-proizvodstvennaja struktura, 2002, S. 153. GARF: F. R-9401 s, op. 1a, d. 524, l. 226. Mel’nikov, Dal’stroj kak repressivno-proizvodstvennaja struktura, 2002, S. 155. GARF: F. R-9401, op. 1a, d. 334, l. 124. Vilenskij, Voprosy est’?, 2006, S. 113, 128. GARF: F. R-9401, op. 1a, d. 334, l. 125 f.

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später wieder geschlossen; die »Kulturerziehungsarbeit« wurde in die Hände des KVO Sevvostlag gelegt.1333 Dass es in den Sonderlagern tatsächlich eine »Laienkunst« für Häftlinge gegeben hat, erzählt der im Berlag ehemals inhaftierte SemÚn Vilenskij. Als Aufführungsort diente, wie im Gulag üblich, der Speisesaal. Aufgeführt wurde z. B. die Arie »Wenn Paris bei Nacht erstrahlt im hellen Lichterglanz« aus Emmerich K‚lm‚ns Operette Das Veilchen vom Montmartre, vorgetragen von einem als Frau verkleideten Mann. Manchmal wurden auch Filme gezeigt.1334 Die Paradoxie des sowjetischen Lagersystems wird einmal mehr deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Häftlinge in Sonderlagern im Rahmen der »Kulturerziehungsarbeit« dazu verpflichtet wurden, die Stockholmer Friedensdeklaration zu unterschreiben.1335 Jurij Fidel’gol’c wurde aus dem Ozerlag, wo er in den Jahren 1948 bis 1950 in Haft war (vgl. Kapitel B.2, Abschnitt »Kulturbrigaden«), auf die Kolyma transportiert und dort in das Berlag in der Ortschaft Ust’-Nera ca. 900 km nordöstlich von Jakutsk eingeliefert, unweit des Kältepols der Erde. Er wurde in einem Kombinat eingesetzt, welchem ein Bergwerk sowie eine Erzaufbereitungsanlage zugeordnet waren. Dort gab es einen »Laienmusikzirkel«, an dem sich Häftlinge aus der West-Ukraine beteiligten. Sie haben sehr gut gesungen, so Fidel’gol’c.1336 Es haben sich auch professionelle Künstler an der »Laienkunst« beteiligt, nicht aber Fidel’gol’c, obwohl er vor der Inhaftierung am Institut für Schauspiel studiert hatte, weil er von der Zwangsarbeit zu erschöpft war. Sicherlich ging es vielen Künstlern ähnlich und ein Großteil ihrer Namen wird im Verborgenen bleiben, weil sie mit der Allgemeinheit der Häftlinge in der Vernichtungsmaschinerie untergegangen sind. An der »Laienkunst« beteiligten sich meist, so Fidel’gol’c, sogenannte pridurki – Häftlinge, die innerhalb der Zone arbeiteten und nicht mit der Allgemeinheit der Insassen zur schweren körperlichen Arbeit ausrücken mussten. Dies waren beispielsweise Frisöre, diejenigen, die in der Banja beschäftigt waren, Schuster, Näher, ärztliches Personal, Buchhalter u. Ä.

1333 1334 1335 1336

GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1531, l. 44. Vilenskij, Voprosy est’?, 2006, S. 64, 124 – 126. Interview mit SemÚn Vilenskij am 21. Dezember 2007 in Moskau. Telefoninterview mit Jurij Fidel’gol’c in Moskau am 12. November 2007.

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Abb. 49: Entwicklung der »Kulturerziehungsarbeit« im Sevvostlag in der Nachkriegszeit anhand der offiziellen Statistik. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1531, l. 31, 68, 71; d. 1557, l. 24, 27, 71, 74; d. 1612, l. 55, 92 f.; d. 1631, l. 7, 161, 165.

Im ersten Halbjahr 1949 ist die Zahl der »Kulturerziehungsarbeiter« gestiegen, heißt es in einem weiteren Bericht an den KVO GULAG. Es waren neun KVOˇ -Leiter sowie 298 Inspektoren im Sevvostlag Leiter, darunter eine Frau, 67 KVC ˇ -Leiter und 22 Inspektoren tätig gewesen. Zusätzlich wurden im Berlag zwei KVC beschäftigt. Es gab ein Revuetheater sowie zehn »zentrale Kulturbrigaden«, von denen vier während der sommerlichen Goldwaschsaison die Förderstätten bereisten. Auch das Revuetheater trat im Sommer 1949, aufgeteilt in zwei Gruppen, an den Förderstätten auf. Anlässlich der Jubiläen in Kunst und Politik fanden Festabende statt, in denen das Schaffen der entsprechenden Schriftsteller, Dichter und Komponisten thematisiert wurde.1337 1337 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1557, l. 4, 19 f., 23.

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Dass die »Kulturarbeit« auch nach 17 Jahren Sevvostlag immer noch unzureichend aufgestellt war, ist daraus zu entnehmen, dass über Mangel an Musikinstrumenten und Notenmaterial berichtet wurde. Auch plante der Leiter des KVO Sevvostlag, das Repertoire der »Kulturbrigaden« stärker durch Parteigremien kontrollieren zu lassen, wodurch deutlich wird, dass diese Kontrolle bis dahin noch nicht in ausreichendem Maße ausgeübt wurde. Der Mangel an Aufführungsmaterial blieb auch im zweiten Halbjahr 1949 unverändert. Der Leiter des KVO Sevvostlag forderte den KVO GULAG dazu auf, entsprechendes Material auf die Kolyma zu senden. Auch die Notwendigkeit der Verstärkung der Kontrolle über das Repertoire wurde im zweiten Halbjahr 1949 wiederholt erwähnt.1338 Über das zweite Halbjahr 1949 berichtete der Leiter des KVO Sevvostlag, dass alle 194 Klubhäuser, »Kulturecken« sowie »Klub-Kantinen« über Radiosender verfügten. Zusammenfassend brachte er das Ziel der »Kulturarbeit« in seinem Resümee zu diesem Bericht klar zum Ausdruck, ohne es durch andere Floskeln zu beschönigen: Die »Kulturerziehungsarbeit« habe dazu beigetragen, den Plan zur Förderung des Goldes vorzeitig zu erfüllen.1339 Auch im Jahr 1950 waren die Stellen der »Kulturerzieher« im Sevvostlag immer noch nicht vollständig besetzt, es fehlten 37 Prozent der Mitarbeiter. Die Prognose für 1951 sah negativ aus, weil geplant war, die Häftlingszahl im Sevvostlag zu erhöhen.1340 Und tatsächlich stieg sie von 131.773 Häftlingen am 1. Januar 1950 auf 157.001 am 1. Januar 1951 und 170.557 am 1. Januar 1952.1341 Zudem ist zu beachten, dass die ohnehin unmenschlichen Lebensbedingungen im Sevvostlag sich Ende der 1940er-Jahre dadurch verschlechterten, dass unter den Berufsverbrechern ein brutaler Krieg ausbrach, in dem Banden, die sich mit den Lagerleitungen verbündet hatten (suki – Mehrzahl von suka; die eigentliche Bedeutung des Wortes ist »Hündin«, es wird aber auch häufig als Schimpfwort verwendet), gegen solche kämpften, die dies nicht tun wollten, und nach ihrem eigenen ungeschriebenen Gesetz lebten (vory v zakone – Diebe im Gesetz).1342 Die Häftlingszusammensetzung sah zu Beginn des Jahres 1951 folgendermaßen aus: 86,9 Prozent aller Häftlinge waren Männer, 22 Prozent waren für 1338 1339 1340 1341 1342

GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1557, l. 20 f., 65, 68. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1557, l. 63, 67. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1612, l. 35. Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion, 2003, S. 413. Erwähnungen dieser Gruppen haben auch in die Berichterstattung des KVO Sevvostlag Eingang gefunden. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1612, l. 52; F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1631, l. 31. Vom Krieg der Berufsverbrecher handeln folgende Veröffentlichungen: Podlesskich, Georgij/Teresˇonok, Andrej: Vory v zakone. Brosok k vlasti, 1994; Konstantinov, Andrej/ Dikselius, Mal’kol’m: Banditskaja Rossija, 1997; Sidorov, Aleksandr : Vory protiv suk. Podlinnaja istorija vorovskogo bratstva, 1941 – 1991 gg., 2005. Darüber berichtet auch Varlam Sˇalamov in der Erzählung Sucˇ’ja vojna, in: OgonÚk, Nr. 51, 1989, S. 4 – 46.

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»konterrevolutionäre Verbrechen« verurteilt, 35,5 Prozent für sogenannte kriminelle Verbrechen, die übrigen für sogenannte Alltagsverbrechen. 26,9 Prozent der Häftlinge hatten Haftstrafen von zehn bis zu 25 Jahren zu verbüßen, die übrigen 73,1 Prozent unter zehn Jahren.1343 Nach Aleksandr Kozlov waren viele der 1950 ins Sevvostlag neu eingelieferten Häftlinge Schwerverbrecher. Sie wurden aus westlicheren Regionen der Sowjetunion auf die Kolyma gebracht, um Gefängnisse und Lager, in denen sie sich befunden hatten, zu entlasten und die Häftlinge besser zu isolieren. Es seien Häftlinge darunter gewesen, die 100 bis 225 Jahre Haftstrafe zu verbüßen hatten, weil sie bis zu 20-mal in Folge verurteilt worden waren. Wie Aleksandr Kozlov schildert, gehörten Morde selbstverständlich zu ihrem Leben, sodass sie auch im Lager zwei bis drei Häftlinge im Jahr getötet haben sollen.1344 Die meisten Lagerpunkte verfügten im ersten Halbjahr 1950, laut dem Bericht des KVO Sevvostlag, über Aufführungsstätten für Kulturveranstaltungen. In den zehn »zentralen Kulturbrigaden« und 96 »Laienkunstzirkeln«, worunter Schauspielzirkel, Estrade-Zirkel, Chöre, Zupf- und Blasorchester subsumiert wurden, waren über 1.500 Häftlinge beschäftigt, was ca. 1 Prozent aller Häftlinge des Sevvostlag entsprach. Alle Programme der »zentralen Kulturbrigaden« und der »Laienkunstzirkel« wurden nun, laut dem Bericht, von Politabteilungen und Parteiinstitutionen gesichtet, bevor sie Häftlingen gezeigt wurden. Und doch hat es Programme mit überwiegend unterhaltendem Charakter gegeben, sogar bei den »zentralen Kulturbrigaden«, und zwar in der des Translag [Avtotransportnyj ispravitel’no-trudovoj lager’ – Kfz-Besserungsarbeitslager], Juzlag [Jugo-zapadnyj ispravitel’no-trudovoj lager’ – Südwestliches Besserungsarbeitslager] und des zentralen Krankenhauses.1345 Der Leiter des KVO Sevvostlag beklagte, dass immer noch nicht genügend Musikinstrumente in den Lagern vorhanden waren. Er äußerte den Wunsch, Instrumente für 30 Blasorchester, zehn Zupforchester und zehn Estrade-Orchester sowie 20 Klaviere, 50 Bajans und 25 Akkordeons zu erhalten. Wie dem Bericht über das gesamte Jahr 1950 zu entnehmen ist, hat das Sevvostlag daraufhin Instrumente für fünf Blasorchester, zwei Klaviere, 230 Zupf- und Streichinstrumente, Harmonikas sowie Schallplattenspieler bekommen. Einiges an Musikinstrumenten und Literatur ist bis nach Pevek an der Nordküste der ˇ ukotka-Halbinsel transportiert worden.1346 Dies ist als Ausnahme zu werten, C denn 1951 teilte der KVO GULAG dem Lager Enisejstroj1347 auf eine Anfrage 1343 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1612, l. 61. 1344 Kozlov, Aleksandr : »Sevvostlag v poslednie periody ego dejatel’nosti (1945 – 1957)«, in: III Dikovskie cˇtenija, 2004, S. 125 f. 1345 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1612, l. 47, 82. 1346 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1612, l. 47, 49, 84. 1347 Die Lagerverwaltung des Enisejstroj befand sich in der Stadt Krasnojarsk.

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nach 15 Bajans und Akkordeons mit, dass er derzeit über keine Mittel für Musikinstrumente verfüge und dass der Innenminister mit dieser Frage beschäftigt sei.1348 Im zweiten Halbjahr 1950 soll die Zahl der Aufführungsstätten für Kulturveranstaltungen im Sevvostlag weiter angestiegen sein. Jedoch handelte es sich bei nur 28 dieser Stätten um Klubhäuser, bei den übrigen lediglich um Kantinen oder »Kulturecken«.1349 Im gleichen Bericht erwähnte der Leiter des KVO Sevvostlag, dass »zentrale Kulturbrigaden« sich seinen Befehlen widersetzten und vor im Lager tätigen Zivilisten auftraten. Dies war verstärkt im Zaplag, Indlag [Indigirskij ispravitel’no-trudovoj lager’ – Indigirskij-Besserungsarbeitslager] sowie Translag der Fall. Im Ten’lag, Zaplag und Sevlag hielten einige in den »zentralen Kulturbrigaden« beschäftigte Häftlinge die Arbeitsdisziplin nicht ein. Unter ihnen waren auch solche, die wegen Vaterlandsverrat einsaßen. Diese Informationen wurden im KVO GULAG angestrichen und sollten weitergegeben werden. Als weiterer Missstand wurde im Bericht genannt, dass Musikinstrumente aus den Lagern in die zivile Gesellschaft hinausgetragen wurden.1350 Am Ende des ersten Halbjahrs 1951 waren nunmehr 30 Klubhäuser im Sevvostlag vorhanden gewesen, welche sich folgendermaßen über das Lager verˇ ukotstrojlag teilten: neun im Maglag, jeweils zwei im Zaplag, Ten’lag, C ˇ ukotskij-Besserungsarbeitslager auf [Cˇukotskij ispravitel’no-trudovoj lager’ – C ˇ ukotka], Janlag [Janskij ispravitel’no-trudovoj lager’ – Janskij-BesserungsarC beitslager, benannt nach dem Fluss Jana], Sevlag, Translag, Primorlag [Primorskij ispravitel’no-trudovoj lager’ – Küsten-Besserungsarbeitslager] und in Vanino sowie jeweils ein Klubhaus im Indlag, im Krankenhaus auf dem linken Kolyma-Ufer, in der Omsukcˇanskoe- (30), Zyrjanskoe- (von Zyrjanka, einem Ort in Jakutien) und der Transit-Abteilung (diese befand sich in Magadan; dort waren Häftlinge inhaftiert, die von einem Lagerpunkt in einen anderen transportiert wurden). Mit Ausnahme des Maglag befanden sich Klubhäuser meist in Lagerpunkten, in denen die Administration stationiert war und keine Häftlinge, die in der Rohstoffförderung beschäftigt waren. Als Selbstkritik wurde geäußert, dass die meisten »Kulturecken« nicht zweckgemäß genutzt wurden.1351 Obwohl der KVO Sevvostlag den Mangel an Wohnraum als den wichtigsten Missstand im Alltag der Häftlinge identifizierte, bat er das GULAG um Mittel zum Bau von 65 Klubhäusern, und zwar in Lagerpunkten mit über 1.000 Häftlingen. Gleichzeitig stellte er fest, dass oftmals zwei bis drei Häftlingen nur ein 1348 1349 1350 1351

GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1631, l. 75. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1612, l. 79. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1612, l. 82 f. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1631, l. 27.

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gemeinsamer Schlafplatz zur Verfügung stand und dass 40 Prozent der vorhandenen Baracken baufällig waren. Im Bericht über das gesamte Jahr 1951 wurde präzisiert, dass die durchschnittliche »Wohnfläche« 1,5 m2 pro Häftling betrug, während 2 m2 vorgeschrieben waren. Besonders schlecht war die Situation in Sugun (nicht auf der Karte zu sehen, da es in Jakutien lag), E˙l’gen (35), ˇ ukotka liegt) und im C ˇ ukotstrojlag.1352 Pevek (nicht auf der Karte, da es auf C In den zwölf »zentralen Kulturbrigaden«, die zur damaligen Zeit nunmehr bestanden, waren insgesamt 225 Häftlinge beschäftigt. Die größten »Kulturbrigaden« mit jeweils 25 Häftlingen gab es im Zaplag, Ten’lag, Indlag sowie Maglag. Im Juni 1951 haben diese Brigaden von der Politleitung des Dal’stroj die Anweisung erhalten, auch vor Zivilisten aufzutreten.1353 Der Grund dafür dürfte gewesen sein, die Goldförderung im Sommer nach Möglichkeit voranzutreiben. Aus dem Bericht über das Jahr 1951 geht hervor, dass fast alle Stellen für »Kulturerzieher« nun besetzt waren, es fehlten nur 8,5 Prozent des Personals. Unter den 242 Mitarbeitern arbeiteten nur 14 Frauen.1354 Die Zahl der Kultureinrichtungen war 1951 zwar erheblich gestiegen, aber es gab immer noch lediglich fünf Klubhäuser und 96 »Klub-Kantinen« für die schwer arbeitenden Häftlinge, »Kulturecken« sind immer noch nicht zweckgemäß genutzt worden. Sogar der Klub der Transit-Abteilung wurde für lange Zeitabschnitte von Häftlingstransporten blockiert. Es fehlte immer noch an Musikinstrumenten, Radiogeräten, Lautsprechern und Plattenspielern. Besonders schlecht sah es in ˇ ukotka-Halbinsel und in Jakutien aus. An den weit entfernten Lagern auf der C den insgesamt 121 »Laienkunstzirkeln« waren 3.578 Häftlinge beteiligt, die allesamt zu den »Bestarbeitern« gehörten.1355 Dies entsprach ca. 2 Prozent aller Sevvostlag-Häftlinge;1356 durchschnittlich waren demnach 29 bis 30 Häftlinge in jedem Zirkel beschäftigt. Zusammenfassend für 1951 stellte der Leiter des KVO Sevvostlag fest, dass die »Kulturerziehungsarbeit« dieses Lagers den Anforderungen des Innenministeriums und des GULAG noch nicht voll entsprochen hat. Viele Mitarbeiter dieses Sektors strebten an, die Kolyma zu verlassen, um in zentralere Gebiete der Sowjetunion zu ziehen, und zeigten deswegen keine Eigeninitiative. Die Politˇ bei ihrer Arbeit abteilungen und Parteiorganisationen haben den KVO und KVC nicht genügend geholfen. Weil in den Jahren 1950 und 1951 die Zahl der Häftlinge und der Lagerpunkte erheblich gestiegen war, hat der KVO Sevvostlag, welcher nur über sieben Mitarbeiter verfügte, keine ausreichende Arbeit leisten

1352 1353 1354 1355 1356

GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1631, l. 32 f., 155 f. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1631, l. 27 f. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1631, l. 113. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1631, l. 143 f. Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion, 2003, S. 413.

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können, zumal die große räumliche Entfernung der vielen Lagerpunkte diese erschwerte.1357 ***

Über die Entwicklung der »Laienkunst« auf der Kolyma lässt sich resümieren, dass sie sich durch die Forcierung seitens der Lager- und der Trust-Leitung schnell entwickelt hat. Obwohl es bei der Erschließung dieser abgeschiedenen, klimatisch widrigen Gegend große Schwierigkeiten bezüglich der Unterbringung und Versorgung der Häftlinge gegeben hat, wurden bereits in den ersten Jahren der Dal’stroj-Tätigkeit Kultureinrichtungen gebaut. Die Schwierigkeiten bei der Unterbringung der Häftlinge konnten bis zur Auflösung des Sevvostlag nicht zufriedenstellend gelöst werden. Dies trifft ebenso auf die Kulturarbeit zu. In der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre kam es verstärkt zur Gründung von »Laienkunstzirkeln« und »Kulturbrigaden« an verschiedenen Orten; es wurden auch weitere Kulturhäuser gebaut. Einschränkend muss dabei beachtet werden, dass viele dieser Einrichtungen in Lagerpunkten existierten, in denen die Lageradministration untergebracht war und nicht das Gros der schwer arbeitenden Häftlinge. Für diese fehlte es bis zur Auflösung des Sevvostlag an Veranstaltungsorten. Aus den Reihen der Häftlinge profitierten von Kulturveranstaltungen am meisten diejenigen, die innerhalb der Zone arbeiteten; an der »Laienkunst« nahmen aktiv im Jahr 1950 nur ca. 1 Prozent und im Jahr 1951 ca. 2 Prozent der Häftlinge teil. Auch während des Zweiten Weltkriegs wurde die Kulturarbeit aufrechterhalten. Es hat reisende »Kulturbrigaden« gegeben, welche die Häftlinge zum Patriotismus und zu besserer Arbeit motivieren sollten. Um das Niveau ihrer Beiträge anzuheben, wurden Wettbewerbe veranstaltet, die als »Laienkunstschauen« bezeichnet wurden (s. weiter unten in diesem Kapitel). Durchschnittlich soll ein Sevvostlag-Häftling im Jahr 1943 nach offiziellen Angaben fünf bis sechs Kulturveranstaltungen gesehen haben. Es gab jedoch auch im Sevvostlag, wie schon für den gesamten Gulag in ˇ -Inspektoren (synonym zu Kapitel B.1 festgestellt, zu wenige KVO- und KVC »Kulturerzieher« verwendet), wodurch die Kulturarbeit nicht flächendeckend geleistet werden konnte. Diese Situation konnte zwar nach Ende des Zweiten Weltkriegs verbessert, das generelle Problem aber nicht zufriedenstellend gelöst werden. Mängel bestanden auch durchgehend bei der Versorgung der Lager mit Instrumenten und Aufführungsmaterial. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde weiterhin versucht, die Propagan1357 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1631, l. 156 f.

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da-Möglichkeiten der »Laienkunst« auszunutzen. Zur Verbesserung der Kulturarbeit im Sevvostlag hat sicherlich die Einrichtung des Revuetheaters ME˙T beigetragen (vgl. Kapitel B.2). Sogar in Sonderlagern mit besonders hartem Regime war die Gründung von »Laienkunstzirkeln« vorgeschrieben, um Häftlinge zur Disziplin und zur besseren Arbeit zu motivieren, und zwar wurde offenbar nicht darauf geachtet, dass das dort gespielte Repertoire ideologisch ausgerichtet war, sondern nur darauf, dass es ein wie auch immer geartetes Kulturprogramm überhaupt gab. Allgemein scheinen die wenigen Einsprüche gegen das Repertoire seitens des GULAG vor Ort übergangen oder nicht entschieden genug vertreten worden zu sein.

Die »Kulturbrigade« des Maglag Der ehemalige Häftling Dmitrij Matorin, welcher seit der Gründung der Maglag»Kulturbrigade« dort tätig war, erinnerte sich in einem Interview mit Aleksandr Kozlov an die Zusammensetzung dieses Kollektivs. Das Orchester sei vom Bläser Bilida geleitet worden, Leiter der gesamten Brigade sei der Sänger Nikolaj Sokolovskij gewesen, Dirigent des Orchesters Ladirdo,1358 welcher vor der Haft Akkordeon im Aleksandrov-Ensemble gespielt habe.1359 Die Lagerleitung versuchte, in dieser »Kulturbrigade« die besten künstlerischen Kräfte des Sevvostlag zusammenzuführen.1360 Die Historikerin und Schriftstellerin Evgenija Ginzburg, die ab 1937 zehn Jahre lang in Lagerhaft war und davon die meiste Zeit im Lagerpunkt E˙l’gen auf der Kolyma verbracht hat, führt in ihren Erinnerungen die Gründung der »Kulturbrigade« in Magadan einzig und allein auf die Langeweile der Lagerobrigkeit in dieser abgelegenen Gegend zurück. Die in der »Kulturbrigade« arbeitenden Häftlinge seien besser verpflegt worden und hätten die Möglichkeit gehabt, sich ohne Wachen zu bewegen. Diese »Kulturbrigade« kam auch nach E˙l’gen, um die dortige Lagerobrigkeit durch Konzerte mit Unterhaltungsmusik aufzuheitern. Häftlinge sind zur Belohnung für gute Arbeit in den letzten Reihen zugelassen gewesen.1361 Wann genau die Maglag-»Kulturbrigade« ihre Arbeit aufgenommen hat, 1358 Anhand von Ladirdos Namen können Grenzen der menschlichen Erinnerung aufgezeigt werden, denn der Zeitzeuge erinnerte den Namen des Vaters von Ladirdo Zinovij fälschlicherweise als seinen Vornamen. In Wirklichkeit hieß er PÚtr Zinov’evicˇ Ladirdo (vgl. Kapitel B.2, Abschnitt »Dem Sieg entgegen«). 1359 Kozlov, Aleksandr : »Ternistyj put’ Georgija ZˇzˇÚnova«, in: Magadanskaja pravda, 17. Januar 1996, S. 3. 1360 Kozlov, Aleksandr : »On pel v ›Traviate‹«, in: Madaganskaja pravda, 13. November 1997, S. 3. 1361 Ginzburg, Krutoj marsˇrut, 1985, Bd. 2, S. 19.

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konnte bislang nicht festgestellt werden. Möglicherweise handelte es sich bei dem eingangs erwähnten »dal’nestroevskij-Orchester«, welches – laut Solzˇenicyn – schon im Mai 1938 existierte, bereits um diese »Kulturbrigade«. Die frühesten aufgefundenen Zeugnisse offizieller Herkunft über sie stammen aus dem Jahr 1942. Dabei handelt es sich zum einen um den Erlass des Sevvostlag-Leiters Ivan Nikisˇov vom 28. Juli 1942 über die Belohnung von Häftlingen, die in der Maglag-»Kulturbrigade« tätig waren. Es werden 37 Häftlinge genannt, die für eine gute Tournee auf der Kolyma mit Belobigungen in ihren Häftlingsakten ausgezeichnet werden sollten. Darunter befanden sich Kanan Novogrudskij, Jurij Rozensˇtrauch, Aleksandr Visˇneveckij, Sof’ja Gerbst, Ida Ziskina, Evgenija Vengerova und Evdokija Tarasova, die dem Leser im Kapitel über das Theater in Magadan wiederbegegnen werden. Für einige von ihnen wurde durch diesen Erlass die Haftzeit verkürzt.1362 Einen Eindruck vom Repertoire der »Kulturbrigade« vermitteln einige am Magadaner Theater (das den Namen Gor’kijs trug) erhalten gebliebene Konzertprogramme. So heißt es in einem Genehmigungsprotokoll zu dem »Konzert mit gemischtem Programm Nr. 2« vom 16. August 1942, welches um 20:30 Uhr begann: Das Konzert mit gemischtem Programm der SVITL-Brigade1363 wird zur Aufführung im Gor’kij-Kulturhaus zugelassen. Das Konzert entspricht den ideologischen Anforderungen und wird völlig zufriedenstellend vorgetragen.1364

Eröffnet wurde das Konzert von dem 1941 komponierten, im Tempo getragenen und im Charakter feierlichen Lied Kljatva narkomu (Eid dem Volkskommissar)1365 von Dmitrij Sˇostakovicˇ nach einem Text von Vissarion Sajanov, einem der ersten Lieder über den Zweiten Weltkrieg, in dem das Volk dem Volkskommissar Stalin den Sieg verspricht.1366 Darauf folgte eine Lesung des Essays Smert’ rabovladel’cam (Tod den Sklavenhaltern) von Aleksej Tolstoj sowie von zwei Kriegsgedichten. Im ersten – Ja e˙to videl (Ich habe es gesehen) von Il’ja Sel’vinskij – wurde ein Massengrab von Zivilisten beschrieben und als einzige mögliche Antwort darauf die Zerstörung der Faschisten gefordert. Auf diesen einleitenden ideologischen Teil, der zusammen mit dem ehemaligen Häftling 1362 GAMO: F. R-23, op. 1, d. 1228, l. 148, 149. 1363 So wurde die Maglag-»Kulturbrigade« ebenfalls bezeichnet. 1364 ;_^gVac `_ b]ViQ^^_Z `a_TaQ]]V RaYTQUl B39CýQ [ Yb`_\^V^Yo S U_]V [d\mcdal Y]. = . 4_am[_T_ aQXaViYcm. ;_^gVac YUV_\_TYhVb[Y SlUVaWQ^ Y S`_\^V dU_S\VcS_aYcV\m^_ Yb`_\^V^. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 13, l. 40, 41. 1365 Mit dem Volkskommissar ist in diesem Fall Stalin gemeint, der während des Zweiten Weltkriegs als Volkskommissar für Verteidigung fungierte. 1366 Ein Hörbeispiel ist verfügbar unter : http://www.sovmusic.ru/download.php?fname= klnarkom (letzter Zugriff am 21. Januar 2012).

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SemÚn Vilenskij als »Lokomotive« des Konzerts bezeichnet werden kann,1367 folgten Programmpunkte, die mit dem Kriegsgeschehen in keine Verbindung ˇ ajkovskijs Rokoko-Variationen für Cello und Klagebracht werden können – C vier, das Schaukellied aus Leh‚rs Operette Die lustige Witwe,1368 zwei jüdische Volkslieder und eine »akrobatische Etüde«. Vor der Pause erklangen dann wieder zwei Lieder über den Krieg – Nocˇ’ nad Belgradom (Nacht über Belgrad) ˇ apaeva (C ˇ apaevs Tod) von Jurij von Nikita Bogoslovskij von 19421369 und Gibel’ C 1370 Miljutin aus dem Jahr 1936. Während auf den Krieg bezogene Programmpunkte im ersten Konzertteil etwa die Hälfte ausmachten, war im zweiten Teil nur am Ende vor der Zugabe ein Kriegslied zu hören – Boevaja krasnoflotskaja (Kampflied der Roten Flotte) von ˇ echovs Schwank Jubilej (Jubiläum), zwei Jurij Miljutin.1371 Davor waren Anton C Solostücke für Violine – Zigeunerweisen von Pablo de Sarasate und eine Paraphrase über Die Nachtigall von Aleksandr Aljab’ev, ein Walzer aus der Operette Die blaue Mazur von Franz Leh‚r in der Ausführung des Balletts, die Arie der Butterfly von Giacomo Puccini, Die Nacht von Anton Rubinsˇtejn, die Arie der ˇ ajkovskij sowie zwei ErzähCarmen von Georges Bizet, Danse espagnole von C ˇ lungen Cechovs zu hören und zu sehen. Auf diese Weise bestand nur ein Viertel dieses Konzertprogramms aus Werken mit ideologischem Inhalt, was im Vergleich zu anderen Konzerten in Magadan jedoch bereits einen hohen Anteil ausmachte. Das gedruckte Programm dieses Konzerts verzeichnete keine Namen von Ausführenden, was sonst durchgehend am Magadaner Theater gemacht wurde. Dies ist ein Hinweis darauf, dass Häftlingsnamen in Programmen gerne verschwiegen wurden. Dieses Prinzip ließ sich jedoch nicht einhalten, wenn sowohl Häftlinge als auch zivile Personen an einem Programm beteiligt waren. Am 22. August 1942 wurde ein gekürztes und teilweise modifiziertes Programm dieses Konzerts am Theater gegeben, hierbei fielen die ideologischen 1367 Interview mit SemÚn Vilenskij, der seine Haft auf der Kolyma, jedoch nicht in Magadan verbüßte, am 4. Februar 2008 in Moskau. Diese Metapher ist so zu verstehen, dass ideologische Stücke in Konzerten notwendig waren. Es seien in jedem Konzert einige wenige davon gebracht worden, worauf Programmpunkte folgten, die nichts mit Ideologie zu tun hatten. Dass patriotische Chorlieder den obligatorischen Teil eines jeden Konzerts der »Laienkunst« ausmachten, berichtet auch Georgij Demidov. Demidov, »Klassiki literatury i lagernaja samodejatel’nost’«, 2002, S. 159. 1368 Dieses wurde von Friedrich Hollaender nachträglich in die Operette eingefügt. 1369 Hörbeispiel: http://www.sovmusic.ru/download.php?fname=belgrade (letzter Zugriff am 17. Januar 2012). Das Lied wurde für den gleichnamigen Film geschrieben und darin von Tat’jana Okunevskaja gesungen, die später im Lager inhaftiert war (vgl. Kapitel C und D). 1370 Http://www.sovmusic.ru/download.php?fname=g_chapai (letzter Zugriff am 17. Januar 2012). Im Magadaner Programm ist fälschlicherweise Grigorij Smetanin als Komponist angegeben. 1371 Http://sovmusic.ru/download.php?fname=boevaya1 (letzter Zugriff am 17. Januar 2012).

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Programmpunkte der Kürzung zum Opfer. Das Andante cantabile aus ˇ ajkovskijs Fünfter Sinfonie, arrangiert für ein Trio,1372 eine akrobatische Etüde, C jüdische Scherzlieder, ein Walzer, getanzt nach Musik von Leh‚r, sowie Erzähˇ echovs bildeten den ersten Teil. Im zweiten folgten auf Violinsoli von lungen C ˇ ajkovskijs, Pablo de Sarasate und Aleksandr Aljab’ev der Spanische Tanz C ˇ echovs.1373 Opern-Arien sowie das Vaudeville C Während diese beiden August-Programme keine Angaben zu den Ausführenden machen, verzeichnete sie der Leiter des KVO Maglag auf zwei weiteren erhalten gebliebenen Programmen, allerdings ohne Vornamen und ohne Initialen. Das erste Programm wurde am 31. Juli 1942 genehmigt und sollte ab dem 1. August gespielt werden. Es bestand aus drei Teilen und enthielt Kriegsgedichte und -lieder, die »choreografische Etüde« Poimka ˇspiona (Die Ergreifung eines Spions), cˇastusˇki, Jonglage, einen getanzten Walzer, den Auftritt eines Zauberers, den Marsch aus der Oper Die Liebe zu den drei Orangen von Sergej Prokof ’ev in der Ausführung des Klaviertrios Aleksandr Visˇneveckij, Kanan Novogrudskij und Sof ’ja Gerbst, ein Duett und eine Arie aus Zaporozˇec za Dunaem (Der Kosak aus Zaporozˇ’e) von SemÚn Gulak-Artemovskij mit Evgenija Vengerova und Nikolaj Sˇumskij als Ausführende, einen Cowboy-Tanz, Scherzlieder sowie weitere cˇastusˇki. Es traten ein Chor sowie ein Lied- und Tanz-Ensemble auf.1374 Beim zweiten Konzertprogramm mit Namen handelte es sich um ein Tageskonzert am 15. November 1942. Ursprünglich enthielt dieses Programm nur einen ideologischen Programmpunkt. Es begann mit Musik von Frantisˇek Drdla und Miron Poljakin für Violine und Klavier. Die Violine spielte jemand namens Zamyko, begleitet von Sof ’ja Gerbst am Klavier. Darauf folgten die »choreografische Etüde« Poimka ˇspiona, Operetten-Duette mit der aus der Haft bereits entlassenen Jadviga Zvodzinskaja und mit Georgij Nesterov, eine Lesung mit Jurij Rozensˇtrauch, Lieder von Aleksandr Grecˇaninov, Nikolaj RimskijKorsakov und Sidorov,1375 gesungen von Evgenija Vengerova, sowie Kubanskij tanec (Tanz der Kubankosaken) für acht Tänzer, komponiert von dem ehemaligen Häftling Michail Ljalin. Auf diesen ersten Teil folgte ein zweiter, der ausschließlich aus Jonglage, dem Auftritt von Akrobaten sowie der Vorführung eines Zauberers bestand.1376 Der Programmzettel zu diesem Konzert enthält ein Beispiel dafür, wie Programme zensiert wurden, und zwar in diesem Fall höchstwahrscheinlich vom Leiter des KVO Maglag, der das Programm unterzeichnete. Jurij Rozensˇtrauch 1372 1373 1374 1375

Die Besetzung geht aus dem Programm nicht hervor. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 13, l. 39. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 11, l. 42, 43. Der Vorname Sidorovs ist nicht im Programm vermerkt, weswegen eine Identifizierung unmöglich scheint, da dieser Nachname sehr stark verbreitet ist. 1376 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 1, l. 63.

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ˇ echov und Mark Twain lesen hatte nämlich ursprünglich Texte von Anton C wollen. Der Text von Twain wurde auf dem maschinenschriftlichen Programm per Hand durchgestrichen; stattdessen sollten das patriotische Gedicht Mat’ i syn (Mutter und Sohn) von Viktor Gusev sowie ein Stück mit dem Titel V Leningrade (In Leningrad) von M. Oliger, welches bei der Recherche für diese Arbeit nicht gefunden werden konnte, vorgetragen werden.1377 Wie ein weiterer Programmzettel verdeutlicht, wurde dieses Programm, ergänzt durch die Arie der Toska sowie die Arie der Odarka aus Zaporozˇec za Dunaem, auch am Abend des 15. und 16. November 1942 wiederholt.1378 Laut diesem Programmzettel waren nicht nur Häftlinge in der »Kulturbrigade« tätig, sondern in einem erheblichen Ausmaß auch ehemalige Häftlinge. Nicht immer ist den erhaltenen Programmen auf den ersten Blick zu entnehmen, dass sie von der »Kulturbrigade« realisiert wurden. Wenn Hinweise in der Überschrift fehlen bzw. auch die Unterschrift nicht auf die Herkunft aus dem Lager schließen lässt, bleibt nur der Blick auf die Aufführenden, wie beispielsweise bei dem Programm vom 19. Juli 1943. Es wurde vollständig von Häftlingen realisiert,1379 was darauf schließen lässt, dass es sich um ein Konzert der »Kulturbrigade« gehandelt haben muss. Es eröffnete Sof ’ja Gerbst mit einem Pr¦lude und einer Elegie von Sergej Rachmaninov, als Zugabe war ein Pr¦lude Aleksandr Skrjabins vorgesehen. Nikolaj Artamonov (vgl. Kapitel B.2, Abschnitt »Leonid Varpachovskij«) sang die Arie des Don Jos¦ aus Bizets Carmen und das Arioso des Canio aus Leoncavallos Pagliacci in Begleitung des Orchesters. Der Geiger oder die Geigerin Zamyko spielte Zigeunerweisen von Sarasate, Evgenija Vengerova sang Stücke von Bizet sowie das Lied Zabyt’ tak skoro (So schnell ˇ ajkovskij. Eine Lesung von vergessen) über die Vergänglichkeit der Liebe von C Jurij Rozensˇtrauch sowie ein Duett aus Giuseppe Verdis Aida beendeten den ersten Teil. Der zweite Teil begann mit dem Auftritt des Jazz-Orchesters, welches einen Amerikanischen Marsch vortrug. Irina Muchina tanzte den Danse espagnole von ˇ ajkovskij, Evdokija Tarasova und Serafima Mjaken’ko sangen cˇastusˇki. C Kanan Novogrudskij führte auf dem Cello ein Stück von Riccardo Drigo sowie einen Foxtrott auf. Am Ende des Konzerts gab es eine »östliche akrobatische Etüde« zu sehen sowie lyrische Lieder von Boris Fomin (vgl. die Komponistentabelle in Kapitel D), Isaak Dunaevskij (Lunnyj val’s [Mondwalzer] aus dem

1377 Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass Rozensˇtrauch selbst bei der Vorpremiere Änderungen vorgeschlagen hat. 1378 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 1, l. 65. 1379 Zehn der 13 beteiligten Künstler waren nachgewiesenermaßen Häftlinge, über die übrigen drei fehlen Informationen.

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Film Cirk [Zirkus; 1936]) und David Asˇkenazi (Tichij vecˇer [Stiller Abend]) zu hören.1380 In einem Bericht aus dem Jahr 1944 konstatierte die Leitung des Magadaner Theaters, dass die »Kulturbrigade« des Maglag einen bedeutenden Platz in der Arbeit des Theaters einnahm.1381 Im Juni 1947 schloss die »Kulturbrigade« einen Vertrag mit dem Theater (vgl. Kapitel B.2), welcher die Aufführung von acht Konzerten im Monat durch die »Kulturbrigade« am Theater regelte. Die daran beteiligten Häftlinge wurden von Wachen zum Theater gebracht und nach der Vorstellung wieder ins Lager abgeführt. In solchen Fällen traten sie nicht, wie von der Lagerhauptverwaltung vorgesehen, vor Mithäftlingen, sondern vor der zivilen Bevölkerung Magadans auf. Bei dieser Zusammenarbeit kam es zu einer engen Verflechtung zwischen den Häftlingen und der am Theater tätigen zivilen Bevölkerung, denn Maskenbildner, Requisiteure und Bühnenbildner des Gor’kij-Theaters wurden bei den Konzerten der »Kulturbrigade« zur Mitarbeit herangezogen. Auch konnte das Theater in Fällen einer zu starken Arbeitsbelastung bei den Aufführungen der »Kulturbrigade« das Lager dazu verpflichten, die Theaterwerkstätten durch Häftlinge aufzustocken.1382 Die Konzerte der »Kulturbrigade« waren derart erfolgreich, dass nach wenigen Monaten, im November 1947, ein neues Abkommen unterzeichnet wurde, welches die Häufigkeit der Auftritte der »Kulturbrigade« auf zwei bis dreimal pro Woche erhöhte. Und natürlich wurde für diese Konzerte Eintritt erhoben, an welchem sich sowohl das Theater als auch das Lager bereicherten.1383 Die »Kulturbrigade« trat aber auch schon vor der Unterzeichnung dieses Vertrags auf der Bühne des Theaters auf. Es gab Konzerte, bei denen das Orchester des Theaters zur Begleitung der »Kulturbrigade« herangezogen wurde, z. B. am 19. Mai 1943. Offensichtlich hatten die Konzerte der »Kulturbrigade« schon damals Erfolg, denn das Konzert vom 19. Mai wurde am 22. Mai 1943 wiederholt.1384 Aus dem Jahr 1944 ist ein Arbeitsplan der »Kulturbrigade« für die Zeit vom 17. bis 31. Juli erhalten geblieben, welcher die große Arbeitsbelastung der als Künstler beschäftigten Häftlinge vor Augen führt: An zwei Tagen trat die Brigade im Lagerpunkt Kilometer 72 (46) auf, an den vier darauffolgenden in Palatka (2), danach hatte es zwei Konzertabende am Magadaner Theater zu bestreiten. Nach

1380 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 18, l. 40. 1381 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 22, l. 27. Der Adressat des Berichts kann anhand des Dokuments nicht ermittelt werden. 1382 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 38, l. 124. 1383 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 38, l. 123. 1384 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 18, l. 51, 55 f.

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zwei freien Tagen folgten zwei, die für Proben reserviert waren, und schließlich drei Tage mit einem Schauspiel am Magadaner Theater.1385 Die Betrachtung der Konzertprogramme dieser »Kulturbrigade« hat gezeigt, dass sie nur selten ideologische Stücke aufgeführt hat. Auch wenn die aufgeführten Stücke dadurch, dass sie von Häftlingen realisiert wurden, auf eine gewisse Weise ideologisiert wurden, wäre eine ideologische Botschaft mit sowjetischem Repertoire viel effektiver zu vermitteln gewesen. Jedoch hatte die »Kulturbrigade« einen großen Erfolg bei den Zivilisten und sicherte somit dem Theater finanziellen Gewinn. Die »Kulturbrigade« der Bucht Vanino Häftlinge, die ihre Haftstrafe auf der Kolyma zu verbüßen hatten, wurden dorthin verschifft. Einen wichtigen Sammelpunkt, von wo aus die Schiffstransporte starteten, stellte das Lager in der Bucht Vanino im Fernen Osten der Sowjetunion dar, ca. 300 km südöstlich von Komsomol’sk-na-Amure am Ufer des Ochotskischen Meeres vor der Halbinsel Sachalin. Eines der berühmtesten Gulag-Lieder besingt diesen Hafen in der ersten Zeile – Ja pomnju tot Vaninskij port (Ich erinnere mich an jenen Hafen Vanino) (vgl. Kapitel C). Der Journalist Asir Sandler (vgl. Kapitel C, Abschnitt »Gedichte im Lager«), der in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre als Häftling nach Vanino gebracht wurde, nannte den dortigen Lagerleiter »ohne jegliche Ironie« einen Mäzen. Ohne auf die Begründung für die Verurteilung und die Haftdauer zu achten, so Sandler, nahm der Lagerleiter, der einen feinen Kunstgeschmack besaß, Künstler vom Transport und behielt sie in Vanino zurück.1386 Sie wurden in die »Kulturbrigade« von Vanino aufgenommen, die zeitweise bis zu vierzig Personen umfasst haben soll. Zu ihr gehörten der Geiger Evald Turgan vom Konservatorium in Tallinn und sein Begleiter, der Komponist Artur Tormi, Solisten der Operntheater von Kujbysˇev, Sverdlovsk und anderen Städten, die Geiger Georgij Fel’dgun und Vladimir Vavrzˇikovskij sowie weitere Instrumentalisten.1387 Über einige von ihnen ist im Kapitel über das Magadaner Theater mehr nachzulesen. Sandler arbeitete in der »Kulturbrigade« als Conf¦rencier und schrieb Sketche und Liedtexte über den Fernen Osten, die von Georgij Fel’dgun vertont wurden.1388 Seinen Erinnerungen lässt sich des Weiteren entnehmen, dass die »Kultur1385 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 24, l. 51. 1386 Dies bezeugt auch der Geiger Georgij Fel’dgun und gibt den Namen des Lagerleiters mit Kotov an. Fel’dgun, »Zapiski lagernogo muzykanta«, 1997, S. 334. 1387 Sandler, Asir: Uzelki na pamjat’. Zapiski reabilitirovannogo, 1988, S. 22 – 24. 1388 Fel’dgun, »Zapiski lagernogo muzykanta«, 1997, S. 335; Sandler/E˙tlis, Sovremenniki GULAGa, 1991, S. 304.

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brigade« gut gekleidet war sowie mehrere perfekt einstudierte Programme im Repertoire hatte. Eines Tages soll sie nach Sovgavan’ (Sovetskaja gavan’, ca. 20 km südlich von Vanino) gebracht worden sein, um dort aufzutreten. Es stellte sich heraus, dass Offiziere und Kapitäne unter den Zuhörern anwesend waren. Am Ende des Konzerts erhob sich das Publikum geschlossen und applaudierte lange. Im Anschluss wurde ein Empfang veranstaltet, an dem auch die Mitglieder der »Kulturbrigade« teilgenommen haben und wie alle anderen bedient wurden. Lagerpersonal oder gar Wachen waren dabei nicht anwesend. Nachdem mit Champagner angestoßen worden war, soll sich ein Kapitän mit den folgenden Worten für das Konzert bedankt haben: »Haben Sie Dank für alles, liebe Genossen.« Die beteiligten Häftlinge hatten die Anrede »liebe Genossen« seit vielen Jahren nicht mehr gehört, sodass Asir Sandler dieses Erlebnis für immer im Gedächtnis behalten hat.1389 Auch wenn es sich dabei um eine Ausnahmesituation gehandelt hat, demonstriert diese Erinnerung doch deutlich, dass die in »Kulturbrigaden« eingesetzten Häftlinge bevorzugt behandelt werden konnten. Ein Mitglied der »Kulturbrigade« von Vanino, der Geiger Georgij Fel’dgun, hat ebenfalls Erinnerungen hinterlassen, die auszugsweise unter dem Titel Zapiski lagernogo muzykanta (Notizen eines Lagermusikers) veröffentlicht worden sind.1390 Fel’dgun war, wie der bereits erwähnte Geiger Veniamin Bromberg (vgl. Kapitel A.1 und C, Abschnitt »Im Gulag gedichtete und komponierte Lieder«), Schüler von PÚtr Stoljarskij aus Odessa. Seine Haftdauer von insgesamt sieben Jahren beurteilte er im Nachhinein als relativ kurz. Dabei muss bedacht werden, dass er bei der Verhaftung erst 20 Jahre alt gewesen war. Alles hat er, so der Zeitzeuge, während der Haft erlebt – Hunger, Kälte und Erniedrigung, aber er hat auch die »für einen Häftling seltenste« Möglichkeit gehabt, durch Kunst und Musik der Wirklichkeit zu entfliehen. Kunst und vor allem Musik haben ihm, so Fel’dgun, geholfen, die Dunkelheit und die Hoffnungslosigkeit des Lagerdaseins zu überwinden. In der Atmosphäre der Verrohung, der tiefen Erniedrigung der Menschenwürde und der Entwertung des menschlichen Lebens haben die Mitglieder der »Kulturbrigade« es vermocht, bei den zuhörenden Häftlingen einen Funken Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu entfachen.1391 Fel’dgun war in den Jahren 1947 bis 1949 als künstlerischer Leiter der »Kulturbrigade« von Vanino tätig, die offiziell »Zentrale Agitationsbrigade« des Dal’stroj hieß. Dazu gehörten ein Jazz-Orchester sowie eine Schauspieltruppe. Zu den Musikern der »Agitationsbrigade« zählten, nach Erinnerungen des 1389 Sandler, Uzelki na pamjat’, 1988, S. 24 f. 1390 Fel’dgun, »Zapiski lagernogo muzykanta«, 1997. 1391 Fel’dgun, »Zapiski lagernogo muzykanta«, 1997, S. 330 f., 333, 340.

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Geigers, die Saxophonisten Reinhold Kuusik aus Estland, Nikolaj Dajneka und Aleksandr Val’ter, der sein Instrument phänomenal gut beherrscht haben soll, die bereits genannten Geiger Evald Turgan und Vladimir Vavrzˇikovskij, zwei Trompeter, von denen einer den Nachnamen Smagin trug, zwei Akkordeonisten, darunter der ebenfalls schon erwähnte Komponist Artur Tormi, der Tubist Vasilij Vorozˇejkin sowie der Schlagzeuger Alik sˇpil’man. Als Sänger traten der ehemalige Solist der Operette von Kujbysˇev, Jurji Muchin (Bariton), und der ehemalige Solist der Rigaer Oper, Senja Maljuk (Tenor), auf.1392 Fel’dgun berichtet, dass die »Agitationsbrigade« sehr viel unterwegs war, um Konzerte zu geben und dabei, verglichen mit dem Leben anderer Häftlinge, relativ große Bewegungsfreiheit genoss. Das 40 bis 50 Mann große Ensemble wurde lediglich von einem Wachposten begleitet, welcher seine Waffe im Trompetenkoffer versteckt hatte, um nicht aufzufallen. Zu den Auftrittsorten gehörten das Haus der Offiziere in Sovetskaja gavan’, Dal’stroj-Schiffe sowie Kulturhäuser in Fischereiorten. Die Brigade besaß einen eigenen Eisenbahnwagen, mit dem sie auf der Strecke zwischen Vanino und Komsomol’sk-naAmure hin und her fuhr, um in anliegenden Ortschaften Konzerte zu geben, sowohl in Lagern, wo sie unter anderem für Häftlinge musizierte, als auch außerhalb, beispielsweise für die Ureinwohner dieser Gegend. Einerseits führte sie das Leben einer künstlerischen Boheme, andererseits aber das einer Eintagsfliege, die jederzeit wegtransportiert und in die gefürchteten Lager auf der Kolyma überstellt werden konnte. In Bezug auf das Repertoire der »Agitationsbrigade« berichtet Fel’dgun, dass ˇ alov, Jazz-Partituren für sie der Leiter der Politverwaltung der Bucht Vanino, C besorgte, und zwar über Matrosen, die nach Kanada und in die USA segelten. Darunter befanden sich Stücke aus dem Repertoire von Glenn Millers Orchester. Um dafür nicht belangt zu werden, dass das Repertoire aus zu vielen amerikanischen Stücken bestand, so Fel’dgun, wurde auch sowjetische Musik gespielt, darunter eine Jazz-Bearbeitung von Aram Chacˇaturjans Säbeltanz und Lieder aus dem Film Cirk von Isaak Dunaevskij. Als Vorbild für seine Arbeit mit der Brigade diente dem Geiger das Orchester von Eddie Rosner. Es wurden aber nicht nur Jazz-Stücke, sondern auch Opern- und Operetten-Arien vorgetragen.1393 Die »Kulturbrigade« von Vanino wurde abgeschafft, so Asir Sandler, als der Lagerleiter, welcher sich als Mäzen betätigt hatte, versetzt wurde. Die Mitglieder des Ensembles sind auf die Kolyma transportiert worden. Dort eilte ihnen je-

1392 Fel’dgun, »Zapiski lagernogo muzykanta«, 1997, S. 335. 1393 Fel’dgun, »Zapiski lagernogo muzykanta«, 1997, S. 335 – 338.

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doch ein so guter Ruf voraus, dass alle, wie Asir Sandler sich erinnerte, in »Kulturbrigaden« unterkommen konnten.1394 »Laienkunstschauen« im Sevvostlag In der Direktive des KVO GULAG an alle Gulag-Leiter vom 26. März 1942, also in der bedrohlichen Situation des Zweiten Weltkriegs, welcher eine schlechtere Versorgungslage im Gulag mit sich brachte, ist überraschenderweise die Anweisung zur Durchführung von »Laienkunstschauen« in den Lagern im Mai 1942 zu lesen. Die Programme dieser »Schauen« sollten die konkrete Arbeitsund Lebenssituation im betreffenden Lager beleuchten, wobei die Freiräume der 1920er-Jahre hierbei nicht gegeben waren. In den 1940ern beschränkten sich diese Programmpunkte vorwiegend auf Produktionsergebnisse. Gleichzeitig sollten für die »Schauen« »Kultureinrichtungen« der Lager, darunter Klubhäuser, Kantinen, »Kulturecken« und Sommerbühnen renoviert sowie das Kulturinventar repariert werden.1395 Weniger als ein Jahr darauf, im Januar 1943, befahl der KVO GULAG wiederum die Durchführung einer »Laienkunstschau«. In einem Rundschreiben an die KVO-Leiter aller Lager hieß es, dass die »Laienkunst« in einer Reihe von Lagern nicht zielgerichtet ausgeübt wurde und sich zu wenig auf die Politik sowie die Arbeitsprozesse im Lager bezog. Sie wurde »reine Kulturerei«, welche »vom Leben losgelöst« war, genannt. Um die »Laienkunst« zu verbessern, sollten im ersten Quartal 1943 in allen Lagern »Laienkunstschauen« durchgeführt werden. Dabei sollten die Programmpunkte möglichst »nicht sehr anspruchsvoll, leicht aufzuführen, anschaulich, eingängig und für das Publikum interessant« sein.1396 Ob im Jahr 1942 eine »Laienkunstschau« im Sevvostlag durchgeführt wurde, geht aus den vorliegenden Unterlagen nicht hervor. Anfang 1943 hat es hier jedoch tatsächlich, wie weiter oben beschrieben, »Laienkunstschauen« für »Laienkunstzirkel« gegeben. Im April 1943 wurde dann eine »Schau der zentralen Kulturbrigaden« durchgeführt.1397 Wie in Kapitel A.1 erwähnt, war das Phänomen der »Laienkunst« in der zivilen Gesellschaft der Sowjetunion weit verbreitet. Vergleichbar mit den »Laienkunstschauen« des Lagers fanden auf der Kolyma »Olympiaden der Laienkunst« für die zivile Bevölkerung statt, z. B. im März 1940 die II. Kolymsker

1394 1395 1396 1397

Sandler, Uzelki na pamjat’, 1988, S. 25. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1439, l. 52. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1449, l. 6. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1462, l. 192ob, 193.

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»Olympiade für Laienkunst«,1398 zu der »Laienkunstzirkel« von der gesamten Kolyma nach Magadan anreisten. Mehrere Tage lang bestritten sie hier Konzerte mit bunten Programmen, die beispielsweise eine georgische Lesginka, BalalaikaSoli und Theaterstücke von Aleksandr Ostrovskij beinhalteten. Teilnehmer dieser Olympiade waren Angestellte ziviler Organisationen, Mitglieder der VOChR (der Lager-Wachmannschaften) sowie in Magadan stationierte Soldaten. Auch fanden eigens für Kinder »Olympiaden des künstlerischen Schaffens« statt, bei denen Rezitatoren, Tänzer, Sänger und Chöre auftraten, z. B. im Sommer 1941.1399 »Laienkunstschauen« für die zivile Bevölkerung wurden, so wie in den Lagern, auch während des Krieges durchgeführt. So fand im Frühjahr 1944 die IV. »Laienkunstschau der Dal’stroj-Arbeiter« statt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden solche »Schauen« jährlich veranstaltet.1400 Über die im April 1948 stattgefundene »Laienkunstschau« berichtete das Sevvostlag an den KVO GULAG, dass die aktuelle Thematik der heroischen Arbeit der Sowjetmenschen und ihres Strebens, den Fünfjahresplan in vier Jahren zu schaffen, sowie Werke russischer und ausländischer Klassiker sich der größten Beliebtheit auf Lagerbühnen erfreut haben. Auch Volkskunst (Lieder, Tänze, Erzählungen) und Stücke über die Situation vor Ort sollen wichtig gewesen sein. Hervorgehoben wurde die Arbeit der »Kulturbrigade« des Sevlag, welche die Inszenierung Garmon’ (Harmonika) nach Aleksandr Tvardovskij mit Musik, Tänzen und Liedern sowjetischer Komponisten vorgetragen hatte. Auch wurden die Leistungen des neuen ME˙T [Magadanskij e˙stradnyj teatr – Magadaner Estrade-Theater] gewürdigt: zwei Konzertprogramme sowie die Operette Odinnadcat’ neizvestnych (Die elf Unbekannten) von Nikita Bogoslovskij (vgl. Kapitel B.2, »Das neue ME˙T«). Es hatten sich 78 »Laienkunstzirkel« und zwölf »Kulturbrigaden« an der »Schau« beteiligt.1401 In einem Resümee über die V. »Laienkunstschau« des Sevvostlag vom 15. Juli 19501402 fasste der stellvertretende Leiter des Dal’stroj, Andrej Derevjanko, zusammen, dass die Programme der »zentralen Kulturbrigaden« sowie der »Laienkunstzirkel« sich verbessert hätten. Die meisten Programme enthielten politisches Material gegen die USA – die »neuen Kriegstreiber« und das »Zentrum der Reaktion«. Gleichzeitig seien die »heroisch arbeitenden Sowjetmenschen, 1398 Informationen darüber sind entnommen aus: Paremskij, V.: »Vtoraja Kolymskaja olimpiada chudozˇestvennoj samodejatel’nosti«, in: Sovetskaja Kolyma, 8. März 1940 (Nr. 57), S. 4. 1399 Smolina, Tamara: »I grjanula vojna…«, in: Vecˇernij Magadan, 17. Juni 1994, S. 1. 1400 GAMO: F. R-23, op. 1, d. 1483, l. 125 – 127; F. R-23, op. 1, d. 2546, l. 53 – 56; F. R-23, op. 1, d. 2541, l. 169 – 171, 257, 258. 1401 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1531, l. 23, 62. 1402 GAMO: F. R-22, op. 1, d. 3, l. 18 – 21.

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die Führungsrolle der Partei, die Völkerfreundschaft, die stete Vorwärtsbewegung der Sowjetgesellschaft, der Patriotismus der Sowjetmenschen im Zweiten Weltkrieg sowie ihre Liebe zur Heimat und zum Großen Stalin« oftmals thematisiert worden. Auch sind lokale Ereignisse im Arbeitsprozess sowie im Alltag inszeniert worden, darunter die Errungenschaften der »Bestarbeiter« oder aber das Verhalten der Arbeitsverweigerer, Simulanten und solcher, welche die Vorschriften über die Disziplin nicht einhielten. Im Widerspruch dazu steht die Aussage des Leiters des KVO Sevvostlag, welcher über die 1950 durchgeführte Arbeit berichtete, dass der Lageralltag selten auf den Lagerbühnen thematisiert werde.1403 Besonders hob Derevjanko die Aufführung folgender Operetten hervor : der Gemeinschaftskomposition von Viktor Vitlin, Lev Kruc und Nikolaj Minch Raskinulos’ more ˇsiroko (Meer soweit das Auge reicht) über das im Zweiten Weltkrieg belagerte Leningrad, Na beregu Amura (Am Ufer des Amur) von Matvej Blanter, Svad’ba v Malinovke (Hochzeit in Malinovka) von Boris Aleksandrov, Akulina von Iosif Kovner, Vernyj drug (Der treue Freund) von Vasilij Solov’Úv-Sedoj, Vol’nyj veter (Der freie Wind) von Isaak Dunaevskij, Sorocˇinskaja jarmarka (Der Jahrmarkt von Sorocˇincy) von Aleksej Rjabov sowie der Oper Zaporozˇec za Dunaem (Der Kosak aus Zaporozˇ’e) von SemÚn Gulak-Artemovskij. An aufgeführten Liedern nannte er Kantata o Staline (Kantate über Stalin) von Aleksandr Aleksandrov,1404 Gimn demokraticˇeskoj molodÚzˇi (Hymne der demokratischen Jugend) von Anatolij Novikov,1405 Pesnja o Rodine (Lied über die Heimat) von Isaak Dunaevskij,1406 Leninskie gory (Die Lenin-Berge) von Jurij Miljutin,1407 V zasˇcˇitu mira (Zum Schutz des Friedens) von Viktor Belyj1408 sowie russische Volkslieder aus dem Repertoire des Pjatnickij-, des Severnyj- sowie des Voronezˇskij-Chores und des Ensembles der Sowjetarmee. In Auszügen waren die Ballette Der rote Mohn von Rejngol’d Glier sowie ˇ ajkovskij zur Aufführung gekommen, Schwanensee und Dornröschen von C ˇ Kammermusikstücke von Cajkovskij, Glinka, Rimskij-Korsakov, Musorgskij, Borodin, Dvorˇak, Bedrˇich Smetana, Chopin und Liszt sowie sinfonische Werke von Sˇostakovicˇ, Chacˇaturjan, Dunaevskij und Solov’Úv-Sedoj. Einen besonderen Platz, so Derevjanko, nahmen in den Programmen Tänze der Völker der Sowjetunion und der volksdemokratischen Länder ein, darunter russische, 1403 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1612, l. 82. 1404 Hörbeispiel: http://sovmusic.ru/download.php?fname=kantata1 (letzter Zugriff am 16. Januar 2012). 1405 Http://sovmusic.ru/download.php?fname=gimndem2 (letzter Zugriff am 16. Januar 2012). 1406 Http://sovmusic.ru/download.php?fname=shstran2 (letzter Zugriff am 16. Januar 2012). 1407 Http://sovmusic.ru/download.php?fname=leningo2 (letzter Zugriff am 16. Januar 2012). 1408 Http://sovmusic.ru/download.php?fname=vzashit1 (letzter Zugriff am 16. Januar 2012).

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ukrainische, belorussische, georgische, usbekische, tatarische, lettische, polnische und ungarische. Die »Schau« hat dazu beigetragen, dass 17 neue Zirkel gegründet worden waren sowie das Niveau der »Klubarbeit« angestiegen war. Zehn »zentrale Kulturbrigaden« und 67 »Laienkunstzirkel« haben an der »Schau« teilgenommen, darunter Schauspiel-, Konzert-, Chor-, Streicher-, Bläser- und EstradeZirkel. Trotz der insgesamt erfolgreich verlaufenen »Schau« stellte Derevjanko auch Mängel fest: Transportprobleme, die dazu führten, dass einige Zirkel nicht auftreten konnten, fehlende »Kulturecken«, vor allem im Indlag, wo nur vier Lagerpunkte über »Laienkunstzirkel« verfügten, mangelhafte »Kulturarbeit« auch in anderen Lagerabteilungen und schlechte Requisiten trotz vorhandener Möglichkeiten, sie zu verbessern. Einige Zirkel hätten sich mit rein unterhaltendem Programm ohne politisches und erzieherisches Material begnügt, darunter die Lagerpunkte El’gen, Lagerpunkt Nr. 2 des Translag und die »Kulturbrigade« des Juzlag. Den letzten Kritikpunkt benannte auch der Leiter des KVO Sevvostlag in seinem halbjährlichen Bericht an den KVO GULAG. Er verband dies mit der Feststellung, dass die Verbesserung des Repertoires zum großen Teil davon abhing, wie regelmäßig die Lager auf der Kolyma mit aktuellen Schauspielen und Musikstücken beliefert wurden: In der Regel vergehe viel Zeit, bis aktuelles Aufführungsmaterial dort eintreffe.1409 Derevjanko befahl in seinem Resümee über die V. »Laienkunstschau« der Dal’stroj-Lager, wegen des hohen erzieherischen Wertes der »Laienkunst« die positiven Resultate der »Schau« zu sichern, Mängel zu beseitigen sowie möglichst viele Häftlinge zur Arbeit in den Zirkeln heranzuziehen. Zur Verbesserung des Repertoires sollten Werke beitragen, welche »die unerschütterliche Kraft der Sowjetgesellschaft in ihrer unablässigen Vorwärtsbewegung«, »den Kampf des Sowjetvolkes um den Frieden in der ganzen Welt gegen die Kriegstreiber«, den Patriotismus der Sowjetmenschen und ihre »Liebe und Treue gegenüber der geliebten Heimat und dem großen Stalin« widerspiegelten.1410 Stücke über den Arbeitsprozess und den Lageralltag sollten für alle »Kulturbrigaden« und »Laienzirkel« verbindlich werden. Begabte Schauspieler, Sänger und Musiker, die im Laufe der V. »Schau« ermittelt werden konnten, sollten in die »zentralen Kulturbrigaden« aufgenommen werden. »Bestarbeiter« sollten im Laufe der Waschsaison mehr kulturelle Veranstaltungen besuchen können als bislang. Neue Zirkel sollten geschaffen werden, damit ein jeder Lagerpunkt über einen Schauspiel-, einen Chor- und einen Musikzirkel verfügte. In 1409 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1612, l. 47. 1410 GAMO: F. R-22, op. 1, d. 3, l. 21.

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jedem Lagerpunkt sollte es verbindlich eine »Kulturecke« mit entsprechender »Kulturarbeit« geben. Vom 1. April bis 20. Mai 1951 fand die VI. »Laienkunstschau« des Sevvostlag mit Beteiligung aller zwölf »zentralen Kulturbrigaden« und 85 Prozent aller »Laienkunstzirkel« statt. Als wichtigste Mängel stellte sich dem Leiter des KVO Sevvostlag die Tatsache dar, dass die meisten Lagerpunkte über keinen Klub verfügten und dass vielfach Aufführungsmaterial, Musikinstrumente und Requisiten fehlten.1411 Thematisch soll das aufgeführte Material von der »heroischen Arbeit der Sowjetmenschen«, der »Führungsrolle der Partei Lenins und Stalins«, der »Freundschaft der Völker der UdSSR«, dem Patriotismus sowie der Ergebenheit der Sowjetmenschen der Heimat und dem »großen Stalin« gegenüber gehandelt haben. Besonderes Gewicht lag auf Stücken, die sich gegen die neuen »Kriegstreiber« USA und Großbritannien richteten. Viele Programme hatten jedoch einen zu unterhaltenden Charakter, was der Leiter des KVO Sevvostlag als negativ bewertete.1412 Im Bericht für den KVO GULAG über die VI. »Laienkunstschau« ist zum ersten Mal in den vorliegenden Dokumenten von Prämien für die besten Kollektive die Rede. Der erste Preis, verbunden mit einem Lebensmittelpaket im Wert von 4.000 Rubeln, ging an die »Kulturbrigade« des Maglag für ein Konzertprogramm sowie eine Komödie. Der zweite Preis und Lebensmittel im Wert von 2.000 Rubeln ging an die »Kulturbrigade« des Sevlag für die literarischmusikalische Montage Volzˇskaja zˇemcˇuzˇina (Die Perle der Wolga). Der dritte Preis und Lebensmittel im Wert von 1.700 Rubeln sind der »Kulturbrigade« des Indlag für die literarisch-musikalische Montage Mir pobedit vojnu (Der Frieden wird den Krieg besiegen) zuerkannt worden. Eine Reihe von »Laienkunstzirkeln« sind mit Urkunden und Lebensmitteln im Wert von je 1.000 Rubeln prämiert worden.1413 Am 21. März 1952 erging ein Erlass des stellvertretenden Dal’stroj-Leiters Zˇukov über die Durchführung der VII. »Laienkunstschau«.1414 Sie sollte dazu beitragen, die »Laienkunst« in den Lagern weiterzuentwickeln, sowie dazu, ihr ideelles und künstlerisches Niveau zu steigern. Als Zeitrahmen dafür wurden zwei Monate ab dem 1. April 1952 festgelegt. Die Ausschüsse, die über die Platzierung der Künstler entschieden, setzten sich aus dem stellvertretenden ˇ -Leiter des Lagers, den Leitern der LagerabLagerleiter, dem KVO- bzw. KVC teilungen sowie aus »Vertretern von gesellschaftlichen Organisationen« zu1411 1412 1413 1414

GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1631, l. 28. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1631, l. 145 f. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1631, l. 145 f. GAMO: F. R-23, op. 1, d. 4077, l. 383 f.

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sammen. Diese Ausschüsse sollten auch für die konkrete Durchführung der »Schau« Sorge tragen, indem sie z. B. neue Zirkel initiierten, die eingereichten Programme zensierten oder die Zirkel nach den Konzerten ausführlich berieten.1415 Die Leiter der Lagerabteilungen wurden dazu angehalten, unverzüglich mit den Vorbereitungen zur »Schau« zu beginnen, indem sie »Laienkunstzirkel« und »Kulturbrigaden« mit dem nötigen Personal und mit Requisiten ausstatteten sowie ihnen einen Auftrittsraum zur Verfügung stellten. Als Preise wurden festgelegt: für die besten reisenden »Kulturbrigaden« jeweils einmal 5.000, 3.000 und 2.000 Rubel, für die besten »Laienkunstzirkel« zweimal 3.000, dreimal 2.500 und viermal 1.500 Rubel.1416 Als Fazit über die »Laienkunstschauen« kann festgestellt werden, dass ihr Ziel die Verbesserung des Repertoires der »Laienkunstzirkel« und »Kulturbrigaden« im Sinne der Lagerleitung gewesen war. Sie sollten für mehr ideologische Programmpunkte sorgen und die Häftlinge zur Disziplin, zum Patriotismus und zum besseren Arbeiten animieren. Sie waren mit einem erhöhten finanziellen Aufwand für die Vorbereitungen und für Prämien verbunden. Bis zu einem gewissen Grad mag die »Verbesserung« des Repertoires dadurch gelungen sein, jedoch zeigte sich der KVO Sevvostlag insgesamt unzufrieden damit, und das bis zur Auflösung des Lagers.

Die Theater in Magadan in den 1930er- bis 1950er-Jahren Im Folgenden soll am Beispiel der Theater in der Stadt Magadan die These, die im Laufe dieser Abhandlung bereits mehrfach angesprochen wurde, untermauert werden: Die Mitwirkung von Häftlingen am Musikleben lagernaher Städte (im folgenden Lagerstädte genannt) trug zu einer engeren Verbindung zwischen der Lager- und der zivilen Gesellschaft bei. Grund dafür war die Zusammenarbeit von Häftlingen, ehemaligen Häftlingen und zivilen Personen an Theatern, in Musikzirkeln, Orchestern und ähnlichen Institutionen. Während der Aufführungen und Konzerte wurde auch die nicht in diesen Institutionen tätige zivile Bevölkerung der Stadt oder Siedlung in die Verflechtung miteinbezogen, indem sie in der Rolle des Zuschauers mit Häftlingen auf der Bühne konfrontiert wurde. Während der Tourneen, die Theatertruppen unternahmen, wurde die Verflechtung zudem räumlich ausgedehnt. Der positive Kontext, in 1415 GAMO: F. R-23, op. 1, d. 4077, l. 385 – 387. 1416 Zum Vergleich sei erwähnt, dass bei der »Laienkunstschau« der Lager und Kolonien der Georgischen Sowjetrepublik im August 1956 der beste Beitrag lediglich mit einem Akkordeon prämiert wurde. GARF: F. R-9414 s, op. 6, d. 66, l. 11.

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dem die zivile Bevölkerung Häftlingen im Musikleben begegnete, hatte zur Folge, dass sie die Existenz der Lager in der direkten Nachbarschaft sowie die Präsenz von Häftlingen im Alltag selbstverständlicher akzeptieren konnte. Um diese These zu untermauern, soll die historische Entwicklung der Magadaner Theater anhand von Archivmaterialien des Gor’kij-Theaters, des Dal’stroj und des Sevvostlag, anhand der regionalen Presse sowie der Erinnerungen von Zeitzeugen nachgezeichnet werden. Schwerpunktmäßig werden die administrativen Grundlagen der Theater und die dort tätigen Künstler behandelt. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Konzertprogramme, weil es durch ihre Betrachtung möglich wird, das Musikleben in der Lagerstadt Magadan detailliert zu rekonstruieren und damit deren »akustische Geschichte« darzulegen. Die ersten bekannten Musiker in Magadan Trotz größter Schwierigkeiten bezüglich der Unterbringung und der Versorgung der Menschen in dieser noch unzureichend erschlossenen und klimatisch sehr widrigen Gegend gab es in Magadan bereits 1933, wie weiter oben erwähnt, zwei Klubhäuser,1417 in denen sowohl Theaterstücke aufgeführt als auch Konzerte gegeben wurden. Eines der Klubhäuser gehörte dem Sevvostlag und wird retrospektiv in der Chronik des Dal’stroj in der Zeitschrift Kolyma von 1936 als das Magadaner Theater des USVITL NKVD bezeichnet.1418 Mehr als die Hälfte der dort tätigen Künstler – es waren über 20 Personen – waren Häftlinge, die vor der Lagerhaft zum großen Teil an professionellen Theatern beschäftigt gewesen waren.1419 Zu den ersten Künstlern des Klubhauses gehörte der Schauspieler und Musiker Sergej Lochvickij,1420 einer der ersten 20.000 Häftlinge des Sevvostlag, die am 15. Juli 1933 in die Bucht Nagaevo gebracht worden waren. Nachdem Lochvickij die ersten zwei Jahre seiner Lagerhaft im Klubhaus des Sevvostlag gearbeitet hatte, wurde er 1936 nach Orotukan (40) überstellt und leitete dort einen Chor- sowie einen Musikzirkel. 1937 wurde er in den Lagerpunkt Neriga mit besonders strengem Regime eingeliefert, wo er neben seiner eigentlichen Aufgabe als Kantinenmitarbeiter einen Chor und ein Jazz-Or1417 1418 1419 1420

GAMO: F. R-23, op. 1, d. 45, l. 164, 166. Kolyma, Nr. 4 (Oktober – November), 1936, S. 130. Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 7. Lochvickij (1895 – 1942) war vom Sonderkollegium des OGPU nach § 58 – 11 und § 58 – 2 zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt worden, doch sein Leben auf der Kolyma gestaltete sich, trotz der Tatsache, dass er zu den »Konterrevolutionären« gehörte, zunächst positiv : Er durfte als Künstler arbeiten und lebte nicht in der Lagerzone; sogar seine Frau durfte zu ihm ziehen. Vor der Verhaftung war Lochvickij ca. ein Jahr lang als Schauspieler und musikalischer Leiter am Moskauer Synthetischen Theater tätig gewesen. Birjukov, Aleksandr: Zˇizn’ na kraju sud’by, 2005, S. 14, 16 f.

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chester betreute. Trotz dieser privilegierten Stellung starb Lochvickij, der ein »ausgezeichneter Pianist« gewesen sein soll, Ende der 1930er- oder Anfang der 1940er-Jahre im Lager.1421 Für die musikalische Gestaltung im Klubhaus des Sevvostlag war bis 1936, davon zwei Jahre lang als Häftling, Oleg Dolgorukij zuständig.1422 Die erste, Anfang 1936 in Magadan aufgeführte Operette Kak eÚ zovut (Wie sie heißt od. Wie sie gerufen wird) ist von ihm komponiert worden.1423 Nach seiner Freilassung arbeitete er noch ein Jahr lang als Zivilangestellter im Klubhaus und verließ im April 1936 die Kolyma.1424 Über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt. Ein weiterer Musiker in Magadan, welcher zu den ersten Häftlingen dort gehört hatte, war Sergej Konsˇin. Über ihn erzählt sein Sohn in einem Artikel für die Zeitung Magadanskaja pravda (Magadaner Wahrheit) aus dem Jahr 1991. Er erwähnt darin Briefe seines Vaters aus der Lagerhaft, welche jedoch zumindest damals noch nicht ediert waren.1425 In Magadan wurde Konsˇin zunächst als Verantwortlicher für das Musikprogramm beim Rundfunk beschäftigt. Nach der Absetzung des ersten Dal’stroj-Leiters, E˙duard Berzin, im Jahr 1937 wurde er aber zu allgemeinen Arbeiten abkommandiert und musste neun Jahre lang Telefonleitungen auf der Kolyma verlegen. In die Stadt Magadan kehrte er erst 1946 zurück und konnte dann endlich wieder Klavier spielen und als Pianist auftreten.1426 1421 Birjukov, Zˇizn’ na kraju sud’by, 2005, S. 20 – 22. 1422 Dolgorukij (*1905) stammte aus einer Sankt Petersburger Adelsfamilie, hatte seit 1919 im Ausland gelebt und eine Hochschulausbildung als Pianist und Dirigent in Los Angeles erhalten. 1930 kehrte er nach Russland zurück und wurde zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt. Als Begründung für die Verurteilung nennen die Quellen einerseits seine adelige Abstammung und andererseits § 58. Im August 1932 wurde er auf die Kolyma transportiert. Birjukov, Zˇizn’ na kraju sud’by, 2005, S. 19; Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 69. 1423 Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 48, 69. 1424 Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 69. 1425 Sergej Konsˇin (1908 – 1964) hatte die Moskauer Skrjabin-Musikfachschule und im Anschluss daran das Konservatorium in der Klasse des Pianisten Konstantin Igumnov absolviert. Zu seinen Freunden gehörten damals Lev Oborin und Dmitrij Kabalevskij. Im Dezember 1932, im Alter von 24 Jahren, wurde Konsˇin zusammen mit seiner Mutter und seinen drei Brüdern verhaftet und wegen seiner Abstammung zu Lagerhaft verurteilt: Sein Vater, der noch vor der Revolution starb, war nämlich ein Fabrikbesitzer gewesen. Konsˇin, Michail: »Pis’ma moego otca«, in: Magadanskaja pravda, 28. Februar 1991, S. 3. 1426 Nach der Haft ließ er sich mit seiner Familie in Kirovograd im Uralgebirge nieder, wo er als Chorleiter und Konzertmeister arbeitete. 1950 wurde er jedoch erneut verhaftet; seine Frau blieb mit drei kleinen Kindern zurück. Diesmal kam Konsˇin mit einer Verbannung davon: Er musste nach Petropavlovsk im Norden Kasachstans ziehen, und seine Familie konnte ihm nachfolgen. Hier arbeitete er an der Musikschule und der pädagogischen Fachschule. Obwohl die Wohnbedingungen während dieser Zeit beengt waren, versammelte er oftmals Freunde zu privaten Musikabenden in seiner Wohnung. Bis 1957 musste er sich wöchentlich bei der örtlichen Abteilung des MVD registrieren lassen, bis er schließlich rehabilitiert

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Die Anfänge des Gor’kij-Theaters Im Frühling 1938 wurden alle Theatertruppen, die zu diesem Zeitpunkt in Magadan existierten, zu einer Truppe zusammengefasst. Als Spielstätte wurde ihr das Zentrale Klubhaus des Gebietskomitees der Gewerkschaft für Gold und Platin [Central’nyj klub rajkoma Sojuza zolota i platiny] zugewiesen. Spätestens seit Herbst 1938 wurde die Truppe als Gor’kij-Theater bezeichnet.1427 Zum 1. April 1938 wurden dort 35 Zivilisten und 19 Häftlinge eingestellt, bei den künstlerisch Tätigen betrug das Verhältnis 14 Zivilisten zu sechs Häftlingen.1428 Doch schon am 2. Juni 1938 wurden die sechs Häftlinge, die als Schauspieler am Theater beschäftigt waren, sowie drei weitere Häftlinge entlassen.1429 Ein Einsatz von Häftlingen auf der Bühne wurde dadurch vorerst unterbunden, jedoch blieb das Prinzip der Verflechtung von ziviler Bevölkerung und Häftlingen am Theater erhalten, denn zum einen arbeiteten dort noch Häftlinge als Dienstpersonal und wurden in diesem Sektor auch weiterhin angestellt,1430 und zum anderen fanden regelmäßig Künstler eine Anstellung, die erst kürzlich aus der Haft entlassen worden waren, z. B. im Oktober 1943 Naum Nal’skij als leitender Regisseur für Musikkomödien nur einen Monat nach seiner Freilassung aus dem Lager.1431 Die Häftlinge mussten anfangs unentgeltlich arbeiten, erst ab August 1938 wurden auch für sie Gehälter festgelegt.1432

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wurde. Zusammen mit seiner Familie zog er 1959 nach Vladimir, wo er an der TaneevMusikschule tätig wurde. Er engagierte sich sehr im Musikleben dieser Stadt und lud beispielsweise mehrmals Lev Oborin und Dmitrij Kabalevskij zu Auftritten ein. Im Gulag hatte er jedoch seine Gesundheit ruiniert und starb im Alter von nur 56 Jahren an Herzversagen. Konsˇin, Michail: »Pis’ma moego otca«, 28. Februar 1991, S. 3. Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 21. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. 46 – 49. Von den hier als solche ausgewiesenen sechs Häftlingen findet sich nur einer in der Zusammenstellung von Aleksandr Kozlov in Teatr na severnoj zemle von 1992, in der über 200 im Laufe der 1930er- bis Anfang der 1950er-Jahre am Magadaner Theater beschäftigten Häftlinge benannt werden. Daraus und auch aus anderen Zeugnissen wie der Zusammenstellung der Mitarbeiter des Magadaner Revuetheaters aus dem Jahr 1948, welches vollständig mit Häftlingen besetzt war, kann mit Sicherheit gefolgert werden, dass Kozlovs Liste unvollständig ist. GAMO: F. R-23, op. 1, d. 2219, l. 107. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. 55. Z. B.: GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. 66ob, 70ob, 78ob. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. 229. Aleksandr Kozlov gibt in Teatr na severnoj zemle von 1992 den Tag nach seiner Entlassung als Anstellungszeitpunkt an. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. 66ob, 70ob, 78ob. Während die Bezahlung der Häftlinge anfänglich jener der freien Bürger entsprach, wurde sie ab Oktober 1938 stark gekürzt. Beispielsweise verdiente ein nicht inhaftierter Kartenkontrolleur im Oktober 1938 400 Rubel, ein Häftling, der dieselbe Tätigkeit ausübte, aber nur 14 Rubel. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. 78 u. 78ob. Eine ehemalige Haft führte offensichtlich zu keinen Nachteilen bei der Ermittlung des Gehalts der am Theater beschäftigten Künstler, wie Unterlagen aus den Jahren 1943 – 1946 zeigen. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 10. Wobei aus einer Zusammenstellung der Gehälter von 1943 gefolgert werden muss, dass kurz zuvor entlassene Häftlinge zu-

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Spätestens seit Mitte April 1938 gab es am Theater ein Jazz-Orchester, für welches am 15. April ein Leiter eingestellt wurde.1433 Namentlich sind für diese Zeit nur wenige Musiker am Theater bekannt, z. B. Pavel Samocha, der am 15. Juni die Stelle des Pianisten im Jazz-Orchester antrat, nachdem er unmittelbar davor aus dem Lager entlassen wurde.1434 Er stammte aus der Ukraine, war Instrumentenbauer von Beruf und hatte drei Jahre Haft hinter sich.1435 Die frühesten erhaltenen Konzertprogramme des Theaters sind auf den Oktober 1938 datiert. Es handelt sich dabei um Dokumente, die dem regionalen Beauftragten der Hauptverwaltung für Literatur- und Verlagsangelegenheiten [Glavlit] zur Genehmigung vorgelegt wurden. Während anfänglich seine Unterschrift ausreichte, war spätestens seit dem Frühjahr 1939 auch die Unterschrift eines Vertreters der Politverwaltung notwendig, damit ein Drama, ein Konzert oder ein Stück des Musiktheaters am Theater gespielt werden durfte. Seit Januar 1940 wurden Vordrucke zur Genehmigung von Konzerten und Schauspiel-Aufführungen benutzt, die vom Vertreter der Politabteilung, der regionalen Abteilung des NKVD, vom Beauftragten der regionalen Verwaltung für Literatur- und Verlagsangelegenheiten [Krajlit] und von einem Vertreter des Theaters abgezeichnet werden mussten.1436 Heute stellen diese Vordrucke wichtige Quellen dar, wenn es darum geht, das Programm des Magadaner Theaters zu rekonstruieren. Im Februar 1948 wurde schließlich vom Leiter der Dal’stroj-Politabteilung ein aus elf Mitgliedern bestehender künstlerischer Rat ins Leben gerufen, um »das ideelle und künstlerische Niveau der Vorstellungen am Theater zu heben«. Ihm gehörten Vertreter der Politabteilung, des Komsomol, der Gewerkschaften, der Zeitung Sovetskaja Kolyma, des KVO USVITL u. a. an. Darunter war auch ein Schauspieler des Theaters zu finden,1437 der ehemals im Sevvostlag inhaftiert gewesen war. Dies ist ein Beispiel dafür, dass eine Häftlingsvergangenheit in Magadan so sehr zum Alltag gehörte, dass davon Betroffene auch in Zensurgremien aufgenommen wurden. Dieser künstlerische Rat war nicht abschließend für die Genehmigung zuständig, denn die von ihm verfassten Berichte gingen an den Zensor der Politabteilung, Oberleutnant Sesorov. Das Genehmigungsprozedere wurde erst nach Stalins Tod vereinfacht: Ab 1954 mussten die

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nächst größtenteils in die niedrigste Besoldungsstufe eingeordnet wurden. Ausnahmen kommen zwar vor, aber die Regel scheint gewesen zu sein, dass das Gehalt stieg, je länger ein Häftling in Freiheit und dementsprechend auch länger am Magadaner Theater beschäftigt war. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. 107 f. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. 49ob. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. 49ob, 57. Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 90. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 3, l. 17 – 19, 24 ff. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 7, l. 25 f.

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Programme des Theaters nur vom Leiter der Gebietsverwaltung oder seinem Stellvertreter unterzeichnet werden.1438 Erste erhaltene Konzertprogramme Am 20. Oktober 1938 genehmigte der Beauftragte des Glavlit ein Programm, das mehr als zur Hälfte aus Gedichten und Prosa bestand. Den Rest machten Lieder aus, darunter das georgische Volkslied Suliko,1439 eines von Stalins Lieblingsliedern,1440 sowie zwei Lieder von Venedikt Pusˇkov aus dem 1938 gedrehten Film Komsomol’sk über den Bau der gleichnamigen Stadt.1441 Zu den Oktoberfeierlichkeiten 1938 ordnete die Theaterleitung gegenüber den Künstlern an, ein großes Konzert zu veranstalten.1442 Darin sollten die Oktoberrevolution, die Rote Armee als »Hüterin der Errungenschaften der Revolution«, die stalinsche Verfassung und der »kulturelle Aufschwung der Völker der Sowjetunion« thematisiert werden. Das Konzert sollte einen Auszug aus einem Drama oder einen Sketch, Erzählungen, Gedichte und Lieder enthalten. Unter den empfohlenen Schriftstellern und Komponisten wurde als einziger Name eines Musikers der von Isaak Dunaevskij genannt. Am 29. Oktober wurde dann ein Konzertprogramm bewilligt, bei dem es sich vermutlich um das Programm zu den Oktoberfeierlichkeiten handelte1443 und

1438 GAMO, F. R-54, op. 1, d. 87. 1439 Hörbeispiel verfügbar auf: http://sovmusic.ru/sam_download.php?fname=s10970 (letzter Zugriff am 16. Januar 2012). 1440 Rybin, Aleksej: Rjadom so Stalinym. Zapiski telochranitelja, 1994, S. 10. 1441 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 3, l. 1. 1442 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. 72ob. 1443 Diese Vermutung wird durch die Überschrift »Programm des konzertanten Teils« gestützt sowie durch ein Konzertprogramm vom 10. November, in dem die am 29. Oktober genehmigten Programmpunkte in einer neuen Zusammensetzung auftauchen. Neu hinzugekommen war lediglich ein Spanischer Tanz von Pablo de Sarasate. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 3, l. 5 f. Außer mit dem konzertanten Teil wurde der 6. November 1938, der Vorabend des Oktoberfeiertags, mit dem 1926 entstandenen Drama Ljubov’ Jarovaja von Konstantin TrenÚv begangen, wie der Theaterdirektor an die regionale Abteilung des NKVD am 4. November weitergab. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 3, l. 3. Dieses Stück spielt in der Zeit des russischen Bürgerkrieges und ruft dazu auf, der Sache der Revolution treu zu bleiben und Feinde auch in der unmittelbaren Umgebung zu erkennen. Die Proben zu Ljubov’ Jarovaja begannen am 25. September, wobei wegen fehlender Schauspieler auch andere Theaterangestellte und Mitarbeiter anderer Institutionen als solche herangezogen wurden, darunter der Musiker und ehemalige Häftling Aleksandr Ovodov. Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 82. Der künstlerische Leiter des Theaters, Georgij Kacman, war seit August 1938 in Moskau, um neue Schauspieler für das Theater anzuwerben. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. 70. Dabei fanden sich zwölf Personen, die dazu bereit waren, nach Magadan zu ziehen. Ein Teil erreichte Magadan noch vor der Premiere von Ljubov’ Jarovaja und ersetzte die unprofessionellen Schauspieler. Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 34. Für die Generalprobe wurde ein Vertreter der regionalen Abteilung des NKVD angefragt,

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bei dem musikalische Programmpunkte den Großteil ausmachten: Neben Gedichten, einer Lesung aus dem Poem Sten’ka Razin von Vladimir Giljarovskij und humoristischen Erzählungen Michail Zosˇcˇenkos waren das Lied Proˇscˇal’naja komsomol’skaja [Komsomolzen-Abschiedslied] der Brüder Pokrass aus dem Jahre 1937,1444 das belorussische Volkslied Bul’ba (Kartoffel), ein afroamerikanisches Wiegenlied, ein französisches Scherzlied und der kaukasische Volkstanz Lesginka enthalten. Zudem spielte ein Jazz-Ensemble ein Potpourri aus der Filmmusik zu Stalins Lieblingsfilm Volga-Volga (1938) von Isaak Dunaevskij sowie einen Foxtrott. Des Weiteren wurden die Lieder Sovetskij prostoj cˇelovek (Der einfache Sowjetbürger) von Sergej Germanov,1445 Moskva majskaja (Moskau im Mai) der Brüder Pokrass,1446 beide von 1937, die humoristische Ariette der P¦richole aus der Op¦ra Bouffe La P¦richole von Jaques Offenbach sowie La Cucaracha aus dem gleichnamigen US-amerikanischen Film von 1934 vorgetragen.1447 Auffällig ist bei diesen Programmen die schnelle Verbreitung der neuen sowjetischen Lieder bis in solch abgelegene und schwer erreichbare Städte wie Magadan. Die Programme waren durch die vielen unterschiedlichen Beiträge abwechslungsreich, sodass für jeden Geschmack etwas dabei gewesen sein sollte. Die Form eines bunten Konzerts wie des zuletzt beschriebenen schildert Jurij Elagin als typisches Phänomen des Konzertlebens in Moskau unter Stalin. Er spricht von »einer Art grandiosem Divertissement, welches die unterschiedlichsten Gattungen der Musik, des Balletts, des Zirkus und anderer Künste einschließt«. Als fiktiven Ablauf skizziert er : Instrumentalsolist, Opernsängerin, Ballett, Opernduo, Akrobaten-Tänze, Lieder der Sinti und Roma, Zauberer, Jongleure, dressierte Tiere.1448 Dieses Prinzip lag den meisten Konzerten in Magadan ebenfalls zugrunde, wie bereits gezeigt wurde und an zahlreichen Beispielen noch gezeigt werden wird.

1444 1445 1446 1447 1448

damit eine »Politvorschau« (politprosmotr) stattfinden konnte, ohne die das Stück nicht aufgeführt werden durfte. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 3, l. 4. Http://sovmusic.ru/download.php?fname=proshal4 (letzter Zugriff am 16. Januar 2012). Das Lied handelt vom Abschied eines Paares, welches während des russischen Bürgerkrieges in unterschiedliche Gegenden zum Kämpfen abkommandiert wird. Http://www.sovmusic.ru/download.php?fname=sovprost (letzter Zugriff am 4. Dezember 2010). Http://sovmusic.ru/download.php?fname=moskvama (letzter Zugriff am 4. Dezember 2010). GAMO: F. R-54, op. 1, d. 3, l. 2. Elagin, Ukrosˇcˇenie iskusstv, 2002, S. 265.

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Konzertprogramme der Jahre 1939/40 Im Mai 1939, etwas verspätet zu Lenins Geburtstag, wurde ein Lenin-Gedenkabend veranstaltet. Dabei kamen Gedichte, Auszüge aus Poemen, das Revolutionslied Zamucˇen tjazˇÚloj nevolej (Gequält durch schwere Gefangenschaft),1449 welches eins von Lenins Lieblingsliedern gewesen sein soll,1450 und weitere Lieder über Lenin, Stalin und die Revolution zur Aufführung.1451 Beendet wurde der Abend durch das Lied Dva sokola (Die zwei Falken),1452 in dem beschrieben wird, wie Lenin seine Sache an Stalin übergibt und dieser ihn nicht enttäuscht, sondern sein Land glücklich macht. Vorgetragen wurden die Lieder vom Chor des Arbeiterklubs. Aus einem weiteren zwar undatierten, aber wegen seiner Einordnung in den Theaterunterlagen nicht später als mit 1939 zu datierendem Programm geht hervor, dass die VOChR ein Blasorchester hatte, das ebenfalls mit Konzerten am Gor’kijTheater aufgetreten ist.1453 Die in diesem Konzert gesungenen Lieder wurden zur Klavierbegleitung vorgetragen. Es standen u. a. Karnaval’naja (Karnevalslied) von Michail Sidrer (1938), Esli zavtra vojna (Wenn es morgen Krieg gibt) von den Brüdern Pokrass (1938) aus dem gleichnamigen Film1454 und mehrere Tänze auf dem Programm. Es wird zum ersten Mal in den erhaltenen Dokumenten eine Hawaii-Gitarre erwähnt,1455 die zum regelmäßigen Bestandteil der Konzerte werden sollte. Im Lied der Brüder Pokrass, besonders in der Version der Jazz-Band unter der Leitung von Dmitrij Pokrass,1456 kommt die Kluft zwischen der Musik und dem Text, wie sie bei vielen sowjetischen Liedern über die Revolution, den Bürgerkrieg und den Zweiten Weltkrieg auszumachen ist, deutlich zum Ausdruck: Zu einer fröhlichen Melodie wird von der Bedrohung durch den Krieg und von der Bereitschaft, jederzeit in den Krieg zu ziehen, gesungen. Am 21. Dezember 1939 wurde, wenige Tage nach dem tatsächlichen Termin, Stalins 60. Geburtstag mit einem Konzertabend begangen.1457 Dabei erklangen 1449 Http://sovmusic.ru/download.php?fname=zamuchen (letzter Zugriff am 16. Januar 2012). 1450 Ul’janova-Elizarova, Anna: Vospominanija ob Aleksandre Il’icˇe Ul’janove, 1931, S. 94. 1451 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 3, l. 12. Die vorgetragenen Lieder waren: Karel’skaja pesnja o Staline (Karelisches Lied über Stalin) von Natalija Levi, Hanns Eislers Komintern-Lied, OrlÚnok (Junger Adler) von Viktor Belyj von 1936 (http://sovmusic.ru/download.php?fname=orlenok2 [letzter Zugriff am 16. Januar 2012]) über junge Kämpfer für die Revolution und Snezˇinki (Schneeflocken) aus dem Zyklus Über Lenin von Marian Koval’. 1452 Da der Komponist im Programm nicht aufgeführt ist, bleibt unklar, um welche der zwei bekannten Vertonungen von Konstantin Massalitinov (http://sovmusic.ru/download.php?fname=dvasokol [letzter Zugriff am 16. Januar 2012]) und Vladimir Zacharov (http://sovmusic.ru/download.php?fname=dubsokol [letzter Zugriff am 16. Januar 2012]) es sich handelte. 1453 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 3, l. 14. 1454 Http://sovmusic.ru/download.php?fname=zavvoina (letzter Zugriff am 16. Januar 2012). 1455 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 3, l. 15. 1456 Http://www.sovmusic.ru/download.php?fname=zavvoin2 (letzter Zugriff am 16. Januar 2012). 1457 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 3, l. 22.

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erwartungsgemäß viele Lieder über Stalin – Pesnja o Staline (Lied über Stalin) von Matvej Blanter (1938),1458 Pesnja o Staline von Isaak Dunaevskij (1937),1459 Pesnja zˇensˇcˇin (Das Lied der Frauen) von Zinovij Kompaneec, Esli Stalin skazal (Wenn Stalin es gesagt hat) von Valentin Krucˇinin (1939).1460 Einen weiteren Programmpunkt stellte Zastol’naja (Trinklied) von Dunaevskij (1938) dar,1461 ein Loblied auf die Sowjetunion und ihre Bürger. Außerdem gab ein Instrumentaltrio drei Beiträge zum Besten, die aus dem damaligen Musikrepertoire des Magadaner Theaters hervorstechen: Das Trio trug einen Walzer aus dem Ballett Dornröschen sowie das Duett Tatjanas und Ol’gas aus ˇ ajkovskij vor. Dieses Trio trat auch in dem zum Jahrestag des Evgenij Onegin von C Todes von Lenin veranstalteten Konzert am 21. Januar 1940 auf und spielte eine ˇ ajkovskij.1462 Klassische Musik war in Etüde von Skrjabin sowie ein Nocturne von C Konzertprogrammen des Magadaner Theaters in seiner Anfangszeit selten vertreten. Außer den vom Trio vorgetragenen Stücken wurde in einem nicht genau zu datierenden Konzert ein Menuett von Luigi Boccherini von einem Geiger vorgetragen,1463 vermutlich das aus dem Streichquintett op. 11 Nr. 5. Ebenfalls in diesem Konzert wurden Ausschnitte aus L¦on Minkus’ Balletten getanzt; die Ausführenden wurden in dem Genehmigungsvordruck nicht genannt. Klassische Musik war in dieser Zeit am ehesten als Schauspielmusik zu hören. Beispielsweise wurde das Anfang 1940 inszenierte Drama Vassa Zˇeleznova von Maksim Gor’kij am Beginn durch das Lento aus Rimskij-Korsakovs Fantasie über russische Themen begleitet, am Beginn des zweiten Aktes durch das Andante non ˇ ajkovskijs Grand Sonata für Klavier op. 37, bei Vassas troppo quasi moderato aus C Tod im 3. Akt durch das Allegro aus dem Finale des 3. Aktes von Verdis Otello und ˇ ajkovskijs. Im Geneham Ende durch einen Ausschnitt aus einem Impromptu C migungsvordruck vom 2. Februar 1940 zu dieser Inszenierung hieß es allerdings, dass das Orchesterspiel durch mehr Farbigkeit verbessert werden müsste. Spätestens seit Beginn des Jahres 1940 gab es am Theater demnach ein Orchester; als Orchesterleiter war der Geiger V. Pavel’skij tätig,1464 der auch in dem oben genannten Trio mitspielte und zusammen mit N. Varlamova für die Auswahl der Schauspielmusiken zuständig war.1465 Er war jedoch kein Häftling.1466 Ein wichtiges Datum im sowjetischen Kalender, das mit Konzerten begangen 1458 1459 1460 1461 1462 1463 1464 1465 1466

Http://sovmusic.ru/download.php?fname=stalin1 (letzter Zugriff am 16. Januar 2012). Http://sovmusic.ru/download.php?fname=kantata2 (letzter Zugriff am 16. Januar 2012). Http://sovmusic.ru/download.php?fname=stalin12 (letzter Zugriff am 16. Januar 2012). Http://sovmusic.ru/download.php?fname=zastolna (letzter Zugriff am 16. Januar 2012). GAMO: F. R-54, op. 1, d. 3, l. 21. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 3, l. 23. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 3, l. 26 – 28; F. R-54, op. 1, d. 8, l. 34. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 3, l. 25, 28, 33, 40. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 17, l. 12.

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wurde, war der Tag der Roten Armee am 23. Februar. 1940 wurde dieses Datum auch am Magadaner Theater mit einem Konzert gefeiert. Der zugehörige Genehmigungsvordruck ist lediglich von einem Vertreter der Politverwaltung unterzeichnet.1467 So etwas kommt auf Genehmigungsvordrucken für Schauspiele nicht vor, dort sind bei jeder Neuinszenierung alle vorgeschriebenen Unterschriften zu finden. Dies macht deutlich, dass Schauspiele von Zensurorganen strenger überwacht wurden als Konzerte. Das Konzert vom 23. Februar 1940 demonstriert, dass klassische Musik immer mehr Raum im Magadaner Repertoire gewann: Ein Violine-Klavier-Duo trug einen Tango von Isaac Alb¦niz, eine Canzonetta von Alfredo d’Ambrosio, eine Serenade von Moses Pergament und einen Bolero von Karl Hubay vor.1468 Darauf folgten eine Erzählung, Gedichte sowie ein Poem. Beschlossen wurde das Konzert mit sowjetischen Liedern – Ot’’ezd partizan (Abfahrt der Partisanen) von Anatolij Novikov (1936),1469 Garmonika (Harmonika) von SemÚn Tartakovskij, Kukusˇka (Kuckuck) von Michail Ferkel’man – sowie einem Ausschnitt aus Jacques Offenbachs Op¦ra Bouffe La Grande-Duchesse de G¦rolstein.

Abb. 50 : Sovetskaja Kolyma, 4. März 1941 (Nr. 53), S. 4. Am Gor’kij-Theater war eine Schauspielpremiere angekündigt, im Kino der Film Cirk (1936) mit Musik von Isaak Dunaevskij und am ME˙T eine Komödie, der Auftritt des Thea-Jazz (Theater-JazzBand) sowie ein Sketch.

1467 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 3, l. 29. 1468 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 3, l. 30. 1469 Http://sovmusic.ru/sam_download.php?fname=s12031 (letzter Zugriff am 16. Januar 2012).

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Ende 1940 gab es bereits ein vielfältiges Musikleben in Magadan: Die Tageszeitung Sovetskaja Kolyma warb nun fast täglich nicht nur für Konzerte, Theateraufführungen und Tanzveranstaltungen am Gor’kij-Theater, sondern auch im Klubhaus des Zentralen Bezirkskomitees, im städtischen Kino, im Kino am Kultur- und Erholungspark sowie am Magadaner Revuetheater ME˙T.

Das Magadaner Revuetheater ME˙T [Magadanskij e˙stradnyj teatr] in den Jahren 1940/41 Das Magadaner Revuetheater wurde auf Befehl des stellvertretenden Dal’strojLeiters Georgij Korsakov vom 28. September 1940 gegründet.1470 Dieses sollte der »vollwertigen Erholung im Bereich Kultur« der Dal’stroj-Beschäftigten in der Stadt Magadan und auch entlang der Trassen auf der Kolyma dienen. Für Probenarbeit wurde dem Theater die »Rote Ecke« der Fachschule zur Verfügung gestellt. Auftreten sollte es nicht weniger als zehnmal pro Monat im Kino des Kultur- und Erholungsparks, das 1938 fertiggestellt wurde und 280 Zuschauern Platz bot.1471 Die Eröffnung des Revuetheaters war für das 23. Jubiläum der Oktoberrevolution am 7. November 1940 vorgesehen. In seiner Stellungnahme zur Gründung des Theaters äußerte der Kulturabteilungsleiter der Politverwaltung, Kurc,1472 dass dieses nicht nur im Sommer, sondern das ganze Jahr über Konzerte für die außerhalb von Magadan lebenden Dal’stroj-Beschäftigten geben sollte, um die Planerfüllung anzuregen. Bis Ende 1940 sollten drei Konzertprogramme vorbereitet werden, die jeweils mehrfach gespielt werden sollten – zur Feier des 7. November, des Tags der Verfassung am 5. Dezember und zum Neujahr, wobei der Anlass für das dritte Konzert mit »Ende des Wirtschaftsjahres« formuliert wurde. An den unrealistischen Zeitvorgaben wird deutlich, dass diejenigen, welche die Theatergründung initiierten, keine Vorstellung davon hatten, wie aufwendig die Einstudierung großer Konzertprogramme sein kann. Am 3. Oktober gab die Zeitung Sovetskaja Kolyma die Theatergründung zum 1. Oktober bekannt.1473 Sie berichtete, dass die Truppe sich aus ehemaligen Mitgliedern der »Konzertbrigade« der Politverwaltung und des Gewerkschaften-Bezirkskomitees zusammensetzte. Nach wenigen Tagen folgte ein umfangreicher Artikel des administrativen Direktors des neuen Theaters Lev Roga-

1470 GAMO: F. R-23, op. 1, d. 854, l. 14. 1471 Kozlov, Aleksandr : »Magadanskij e˙stradnyj«, in: Magadanskaja pravda, 23. Mai 1992, S. 3. 1472 GAMO: F. R-23, op. 1, d. 854, l. 15. 1473 Krivosˇein, V.: »Organizovan e˙stradnyj teatr«, in: Sovetskaja Kolyma, 3. Oktober 1940, S. 4.

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ckij,1474 der von 1937 bis zum 13. März 1940 Lagerhäftling im Sevvostlag gewesen war. Verurteilt wurde er durch eine NKVD-Troika für angebliche antisowjetische Propaganda und Agitation. Der Tatbestand lautete, er habe von einem deutschen Arbeitskollegen einige Sachen für den persönlichen Gebrauch käuflich erworben.1475 In den Jahren 1922 bis 1928 war Rogackij Direktor des Freien Theaters [Svobodnyj teatr] in Leningrad gewesen; danach hatte er in der Zirkushauptverwaltung beim Komitee für die Angelegenheiten der Künste gearbeitet.1476 Rogackij lobte die sowjetische Revuekunst und nannte sie neben dem Kino die den Massen am nächsten stehende Kunstform. Deshalb sei sie eine »wirksame Waffe bei der kommunistischen Erziehung«. Er sah die »Laienkunst« als den Ursprung der Revuekunst an und betonte, dass in beiden bereits durchgeführten »Kolyma-Laienkunstschauen« die Revuekunst dominiert hatte. Als Aufgabe des neuen Theaters nannte er die Unterstützung der Dal’stroj-Beschäftigten bei der Erfüllung des Produktionsplans. Rogackij versprach, aktuelle Begebenheiten aus dem Leben des Dal’stroj auf der Bühne zu thematisieren und schlechte Arbeiter neben Menschen, die den Alltag »verschmutzten«, zu »geißeln«. Gleichzeitig sollte das Theater die großen Errungenschaften der Sowjetunion und die »Heroik« des sowjetischen Volkes zeigen sowie »fröhliche, muntere Lieder und Tänze der glücklichen sowjetischen Völker« darbieten. Der unterhaltende Charakter eines Revuetheaters sollte auf diese Weise nicht außer Acht gelassen werden. Im Großen und Ganzen gibt Rogackijs Artikel die Vorgaben der Lagerhauptverwaltung für die »Laienkunst« in den Lagern wieder. Daran wird deutlich, dass die Richtlinien der Lagerhauptverwaltung für die »Laienkunst« solchen in der zivilen Gesellschaft entsprachen und hierbei zwischen der Lagerund der zivilen Bevölkerung keine Grenze gezogen wurde. Der Stellenplan zeigt, dass das ME˙T bei der Gründung insgesamt 35 Mitarbeiter hatte, davon 14 Schauspieler und Sänger sowie 15 Musiker.1477 Neben einem Jazz-Orchester existierte auch ein Salon-Orchester mit zum Teil gleichem Personal.1478 Fünf der neun von Rogackij als Garanten für gute Qualität im Zeitungsartikel genannten Mitglieder des Theaters waren ehemalige Häftlinge.1479 Außer ihnen wurden noch drei weitere ehemalige Häftlinge angestellt.1480 1474 Rogackij, Lev : »Sovetskaja e˙strada. K otkrytiju e˙stradnogo teatra v Magadane«, in: Sovetskaja Kolyma, 9. Oktober 1940, S. 4. 1475 Kozlov, »Magadanskij e˙stradnyj«, 23. Mai 1992, S. 3. 1476 Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 87. 1477 GAMO: F. R-23, op. 1, d. 854, l. 16. 1478 Dies geht aus dem Befehl von Rogackij vom 19. März 1941 hervor. Veröffentlicht in: Kozlov, Aleksandr : Magadan. Predvoennoe i voennoe vremja, Bd. 2: 1939 – 1945, 2002, S. 186. 1479 Rogackij, »Sovetskaja e˙strada«, 9. Oktober 1940, S. 4. 1480 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. 15 – 45; Kozlov, »Magadanskij e˙stradnyj«, 23. Mai 1992, S. 3.

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Einer von ihnen war Michail Ljalin,1481 der als Konzertmeister des Jazz-Orchesters arbeitete. Gleichzeitig oblag ihm die Aufgabe, Stücke für das JazzOrchester zu arrangieren.1482 Überdies komponierte er eigenständige Stücke für das Theater, z. B. einen Marsch und Lieder, wie die Sovetskaja Kolyma berichtete.1483 1943 komponierte er die Musik für die Inszenierung von Jacinto Benaventes Komödie Los intereses creados in russischer Übersetzung (Igra interesov).1484 Ein weiterer ehemaliger Häftling in der Theatertruppe war der Sänger Nikolaj Antonov.1485 Er wurde 1935 verhaftet und als »sozial gefährliches Element« zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt. Nach seiner Entlassung im April 1940 arbeitete er zunächst einige Monate als Anwesenheitskontrolleur in Chattynach.1486 Dann wurde er als Sänger am Zentralen Klubhaus der Gewerkschaften in Magadan angestellt.1487 Wie Ljalin und Antonov sind auch die anderen ehemaligen Häftlinge, die zur Theatergründung dort angestellt wurden, kurz nach ihrer Entlassung ins Revuetheater aufgenommen worden. Im Laufe seines kurzen Bestehens wirkten weitere Künstler mit ähnlichen Lebensläufen am ME˙T, unter ihnen der Bajanist Michail Ionov und der Jazz-Trompeter Aleksej Bogusˇev.1488 Zu beachten ist hierbei, dass sowohl ehemalige sogenannte politische Häftlinge in die Theatertruppe aufgenommen wurden als auch solche, die aufgrund krimineller Vergehen verurteilt worden waren, z. B. Bogusˇev gemäß § 35. Gemeinsam mit ihnen standen Künstler auf der Bühne, die keine Lagerhaft erlitten hatten: zum einen 1481 Michail Ljalin, der 1895 geboren wurde, war ein professionell ausgebildeter Musiker, der von 1932 bis 1934 an der Moskauer Music Hall tätig gewesen war. 1934 wurde er verhaftet und für die »Unterlassung der Anzeige eines in Vorbereitung befindlichen konterrevolutionären Attentats« zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt. Ab 1938 verbüßte er seine Haft auf der Kolyma und kam am 10. April 1940 frei. Nach seiner Tätigkeit als Konzertmeister des Jazz-Orchesters arbeitete Ljalin von Oktober 1942 bis Februar 1943 als Gesangslehrer an der allgemeinbildenden Schule in Magadan. Danach erkrankte er und konnte keine Anstellung mehr finden. 1944 verließ er Magadan und zog nach Moskau. Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 77. 1482 Kozlov, »Magadanskij e˙stradnyj«, 23. Mai 1992, S. 3. 1483 »Obsˇirnaja e˙stradnaja programma. Kollektiv e˙stradnogo teatra gotovit pervyj spektakl’«, in: Sovetskaja Kolyma, 17. Oktober 1940, S. 4. 1484 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 15, l. 3. 1485 Antonov wurde 1892 in Petersburg geboren und hatte ab 1914 am Musikdramen-Theater [Teatr muzykal’noj dramy] seiner Heimatstadt und ab 1916 am Mariinskij-Theater gesungen. In den Jahren 1919 bis 1924 hatte er am Leningrader Konservatorium studiert und von 1923 bis 1935 als Solist am Kirov-Theater, dem ehemaligen Mariinskij-Theater, gesungen. Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 58. 1486 Chattynach war ein Lagerpunkt und eine Siedlung im Bezirk Jagodnoe (37). 1487 Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 58. 1488 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 17, l. 41; Kozlov, »Magadanskij e˙stradnyj«, 23. Mai 1992, S. 3; Kozlov, Magadan. Predvoennoe i voennoe vremja, Bd. 2: 1939 – 1945, 2002, S. 195.

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Laien,1489 aber auch professionelle Kräfte, die in renommierten Institutionen des Landes studiert hatten und in angesehenen Häusern aufgetreten waren.1490 Die Eröffnung des Revuetheaters verzögerte sich aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen. Es kann jedoch vermutet werden, dass die Zeitvorgaben für eine neu zu erarbeitende Show zu knapp gesetzt worden waren. Am 21. November 1940 erschien in der Sovetskaja Kolyma eine Annonce mit der Ankündigung der Eröffnung des Magadaner Revuetheaters »in den kommenden Tagen«.1491

Abb. 51: Sovetskaja Kolyma, 4. Dezember 1940 (Nr. 288), S. 4. Dieselbe Anzeige erschien auch in den Nummern 289 bis 291.

Am 4. Dezember wurde endlich die Ankündigung der Theater-Eröffnung mit einem genauen Termin veröffentlicht, dem 8. Dezember, einen Monat nach dem ursprünglich geplanten Zeitpunkt. Hier wurde auch das Logo des Theaters abgedruckt, welches in seiner Gestaltung an Werbeplakate der 1920er-Jahre erinnert. Möglicherweise ging es auf den Direktor Rogackij und seine Theatertätigkeit in den 1920er-Jahren zurück. Gleichzeitig kann es mit den sowjetischen Symbolen Hammer und Sichel assoziiert werden. Für die Eröffnung wurde die dreiteilige Revue S priezdom! (Willkommen!) 1489 Rogackij, »Sovetskaja e˙strada«, 9. Oktober 1940, S. 4. 1490 Kozlov, »Magadanskij e˙stradnyj«, 23. Mai 1992, S. 3. 1491 Sovetskaja Kolyma, 21. November 1940 (Nr. 277), S. 4.

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nach Texten von Magadaner Autoren einstudiert, konzipiert vom Regisseur des Theaters und ehemaligem Lagerhäftling Grigorij Sorin. Diese wurde fast täglich gegeben, sonntags sogar zweimal.1492 Einen Eindruck von den Musikern des ME˙Tvermittelt ein Zeitungsfoto vom 11. Dezember 1940, welches Mitglieder des Thea-Jazz zeigt.1493

Abb. 52: Zwei Mitglieder des Thea-Jazz am ME˙T. Sovetskaja Kolyma, 11. Dezember 1940 (Nr. 293), S. 4.

An sechs Tagen vor Silvester gab es keine Vorstellungen, denn das Theater probte eine Karnevalsshow.1494 Sie enthielt u. a. Nummern aus Emmerich K‚lm‚ns Operette Die Cs‚rd‚sfürstin sowie einen Thea-Jazz-Teil und wurde an Silvester ur- und am Neujahrstag zwei weitere Male aufgeführt.1495 Rogackij stellte sich als ein strenger Theaterdirektor heraus, erteilte seinen Angestellten oft Verweise und übergab einige Fälle an das Gericht. Am 31. Januar 1941 rügte er in einer Anordnung die »Schlamperei« in der Truppe, die sich in Abweichungen von der Idee des Regisseurs äußerte.1496 Er verfügte, die Arbeitsproduktivität des Theaters zu steigern und die Zahl der Arbeitsstunden zu erhöhen. Rogackij verwies dabei auf Lenin, der die Arbeitsproduktivität als entscheidenden Faktor beim Aufbau der neuen Gesellschaft gesehen hatte, und rief die Kunstschaffenden und insbesondere seine Angestellten dazu auf, den Stoß- und Stachanov-Arbeitern der Industrie und der Landwirtschaft bei der 1492 Anzeige in der Sovetskaja Kolyma vom 10. Dezember 1940 (Nr. 292), S. 4, und in den folgenden zwölf Ausgaben. Auch: Kozlov, »Magadanskij e˙stradnyj«, 23. Mai 1992, S. 3. 1493 Sovetskaja Kolyma, 11. Dezember 1940 (Nr. 293), S. 4. 1494 Anzeige in der Sovetskaja Kolyma vom 25. Dezember 1940 (Nr. 305), S. 4, und in den folgenden drei Ausgaben. 1495 Anzeige in der Sovetskaja Kolyma vom 29. Dezember 1940 (Nr. 309), S. 4, und in den folgenden zwei Ausgaben. 1496 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. 15 – 45.

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Umsetzung dieses Gedankens nachzueifern. Er erachtete es als notwendig, zwei Premieren im Februar zustande zu bringen. Aus dieser Anordnung Rogackijs geht hervor, dass V. Pavel’skij, der 1940 das Orchester des Gor’kij-Theaters leitete, auch Leiter des Jazz-Orchesters am ME˙T war. Am 10. März 1941 legte Rogackij verbindlich für die ganze Truppe die Probenzeit auf 10:00 bis 14:00 Uhr und die Auftrittszeit auf 20:00 bis 24:00 Uhr fest.1497 Im März 1941 führte das ME˙T im ersten Teil des neu einstudierten vierten Programms mit dem Titel Vsego ponemnogu (Ein wenig von allem) Jacques Offenbachs Op¦ra Bouffe La P¦richole auf. Im zweiten Teil folgte ein gemischtes Konzert mit Gesang, Sketchen, Tänzen, cˇastusˇki u. a., und im dritten spielte der Thea-Jazz. Angesichts der Länge der Revue ist bemerkenswert, dass sie erst um 21 Uhr begann. La P¦richole inszenierte der im Juni 1940 aus der Haft entlassene Schauspieler Michail Zare˙, der seine Ausbildung am Staatlichen Experimentellen Studio Vsevolod Mejerchol’ds erhalten hatte,1498 und spielte darin auch, wie auf dem Zeitungsfoto zu sehen, die Rolle des Piquillo.1499 Für die Inszenierung von La P¦richole sprach ihm der Theaterdirektor eine Belobigung aus.1500

Abb. 53: Michail Zare˙ in der Rolle des Piquillo. Sovetskaja Kolyma, 19. März 1941 (Nr. 66), S. 4.

Am 13. April 1941 erschien in der Sovetskaja Kolyma ein Artikel von L. Sˇachnarovicˇ, einem ihrer Redaktionsmitglieder,1501 der für sich beanspruchte, im Namen des Magadaner Publikums zu schreiben und die Arbeit des Gor’kijTheaters sowie des ME˙T kritisierte.1502 Dabei kam das ME˙T weitaus schlechter 1497 Anordnung veröffentlicht in: Kozlov, Magadan. Predvoennoe i voennoe vremja, Bd. 2: 1939 – 1945, 2002, S. 185. 1498 Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 70. ˇ etvÚrtaja programma«, in: Sovetskaja Kolyma, 19. März 1941 (Nr. 66), 1499 LavrenÚnok, N.: »C S. 4. 1500 Befehl veröffentlicht in: Kozlov, Magadan. Predvoennoe i voennoe vremja, Bd. 2: 1939 – 1945, 2002, S. 189. 1501 Kozlov, Magadan. Predvoennoe i voennoe vremja, Bd. 2: 1939 – 1945, 2002, S. 187. 1502 Sˇachnarovicˇ, L.: »Teatral’nye zametki«, in: Sovetskaja Kolyma, 13. April 1941, S. 4.

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weg, denn nach Meinung des Verfassers kümmerte es sich nicht genügend um den künstlerischen Nachwuchs und stellte seine Programme aus Stücken zusammen, die den Künstlern bereits aus der Vergangenheit bekannt waren. Er kritisierte, dass das Theater sich bei der Entscheidung, ein neues Programm herauszubringen, nach den Zuschauerzahlen richtete.1503 Dadurch kamen manche Programmpunkte zu voreilig auf die Bühne und ließen Qualität vermissen. Hier wurde beispielsweise La P¦richole genannt. Sˇachnarovicˇ lobte jedoch das Jazz-Orchester und stellte die Existenzberechtigung des Theaters nicht infrage. Das Theater sollte aber mit neuen Kräften verstärkt werden und besonders sorgfältig bei der Auswahl des Repertoires vorgehen. Unter dem Schlagwort der Perestroika forderte der Autor aktuelle Themen, die zum »gesunden Lachen« anregen und mit der damaligen »freudenvollen glücklichen Zeit harmonieren« sollten. Aktuelle Helden sollten gezeigt, das Böse ausgelacht sowie die Überbleibsel der Vergangenheit scharf kritisiert werden. Dies sollte durch die Aufführung des klassischen Erbes sowie durch neu geschriebene Texte Magadaner Autoren erreicht werden. Der Artikel Sˇachnarovicˇs kann als der Beginn des Untergangs des ersten Revuetheaters in Magadan gesehen werden, welcher durch die Involvierung der Sowjetunion in den Zweiten Weltkrieg endgültig besiegelt wurde. Mitte Mai 1941 bewarb das Revuetheater aber zunächst seine neue dreiteilige Vorstellung Vesennie golosa (Frühlingsstimmen), bestehend u. a. aus der Komödie Svad’ba (Hochzeit) von Michail Zosˇcˇenko und einem neuen Programm des Thea-Jazz.1504 Am 31. Mai gab das ME˙T seine letzte Vorstellung in Magadan, bevor es im Juni auf eine dreimonatige Tournee auf der Kolyma ging.1505 Schon während der Saison trat das Theater gelegentlich außerhalb seiner regulären Spielstätte auf, beispielsweise in den Anfangsmonaten des Jahres 1941 vor der Crew des Eisbrechers Lazar’ Kaganovicˇ direkt auf dem Schiff, welches im Winter den ankommenden Schiffen den Weg durch die Nagaev-Bucht bahnte.1506 Diese Schiffe brachten unter anderem Häftlinge auf die Kolyma. Alle 40 Künstler des ME˙T, das Jazz-Orchester des Theaters eingeschlossen, beteiligten sich an der sommerlichen Tournee. Auf dem Programm stand neben gemischten Konzerten Offenbachs La P¦richole.1507 Erste Station der Sommertournee war die Siedlung Palatka (2), wo das Theater am 7. Juni 1941 den Beschäftigten der Verwaltung des Kraftverkehrs die Karnevalsshow zeigte.1508 1503 Durch diese Aussage diskreditierte er sich als Sprachrohr des Magadaner Publikums. 1504 Sovetskaja Kolyma, 17. Mai 1941 (Nr. 115), S. 4. 1505 Anzeige in der Sovetskaja Kolyma, 25. Mai 1941 (Nr. 122), S. 4; »Chronika teatrov«, in: Sovetskaja Kolyma, 8. Juni 1941 (Nr. 134), S. 4. 1506 Kozlov, »Magadanskij e˙stradnyj«, 23. Mai 1992, S. 3. 1507 Smolina, Tamara: »I grjanula vojna…«, in: Vecˇernij Magadan, 17. Juni 1994, S. 1. 1508 »Chronika teatrov«, in: Sovetskaja Kolyma, 8. Juni 1941, S. 4.

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Darauf folgten noch sechs Vorstellungen in Palatka, sodass insgesamt 1.800 Zuschauer dort die Vorstellungen des ME˙T gesehen haben sollen.1509 Damit entsprach das Theater der im Gründungserlass festgelegten Verpflichtung, Vorstellungen für die Arbeiter auf der Kolyma außerhalb Magadans zu geben. Nach der Involvierung der Sowjetunion in den Zweiten Weltkrieg erging am 3. September 1941 ein Befehl des Dal’stroj-Leiters, Ivan Nikisˇov, und des Leiters der Politverwaltung des Dal’stroj, Ivan Sidorov, über die Gründung des Gor’kijTheaters für Musik und Drama zum 10. September.1510 Dieser Erlass bedeutete das Ende des ME˙T. Es ging im Gor’kij-Theater auf. Auch wenn am ME˙T der Jahre 1940/41 keine Beschäftigung von Häftlingen nachgewiesen werden konnte, hat seine Geschichte gezeigt, wie eng die Lagerwelt und die zivile Gesellschaft in Magadan miteinander verwoben waren dadurch, dass ehemalige Häftlinge kurz nach ihrer Entlassung dort arbeiteten. Das Gor’kij-Theater während des Zweiten Weltkriegs

Abb. 54: Das 1941 erbaute Magadaner Theater im Jahr 2006.

Durch die Vereinigung des Gor’kij-Theaters mit dem ME˙Twurde das Magadaner Theater für Musik und Drama am 10. September 1941 ins Leben gerufen. Diese Entscheidung wurde mit der Notwendigkeit der Umgestaltung [perestrojka] der 1509 Kozlov, »Magadanskij e˙stradnyj«, 23. Mai 1992, S. 3. 1510 GAMO: F. R-23, op. 1, d. 1074, l. 92 f.; veröffentlicht in: Kozlov, Magadan. Predvoennoe i voennoe vremja, Bd. 2: 1939 – 1945, S. 218 f.

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Theaterarbeit in Zeiten des Krieges, mit dem Ziel der besseren Ausnutzung des neu gebauten Kulturhauses, der Schaffung besserer Arbeitsbedingungen für die vorhandenen Theater, dem Mangel an Künstlern und der Notwendigkeit zu sparen begründet. Der neue Theaterbau, welcher nicht nur das Theater, sondern auch die städtische Bibliothek, einen Vortrags-, einen Tanzsaal sowie zwölf weitere Räume für die »Klubmassenarbeit« beherbergen sollte, befand sich seit März 1940 im Bau und wurde am 5. Oktober 1941 offiziell eröffnet.1511 Am Bau des Theatergebäudes waren maßgeblich Häftlinge beteiligt. Aus einem unleserlich unterschriebenen theaterinternen Bericht vom 10. November 1941 geht hervor, dass zwei inhaftierte Maler zur Raumgestaltung des Theaters beigetragen haben. Sie werden als gewissenhaft, schnell und qualitativ gut arbeitend beschrieben.1512

Abb. 55: Innenansicht des Magadaner Theaters in den 1940er-Jahren. Kolyma, 1946, Extra-Ausgabe, S. 20.

Die Stuckarbeiten und Büsten im Inneren des Theaters sowie die vier Skulpturen über dem Theatereingang gestaltete der Maler und Bildhauer Georgij Lavrov (1895 – 1991).1513 Vor und nach seinem Einsatz beim Bau des Magadaner Theaters musste er Schwerstarbeit leisten. Die Prämie, die er für die Arbeit am Theater bekam, bestand aus einem Laib Schwarzbrot, etwas Machorka, den er 1511 Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 70; Kolyma, Nr. 11, 1940, S. 49. 1512 Die Nachnamen der Maler lauteten Parchomenko und Timofeev. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 5, l. 17. 1513 Lavrov hatte die Jahre 1927 bis 1935 auf Empfehlung Anatolij Lunacˇarskijs in Paris verbracht. Dort war er als Maler tätig gewesen, und seine Werke waren in einer persönlichen Ausstellung im Jahr 1932 gezeigt worden. Nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion wurde er 1938 verhaftet und wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt. Lavrov, Georgij: »Parizˇ… Magadan«, in: Vilenskij, SemÚn (Hg.): Osvencim bez pecˇej. Iz podgotovlennogo k izdaniju sbornika »Dodnes’ tjagoteet«, t. II, »Kolyma«, 1996, S. 107 – 111; http://www.sakharov-center.ru/asfcd/auth/ ?t=author& i=1001 (letzter Zugriff am 7. November 2011).

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verschenkte, weil er nicht rauchte, und 50 Gramm Alkohol, den sein Vorgesetzter auf seine Gesundheit trank. Nach der Haft arbeitete Lavrov wieder als Maler und Bildhauer und durfte 1954 nach Moskau zurückkehren. Das neue Theater unterstand ideell der Politverwaltung des Dal’stroj und finanziell seiner Administrativverwaltung. Die dem Gründungsbefehl beigefügte Verordnung regelte, dass Drama- und Musik-Vorführungen des Theaters ideell korrekt und künstlerisch hochwertig zu sein hatten und durch die Politverwaltung des Dal’stroj genehmigt werden mussten.1514 Hauptspielstätte der neuen Theatertruppe war das neue Kulturhaus, im Sommer sollte sie aber auf Tournee gehen, um vor zivilen Arbeitern des Dal’stroj – so das offizielle Dokument – aufzutreten. Zwei Monate nach seiner Gründung gab das Theater ein großes dreiteiliges Konzert zum 24. Jubiläum der Oktoberrevolution. Zu Beginn dieses Konzerts vereinigten sich auf der Bühne die Chöre des Pionierhauses, der städtischen »Laienkunst«, der Wachmannschaften des Sevvostlag sowie des Theaters für die Aufführung von Aram Chacˇaturjans Pesnja o Staline (Lied über Stalin).1515 Es ist kaum vorstellbar, welche unterschiedlichen Gedanken die daran Beteiligten, unter denen sich auch Häftlinge und ehemalige Häftlinge befanden, bei den Proben und der Aufführung gehabt haben mögen, doch nach außen präsentierte man sich als geschlossen hinter dem Regierungschef stehend. Der erste Teil des Konzerts wurde größtenteils von Pionieren, der zweite von der »Laienkunst« und der dritte von den Wachmannschaften bestritten. Es dominierten sowjetische Lieder und Volkstänze. Die städtische »Laienkunst« beendete ihren Auftritt mit Gimn partii bol’sˇevikov (Hymne der bolschewistischen Partei) von Aleksandr Aleksandrov,1516 dessen Melodie Aleksandrov später für die sowjetische Staatshymne verwendet hat. Kurz nach der Gründung des neuen Theaters wurden im November 1941 im Gor’kij-Kulturhaus für die politische und die Dal’stroj-Führung feste Sitzplätze in den Logen und in der nullten Reihe im Parkett reserviert. Die fünf wichtigsten Männer des Dal’stroj – der Dal’stroj-Leiter, der Leiter der Politverwaltung, der erste stellvertretende Dal’stroj-Leiter, der stellvertretende Dal’stroj-Leiter und der Leiter der NKVD-Verwaltung des Dal’stroj – konnten immer zwischen Loge und Parkett wählen, denn für sie waren bei jeder Vorstellung die besten Plätze an beiden Orten reserviert.1517 Dies änderte sich ein wenig im Oktober 1942, als auf

1514 GAMO: F. R-23, op. 1, d. 1074, l. 94. 1515 Hörbeispiel: http://sovmusic.ru/sam_download.php?fname=s12108 (letzter Zugriff am 16. Januar 2012). 1516 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 11, l. 31, 32. 1517 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 17, l. 32. Auch am Theater von Vorkuta, so berichtet Grigorij Litinskij, saß das Publikum entsprechend dem Dienstgrad auf bestimmten Plätzen. Es gab

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Anordnung des Leiters der Politverwaltung Ivan Sidorov nur noch drei Logen statt vier für die Dal’stroj-Elite fest reserviert bleiben sollten.1518 Auch die Zahl der fest gebuchten Plätze im Parkett sank von 28 auf 16. Dem Beispiel der Zusammenlegung der Theater folgend, befahl der Direktor des Gor’kij-Kulturhauses, FÚdor Jarikov, am 1. Dezember 1941 die Vereinigung der Orchester beider städtischer Kinohäuser zu einem Jazz-Orchester, um die Qualität der Musikdarbietungen in den Kinos zu steigern. Die Orchester unterstanden administrativ seit dem 11. Oktober 1941 dem Kulturhaus. Zu diesem Zeitpunkt waren mindestens fünf der neun Mitarbeiter der Jazz-Gruppe eines der Kinos ehemalige Häftlinge.1519 Das neu geschaffene Jazz-Orchester hatte in beiden Kinos zu spielen. Als Leiter des Jazz-Orchesters sollte Michail Ljalin, der schon im ME˙T dem JazzOrchester vorstand, innerhalb von zehn Tagen das neue Kollektiv mit Repertoire versorgt sowie einen Konzertplan für 1942 erstellt haben. Eingeleitet wurde die Anordnung über die Vereinigung der Orchester mit dem Befehl, dass unter den Bedingungen des Krieges alle Theatermitarbeiter ihre Aufgabe genau und selbstlos zu erfüllen hatten. Kinogänger sollten vor dem Film nicht nur das JazzOrchester hören können, sondern auch Sänger sowie Schauspieler mit Lesungen und Sketchen, wofür Künstler des Theaters eingesetzt werden sollten. Alle Programmpunkte sollten von Patriotismus durchdrungen sein und sich auf aktuelle Ereignisse beziehen.1520 Einem theaterinternen Bericht vom 12. November 1941 zufolge waren von vornherein Häftlinge am Theater beschäftigt. Dort wird die gute Arbeit dreier inhaftierter Maler, eines Schneiders, eines Kostümbildners und zweier Bühnenarbeiter gewürdigt.1521 Im ersten Halbjahr des Jahres 1942 realisierte das Magadaner Theater zwei

1518 1519 1520 1521

auch fest reservierte Plätze. Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 183. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 17, l. 31. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 5, l. 7, 38, 44. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 5, l. 7. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 5, l. 18, 18ob. Darunter ist Vasilij Sˇuchaev (1887 – 1973) zu finden, ein bedeutender russischer Maler, der seine Ausbildung in Moskau, Petersburg und Italien erhalten hatte und an der Petrograder Kunstakademie als Professor tätig gewesen war. 1920 war er illegal nach Finnland und danach nach Frankreich übergesiedelt, wo er großen Erfolg gehabt hatte. 1934 kehrte er in die Sowjetunion zurück, arbeitete als Professor an der Kunstakademie in Leningrad sowie an der Architekturakademie in Moskau und war als Bühnenbildner am Mariinskij-Theater tätig. 1937 wurde er wegen »Verdacht auf Spionage« zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt und im Dezember des gleichen Jahres auf die Kolyma transportiert. Er musste zunächst Arbeiten mit der Allgemeinheit der Häftlinge verrichten, bevor er am Theater tätig werden konnte. Im April 1945 ist Sˇuchaev freigelassen worden und arbeitete bis Herbst 1947 als Zivilist am Magadaner Theater. Danach zog er mit seiner Frau, der Designerin Vera Sˇuchaeva, die genauso lange wie er im Sevvostlag inhaftiert gewesen war, nach Tiflis. Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 99.

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Konzertprogramme, entsprechend dem Beschluss seines künstlerischen Rats vom Januar 1942. Dieser hatte auch die Inszenierung der Operette Mam’zelle Nitouche von Herv¦ sowie der Musikkomödie Jacinto Benaventes Los intereses creados (Igra interesov) geplant.1522 Das erste Konzert hatte am 21. März Premiere und wurde insgesamt elfmal gegeben, das zweite erklang am 23. Mai zum ersten Mal und wurde 15-mal wiederholt. Das erste Programm sahen, offiziellen Unterlagen zufolge, 4.381 Zuschauer, das zweite 5.004. Damit gehörten Konzerte zu den beliebtesten Veranstaltungen des Theaters. Noch besser besucht waren allerdings die Konzerte der USVITL-»Agitationsbrigade« (vgl. Kapitel B.2, Abschnitt »Die ›Kulturbrigade‹ des Maglag«), die im August 1942 13-mal am Theater aufgetreten ist und 5.323 Zuschauer anziehen konnte.1523 Die Konzerte des Theaters trugen die Titel Za rodinu (Für das Vaterland) bzw. B’Úm tocˇno (Wir schlagen genau ins Ziel).1524 Es gab am Theater Bestrebungen, den kämpfenden Truppen zu helfen: Im Herbst 1941 beschloss das Jazz-Orchester des Theaters, ein Benefiz-Konzert für den Verteidigungsfond zu veranstalten.1525 Solche Konzerte hat es im Laufe des Krieges immer wieder gegeben.1526 Außer den genannten großen Konzerten fanden auch kleinere Konzerte am Theater statt, beispielsweise drei Abende zu Lenins Todestag am 21. Januar 1942. Die Abende am 20. und 21. Januar wurden von Künstlern des Theaters gestaltet, für den am 19. Januar zeichnete die »Laienkunst« verantwortlich. Sowohl am 19. als auch am 20. Januar wurde ein Lied über Stalin gesungen.1527 Die Abende am 20. und 21. Januar beinhalteten vornehmlich Gedichte über Lenin und darüber hinaus ein Instrumentaltrio sowie Gesang vom bereits erwähnten ehemaligen Häftling Nikolaj Antonov, der unter anderem Lenins Lieblingslied Zamucˇen tjazˇÚloj nevolej (Gequält durch schwere Gefangenschaft) vortrug und dabei vom ehemaligen Häftling Michail Ionov am Bajan begleitet wurde. Der Abend der »Laienkunst« setzte sich aus sowjetischen Liedern und einem russischen Volkslied zusammen.1528 Beschäftigung von Häftlingen und ehemaligen Häftlingen am Theater Am 20. Mai 1942 unterzeichneten der Leiter des Maglag, Konstantin Davydov, und der Theaterdirektor, FÚdor Jarikov, ein Abkommen über die Beschäftigung von Häftlingen am Theater.1529 Das Maglag verpflichtete sich, auf monatlich zu 1522 1523 1524 1525 1526 1527 1528 1529

GAMO: F. R-54, op. 1, d. 7, l. 5. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 17, l. 1, 1ob. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 15, l. 11. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 9, l. 25. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 12, l. 63. Am 19. Januar war es das von Matvej Blanter komponierte Lied. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 11, l. 38 – 40. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 17, l. 5 f.

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stellende Anträge des Theaters hin diesem professionelle Künstler aus dem Gros der Häftlinge zu überlassen. Diese sollten am Theater ihren eigentlichen Beruf ausüben, und zwar von 10:00 bis 14:30 und von 19:30 bis 0:30 Uhr ; davon ausgenommen waren gesetzliche Feiertage. Das Maglag verpflichtete sich, diese Häftlinge nicht anderweitig einzusetzen, das heißt, sie nicht in Konzerten im Lager auftreten zu lassen. Für das Nichterscheinen der Häftlinge am Theater musste das Maglag diesem eine zu vereinbarende Summe zahlen, wenn das Nichterscheinen vom Maglag verschuldet wurde. Das Theater hatte dem Maglag die Unterbringung und die Verpflegung der Häftlinge zu erstatten. Dabei sollten sie eine verbesserte Verpflegung bekommen, gleich Häftlingen, die den Plan zu 200 und mehr Prozent erfüllten. Zusätzlich hatte das Theater für jeden Häftling 100 Rubel Prämie pro Monat zu zahlen, wie es für sogenannte Spezialisten unter den Häftlingen, die in zivilen Betrieben tätig waren, üblich war. Beim Einsatz der Häftlinge musste das Theater das vom Maglag festgelegte Regime für Lagerinsassen befolgen. Wurden die Häftlinge nicht mehr gebraucht, bestand jederzeit die Möglichkeit, sie an das Maglag zurückzuschicken. Am 23. Mai wurde diese Vereinbarung vom Sevvostlag-Leiter Evel’ Drabkin und dem stellvertretenden Leiter der Politverwaltung Vasilij Belov unterzeichnet und trat damit in Kraft. Auch wenn dieses Abkommen gut durchdacht zu sein scheint, ergaben sich in der Praxis Schwierigkeiten bei der Beschäftigung von Häftlingen am Theater. Davon zeugt ein Bericht des Theaterdirektors an den Leiter der Politverwaltung vom 20. Juni 1942.1530 Darin beschreibt er, dass für den Sommer eine Revuegruppe am Theater ins Leben gerufen wurde, in der acht Zivilisten und fünf Häftlinge beschäftigt waren. Doch die Häftlinge wurden regelmäßig für Konzerte der »Laienkunstzirkel« im Lager gebraucht, und zwar nicht nur in Magadan, sondern auch entlang der Kolyma-Trasse. Deswegen konnten sie die von ihnen am Theater erwartete Leistung nicht erbringen und die Revuegruppe konnte keine Konzerte realisieren. Zusätzlich klagte der Direktor darüber, dass die Häftlinge Schwierigkeiten mit dem aktuellen Repertoire hätten. Jedoch machte das Theater jahrelang Gebrauch von dem Abkommen: Beispielsweise wurde Sof ’ja Gerbst (vgl. Kapitel B.2) im Frühjahr 1944 als Konzertmeisterin für die Komödie Raskinulos’ more ˇsiroko (Meer soweit das Auge reicht) beschäftigt, und der Probenplan für das Theaterstück Poedinok (Zweikampf) für die Zeit vom 26. bis 30. September 1944 sah vor, an zwei Tagen den Häftling Ananij Sˇvarcburg (vgl. Kapitel B.2) zu ordern,1531 dessen Name sehr

1530 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 12, l. 23; Kozlov, Magadan. Predvoennoe i voennoe vremja, Bd. 2: 1939 – 1945, 2002, S. 279. 1531 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 24, l. 32, 58.

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oft in Konzertprogrammen Mitte der 1940er-Jahre begegnet. Zur Feier des 1. Mai 1944 wurden sechs inhaftierte Künstler zum Arbeiten ans Theater bestellt.1532 Nach Ende der ersten Spielsaison im Frühjahr 1942 beschloss der Dal’strojLeiter die Schließung des Theaters.1533 Am 17. Juni 1942 wurden alle 18 Musiker des Theaters entlassen, darunter auch die vier ehemaligen Häftlinge Vasilij Belov (nicht zu verwechseln mit dem namensgleichen stellvertretenden Leiter der Politverwaltung des Dal’stroj), Aleksej Bogusˇev, Sˇavkat Valeev und Moisej Rafalovicˇ. In der Entlassungsanordnung wurde ausdrücklich vermerkt, dass es sich bei ihnen um ehemalige Häftlinge handelte.1534 Es gab in der Liste der zu entlassenden Mitarbeiter nämlich die Spalte »auf Vertragsbasis eingestellt oder ehemaliger Häftling«. Einige Künstler schlossen sich aber zu einer kleinen Truppe zusammen und gingen mit Konzerten auf Tournee quer durch die Kolyma. Einige andere wiederum wurden von der Politverwaltung in »Laienkunstverbände« in Magadan und andere größere Städte auf der Kolyma geschickt, um diese Zirkel anzuleiten.1535 Trotzdem gab es im August, wie oben bereits erwähnt, 13 Konzerte am Theater, die von der Agitationsbrigade des Sevvostlag bestritten wurden und sehr erfolgreich waren (vgl. Kapitel B.2, Abschnitt »Die ›Kulturbrigade‹ des Maglag«).1536 ***

Im Herbst 1942 wurde das Theater wiedereröffnet und setzte seine Arbeit fort. Es herrschte ein Mangel an Künstlern, und der Leiter der Politverwaltung, Ivan Sidorov, reagierte darauf, indem er im September eine Anordnung erließ, 16 Schauspieler und Musiker, bei denen es sich um ehemalige Häftlinge handelte, unverzüglich von ihren damaligen Arbeitsstätten nach Magadan zu beordern.1537

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GAMO: F. R-54, op. 1, d. 22, l. 51. Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 13 f. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 17, l. 11 u. 12. ˇ ekarÚv, Nikolaj: »Teatr v gody vojny«, in: Kraevedcˇeskie zapiski, Bd. XVI, 1989, S. 132 f. C GAMO: F. R-54, op. 1, d. 17, l. 1ob. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 17, l. 45. In den 1968 verfassten Erinnerungen an seine Tätigkeit ˇ ekarÚv am Magadaner Theater schrieb der Schauspieler und ehemalige Häftling Nikolaj C über diese Anordnung: »[…] der Leiter der Dal’stroj-Politverwaltung erteilte den Befehl, diejenigen aus den Minen zu ordern, die in der Vergangenheit an professionellen Theatern ˇ ekarÚv, »Teatr v gody vojny«, 1989, S. 133). Dies ist eine Dedes Landes tätig waren« (C monstration dessen, dass Häftlingserinnerungen in Bezug auf offizielle Erlasse richtig sein konnten. Es gab unter ihnen offenbar tatsächlich solche, die einen Einblick in die Maschinerie des Gulag nehmen konnten. Wenn jedoch das entsprechende offizielle Dokument nicht aufgefunden wird, ist es schwer zu entscheiden, ob den Erinnerungen eines

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Unter ihnen waren beispielsweise der Klarinettist und ehemalige Student des Moskauer Konservatoriums Michail Micheev, der gerade als Traktorfahrer im Dorf Orotukan (40) arbeitete, sowie Valentin Portugalov, ein Absolvent des Staatlichen Experimentellen Mejerchol’d-Studios, der nach Verbüßen einer fünfjährigen Haft an seinem letzten Haftort geblieben und dort in der Mine Cheta im Zuständigkeitsgebiet der Südwestlichen Bergbauverwaltung als Zivilist tätig war.1538 Am 18. September tagte eine Kommission, welche die georderten Schauspieler und Musiker anhörte und über ihre Anstellung entschied.1539 So wurde Michail Micheev, der fünf Jahre Lagerhaft wegen angeblicher konterrevolutionärer Agitation verbüßt hatte und erst im Juli 1942 freigelassen worden war, als Klarinettist und Saxophonist eingestellt. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung war er am Realistischen Theater in Moskau [Moskovskij realisticˇeskij teatr] tätig gewesen. Pavel Pel’tcer, der ebenfalls wegen konterrevolutionärer Agitation zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt und erst im Juni 1942 freigekommen war, bekam eine Stelle als Dirigent. Vor seiner Haft war er musikalischer Leiter des Moskauer Gewerkschaften-Theaters gewesen [Teatr Moskovskogo gorodskogo soveta profsojuzov, ab 1938 Mossovet-Theater]. Die ehemaligen Häftlinge, die zur Mitarbeit am Theater geordert wurden, hatten nach ihrer Anstellung mit großen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen, wodurch sie in unannehmbare Lebensumstände gerieten. Davon zeugt ein Brief des Schauspielers Georgij Krivozubov an den Leiter der Politverwaltung vom 8. Januar 1943, der aus großer Not heraus geschrieben zu sein scheint.1540 Krivozubov war Absolvent der Beethoven-Fachschule für Musik und Drama in Odessa. 1937 wurde er im Alter von 24 Jahren verhaftet und wegen »Propaganda und Agitation« zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt. Nach seiner Freilassung am 19. Juli 1942 arbeitete er als Gesteinshauer in der Mine Mal’djak (21).1541 Zwei Monate später wurde er nach Magadan beordert. Im Brief schildert er, dass er nach der Freilassung keine Sachen für den eigenen Gebrauch erwerben konnte. Vier Monate lang hatte er die Theaterdirektion um einen Kredit gebeten, aber keinen bekommen. Er konnte nur einmal im Monat das Hemd wechseln und musste über eine Woche lang dieselbe Unterwäsche tragen. Er schlief auf blanken Gittern des Bettes ohne Bettzeug und besaß als Schauspieler keinen Anzug und keine Schuhe. Er fühlte sich als

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Häftlings zu trauen ist, weil Häftlinge durch das Lagersystem dazu gezwungen wurden, sich hauptsächlich mit sich selbst zu beschäftigen. Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 79, 85. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 17, l. 39 – 41. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 12, l. 69 u. 69ob. Aleksandr Kozlov gibt den Vornamen dieses Schauspielers fälschlicherweise mit Grigorij an. Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 75. Im Brief ist der Name jedoch gut leserlich mit der Abkürzung »Georg.« geschrieben. Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 75; GAMO: F. R-54, op. 1, d. 17, l. 45.

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»kultivierter Bettler« und konnte sich keine Zukunft vorstellen. Am Ende des Briefes erwähnte Krivozubov, dass es den neu angestellten Künstlern, die mit ihm zusammen wohnten, genau so erginge wie ihm. Ob dieser Brief wahrheitsgetreu war und welche Folgen er hatte, lässt sich nicht überprüfen. Doch sein Verfasser blieb nicht lange am Theater. Mitte Februar wurde seine Probezeit zwar verlängert,1542 aber er wechselte noch 1943 in einen unbekannten Dal’strojBetrieb und verließ 1946 die Kolyma.1543 Trotz der Anstellung ehemaliger Häftlinge fehlte es dem Theater weiterhin an Künstlern. Am 1. Oktober 1942 telegrafierte der Theaterdirektor FÚdor Jarikov an Dal’strojsnab in Moskau,1544 dass das Theater wiedereröffnet wurde, und die Truppe aus 29 Personen bestand. Er bat um die Entsendung von zwei Schauspielern nach Magadan, die Lenin und Stalin darstellen konnten, einer jungen Schauspielerin, eines Komikers, eines Liebeshelden und eines Dirigenten, welcher auch orchestrieren konnte. In einem zweiten Telegramm am gleichen Tag bat er um Zusendung von Liedern über den Zweiten Weltkrieg.1545 Im November 1942 gab es am Theater drei Konzerte – zwei Vorstellungen des Maglag am 11. und 15. November sowie ein gemeinsames Konzert der »Laienkunst« des Pionierhauses und des VOChR-Ensembles zur finanziellen Unterstützung der kämpfenden Truppen.1546 Gleichzeitig bereitete die Theatertruppe gemeinsam mit den Mitarbeitern des Rundfunks ein großes Konzertprogramm vor, welches am 9. Dezember auf der ganzen Kolyma und im Gebiet Chabarovsk gesendet wurde.1547 Für das erste Halbjahr des Jahres 1943 wurden folgende Musikvorführungen geplant: ein Konzert zum 25. Jubiläum der Roten Armee, die Operette Mam’zelle Nitouche von Herv¦ sowie ein Konzert zum 1. Mai.1548 Als Regisseur beider Konzerte war Jakov Taneev vorgesehen, ein Absolvent der Schauspielschule in Char’kov, der als »sozial gefährliches Element« zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt worden war. Während seiner Haft trat er als Mitglied der Maglag-»Kulturbrigade« auf. Fünf Tage nach seiner Entlassung im November 1942 wurde er am Theater angestellt. Im Dezember 1943 verließ er die Kolyma.1549 An einem Dokument, welches in einen Zusammenhang mit dem Konzert zum 25. Jubiläum der Roten Armee gebracht werden kann, lässt sich demonstrieren, 1542 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. 108. 1543 Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 76. 1544 Dal’strojsnab – ein staatlicher Trust, der für die Belieferung des Dal’stroj mit notwendigen Gütern zuständig war. 1545 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 17, l. 15 f. 1546 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 17, l. 3. ˇ ekarÚv, »Teatr v gody vojny«, 1989, S. 133. 1547 C 1548 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. 102. 1549 Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 93.

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wie stark das sowjetische Kulturleben, auch in einer Lagerstadt wie Magadan, von sozialistischen Ritualen durchdrungen war. Es handelt sich dabei um eine sogenannte sozialistische Verpflichtung [socobjazatel’stvo], die das Orchester des Theaters einging. Die Musiker verpflichteten sich unter anderem dazu, auf die Stimmung ihres eigenen Instruments sowie des ganzen Orchesters zu achten. Die Ergebnisse der Verpflichtung wurden von einer Kommission aus Orchestermitgliedern Mitte März kontrolliert, die in Bezug auf die Stimmung eine Besserung feststellte, jedoch keine Entwarnung gab.1550 Vor der Inszenierung der Operette Mam’zelle Nitouche traf der neue Dirigent Jurij Birjukov am Theater ein.1551 Am 9. April, fünf Tage nach der Premiere von Mam’zelle Nitouche,1552 sprach er in einer Vollversammlung des Theaterorchesters über die Arbeit an dieser Operette.1553 Er sagte, dass das Orchester bei seiner Ankunft in Magadan sowohl quantitative als auch qualitative Mängel aufgewiesen hatte. Al’bert Kesˇe (vgl. Kapitel B.2) soll die Stücke »ungeschickt« arrangiert haben,1554 was dazu geführt hat, dass das Orchester eher wie ein Blasorchester klang als wie ein Sinfonieorchester. Hinzu kam, dass die Intonation schlecht gewesen war. Durch die Arbeit an der Operette klang das Orchester nun sinfonisch, die Musiker hatten begonnen, aufeinander zu hören. Birjukov stellte fest, dass die Schauspieler, die am Magadaner Theater in Operetten sangen, ein schwieriges Verhältnis zur Musik hatten, weil sie vom Drama her kamen. Er forderte vom Orchester und von jedem seiner Mitglieder, sehr viel zu arbeiten und lobte die Geiger am ersten Pult – den ehemaligen Häftling Aleksandr Visˇneveckij und V. Pavel’skij – sowie den Klarinettisten Michail Micheev. Auf seine Rede hin äußerten sich Musiker über die Arbeitsbedingungen im Orchester. Der Geiger und ehemalige Häftling Moisej Rafalovicˇ beschwerte sich darüber, dass es im Orchestergraben sehr eng sei, und der ebenfalls in Haft gewesene Vasilij Korobkov monierte, dass es schwierig sei, einen Ort zum individuellen Üben am Theater zu finden. Die Versammlung beschloss, während 1550 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 16, l. 15, 15ob, 16, 16ob. 1551 Birjukov (*1895) war ein Violoncellist, welcher 1935 seine Ausbildung am Moskauer Konservatorium beendet hatte und seit 1915 über Arbeitserfahrung am Theater verfügte. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 15, l. 12. Er war Kapellmeister in der Zarenarmee, danach Operndirigent, Musiklehrer, Musiker im Orchester des Bol’sˇoj-Theaters und Leiter mehrerer Theaterorchester gewesen. 1941/42 arbeitete er als Komponist bei der Allrussischen Theatergesellschaft. Im November 1942 traf er als Zivilist in Magadan ein und arbeitete zwei Jahre lang als Dirigent und musikalischer Leiter am Theater, um danach die Kolyma zu verlassen. Kozlov, Magadan. Predvoennoe i voennoe vremja, Bd. 2: 1939 – 1945, 2002, S. 440. 1552 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 12, l. 61. 1553 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 8, l. 33 f. ˇ ajkovskijs Pique Dame 1554 Als Beispiele nennt Birjukov hier die Szene beim Winterkanal aus C sowie die Orchestrierung der Musikkomödie Vzaimnaja ljubov’ (Gegenseitige Liebe) von Sigizmund Kac.

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des Sommers den Orchestergraben so umzubauen, dass die Geiger »einigermaßen gut« sitzen konnten, ohne während des Spielens einander anzustoßen.1555 Das Orchester des Theaters bestand am 12. April 1943 aus 18 Musikern, acht1556 von ihnen waren ehemalige Häftlinge. Am 4. Mai kamen die Orchestermusiker zu einer weiteren Vollversammlung zusammen, um das Konzert zur Feier des 1. Mai nachzubesprechen.1557 Der Dirigent Birjukov sagte, dass die intensive und umfangreiche Arbeit am Programm sich ausgezahlt und ein sehr gutes Ergebnis sowie eine hohe Bewertung der Kommission zur Folge gehabt hatte. Das Orchester hatte zwei unterschiedliche Rollen erfüllt, was »sehr schwierig« sei, zum einen die eines Sinfonieorchesters und zum anderen die eines Jazz-Orchesters. Die Probenpläne für das Konzert zur Feier des 1. Mai 1943 sind erhalten geblieben1558 und demonstrieren, dass während der Proben von Programmpunkten für kammermusikalische Besetzungen die am Theater arbeitenden Häftlinge Stunden des Zusammenseins mit sehr wenigen Menschen oder sogar einige Stunden des Alleinseins genießen konnten, während ihre Mithäftlinge, die mit der Allgemeinheit zu schweren Arbeiten ausrückten mussten und anschließend in die überfüllten Baracken zurückkehrten, mit vielen Menschen auf engem Raum zusammengepfercht waren und keine Möglichkeit hatten, sich zurückzuziehen.1559 Beispielsweise verfügte die inhaftierte Pianistin Sof ’ja Gerbst, auch unabhängig von den Vorbereitungen auf das Konzert am 1. Mai, über Probezeiten von bis zu zwei Stunden, die für sie alleine reserviert waren.1560 Das dreiteilige Programm des Konzerts vom 1. Mai 1943 enthielt im ersten ˇ ajkovskij mit Sof ’ja Gerbst als Teil den ersten Satz eines Klavierkonzerts von C ˇ ˇ Solistin, die Arie der Kuma aus Cajkovskijs Carodejka (Zauberin), gesungen von der ebenfalls inhaftierten Evgenija Vengerova, sowie das Allegro aus seiner Sechsten Sinfonie. Auf diese Weise war hier im Gegensatz zu einem bunten Abend ein Konzertteil mit rotem Faden konzipiert worden, denn er enthielt Werke eines einzigen Komponisten. Der zweite Teil wurde von Gedichten und einem Schauspiel dominiert. Dazwischen sang Evgenija Vengerova Kunstlieder 1555 1556 1557 1558 1559

GAMO: F. R-54, op. 1, d. 8, l. 34ob, 35. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. 128. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 8, l. 36 f. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 15, l. 29. Welch eine große Belastung die fehlende Möglichkeit sich zurückzuziehen darstellte, geht aus zahlreichen Häftlingserinnerungen hervor. Beispiele dafür sind: Grin, »Zabveniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 15, S. 25; Olickaja, Moi vospominanija, 1971, Bd. 1, S. 239, 242 f. 1560 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 15, l. 37. Vom Theater in Vorkuta berichtet Tat’jana Lesˇcˇenko, dass sie in den Pausen, in denen die anderen Häftlinge aus dem Theater zurück in die Zone gebracht wurden, manchmal am Theater bleiben durfte, um am Flügel zu üben und dies als Zeiten der Rekreation empfunden hat. Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij G. M.), Nr. 1, S. 582.

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und andere Lieder, begleitet von Sof ’ja Gerbst am Klavier. Den dritten Teil gestaltete zunächst der Thea-Jazz mit sowjetischer Filmmusik. Weiterhin wurden ein »exzentrischer Tanz«, bearbeitet von dem Häftling Boris E˙ntin,1561 einige Lieder, eines davon von Michail Ljalin, Jonglage, Operettenduos und ein Tanz vorgetragen.1562 Evdokija Tarasova und Naum Nal’skij, welche die Operettenduos gesungen haben, befanden sich beide noch in Haft. Am 7. Mai 1943 fand am Theater ein Kammerkonzert statt, zu dem der noch inhaftierte Maler Vasilij Sˇuchaev das Bühnenbild entworfen hatte.1563 Das Programm des zweiteiligen Konzerts fällt im Vergleich zu den üblichen Konzerten in Magadan dadurch auf, dass es keine ideologischen Stücke enthielt. Am Beginn erklang das Klaviertrio von Anton Arenskij mit dem ehemaligen Häftling Aleksandr Visˇneveckij an der Violine und dem neuen Dirigenten Jurij Birjukov am Cello. Ein Ausschnitt aus Evgenij Onegin wurde rezitiert, und zum Abschluss des ersten Teils spielte Sof ’ja Gerbst die Pr¦ludes Nr. 2 und 5 sowie die Elegie von ˇ ajkovskij und RachRachmaninov. Im zweiten Teil erklangen Lieder von C maninov in der Ausführung von Evgenija Vengerova und Sof ’ja Gerbst sowie die Erzählung Metel’ (Schneesturm) von Pusˇkin, gelesen von Jurij Rozensˇtrauch.1564 Nach dem Ende der Saison hatte die Theatertruppe vom 24. Mai bis 15. Juni Zeit, ein Programm für die sommerliche Tournee vorzubereiten. Doch nicht alle Mitarbeiter des Theaters gingen auf diese Tournee, einige mussten auch beim Goldabbau aushelfen, damit der Plan erfüllt wurde. Dies betraf ab 13. Mai 1943 auch den Hornisten und ehemaligen Häftling Vladimir Lavendel’ (geboren 1891 in Petersburg).1565 Nach seinem Arbeitseinsatz im Sommer 1943 in der

1561 Boris E˙ntin (*1912) wurde 1937 nach § 58 zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt, die er auf der Kolyma verbüßt hat. 1946 wurde er freigelassen und arbeitete beim Magadaner Radio sowie am Theater. Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 100. 1562 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 11, l. 12, 12ob. 1563 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. 133. 1564 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 11, l. 14, 14ob. 1565 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. zwischen 138 und 139, falsch nummeriert mit 140. Auch der Kontrabassist und ehemalige Häftling Vsevolod Pekar’ war in den Sommermonaten bis Ende Oktober 1943 in der Mine Bol’sˇevik (Der Bolschewike) (17) beschäftigt. GAMO: F. R54, op. 1, d. 2, l. 234. Vladimir Lavendel’ war Absolvent des Petersburger Konservatoriums. Im Sommer 1913 war er ins Orchester des Grafen Aleksandr Sˇeremet’ev aufgenommen worden und hatte nach der Revolution ab 1918 an der Musikschule in Rostov-na-Donu unterrichtet. In den 1920er- und 1930er-Jahren war er erneut in Leningrad beschäftigt, und zwar im Orchester des Kirov-Theaters, und hatte daraufhin an der Musikfachschule in Taganrog unterrichtet. 1936 wurde er verhaftet und wegen »Propaganda und Agitaton« zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt. Im Jahr 1939 freigelassen, arbeitete er bis zu seiner Anstellung am Theater im Jahr 1943 als Rechnungsführer, Schriftführer, Sekretär und Hausgehilfe. Im Oktober 1946 verließ er die Kolyma. Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 76.

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Mine Gvardeec (Der Gardist) (11) kehrte er erst am 25. Oktober ans Theater zurück.1566 Wie solche sommerlichen Arbeitseinsätze wie der von Lavendel’ für die Angestellten des Theaters aussahen, schildert Georgij Krivozubov in einem Brief vom 28. Mai 1943 aus der Mine Gvardeec (11) der Ten’kinskoe-Bergbauverwaltung (TGPU) an den Theaterdirektor FÚdor Jarikov. Zunächst mussten die Angestellten eine 48 Stunden dauernde Autofahrt mit einem langsamen Lkw auf schlechten hügeligen Straßen hinter sich bringen. Die letzten 25 Kilometer mussten sie durch eine Moorlandschaft zu Fuß zurücklegen, wobei das Wasser ihnen bis zu den Knien stand. Nach der Ankunft wurde ein Ruhetag eingelegt, danach mussten sich die Ankömmlinge ihre Unterkunft in Form eines Zeltes bauen. Fünf Tage später begannen die Theaterangestellten ihre Arbeit in der Goldmine, wobei alle, dem Bericht Krivozubovs nach, die Norm schafften und einige sogar übererfüllten. Nach der Arbeit wuschen sie noch eine Stunde lang Gold. Eine Kantine gab es nicht, gegessen wurde unter freiem Himmel. Und doch klingt der Brief Krivozubovs optimistisch, er bittet auch um Vaudeville-Texte und Schminke für die »Laienkunst«.1567 Im Oktober 1943 waren 40 Schauspieler und 20 Musiker am Theater beschäftigt.1568 Zusätzlich wurden auf einen Befehl des Dal’stroj-Leiters Ivan Nikisˇov, dem ein Vertrag mit dem Direktor des Ukrainischen Theaters für Musikkomödie vorausging, 36 Künstler dieses Theaters ab 1. Oktober 1943 für achteinhalb Monate am Magadaner Theater eingestellt.1569 Dies kam dadurch zustande, dass die Truppe des ukrainischen Theaters sich davor auf einer Tournee durch Sibirien, Jakutien und den Fernen Osten befunden und dabei auch in Magadan gespielt hatte. Obwohl vorgesehen war, dass sie gesondert arbeiten sollte, kam es zu gemeinsamen Inszenierungen mit der Truppe des Magadaner Theaters.1570 Dies überliefern nicht nur Zeitzeugen, sondern auch offizielle Dokumente des Theaters, welche ebenso zeigen, dass die ukrainische Truppe häufig zum Einsatz kam.1571 Wie schon für die »Laienkunst« geschildert wurde, fehlte es auch am Theater an Notenmaterial. Deswegen mussten Musiker Werke, die zur Aufführung vorgesehen waren, neu orchestrieren, weil keine Orchesternoten vom gewünschten Stück vorhanden waren. Beispielsweise ordnete der Theaterdirektor FÚdor Jarikov am 5. Oktober 1943 die Orchestrierung folgender Stücke an: V. Pavel’skij hatte die Wahnsinnsszene aus Dargomyzˇskijs Oper Rusalka in zehn Tagen zu 1566 1567 1568 1569 1570 1571

GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. 229. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 12, l. 66, 66ob. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 15, l. 10. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. 231; F. R-23, op. 1, d. 1361, l. 114. ˇ ekarÚv, »Teatr v gody vojny«, 1989, S. 137. C GAMO: F. R-54, op. 1, d. 22, l. 27.

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orchestrieren, der Häftling [Al’bert] Kesˇe die Szene in der Schenke aus Musorgskijs Boris Godunov in fünfzehn Tagen, und der Häftling Boris E˙ntin in sieben Tagen alle benötigten Tanznummern.1572 E˙ntin trat am Magadaner Theater auch als Komponist hervor, z. B. von Schauspielmusik.1573 Für das letzte Quartal des Jahres 1943 waren folgende Werke des Musiktheaters am Theater vorgesehen: zwei sogenannte Musikkomödien des ukrainischen Dramaturgen Michail Starickij in der Aufführung des Ukrainischen Theaters für Musikkomödie (erste Termine am 21. Oktober bzw. 2. November), die Operette Hochzeit in Malinovka von Boris Aleksandrov mit der ersten Aufführung am 27. November und die Oper Der Kosak aus Zaporozˇ’e von SemÚn Gulak-Artemovskij am 18. Dezember. Zusätzlich waren zwei Konzerte geplant: eines zum Feiertag der Oktoberrevolution am 5. November und ein weiteres zu Ehren von Aleksandr Pusˇkin am 20. Dezember.1574 Neue Aufführungen folgten demnach in relativ kurzen Abständen aufeinander, wodurch ein abwechslungsreiches Unterhaltungsangebot geschaffen wurde. Die ukrainischen Schauspiele erfreuten sich großer Beliebtheit, weil – so der Zeitzeuge Nikolaj ˇ ekarÚv – viele Bewohner Magadans aus der Ukraine stammten.1575 C ˇ ajkovskijs 50. Am 28. und 30. Dezember fanden Konzerte zum Gedenken an C Todestag statt. Eines davon war einteilig und beinhaltete eine Szene aus Evgenij Onegin mit Evgenija Vengerova als Tatjana, rezitierte Fragmente aus Pusˇkins ˇ ajkovskij sowie sein Evgenij Onegin, gelesen von Jurij Rozensˇtrauch, Lieder von C Klaviertrio op. 50 A la mÀmoire d’un grand artiste, gespielt von Aleksandr Visˇneveckij, Kanan Novogrudskij und Sof ’ja Gerbst. Das zweiteilige Konzert begann mit dem ersten Teil des Trios in gleicher Besetzung. Es folgten einige ˇ ajkovskij, zwei Teile aus seinem Streichquartett Nr. 1 sowie eine Lieder von C Arie aus Evgenij Onegin. Der zweite Teil beinhaltete eine Rezitation sowie die Briefszene aus Evgenij Onegin, gesungen von Evgenija Vengerova. Für beide Abende hatte Vasilij Sˇuchaev das Bühnenbild gestaltet. Beide Konzerte begannen um 21:00 Uhr, was in Magadan normal war.1576 Aus dem Jahr 1944 ist ein Dokument erhalten geblieben, welches die Solidarität ehemaliger Häftlinge untereinander demonstriert. Es handelt sich dabei um ein Schreiben des Zirkuskünstlers und ehemaligen Häftlings Leonid Savusˇkin, der bereits am Theater tätig war,1577 an den Direktor des Theaters, in dem er mitteilte, dass kürzlich der Zirkuskünstler Gennadij Kur’janov aus der Haft 1572 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. 221. Aus GAMO: F. R-54, op. 1, d. 8, l. 37 geht hervor, dass Boris E˙ntin auch weitere Stücke für das Theater orchestrierte. 1573 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 30, l. 21. 1574 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. 224. ˇ ekarÚv, »Teatr v gody vojny«, 1989, S. 137. 1575 C 1576 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 11, l. 58, 60. 1577 Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 89.

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entlassen worden war. Savusˇkin bat darum, Kur’janov ans Theater zu ordern, weil dieser die Konzertprogramme durch Zirkusnummern bereichern könnte.1578 Und tatsächlich kann daraufhin Kur’janov als Mitglied der »Konzertbrigade« bei der sommerlichen Tournee des Theaters 1944 nachgewiesen werden.1579 Im Zusammenhang mit der Neubesetzung des Direktorenpostens liegt ein interner Bericht über die Lage am Theater vom 12. Mai 1944 vor. Es ist darin von einer schwierigen finanziellen Situation und von einem Mangel an Schauspielern die Rede, was entweder dadurch ausgeglichen werden könnte, dass Schauspieler von außerhalb Kolymas angeworben oder dass Häftlinge ans Theater geordert würden.1580 Der Zustand des Orchesterinstrumentariums wurde vom Theaterdirektor bereits im Februar 1944 beklagt: Es fehlten Ersatzteile für den Flügel, das Klavier sowie für Streichinstrumente.1581 Im Sommer 1944 traten viele Häftlinge in Konzerten am Theater auf. Ein Programm vom 17. Juni 1944 enthielt beispielsweise Arien aus Traviata, Evgenij Onegin und Carmen, Tänze wie Anitras Tanz von Edvard Grieg, eine Podmoskovnaja-Polka, einen »rhythmischen« sowie einen »Zigeunertanz«, »Zigeunerlieder«, eine Erzählung Michail Zosˇcˇenkos sowie den Auftritt einer JazzFormation.1582 ˇ echovs 40. Todestag statt. Am 15. und 16. Juli 1944 fanden Gedenkabende zu C Im ersten Teil wurde aus der Korrespondenz des Schriftstellers gelesen, darˇ ajkovskijs Jahreszeiten, aufhin erklangen die Sätze Oktober und November aus C ˇ vorgetragen vom Häftling Ananij Svarcburg. Ein Schauspiel beendete den ersten Teil. Im zweiten kamen die Erzählung Ionycˇ sowie der zweite und vierte Teil aus ˇ ajkovskijs Vierter Sinfonie zur Aufführung.1583 C Kontakt der inhaftierten Künstler mit Kindern der zivilen Bevölkerung Häftlinge wurden auch in Konzerten für Kinder auf der Bühne eingesetzt: Am 30. Mai 1942 gab eine Theatertruppe ein Konzert in der Magadaner allgemeinbildenden Schule. Es wurde durch Violinsoli des Häftlings Aleksandr Visˇneveckij eröffnet.1584 Auf eine Lesung folgten Bajansoli des ehemaligen Häftlings Michail Ionov. Im weiteren Verlauf las der Häftling Jurij Rozensˇtrauch eine Erzählung über den Krieg und Ausschnitte aus Majakovskijs Poem Oblako v 1578 1579 1580 1581 1582 1583 1584

GAMO: F. R-54, op. 1, d. 20, l. 61. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 22, l. 49. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 22, l. 79. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 22, l. 129 – 133. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 20, l. 29. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 23, l. 84, 89. Er spielte eine Romanze von Johan Svendsen, den Czardasz von Monti und einen Walzer von Fritz Kreisler.

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ˇstanach (Wolke in Hosen). Zum Abschluss des Konzerts traten die Häftlinge Evgenija Vengerova mit Liedern und Evdokija Tarasova mit Scherzliedern und cˇastusˇki auf. Am Klavier begleitet wurden die Sänger von der inhaftierten Pianistin Marija Gordon.1585 Auf diese Weise handelte es sich bei den meisten Künstlern dieses Konzerts um Häftlinge. Ein weiteres Beispiel bietet eine Kindermatinee am 2. Mai 1944. Sie enthielt im ersten Teil den Auftritt des Ensembles der Sevvostlag-Wachmannschaften, und im zweiten Teil trat der Häftling Leonid Varpachovskij mit einer HitlerPuppe auf (vgl. Kapitel B.2, Abschnitt »Dem Sieg entgegen«).1586 Es kam sogar vor, dass die vollständig aus Häftlingen bestehende Maglag-»Kulturbirgade« auswärtige Konzerte für Kinder spielte, z. B. am 25. November 1944 in einer Schule.1587 Es wurden ebenso Konzerte veranstaltet, in denen sowohl Kinder als auch Häftlinge auftraten. Im Konzert zur Feier des internationalen Frauentags am 8. März 1943 trugen Kinder im ersten Teil klassische Klaviermusik, ein Kriegslied, ein Gedicht über die Mutter sowie Tänze vor. Beendet wurde der Teil durch die Tanzgruppe der Sevvostlag-Wachmannschaften mit einem belorussischen Tanz. Die Wachmannschaften eröffneten auch den zweiten Teil mit Aleksandr Aleksandrovs Lied über Stalin,1588 zwei Kriegsliedern sowie einem Tanz der Roten Armee. Darauf folgte der Auftritt der Inhaftierten Evgenija ˇ ajkovskij1589 sowie Vengerova mit der Arie der Butterfly, einem Klagelied von C zwei Liedern aus Bizets Carmen. Die inhaftierte Tänzerin Irina Muchina führte gemeinsam mit dem ehemaligen Häftling Jurij Kozicyn einen Boston auf, und der Häftling Jurij Rozensˇtrauch las eine frühe Erzählung von Maksim Gor’kij über die Liebe eines Dreizehnjährigen zu einer Frau. Damit hatten die Beiträge der Häftlinge nichts mit sowjetischer Ideologie zu tun, im Gegenteil dazu, was die Lagerhauptverwaltung verlangte. Den dritten Teil dieses Konzerts bildete ein Kriegsfilm.1590 Auch das Konzert zur Feier des 1. Mai 1944, welches am 30. April stattfand, gestaltete die Kinder-»Laienkunst« gemeinsam mit dem Ensemble der Wachmannschaften sowie mit Häftlingen. Im zweiten Teil dieses Konzerts folgten Anitras Tanz, getanzt von der Inhaftierten Irina Muchina, Akrobaten aus den 1585 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 13, l. 52. Ein zum überwiegenden Teil gleiches Programm wurde einen Tag später, am 31. Mai 1942, für das Parteiaktiv gespielt. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 1, l. 62. 1586 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 23, l. 110. 1587 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 24, l. 11. 1588 Hörbeispiel: http://sovmusic.ru/sam_download.php?fname=s11366 (letzter Zugriff am 17. Januar 2012). 1589 Ja li v pole, da ne travusˇka byla (War ich nicht ein Grashalm auf dem Feld?). 1590 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 18, l. 112.

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Wachmannschaften und das Jazz-Orchester unter der Leitung von Leonid Varpachovskij unmittelbar aufeinander.1591 Kinder kamen in engen Kontakt mit ehemaligen Häftlingen auch dadurch, dass sie von ihnen unterrichtet wurden. Ein Zeugnis davon legt ein Konzertprogramm des Pionierhauses zugunsten des Verteidigungsfonds ab, welches am 23. Juni 1942 aufgeführt wurde. Drei Tänze dieses Programms inszenierte die im Januar 1942 aus der Haft entlassene Ballerina des Bol’sˇoj-Theaters Nina Gamil’ton. Mindestens zwei Tänze inszenierte der 1938 aus der Haft entlassene Tänzer FÚdor Molozin, welcher von 1942 bis 1945 auch als Ballettmeister des Klubs der Wachmannschaften gearbeitet hatte. Der ehemalige Häftling Michail Ionov war als Begleiter an diesem Konzert beteiligt.1592 ***

Es lässt sich zusammenfassen, dass der Theaterbetrieb in Magadan während des Zweiten Weltkriegs ohne Häftlinge sowie ehemalige Häftlinge unmöglich hätte aufrechterhalten werden können. Diese Künstler sorgten für ein abwechslungsreiches Repertoire, welches auch anspruchsvolle Werke enthielt. Durch ihre Präsenz auf der Bühne bewirkten sie, dass das Zusammentreffen mit Häftlingen für die zivile Bevölkerung Magadans zur Gewohnheit wurde. Dadurch konnte die zivile Bevölkerung die unmittelbare Nähe des Lagers leichter akzeptieren. Die Mitglieder des Ukrainischen Theaters für Musikkomödie, die in der Saison 1943/44 in Magadan tätig waren, trugen bei ihrer Rückkehr in die Ukraine die Erfahrung der Verflechtung von Häftlingen mit der zivilen Bevölkerung auch in den europäischen Teil der Sowjetunion weiter.

1591 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 23, l. 111. 1592 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 11, l. 41, 41ob; Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 79. Von einer Zusammenarbeit zwischen Häftlingen und Kindern der zivilen Bevölkerung wird auch aus dem Vorkutlag berichtet, wo Häftlinge im »Haus der Pioniere« einen Musikzirkel, einen Chor und andere Zirkel leiteten. Aus dem Musikzirkel, welchem der Komponist Vladimir Mikosˇo vorstand, ist die Musikschule von Vorkuta hervorgegangen. Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 111; Klejn, Aleksandr/ Popov, A.: »Zapoljarnaja drama…«, in: Nevskij, G. (Hg.): Pokajanie. Martirolog, Bd. 2, 1999, S. 219 – 260; Markova, V./Volkov, V. u. a.: Gulagovskie tajny osvoenija Severa, 2001/ 2002, S. 116. Auch in Uchta unterrichteten Häftlinge an der Musikschule. Kaneva, Gulagovskij teatr Uchty, 2001, S. 170. Und die »Kulturbrigade«, in der Dmitrij Gacˇev tätig war, trat in einer allgemeinbildenden Schule vor Kindern auf. Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003, S. 113. Regina Gurevicˇ unterrichtete als Häftling Kinder der zivilen Bevölkerung in Gesang und Tanz. Glusˇnev, Stanislav : »S nebes v preispodnjuju«, in: Muzykal’naja zˇizn’, 1989, Nr. 10, S. 29. Das GULAG versuchte, dies durch den Erlass vom 12. Juli 1947 zu unterbinden. GARF: F. R-9401, op. 1a, Findbuch.

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Henry A. Wallace besucht die Kolyma Im Mai 1944 besuchte der US-amerikanische Vizepräsident Henry A. Wallace auf seiner Reise durch Sibirien, Zentralasien, China und die Mongolei die Kolyma. Wie Varlam Sˇalamov in seiner Erzählung Ivan FÚdorovicˇ beschreibt, wurden Wachtürme in den Lagern, an denen Wallace vorbeifahren sollte, abgesägt, damit er nichts davon bemerken sollte. Die Wachsoldaten wurden ihm als Arbeiter vorgeführt. Und doch unterstellt ihm Sˇalamov, dass er das Lagersystem nicht übersehen konnte.1593 Für Wallace wurde ein Konzert am Magadaner Theater gegeben, an dem auch Häftlinge beteiligt waren. Laut den Erinnerungen des künstlerischen Leiters des Theaters, Georgij Kacman, zeigte sich Wallace sehr beeindruckt und konnte nicht glauben, dass die aufgetretenen Künstler in Magadan angestellt waren. Er soll Kacman gegenüber geäußert haben, dass er dachte, sie wären speziell aus Moskau eingeflogen worden.1594 Wallace schrieb in seinem Buch Sondermission in Sowjet-Asien und China über das Konzert in Magadan: Ich glaube, ich habe noch nie in einer einzigen Stadt so viele und gute Stimmen ohne Zuzug von außerhalb vereint gefunden.1595

Auch die Begleiter des Vizepräsidenten waren vom Konzert begeistert.1596 Auf diese Weise trugen Häftlinge auf der Bühne in Magadan zu einem positiven Eindruck von der Kolyma im Ausland bei. Der Besuch des US-amerikanischen Vizepräsidenten ist in der regionalen Presse unerwähnt geblieben. Jedoch ist über das von ihm am 20. Mai besuchte Konzert ausführlich berichtet worden.1597 Dabei handelte es sich um ein großes dreiteiliges Konzert mit einem vielfältigen Programm, welches ein großes Publikum angezogen hat. Der erste Teil bestand vollständig aus Beiträgen des Liedund Tanzensembles, welches auf »hohem Niveau« Volkslieder und Lieder sowjetischer Komponisten interpretiert habe, darunter das Volkslied Dubinusˇka und das Lied Vstavajte, ljudi russkie (Steht auf, ihr russischen Menschen) aus dem Film Aleksandr Nevskij (1938) mit Filmmusik von Sergej Prokof ’ev.1598 Beendet wurde der erste Teil von dem Tanz Krasnoarmejskaja (Tanz der Roten Armee). Im zweiten Teil spielte das Sinfonieorchester des Theaters den Walzer aus Sˇalamov, Varlam: Sobranie socˇinenij v cetyrÚch tomach, 1998, Bd. 1, S. 208 – 218. Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 14 f. Wallace, Henry A.: Sondermission in Sowjet-Asien und China, 1947, S. 32. Konkvest, Robert [Conquest, Robert]: »Bol’sˇoj terror«, in: Neva, 1990, Nr. 8, S. 128. »Koncert v Dome kul’tury im. Gor’kogo«, in: Sovetskaja Kolyma, 24. Mai 1944 (Nr. 105), S. 4. 1598 Hörbeispiel: http://sovmusic.ru/download.php?fname=vstavait (letzter Zugriff am 17. Januar 2012). 1593 1594 1595 1596 1597

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ˇ ajkovskijs Ballett Dornröschen und die Ballett-Truppe führte einen Walzer von C Johann Strauss sowie einen Ausschnitt aus der Oper Zaporozˇec za Dunaem auf. Solisten im Strauss-Walzer waren Nina Gamil’ton und Igor’ Andreev, beide ehemalige Häftlinge, die im Artikel namentlich genannt wurden. Der dritte Teil begann mit einer Lesung sowie Vokal- und Tanzbeiträgen. Besonders großen Erfolg, so der Kritiker, hatten Evgenija Vengerova und L. Sˇevcˇenko,1599 die Lieder und Arien vorgetragen haben, sowie A. Moldavan mit Kriegsliedern. Evgenija Vengerova war erst am 1. Oktober 1943 aus der Haft im Sevvostlag entlassen worden; über das Schicksal der beiden anderen Sänger ist nichts bekannt. Im letzten Satz des Artikels wird der Leiter der Estrade-Gruppe des Theaters gelobt, die ebenfalls am Konzert beteiligt war, jedoch ohne dass sein Name genannt wird. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass es sich bei ihm um einen Häftling handelte. Sˇalamovs Unterstellung, Wallace hätte trotz der Tarnung gemerkt, dass er sich in einer Gegend befand, die von Lagern gezeichnet war, es aber aus politischen Gründen für sich behalten, sei dahingestellt. Aus der Konstellation aber, dass die US-amerikanische Delegation von Häftlingen und ehemaligen Häftlingen unterhalten worden ist, lässt sich folgern, dass Häftlinge von der Verwaltung des Dal’stroj dazu missbraucht wurden, vom Lagersystem, in dem sie gefangen gewesen waren, abzulenken, und zwar über die Grenzen der Sowjetunion hinaus. Dabei ist unwichtig, ob die US-Amerikaner sie auch als Inhaftierte wahrgenommen haben.

Dem Sieg entgegen: die Saison 1944/45 Unter den Archivdokumenten des Theaters aus dem Jahre 1944 befindet sich ein nicht näher bezeichnetes Fragment, welches Teil eines Vortrags oder Zeitungsartikels sein könnte. Darin geht es um Pläne des Theaters bezüglich eines Zyklus sinfonischer Konzerte in der Saison 1944/45.1600 Es wird berichtet, dass ein erstes sinfonisches Konzert bereits im Oktober 1944 stattgefunden hat und mit großem Erfolg dreimal wiederholt wurde. Die Konzerte sollten den Magadaner Arbeitern die besten Werke der westlichen und russischen Komponisten aus dem 19. und 20. Jahrhundert näher bringen. Es war geplant, den Chor sowie das Ballett an den Konzerten zu beteiligen; das Orchester wurde dafür bereits vergrößert. Als Programmpunkte waren angedacht: die Fünfte Sinfonie und die Ouvertüre zu Egmont von Beethoven, die 1599 Das von ihr vorgetragene Repertoire lässt darauf schließen, dass es sich hierbei um eine ˇ ajkovskijs im Dezember 1943 sang Sängerin gehandelt hat. Im Konzert zum 50. Todestag C sie die Rolle der Njanja in Evgenij Onegin. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 11, l. 58, 60. 1600 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 24, l. 18.

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ˇ ajkovskij, die Ouvertüre zur Oper Fünfte Sinfonie und die Ouvertüre 1812 von C Die Mainacht von Rimskij-Korsakov, Eine Nacht auf dem kahlen Berge von Musorgskij, die Ouvertüre und die Polowetzer Tänze aus der Oper Fürst Igor von Borodin sowie Werke der »Stalinpreisträger« Sˇostakovicˇ, Mjaskovskij, Aleksandrov u. a. Sänger sollten besonders populäre Opernarien vortragen, auch Werke für Klavier und Orchester waren vorgesehen, darunter die Klavierkonˇ ajkovskijs. Die Programmauswahl macht deutlich, dass zerte Beethovens und C das Theater nicht vor virtuosen Orchesterwerken zurückscheute. Der Zyklus sollte mit einem Konzert zum Neujahr beginnen, welches Kompositionen der zwei »diametral entgegengesetzten Komponisten« Beethoven und [Johann] Strauss enthalten sollte. Das zweite Konzert war Werken »französischer Klassiker«, Bizet und Gounod, das dritte denen des Mächtigen Häufleins und das vierte Werken der »Kolosse vaterländischer Musik«, Glinka ˇ ajkovskij, vorbehalten. An dieser Stelle bricht das Dokument ab. Erhalten und C sind jedoch Programme, anhand derer die Realisierung dieser Pläne überprüft werden kann. Ein Sinfoniekonzert, welches im Programm als das erste bezeichnet wird, wurde bereits am 23., 24., 27. und 29. Oktober sowie am 2. November 1944 aufgeführt. Es begann, je nach Datum, entweder um 20:30 Uhr oder um 21:00 Uhr.1601 Vorgetragen wurden der erste Teil aus Franz Schuberts Unvollendeter Sinfonie, eine Arie aus Sergej Rachmaninovs Oper Aleko, die Cavatine des Figaro aus Gioachino Rossinis Der Barbier von Sevilla, Kontraste von Georgij Konjus, Jazz von Mitman,1602 beides an zwei Klavieren, ein Quartett aus Giuseppe Verdis Rigoletto und das Trinklied aus Verdis Traviata. Im zweiten Teil folgten das Finale aus der Vierten Sinfonie von PÚtr ˇ ajkovskij, der Marsch für Klavier und Orchester von Hector Berlioz/Franz C Liszt, die Arie der Gilda aus Verdis Rigoletto, Die Puppe von L¦o Delibes, ein ˇ ajkovskij, das ukrainische Lied Zakuvala ta siva zozulja Russischer Tanz von C (Der graue Kuckuck ruft) von PÚtr Nisˇcˇinskij1603 und Michail Glinkas Ouvertüre sowie der Schlusschor aus Ruslan i Ljudmila. An diesem Programm waren viele Häftlinge beteiligt. Ein Konzert mit russischer sinfonischer Musik fand Mitte Mai 1945 statt.1604 Leider ist kein Programm erhalten geblieben. Die ambitionierten Pläne des Theaters im Bereich der sinfonischen Musik können möglicherweise mit dem Wirken des neuen musikalischen Leiters PÚtr Ladirdo in Verbindung gebracht 1601 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 24, l. 25 – 27; GAMO: F. R-54, op. 1, d. 25, l. 19. 1602 Es konnte nicht abschließend geklärt werden, um welchen Komponisten und um welches Stück es sich hierbei handelte. 1603 Hörbeispiel: http://www.russian-records.com/details.php?image_id=15935& l=russian (letzter Zugriff am 17. Januar 2012). 1604 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 30, l. 29.

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werden, welcher ab der Saison 1944/45 am Theater tätig war. Im Programm des Sinfoniekonzerts, welches im Mai 1945 stattgefunden hat, ist er als Dirigent verzeichnet.1605 Unter der Leitung von PÚtr Ladirdo wurde in Magadan z. B. Musorgskijs Nacht auf dem kahlen Berge aufgeführt oder die Ouvertüre und das Finale aus Glinkas Oper Ruslan i Ljudmila.1606 Beide Stücke unterstützen die Vermutung, dass die ambitionierten Konzertpläne von ihm stammten. Ladirdo betätigte sich auch als Komponist: Er schrieb die Musik zur Magadaner Inszenierung der Tragödie Velikij gosudar’ (Der große Herrscher) des Dramaturgen Vladimir Solov’Úv (1907 – 1978), welche in der Saison 1944/45 auf dem Spielplan stand.1607 Er wurde ebenfalls dazu herangezogen, Schauspielmusiken zusammenzustellen.1608 Neben den Plänen, Konzerte mit sinfonischer Musik zu veranstalten, hielt das Theater weiterhin an Konzerten mit bunten Programmen fest. Am 6. Oktober 1944 fand ein zweiteiliges Konzert mit Carl Maria von Webers Ouvertüre zum Freischütz, Arien aus Opern von Jacques Fromental Hal¦vy, Leoncavallo, ˇ ajkovskij und Verdi, einer Arie aus der Operette Les Cloches de Corneville von C Robert Planquette, Tänzen zur Musik von Grieg, Rubinsˇtejn und Johannes Brahms, der Ungarischen Rhapsodie Nr. 6 von Liszt, gespielt von Ananij Sˇvarcburg, Gedichten von Majakovskij, Liedern der Sinti und Roma sowie dem kurzen ˇ eSchauspiel Nocˇ pered sudom (Die Nacht vor der Gerichtsverhandlung) von C chov statt. In der Pause und nach dem Konzert spielte im Foyer des Theaters das

1605 Der aus der Ukraine stammende Dirigent PÚtr Ladirdo (1910 – 1947) war in einem Waisenhaus aufgewachsen und hatte seine Ausbildung am Moskauer Konservatorium erhalten. Ab Februar 1938 hatte er als Hauptinspektor der Militärorchester in Chabarovsk gearbeitet. Fünf Monate später wurde er verhaftet und vom Sonderkollegium des NKVD SSSR wegen »Verdacht auf Spionage« zu Lagerhaft verurteilt. Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 76. Soweit entsprechen sich die Informationen über ihn, die einerseits vom Historiker Aleksandr Kozlov und andererseits von Ladirdos Tochter Aleksandra stammen. Diese hat Informationen über ihren Vater an die Gesellschaft Memorial in Moskau übermittelt. Aus ihren Angaben geht hervor, dass PÚtr Ladirdo Spionage für Mussolini vorgeworfen worden war, und dass er am 23. Juli 1939 zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt wurde. Bevor er am Theater in Magadan tätig werden konnte, war er beim Holzschlag eingesetzt, so die Tochter weiter. Archiv Memorial Moskau, f. 1, op. 1, d. 2606. Bezüglich der Freilassung Ladirdos aus der Haft differieren die Angaben dieser zwei Quellen: Während Kozlov den 19. Juli 1944 angibt, nennt die Tochter Mai 1945 als Datum. Nach der Freilassung arbeitete Ladirdo als musikalischer Leiter des Magadaner Theaters. Offensichtlich wurde er 1947 erneut festgenommen, denn die Tochter gibt an, dass er an einer Verletzung des Schädels als Folge von Verhören und einem Bluterguss im Gehirn am 23. April 1947 in Magadan starb. Das gleiche Datum gibt auch Kozlov ohne Angabe der genauen Umstände an. 1606 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 29, l. 15. 1607 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 23, l. 24; GAMO: F. R-54, op. 1, d. 25, l. 1. 1608 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 39, l. 18.

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Jazz-Orchester zum Tanz auf. Der Großteil der Auftretenden befand sich zum Zeitpunkt des Konzerts noch in Haft.1609 Am 7. November 1944, dem Jahrestag der Oktoberrevolution, fand am Theater ein sogenannter Erholungsabend statt, welcher von den ehemaligen Häftlingen Michail Arsˇ, der damals als Assistent des Regisseurs am Theater tätig war, und Moisej Vachnjanskij sowie vom Häftling Leonid Varpachovskij verantwortet wurde. Es fanden parallele Veranstaltungen in vier Räumlichkeiten statt, wie die folgende Übersicht veranschaulicht: Plan des Erholungsabends vom 7. November 1944 am Gor’kij-Theater. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 23, l. 54. Großer Foyer Vortragssaal Kinosaal Saal 21:00 Radioprogramm im ganzen Theater : Information, Scherze 21:30 Konzert Tänze, VerFilm Lenin v oktjabre gnügungen (Lenin im Oktober) 23:00 Radioprogramm im ganzen Theater 23:15 Pause Tänze, begleitet Chor der Sinti Let George Do It! vom Jazz-Orchester, und Roma Vergnügungen 00:00 Radioprogramm im ganzen Theater 00:15 [Pause] Massenspiele, Ver- Tänze, beglei- Film gnügungen tet vom JazzOrchester ˇ echov : 01:00 Uhr Film Sun Massenspiele, Ver- Tänze, beglei- Filme nach C Valley Se- gnügungen tet vom Jazz- Jubilej (Jubiläum) und renade Orchester Svad’ba (Hochzeit) Uhrzeit

ˇ ajkovskijs Vierter Das Konzert im großen Saal beinhaltete das Finale aus C Sinfonie, ein Duo auf zwei Flügeln, vorgetragen von Ananij Sˇvarcburg und S. ˇ ajkovskij, einen Sketch, russische Lieder, Grjaznova, einen Russischen Tanz von C den Auftritt des Jazz-Orchesters sowie »Zigeunerlieder und -tänze«. Das Programm gestalteten fast ausschließlich Häftlinge oder ehemalige Häftlinge. Unter »Vergnügungen« wurden wandernde Zauberer, ein Fakir, ein Handschriftendeuter und ein Karikaturen-Zeichner zusammengefasst. Auch diesen Teil des Abends bestritten größtenteils ehemalige Häftlinge und Häftlinge. Auffällig ist, dass das Programm bis auf den Film über Lenin keinen Bezug zum Jahrestag der Oktoberrevolution hatte. An die Redaktion der Sovetskaja Kolyma meldete die Theaterdirektion, es würden an diesem Abend die besten Filme gezeigt. Zwei dieser Filme stammten nicht aus der Sowjetunion, sondern aus den USA, was die Annäherung dieser beiden Staaten während des Zweiten Weltkrieges auch im 1609 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 23, l. 80.

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Alltag verdeutlicht. Karten für den Erholungsabend konnten nur über die Gewerkschaften erworben werden, und die Theaterdirektion rechnete mit 600 Besuchern.1610 Dieser große Erholungsabend hatte Vorläufer kleinerer Ausmaße, z. B. am 4. November 1944 einen Tanzabend im kleinen Saal unter der Mitwirkung des Jazz-Orchesters. Ein ebensolcher Tanzabend wurde auch am 23. und 24. September 1944 veranstaltet.1611 Eine Woche zuvor, am 16. und 17. September, gab es einen Erholungsabend mit Konzert. Auf dem Programm standen das Stück Zˇavoronok (Die Lerche) von Glinka, gespielt auf einem Bajan, ein »Zigeunertanz« mit Klavierbegleitung, eine Lesung, das Lied Kazacˇ’ja-kavalerijskaja (KosakenKavallerie-Lied) von Vasilij Solov’Úv-Sedoj1612 mit Bajan-Begleitung, welches zwar vom Krieg handelt, jedoch ein starkes lyrisches Element aufweist und hauptsächlich die Rückkehr nach Hause schildert, ein Tanz der Roten Flotte von drei Tänzern zur Bajan-Begleitung, die Vorstellung eines Illusionisten, Zigeunerweisen von Sarasate, eine Mazurka von Wieniawski, ein Potpourri aus russischen Volksliedern für Balalaika mit Klavierbegleitung sowie schließlich melancholische Lieder, im Programm als »Zigeunerlieder« angekündigt, ebenfalls mit Klavierbegleitung. Den überwiegenden Teil der Künstler stellten ehemalige Häftlinge dar, der mitwirkende Pianist Boris E˙ntin war noch in Haft.1613 Bei diesem Konzertprogramm fällt wiederum auf, dass patriotische und kriegsbezogene Programmpunkte in der Minderheit waren. Besonders interessant im Hinblick auf das Repertoire erscheinen die Lieder am Ende des Konzerts, welche von unglücklicher Liebe und Trennung erzählen.1614 Sie wurden für »Zigeunerlieder« ausgegeben, es handelte sich dabei aber um die unterdrückte Gattung des russischen Kunstliedes (im Russischen romans genannt), wie es z. B. von Aleksandr Vertinskij repräsentiert wurde. Das neue Jahr 1945 wurde mit mehreren Konzerten begangen. Am Abend des 31. Dezember 1944 fanden parallel im großen und im Vortragssaal des Theaters Konzerte statt,1615 in anderen Räumlichkeiten, wo zwei Jazz-Orchester spielten, wurden Spiele und Tänze veranstaltet. Und auch am 1. Januar gab es ein großes dreiteiliges Konzert.1616 Das große dreiteilige Silvester-Konzert im großen Saal beinhaltete im ersten Teil die Arie der Gilda aus Verdis Rigoletto und den Walzer aus Gounods Rom¦o et Juliette, beide gesungen von der sich in Haft befindenden 1610 1611 1612 1613 1614

GAMO: F. R-54, op. 1, d. 23, l. 54 – 56, 60. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 23, l. 66, 72. Http://sovmusic.ru/download.php?fname=kazachy7 (letzter Zugriff am 17. Januar 2012). GAMO: F. R-54, op. 1, d. 23, l. 74. Gesungen wurden Ja starsˇe vas (Ich bin älter als Sie), Snezˇnaja mecˇta (Schneetraum) und Menja ne greet ˇsal’ (Das Schultertuch wärmt mich nicht). 1615 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 23, l. 3. 1616 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 23, l. 7.

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Ida Ziskina in Begleitung des Orchesters, eine Polonaise und einen Walzer von Chopin, vorgetragen vom Häftling Ananij Sˇvarcburg, einen getanzten Russiˇ ajkovskij sowie die Walzer-Fantasie von Glinka in der Interschen Tanz von C pretation des Orchesters. Im zweiten Teil folgte die Komödie Die kapitolinische Venus nach einer Kurzgeschichte von Mark Twain. Der dritte Teil begann mit einer Lesung von Mark Twains Punch, Brothers, Punch! in russischer Übersetzung (Rezˇ’te bilety), es folgten cˇastusˇki und darauf der Auftritt des Jazz-Orchesters mit Sängern sowie Tänzern. Viele Aufführende waren ehemalige Häftlinge, wie auch der Regisseur des Konzerts Valentin Portugalov. Für das Bühnenbild zeichnete der inhaftierte Maler Leonid Vegener verantwortlich.1617 Ein gesondertes Silvester-Konzert wurde für das Parteiaktiv veranstaltet. Dieses war zweiteilig und beinhaltete viele Programmpunkte aus dem großen dreiteiligen Konzert. Es gab jedoch auch Abweichungen, z. B. spielten Ananij Sˇvarcburg und S. Grjaznova an zwei Klavieren Jazz von Mitman sowie Kontraste von Georgij Konjus, es trat ein Illusionist auf, und ein »Zigeunertanz« wurde vorgetragen.1618 Zur Feier des 1. Mai 1945 bereitete die Theatertruppe ein Frühlingskonzert vor. Es herrschte eine feierliche und aufgeregte Stimmung, weil der Sieg über Nazi-Deutschland immer wahrscheinlicher wurde. Die Vorführungen des Theaters genossen zu jener Zeit besonders großen Erfolg. Als dann im Radio der Sieg bekannt gegeben wurde, strömten die Einwohner Magadans auf die Straßen, umarmten und beglückwünschten einander. Viele versammelten sich auf dem Platz vor dem Theatergebäude, wo verschiedene Künstler im Freien auftraten. Am Theater wurden bis in den späten Abend hinein mehrere Konzerte gegeben, welche lediglich von kurzen Pausen unterbrochen wurden.1619 In der erhalten gebliebenen Liste der Theater-Mitarbeiter aus dem Jahr 1945 wird unterschieden zwischen Zivilisten und Häftlingen.1620 Während drei der 44 Schauspieler Häftlinge waren, betrug ihre Zahl unter den 21 Revuekünstlern zehn Personen, und im Orchester spielten sogar mehr Häftlinge als Zivilisten mit 18 von 33 Personen. Zusammen mit ehemaligen Häftlingen machten sie die Mehrheit der Theatermitarbeiter aus. Unter den elf nicht inhaftierten Revuekünstlern waren sieben, unter den 15 Orchestermusikern sechs ehemalige Häftlinge vertreten.1621

1617 1618 1619 1620 1621

GAMO: F. R-54, op. 1, d. 23, l. 4, 4ob. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 23, l. 2. ˇ ekarÚv, »Teatr v gody vojny«, 1989, S. 139. C GAMO: F. R-54, op. 1, d. 31, l. 14 – 16. Bei diesen Zahlen handelt es sich um die Mindestzahl, da sie nach Aleksandr Kozlovs Liste der ehemaligen Häftlinge ermittelt worden ist. Die Liste ist jedoch, wie oben bereits erwähnt, nicht vollständig. Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 56 – 101.

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Leonid Varpachovskij und Giuseppe Verdis Traviata in Magadan Am 18. Februar 1945 fand am Gor’kij-Theater die Premiere von Verdis Traviata statt.1622 Weil diese sehr erfolgreiche Aufführung zum großen Teil von Häftlingen auf die Beine gestellt wurde, wird sie hier eingehender betrachtet. Die Realisierung der Oper ist eng mit dem Namen des Regisseurs Leonid Varpachovskij verbunden, welcher auch ausgebildeter Musiker war und ein eindrucksvolles Zeugnis davon hinterlassen hat, was Musik einem Häftling bedeuten konnte. In der Ausstellung Kolyma am Magadaner Heimatkundemuseum dokumentiert dies ein Brief Leonid Varpachovskijs, welchen er vermutlich 19411623 aus dem Lager an seine Familie geschrieben hat. Er berichtet darin, dass er den schwer zu ertragenden Winter gut gemeistert habe, weil er als Musiker im Blasorchester arbeitete. »Mein Trost ist die Musik, in die ich hineingetaucht bin, sodass ich ›die Welt vergesse‹«,1624 schrieb der Regisseur. Unter seinem Kissen lag das Konzert Nr. 6 von Händel,1625 von dem er nicht begreifen konnte, wie es auf die Kolyma gelangt war. Er betrachtete es oft und alles Private, jede Schwierigkeit kam ihm dann klein und vergänglich vor. Diese Musik, die vor zweihundert Jahren geschrieben wurde, lebte trotz der Zeit, der Entfernung und der Mächtigen dieser Welt in seinem Herzen, so der Regisseur. Der paraphrasierte Abschnitt, mit welchem Varpachovskij seinen Brief beendete, macht eindrücklich deutlich, dass Lagerhäftlinge aus der Musik Kraft schöpfen konnten.1626 1622 Kozlov, Aleksandr : »On pel v ›Traviate‹«, in: Madaganskaja pravda, 13. November 1997, S. 3. 1623 In diesem Brief schreibt Varpachovskij, das Konzert Nr. 6 sei von Händel 1741 komponiert worden, was zweihundert Jahre zurück liege. Dadurch kann vermutet werden, dass der Brief 1941 verfasst worden sein könnte. 1624 =_p _caQUQ – ]dXl[Q, S [_c_ado p `_TadXY\bp Y »XQRlSQo ]Ya«. Undatierter Brief Leonid Varpachovskijs aus dem Lager an seine Verwandten, eingesehen in der Ausstellung Kolyma im Heimatkundemuseum von Magadan im Sommer 2006. 1625 Aus der Quelle geht nicht hervor, um welches Konzert genau es sich dabei handelte. Dem von Varpachovskij angegebenen Entstehungsdatum nach zu urteilen war es wahrscheinlich entweder das Concerto grosso Op. 6 Nr. 6 oder die Übertragung dieses Konzerts für Orgel HWV 300. 1626 Leonid Varpachovskij (1908 – 1976) hatte als Kind die Ballett-Schule am Bol’sˇoj-Theater besucht und mit 15 Jahren angefangen, Musiktheorie am Moskauer Konservatorium zu studieren, wo er nach drei Jahren seinen Abschluss machte. Er begeisterte sich für Jazz und hatte am Konservatorium im Jahr 1923 das PE˙KSA [Pervyj e˙ksperimental’nyj kamernyj sinteticˇeskij ansambl’ – Erstes experimentelles synthetisches Kammerensemble] ins Leben gerufen, welches, zusammen mit der Jazz-Band Valentin Parnachs, an den Anfängen des Jazz in der Sowjetunion gestanden hatte. Er hatte eine Vorliebe für Prokof ’ev, Skrjabin und Komponisten vor J. S. Bach gehabt und gerne mit ungewöhnlichen Besetzungen experimentiert, z. B. Fugen von Bach für Saxophone arrangiert. Varpachovskij war ein guter Musiker und hat später oftmals die Schauspielmusik zu seinen Aufführungen selbst zusammengestellt. Kuricyn, Nevydumannye istorii iz zˇizni Leonida Varpachovskogo, 2003, S. 11, 19, 21; Uvarova, Elizaveta: E˙strada v Rossii. XX vek. E˙nciklopedija, 2004, S. 188. Als

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Leonid Varpachovskij wurde am 22. Februar 1936 verhaftet. Die Gründe dafür lassen sich nicht rekonstruieren, aber seiner Verhaftung ging ein negatives Beurteilungsschreiben Mejerchol’ds über die politische Einstellung seines Assistenten voraus, welches er auf Aufforderung des Moskauer Kriegskommissariats verfasst hatte.1627 Am 4. April wurde Varpachovskij ohne einen Tatbestand vom NKVD-Sonderkollegium wegen angeblicher »Unterstützung des konterrevolutionären Trotzkismus« zu drei Jahren Verbannung in Kasachstan verurteilt.1628 In der damaligen Hauptstadt Kasachstans, Alma-Ata, arbeitete er am Russischen Theater und wurde für seine Verdienste mit einer Urkunde der Reweitere Quellen für diese Darstellung der Biografie Varpachovskijs dienten folgende: Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 455, Gesuch Varpachovskijs an den Minister für Inneres vom 10. August 1953; Autobiografie vom 19. September 1955. Die Verfasserin ist der Archivleitung zu großem Dank verpflichtet, weil sie ihr erlaubt hat, Einblick in das noch nicht erfasste Archiv Leonid Varpachovskijs zu nehmen. Dem Umstand des noch nicht erfassten Archivs ist es geschuldet, dass die zitierten Dokumente nicht mit genauen Angaben versehen werden konnten. Zudem enthielt das Archiv leider keine Skripte zu Aufführungen, die Varpachovskij in Magadan realisiert hatte. Im Anschluss an das Konservatorium hatte er im Jahr 1931 die Moskauer Staatliche Universität in Literatur- und Kunstwissenschaft und, weil er für Vsevolod Mejerchol’d schwärmte, die Schauspielschule am Vachtangov-Theater absolviert. Bis 1933 war er am Moskauer TRAM (Theater der Arbeiterjugend) und in der Theaterabteilung des Volkskommissariats für Bildungswesen tätig gewesen, danach hatte er als Assistent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Theater Vsevolod Mejerchol’ds gearbeitet. Die Beziehung zu Mejerchol’d gestaltete sich als sehr intensiv, denn gearbeitet wurde nicht nur tagsüber im Theater, sondern auch abends und manchmal nachts bei ihm zu Hause. Es entstanden die Inszenierungen der Kameliendame ˇ echov. ˇ ajkovskij und eine Aufführung nach C von Alexandre Dumas, Pique Dame von C Kuricyn, Nevydumannye istorii iz zˇizni Leonida Varpachovskogo, 2003, S. 21; Varpachovskijs Schreiben an den Generalstaatsanwalt der UdSSR vom 24. April 1941, veröffentlicht in: Savcˇ enko, Boris: »Preodolenie«, in: Magadanskaja pravda, 10. April 1988, S. 3; Kozlov, Aleksandr : »Varpachovskij i pervaja opera v Magadane«, in: Magadanskaja pravda, 26. März 2003, S. 4. Varpachovskij selbst beschrieb seine Tätigkeitsfelder in den Jahren 1930 bis 1936 im August 1953 folgendermaßen und demonstrierte damit seine vielfältigen Begabungen: Verfassen von Artikeln zu Fragen der Dramaturgie, Leitung eines experimentellen Orchesters, welches im kleinen Saal des Konservatoriums und im Säulensaal des Gewerkschaftshauses auftrat, Betätigung als Maler fürs Theater zusammen mit den Kukryniksy (Zusammenschluss dreier bildender Künstler : Michail Kuprijanov [Ku-], Porfirij Krylov [-kry-] und Nikolaj Sokolov [-niks]), Regie im Theater des leninschen Komsomol, im Satire-Theater sowie im Mejerchol’d-Theater und wissenschaftliche Arbeit an der Entwicklung einer Partitur für Theateraufführungen in dem von Varpachovskij geleiteten Speziallabor der Allrussischen Theatergesellschaft (VTO). Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 455, Gesuch Varpachovskijs an den Minister für Inneres vom 10. August 1953. Dass Varpachovskij in diesem Anschreiben den Namen Mejerchol’ds nannte, zeugt von seinem Mut und seinem Respekt gegenüber seinem ehemaligen Vorgesetzten, weil dieser 1953 noch lange nicht rehabilitiert war. 1627 Kuricyn, Nevydumannye istorii iz zˇizni Leonida Varpachovskogo, 2003, S. 25. 1628 Varpachovskijs Schreiben an den Generalstaatsanwalt der UdSSR vom 24. April 1941, veröffentlicht in: Savcˇenko, »Preodolenie«, 10. April 1988, S. 3. Aleksandr Kozlov schreibt von vier Jahren Verbannung. Kozlov, »Varpachovskij i pervaja opera v Magadane«, 26. März 2003, S. 4.

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gierung der Republik Kasachstan ausgezeichnet. Das Leben schien sich zu normalisieren, Varpachovskijs Familie konnte zu ihm ziehen. Sein Leben nahm jedoch 1937 eine weitere tragische Wendung: Wie fast alle anderen Verbannten wurde auch er erneut verhaftet, und zwar am 18. November 1937. Nach einem brutalen Untersuchungsverfahren wurde er von einer Troika zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. In einem Gesuch an den Generalstaatsanwalt, welches er nach vier Jahren Haft auf der Kolyma als Dreiunddreißigjähriger verfasste, nannte er die Lagerhaft einen schweren Albtraum, ein unverdientes und beschämendes Leiden.1629 Auch die erste Frau Leonid Varpachovskijs, Ada Milikovskaja (*1908), die aus Harbin (vgl. Kapitel B.2, Abschnitt »Ananij Sˇvarcburg«) stammte und nach Beendigung des Moskauer Konservatoriums im Fach Klavier in der Klasse von Genrich Nejgauz1630 als Pianistin der Moskauer Philharmonie arbeitete, wurde im Jahr 1938 verhaftet, der Spionage für Japan angeklagt und zum Tode verurteilt. Sie wurde im Alter von 30 Jahren erschossen, ungeachtet dessen, dass sie einen kleinen Sohn hatte.1631 Der gemeinsame Sohn FÚdor war zum Zeitpunkt der Verhaftung seiner Eltern zwei Jahre alt und wurde anschließend von seiner Tante großgezogen.1632 Leonid Varpachovskij wurde zunächst in das Bamlag transportiert, im September 1940 wurde er ins Sevvostlag eingeliefert. Er arbeitete mit der Allgeˇ aj-Ur’ja (16). Dann hatte er Glück im Unglück, meinheit der Häftlinge im Tal C denn Vladimir Fejgin, ein Mitarbeiter des KVO Sevvostlag, wurde auf ihn aufmerksam. Fejgin nahm das Risiko auf sich, dafür, dass er politische Häftlinge in der »Kulturerziehungsarbeit« beschäftigte, bestraft zu werden, und erreichte, dass der Regisseur von der Arbeit mit der Allgemeinheit der Häftlinge befreit wurde. Varpachovskij wurde in die »Kulturbrigade« des Sevvostlag überstellt, was ihm das Leben rettete.1633 Er blieb Fejgin sein Leben lang dankbar und äußerte dies noch in einem mehr als 20 Jahre später verfassten Brief.1634 Seit dem Sommer des Jahres 1942 war Leonid Varpachovskij in der »Kul-

1629 Varpachovskijs Schreiben an den Generalstaatsanwalt der UdSSR vom 24. April 1941, veröffentlicht in: Savcˇenko, »Preodolenie«, 10. April 1988, S. 3. 1630 Ein Foto, welches in der Zeitschrift Teatr, 1989, Nr. 6 auf S. 133 veröffentlicht wurde, zeigt Ada Milikovskaja zusammen mit Genrich Nejgauz und weiteren Studenten. 1631 Http://lists.memo.ru/d22/f380.htm (letzter Zugriff am 8. August 2011); Nefedova, Irina: »Dva jabloka ot palacˇa dlja Traviaty«, in: Severnaja nedbavka, 14. Juni 2006, S. 13; Teatral’naja zˇizn’, 1990, Nr. 3, S. 34. 1632 Kozlov, »Varpachovskij i pervaja opera v Magadane«, 26. März 2003, S. 4. 1633 Kozlov, »Varpachovskij i pervaja opera v Magadane«, 26. März 2003, S. 4. 1634 Kozlov, Aleksandr : »›Vasˇ L. Varpachovskij…‹«, in: Leninskoe znamja (Ust’-Omcˇug), 28. Mai 1988, S. 2.

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turbrigade« des Sevvostlag beschäftigt.1635 Boris Lesnjak, der damals als Häftling in der Position eines Arzthelfers im Lagerkrankenhaus in Verchnij At-Urjach (32) tätig war, berichtete, dass er dort 1943 die Bekanntschaft Varpachovskijs machen durfte, als die »Kulturbrigade« des Sevvostlag mit Konzerten dorthin kam. Varpachovskij war Regisseur und künstlerischer Leiter der Brigade, viele ihrer Mitglieder waren politische Häftlinge. Dies sei ein Verdienst Fejgins gewesen, so Lesnjak. Häufig habe er die Mitwirkenden der »Kulturbrigade« zur Erholung ins Lagerkrankenhaus geschickt, so auch Varpachovskij.1636 Derartige Phasen der Rekreation für die Häftlinge können in ihrer Bedeutung wohl kaum überschätzt werden. In der »Kulturbrigade« des Sevvostlag trat Varpachovskij während des Krieges mit einer eigens für ihn aus Pappmaschee hergestellten Puppe auf, welche die Gesichtszüge Adolf Hitlers trug. Varpachovskij hatte satirische Verse gedichtet und trug diese mit der Puppe in der Hand vor. Diese Nummer hieß, so Boris Lesnjak, S golovoj Gitlera v cˇemodane (Mit Hitlers Kopf im Koffer) und erfreute sich großer Beliebtheit bei den Zuschauern.1637 Unter Varpachovskijs Beteiligung als Komponist und Bühnenbildner wurde eine Aufführung mit dem Titel Stalingrad von der Sevvostlag-»Kulturbrigade« realisiert.1638 Zu den Höhepunkten ihres Programms gehörte aber das Konzert zum 26. Jahrestag der Oktoberrevolution, welches Varpachovskij zusammen mit dem ukrainischen Dramaturgen Arkadij Sˇkol’nik, ebenfalls einem Häftling, gestaltete. Auf Anregung Sˇkol’niks riskierten sie die Aufführung einer eigenen Komposition mit Wort und Musik über die Befreiung Kiews von der faschistischen Besatzung. Riskant deswegen, weil zum Zeitpunkt der Konzeption Kiew noch besetzt war. Die Worte für diese Komposition, welche sie Dnepr busˇuet (Der Dnepr tost) nannten, dichteten sie selbst, und Varpachovskij instrumentierte dafür Chopins Polonaise As-Dur op. 53 mit dem Beinamen Polonaise h¦roque für kleines Orchester.1639 Kiew wurde glücklicherweise kurz vor der Aufführung von der sowjetischen Armee eingenommen, und die Komposition hatte großen Erfolg. Wenige Tage später wurde Varpachovskij in die »zentrale Kulturbrigade« des Maglag (vgl. Kapitel B.2) abkommandiert, um dort als Regisseur zu arbeiten.1640 ˇ ekarÚv, welcher den Regisseur 1944 am Magadaner Der Schauspieler Nikolaj C 1635 Kozlov, »Varpachovskij i pervaja opera v Magadane«, 26. März 2003, S. 4; Savcˇenko, »Preodolenie«, 10. April 1988, S. 3. 1636 Lesnjak, »S golovoj Gitlera v cˇemodane«, 1995, S. 8. 1637 Lesnjak, »S golovoj Gitlera v cˇemodane«, 1995, S. 8. 1638 Kozlov, »Varpachovskij i pervaja opera v Magadane«, 26. März 2003, S. 4. 1639 In den Quellen ist wörtlich von einer »Heroischen Êtude« die Rede, die unter Chopins Werken jedoch nicht zu finden ist. 1640 Savcˇenko, »Preodolenie«, 10. April 1988, S. 3.

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Theater kennenlernte, führte aus, dass Varpachovskij große Autorität genoss. Es sei stets angenehm gewesen, mit ihm zu arbeiten, weil er das Ziel ganz klar vor Augen hatte.1641 Varpachovskijs Tätigkeit am Magadaner Theater beschränkte sich nicht nur auf Regie, beispielsweise dirigierte er im April 1944 das JazzOrchester.1642 Die Initiative zur Aufführung einer Oper am Magadaner Theater ging von den Mitgliedern der »Kulturbrigade« des Maglag aus. Eine der treibenden Kräfte war dabei der Violoncellist und Dirigent der »Kulturbrigade« Kanan Novogrudskij gewesen, wie Ida Ziskina,1643 die Sängerin der Violetta, in den 1980er-Jahren dem Journalisten Boris Savcˇenko erzählte. Kanan Novogrudskij (*1902) war Absolvent des Moskauer Konservatoriums und hatte in den Jahren 1924/25 im Orchester des Bol’sˇoj-Theaters gespielt. Danach hatte er sich in Berlin fortgebildet, war in die Sowjetunion zurückgekehrt und arbeitete in den Jahren 1932 bis 1938 im Staatsorchester der UdSSR. 1938 wurde er zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt und im September 1938 auf die Kolyma transportiert. Im Lager musste er als Holzfäller arbeiten, wobei ihm einige Finger abgefroren sind. Danach durfte er in der »Kulturbrigade« des Maglag tätig werden. Er wurde 1946 aus der Haft entlassen und arbeitete zunächst als künstlerischer Leiter des Gesangs- und Tanz-Ensembles der VOChR. Nach acht Monaten wechselte er als Dirigent an das Gor’kij-Theater.1644 ˇ des Maglag war ein Noten waren zwar rar in den Lagern, aber in der KVC Klavierauszug der Traviata vorhanden, die von den in der »Kulturbrigade« vorhandenen Solisten gut realisiert werden konnte, wobei die Rolle des Alfredo von einem ehemaligen »Banditen« übernommen wurde. Obwohl anfänglich keine Aussicht auf eine Inszenierung bestanden hatte, wurde begeistert geprobt. Der Chor bestand allerdings nur aus vier Sängern.1645 Leonid Varpachovskij, welcher damals die Stelle des künstlerischen Leiters der »Kulturbrigade« ausfüllte, glaubte anfangs nicht, dass ihre Kapazitäten es erlaubten, eine solche Oper aufzuführen, und unterstützte dementsprechend weder die Idee einer Opernaufführung noch interessierte er sich für die Probenarbeit. Geprobt wurde im Foyer des Gor’kij-Theaters. Eines Tages, so Ida Ziskina weiter, hat Varpachovskij zufällig gehört, wie das Trinklied geprobt ˇ ekarÚv, »Teatr v gody vojny«, 1989, S. 140 f. C GAMO: F. R-54, op. 1, d. 23, l. 111. In der Literatur und auch in den Theaterprogrammen in Magadan kommen unterschiedliche Schreibweisen ihres Nachnamens vor: Ziskin, Ziskind, Ziskina. Die Autorin dieser Arbeit hält sich an die Schreibweise, die ihr von Anna Varpakhovskaya, der Tochter Ida Ziskinas, als richtig genannt wurde. 1644 Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 82; Kuricyn, Nevydumannye istorii iz zˇizni Leonida Varpachovskogo, 2003, S. 40. 1645 Savcˇenko, »Preodolenie«, 10. April 1988, S. 3; Savcˇenko, Kolymskie mizansceny, 1988, S. 35; Teatr na kraju zemli. Magadanskij muzykal’nyj i dramaticˇeskij teatr. 50, 1992, S. 3. 1641 1642 1643

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wurde. Er setzte sich auf einen Hocker und hörte bis zum Ende der Probe zu. Seitdem beteiligte er sich als Regisseur an der Inszenierung. Der SevvostlagLeiter Ivan Nikisˇov weigerte sich zunächst, die Inszenierung zu finanzieren, änderte aber seine Meinung, nachdem er eine Aufführung mit Klavierbegleitung miterlebt hatte.1646 Die Diskussion über die Realisierung der Oper lässt sich anhand von Archivdokumenten des Theaters ein Stück weit rekonstruieren. Denn am 4. Juli 1944 fand eine Sitzung statt, an der die Leitung des Magadaner Theaters und die Führung der »Kulturbrigade« des Maglag, darunter auch Varpachovskij, beteiligt waren. Sie berieten über die Inszenierung der Traviata und kamen überein, dass sie nur mit gemeinsamer Anstrengung bewerkstelligt werden konnte. Während das Theater sich dazu bereit erklärte, seine materiellen Ressourcen zur Verfügung zu stellen, sollte die Stelle für »Kulturerziehung« des Lagers für das Personal sorgen.1647 Es schmeichelte den Vertretern der Lagerleitung, dass von ihrer »Kulturbrigade« eine Oper aufgeführt werden sollte,1648 daher setzten sie sich dafür ein. Lange vor der Premiere der Oper sind Ausschnitte daraus in Konzerten gesungen worden. Beispielsweise führte Ida Ziskina die Arie der Violetta am 17. Juni 1944 auf.1649 Die gleiche Arie sowie das Trinklied in der Ausführung von Ida Ziskina und Nikolaj Artamonov bildeten den Abschluss des Konzerts am 6. Oktober 1944.1650 Am 27. Oktober 1944 schließlich wurde die Traviata von der Direktorin des Theaters, E˙milija Adolina, auf den Spielplan gesetzt. Als Regisseur wurde Varpachovskij, als Dirigent PÚtr Ladirdo eingesetzt, die Premiere sollte am 15. Dezember 1944 stattfinden.1651 Diese Zeitspanne von weniger als zwei Monaten erwies sich jedoch als nicht ausreichend für die Inszenierung einer Oper. Das Problem des fehlenden Chores, welches während der Sitzung im Juli 1944 angemerkt wurde,1652 konnte dadurch gelöst werden, dass eine estnische Gesangskapelle ins Sevvostlag transportiert wurde, die ihre Haft auf der Kolyma verbüßen sollte. Sie wurde unverzüglich dazu abkommandiert, den Chor in der Traviata-Aufführung zu singen.1653 Ob dies ein Zufall war, oder ob Lagerleiter die Möglichkeit hatten, Häftlinge mit bestimmten Qualifikationen aus den Tran1646 Savcˇenko, »Preodolenie«, 10. April 1988, S. 3. 1647 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 16, l. 54. ˇ aj-Ur’inskaja dolina moj primet ochladelyj prach…«, in: 1648 Varpachovskij, FÚdor : »…il’ C Teatr, 1989, Nr. 6, S. 134. 1649 GAMO, F. R-54, op. 1, d. 20, l. 29. 1650 GAMO, F. R-54, op. 1, d. 23, l. 80. 1651 GAMO, F. R-54, op. 1, d. 25, l. 1. 1652 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 16, l. 54. 1653 Savcˇenko, Kolymskie mizansceny, 1988, S. 36; Savcˇenko, »Preodolenie«, 10. April 1988, S. 3.

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sitlagern anzufordern oder sogar die Verhaftung von Personen mit bestimmten Qualifikationen zu bewirken, wie der ehemalige Häftling und guter Kenner der Lagergeschichte SemÚn Vilenskij im Gespräch mit der Verfasserin im November 2007 in Moskau schilderte, konnte bislang nicht geklärt werden.1654 Zumindest handelt es sich bei dem Vorfall mit der estnischen Kapelle in Magadan nicht um eine Häftlingslegende, sondern es ist belegt, dass der estnische Chorleiter Heino Narva (*1908), welcher in der Traviata eingesetzt wurde, erst am 8. August 1944 auf die Kolyma transportiert worden war.1655 Narva war im Staatlichen Künstlerensemble der Estnischen SSR tätig gewesen, als er verhaftet und wegen »Propaganda und Agitation« zu sechs Jahren Lagerhaft verurteilt wurde. Im Oktober 1949 kam er frei und lebte weiterhin in Magadan.1656 Während seiner Haftzeit wurde Heino Narva am Theater beschäftigt, und zwar als Dirigent, beispielsweise des Konzerts zum 8. März 1947, dem internationalen Frauentag,1657 und als Chorleiter. Später war er im Gebietshaus für Volkskunst [Oblastnoj dom narodnogo tvorcˇestva] als MethodikFachmann tätig. In den Jahren 1957 bis 1959 zeichnete er zusammen mit seinem Kollegen und ehemaligem Häftling Valentin Portugalov Lieder und Tänze der Tschuktschen und Inuit auf Tonbänder auf. 1960 veröffentlichten sie einen Teil dieser Melodien, nachdem Narva sie transkribiert und redigiert hatte. Dabei handelte es sich um die erste Liedersammlung dieser Völker.1658 Auch weitere Namen im Programm der Traviata wie Raidma und Oyt lassen auf eine estnische Herkunft schließen.

1654 Ein weiterer Hinweis darauf, dass Lagerleiter tatsächlich die Möglichkeit hatten, die Verhaftung von Künstlern mit bestimmter Qualifikation zu veranlassen, stammt von Anna Kaneva. Leider geht aus ihrem Text nicht hervor, aus welcher Quelle der Bericht stammt. Es kann vermutet werden, dass Kaneva die Information in einem Interview mit einem ehemaligen Häftling erhalten hat: Der Lagerleiter des Uchtizˇemlag, General SemÚn Burdakov, soll zum Theaterdirektor in Uchta gesagt haben, dass er nur zu äußern brauchte, welche und wie viele Künstler am Theater gebraucht wurden, und diese würden verhaftet und verurteilt werden. Kaneva, Gulagovskij teatr Uchty, 2001, S. 141. Der Schauspieler Georgij Burkov berichtet, dass Leonid Varpachovskij ihm erzählt habe, zwei Bratschisten seien am Bol’sˇoj-Theater verhaftet worden, weil sie am Magadaner Theater gebraucht wurden. Burkov, Georgij: »Pocˇemu ja usˇÚl«, in: Teatral’naja zˇizn’, 1989, Nr. 9, S. 30. Von der Möglichkeit, Künstler aus anderen Lagern oder Transitlagern für das Theater anzufordern, berichten bezüglich des Theaters von Vorkuta Klejn und Popov, wobei unklar bleibt, woher diese Information stammt. Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999. 1655 Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 81. 1656 Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 81. 1657 GAMO, F. R-54, op. 1, d. 39, l. 32. 1658 Narva, Chejno/Portugalov, Valentin: Pesni narodov Severa, 1960, S. 3, 6.

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Abb. 56: Programm der Traviata-Aufführung am Magadaner Theater 1945. GAMO: F. R54, op. 1, d. 3, l. 39, 39ob.

Da lediglich ein Klavierauszug der Oper am Theater vorhanden war, musste dieser instrumentiert werden. Diese Aufgabe übernahm der Häftling Al’bert Kesˇe (vgl. Kapitel B.2). In einem Bulletin des KVO Maglag wird berichtet, dass er die vorhandene Fassung erfolgreich für ein kleines Sinfonieorchester eingerichtet hatte.1659 Am 17. Februar 1945 fand die Generalprobe der Oper für die Genehmigung ihrer Aufführung statt. Dafür zuständig waren der Zensor Cikkel’ – der Bevollmächtigte des Glavlit in der Region Kolyma, E˙milija Adolina als Vertreterin des Theaters, Turevskij aus der Politverwaltung, Solockij vom NKVD sowie Dvoskin vom Stadtkomitee der Partei. Als besonders positiv hob die Kommission die Leistung des Regisseurs Leonid Varpachovskij, des musikalischen Leiters Ladirdo, des Ballettmeisters Igor’ Andreev sowie der Sänger Ziskina und Antonov hervor.1660 Alle diese Personen waren entweder ehemalige Häftlinge des Sevvostlag oder zur Zeit der Aufführung noch in Haft. Die sehr erfolgreiche Premiere der Traviata wurde am 18. Februar 1945 gegeben.1661 Laut Spielplänen der Theaterleitung ist die Oper sechsmal im Februar 1659 Kozlov, »Varpachovskij i pervaja opera v Magadane«, 26. März 2003, S. 4. 1660 GAMO, F. R-54, op. 1, d. 30, l. 38. 1661 Kozlov, »On pel v ›Traviate‹«, 13. November 1997, S. 3.

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und zehnmal im März 1945 gespielt worden.1662 In der überschwänglichen Zeitungsrezension über die Inszenierung wurden keine Namen der beteiligten Künstler genannt, mit Ausnahme von wenigen nicht inhaftierten Beteiligten. Bei den Häftlingen war lediglich von der Sängerin der Violetta oder vom Regisseur die Rede. Der Kritiker der Magadanskaja pravda lobte auch die Balletteinlagen und die Arbeit des Orchesters.1663 Leonid Varpachovskij erhielt für die Inszenierung der Traviata »auf hohem künstlerischen Niveau« am 30. November 1945 eine Urkunde vom Zentralstab für Arbeitswettbewerb des Sevvostlag. Unterzeichnet war sie vom stellvertretenden Leiter des Dal’stroj und dem Leiter des KVO Sevvostlag.

Abb. 57: Urkunde für Leonid Varpachovskij für die Inszenierung der Traviata. Privatarchiv Anna Varpakhovskaya.

1662 GAMO, F. R-54, op. 1, d. 31, l. 35 u. 39. 1663 Mel’nikov, B.: »Opera v Magadane«, in: Sovetskaja Kolyma, 31. März 1945 (Nr. 65), S. 4.

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Die lyrische Koloratursopranistin Ida Ziskina, welche die Rolle der Violetta sang, wurde 1916 in Odessa geboren.1664 Eine Zeit lang hatte sie in Harbin in China (vgl. Kapitel B.2, Abschnitt »Ananij Sˇvarcburg«) gelebt; 1936 war sie mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn nach Russland zurückgekehrt.1665 Das Schicksal vieler ehemaliger Harbiner, die in die Sowjetunion emigrierten, ereilte auch die junge Ida, die nach der Niederlassung in Moskau zunächst Gesangsunterricht genommen und sich auf eine Bewerbung am Stanislavskij-Operntheater vorbereitet hatte. Plötzlich wurde ihr Mann verhaftet, den sie nie wieder gesehen hat. Eines Abends im November 1937 wurde auch sie zu Hause verhaftet und musste ihre kranke Mutter sowie den kleinen Sohn alleine zurücklassen, die sie beide ebenfalls nie wieder gesehen hat. Erst 20 Jahre später kehrte sie nach Moskau zurück. Nach nur einem Verhör, bei dem, ihrer Aussage nach, keinerlei Tatbestand festgestellt werden konnte, wurde Ida von einem Sonderkollegium als »Familienangehörige eines Vaterlandsverräters« zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt. Zwei Jahre lang war sie in einem Lager in der Nähe der Stadt Tomsk inhaftiert, dann wurde sie zusammen mit anderen Häftlingen fast zwei Monate lang auf die Kolyma transportiert. Über ihre Ankunft in Magadan berichtete sie später ihrer Tochter Anna Varpakhovskaya: Das Schiff sei auf ein dunkles Etwas gestoßen, in der Nähe habe eine Laterne gestanden, und alles andere sei stockfinster gewesen. Damals habe Ida zu sich selbst gesagt: »Es ist alles aus, das Leben ist zu Ende.«1666 Nach ihrer Einlieferung ins Sevvostlag arbeitete sie zunächst als Näherin, doch bald bemerkten die für die Kulturarbeit zuständigen Personen ihre Begabung als Sängerin, und sie durfte als Mitglied der »Kulturbrigade« des Maglag auf der Theaterbühne auftreten. Angesichts der Schicksalsschläge, die sie erleiden musste, ist es bemerkenswert, bei Zinaida LichacˇÚva, die gemeinsam mit Ida Ziskina ihre Lagerhaft verbüßte, zu lesen, dass Ida stets fröhlich war, während der Arbeit sang und bis in die Nacht hinein in der »Laienkunst« probte.1667 Ungefähr ein halbes Jahr nach der Traviata-Premiere endete Idas Haftzeit, doch die Rolle der Violetta blieb der Höhepunkt ihrer Laufbahn als Sängerin. Weil sie und der Regisseur Leonid Varpachovskij, der noch bis 1947 inhaftiert war, sich während der Proben ineinander verliebt hatten, durfte Ida nicht mehr am Theater singen. 1949 wurde ihre gemeinsame Tochter Anna geboren. Erst nach Stalins Tod durfte die Familie die Kolyma verlassen, jedoch vorerst nicht nach Moskau ziehen.

1664 Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 71. 1665 Über das Schicksal Ida Ziskinas berichtet Savcˇenko in Kolymskie mizansceny, 1988, S. 18 – 28. 1666 Nefedova, »Dva jabloka ot palacˇa dlja Traviaty«, 14. Juni 2006, S. 12. 1667 LichacˇÚva, »Detal’ monumenta«, 1988, S. 77.

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Abb. 58: Ida Ziskina als Violetta in der Magadaner Traviata-Inszenierung. Privatarchiv Anna Varpakhovskaya.

Diese Familiengeschichte ist ein Beispiel dafür, dass die am Theater tätigen Häftlinge dadurch, dass sie Kontakt zum anderen Geschlecht hatten, noch während der Haft neue Familien gründen und dadurch neue Hoffnung schöpfen konnten. Ein weiteres prominentes Beispiel stellt der Jazz-Trompeter Eddie Rosner dar (vgl. Kapitel B.2), der während seiner Haft in Magadan eine Liebesbeziehung zur Ballerina Marina Bojko unterhielt; aus der Beziehung ging eine Tochter hervor.1668 Doch wurden Verhältnisse zwischen Frauen und Männern im Lager schwer bestraft, sobald sie aufgedeckt wurden.1669 1668 Artur Hörmann berichtet aus dem Operettentheater in Dolinka ebenfalls, dass es dort zu vielen Liebesbeziehungen unter den Häftlingen kam. Hörmann, Aber die Heimat winkte in der Ferne, 1999, S. 204.

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Die Rolle des Gastone in der Traviata sang und spielte Nikolaj Artamonov1670. Einen Eindruck von seinem anspruchsvollen Repertoire, welches er als Mitglied der »Kulturbrigade« des Maglag am Magadaner Theater zu Gehör brachte, vermitteln die erhaltenen Konzertprogramme: Am 22. Mai 1943 sang er die Arie des Don Jos¦ aus Bizets Carmen und das Arioso des Canio aus Leoncavallos Pagliacci mit Orchesterbegleitung.1671 Ende September 1943 trug er in einem Konzert der »Kulturbrigade« die Arie des Rodolfo aus Puccinis La BohÀme, die Arie des Herzogs aus Verdis Rigoletto sowie zusammen mit Evgenija Vengerova die Szene der Aida und des Radames aus Verdis Aida vor.1672 Am 6. November 1943 war er in der Rolle des Fürsten an der Aufführung der Szene des Fürsten und des Müllers aus der Oper Rusalka von Dargomyzˇskij beteiligt.1673 Im Konzert am 6. Oktober 1944, in dem er zusammen mit Ida Ziskina das Trinklied aus der Traviata vortrug, sang er auch die Arie des El¦azar aus Hal¦vys La juive und erneut das Arioso des Canio.1674 An der sommerlichen Tournee des Theaters auf der Kolyma 1945 (vgl. Ende dieses Kapitels) war er als Teil eines Vokalquartetts beteiligt.1675 Leonid Varpachovskij hat am Magadaner Theater, den Recherchen von Boris 1669 Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999. 1670 Nikolaj Artamonov wurde 1885 in Saratov geboren und hatte zunächst die dortige Fachschule für Kommerz absolviert. Danach war er jedoch seiner eigentlichen Berufung – dem Singen – gefolgt und hatte an der Saratover Musikfachschule studiert. 1905 war er nach Sankt Petersburg gezogen und hatte sein Studium am dortigen Konservatorium und von 1909 bis 1911 in den Opernkursen des Professors Grigorij Zaslavskij fortgesetzt. Ab 1909 war er als Opernsänger am Volkshaus [Narodnyj dom] und danach am Theater für Musikdrama aufgetreten. Von 1918 bis 1933 hatte er am Mariinskij-Theater gesungen. 1933 wurde Artamonov verhaftet und gemäß § 58 – 10 von einer OGPU-Troika zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Zunächst gestaltete sich sein Lagerdasein erträglich, da er sowohl im Bamlag als auch ab 1935 in Irkutsk als Sänger am Theater tätig war. 1937, als Artamonov bereits 52 Jahre alt war, ist er im Lager wiederholt verurteilt worden, und zwar erneut nach § 58 – 10 zu fünf Jahren Lagerhaft und drei Jahren Einschränkung der bürgerlichen Rechte. Er ist auf die Kolyma transportiert worden und wurde zu allgemeinen Arbeiten in der Mine Mal’djak (21) abgestellt. Nach einem Jahr folgte ein Wechsel nach Berelech (13), ebenfalls zu allgemeinen Arbeiten, bis Artamonov im Jahr 1939 in die Mine Udarnik (Stoßarbeiter) (19) gebracht wurde. Hier hatte er Glück, in die »Kulturbrigade« eingewiesen zu werden, zunächst in die der Mine und danach in die des Zaplag. Da er gute Leistungen zeigte, wurde er 1943, nach bereits zehn Jahren Haft, in die »Kulturbrigade« des Maglag aufgenommen. Hier wurde der Sänger auch als Pädagoge für die Sänger Ida Ziskina und Aleksandr Gryzlov eingesetzt und konnte die Lagerleitung so sehr mit guten Leistungen überzeugen, dass seine Haftzeit um ein Jahr verkürzt wurde. Im Jahr 1946, nach 13 Jahren Haft, wurde er freigelassen und verließ kurze Zeit darauf die Kolyma. Kozlov, »On pel v ›Traviate‹«, 13. November 1997, S. 3. 1671 GAMO, F. R-54, op. 1, d. 18, l. 51. 1672 GAMO, F. R-54, op. 1, d. 19, l. 32. 1673 GAMO, F. R-54, op. 1, d. 19, l. 17ob. 1674 GAMO, F. R-54, op. 1, d. 23, l. 80. 1675 GAMO, F. R-54, op. 1, d. 56, l. 58ob.

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Savcˇenko zufolge, ca. 30 Theaterinszenierungen und ebenso viele Konzertprogramme realisiert.1676 Für die Inszenierung der Traviata erhielt er eine Haftminderung und wurde am 17. Mai 1947 aus der Haft entlassen.1677 Jedoch spielten sich nach seiner Freilassung Ereignisse ab, die uns vor Augen führen, dass das Magadaner Theater nicht ausschließlich ein friedvoller Ort des Rückzugs gewesen ist. Denn Varpachovskij wurde auf die Denunziation eines Theatermitarbeiters hin erneut verhaftet und angeklagt. Es scheint kein Geheimnis gewesen zu sein, dass der Sänger Vadim Kozin (vgl. Kapitel B.2) ihn denunziert hatte, da diese Geschichte mit realen Namen 1962 von Varlam Sˇalamov in seiner Erzählung Ivan FÚdorovicˇ widergegeben wurde, welche einen Bestandteil des Zyklus Levyj bereg (Das linke Ufer) ausmacht.1678 In dieser Erzählung schildert Sˇalamov, dass Kozin Varpachovskij wegen seiner Pläne betreffend der 1.-Mai-Demonstration denunziert habe, und zwar soll Varpachovskij vorgehabt haben, diese Demonstration als Kreuzprozession zu inszenieren. Ida Ziskina erzählte Boris Kuricyn im Jahr 1985, dass zusammen mit Varpachovskij auch Al’bert Kesˇe und Heino Narva verhaftet wurden.1679 Diesmal entging der Regisseur aber glücklicherweise einer Verurteilung. Kurz nach Stalins Tod begann Varpachovskij, für seine Rechte zu kämpfen. Am 8. Mai 1953 ließ er sich ein Arbeitszeugnis ausstellen, aus dem hervorging, dass er seit August 1947 als künstlerischer Leiter des Zentralen Kulturhauses in der Ortschaft Ust’-Omcˇug (4) tätig gewesen war und dort zwölf Schauspiele sowie 20 Konzertprogramme inszeniert hatte. Die meisten seiner Inszenierungen hatten erste Preise bei den »Laienkunstschauen« der Kolyma erhalten, deren Durchführung Varpachovskij oblag. Auch übernahm er in Ust’-Omcˇug die Aufgaben des Pianisten und Dirigenten.1680 Während seines Lebens dort arbeitete er manchmal auch am Magadaner Theater, z. B. inszenierte er das Konzert zum Jahrestag der Oktoberrevolution im Jahr 1950.1681 Am 10. August 1953 schrieb Varpachovskij ein ausführliches Gesuch an den Minister für Inneres, in dem er um Revidierung der Verurteilung von 1937 bat. Am 29. April 1954 schrieb er dann, weil offensichtlich noch keine Antwort erfolgt war, an den Generalstaatsanwalt der UdSSR.1682 Er schilderte in diesen Schreiben, dass seine Verurteilung zu zehn Jahren Lagerhaft 1937 durch eine 1676 Savcˇenko, Boris: »Osˇcˇusˇcˇenie prazdnika«, in: Magadanskij komsomolec, 11. Juni 1983 (Nr. 70), S. 2 f. 1677 Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 455, Gesuch Varpachovskijs an den Minister für Inneres vom 10. August 1953; Kozlov, »Varpachovskij i pervaja opera v Magadane«, 26. März 2003, S. 4. 1678 Sˇalamov, Sobranie socˇinenij v cetyrÚch tomach, Bd. 1, 1998, S. 212 f. 1679 Kuricyn, Nevydumannye istorii iz zˇizni Leonida Varpachovskogo, 2003, S. 51. 1680 Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 455. 1681 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 52, l. 43. 1682 Beide im Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 455.

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Sonder-Troika geschehen war, ohne dass ein Tatbestand nachgewiesen werden konnte. Sein einziges Vergehen war, dass er zu jener Zeit in der Verbannung gelebt hatte. Zur Rehabilitierung Varpachovskijs kam es erst am 23. März 1955. Jedoch war die erste Verurteilung nicht davon betroffen. Um eine Rehabilitierung auch in dieser Sache ersuchte er den Staatsanwalt Moskaus am 4. März 1960. Die Rückkehr ins »normale« Leben war auch für einen so vielfach hochbegabten Menschen wie Varpachovskij nicht einfach. Zunächst arbeitete er am Griboedov-Theater in Tiflis, wo auch schon der ihm aus Magadan gut bekannte Maler Vasilij Sˇuchaev tätig war.1683 Die erste Inszenierung, die Varpachovskij in ˇ echovs Möwe. In einem Artikel in der Zeitung Tiflis realisierte, war Anton C Leninskoe znamja (Die Lenin-Fahne) aus Ust’-Omcˇug interpretiert Aleksandr Kozlov Varpachovskijs Inszenierung der Möwe als einen Versuch, die Gedanken und Gefühle aus seinen Jahren auf der Kolyma darzustellen.1684 Und tatsächlich bestätigt ein Vortrag über die Möwe, welchen Varpachovskij am 11. November 1953 vor der Theatertruppe in Tiflis hielt, Kozlovs Sichtweise.1685 Es handele sich bei dem Stück nicht nur um eine Liebesgeschichte und um eine verletzte Frau, sondern auch um eine Siegerin, die trotz aller Leiden an das Leben und ihre Berufung glaubte, so Varpachovskij. Es gehe vor allem um Fragen der Kunst, um den schwierigen Weg eines Künstlers, und darum, was Talent und ˇ echov habe ein Stück über den Sieg des Künstlerwillens, der Glück bedeuten. C Wahrheit und der Schönheit verfasst. Es gehe darin um den Willen des Menschen zum freien Schaffen, um die Überwindung alles Dunklen und Schweren. Durch diese Interpretation versuchte Varpachovskij möglicherweise, sich Mut auf dem Weg ins »normale« Leben zuzusprechen. Dieser Vortrag des Regisseurs demonstriert auch, wie wichtig Musik für ihn war : Er sprach vom Theater in musikalischen Begriffen, z. B. dass Schauspieler die musikalische Form von ˇ echovs Stücken erfassen müssten.1686 C Im Archiv des Bachrusˇin-Museums finden sich, ebenfalls im VarpachovskijNachlass, Erinnerungen von Ida Ziskina an die erste Zeit nach dem Wegzug von der Kolyma. Finanziell stand es damals sehr schlecht um die Familie. Varpachovskij wohnte in Tiflis bei Freunden, seine Frau mit der Tochter aber auf einem Dorf. Aus diesen Erinnerungen geht hervor, dass der Regisseur sich geweigert 1683 Über diese Zeit im Leben Varpachovskijs berichtet Rybnikova, Praskov’ja in »E˙licˇka«, in: Kul’tura, 14. Mai 1994, S. 5. ˇ ajke‹ – Kolymskaja bol’«, in: Leninskoe znamja (Ust’-Omcˇug), 1684 Kozlov, Aleksandr : »V ›C 31. März 1988 (Nr. 39), S. 2. ˇ echovs Möwe vom 1685 Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 455, Vortrag über C 11. November 1953. ˇ echovs Möwe vom 1686 Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 455, Vortrag über C 11. November 1953, S. 18.

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hat, die Traviata in Tiflis zu inszenieren. Möglicherweise hatte er die Befürchtung, dass die Arbeit daran die Lagerzeit zu sehr wiederaufleben lassen könnte. In den Jahren 1957 bis 1960 war Leonid Varpachovskij als Regisseur am Ermolova-Theater in Moskau, ab 1962 am Moskauer Malyj-Theater tätig. Die Journalistin Rybnikova berichtet, dass am Ermolova-Theater zwei Schauspieler eine Kampagne gegen ihn gestartet hatten, weswegen er an das Malyj-Theater wechselte.1687 Varpachovskijs Biograf, Boris Kuricyn, schreibt über die Tätigkeit des Regisseurs nach der Haft, dass in Varpachovskijs Umgebung der Eindruck geherrscht habe, als ob er leidenschaftlich versuchte, die Lagerzeit, in der er nicht am Theater tätig sein konnte, nachzuholen. Es hat in Moskau in diesen Jahren Tage gegeben, an denen fünf von Varpachovskij inszenierte Aufführungen an verschiedenen Theatern gezeigt wurden. Und dabei hat er, nach Einschätzung des Regisseurs Valerij Fokin, stets die Ideen weiterverfolgt, die in der Zeit der Avantgarde im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts aufgekommen waren.1688 Bezüglich der letzten drei Lebensjahre Varpachovskijs vor seinem Tod im Jahr 1976 erinnert sich sein Sohn FÚdor aus erster Ehe, dass der Regisseur unter sehr starken Depressionen litt und sich mit Mühe zur Arbeit zwang: Er hat sich nie, das habe ich mit Schrecken gesehen, von der unterbewussten Erwartung einer erneuten Verhaftung befreien können.1689 1687 Rybnikova, »E˙licˇka«, 14. Mai 1994, S. 5. 1688 Kuricyn, Nevydumannye istorii iz zˇizni Leonida Varpachovskogo, 2003, S. 11, 172, 207. 1689 ?^ cQ[ ^Y[_TUQ Y ^V _bS_R_UY\bp – p b dWQb_] SYUV\ nc_ – _c `_Ub_X^QcV\m^_T_ _WYUQ^Yp ^_S_T_ QaVbcQ. Kuricyn, Nevydumannye istorii iz zˇizni Leonida Varpachovskogo, 2003, S. 172. An den Publikationen über Leonid Varpachovskij, die in der regionalen und überregionalen Presse erschienen sind, lässt sich nachvollziehen, wann Journalisten und Redakteure sich getraut oder es für notwendig erachtet haben, offen über seine GulagVergangenheit zu berichten. Im Nachruf auf Varpachovskij in der Zeitung Sovetskaja kul’tura (Sowjetische Kultur) werden weder Magadan noch Alma-Ata in der Auflistung seiner Arbeitsorte erwähnt (Sovetskaja kul’tura, 17. Februar 1976 [Nr. 14], S. 8). Auf diese Weise wurden 18 Jahre seines Lebens verschwiegen, auch kein einziges in diesen Städten realisiertes Theaterstück kam zur Sprache, wodurch viele Jahre künstlerischen Schaffens wie weggewischt wurden. Auch im Artikel von Boris Savcˇenko vom 11. Juni 1983 wird die Lagerhaft des Regisseurs mit keinem Wort erwähnt (Savcˇenko, »Osˇcˇusˇcˇenie prazdnika«, 11. Juni 1983, S. 2 f.). Im März 1988, zur Zeit der Perestroika, war es Aleksandr Kozlov endlich möglich, einen Artikel über die bis dahin nicht öffentlich diskutierten Geschehˇ ajke‹ – nisse im Leben Varpachovskijs zu publizieren. Er betitelte seinen Artikel mit »V ›C Kolymskaja bol’« (In der Möwe steckte der Schmerz von Kolyma), erschienen ist er in: Leninskoe znamja (Ust’-Omcˇug), 31. März 1988, S. 2. Handelte es sich dabei um eine Publikation in einer kleinen Regionalzeitung, so erschien weniger als einen Monat später ein Artikel Savcˇenkos in der Zeitung Magadanskaja pravda, der auflagenstärksten im Gebiet Magadan (Savcˇenko, »Preodolenie«, 10. April 1988, S. 3). Beide Artikel sind zur Feier des 80. Geburtstags von Varpachovskij veröffentlicht worden, zu der auch Gedenkabende in Moskau und Kiew veranstaltet wurden (Savcˇenko, »Preodolenie«, 10. April 1988, S. 3).

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Die Geschichte der Traviata in Magadan aber demonstriert den großen Willen der inhaftierten Künstler und Musiker, welcher diese Inszenierung erst ermöglicht hat. Auch wenn ihre Schicksale durch die Haft gebrochen waren, lebten sie für die Kunst und schenkten ihr Können dem Publikum in einer so trostlosen Gegend wie der Kolyma.

Musiker am Gor’kij-Theater der Nachkriegszeit […] mit dem Sturmgewehr im Nacken.1690 Ol’ga Ivanova über ihre Zeit am Magadaner Theater

Über das Gor’kij-Theater nach 1946 liegen Erinnerungen der damals inhaftierten Ol’ga Ivanova, ehemals Gorbal’, vor, welche die Verfasserin in Briefform für die Zeitung Vecˇernij Magadan (Abendliches Magadan) verfasst hat, als Antwort auf eine Publikation zum 50. Jubiläum des Magadaner Theaters.1691 Das Wirken der inhaftierten Künstler am Magadaner Theater habe damals, so Ol’ga Ivanova, unter der Bedrohung einer Maschinenpistole stattgefunden. Ivanova wurde 1928 in L’vov in der Ukraine geboren und hatte dort die Musikschule im Fach Klavier sowie eine private Ballett-Schule absolviert. Im Juli 1945 wurde sie verhaftet und 1946 als »Heimatverräterin« zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt, wie viele ihrer Landsleute, die unter der Besatzung der Kriegsgegner gelebt hatten. Im Juni 1946 wurde sie nach Magadan gebracht, wo sie nach der Ankunft aus der Allgemeinheit der Häftlinge ausgesondert wurde, um ans Theater überstellt zu werden. Die Aufgabe, Häftlinge für das Theater auszusuchen, oblag damals dem Sänger Vadim Kozin (vgl. Kapitel B.2), so Ivanova. Eine Selektion von Künstlern mit Probevorsingen bzw. -tanzen hat bei jedem Transport stattgefunden. Auch offensichtlich nicht ausgebildete und unbegabte Häftlinge meldeten sich zu diesen Musterungen, weil sie sich davon erhofften, den allgemeinen Arbeiten zu entgehen, was teilweise zu tragikomischen Situationen führte. Ol’ga Ivanova blieb bis zum 18. November 1949 am Theater ; dann nämlich wurden alle nach § 58 verurteilten Häftlinge zu allgemeinen Arbeiten abkommandiert, was auch durch andere Zeitzeugenerinnerungen belegt ist (vgl. Kapitel B.2, Abschnitt über Aleksandr Dzygar). Ivanova behielt positive Erinnerungen an das Theater, weil sie dort keine Schwerstarbeit wie später während der 1690 […] `_U Ud\_] QSc_]QcQ. Ivanova, Ol’ga: »I smech, i slÚzy, i ljubov’…«, in: Vecˇernij Magadan, 27. Juni 1992, S. 5. 1691 Ivanova, »I smech, i slÚzy, i ljubov’…«, 27. Juni 1992, S. 5.

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Haft zu verrichten hatte. In ihrem Brief setzte sie sich vor allem zum Ziel, so viele inhaftierte Mitarbeiter des Theaters wie möglich zu erinnern. An Sängerinnen nannte sie Dina Mironenko, Valentina Milenusˇkina aus Jaroslavl’, die Koloratursopranistin Genrietta Glud aus Polen, die ihre Ausbildung in Italien ˇ ecˇel’nickaja, die erhalten haben soll, die aus Odessa stammende Lidija C Unterhaltungslieder sang, sowie die Sängerin russischer Volkslieder Anja Jankovicˇ aus Weißrussland. Davon ist nur die Letztgenannte in der Liste von Aleksandr Kozlov zu finden, was wiederholt zeigt, dass diese Liste unvollständig ist und womöglich größere Lücken aufweist. Als führenden Sänger der Truppe nannte Ivanova Anatolij Prichod’ko, als weitere Sänger Aleksandr Gryzlov, der kein politischer Häftling, sondern ein Gelegenheitsverbrecher war, sowie den Tenor Sergej Popov aus Leningrad. Der Operetten- und Estrade-Sänger Vladimir Neznamov sei ein Publikumsliebling gewesen, fast genauso beliebt wie Vadim Kozin. An Musikern kommen in ihren Erinnerungen der Dirigent [Heino] Narva, der Violoncellist Al’bert Kesˇe, ˇ ajkovskijs Erstes Klavierkonzert herder Pianist Ananij Sˇvarcburg, welcher C vorragend gespielt habe, die Pianistin Galina Vetrova (vgl. Kapitel B.2), Eddie Rosner (vgl. Kapitel B.2), Aleksandr Dzygar (vgl. Kapitel B.2) und der Akkordeonist Vadim Zdanevicˇ vor. Ol’ga Ivanova bedauerte trotz dieser stattlichen Auflistung, dass sie nur wenige Leidensgenossen namentlich in Erinnerung behalten hat, darunter viele Musiker nur mit Vornamen. Sie erwähnte noch einen »sehr guten gemischten Chor«, dessen Mitglieder aber mit der Allgemeinheit der Häftlinge arbeiten mussten und nur für Konzerte von der Arbeit befreit wurden. Proben mussten sie nach Verrichten der allgemeinen Arbeiten abhalten. Die Mitglieder des Chores waren vorrangig Frauen aus der Westukraine sowie Männer aus dem Baltikum. Als Chorleiter betätigte sich ein Pole namens Tadeusz, der nach zwei Jahren Haft an Schwindsucht starb. Im Hinblick auf das Repertoire des Theaters erinnerte sich Ol’ga Ivanova an die Operetten Gräfin Mariza von Emmerich K‚lm‚n, Cholopka (Die Magd) von Nikolaj Strel’nikov sowie Vol’nyj veter (Der freie Wind) von Isaak Dunaevskij, vor allem aber an eine große Menge von Konzerten in Form bunter Abende. Ol’ga Ivanovas Erinnerungen werden durch die Unterlagen des Theaters bestätigt: Die »Kulturbrigade« des Maglag trat auch nach dem Zweiten Weltkrieg am Theater auf, z. B. am 27. und 30. November 1946.1692 Als weiterer Mitwirkender am Magadaner Theater Ende der 1940er-Jahre, der als Konzertmeister am Magadaner Theater tätig war, ist der bereits erwähnte Este Evald Turgan zu nennen, ein Absolvent des Pariser Conservatoires in der

1692 GAMO, F. R-54, op. 1, d. 35, l. 3.

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Klasse von Jacques Thibaud.1693 Vor seiner Ankunft in Magadan war er Teil der »Kulturbrigade« der Bucht Vanino gewesen (vgl. Kapitel B.2). Georgij Fel’dgun berichtet, dass Turgan bis Mitte der 1950er-Jahre in Magadan lebte. Als er dann nach Estland zurückkehrte, litt er an Tuberkulose und starb kurze Zeit später.1694 Am 26. August 1946 verabschiedete das Organisationsbüro des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei den Erlass O repertuare dramaticˇeskich teatrov i merach po ego ulucˇˇseniju (Vom Repertoire der Theater und den Maßnahmen zu seiner Verbesserung). Wie nach derartigen Erlassen üblich, wurden in allen Theatern des Landes Vollversammlungen einberufen, um über das Dokument zu diskutieren, so auch am Magadaner Theater am 18. November 1946. Hier waren, laut Protokoll, 105 Personen in der Versammlung anwesend, und zwar sowohl Angestellte des Theaters als auch Vertreter anderer Organisationen. Zunächst hielt der Vorsitzende der Politverwaltung einen Vortrag über den Erlass des Zentralkomitees. Als dann die Diskussion eröffnet wurde, kamen die Beteiligten immer wieder auf die Estrade-Gruppe des Theaters zu sprechen. Diese arbeite schlecht, so der Theaterdirektor Karmanov. Der Regisseur der Estrade, Vel’jaminov, beklagte sich seinerseits darüber, dass es kein Notenmaterial gab, sodass die Gruppe eigenständig dafür sorgen musste. Der Sekretär des Stadtkomitees der Partei formulierte die angeblichen Fehler der Estrade genauer : Westliche europäische Musik bildete den Großteil des Repertoires, es fehlten russische Lieder und Tänze. Und es fehlten die ehemals erfolgreichen Sinfoniekonzerte. Beim letzten Punkt bekam er Unterstützung vom Vorsitzenden des Radiokomitees und dem Vorsitzenden der Politverwaltung, welche die Gründung eines Sinfonieorchesters forderten.1695 Offensichtlich gab es zu diesem Zeitpunkt kein solches Orchester am Theater, sondern das Orchester der »Kulturbrigade« des Maglag, der Ol’ga Ivanova und alle von ihr erinnerten Musiker angehörten, wurde zu Konzerten am Theater herangezogen. In der Resolution der Versammlung hieß es über das Repertoire der EstradeGruppe, dass es oft »abgeschmackte Musik westlicher europäischer Komponisten« enthalte. Die Versammlung ordnete an, dass sowohl die Estrade-Gruppe des Theaters als auch das Jazz-Orchester des Dal’stroj ab sofort sowjetische Lieder und sowjetische Musik zum Grundstock jeden Programms machen sollten. Das Repertoire sollte ideologisch-politisch ausgerichtet sein und keinen zufälligen Charakter haben. Das Theater sollte mit Autoren vor Ort arbeiten, um die Entstehung eines geeigneten Repertoires anzuregen. Die Versammlung be-

1693 Savcˇ enko, Boris: »Skripacˇ iz Charbina«, in: Magadanskaja pravda, 12. November 1988, S. 3. 1694 Fel’dgun, »Zapiski lagernogo muzykanta«, 1997, S. 344. 1695 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 34, l. 1 – 4.

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schloss des Weiteren die Neugründung eines kleinen Sinfonieorchesters für die Saison 1947/48.1696 Am 1. Januar 1948 waren tatsächlich 14 Musiker am Gor’kij-Theater angestellt. Nach der Gründung des ME˙T im Februar 1948 wurde das Orchester des Gor’kij-Theaters jedoch zur neuen Saison hin aufgelöst.1697 Dem ging ein Erlass des Ministerrats vom 4. März 1948 voraus, in dem die Kürzung der staatlichen Fördergelder für alle Theater angekündigt wurde.1698 Einige weitere Ende der 1940er- und Anfang der 1950er-Jahre am Magadaner Theater tätige Sänger und Musiker sollen hier noch Erwähnung finden: Im Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums in Moskau wird ein Brief der Sängerin Lilijana Gorina (Mädchenname Kenigsmanova) an Valentina Tokarskaja aus dem Jahr 1991 aufbewahrt, welchem ein Zeitungsausschnitt aus der in Magadan erscheinenden Zeitung Territorija (Territorium) beigelegt ist.1699 Aus dem Brief geht hervor, dass beide Frauen als Häftlinge am Theater in Vorkuta beschäftigt worden waren. Gorina schreibt, dass Erinnerungen daran sie immer noch quälten und sie nichts vergessen konnte. An Gorina erinnerte sich beispielsweise die Sängerin Tat’jana Lesˇcˇenko, die ebenfalls in Vorkuta inhaftiert war, in einem Brief von 1971 und nannte sie eine »glänzende Diva aus Polen«, die mit ihrem Gesang verzauberte und zu Tränen rührte, obwohl sie gewöhnliche sowjetische Lieder im Repertoire hatte.1700 Im Zeitungsartikel wird berichtet, dass Lilijana Gorina 1948 im Alter von 17 Jahren als »sozial schädliches Element« nach Magadan transportiert worden war und dort am Theater Lieder mit Orchesterbegleitung gesungen hat.1701 Gorina erinnerte sich im Interview mit dem Verfasser des Zeitungsartikels an den Esten Voldemar Ruubel, der als Dirigent am Theater gearbeitet hatte. Für ihren ersten Auftritt am Magadaner Theater hatte sie vom Lagerleiter eine Tafel Schokolade geschenkt bekommen, was angesichts dessen, dass sie im Lager ständig Hunger zu leiden hatte, eine große Freude gewesen war. Im Dezember 1952 taucht in den erhalten gebliebenen Unterlagen des Theaters der Name des Pianisten V. Klempner auf. Es handelt sich bei ihm um Vladimir Klempner, von dem Aleksandr Solzˇenicyn in Archipel GULAG berichtet, dass er im Jahr 1946 zusammen mit ihm im Butyrka-Gefängnis einsaß, und dass Klempner ein am Konservatorium ausgebildeter Komponist gewesen

1696 1697 1698 1699 1700

GAMO: F. R-54, op. 1, d. 34, l. 5 – 7, 13 f. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 38, l. 1 – 3, 102. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 22, l. 81. Dieser Ausschnitt ist leider nicht datiert. Lesˇcˇenko gibt den Namen der Sängerin falsch wieder, und zwar mit »Diana Kinismanova«. Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999. 1701 Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 689, Nr. 147.

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war.1702 Die Tatsache, dass Vladimir Klempner (*1913 in Moskau) 1999 vom Magadaner UVD rehabilitiert wurde,1703 stützt die These, dass es sich bei dem Pianisten Klempner am Theater um den von Solzˇenicyn erwähnten Musiker handelt, auch wenn die Theaterunterlagen nur Initialen seines Namens verzeichnen. Dem Internet-Auftritt des Moskauer Konservatoriums ist zu entnehmen, dass Klempner dort Klavier studiert hatte.1704 Solzˇenicyn erzählt über Klempner im zweiten Band des Archipel GULAG, dass es ihm unter dem Vorwand, die Kulturarbeit im Lager verbessern zu wollen, erlaubt wurde, einen Flügel in das Lager in Beskudnikovo bei Moskau mitzunehmen. Nachts hat er darauf gespielt und komponiert. Eines Nachts belauschte ihn aber der Lagerkommandant, nahm seine Komposition weg und verbrannte sie. Solzˇenicyn schreibt, dass dieses Stück eine Sonate über den Gulag gewesen war.1705 In Magadan arbeitete Klempner in den Jahren 1952 – 1954 als Konzertmeister,1706 Dirigent1707 und Pianist. Beispielsweise führte er Griegs Klavierkonzert und die Ungarische Rhapsodie Nr. 2 von Liszt auf.1708 Sein Beispiel zeigt, dass das klassische Repertoire auch in den 1950er-Jahren in Magadan von Häftlingen gepflegt wurde. Am 21. März 1953 beispielsweise war Klempner als Konzertmeister an einem Konzert mit klassischer Musik, Rezitation und Tanz beteiligt.1709 Im Sommer 1954 ging er als Teil der »Konzertbrigade« des Magadaner Theaters auf Tournee quer durch die Kolyma und spielte dabei Tanzmelodien im Instrumentalquartett.1710 Im Dezember 1953 wurde die administrative Einheit des Gebiets Magadan ins Leben gerufen, und die Verwaltung des Theaters wurde aus den Händen des Dal’stroj an das Kultusministerium übergeben.1711 Damit und mit der Auflösung des Sevvostlag 1957 endete das Kapitel eines Theaters, welches durch die starke Verflechtung mit dem Lager als »Lagertheater« bezeichnet werden kann.

1702 Solzˇenicyn, Archipelag GULag, 1973, Teile I – II, S. 593. 1703 Http://lists.memo.ru/d16/f194.htm (letzter Zugriff am 20. Dezember 2010). 1704 Http://old.mosconsv.ru/students/selection.php?cl=& fc=1& sp=1 (letzter Zugriff am 2. Juni 2011). 1705 Solschenizyn, Der Archipel GULAG. Folgeband, 1974, S. 468 f. 1706 GAMO, F. R-54, op. 1, d. 67, l. 75; d. 68, l. 97ob; d. 77, l. 1; d. 80, l. 4. 1707 GAMO, F. R-54, op. 1, d. 79, l. 1 f. 1708 GAMO, F. R-54, op. 1, d. 68, l. 97ob, 110ob; d. 89, l. 21. 1709 GAMO, F. R-54, op. 1, d. 80, l. 4. 1710 GAMO, F. R-54, op. 1, d. 90, l. 7ob. 1711 Teatr na kraju zemli, 1992, S. 4.

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Das neue ME˙T Wie in Kapitel B.2 im Abschnitt »›Kulturbrigade‹ des Maglag« gezeigt, erfreuten sich die Auftritte der »Kulturbrigade« des Maglag am Theater großer Beliebtheit beim Publikum. Vom Juli 1946 bis Juli 1947 trat die »Kulturbrigade«, offiziellen Angaben des Theaters zufolge, 62-mal mit Konzerten am Theater auf.1712 Auch im Jahr 1948, nach der Reorganisation der »Kulturbrigade« zum neuen ME˙T, werden die Auftritte am Theater mehrmals monatlich nachgewiesen.1713 Auf den Befehl des stellvertretenden Dal’stroj-Leiters Nikolaj Titov vom 7. Februar 1948 wurde erneut ein Revuetheater in Magadan ins Leben gerufen, und zwar diesmal unter der Ägide des Maglag.1714 Der Befehlstext wurde damit eingeleitet, dass die »Laienkunst« im Sevvostlag zu einem der wichtigsten Mittel bei der Umerziehung der Häftlinge und ihrer Mobilisierung für die Planerfüllung und Produktivitätssteigerung geworden war. Es wurde eine positive schöpferische Entwicklung der zentralen »Kulturbrigaden« der einzelnen Lagereinheiten festgestellt und die Professionalität der Maglag-»Kulturbrigade« hervorgehoben. Die Letztgenannte sollte dem Befehl nach im neuen Revuetheater aufgehen. Gerechtfertigt wurde die Theatergründung damit, dass die Qualität der kulturellen Betreuung der Häftlinge gesteigert werden sollte. Dem Gründungserlass liegt eine von der Maglag-Leiterin und dem KVOLeiter des Sevvostlag unterschriebene Satzung des ME˙T bei, in der zur vorrangigen Aufgabe des Revuetheaters erklärt wurde, Operetten und Konzerte für die Häftlinge des Sevvostlag aufzuführen.1715 Zusätzlich wurde dem Theater aber auch unter Berufung auf eine nicht genauer benannte Vorschrift des Innenministers erlaubt, vor der zivilen Bevölkerung im Zentralen Klub der Wachmannschaften (VOChR), im Gebäude des Gor’kij-Theaters und in anderen Klubhäusern aufzutreten. Dabei sollten seine Programme stets von der Politverwaltung des Dal’stroj genehmigt werden. Zur Direktorin des Theaters wurde Inna Dement’eva ernannt. Sie unterstand der Leiterin des Maglag, Aleksandra Gridasova. Die Zahl der künstlerischen Mitarbeiter des neuen ME˙T wurde auf 60 festgelegt. Darunter waren vier künstlerische Leiter, 24 Schauspieler, Sänger und Tänzer sowie 30 Musiker für ein kleines Sinfonieorchester und ein Jazz-Orchester vertreten. Für Massenszenen und Chöre durften noch mehr Häftlinge beschäftigt werden. Regisseure und Bühnenbildner aus dem Gor’kij-Theater durften zur Mitarbeit herangezogen werden. Das Theater hatte mindestens drei

1712 1713 1714 1715

GAMO: F. R-54, op. 1, d. 38, l. 106 – 114. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 40, l. 12, 13, 15, 17, 49, 52, 55, 58, 60. GAMO: F. R-23, op. 1, d. 2219, l. 101 f. GAMO: F. R-23, op. 1, d. 2219, l. 103.

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Neuinszenierungen von Werken des Musiktheaters und sechs neue Konzertprogramme im Jahr zu realisieren. Dem Gründungserlass des Theaters sind zwei Listen beigefügt, aus denen die Namen der angestellten Künstler und gleichzeitig ihre Zuständigkeiten hervorgehen: Es wurden vier Sänger und ebenso viele Sängerinnen angestellt, Tija Kirspuu als Konzertmeisterin für die Ballett-Truppe und die Pianistin Galina Vetrova als Solistin des Orchesters und des Jazz-Orchesters. Des Weiteren sind in den Listen fünf Geiger, ein Violoncellist, ein Kontrabassist, drei Trompeter, zwei Hornisten, ein Posaunist, ein Tubist, ein Flötist und drei Saxophonisten verzeichnet. Das zahlenmäßige Geschlechterverhältnis unter den Künstlern entsprach 35 Männern und neun Frauen.1716 Eine dieser Listen führt die 44 künstlerischen Mitarbeiter auf und verzeichnet neben den Namen und den Berufen auch die Paragrafen, aufgrund derer es zur Verurteilung der entsprechenden Personen gekommen war, sowie ihre Haftdauer. Die Tabelle macht deutlich, dass es sich bei den meisten Mitarbeitern des Theaters um politische Häftlinge handelte, weil sie nach § 58 verurteilt worden waren. Auch die mit der Abkürzung »KRD« [kontrrevoljucionnaja dejatel’nost’ – konterrevolutionäre Tätigkeit] gekennzeichneten vier Mitarbeiter sind als solche zu zählen. Für 25 dieser Mitarbeiter lautete das Urteil zehn Jahre Lagerhaft, sechs von ihnen hatten nach der Haftzeit noch fünf bzw. drei Jahre unter dem Entzug bürgerlicher Rechte zu leiden. Für die Probenarbeit und die Auftritte des ME˙T war das Klubhaus der Wachmannschaften vorgesehen. Doch das ME˙T trat auch, wie im Gründungsdokument bereits erlaubt, oftmals auf der Bühne des Gor’kij-Theaters auf.1717 Weniger als zwei Monate nach seiner Gründung wurde ein Vertrag zwischen seiner Direktorin und dem stellvertretenden Direktor des Gor’kij-Theaters geschlossen. Darin wurde vereinbart, dass das Revuetheater sein Programm zum 1.-Mai-Feiertag viermal – je ein Abend- und ein Nachtkonzert am 1. und 2. Mai 1948 – dort vorführen sollte.1718 Zusätzlich buchte das städtische Theater für die Mai-Feiertage das Jazz-Orchester des ME˙T und bezahlte dafür 20.000 Rubel an das Revuetheater.

1716 GAMO: F. R-23, op. 1, d. 2219, l. 105 – 108. 1717 Beispielsweise handelte es sich bei vier von 19 Veranstaltungen in der Zeit vom 10. bis 31. Oktober 1949 am Gor’kij-Theater um Konzerte des ME˙T. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 49, l. 8. 1718 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 38, l. 85.

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Abb. 59: Erste Seite der Liste der künstlerischen Mitarbeiter des ME˙T. GAMO: F. R-23, op. 1, d. 2219, l.107.

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Einen Eindruck von der Tätigkeit des neuen ME˙T im ersten Jahr seines Bestehens vermittelt der Bericht des KVO-Leiters der Besserungsarbeitslager des Dal’stroj1719 an den KVO GULAG vom Februar 1949, in dem die Aufführungen des ME˙T als sehr erfolgreich bezeichnet werden. Acht Konzertprogramme seien einstudiert und 194-mal aufgeführt worden.1720 Dazu kamen 36 Aufführungen der Gräfin Mariza von Emmerich K‚lm‚n, 26 Aufführungen der Operette Odinnadcat’ neizvestnych (Die elf Unbekannten) von Nikita Bogoslovskij sowie zehn Aufführungen der Operette Cholopka (Die Magd) von Nikolaj Strel’nikov. Diese sind sowohl für Häftlinge als auch für Zivilisten gespielt worden.1721 In den Konzertprogrammen, so ist weiter in diesem Bericht zu lesen, nahm die zeitgenössische Thematik einen breiten Raum ein: Die »heroische Arbeit der Sowjetmenschen«, die darauf gerichtet war, den Fünfjahresplan in vier Jahren zu erfüllen, wurde behandelt. Des Weiteren standen Stücke russischer und ausländischer Klassiker sowie Folklore auf dem Programm. Das ME˙T hatte auch bei seinen Auftritten in Lagerpunkten den »Laienkunstzirkeln« und »Kulturbrigaden« dieser Lager Hilfestellungen gegeben.1722 Der Schriftsteller Vasilij AksÚnov, Sohn von Evgenija Ginzburg, der nach ihrer zehnjährigen Lagerhaft im Jahr 1948 im Alter von 16 Jahren zu ihr nach Magadan ziehen durfte und dort einige Jahre verbracht hat, erinnerte sich in einem Interview im Jahr 2006 an Aufführungen des ME˙T, die er besucht hatte, insbesondere an die Operette Odinnadcat’ neizvestnych. Diese handelte von der Reise einer sowjetischen Fußballmannschaft nach England und enthielt populäre englische Lieder der 1940er-Jahre. Dadurch sangen Häftlinge in Magadan diese Lieder auf der Bühne. AksÚnov erinnerte sich auch daran, wie er die von Wachsoldaten zum Theater eskortierten Künstler auf der Straße gesehen hatte. Sie seien hervorragend angezogen gewesen; er sprach von Damen in Boas und Männern mit Hüten.1723

1719 Die Tatsache, dass in einem offiziellen Bericht der Begriff »Sevvostlag« durch »Dal’stroj« ersetzt werden konnte, demonstriert die Austauschbarkeit dieser Begriffe und gleichzeitig die enge Verbindung dieser Institutionen. GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1531, l. 40. 1720 Anderen Unterlagen zufolge hatte das ME˙T im Jahr 1948 lediglich vier unterschiedliche Konzertprogramme realisiert: zum Tag der Sowjetischen Armee im Februar, zum 1. Mai, ein sinfonisches Konzert sowie ein Konzert zum Jahrestag der Oktoberrevolution. Piskarev, Boris (Hg.): Prokuratura Magadanskoj oblasti. Konspekt cˇetyrÚch desjatiletij, 1997, S. 99 f. 1721 GARF: F. 9414scˇ, op. 1, d. 1531, l. 62 f. 1722 GARF: F. 9414scˇ, op. 1, d. 1531, l. 63. 1723 Barmetova, Irina: »Tezej i drugie. Beseda s Vasiliem AksÚnovym«, in: Oktjabr’, 2006, Nr. 2, S. 105 f.

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Abb. 60: Ein Auftritt des ME˙T in den Jahren 1948/49. In der Mitte ist der Geiger Aleksandr Dzygar zu sehen. Privatarchiv Galina Vetrova.

Dadurch dass das ME˙T nicht nur regelmäßig auf der Bühne des Gor’kij-Theaters aufgetreten ist, sondern auch dort probte, kam es zu Konflikten mit der eigentlichen Truppe des Theaters. Erstaunlicherweise belegt eine Meldung, die diese Konflikte dokumentiert, dass die Truppe des Theaters vor dem ME˙T weichen musste. Darin berichtet der Regisseur des Theaters, Gorsˇecˇnikov, dem Theaterdirektor, dass wegen vier Proben des ME˙T in der zweiten Februarhälfte des Jahres 1948 ein Schauspiel nicht geprobt werden konnte und deswegen seine Aufführung verschoben werden musste.1724 Im August 1949 berichtete der Leiter des KVO Sevvostlag an den KVO GULAG, dass das ME˙T vier Konzertprogramme einstudiert und im Sommer in zwei Gruppen die Arbeitsstätten der Häftlinge auf der Kolyma bereist hatte. Dabei hatte es 383 Konzerte und Theateraufführungen für Häftlinge gegeben.1725 Die Unterlagen über die Festlichkeiten zur Feier des 32. Jahrestags der Oktoberrevolution 1949 am Gor’kij-Theater zeigen, dass die Bühnenaktivitäten des Gor’kij-Theaters und des ME˙Tsich in enger Aufeinanderfolge abwechselten. Die Feierlichkeiten dauerten eine Woche lang an – vom 3. bis zum 9. November. Auf einen Festabend der Dal’stroj-Leitung folgte ein Abend des Sevvostlag mit einem Konzert. Den Höhepunkt des Festes bildeten am 8. November gleich zwei

1724 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 40, l. 51. 1725 GARF: F. R-9414scˇ, op. 1, d. 1557, l. 20, 64.

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Konzerte des ME˙T. Die Generalprobe für diese Konzerte war auf den 1. November nachts von 0:00 bis 5:00 Uhr im Foyer des Kinohauses festgesetzt.1726 Einen Eindruck vom Repertoire des ME˙T vermittelt ein Programm aus dem Jahr 1949,1727 welches einzelne Vokalnummern aus Opern und Operetten,1728 sowjetische Lieder,1729 instrumentale Beiträge,1730 russische Kunstlieder,1731 belorussische und ukrainische Volkslieder, Lesungen, Sketche und ein Feuilleton umfasste. Den Abschluss des Konzerts bildete ein Auftritt des Chansonniers Vadim Kozin, der bis zu seiner Freilassung aus dem Lager im Jahr 1950 am ME˙T tätig gewesen war.1732 Von seiner Sonderstellung am ME˙Tzeugt allein schon, dass nur bei ihm der Vorname im Programm genannt wird. Bei allen anderen Vortragenden und auch bei den Komponisten und Schriftstellern werden nur die Nachnamen aufgeführt, in Einzelfällen wird das Initial des Vornamens aufgeführt. Die Hälfte der von Kozin in diesem Konzert gesungenen sechs Lieder bildeten Kompositionen von Vasilij Solov’Úv-Sedoj, der sich durch zahlreiche sowjetische Massenlieder hervorgetan hat. Die Zeitzeugin Marija Dobrinskaja erzählte in einem Interview mit der Verfasserin in Magadan im Juli 2006, dass Kozins Auftritte sich großer Beliebtheit beim Publikum erfreut hätten. Neben den Privilegien, welche die Künstler des ME˙T gegenüber anderen Häftlingen genossen und die sich aus dem bislang Dargestellten ergeben (keine körperlich schwere Arbeit, Kontakt zum anderen Geschlecht, Arbeit im eigentlichen Beruf, räumliche Freiheiten usw.), ist ein weiteres Phänomen überliefert, und zwar ist eine Liste erhalten geblieben, die 71 Künstler des ME˙T verzeichnet, von denen 70 mit einer Unterschrift den Erhalt von 150 g Alkohol für zwei Auftrittsabende im Klub der Gewerkschaften bestätigt haben.1733 ***

Die bisherige Darstellung der Theater in Magadan hat gezeigt, dass das dortige Musikleben stark von Häftlingen und ehemaligen Häftlingen dominiert war. Wie 1726 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 49, l. 3, 5. 1727 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 49, l. 34 f. 1728 Lied der Antonida aus Ivan Susanin von Michail Glinka, Arie der Mariza aus der Operette Gräfin Mariza von Emmerich K‚lm‚n und Duette aus der Oper Zaporozˇec za Dunaem von SemÚn Gulak-Artemovskij. 1729 U. a. Lieder von Moisej Ferkel’man, Isaak Dunaevskij, Matvej Blanter und Mark Fradkin. ˇ ajkovskij und zwei Stücke – Mazurka und Kolchoznaja 1730 Sentimentaler Walzer von PÚtr C pol’ka (Kolchose-Polka) – des/der vortragenden Musikers/Musikerin Suchomisˇcˇenko, über den/die nichts weiter bekannt ist. ˇ to mne zˇit’ i tuzˇit’ (Warum soll ich betrübt leben?). 1731 Aleksandr Varlamovs C 1732 Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 74. 1733 Piskarev, Prokuratura Magadanskoj oblasti, 1997, S. 105.

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wichtig Häftlinge für das Theater waren, demonstriert die Tatsache, dass das Gor’kij-Theater nach dem Zerfall des Gulag-Systems finanziell bedroht war.1734 Nach diesem bislang chronologischen Abriss der Theatergeschichte soll nun seine Rolle im Leben der dort beschäftigten Häftlinge betrachtet werden. Theater als lebensrettender Ausnahmeort Aus Erinnerungen von Häftlingen, die vor ihrer Beschäftigung am Theater Arbeiten mit der Allgemeinheit der Häftlinge verrichten mussten, geht hervor, dass das Theater einen Ausnahmeort im Lager darstellte. Der wegen angeblicher Spionage im Jahr 1939 vom Sonderkollegium des NKVD zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilte Schauspieler Georgij ZˇzˇÚnov beispielsweise war seit November 1939 auf der Kolyma in Haft. Er arbeitete als Holzfäller, als Fahrer, in der Kassiterit- und schließlich in der Goldförderung im Straflagerpunkt Gluchar’ (Auerhahn). Die beiden letzten Stationen waren besonders beschwerlich und forderten viele Leben von Mithäftlingen. Auch ZˇzˇÚnov verkam bei der KassiteritFörderung zum dochodjaga.1735 Während seiner Arbeit in der Goldförderung kam die Jazz-Gruppe der Ten’lag-»Kulturbrigade« mit Konzerten dorthin, wohlgemerkt obwohl es sich bei jenem Lagerpunkt um ein Straflager mit verschärftem Regime handelte. Laut Aleksandr Kozlov versprach sich die Leitung des Lagerpunkts von solchen Konzerten die Stimulierung der Arbeitsfähigkeit und die Hebung der Stimmung der Häftlinge, die sich ohnehin während des Krieges um gute Arbeitsleistungen bemühten, um die kämpfenden Truppen zu unterstützen.1736 Nach einer Erkrankung an Gelbsucht und der anschließenden Genesung wurde Georgij ZˇzˇÚnov selbst Teil der Ten’lag-»Kulturbrigade«. Er wurde nach Ust’-Omcˇug (4) überstellt, wo diese stationiert war. Dort traf er beispielsweise auf den vierzigjährigen Tenor Tit Jakovlev, der vor seiner Haft Solist im Gesangs- und Tanzensemble des Zentralen Klubhauses der Roten Armee in Moskau tätig gewesen war.1737 Im Herbst 1944 schließlich (obwohl ZˇzˇÚnovs Haftzeit entsprechend seiner Verurteilung bereits vorbei war, wurde er wegen des immer noch andauernden Krieges bis März 1945 im Lager festgehalten) kam ZˇzˇÚnov in die »zentrale Kulturbrigade« des Sevvostlag und von dort ans Magadaner Theater. Schon die »Kulturbrigade« von Ust’-Omcˇug bezeichnete er im Vergleich zu seinem vorherigen Lagerleben als »einen Kurort«, obwohl er während des einen Jahres seiner Tätigkeit dort zweimal an der Schwelle des Todes stand – 1734 Savcˇenko, Boris: »Predislovie«, in: Kozin, Vadim: Prokljatoe iskusstvo, 2005, S. 19. 1735 Dochodjaga (Mehrzahl dochodjagi) – ein Häftling, der wegen Hunger verfällt und kurz vor dem Tod steht. Rossi, Spravocˇnik po GULAGu, 1991, Bd. 1, S. 105. 1736 Kozlov, Aleksandr : »Kolymskie dorogi aktÚra«, in: Kolyma, 1993, Nr. 9/10, S. 49 f. 1737 Kozlov, »Varpachovskij i pervaja opera v Magadane«, 26. März 2003, S. 4.

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einmal erkrankte er an der Ruhr und ein weiteres Mal an einer Entzündung der Lymphwege im Bein.1738 Die Benutzung des Wortes »Kurort« im Zusammenhang mit einem Lager macht die Ausnahmestellung der »Kulturbrigaden« deutlich. Umso mehr trifft dies auf das Theater zu, weil die Beschäftigung dort noch mehr Privilegien nach sich zog. Für Häftlinge, die zum Arbeiten an das Theater überstellt wurden, bedeutete dieser Umstand eine Rettung, oftmals aus Situationen, die ihr Leben ernsthaft gefährdeten. Z. B. war der in der ganzen Sowjetunion berühmte Schauspieler Jurij Rozensˇtrauch zu dem Zeitpunkt, als er in die »Kulturbrigade« des Maglag aufgenommen wurde, krank, seine Hände und sein Gesicht waren angeschwollen. In einer noch schlimmeren Verfassung, so ein ehemaliger Häftling und Mitarbeiter der Maglag-»Kulturbrigade«, war Leonid Varpachovskij, auch er war ebenfalls angeschwollen und nicht mehr fähig zu arbeiten.1739 Georgij ZˇzˇÚnov brachte nachträglich sein Überleben im Gulag unmittelbar damit in Verbindung, dass er in die »Kulturbrigade« aufgenommen worden war.1740 Wie die Arbeit am Theater auf die dort Beschäftigten wirken musste, nachdem sie die Arbeit mit der Allgemeinheit der Häftlinge kennengelernt hatten, wird in etwa nachvollziehbar, wenn man sich die Aussage des in den Jahren 1942 bis 1953 im Fernen Osten inhaftierten Vladimir Sosnovskij vor Augen führt, die er in seinen Erinnerungen festgehalten hat, und zwar soll er dies während seines Aufenthalts im Lagerkrankenhaus gedacht haben: Freiheit! Sie ist eine Luftspiegelung. Sie ist ein Märchen. Menschen, die in sauberen Betten schlafen, in warmen Zimmern; Menschen, die Familien haben. Solche, die Bücher lesen, ins Theater gehen… An dieser Stelle verstand ich, dass diese Worte – Bücher, Theater, Familie – für mich genauso klangen wie Saturn, Jupiter, Venus… Etwas Fernes, Spekulatives.1741

Eine Beschäftigung am Theater bedeutete vielfach – jedoch nicht nur – die physische Rettung, hatte darüber hinaus aber auch eine sinnstiftende Wirkung, beispielsweise die Möglichkeit für professionelle Künstler, in ihrem Beruf zu arbeiten. Einer Arbeit nachzugehen, die nicht die eigene Berufung darstellt, sei eine der beschwerlichsten Seiten des Lagerlebens gewesen, so der ehemalige

1738 Kozlov, »Kolymskie dorogi aktÚra«, 1993, S. 50. 1739 Kozlov, »Ternistyj put’ Georgija ZˇzˇÚnova«, 17. Januar 1996, S. 3. 1740 Beljaev, Aleksandr : »Georgij ZˇzˇÚnov : Ne mogu igrat’ zˇalkich ljudej!«, in: Rossijskaja gazeta, 24. März 2005, S. 4. 1741 B3?2?51 ! Nc_ ]YaQW. Nc_ b[QX[Q . ýoUY , [_c_alV b`pc ^Q hYbclf `_bcV\pf, S cV`\lf [_]^QcQf ; \oUY, Y]VojYV bV]mY. HYcQojYV [^YTY, RlSQojYV S cVQcaQf… 9 cdc p `_^p\, hc_ U\p ]V^p b\_SQ ncY – [^YTY, cVQca, bV]mp – XSdhQc cQ[ WV, [Q[ BQcda^, O`YcVa, 3V^VaQ… Hc_-c_ UQ\V[_V, X^Q[_]_V \Yim d]_XaYcV\m^_. Sosnovskij, »Indija«, 2000, S. 22.

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Häftling Lazar’ Sˇeresˇevskij. Ein Häftling, der im Lager seinen eigentlichen Beruf ausüben konnte, richtete sich innerlich auf.1742 Am Theater tätige Häftlinge haben es als ihre Aufgabe begriffen, anderen Häftlingen dabei zu helfen, ihre Menschlichkeit nicht zu verlieren, ihre Würde zu bewahren und nicht zu verdummen. Diese Aufgabe hat der am Theater des Belbaltlag arbeitende Vaclav Dvorzˇeckij als Glück, als »heilige Mission« empfunden.1743 Es bestand für künstlerisch tätige Häftlinge sogar die Möglichkeit einer künstlerischen Weiterentwicklung in Unfreiheit, wenn sie an einem Lagertheater ˇ ekarÚv schrieb in seinen Erinnerungen an das Magadaner arbeiteten. Nikolaj C Theater im Jahr 1943, es sei ein »schöpferisches Kollektiv« gewesen, »in dem erfahrene Schauspieler aus Moskau arbeiteten«, unter ihnen ehemalige Mitglieder des MChAT, des Ermolova-Theaters und des Moskauer Kammertheaters. Er schwärmte: »Es gab Künstler, von denen man lernen und Bühnenerfahrung übernehmen konnte!«1744 Ida Ziskina, die auf die Hauptrolle in Traviata vom erfahrenen Sänger Nikolaj Artamonov vorbereitet worden war, schrieb darüber im Bulletin des KVO Maglag, dass sie durch diesen Unterricht ihre Stimme zu beherrschen lernte, wie sie es davor nicht vermocht hatte.1745 Auch im Buch von Anna Kaneva über das Theater des Uchtpecˇlag leuchtet mehrmals der Gedanke auf, dass Künstler sich an Lagertheatern weiterentwickeln konnten. Die Sängerin Zinaida Korneva beispielsweise behauptete, die acht Jahre, die sie im Lager inhaftiert war, seien ihre besten Theaterjahre gewesen. Sie erklärte dies damit, dass im Lagertheater viele herausragende Künstler renommierter Theater zusammengekommen waren und ein gutes Repertoire gespielt hatten.1746 Ausblick: Das Magadaner Theater als eines von vielen im Gulag Das Lagertheater von Magadan war keine Ausnahme im System der sowjetischen Zwangsarbeitslager. Um dies zu verdeutlichen, werden im Folgenden einige ausgewählte Beispiele für andere Lagertheater angeführt. Das Lagertheater von Uchta Der ukrainische Regisseur Iosif Girnjak erzählte Folgendes über das Theater in ˇ ib’ju (1939 umbenannt in Uchta), dem Verwaltungszentrum des der Siedlung C 1742 1743 1744 1745 1746

Vorwort von Lazar’ Sˇeresˇevskij in: Dvorzˇeckij, Puti bol’sˇich e˙tapov, 1994. Dvorzˇeckij, Puti bol’sˇich e˙tapov, 1994, S. 98. ˇ ekarÚv, »Teatr v gody vojny«, 1989, S. 136. C Kozlov, »On pel v ›Traviate‹«, 13. November 1997, S. 3. Kaneva, Gulagovskij teatr Uchty, 2001, S. 164.

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Uchtpecˇlag [Uchtinsko-Pecˇorskij ITL – Uchta-Pecˇora-Besserungsarbeitslager], wie es sich ihm als Häftling im Jahr 1935 dargeboten hatte: Das Theater ging auf ˇ ib’ju Schauspieler, die Initiative des Lagerleiters Jakov Moroz zurück, der in C Musiker und andere Bühnenkünstler aus dem Lager zusammenzog. Girnjak verglich dieses Verhalten mit dem der Großgrundbesitzer gegenüber ihren ˇ ib’ju Dramen, Komödien, Opern, OpeLeibeigenen. Die Künstler führten in C retten und Vaudevilles auf und spielten Sinfonie- sowie Jazz-Konzerte. Das Theater war professionell ausgestattet und verfügte über eine Drehbühne.1747 Anna Kaneva widmete diesem Theater eine Monografie, in der sie viele Lebenswege von Künstlern schildert. Die Entstehung des Lagertheaters führt sie einerseits darauf zurück, dass Familien der Lagerleitung Veranstaltungen wünschten, und andererseits darauf, dass Häftlinge, die schon vor der Gründung des Theaters nach der erschöpfenden Arbeit vor Mithäftlingen auftraten, in der Theaterarbeit ein Mittel sahen, sich selbst und ihre Leidensgenossen zu unterstützen. Für die Häftlinge war das selbstbestimmt veranstaltete Theater als Erinnerung an das freie Leben und an menschliche Umgangsformen sowie als Antrieb zum Überlebenskampf sehr wichtig.1748 Die Initiative zur »Laienkunst« in dem 1931 gegründeten Uchtpecˇlag soll von ehemaligen Mitgliedern der Blauen Bluse (vgl. Kapitel A.2.1, Abschnitt über Aleksandr Kenel’) ausgegangen sein. Bestandteil der »Laienkunst« waren neben dem Schauspiel auch ein Chor, ein Blas- sowie ein Sinfonieorchester aus 27 Musikern.1749 Sie genossen Privilegien in Form von Geldprämien oder einer Aussicht auf eine Minderung der Haftzeit. Im Dezember 1933 wurde dann aus 20 Häftlingen eine »Kulturbrigade« des KVO ins Leben gerufen, die von nicht daran beteiligten Häftlingen negativ aufgenommen wurde, weil es sich bei ihren Auftritten um verordnete Kunst handelte. Die daran beteiligten Häftlinge konnten dadurch aber der Arbeit mit der Allgemeinheit entgehen.1750 ˇ ib’ju 1934 Zur Feier des fünften Jahrestags der Uchta-Expedition wurde in C ein Theater eröffnet, in dem ehemalige Künstler aus Moskauer und Leningrader Theatern beschäftigt wurden. Es gab genügend inhaftierte Künstler im Uchtpecˇlag, sodass der Lagerleiter jederzeit unliebsam gewordene Künstler aus dem Theater zurück zur Arbeit mit der Allgemeinheit abkommandieren konnte. Unter den Musikern dieses Theaters befand sich beispielsweise Pavel Bocjuk ˇ ib’ju eine Ge(*1893), ein ausgebildeter Komponist und Dirigent, welcher in C 1747 Kuziakina, Theatre in the Solovki Prison Camp, 1995, S. 128. 1748 Kaneva, Gulagovskij teatr Uchty, 2001, S. 14. 1749 Über das Uchtinsker Sinfonieorchester schrieb der ehemalige Intendant des Bol’sˇojTheaters, Boris Mordvinov, aus Syktyvkar an Grigorij Litinskij, dass dieses ganze Konzertabende auf sehr gutem Niveau gestaltete. Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 89. 1750 Kaneva, Gulagovskij teatr Uchty, 2001, S. 15 – 17.

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sangskapelle gründete und Lieder komponierte, darunter Uchtinskij val’s (Uchta-Walzer) und Uchtinskij marsˇ (Uchta-Marsch).1751 Dadurch dass er am Theater unterkommen konnte, hatte er nur wenige Monate lang schwere körperliche Arbeit verrichten müssen.1752 ˇ ib’ju auf Initiative des Geigers und ehemaligen 1936 wurde am Theater von C Dirigenten des Bol’sˇoj-Theaters Vladimir Kaplun-Vladimirskij (*1883/4?) ein Sinfonieorchester gegründet. Auch ein Jazz-Orchester war am Theater tätig. Eine Notenbibliothek fehlte, sodass die dort beschäftigten Häftlinge Noten aus dem Gedächtnis rekonstruieren mussten – ein Phänomen, welches auch für die Theater in Magadan und Vorkuta belegt ist. Wenn es sich um Opern handelte, haben Solisten ihre auswendig gelernten Stimmen vorgesungen, und der Rest wurde daraufhin von dazu fähigen Musikern vervollständigt. Als erste Oper unter diesen erschwerten Bedingungen kam Bizets Carmen 1937 zur Aufführung. Das Theater gab oftmals Konzerte, darunter auch Jazz-Konzerte mit Foxtrotts und Tangos.1753 Obwohl die Vorteile eines am Theater tätigen Häftlings gegenüber der Allgemeinheit der Häftlinge offensichtlich sind, litten die Künstler ebenfalls Hunˇ ib’ju bzw. Uchta in einer niedrigen Essenskategorie verpflegt ger,1754 weil sie in C wurden. Besucht werden durfte das Theater nur von den Einwohnern Uchtas und vom Personal der benachbarten Lager. Wenn in der Presse über das Theater berichtet wurde, so durften Namen von Häftlingen nicht genannt werden. Das Theater wurde als Aushängeschild des Lagers missbraucht und musste auf Tourneen in benachbarte Lager gehen.1755 Die Zulagen wegen extremer Witterungsbedingungen lockten, vergleichbar mit Magadan und Vorkuta, zivilangestellte Künstler nach Uchta,1756 wodurch es auch hier zur Verflechtung der zivilen Bevölkerung mit Lagerhäftlingen unter den Theatermitarbeitern kam. Im virtuellen Gulag-Museum kann ein Programm des Lagertheaters von Uchta vom 6. November 1945 eingesehen werden.1757 Darauf ist der Ablauf des Konzerts zur Feier des 28. Jahrestags der Oktoberrevolution festgehalten. Nach feierlichen Ansprachen folgte eine Vorführung der Kinder-»Laienkunst«, die sowohl Häftlinge als auch Zivilisten mit den Kindern einstudiert hatten. Für die 1751 Für diese Untersuchung konnten betreffende Stücke von Pavel Bocjuk nicht ausfindig gemacht werden. 1752 Kaneva, Gulagovskij teatr Uchty, 2001, S. 17 – 23. 1753 Kaneva, Gulagovskij teatr Uchty, 2001, S. 24 – 28, 32, 147. 1754 Dies berichtet auch Matvej Grin für das Theater des Ivdel’lag. Grin, »Zabveniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 14, S. 26. 1755 Kaneva, Gulagovskij teatr Uchty, 2001, S. 111 – 113. 1756 Kaneva, Gulagovskij teatr Uchty, 2001, S. 165. 1757 Http://gulagmuseum.org/getOriginalImage.do?object=621730 (letzter Zugriff am 5. April 2011).

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Choreografie der Tänze zeichnete beispielsweise die ehemalige Prima-Ballerina des Bol’sˇoj-Theaters Varvara Nemcˇinova-Sˇedel’ verantwortlich, die fünf Jahre lang im Uchtizˇemlag [Uchto-Izˇemskij ITL – Uchta-Izˇma-Besserungsarbeitslager], dem Nachfolger des Uchtpecˇlag, inhaftiert war. Als Regisseurin war an dieser Aufführung Lidija Zvjagina (1906 – 1966) beteiligt, die das Leningrader Konservatorium absolviert und beim Leningrader Radio gearbeitet hatte. Nach der Verhaftung ihres Mannes wurde sie 1937 in die Verbannung geschickt; dieses Urteil wurde jedoch 1939 aufgehoben. Daraufhin zog sie zu ihrem Mann nach Uchta.1758 Nach der Aufführung der Kinder-»Laienkunst« folgte ein zweiteiliges buntes Konzert, ähnlich den Konzerten am Magadaner Theater. Zu seinen Bestandteilen gehörten die Ouvertüre aus Beethovens Egmont, Instrumentalmusik, Lesungen, Lieder sowjetischer Komponisten, vorgetragen von einem Solisten, Duette aus Strauss’ Zigeunerbaron und Verdis Traviata, eine Szene aus Leh‚rs Der Graf von Luxemburg, ein Sketch, eine »Zigeunermelodie« und ein »Zigeunertanz« für Violine und Klavier, Lieder zur Begleitung des Jazz-Orchesters sowie eine akrobatische Etüde. Das Sinfonieorchester dirigierte Vladimir Kaplun-Vladimirskij, es sangen die ehemalige Vokalistin des Zentralen Rundfunks Sara Kravec, die ehemalige Solistin und Chorsängerin eines Leningrader Theaters Zoja Radeeva, die Absolventin der Gnesin-Musikfachschule in Moskau Zinaida Korneva und der Absolvent des Leningrader Konservatoriums Jal’mar (Viktor) Armfel’t, der vor seiner Haft am Michajlovskij-Theater und am Theater für Musikkomödie in Leningrad sowie dem Moskauer Operetten-Theater gesungen hatte.1759 Der Violoncellist und Absolvent des Moskauer Konservatoriums Boris Krejn,1760 welcher als Stimmführer am Bol’sˇoj-Theater tätig gewesen war, spielte ˇ ajkovskij. Als Geiger trat Genrich C ˇ aplinskij ein Instrumentalwerk von C (1890 – 1947) auf, der vor der Haft Professor am Konservatorium in L’vov ge1758 Http://gulagmuseum.org/showObject.do?object=621449 (letzter Zugriff am 5. April 2011). 1759 An Armfel’ts Schicksal lässt sich eindrücklich nachvollziehen, wie das Regime Künstler für Jahrzehnte aus dem Kulturleben ausschaltete. Er wurde 1933 in Moskau verhaftet und zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt. Zunächst war er im Belbaltlag inhaftiert und dort am Zentralen Theater tätig. 1937 wurde er ins Uchtpecˇlag transportiert und musste körperliche Arbeit verrichten, bevor er ans Theater geordert wurde. 1940 wurde er zu einem erneuten Untersuchungsverfahren nach Moskau transportiert und 1941 ins Uchtizˇemlag gebracht, wo er bis 1945 in Haft war. Http://gulagmuseum.org/showObject.do?object=621097 (letzter Zugriff am 6. April 2011). 1760 Auch das Leben Krejns war von jahrzehntelangen Repressalien bestimmt. 1937 wurde er zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt und ins Uchtpecˇlag transportiert. Er arbeitete zunächt in der Landwirtschaft, dann in der »Konzertbrigade« und am Theater. 1951 wurde er erneut verurteilt, diesmal zu einer zehnjährigen Verbannung, die er in Uchta verbüßen musste. 1957 wurde er vollständig rehabilitiert. Http://gulagmuseum.org/showObject. do?object=621180 (letzter Zugriff am 6. April 2011).

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wesen war und später im Lager starb.1761 Am Klavier begleitet wurde er von Oleg Rassadin. Bei allen genannten Künstlern handelte es sich um Häftlinge des GULAG. Auch Pavel Vejs (vgl. die Komponistentabelle in Kapitel D), ein Absolvent der Berliner Hochschule in der Klasse von Paul Hindemith, war im Uchtpecˇlag inhaftiert.1762 Das Lagertheater von Dolinka Ein weiteres Beispiel für ein Lagertheater stellt das Operettentheater des ebenfalls 1931 gegründeten Karlag [Karagandinskij ispravitel’no-trudovoj lager’ – Karaganda-Besserungsarbeitslager] in Kasachstan dar. Dort wurde im Ort Dolinka, in dem die Lagerleitung lebte, im Herbst 1944 ein Operettentheater gegründet, welches nicht sparen musste, da es zur Unterhaltung der Lagerobrigkeit bestimmt war. Dieses Theater umfasste eine Ballett-Truppe, einen Chor, ein Orchester und Bühnen- sowie Kostümbildner, was davon zeugt, dass im Karlag genügend Künstler inhaftiert waren, die aus den verschiedenen Lagerpunkten nach Dolinka gebracht wurden. Des Weiteren gab es am neuen Theater einen volkstümlichen russischen Chor und eine Jazz-Band. Die Häftlinge wurden – wie auch in Magadan und Vorkuta – von Wachsoldaten aus der Lagerzone zu Vorstellungen gebracht und danach wieder abgeführt. Die Vorstellungen begannen erst dann, wenn die Lagerobrigkeit im Theater erschien. Im Publikum saßen überwiegend Angehörige des Lagerpersonals und ihre Familien, aber auch Häftlinge waren zu einigen Konzerten zugelassen. Die am Theater beschäftigten Häftlinge, so der Geiger Artur Hörmann, bemühten sich um Perfektion, damit sie ihre Arbeit nicht verloren, wodurch sie ständig unter Druck standen. Eine Entschädigung dafür erfuhren sie in den unbeobachteten Proben, die Hörmann als ein »Fest der Seele« in Erinnerung behielt. Neben seiner Tätigkeit am Theater musste der Geiger aber auch in der Küche arbeiten, was jedoch ein Privileg war, da er dort nebenbei essen konnte.1763 In diesem Operettentheater dirigierte die ehemalige Dirigentin der Moskauer (nach anderen Häftlingserinnerungen der Leningrader)1764 Operette, Marianna Leer,1765 es sangen die professionell ausgebildeten Sängerinnen Vera

1761 1762 1763 1764 1765

Alle Informationen sind dem virtuellen Gulag-Museum entnommen. Kaneva, Gulagovskij teatr Uchty, 2001, S. 154. Hörmann, Aber die Heimat winkte in der Ferne, 1999, S. 202 f. Http://www.sobor.kz/apaterik/aljir/ (letzter Zugriff am 11. Juli 2009). E˙psˇtejn, Evgenij: »Char’kovcˇanka v ALZˇIRe«, in: Muzykal’naja zˇizn’, 1991, Nr. 6, S. 28. Auch der ehemals zweite Dirigent der Moskauer Operette mit dem Namen Chmelevicˇ befand sich in Haft, und zwar im Ivdel’lag, wo er ebenfalls am Theater tätig war. Grin, »Zabveniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 14, S. 25.

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Francˇuk, Ija Pavlova, Polina Nikitina und Ekaterina Olovejnikova (vgl. Kapitel C, Abschnitt »Lieder im Gefängnis«).1766 Das Repertoire umfasste Stücke von Johann Strauss, Franz Leh‚r, Jacques ˇ ajkovskij, Opernarien und russische Kunstlieder ; es Offenbach und PÚtr C wurden beispielsweise die Operetten Gräfin Mariza von Emmerich K‚lm‚n, Rose-Marie von Rudolf Friml und Cholopka von Nikolaj Strel’nikov aufgeführt.1767 Artur Hörmann berichtet, Marianna Leer habe in Bezug auf die Sänger und die Dekorationen der Gräfin Mariza gesagt, dass sie sogar in Moskau keine solch brillante Aufführung miterlebt habe. Das Ende des Krieges feierte das Theater am 9. Mai 1945 damit, dass das Orchester von früh bis spät auf den Treppen des Lagerverwaltungsgebäudes spielte.1768 Beispielhaft seien hier Programmpunkte eines Konzerts, das im März 1949 stattgefunden hat, aufgeführt: Szenen aus klassischen und modernen Theaterstücken, russische Volkslieder, cˇastusˇki, Auszüge aus patriotischen Poemen, darunter Aleksandr Tvardovskijs Vasilij TÚrkin und Michail Sˇolochovs Oni srazˇalis’ za Rodinu (Sie kämpften für die Heimat) sowie Lieder über Stalin im ersten Teil. Im zweiten erklangen populäre Lieder und Schlager, vorgetragen sowohl von Zivilisten als auch von Häftlingen. Zum Abschluss des Konzerts spielte ein Streichorchester.1769 Das Übergewicht an Operetten im Bereich des Musiktheaters war keine Eigenheit der Lagertheater. Diese Gattung scheint in der Sowjetunion der 1940erJahre allgemein sehr beliebt gewesen zu sein. Sie scheint die Funktion eines Ventils in schwierigen Lebenssituationen übernommen zu haben, denn sogar in Zeiten der Blockade im Zweiten Weltkrieg gingen, wie Naum Sˇafer bemerkt, die ausgehungerten Menschen in Leningrad noch in die Operette.1770 Das Lagertheater von Vorkuta Über das Theater von Vorkuta hat sein ehemaliger Mitarbeiter Grigorij Litinskij (1910?–1987) in den Jahren 1970 bis 1973 ein Manuskript verfasst, in dem die Geschichte dieses Theaters und die Schicksale seiner Mitarbeiter rekonstruiert werden.1771 Litinskij war ein Theaterkritiker, der 1940 verhaftet und nach § 58 – 10 zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt wurde, die er im Vorkutlag [Vorkutinskij 1766 Hörmann nennt namentlich eine Reihe weiterer Mitwirkenden am Theater. 1767 Http://www.sobor.kz/apaterik/aljir/ (letzter Zugriff am 11. Juli 2009); Memorial Moskau: F. 1, op. 2, d. 3203; E˙psˇtejn, »Char’kovcˇanka v ALZˇIRe«, 1991, S. 28; Hörmann, Aber die Heimat winkte in der Ferne, 1999, S. 209. 1768 Hörmann, Aber die Heimat winkte in der Ferne, 1999, S. 209. 1769 Hedeler/Stark, Das Grab in der Steppe, 2008, S. 89 f., 255. 1770 Sˇafer, Naum: »Smech i slÚzy perioda vojny i repressij«, in: Muzykal’naja zˇizn’, 1996, Nr. 1, S. 34. 1771 Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1.

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ispravitel’no-trudovoj lager’ – Vorkuta-Besserungsarbeitslager] verbüßt hat. Das Vorkutlag wurde 1938 gegründet und um das Jahr 1960 herum aufgelöst; die dort einsitzenden Häftlinge waren in der Kohleförderung tätig. Ab 1944 wurde Litinskij am Theater von Vorkuta beschäftigt, welches 1943 eröffnet worden war. Litinskijs Darstellung über dieses Theater ist sehr zuverlässig, denn sie basiert nicht nur auf eigenen Erinnerungen, sondern auch auf damaligen Briefen, Zeitungsrezensionen, Konzertprogrammen und auch Erinnerungen anderer Theatermitarbeiter. Im Archiv der Forschungsstelle Osteuropa in Bremen werden 38 Programme des Theaters von Vorkuta aus der Zeit von 1945 bis 1955 aufbewahrt,1772 die Litinskijs Ausführungen bestätigen. Aleksandr Klejn, ebenfalls ein ehemaliger Häftling des Vorkutlag, und A. Popov haben Litinskijs Quellenbasis um offizielle Dokumente und weitere Zeitzeugenberichte erweitert und einen Überblick über die Geschichte des Vorkutinsker Theaters verfasst, dem für die folgende, auf die Musik an diesem Theater konzentrierte Darstellung zusätzliche Informationen entnommen werden konnten.1773 Der prominenteste Künstler dieses Theaters war der ehemalige Intendant des Bol’sˇoj-Theaters Boris Mordvinov (1899 – 1954), welcher nach § 58 – 10 zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt worden war und in Vorkuta ebenfalls die Aufgaben des Intendanten und künstlerischen Leiters übernahm. Er wurde zunächst bei Arbeiten mit der Allgemeinheit der Häftlinge eingesetzt, wo er bereits zu den ˇ zu dochodjagi gehörte, rettete sein Leben aber damit, dass er begann in der KVC arbeiten. Doch auch noch am Theater war er vor Angriffen des Wachpersonals nicht sicher. Er ist 1946 zwar freigelassen worden, durfte aber nicht nach Moskau zurückkehren. Sein Leben war durch die Lagerhaft zerstört worden.1774 Die Künstler waren in Vorkuta in einer gesonderten Baracke untergebracht, welche sauberer und ruhiger war als die Baracken anderer Häftlinge und weniger oft durchsucht wurde.1775 Wie in Magadan, wurden sie unter Bewachung aus der Lagerzone ins Theater gebracht und nach den Proben und Aufführungen wieder abgeführt, dabei mussten sie in jede Richtung sieben Kilometer zu Fuß zurücklegen.1776 Die Zeit am Theater hat die inhaftierten Künstler alles auf der Welt vergessen lassen, so Litinskij. Und auch die Wachen und die Stadtbevölkerung 1772 Forschungsstelle Osteuropa Bremen: F. 6/8.5 (Theater- und Konzertprogramme des Vorkutinsker Theaters). 1773 Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999, S. 219 – 260. 1774 Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 4, 7, 12, 54; Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999. 1775 Auch für das Theater des Ivdel’lag berichtet Matvej Grin, dass die Künstler in einer zweistöckigen Baracke untergebracht waren, und zwar Frauen zusammen mit Männern. Grin, »Zabveniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 14, S. 25. 1776 Vilenskij, Dodnes’ tjagoteet, 1989, S. 459.

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waren vom Theater begeistert, was seine besondere Rolle in einer Lagerstadt unterstreicht, welche Vorkuta genauso wie Magadan dargestellt hat.1777 Das Publikum des Theaters setzte sich zum großen Teil aus Zivilisten zusammen, wobei sich darunter viele ehemalige Häftlinge befanden, denen es nicht erlaubt war, Vorkuta zu verlassen.1778 Über die Konzerte am Theater, für die Mordvinov als Intendant zuständig war, sagt Litinskij, dass diese aufwendig gestaltet waren, und bringt als Beispiel ein zweiteiliges Silvesterkonzert vom 31. Dezember 1944. Der erste Teil beinhaltete die Ouvertüre zu Bizets Carmen, Gedichte, ein Zwischenspiel aus ˇ ajkovskijs Pique Dame mit Ballett, ein Kapitel aus Pusˇkins Evgenij Onegin mit C ˇ echov. Im zweiten Klavierbegleitung, Klavierlieder sowie einen Sketch nach C Teil spielte das Sinfonieorchester einen Zigeunertanz von Vladimir Mikosˇo,1779 der auch das Orchester dirigierte. Es folgten ein Vaudeville, Kriegslieder, Operettenarien sowie ein komischer Tanz. Der Aufbau des Konzerts korrespondiert stark mit den Magadaner Konzertprogrammen. Ebenfalls vergleichbar mit Magadan ist, dass die Künstler des Theaters regelmäßig Konzerte im gesamten Verwaltungsgebiet des Lagers zu geben hatten.1780 Am meisten beim Publikum gefragt war die Operette, Konzerte waren weniger erfolgreich. Und doch veranstaltete das Theater diese regelmäßig, um seine Bildungsmission, so Litinskij, zu erfüllen. Z. B. fand in der Reihe Klassiker der 1777 Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 6, 12, 37, 42 f. 1778 Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999. 1779 Vladimir Mikosˇo war ein am Kiewer und Moskauer Konservatorium ausgebildeter Komponist, Dirigent, Pianist und Musikwissenschaftler. Vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unterrichtete er als Dozent am Moskauer Konservatorium. Klejn und Popov behaupten, dass er das Persimfans und das kleine Orchester von Mosgoskino (Moskauer Staatskomitee für Kinematografie) dirigiert hat. Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999. Diese Angabe wäre zu überprüfen; im Falle von Persimfans erscheint die Aussage als fraglich, weil dieses Orchester gerade ohne einen Dirigenten gearbeitet hat. Im Krieg geriet die Einheit, in der Mikosˇo kämpfte, in einen Kessel, aus dem er jedoch zu fliehen vermochte. Dafür wurde er, wie viele andere Soldaten, 1943 als »Vaterlandsverräter« gemäß § 58 – 1b zu zehn Jahren Lagerhaft und fünf Jahren Beeinträchtigung der bürgerlichen Rechte verurteilt. Ab Herbst 1943 war Mikosˇo im Vorkutlag inhaftiert und hatte das Glück, am kurz zuvor eröffneten Theater in Vorkuta tätig zu werden. Dort dirigierte er und komponierte Schauspielmusik, Musik für ein Unterhaltungsorchester sowie Lieder, darunter solche über die Kumpel von Vorkuta. Auch bearbeitete er Lieder des indigenen Volkes der Komi. Als Musikwissenschaftler trat Mikosˇo durch Vorlesungen zur Geschichte der Musik mit musikalischer Untermalung in Erscheinung. Im Jahr 1951 wurde der Komponist vorzeitig aus der Haft entlassen, durfte aus Vorkuta aber nicht wegziehen. Auf mehrere Gesuche des Theaters hin erhielt er die Möglichkeit, nach Syktyvkar, in die Hauptstadt der Republik Komi, überzusiedeln und unterrichtete dann an der örtlichen Musikfachschule. 1958 wurde er rehabilitiert und durfte nach Moskau zurückkehren, wo er seit 17 Jahren nicht mehr gewesen war. Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999; Markova/Volkov, Gulagovskie tajny osvoenija Severa, 2001/2002, S. 115 f. 1780 Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 49 – 51.

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russischen Musik am 10. Januar 1949 ein Konzert mit der Musik Michail Glinkas statt.1781 Auf einen Vortrag über Glinka folgten Opernszenen und -arien; die Pianistin T. Jungfer trug Glinkas Marsch des Cˇernomor in der virtuosen Bearbeitung Liszts vor. Neue Konzertprogramme wurden anlässlich großer Feiertage einstudiert: des Jahrestags der Oktoberrevolution, des 1. Mai, des Neujahrs, des Tags der Sowjetarmee und des Tags des Bergarbeiters. Am 20. Dezember 1947 wurde zum 30. Jahrestag des MVD ein Konzert nach Wünschen der im Lager tätigen Offiziere mit Häftlingsbeteiligung gegeben. Es wurde aber auch ein Konzert zu Chopins 100. Todestag veranstaltet. Insgesamt hat das Theater in zwölf Spielzeiten ca. 50 Konzertprogramme realisiert.1782 Als erste Oper führte es im Jahr 1945 Charles Gounods Faust auf, nachdem in den Jahren zuvor schon einige Operetten gespielt worden waren. Eine Partitur gab es nicht, und der Komponist Vladimir Mikosˇo musste den Klavierauszug instrumentieren. Wie schon im Falle der Traviata in Magadan gab es auch hier eine Aufführung nur für die Lagerleitung, um sie dazu zu bewegen, den allzu kleinen Chor aufzustocken. Dies gelang, indem der Chor des KVO dazu abkommandiert wurde, in der Oper mitzuwirken. Der Missbrauch von KVOMitteln und der unrechtmäßige Einsatz der in der »Laienkunst« beschäftigten Häftlinge in Vorkuta wird durch die offizielle Korrespondenz bestätigt (vgl. Kapitel B.1, Abschnitt »Vorschriften des KVO GULAG […] während des Krieges«). Für den Lagerleiter hatte die Unterhaltung jedoch offensichtlich Priorität vor der Propaganda. Schon im August 1943 hieß es im Erlass über die Gründung des Theaters, dass es zur besseren Unterhaltung der zivilen Bevölkerung geschaffen werde. Als erste Künstler wurden neun Zivilisten, drei ehemalige Häftlinge und zehn Häftlinge angestellt, darunter Mordvinov als künstlerischer Leiter. Der KVO wurde dazu verpflichtet, sein ganzes Theaterinventar unentgeltlich an das Theater abzutreten.1783 Dass Lagertheater Prestigeobjekte von Lagerleitern darstellten, unterstreicht die Tatsache, dass in Vorkuta binnen eines Monats ein neues Theatergebäude aus dem Boden gestampft wurde, um den Leiter eines benachbarten Lagers zu beeindrucken.1784 Als zweite Oper wurde in Vorkuta, nach Litinskij, Leoncavallos Pagliacci im 1781 Diese Reihe wurde auf Initiative des Sängers Boris Dejneka und des Komponisten Vladimir Mikosˇo ins Leben gerufen. In den Jahren 1946 bis 1948 fanden 13 solcher Konzerte statt. Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 401. 1782 Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 197 – 199, 207, 345, 399, 443. 1783 Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999. 1784 Tat’jana Lesˇcˇenko erinnerte sich, dass es ein kleines Theater war, welches über 432 Sitzplätze verfügte. Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 582. Nach Klejn und Popov handelte es sich um 412 Plätze.

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März 1947 aufgeführt, als dritte im Sommer 1947 Mozart und Salieri von Rimskij-Korsakov. 1948 wurde auch hier Verdis Traviata inszeniert, später folgten Verdis Rigoletto, Mozarts Le nozze di Figaro und Puccinis Madama Butterfly. In der Saison 1947/48 arbeiteten am Theater 40 Schauspieler, 25 Musiker, 28 Chorsänger und zwölf Balletttänzer.1785 Aus einer Bescheinigung von 1947 über die Arbeit des Theaters, welche Litinskij ausgestellt hat, geht hervor, dass mindestens zehn Schauspieler und Sänger des Vorkutinsker Theaters vor ihrer Beschäftigung dort an Moskauer und Leningrader Theatern angestellt gewesen waren.1786 Die als Inhaftierte am Theater von Vorkuta tätige Sängerin Tat’jana Lesˇcˇenko erinnerte sich auch an ein kleines Jazz-Orchester, welches nach Vorführungen zum Tanz aufgespielt hat. Solche Tanzabende erfreuten sich trotz hoher Eintrittspreise großer Beliebtheit und wurden oft veranstaltet.1787 Außer Vladimir Mikosˇo nennt Litinskij namentlich folgende Musiker des Theaters: den Sänger Boris Dejneka (vgl. Kapitel D, Abschnitt »Repressionen gegen Sänger anderer Musiktheater«), den Tenor, Dirigenten und Komponisten Juozas Indra aus Litauen (vgl. die Komponistentabelle in Kapitel D),1788 den Dirigenten Vygorskij (Klejn und Popov schreiben vom Dirigenten Vigodskij aus Kiew), den Pianisten und Komponisten Aleksandr Stojano sowie den Komponisten und Geiger Michail Nosyrev. Stojano soll zusammen mit der Sängerin Natal’ja Glebova, die nicht inhaftiert und mit einem Offizier aus der Lagerleitung verheiratet war, die erste in Vorkuta aufgeführte Operette Die Cs‚rd‚sfürstin von K‚lm‚n rekonstruiert haben, welche dann ca. 150 Aufführungen erlebt hat.1789 Er erhängte sich im Winter 1948/49 im Zimmer des Konzertmeisters. Dies war nicht der einzige Selbstmord am Theater: Der Schauspieler Konstantin Ivanov erhängte sich 1949 oder 1950, weil er aus dem Theater zur Arbeit mit der Allgemeinheit versetzt werden sollte. Der Geiger Nikolaj Soroka setzte seinem Leben im Januar 1951 auf dieselbe Art ein Ende.1790 Ein weiterer Mitarbeiter war der Moskauer Konzertmeister und Komponist 1785 Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 59 f., 118, 166, 174, 180, 217, 354. 1786 Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 48. 1787 Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 261. 1788 Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 284. Klejn und Popov ergänzen, dass Juozas Stasevicˇ Indra (1918 – 1968) eigentlich Paleckis mit Nachnamen hieß und Absolvent des Konservatoriums in Kaunas war. Er sang in Vorkuta Hauptrollen in einer Reihe von Opern wie Traviata, Faust und Rigoletto. Nach seiner Freilassung leitete er eine Klasse am Konservatorium in Vilnius. Seit 1954 war er als Dirigent am Schauspielhaus in Kaunas tätig. 1957 komponierte er das Ballett Audrone und bekam 1960 den Titel »Verdienter Künstler der Litauischen SSR« zuerkannt. Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999. 1789 Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 278, 454, 482, 565. 1790 Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999.

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Lev Rejnsˇtejn, der sehr jung inhaftiert worden war, angeblich weil er einen Flügel der Firma Becker einem der Firma Krasnyj Oktjabr’ (Roter Oktober) vorgezogen hatte. Dafür wurde er nach § 58 – 10, Teil 2 mit zehn Jahren Lagerhaft bestraft.1791 Aus der Absolventenliste der Fachschule des Moskauer Konservatoriums geht hervor, dass er 1921 geboren wurde und dort in den Jahren 1955 bis 1958 Musiktheorie studiert hatte.1792 Als inhaftierter Sänger arbeitete in Vorkuta der Bariton Teodor Rutkovskij. Er hatte zuvor am Mariinskij-Theater gesungen und starb kurz nach seiner Freilassung aus dem Lager. Klejn und Popov benennen viele weitere Musiker namentlich, die hier aus Platzgründen nicht aufgenommen werden konnten.1793 Litinskij zitiert in seiner Abhandlung einen an ihn adressierten Brief von Tat’jana Lesˇcˇenko aus dem Jahr 1971.1794 Seine Verfasserin wurde 1947 verhaftet und nach § 58 – 10 zu acht Jahren Lager verurteilt. Sie nannte die Arbeit am Theater ein großes Glück, weil man dort im Warmen und unter »menschlichen Bedingungen« tätig gewesen war. Um am Theater zu bleiben, hat sie alle möglichen Aufgaben übernommen: Sie begleitete Sänger, transponierte und kopierte Noten, verfasste Lieder und Gedichte. Die Arbeit hat ihr geholfen, nicht nachzudenken und sich nicht zu erinnern. Und Musik hat getröstet, ohne jedoch die Wunde heilen zu können. Alle dort Tätigen haben das Theater geliebt und waren ihm dankbar, so Lesˇcˇenko.1795 Weil die inhaftierten Künstler in der Zone übernachten mussten, waren sie der Willkür des Wachpersonals und der Berufsverbrecher genauso ausgesetzt wie die anderen Häftlinge. Und gerade deswegen haben sie die Arbeit am Theater, welches ein Refugium darstellte, geschätzt.1796 Obwohl die Theatertruppe, so Litinskij, gemischt war und zu ungefähr gleichen Teilen sowohl aus Häftlingen als auch aus Zivilisten bestand,1797 haben alle 1791 Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 321; Klejn/ Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999. 1792 Http://www.amkmgk.ru/main/index_alumni/all_10650.html (letzter Zugriff am 14. Juni 2011). 1793 Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999. 1794 Tat’jana Lesˇcˇenko-Suchomlina (1903 – 1998) stammte aus einer sehr musikaffinen Familie. Ihre Ausbildung hatte sie an der Columbia University als Journalistin erhalten, war in New York aber auch als Schauspielerin tätig gewesen. Nach elf Jahren Ausland kehrte sie 1935 mit ihrem Mann und der gemeinsamen Tochter nach Moskau zurück und war als Übersetzerin tätig. Ab 1943 begann sie mit Solokonzerten aufzutreten und sang Lieder zur Gitarre. Auch nach der Lagerhaft war sie im Untergrund als Sängerin tätig, nach Beginn ˇ esnokov, Sergej: »Ob avtore«, in: Vilenskij, der Perestroika trat sie wieder öffentlich auf. C Dodnes’ tjagoteet, 1989, S. 449 f. 1795 Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 576, 581 f. 1796 Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999. 1797 Die Zusammensetzung zu gleichen Teilen bezeugt Litinskij für das Jahr 1947. Klejn und Popov sprechen davon, dass mindestens 80 Prozent der an der ersten Inszenierung – K‚lm‚ns Cs‚rd‚sfürstin – Beteiligten Häftlinge waren. Unter den übrigen 20 Prozent

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freundschaftlich zusammengearbeitet. Man hatte sich an diese »seltsame Mischung« gewöhnt. Die Zivilisten haben den Häftlingen oftmals Essen mitgebracht,1798 denn die inhaftierten Künstler wurden unzureichend verpflegt und erkrankten, wie andere Häftlinge auch, an Skorbut.1799 Die Kunst hat alle zusammengeschweißt. Der freundschaftliche Umgang ist zunächst nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass eine Reihe von Künstlerinnen am Theater ihren inhaftierten oder verbannten Verwandten nach Vorkuta nachgereist war. Aber auch Frauen des leitenden Personals des Lagers oder des kohlefördernden Betriebs waren am Theater tätig. Und auch von ihnen wird berichtet, dass sie sich Häftlingen gegenüber freundlich verhielten.1800 Nur am Theater erfuhr Litinskij eine Rettung vor den zersetzenden Auswirkungen des Lagers und Lebensfreude. Das Theater rettete vor Langeweile und gab die Möglichkeit, seiner Lieblingstätigkeit nachzugehen.1801 Die Truppe des Theaters arbeitete schnell und viel. Dass eine neue Inszenierung binnen eines Monats erarbeitet werden konnte, war keine Ausnahme. In den ersten vier Jahren seines Bestehens wurden zwei Opern, drei komische Opern, über zehn Operetten, 20 Schauspiele und eine Vielzahl von Konzertprogrammen inszeniert. Die meisten Inszenierungen sind 50-mal und öfter gespielt worden, was für ein Provinztheater eine Besonderheit darstellte. Es gab 60 bis 65 Aufführungen im Monat, wobei die unentgeltlichen nicht mitgezählt wurden, 650.000 Zuschauer haben das Theater in den ersten vier Jahren besucht. Es war in Vorkuta zur Gewohnheit geworden, jeden Abend ins Theater zu gehen.1802 Allein im ersten Halbjahr 1948 fanden mehr als 300 Aufführungen des Theaters statt, davon 21 Opern- und 62 Operettenaufführungen sowie 124 Konzerte mit Vorträgen. Es gab auch Sinfoniekonzerte außerhalb der erwähnten Vortragsreihe, in denen Werke von Mozart, Beethoven, Schubert, Verdi, Darˇ ajkovskij vorgetragen wurden.1803 gomyzˇskij und C Namen von inhaftierten Künstlern wurden in den Rezensionen in Vorkuta genauso verschwiegen wie in Magadan und Uchta, jedoch erst seit August 1947.1804 Worauf diese Entscheidung der Zeitungsherausgeber beruhte, ließ sich bislang

1798 1799 1800 1801 1802 1803 1804

befanden sich Zwangsumsiedler und Verbannte. Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999. Dies bestätigt auch Tat’jana Lesˇcˇenko in einem Brief an Litinskij. Archiv des BachrusˇinTheatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 586. Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999. Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999. Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 63 – 66, 112, 133 f., 183, 211, 252. Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 98, 115 f., 183. Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999. Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 127, 158 f.

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nicht feststellen. Auch das Theater von Vorkuta ging auf Sommertourneen und hat z. B. 1947 104 Vorstellungen in 50 Tagen gegeben.1805 Es bereiste nicht nur das Vorkutlag, sondern auch benachbarte Lagerkomplexe und fuhr sogar nach Syktyvkar, in die Hauptstadt der Republik Komi, um dort aufzutreten. Eine Beteiligung von Häftlingen an solchen Reisen war sicherlich nicht im Sinne des Lagerregimes, wurde aber von der Lagerleitung genehmigt. Sowohl die Häftlinge als auch die Wachen waren bei solchen Gelegenheiten in Zivil gekleidet.1806 1947 wurde der Lagerleiter, welcher das Theater gegründet hatte, abgelöst. 1950 kommandierte man viele gemäß § 58 verurteilte Häftlinge vom Theater zu allgemeinen Arbeiten ab. Dadurch wurde die Musikabteilung des Theaters so sehr geschwächt, dass dieses nach 1952 nur noch als Schauspielhaus tätig war.1807 Klejn und Popov fassen zusammen, dass das Theater von Vorkuta hinter dem Polarkreis nur existieren konnte, weil das GULAG eine Vielzahl von Künstlern dorthin transportierte. Dieses Theater hat dazu beigetragen, die kulturelle Bildung der dort lebenden Bevölkerung zu verbessern sowie dazu, dass die nationale Kunst der Komi sich weiterentwickeln konnte.1808 Während der ersten Schlussfolgerung vorbehaltlos zugestimmt werden kann, würde die Überprüfung der zweiten erfordern, einen Überblick über die Entwicklung der Kunst des indigenen Volkes der Komi zu gewinnen, was den Rahmen dieser Arbeit gesprengt hätte. ***

Ein Häftlingstheater existierte auch in Noril’sk, einer Stadt im Norden des Gebiets Krasnojarsk, wovon beispielsweise Evfrosinija Kersnovskaja berichtet. Sie hat in einer Baracke mit Künstlerinnen des Theaters gewohnt, welche täglich unter Bewachung zu Proben in die Männerzone abgeführt wurden und spät in der Nacht durchgefroren, müde und hungrig zurückkehrten. Trotzdem haben sie ihre Arbeit am Theater unter den Bedingungen des Lagers sehr hoch geschätzt.1809 Vergleichbare Lagertheater gab es auch im Ivdel’lag [Ivdel’skij ispravitel’notrudovoj lager’ – Ivdel’-Besserungsarbeitslager] im Uralgebirge (Gebiet Sverdlovsk), wo ca. 70 bis 80 Häftlinge am Theater beschäftigt waren und eine Opernsowie Operetten-Truppe, eine Schauspiel-Truppe, ein Orchester sowie ein

1805 1806 1807 1808 1809

Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 144. Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999. Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999. Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999. Kersnovskaja, Skol’ko stoit cˇelovek, 2004, S. 369 – 371.

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Estrade-Ensemble bildeten,1810 und auch in Pot’ma,1811 in Pecˇora, in Inta und Abez’.1812 Das Repertoire der Lagertheater hing zum Teil vom Bildungsgrad und von der Willkür der Lageradministration ab. Matvej Grin berichtet, dass am Theater des Ivdel’lag eine Sängerin beinahe vom Theater ausgeschlossen wurde, weil sie ein Lied singen wollte, welches von der Lageradministration als zu pessimistisch beurteilt wurde. Der Sängerin wurde eine Fälschung unterstellt, da sie behauptete, es sei von Tichon Chrennikov komponiert worden. Es rettete sie jedoch die Tatsache, dass die Frau des Lagerleiters bestätigen konnte, dieses Lied im MVDKlub in Sverdlovsk gehört zu haben.1813 Matvej Grin, der am Lagertheater von Ivdel’ tätig war, erinnerte sich 1989, dass Theatermitarbeiter oftmals darüber nachdenken mussten, ob sie das Recht hätten, Vorteile gegenüber anderen Häftlingen zu genießen. Im Zusammenhang damit stellte er fest, dass Theatermitarbeiter zwar weniger physisch leiden mussten, jedoch ihre psychischen Qualen größer waren. Denn täglich mussten sie sich in die Welt der Bühne hineinversetzen, welche so viel anders war als die Welt des Lagers. Der tägliche Wechsel zwischen der imaginierten und der realen Welt sei schrecklich gewesen und habe die Künstler um den Verstand gebracht.1814 Und trotz der Arbeit am Theater lebten die Häftlinge in ständiger Angst vor einem Unheil, vor Unannehmlichkeiten und Kummer.1815 Aus vielen Erinnerungen geht hervor, dass sie sich als Leibeigene fühlten, weil die Lagerverwaltung uneingeschränkte Macht über ihr Schicksal besaß. Verflechtung der Häftlings- mit der zivilen Gesellschaft Aus der Sicht der zivilen Bevölkerung Begegnungen der zivilen Bevölkerung mit Häftlingen stellten in der Sowjetunion der 1920er- bis 1950er-Jahre keine Seltenheit dar. Aleksandr Solzˇenicyn schreibt in Archipel GULAG:

1810 Grin, »Zabveniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 13, S. 31. Die Operntruppe führte beispielsweise ˇ ajkovskijs Evgenij Onegin und Mazepa konzertant auf. Aufgetreten sind neben Dmitrij C ˇ ernova aus dem Theater von Odessa und der Tenor Golovin (vgl. Kapitel D) die Sängerin C Strel’cov. Auch Alla Aleksandrova vom Theater in Brjansk war hier beschäftigt. Grin, »Zabveniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 14, S. 26 f. 1811 Bernsˇtejn, A. [1990], S. 27. Auch dieses Theater trat sowohl vor der zivilen Bevölkerung als auch vor Häftlingen auf. Sandler, Asir/E˙tlis, Miron [1991], S. 249. 1812 Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999. 1813 Grin, »Zabveniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 14, S. 27. 1814 Grin, »Zabveniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 14, S. 26. 1815 Grin, »Zabveniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 15, S. 26.

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[…] in den 1920er-Jahren wurden Kolonnen von Häftlingen durch die Städte getrieben, sogar durch Leningrad, an Kreuzungen wurde dann der Verkehr angehalten. (»Genug geklaut?«, tadelte man sie von den Bürgersteigen. […]).1816 In den 1920er-Jahren war der Häftlingstransport auf dem Fußweg der am meisten verbreitete. Ich war noch ein Junge, erinnere mich aber gut daran, wie sie auf den Straßen von Rostov-na-Donu getrieben wurden, ohne Scheu. […] Und sogar noch 1936 im Februar wurde eine Kolonne alter Männer aus einem Gebiet östlich der Wolga zu Fuß durch Nizˇnij Novgorod getrieben. Sie hatten lange Bärte und trugen handgewebte Mäntel, Bastschuhe und Fußlappen […].1817

Ivan Solonevicˇ berichtet, dass zu Beginn der 1930er-Jahre eine Frauenmenge die Lkw begleitete, welche die Häftlinge in Leningrad vom Gefängnis zum Bahnhof brachten.1818 Und Jurij Elagin erzählt von Güterzügen mit vergitterten Fenstern und vernagelten Türen, in denen sogenannte Kulaken in die Verbannung oder ins Lager transportiert wurden, welche er auf einer Tournee des VachtangovTheaters ins Uralgebirge im Jahr 1933 gesehen hat.1819 Vielfach wurde bei den Begegnungen der Häftlinge mit der zivilen Bevölkerung während des Transports ins Lager die aus dem zarischen Russland stammende Tradition gepflegt, gemäß der Zivilisten mildtätige Gaben an die Häftlinge verteilten, beispielsweise etwas zu essen oder Zigaretten. SemÚn Vilenskij berichtet von Matrosen, die einem Häftlingstransport hinterher liefen und Zigaretten in die Zugfenster hineinwarfen, obwohl die Wachen des Transports sie damit bedrohten, auf sie schießen zu wollen.1820 Auch Zinaida LichacˇÚva, die Ende 1936 von Moskau in die Bucht Vanino transportiert wurde, bezeugt, dass fremde Menschen oftmals Brot, Zucker und Zigaretten zu den haltenden Häftlingszügen brachten. Die Wache habe diese Gaben an die Häftlinge weitergegeben,1821 was angesichts des überwiegenden Teils der berücksichtigten Häftlingserinnerungen als Ausnahme zu werten ist. Gleichzeitig berichten ehemalige Häftlinge wie Aleksandr Vardi über die zivile Bevölkerung, dass sie 1952 an einem Moskauer Bahnhof an Zugwaggons mit Häftlingen vorbeiging, ohne diesen Aufmerksamkeit zu schenken. Vardi resü1816 […] S 20-V T_Ul VjV T_^p\Y QaVbcQ^c_S `ViY]Y [_\_^^Q]Y `_ T_a_UQ], UQWV `_ ýV^Y^TaQUd, ^Q `VaV[aVbc[Qf _^Y _bcQ^QS\YSQ\Y USYWV^YV. (»5_S_a_SQ\Ybm ?« – [_aY\Y Yf b ca_cdQa_S. […]). Solzˇenicyn, Archipelag GULag, 1973, Teil I – II, S. 523. 1817 1 S 20-V T_Ul `ViYZ ncQ` Rl\ _UY^ YX _b^_S^lf. P Rl\ ]Q\mhYi[_Z, ^_ `_]^o Yf f_a_i_, `_ d\YgQ] A_bc_SQ-^Q-5_^d Yf T^Q\Y, ^V bcVb^ppbm. […] 5Q UQWV Y S 1936 T. S eVSaQ\V `_

þYW^V]d þ_ST_a_Ud T^Q\Y `Vi[_] ncQ` XQS_\Wb[Yf bcQaY[_S b U\Y^^l]Y R_a_UQ]Y S bQ]_c[Q^^lf XY`d^Qf, S \Q`cpf Y _^dhQf […]… Solzˇenicyn, Archipelag GULag, 1973, Teil

1818 1819 1820 1821

I – II, S. 578. Solonevicˇ, Rossija v konclagere, 2005, S. 55. Elagin, Ukrosˇcˇenie iskusstv, 2002, S. 42. Vilenskij, Voprosy est’?, 2006, S. 78. LichacˇÚva, »Detal’ monumenta«, 1988, S. 28.

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miert, dass die Menschen sich an die Transporte gewöhnt hatten und sich deswegen nicht dafür interessierten. Auch über die zivile Bevölkerung, die in der Nähe der abgelegenen Lager wohnte, äußert sich einer von Vardis Protagonisten negativ. Sie sei an der Existenz der Lager interessiert gewesen, weil sie eine Lebensgrundlage für sie bildeten: Diese Menschen arbeiteten als Beamte oder als Wachen im Lager und unterstützten die Regierung, weil sie ihren Arbeitsplatz behalten wollten. Den Häftlingen gegenüber waren sie aber, so Vardi, feindlich eingestellt.1822 Eine Ignoranz gegenüber Häftlingen bezeugt Natal’ja Tamarova, die freiwillig nach Kasachstan zog und seit Anfang der 1940er-Jahre als Zivilangestellte im Karlag arbeitete. In einem Interview im Juni 2003 sagte sie, dass sie sich »überhaupt keine Gedanken« über die Häftlinge gemacht hatte.1823 Auf diese Weise war die Haltung der zivilen Bevölkerung gegenüber Häftlingen von Gegensätzen bestimmt, was möglicherweise zum Teil davon abhing, ob in der eigenen Familie Opfer zu verzeichnen waren. Während es aber in den genannten Situationen immer die Möglichkeit gab, Häftlinge zu ignorieren, war dies bei einem Theaterbesuch, bei dem Häftlinge auf der Bühne zu sehen waren, nicht möglich. Die graue Masse der Häftlinge bekam durch Auftritte von inhaftierten Künstlern vor der zivilen Bevölkerung am Theater ein menschliches Gesicht. Die enge Verflechtung der Häftlings- mit der zivilen Gesellschaft dokumentieren auch Unterlagen des NKVD und des Innenministeriums der Sowjetunion. Aus einem geheimen Erlass des NKVD vom 24. Februar 1941 über die Inspizierung des Besserungsarbeitslagers in Vladivostok im Jahr 1940 durch eine »Spezialbrigade« des NKVD erfährt der Leser, dass 43 Prozent aller Häftlinge dieses Lagers sich ohne Bewachung außerhalb der Lagerzone bewegen durften, und zwar ohne ausreichende Begründung, wie die Kommission befand. Ein weiterer Missstand, der als typisch für dieses Lager festgestellt wurde, war das außereheliche Zusammenleben von weiblichen Häftlingen mit männlichen Zivilisten.1824 Dies wurde insbesondere auch für die Teilnehmer der »Laienkunst« konstatiert, z. B. vom stellvertretenden GULAG-Leiter für Politarbeit im Mai 1946. In einem geheimen Rundschreiben an alle Lagerleiter bemängelte er, dass es Fälle des Zusammenlebens von Mitgliedern der »Laienkunst« mit Zivilisten, die im Lager angestellt waren, gab, beispielsweise im Intinlag.1825 Das Innenministerium versuchte, die Isolierung der Häftlinge zu verstärken. 1822 1823 1824 1825

Vardi, Podkonvojnyj mir, 1971, S. 16, 245. Hedeler/Stark, Das Grab in der Steppe, 2008, S. 126. GARF, F. 9401s, op. 1a, d. 96, l. 4. GARF: F. 9414scˇ, op. 1, d. 1477, l. 21. Intinlag ist eine andere Abkürzung für Intlag, dessen Verwaltungszentrum im Dorf Vorkuta im Gebiet Archangel’sk lag. Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 239.

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So wurde beispielsweise am 29. Juni 1946 ein geheimer Erlass unterschrieben, in dem befohlen wurde, Lagerzonen, die in Hauptstädten der Republiken und autonomen Republiken, in Gebietszentren und großen Industriestädten eingerichtet worden waren, innerhalb von drei Monaten mit einem lückenlosen Zaun zu umgeben. Das Aufhalten der Häftlinge außerhalb der Zone wurde in diesen Städten strikt untersagt.1826 Aus diesem Befehl geht hervor, dass bis in die Mitte der 1940er-Jahre hinein die Lagerzonen auch in den Städten nicht genügend gesichert waren. Aber auch dieser Erlass konnte den »Missstand« nicht aus der Welt schaffen: In einem absolut geheimen Erlass des Innenministers der UdSSR vom 14. August 1947 ist zu lesen, dass in einigen Lagern und Kolonien des MVD die Anordnungen bezüglich der Unterbringung und Isolierung der Häftlinge nicht befolgt wurden. Dabei soll vorgekommen sein, dass Schwerverbrecher ohne Bewachung aus der Zone zum Arbeiten gingen und von dort aus flohen.1827 Dass das GULAG in der Zusammenarbeit von Häftlingen und zivilen Personen an Theatern ein Problem gesehen hätte, konnte für diese Untersuchung nicht festgestellt werden. Lediglich Anna Kaneva gibt einen Hinweis darauf, dass im Januar 1950 die Politabteilung des GULAG einen Befehl zur Liquidierung »gemischter Truppen« gegeben haben soll.1828 Das entsprechende Dokument konnte jedoch nicht in Archiven aufgefunden werden. Da viele Häftlinge nach ihrer Freilassung meist nicht sofort aus der Gegend, in der sie inhaftiert gewesen waren, wegziehen konnten, wohnten in lagernahen Städten und Siedlungen viele ehemalige Häftlinge. Feliks Serebrov, der 1958 als Häftling nach Magadan gebracht wurde, beschrieb die Stadtbevölkerung in einem über dreißig Jahre später geführten Interview folgendermaßen: Ehemalige Häftlinge blieben vielfach auf der Kolyma, gründeten Familien und bildeten die Mehrheit der Stadtbevölkerung. Die Gesellschaft funktionierte nach den Gesetzen der Lagerzone. Ehemalige Häftlinge waren sowohl in den Wachmannschaften als auch in der Lagerleitung stark vertreten.1829 Die Arbeit ehemaliger Häftlinge im Lagerapparat ging so weit, dass Nikita ChrusˇcˇÚv Anfang der 1950er-Jahre den ehemaligen Gulag-Häftling Aleksej Snegov in den leitenden Apparat des GULAG einsetzte.1830 Das Eindringen der Lagerwelt in die zivile Gesellschaft transportierte auch die Lagerkultur dorthin. Z. B. wird in der Zeitung Sovetskaja Kolyma im Jahr 1937 berichtet, dass in Radioprogrammen auf der Kolyma oftmals Ausdrücke aus der Sprache der Berufsverbrecher zu hören waren. Auch wurden Blantye1826 1827 1828 1829

GARF, F. 9401s, op. 1a, d. 206, l. 55. GARF, F. 9401s, op. 12 [so auf der Mappe, laut Findbuch op. 1a], d. 227, l. 102 f. Kaneva, Gulagovskij teatr Uchty, 2001, S. 141. ˇ esnokova, Valentina: Tjuremnyj mir glazami zakljucˇÚnnych. 1940 – Abramkin, Valerij/C 1980-e gody, 1998, S. 83 f. 1830 Vilenskij, Voprosy est’?, 2006, S. 224.

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Lieder gesendet1831 und mit ihnen die Mentalität des Lagers in die zivile Gesellschaft getragen. Die genannten Beispiele demonstrieren eine enge Verflechtung der Lager- mit der zivilen Gesellschaft und ein Verwischen der Gulag-Grenzen. Dazu trugen Lagertheater in einem großen Maße mit bei. Aus der Sicht der Häftlinge Auch aus der Sicht der Häftlinge war die Lagerwelt eng mit der freien Welt verwoben, obwohl die Freiheit für sie unerreichbar war. Inzwischen ist es üblich geworden, die beiden Welten als »kleine« und »große Zone« miteinander in Beziehung zu setzen. Der Vergleich ist sicherlich berechtigt, denn es wurde eine Reihe von Phänomenen aus dem Leben der zivilen sowjetischen Bevölkerung auf die Lager übertragen. Hierbei ist z. B. die bereits mehrfach erwähnte »anschauliche Agitation« sowie die Initiierung verschiedener Wettbewerbe und des »sozialistischen Wettbewerbs« zu nennen. Auch Individual- und Kollektivverpflichtungen im Produktionsprozess, zu denen Häftlinge angehalten wurden, Urkunden, die Förderung der Erfindertätigkeit und Ähnliches gehörten dazu. Die vielen Parallelen zwischen den Lagern und der »Freiheit« haben Ivan Solonevicˇ, der im Belbaltlag inhaftiert war und 1934 ins Ausland fliehen konnte, dazu veranlasst zu schreiben, dass das Lager sich durch nichts Wesentliches von der »Freiheit« unterschieden hat. Nur sei alles im Lager anschaulicher, einfacher und genauer gewesen, weil der ideologische Überbau gefehlt und es keine Bedenken wegen des Auslands gegeben hat. Die Grundlagen der Sowjetmacht sind im Lager deutlich zum Vorschein gekommen.1832 Zum Verschwimmen der Grenzen zwischen den beiden Welten trug auch das sowjetische Musikrepertoire bei, welches in den Lagern aufgeführt wurde. Häftlinge, die sowjetische Lieder zum ersten Mal in Haft hörten, empfanden die Irrealität dieses Phänomens, wie z. B. Nadezˇda Kravec, was oben beschrieben wurde. Durch die sowjetischen Lieder wurde eine Verbindung zwischen der freien und der Lagerwelt aufgebaut. Nicht nur am Theater, sondern auch auf zahlreichen Bauvorhaben und in vielen Betrieben arbeiteten Häftlinge zusammen mit Zivilisten. Auch wenn diese Arbeit kräftezehrend war, wollten einige Lagerinsassen, wie Aleksandr Vardi es beschreibt, nicht von diesen Arbeitsplätzen in die Zone zurückkehren, weil die Zivilisten sie an das gewohnte und verlockende Leben in Freiheit erinnerten.1833

1831 G. V.: »Posˇljaki i nevezˇdy u mikrofona«, in: Sovetskaja Kolyma, 20. April 1937 (Nr. 87), S. 4. 1832 Solonevicˇ, Rossija v konclagere, 2005, S. 16. 1833 Vardi, Podkonvojnyj mir, 1971, S. 88.

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Wie viel mehr dies auf die am Theater tätigen Häftlinge zutraf, vermitteln ihre bereits zitierten Erinnerungen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Lagertheater durch die gleichzeitige Beschäftigung von Häftlingen und Zivilisten und durch das dort erklingende sowjetische Repertoire neben anderen Faktoren dazu beigetragen haben, dass die Grenzen zwischen der zivilen und der Lagergesellschaft in der Sowjetunion nicht konsequent gezogen werden konnten. Auf diese Weise trugen Lagertheater durch die Verzahnung beider Welten dazu bei, dass Häftlinge als Teil des Alltags akzeptiert wurden und mit ihnen die Existenz der Lager. Tourneen des Theaters im Sommer Die geschilderte Verflechtung der zivilen Gesellschaft mit Häftlingen wird besonders an den sommerlichen Tourneen des Magadaner Theaters ersichtlich.1834 Dabei gingen Truppen, die meist sowohl am Theater tätige Zivilisten als auch Häftlinge umfassten, auf Reisen durch die Kolyma und spielten sowohl vor Zivilisten als auch vor Häftlingen. Hierbei kam es zu einer Konstellation, die für Vorstellungen am Magadaner Theater nicht nachgewiesen werden konnte, aber etwa am Theater von Vorkuta vorgekommen ist (vgl. Kapitel B.1, Abschnitt »Vorschriften des KVO GULAG […] während des Krieges«): Zivilisten traten hierbei vor Häftlingen auf. Die erste überlieferte Tournee des Gor’kij-Theaters fand vom 9. August bis 9. September 1938 statt. Eine Truppe, bestehend aus 28 Künstlern und technischem Personal, brach mit drei Programmen auf, darunter zwei Komödien sowie einem Konzert, um Vorstellungen zu geben und die »Laienkunst« der besuchten Orte zu unterstützen. Die Orte der Tournee lagen alle auf der Strecke nach Jagodnoe (37; auf der Karte als Jagodnyj bezeichnet). Unter den Mitgliedern der Truppe waren mindestens fünf ehemalige Häftlinge, einige von ihnen wurden erst wenige Monate vor der Tournee aus dem Lager entlassen. Es waren 25 Vorstellungen geplant. Erklärtes Ziel war es, die Arbeiter bei der Goldförderung zur Erfüllung und Übererfüllung des Plans zu stimulieren.1835 Auch für das Jahr 1939 ist eine Tournee des Gor’kij-Theaters auf der Kolyma belegt, und zwar berichtete die in Susuman (14) herausgegebene Zeitung Stachanovec davon, dass das Theater im Sommer sowohl mit Schauspielen als auch mit Konzerten alle Verwaltungseinheiten des Dal’stroj bereisen wollte. In 1834 Solche Tourneen waren, wie oben geschildert, auch in anderen Lagern üblich. Das Theater des Ivdel’lag, welches sich allerdings nur aus Häftlingen zusammensetzte, ging sogar für acht Monate im Jahr auf Tournee durch das Lager. In den Lagerpunkten sei auf das Theater gewartet worden wie auf einen Feiertag, und die Künstler seien gut umsorgt worden. Grin, »Zabveniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 15, S. 25 f. 1835 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. 67ob, 68.

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der Westlichen Bergbauverwaltung (ZapGPU oder ZGPU) waren die Minen Mal’djak (21), Udarnik (19), Stachanovec (20), Ust’-Susuman und Berelech (13) besucht worden. In 13 Tagen hatte die Truppe 19 Vorstellungen gegeben anstatt der geplanten 17 in 20 Tagen. Auch hatten die Künstler regelmäßig in den Minen bei der Arbeit mitgeholfen.1836 Während des Krieges wurden die Tourneen fortgesetzt. Am 11. September 1942 berichtete der Theaterdirektor FÚdor Jarikov dem Dal’stroj-Leiter Ivan Nikisˇov und dem Leiter der Politverwaltung Ivan Sidorov, dass eine »Konzertbrigade« des Theaters, bestehend aus 22 Künstlern, mit zwei Konzertprogrammen am 18. Juli auf Tournee durch das Dal’stroj-Gebiet gegangen war.1837 Bis 3. September hatte sie 90 Konzerte gegeben, was durchschnittlich beinahe zwei Konzerten täglich entsprochen hatte. Für 87 Konzerte war Eintrittsgeld erhoben und damit 265.000 Rubel Gewinn gemacht worden, womit der Plan zu 179,3 Prozent erfüllt worden war. Insgesamt sollen 21.380 Zuhörer diese Konzerte besucht haben. Unter den 22 Mitgliedern der »Konzertbrigade« waren acht ehemalige Häftlinge, von denen einige erst kurze Zeit vor Beginn der Tournee freigekommen waren, beispielsweise die ehemalige Ballerina des Bol’sˇoj-Theaters Nina Gamil’ton am 15. Januar 1942 oder der Klavierstimmer und Kontrabassist Jan Rebane am 13. Juni 1942. Auch die Pianistin Marija Gordon war Mitglied dieser »Konzertbrigade«. Sie befand sich noch in Haft und ihre Teilnahme an der Tournee wurde erst dadurch ermöglicht, dass der Leiter der Politverwaltung den Leiter der »Konzertbrigade« persönlich für sie verantwortlich erklärte.1838 Das Phänomen, dass ehemalige Häftlinge als Mitglieder der Theatertruppen auf sommerliche Tourneen durch die Kolyma gingen und dadurch möglicherweise mit ihren früheren Haftorten konfrontiert wurden, blieb bis in die 1950er-Jahre hinein erhalten.1839 Für den Sommer 1943 plante das Theater, 160 Vorstellungen, darunter auch Konzerte, außerhalb Magadans zu geben. Tatsächlich sind in der Zeit vom 15. Juni bis 4. September von drei Truppen 291 Vorstellungen gegeben worden, davon elf sogenannte Patenschaftskonzerte [sˇefskie], wie der Theater-Direktor an den Dal’stroj-Leiter berichtete. 68.000 Zuschauer sollen die Aufführungen gesehen haben, und die Künstler u. a. unmittelbar in den Berggruben aufgetreten sein.1840 Damit hat das Theater den Finanzplan für die Tournee zu ˇ ekarÚv, der nach seiner 192 Prozent erfüllt.1841 Der ehemalige Häftling Nikolaj C 1836 1837 1838 1839 1840 1841

Stachanovec (Susuman), 8. Juli 1939 (Nr. 1), S. 4. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 14, l. 51. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 14, l. 44. Beispielsweise 1953. GAMO, F. R-54, op. 1, d. 77, l. 1, 30 – 33, 37 f.; d. 90, l. 1. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 12, l. 24. GAMO: F. R-23, op. 1, d. 1361, l. 42.

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Freilassung im Jahr 1942 als Schauspieler am Theater arbeitete, erinnerte sich folgendermaßen an diese Tournee im Sommer 1943: Wir wurden mit großer Ungeduld erwartet. Gewöhnlich verteilten die Betriebsleiter selbst die Eintrittskarten, und zwar verkauften sie diese an erster Stelle an Best- und Vorarbeiter. Aber die Künstler halfen auch nach Kräften bei der Arbeit mit. Wenn wir tagsüber keine Konzerte oder Proben hatten, gingen wir zu den Produktionsstätten, nahmen Schubkarren, Spaten und Spitzhacken in die Hände und karrten das Gestein auf die Goldwaschrinne. Im Sommer war in den Minen »Erntezeit« und jeder Mensch zählte. Einige Künstler wuschen auch Gold mit der Goldwaschpfanne, aber dies war schwierig und erforderte Können und Geschick.1842

ˇ ekarÚv war Mitglied der sogenannten Schauspielbrigade Nr. 1, die vier C Schauspiele im Repertoire hatte. Die »Brigade Nr. 2« war mit zwei Konzertprogrammen unterwegs; mindestens elf ihrer 27 Mitglieder waren ehemalige Häftlinge. Das bereiste Territorium wurde für diese Tournee erheblich ausgedehnt: Es wurden auch Produktionsstätten der Südwestlichen Bergbauverwaltung (JuZGPU) bis hin zur Lazo-Mine (26) bespielt. Die »Künstlerbrigaden« wurden dazu angehalten, sich im »sozialistischen Wettbewerb« miteinander zu messen,1843 was bedeutete, dass sie nach Möglichkeit die Pläne, wie in den Jahren davor auch schon, übererfüllen sollten. Dies beachtete der Administrator der »Konzertbrigade« und ehemalige Häftling Michail Arsˇ schon bei der Planung der Reiseroute. Dabei sah er für zwei Monate und zehn Tage nur fünf Tage ohne Vorstellungen vor, an allen anderen Tagen waren, ungeachtet der Entfernungen, die zwischen den Aufführungsorten zu überwinden waren, jeweils zwei Vorstellungen geplant.1844 An dieser Tournee war beispielsweise Nikolaj Antonov beteiligt (vgl. Kapitel B.2, Abschnitt »Das Magadaner Revuetheater ME˙T«).1845 Leider muss im Dunkeln bleiben, wie er sich gefühlt haben mag, an Orte zurückkehren zu müssen, wo er seine Haft verbüßt hatte, und wieder im Goldabbau tätig werden zu müssen. Am 11. September 1943 fand eine Nachbesprechung der sommerlichen Tournee mit einigen ihrer Teilnehmer und dem Direktor des Theaters statt. Es 1842 þQiVT_ `aYVXUQ WUQ\Y b R_\miY] ^VcVa`V^YV]. ;Q[ `aQSY\_, ad[_S_UYcV\Y `aVU`aYpcYZ bQ]Y XQ^Y]Q\Ybm aQb`aVUV\V^YV] cVQcaQ\m^lf RY\Vc_S, Y S `VaSdo _hVaVUm RY\Vcl `a_UQSQ\Ybm \dhiY], `VaVU_Sl] aQR_hY]. þ_ Y QacYbcl _[QXlSQ\Y `_bY\m^do `_]_jm `a_YXS_UbcSd. ;_TUQ d ^Qb ^V Rl\_ U^VS^lf b`V[cQ[\VZ Y aV`VcYgYZ, ]l Slf_UY\Y ^Q `a_YXS_UbcSV^^lV dhQbc[Y, RaQ\Y cQh[Y, \_`Qcl Y [QZ\Q Y S_XY\Y `_a_Ud ^Q `a_]lS_h^lV `aYR_al. ýVc_] ^Q `aYYb[Qf RlSQ\Q »bcaQU^Qp `_aQ« Y U_a_T Rl\ [QWUlZ hV\_SV[. þV[_c_alV QacYbcl `a_]lSQ\Y X_\_c_ ^Q \_c[Qf, ^_ nc_ UV\_ cadU^_V Y caVR_SQ\_ d]V^Yp Y ˇ ekarÚv, »Teatr v gody vojny«, 1989, S. 138. b^_a_S[Y. C 1843 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. 156, 158; d. 12, l. 25. 1844 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 12, l. 42 – 44. 1845 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 2, l. 180.

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wurde festgestellt, dass es sich bei dieser Tournee um die bislang effektivste gehandelt hatte, weil gleich drei Truppen unterwegs gewesen waren. Der ehemalige Häftling und im Jahr 1943 Regisseur des Theaters Jakov Taneev schlug vor, durchgehend eine Brigade für auswärtige Konzerte zu unterhalten. Das Ergebnis der Unterredung lautete, dass das Theater regelmäßig mit Schauspielen und Konzerten auf Tournee entlang der Kolyma-Trasse gehen sollte.1846 Ende September unterzeichnete der Dal’stroj-Leiter einen Erlass über die Prämierung der für die Tournee verantwortlichen und sie ausführenden Personen. 24 Personen erhielten Geschenke im Gesamtwert von 25.000 Rubeln, neun Personen erhielten Urkunden, 23 Personen sollte der Dank ausgesprochen werden. In allen drei Gruppen sind ehemalige Häftlinge zu finden, jedoch sind sie in der dritten Gruppe mit mindestens zehn Personen am häufigsten vertreten.1847 Dieser Erlass macht deutlich, dass die stimulierende Einwirkung des Theaters auf die Arbeiter für die Dal’stroj-Leitung wichtig war, weil sie den Einsatz des Theaters durch Prämien würdigte.1848 Im Laufe der Jahre wurde das während der Tourneen erwirtschaftete Geld zu einer wichtigen Größe im Theater-Etat. Als im Sommer 1944 abzusehen war, dass es auch durch den Einsatz von drei Theaterbrigaden nicht möglich sein würde, den geplanten Betrag einzunehmen und dadurch die Finanzierung der kommenden Saison auf dem Spiel stand, bat die Theaterdirektorin E˙milija Adolina den Leiter der Politverwaltung darum, die »Kulturbrigade« des Maglag ebenfalls für das Theater auf Tournee schicken zu dürfen und in der kommenden Saison für das Theater arbeiten zu lassen.1849 Die drei Theaterbrigaden des Sommers 1944 führten folgendes Repertoire auf: Die erste spielte zwei Komödien und führte ein vierköpfiges Musikerensemble zur Begleitung mit sich, die zweite hatte ein Drama und eine Komödie im Gepäck, begleitet von einer Pianistin. Die dritte Brigade war eine »Konzertbrigade« mit 28 Mitgliedern, von denen mindestens 15 ehemalige Häftlinge waren, welche vielfach erst 1943 freigekommen waren. Diese Brigade setzte sich aus einem Conf¦rencier, einer Ballett- und einer Akrobatengruppe, einem sinfonischen Ensemble, einem Rezitator, einer Sängerin, einer Pianistin sowie einem Bajanisten zusammen.1850

1846 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 16, l. 40, 40ob. 1847 Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich unter dem Namen Zˇernov G. S., welcher im Erlass aufgeführt ist, der damals noch inhaftierte und später berühmte Schauspieler Georgij ZˇzˇÚnov verbirgt. In diesem Fall wäre er während der Tournee noch Häftling gewesen. Er ist nur mit einem Dank prämiert worden. 1848 GAMO: F. R-23, op. 1, d. 1361, l. 42, 42ob. 1849 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 22, l. 46. 1850 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 22, l. 31, 49; d. 23, l. 92.

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Es sind drei Programme der dritten Brigade erhalten geblieben.1851 Alle drei sind zweiteilig und, wie nicht anders zu erwarten, bunt gemischt. Zwei Programme sollen dies exemplarisch demonstrieren: Das erste enthielt im ersten Teil zwei Bajan-Soli (einen Marsch der Roten Armee und ein Potpourri aus den Walzern von Johann Strauss), eine Ballett-Vorführung, das Kriegslied TÚmnaja nocˇ’ (Dunkle Nacht) von Nikita Bogoslovskij,1852 das Lied Les filles de Cadix von L¦o Delibes, ein Lied aus der Operette Gräfin Mariza sowie das Lied Cvetocˇnica Anjuta (Blumenverkäuferin Anjuta) von Modest Tabacˇnikov. Es folgten ein »rhythmischer Tanz« sowie Gedichte. Der zweite Teil begann mit Akrobatik, worauf sich ein »Zigeunertanz« sowie alte Kunstlieder, Pantomime, ein Matrosentanz und eine humoristische Erzählung anschlossen.1853 Der erste Teil des zweiten Konzerts setzte sich zusammen aus der Arie des Leporello aus Mozarts Don Giovanni, dem Trinklied aus den 25 schottischen Liedern von Beethoven, gesungen vom ehemaligen Häftling Nikolaj Antonov, einer Ballett-Einlage, die vom Ungarischen Tanz Nr. 5 von Brahms begleitet wurde, einigen Kriegsliedern und der Arie der Odarka aus Zaporozˇec za Dunaem von Gulak-Artemovskij, gesungen von der ehemals Inhaftierten Evgenija Vengerova,1854 einer weiteren Ballett-Einlage (Tanz mit Schirmen) sowie weiteren Liedern, eines davon von Michail Ljalin komponiert und vom ehemaligen Häftling Naum Nal’skij gesungen. Den zweiten Teil eröffnete ein Violinsolo des ehemaligen Häftlings Aleksandr Visˇneveckij (Spanischer Tanz von Sarasate und Tango von Alb¦niz), es folgten ein getanzter Foxtrott für drei Tänzer, alte russische Kunstlieder, eine Podmoskovnaja-Polka, eine Erzählung Michail Zosˇcˇenkos sowie erneut ein Tanz (Tanz der Roten Armee).1855 Der Dal’stroj-Leiter Ivan Nikisˇov lobte das Theater erneut für die Sommertournee. 392 Vorstellungen waren gegeben worden, womit der Plan zu 392 Prozent erfüllt worden war. Es wurden 30.000 Rubel für Prämien veranschlagt, die meisten ehemaligen Häftlinge mussten sich jedoch – wie schon im Vorjahr – nur mit einem Dank zufriedengeben.1856 Für die Zeit von 1946 bis 1949 erinnerte sich Ol’ga Ivanova, die damals als 1851 1852 1853 1854

GAMO: F. R-54, op. 1, d. 23, l. 85, 92 f.; d. 25, l. 49. Http://www.sovmusic.ru/m/temnaya4.mp3 (letzter Zugriff am 21. Dezember 2010). GAMO, F. R-54, op. 1, d. 23, l. 85. Gesungen wurden u. a. Nocˇ’ nad Belgradom (Nacht über Belgrad) von Nikita Bogoslovskij (http://sovmusic.ru/download.php?fname=belgrade [letzter Zugriff am 17. Januar 2012]) und Malen’kaja Valen’ka (Die kleine Valen’ka) von Boris Fomin (http://sovmusic.ru/ download.php?fname=malenkay [letzter Zugriff am 17. Januar 2012]). 1855 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 23, l. 92; d. 25, l. 49. 1856 GAMO: F. R-23, op. 1, d. 1486, l. 99 – 101. Wenn jedoch die Vermutung richtig ist, dass sich hinter dem Namen Zˇernov der Schauspieler ZˇzˇÚnov verbirgt (vgl. Fußnote 1847), dann kam er diesmal sogar als Häftling in den Genuss einer Prämie in Form eines Geschenks. GAMO: F. R-23, op. 1, d. 1486, l. 101.

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Inhaftierte in der Balletttruppe des Theaters tätig war, dass es Tourneen des Theaters auf allen Trassen der Kolyma gegeben habe. Dort seien Konzerte mit etwas schlankerem Programm als am Theater gegeben worden, und zwar vorrangig für die zivile Bevölkerung, seltener für Häftlinge. Es seien zwei bis drei Konzerte am Tag aufgeführt worden. Die Arbeitsbedingungen seien zwar erschwert gewesen, aber es habe mehr Freiheiten als in Magadan gegeben. Nach den Konzerten seien die Künstler stets von leitenden Personen nach Hause zu üppigen Abendessen eingeladen worden. Ol’ga Ivanova habe sich bei solchen Essen erniedrigt und als Sklavin gefühlt, jedoch sei der Hunger stärker gewesen, sodass sie die Teilnahme daran nicht ablehnte.1857 1947 wurden neue, noch weiter abgelegene Reiseziele in die Sommertournee aufgenommen: Die »Konzertbrigade« reiste bis nach Ust’-Nera in Jakutien und spielte dort in mehreren Minen, wo bis dahin keine Theatertruppe vorbeigekommen war. Eine Karte der während dieser Tournee aufgesuchten Orte befindet sich im Anhang. Auch im Gebiet der sonst gut besuchten Südlichen Bergbauverwaltung (JuGPU) trat diese »Konzertbrigade« in Minen auf, die bis dahin nicht bespielt worden waren. Als Regisseur der »Konzertbrigade« fungierte Leonid Varpachovskij, der erst wenige Wochen vor der Tournee aus der Haft entlassen worden war und in einem Dankesschreiben der JuGPU-Leitung an das Magadaner Theater ungeachtet seiner Häftlingsvergangenheit als Genosse bezeichnet und sehr gelobt wurde.1858 Ein Bericht in der Zeitung Severnaja pravda (Nördliche Wahrheit) aus Jagodnoe (37) nennt einige Programmpunkte der »Konzertbrigade«. Ihr zweiteiliges Programm bestand u. a. aus Gedichten über die mutigen Geologen auf der Kolyma, Liedern in Begleitung einer Jazz-Formation, Tänzen, z. B. einem Tanz der Roten Armee und einem »Kamel-Tanz«, dem Kriegslied Davno my doma ne byli (Lange waren wir nicht mehr zu Hause) von Vasilij Solov’ÚvSedoj1859 für ein Männer-Duett, und russischen Volksliedern. Als ein »alter Bekannter« wird in der Rezension der Sänger Tit Jakovlev (*1903, Ukraine) bezeichnet,1860 der ab 1937 für angeblichen »Verrat an der Heimat« zehn Jahre lang in Haft gewesen war. Er ist erst im April 1947 aus der Haft entlassen worden, war aber offenbar auch zuvor als Mitglied der Maglag-»Kulturbrigade« oftmals in Jagodnoe gewesen.1861 Eine Tourneetätigkeit des Theaters mit drei kleineren Truppen (zunächst waren zwischen acht und zehn Künstler geplant, später wurden die Truppen um

1857 1858 1859 1860 1861

Ivanova, »I smech, i slÚzy, i ljubov’…«, 27. Juni 1992, S. 5. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 41, l. 153 f. Http://www.sovmusic.ru/m/davnomi3.mp3 (letzter Zugriff am 21. Dezember 2010). GAMO: F. R-54, op. 1, d. 41, l. 151. Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 101.

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einige Personen aufgestockt1862) lässt sich auch für die Sommerpause 1950 nachweisen. Zwei Truppen hatten je 90 Konzerte in zwei Monaten, die dritte 125 Konzerte in zweieinhalb Monaten zu geben. Und auch diesmal waren ehemalige Häftlinge unter den Teilnehmern.1863 Zwei von diesen Truppen hatten zweiteilige Konzertprogramme für die Tournee vorbereitet. Alle erhalten gebliebenen Programme weisen einen auffällig hohen Anteil an Operetten-Arien auf, und zwar sowohl sowjetischer Komponisten (Matvej Blanter, Nikita Bogoslovskij, Isaak Dunaevskij, Jurij Miljutin) als auch ausländischer (Jacques Offenbach, Emmerich K‚lm‚n, Johann Strauss, Franz von Supp¦, Carl Zeller). In einem der Konzerte wurde sogar der erste Akt aus K‚lm‚ns Cs‚rd‚sfürstin, in einem anderen wurden zwei Szenen aus der Operette Raskinulos’ more ˇsiroko von Viktor Vitlin, Lev Kruc und Nikolaj Minch aufgeführt. Ansonsten wurden viele Lieder gesungen, darunter sowjetische, russische, aber auch neapolitanische u. a. Es wurden einige wenige Tänze vorgetragen, darunter ein russischer Tanz sowie eine Polka, und es gab vereinzelte Lesungen, z. B. von Texten des späteren Nobelpreisträgers Michail Sˇolochov.1864 Dieses Übergewicht der Operette sticht im Vergleich zu Programmen der Vorjahre stark hervor. Aus dem Sommer 1951 liegen Rückmeldungen auf die Konzerte einer Theatertruppe von Leitern örtlicher Parteiorganisationen und Minenkomitees sowie von Klubleitern vor. Am meisten gelobt wurden die Sänger und ehemaligen Häftlinge Antonina Vinnik und Anatolij Prichod’ko, die bis Oktober 1949 bzw. November 1950 noch in Haft gewesen waren. Auch wird der Geiger Evald Turgan mehrmals lobend erwähnt, der bis September 1950 noch Häftling gewesen war. In mehreren Rückmeldungen ist zu lesen, dass mehr Stücke sowjetischer Komponisten gewünscht wurden. Gleichzeitig wurde die Aufführung der Lieder Marsˇ storonnikov mira (Marsch der Friedensverfechter) von Dmitrij Sˇostakovicˇ (1950), Pesnja borcov za mir (Lied der Friedenskämpfer) von Vano Muradeli (1951)1865 und Pesnja o Kitae (Lied über China) von Michail Ferkel’man als positiv hervorgehoben. Einer Rückmeldung ist zu entnehmen, dass unter anderem eine Romanze von Rejngol’d Glie˙r für Violine solo und Szenen aus Jahrmarkt von Sorocˇincy auf dem Programm der Truppe standen.1866 Ein erhalten gebliebenes Programm der Tourneetruppe vom September/ Oktober 1951 zeigt, dass die Operettenlastigkeit des Vorjahres hier völlig verflogen war, auch wenn immer noch vereinzelt Operetten-Arien vorkamen. Die Mischung der Programmpunkte korrespondierte viel mehr mit den Program1862 1863 1864 1865 1866

GAMO: F. R-54, op. 1, d. 55, l. 47 f., 50 f. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 55, l. 20 f. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 55, l. 47 f., 50 f. Http://www.sovmusic.ru/m32/pbortsov.mp3 (letzter Zugriff am 20. Dezember 2010). GAMO: F. R-54, op. 1, d. 63, l. 1 – 9. Unklar bleibt, ob es sich um die Oper Musorgskijs oder die Erzählung Gogol’s handelt.

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men der 1940er-Jahre. Bei den sowjetischen Liedern ist eine Neigung zur Friedensthematik festzustellen (z. B. My za mir [Wir sind für den Frieden] von Anatolij Novikov).1867 Es wurden Klavierstücke von Rachmaninov und Liszt interpretiert, Opernarien von Puccini und Rossini, aber auch ukrainische Volkslieder.1868 Im Jahr 1952 setzte das Theater sogar fünf Brigaden für die Sommertournee ein. Mindestens zwei davon waren sogenannte Konzertbrigaden, die vorwiegend Konzerte spielten. Die »Konzertbrigade Nr. 2« gab in zwei Monaten 63 Konzerte für 10.100 Zuschauer, wie der Leiter der Brigade dem Theater berichtete. In den Rückmeldungen auf diesen Konzertsommer kommt oft die Bemerkung vor, die Konzerte hätten zur vorzeitigen Erfüllung des Plans beigetragen. Namentlich gelobt werden der Geiger Evald Turgan und die Sängerin »moderner russischer Lieder« Anna Jankovicˇ, die bis April 1952 in Haft war.1869 Ein Mitglied der ersten »Konzertbrigade«, die insgesamt elf Mitglieder hatte, war der Pianist Boris Terner, der auch schon bei den Tourneen der Jahre 1950 und 1951 dabei gewesen war.1870 Er stammte aus Petrograd, wo er 1921 geboren wurde. Mit 17 Jahren hatte er begonnen zu konzertieren und an der RimskijKorsakov-Musikfachschule in Leningrad zu arbeiten. 1945 wurde er als Sonderumsiedler nach Magadan transportiert und erst im April 1952 vom Status des Sonderumsiedlers befreit. Er trat nicht nur als Begleiter am Klavier hervor, sondern spielte auch Akkordeon und komponierte, z. B. eine Komische Polka und ein Lied, welches eines der zwei Programme der ersten »Konzertbrigade« abschloss. Die Programme dieser Brigade beinhalteten Rezitation, sowjetische Lieder, Operetten-Arien, russische Volkslieder und Tänze. Ein Akkordeon-Duo mit Boris Terner und Nikolaj Akimov, einem weiteren Sonderumsiedler aus der Ukraine, spielte ein Potpourri aus Liedern sowjetischer Komponisten sowie eine Fantasie über Themen sowjetischer Komponisten.1871 Die zweite »Konzertbrigade« war mit 20 Mitgliedern größer als die erste; zu ihr gehörte der bereits erwähnte Geiger Evald Turgan. Er spielte während dieser Tournee Kabalevskijs Improvisation, Niccolo Paganinis La Campanella, Musorgskijs Gopak und die Carmen-Fantasie von Bizet/Sarasate.1872 Im Vergleich zu den Tourneeprogrammen der Vorjahre ist 1952 eine Zunahme von Liedern sowjetischer Komponisten festzustellen. Aus den begeisterten Rückmeldungen auf die Sommertournee des Jahres 1867 1868 1869 1870 1871 1872

Http://www.sovmusic.ru/m/mizamirv.mp3 (letzter Zugriff am 21. Dezember 2010). GAMO, F. R-54, op. 1, d. 53, l. 22. GAMO, F. R-54, op. 1, d. 72, l. 4 f., 12, 18, 65. GAMO, F. R-54, op. 1, d. 55, l. 50; d. 61, l. 9. GAMO, F. R-54, op. 1, d. 73, l. 1 f. GAMO, F. R-54, op. 1, d. 73, l. 3 f.

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1952, unter denen sich sogar ein überschwängliches Dankesgedicht befindet, sticht eine besonders hervor, denn sie stellt den seltenen Fall dar, dass die Reaktion eines Häftlings aus dem Publikum überliefert worden ist. Dieser Dankesbrief an die »Konzertbrigade Nr. 1« ist ein bewegendes Zeugnis davon, dass viele Künstler in den Lagern des GULAG inhaftiert waren, über die wir nicht mehr viel werden herausfinden können. Dieser Brief ist in einem Lagerpunkt auf ˇ ukotka geschrieben worden, welche von der »Konzertbrigade der Halbinsel C Nr. 1« im Juli 1952 besucht worden war. Dort befand sich das Lager mit der Bezeichnung Briefkasten Nr. 14. Aus einem offiziellen Dankesbrief der Straßenbauabteilung dieses Lagers geht hervor, dass die Künstler in Räumen, die nicht für Konzerte vorgesehen und trotz des Sommers kalt waren, auftreten mussten. Wie aus einem weiteren offiziellen Dankesbrief hervorgeht, gaben sie ˇ ukotka sechs Konzerte in zwei Tagen.1873 auf der C Der Häftling Vasilij Ruchlin entschuldigt sich zunächst in seinem Dankesbrief dafür, dass er die Künstler mit Genossen anredet und dankt ihnen herzlich für ein Konzert, welches sie für die Häftlinge gegeben haben. Er regt an, dass ˇ ukotka kommen sollten, weil die dort lebenden »Konzertbrigaden« öfter nach C Häftlinge sich darüber freuen würden. Er selbst sollte in wenigen Monaten entlassen werden und hoffte, die Künstler in Magadan oder woanders wiederzusehen. Auch hoffte er, trotz jahrelanger Haft wieder als Künstler tätig werden zu können, auch wenn ein Wiedereinstieg schwierig werden sollte. Ruchlin war vor der Haft nämlich Schauspieler, 1941 hatte er seine Ausbildung am Moskauer Staatlichen Institut für Theaterkunst (GITIS) beendet und anschließend am Theater in Irkutsk gearbeitet. Und nun hatte er bereits über sechs Jahre lang keine professionellen Schauspieler mehr gesehen. Deswegen waren die Konzerte der »Brigade« für ihn besonders wichtig.1874 Wie sein Leben weiterverlaufen ist, konnte nicht herausgefunden werden. Von einer dritten »Konzertbrigade« des Sommers 1952 ist ein Bericht erhalten geblieben, welcher einen Einblick in die Tourneebedingungen bietet. Die Brigade bestand aus neun Künstlern, von denen mindestens zwei ehemalige Häftlinge waren. Sie war in den ersten Tagen mit einem Motorboot unterwegs. An manchen Orten bereitete man ihr keinen guten Empfang, und die Künstler mussten auf dem Fußboden schlafen. Am siebten Tag der Tournee konnte sie sich wegen eines Sturms nicht mehr auf dem Meer fortbewegen, sodass an einem Tag sechs und am folgenden Tag zwölf Kilometer zu Fuß zurückgelegt werden mussten. Die Konzerte fanden gewöhnlich um 21:00 Uhr statt. Nur zwei von 13

1873 GAMO, F. R-54, op. 1, d. 72, l. 59 f., 63, 74. 1874 GAMO, F. R-54, op. 1, d. 72, l. 71.

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Konzerten dieser einen halben Monat währenden Tournee wurden in Lagern gegeben.1875 Auch nach Stalins Tod bot sich im Sommer 1954 das schon gewohnte Bild: Eine »Konzertbrigade« mit neun Teilnehmern (von ihnen mindestens vier ˇ eehemalige Häftlinge), ging auf Tournee mit einem kurzen Schauspiel von C chov, populären Liedern, Operetten-Arien, russischen und ukrainischen Volksliedern und Tänzen.1876 Während in Rückmeldungen auf die Tourneen aus kleineren Ortschaften immer wieder zu lesen ist, dass es dort nicht genügend Vorstellungen gegeben hat, scheint sich in der Kleinstadt Jagodnoe (37) im Jahr 1954 eine Übersättigung an Gastspielen eingestellt zu haben. Mit Beginn des Sommers, so ein Zeitungsredakteur, kämen Tourneebrigaden von überall her : vom Gor’kij-Theater, aus dem Dzerzˇinskij-Klubhaus1877 und auch aus den zentralen Teilen des Landes, z. B. dem Bol’sˇoj-Theater. Deswegen kam es vor, dass die Vorstellungen miteinander kollidierten und schlecht besucht waren.1878 Nicht nur im Sommer wurden »Konzertbrigaden« des Theaters auf Tourneen geschickt. Ein Dokument aus dem Januar 1951 zeigt, dass vom 13. Februar bis 15. April eine neun Mann starke Truppe auf Reisen ging und die Planvorgabe bekam, 70 Konzerte zu geben und 245.000 Rubel einzunehmen.1879 Auch aus dem Jahr 1953 liegt ein ähnliches Dokument vor: Vom 7. Januar bis 5. Februar sollte eine Truppe mit über zehn Mitgliedern 32 Konzerte geben und 112.000 Rubel erwirtschaften.1880 Insgesamt fanden im Jahr 1951 bis 1. Oktober elf Tourneen von Theatertruppen statt, davon vier mit Schauspielen, vier mit Konzerten und drei mit Puppentheater für Kinder. Dabei wurden mit 281 Vorstellungen über 750.000 Rubel eingenommen.1881 Die darüber verfassten Berichte machen deutlich, dass die Verbesserung des Theater-Etats der Hauptgrund für die Veranstaltung der Tourneen gewesen ist. Auch das 1948 gegründete ME˙T ging regelmäßig auf Tourneen. Beispielsweise gab es im April 1948 45 Konzerte außerhalb Magadans, im Sommer 1948 waren es 89 Konzerte, darunter 21 Aufführungen von K‚lm‚ns Gräfin Mariza und 13 Aufführungen der Operette Odinnadcat’ neizvestnych von Bogoslovskij.1882 Das ME˙T ging geschlossen mit allen 60 Mitarbeitern auf diese Sommertournee. Es wurden hauptsächlich Vorstellungen für Zivilisten gespielt: Von allen genannten 1875 1876 1877 1878 1879 1880 1881 1882

GAMO, F. R-54, op. 1, d. 72, l. 10 f. GAMO, F. R-54, op. 1, d. 90, l. 7ob, 8. So wurde der Klub der Wachmannschaften, in dem das ME˙T probte, auch bezeichnet. Ausschnitt aus der Zeitung Severnaja pravda vom 25. Juli 1954 (Nr. 54), Artikel von L. Golova. GAMO, F. R-54, op. 1, d. 90, l. 8ob. GAMO, F. R-54, op. 1, d. 61, l. 9 f. GAMO, F. R-54, op. 1, d. 77, l. 1. GAMO, F. R-54, op. 1, d. 63, l. 24. In einem anderen Bericht ist von 95 Konzerten die Rede. Piskarev, Prokuratura Magadanskoj oblasti, 1997, S. 99 – 101.

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Aufführungen im Sommer 1948 wurden nur 16 vor Häftlingen gegeben, drei davon im Zentralen Krankenhaus des Sevvostlag. In den Rückmeldungen auf diese Konzerte aus den Lagern, z. B. aus der Mine Mal’djak (21), ist zu lesen, dass sie öfter gewünscht wurden, weil sie dort selten stattfanden.1883 ˇ ukotka Die Tradition des Theaters, Tourneen auf der Kolyma und auf C durchzuführen, wurde bis zum Zerfall der Sowjetunion beibehalten.1884 Nach der Auflösung des Sevvostlag war diesen Tourneen jedoch nicht mehr die starke Vermischung der Zivilisten mit Häftlingen eigen, die sie in den 1930er- und 1940er-Jahren sowie am Beginn der 1950er-Jahre auszeichnete. In dieser Zeit trugen sie erheblich zur Vermischung der zivilen und der Lagergesellschaft bei, indem sie Zivilisten, ehemalige Häftlinge und Häftlinge zusammenbrachten. Sie vermochten, einen Lichtblick auch in entlegene Minen zu bringen und sorgten dort für niveauvolle Unterhaltung sowohl der Zivilisten als auch der Häftlinge.

»Gern hätt’ ich sie alle beim Namen genannt…« – Lebenswege professioneller Musiker, die im Sevvostlag inhaftiert waren Musiker in literarischen Erinnerungen der Kolyma-Häftlinge Eine Reihe von ehemaligen Gulag-Häftlingen hat sich schriftstellerisch betätigt. Da die Erlebnisse im Lager ihnen oftmals den Anstoß zum Schreiben gaben, lohnt ein Blick in ihre Werke, um weitere Erkenntnisse über die Stellung professioneller Musiker im Gulag zu gewinnen und Einblicke in ihr Handeln dort zu erhalten. Dabei muss berücksichtigt werden, dass es sich um fiktive Sujets handelt, die jedoch von realen Begebenheiten inspiriert worden sind. Elena Vladimirova beschreibt in ihrem Poem Kolyma (vgl. Kapitel B.1, »Musik während des Arbeitsappells«) einen Musiklehrer, der sich unter den Häftlingen befand, mit den folgenden Worten: Es gab hier ein schwächliches Geschöpf, den Musiklehrer Alfred, der zu zehn Jahren verurteilt war für seine polnische Abstammung (potenzieller Spion!).1885 1883 Piskarev, Prokuratura Magadanskoj oblasti, 1997, S. 101 f. 1884 Teatr na kraju zemli, 1992, S. 4 f. 1885 8UVbm Rl\_ fY\_V cS_aV^mV, dhYcV\m ]dXl[Y, 1\meaVU, Y]VSiYZ `_\^lf UVbpcm \Vc XQ `_\mb[_V `a_Ybf_WUV^mV /`_cV^gYQ\m^lZ i`Y_^QW !/.

RGALI: F. 1702 (Glavnaja redakcija zˇurnala Novyj mir), op. 9, ed. 89, l. 26 f.

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An diesen Musiklehrer erinnert sich die Verfasserin des Poems wieder, wenn es darum geht, die Arbeit im Schacht zu schildern: Der Schichtleiter schaute mit gleichgültigem Bedauern Flüchtig auf das Polchen. »Was soll ich mit dir machen? Arbeite erst mal beim Verladen… Und das soll Nachschub sein! Der wird doch höchstens zwei Tage leben.« »Ich kann nicht«, sagte der Arme. »Du hast zu können… Nicht ich, Das sowjetische Gericht hat dich ins Lager geschickt. Damit hat dir der Richter einen schönen Gefallen getan!« »Ich bitte Sie!« – »Das bringt dir nichts«.1886

Weiter unten im Text heißt es, dass der Brigadeleiter den Musiklehrer schlägt.1887 Schließlich erfriert Alfred in der Nähe einer Baracke, ohne nach Hilfe zu rufen.1888 Bei Vladimirova stellt der Musiker einen Prototyp des besonders schwächlichen Häftlings dar, welcher von der Lagermaschinerie schnell zermalmt wird. Da die Verfasserin des Poems an mehreren Stellen beteuert, ausschließlich die Wahrheit zu schreiben, und da sie mit dem lyrischen Ich des Poems identisch ist, kann davon ausgegangen werden, dass ihr mindestens ein solcher Fall bekannt war. Von Nina Gagen-Torn, einer Ethnografin und Historikerin, die auf der Kolyma inhaftiert war und Erinnerungen an ihre Lagerhaft in Form von Gedichten und Prosa hinterlassen hat, gibt es eine Erzählung mit dem Titel Rukopis’ (Handschrift).1889 Sie handelt von Vera Metel’nikova, einer Musikwissenschaftlerin und Komponistin, die im Lager an einer Oper schreibt. Sie leidet darunter, dass sie mit 60 anderen weiblichen Häftlingen zur Mahd abkommandiert wird und dadurch keine Zeit hat, auch nur für wenige Augenblicke mit ihrer Handschrift alleine zu bleiben. Davor hat sie im Lager als Putzkraft für Toiletten 1886 ?^ [^QhQ\m^Y[ b]V^l] b aQS^_Udi^l] b_WQ\V^mV] ]V\m[_] SXT\p^d\ ^Q `_\ph[Q. »;Q[ Rlcm b c_R_Z? 4adXY `_[Q… 9im, `_Ubl`Qoc `_U[aV`\V^mV ! 3bVT_-c_ WYX^Y – ^Q USQ U^p«. – »P ^V ]_Td« – b[QXQ\ RVU^pTQ. – »1 cl ]_TY… CVRp ^V p, B_SVcb[YZ bdU ^Q`aQSY\ S \QTVam. 5Q, dUadWY\ cVRV bdUmp !« – »@a_id 3Qb!« – »N, `a_bYcm ^V ^QU_.« RGALI: F. 1702 (Glavnaja redakcija zˇurnala Novyj mir), op. 9, ed. 89, l. 36. 1887 RGALI: F. 1702 (Glavnaja redakcija zˇurnala Novyj mir), op. 9, ed. 89, l. 46. 1888 RGALI: F. 1702 (Glavnaja redakcija zˇurnala Novyj mir), op. 9, ed. 89, l. 56. 1889 Gagen-Torn, Nina: »Rukopis’«, in: Andreeva, L. V./Rezinovskaja, V. A. (Hg.): Pamjat’ Kolymy : Vospominanija, pis’ma, fotodokumenty o godach repressij, 1990, S. 21 – 31.

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gearbeitet und war damit den Umständen entsprechend zufrieden, weil sie dadurch viel Zeit alleine verbringen und dabei singen oder komponieren konnte, wodurch sie ihre Umgebung vergaß. Es war jedoch im Lager verboten, das Komponierte aufzuschreiben. Sie hinterging dieses Verbot, beschaffte sich Papier, schrieb fertige Teile ihrer Oper auf und versteckte sie. Während einer Durchsuchung in der Zeit der Mahd werden jedoch ihre Handschriften gefunden und beschlagnahmt. Nina GagenTorn lässt die Erzählung positiv enden, indem die Komponistin ihre Handschriften zurückerhält. Auf die Frage, ob diese Erzählung auf historischen Ereignissen basiert, antwortete die Tochter Nina Gagen-Torns folgendermaßen: Die Gestalt der Komponistin ist fiktiv, bei der Schilderung ihres Äußeren hat sich die Verfasserin aber an das Aussehen einer Mitinhaftierten gehalten. Dem Sujet der Erzählung liegen eigene Erlebnisse der Verfasserin zugrunde, die sie mit ihren Gedichthandschriften im Lager gemacht hat.1890 Auch in mehreren Erzählungen Georgij Demidovs über das Leben im Gulag spielen Musiker eine wichtige Rolle, darunter in Ljudi gibnut za metall (Menschen sterben fürs Metall).1891 Dort beschreibt Demidov einen größeren Lagerpunkt auf der Kolyma während des Zweiten Weltkriegs, welcher an den Ufern des Flusses Jana in Jakutien, der kältesten Region der Erde, liegt. Die dort Inhaftierten müssen im Goldabbau arbeiten. Der Erzähler schildert, wie die Wachmänner die von der Arbeit zurückkehrende Häftlingskolonne lange vor den Lagertoren in der Kälte warten lassen, bevor sie die Zone betreten darf. Währenddessen können die Häftlinge aus einem Lautsprecher, der in der Nähe ˇ -Baracke befestigt ist, die allabendliche Übertragung eines Konzerts aus der KVC Magadan hören. Eine »Laienkunst« gibt es in diesem Lagerpunkt nicht, obwohl ˇ über Musikinstrumente verfügt. Die Strapazen des Goldabbaus und die die KVC unzureichende Versorgung mit Lebensmitteln halten die Häftlinge davon ab, an einer »Laienkunst« teilzunehmen.1892 1890 Telefonat der Verfasserin mit Galina Gagen-Torn am 18. Dezember 2007 in Moskau. 1891 Georgij Demidov war ausgebildeter Physiker und hatte in Char’kov unter der Leitung des Nobelpreisträgers Lev Landau gearbeitet. 1938 wurde er für »konterrevolutionäre trotzkistische Tätigkeit« zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt und auf die Kolyma verschifft, wo er bis 1952 (weil er im Lager nochmals verurteilt wurde) mit der Allgemeinheit der Häftlinge in Minen arbeiten musste. Nach seiner Befreiung schrieb er Erinnerungen an die Lagerhaft in Form von Erzählungen nieder und wurde bei dieser Tätigkeit, so die Auskunft von Demidovs Tochter, vom Schriftsteller Varlam Sˇalamov bestärkt, mit dem er seit der Lagerhaft befreundet war. 1980 wurden Demidovs Schriften vom KGB beschlagnahmt und sind erst 1988 – nach seinem Tod – nach mehreren Bittgesuchen seiner Tochter zurückgegeben worden. Demidova, V. G.: Vorwort zur Erzählung »Ljudi gibnut za metall«, in: Juridicˇeskaja gazeta, 1991, Nr. 18, S. 9. 1892 Demidov, Georgij: »Ljudi gibnut za metall«, in: Juridicˇeskaja gazeta, 1991, Nr. 18, S. 9.

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An dem von Demidov geschilderten Abend werden Opernarien aus Glinkas Ivan Susanin, Musorgskijs Chovansˇˇcina und Rubinsˇtejns Neron gesendet. Die meisten Häftlinge hören nicht zu, weil sie durchgefroren und hungrig sind, und weil diejenigen, die einen Sinn für klassische Musik gehabt haben (meist Intellektuelle, die an harte physische Arbeit nicht gewöhnt waren), als Erste gestorben sind. Jedoch lauscht der junge Häftling Loksˇin, der ordentlicher als die anderen gekleidet ist und weniger schwach aussieht, ganz genau der Musik. Einzelne Häftlinge fallen wegen des langen Stehens in der Kälte in Ohnmacht, um meist wenige Tage später zu sterben. Schließlich werden sie in die Zone hineingelassen; währenddessen erklingt aus dem Lautsprecher das Rondo vom Goldenen Kalb aus Gounods Faust in russischer Übersetzung. In dieser Übersetzung von PÚtr Kalasˇnikov (1828 – 1897) heißt es am Schluss des MephistoLiedes: »Ljudi gibnut za metall! Satana tam pravit bal!« (»Menschen sterben fürs Metall! Der Satan führt dort den Ball!«). Einer der Häftlinge fragt rhetorisch, ob das Lied nicht von der Kolyma handle. Anschließend fragt er Loksˇin, ob jener es nicht singen könne. Der Protagonist Valerij Loksˇin ist ein ehemaliger Konservatoriumsstudent bäuerlicher Abstammung. Zu Beginn des Krieges wird er in die Armee eingezogen, gerät in deutsche Gefangenschaft und wird erst 1944 von der sowjetischen Armee befreit. Er wird des Heimatverrats angeklagt, weil er für die Deutschen gesungen hat, verurteilt und auf die Kolyma transportiert. Hier singt er abends für seine Mithäftlinge und bekommt dafür von ihnen etwas zu essen. Bemerkenswert ist, dass die Häftlinge ihm für sein Singen Teile ihrer Ration abgeben, obwohl sie selbst nicht genug zu essen bekommen. Die psychischen Bedürfnisse der Häftlinge konnten demnach mächtiger wirken als die physischen. Ein solches Schicksal wie Loksˇins ist nicht der Fantasie Demidovs entsprungen, sondern ist in der Realität mehrfach vorgekommen. Die prominentesten Beispiele dafür sind der Pianist Vsevolod Topilin (vgl. Kapitel D) und der Sänger Nikolaj Pecˇkovskij.1893 Die Erzählung fährt so fort, dass die Lage sich nach Einbruch des Winters ändert, wenn die meisten Häftlinge nur noch die Strafration bekommen, weil es schwieriger wird, die Norm zu erfüllen. Loksˇin geht dazu über, nur für diejenigen zu singen, die ihn immer noch bezahlen können. Dies sind Häftlinge, die innerhalb der Zone arbeiten – als Mediziner, Köche, Küchenhilfen oder solche, die den anderen ihre Arbeit zuteilen. Dadurch genießt er Privilegien, beispielsweise muss er nicht immer mit den anderen Häftlingen zur Arbeit in die Mine ausrücken.1894 Eines Tages wird er jedoch vom Lagerleiter, der ihn nicht mag, zu Strafar1893 Pecˇkovskij, Nikolaj: Vospominanija opernogo artista, 1992. 1894 Demidov, »Ljudi gibnut za metall«, 1992, Nr. 1, S. 9 f.

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beiten abkommandiert und bricht durch das Eis in einen Fluss ein. Da er in nasser Kleidung im Winter einen längeren Weg zurück ins Lager gehen muss, erkrankt er an doppelseitiger Lungenentzündung und wird auf die Krankenstation gebracht. Die Erzählung endet mit einer ergreifenden Szene: Der sterbenskranke Loksˇin, dessen Verstand verdunkelt zu sein scheint, erinnert sich an das Mephisto-Lied, bricht aus der Krankenbaracke aus und läuft durch die Zone, das Rondo vom Goldenen Kalb singend. Als er merkt, dass man ihn einfangen möchte, begibt er sich in den Todesstreifen und singt weiter. Schließlich wird er von einem auf dem Wachturm stehenden Soldaten erschossen.1895 Auf diese Weise zeichnet Demidov eine widersprüchliche Figur, die es durch das eigennützige Verhalten im Lager nicht vermag, die Sympathie der Leser zu gewinnen. Andererseits steht der Tod Loksˇins für den Irrsinn des Gulag-Systems und seine Auflehnung dagegen als eine Heldentat, obwohl er dabei nicht mehr im Besitz seines Verstandes ist, was wiederum die Grausamkeit des Lagersystems unterstreicht. Die Figuren Alfreds, Metel’nikovas und Loksˇins können für viele professionelle Musiker im Sevvostlag stehen, deren Zahl nicht mehr festgestellt werden kann, weil keine umfassende Statistik der Gulag-Häftlinge mit Angabe ihrer Berufe existiert, und deren Schicksale zum überwiegenden Teil im Dunkeln bleiben werden, weil sie im Lager gestorben sind und keine Nachkommen hatten, die über ihren Tod nachgeforscht und Informationen darüber in die Öffentlichkeit getragen hätten. Beispiele für solche Musiker kommen immer wieder in Häftlingserinnerungen vor, wobei es schwierig ist herauszufinden, ob es sich dabei um reale oder fiktive Personen handelt. Z. B. berichtet Zinaida LichacˇÚva über Vera Vladimirovna Polovinkina und nennt sie eine »hervorragende Pianistin«. Sie soll manchmal, wenn die Sehnsucht nach Musik ihr zugesetzt hat, nachdenklich eine Melodie in sich hineingesungen und dazu mit den Fingern deutlich auf ihrem Hosenbein gespielt haben. Nach Verbüßen der Haft arbeitete sie in Magadan als Nachtwächterin und verdiente sich etwas dazu, indem sie manchmal für das Radio arbeitete.1896 Später zog sie in die Kleinstadt Aleksandrov und lebte dort davon, dass sie Tragetaschen und Mützen knüpfte. Musiker wurden auch immer wieder von Mithäftlingen porträtiert. Zu ihnen gehört der Geiger K. Bezkaravajnyj, der 1953 vom Laien-Maler Grigorij Pidoplicˇko gezeichnet wurde. Beide Künstler verbüßten damals ihre Haft im Maglag. Vor seiner Haft war dieser Geiger, so die Information von Memorial Moskau, wo sein Porträt heute aufbewahrt wird, Student am Kiewer Konser-

1895 Demidov, »Ljudi gibnut za metall«, 1992, Nr. 2, S. 8 f. 1896 LichacˇÚva, »Detal’ monumenta«, 1988, S. 50 u. 78.

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vatorium in der Klasse von David Bert’e (1882 – 1950) gewesen. Der Maler nannte das Bild Lagernyj skripacˇ (Der Lagergeiger).1897 Leichter lassen sich Biografien von inhaftierten Musikern rekonstruieren, die nicht im Lager ihr Leben lassen mussten und später von ihrer Haft berichtet haben. In diesem Kapitel werden nun Beispielbiografien von Musikern behandelt, die im Sevvostlag inhaftiert waren; die Auswahl wurde so getroffen, dass möglichst unterschiedliche Schicksale zur Sprache kommen, und vor allem solche Musiker Berücksichtigung finden, zu deren Leben genügend Zeugnisse vorliegen.

Dmitrij Gacˇev (1902 – 1945)

Über das Schicksal des Musikwissenschaftlers Dmitrij Gacˇev im Lager informieren seine dort verfassten Briefe an seine Frau sowie seine Lagerakte, die der Schriftsteller Aleksandr Birjukov einsehen konnte.1898 Die Briefe sind von Gacˇevs Sohn herausgegeben und mit einem Vorwort versehen worden.1899 Briefe der Häftlinge müssen als Quellen, wie im Abschnitt über Sergej Protopopov erwähnt, wegen der Zensur und der Selbstzensur mit Vorsicht gelesen werden. So berichtete Gacˇevs ehemaliger Mithäftling Nikolaj Smirnov im Jahr 1988, dass Gacˇev seine Familie vor schlechten Nachrichten schützen wollte, weswegen seine Briefe nur in den seltensten Fällen von schwerer Arbeit und Hunger handelten und z. B. keine Information über den gefürchteten Strafisolator enthielten, in den Häftlinge wegen der Nichterfüllung des Plans gesteckt wurden und dort teilweise starben.1900 In Bezug auf die Arbeit einer »Kulturbrigade« aus der Sicht eines Mitwirkenden stellen Gacˇevs Briefe aber wertvolle zeitgenössische Zeugnisse dar, die für das Sevvostlag einzigartig zu sein scheinen, nicht zuletzt auch wegen ihrer relativ großen Anzahl. Dmitrij Gacˇev wurde 1902 in der Stadt Bracigovo in Bulgarien geboren. Ab 1920 studierte er Flöte an der Musikakademie in Sofia.1901 1926 siedelte er in die UdSSR über, weil die Ideen des Sozialismus ihn faszinierten. Hier studierte er am Moskauer Konservatorium Musikwissenschaft und -theorie. 1934 absolvierte er das Institut der Roten Professur. Nachdem er am 23. Februar 1938 in den Schriftstellerverband aufgenommen wurde, verhaftete man ihn in der Nacht vom 23. auf den 24. Februar. Er wurde gemäß § 58 zu acht Jahren Lagerhaft 1897 Ein Ausschnitt daraus ist auf dem Einband dieser Abhandlung zu sehen. In Gänze kann es eingesehen werden unter : http://www.memo.ru/museum/rus/fineart/pidoplichko.htm (letzter Zugriff am 12. April 2011). 1898 Birjukov, Zˇizn’ na kraju sud’by, 2005, S. 438 – 447. 1899 Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003. 1900 Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003, S. 199 f. 1901 Birjukov, Zˇizn’ na kraju sud’by, 2005, S. 440.

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verurteilt.1902 Gacˇev hatte während der Bestehenszeit der RAPM (bis 1932), der Russischen Assoziation proletarischer Musiker, die hart gegen ihr unliebsame Komponisten vorging, zu deren Vorstandsmitgliedern gehört. Des Weiteren war er Mitglied der Gesellschaft Muzyka – massam (Musik den Massen) und Herausgeber der Zeitschrift Proletarskij muzykant (Der proletarische Musiker) gewesen. In den Jahren 1935 bis 1938 leitete er die Abteilung für westliche Klassiker im Staatsverlag Goslitizdat.1903 Der Musikwissenschaftler selbst nannte in einem Brief an den Generalstaatsanwalt der UdSSR vom Juni 1939 aus dem Lager das zufällige Lesen eines Artikels von Lev Trockij und dessen – wohlgemerkt negative – Erwähnung in einem Gespräch als den Grund für seine Verhaftung.1904 Gacˇevs Verurteilung, die Lagerhaft sowie der Tod im Lager demonstrieren, dass auch ein systemtreuer Musiker nicht vor Repressionen sicher sein konnte. Eine ehemalige Mitgliedschaft in der RAPM, die in der Forschung teilweise mit dem sowjetischen Repressionsapparat gleichgesetzt worden ist,1905 konnte nicht vor den Tschekisten schützen. Im Spätsommer 1938 wurde Gacˇev ins Sevvostlag transportiert und arbeitete dort zunächst zusammen mit den anderen Häftlingen. Am 15. August 1938 konnte er den ersten Brief an seine Frau und seinen Sohn aus dem Lager schreiben.1906 Im November desselben Jahres schrieb er, dass es ihm gelungen sei, eine leichtere Arbeit als zuvor zugeteilt zu bekommen.1907 Er bat um die Zusendung seiner Flöte, um im Blasorchester des Lagers spielen zu können. Wenige Tage später – der kurze Abstand zeugt davon, dass Gacˇev das Lagerregime hintergehen konnte, denn offiziell war nur ein Brief im Monat erlaubt1908 – schrieb er, dass er nur noch von der Flöte träume. Während er in Moskau kein gesteigertes Interesse an ihr gehabt habe, stelle sie für ihn nun das wichtigste Mittel dar, um sich mit Musik beschäftigen zu können. Das Blasorchester des Lagerpunkts nannte er »ganz gut«, und als Musiker winkten ihm Privilegien: leichtere Arbeiten sowie eine bevorzugte Behandlung. Neben der Zusendung der Flöte bat er um Noten für Flöte und solche, die er 1902 Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003, S. 5 f., 64. In der Häftlingsakte ist verzeichnet, dass Gacˇev von einem Sonderkollegium wegen »konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit« verurteilt wurde. Birjukov, Zˇizn’ na kraju sud’by, 2005, S. 438 f. 1903 Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003, S. 41 f. 1904 Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003, S. 62 f. 1905 Lobanova, Marina: »Rußland. B. Kunstmusik. III. Von der Oktoberrevolution bis zur Gegenwart«, in: Finscher, Ludwig (Hg.): Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil, Bd. 8, Kassel u. a.: Bärenreiter u. a. 1998, Sp. 718 – 742, hier Sp. 721. 1906 Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003, S. 49 f. 1907 Dass diese Information möglicherweise falsch war und dazu dienen sollte, seine Familie zu beruhigen, geht aus der Häftlingsakte Gacˇevs hervor, in der er noch bis zur Hälfte des Jahres 1939 als Gesteinshauer verzeichnet ist, was eine der schwersten Arbeiten auf der Kolyma war. Birjukov, Zˇizn’ na kraju sud’by, 2005, S. 440. 1908 E˙pplbaum, E˙nn: GULAG. Pautina bol’sˇogo terrora, 2006, S. 242 f.

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früher darauf interpretiert hatte, darunter Stücke für Violine (z. B. das Violinkonzert von Mendelssohn), Klavier (Pr¦ludes von Chopin) und Gesang (u. a. Barcarole, Serenade und Der Strom von Schubert sowie die Arie der Königin von Schemacha aus der Oper Der goldene Hahn von Rimskij-Korsakov).1909 Doch Gacˇevs Frau reagierte nicht sofort auf seine Bitte, und es bleibt unklar, ob sie die rettende Rolle des Instruments unterschätzte, oder mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, denn die Flöte musste erst gekauft werden. Im April 1939 bat Gacˇev eindringlich, seine Bitte zu erfüllen, und legte dem Brief eine umfangreiche Liste mit Noten bei, die er zugeschickt bekommen wollte, darunter die schon genannten Stücke und weitere Werke von J. S. Bach, Beetˇ ajkovskij, Kreisler, italienische, hoven, Schubert, Chopin, Grieg, Schumann, C russische und französische Opernarien u. a.1910 Es ist schwer vorstellbar, wie Gacˇevs Frau eine solch große Menge an Noten verschicken sollte. Die Länge der Liste zeugt von Gacˇevs Verzweiflung und der großen Hoffnung, die er in die Noten und damit in die Musik setzte. Seit Sommer 1939 gab der Musikwissenschaftler die Mine Razvedcˇik (Kundschaftler) im Kreis Jagodnoe (37) als seinen Aufenthaltsort an. Im Juli schrieb er, dass er nie zuvor so viel an die Flöte gedacht hatte wie im ersten Jahr seiner Haft. Er träumte buchstäblich von ihr und davon, dass er sie spielte. Des Weiteren beschäftigte ihn die Idee, einen Roman über sein Leben zu schreiben, an dem er gedanklich arbeitete. Er verspürte ein starkes Bedürfnis danach, klassische Musik zu hören und hat ständig etwas vor sich her gesungen oder gepfiffen. Im August 1940 schrieb er, dass er oftmals Glinkas Lied Somnenie (Zweifel) summte, vor allem das Motiv zum Text »ich weine, ich schluchze«.1911 Auf diese Weise konnte Musik ihm helfen, seine Gefühle zu verarbeiten. Im August 1939 bekam Gacˇev die Nachricht, dass die Flöte im Dorf Orotukan (40) eingetroffen war; sie wurde ihm aber frühestens im Dezember 1939 zugestellt. Gacˇev bat seine Frau wiederholt um Noten und jetzt auch um Bücher: Wörterbücher (darunter ein deutsch-russisches), Lehrbücher für Fremdsprachen und Musiklehre sowie Werke russischer und ausländischer Schriftsteller. Erst am Ende dieser langen Liste folgten Vitamin C, Milch- und Trockeneipulver sowie einige kleinere Kleidungsstücke. Da die Zustellung der Pakete jedoch lange dauerte, schrieb er im November 1939, dass sie gar keine mehr senden sollte.1912 Im November 1940 teilte er mit, dass er an keine zukünftigen Werke mehr, sondern ganz konkret an materielle Bedürfnisse dachte: an Fette, Eiweiße und konzentrierte Kohlenhydrate, die an seinem Haftort nicht zu bekommen waren. 1909 1910 1911 1912

Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003, S. 53 f. Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003, S. 59 f. Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003, S. 66, 68, 72, 87. Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003, S. 77, 85.

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Seine künstlerischen Pläne und Ideen, von denen er noch im August 1939 schrieb, dass sie ihn nicht ruhig schlafen ließen und ihn durchgehend beschäftigten, waren nicht mehr aktuell. Er hatte offenbar den Punkt überschritten, an dem Kunst ihm eine Hilfe sein konnte, denn ein Jahr zuvor, im November 1939 schrieb er noch, dass er umso unaufhaltsamer und sehnsüchtiger dem Schaffen zustrebte, je schwerer er es hatte. Sein Gedächtnis wurde schwächer und er spürte, wie er geistig verkümmerte.1913 Dieser Zustand hielt jedoch nicht an, denn bereits Ende Dezember 1940 berichtete der Musikwissenschaftler erneut von seinen schöpferischen Plänen. Doch die Essenz seines Daseins schien ihm nicht sein früheres Leben, sondern die Arbeit mit dem Spaten und dem Karren, mit der Axt und der Säge zu sein, die sich so anfühlte, als ob er seit seiner Jugend nichts anderes getan hätte. Und doch berichtet sein ehemaliger Mithäftling auf der Kolyma, Michail Sˇul’man, der vor der Haft als stellvertretender Leiter des Aleksandrov-Gesangs- und Tanzensembles tätig gewesen war, dass Gacˇev auch noch bei den schwersten Arbeiten und in der größten Kälte über klassische Musik nachdachte und darüber mit Mithäftlingen sprach.1914 Im Februar 1941 berichtete Gacˇev seiner Frau, dass er beim Fällen und beim Abtransport von Bäumen eingesetzt wurde und bei Temperaturen bis zu -66 8C zehn Stunden lang draußen arbeiten musste. Er beklagte sich darüber, dass er seit seinem Eintreffen im Lager überwiegend bei schweren Arbeiten eingesetzt worden war. Kunst interessierte beim Holzschlag kaum jemanden, sodass es seit Mai 1940 keinerlei »Laienkunst« in seiner Lagerabteilung gegeben hat. An schöpferische Arbeit dachte er nun wieder gar nicht mehr und bezeichnete seine früheren diesbezüglichen Pläne, die er hatte im Lager realisieren wollen, als Wahnideen eines Irren.1915 Nach dieser schweren Zeit mit auslaugender Arbeit, die seine Psyche angriff, hatte Gacˇev 1942 das Glück, in ein Lagerorchester aufgenommen zu werden.1916 In einem Ende August 1943 in Orotukan verfassten Brief berichtete er über dieses Kollektiv und seine Sommertournee.1917 Diese hat zwei Monate gedauert und über 60 Auftritte umfasst. Oftmals ist das Orchester zweimal am Tag aufgetreten. Einige Male hat es direkt in den Minen unter freiem Himmel gespielt. Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003, S. 79 – 81, 92 f. Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003, S. 95 f., 186 f. Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003, S. 100, 102. Ein Foto dieses Orchesters ist in Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003 reproduziert. Es zeigt zwei Trompeter, einen Oboisten oder Klarinettisten (nicht klar erkennbar), zwei Gitarristen, zwei Bajanisten, einen Posaunisten und Gacˇev an der Flöte. Neben den Musikern, die vor einer Baracke im Freien spielen, sitzt ein Mann, der eine Apparatur betätigt. Vermutlich handelt es sich um eine Apparatur zur Übertragung von Musik. In diesem Buch sind auch Karikaturen von Gacˇev im Lager abgebildet. 1917 Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003, S. 104 – 108. 1913 1914 1915 1916

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Dabei musste es mit vier weiteren Orchestern konkurrieren, welche gleichzeitig die Kolyma bereisten. Als Gacˇev diesen Brief schrieb, arbeitete das Orchester an einem neuen Programm, um Mitte September erneut auf eine Tournee zu gehen. Es gab jedoch Probleme mit Noten, so Gacˇev weiter. Deswegen hatte der Lagerleiter bereits im Mai Gacˇevs Ehefrau 300 Rubel überwiesen und ihr sechs Telegramme mit Angaben zu den gewünschten Noten gesendet. Da bis Ende August noch keine Antwort vorlag, wiederholte der Musikwissenschaftler in seinem Brief, welche Noten gewünscht waren. Darunter waren L’Arl¦sienne von Bizet (unklar, ob die Bühnenmusik oder die Suiten), Walzer-Fantasie von Glinka, Balˇ ajkovskij, Griegs Peer-Gynt-Suiten, Marsch lett-Suiten und Capriccio Italien von C aus Richard Wagners Tannhäuser (trotz des Zweiten Weltkriegs!), Barcarole aus Hoffmanns Erzählungen von Offenbach, Kaukasische Skizzen von Michail Ippolitov-Ivanov, ein Potpourri aus Verdis Traviata, Geschichten aus dem Wienerwald von Johann Strauss, Marsch aus Verdis Aida, Rosamunde-Ouvertüre von Schubert, J. S. Bachs Doppelkonzert für zwei Violinen, Ouvertüren aus Wilhelm Tell und Die diebische Elster von Rossini, sowjetische patriotische Lieder und Kriegslieder, Neuigkeiten des Jazz sowie Duos für zwei Violinen. Des Weiteren bat Gacˇev um Saiten für Violine und Gitarre sowie Schulen für Gitarre, Zugposaune und Flöte. Was die genannten Orchesterwerke betraf, so wünschte sich Gacˇev Fassungen für ein Salon-Orchester oder Klavierauszüge. Wenn die Kosten für das Besorgen und Verschicken der Noten 300 Rubel überschreiten sollten, so schrieb er, würde Geld nachkommen. All dies zeigt, dass Gacˇev sich nun in einem Lagerpunkt aufhielt, in dem viel Wert auf Musik gelegt wurde, und zwar befand er sich im Verwaltungszentrum der Südlichen Bergbauverwaltung (JuGPU; Juglag) des Sevvostlag in der Siedlung Orotukan. Als Adresse gab er die »Kulturerziehungsabteilung« des Juglag an. Gacˇevs Frau erfüllte schließlich seine Bitte. Offensichtlich war es dieser Abteilung nicht möglich, Noten auf offiziellem Wege zu bekommen, denn in einem Brief vom Sommer 1944 bat Gacˇev erneut darum.1918 Er scheint sich so gut erholt zu haben, dass es ihm nichts ausmachte, für fünf Tage zu einem außerordentlichen Einsatz als Holzfäller eingezogen zu werden. Er schrieb sogar, dass er sich auf die physische Arbeit und die Waldbeeren freue. Während der Sommertournee, so berichtete Gacˇev weiter, traf er zwei ehemalige Studenten seiner Ehefrau, die bei ihr am Moskauer Konservatorium Musikgeschichte belegt hatten und nun als ehemaliger Häftling bzw. Häftling im Magadaner Musikleben tätig waren. Dabei handelte es sich um den bereits erwähnten Klarinettisten Michail Micheev sowie den Pianisten Ananij Sˇvarcburg (vgl. weiter unten in diesem Kapitel). Obwohl die Künstler viel unterwegs waren, erlaubte es die Arbeit in der 1918 Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003, S. 133.

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»Kulturbrigade« Gacˇev, sich intellektuellen Studien zuzuwenden, denn er lernte Englisch, las viel und schrieb, dass er viel Freizeit hatte. In den Abendstunden, so erinnerte sich ein Mithäftling im Jahr 1988, hielt Gacˇev für die anderen Mitglieder der »Brigade« Vorlesungen über Musikgeschichte, Kunst- und Literaturgeschichte sowie Geschichte im Allgemeinen.1919 Die »Kulturbrigade« bestand nur aus inhaftierten Männern, so berichtete ˇ Gacev in mehreren Briefen. Darunter waren vier Schauspieler, ein Bariton aus dem Leningrader Malyj-Operntheater, zwei Tänzer, ein Balalaika-Spieler sowie ein kleines Orchester aus 16 Musikern mit drei Geigen, Klarinette/Saxophon, Flöte, Posaune, zwei Trompeten, zwei Bajans (Knopfakkordeons), Tuba, DomraKontrabass, zwei Gitarren, Alt-Balalaika und Schlagzeug. Im Programm überwogen klassische Stücke und sowjetische Lieder, meist ist auch ein westeuropäischer Tanz dabei gewesen.1920 Im Januar 1944 zog die »Kulturbrigade« nach Neksikan (12) um, 25 km westlich von Susuman (14), einen Ort, welcher nicht weit vom Kältepol der Erde entfernt liegt, weil die Südliche Bergbauverwaltung (JuGPU) mit dem Zentrum in Orotukan aufgelöst wurde.1921 In Neksikan wurde sie mit der örtlichen »Kulturbrigade« zu einem Orchester aus 30 Musikern zusammengelegt. Aus ihnen konnte, je nach Gelegenheit, ein Salon-, ein Jazz- sowie ein Blasorchester gebildet werden. Und auch dieses Kollektiv ist oftmals auf Tourneen gegangen, welche einen bis anderthalb Monate dauerten. Dazwischen wurden jeweils ca. einen Monat lang neue Programme eingeübt. Bespielt wurden alle Lagerpunkte, so Gacˇev, und im Sommer traten die Musiker draußen in den Minen auf. Die Interpretationen der »Kulturbrigade« nannte er jedoch primitiv, weswegen er sich in Bücher flüchten und daraus Kraft schöpfen musste.1922 Der ehemalige Kolyma-Häftling Nikolaj Jablin, welcher ebenfalls aus Bulgarien stammte und Gacˇev vor der Haft sehr gut kannte, beschrieb in seinen Erinnerungen aus dem Jahr 1963 einen Auftritt der »Kulturbrigade« aus Nekˇ aj-Ur’ja (16) statt, in der Häftlinge im Goldabbau sikan: Er fand in der Mine C arbeiten mussten. In einer Mittagspause im Sommer begann plötzlich ein Orchester, einen Marsch zu spielen. Im Flötisten des Orchesters erkannte Jablin Dmitrij Gacˇev und ging in der Pause zu ihm. Gacˇevs Augen seien traurig gewesen, und das begonnene Gespräch stockte. Als das Orchester wieder zu spielen begann, hörte Jablin es nicht, weil er zu sehr in Erinnerungen versunken war. Dann intonierten die Musiker aber ein von Jablins Sohn gern gespieltes Kinderlied, und er musste weinen. Unter schweren Arbeitsbedingungen konnten 1919 1920 1921 1922

Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003, S. 111 f., 114 – 116, 201. Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003, S. 112 f., 133. Birjukov, Zˇizn’ na kraju sud’by, 2005, S. 441. Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003, S. 120, 127 f., 159.

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die Häftlinge demnach musikalische Auftritte direkt am Arbeitsplatz überhören. Wenn sie aber außermusikalische Ereignisse mit einem bestimmten Stück verbanden, konnte sie dieses erreichen. Abends kam Gacˇev in Jablins Baracke und brachte ihm Brot mit – den größten Reichtum im Lager. Dies kann als Hinweis darauf interpretiert werden, dass die Musiker ausreichend versorgt waren.1923 Im August 1945 trat in Neksikan die Truppe des Magadaner Theaters auf und spielte u. a. zwei Konzerte. Besonders berührt haben Gacˇev die Auftritte von Ananij Sˇvarcburg mit Stücken von Chopin und von Sof ’ja Gerbst (er nannte sie im Brief Gerbet, wie es manchmal auch fälschlicherweise in Magadaner Proˇ ajkovskijs grammzetteln geschehen ist) mit Orchester, die den ersten Teil von C Klavierkonzert (vermutlich dem ersten) interpretiert hat. Diese Stücke haben ihn zu Tränen gerührt.1924 Gacˇevs Briefe reißen im Jahr 1945 ab. Aus seiner Rehabilitationsurkunde von 1955 geht hervor, dass er im November 1945, kurz vor Ablauf der ersten Haftzeit im Januar 1946, wiederholt verurteilt wurde, und zwar gemäß § 58 – 10, Teil 2 und § 58 – 11 zu zehn Jahren Lagerhaft und fünf Jahren Einschränkung der Bürgerrechte.1925 Er wurde in das Dorlag transportiert, wo er am 17. Dezember 1945 vermutlich an Herzversagen starb.1926 Ananij Sˇvarcburg (1918 – 1974) und Aleksandr Dzygar (1916 – 2002) Die in diesem Abschnitt behandelten Musiker stammten beide aus der Stadt Harbin, weswegen zunächst ein Einblick in die Geschichte dieses Ortes gegeben werden soll. Die russische Exklave Harbin bildete das Verwaltungszentrum der KVZˇD [Kitajsko-Vostocˇnaja zˇeleznaja doroga – Ostchinesische Eisenbahn] im Nordosten Chinas. Diese Eisenbahnverbindung wurde als ein Zweig der Transsibirischen Eisenbahn zwischen 1897 und 1903 erbaut und gehörte zu Russland bzw. zur Sowjetunion. Im März 1935 wurde sie an das japanische »Kaiserreich« in der Mandschurei Mandschukuo verkauft, was zu einer Welle der Reemigration aus Harbin führte.1927 Viele der in die Sowjetunion zurückgekehrten Harbiner wurden gemäß dem Erlass Nikolaj Ezˇovs Nr. 00593 vom 20. September 1937 der Spionage für Japan angeklagt und mit einer Lagerhaft oder mit dem Tod bestraft.1928 Die Stadt Harbin ist in den letzten Jahren des 19. und den ersten Jahren des 20. Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003, S. 183 – 185. Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003, S. 166. Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003, S. 179 f. Birjukov, Zˇizn’ na kraju sud’by, 2005, S. 447. Zur Geschichte der Ostchinesischen Eisenbahn siehe: Urbansky, Sören: Kolonialer Wettstreit: Russland, China, Japan und die Ostchinesische Eisenbahn, 2008. 1928 Blinov, Butovskij poligon, Bd. 1, S. 355 f. 1923 1924 1925 1926 1927

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Jahrhunderts erbaut worden. Über das dortige Leben in den 1920er- bis 1940erJahren berichtet die ehemalige Bewohnerin dieser Stadt Lidija Jagunova (*1921),1929 die heute in Magadan lebt. Hierher ist sie im Jahr 1955 von Harbin aus ihrem aus dem Gulag freigekommenen Mann nachgereist.1930 Nach der Oktoberrevolution bildete Harbin ein Auffangbecken für Emigranten aus der neu entstandenen Sowjetunion, aber es fühlten sich wegen der Unruhen in der Sowjetunion auch solche Menschen dazu gezwungen, in Harbin zu bleiben, die nur zu Besuch gekommen waren. Zu ihnen gehörten auch die Eltern Lidija Jagunovas. Der Vorteil für russische Emigranten in Harbin war, dass sie keine neue Sprache lernen mussten. Sie fanden dort eine sowohl den russischen Traditionen vor dem ersten Weltkrieg verbundene als auch von den Lebensbedingungen her moderne Stadt vor, die als »östliches Moskau« bezeichnet wurde. Das Musikleben in Harbin war reichhaltig: Es gab eine Musikhochschule, ein Sinfonieorchester und ein Musiktheater. Jazz stieß dort auf Interesse: Der legendäre Jazzman Oleg Lundstrem [Lundström] (1916 – 2005) ist in Harbin aufgewachsen und hat dort sein Wirken begonnen. Viele berühmte sowjetische Musiker kamen nach Harbin, um Konzerte zu geben, darunter der Sänger Sergej Lemesˇev. Ananij Sˇvarcburg Dmitrij Gacˇev schrieb über den Pianisten Ananij Sˇvarcburg, den er während der Sommertournee 1943 auf der Kolyma traf: Besonders beeindruckt hat mich Sˇvarcburg (aus der Klasse von Prof. Igumnov). Er ist eine herausragende Persönlichkeit, sehr intelligent, kultiviert, ein umfassend gebildeter junger Mann mit edlen Regungen – das völlige Gegenteil zum Großteil der Moskauer jungen Pianisten, beschränkten und einfältigen selbstverliebten Narzissen.1931 1929 Sˇesˇina, Svetlana: »Russkij Charbin – iscˇeznuvsˇaja civilizacija glazami Lidii Jagunovoj«, in: Kolymskij trakt, 2. August 2006 (Nr. 31), S. 12 u. 13; 9. August 2006 (Nr. 32), S. 12 u. 13; 16. August 2006 (Nr. 33), S. 12 u. 13. 1930 Nach der Verhaftung ihres Mannes Dmitrij Mitte der 1940er-Jahre hatte Lidija Jagunova drei Jahre lang vergeblich versucht zu erfahren, was mit ihm geschehen war. Schließlich erfuhr sie, dass er als »sozial gefährliches Element« verurteilt worden war. Nach Stalins Tod kam endlich ein Telegramm von ihm, dass er lebe, dass er aus dem Lager entlassen sei und Lidija und die beiden gemeinsamen Kinder in Magadan erwarte. Lidija gab ihre Arbeit als Dozentin für Russisch am Polytechnischen Institut in Harbin auf, wo sie junge Chinesen unterrichtete, und brach mit den Kindern, ihren Eltern und zwei Koffern ins Ungewisse auf – nach Magadan. Hier wohnten sie alle gemeinsam in einem 11 m2 kleinen Zimmer und waren trotzdem glücklich, weil sie wussten, wie selten eine Familienzusammenführung nach einer Lagerhaft war. Als gläubige Familie dankten sie Gott, dass ausgerechnet sie dieses Glück hatten. 1931 ?b_RV^^_ ]V^p `_aQXY\ ISQagRdaT /YX [\QbbQ `a_e. 9Td]^_SQ/ – nc_ pa[Qp Y^UYSYUdQ\m^_bcm, Slb_[_-Y^cV\\YTV^c^lZ, [d\mcda^lZ, iYa_[__RaQX_SQ^^lZ o^_iQ, b R\QT_a_U^l]Y `_alSQ]Y – `_\^Qp `a_cYS_`_\_W^_bcm R_\miY^bcSQ ]_b[_Sb[Yf ]_\_Ulf `YQ^Ybc_S – cd`lf Y _TaQ^YhV^^lf bQ]_S\oR\V^^lf ^QagYbb_S. Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003, S. 107 f.

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Ananij Sˇvarcburg wurde 1918 in Harbin geboren. Wie er in einer 1947, kurz nach seiner Freilassung verfassten kurzen Autobiografie berichtet, bekam er im Alter von fünf Jahren den ersten Musikunterricht. 1935 beendete er als Pianist die Glazunov-Musikhochschule in Harbin und konzertierte in großen chinesischen Städten. 1936 siedelte er mit seiner Mutter nach Moskau um und begann ein Klavier-Studium am Konservatorium.1932 Wie sich der Geiger Aleksandr Dzygar später erinnerte, brach Sˇvarcburg voller Enthusiasmus in die Sowjetunion auf, aus der wirtschaftliche Erfolge vermeldet wurden. 1937 zog die Familie nach Leningrad um, wo Ananij seine Ausbildung am Leningrader Konservatorium fortsetzte. Am 31. Januar 1938 aber wurde er verhaftet und im Mai wegen »konterrevolutionärer Tätigkeit« vom Sonderkollegium des NKVD SSSR zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt.1933 Im August 1938 wurde er nach Magadan transportiert. Nachdem er eine Zeit lang zusammen mit den anderen Häftlingen gearbeitet hatte, wurde er in die »zentrale Kulturbrigade« des Maglag (vgl. Kapitel B.2) aufgenommen. Dafür, dass er während des Zweiten Weltkriegs »gute Dienste bei der Motivierung der Arbeiter durch Musik geleistet« hatte, wurde er ein halbes Jahr früher, und zwar am 31. Juli 1947, entlassen.1934 Der Pianist trat in Magadan unter anderem mit folgenden Stücken auf: einer Polonaise von Chopin, Skrjabins Êtude op. 8 Nr. 121935 und Liszts Ungarische Rhapsodie Nr. 12.1936 Er wurde aber auch als Dirigent eingesetzt, z. B. im April 1947 für das Schauspiel Der tolle Tag oder Figaros Hochzeit von Beaumarchais oder im Oktober 1947 für die Schauspielmusik zu Carlo Goldonis Komödie La locandiera, welche von Leonid Varpachovskij inszeniert und mit Musik versehen wurde, oder für andere Schauspielmusiken. Sˇvarcburg war manchmal auch für die Auswahl der Schauspielmusik zuständig.1937 Nach seiner Freilassung arbeitete Sˇvarcburg von August 1947 bis März 1948 als musikalischer Leiter des Magadaner Theaters. Relativ bald, am 12. März 1948, gelang es ihm, die Kolyma zu verlassen.1938 Von seinem Schicksal erzählt seine Tochter Natal’ja,1939 die noch in Magadan 1932 Die Quellen zu Sˇvarcburgs Leben divergieren in den Angaben zu seinem Hauptfachlehrer am Konservatorium. Während z. B. Gacˇev von Konstantin Igumnov spricht, berichtet Sˇvarcburgs Tochter, dass es Genrich Nejgauz gewesen sein soll. 1933 Sˇvarcburgs Tochter Natal’ja bringt die Verurteilung ihres Vaters mit seiner Herkunft aus Harbin in Verbindung, was sicherlich nicht unbegründet ist. Sˇvarcburg, »Muzy v snegach«, 2007, S. 3. 1934 Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 97; Kozlov, Aleksandr : »Sud’ba pianista Sˇvarcburga«, in: Magadanskaja pravda, 11. Februar 2004, S. 6. 1935 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 29, l. 15. 1936 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 40, l. 65. 1937 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 39, l. 14 f., 17 f., 28. 1938 Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 97. 1939 Sˇvarcburg, »Muzy v snegach«, 2007, S. 3 u. 8. Ihrem Artikel sind Fotos ihres Vaters bei-

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geboren wurde. Aus ihren Erinnerungen geht hervor, dass Sˇvarcburg als Häftling zunächst irgendwo auf der Kolyma als Holzfäller tätig gewesen und von Musikern einer »Kulturbrigade« aus Magadan gerettet worden war, die von ihm in Magadan berichtet hatten, woraufhin er an das Theater geordert wurde. Auch seine zukünftige Frau, Inna Rudinskaja, war als Inhaftierte am Magadaner Theater beschäftigt, und zwar in der Näherei. An seine Zeit am Magadaner Theater habe sich Sˇvarcburg stets gern erinnert, so seine Tochter. Neben zahlreichen Konzerten spielte er in verschiedenen Konstellationen viele Tourneen im Gebiet Magadan. Nach der Freilassung zog der in seinen Bürgerrechten eingeschränkte Pianist mit seiner Familie nach Kutaisi in Georgien, wo er an der Musikfachschule tätig wurde. Doch nur ein halbes Jahr später wurde er erneut verhaftet und an den Fluss Angara verbannt, wohin seine Familie nachfolgte. Im Klubhaus der Kleinstadt Enisejsk inszenierte Sˇvarcburg mehrere musiktheatralische Stücke zusammen mit anderen Verbannten und Zivilisten. Mit dem ebenfalls in Verbannung lebenden lettischen Musiker Filipp Sˇvejnik veranstaltete er Liederfeste, an denen bis zu 500 Sängerinnen und Sänger beteiligt waren, sowie Konzerte. Sˇvarcburg entwickelte sich weiter als Pianist, ˇ ajkovskij , denn er studierte neue große Werke ein, z. B. ein Klavierkonzert von C und trug diese mit Klavierbegleitung vor. Unter seiner Mitwirkung kam im Frühjahr 1952 die Oper Majskaja nocˇ (Die Mainacht) von Rimskij-Korsakov in Enisejsk zur Aufführung. Trotz schwerer Lebensbedingungen war Sˇvarcburg im Musikleben der Kleinstadt sehr aktiv und bildete zahlreiche Jugendliche an der pädagogischen Fachschule in Musik aus. 1954 wurden Sˇvarcburg und seine Frau rehabilitiert und zogen nach Krasnojarsk, wo der Pianist 20 Jahre lang, bis zu seinem Tod, als Leiter der Philharmonie, Pianist und Lektor arbeitete. Er trat oft in der Presse, im Fernsehen und im Radio auf, veranstaltete Musikfeste und Festivals. Er konzertierte viel im Gebiet Krasnojarsk, nicht nur mit dort lebenden Musikern, sondern auch mit solchen aus Moskau und Leningrad, darunter dem Prokof ’ev-Streichquartett, dem Borodin-Streichquartett und dem Pianisten Jakov Zak. 1974 veröffentlichte das offizielle Presseorgan des Komponistenverbands Sovetskaja muzyka einen Nachruf auf Sˇvarcburg. Dort heißt es, selbstverständlich ohne eine Erwähnung seiner Haftzeit, weil der Nachruf in Brezˇnevs Regierungszeit der Stagnation verfasst wurde, er sei ein vielseitig begabter Musiker und eine Person des öffentlichen Lebens gewesen. 20 Jahre lang habe er der Philharmonie in Krasnojarsk als künstlerischer Leiter vorgestanden und habe als Solist mit Orchestern aus Omsk, Irkutsk und Moskau musiziert. Er sei oft vor Studenten, Schülern und in verschiedenen Betrieben aufgetreten, auch gefügt, unter anderem eines, auf dem er zusammen mit dem Chansonnier Vadim Kozin im Jahr 1946 auf einer Magadaner Bühne abgebildet ist.

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mit Vorträgen über Musik. Er sei Kommunist und Mitglied des regionalen Friedenskomitee-Präsidiums [Kraevoj komitet zasˇcˇity mira] gewesen.1940 Der Nachruf liest sich so, als ob Sˇvarcburgs Leben ohne die Erfahrung des Gulag und der Verbannung verlaufen sei. Aleksandr Dzygar Der Geiger Aleksandr Dzygar war unwesentlich älter als Ananij Sˇvarcburg.1941 Er wurde als Sohn ukrainischer Eltern am 26. August 1916 ebenfalls in Harbin geboren und absolvierte wie Sˇvarcburg die dortige Glazunov-Musikhochschule in der Klasse von Prof. Urie˙l’ Gol’dsˇtejn. Nach Abschluss seines Studiums stand er am Beginn einer vielversprechenden Karriere, denn er gewann zwei internationale Wettbewerbe, die in China ausgetragen wurden, und machte Aufnahmen bei der Schallplattenfirma Viktor.1942

Abb. 61: Aleksandr Dzygar vor der Haft, ca. 1943. Memorial Moskau, f. 1, op. 4, l. 9.

Seit 1943 arbeitete er als Konzertmeister des Harbiner Sinfonieorchesters, konzertierte viel als Solist und als Primarius eines Streichquartetts und unterrichtete. Sein Repertoire umfasste solch anspruchsvolle und virtuose Werke wie Beethovens Kreutzersonate, Henryk Wieniawskis 2. Violinkonzert, Griegs Sonate c-Moll, Claude Debussys Sonate b-Moll, Zigeunerweisen und Romanza Andaluza von Sarasate sowie Guitare von Moritz Moszkowski und Sarasate. Als Primarius spielte er Streichquartette von Sergej Taneev, Rimskij-Korsakov, Ippolitov-Ivanov, Dvorˇ‚k, Schubert, Glinka, Felix Mendelssohn Bartholdy, Boroˇ ajkovskij. Kritiker bescheinigten ihm »einen ausnehmend starken Ton din und C und große Expressivität«. 1940 Sovetskaja muzyka, 1974, Nr. 10, S. 144. 1941 Akte Dzygar im Memorial-Archiv Moskau, f. 1, op. 4; Savcˇenko, »Skripacˇ iz Charbina«, 12. November 1988, S. 3; Verizˇskaja, Tat’jana: »Skripka prodolzˇala zvucˇat’«, in: Na sopkach Man’cˇzˇurii (Novosibirsk), Nr. 21, Juli 1995. 1942 Davon konnte bislang keine ausfindig gemacht werden.

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Am 28. August 1945 war Dzygar als Konzertmeister am Parade-Konzert für die Rote Armee in Harbin beteiligt. Am 29. Mai 1998 schrieb er folgende Erinnerungen darüber für die Gesellschaft Memorial in Moskau auf: Nach dem Parade-Konzert des Harbiner Sinfonieorchesters […] wurde ich am 31. August 1945 zu einem fünfzehnminütigen Gespräch in die Harbiner Kommandantur des SMERSˇ1943 vorgeladen. Nach dem »Gespräch« verschwand ich für 18 Jahre. Nachts wurde ich nach Grodekovo1944 gefahren, verbrachte dann neun Monate im Gefängnis,1945 und ein Sonderkollegium verurteilte mich ohne ein Gerichtsverfahren zu zehn Jahren Lagerhaft. Ich wurde auf die Kolyma gebracht, mit der Vorschrift, nur bei physischer Arbeit eingesetzt zu werden. Ich habe überlebt.1946

Auffällig an dem Programm des Harbiner Sinfonieorchesters zur Ehre der Roten Armee ist, dass es vollständig aus Stücken russischer Komponisten bestand,1947 die hauptsächlich im 19. Jahrhundert gewirkt hatten, darunter Musorgskij, ˇ ajkovskij, Glinka und Borodin, und nicht aus StüLjadov, Rimskij-Korsakov, C cken sowjetischer Komponisten. Lediglich zu Beginn erklang, wie damals üblich, die sowjetische Hymne. Wie Aleksandr Dzygar Jahrzehnte später in einem Gespräch berichtete, dachte er damals, dass man ihm in der Kommandantur zum Konzert gratulieren wollte.1948 In Harbin blieb Dzygars Ehefrau mit zwei gemeinsamen Kindern zurück; die Familie zerbrach an seiner Verhaftung.1949 Die völlig grundlose Verurteilung erfolgte nach qualvollen Monaten der Folter und Ungewissheit gemäß § 58 – 2 und § 58 – 11.

1943 Akronym aus dem Russischen: »Smert’ sˇpionam« (»Tod den Spionen!«); sowjetischer militärischer Nachrichtendienst für Spionageabwehr (von April 1943 bis Mai 1946), der maßgeblich an den Repressionen gegen Soldaten der Roten Armee sowie gegen in NaziDeutschland inhaftierte Staatsbürger der UdSSR beteiligt war. 1944 Grodekovo – russische Ortschaft im Grenzgebiet zu China im Gebiet Blagovesˇcˇensk. 1945 Aus Savcˇenko, »Skripacˇ iz Charbina«, 12. November 1988, S. 3, ist bekannt, dass Dzygar in Ussurijsk im Gebiet Primor’e mit der Hauptstadt Vladivostok in Untersuchungshaft saß. Die Grundlage für Savcˇenkos Artikel bildete ein Interview mit Aleksandr Dzygar. 1946 @_b\V `QaQU^_T_ [_^gVacQ FB? […] ]V^p `aYT\QbY\Y ^Q 15-]Y^dc^do RVbVUd S [_]V^UQcdad B=6AI S FQaRY^V 31-T_ QSTdbcQ 1945 T. @_b\V »RVbVUl« p YbhVX ^Q 18 \Vc ! =V^p ^_hmo SlSVX\Y S T_a. 4a_UV[_S_, XQcV] S coam]V p `a_Rl\ 9 ]VbpgVS, Y ?B? (_b_R_V b_SVjQ^YV RVX bdUQ) ^Q UVbpcm \Vc b_b\Q\_ ^Q ;_\l]d b `aVU`YbQ^YV] Yb`_\mX_SQcm c_\m[_ ^Q eYXYhVb[Yf aQR_cQf. P SlWY\ . Akte Dzygar im Memorial-Archiv Moskau, f. 1, op. 4, l. 16ob. 1947 Akte Dzygar im Memorial-Archiv Moskau, f. 1, op. 4, l. 16. 1948 Il’ves, Michail: »Prosˇcˇal’noe adazˇio dlja skripki s razlukoj«, in: Pjatnica (Magadan), 25. Juni 1998, S. 6. 1949 Etwas ausführlicher dazu in: Jagunova, Lidija: »Davno? Net, nedavno!«, in: Pjatnica (Magadan), 9. Juli 1999 (Nr. 129 – 130), S. 4.

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Abb. 62: Programm des Konzerts des Harbiner Sinfonieorchesters zu Ehren der Roten Armee, 28. August 1945. Memorial Moskau, f. 1, op. 4, l. 16.

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Als der Geiger auf der Kolyma eintraf, erfuhr Ananij Sˇvarcburg davon, der Dzygar aus Harbin kannte. Er legte bei den Verantwortlichen für die Kulturarbeit, die seine Meinung wegen seines großen Könnens schätzten, ein gutes Wort für ihn ein, sodass Dzygar für die »Kulturbrigade« des Maglag vorspielen durfte, anstatt zu einem Lagerpunkt weitergeschickt zu werden, wo er schwere körperliche Arbeit hätte leisten müssen. Doch beim Probespiel fiel Dzygar unerwarteterweise durch, er konnte kein Stück über wenige Anfangsnoten hinaus spielen. Schuld daran war eine starke Depression, die ihn beeinträchtigte. Nur das persönliche Engagement Sˇvarcburgs und Varpachovskijs, die damals beide Mitglieder der »Kulturbrigade« waren, sicherte ihm den Verbleib dort. Ergreifend ist Dzygars Beschreibung der Situation, in der er zu seinem musikalischen Können zurückfand. Dies berichtete er Boris Savcˇenko: Und plötzlich kam eines Tages alles wieder. Es war abends. In der Baracke gab es einen Waschraum, ich versteckte mich immer wieder dort und versuchte, mich zu erinnern, und plötzlich kam der Durchbruch – ich spielte das ganze Konzert von Mendelssohn mit einer Leichtigkeit, die plötzlich da war. Ich öffne die Tür – Stille, alle sitzen und hören zu, ohne sich zu bewegen. Und dann fingen sie an, mir zu gratulieren.1950

Neben der Arbeit in der »Kulturbrigade« spielte Dzygar im Orchester des Gor’kij-Theaters, wo er als Konzertmeister und Dirigent tätig war. Ab 1948 arbeitete er an dem aus der »Kulturbrigade« des Maglag hervorgegangenen Revuetheater ME˙T. In den Jahren 1947 bis 1949 dirigierte er folgende Aufführungen im Bereich des Musiktheaters: Strel’nikovs Cholopka, K‚lm‚ns Gräfin Mariza und Bogoslovskijs Odinnadcat’ neizvestnych (Die elf Unbekannten).1951 Doch Anfang 1949 ereilte ihn das als umgangen geglaubte Schicksal – als politischer Häftling wurde er in einen anderen Lagerpunkt transportiert und dort zu schwerer körperlicher Arbeit herangezogen. Offenbar handelte es sich dabei um ein Sonderlager, denn Dzygar musste eine Nummer an seiner Kleidung tragen, wie der Erlass über die Gründung der Sonderlager es vorschrieb. Im Lagerpunkt der Lazo-Mine1952 (26) war er als Holzfäller und danach als Bohrarbeiter tätig. Die schwere Arbeit und die Kälte schädigten seine Hände. Doch auch hier kam ihm nach einiger Zeit seine musikalische Ausbildung zu 1950 9 SUadT S _UY^ UV^m SbV _c[al\_bm. Nc_ Rl\_ SVhVa_]. 3 RQaQ[V Y]V\bp d]lSQ\m^Y[, p `apcQ\bp S nc_] `_]VjV^YY, `lcQ\bp hc_-c_ Sb`_]^Ycm Y SUadT b\_S^_ `a_aSQ\_ – blTaQ\ `_\^_bcmo [_^gVac =V^UV\mb_^Q, [Q[Qp-c_ \VT[_bcm cQ[Qp `_pSY\Qbm. ?c[alSQo USVam – cYiY^Q, SbV bYUpc, b\diQoc, ^V iV\_f^dcmbp. 1 `_c_] ^QhQ\Y `_XUaQS\pcm. Savcˇenko, »Skripacˇ iz Charbina«, 12. November 1988, S. 3. 1951 Beurteilungsschreiben, welches Dzygar nach seinem Wegzug aus Magadan 1977 von der Theaterleitung ausgestellt bekam. Akte Dzygar im Memorial-Archiv Moskau, f. 1, op. 4, l. 29. 1952 So benannt nach Sergej Lazo (1884 – 1920), dem Revolutionär und Teilnehmer am Bürgerkrieg in den Regionen Nordostsibiriens und in Primor’e.

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Hilfe: Ein Offizier der Wache war ein Liebhaber der »Laienkunst« und sorgte dafür, dass Dzygar im Heizraum arbeiten durfte, um üben zu können. Doch damit war Dzygars Leidensweg noch nicht beendet: Er wurde in die BerijaAufbereitungsanlage versetzt und musste dort als Maurer arbeiten. Auf die Freilassung im Januar 1953 folgte die Verbannung in die Kleinstadt Ust’-Omcˇug (4) ca. 250 km nordwestlich von Magadan, von der sich der Musiker nur 25 km weit entfernen durfte. Jeden Monat musste er zur Kontrolle in der Kommandantur erscheinen. Er arbeitete als Reinigungskraft im örtlichen »Kulturhaus«, wo er auch im »Laienmusikzirkel« mitspielte und mit dazu beigetragen hat, dass die »Laienkunst« aus Ust’-Omcˇug den zweiten Preis bei einer der »Laienkunstschauen« der Kolyma erhielt. Zeitgleich wurde für das KinoOrchester in Magadan ein Konzertmeister gesucht, und der Stadtkommandant von Magadan sorgte dafür, dass Dzygar die Zeit der Verbannung, die bis 21. April 1956 andauerte, ab Juni 1954 dort verbüßen durfte.

Abb. 63: Mit diesem Ausweisdokument anstelle eines Passes musste sich Dzygar bei der Stadtkommandantur von Magadan monatlich melden. Memorial Moskau, f. 1, op. 4, l. 17.

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Seit September 1954 arbeitete er an der neu gegründeten Musikschule in Magadan und bildete viele später erfolgreiche Musiker aus. 1955 nahm er die Arbeit am Magadaner Theater wieder auf und war dort erneut als Konzertmeister und Dirigent tätig, 1958 wurde er rehabilitiert. In den Jahren 1959 bis 1961 war er musikalischer Leiter des Magadaner Theaters und realisierte unter anderem Aufführungen der Operetten Zigeunerliebe von Leh‚r, Fledermaus von Johann Strauss, Gräfin Mariza von K‚lm‚n und AlÚnusˇka von Vadim Gomoljaka.1953 Der Geiger gestaltete nach seiner Haft auch Solokonzerte am Magadaner Theater, wovon ein erhaltenes Plakat Zeugnis ablegt.1954 Das Konzert mit ihm als Solisten, dem Orchester des Theaters und Dzygars Schülern fand am 6. März 1967 statt.1955 Im ersten Teil dirigierte Dzygar das Streichorchester der Musikschule, welchem er vorstand und welches Händels Passacaglia, sechs Stücke von Sˇostakovicˇ (Präludium, Gavotte, Polka, Walzer, Elegie und Spanischer Tanz) sowie Valse triste von Jean Sibelius aufführte. Es folgten Auftritte anderer Künstler des Theaters sowie von Musikschülern. Den ersten Teil beendeten folgende von zehn Geigern unisono mit Klavierbegleitung vorgetragene Werke: Romanze von Sˇostakovicˇ, Meditation von Massenet und Frühlingslied von Mendelssohn. Es spielte Aleksandr Dzygar mit Geigern aus dem Theaterorchester und seinen Schülern. Im zweiten Teil interpretierte Dzygar mit Orchester den ersten Teil aus Mendelssohns Violinkonzert, den zweiten und dritten Teil aus Wieniawskis Violinkonzert Nr. 2 d-Moll sowie Introduction et Rondo capriccioso von Camille Saint-SaÚns. Es dirigierte Nikolaj Akimov, der als Sonderumsiedler nach Magadan vertrieben worden war und bis April 1952 unter dem Status des Sonderumsiedlers gelebt hatte.1956

1953 Akte Dzygar im Memorial-Archiv Moskau, f. 1, op. 4, l. 29. 1954 In der Pusˇkin-Bibliothek in Magadan wird in der Mappe Scenarii, programmy, plany provedenija massovych meroprijatij ein undatiertes Plakat aufbewahrt. Ergänzt man es durch Unterlagen des Theater-Archivs (s. folgende Anmerkung), so lässt sich das Konzert auf den 6. März 1967 datieren. 1955 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 144, l. 30 – 31ob. 1956 Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 57.

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Abb. 64: Neues und altes Glück in Magadan: vorne von rechts Lidija Jagunova und Alla Beljavskaja, hinten rechts Dmitrij Jagunov, hinten links Aleksandr Dzygar. Privatarchiv Lidija Jagunova.

30 Jahre nach seinem unfreiwilligen Eintreffen auf der Kolyma, im Jahr 1976 verließ Aleksandr Dzygar Magadan und zog mit seiner zweiten Ehefrau, der Sängerin Alla Beljavskaja, die er am Magadaner Theater kennengelernt hatte, und dem gemeinsamen Sohn Andrej nach Moskau, wo er am 31. August 2002 starb.1957 Berührend und nachdenklich stimmend ist Aleksandr Dzygars eigenes Resümee vom 29. Mai 1998 über seine Zeit in Magadan, welches im Archiv der Gesellschaft Memorial in Moskau aufbewahrt wird. Es ist ein Zeugnis seiner menschlichen Größe und Stärke: Danke, Magadan, dafür, dass es dich in meinem Leben gegeben hat! Und dass du gut zu mir warst!1958

Eddie Rosner (1910 – 1976) Das Schicksal des weltweit berühmten Jazz-Trompeters Eddie Rosner hat in den letzten Jahrzehnten, insbesondere zum 100. Jahrestag seines Geburtstags im Jahr 1957 Traueranzeige in: Vecˇernij Magadan, 13. September 2002 (Nr. 37), S. 2. 1958 B`QbYR_ CVRV[,] =QTQUQ^, hc_ Cl Rl\ !, Y Rl\ U_Ra [_ ]^V ! Memorial Moskau, f. 1, op. 4, l. 16ob.

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2010, verstärkt Interesse auf sich gezogen.1959 Da sein Leben erst kürzlich in den Monografien von Gertrud Pickhan/Maximilian Preisler und Dmitrij Dragilev aufgearbeitet wurde,1960 wird im Folgenden der Schwerpunkt auf seine Inhaftierung im Gulag gelegt. Eddie Rosner wurde 1910 als Sohn eines polnisch-jüdischen Schusters in Berlin geboren. Seine Musikausbildung erhielt er als Geiger am Stern’schen Konservatorium, wo er als Sechsjähriger aufgenommen wurde. Anschließend studierte er an der Hochschule für Musik bei Carl Flesch und schloss auch ein Studium im Fach Komposition ab.1961 Rosner begeisterte sich für Jazz, wechselte bald von der Geige zur Trompete und spielte in erfolgreichen Bands mit. 1933 musste er als Mitglied der Weintraub Syncopators vor den Nationalsozialisten aus Deutschland fliehen. Über Holland, Italien und Belgien gelangte er nach Polen, wo er eine international erfolgreiche Jazz-Band gründete. Nach dem deutschen Überfall auf Polen floh Rosner weiter in die Sowjetrepublik Belorus und bekam auch dort die Möglichkeit, ein Jazz-Orchester zu gründen – das Staatliche Jazz-Orchester der Sowjetrepublik Belorus, welches ebenfalls ausgesprochen erfolgreich war und vielfach bei der Truppenbetreuung eingesetzt wurde. Der Erste Sekretär der Kommunistischen Partei von Belorus, Pantelejmon Ponomarenko, hatte eine Schwäche für Jazz und unterstützte Rosner uneingeschränkt. 1943 wurde dem Musiker der Titel »Verdienter Künstler der Sowjetrepublik Belorus« verliehen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs studierte Rosners Orchester ein neues Programm unter dem Titel Vot my i prazdnuem! (Endlich feiern wir!) ein, welches am 10. Juni 1945 in Leningrad uraufgeführt wurde.1962 Ein Manuskript des Literaturwissenschaftlers und Kritikers Kornelij Zelinskij, welches offenbar nicht veröffentlicht wurde, erzählt davon, wie dieses Programm aufgebaut war. Es ist mit »Eindrücke vom Jazz Eddie Rosners« überschrieben und wurde am 2. September 1945 verfasst.1963 Beschrieben wird ein Auftritt im Gor’kij-Kulturund Erholungspark in Moskau. Trotz der Begeisterung für die musikalische 1959 Dies äußerte sich beispielsweise in der Publikation von Ron’zˇina, L. (Hg.): Zolotaja truba. Zˇizn’ i tvorcˇestvo E˙ddi Roznera, 1998, dem Film Jazzman from the Gulag von Pierre-Henry Salfati (1999) und der Doppel-CD 100 Years Of Eddie Rosner : Meeting Song von Melodija (2010). 1960 Pickhan, Gertrud/Preisler, Maximilian: Von Hitler vertrieben, von Stalin verfolgt. Der Jazzmusiker Eddie Rosner, 2010; Dragilev, Dmitrij: E˙ddi Rozner : Sˇmaljaem dzˇaz, cholera jasna!, 2011. Der folgende biografische Überblick für die Zeit vor Rosners Inhaftierung orientiert sich zum großen Teil an der Publikation von Pickhan/Preisler. 1961 Vinogradov, Vladimir: »Prervannoe solo na trube«, in: Sluzˇba bezopasnosti, 1993, Nr. 5/6, S. 78. 1962 Vinogradov, Vladimir : »Mae˙stro iz Berlina. Sud’ba trubacˇa E˙ddi Roznera«, in: Nezavisimaja gazeta, 12. Juli 1996, S. 5. 1963 RGALI: F. 1604 (Zelinskij, K. L.), op. 1, d. 57, l. 27 – 30.

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Ausführung hat das Konzert beim Kritiker Unbehagen und Verdruss ausgelöst. Schuld daran war eine »zur Schau gestellte naive Ideologisierung des Programms«, verbunden mit »moralisch-politischer Belehrung«. Es hat damit angefangen, dass nach der Öffnung des Vorhangs, hinter dem die in Weiß und Salatgrün festlich gekleideten Musiker mit ihren glänzenden Instrumenten zum Vorschein kamen, zunächst ein Mann in Schwarz auf die Bühne trat, um die Zuhörer davon zu überzeugen, dass dieses Jazz-Orchester patriotische Gefühle gegenüber der Sowjetunion hegte. Dies sei eine unnötige Bremse des Programms gewesen. Als erster Programmpunkt wurde daraufhin die Geschichte des Krieges mit musikalischen Mitteln nachgezeichnet. Der Walzer aus dem Film Sous les toits de Paris von Ren¦ Clair (1930) wurde von deutschen Märschen erstickt, danach auch die Geschichten aus dem Wienerwald von Johann Strauss. Schließlich erklangen die ersten Takte aus Dunaevskijs Lied Pesnja o Rodine (Lied über die Heimat), und die deutschen Märsche wurden von russischen und sowjetischen Liedern überwunden. Diese Programmatik schien dem Kritiker für den Jazz im Allgemeinen und dieses Orchester im Besonderen unangebracht und unorganisch zu sein. Der Ideengehalt der Kunst, der notwendig sei, könne nicht darin bestehen, dass eine Conf¦rence in einen Vortrag zur aktuellen Lage verwandelt wird, oder dass ein Saxophon russische Volkslieder spielt, so Zelinskij. Des Weiteren kritisierte er, dass der »hervorragende Lothar Lampel« in gebrochenem Russisch sang, obwohl er sonst auf Englisch gesungen hatte, was besser zu ihm passte. Der Kritiker attestierte dem Orchester ein sehr großes Potenzial. Alle Musiker und insbesondere Rosner beeindruckten ihn durch die Eleganz und Natürlichkeit des Vortrags. Zelinskij wünschte, dass das Orchester sich nicht verstellte, sondern seinen eigenen Stil pflegte. Ließe sich eine solche Kritik im Falle ihres Erscheinens verkraften, war das beim vernichtenden Artikel Elena Grosˇevas Posˇlost’ na e˙strade (Plattheit auf der Bühne), welcher am 18. August 1946 in der Zeitung Izvestija (Nachrichten) veröffentlicht wurde, nicht der Fall.1964 Rosners Musik entspreche nicht den Erwartungen des sowjetischen Publikums, sei ideologisch unreif, rückständig und von schlechter Qualität, so die Autorin. Rosner war von dem Artikel verständlicherweise bestürzt und versuchte im November 1946 gemeinsam mit seiner Frau und der Tochter aus der Sowjetunion zu fliehen, wurde jedoch in L’vov (Lemberg) festgenommen und nach einer fast siebenmonatigen Untersuchungshaft im Lubjanka-Gefängnis in Moskau am 7. Juli 1947 von einem 1964 Grosˇeva, Elena: »Posˇlost’ na e˙strade«, in: Izvestija, 18. August 1946, S. 3. In den 1960ern erzählte Elena Grosˇeva, die damals als Herausgeberin der Sovetskaja muzyka fungierte, dass sie vom Vorsitzenden des Komitees für die Angelegenheiten der Künste Michail Chrapcˇenko die Anweisung bekam, diesen Artikel zu schreiben. Ron’zˇina, Zolotaja truba, 1998, S. 8.

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Sonderkollegium wegen Vaterlandsverrats (§ 58 – 1a) zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Dies war ein mildes Urteil, denn der entsprechende Paragraf sah als Strafe Tod durch Erschießen vor.1965 Möglicherweise wurde für Rosner ein gutes Wort von höher stehenden Instanzen eingelegt, sodass er nicht mit der Todesstrafe, sondern »nur« mit einer Lagerhaft bestraft wurde. Rosners Frau musste eine fünfjährige Verbannung in der Stadt Kokcˇetav in Nordkasachstan verbüßen, und die bei der Verhaftung fünfjährige Tochter wuchs bei einer Freundin der Familie auf. Die Häftlingsakte Rosners mit seinen Verhörprotokollen und Gnadengesuchen konnte in den 1990er-Jahren von mehreren Journalisten und dem Historiker Aleksandr Kozlov in Magadan eingesehen werden. Im Verhörprotokoll wurden als Aussagen des Trompeters festgehalten, dass es ihm in der Sowjetunion sehr gut ergangen sei, und dass er kein Feind der Sowjetunion sei.1966 Dem Vorwurf der Spionage konnte er standhalten,1967 doch er unterschrieb die Anklage, eine Flucht über Polen in die USA geplant zu haben,1968 denn, so berichtete er im Gnadengesuch von 1953, der Untersuchungsführer hatte ihn durch Hunger und die Androhung, ihn so lange im Gefängnis zu behalten, bis er unterschreibe, gequält.1969 Nach der Verurteilung wurde Rosner zusammen mit anderen Häftlingen in Richtung Kolyma transportiert. Seine Schallplatten, die er 1944 eingespielt hatte, wurden aus der Produktion genommen und verboten.1970 Die Lagerverwaltung in Chabarovsk nahm ihn aber am 26. Oktober 1947 vom Transport, weil die Feier der Oktoberrevolution sich näherte und die Verwaltung Rosner im Kulturprogramm einsetzen wollte. Er blieb zwei Jahre in Chabarovsk und spielte in einer Jazz-Band, die aus Häftlingen bestand und sowohl vor der zivilen Bevölkerung als auch vor Häftlingen auftrat. Auftritte der Band wurden zwar im Chabarovsker Radio gesendet, jedoch wurden die Namen der Spieler nicht genannt. Leider wurden alle Aufnahmen, die Rosner damals fürs Radio eingespielt hat,

1965 Berling, Evgenij: »Bylinka pod sapogom«, in: Region (Magadan), 4. September 1998, S. 1. 1966 Berling, »Bylinka pod sapogom«, 4. September 1998, S. 1. Der Häftlingsakte ist eine am 23. Oktober 1953 in Magadan verfasste ausführliche Autobiografie Rosners beigegeben, aus der in Vinogradov, »Prervannoe solo na trube«, 1993, S. 78 f., und in Vinogradov, »Mae˙stro iz Berlina«, 12. Juli 1996, S. 5, in großen Teilen zitiert wird. 1967 Vinogradov, »Mae˙stro iz Berlina«, 12. Juli 1996, S. 5. 1968 Kozlov, Aleksandr : »›Zolotaja truba‹ virtuoza«, in: Vecˇernij Magadan, 26. Mai 2000, S. 7. 1969 Vinogradov, »Prervannoe solo na trube«, 1993, S. 80. 1970 Zˇeleznyj, I.: ZapresˇcˇÚnnye pesni. Pesennik, 2002, S. 11. 1988 erschienen bei Melodija in der Reihe Anthologie des sowjetischen Jazz zwei Schallplatten mit Aufnahmen von Rosners Orchester aus den 1940er-Jahren mit seinen großen Hits Caravan und Prosˇcˇaj, ljubov’ (Goodbye Love!). Genauere Informationen darüber bei Ron’zˇina, Zolotaja truba, 1998, S. 18 f.

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laut Elena Glebova, nach seiner Reemigration nach Deutschland vernichtet.1971 Zum Proben hatte der Trompeter ein Zimmer für sich alleine zur Verfügung gestellt bekommen, musste aber am Ende des Tages in die Häftlingsbaracke zurückkehren.1972 Zwei Jahre später wurde Rosner nach Komsomol’sk-na-Amure versetzt und leitete dort eine »Kulturbrigade«. Aus seinem Schreiben an den Lagerleiter, welches er dort verfasst hat, geht hervor, dass er zusammen mit anderen Häftlingen stark unter dem Hauptaufseher des Lagers leiden musste.1973 Dort komponierte er unter anderem einen Tango für seine Frau sowie ein Wiegenlied für seine Tochter, beide für Akkordeon.1974 Des Weiteren schrieb er, wohl in der Hoffnung auf eine Freilassung, die Suite Za mir vo vsÚm mire (Für den Frieden in der ganzen Welt), in der die Außenpolitik Stalins gepriesen wurde.1975 Die letzte Komposition erwähnte er in einem Gesuch an das Präsidium des Obersten Sowjets, in dem er seinen Fluchtversuch auf den Artikel Plattheit auf der Bühne zurückführte und versprach, für immer in der Sowjetunion zu bleiben und zum Wohle der sowjetischen Kunst beitragen zu wollen. Er bat darum, dass seine Haft durch eine Verbannung ersetzt werde, die er bei seiner Frau und Tochter verbüßen wollte. Fast zeitgleich schrieb er an das Innenministerium, dass seine Gesundheit eine Fortsetzung der Haft nicht erlaube.1976 Nachdem diese Gesuche abgelehnt worden waren, schrieb Rosner an das Zentralkomitee der Partei und an den Kultusminister der UdSSR, aber auch diese Schreiben wurden negativ beantwortet.1977 Im September 1951 beschloss das GULAG schließlich, den Trompeter von der Bucht Vanino aus nach Magadan zu verschiffen. Nach dem kräftezehrenden Transport traf er am 7. Juli 1952 in Magadan ein und wurde in die »zentrale Kulturbrigade« des Maglag (vgl. Kapitel B.2) eingewiesen. Hier leitete er ein JazzOrchester und konzertierte viel, was ihm als haftmindernd angerechnet wurde.1978 Aus einer Beurteilung Rosners durch die Lagerleitung geht hervor, dass er nicht nur musikalischer Leiter der »Kulturbrigade« war, sondern auch 1971 Dies trifft auch auf Aufnahmen zu, die Rosner nach der Lagerhaft in der Sowjetunion eingespielt hat. 1972 Glebova, Elena: »V pamjat’ o belom Armstronge«, in: Kul’tura, 17.–23. August 2000, S. 4. Heute hängt am Schauspielhaus von Chabarovsk eine Gedenktafel für Rosner, denn seinerzeit war hier das Klubhaus des NKVD untergebracht, wo er aufgetreten war. 1973 Petrov, Michail: »Prosˇcˇaj navsegda, Kolyma…«, in: Muzykal’naja zˇizn’, 1994, S. 18. 1974 Pickhan/Preisler, Von Hitler vertrieben, von Stalin verfolgt, 2010, S. 95 f. 1975 Berling, »Bylinka pod sapogom«, 11. September 1998, S. 3. 1976 Ron’zˇina, Zolotaja truba, 1998, S. 11. 1977 Petrov, »Prosˇcˇaj navsegda, Kolyma…«, 1994, S. 18; Petrov, Michail: »E˙ddi Rozner na Kolyme«, in: Magadanskaja pravda, 15. November 1995, S. 3. 1978 Kozlov, Aleksandr : »Po e˙tapu i dobroj vole«, in: Magadanskaja pravda, 10. Februar 1998, S. 3; Petrov, »E˙ddi Rozner na Kolyme«, 15. November 1995, S. 3.

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dirigierte, instrumentierte und als Solo-Geiger auftrat. Im vierten Quartal 1952 hat sein Orchester beispielsweise 57 Konzerte gegeben.1979 Die Tatsache, dass Rosner in Magadan hauptsächlich Geige spielte, wird durch die Erzählung von Marina Bojko, mit der er während seiner Haft in Magadan liiert war, erklärt. Sie berichtet, dass seine Zähne während der Haft durch Skorbut stark gelitten hatten,1980 was für einen Trompeter einer Katastrophe gleichkam. Ein Foto, welches 1989 in Moskovskie novosti (Moskauer Nachrichten) veröffentlicht wurde,1981 zeigt das Orchester Eddie Rosners in Magadan; der Trompeter ist mit einer Geige in den Händen abgebildet. Insgesamt zeigt das Foto 19 Musiker, darunter zwei Frauen. Eine hält ein Cello in der Hand, die andere hat kein Instrument, was entweder auf eine Sängerin oder auf eine Pianistin hinweisen kann. Ansonsten sind zu sehen: drei Saxophonisten, ein Klarinettist, drei Geiger (mit Eddie Rosner zusammen vier), zwei Trompeter, ein Posaunist, zwei Akkordeonisten, ein Schlagzeuger, ein Gitarrist, ein Tubist sowie ein Kontrabassist. In Rosners Orchester in der »zentralen Kulturbrigade« des Maglag spielte beispielsweise der Laienmusiker Ivan Sviridov Saxophon und Klarinette. Er wurde im Jahr 1950 gemäß § 58 zu zehn Jahren Haft und fünf Jahren Einschränkung der bürgerlichen Rechte verurteilt, weil er sich geweigert hatte, Parteimitglied zu werden, obwohl er der Staatsmacht gegenüber loyal eingestellt war. Ein Jahr seiner Lagerhaft verbüßte er im Sevvostlag bei Arbeiten mit der Allgemeinheit der Häftlinge und wurde dann in die »zentrale Kulturbrigade« aufgenommen. Sviridov erinnerte sich in einem Interview 1992, dass Rosner, den er in der »Kulturbrigade« kennenlernte, virtuos Trompete, Geige und Klavier spielte. Sviridov berichtete auch, wie er den Jazz-Titel Caravan für ein Konzert mit Eddie Rosner zusammen probte.1982 Beide waren als Kameltreiber verkleidet, im Hintergrund hing ein Vorhang mit der Darstellung einer Wüste mit Kamelen. Während der Proben sei der Saal voll gewesen und die Zuhörer hätten gejubelt. Rosners Orchester sei für gewöhnlich im Magadaner Stadtpark und im Kino Gornjak (Bergarbeiter) aufgetreten.1983 Nach Stalins Tod schrieb Rosner erneut Gesuche an hochrangige Persön-

1979 Ron’zˇina, Zolotaja truba, 1998, S. 12; Kozlov, »›Zolotaja truba‹ virtuoza«, 26. Mai 2000, S. 7. 1980 Interview der Verfasserin mit Marina Bojko in Heidelberg am 7. Oktober 2006. 1981 Moskovskie novosti, 31. Dezember 1989 (Nr. 52), S. 16. 1982 Eine Interpretation dieses Stückes vom Jazz-Orchester der Sowjetrepublik Belorus unter der Leitung Eddie Rosners und mit ihm an der Trompete aus dem Jahr 1944 ist verfügbar unter : http://www.russian-records.com/details.php?image_ id=11230& l=russian (letzter Zugriff am 17. Januar 2012). 1983 Sirazetdinov, Rustam: »Portret byvsˇego saksofonista v inter’ere…«, in: Magadanskaja pravda, 31. Dezember 1992, S. 2.

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lichkeiten1984 und wurde schließlich im Mai 1954 vorzeitig entlassen. Er kehrte nach Moskau zurück und gründete erneut ein Orchester, welches bald zu den populärsten in der Sowjetunion gehörte. Jedoch waren Rosners technische Möglichkeiten nach dem Skorbut eingeschränkt.1985 Einige Jahre nach seiner Freilassung reiste er erneut und diesmal freiwillig nach Chabarovsk, um zahlreiche Lagerpunkte zu bereisen und dort für die Häftlinge zu spielen.1986 Vom 30. Januar bis 7. Februar 1962 kam er mit seinem Orchester auch wieder nach Magadan, um 17 Konzerte am Theater zu geben.1987 Die Sängerin Nina Dorda, die in Rosners Orchester sang, erinnerte sich zu Beginn der 1990er-Jahre, dass sein Orchester in den 1950er-Jahren ausgesprochen populär gewesen war : Es wurde ohne Unterlass zu Gastspielen durch die ganze Sowjetunion eingeladen, und die Konzerte waren stets ausverkauft.1988 Allerdings durfte der Trompeter nicht ins Ausland reisen und hatte sich vor der Zensur in Acht zu nehmen. Sein damaliger Schlagzeuger Boris Matveev erzählte im Jahr 2000, dass Rosner im Jahr 1969 der Titel »Verdienter Künstler der UdSSR« verliehen werden sollte, was letztendlich aber nicht bewilligt wurde. Dies habe den Trompeter stark getroffen. Und er habe nicht vergessen können, wie seine Musik in Izvestija als platt und abgeschmackt bezeichnet wurde.1989 Während der 1960er-Jahre stellte Rosner mehrere Ausreiseanträge, bekam aber erst 1973 eine Genehmigung, mit einem Zwischenstopp in Berlin in die USA zu reisen. Er blieb in Deutschland, wo er am 8. August 1976 starb.

Wilhelm Otto von Draugel Ende der 1980er-Jahre tauchte in Moskau ein älterer Straßenmusiker auf, welcher das eine Mal alleine, das andere Mal mit anderen Musikern zusammen Trompete spielte. Dieser Musiker ging in mehrere Redaktionen und erzählte seine angebliche Lebensgeschichte, was Publikationen in Zeitungen und Berichte im Fernsehen nach sich zog.1990 Er versuchte, ein Eddie-Rosner-Festival zu 1984 Sein Gesuch an den Vorsitzenden des Ministerrats, Georgij Malenkov, ist vollständig abgedruckt bei Vinogradov, »Prervannoe solo na trube«, 1993, S. 79 f. 1985 Vinogradov, »Mae˙stro iz Berlina«, 12. Juli 1996, S. 5. 1986 Glebova, »V pamjat’ o belom Armstronge«, 2000, S. 4; Repin, Leonid: »Ego nazyvali belym Lui Armstrongom«, in: Komsomol’skaja pravda. Moskovskij vypusk, Nr. 90-p6, 22. Mai 2000, S. 26. 1987 Berling, »Bylinka pod sapogom«, 11. September 1998, S. 3; Kozlov, »Po e˙tapu i dobroj vole«, 10. Februar 1998, S. 3. 1988 E˙psˇtejn, Evgenij: »Nina Dorda«, in: Muzykal’naja zˇizn’, 1993, Nr. 2, S. 24. 1989 Repin, »Ego nazyvali belym Lui Armstrongom«, 22. Mai 2000, S. 26. 1990 Zˇavoronkov, Gennadij: »Kto Vy, Vil’gel’m Otto Draugel’?«, in: Moskovskie novosti, ˇ elovek-prizrak«, in: Literaturnaja Rossija, 31. Dezember 1989, S. 16; Kalita, Vladimir: »C 25. Oktober 1991, S. 24.

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organisieren und reiste mit dieser Idee bis nach Alma-Ata in Kasachstan, worauf ebenfalls Artikel über sein angebliches Schicksal folgten.1991 Anhand dieser Zeitungsartikel sei hier zunächst die Geschichte dieses Menschen, wie er sie selbst hören wollte, erzählt: Wilhelm Otto von Draugel (*17. August 1933) war Sohn einer adeligen Familie aus Königsberg, wo er 1944 in den Volkssturm eingezogen wurde. Zweimal wurde er an der Front schwer verletzt und erhielt dafür zwei Auszeichnungen. Nach Ende des Krieges zog er als Landstreicher durch Litauen und Lettland und schlug sich als Schuhputzer oder Bettler durch. Im Herbst 1945 wurde er festgenommen und in ein sowjetisches Waisenhaus gebracht, wo er als Deutscher gehänselt und geschlagen wurde. Er floh, wurde jedoch erneut eingefangen und in ein Waisenhaus nach Leningrad gebracht, wo er wiederum geprügelt wurde und erneut floh.1992 1947 gelangte er in die Kleinstadt Tichvin bei Leningrad und arbeitete dort als Schlosser und Mechaniker. 1950 wurde er im Alter von 17 Jahren verhaftet, der Brandstiftung in einer Garage beschuldigt und als »sozial gefährliches Element« zu 25 Jahren Lagerhaft und anschließend fünf Jahren Entzug der bürgerlichen Rechte verurteilt. Im Sevvostlag, wo Draugel seine Haft verbüßte, arbeitete er als Holzfäller, Wasserfuhrmann, Totengräber und Bergarbeiter. Von seinem Mithäftling Aleksej Il’in lernte er, Trompete zu spielen. Als dieser starb, ging seine Trompete in den Besitz Draugels über. Schließlich wurde Draugel durch ein Treffen mit Eddie Rosner gerettet. Der Königsberger arbeitete als Holzfäller im Lagerpunkt BudÚnnogo1993 (10) und hörte davon, dass eine »Agitationsbrigade« mit Orchester dorthin kommen sollte. Als dessen Orchesterleiter war Eddie Rosner tätig, der Draugel spielen hören wollte und bewirkte, dass dieser wenige Monate später in sein Orchester nach Magadan abkommandiert wurde. Die Tatsache, dass Eddie Rosner als Häftling, der aus Deutschland stammte, sich in so einer Frage wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg Gehör verschaffen konnte, lässt schon einmal aufhorchen. Ganz unrealistisch erscheint das jedoch nicht, da es sich bei ihm um einen herausragenden Musiker handelte. Draugel berichtete weiter, dass er in Magadan in Rosners Orchester spielte und 1991 Bazilevskaja, L.: »Vozvrasˇcˇenie iz nebytija«, in: Zarja Severa (Palatka), 21. September 1991, S. 5; Kvjatkovskij, O./Mel’cer, I.: »Dzˇazmen iz GULAGa«, in: Trud, 1. August 1991, S. 6. Aus dem zweitgenannten Artikel in der landesweiten Zeitung Trud (Arbeit) geht hervor, dass die Aktiengesellschaft Karavan (Karawane) in Alma-Ata Draugels Vorschlag tatsächlich angenommen hatte und ein Festival vorbereitet hat. Ob es zu dessen Realisierung gekommen ist, oder ob die Pläne durch die gravierenden politischen Umbrüche des Jahres 1991 zunichte gemacht wurden, konnte nicht herausgefunden werden. 1992 Die Berichte Draugels in den vier vorliegenden Zeitungsartikeln unterscheiden sich in Bezug auf diese Lebensphase. Er spricht auch davon, in Gefangenschaft geraten und direkt nach Leningrad gebracht worden zu sein. 1993 Benannt nach SemÚn BudÚnnyj, vgl. Fußnote 738.

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es leichter als zuvor im Lager hatte. Nach der Freilassung Rosners 1954 übernahm er die Leitung des Orchesters. Mehrmals versuchte er zu fliehen, änderte seinen Namen, wurde aber immer wieder festgenommen, sodass er bis 1972 in Lagern einsitzen musste. 1983 soll er jedoch vollständig rehabilitiert worden sein. So weit Draugels Lebensgeschichte, wie er sie selbst erzählte. Auffällig ist, wenn man sich seine veröffentlichen Lebensgeschichten anschaut, dass er gegenüber einem Journalisten 1991 behauptete, nach seiner Freilassung nie einen Pass besessen zu haben.1994 Einem anderen Journalisten erzählte er zwei Jahre zuvor aber, dass er seinen Pass 1989 an das Präsidium des Obersten Rats geschickt hatte, weil er gegen die ihm aufgenötigte sowjetische Staatsbürgerschaft protestieren wollte.1995 Und genau dieser Journalist wollte Draugels Geschichte auf den Grund gehen, weil er sie unplausibel und sensationsheischend fand. Bei seiner Recherche ist herausgekommen, dass er höchstwahrscheinlich nicht mit Draugel selbst, wenn es ihn überhaupt je gegeben hatte, sondern mit einem ehemaligen Berufsverbrecher kommuniziert hat, der sich Draugels Identität angeeignet hatte, wie es in der Welt der Berufsverbrecher üblich war. Immer wieder kommen in Erinnerungen ehemaliger Häftlinge Geschichten darüber vor, wie Berufsverbrecher Mithäftlinge dazu zwangen, ihre Identität mit den Verbrechern zu tauschen, damit deren Haftzeit verkürzt wurde. Über diese Geschichte ist ein sehr guter Dokumentarfilm entstanden, in welchen u. a. viel Bildmaterial aus der Lagerzeit Eddie Rosners und ein Interview mit seiner »Lagerfrau« Marina Bojko eingeflossen ist.1996 Diese hat darin felsenfest behauptet, dass es unter den Menschen, die mit Eddie Rosner in Magadan verkehrt haben, keinen Baron von Draugel gegeben habe. Auch eine Anfrage der Verfasserin bezüglich eines Wilhelm Otto Draugel beim UVD des Magadaner Gebiets hat ergeben, dass in dessen Dokumentation eine Person mit diesem Namen weder unter den Häftlingen noch unter den Verbannten oder Zwangsumsiedlern verzeichnet ist.1997 Es scheint so zu sein, dass hier ein Fall vorliegt, welcher mehr über die Kultur der Berufsverbrecher preisgibt als über Musiker im Gulag, auch wenn ihr Protagonist Trompete gespielt hat. Dieser Mensch, der von sich behauptet hat, Baron von Draugel zu sein, wollte unbedingt nach Deutschland übersiedeln und hat es schließlich durch eine Heirat mit einer Russlanddeutschen geschafft. Mitte der 2000er-Jahre lebte er in Bonn.1998 ˇ elovek-prizrak«, 25. Oktober 1991, S. 24. 1994 Kalita, »C 1995 Zˇavoronkov, »Kto Vy, Vil’gel’m Otto Draugel’?«, 31. Dezember 1989, S. 16. 1996 Golynkin, Evgenij/Malova, Raisa: Chello, Villi!, Kinostudija Klio-XXI 2007, http://filmdoc.ru/film_view.php?full=& sort=3& film_id=59 (letzter Zugriff am 23. Dezember 2010). 1997 Auskunft des UVD Magadan an die Verfasserin vom 26. Januar 2011, Nr. 3/2-K-4. 1998 Seine offenbar erfundene Lebensgeschichte hat auch in die deutsche Presse Eingang gefunden: »Der ›Jazz-Baron‹ aus dem Gulag«, in: Kölner Stadt-Anzeiger, Nr. 240, 14. Oktober 1993.

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Draugels Geschichte macht auf die Schwierigkeiten der biografischen GulagForschung aufmerksam. Soweit möglich, sollten Selbstzeugnisse ehemaliger Häftlinge immer durch Aussagen anderer Häftlinge oder weitere Belege überprüft werden, wodurch auch Draugels Schilderung letztlich entlarvt werden konnte. Sof’ja Gerbst (1898 – 1947) und Galina Vetrova (1918 – 2000) Sof ’ja Gerbst und Galina Vetrova verbindet der Umstand, dass sie beide während ihrer Lagerhaft als Pianistinnen am Magadaner Theater tätig waren. Während Sof ’ja Gerbst jedoch den Freitod im Lager trotz der Arbeit am Theater wählte, setzte Galina Vetrova auch nach der Haft 44 Jahre lang bis zu ihrem Tod die Arbeit am Magadaner Theater fort. Mehrere ehemalige Mitarbeiter des Magadaner Theaters kommen in ihren Erinnerungen auf das tragische Schicksal von Sof ’ja Gerbst zu sprechen. So berichtet die Ballerina Ol’ga Ivanova, die sich allerdings an den Vornamen der Pianistin mit »Emma« falsch erinnert, dass diese als Konzertmeisterin gearbeitet und sich drei Monate vor ihrer Freilassung an der Tür des Lagerklubs erhängt hat. Das ganze Theater ist erschüttert gewesen, und der Regisseur Leonid Varpachovskij versammelte alle im großen Saal, um der Pianistin durch eine Schweigeminute zu gedenken. Das Orchester unter der Leitung von Heino Narva spielte daraufhin Mozarts Requiem. Diese Totenfeier ist Varpachovskij als Vergehen angelastet worden und hat zu seiner erneuten Verhaftung geführt. Der Dirigent Narva sowie der Violoncellist Al’bert Kesˇe, der bereits seine dritte Haftzeit von jeweils zehn Jahren verbüßte, sind zu allgemeinen Arbeiten in die Taiga geschickt worden.1999 Sof ’ja Gerbsts Schicksal in Lager schildert auch Vera Ustieva:2000 Gerbst habe geglaubt, sie werde niemals aus dem Lager herauskommen, so Ustieva. Dies mag aufgrund einer Direktive so gewesen sein, die nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion erlassen wurde, und wonach alle »Konterrevolutionäre« auch nach Verbüßen der Haft auf unbestimmte Zeit im Lager verbleiben sollten (vgl. Kapitel B.2, Abschnitt »Eine kurze Geschichte der Stadt Magadan«). Ihr Freund sei freigelassen worden und verließ Magadan, was zum Selbstmord Gerbsts geführt habe. Zur Verhaftung Leonid Varpachovskijs kam es, nach Ustieva, durch eine Denunziation von Vadim Kozin, welcher dem Regisseur vorwarf, dass er einer Deutschen durch eine Schweigeminute gedacht hatte. Nach der Untersuchungshaft ist Varpachovskij aber freigelassen worden, wie bereits

1999 Ivanova, »I smech, i slÚzy, i ljubov’…«, 27. Juni 1992, S. 5. 2000 Ustieva, »Podarok dlja vice-prezidenta«, 1996, S. 102.

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geschildert. Das UVD in Magadan hat auf Anfrage der Verfasserin mitgeteilt, dass Sof ’ja Gerbst am 12. Mai 1947 gestorben ist.2001 Hinweise auf Sof ’ja Gerbsts Werdegang vor der Haft gibt ein im Moskauer Archiv für Literatur und Kunst (RGALI) aufbewahrtes Dokument sowie die bereits zitierte Auskunft des UVD Magadan:2002 Sie wurde 1898 in Ufa geboren und erhielt mit acht Jahren den ersten Klavierunterricht. Als Sechzehnjährige absolvierte sie die Musikfachschule in Ufa mit der Bestnote. Danach bildete sie sich bis 1923 an der Berliner Hochschule weiter, und zwar in der Klasse von Karl Heinrich Barth, einem Schüler Hans von Bülows, sowie bei Leonid Kreutzer. Ab 1924 hat sie als Pianistin und ab 1926 als Musikpädagogin an der Musikfachschule in Ufa gearbeitet. 1938 wurde Sof ’ja Gerbst wegen »konterrevolutionärer Tätigkeit« verurteilt und am 18. Juli 1940 nach Magadan gebracht. Über ihr Repertoire geben Programme des Magadaner Theaters Auskunft: ˇ ajkovskij in Begleitung des SinfonieorSie spielte ein Klavierkonzert von C chesters, die Pr¦ludes Nr. 2 und Nr. 5 sowie die Elegie von Rachmaninov,2003 die Ungarische Rhapsodie Nr. 11 von Liszt,2004 ein Nocturne von Chopin, eine Mazurka von Skrjabin2005 und war vielfach als Begleiterin tätig. Ihr tragisches Schicksal ist ein Beispiel dafür, dass Lagertheater ihre Funktion als Refugien für die dort tätigen Häftlinge jederzeit einbüßen konnten, wenn die Brutalität des Lagersystems auf sie einwirkte. Eine weitere inhaftierte Pianistin am Magadaner Theater war Galina Vetrova, die jedoch, im Gegensatz zu Sof ’ja Gerbst das Lager überlebte und bis ans Ende ihres Lebens in Magadan geblieben ist. Etwa ein Jahr vor ihrem Tod erzählte Galina Vetrova einem Journalisten der Magadanskaja pravda über ihr Leben:2006 Sie wurde 1918 geboren2007 und absolvierte 1941 das Konservatorium von Odessa. Während der rumänischen Besatzung Odessas begleitete sie den Sänger PÚtr Lesˇcˇenko, der nach der Oktoberrevolution nach Rumänien emigriert war. Vetrova heiratete einen Rumänen und ging mit ihm nach Bukarest. Nach der sowjetischen Okkupation Bukarests wurde sie wegen Heimatverrats2008 zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt und 1947 nach Magadan transportiert. Ihr Sohn kam in ein Waisenhaus, wo er erst nach vielem Suchen von Vetrovas Mutter und ihrer Schwester wiedergefunden wurde. 2001 Auskunft des UVD Magadan vom 16. August 2006 an die Verfasserin, Nr. 3/2-K-80. 2002 RGALI: F. 131 (Gurevicˇ, L. Ja.), op. 2, d. 364, l. 81; Auskunft des UVD Magadan vom 16. August 2006 an die Verfasserin, Nr. 3/2-K-80. 2003 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 11, l. 12ob, 14ob. 2004 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 18, l. 51. 2005 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 19, l. 27. 2006 Il’ves, Michail: »Koncert dlja fortepiano v zˇizni«, in: Pjatnica, Magadan, 18. Juni 1999, S. 6. 2007 »Predstavlena v e˙nciklopediju ›Vsja Rossija‹«, in: Avanscena, Magadan, 5. November 2002, S. 1. 2008 Kudlacˇ, Ju.: »E˙tot trudnyj lÚgkij zˇanr«, in: Magadanskaja pravda, 7. Dezember 1991, S. 3.

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Abb. 65: Galina Vetrova in jungen Jahren. Privatarchiv.

Nach der Ankunft in Magadan wurden die Häftlinge gefragt, ob Musiker und Schauspieler unter ihnen waren, doch Vetrova hatte keine Kraft sich zu melden. Andere Häftlinge wiesen auf sie hin, sodass sie in Magadan bleiben und am Theater tätig werden konnte. Doch wie schon Aleksandr Dzygar, wurde auch sie im Jahr 1949 zu allgemeinen Arbeiten abkommandiert:2009 Sie arbeitete im Steinbruch in Chinikandzˇa und in einer Fabrik, was ihren Händen schadete, sodass sie Angst hatte, nie wieder spielen zu können. Schließlich hatte sie Glück, denn sie durfte in einem Lagerkindergarten arbeiten. Nach ihrer Freilassung im Jahr 1956 war sie in der Musikschule des Ortes Ust’-Omcˇug (4) beschäftigt. Als in Magadan ein Klavierwettbewerb veranstaltet wurde, nahm sie teil, spielte das ˇ ajkovskij2010 und wurde anschließend am Theater Klavierkonzert Nr. 1 von C angestellt. Dort blieb sie bis zu ihrem Tod im Sommer des Jahres 2000. 1993 wurde ihr der Titel »Verdiente Künstlerin der RSFSR« verliehen.2011 Dies geschah erst spät, weil sie sich nicht um eine Rehabilitierung kümmern wollte, ohne die der Titel nicht vergeben werden konnte. Sie betrachtete sich berechtigterweise auch ohne eine Rehabilitierung als unschuldig. Über ihr Leben resümierte sie im Jahr 1999: 2009 Genaue Datierung möglich durch: Kudlacˇ, »E˙tot trudnyj lÚgkij zˇanr«, 7. Dezember 1991, S. 3. 2010 Ledovskoj, Dmitrij: »Dorogi, kotorye nas vybirajut…«, in: Vecˇernij Magadan, 27. November 1998 (Nr. 48), S. 4. 2011 »Predstavlena v e˙nciklopediju ›Vsja Rossija‹«, 5. November 2002, S. 1.

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Ich will über mein vergangenes Leben gar nicht nachdenken. Ich lebe für meine Arbeit und gebe mich ihr ganz hin. Ich habe hier niemanden und nichts, nur die Arbeit. Und das ist mein Leben.2012

Auch wenn aus diesem Zitat Resignation und Verbitterung sprechen, wird aus anderen Interviews deutlich, dass Galina Vetrova trotz der schweren Schicksalsschläge ein lebensfroher Mensch war und mit ihren Mitmenschen sehr gut ausgekommen ist.

Abb. 66: Galina Vetrova als Inhaftierte in Magadan in den Jahren 1948/49. Privatarchiv.

In der Todesanzeige vom 4. Juli 2000 gedachten Theatermitarbeiter ihrer mit sehr herzlichen Worten und würdigten ihren großen Verdienst als Konzertmeisterin, denn sie hatte mit allen Sängern des Theaters gearbeitet und auf diese Weise alle Aufführungen mit inszeniert. Sie wurde als Liebling des Ensembles bezeichnet,2013 was in Gesprächen mit Theatermitarbeitern, die sie kannten, auch noch im Jahr 2006 spürbar war. Auch zu Beginn der Saison 2000/2001, der ersten ohne Galina Vetrova, verfassten Theatermitarbeiter eine Anzeige, um der langjährigen Mitarbeiterin zu gedenken und nannten sie einen »lieben Kame2012 P ^V f_hd UQWV Ud]Qcm _ c_Z bS_VZ WYX^Y. P WYSd bS_VZ aQR_c_Z Y Sbo bVRp _cUQo VZ. D ]V^p XUVbm ^Y[_T_ Y ^YhVT_ ^Vc, c_\m[_ _U^Q aQR_cQ. Nc_ Y Vbcm ]_p WYX^m . Il’ves, »Koncert dlja fortepiano v zˇizni«, 18. Juni 1999, S. 6. 2013 »Galina Georgievna Vetrova«, in: Magadanskaja pravda, 4. Juli 2000 (Nr. 126), S. 2.

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raden im widersprüchlichen Ensemble«, einen Menschen, den man nicht vergessen könne.2014 Vsevolod Zaderackij (1891 – 1953) Das Schicksal Vsevolod Zaderackijs (21. Dezember 1891 – 1. Februar 1953) hat in den letzten Jahren starke Aufmerksamkeit in Deutschland auf sich gezogen, die durch eine Publikation von Jascha Nemtsov in der Zeitschrift Osteuropa angeregt wurde.2015 Ihr folgten Konzerte und Einspielungen, ebenfalls durch Jascha Nemtsov.2016 Was die Schilderung von Zaderackijs Lebensweg betrifft, so lassen die bisherigen Veröffentlichungen in einer Anzahl von Punkten zu wünschen übrig, weil sie sich hauptsächlich auf Überlieferungen seiner Familie stützen, ohne viel Archivmaterial hinzuzuziehen. Die wichtigsten Publikationen stammen ohnehin von seinem Sohn aus zweiter Ehe,2017 der als Professor Musiktheorie am Moskauer Konservatorium unterrichtet und eine Spitzenposition im Russischen Komponistenverband innehat. Eine auf Archivforschung beruhende Biografie des Komponisten muss noch geschrieben werden. Nichtsdestotrotz soll hier ein grober Überblick über die wichtigsten Stationen seines Lebens anhand der existierenden Veröffentlichungen gegeben werden, wobei auch auf Forschungsbedarf hingewiesen werden soll. Zaderackij wurde in der Stadt Rovno (Ukraine) in einer bürgerlichen Familie geboren und erhielt den ersten Musikunterricht von seiner Mutter. Von 1906 bis 1910 besuchte er die Klasse von Arkadij Abaz‚, einem Schüler Hans von Bülows, in Kursk. 1910 nahm er ein Jura-Studium an der Moskauer Universität auf, welches er 1916 mit einem Diplom abschloss. Parallel studierte er am Moskauer Konservatorium Klavier, Komposition sowie Dirigat. 1914 heiratete er Natal’ja Pasecˇnik, mit der er einen Sohn hatte. Sie emigrierte zusammen mit dem Sohn nach der Oktoberrevolution nach Frankreich. Zaderackijs Sohn aus zweiter Ehe erwähnt in seinen Veröffentlichungen des Weiteren, dass sein Vater in den Jahren 1915/16 den Zarensohn unterrichtet haben soll, was jedoch zu prüfen wäre. Im russischen Bürgerkrieg kämpfte Zaderackij in den Jahren 1919/20 in der Weißen Armee, wurde von den Roten gefangen genommen, aber nicht er2014 »Svetloj pamjati Galiny Vetrovoj«, in: Avanscena, Magadan, 2. November 2000 (Nr. 3), S. 3. 2015 Nemtsov, »›Ich bin schon längst tot‹«, 2007, S. 315 – 339. 2016 Dimitri Schostakowitsch: Präludien op. 34, Vsevolod Zaderatsky : Präludien Nr. 1 – 24, Interpret: Jascha Nemtsov, Label: Profil, DDD, Erscheinungsdatum: 4. 5. 2009; Russian Songs (mit Liedern von Zaderatsky, Louri¦, Schostakowitsch), Interpreten: Verena Rein und Jascha Nemtsov, Label: Profil, DDD, Erscheinungsdatum: 15. 2. 2010. 2017 Zaderackij, Vsevolod: »Poterjavsˇajasja stranica kul’tury«, in: Muzykal’naja akademija, 2005, Nr. 3, S. 75 – 83; 2005, Nr. 4, S. 67 – 75; 2006, Nr. 1, S. 74 – 81; Zaderackij, Vsevolod: Per aspera…, 2009.

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schossen, sondern verbrachte zwei Jahre bis 1922 in Haft2018 und wurde anschließend nach Rjazan’ verbannt, wo er an der Musikschule, der Volkshochschule und der Musikfachschule arbeitete. Er dirigierte ein Sinfonieorchester, unterrichtete Klavier, Musikgeschichte und Musiktheorie. Wie sein Sohn schildert, wurde der Komponist 1926 als Angehöriger der bürgerlichen Schicht und ehemaliger Offizier erneut verhaftet. Dabei sollen alle seine Manuskripte vernichtet worden sein. Verzweifelt soll er im Gefängnis versucht haben, Selbstmord zu begehen. Daraufhin sei er im Jahr 1928 entlassen worden. Diese Schilderung der zweiten Haft wäre ebenfalls zu prüfen. Bemerkenswerterweise gab Zaderackij im Verhörprotokoll vom Juli 1937 an, nicht vorbestraft zu sein.2019 Zwei einsätzige Klaviersonaten von 1928, die in der Nähe von Kercˇ’ auf der Krim entstanden sind, stellen Zaderackijs früheste erhalten gebliebene Werke dar. Sie sind auf selbst gezogenen Notenlinien notiert und stehen kompositorisch in der Tradition Aleksandr Skrjabins und der russischen Avantgarde. Zaderackijs Musik wartet noch auf eine eingehende Erforschung. Einen Anfang machten Viktor Klin sowie Zaderackijs Sohn mit den bereits zitierten und analytisch fundierten Publikationen.2020 1929 oder 1930 zog Zaderackij nach Moskau, wo er als Komponist für den staatlichen Rundfunk arbeitete und Klavierunterricht erteilte.2021 Eigentlich war ihm das Wohnen dort nicht erlaubt, weil er seit 1927 als ehemaliger Offizier der Weißen kein Wahlrecht und auch keinen Pass besaß.2022 Er soll hier mit der ASM [Associacija sovremennoj muzyki – Assoziation für zeitgenössische Musik] verkehrt haben, was jedoch noch unzureichend erforscht ist, und komponierte unter anderem die Oper Krov’ i ugol’ (Blut und Kohle), die Sinfonie Fundament,2023 eine Vielzahl von Liedern und die Klaviersuiten Mikroby liriki (Mikroben der Lyrik), Tetrad’ miniatjur (Miniaturenheft) (beide 1929) und Farforovye cˇasˇki (Porzellantassen) (1932). Charakteristisch für alle Suiten ist, dass sie Programmmusik darstellen, dass ein besonderes Gewicht darin auf die Klanglichkeit gelegt wird und dass Ostinati ein wichtiges Gestaltungsmittel darin bilden. 2018 Auskunft des UFSB RF für das Gebiet Rjazan’ vom 24. März 2008 an die Verfasserin, Nr. 31/Z-34. 2019 Kriminalakte von Vsevolod Zaderackij im Staatsarchiv des Gebiets Jaroslavl’, l. 19. 2020 Klin, Viktor : Ukrains’ka radjans’ka fortepianna muzika, 1980, S. 186 – 199; Zaderackij, »Poterjavsˇajasja stranica kul’tury«, 2005, Nr. 3, S. 75 – 83; 2005, Nr. 4, S. 67 – 75; 2006, Nr. 1, S. 74 – 81; Zaderackij, Per aspera…, 2009. 2021 Kriminalakte von Vsevolod Zaderackij im Staatsarchiv des Gebiets Jaroslavl’, l. 42. 2022 Kriminalakte von Vsevolod Zaderackij im Staatsarchiv des Gebiets Jaroslavl’, l. 25. 2023 Über diese beiden Werke erhielt er 1933 sehr positive Beurteilungen der Dirigenten Nikolaj Golovanov und Aleksandr Orlov in schriftlicher Form. Zaderackij, »Poterjavsˇajasja stranica kul’tury«, 2005, Nr. 3, S. 78 f.

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Nach der Gründung des staatlichen Komponistenverbands 1932 ging Zaderackij zu einer traditionelleren Kompositionsweise über. Seinem Sohn zufolge war dies eine natürliche Entwicklung des Komponisten, was hinterfragt werden könnte. Seine Lyrische Sinfonietta für Streicher (1932) hatte zur Folge, dass er in den Verband aufgenommen wurde. 1934 komponierte er die 24 Präludien für Klavier, sein heute meistgespieltes Werk. Ebenfalls 1934 zog Zaderackij nach Jaroslavl’, wo er an der Musikfachschule Dirigat, Harmonielehre, Formenlehre, Instrumentation, Musikgeschichte, Kammermusik und weitere Fächer unterrichtete. Hier heiratete er Valentina Perlova und bekam mit ihr im Jahr 1935 den Sohn Vsevolod. Im August 1936 wurde ihm das Wahlrecht wieder zuerkannt.2024 Damit besserten sich seine Lebensumstände, jedoch nur kurzfristig, denn 1937 wurde er infolge einer Denunziation verhaftet. Anhand der Unterlagen aus seiner Kriminalakte, welche im Staatsarchiv des Gebiets Jaroslavl’ aufbewahrt wird,2025 kann die Geschichte seiner Verurteilung und Freilassung rekonstruiert werden. Der Leiter der Verwaltung für die Angelegenheiten der Künste [Upravlenie po delam iskusstv] in Jaroslavl’, Plytnik, sandte dem Gebietsstaatsanwalt am 26. Juni 1937 eine Erklärung über die »antisowjetische Tätigkeit« Zaderackijs und bat, ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Zuvor fand an der Musikfachschule eine Versammlung statt, in deren Protokoll die »Vergehen« Zaderackijs festgehalten wurden: Er habe als Freiwilliger und Offizier aufseiten der Weißen gekämpft, er habe zur Gruppenbildung innerhalb des Lehrkörpers und dadurch zu Streit beigetragen, und er habe sich negativ über das Niveau an der Fachschule geäußert. Es werden einige seiner angeblichen Aussagen zitiert, in denen Zaderackij westliche Musikkultur der in Jaroslavl’ und Lenin Stalin vorgezogen haben soll. Er soll damit unzufrieden gewesen sein, dass er als Komponist in Jaroslavl’ keine guten Arbeitsbedingungen vorfand, sondern sich mit den Problemen der Fachschule herumschlagen musste.2026 Daraufhin wurde Zaderackij am 17. Juli 1937 verhaftet. Ihm wurde ein Vergehen nach § 58 – 10 vorgeworfen.2027 Im Verhörprotokoll vom 17. Juli 1937, dem einzigen, welches seinem Sohn vom Staatsarchiv zur Verfügung gestellt wurde, bekannte sich der Komponist als nicht schuldig. Er gab an, dass seine Aussagen verzerrt wiedergegeben wurden, und dass die Hebung des Niveaus an der 2024 Kriminalakte von Vsevolod Zaderackij im Staatsarchiv des Gebiets Jaroslavl’, l. 19. 2025 Kopien von einzelnen Dokumenten aus dieser Akte wurden auf Anregung der Autorin von Vsevolod Zaderackij jr. beschafft und für diese Arbeit zur Verfügung gestellt, wofür sich die Verfasserin ganz herzlich bedankt. Wie in der Einleitung bereits erwähnt, ist es zurzeit nur Verwandten der ehemals Verurteilten erlaubt, Akten mit Verhörprotokollen einzusehen. 2026 Kriminalakte von Vsevolod Zaderackij im Staatsarchiv des Gebiets Jaroslavl’, l. 2 – 4ob. 2027 Kriminalakte von Vsevolod Zaderackij im Staatsarchiv des Gebiets Jaroslavl’, l. 18, 18ob.

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Fachschule für ihn handlungsleitend war. Er bestätigte, dass er das Musikleben in Berlin für viel hochwertiger hielt als das in Jaroslavl’. »Konterrevolutionäre Agitation« betrieben zu haben, hat er aber abgestritten.2028 Es wurden daraufhin fünf Zeugen aus der Fachschule vernommen, die alle gegen Zaderackij aussagten.2029 Am 8. August 1937 wurde der Komponist durch ein Sonderkollegium gemäß § 58 – 10 zu sechs Jahren Lagerhaft verurteilt.2030 Zaderackijs Frau soll ihrem Sohn erzählt haben, dass ihr von Behörden die Auskunft erteilt wurde, ihr Mann sei für die Verbreitung »faschistischer Musik« zu zehn Jahren Haft verurteilt worden, weil er ein Konzert mit Werken von Wagner und Richard Strauss dirigiert hatte.2031 Dies konnte durch die Unterlagen aus der Kriminalakte so nicht bestätigt werden und ist nur ein Beispiel dafür, dass Zaderackijs Biografie noch einmal sorgfältig recherchiert und überarbeitet werden müsste. Am 24. November 1937 wurde der Komponist ins Sevvostlag eingewiesen. Seine Lagerakte wurde im Jahr 1955 vernichtet,2032 sodass keine Auskunft über seine Beschäftigung dort eingeholt werden kann. Seiner Frau soll er erzählt haben, dass er beim Holzfällen im Hohen Norden eingesetzt wurde. Er hat im Lager als »Geschichtenerzähler« gegolten, was von Häftlingen sehr geschätzt wurde, weil es eine Abwechslung in ihre Abende brachte. Dies habe ihm geholfen zu überleben, weil Mithäftlinge ihn schonten und ihm halfen. Überliefert ist ein Zyklus von 24 Präludien und Fugen mit einer Dauer von ca. 2,5 Stunden, welchen Zaderackij 1937 im Lager komponiert hat. Papier und Bleistift zu besitzen, war den Häftlingen zwar verboten, aber offenbar wurde für Zaderackij eine Ausnahme gemacht; nach der Überlieferung seiner Familie war dies möglich, weil er keine Worte, sondern Noten damit schreiben wollte. Ein Klavier hat es in einem solch abgelegenen Lagerpunkt im Norden nicht gegeben. Das von Zaderackijs Sohn aufbewahrte Manuskript ist auf Telegramm-Vordrucken, einem schmalen Block und einigen karierten Einzelzetteln festgehalten. 1947 begann Zaderackij, die Präludien und Fugen ins Reine zu schreiben. Drei von fünf, die er abgeschrieben hat, veränderte er ein Stück weit,2033 19 sind unabgeschrieben geblieben. Dieses Werk stellt ohne Zweifel ein Beispiel für 2028 Kriminalakte von Vsevolod Zaderackij im Staatsarchiv des Gebiets Jaroslavl’, l. 19 – 20ob. 2029 Kriminalakte von Vsevolod Zaderackij im Staatsarchiv des Gebiets Jaroslavl’, l. 25. 2030 Kriminalakte von Vsevolod Zaderackij im Staatsarchiv des Gebiets Jaroslavl’, l. 38, 38ob; Auskunft des Staatsarchivs des Gebiets Jaroslavl’ vom 12. März 2008 an die Verfasserin, Nr. 01 – 22/364; Auskunft des UVD des Magadaner Gebiets vom 17. Januar 2008 an die Verfasserin, Nr. 3/2-K-64. 2031 Zaderackij, »Poterjavsˇajasja stranica kul’tury«, 2005, Nr. 3, S. 80. 2032 Auskunft des UVD des Magadaner Gebiets vom 17. Januar 2008 an die Verfasserin, Nr. 3/ 2-K-64. 2033 Zaderackij, Vsevolod: »Predislovie«, in: Zaderackij, Vsevolod: Izbrannye preljudii i fugi. Dlja fortepiano, 1983.

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menschliche Größe unter unmenschlichen Bedingungen dar und gleichzeitig ein Kunstwerk, welches noch auf eine angemessene Rezeption wartet.

Abb. 67: Manuskript von zwei Seiten aus den 24 Präludien und Fugen von Vsevolod Zaderackij. Privatarchiv seines Sohnes.

Am 7. Juni 1939 stellte das Oberste Gericht das Verfahren gegen Zaderackij ein, am 21. Juli 1939 wurde er aus dem Lager entlassen.2034 Eine derart frühzeitige Entlassung ist darauf zurückzuführen, dass Lavrentij Berija Ende 1938 den damaligen Innenminister Nikolaj Ezˇov abgelöst und eine Amnestie veranlasst hat. Zaderackijs Frau reichte Ende Januar 1939 ein Gesuch an den Staatsanwalt der UdSSR, Andrej Vysˇinskij, ein, in dem sie um eine Revision des Verfahrens bat. Sie führte Zaderackijs Verurteilung auf Konflikte mit Kollegen zurück, die daraus erwachsen waren, dass er die Arbeit an der Musikfachschule reorgani2034 Auskunft des UVD des Magadaner Gebiets vom 3. März 2008 an die Verfasserin, Nr. 3/2-K25.

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sieren wollte, um das Unterrichtsniveau zu heben. Als Methodik-Beauftragter habe er seine Kollegen auf Fehler beim Unterrichten hingewiesen. Dafür hätten sie sich mit falschen Anklagen vor dem Untersuchungsrichter an ihm gerächt. Der Wortführer gegen Zaderackij, welcher als Leiter der Verwaltung für die Angelegenheiten der Künste in Jaroslavl’ tätig war, sei inzwischen als »Spion und Trotzkist« entlarvt worden.2035 Auf diese Weise »fraß« das System auch die ihm zuarbeitenden Denunzianten. Im Mai 1939 folgerte der Staatsanwalt der RSFSR, Michail Pankrat’ev, nach einer Beschäftigung mit der Kriminalakte Zaderackijs, dass er im Sinne der Anklage unschuldig war. Eine wichtige Rolle bei dieser Entscheidung spielte die hohe professionelle Qualifikation des Komponisten, welcher mehrfach mit Prämien ausgezeichnet worden war, und die sehr positiven Gutachten von Aleksandr Orlov, Michail Ippolitov-Ivanov und Nikolaj Golovanov aus dem Jahr 1933.2036 Anfang des Jahres 1940 kehrte Zaderackij nach Jaroslavl’ zurück; während des Zweiten Weltkriegs lebte er in Kasachstan und Krasnodar. 1945 zog er nach Zˇitomir in der Ukraine und arbeitete dort an der Musikfachschule. Da aber seine Lebensumstände dort ein ruhiges Komponieren unmöglich machten, zog er 1946 erneut nach Jaroslavl’. Nach dem ersten Kongress des Komponistenverbands im Jahr 1948, auf welchem dem Formalismus der Kampf angesagt wurde, wurde der Komponist auf einer Versammlung in der Musikfachschule heftig kritisiert und zog daraufhin wieder nach Zˇitomir. Schließlich ging er 1949 nach L’vov, wo er als Dozent für Klavier und Kammermusik am Konservatorium angestellt wurde.

2035 Kriminalakte von Vsevolod Zaderackij im Staatsarchiv des Gebiets Jaroslavl’, l. 42 – 45ob. 2036 Kriminalakte von Vsevolod Zaderackij im Staatsarchiv des Gebiets Jaroslavl’, l. 46, 47.

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Abb. 68: Vsevolod Zaderackij im Alter. Privatarchiv seines Sohnes.

Nach dem Erlass von 1948 Über die Oper »Die große Freundschaft« von Vano Muradeli gegen den Formalismus in der Musik passte sich Zaderackij den Forderungen des Komponistenverbands an. Er komponierte unter anderem zwei Klavierkonzerte für Kinder (beide 1949), wovon das zweite von der Leitung des ukrainischen Komponistenverbands gelobt und für ein Konzert bei der Vollversammlung des Verbands in Kiew empfohlen wurde. Eine Kommission aus Moskau kritisierte das Werk aber vernichtend, woraufhin Zaderackij es zurückzog. Der Kritik stimmte auch die Redaktion der Zeitschrift des Komponistenverbands Sovetskaja muzyka in der Ausgabe Nr. 7 von 1950 zu. Nach Erzählungen von Vsevolod Zaderackij jun. sollen die Mitglieder der Redaktion das Stück aber weder gehört noch gesehen haben. Der Komponist wehrte sich mit umfangreichen und mutigen Briefen an den Chefredakteur der Sovetskaja muzyka, Marian Koval’, und den Vorsitzenden des Komponistenverbands, Tichon Chrennikov. Ob diese auch wirklich abgeschickt wurden und ihre Adressaten erreicht haben, bleibt fraglich, denn der Autorin liegen nur Abschriften der Briefe vor. In seinem stark verbitterten und sarkastischen Brief an Koval’ bezeichnete sich Zaderackij als einen »längst toten Komponisten«. Im Brief an Chrennikov kritisierte er, dass der Vorstand des Komponistenverbands keine Richtlinien zur Beurteilung von Musik hatte, sodass es, wie in Zaderackijs Fall, zu völlig entgegengesetzten Beurteilungen kommen konnte. Zaderackij thematisierte sehr richtig ein Problem der sowjetischen Musikästhetik, welches darin be-

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stand, dass es keine konkreten Richtlinien für die Umsetzung des sozialistischen Realismus in der Musik gegeben hat.2037 Wie sein Sohn schildert, hat diese Auseinandersetzung die Gesundheit des Komponisten stark angegriffen, sodass er am 1. Februar 1953 an einem Herzleiden starb. Es handelt sich bei Zaderackij um einen zu Lebzeiten so gut wie nicht wahrgenommenen Komponisten. Die erste Publikation eines seiner Werke erschien 1964 in Kiew (ein Nocturne in einer Sammlung von Klavierstücken).2038 In den 1970erJahren sind weitere Klavierwerke in Kiew veröffentlicht worden, darunter die Klavierzyklen Mikroben der Lyrik, Miniaturenheft und Porzellantassen, sowie die 24 Präludien.2039 1973 wurde in Moskau sein Vokalzyklus Poe˙ma o russkom soldate (Poem vom russischen Soldaten) verlegt.2040 1983 kam es ebenfalls in Kiew zur Veröffentlichung von sieben im Lager komponierten Präludien und Fugen, wobei im Vorwort nichts vom Entstehungsort verlautbart wurde.2041 Ende der 1980er-Jahre publizierte der Verlag Peters in Leipzig zwei Stücke von Zaderackij in einer Sammlung mit früher sowjetischer Klaviermusik.2042 Als 1989 die Woche des Gewissens [Nedelja sovesti] in Moskau stattfand, erzählte Zaderackijs Sohn über das Schicksal seines Vaters.2043 Am 27. Januar 1997 erschien ein seitenlanger Artikel in der Zeitung Moskovskij komsomolec (Der Moskauer Komsomolze). 2003 wurden acht Hefte mit Zaderackijs Kompositionen in Lviv ediert, es gab ein Festival seiner Musik in der Ukraine und in Polen. 2004 ist es zur Vorführung einiger seiner Werke vor dem Professorium des Moskauer Konservatoriums gekommen. Die Anwesenden sollen, wie Zaderackijs Sohn berichtet, zu der einhelligen Meinung gekommen sein, dass es sich bei Zaderackij senior um einen der bedeutendsten russischen Komponisten seiner Zeit handelte. In diesem Abschnitt wurde gezeigt, dass Zaderackijs Biografie eine Reihe von Momenten enthält, die in einer gesonderten Arbeit gründlich recherchiert werden müssten. Ungeachtet dessen kann resümiert werden, dass sein kompositorisches Schaffen sowie seine Rezeption stark durch seine Verhaftungen und die Lagerhaft beeinträchtigt worden sind. Seine Vergangenheit als Offizier der Weißen Armee wirkte sich auf sein gesamtes weiteres Leben negativ aus. 2037 Abschriften der Briefe aus dem Archiv von Vsevolod Zaderackij jr. 2038 Milicˇ, Boris: Pedagogicˇeskij repertuar dlja fortepiano. Proizvedenija ukrainskich sovetskich kompozitorov, Bd. 5, 1964. 2039 Zaderackij, Vsevolod: 24 preljudii dlja fortepiano, 1970; Zaderackij, Vsevolod: Farforovye cˇasˇki, 1979. 2040 Zaderackij, Vsevolod: Poe˙ma o russkom soldate. Po knige A. Tvardovskogo »Vasilij TÚrkin«, 1973. 2041 Zaderackij, »Predislovie«, 1983. 2042 Koptschewski, Nikolai (Hg.): Frühe sowjetische Klaviermusik. Ausgewählte Stücke von 20 Komponisten, 1987. 2043 Skubin, »›Ja kljanus’: dusˇa moja cˇista‹«, 1989, S. 4.

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Al’bert Kesˇe (1889 – 1961) In der Bibliothek des Magadaner Theaters wird eine handschriftliche Partitur der Operette Gräfin Mariza von Emmerich K‚lm‚n aufbewahrt, welche dem Betrachter einen Einblick in das Schicksal des Komponisten Al’bert Kesˇe erlaubt:2044 Auf dem Titelblatt der Partitur ist zu lesen, dass sie im Jahr 1947 in Magadan von A. I. Kesˇe für kleines Sinfonieorchester instrumentiert wurde. Auf der letzten Partiturseite ist ca. die Hälfte der dort stehenden Sätze mit Buntstiften übermalt, sodass sie nicht mehr lesbar sind. Aus dem Rest geht hervor, dass Kesˇe seit August 1942 in der »Kulturbrigade«, vermutlich der des Maglag, tätig gewesen war. Die Handschrift im Manuskript sieht sehr routiniert aus, die Regeln der Notenschrift werden eingehalten sowie musikalische italienische Begriffe korrekt notiert, woraus geschlossen werden kann, dass es sich bei Kesˇe um einen ausgebildeten Musiker handelte. Das Schicksal von Al’bert Kesˇe war schwer zu recherchieren, denn die meisten Quellen, sei es Theaterprogramme oder Häftlingserinnerungen, überliefern seinen Vornamen nicht. Nur zwei Quellen über seine Zeit am Magadaner Theater sind bekannt, in denen er genannt wird: Dies sind zum einen die Erinnerungen von Ol’ga Ivanova, die allerdings in Bezug auf Namen, wie oben festgestellt, nicht ganz zuverlässig sind,2045 und zum anderen die des Musikers Georgij Smol’janinov.2046 Bestätigt werden ihre Angaben jedoch ein Stück weit vom Programm zur Oper Traviata (vgl. Kapitel B.2) und dem eingangs erwähnten Manuskript, auf denen die Initialen A. I. aufgeführt sind. Dank dieser Hinweise konnte festgestellt werden, dass es sich bei Kesˇe um den gläubigen Komponisten Al’bert Ivanovicˇ Kesˇe gehandelt hat, über den die von der Union der Baptisten in der Sowjetunion herausgegebene Zeitschrift Bratskij vestnik (Brüderbote) im Jahr 1981 berichtet hat, ohne jedoch sein Schicksal vollständig schildern zu können – die Lagerhaft wird darin nicht erwähnt.2047 Über sie berichtet aber Nikolaj Chrapov, der selbst wegen seines Glaubens fünfmal verurteilt wurde.2048 Im dritten Band seines autobiografischen Romans Scˇast’e poterjannoj zˇizni (Glück eines verlorenen Lebens)2049 beschreibt er mehrere Treffen mit Al’bert Ivanovicˇ Kesˇe in Magadan, was hilft, die Bausteine über Kesˇes Leben zu einem Ganzen zusammenzufügen. 2044 Das Manuskript wird ohne Signatur unter vielen verschiedenen Noten, welche nicht durchgehend geordnet sind, aufbewahrt. Es bleibt nur zu hoffen, dass es nicht eines Tages aussortiert und zur Makulatur wird. 2045 Ivanova, »I smech, i slÚzy, i ljubov’…«, 27. Juni 1992, S. 5. 2046 Savcˇenko, Boris: Opal’nyj Orfej. Sud’ba i tvorcˇestvo Vadima Kozina, 1991, S. 66. 2047 Goncˇarenko, E. S.: »Zamecˇatel’nyj regent i kompozitor nasˇego bratstva«, in: Bratskij vestnik, 1981, Nr. 4, http://www.mbchurch.ru/publications/brotherly_journal/201/3126/ (letzter Zugriff am 4. Dezember 2010). 2048 Insgesamt musste er über 28 Jahre in Haft verbringen und starb im Jahr 1982 in einem Lager mit verschärftem Regime auf der Halbinsel Mangysˇlak in Kasachstan. 2049 Chrapov, Nikolaj: Scˇast’e poterjannoj zˇizni, in drei Bänden, 1990/91, Bd. 3, Kapitel 15, http://www.blagovestnik.org/books/00055.htm (letzter Zugriff am 25. Dezember 2011).

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Abb. 69: Beginn der Ouvertüre aus der Operette Gräfin Mariza in der Handschrift von Al’bert Kesˇe. Bibliothek des Magadaner Theaters.

Im Artikel von E. Goncˇarenko in Bratskij vestnik wird berichtet, dass Kesˇe als Chorleiter, Komponist, Herausgeber von Gesangsbüchern, Verfasser von Auf-

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sätzen über den Chorgesang im Gottesdienst und als Prediger tätig war.2050 Geboren wurde er im Jahr 1889 in Petersburg in einer gläubigen Familie. Bereits als Kind kam er mit Musik im Gottesdienst in Berührung, denn sein Vater leitete das Blasorchester der evangelischen Kirche. Im Schulalter begann Kesˇe, Klavier und Violoncello zu lernen. Nachdem er das Gymnasium beendet hatte, studierte er eine Zeit lang in Deutschland und kehrte anschließend nach Petersburg zurück. 1912 heiratete er eine Pastorentochter, aus dieser Ehe gingen vier Kinder hervor. 15 Jahre lang war Kesˇe Chorleiter der evangelischen Kirche in Leningrad und spielte dort Orgel. Er leitete auch Aufführungen der Oratorien Mors et vita und La r¦demption von Charles Gounod sowie des Requiems von Luigi Cherubini in Begleitung eines Sinfonieorchesters. Er soll ein zurückhaltender und rücksichtsvoller Mensch gewesen sein. Als wichtigste Chorkomposition Kesˇes bezeichnet Goncˇarenko das Lied Ne nam, ne nam, Tvoim rabam! (Nicht uns, nicht uns, deinen Knechten) nach Psalm 113, welches er oftmals mit seinem Chor gesungen haben soll, und hebt die melodischen Einfälle, die ambitionierte Harmonik sowie die interessante Faktur des Stückes hervor.2051 Der Musiker Georgij Smol’janinov, der zusammen mit Al’bert Kesˇe in den 1940er-Jahren als Häftling am Magadaner Theater tätig gewesen war, erinnerte sich an ihn als Absolventen des Berliner Konservatoriums und als einen sehr gut ausgebildeten Musiker mit absolutem Gehör. Er sei als Arrangeur für das Sinfonieorchester des Theaters unersetzbar gewesen. Dort habe er auch Violoncello gespielt.2052 Nikolaj Chrapov beschreibt, wie er den siebzigjährigen Komponisten im Auftrag seiner Moskauer Glaubensbrüder am Magadaner Theater aufsuchte. Aus Chrapovs Ausführungen geht hervor, dass Kesˇe zu jener Zeit kurz vor der Entlassung aus seiner mindestens zweiten Haft stand, welche zehn Jahre gedauert hatte. Es ist ihm damals gelungen, eine Erlaubnis zu erwirken, mit der sein Sohn die Verbannung, in der er lebte, bei ihm in Magadan verbüßen durfte. Dies wird von den Erinnerungen Ol’ga Ivanovas bestätigt, welche berichtet, dass nach Kesˇes Entlassung sein Sohn zu ihm zog.2053 Welches Schicksal die drei anderen Kinder Kesˇes erlitten haben, bleibt unklar. Laut Goncˇarenko verbrachte Kesˇe seine letzten Lebensjahre in der Stadt Temrjuk im Gebiet Krasnodar mit seiner zweiten Frau, denn seine erste war 1941 verstorben. Wie aus den Schilderungen Chrapovs zu entnehmen ist, starb sie 2050 Seine Aufsätze wurden im Jahr 1926 in mehreren Heften der Zeitschrift Christianin (Christ) veröffentlicht. 2051 Dieses Lied ist erschienen in: Prochanov, Ivan (Hg.): Pesni pervych christian, Nr. 97, Leningrad 1927. 2052 Savcˇenko, Opal’nyj Orfej, 1991, S. 66. 2053 Ivanova, »I smech, i slÚzy, i ljubov’…«, 27. Juni 1992, S. 5.

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während ihrer Lagerhaft. Obwohl Kesˇe Jahrzehnte seines Lebens in Lagerhaft verbringen musste, hat er seinen Glauben nicht aufgegeben. Der Komponist war in Temrjuk als Prediger tätig, er starb am 25. November 1961. Sein Schicksal demonstriert eine Selbstbehauptung trotz mehrmaliger Lagerhaft, die insgesamt mindestens 15 Jahre gedauert hat.

Lev Termen (1896 – 1993) Ebenfalls auf der Kolyma inhaftiert war der weltberühmte Physiker und Musiker Lev Termen. Über ihn sind inzwischen zahlreiche Publikationen verfügbar,2054 sodass hier nur ein kurzer Abriss seines Schicksals gegeben wird, um einen so prominenten Erfinder im Bereich der elektronischen Instrumente, der auf der Kolyma in Haft war, nicht zu vernachlässigen. Termen war Absolvent des Petersburger Konservatoriums im Fach Violoncello sowie der Petersburger Universität als Physiker. 1926 beendete er zusätzlich das Leningrader Polytechnische Institut und präsentierte als Diplomarbeit den ersten sowjetischen Fernseher. 1920 erfand er das elektronische Musikinstrument Termenvox oder Theremin (so die Schreibung seines Namens in der ursprünglichen Version seiner Vorfahren aus Frankreich), welches ohne Berührung gespielt wird. Gleichzeitig konnte es als Alarmanlage genutzt werden. Mit seinem Musikinstrument feierte Termen große Erfolge sowohl in der Sowjetunion als auch im europäischen Ausland, darunter auch in Deutschland. Von 1922 bis 1926 arbeitete er als Leiter des Laboratoriums für elektronische Messungen am Staatlichen Physikalisch-Technischen Institut in Leningrad. 1927 reiste Termen in die USA, wo er bis 1938 blieb und an der Vervollkommnung seines Instruments sowie an einer Verbindung von Musik und Licht, Musik und Geruch, Musik und Geschmack und auch Musik und Berührung arbeitete. Seine Forschungen an Alarmsystemen setzte er ebenfalls fort. In den USA verkehrte er mit vielen berühmten Musikern, mit Albert Einstein und mit Politikern. Gleichzeitig soll er für den sowjetischen Geheimdienst tätig gewesen sein, was bislang jedoch nicht mit Sicherheit belegt werden konnte. Schließlich erhielt Termen den Befehl, in die UdSSR zurückzukehren. Dort wurde er verhaftet, verbüßte die Untersuchungshaft im Butyrka-Gefängnis und 2054 Als deutschsprachige Publikation sei erwähnt: Lobanova, Marina: »Erfinder, Tschekist, Spion. Das bewegte Leben des Lew Termen«, in: Neue Zeitschrift für Musik, 1999, Nr. 4, S. 50 – 53. Die aktuellste Biografie stammt von Glinsky, Albert: Theremin: Ether Music and Espionage, 2000. Termens Werdegang wird hier anhand der folgenden Publikationen erzählt: Galeev, Bulat: »Legendarnoe imja«, in: Muzykal’naja zˇizn’, Nr. 7, 1994, S. 29; Galeev, Bulat: »Sovetskij Faust ili pravda o sredstve Makropulosa«, in: Muzykal’naja zˇizn’, ˇ elovek, mecˇtavsˇij voskresit’ Lenina«, in: Nr. 10 – 11, 1995, S. 24 – 27; Kozlov, Aleksandr : »C Magadanskaja pravda v pjatnicu, 22. Oktober 2004, S. 14.

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wurde am 15. August 1939 durch ein Sonderkollegium des NKVD SSSR nach § 58 – 4 zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt. Noch im selben Jahr wurde er als Häftling auf die Kolyma transportiert. Hier arbeitete er zunächst im Steinbruch und war dann als Brigadier im Straßenbau tätig. Nach Auskunft der Journalistin Ljudmila Vajner in der Online-Zeitschrift Vestnik arbeitete Termen im Lager auch im Sinfonieorchester, wo er viele Berühmtheiten aus Moskau und Leningrad getroffen haben soll. Unter anderem habe das Orchester Maurice Ravels Bolero gespielt.2055 Aus welcher Quelle diese Informationen stammen, bleibt jedoch unklar. Termens Haft auf der Kolyma war relativ kurz, denn seine Erfinderfähigkeiten wurden dringend gebraucht. Nach nur einem Jahr, im Herbst 1940, wurde er nach Moskau abkommandiert, um in einem Geheimlabor zusammen mit dem Flugzeugkonstrukteur Andrej Tupolev und dem Raketenkonstrukteur Sergej KorolÚv tätig zu werden. Später arbeitete er in einem anderen Geheimlabor und entwickelte eine Abhörapparatur, für die er im Jahr 1947 noch als Häftling mit dem Stalin-Preis erster Klasse ausgezeichnet wurde. Nach seiner Freilassung arbeitete Termen noch bis 1964 in einem wissenschaftlichen KGB-Labor. In den Jahren 1964 bis 1966 war er am Moskauer Konservatorium tätig, ab 1966 bis zu seinem Tod schließlich als Mechaniker an der Fakultät für Akustik der Moskauer Lomonosov-Universität. Er bewohnte nur ein Zimmer in einer Kommunalwohnung. In dieser Phase seines Lebens arbeitete er an der Entwicklung von neuen Musikinstrumenten, die mit Bioströmen oder mit Blicken zu spielen wären sowie an Geräten zur Analyse von Klängen. Auch bewegte ihn sein Leben lang die Frage nach der Unsterblichkeit. In den letzten Jahrzehnten seines Lebens nahm Termen an Konferenzen für elektronische Musik in verschiedenen Städten der Sowjetunion teil, z. B. in Kazan’, nach Beginn der Perestroika konnte er auch wieder ins Ausland reisen, wo er längst für tot gehalten wurde. Termens Schicksal ist ein Beispiel dafür, dass Häftlinge mit Fähigkeiten, die der Staat benötigte, bevorzugt behandelt wurden. Dass er sogar mit dem StalinPreis ausgezeichnet wurde, unterstreicht, wie eng die Häftlingsgesellschaft teilweise mit der zivilen verbunden war. Vadim Kozin (1905 – 1994) Dass die Grenze zwischen den Opfern des Gulag und den Tätern, welche durch Denunziationen die Inhaftierung anderer Menschen beabsichtigten, innerhalb eines Menschen verlaufen konnte, und dass eine Zuordnung zu unschuldig 2055 Http://www.vestnik.com/issues/2002/0131/win/vayner.htm (letzter Zugriff am 16. April 2011).

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Repressierten oder berechtigterweise Verurteilten nicht immer eindeutig vorgenommen werden kann, demonstriert die Figur des Sängers Vadim Kozin.2056 Gleichzeitig stellt er ein Beispiel für einen Künstler dar, dessen sehr erfolgreiche Karriere durch die Lagerhaft völlig zerstört wurde, und der bis ans Ende seines Lebens am Haftort blieb. Eine wissenschaftliche Biografie dieses Künstlers muss noch geschrieben werden. Diese Aufgabenstellung würde die Grenzen der vorliegenden Arbeit sprengen, zumal Kozins Archiv, welches sich in seiner letzten, heute zu einem Museum umfunktionierten Wohnung in Magadan befindet, zum Zeitpunkt der Recherche für diese Arbeit nicht zugänglich war.2057 Hier soll jedoch ein Überblick über sein Leben anhand der bisherigen zahlreichen Veröffentlichungen gegeben werden. Dass über Kozin bereits zahlreich publiziert worden ist, an erster Stelle in Magadaner Periodika,2058 macht die Rekonstruktion seiner Biografie nicht einfacher, weil der Sänger zur Mythenbildung über sein Leben neigte, und diese Mythen von den Autoren teilweise unüberprüft in ihre Darstellungen übernommen wurden, nicht zuletzt deswegen, weil Kozin ein sehr guter Erzähler gewesen sein muss. Dies kann schon bei Kozins erstem Biografen Boris Savcˇenko beobachtet werden,2059 der seine Informationen aus jahrelangen Gesprächen mit Kozin und aus Briefen von Menschen, die den Sänger kannten, geschöpft hat. 2056 Ohne dokumentarische Belege sollte Kozin nicht vorschnell als Denunziant etikettiert werden, jedoch sprechen mehrere Zeugenaussagen dafür, dass er als solcher tätig war (vgl. Kapitel B.2, Abschnitt über Leonid Varpachovskij). 2057 Bekannt ist jedoch, dass sich in diesem Archiv umfangreiche Tagebücher Kozins befinden. Popov, Vladimir: »Prijut opal’nogo pevca«, in: Avtomobil’nye dorogi (Moskau), 1999, Nr. 5, S. 41. Kurze Auszüge aus diesen Tagebüchern wurden zu Kozins vermeintlichem 100. Jubiläum im Jahr 2003 in der Zeitung Vecˇernij Magadan (Abendliches Magadan) publiziert, z. B. am 21. Februar, S. 4; 28. Februar, S. 4 und 14. März, S. 4. 2058 Beispielhaft seien einige Artikel genannt, die im Folgenden nicht zitiert werden: »I dol’sˇe veka dlitsja den’…«, in: Avanscena, 27. März 2003, S. 1 f.; Mazurenko, Aleksej: »Vadim Kozin. Na paperti pamjati«, in: Vecˇernij Magadan, 5. September 1992, S. 4; Nefedova, Irina: »Serpantin ego sud’by«, in: Severnaja nadbavka, 4. Mai 2005, S. 12; Nefedova, Irina: »E˙tot zolotoj golos, kotoryj nevozmozˇno povtorit’…«, in: Severnaja nadbavka, 11. Mai 2005, S. 11; Nefedova, Irina: »Mae˙stro ›udarjal‹ e˙pigrammami po Gaftu, Kobzonu i dazˇe po Evtusˇenko«, in: Severnaja nadbavka, 25. Mai 2005, S. 14; Sˇarova, Elena: »Poslednij koncert… Pervyj vecˇer pamjati«, in: Territorija (Magadan), 19. Dezember 1995, S. 2. Die meisten Veröffentlichungen wiederholen die gleichen Informationen und tragen Legenden weiter, zu deren Bildung der Sänger selbst beigetragen hat. Kozins Name kommt auch in belletristischen Veröffentlichungen vor: In dem 1971 veröffentlichten Roman Podkonvojnyj mir lässt der Autor Aleksandr Vardi einen kriminellen Häftling sich daran erinnern, dass er zwei Jahre lang in einer Baracke mit Vadim Kozin gelebt sowie die Sängerin Lidija Ruslanova durch das Lager begleitet hat, damit sie nicht vergewaltigt wird. Vardi, Podkonvojnyj mir, 1971, S. 22. 2059 Einen lebhaften Eindruck davon vermitteln Zitate bei Savcˇenko, Boris: Opal’nyj Orfej. Sud’ba i tvorcˇestvo Vadima Kozina, 1991.

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Obwohl im Vorwort des Verlags zu seiner ersten Monografie über Kozin darauf hingewiesen wird, dass sie keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, sind die Schilderungen Savcˇenkos immer wieder von verschiedenen Autoren wiederholt worden. So auch von David MacFadyen in seiner 2002 erschienenen Monografie Songs for fat people, deren Informationen im Kozin-Kapitel auf russischsprachige Sekundärquellen zurückgehen und nicht auf Archivforschungen basieren.2060 Viele Veröffentlichungen sind von einer voreingenommenen Haltung geprägt, weil ihre Autoren Kozins Schaffen bewunderten.2061 Wie beständig Legenden des Sängers über sein Leben fortbestehen, zeigt die Frage nach seinem Geburtsjahr. Darüber existieren nämlich unterschiedliche Angaben: Während in seinem Pass 1906 eingetragen war, behauptete Kozin stets, 1903 geboren zu sein.2062 Und obwohl Igor’ Dorogoj 2002 nachgewiesen hat, dass das Geburtenbuch der Matthäus-Kirche in Petersburg 1905 als Geburtsjahr verzeichnet, was auch durch einen Brief Kozins an seine Schwester von 1962 bestätigt wird,2063 wurde Kozins angebliches 100. Jubiläum im Jahr 2003 groß gefeiert.2064 In einer im Jahr 1959 in der Untersuchungshaft nach der zweiten Verhaftung verfassten Autobiografie schilderte Kozin, dass sein Vater ein Kaufmann gewesen war und seine Mutter eine Romni, die in einem Chor der Sinti und Roma gesungen hatte. Die in Russland berühmte Sängerin und Romni Varja Panina soll die Schwester seines Großvaters gewesen sein.2065 Unabhängig davon, ob diese 2060 MacFadyen, David: Songs for fat people. Affect, emotion, and celebrity in the Russian popular song. 1900 – 1955, 2002. Ein Nachteil dieses Buches ist, dass der Autor überwiegend mit Veröffentlichungen aus Moskau arbeitet, während Magadaner Autoren viel näher am Leben des Sängers waren und vielfach in Moskauer Veröffentlichungen lediglich paraphrasiert werden. 2061 Wie Vladimir Zaika es formulierte, handelt es sich bei der bekannten Biografie des Sängers um eine Nacherzählung seiner eigenen Erinnerungen. Aus eigener Erfahrung wusste Zaika, dass Kozin ein brillanter Erzähler gewesen war, der Journalisten Legenden über sein Leben glaubhaft vermitteln konnte. Zaika, Vladimir: »Vadim Kozin. Zagadocˇnyj pevec sovetskoj e˙strady«, in: Melodija. Zˇurnal o gramzapisi, 1995, Nr. 2 – 3, S. 19. 2062 Sˇarova, Elena: »U sud’by est’ cena. I u pamjati…«, in: Territorija (Magadan), 4. Juli 1995, S. 3. Tamara Smolina fand heraus, dass 1906 als Geburtsjahr in den Dokumenten eingetragen wurde, weil Kozins Eltern erst 1906 geheiratet haben. Smolina, Tamara: »Uletel iz rodnogo gnezda«, in: Magadanskaja pravda, 20. März 1996, S. 3. 2063 Dorogoj, Igor’: »Jubilej za gorami«, in: Kolymskij trakt, 2. Oktober 2002, S. 11. 2064 Dorogojs Aussage wurde 2005 von Savcˇenko bestätigt. Savcˇenko, Boris: »Predislovie«, in: Kozin, Vadim: Prokljatoe iskusstvo, 2005, S. 8. 2065 Sˇarova, »U sud’by est’ cena«, 4. Juli 1995, S. 3. Während viele Publikationen über Kozin diese Version des Verwandtschaftsverhältnisses übernehmen, sprechen Tamara Smolina und Boris Savcˇenko davon, dass Panina eine Cousine von Kozins Großvater gewesen war. Savcˇenko, Opal’nyj Orfej, 1991, S. 12; Smolina, Tamara: »Kozin i russkij romans«, in: Magadanskaja pravda (Territorija), 21. März 1997, S. 2. Ein Beleg dafür scheint in der Literatur nicht zu existieren. Vladimir Zaika erzählt jedoch, dass ein Enkel von Panina die Aussage Kozins über ein Verwandtschaftsverhältnis mit der Sängerin heftig dementiert

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Behauptung der Wahrheit entspricht oder nicht, steht fest, dass Kozin bereits im Kindesalter mit Liedern der Sinti und Roma in Berührung gekommen war, was sich auf seine Weise zu singen niedergeschlagen hat. Bereits zu Schulzeiten soll Kozin nach einer kurzen Schulung in einer Kinderbibliothek gearbeitet und sehr viel gelesen haben, was ihm später in Magadan zugute kommen sollte. Als er die Schule beendete, starb sein Vater und Kozin nahm alle möglichen Arbeiten an, unter anderem als Stummfilmbegleiter, um für die Familie Geld zu verdienen, denn er hatte mehrere jüngere Schwestern.2066 In dieser Zeit, Mitte der 1920er-Jahre, fing er auch an, als Sänger aufzutreten. Ab den 1930er-Jahren bereiste er bereits als professioneller Sänger die Sowjetunion – ab 1936 mit Solokonzerten – und war äußerst erfolgreich. Während des Krieges sang Kozin an der Front und wurde dafür mit dem Orden des Roten Sterns ausgezeichnet.2067 In den 1930er- und 1940er-Jahren gehörte Kozin zu den berühmtesten und erfolgreichsten Sängern der Unterhaltungsmusik in der Sowjetunion. Schallplatten mit seinen Aufnahmen wurden in Millionenauflagen verkauft. Nach eigenen Angaben hatte er über 2.000 Stücke im Repertoire, größtenteils russische Lieder, Lieder der Sinti und Roma, russische Kunstlieder, aber auch Lieder sowjetischer Komponisten; ca. 200 Stücke hatte er selbst komponiert und teilweise auch die Texte dazu verfasst.2068 Dank solcher Sänger wie Vadim Kozin überlebte die Gesangstradition der Sinti und Roma, welche vielfachen Angriffen von Musikkritikern und -ideologen ausgesetzt gewesen war.2069 Allerdings beherrschte Kozin sein Leben lang keine Notenschrift, sondern behielt sein Re-

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hat. Zaika, »Vadim Kozin«, 1995, S. 20. Eine genauso wenig überprüfte Geschichte, welche immer wieder in Publikationen über Kozin als Tatsache ausgegeben wird, ist, dass er angeblich auf Winston Churchills Wunsch zu dessen Geburtstag während der Teheraner Konferenz Ende des Jahres 1943 gesungen hat. Bsp.: Savcˇenko, Opal’nyj Orfej, 1991, ˇ ercˇillja«, in: Podmoskovnye izvestija, 6. November S. 43 f.; Babusˇkin, Leonid: »Drug C 1993, S. 3; Kusˇtapina, Ekaterina: »›EsˇcˇÚ ne speto stol’ko pesen…‹«, in: Pravda, 25.–26. März 2003, S. 4; MacFadyen, Songs for fat people, 2002, S. 78. Ein Autor geht sogar so weit, dass er behauptet, Kozin sei aus Magadan nach Teheran und zurückgeflogen ˇ ercˇill’ ne znal, cˇto Kozin ›sidit‹«, in: Vecˇernij klub (Moskau), 14. März 1996 worden. »C (Nr. 28), S. 8. Dabei war der Sänger zum Zeitpunkt der Konferenz noch gar nicht inhaftiert. Tamara Smolina nannte diese Geschichte eine Legende. Smolina, Tamara: »Ostalas’ pesnja…«, in: Magadanskaja pravda, 21. März 1995, S. 2. Die Anzahl der Schwestern differiert von Veröffentlichung zu Veröffentlichung. Savcˇenko, Opal’nyj Orfej, 1991, S. 41. Il’ves, Michail: »Zacˇem solov’ju zolotaja kletka?«, in: ders.: Zagadki Severa, 1994, S. 150. Im Vorwort zum zweiten in Magadan herausgegebenen Heft mit Kozins Liedern spricht der Herausgeber Aleksandr Nagaev von 3.000 Liedern im Repertoire und ca. 300 selbst komponierten Liedern des Sängers, was sich allerdings auf das Gesamtschaffen und nicht nur auf die 1930er- und 1940er-Jahre bezieht. Kozin, Vadim: »Ty pesnja moja, Magadan«, 2003, S. 6. Bsp.: Druskin, Michail: »Kvoprosu ob izucˇenii ›cygansˇcˇiny‹«, in: Sovetskaja muzyka, 1934, Nr. 12, S. 96 – 105.

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pertoire immer im Gedächtnis,2070 weswegen die von ihm komponierten Lieder für spätere Publikationen von Tonbändern transkribiert werden mussten. In einem Anfang der 1990er-Jahre gegebenen Interview erzählte Kozin dem Journalisten Michail Il’ves, dass er ein musikalischer Autodidakt war ; auch das Klavierspielen hat er sich selbst beigebracht. Zunächst hatte er im Chor gesungen, ab 1925 als Solist vor Filmbeginn in Kinos.2071 Sehr berühmt geworden ist das von Kozin komponierte Lied Osen’ (Der Herbst),2072 in welchem ein Mann oder eine Frau seine bzw. ihre geliebte Person davon abbringen möchte wegzugehen. Das Lied steht in der Tradition der Lieder von Sinti und Roma. Am 16. Mai 1944 wurde Kozin verhaftet.2073 Er selbst nannte mehrere Gründe dafür : In der schriftlichen Erklärung, die er 1959 in der Untersuchungshaft verfasste, heißt es, er habe sich mit Lavrentij Berija überworfen, denn Kozins Mutter und eine der Schwestern waren im belagerten Leningrad gestorben, weil sie trotz eines Versprechens nicht rechtzeitig evakuiert worden waren. An gleicher Stelle nennt er als weiteren Grund, dass er eine Frau vor Berijas Belästigungen beschützt haben soll.2074 Anfang der 1990er-Jahre erzählte Kozin, er sei eines Tages zu Berija bestellt worden. Dieser soll ihn gefragt haben, warum er denn kein einziges Lied über Stalin singe. Kozin war im Kreml aus- und eingegangen und hatte sogar mit Stalin selbst cˇastusˇki gesungen, aber ein Lied über ihn hatte er nicht im Repertoire. Er soll Berija geantwortet haben, dass er lediglich ein Lied über Lenin singe, welches er selbst komponiert habe. Als Berija seine Frage wiederholte, habe Kozin verärgert reagiert und sei deswegen vom Sonderkollegium zur Lagerhaft verurteilt worden. Nach drei Jahren sei er aus der Haft entlassen worden und nach Moskau gefahren, dann aber zurückgekehrt und in Magadan geblieben.2075 Allein dieser letzte Satz, der offensichtlich nicht stimmt (vgl. weiter unten), zeigt, wie vorsichtig mit Kozins eigenen Aussagen über sein Leben umgegangen werden muss. Es gibt in der Literatur mindestens fünf verschiedene Erklärungsversuche, warum es zu Kozins Verhaftung gekommen ist, die immer wieder referiert werden.2076 In Wirklichkeit wurde Kozin, so geht aus den Akten des UVD in 2070 Savcˇenko, Opal’nyj Orfej, 1991, S. 94. 2071 Il’ves, »Zacˇem solov’ju zolotaja kletka?«, 1994, S. 149. 2072 In einer Aufnahme von Kozin aus dem Jahr 1939 verfügbar unter : http://www.russianrecords.com/details.php?image_id=8410& l=russian (letzter Zugriff am 17. Januar 2012). 2073 Kozlov, Teatr na severnoj zemle, 1992, S. 74. 2074 Savcˇenko, »Predislovie«, 2005, S. 17. 2075 Il’ves, »Zacˇem solov’ju zolotaja kletka?«, 1994, S. 151 f. Eine ähnliche Version schildert auch Savcˇenko, Opal’nyj Orfej, 1991, S. 51. 2076 Medvedev, Feliks: »Generalissimus sovetskoj e˙strady«, in: Region (Magadan), 5.–11. Oktober 2000, S. 4; MacFadyen, Songs for fat people, 2002, S. 78 f. Einen sechsten Erklärungsversuch bringt Aleksandr Juchin in Savcˇenko, Opal’nyj Orfej, 1991, S. 48.

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Magadan hervor, am 10. Februar 1945 durch ein Sonderkollegium des NKVD SSSR wegen antisowjetischer Agitation einerseits und Homosexualität andererseits zu acht Jahren Haft verurteilt.2077 Im November 1945 wurde er nach Magadan gebracht, und zwar soll er, nach eigener Überlieferung, im Gegensatz zu anderen Häftlingen in einer gesonderten Schiffskabine transportiert worden sein und konnte an Deck spazieren gehen. Er sei nach dem Eintreffen des Schiffes in Magadan sogleich mit einem Lkw abgeholt und zum Theater gebracht worden.2078 In seinem Tagebuch aus dem Jahr 1955 schreibt Kozin, dass er nicht über die Bucht Vanino mit ihrem berühmt-berüchtigten großen Durchgangslager nach Magadan transportiert wurde, sondern über Vladivostok und Nachodka.2079 Über die Zeit im Lager äußerte sich der Sänger sehr selten, über die Untersuchungshaft ist keine einzige Aussage von ihm veröffentlicht. Aleksandr Juchin, der behauptet hat, mit Kozin in einer Zelle des Lubjanka-Gefängnisses inhaftiert gewesen zu sein, schrieb dem Journalisten Boris Savcˇenko, dass die Zelle ca. 15 m2 groß gewesen und für vier Häftlinge eingerichtet war. Kozin habe zwar wie alle anderen Gefängniskleidung getragen, sei aber besser behandelt worden: Er habe Bücher bekommen, und die Zelle, in der er einsaß, sei selten durchsucht worden. Auch habe er viele Pakete von Freunden erhalten. Während der Spaziergänge an der frischen Luft habe er leise Lieder der Sinti und Roma gesungen. Unterschrieben habe er, wie Juchin auch, alle möglichen Anklagen, um nicht gefoltert zu werden.2080 Die bevorzugte Behandlung Kozins muss nicht zwangsläufig von seiner Bekanntheit hergerührt haben. Sie kann auch ein Hinweis darauf sein, dass er schon im Gefängnis als Denunziant fungierte, so wie er während seiner Lagerzeit von Varlam Sˇalamov, Anna Varpakhovskaya und Vera Ustieva dargestellt wird.2081 In seinen Tagebüchern erinnerte sich Kozin im September 1955 an seinen Transport ins Lager, als er sich nach der ersten Freilassung auf einer Tournee der Stadt Ufa näherte. Die Stadt habe ihm so viele Unannehmlichkeiten gebracht, so schrieb er, und doch wolle er gerade dorthin fahren, um sich zu erinnern. Dort war er im Transitgefängnis gewesen und hatte die »schreckliche« Zelle mit Erde statt einem Fußboden, Machorka-Rauch und verschiedenen Ausdünstungen noch vor Augen: Überall lagen oder saßen Menschen: Banditen, Mörder, Diebe, politische und »einfach unschuldige« Häftlinge. Die einen waren vom Gesche2077 2078 2079 2080 2081

Aleksandrov, Pod rzˇavymi zvÚzdami, 1994, S. 79. Savcˇenko, Opal’nyj Orfej, 1991, S. 58. Kozin, Prokljatoe iskusstvo, 2005, S. 64. Savcˇenko, Opal’nyj Orfej, 1991, S. 47 – 49. Sˇalamov, Sobranie socˇinenij v cetyrÚch tomach, 1998, Bd. 1, S. 212 f.; Gespräch der Verfasserin mit Anna Varpakhovskaya, der Tochter Leonid Varpachovskijs und Ida Ziskinas, im Sommer 2006 in Magadan; Ustieva, »Podarok dlja vice-prezidenta«, 1996, S. 102.

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henen erschüttert, die anderen fühlten sich wie Fische im Wasser. Ein Mann betete ununterbrochen, eine Gruppe von Berufsverbrechern hörte einem »Erzähler« zu, der Alexandre Dumas’ Le comte de Monte-Christo nacherzählte. Nachts wurden die Häftlinge aus dem Schlaf gerissen, weil der Gefängniswärter ohne Rücksicht auf andere die zum Transport bestimmten Häftlinge aufrief und diese sich dann geräuschvoll fertig machten. Und wenn man einmal schlafen konnte, bestand immer die Gefahr, von Berufsverbrechern beklaut zu werden, wofür sie nicht bestraft wurden, sondern umgekehrt den Beraubten verprügelten, falls er sich bei den Wärtern beschwerte. Man hat viel Willensstärke und Anpassungsvermögen gebraucht, um dies durchzuhalten.2082

Abb. 70: Vadim Kozin auf der Bühne des Magadaner Theaters. Am Klavier Galina Vetrova, an der Geige ganz rechts Aleksandr Dzygar. Privatarchiv Galina Vetrova.

In einem Interview im Jahr 1989 sagte Kozin, dass er das Lager ohne die Hilfe von Freunden und Bekannten wohl nicht überlebt hätte. Und dass jenen vielleicht wiederum seine Lieder geholfen haben zu überleben.2083 In einem Interview zwei Jahre später erzählte er, dass er sich als Häftling in Magadan ohne Bewachung hatte bewegen dürfen, aber dazu verpflichtet gewesen war, in der Lagerzone zu 2082 Kozin, Prokljatoe iskusstvo, 2005, S. 140 f., 149. Das von Kozin geschilderte Verhalten der Berufsverbrecher ist in zahlreichen Erinnerungen genau so belegt. 2083 Veresˇagin, Ju.: »Master e˙strady Vadim Kozin«, in: Gudok, 7. November 1989 S. 4.

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übernachten. Er soll alle Goldförderminen mit Konzerten bereist haben.2084 Diese Aussage wird vom Programm der Sommertournee des Magadaner Theaters im Jahr 1945 insofern bestätigt, als dass Kozin dort als Mitwirkender aufgeführt ist.2085 Savcˇenko berichtet, dass Kozin als Häftling in einem gesonderten Zimmer untergebracht war, ein Klavier zur Verfügung hatte und seine eigene Kleidung tragen durfte.2086 Anatolij Aleksandrov, welcher mit Kozin in einer Lagerzone in Magadan inhaftiert war, schreibt, dass der Sänger oftmals vor den Häftlingen im Lagerklubhaus gesungen hat. Nisˇcˇaja (Bettlerin) von Aleksandr Aljab’ev sei das Lied gewesen, welches von den Lagerinsassen für den Abschluss eines Konzerts immer gewünscht wurde. Aleksandrov schrieb im Jahr 1947 im Lager ein Gedicht, welches er Kozin widmete.2087 Bei seinen Auftritten am Magadaner Theater während der Haft wurde der Sänger vom Häftling und ehemaligen Studenten des Moskauer Konservatoriums Boris E˙ntin am Klavier oder von einem Ensemble begleitet.2088 Ein Zeitzeuge berichtet auch, dass er als Solist mit dem Orchester unter der Leitung Eddie Rosners auftrat,2089 was allerdings erst nach Kozins Freilassung aus der ersten Haft der Fall gewesen sein konnte, weil Rosner erst im Jahr 1952 als Häftling nach Magadan kam. Nach der vorzeitigen Entlassung aus der Haft im September 1950 blieb Kozin aus ungeklärten Gründen in Magadan. Ein möglicher Grund könnte gewesen sein, dass er nie vollständig, sondern nur hinsichtlich des Paragrafen 58 rehabilitiert wurde.2090 Er arbeitete bis 1953 als künstlerischer Leiter des Gesangsund Tanzensembles am Klub der Wachmannschaften, im Jahr 1954 als Bibliothekar sowie von 1955 bis 1959 als Sänger am Gor’kij-Theater.2091 In der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre durfte Kozin einige Konzertreisen durch die Sowjetunion unternehmen. Die erste Tournee fand im Jahr 1955 statt und führte durch den Fernen Osten und Sibirien.2092 Kozin durfte mit Konzerten

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Sitnikov, N.: »Magadan. Vadimu Kozinu«, in: Lesnaja gazeta, 29. Oktober 1991, S. 4. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 56, l. 58. Savcˇenko, Opal’nyj Orfej, 1991, S. 65. Aleksandrov, Anatolij: »V. A. Kozinu. Svet pamjati moej«, in: Severnaja pravda, 26. März 1993, S. 8. GAMO: F. R-54, op. 1, d. 11, l. 47; F. R-54, op. 1, d. 56, l. 58; Savcˇenko, Opal’nyj Orfej, 1991, S. 67. Laptienko, Jurij: »Koncert Kozina«, in: Magadanskaja pravda v pjatnicu, 9. Juli 2004, S. 18. Kozin, Prokljatoe iskusstvo, 2005, S. 55. Dass er ursprünglich in den europäischen Teil der Sowjetunion zurückkehren wollte, verrät eine Passage aus seinen Tagebüchern vom 17. Juni 1955, wo er sich fragt, welche Behörden ihn wohl »festhalten« – die Moskauer oder die Magadaner – und sich vornimmt, einen »offenen Brief« an ChrusˇcˇÚv zu schreiben. Ebd. Sˇarova, »U sud’by est’ cena«, 4. Juli 1995, S. 3; Savcˇenko, »Predislovie«, 2005, S. 18. Savcˇenko, Opal’nyj Orfej, 1991, S. 84.

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nicht nach Moskau oder Leningrad reisen (diese Städte sah er nie wieder), sondern besuchte den Fernen Osten, Sibirien, Kamtschatka, Sachalin und Städte wie Voronezˇ, Gor’kij (Nizˇnij Novgorod), Tiflis, Socˇi, Chabarovsk und Sverdlovsk.2093 In den Jahren 1957/58 ging er auf eine neunmonatige Tournee, welche ein sehr positives Echo in den Presseorganen der bereisten Regionen auslöste.2094 Diese Konzertreisen wurden vom Magadaner Theater organisiert, um das Budget aufzubessern, weil das Theater nach dem Zerfall des Gulag-Systems finanziell bedroht war.2095 Die Reisetagebücher der Jahre 1955 und 1956 sind veröffentlicht,2096 wonach sich die Reiserouten des Sängers genau nachverfolgen lassen. Daraus geht hervor, dass er auch vor Häftlingen auftrat. Seine Stimmung vor dem ersten Konzert in Chabarovsk am 14. Juli 1955 nach 15 Jahren Pause bezeichnete Kozin als unruhig. Er nannte die Tatsache, dass er wieder sang, eine Verspottung. Er habe es nicht nötig, durch den Gesang um Vergebung zu bitten, denn ihn treffe keine Schuld mehr. Er sei unschuldig vor sich selbst, vor Gott und dem Volk und wolle sich von den Machthabern nicht demütigen lassen. Diese Passage erlaubt Rückschlüsse darauf, warum Kozin für immer in Magadan geblieben und – zumal nach der zweiten Haftzeit – immer seltener aufgetreten ist. Auch am 18. Juli 1955 schrieb er, dass er sich für unschuldig hielt und sich wie ein abgehetztes Tier und ungerecht behandelt fühlte.2097 Mehr noch, in Irkutsk hielt Kozin am 16. August 1955 fest, dass er seine Arbeit verfluchte, die Bühne hasste und mit Ungeduld den Zeitpunkt seines Ruhestands im Jahr 1956 erwartete.2098 Seine damalige »beschämende und ausweglose Lage« hat ihn angewidert. Die dafür Verantwortlichen bezeichnete er als Schurken, ohne Namen zu nennen. Aus seinen Tagebüchern spricht wiederholt viel Verbitterung. Im November 1955 hielt er fest, dass es ein Fehler gewesen war, auf die Tournee gegangen zu sein.2099 Sein Lebensabend erschien ihm nicht abgesichert und perspektivlos. Er sah sich schon als Pförtner arbeiten, wollte aber auf keinen Fall jemanden um etwas bitten. Gleichzeitig glaubte er, bald sterben zu müssen. Er fühlte sich müde vom Reisen und Singen und beklagte sich darüber, dass seine Stimme ohne Rücksicht

2093 Rezinovskij, Viktor : Vadim Kozin. Fotokniga, 1993, S. 15, 17; Booklet zu Kozins vermeintlichem 100. Jubiläum 2003, herausgegeben von der Stadtverwaltung Magadans; Savcˇenko, »Predislovie«, 2005, S. 19. 2094 Savcˇenko, Opal’nyj Orfej, 1991, S. 87. 2095 Savcˇenko, »Predislovie«, 2005, S. 19. 2096 Kozin, Prokljatoe iskusstvo, 2005. 2097 Kozin, Prokljatoe iskusstvo, 2005, S. 80 – 82, 173. 2098 Im September 1956 stellte sich heraus, dass er nicht mit 50, sondern erst mit 60 Jahren in den Ruhestand gehen durfte. Kozin, Prokljatoe iskusstvo, 2005, S. 326. 2099 Kozin, Prokljatoe iskusstvo, 2005, S. 101, 108, 178 f.

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ausgebeutet wurde.2100 Die Folge davon war ein Bluterguss in den Stimmbändern, doch Kozin musste kurze Zeit darauf weitersingen, was ihm schwerfiel und ihn anwiderte. Parallel zur Konzerttätigkeit ließ er sich im Krankenhaus behandeln. Er fühlte sich einsam, weil er kein Vertrauen zu anderen und keinen Glauben mehr hatte.2101 Oftmals äußerte er sich in seinen Tagebüchern abfällig über seine Umgebung. In Kujbysˇev wurde Kozin im Jahr 1955 angeboten, zu bleiben und in der Philharmonie zu arbeiten. Auch eine Wohnung wurde ihm in Aussicht gestellt. Doch er sah keinen Sinn darin, sondern wollte schnell zurück nach Magadan und dort sterben. An anderen Tagen beschlich ihn aber doch der Gedanke, aus Magadan wegzuziehen,2102 der sich letztlich nicht durchsetzen konnte. Im Oktober 1959 wurde Kozin in Magadan erneut verhaftet und im Februar 1960 vor Gericht gestellt.2103 Tamara Smolina, die damals als Journalistin beim Magadaner Radio arbeitete, erinnert sich, dass seine Lieder daraufhin nicht gesendet werden durften, und dass über ihn nicht geschrieben werden durfte.2104 Der Sänger wurde vom Magadaner Gebietsgericht am 25. Februar 1960 gemäß § 19 – 154-a, Teil 1 (»Versuch einer homosexuellen Handlung«) und § 152 (»Verführung Minderjähriger durch unzüchtige Handlungen gegen sie«) zu drei Jahren Haft verurteilt.2105 Da über diese Episode im Leben Kozins so gut wie keine weiteren Informationen verfügbar sind, bleibt unklar, wie viel von dieser Strafe er tatsächlich verbüßt hat. Boris Savcˇenko erwähnt lediglich, dass er währenddessen als Registrator beim Bau des Kulturhauses der Gewerkschaften in Magadan tätig war.2106 Savcˇenko zitiert in seinem Vorwort zu Kozins Tagebüchern der Jahre 1955/56 ausführlich aus einer schriftlichen Erklärung des Sängers, die er während der zweiten Untersuchungshaft schreiben musste. Darin erzählte er von seiner sexuellen Entwicklung sowie seinen sexuellen Vorlieben. Er führte seine Homosexualität auf eine Vergewaltigung und anschließende erzwungene Beziehung zu einer Lehrerin im Schulalter zurück. Inwiefern seine Schilderungen der Wahrheit entsprechen, bleibt fraglich, weil sie unter Zwang und in einer Situation, in der Selbstverteidigung gefragt war, verfasst wurden.2107 2100 Als »Norm« waren 25 Konzerte im Monat festgesetzt, und teilweise war die Stimme des Sängers so stark beansprucht, dass er nicht mehr singen konnte. Es belastete ihn sehr, wenn das Publikum dies merkte. Kozin, Prokljatoe iskusstvo, 2005, S. 124 f., 136, 179, 184. 2101 Kozin, Prokljatoe iskusstvo, 2005, S. 211, 218 – 220, 223, 224, 226. 2102 Kozin, Prokljatoe iskusstvo, 2005, S. 184, 195. 2103 Sˇarova, »U sud’by est’ cena«, 4. Juli 1995, S. 1 u. 3. 2104 Smolina, Tamara: »›Zavesˇcˇaju pesnju svoju‹«, in: Magadanskaja pravda, 26. Dezember 1995, S. 1. 2105 Aleksandrov, Pod rzˇavymi zvÚzdami, 1994, S. 79. 2106 Savcˇenko, Opal’nyj Orfej, 1991, S. 75. 2107 Savcˇenko, »Predislovie«, 2005, S. 13 – 17.

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Nach der Freilassung arbeitete Kozin als Bibliothekar in der Magadaner PusˇkinBibliothek, wobei ihm seine von Kindheit an entwickelte Vorliebe für Bücher und seine Tätigkeit in einer Kinderbibliothek in den 1920er-Jahren zugute kamen. Ans Theater kehrte er nicht mehr zurück, lediglich zu einzelnen Auftritten. In Gesprächen mit Kozin in den 1960er- und 1970er-Jahren spürte Boris Savcˇenko eine Verbitterung und Gekränktheit des Sängers, weil er sich vergessen sah.2108 Es gab keine Veröffentlichungen in landesweiten Medien über ihn, Schallplatten mit seinen Liedern wurden nicht herausgegeben.2109 Im Allgemeinen wurde er bis Anfang der 1980er-Jahre für tot gehalten. Dies geht aus zahlreichen Fan-Briefen aus dem In- und Ausland hervor, die der Sänger seit den 1980er-Jahren erhalten hat, und aus denen in einer Broschüre zu seinem 90. Geburtstag sowie in einem Artikel zitiert wird.2110 Manchmal wurde auf den Briefen als Adresse lediglich »Magadan, Kozin« oder nur »Kozin« angegeben, aber sie erreichten ihn trotzdem.2111 Doch Prominente, die nach Magadan kamen, wussten auch früher davon, dass er dort lebte, beispielsweise besuchte ihn in den 1960er-Jahren der Dichter Evgenij Evtusˇenko. Seitdem landesweit bekannt geworden war, dass der Sänger noch lebte, pilgerten viele prominente und gewöhnliche Menschen in seine Wohnung, und er spielte und sang bis zu seinem Tod für sie.2112 In Magadan war es selbstverständlich auch in der Zeit der Vergessenheit für niemanden ein Geheimnis, dass Kozin dort lebte. Mehr noch – er trat dort zwar selten, aber doch ab und an auf und komponierte zahlreiche neue Lieder. Beispielsweise wurde im Jahr 1968 sein 65. Geburtstag durch ein Festkonzert begangen, mit dem gleichzeitig das 40. Jubiläum seiner Bühnentätigkeit gefeiert wurde. In zwei Teilen führte der Sänger jeweils zehn Lieder auf, von denen mehr als die Hälfte von ihm komponiert waren. Besonders erwähnenswert sind die der Stadt Magadan gewidmeten Lieder Ja ljublju e˙tu zemlju (Ich liebe diese Erde) (1964), Magadanskie bul’vary (Boulevards von Magadan), Magadanskaja storonka (Magadaner Gegend) (1960),2113 Magadanskij veterok (Magadaner Wind)2114 aus dem Zyklus Ja ljublju e˙tu 2108 Sˇipunov, Valentin: »Opal’nyj Orfej«, in: Kul’tura, 15. Mai 1993, S. 7. 2109 Savcˇenko, Opal’nyj Orfej, 1991, S. 4. Ju. Djukarev, ein Sammler alter Schallplatten, schlug dem staatlichen Rundfunk im Jahr 1977 vor, Lieder von Kozin zu senden und erhielt darauf die Antwort, dass dies nicht gemacht werde, weil der Sänger schwere Verbrechen gegen die ˇ ubcˇik kucˇerjavyj‹«, in: Heimat begangen habe. Galjas, Aleksandr/Gridin, Vladimir: »›C OgonÚk, 1991, Nr. 35, S. 22 – 24, hier S. 22. 2110 Rezinovskij, Vadim Kozin, 1993; Smolina, Tamara: »›Kumir moej dusˇi…‹«, in: Magadanskaja pravda, 20. März 1993, S. 1 u. 3. 2111 Il’ves, »Zacˇem solov’ju zolotaja kletka?«, 1994, S. 152 f. Davor erhielt Kozin auch schon Fanpost, aber in einer viel geringeren Zahl. Savcˇenko, Opal’nyj Orfej, 1991, S. 5 f. 2112 Il’ves, »Zacˇem solov’ju zolotaja kletka?«, 1994, S. 152. 2113 Savcˇenko, Opal’nyj Orfej, 1991, S. 92, 96. 2114 An einer Stelle schreibt Savcˇenko, dieses Lied sei 1955 geschrieben worden, an einer anderen, es wäre 1957 gewesen. Savcˇenko, Opal’nyj Orfej, 1991, S. 80, 93.

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zemlju aus den 1950er- und 1960er-Jahren.2115 Sie sind teilweise von einem Patriotismus durchdrungen, welcher angesichts der Vergangenheit Kozins überraschen könnte. Doch auch in Kozins Tagebüchern kommt ein aufrichtiger Patriotismus gegenüber der Sowjetunion zum Ausdruck.2116 Auch mehrere Lieder der Sinti und Roma standen auf dem Programm. Boris Savcˇenko erinnert sich, dass der Saal des Theaters überfüllt war, die Zuhörer während der Lieder außerordentlich ruhig waren und nach jedem Lied frenetisch klatschten. Auch brachte der Sänger mit seinem stark emotionalen Vortrag die Zuhörer zum Weinen.2117 Aus dem Jahr 1970 ist ein ähnliches Programm erhalten geblieben, mit sogar jeweils 17 Titeln in jeder Konzerthälfte.2118 In diesen letzten Magadaner Konzerten begleitete sich der Sänger selbst auf dem Klavier. Galina Naumenko, die von 1958 bis 1968 Kozins Nachbarin gewesen war und bis zum Ende seines Lebens mit ihm Kontakt hatte, erzählte in einem Interview mit der Verfasserin, dass er bescheiden gelebt und kein Vermögen außer seinem Klavier, vielen Büchern und einigen Kassettenrekordern besessen habe. Seine Katzen seien sein Ein und Alles gewesen. Immer wenn die Nachbarn und ihre Gäste bei Feiern seine Lieder hören wollten, lud er sie zu sich ein und sang.2119 Als Beispiel für Kozins Schaffen in Magadan sei hier der von ihm verfasste Text seines Liedes Pis’mo iz Magadana v Moskvu (Ein Brief aus Magadan nach Moskau) aus dem Zyklus Ja ljublju e˙tu zemlju wiedergegeben. Das Lied wurde von ihm in einem erzählenden Duktus vorgetragen und scheint über Kozins tatsächliche Lebenssituation zu berichten: Lange, lange war ich nicht mehr bei euch, Und ihr werdet sicherlich, wenn ihr an mich denkt, Abwinken – es gibt keine Nachrichten von ihm! Er ist irgendwo ganz weit weg, Freunde. Doch glaubt nicht, wenn man euch sagt: Er ist irgendwo In einer abgelegenen Gegend, am Ende der Welt, Wo es nicht einmal im Sommer Sommer wird, Sondern das ganze Jahr über Frost und Schneesturm wüten. Glaubt nicht, dass ich in dieser tiefsten Provinz Euch vergessen konnte, meine Freunde, 2115 Nach Boris Savcˇenko enthält der Zyklus ca. 20 Lieder, welche innerhalb von ca. zehn Jahren entstanden sind und nicht von vornherein als Zyklus gedacht waren. Savcˇenko, Opal’nyj Orfej, 1991, S. 89 f., 96. 2116 Kozin, Prokljatoe iskusstvo, 2005, S. 191. 2117 Savcˇenko, Opal’nyj Orfej, 1991, S. 60, 81. 2118 Programme der Konzerte im Privatarchiv der ehemaligen Nachbarin von Vadim Kozin Galina Naumenko, eingesehen im Sommer 2006 in Magadan. 2119 Interview der Verfasserin mit Galina Naumenko im Sommer 2006 in Magadan.

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Dass ich im Schnee, in einem Schamanenland lebe, Alleine, ohne Tränen, ohne Leben, ohne Liebe. Glaubt dieser bösen Verleumdung nicht, Unterbrecht jene ausgedachte Erzählung. So eine Gegend gab und gibt es nicht, Und wenn es sie gegeben hat, dann lange vor uns. Und wer einmal in dieser Gegend gewesen ist, Der würde sie jetzt nicht mehr erkennen. Rundherum wachsen hier neue Siedlungen, Den Himmel durch das Licht der Baustellen erleuchtend. Und aus Moskau ist es zu uns viel näher Als es früher gewesen ist. Wir leben und lieben, Arbeiten und atmen hier, so wie ihr auch, Die gleiche Moskauer Luft. So leben wir, Und das, was früher gewesen ist, Ist längst Geschichte, Freunde.2120

2120 5QS^_, UQS^_ p b SQ]Y ^V Rl\ S]VbcV, 9 Sl, [_^Vh^_, Sb`_]^YS `a_ ]V^p, Ad[_Z ]Qf^VcV – ^Y[Q[Yf YXSVbcYZ ! ?^ TUV-c_ _hV^m UQ\V[_, UadXmp. þV SVamcV, Vb\Y b[QWdc SQ] : _^ TUV-c_ 3 cQ[_Z T\diY, XQ caYUVSpcm XV]V\m, 4UV UQWV \Vc_] ^V RlSQVc \VcQ, 1 [adT\lZ T_U ]_a_Xl UQ ]VcV\m. þV SVamcV, RdUc_ S nc_Z T\df_]Q^Y P `_XQRl\ _ SQb, UadXmp ]_Y, 7YSd S b^VTQf, S bcaQ^V, S bcaQ^V iQ]Q^mVZ, ?UY^, RVX b\VX, RVX WYX^Y, RVX \oRSY. þV SVamcV X\_]d nc_]d ^QSVcd, @aVaSYcV c_c ^QUd]Q^^lZ aQbb[QX. CQ[_T_ [aQp ^V Rl\_ Y ^Vcd, 1 Vb\Y Rl\, c_ XQU_\T_ U_ ^Qb. 9 [c_ RlSQ\ [_TUQ-c_ S nc_] [aQV, C_c ^V dX^Q\ Rl ^l^hV ncYf ]Vbc. ?T^p]Y bca_V[ ^VR_ _XQapp, AQbcdc `_bV\[Y ^_SlV _[aVbc. 9 _c =_b[Sl U_ ^Qb T_aQXU_ R\YWV, HV] Rl\_ aQ^miV, ]l cdc, [Q[ Y Sl, 7YSV] Y \oRY], cadUY]bp Y UliY] ?U^Y] Y cV] WV S_XUdf_] =_b[Sl. 3_c cQ[ ]l Y WYSV], 1 c_, hc_ Rl\_… 5QS^_ di\_ S Ybc_aYo, UadXmp. Kozin, Vadim: Populjarnye pesni v neslozˇnom perelozˇenii dlja fortepiano, 2006, S. 73 – 75.

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Auch in gemischten Konzertprogrammen am Theater wurde Kozin eingesetzt: Beispielsweise fand im Jahr 1965 ein literarisch-musikalischer Abend zum Gedenken an Sergej Esenin statt, dessen ersten Teil Kozin mit Liedern auf Esenins Texte beendete.2121 In der Theatersaison 1965/66 wurde ein vergleichbarer Abend für Konstantin Simonov veranstaltet, bei dem Kozin unter anderem eigene Lieder auf Simonovs Texte vortrug.2122 Sein letztes Konzert gab er im Jahr 1973 in Magadan,2123 aber zu Hause sang er für Besucher, wie bereits erwähnt, bis zuletzt. Publikationen über seine Konzerte erschienen jedoch nur in kleinen Regionalzeitungen, wie z. B. der in Sejmcˇan (27, 28) gedruckten Novaja Kolyma (Die neue Kolyma).2124 Daraus geht unmissverständlich hervor, dass Kozin trotz seiner Vergangenheit ein Publikumsliebling gewesen ist. In landesweiten Publikationen wurde über ihn nach der Haft erst seit den 1980er-Jahren berichtet. Zwar brachte eine Monografie über die Geschichte der sowjetischen Estrade, die 1977 erschien, bereits einen Abschnitt über Kozin, aber der Autor erwähnte seine Verhaftung nicht und tat so, als ob der Sänger schon tot wäre.2125 1982 brachte die Zeitschrift Sovetskaja e˙strada i cirk (Sowjetische Estrade und Zirkus) einen Artikel von Boris Savcˇenko, welcher dann im landesweiten Fernsehprogramm erwähnt wurde.2126 Daraufhin kam es zu weiteren Publikationen, verstärkt seit der Perestroika. Z. B. druckte die renommierte Zeitung Literaturnaja gazeta (Literaturzeitung) im August 1987 ein Interview mit Kozin ab, die sehr verbreitete Illustrierte OgonÚk (Flämmchen/Feuerchen) und die Zeitschrift Muzykal’naja zˇizn’ (Das Musikleben) schrieben über ihn.2127 E˙duard Poljanovskij, ein Korrespondent der Zeitung Izvestija, besuchte Vadim Kozin Mitte der 1980er-Jahre. Als lebenslanger Verehrer Kozins erfuhr er erst nach Erscheinen der ersten Schallplatte der Firma Melodija mit Kozins

2121 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 144, l. 2, 2ob. Ob die Musik zu den Liedern von Kozin selbst komponiert wurde, konnte dem Programm nicht entnommen werden. 2122 GAMO: F. R-54, op. 1, d. 144, l. 6, 6ob. 2123 Savcˇenko, Boris: »Pomnite Vadima Kozina?.. Konecˇno, pomnite…«, in: Literaturnaja gazeta, 5. August 1987, S. 8. 2124 Nevolina, T.: »Na koncerte Vadima Kozina«, in: Novaja Kolyma (Sejmcˇan), 5. Juli 1969 (Nr. 84, fälschlicherweise wurde »Juni« gedruckt), S. 2. Ein weiteres Beispiel bietet Lysenko, E˙.: »PoÚt V. Kozin«, in: Tichookeanskaja zvezda, 19. September 1967. Savcˇenko, Opal’nyj Orfej, 1991, S. 110. 2125 Vgl. Savcˇenko, Opal’nyj Orfej, 1991, S. 50. 2126 Savcˇenko, Boris: »›EsˇcˇÚ ne speto stol’ko pesen…‹«, in: Sovetskaja e˙strada i cirk, 1982, Nr. 1, S. 28 f.; Savcˇenko, Opal’nyj Orfej, 1991, S. 5; Sˇipunov, »Opal’nyj Orfej«, 15. Mai 1993, S. 7. 2127 Dudinskij, I./Rebrov, Ju.: »Osen’. Prozracˇnoe utro…«, in: OgonÚk, 1987, Nr. 10, S. 15; Savcˇenko, »Pomnite Vadima Kozina?..«, 5. August 1987, S. 8; Savcˇenko, Boris: »›Osen’‹. Iz prosˇlogo sovetskoj e˙strady«, in: Muzykal’naja zˇizn’, 1987, Nr. 8, S. 10.

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Liedern im Jahr 19852128 davon, dass der Sänger noch lebte. Über Kozins Wohnsituation schrieb Poljanovskij damals: Ich habe viel Armut und Elend gesehen, habe viele grausame Lebensdramen kennengelernt. Aber das, was sich mir am Ende der Welt, in Magadan, eröffnete, stellte vieles, wenn nicht alles davon in den Schatten. Der große Tenor […] verlebte seine letzten Jahre nicht nur in völliger Vergessenheit, sondern auch in Armut.2129

Abb. 71: Ein Blick in Kozins letzte Wohnung, die zum Museum erklärt wurde, im Juli 2006.

Michail Il’ves berichtet, dass Kozins Wohnung einem Chaos glich. Die Wände seien nicht sichtbar gewesen, weil sich davor Bücher, Briefe, Zeitungen, Schallplatten, Zeitschriften und Bänder mit Aufnahmen seiner Lieder türm2128 Savcˇenko, Opal’nyj Orfej, 1991, S. 34. Zum Erscheinen der dritten Schallplatte mit Liedern von Kozin hieß es im Jahr 1988 in der Zeitschrift Melodija, dass nach den ersten zwei Schallplatten sehr viele Fans dankbare Briefe an Melodija geschrieben hätten. Kozin war landesweit nicht vergessen. Michajlova, N.: »Vadim Kozin. Pesni i romansy. Zapisi 30 – 40ch godov«, in: Melodija, 1988, Nr. 4, S. 44. 2129 =^_T_ SYUV\ p ^YjVcl, dR_T_bcY, XQcaQS\V^^_bcY, ]^_T_ `_SYUQ\ WVbc_[Yf WYcVZb[Yf UaQ]. þ_ c_ , hc_ _c[al\_bm ^Q [aQo XV]\Y, S =QTQUQ^V, `aVSX_i\_ ]^_T_V, Vb\Y ^V SbV. 3V\Y[YZ cV^_a […] U_WYSQ\ T_Ul ^V c_\m[_ S `_\^_] XQRSV^YY, ^_ Y S ^YjVcV. Poljanovskij, E˙duard: »Pevcy«, in: Izvestija, 15. Januar 1994, S. 1.

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ten.2130 Kozins Wohnung war dermaßen klein, dass das Chaos angesichts seiner großen Bibliothek unumgänglich war. Der Artikel, den Poljanovskij über Kozin verfasst hatte, wurde »wegen der Vergangenheit des Sängers« nicht in Izvestija abgedruckt. Erst im Jahr 1990, vier Jahre nach seinem Entstehen, wurde der Essay in der Zeitung Nedelja (Die Woche) publiziert2131 und zog keine Reaktionen nach sich, weil dieses Organ nicht so öffentlichkeitswirksam war wie Izvestija.2132 Doch die Situation änderte sich: Nach dem Zerfall der Sowjetunion berichtete Izvestija im ersten Halbjahr des Jahres 1993 gleich dreimal über Kozin.2133 Als ebenfalls 1993 in Moskau ein »Platz der Stars« [plosˇcˇad’ zvÚzd] nach dem Vorbild Hollywoods eingerichtet wurde, erhielt er dort einen Stern.2134 Im April 1993 meldete die Magadaner Zeitung Territorija (Territorium), dass die Kulturverwaltung des Gebiets Magadan ein Telegramm vom Kultusminister der UdSSR erhalten hatte. Darin wurde mitgeteilt, dass Kozin der Titel »Volkskünstler der RSFSR« verliehen worden war. Der Zeitungsartikel war mit »Endlich offizielle Anerkennung« überschrieben.2135 Über die Verleihung des Titels berichtete auch die Moskauer Zeitung Vecˇernjaja Moskva am 31. März 1993.2136 Die Meldungen der Zeitungsredaktionen waren jedoch voreilig, denn es kam letzten Endes doch nicht zur Titelverleihung. Auch die Ernennung Kozins zum Ehrenbürger Magadans, welche er stark herbeigesehnt haben soll, blieb ihm versagt.2137 E˙duard Poljanovskij fragte das Auswahlgremium nach den Gründen dafür, warum Kozin der Titel des Volkskünstlers versagt geblieben ist. Er erhielt, seiner Darstellung nach, ein Antwortschreiben von Nina Sivova, der Vorsitzenden der Kommission für Staatspreise des Präsidenten der Russischen Föderation. Ihrer Auskunft nach entschied sich die Kommission einstimmig gegen eine Verleihung wegen der zweiten Verurteilung Kozins im Jahr 1960 durch das Magadaner Gebietsgericht gemäß § 152 des Strafgesetzbuches der RSFSR, welcher wegen der Verführung Minderjähriger belangte. Der Korrespondent argumentierte in seinem Artikel aber trotzdem für Kozin, und zwar wegen der Verjährung des Vorgefallenen.2138 Il’ves, »Zacˇem solov’ju zolotaja kletka?«, 1994, S. 150 – 152. Poljanovskij, E˙duard: »Pevec«, in: Nedelja, Nr. 12, 19.–25. März 1990, S. 14 f. Poljanovskij, »Pevcy«, 15. Januar 1994, S. 1 u. 10. Poljanovskij, »Pevcy«, 15. Januar 1994, S. 10. Kul’tura, 19. Juni 1993, S. 7; Vecˇernij Magadan, 18. Oktober 2002, S. 6. »Vadim Kozin: nakonec-to oficial’noe priznanie«, in: Territorija (Magadan), 8. April 1993 (Nr. 39), S. 1. 2136 Vecˇernjaja Moskva, 31. März 1993 (Nr. 61), S. 1. 2137 Sitnikov, »Magadan. Vadimu Kozinu«, 29. Oktober 1991, S. 4; Smolina, »Ostalas’ pesnja…«, 21. März 1995, S. 2. 2138 Poljanovskij, E˙duard: »›Lozˇ’ kak sredstvo obsˇcˇenija vlasti s grazˇdanami‹«, in: Izvestija, 10. Oktober 1994, S. 5.

2130 2131 2132 2133 2134 2135

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Wie der Magadaner Journalist Michail Il’ves berichtet, war Kozins Gesangsstimme Anfang der 1990er immer noch stark, jedoch hat er nur noch schlecht gesehen. Er schimpfte über die zeitgenössische Estrade und lebte hauptsächlich für seinen Kater.2139 Das angebliche 90. Jubiläum des Sängers wurde in Magadan im Jahr 1993 mit großen Feierlichkeiten begangen. Das Musikfestival Zolotaja osen’ pevca (Der goldene Herbst des Sängers) endete mit einem sechsstündigen Konzert unter großer Beteiligung von Moskauer Künstlern. Auf der Bühne war ein Thron für Kozin aufgebaut, welcher jedoch leer blieb – der Sänger hatte es vorgezogen, dem Konzert fernzubleiben. Kozin erhielt Geldprämien und einen Musiksalon: Die seiner Wohnung benachbarte Wohnung wurde dafür umfunktioniert, indem sie mit goldfarbenen Tapeten und einem roten Flügel ausgestattet wurde, den die Firma Magadan Moreprodukt (Magadaner Meeresfrüchte) gespendet hatte.2140 Ein Jahr später, im Dezember 1994, starb Kozin. Die Todesanzeige in der Zeitung Kul’tura spricht von ihm als einem großen Sänger, einem Volkskünstler, welcher gewaltsam seines Publikums beraubt und im Lager inhaftiert worden war.2141 In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre fanden Feierlichkeiten zu Ehren Kozins sowohl in Magadan als auch in seiner Heimatstadt Sankt Petersburg statt. Es gab in Petersburg Pläne, ein Kozin-Museum einzurichten,2142 die offensichtlich im Sande verlaufen sind. Im März 1999 wurde Kozins Musiksalon in Magadan im renovierten Zustand wiedereröffnet.2143 Um das Archiv des Sängers gab es jedoch viele Auseinandersetzungen. In seinen letzten vier Lebensjahren war Dina Klimova, die als Fan des Sängers aus Kasachstan angereist und nach mehreren Besuchen in der Nachbarschaft Kozins wohnen geblieben war, immer in seiner Nähe. Nach seinem Tod leitete sie das Kozin-Museum, welches jedoch im Grunde genommen kein Museum war. Nur der Musiksalon – und nicht die eigentliche Wohnung des Sängers – konnte besichtigt werden, seine zahlreichen unveröffentlichten Aufnahmen und sein Schrifttum wurden nicht fachgerecht behandelt, es gab keinerlei Ausstellungen und Forschungsarbeit.2144 Obwohl dies schon seit 1999 in der Magadaner Presse teilweise stark kritisiert worden war,2145 war die Lage im Jahr 2006 quasi unverändert, mit dem Unterschied, dass Dina 2139 Il’ves, »Zacˇem solov’ju zolotaja kletka?«, 1994, S. 151, 154 f. 2140 Sˇarova, »U sud’by est’ cena«, 4. Juli 1995, S. 3; Tichmeneva, Vera: »Solov’ju Rossii posvjasˇcˇaetsja…«, in: Magadanskaja pravda, 27. März 1993, S. 1. 2141 Kul’tura, 24. Dezember 1994 (Nr. 50), S. 2. 2142 Smolina, Tamara: »›MoÚ ty vspomnisˇ’ imja…‹«, in: Vecˇernij Magadan, 11. April 1997, S. 9. 2143 Popov, »Prijut opal’nogo pevca«, 1999, Nr. 5, S. 40. 2144 Dorogoj, Igor’: »Strasti po Vadimu«, in: Kolymskij trakt, 24. Oktober 2001, S. 4 f. 2145 Afonina, Lola: »Pevec uchodjasˇcˇego veka«, in: Magadanskaja pravda, 18. März 1999, S. 3; Dorogoj, »Strasti po Vadimu«, 24. Oktober 2001, S. 4 f.

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1940er- und 1950er-Jahre

Klimova Magadan verlassen hatte, und Kozins letzte Wohnstätte besichtigt werden konnte. Sowohl zum 90. als auch zum 100. Geburtstag Kozins erschienen in Magadan Bildbände.2146 Im März 2003 wurde das vermeintlich 100. Jubiläum des Sängers mit dem Festival Kozinskaja vesna (Kozins Frühling) begangen. Zwei Hefte mit Kozins Liedern sind erschienen,2147 und es wurde eine Briefmarke zu diesem Jubiläum gedruckt.2148 Einige Konzerte fanden auch in Moskau und Sankt Petersburg statt.2149 Interessant ist die Frage danach, wie im heutigen Russland mit der Figur des Sängers umgegangen wird. Die Einwohner Magadans wussten in den 1960erJahren, dass er im Jahr 1959 wegen Päderastie verhaftet worden war.2150 Und auch im Jahr 2011 schrieb Michail Il’ves, in Magadan sei allgemein bekannt, dass Kozin kein politischer Häftling gewesen war. Viele große Menschen hätten ihre Schwächen gehabt, so Il’ves, aber schließlich seien sie nicht deswegen berühmt geworden.2151 Erstaunlich ist angesichts dessen zu lesen, dass eine Mitarbeiterin des Magadaner Kozin-Museums noch im Jahr 2003 in einem Artikel lediglich § 58 als Verurteilungsgrund angab.2152 Das zweite Gerichtsverfahren gegen Kozin, für welches er nicht rehabilitiert worden ist, wird in den weitaus meisten Artikeln über ihn einfach verschwiegen, in einigen nur beiläufig erwähnt, ohne die Gründe für die Verurteilung zu nennen. 2005 äußerte sich Boris Savcˇenko etwas ausführlicher dazu, unterstellte dem Geheimdienst aber, dass der Junge, an dem Kozin sich vergangen haben soll, ihm zugespielt worden war. Wenn dies auch nicht abwegig scheint, so gibt Savcˇenko doch keinerlei Begründung für diese Vermutung an. In der zum vermeintlichen 100. Jubiläum Kozins im Jahr 2003 in Magadan erschienenen Broschüre schreibt Boris Savcˇenko: »Es gibt mehrere Versionen darüber, warum Kozin verhaftet wurde, aber ist es denn so wichtig zu wissen, aus welchem formalen Grund er in Ungnade fiel?« Und weiter unten heißt es: »[…] er wurde aufgrund von drei Paragrafen verurteilt, der wichtigste darunter war der berüchtigte § 58«.2153 Dahingestellt sei, was in diesem Fall »der wichtigste« zu 2146 Rezinovskij, Vadim Kozin, 1993; Savcˇenko, Boris: Vadim Kozin. Stranicy zˇizni. K 100-letiju so dnja rozˇdenija, 2003. 2147 Kozin, Vadim: Pesni i romansy, dlja golosa i fortepiano, hrsg. von Aleksandr Nagaev, 2003; Kozin, Vadim: »Ty pesnja moja, Magadan«, hrsg. von Aleksandr Nagaev, 2003. 2148 Vecˇernij Magadan, 21. März 2003 (Nr. 12), S. 1. 2149 Alekseeva, Natal’ja: »E˙pochi ugasnuvsˇej prosin’«, in: Vecˇernij Magadan, 11. April 2003, S. 6 u. 8; Kultura, 13.–19. März 2003 (Nr. 10), S. 4; Kusˇtapina, »›EsˇcˇÚ ne speto stol’ko pesen…‹«, 25.–26. März 2003, S. 4. 2150 Savcˇenko, »Predislovie«, 2005, S. 6. 2151 Il’ves, Michail: »Vadim Kozin«, in: Vostocˇnyj forpost (Magadan), 2001, Nr. 3, S. 27. 2152 Alekseeva, Natal’ja: »›Ja ljublju e˙tu zemlju‹«, in: Region (Magadan), 20.–26. März 2003, S. 2. 2153 Savcˇenko, Vadim Kozin, 2003, S. 5. Die Formulierung, dass der § 58 der wichtigste bei der

Fallbeispiel: Die Kolyma und das Sevvostlag

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heißen hat. Fest steht, dass eine tiefgehende Auseinandersetzung mit Kozins Schicksal ohne Voreingenommenheit und mit Einbeziehung aller verfügbaren Fakten noch aussteht.2154 Einige Tatsachen aus seinem Leben werden unter den Teppich gekehrt. Auch wenn er zum Teil Opfer des Regimes war, dürfen seine kriminellen Handlungen und sein Denunziantentum, wenn er sie denn tatsächlich praktiziert hat, nicht heruntergespielt werden. Ein polarisierendes Denken ist hier offensichtlich fehl am Platz, denn es wird den Verwicklungen der Geschichte nicht gerecht. Gleichzeitig ist größte Vorsicht geboten, um nicht vorschnell mit negativen und möglicherweise ungerechtfertigten Urteilen den Sänger erneut zu verurteilen. Hierbei kommt die Erzählung Julij Danie˙l’s Iskuplenie (Sühne) in Erinnerung, in welcher der Ich-Erzähler in der Zeit nach dem 20. Parteitag von einem ehemaligen Häftling beschuldigt wird, ihn denunziert und auf diese Weise in den Gulag gebracht zu haben. Der Erzähler wird von seinen Freunden und Bekannten verstoßen und landet in der Psychiatrie. Die Beschuldigungen machen sein Leben zunichte, sind aber nicht gerechtfertigt.2155 Umso mehr sollten vorschnelle Verurteilungen von Generationen unterlassen werden, die den Terror nicht selbst erlebt haben. ***

Die ausgewählten Lebensläufe von inhaftierten Musikern im Sevvostlag haben gezeigt, dass Gulag-Häftlinge entscheidend zum Musikleben in der Provinz beigetragen haben. Somit wurde die hochwertige Musikausbildung an der Basis, derer sich die Sowjetunion rühmte, von ihnen mitgetragen, was bis heute nicht genügend gewürdigt worden ist. Auf einen großen Teil dieser Musiker trifft zu, dass keine wissenschaftlichen Biografien über sie vorliegen, wodurch verhindert wird, dass sie bei der Musikgeschichtsschreibung berücksichtigt werden. Hier besteht dringend Forschungsbedarf.

Verurteilung Kozins war, benutzte Savcˇenko schon in seiner ersten Monografie im Jahr 1991, S. 49. 2154 An dieser Stelle ist Vladimir Zaika beizupflichten, der schon im Jahr 1995 festgestellt hat, dass gesicherte Fakten zu Kozins Biografie fehlen. Es ist jedoch nicht nachvollziehbar, warum Zaika, der Kozins Legendenbildungen dementiert, schließlich dafür plädiert, einfach Kozins Lieder zu hören, ohne nach seinem Leben zu fragen. Seine Aussage, dass die verstrichene Zeit eine Rekonstruktion der Biografie Kozins unmöglich macht, scheint nicht zutreffend. Zaika, »Vadim Kozin«, 1995, S. 19 f. 2155 Arzˇak, Nikolaj: »Iskuplenie«, in: ders.: Govorit Moskva. Povesti i rasskazy, 1966, S. 97– 159.

C

Selbstbestimmtes Musizieren der Häftlinge: die Lagerlieder

Dieses Kapitel behandelt die abseits von offiziellen Zusammenhängen im Gefängnis und Lager erklungenen Geräusche, Klänge, Gedichte und schließlich Lagerlieder. Erinnerungen ehemaliger Häftlinge lösen oftmals Entsetzen aus, wenn die miserablen Unterbringungsbedingungen und der unmenschliche Umgang mit und unter den Insassen beschrieben werden. So berichtete beispielsweise der Musiker Georgij Golubev, der im Jahr 1937 im Butyrka-Gefängnis inhaftiert war, dass er dort die Zelle Nr. 71 mit 90 weiteren Insassen teilen musste; wegen Platzmangel drehten sich die Häftlinge nachts auf ein Kommando hin gemeinsam um. Zu essen bekamen sie eine Suppe mit »dünnem weißen Gedärm«.2156 In jener Zeit, auf dem Höhepunkt des Großen Terrors, wurden die Häftlinge während der Verhöre brutal gefoltert. Konnten sie in dieser Enge, bei körperlicher und seelischer Auszehrung noch an Musik denken und wenn ja, welche Beweggründe brachten sie dazu? Die Annäherung an eine Antwort wird die verschiedenen Stadien von Musik, angefangen mit Stille, Geräuschen und umgebenden Klängen bis hin zu den im Lageralltag gesungenen Liedern berücksichtigen. Gedichte werden ebenfalls miteinbezogen, weil von ihnen ein direkter Weg zu Lagerliedern führt, wie noch deutlich gemacht werden soll. Dadurch sollen möglichst viele Gründe benannt werden, die zum Rezipieren von Musik im Gefängnis und Lager geführt haben. Dabei werden diese verschiedenen Stadien von Musik in unterschiedlichen Phasen des Häftlingsdaseins betrachtet: angefangen mit der Gefängnishaft über den Transport ins Lager bis hin zum Lageralltag. Im ersten Abschnitt, welcher von den Klängen und Geräuschen des Gefängnisses und Lagers handelt, steht die passive Rezeption im Mittelpunkt, in den folgenden Abschnitten aber die aktive selbstbestimmte Musikausübung bis hin zum Erschaffen von Lagerliedern.

2156 Archiv Memorial Moskau: F. 1, op. 2, d. 1446, l. 4.

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Selbstbestimmtes Musizieren der Häftlinge: die Lagerlieder

Klänge und Geräusche des Gefängnisses und des Lagers Verordnete Stille im Gefängnis Meinhard Stark folgert aus 16 Interviews mit deutschen Frauen, die ab Ende der 1920er-Jahre in die Sowjetunion übergesiedelt waren und dort Ende der 1930erJahre und in den 1940ern verhaftet und zu Lagerhaft verurteilt wurden, dass der Gefängnisalltag »buchstäblich sprachlos« war : »Es gab kein Wort, kein gutes und kein schlechtes«, sagt Antonie Satzger. Und Julie Bevern erinnert sich: »Die Aufpasserin hat immer durch den Spion geguckt. Sowie jemand versucht hat, sich zu unterhalten, da war die schon im Zimmer und hat gleich die Starosta, die Älteste der Kammer, gerufen. Die mußte alles melden.«2157

Ol’ga Adamova-Sliozberg berichtet, dass die Häftlinge im Transitgefängnis von Kazan’ im Jahr 1938 nur flüstern durften, andernfalls drohte ihnen der Karzer.2158 Der Chirurg Boris Oliker, der von 1936 bis 1939 seine Haft auf den Solovki verbüßte, berichtet, dass im dortigen Gefängnis auch Flüstern bestraft wurde, weswegen die Häftlinge monatelang schwiegen.2159 Diese verordnete Stille konnte eine Täuschung des inneren Gehörs bewirken, wie aus einem Interview von Meinhard Stark mit Erna Kolbe hervorgeht: »Dann war [da] eine Russin, die hat immer an der Tür gestanden und geflüstert. Einmal hat sie mich angesprochen: ›Erna Genrichowna, hören Sie denn nicht die vielen Menschen, ich höre doch ununterbrochen Stimmen.‹«2160

Als das Solovezker Lager im Jahr 1938 in ein Gefängnis umfunktioniert wurde, wurden alle auf der Hauptinsel Solovki lebenden Möwen auf eine Anweisung von oben von den Wachposten vernichtet, worüber sich die Häftlinge in der Zelle, in ˇ irkov einsaß, sehr betroffen zeigten.2161 Dadurch sollte gewährleistet der Jurij C werden, dass die Totenstille des Gefängnisses nicht gestört wurde, so die Vermutung eines ehemaligen Häftlings.2162 Im daraufhin auf den Solovki eingerichteten Isoliergefängnis wurde Stille von der Lagerleitung aktiv gegen die Häftlinge eingesetzt: Die Flure waren mit Filz ausgelegt und das Wachpersonal trug Filzpantoffeln, sodass die Häftlinge nicht hören konnten, wenn sich jemand näherte. Auf diese Weise wurden sie immer überrascht, wenn das Wachpersonal sie durchs Guckloch beobachtete.2163 2157 2158 2159 2160 2161 2162 2163

Stark, »Ich muß sagen, wie es war«, 1999, S. 120. Adamova-Sliozberg, Ol’ga: Put’, 2002, S. 54. Brodskij, Solovki, 2002, S. 506. Stark, »Ich muß sagen, wie es war«, 1999, S. 124. ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 200. C Brodskij, Solovki, 2002, S. 476, 491. ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 55. C

Klänge und Geräusche des Gefängnisses und des Lagers

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Durch die Gefängnismauern drangen aber Geräusche in die Zellen, welche wegen der verordneten Stille umso stärker wahrgenommen wurden. Tat’jana Lesˇcˇenko-Suchomlina, die im Jahr 1947 im Lubjanka-Gefängnis inhaftiert war, erinnerte sich Jahrzehnte später, dass Geräusche das Schrecklichste in der »Grabesstille des Gefängnisses« gewesen waren.2164 Es handelte sich um die Schreie von gerade verhörten Frauen und Männern, die bei den Gefangenen Angst auslösten.2165 Schmerzensschreie anderer Gefangener in benachbarten Zimmern wurden von den Untersuchungsführern zur Einschüchterung der Häftlinge verwendet.2166 Tat’jana Lesˇcˇenko-Suchomlina hörte im LefortovoGefängnis in Moskau in den Jahren 1947/48 Schreie, die mit Musik vermengt waren. Sie vermutete, dass Musikaufnahmen dazu eingesetzt wurden, um die Schreie zu übertönen.2167 Evgenija Ginzburg bezeichnete gefängnistypische Geräusche in ihren Erinnerungen sogar als eine »Sinfonie« des Gefängnisses, und zwar bei der Beschreibung der Foltergeräusche, die in den Gefängniszellen der Butyrka im Juni 1937 nachts hörbar gewesen waren. Ginzburg unterscheidet drei Schichten dieser »Sinfonie«, was von einer Polyphonie der Gefängnisgeräusche zu sprechen erlauben könnte: die erste Schicht bildeten die Schreie und das Stöhnen der Gefolterten, die zweite das Geschrei und die Beschimpfungen der Folternden sowie die dritte Geräusche der geworfenen Stühle, Schlaggeräusche und »etwas Undefinierbares, was das Blut zum Erstarren brachte«.2168 Wie im Allgemeinen keine Regel im Gulag flächendeckend durchgesetzt werden konnte, so wurde auch die Verordnung der Stille im Gefängnis nicht überall befolgt. Nach Jacques Rossi wurde diese Anweisung insbesondere in Transitgefängnissen nicht beachtet,2169 aber auch in einer Reihe von anderen Gefängnissen, wie aus Häftlingserinnerungen hervorgeht, die etwa über Konzerte in Gefängniszellen berichten, was im Laufe dieses Kapitels erwähnt wird. Unbedingt erwähnenswert ist, dass zur Geräuschkulisse des Gefängnisses das unter den Häftlingen sehr weit verbreitete Klopfen gehörte, mit dessen Hilfe mit den Nachbarzellen kommuniziert werden konnte, und welches die Wärter zu unterbinden versuchten.2170

2164 Vilenskij, Dodnes’ tjagoteet, 1989, S. 451. 2165 Stark, »Ich muß sagen, wie es war«, 1999, S. 131 (für 1938 in Moskau); Vilenskij, Dodnes’ tjagoteet, Bd. 1: Zapiski vasˇej sovremennicy, 1989, S. 451 (für 1947 in Moskau). 2166 Stark, »Ich muß sagen, wie es war«, 1999, S. 137. 2167 Vilenskij, Dodnes’ tjagoteet, 1989, S. 454. 2168 Ginzburg, Krutoj marsˇrut, 1985, Bd. 1, S. 160. 2169 Rossi, Spravocˇnik po GULAGu, 1991, Bd. 2, S. 417. 2170 E˙pplbaum, GULAG. Pautina bol’sˇogo terrora, 2006, S. 166 f.

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Selbstbestimmtes Musizieren der Häftlinge: die Lagerlieder

Wahrnehmung von Naturphänomenen im Gefängnis In der Extremsituation des Gefängnisses, in dem einerseits verordnete Stille und andererseits gefängnistypische, meist Angst verursachende Geräusche vorherrschten, entwickelten Häftlinge eine gesteigerte Sensibilität der Sinne: Veränderungen des Lichts und der Luft, welche von Menschen, die in Freiheit ihren Geschäften nachgehen, nicht bemerkt werden, wurden im Gefängnis zu Ereignissen, denn die Aufmerksamkeit ist dort gesteigert.2171

Dies schrieb Nina Gagen-Torn in ihren Erinnerungen an die Untersuchungshaft im Butyrka-Gefängnis Ende 1947 und 1948. Sie erzählt an einer späteren Stelle von einer Situation, welche die veränderte Wahrnehmung der Häftlinge eindrücklich illustriert. Es handelt sich um die Schilderung einer jungen Birke, welche auf der Gefängnismauer wuchs. Die inhaftierte Frau hörte das Bäumchen singen und bildete sich ein, dass es zusammen mit ihr darüber lachte, dass die Gefängniswärter nichts gegen solche Häftlinge ausrichten konnten, die das Lachen einer Birke verstanden.2172 Naturgeräusche wurden auf die eigene Lage bezogen gehört bzw. interpretiert, beispielsweise beschrieb Anatolij Aleksandrov den Regen, den er im Tomsker Gefängnis hörte, als traurig und erinnerte sich daran noch ca. 30 Jahre später.2173 Die Sensibilität der Sinne kann auf die Ungewissheit darüber, was der nächste Augenblick bringen sollte, zurückgeführt werden. So musste Aleksandr Solzˇenicyn im Butyrka-Gefängnis vor der Urteilsverkündung mit ca. 20 weiteren Häftlingen mehrere Stunden lang in Ungewissheit ausharren. Zuvor hatte er zum ersten Mal nach mehreren Monaten Haft wieder Bäume gesehen. Ihre grüne Farbe kam ihm so leuchtend vor wie niemals zuvor oder danach. Gleichzeitig nahm er einen »betäubenden« Gesang der Spatzen wahr. Nach drei Stunden ungewissen Wartens empfand er diesen Gesang als »besessen«. Nach der Urteilsverkündung wurde Solzˇenicyn in der ehemaligen Kirche des Butyrka-Gefängnisses untergebracht, um auf den Transport ins Lager zu warten. Einige der dort zusammengepferchten Häftlinge mussten dreimal täglich das Essen für alle anderen bringen. Dies wurde gerne gemacht, so Solzˇenicyn, weil dabei der grüne Hof gesehen und der Gesang der Vögel im Hof gehört werden konnte2174 – die Häftlinge im Gefängnis sehnten sich nach der Natur und ihren Geräuschen. 2171 @VaV]V^l S bSVcV Y S_XUdfV, ^V XQ]Vc^lV \oUp], XQ^pcl] UV\Q]Y ^Q S_\V, bcQ^_SY\Ybm b_RlcYp]Y S coam]V – S^Y]Q^YV _R_bcaV^_. Gagen-Torn, Nina: Memoria, 1994, S. 115. 2172 Gagen-Torn, Memoria, 1994, S. 123 f. 2173 Aleksandrov, Anatolij: Pod rzˇavymi zvÚzdami. Kniga stichov, 1994, S. 78. 2174 Solzˇenicyn, Archipelag GULag, 1973, Teile I – II, S. 280, 598.

Klänge und Geräusche des Gefängnisses und des Lagers

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Musikhören im Gefängnis Die Geigerin Nadezˇda Kravec, die im Jahr 1949 im Lubjanka-Gefängnis inhaftiert war, hörte eines Abends auf der Pritsche liegend eine kaum vernehmbare Musik. Sie vermutete, es sei ein Radio im Hauptgebäude, wo die Tschekisten sich aufhielten. Gespielt wurde die Walzer-Fantasie von Glinka, wie sich Kravec später erinnerte. Diese Musik löste Glücksgefühle bei der Musikerin aus, und sie dachte, dass dies eine »wunderschöne Musik« sei. In Freiheit hatte sie dieses Stück mehrfach gehört und auch im Orchester gespielt, war ihm gegenüber aber »relativ gleichgültig« gewesen.2175 Evfrosinija Kersnovskaja hörte ein Radio während ihres letzten Verhörs im Gefängnis von Barnaul,2176 bei dem der Untersuchungsführer die völlig entkräftete Frau dazu bringen wollte, sich als schuldig zu bekennen. Im selben Raum war ein Radio vorhanden, aus welchem leise Griegs Solveigs Lied, Ausˇ ajkovskijs Schwanensee und Nussknacker sowie seinem Italienischnitte aus C schen Capriccio zu hören waren. Dabei handelte es sich um Lieblingsstücke Kersnovskajas. Ein lauter Klang des Capriccio hat eine plötzliche Erinnerung an Zuhause in ihr ausgelöst, wo sie diese Stücke zusammen mit ihrer Familie gehört hatte. Die Musik aus dem Radio, so Kersnovskaja, hat ihr den Willen zum Leben gegeben und ihr geholfen, die falsche Anklage nicht zu unterschreiben, sondern dem Untersuchungsführer gegenüber stark zu bleiben.2177 Dies sind zum einen Beispiele dafür, dass durch die äußerst eingeschränkte Rezeption von Musik im Gefängnis Häftlinge stark auf erklingende Musik achteten und emotionaler als in Freiheit darauf reagierten. Zum anderen macht das

2175 Kravec, »Sˇest’ let ›rezˇima‹«, 1988, S. 82. 2176 Evfrosinija Kersnovskaja stammte aus einer russischen Familie, die in Bessarabien lebte. Nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Bessarabien im Jahr 1940 wurde sie 1941 nach Sibirien ausgesiedelt, wo sie als Holzfällerin arbeiten musste. Weil der dortige Vorgesetzte ihr das Leben schwer machte, floh sie und legte ca. 1.500 km durch die Wildnis zurück, bevor sie gefangen und zum Tod durch Erschießen verurteilt wurde. Sie weigerte sich, ein Gnadengesuch zu verfassen, doch das Todesurteil wurde auch ohnedem in zehn Jahre Lagerhaft umgewandelt, welche sie im Noril’sker Lager verbüßte, wo sie im Kohleabbau unter Tage gearbeitet hat. Insgesamt hat sie über 20 Jahre in Verbannung, Gefängnissen und Lagern gelebt. In den Jahren 1963/64 schrieb sie ihre Erfahrungen auf und illustrierte sie mit ca. 700 Zeichnungen, die sie mit Buntstiften, Wasserfarben und Tusche in Schulhefte malte. Sie fertigte mehrere Kopien dieser Schulhefte an, um im Falle einer Durchsuchung und Beschlagnahmung eines Exemplars einen Ersatz zu haben. Ein Teil ihrer Zeichnungen ist in zwei Publikationen veröffentlicht worden: Kersnowskaja, Jefrosinija: »Ach Herr, wenn unsre Sünden uns verklagen«. Eine Bildchronik aus dem Gulag, 1991; Kersnovskaja, Skol’ko stoit cˇelovek, 2004. 2177 Kersnowskaja, »Ach Herr, wenn unsre Sünden uns verklagen«, 1991, S. 185 – 187; Kersnovskaja, Skol’ko stoit cˇelovek, 2004, 169 f.

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Selbstbestimmtes Musizieren der Häftlinge: die Lagerlieder

Beispiel Kersnovskajas deutlich, dass Musik den Häftlingen in kritischen Situationen Kraft spenden konnte.

Sensibilisiertes Gehör auf dem Transport und im Lageralltag In dem für die Zeitschrift Perekovka des Belbaltlag verfassten Essay Ot Belogo do Baltijskogo (Vom Weißmeer bis zur Ostsee) berichtet der Häftling T. Mel’nikov im Jahr 1932 über seine Wahrnehmung des monotonen Geräuschs der Zugräder beim Häftlingstransport: In den Ohren klingt es: tuk, tuk-tuk, tuk tuk-tuk, tuk tuk tuk, das sind die Räder, die ihr Lied singen.2178

Dabei handelt es sich um eine Demonstration der im Gefängnis entwickelten akustischen Sensibilität der Häftlinge. Gleichzeitig kommt dabei die Tendenz zum Ausdruck, Geräusche als Musik zu interpretieren. Dies mag daran gelegen haben, dass ein Häftling, der nicht in der »Laienkunst« beschäftigt war, während der Haft selten mit Musik in Berührung gekommen ist und sie möglicherweise vermisst hat. So verglich Anatolij Aleksandrov als Häftling in Magadan in einem dort verfassten Gedicht im November 1953 das Geräusch, welches der Wind erzeugte, mit den Klängen einer Orgel; auch das Meer hörte er singen.2179 In dieser sensiblen Wahrnehmung der umgebenden Geräusche durch die Häftlinge kann der Ursprung von Lagerliedern gesehen werden. Um die These vom sensibilisierten Gehör der Häftlinge, welches zur Musikalisierung der umgebenden Geräusche beitrug, zu untermauern, werden im Folgenden mehrere Beispiele für dieses Phänomen aus Häftlingserinnerungen angeführt. Ekaterina Olickaja beispielsweise empfand das Schreien der Möwen auf den Solovki als einen Albtraum. Sie wollte »sich die Ohren zuhalten und weglaufen«, als sie es hörte.2180 Nikolaj Anciferov (1889 – 1958), der im Jahr 1929 ebenfalls auf den Solovki interniert war, interpretierte das Schreien der Möwen, als er sich in Todesgefahr glaubte, als beängstigend und klagend.2181 Auch der Religionsphi2178 3 diQf XSdhYc : cd[, cd[-cd[, cd[ cd[-cd[, cd[ cd[ cd[, nc_ [_\VbQ `_oc bS_o `Vb^o, […]. RGALI, F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 3, d. 33, l. 141. 2179 Aleksandrov, Pod rzˇavymi zvÚzdami. Kniga stichov, 1994, S. 75. 2180 Olickaja, Moi vospominanija, 1971, Bd. 1, S. 229. 2181 Brodskij, Solovki, 2002, S. 379. Konstantin Gurskij, der in den Jahren 1933/34 auf den Solovki in Haft war, erinnerte sich später : »þQb, dX^Y[_S ;aV]\p, WYSiYf ^Q VT_ cVaaYc_aYY, _hV^m U_^Y]Q\Y RVbhYb\V^^lV `_\hYjQ _Ta_]^lf `a_W_a\YSlf b_\_SVg[Yf hQV[. B _cSaQcYcV\m^l] `a_^XYcV\m^l] [aY[_] Ra_bQ\Ybm _^Y ^Q XQ[\ohV^^_T_, ^VbdjVT_ hc_-^YRdUm S ad[Qf, […]« (Wir, die im Kreml untergebrachten Häftlinge, wurden von

Klänge und Geräusche des Gefängnisses und des Lagers

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losoph Pavel Florenskij bezeichnete in einem Brief vom Juni 1937 das Schreien der Möwen auf den Solovki als beängstigend.2182 In den in Kem’ verfassten Notizbüchern von Sergej Alymov aus den Jahren 1930/31 findet sich der Beginn einer Erzählung mit dem Titel Melodija provoloki (Die Melodie des Stacheldrahts). Darin heißt es: Der Stacheldraht klingt wie ein aufdringliches Motiv. Er hat wie ein starkes Spinngewebe das Lager umflochten und dringt bis in die Seele hinein […]. Das Radio singt das Motiv eines populären Walzers, welcher verschlafen auf den Flügeln der Geigen seine Kreise über dem Lager zieht. Aber die Melodie des Stacheldrahts klingt hartnäckiger, sie überdeckt den Walzer. Sie kann nicht erstickt werden. Ihre Dornen stechen minütlich.2183

Weiter unten beschreibt der Autor die Geräusche in der nächtlichen Baracke als eine Art Musik des Lagers: Und [es war da] die Stille des Elends und der Trauer der in den Baracken begrabenen, wie Sägemehl auf die Pritschen hingestreuten Menschen. Gedanken an die Kinder, die Frau, Seufzer. Tränen ins Kissen. Zähneknirschen. Stöhnen. Röcheln. Sich wälzen. Hoffnungen. Glaube. Verzweiflung.2184

War es im Gefängnis die Stille, die den Häftlingen verordnet wurde, so sahen sie sich im Lager mit einer lärmenden Umgebung konfrontiert. Solzˇenicyn stellt bei der Beschreibung des Belbaltlag die »Solovezker Stille« den unaufhörlichen Flüchen und lautem Geschrei am Weißmeer-Ostsee-Kanal gegenüber, welches immer mit »erzieherischer Agitation« vermischt gewesen war. Den »ewigen Hetzruf ›Davaj!‹ [»Los!«]« nennt er die »niemals verstummende Begleitmusik« des Belbaltlag.2185 Auch das Autorenkollektiv um Maksim Gor’kij bestätigt diese Beschreibung, indem es dem kriminellen Häftling namens Bisse die folgenden Worte in den Mund legt:

2182 2183

2184 2185

unzähligen Mengen riesiger gefräßiger Solovezker Möwen belästigt. Mit einem abscheulichen durchdringenden Geschrei stürzten sie sich auf jeden Häftling, der etwas bei sich trug). Brodskij, Solovki, 2002, S. 430. Igumen Andronik (Trubacˇev): »Obo mne ne pecˇal’tes’…« Zˇizneopisanie svjasˇcˇennika Pavla Florenskogo, 2007, S. 129. @a_S_\_[Q XSdhYc [Q[ ^V_cSpX^lZ ]_cYS. ?^Q [aV`[_Z `QdcY^_Z _`\V\Q \QTVam Y _^Q WV `a_^Y[QVc S Udid […] AQUY_ `_Vc [? – Schwer zu entziffernde Handschrift.] ^Q ]_cYS ]_U^_T_ [?] SQ\mbQ , b_^^_ [adWQjVT_ ^Q[U] \QTVaV] ^Q [al\mpf b[aY`_[. þ_ ]V\_UYp `a_S_\_[Y XSdhYc ^Qbc_ZhYSVV, _^Q `_[alSQVc SQ\mb. ?^Q ^VXQT\diY]Q. CVa^YY VV [dbQoc [?] VWV]Y^dc^_. RGALI, F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 4, d. 19, l. 145, 146. 9 ]_\hQ^YV T_ap Y b[_aRY, `_TaVRV^^lf [?] S RQaQ[Qf, ^Qbl`Q^^lf [?] ^Q ^Qal _`Y\[Q]Y \oUVZ. =lb\Y _ UVcpf , _ WV^V, SXU_fY. B\VXl S `_Udi[d . B[aY` XdR_S . Bc_^l . FaY`l . =VcQ^Yp. þQUVWUl . 3VaQ . ?chQp^YV. RGALI, F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 4, d. 19, l. 146ob. Solschenizyn, Der Archipel GULAG. Folgeband, 1974, S. 91 f.

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Selbstbestimmtes Musizieren der Häftlinge: die Lagerlieder

Was die Geräusche angeht, so tönt der schreckliche Lärm der Trasse so laut, dass er an eine riesige Fabrik erinnert, wo der Laut eines menschlichen Individuums unhörbar, dafür aber das kollektive Schaffen zu spüren ist. Fast durchgehend kolossales Getöse durch Sprengungen. Und auch [die Geräusche der] Äxte[, die] gegen die Bäume [schlagen]. Die Schläge der Hämmer auf glänzenden Stahl und das heftige Pfeifen des Elektromotors, […]. Die Steine aus den Schubkarren fliegen durch hölzerne Rohre nach unten. Mit einem sehr stumpfen Klang fallen Unmengen von Sand, die von oben mit Schaufeln nach unten geworfen werden. Pferdehufe stampfen auf dem Grund des Bauwerks und überall gibt es Lärm, wohin man sich auch wendet.2186

Auch auf der Kolyma zeichnete sich der Lageralltag durch eine hohe Lautstärke aus. Elena Vladimirova spricht in ihrem Poem Kolyma vom »ewigen Lärm« des Lagers. Dafür sorgten einerseits die zu verrichtenden Arbeitsprozesse im Bergbau oder Straßenbau sowie andererseits die Tatsache, dass die Häftlinge sich permanent in einer Menschenmasse aufzuhalten hatten. Sofort nach dem Wecken begannen sie zu reden und sich zu bewegen, so Vladimirova, wodurch sich ein »undefinierbares Brummen« ergab.2187 Matvej Grin beschrieb den ständigen Aufenthalt der Häftlinge in einer Menschenmasse als Qual.2188 SemÚn Vilenskij bestätigte diese Erfahrung und sprach in diesem Zusammenhang vom natürlichen Verlangen nach Stille, welches im Lager nicht ausgelebt werden konnte, weil der Häftling sich ständig in einer Menschenmasse befunden hatte. Er selbst hatte regelmäßig gegen Vorschriften verstoßen, um in den Karzer eingesperrt zu werden. Dort war es zwar kalt und dunkel gewesen, und man hatte Hunger leiden müssen, aber man konnte wenigstens eine Zeit lang alleine sein. Im Karzer sind fast alle seine Lagergedichte entstanden.2189 Auf diese Weise wurde das im Gefängnis sensibilisierte Gehör der Häftlinge im Lager mit übermäßigem Lärm konfrontiert. Singen bot aber eine Möglichkeit, den Lärm in der Baracke für einen gewissen Zeitabschnitt einzudämmen, wenn zumindest ein Teil der Häftlinge dem Gesang zuhörte. Vor der Betrachtung des Singens im Lager sollen aber zunächst die typischen Geräusche im Leben der Häftlinge dargestellt werden, um die akustische Kulisse der Lagerlieder ein Stück weit zu vervollständigen. 2186 Hc_ WV [QbQVcbp XSd[_S, c_ bcaQi^lZ id] caQbbl XSV^Yc ^Qbc_\m[_, hc_ ^Q`_]Y^QVc Ta_]QU^do eQRaY[d, TUV ^V b\li^_ XSd[Q hV\_SVhVb[_T_ Y^UYSYUQ, Q hdSbcSdVcbp [_\\V[cYS^_V cS_ahVbcS_. @_hcY SbV SaV]p SXalShQclV [_\_bbQ\m^lV Ta_]l. 1 cQ[WV c_`_al _R UVaVS_. Bcd[ ]_\_c[_S _ R\Vjdjdo bcQ\m Y Rda^lZ bSYbc n\V[caYhVb[_T_ ]_c_aQ, […]. 4a_f_hdc Rd\lW^Y[Y, Sl[QclSQV]lV YX cQhV[, Y \Vcpc hVaVX UVaVSp^^lV cadRl S^YX. B _hV^m cd`l] XSd[_] `QUQoc cdhY `Vb[Q, [_c_alV bSVafd S^YX bRaQblSQoc \_`QcQ]Y. BcdhQc [_^b[YV [_`lcQ `_ U^d b__adWV^Yp Y SboUd id], [dUQ Sl ^V bd^VcVbm. Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, Reprint 1998, S. 431. 2187 RGALI: F. 1702 (Glavnaja redakcija zˇurnala Novyj mir), op. 9, ed. 89, l. 38, 48. 2188 Grin, »Zabveniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 15, S. 25. 2189 Vilenskij, Voprosy est’?, 2006, S. 232.

Klänge und Geräusche des Gefängnisses und des Lagers

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Geräusche zur Strukturierung des Lageralltags Auf den Solovki wurden die Glocken des Klosters dazu verwendet, den Tagesablauf der Häftlinge zu strukturieren. Beispielsweise wurden sie als Signal zum Aufstehen um sechs Uhr morgens geläutet. Dies war auch auf dem Berg Sekirnaja Brauch,2190 wo Häftlinge zur Strafe isoliert wurden. Mittagessen, Arbeitsende sowie Abendappell wurden durch Glockengeläut markiert.2191 Diese Entfremdung des Geläuts von seinen eigentlichen liturgischen Zwecken bildet eine Parallele zu der säkularen Nutzung von Kirchengebäuden und dem Abriss von Glockentürmen in der zivilen sowjetischen Gesellschaft. Auch die Sirene der Stromerzeugungsanlage wurde auf den Solovki zur Strukturierung des Tages ˇ irkov bezeichnete sie in seinen Erinnerungen als »das wiverwendet. Jurij C derwärtigste Geräusch« überhaupt.2192 Die neu angekommenen Häftlinge aber wurden auf den Solovki teilweise mit Stockschlägen gegen die Pritschen geweckt.2193 Großflächig durchgesetzt hat sich letztendlich das Läuten einer Eisenbahnschiene. So beschrieb Elena Vladimirova die »Architektur der Lager«, zu der auch die obligatorische Eisenbahnschiene gehörte, auf folgende Weise: Es gibt auch einen anderen Stil. Seine Merkmale sind spärlich. Die Epoche hat in der Stille der Nacht Züge, die das Licht scheuen, darin verwirklicht. Farblos, niedrig, sich versteckend, offenbart er eine Zone hinter Stacheldraht, vier Wachtürme in den Ecken, ein Tor, daneben ein Wachthaus, und, vom Stacheldraht gefangen gehalten, die elende Ordnung der Baracken und den Staub sowie die Vergänglichkeit des kümmerlichen Bodens. Bruchstück einer Eisenbahnschiene – ein trostloser Gong – Hängt an einem Pfahl beim Eingang…2194 2190 Brodskij, Solovki, 2002, S. 121, 203. 2191 Kuzjakina, »Teatr na Solovkach i v Medvezˇ’ej gore«, 1990, S. 252; Olickaja, Moi vospominanija, 1971, Bd. 1, S. 222. ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 31. 2192 C 2193 Brodskij, Solovki, 2002, S. 169. 2194 RGALI: F. 3141 (Sˇtejn, A. B.), op. 1, ed. 525, l. 17. 6bcm bcY\m Y^_Z. 6T_ `aY]Vcl B[d`l. 3 RVX]_\SYY ^_h^_] HVacl, R_pjYVbp bSVcQ, N`_fQ S_`\QcY\Q S ^V]. ýYiV^^lZ [aQb_[, `aYXV]\V^^lZ,

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Bereits der erste Roman Aleksandr Solzˇenicyns über den Gulag, Odin den’ Ivana Denisovicˇa (Ein Tag im Leben des Ivan Denisovicˇ), beginnt damit, dass der Tag der Häftlinge durch die Schläge eines Hammers auf eine Eisenbahnschiene eingeläutet wird.2195 Dass eine Eisenbahnschiene zum Tagesanbruch geläutet wurde, wird beispielsweise aus dem Ozerlag,2196 dem Karlag,2197 dem Sevvostlag2198 und anderen Lagern des Fernen Ostens2199 berichtet; ein langsames Läuten der Eisenbahnschiene zum Ende des Tages am Beginn der 1950er-Jahre erinnert Aleksandr Vardi2200. Georgij Sˇelest, der auf der Kolyma in Haft war, berichtet, dass die Schiene vor und nach dem Appell geschlagen wurde.2201 Dies bestätigt für Ende der 1930er-Jahre der auf der Kolyma inhaftierte Georgij Demidov.2202 Trude Richter erwähnt in ihren Erinnerungen an die Haft auf der Kolyma, dass in den Jahren 1939/40 eine Eisenbahnschiene zur Mittagspause geläutet wurde.2203 Vaclav Dvorzˇeckij berichtet, dass der Tag im Etappenpunkt Kotlas schon 1931 mit einer Eisenbahnschiene strukturiert wurde.2204 Ein weiteres Beispiel für den Einsatz der geschlagenen Eisenbahnschiene gibt Aleksandr Vardi für den Beginn der 1950er-Jahre, und zwar wurde sie verwendet, um einen außerordentlichen Appell anzukündigen.2205 Nicht nur in den CQpbm, pS\pVc _^ T\QXQ] 3 [_\ohVZ `a_S_\_[V X_^d, HVclaV Sli[Y `_ dT\Q], 3_a_cQ, SQfcd b ^Y]Y apU_], 9, SXpclZ S `a_S_\_h^lZ `\V^, 2QaQ[_S ^YjV^b[YZ `_apU_[ 9 hQf\_Z `_hSl `l\m Y c\V^. ?R\_]_[ aV\mbl – T_^T d^l\lZ – 3YbYc d Sf_UQ ^Q bc_\RV… Diese »Architektur der Lager« stellte Vladimirova der »Ar-

2195 2196 2197 2198 2199 2200 2201 2202 2203 2204 2205

chitektur des Ruhmes« in Freiheit gegenüber. Weiter unten im Gedicht (l. 18) nennt sie die »Architektur der Lager« den nationalen Stil der Sowjetunion, weswegen sich das Land schämen müsse. Die Lagerarchitektur wurde in der Instruktion der Lagerhauptverwaltung vom 2. August 1939 festgelegt. Kokurin, GULAG, 2002, S. 457 – 475, hier S. 457 f. Danach sollten die Lagerpunkte in Form eines Quadrats oder Rechtecks angelegt werden und von einem Stacheldraht- und/oder Bretterzaun umgeben sein, in dessen Ecken Wachtürme zu stehen hatten. Lager durften sich offiziell nur in abgelegenen Gegenden befinden, in ausreichender Entfernung zu Städten und Eisenbahnlinien. In der Praxis wurden diese Anforderungen jedoch oft nicht erfüllt. Solschenizyn, Alexander : Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch, 1963, S. 19. Kravec, »Sˇest’ let ›rezˇima‹«, 1988, S. 83. Hier ist vom Beginn der 1950er-Jahre die Rede. Hedeler/Stark, Das Grab in der Steppe, 2008, S. 251. RGALI: F. 1702 (Glavnaja redakcija zˇurnala Novyj mir), op. 9, ed. 89, l. 48. Sosnovskij, »Indija«, 2000, S. 5 u. 16. In den 1940ern und Anfang der 1950er-Jahre. Vardi, Podkonvojnyj mir, 1971, S. 115. Sˇelest, Georgij: »Kolymskie zapisi«, in: Znamja, 1964, Nr. 9, S. 176, 178. Demidov, »Klassiki literatury i lagernaja samodejatel’nost’«, 2002, S. 157. Richter, Trude: Totgesagt. Erinnerungen, 1990, S. 328. Dvorzˇeckij, Puti bol’sˇich e˙tapov, 1994, S. 26. Vardi, Podkonvojnyj mir, 1971, S. 49.

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Lagern, sondern auch in so manchem Gefängnis wurde die Eisenbahnschiene geläutet, beispielsweise im Gefängnis von Irkutsk als Signal für den Appell in der Zeit des Großen Terrors.2206 Häftlinge, die im Karzer einsaßen, aber nicht von der Arbeit befreit waren, freuten sich über dieses Geräusch, weil sie dann den Karzer verlassen durften, um zur Arbeit auszurücken.2207 Die anderen Häftlinge aber verfluchten den Klang der Eisenbahnschiene.2208 Seine starke Präsenz im Gulag berechtigt dazu, das Läuten der Eisenbahnschiene als das repräsentativste Geräusch des Gulag zu sehen, welches zur akustischen Umgebung eines großen Teils der Häftlinge dazugehörte. Es stellt eine akustische Verkörperung des eintönigen Lageralltags dar, dem die Häftlinge durch das Singen und Komponieren von Lagerliedern zu entkommen versuchten.

Entstehung und Rezeption der Lagerlieder im Gefängnis, auf dem Transport und im Lager Rezitation und Verfassen von Gedichten als elementares Bedürfnis im Gefängnis Gedichte werden hier auf ungewöhnliche Weise geboren: Ungesehen kommen sie und leben unhörbar ; Gedichte ohne Papier und ohne Bleistift Verfasst die Seele und behält die Seele.2209 Anatolij Aleksandrov, 1946, im Gefängnis in Tomsk

Zahlreiche ehemalige Häftlinge berichten davon, dass es ihnen im Gefängnis ein Bedürfnis war, sich abzulenken. Dies erreichten sie dadurch, dass sie einander Geschichten erzählten, füreinander Vorträge hielten oder leise sangen. Auch Gedichte sind aus dem Bedürfnis nach Ablenkung, nach der Verarbeitung der 2206 Gagen-Torn, Memoria, 1994, S. 74. 2207 Kravec, »Sˇest’ let ›rezˇima‹«, 1988, S. 83. 2208 Aldan-SemÚnov, Andrej: »Tragicˇeskaja poe˙ma«, ausschnittsweise in: Reklamnaja gazeta (Magadan), 23. Mai 1989, S. 6. 2209 BcYfY ^V_Rlh^_ a_WUQocbp cdc : þVXaY]_ pSYSiYbm, ^Vb\li^_ WYSdc; BcYfY RVX Rd]QTY, RVX [QaQ^UQiQ þQ`YiVc UdiQ Y XQ`_]^Yc UdiQ. Aleksandrov, Pod rzˇavymi zvÚzdami. Kniga stichov, 1994, S. 29.

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gegebenen Situation und danach, das Erlebte nicht zu vergessen, rezitiert und verfasst worden. Zinaida LichacˇÚva schreibt in ihren Erinnerungen, dass alle Insassinnen der Zelle im Butyrka-Gefängnis, in der sie im Jahr 1936 einsaß, Gedichte verfasst haben.2210 ˇ irkov berichtet, dass er im Jahr 1938 eine Zelle des Gefängnisses auf den Jurij C Solovki mit dem Sänger und ehemaligen Studenten des Konservatoriums von Baku aus der Klasse Bjul’-Bjul’s Asˇdar Ragimov teilte. Dieser Sänger brachte ˇ irkov flüsternd mithilfe von Gedichten, Volksweisheiten, Liedern und OpeC ˇ irkov in einen eiskalten Karzer gesteckt rettenarien Türkisch bei. Nachdem C worden war, in welchem er sich unaufhörlich bewegen musste, um nicht krank zu werden, flüsterte er anfänglich, solange er körperlich dazu imstande war, Gedichte russischer und deutscher Schriftsteller.2211 SemÚn Vilenskij, ehemaliger Häftling und Herausgeber einer fast tausendseitigen Anthologie mit Gedichten von über 300 Gulag-Häftlingen, schreibt im Vorwort dazu, dass gerade Gedichte eine authentische Quelle zur Geschichte des Gulag aus der Sicht der Häftlinge darstellen, denn ihre Briefe wurden zensiert und Verhörprotokolle nach Gutdünken der Untersuchungsführer erstellt. Er sagt, dass Häftlinge außer Gedichten keine Möglichkeit zum Selbstausdruck hatten und schlussfolgert daraus, dass die Geschichte des Gulag ohne ihre Gedichte nicht geschrieben werden kann, wenn sie die Sicht der Opfer miteinbeziehen will.2212 Alle seine Überlegungen beziehen sich selbstverständlich nicht auf Gedichte, die für Lagerzeitungen und offizielle Anlässe gedichtet wurden, sondern solche, die im Geheimen unter Häftlingen existierten.2213 Auch die ehemaligen Häftlinge Asir Sandler und Miron E˙tlis nennen Häftlingsgedichte Dokumente über den Gulag.2214 Der Stellenwert, der hier für Gedichte proklamiert wird und dem die Autorin vorbehaltlos zustimmt, muss auch für Lagerlieder gelten, denn bei ihnen handelt es sich um meist kollektiv gedichtete Texte, die mit Musik unterlegt wurden. Ein erster Schritt in diese Richtung ist von Michael und Lidia Jacobson gemacht LichacˇÚva, »Detal’ monumenta«, 1988, S. 18. ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 195, 198. C Vilenskij, SemÚn (Hg.): Poe˙zija uznikov GULAGa. Antologija, 2005, S. 5. Mit der Propaganda konforme Gedichte wurden im Gulag in großen Mengen verfasst, wovon zahlreiche Abdrucke in Lagerzeitungen Zeugnis ablegen. So heißt es in Belomorsko-baltijskij kanal im. Stalina: »@_nXYp ^Q 2=B Rl\Q S `_hVcV« (Die Poesie stand im Belmorstroj in hohem Ansehen). Gemeint sind hier Gedichte, die den Kanalbau und die Umerziehung der Häftlinge priesen. Dabei ist sogar von einer »Deklamationsschule des Belmorstroj« die Rede, die sich dortige Dichter angeeignet haben sollen: Sie äußerte sich in einem besonders energischen Vortrag mit entsprechender Körpersprache. Ein »Kanalarmisten-Dichter« wird hier als Amt bezeichnet. Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, S. 591. 2214 Sandler/E˙tlis, Sovremenniki GULAGa, 1991, S. 15. 2210 2211 2212 2213

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worden, die den Gulag-Liedern den Stellenwert einer historischen Quelle zuerkannt haben.2215 Die im Lager entstandenen Gedichte unterlagen keiner Zensur, auch nicht der Selbstzensur, so Vilenskij weiter. Um die Wichtigkeit der Gedichte für die Häftlinge zu verdeutlichen, zitiert er Aleksandr Gladkov, der den folgenden Vers im Jahr 1952 im Kargopol’lag,2216 wo er als Intendant am Lagertheater beschäftigt war, verfasst hat: Also ist es Zeit für Gedichte, jetzt und immerdar, Auch im Gefängnis, auch auf den Pritschen, auch im Gemurmel der Todesminute, Denn solange es Gedichte gibt, bleibt ein Mensch bis zum Ende ein Mensch, Der für sich jegliche Handfesseln zerrissen hat.2217

Asir Sandler und Miron E˙tlis äußerten einen ähnlichen Gedanken, dass nämlich Gedichte den Menschen im Lager halfen, ihre Individualität zu bewahren.2218 Die inoffiziellen Gedichte mussten von Häftlingen auswendig gelernt werden, weil das Aufzeichnen und Aufbewahren dieser Gedichte zu gefährlich war. Und die Häftlinge lernten sie auswendig, weil darin die Wahrheit über ihr Schicksal dargelegt wurde, die sie aus dem Gulag tragen wollten, so Vilenskij. Die vielen unausgefüllten Stunden im Gefängnis quälten die Häftlinge, aber Gedichte halfen ihnen, sie auszufüllen.2219 In seinem Buch Voprosy est’? (Noch Fragen?) beschreibt Vilenskij das Dichten im Gefängnis als ein Mittel dazu, dem Wahnsinn zu entfliehen. Der 1928 geborene Literat studierte seit 1945 an der Philologischen Fakultät der Moskauer Universität. Im Jahr 1948 wurde er verhaftet und von einem Sondergericht wegen angeblicher Pläne eines Anschlags auf Stalin zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Als er im August 1948 im Suchanovka-Gefängnis in Moskau einsaß, durfte er weder schreiben noch Bücher lesen. Deswegen dichtete er und redigierte seine Gedichte auswendig. Jeden Tag wiederholte er die bereits fertiggestellten Gedichte und hatte sie noch 20 Jahre später in Erinnerung.2220 Eines seiner Gedichte, welches unvollendet geblieben ist, handelte von der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes, wobei er seine Vertreter und auch Stalin 2215 Dzˇekobson, Majkl/Dzˇekobson, Lidija (Jacobson, Michael/Jacobson, Lidia): Pesennyj fol’klor GULAGa kak istoricˇeskij istocˇnik, 1998, S. 11. 2216 Dieses Lager befand sich im Gebiet Archangel’sk. Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 304 – 306. 2217 8^QhYc, SaV]p bcYfQ] – Y ^l^V Y `aYb^_ S_SV[, 9 S coam]V, Y ^Q ^QaQf, Y S R_a]_cV b]Vac^_Z ]Y^dcl, – 3VUm `_[Q Vbcm bcYfY, hV\_SV[ U_ [_^gQ hV\_SV[, 5\p bVRp aQX_aSQSiYZ \oRlV ^Qadh^lV `dcl. Vilenskij, Poe˙zija uznikov GULAGa, 2005, S. 5, 813. 2218 Sandler/E˙tlis, Sovremenniki GULAGa, 1991, S. 15. 2219 Vilenskij, Poe˙zija uznikov GULAGa, 2005, S. 6 u. 8 f. 2220 Vilenskij, Voprosy est’?, 2006, S. 52.

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mit Tieren verglich. Das Dichten dieses Fragments erheiterte ihn so sehr, dass er laut lachen musste. Auf diese Weise konnte das Dichten positive Emotionen auslösen, die ansonsten im Gefängnis eher selten waren. Auch waren Gedichte, die SemÚn Vilenskij in seiner Kindheit gelernt hatte, für ihn eine Hilfe während der Folter, als er in einen engen steinernen Karzer gesperrt wurde und dort eine ungewisse Zeit stehend ausharren musste, ohne sich anlehnen zu dürfen. Diese Folter dauerte so lange, bis er nicht mehr stehen konnte und das Zeitgefühl verlor.2221 Auch Ninel’ Monikovskaja behalf sich im Jahr 1943 während der langen Verhöre damit, dass sie in Gedanken Gedichte rezitierte, um nicht einzuschlafen,2222 wofür sie bestraft worden wäre. Aleksandr Solzˇenicyn hörte 1945 im Butyrka-Gefängnis einen Häftling Gedichte von Boris Pasternak rezitieren. 1947 saß er erneut in diesem Gefängnis ein, und zwar in einer Zelle mit 80 Häftlingen. Abends wurden dort von den Häftlingen Vorträge gehalten oder Konzerte gegeben. Dabei lasen sie ihre eigenen oder fremde Gedichte vor, und Solzˇenicyn wurde dadurch angeregt, selbst über die Haft zu dichten.2223 Die Geigerin Nadezˇda Kravec, die im Jahr 1949 in Untersuchungshaft saß, durfte in der Lubjanka Bücher aus der Gefängnisbibliothek bestellen. Sie bevorzugte Aleksandr Pusˇkin und Aleksandr Blok und lernte ihre Gedichte auswendig. Noch 40 Jahre danach konnte sie das damals Gelernte wiedergeben. »Der Inhalt, die Gedanken und die Musik der Poesie« haben sie damals mit großer Freude erfüllt, so die Musikerin in ihren 1988 festgehaltenen Erinnerungen. Diese auswendig gelernten Gedichte haben sie auch im Lager ständig begleitet.2224 Aus Gedichten wurde Kraft zum Leben geschöpft, wie ein Ausschnitt aus dem 1936 in der Butyrka verfassten Gedicht Knigi (Bücher) von Ol’ga AdamovaSliozberg bezeugt: In den Fluss der Poesie hineingetaucht, Fand ich wieder Kraft im Leben. […] In die Welt eurer Gedanken versunken, Habe ich meinen bitteren Harm vergessen.2225

2221 2222 2223 2224 2225

Vilenskij, Voprosy est’?, 2006, S. 54, 61. Monikovskaja, Gody utrat i minuty scˇast’ja, 2001, S. 6. Solzˇenicyn, Archipelag GULag, 1973, Teile I – II, S. 595, 605. Kravec, »Sˇest’ let ›rezˇima‹«, 1988, S. 81. 3 aV[V `_nXYY _]lSiYbp Udi_Z, P b^_SQ bY\d S WYX^Y ^Qf_UY\Q. […] 3 ]Ya SQiYf ]lb\VZ `_TadWQbm Udi_Z, P T_am[do `VhQ\m bS_o `_XQRlSQ\Q. Adamova-Sliozberg, Put’, 2002, S. 247.

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Georgij ZˇzˇÚnov erzählt in seiner Novelle Ja poslal tebe cˇÚrnuju rozu (Ich habe dir eine schwarze Rose geschickt) davon, dass vor einem Häftlingstransport in der Zelle, in der die Häftlinge zusammengepfercht waren, einer von ihnen orientalische Gedichte rezitierte: Er las traurig, mit einer sehr tiefen Stimme, und diese Gedichte sind für immer in meinem Gedächtnis geblieben.2226

Weitere Funktionen der Gedichte im Gefängnis waren die Strukturierung der Zeit und die innere Flucht aus dem Gefängnis. Nina Gagen-Torn berichtet über die Bedeutung der Poesie unter den Bedingungen der Haft: […] das Gedicht ist unter den Bedingungen des Gefängnisses eine Notwendigkeit: Es harmonisiert das Bewusstsein in der Zeit. […] der Mensch entflieht der Haft, indem er sich Zeit zu eigen macht, als wäre sie Raum. […] Diejenigen, die ihr Bewusstsein so sehr aufwühlen, dass nur der Rhythmus bleibt, werden den Verstand nicht verlieren […]. Die Beherrschung des Rhythmus bedeutet Rettung.2227

Schließlich konnten Gedichte zu einem Bekenntnis bei einer bewussten Entscheidung für den Tod werden, wie das Gedicht Tjuremnyj menue˙t (GefängnisMenuett) von Aleksandr Selivanov.2228 Selivanov war 20 Jahre alt, als er wegen seiner Mitgliedschaft in einer antisowjetischen Jugendorganisation verhaftet wurde (vgl. Kapitel A.2.3, Abschnitt »Die Anfänge des Musiklebens im Dmitlag«). Als er merkte, dass er dem Todesurteil nicht entgehen konnte, setzte er seinem Leben eigenmächtig ein Ende. In seinem Gedicht, welches in seiner Untersuchungsakte erhalten geblieben ist und bereits veröffentlicht wurde, sprach er vom Traum einer demokratischen Gesellschaft und bereitete sich auf das Sterben vor. Der Titel seines Gedichts schlägt eine Brücke zur selbstbestimmten Musikausübung der Häftlinge.

2226 ?^ hYcQ\ `VhQ\m^_, _hV^m ^YX[Y] T_\_b_], Y ncY bcYfY d ]V^p ^Q Sbo WYX^m S `Q]pcY ˇ zˇÚ_bcQ\Ybm. Zit. nach Solomonov, Artur: »Interv’ju Artura Solomonova s Georgiem Z novym«, in: Izvestija, 22. März 2005, S. 15. 2227 […] bcYf S coam]V – ^V_Rf_UY]_bcm : _^ TQa]_^YXYadVc b_X^Q^YV S_ SaV]V^Y. […] hV\_SV[ Sl^laYSQVc YX coam]l, _S\QUVSQp SaV]V^V], [Q[ `a_bcaQ^bcS_]. […] CV , [c_ aQXa_Vc bS_V b_X^Q^YV U_ aYc]Q, – ^V b_ZUdc b d]Q… […] ?S\QUV^YV aYc]_] – _bS_R_WUV^YV. GagenTorn, Memoria, 1994, S. 102. 2228 Mazus, Demokraticˇeskij sojuz, 2010, S. 458 f.

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Gedichte im Lager Meine Kristallschlösser, Meine langen Wege, Der violette Schnee… Meine freien Fabeln, Meine aufrührerischen Gedichte Und Tränen wie Perlen. Menschenleere, kalte, Unfruchtbare Landschaften, Auswegloses Eis, Wo Menschen zwischen Lärchen Nicht nach Wahrheit suchen, Sondern nach Essen, Wo vorbei an nackten Lärchen Zum inbrünstigen Beten Gottlose gehen. Krank, stumpfsinnig, Mit Handschaufeln Stellen sie sich in Reihen auf… Herausgeputzt in schmutzabweisende Mäntel, Mit deutschen Schäferhunden Spazieren die Hirten. Der Schneesturm wirbelt, Und unnütz scheinen Gedichte…2229 2229 =_Y US_agl fadbcQ\m^lV, =_Y U_a_TY UQ\m^YV, ýY\_SlV b^VTQ… =_Y `_RQb[Y S_\m^lV,

=_Y bcYfY [aQ]_\m^lV 9 b\VXl – WV]hdTQ. 2VX\oU^lV, f_\_U^lV Da_hYjQ RVb`\_U^lV, 2VXSlf_U^lV \mUl, 4UV \oUp] baVUY \YbcSV^^Yg þV `_Yb[ ^dWV^ YbcY^l, 1 `_Yb[Y VUl, 4UV ]Y]_ T_\lf \YbcSV^^Yg =_\Ycmbp 2_Td Ybc_S_ 2VXR_W^Y[Y YUdc. 2_\m^lV, RVbc_\[_SlV B \_`QcQ]Y b_S[_Sl]Y

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Varlam Sˇalamov

Dieses Gedicht des Schriftstellers und Kolyma-Häftlings Varlam Sˇalamov ruft noch einmal in Erinnerung, in welch einer unmenschlichen Umgebung die Gedichte der Gulag-Häftlinge entstanden. Und doch waren sie für viele Häftlinge auch in so einer Situation wichtig, oder gerade in so einer Situation. SemÚn Vilenskij, der seine Haft ebenfalls auf der Kolyma verbüßt hat, berichtet, dass er während der gesamten Lagerhaft dichtete, und zwar auswendig, wie bereits im Gefängnis. Er gab seine Gedichte an einige wenige Mithäftlinge weiter, die diese ihrerseits auswendig lernten. Da dem Leiter der »Häftlingslaienkunst« erlaubt war, für die Zwecke der »Laienkunst« ein Schreibheft zu besitzen, konnten einige Gedichte Vilenskijs in dieses Heft eingetragen werden, zwischen solche, die in Konzerten der »Laienkunst« Verwendung fanden. Auf diese Weise wurden sie versteckt und konnten bis in die Zeit der Perestroika gerettet werden. Als 1989 Vladimir Murav’Úv in der Zeitung Literaturnaja gazeta darum bat, Gedichte von ehemaligen Lagerhäftlingen einzusenden, meldete sich auch der ehemalige Leiter der »Laienkunst« und schickte die Gedichte Vilenskijs, von dessen Schicksal nach der Haft er nichts wusste.2230 SemÚn Vilenskij berichtet in seinen Erinnerungen auch von dem Zionisten Efim Kac, der ca. 25 Jahre in Lagerhaft und Verbannung zubringen musste und während dieser Zeit Gedichte auf Althebräisch verfasst hat.2231 Weil sie ohne Papier dichten mussten, waren die Häftlinge dazu gezwungen, alternative Wege zu finden, um ihre Gedichte zu erhalten. Sie nutzten dazu vor allem, wie SemÚn Vilenskij, ihr eigenes Gedächtnis sowie das ihrer Mithäftlinge. Vladimir Sosnovskij, der von 1942 bis 1953 im Fernen Osten inhaftiert war, schrieb seine Gedichte gewöhnlich auf ein Stück Furnierholz, um sie mit Glas abzukratzen, sobald er sie sich gemerkt hatte.2232 Eine dauerhaftere Aufzeichnungsmethode, die im Falle einer Beschlagnahme zu schwierig zum Entziffern gewesen wäre, entwickelte Asir Sandler. Obwohl er damit Prosa fixierte, soll sie hier Erwähnung finden, um den Erfindergeist der Häftlinge bezüglich alternativer Aufzeichnungsmethoden zu demonstrieren: Sandler ordnete jedem Buchstaben des Alphabets eine Knotenkombination zu und »schrieb« damit IVaV^TQ]Y SbcQoc… ApUpbm S `\QjY ^V]Qa[YV, B ^V]Vg[Y]Y _ShQa[Q]Y 4d\poc `QbcdfY. ;adWYcbp XQ]Vcm SmoW^Qp, 9 [QWdcbp ^V^dW^l]Y BcYfY… Sˇalamov, Sobranie socˇinenij v cetyrÚch tomach, 1998, Bd. 3, S. 197 f.

2230 Vilenskij, Voprosy est’?, 2006, S. 64 – 67. 2231 Vilenskij, Voprosy est’?, 2006, S. 230. 2232 Sosnovskij, »Indija«, 2000, S. 3.

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Begebenheiten des Lagerlebens mithilfe eines Fadens auf. 1988 brachte er das Buch Uzelki na pamjat’ (Knoten fürs Gedächtnis) heraus, welches er dank einiger erhalten gebliebener Fäden verfassen konnte.2233 Platon Nabokov, der im Jahr 1951 gemäß § 58 zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt wurde, die er im Sonderlager Ozerlag2234 verbüßte, bediente sich eines Tricks, um seine Gedichte aufzubewahren: Er versteckte sie in den Köpfen von Handpuppen, die für ein von ihm ins Leben gerufenes Puppentheater im Lager hergestellt wurden. Als er 1955 aus dem Lager entlassen wurde, ist es ihm gelungen, eine dieser Puppen mitzunehmen.2235 Roj Medvedev schrieb 1989 in einem Brief an die Mitarbeiterin des Heimatkundemuseums von Magadan Lidija Komarova, dass die Form eines Gedichts für die Häftlinge deswegen wichtig war, weil sie ihnen half, das Beschriebene besser in Erinnerung zu behalten. Viele Häftlinge seien von dem Gedanken gequält worden, dass sie sterben und die Nachkommen nichts von ihrem furchtbaren Schicksal erfahren würden. Deswegen haben viele Gedichte geschrieben, so gut wie sie nur konnten.2236 Elena Vladimirova bezeugte in einem im Jahr 1955 geschriebenen Gedicht, dass sie in ihrer Poesie nie gelogen hat. Sie bezeichnete das Gedicht als ihren einzigen treuen Freund, einen »leiblichen Teil« von ihr.2237 Grigorij Litinskij berichtet, dass viele Häftlinge am Theater von Vorkuta dichteten, weil dies ihnen die Möglichkeit bot, die Lagerrealität zu vergessen. Tat’jana Lesˇcˇenko, die ebenfalls in Vorkuta inhaftiert gewesen war und dort am Theater gearbeitet hatte, schrieb 1971 in einem Brief an Litinskij, dass Gedichte sich damals von allein gedichtet hatten, in ihr angefangen hatten zu klingen wie Lieder. Und irgendwie hatten sie, wie Musik auch, es geschafft, das Dasein erträglicher zu machen.2238 Dmitrij LichacˇÚv fasste in einem Essay über die Solovki zusammen, dass die Poesie unter den Lagerbedingungen eine verblüffende Rolle gespielt hat: Gedichte haben abgelenkt, begeistert und Trost gespendet.2239 An ein Beispiel für die ablenkende Wirkung der Gedichte unter den Bedingungen der Haft erinnerte sich Vladimir Sosnovskij: Er rezitierte im Stillen Gedichte, um die quälenden Gespräche seiner Mithäftlinge über das Essen, von dem sie träumten, nicht mitanhören zu müssen.2240 2233 Sandler, Uzelki na pamjat’, 1988. 2234 Dieses Lager befand sich im Gebiet Irkutsk. Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 367 – 370. 2235 Nabokov, Platon: Drugich ne budet beregov, 1996, S. 7, 12. 2236 Komarova, »›Severnaja povest’‹ Eleny Vladimirovoj«, 1991, S. 177. 2237 RGALI: F. 3141 (Sˇtejn, A. B.), op. 1, ed. 525, l. 32. 2238 Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 81, 582. 2239 LichacˇÚv, Dmitrij: Stat’i rannich let, 1993, S. 38. 2240 Sosnovskij, »Indija«, 2000, S. 19.

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Von einem eher ungewöhnlichen Einsatz der Gedichtform berichtet Jurij ˇ Cirkov, der im Jahr 1935 mit 15 Jahren als Häftling auf die Solovki gebracht wurde: Gedichte dienten dem gewitzten Jungen dazu, seiner Mutter bei ihrem Besuch mehr als erlaubt von seinem Leben zu erzählen, indem er das Gesagte für auswendig gelernte Gedichte anerkannter Poeten ausgab. Ihre Treffen fanden in Anwesenheit eines Wachpostens statt, der das Gesagte kontrollieren sollte. Er kannte sich aber offensichtlich zu wenig mit dem von Jurij angekündigten Poeten Nikolaj Nekrasov aus, und das monotone Rezitieren schläferte ihn ein.2241 Varlam Sˇalamov schrieb über die Rolle der Gedichte im Lager in seiner Erzählung Der freie Tag: Ich weiß, jeder Mensch hatte hier ein Allerletztes, sein Allerwichtigstes – etwas, das ihm half, zu leben, sich ans Leben zu klammern, das sie uns so beharrlich und hartnäckig zu nehmen suchten. Wenn für Samjatin dieses Letzte die Liturgie des Johannes Chrysostomos war, so waren mein rettendes Letztes die Gedichte – fremde Gedichte, die ich liebte und an die ich mich erstaunlicherweise erinnerte, wo alles andere längst vergessen, aus dem Gedächtnis gestrichen, vertrieben war. Das einzige, was die Müdigkeit, der Frost, der Hunger und die unendlichen Erniedrigungen noch nicht erdrückt hatten.2242

SemÚn Vilenskij berichtet, dass Pusˇkins Gedicht Ne daj mne, Bog, sojti s uma (Gott, lass mich nicht verrückt werden) häufig in den Lagern rezitiert wurde. Auch Gedichte anderer Poeten wurden aus dem Gedächtnis rekonstruiert, darunter von Jakov Polonskij, FÚdor Tjutcˇev, Nikolaj Nekrasov, Aleksandr Blok, Sergej Esenin, Nikolaj GumilÚv und Boris Pasternak. Diese Gedichte nährten die Seele, so Vilenskij. Varlam Sˇalamov nannte Pasternaks Gedichte die einzige Verbindung zum Leben in Freiheit, welche er im Lager hatte.2243 Und Dmitrij Gacˇev schrieb in einem Brief an seine Frau aus dem Lager im Jahr 1940, dass er oftmals Gedichte Lord Byrons in der Übersetzung von Michail Lermontov wiederholte. Damit sein Gedächtnis sich nicht verschlechterte, lernte Nikolaj Tochnir in einem Lager auf der Kolyma zu Beginn der 1940er-Jahre Pusˇkins Evgenij Onegin auswendig.2244 Während für einen Teil der Häftlinge eine geistige Verbindung zur Freiheit wichtig war, war es für andere notwendig, so wenig wie möglich an die Freiheit zu denken. So erging es Ol’ga Adamova-Sliozberg, deren Schmerz bei dem Gedanken an die Freiheit so groß war, dass sie ihn verdrängen musste, um zu ˇ irkov, A bylo vsÚ tak…, 1991, S. 113 f. 2241 C 2242 Schalamow, Warlam: Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma I, aus dem Russischen von Gabriele Leupold, 2007, S. 187. 2243 Vilenskij, Poe˙zija uznikov GULAGa, 2005, S. 7; Interview mit SemÚn Vilenskij am 4. Februar 2008 in Moskau. 2244 Gacˇev, Kolymskie pis’ma, 2003, S. 87 u. 189.

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überleben. Und auch hierbei half das Erinnern von Gedichten, um eine abgeschottete Welt um sich herum zu schaffen.2245

Lieder im Gefängnis Auf allen Etappen des Häftlingsdaseins verfassten die Betroffenen nicht nur Gedichte, sondern auch Lieder. Zum Teil bedienten sie sich dabei bereits existierender Melodien: Zinaida LichacˇÚva erzählt, dass Ende 1936 eine Insassin im Butyrka-Gefängnis einen neu gedichteten Text zur Melodie von La Cucaracha gesungen hat, und zwar rechnete sie darin mit ihrem ehemaligen Ehemann ab.2246 Ksenija Medvedskaja dichtete im September 1937 im Leningrader Arsenal’naja-Gefängnis ein Lied zur Melodie des Revolutionsliedes Zamucˇen tjazˇÚloj nevolej (Gequält durch schwere Gefangenschaft).2247 Verhaftete Moskauer Studenten, die nach § 58 – 10 verurteilt worden waren und auf den Transport ins Lager warteten, verfassten 1945 im Butyrka-Gefängnis ein Lied, dessen Melodie nicht überliefert wurde, und sangen es abends. Solzˇenicyn führt den folgenden Text an: …Dreimal täglich holen wir Suppe, Vertreiben uns die Abende mit Liedern, Und mit einer Gefängnisnadel Nähen wir uns insgeheim Reisesäcke. Wir kümmern uns jetzt nicht mehr um uns: Wir haben unterschrieben – möge es bald losgehen! Und wann? Werden wir wieder hierher zurückkehren? Aus den fernen sibirischen Lagern?2248

Wie im Falle von Gedichten wurden nicht nur neu verfasste Lieder im Gefängnis gesungen, sondern auch bereits existierende. Dabei konnte Gesang eine Protesthaltung unterstützen: Beispielsweise wurde den Häftlingen im LubjankaGefängnis Mitte der 1920er-Jahre verordnet, sich nur flüsternd zu unterhalten. 2245 2246 2247 2248

Adamova-Sliozberg, Put’, 2002, S. 54 – 57. LichacˇÚva, »Detal’ monumenta«, 1988, S. 18. Gulagmuseum.org/getFile.do?object=34006071 (letzter Zugriff am 1. Juni 2011). …CaYWUl S UV^m f_UY] XQ RQ\Q^U_o, ;_a_cQV] S `Vb^pf SVhVaQ,

9 YT\_Z coaV]^_Z [_^caQRQ^U_o ImV] bVRV S U_a_Td bYU_aQ. ? bVRV cV`Vam ]l ^V XQR_cY]bp : @_U`YbQ\Y – c_\m[_ R `_b[_aVZ ! 9 [_T-UQ? boUQ V-jV S_-a_cY]bp?.. 9X bYRYab[Yf UQ\m^Yf \QTVaVZ ?.. Solzˇenicyn, Archipelag GULag, 1973, Teile I – II, S. 606.

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Zwei junge Sozialrevolutionärinnen protestierten dagegen im Jahr 1925 mit lautem Singen von Liedern über den Flieder und den Frühling. Dafür wurden sie an den Haaren den Flur entlang zum Abort geschleift.2249 SemÚn Vilenskij, der seit August 1948 im Suchanovka-Gefängnis inhaftiert war, versuchte durch einen Hungerstreik, ein Treffen mit einem Anwalt zu erwirken. Da dies keine Auswirkungen zeigte, fing er zum Zeichen des Protests an zu singen und zu schreien. Damit erreichte er tatsächlich erhöhte Aufmerksamkeit, die jedoch nicht zur Erfüllung seiner Forderung führte, sondern dazu, dass er gefoltert wurde.2250 Lieder konnten, wie Gedichte auch, dazu dienen, sich vom Leben zu verabschieden: Die zum Tod verurteilte junge Mura Kodackaja sang im Jahr 1935 nachts am offenen Fenster im Gefängnis von Odessa.2251 Anatolij Aleksandrov schrieb 1950 im Lagerpunkt Galimyj auf der Kolyma ein Gedicht, in welchem er sich an einen singenden Mithäftling im Gefängnis von Magadan erinnerte,2252 dem er in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre begegnet sein müsste. Dieser Häftling sang leidend ein Trauerlied und starb kurz darauf, wie Aleksandrov in seinem Gedicht berichtet. Gesang scheint zu den existenziellen Bedürfnissen der Häftlinge gehört zu haben. Aleksandr Solzˇenicyn führt aus, wie sie Gelegenheiten nutzten, trotz der Strapazen das Gesangsverbot im Gefängnis zu umgehen: […] wie überall in Lefortovo: Asphaltfußboden; der Heizungshahn auf dem Flur, in den Händen des Aufsehers; und das Wichtigste – ein stundenlanges aufreibendes Geheul (vom Windkanal des benachbarten Zentralen Aerohydrodynamischen Instituts, aber man kann nicht glauben, dass dies keine Absicht war), ein Geheul, von dem die Schüssel und die Tasse vibrierend vom Tisch rutschen, ein Geheul, bei dem es keinen Zweck hat, sich zu unterhalten, aber man kann aus vollem Halse singen, und der Aufseher hört es nicht. Und wenn das Geheul verstummt, beginnt die Glückseligkeit, die bedeutender ist als Freiheit.2253

2249 2250 2251 2252 2253

Solzˇenicyn, Archipelag GULag, 1973, Teile I – II, S. 464. Vilenskij, Voprosy est’?, 2006, S. 53 f. Sandler/E˙tlis, Sovremenniki GULAGa, 1991, S. 70. Aleksandrov, Pod rzˇavymi zvÚzdami. Kniga stichov, 1994, S. 55 f. […] [Q[ S [QWU_Z \Ve_ac_Sb[_Z : QbeQ\mc_SlZ `_\ ; [aQ^ _c_`\V^Yp S [_aYU_aV, S ad[Qf ^QUXYaQcV\p ; Q T\QS^_V – ]^_T_hQb_SlZ [!] aQXUYaQojYZ aVS (_c Qna_UY^Q]YhVb[_Z cadRl b_bVU^VT_ G149, ^_ `_SVaYcm ^V\mXp, hc_ – ^V ^Qa_h^_), aVS, _c [_c_a_T_ ]Yb[Q b [adW[_Z, SYRaYadp, bkVXWQVc b_ bc_\Q, aVS, `aY [_c_a_] RVb`_\VX^_ aQXT_SQaYSQcm, ^_ ]_W^_ `Vcm S_ SVbm T_\_b, Y ^QUXYaQcV\m ^V b\liYc – Q [_TUQ bcYfQVc aVS, ^Qbcd`QVc R\QWV^bcS_ SlbiVV, hV] S_\p. Solzˇenicyn, Archipelag GULag, 1973, Teile I – II, S. 188.

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Wie in der Erzählung Georgij Demidovs Due˙t (Das Duett) oder in Evgenija Ginzburgs Krutoj marsˇrut (Harte Marschroute) geschildert wird, konnte Gesang im Gefängnis zur Kommunikation mit Insassen anderer Zellen dienen.2254 So versuchte die Sängerin Ekaterina Olovejnikova,2255 die vor ihrer Verhaftung als aufsteigender Opernstar an der Oper in Char’kov galt, im Gefängnis durch den Gesang Kontakt zu ihrem Mann herzustellen: Da sie kaum drei Monate nach der Hochzeit inhaftiert worden war, sehnte sie sich stark nach ihrem Mann, der bereits vor ihr verhaftet worden war. Um ihre Sehnsucht auszudrücken und ihrem Mann ein Lebenszeichen von sich zu geben, wagte sie eine Übertretung der Gefängnisregeln und sang in Richtung des vergitterten Fensters seine Lieblingsarie. Die Mitgefangenen erstarrten – so Olovejnikovas eigener Bericht – vor Angst und Bewunderung; die Wärterin riss aufgeregt die Tür der Gefängniszelle auf, jedoch erst, als die Arie zu Ende gesungen war. Die Sängerin wurde nicht bestraft – scheinbar vermochte Musik es, die Aufseher milder zu stimmen. Ihr Mann aber war zu diesem Zeitpunkt bereits erschossen worden, wie Ekaterina später erfahren musste. Singen bot Frauen mit Säuglingen die Möglichkeit, an ihrer Identität als Mutter festzuhalten und gleichzeitig die eigene Lebenssituation zu reflektieren. Marija Tret’jakova, die in den Jahren 1937/38 zusammen mit ihrem dreimonatigen Sohn im Butyrka-Gefängnis inhaftiert war, flüsterte für ihn ein Wiegenlied mit selbst gedichtetem Text: Morgen früh, beim Sonnenaufgang, Kommt der Wächter her, Kinder stehen zur Kontrolle auf, Die Sonne scheint… Mein Junge, glaube nicht, Dass dein Vater ein Verräter ist…2256

Der vollständige Text dieses siebenstrophigen Liedes ist Ende 1989 in der Magadaner Zeitung Reklamnaja gazeta (Werbezeitung) veröffentlicht worden.2257 Hier ist der Name der Verfasserin mit Marija Terent’eva angegeben, Ort und Zeit entsprechen aber der Angabe bei Stecovskij. Die erste vierzeilige Strophe stimmt ˇ udnaja planeta. 2254 Ginzburg, Krutoj marsˇrut, 1985, Bd. 1, S. 116 – 118; Demidov, Georgij: C Rasskazy, 2008, S. 224 – 257. 2255 E˙psˇtejn, Evgenij: »Char’kovcˇanka v ALZˇIRe«, 1991, S. 28. 2256 Dca_] aQ^_, ^Q aQbbSVcV ;_a`db^_Z `aYUVc, þQ `a_SVa[d SbcQ^dc UVcY, B_\^li[_ R\Vb^Vc… =Q\mhY[ ]_Z, ^V SVam S YX]V^d BS_VT_ _cgQ… Stecovskij, Jurij: Istorija sovetskich repressij, in zwei Bänden, 1997, Bd. 1, S. 441. 2257 Reklamnaja gazeta, 28. November 1989 (Nr. 39), S. 1.

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mit der von Stecovskij überlieferten überein, die bei ihm folgenden zwei Zeilen kommen erst in der fünften Strophe vor. Diese Differenzen sind auf die mündliche Tradierung der Lagerlieder zurückzuführen. Gesang konnte im Gefängnis eine festliche Atmosphäre aufkommen lassen, in der die Häftlinge ihre Situation einen Moment lang vergessen konnten: Zinaida LichacˇÚva erzählt, dass Ende 1936 im Butyrka-Gefängnis die Frauen in der Zelle, in der sie inhaftiert war, eine Schauspielerin namens Susanna Gelikonskaja immer wieder darum baten, den Klang einer Hawaii-Gitarre zu imitieren. Und zwar taten sie dies zur Feier des einen Tages im Monat, an dem sie im Gefängniskiosk einkaufen durften. Der Gesang brachte die Zelle zum Verschwinden, und die Gefangenen sahen fremde Länder, Sterne und Blumen vor ihrem inneren Auge. Daraufhin kam der Gefängniswärter angelaufen, um den Gesang zu verbieten.2258 Wie in Kapitel A.2.1 im Abschnitt »Gesang der Häftlinge« beschrieben, sangen die auf den Solovki inhaftierten Sozialrevolutionäre Mitte der 1920erJahre Revolutionslieder, darunter Smelo, druz’ja, ne terjajte (Tapfer, Freunde, verliert nicht [den Mut im ungleichen Kampf]) und die Internationale. SemÚn Vilenskij hörte noch im Jahr 1949 im Butyrka-Gefängnis einen Häftling stolz die Internationale singen, nachdem jener in einen steinernen Karzer eingeschlossen worden war. Er sang auch dann weiter, als die Wächter herbeieilten und ihn durch Körpereinsatz davon abzubringen versuchten.2259 Das erstgenannte Lied, eine aus den 1860er-Jahren stammende Freiheitshymne, ist ebenfalls noch im Jahr 1945 im Lubjanka-Gefängnis gesungen worden, und zwar von dem alten Sozialdemokraten Anatolij Fastenko (*1884).2260

2258 LichacˇÚva, »Detal’ monumenta«, 1988, S. 16. 2259 Vilenskij, Voprosy est’?, 2006, S. 79. 2260 Solzˇenicyn, Archipelag GULag, 1973, Teile I – II, S. 188; Solzˇenicyn, Aleksandr : Archipelag GULag. 1918 – 1956. Opyt chudozˇestvennogo issledovanija, 2006, Teile V – VI, S. 613.

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Selbstbestimmtes Musizieren der Häftlinge: die Lagerlieder

Abb. 72: Autor unbekannt: Smelo, druz’ja, ne terjajte. Http://a-pesni.golosa.info/starrev/ smelodruzia.htm (letzter Zugriff am 5. August 2009).

Der Text dieses Liedes, von dem hier die ersten zwei Strophen in der Fassung von 1898/99 wiedergegeben sind, konnte von NKVD-Häftlingen auf ihre eigene Situation übertragen werden: Mutiger, Freunde, verliert nicht den Mut im ungleichen Kampf! Rettet eure Heimat, eure Ehre und Freiheit. Refrain Wenn wir in den Gefängnissen und den feuchten Gruben auch sterben sollten, Wird unsere Sache dennoch bei den Lebenden Wiederhall finden. Mögen wir auch in Gefängnisse gesteckt oder mit Feuer gefoltert werden, Mag man uns in Bergwerke verbannen und uns alle Bestrafungen auferlegen.

Auf diese Weise konnten Lieder den Häftlingen dabei helfen, an ihrer politischen Identität festzuhalten. Zeitgleich mit Fastenko saß der aus einer Bauernfamilie stammende Ingenieur Leonid Zykov,2261 der damals 35 Jahre alt war, in derselben Zelle und sang oftmals das Volkslied Pozabyt-pozabrosˇen (Vergessen und verlassen), welches auch in dem im Jahr 1931 herausgebrachten Film PutÚvka v zˇizn’ (Road to Life) von Nikolaj E˙kk über die Umerziehung von jugendlichen Verbrechern in einer Kolonie verwendet wurde. Darin beklagt ein Waisenkind sein unglückliches 2261 Solzˇenicyn, Archipelag GULag, 2006, Teile V – VI, S. 554.

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Schicksal.2262 Zykov saß dabei auf seinem Bett, so Solzˇenicyn, den Kopf in die Hände gestützt, und sang leise und gedehnt. Nach dem Wort sirotoju (»als Waise«) begann er immer, laut zu schluchzen.2263 In diesem Fall diente ihm das Lied wohl zur Verarbeitung der eigenen Emotionen. Dies mag auch der Beweggrund für den Biologen Sergej Carapkin (1892 – 1960) gewesen sein, der von 1926 bis 1945 in Deutschland gearbeitet hatte,2264 1947 im Butyrka-Gefängnis immer wieder den Greisen Kopf aus Schuberts Winterreise zu singen, und zwar auf Russisch und Deutsch.2265 Lieder konnten wie Gedichte der Ablenkung der Häftlinge dienen. Nachdem SemÚn Vilenskij 1949 vom Suchanovka- in das Butyrka-Gefängnis überstellt worden war, fand er sich in einer Zelle wieder, in der auch ein Sänger inhaftiert war. Dieser sang abends für die anderen Häftlinge, und auch die Wächter hörten zu, solange der vorgesetzte Offizier nicht anwesend war.2266 Lieder konnten auch eine lebensrettende Funktion übernehmen, wie z. B. in ˇ etverikov berichtet, dass er eine 16-monatige den folgenden Fällen: Boris C Einzelhaft nur deswegen überleben konnte, weil er währenddessen unter anderem Opernarien sowie Lieder sang.2267 Tat’jana Okunevskaja verbrachte 13 Monate in Einzelhaft. Es ist ihr gelungen, in dieser Zeit nicht verrückt zu werden, weil sie Gedichte Anna Achmatovas rezitiert und alte Kunstlieder gesungen hat, so Okunevskaja, allerdings stumm, weil Sprechen und Singen verboten war.2268 Und auch Ursula Rumin, die in den Jahren 1952/53 vom sowjetischen Geheimdienst in Berlin-Karlshorst gefangen gehalten wurde, sang und erinnerte sich an Musikstücke, um sich während der Einzelhaft »vor dem Verrücktwerden zu schützen«.2269 Aus dem Gesagten lassen sich folgende Funktionen des Gesangs der Häftlinge im Gefängnis folgern: a) als Zeichen des Protests bzw. als subversives Mittel gegen das Lagersystem; b) als Kommunikationsmittel; c) zur Selbstvergewisserung bzw. Stärkung der Identität; d) zur Reflexion der eigenen Lage; e) zur Ablenkung bzw. zur Beschleunigung des Zeitempfindens; f) als lebensrettender Faktor.

2262 2263 2264 2265 2266 2267 2268 2269

Http://a-pesni.golosa.info/dvor/pozabyt.htm (letzter Zugriff am 28. Juni 2011). Solzˇenicyn, Archipelag GULag, 1973, Teile I – II, S. 208. Solzˇenicyn, Archipelag GULag, 2006, Teile V – VI, S. 617. Solzˇenicyn, Archipelag GULag, 1973, Teile I – II, S. 596 f. Vilenskij, Voprosy est’?, 2006, S. 80. ˇ etverikov, Boris: Vsego byvalo na veku, 1991, S. 35. C E˙psˇtejn, Evgenij: »Gor’kij put’ poznanija«, in: Muzykal’naja zˇizn’, 1991, Nr. 17 – 18, S. 25. Rumin, Ursula: Im Frauen-GULag am Eismeer, 2005, S. 47.

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Diese können zu einer größeren Systematik zusammengefasst werden: Selbstbestimmter Gesang hatte Funktionen in Bezug auf das Verhältnis der Häftlinge zur Außenwelt (a bis c) sowie auf ihr Innenleben (c bis f).

Lieder auf dem Transport ins Lager Wie im Vorangegangenen gezeigt, durfte im Gefängnis oftmals nicht laut gesprochen und erst recht nicht gesungen werden. Wenn die Häftlinge zu den Lagern transportiert wurden, scheinen die angestauten Lieder aus ihnen herausgeströmt zu sein, denn in zahlreichen Erinnerungen wird überliefert, dass auf Häftlingstransporten gesungen wurde. Häftlingstransporte konnten über Monate auf Schienen unterwegs sein, so z. B. im Falle von Häftlingen, die auf die Kolyma gebracht wurden. Sie mussten zunächst in überfüllten Zügen in den Fernen Osten gefahren werden, um dann mit dem Schiff nach Magadan transportiert zu werden, weil es keine Eisenbahnverbindung dorthin gab, was bis heute so geblieben ist. Die Eisenbahnfahrt nach Vladivostok konnte bis zu drei Monate dauern. Durchgangslager mit Häfen für die Häftlinge, die auf die Kolyma transportiert wurden, befanden sich in den 1930er-Jahren in Vtoraja Recˇka bei Vladivostok, wo der Dichter Osip Mandel’sˇtam starb, und ab 1938 in den Buchten Nachodka und Vanino.2270 Während der Transporte bekamen die Häftlinge überwiegend Salzheringe oder Stockfisch zu essen, und zwar sowohl in den 1930er- als auch in den 1940erund 1950er-Jahren und unabhängig davon, wo sie sich geografisch befanden.2271 Im Winter war es in den Güterzügen so kalt, dass die Wände gefroren.2272 Ein Teil der Häftlinge erkrankte und starb, bevor sie das Lager erreichten. Die Wagen knarrten, die Pritschen wackelten. Machorka schien uns ein Traum. Den ganzen Monat sahen wir keine Suppe, Ernährten uns von Brot und Wasser. Unter glühender Sonne, durch Wälder und Felder Schleppt sich der Transport auf die Kolyma. Wir sind friedliche Menschen. Wofür wir hier sind, Kann ich immer noch nicht verstehen.2273 2270 2271 2272 2273

Applebaum, Anne: Der Gulag, 2003, S. 122, 194 f. Solzˇenicyn, Archipelag GULag, 1973, Teile I – II, S. 493 f. Glusˇnev, S nebes v preispodnjuju, 1989, S. 27. B[aY`V\Y SQT_^l Y ^Qal iQcQ\Ybm. =Qf_a[Q [QXQ\Qbm ]Vhc_Z. 3Vbm ]Vbpg RQ\Q^Ul S T\QXQ ^V SYUQ\Y, @YcQ\Ybp f\VR_] b S_U_Z. @_U b_\^gV] `Q\pjY] \VbQ]Y, `_\p]Y

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Dieses beim Transport gesungene Lied der Häftlinge überliefert Zinaida LichacˇÚva, die Ende 1936 von Moskau in die Bucht Vanino transportiert wurde. Auf den Schiffen, welche die Häftlinge auf die Kolyma brachten, herrschten extreme Bedingungen.2274 Der Geiger Aleksandr Dzygar erzählte dem Journalisten Boris Savcˇenko, dass die Wachen nicht unter Deck zu den Häftlingen kamen, vermutlich aus Angst, auf einen Hinterhalt zu treffen. Trinkwasser wurde in einem Eimer heruntergelassen. Die Berufsverbrecher begingen immer wieder Morde, sowohl untereinander als auch unter den politischen Häftlingen. Die Politischen mussten ganz unten Platz nehmen, die Berufsverbrecher ließen sich auf den oberen Pritschen nieder, wo sie es sich »gut gehen ließen«. Es war ihnen sogar gelungen, eine Romni aufs Schiff zu schmuggeln, die tagsüber zur Melodie des in der Sowjetunion sehr populären Tangos Bryzgi ˇsampanskogo (Espuma de Champagne) von Jose Maria de Lucchesi tanzen musste,2275 begleitet von einem Berufsverbrecher, der Bajan spielte; nachts wurde sie von den Berufsverbrechern vergewaltigt. Sie verrichteten ihre Notdurft direkt von oben auf die unteren Pritschen, sodass die folgende Situation entstand, welche für die politischen Häftlinge einer Folter gleich kam: […] oben wurde das herzzerreißende Espuma de Champagne geschmettert, unten schluckte man Scheiße.2276

Ähnliches beschreibt auch Zinaida LichacˇÚva, die acht Jahre früher, im Jahr 1937 mit dem Schiff auf die Kolyma transportiert wurde: Die Berufsverbrecher haben nicht aufgehört, wild zu singen und zu steppen. Nur ein heftiger Sturm hat sie daran hindern können, weil dann alle seekrank wurden.2277 Unter diesen Bedingungen wurden die politischen Häftlinge der »Kultur« der Berufsverbrecher und ihren Liedern ausgesetzt. Ninel’ Monikovskaja, die im Jahr 1944 in einem Güterwagen ins Lager transportiert wurde, hörte dort zum ersten Mal in ihrem Leben Lieder von der Centralka und Taganka,2278 womit Gefängnisse gemeint waren. Dabei handelte es sich um zwei Textvarianten ein und desselben @_\XVc niV\_^ S ;_\l]d. =l ]Ya^lV \oUY. 8Q hc_ ]l `_`Q\Y , þY[Q[ U_ bYf `_a ^V `_Z]d. LichacˇÚva, »Detal’ monumenta«, 1988, S. 28.

2274 Sie werden sehr anschaulich in den zu einem Roman verarbeiteten Erinnerungen von Wanda Bronska-Pampuch geschildert. Bronska-Pampuch, Ohne Maß und Ende, 1963, S. 213 – 223. 2275 Hörbeispiel: http://www.russian-records.com/details.php?image_id=8275& l=russian (letzter Zugriff am 18. Januar 2013). 2276 […] ^QSVafd ^QpaYSQ\Y UdiVaQXUYaQojYV »2alXTY iQ]`Q^b[_T_«, S^YXd XQf\VRlSQ\Ybm S UVam]V. Savcˇenko, Boris: »Bryzgi sˇampanskogo«, in: Magadanskaja pravda, 16. Mai 1990, S. 4. 2277 LichacˇÚva, »Detal’ monumenta«, 1988, S. 37, 39. Varlam Sˇalamov benennt den Stepptanz als einen Bestandteil der Kultur der Berufsverbrecher. Sˇalamov, Varlam: Kolymskie tetradi, 2005, S. 102. 2278 Monikovskaja, Gody utrat i minuty scˇast’ja, 2001, S. 11.

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Selbstbestimmtes Musizieren der Häftlinge: die Lagerlieder

Liedes, dessen Ursprünge bis in die vorrevolutionäre Zeit reichen. Die Konfrontation der nichtkriminellen Häftlinge mit Liedern der Berufsverbrecher sollte die GulagLieder entscheidend prägen, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Anatolij Aleksandrov hielt seine Eindrücke vom Gesang der Häftlinge im Dezember 1946 auf dem Schiff Sovetskaja Latvija (Sowjetisches Lettland), welches sie nach Magadan brachte, in einem Gedicht fest: Die ze˙kasˇki2279 singen ein neues Lied, Ihre Seelen singen ein trauriges Lied; Jedes Wort ist ein leidendes Stöhnen, Jede Note aus einem Begräbnismotiv, Jedoch kann ich weder mit der Seele noch mit dem Verstand Den Ausruf »Sei verflucht, Kolyma!« akzeptieren. Nicht die Kolyma sollt ihr, Lieben, verfluchen, Sondern die Kommunisten, die Sowjetmacht.2280

Hiermit hinterließ der Autor ein zeitgenössisches Zeugnis für die Rezeption des Liedes Vaninskij port (s. weiter unten in diesem Kapitel) durch die Häftlinge, indem er den Ausruf »Sei verflucht, Kolyma!« daraus zitierte. Der Belbaltlag-Häftling T. Mel’nikov beschrieb in dem für die Zeitschrift Perekovka im Jahr 1932 verfassten Essay Ot Belogo do Baltijskogo (Vom Weißmeer bis zur Ostsee) ein Gespräch während des Transports in einem Zug, in welchem die Häftlinge an die ihnen bevorstehende Arbeit dachten und dadurch in eine bedrückte Stimmung verfielen. Ein junger Mann begann zu singen, zunächst eine cˇastusˇka, danach den russischen Volkstanz Barynja, er sang mit steigender Begeisterung und klopfte den Rhythmus an die Waggonwand.2281 Der Text der cˇastusˇka hatte den »schwarzen Raben« zum Gegenstand – so wurden die Autos der Tschekisten genannt, in denen sie ihre Opfer transportierten. Der bedrückende Text zusammen mit der fröhlichen Musik einer cˇastusˇka hat möglicherweise eine bittere, sarkastische Stimmung hervorgerufen. Sie konnte den Häftlingen dabei helfen, ihre Situation durch den Aufbau einer Distanz leichter zu ertragen. ˇ uchin, dass Von ehemaligen Belbaltlag-Häftlingen erfuhr der Forscher Ivan C 2279 Eine diminutive Form von ze˙k (Häftling), welche mit dem Wort für ein kleines Insekt – bukasˇka – korrespondiert. 2280 þ_Sdo `Vb^o Xn[Qi[Y `_oc, 4adbc^do `Vb^o Udi_Z SlUQoc ; ;QWU_V b\_S_ – bcaQUQ\mhVb[YZ bc_^, ;QWUQp ^_cQ – ]_cYS `_f_a_^,

þ_ ^V `aY]d U\p UdiY Y d]Q 3l[aY[: »2dUm `a_[\pcQ cl, ;_\l]Q !« þV ;_\l]d ^QU_, ]Y\lV, [\pbcm, ˇ udnaja planeta«, 2000, S. 47. 1 [_]]d^Ybc_S, b_SVcb[do S\Qbcm. Aleksandrov, Anatolij: »C

2281 RGALI, F. 1885 (Alymov, S. Ja.), op. 3, d. 33, l. 142.

Entstehung und Rezeption der Lagerlieder

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auch bekannte Gedichte berühmter Dichter auf den Transporten zu Liedern umfunktioniert wurden, darunter Aleksandr Bloks Zˇeleznaja doroga (Die Eisenbahn): Die Wagen fuhren wie gewohnt, Bebten und knarrten; Die gelben und blauen schwiegen; In den grünen weinte und sang man.

Die Waggons, in denen Häftlinge transportiert wurden, waren tatsächlich grün angestrichen,2282 weswegen dieses Gedicht gut zu ihrer Situation passte. Die Mezzo-Sopranistin Regina Gurevicˇ berichtete, dass auf einem Frauentransport von Moskau nach Sibirien Ende 1937 ein Lied entstanden ist und gesungen wurde, dessen erste Strophe sie 1989 auf folgende Weise erinnerte: Wir sind’s – eure Frauen, Freundinnen, Und wir singen unser Lied. Aus Moskau quer durch Sibirien Folgen wir auf eurem Weg…2283

In der ständigen Ausstellung des Staatlichen Museums für Gulag-Geschichte in Moskau (ul. Petrovka, 16) wird eine Handschrift von Evgenija Grosblat mit Texten von Lagerliedern aufbewahrt, welche von weiblichen Häftlingen gedichtet wurden. Ein Liedtext wiederholt in der ersten Strophe fast wörtlich den von Regina Gurevicˇ überlieferten Text2284 und ist mit »Moskau – Tomsk« überschrieben.2285 Grosblat gibt den folgenden Text für die zweite bis siebte Strophe an: In den Butyrki2286 wurde uns das Urteil verlesen, Jede Ehefrau bekam acht Jahre zugesprochen. Und nachdem unsere Papiere den Begleitposten übergeben wurden, Wurden wir zu jeweils hundert fortgefahren. Es war beschwerlich im kalten Güterwagen, Wir haben nur Fisch zu essen bekommen, 2282 3QT_^l i\Y `aYSlh^_Z \V^c_Z, @_UaQTYSQ\Y Y b[aY`V\Y ; =_\hQ\Y WV\clV Y bY^YV ; ˇ uchin, Kanaloarmejcy, 1990, S. 75. Dieser Text wird auch in 3 XV\V^lf `\Q[Q\Y Y `V\Y. C Gor’kij, Belomorsko-Baltijskij kanal imeni tov. Stalina, 1934, S. 210, zitiert. 2283 Nc_ ]l – SQiY WV^l, `_UadTY, Nc_ ]l ^Qid `Vb^o `_V]. ?c =_b[Sl `_ bYRYab[_Z U_a_TV 3b\VU XQ SQ]Y ncQ`_] YUV]… Glusˇnev, S nebes v preispodnjuju, 1989, S. 28.

2284 Bei Gurevicˇ heißt es in der zweiten Zeile »wir singen unser Lied«, bei Grosblat »wir singen unsere Lieder«. 2285 Eine Abbildung dieses Exponats findet sich auch im virtuellen Gulag-Museum unter http:// gulagmuseum.org/showObject.do?object=29890971 (letzter Zugriff am 1. Juni 2011). 2286 Andere Bezeichnung für das Butyrka-Gefängnis.

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Selbstbestimmtes Musizieren der Häftlinge: die Lagerlieder

Von den Wachen erbaten wir eine Kerze, Uns an unseren früheren Übermut erinnernd. Und in den langen Herbstnächten Haben wir die vergangenen Tage erinnert. Wie wir, treue Töchter der Heimat, Gekämpft haben. Nach strengen sowjetischen Gesetzen Sind wir für unsere Männer mitverantwortlich. Wir haben Arbeit und Freiheit verloren Und die geliebten Kinder. Wir weinen nicht, auch wenn es uns schlecht geht, Alles wollen wir mit festem Glauben ertragen, In alle Gegenden des unermesslichen Landes Werden wir unsere flammende Arbeit tragen. Diese Arbeit wird uns das Recht auf Freiheit geben, Erneut wird uns das Land wie eine Mutter aufnehmen. Die Fahne Lenins und Stalins Wird unseren Weg erleuchten.2287

Die Information des virtuellen Gulag-Museums zu diesem Lied lautet, dass es auf einem Transport, welcher vom 3. bis 21. November 1937 dauerte, entstanden ist. 2287 @a_hYcQ\Y S 2dcla[Qf ^Q] `aYT_S_a[,] 5Q\Y [QWU_Z WV^V 8 \Vc[.] 9[,] SadhYSiY [_^S_o `Q[Vcl[,] @_SVX\Y ^Qb `_ 100 hV\_SV[. 2l\_ cpW[_ S f_\_U^_Z cV`\di[V[,] 6\Y c_\m[_ ]l alR^lZ [_^UVa[,] D [_^S_p `a_bY\Y ]l bSVh[d, 3b`_]Y^Qp Rl\_Z bS_Z XQU_a. 9 S _bV^^YV U_\TYV ^_hY 3b`_]Y^Q\Y ]Y^dSiYV U^Y. ;Q[ ]l, SVa^lV U_hVaY A_UY^l, @a_i\Y R_VSlV `dcY. @_ bda_Sl] b_SVcb[Y] XQ[_^Q] ?cSVhQV] XQ ^QiYf ]dWVZ[.] @_cVap\Y ]l cadU Y bS_R_Ud[,] @_cVap\Y \oRY]lf UVcVZ. =l ^V `\QhV], f_cm ^Q] Y ^V ]_WVcbp, B SVa_Z cSVaU_Z ]l SboUd `_ZUV], 3 \oR_Z [aQZ bcaQ^l ^V_Rkpc^_Z =l bS_Z `\Q]V^^lZ cadU `_^VbV]. Nc_c cadU UQbc ^Q] `aQS_ ^Q S_\o[,] B^_SQ `aY]Vc bcaQ^Q ^Qb [Q[ ]Qcm[.] 8^Q]p ýV^Y^Q-BcQ\Y^Q 2dUVc ^Q] `dcm _bSVjQcm.

Entstehung und Rezeption der Lagerlieder

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Es wurde anschließend oft im Tomsker Lager für »Familienangehörige von Vaterlandsverbrechern« [CˇSIR – ˇclen sem’i izmennika rodiny] gesungen.2288 Die patriotische und kommunistische Gesinnung, die das Lied vermittelt, lässt darauf schließen, dass es von Frauen gedichtet wurde, die an die Ideale der Kommunistischen Partei glaubten. Den Wachposten war das Lied aber ein Ärgernis, wie Regina Gurevicˇ berichtet. Es sei vom Transportleiter gehasst worden, so Gurevicˇ : Kaum begannen die Frauen, es zu singen, wenn der Zug hielt, schlugen die Wachposten mit den Gewehren gegen die Waggons. Wenn der Zug sich aber in Bewegung setzte, sangen die Frauen weiter.2289 Dabei handelt es sich nicht um ein vereinzeltes Beispiel dafür, dass Wachposten gegen den Gesang von Häftlingen vorgingen, z. B. war es ukrainischen Häftlingen auf einem Transport durch die Ukraine im Jahr 1935 nicht erlaubt, Volkslieder zu singen.2290 Offensichtlich versuchten die Wachen dadurch, selbstbestimmte Äußerungen von Häftlingen soweit wie möglich zu unterbinden. Der Notentext zu E˙to my – vasˇi zˇÚny (Wir sind’s – eure Frauen) ist in den als Manuskript überlieferten Erinnerungen von Ksenija Medvedskaja Vsjudu zˇizn’ (Überall gibt es Leben) von 1975 im Archiv der Gesellschaft Memorial Sankt Petersburg festgehalten.

Abb. 73: E˙to my – vasˇi zˇÚny. Archiv Memorial Sankt Petersburg, ohne Signatur.

Medvedskaja gibt an, dass dieses Lied sehr lang war, und bestätigt, dass es von Moskauer weiblichen Häftlingen auf dem Transport gedichtet wurde.2291 Gesang war für einige Häftlinge eine Beschäftigung, die ihnen half, die Strapazen des Transports besser zu überstehen. So versuchte Regina Gurevicˇ, ihre Mitgefangenen von ihren schlechten Gedanken abzulenken, indem sie für sie sang oder Gedichte rezitierte. Auch im Lager nutzte sie die Musik dazu, ihre Mithäftlinge abzulenken, indem sie diese dazu anregte, sich an bestimmte Musikstücke zu erinnern und sie anzusingen.2292 2288 2289 2290 2291 2292

Gulagmuseum.org/getFile.do?object=34006071 (letzter Zugriff am 1. Juni 2011). Glusˇnev, S nebes v preispodnjuju, 1989, S. 28. Sandler/E˙tlis, Sovremenniki GULAGa, 1991, S. 109 f. Archiv Memorial Sankt Petersburg, ohne Signatur. Glusˇnev, S nebes v preispodnjuju, 1989, S. 28.

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Selbstbestimmtes Musizieren der Häftlinge: die Lagerlieder

Abb. 74: Evfrosinija Kersnovskaja beim Singen im Zugkarzer. Fotografie ihrer Originalzeichnung, die im Februar 2006 im Sacharov-Zentrum in Moskau ausgestellt war.

Als Evfrosinija Kersnovskaja 1941 aus ihrer Heimat Bessarabien in einem Häftlingszug nach Sibirien in die Verbannung transportiert wurde, hat sie es gewagt, während eines Halts aus dem Wagen auszubrechen und Wasser zu holen für eine Frau, die im Zug ein Kind zur Welt gebracht hatte und zwei Wochen lang kein Wasser bekommen konnte, um das Kind zu waschen. Daraufhin wurde Kersnovskaja in einen Eisenschrank, den Zugkarzer, gesperrt. Damit die Zeit schneller verging, sang sie viele Lieder, darunter ukrainische Volkslieder. Die Einsamkeit war ihr angenehm gewesen, so schrieb sie in ihren Erinnerungen, denn die immerzu seufzenden Mitgefangenen waren ihr lästig.2293

Singen im Lager War das Singen im Gefängnis meist nicht erlaubt und während des Transports durch die räumliche Enge immer noch erschwert, so gab es im Lager mehr Möglichkeiten, das selbstbestimmte Musizieren unabhängig von den Aktivitäˇ auszuüben. Gesang bot sich dabei am ehesten an, weil er ten der KVO und KVC 2293 Kersnovskaja, Skol’ko stoit cˇelovek, 2004, 55 f.

Entstehung und Rezeption der Lagerlieder

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keinerlei Hilfsmittel erforderte. Ein Instrument im Lager zu beschaffen und vor Raub oder Konfiszierung zu schützen, stellte ein großes Problem dar, wie der Titel der Zeichnung von Aleksej Merekov unterstreicht.

Abb. 75: Aleksej Merekov: Eine Seltenheit im Lager. Kolyma, zwischen 1937 und 1946. Http:// www.gulag.memorial.de/photo.php?ph=275 (letzter Zugriff am 11. Dezember 2011).

Im folgenden Abschnitt wird untersucht, welche Bedeutung Lagerlieder für die Häftlinge im Alltag hatten. Es wird der Frage nachgegangen, inwiefern sie zur Abgrenzung einzelner Häftlingsgruppen bzw. zur Solidarität der Lagerinsassen untereinander beitragen konnten. Darüber hinaus wird der Eingang der Lagerlieder in die zivile Gesellschaft und die dadurch entstandene Subkultur thematisiert.

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Selbstbestimmtes Musizieren der Häftlinge: die Lagerlieder

Landstreicher Tod mit gefletschtem Gebiss Versuchte mich zu überfallen, Doch ich war standhaft, Konnte mit der Wahrheit nicht untergehen! Auch wenn ich nicht glücklich geworden bin, Auch wenn ich wie ein alter Mann aussehe, Bin ich froh, dass ich die Kraft zum Singen habe, Denn mit einem Lied lässt sich alles leicht ertragen.2294

Dieses Gedicht schrieb Anatolij Aleksandrov am 26. Dezember 1953 auf dem Flughafen von Magadan, als er die Kolyma nach seiner Lagerhaft und einigen weiteren Jahren, in denen er Geld für die Ausreise gespart hatte, verließ. Darin kommt die existenzielle Bedeutung der Lagerlieder für die Häftlinge zum Ausdruck, die durch zahlreiche weitere Zeugnisse belegt ist. Die Sängerin Tat’jana Okunevskaja sang beispielsweise in einem Lager unweit Archangel’sk abends in der Baracke russische Kunstlieder und Kriegslieder für ihre Mithäftlinge. Die Tränen ihrer Mitinsassinnen waren für sie, wie sie selbst überliefert, bedeutender als lauter Applaus, sie fühlte sich als Stütze für die anderen und wurde dafür von ihnen bei der Arbeit geschont.2295 Vom Sonderlager Ozerlag im Gebiet Irkutsk berichtet Platon Nabokov, der dort in den Jahren 1951 bis 1954 inhaftiert war, dass Dichter, Musiker und Philosophen sich in der Krankenbaracke trafen, um zu musizieren und Gedichte zu rezitieren. Als Vorwand gaben sie medizinische Fortbildung an. Kontrolliert wurde die Krankenbaracke selten, weil die Lagermitarbeiter Angst vor Ansteckung hatten.2296 Ein weiteres Beispiel dafür, dass das Singen ein existenzielles Bedürfnis darstellte, überliefert Marija Kravcˇisˇina, die im Karlag in Kasachstan ihre Haft verbüßt hatte, in einem Interview im Jahr 2003: In der begrenzten Freizeit, welche die Häftlinge hatten, trafen sich einige Insassinnen im Sommer im Freien und sangen gemeinsam.2297 Dass Gesang schwierige Situationen des Lageralltags zu meistern helfen 2294 2a_UpTQ-b]Vacm, _b[Q\YS `Qbcm, @lcQ\Qbm ^Q ]V^p ^Q`Qbcm, þ_ bc_Z[_ Sl^Vb p ^Q`Qbcm, þV ]_T p b @aQSU_o `a_`Qbcm ! @db[QZ p bhQbcmp ^V U_bcYT, @db[QZ \Yg_] `_hcY bcQaY[, P aQU c_]d, hc_ S bY\Qf `Vcm,

3VUm b `Vb^VZ SbV \VT[_ cVa`Vcm. Aleksandrov, Pod rzˇavymi zvÚzdami. Kniga stichov, 1994, S. 77. 2295 E˙psˇtejn, »Gor’kij put’ poznanija«, 1991, S. 25. 2296 Nabokov, Drugich ne budet beregov, 1996, S. 11. 2297 Hedeler/Stark, Das Grab in der Steppe, 2008, S. 251.

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konnte, erzählt Evfrosinija Kersnovskaja, wenn sie von ihrer Arbeit im Schweinestall berichtet. Sie wurde dort mit fast 200 kranken Schweinen konfrontiert, welche sie gesund pflegen sollte. Sie bekam Milch, um sie mit einem Löffel an die schwachen Ferkel zu verfüttern, wobei sie selbst Haferbrei ohne Milch essen musste. Sie musste vor Hunger und Neid weinen, und doch widerstand sie der Versuchung, die Milch für sich zu verwenden, indem sie während der Ferkelfütterung durchgehend sang.2298 Mehrere Häftlinge berichten davon, dass politische Insassen zur Unterhaltung der Berufsverbrecher singen mussten. Dies trifft z. B. auf Tat’jana LesˇcˇenkoSuchomlina zu, eine Sängerin russischer Kunstlieder, die 1948 nachts in einer Baracke in Vorkuta gleich nach ihrer Ankunft für die kriminellen weiblichen Häftlinge singen sollte und glücklich darüber war, nach der Gefängnishaft wieder singen zu können. Die Zuhörer haben geweint und äußerten Bewunderung.2299 Varlam Sˇalamov beschreibt Konzerte für die Berufsverbrecher in seiner Erzählung Domino. Darin berichtet er vom Transitgefängnis der Westlichen Bergbauverwaltung des Sevvostlag nach dem Zweiten Weltkrieg. Dort habe es riesige Baracken mit mehrstöckigen Pritschen gegeben, in denen 500 bis 600 Häftlinge hausen mussten. Von hier aus wurden sie auf die Bergwerke dieser Bergbauverwaltung verteilt. Nachts hat die Zone nicht geschlafen, so Sˇalamov, denn gerade dann sind Häftlingstransporte gestartet. In der »Roten Ecke« der Zone, die mit dreckigen Wolldecken der Berufsverbrecher ausgelegt war, fanden jede Nacht Konzerte statt. »Und was für Konzerte!«, ruft der Schriftsteller aus. Ein Bariton aus Harbin hat Lesˇcˇenko und Vertinskij imitiert, Vadim Kozin sang für sich selbst. Und viele weitere Häftlinge haben hier für die Berufsverbrecher ohne Unterbrechung gesungen.2300 Lieder konnten schließlich, wie bereits im Kapitel über das Singen der Häftlinge auf den Solovki dargestellt wurde, dabei helfen, schwierige Situationen humorvoll zu verarbeiten. Zinaida LichacˇÚva berichtet, dass sich im Lagerkrankenhaus befindende Häftlinge auf der Kolyma Ende der 1930er- oder Anfang der 1940er-Jahre ein Lied dichteten und gemeinsam sangen, welches ihre schlechte Versorgung dort mit Humor thematisierte und sich gegen den Krankenhausleiter wandte.2301

2298 2299 2300 2301

Kersnowskaja, »Ach Herr, wenn unsre Sünden uns verklagen«, 1991, S. 250. Vilenskij, Dodnes’ tjagoteet, 1989, S. 456. Schalamow, Durch den Schnee, 2007, S. 197. LichacˇÚva, »Detal’ monumenta«, 1988, S. 54 f.

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Selbstbestimmtes Musizieren der Häftlinge: die Lagerlieder

Blatnye-Lieder Für eine grobe Typologie der Lagerlieder bietet es sich an, Lieder der Berufsverbrecher von denen anderer Häftlingsgruppen abzugrenzen, wobei die Übergänge fließend zu sein scheinen. Unscharf ist die Abgrenzung dadurch, dass die ursprünglichen Lieder der Berufsverbrecher von anderen Gruppen teilweise übernommen wurden, wobei kleinere Häftlingsgruppen, wie z. B. die Gläubigen, eine Ausnahme darstellten und solche Lieder nicht gesungen haben. Die Lieder der Berufsverbrecher, die mit dem Begriff blatnye pesni (im Folgenden Blatnye-Lieder genannt) belegt sind, lassen sich schwer definieren. Zu ihren Merkmalen gehören die Tradierung durch die Berufsverbrecher sowie die Verwendung des kriminellen Jargons, allerdings nicht in allen diesen Liedern. Dabei handelt es sich um eine Sprache, welche zum Teil die Grammatik der russischen Sprache verwendet, aber einen eigenen Wortschatz benutzt. Auch bildet die Betonung der Konsonanten eine Eigenheit dieser Sprache.2302 Bemerkenswert ist, dass die Berufsverbrecher vielfach Begriffe aus dem Wortschatz von Musikern verwendeten und sie mit neuen Bedeutungen aufluden. So steht beispielsweise die Wortverbindung blatnaja muzyka (»BlatnajaMusik«) als Bezeichnung für die Sprache der Berufsverbrecher,2303 igrat’/sygrat’ na akkordeone, na bajane, na rojale (»auf einem Akkordeon/Bajan/Flügel spielen«) für Daktyloskopie,2304 melodija (»Melodie«) für Miliz, gastrol’ (abgewandelt von gastroli – »Gastspiel«) für die Fahrt eines Berufsverbrechers mit dem Ziel, ein Verbrechen zu begehen. Eine neue Wortverbindung, wovon in dieser Sprache eine Vielzahl existiert, stellte z. B. chodit’ po muzyke (wörtlich »auf der Musik gehen« oder »nach Musik gehen«) dar, was rauben bedeutete.2305 Dies ist ein Indiz dafür, dass Musik einen wichtigen Bestandteil innerhalb der Kultur der Berufsverbrecher bildete. Durch die Direktive des GULAG-Leiters Matvej Berman vom 2. Juli 1933 wurde der Sprache der Berufsverbrecher der Kampf angesagt. Sie finde Eingang in die Ausdrucksweise der Zivilangestellten und sogar der Tschekisten, so die Direktive. Sie werde in der Lagerpresse und von »Agitationsbrigaden« verwendet. Berman wies die Lagerleiter an, den kriminellen Jargon zu verbieten, nicht nur in der Presse, gegenüber den Zivilangestellten und »Agitationsbriga2302 Gracˇev, Michail: Jazyk iz mraka. Blatnaja muzyka i fenja. Slovar’, 1992, S. 22. 2303 Diese Bedeutung stammt noch aus der vorrevolutionären Zeit, denn ein Wörterbuch des kriminellen Jargons von V. Trachtenberg aus dem Jahr 1908 trägt den Titel Blatnaja muzyka. 2304 Zinaida LichacˇÚva überliefert in ihren am Beginn der 1960er-Jahre aufgezeichneten Erinnerungen an ihre erste Haft ab 1936 ein Beispiel für die Verwendung des Ausdrucks igrat’ na rojale (»auf einem Flügel spielen«) durch einen kriminellen Häftling. LichacˇÚva, »Detal’ monumenta«, 1988, S. 11. 2305 Gracˇev, Jazyk iz mraka, 1992, S. 61, 82, 110, 184.

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den«, sondern auch gegenüber den Häftlingen.2306 Dies war jedoch ein Versuch der Eindämmung, der von keinem Erfolg gekrönt war. Sergej Golicyn, welcher freiwillig am Bau des Moskau-Wolga-Kanals arbeitete, berichtet, dass sogar der Dmitlag-Leiter SemÚn Firin die Sprache der Berufsverbrecher sprach und ihre Lieder sang.2307 Eine ganze Reihe von ehemaligen Häftlingen beschrieb die Welt der Berufsverbrecher in der Sowjetunion als eine, die völlig abseits aller gewohnten sozialen Zusammenschlüsse stand und nach ihren eigenen Regeln funktionierte. Diese Welt stehe jenseits von Gut und Böse, schrieb der ehemalige Häftling Jakov Vajskopf im Jahr 1981, sie habe ihre eigene Moral, ihre eigene Gesetzlichkeit, ihre eigene Vorstellung von Ehre, ihre eigene Sprache, ihre eigene Organisation und ihre eigene Kultur. Für die Verwendung des Wortes »Kultur« im Zusammenhang mit dieser Welt entschuldigte er sich bei den Lesern.2308 Besonders eindrücklich wird die Welt der Kriminellen als eine Anti-Welt im Werk von Varlam Sˇalamov geschildert.2309 Dass diese Welt aber nicht abgeschottet von der übrigen Gesellschaft blieb, sondern Auswirkungen auf die Kultur der anderen Häftlinge und auch auf die der zivilen Bevölkerung hatte, hat beispielsweise der ehemalige Häftling Daniil Al’ dargestellt.2310 Die Geschichte der Liedkultur der Berufsverbrecher reicht bis zur Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert zurück.2311 Im Jahr 1932 nahm der äußerst populäre Sänger Leonid UtÚsov den Klassiker der Blatnye-Lieder Gop so smykom2312 und das den Blatnye-Liedern nachgebildete Lied S odesskogo kicˇmana (Aus dem Gefängnis von Odessa) auf Schallplatte auf.2313 Er hatte sie ur2306 GARF, F. R-9489, op. 2, d. 20, l. 221, 221ob. 2307 Golicyn, Zapiski ucelevsˇego, 1990, S. 642. 2308 Vajskopf, Jakov : Blatnaja lira. Sbornik tjuremnych i lagernych pesen, 1981, S. 8. Der Autor war in den Jahren 1937 bis 1942 in Russland, der Komi ASSR und in Mordwinien inhaftiert. Lieder, die ihm im Gedächtnis geblieben sind, sind in seine Veröffentlichung eingeflossen. 2309 Sˇalamov, Kolymskie tetradi, 2005, S. 15 – 51. 2310 Archiv des Verlags Vozvrasˇcˇenie Moskau: Al’, Daniil: Chorosˇo posideli, Kapitel »Peresylka« (Manuskript). 2311 Diese Geschichte zeichnet anhand von ausgewählten Stationen Uli Hufen nach in: Das Regime und die Dandys. Russische Gaunerchansons von Lenin bis Putin, 2010. 2312 Was die Übersetzung dieses Titels angeht, so besteht darüber keine Einigkeit. Er könnte einen plötzlichen Raubüberfall mit schnellem Verschwinden des Räubers bedeuten. Das Lied handelt auch tatsächlich von einem Räuber und seinem Leben. Nekljudov, Sergej: »›Gop so smykom‹ – e˙to vsem izvestno…«, in: Bajburin, A. (Hg.): Fol’klor, postfol’klor, byt, literatura. Sbornik statej k 60-letiju Aleksandra FÚdorovicˇa Belousova, 2006, 65 – 85; Zˇiganec, Blatnaja lirika, 2001, 62 f. Hörbeispiel: http://www.russian-records.com/details.php?image_id=13404& l=russian (letzter Zugriff am 17. Januar 2012). 2313 Http://www.russian-records.com/details.php?image_id=13481& l=russian (letzter Zugriff am 17. Januar 2012). Zur selben Zeit sangen Berufsverbrecher Gop so smykom auf den Solovki mit einem Text über ihre eigene Arbeitsverweigerung. Rozanov, »Soloveckij konclager’ v monastyre«, 1979, S. 125.

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Selbstbestimmtes Musizieren der Häftlinge: die Lagerlieder

sprünglich gesungen, um negative Personen in einem Schauspiel zu charakterisieren. Ca. 1934 wurde seine Schallplatte aus dem Verkehr gezogen,2314 vermutlich weil die Lieder nicht, wie beabsichtigt, als negative Beispiele rezipiert wurden, sondern zur Sympathie mit den Berufsverbrechern beigetragen haben. Wie bereits erwähnt, überliefern viele ehemalige Häftlinge, dass Berufsverbrecher sehr viel sangen.2315 Ihre zwei berühmtesten Lieder heißen Gop so smykom und Murka (ein Frauenname).2316 Über Murka schreibt Arkadij Bronnikov, dass es immer noch in russischen Strafkolonien gesungen wird.2317 Beide Lieder wurden beispielsweise zur Charakterisierung der Berufsverbrecher im Film verwendet: Gop so smykom im Film PutÚvka v zˇizn’ von 1931 und Murka in Mesto vstrecˇi izmenit’ nel’zja (The Meeting Place Cannot Be Changed) von 1979. Die Melodien beider Lieder sind in mehreren Sammlungen von Blatnye-Liedern abgedruckt worden, z. B. in denen von Jakov Vajskopf und Fima Zˇiganec.2318

Abb. 76: Murka nach Vajskopf, Blatnaja lira, 1981, S. 26.

Abb. 77: Gop so smykom nach Vajskopf, Blatnaja lira, 1981, S. 61. 2314 Zˇeleznyj, I. u. a. (Hg.): ZapresˇcˇÚnnye pesni. Pesennik, 2002, S. 7 f. 2315 Z. B. Savcˇenko, »Bryzgi ˇsampanskogo«, 1990, S. 4; LichacˇÚva, »Detal’ monumenta«, 1988, S. 37, 127. 2316 Hörbeispiel: http://www.russian-records.com/details.php?image_id=13445& l=russian (letzter Zugriff am 17. Januar 2012). 2317 Bronnikov, Arkadij: Ne zabudu mat’ rodnuju. Pesni, stichi, basni, pogovorki, »krylatye slova«, bytujusˇcˇie sredi zakljucˇÚnnych tjurem, kolonij i lagerej. Sovetskij period, 2000, S. 190. 2318 Vajskopf, Blatnaja lira, 1981; Zˇiganec, Blatnaja lirika, 2001.

Entstehung und Rezeption der Lagerlieder

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Wie für Volkslieder im Allgemeinen typisch, zeichnen sich auch Lagerlieder durch eine Vielzahl von Textvarianten aus, insbesondere solch verbreitete Lieder wie die beiden genannten. Die »klassische« Variante der Murka handelt von einer Frau, die ihre Bande verrät und dafür umgebracht wird. Diese und weitere Varianten mit bis zu 20 Strophen können bei Zˇiganec nachgelesen werden, wie auch zahlreiche Varianten von Gop so smykom, welches das Leben eines Räubers besingt2319 und von Varlam Sˇalamov die »Hymne der Berufsverbrecher« genannt wurde.2320 Bezüglich der Gesangspraxis der Berufsverbrecher differieren die Überlieferungen der Zeitzeugen. Während z. B. Varlam Sˇalamov den Solo-Gesang als unbedingtes Merkmal dieser Gesangspraxis beschreibt,2321 spricht Daniil Al’, welcher von 1949 bis 1955 wegen »antisowjetischer Agitation« inhaftiert war, vom chorischen Gesang, welcher leise und innig klang.2322 Auch Zinaida LichacˇÚva hörte auf der Kolyma Ende der 1940er-Jahre Berufsverbrecherinnen im Chor singen.2323 Eine wichtige Quelle über die Lieder der Berufsverbrecher stellen die in Form eines Romans verfassten Erinnerungen von Aleksandr Vardi dar, die unter dem Titel Podkonvojnyj mir (Bewachte Welt) 1971 in Frankfurt am Main erschienen sind. Vardi war von 1936 bis 1939 sowie nochmals von 1950 bis 1955 in Lagerhaft und hat eine Sammlung der Gulag-Folklore hinterlassen, mit der er noch während seiner ersten Lagerhaft begonnen hatte und welche heute in der Stanford University aufbewahrt wird.2324 Die Sammlung konnte für diese Arbeit nicht berücksichtigt werden. Vardi lässt seinen Roman in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre spielen und gewährt darin einen Einblick in das durch viel Gewalt bestimmte Verhältnis der verschiedenen Häftlingsgruppen zueinander. Dazu gehören vor allem zwei Gruppierungen der Berufsverbrecher : die sogenannten »Diebe im Gesetz« sowie die sich von ihnen Ende der 1940er-Jahre abspaltende Gruppe der suki, die mit der Lageradministration kooperierten und deswegen von den »Dieben im Gesetz« gehasst und brutal bekriegt wurden. Ebenso kommt die Gewalt dieser beiden Gruppen gegenüber anderen Häftlingen zur Sprache. Musik spielt in Vardis Buch immer wieder eine wichtige Rolle, vor allem wenn es um die Charakterisierung der Berufsverbrecher geht. Werden sie insgesamt als sehr brutal dargestellt, so findet sich unter ihnen ein Sänger, welcher wegen Zˇiganec, Blatnaja lirika, 2001, S. 46 – 74. Sˇalamov, Kolymskie tetradi, 2005, S. 96. Sˇalamov, Kolymskie tetradi, 2005, S. 99. Archiv des Verlags Vozvrasˇcˇenie Moskau: Al’, Daniil: Chorosˇo posideli, Kapitel »Peresylka« (Manuskript). 2323 LichacˇÚva, »Detal’ monumenta«, 1988, S. 92. 2324 Http://www.blat.dp.ua/legenda/train.htm (letzter Zugriff am 15. August 2010).

2319 2320 2321 2322

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Selbstbestimmtes Musizieren der Häftlinge: die Lagerlieder

seiner Lieder sowohl von kriminellen als auch von nichtkriminellen Häftlingen geschätzt wird. Nichtkriminelle Häftlinge versuchen sogar, den kriminellen Sänger gegenüber anderen Häftlingen zu beschützen.2325 Dies zeugt davon, dass sie sich mit seinen Liedern identifizieren oder ihn zumindest als Sänger wertschätzen. Dem Gesang begegnet der Leser bereits auf der ersten Seite des Romans, wenn es darum geht, dass Häftlinge aus dem Taganka-Gefängnis in Moskau zum Zug gefahren werden, welcher sie in die Lager bringen soll. Vor dem Einsteigen der Berufsverbrecher in das dafür vorgesehene Fahrzeug, in dem bereits nichtkriminelle Häftlinge sitzen, lässt ein Berufsverbrecher ein Lied erklingen, welches seine Kumpane dazu auffordert, einzusteigen und die nichtkriminellen Häftlinge auszurauben.2326 Das Lied dient hier zur Unterstützung der kriminellen Traditionen, zur Charakterisierung dieser Häftlingsgruppe und stellt noch kein Verbindungsglied zur Welt der nichtkriminellen Häftlinge dar, sondern unterstreicht die Abgrenzung dieser beiden Gruppen voneinander sowie die feindliche Haltung der Berufsverbrecher gegenüber den Nichtkriminellen. Beispiele für genuine Lieder der Berufsverbrecher, die kaum von anderen Häftlingen übernommen werden dürften, kommen auch an anderen Stellen des Buches vor. Beispielsweise singt eine Berufsverbrecherin nach dem freiwilligen Geschlechtsverkehr mit den Wachposten im Zug ein kurzes Lied, welches ihre Bisexualität im Lager thematisiert.2327 Zu einem Verbindungsglied zwischen den Häftlingsgruppen wurden BlatnyeLieder, wenn sie vom Schicksal der Häftlinge im Allgemeinen sowie von der Wut gegen das Regime bzw. die Tschekisten handelten. Vardi beschreibt einen Abend im Zug während des Transports, an dem die Berufsverbrecher Karten spielen und einer von ihnen dazu singt.2328 In seinen Liedern erzählt er von schwerer Lagerarbeit sowie von Bestrafungen durch die Lagerangestellten, die er verflucht und denen er Rache schwört. Vardi schildert die Melodie als keck und flott, den Blick des Sängers jedoch als traurig. Von anderen Berufsverbrechern wird der Sänger aufgefordert, von Vorkuta zu singen, und er beginnt ein sehr leises, schwermütiges Lied über das Leben unter den widrigen Bedingungen nördlich des Polarkreises, über die Sehnsucht nach einer geliebten fernen Frau und den nahenden Tod. Dieses Lied enthält im Gegensatz zu den davor zitierten kein einziges Wort aus dem Jargon der Berufsverbrecher und könnte genauso gut von nichtkriminellen Häftlingen gesungen werden. Dieses Lied geht ohne Pause in ein weiteres über, welches wiederum der 2325 2326 2327 2328

Vardi, Podkonvojnyj mir, 1971, S. 268. Vardi, Podkonvojnyj mir, 1971, S. 5. Vardi, Podkonvojnyj mir, 1971, S. 39. Vardi, Podkonvojnyj mir, 1971, S. 24 – 28.

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geliebten und schmerzlich vermissten Frau gilt. Es hat zur Folge, dass die anwesenden Häftlinge leise und nachdenklich werden und aufhören, Karten zu spielen. Ohne das Lied ausklingen zu lassen, springt der Sänger plötzlich auf, gestikuliert wild und gibt ein Rachelied zum Besten, wobei er lauthals schreit. Das Lied handelt von seiner zerstörten Familie und ruft zur Abrechnung mit den Vertretern des Regimes auf: Die Mutter ist an Hunger gestorben, Der Vater ist im Krieg verloren gegangen, Und ich werde unter Bewachung Durch das gequälte Land gefahren. Schlag! Schlachte! Rauf! Zünd an! Räche die Mutter! Vergib nicht, was die Schwestern erlitten! Schlag! Schlachte! Rauf! Zünd an!2329

Die Zuhörenden heulen, singen, schreien und klatschen dazu, der Sänger ergeht sich in einem wilden Tanz. Das Lied enthält Aufrufe gegen die Tschekisten und für Arbeitsverweigerung und endet mit der Aufforderung, Stalin zu zerstückeln, um aus ihm Borschtsch zu kochen. Diese Lied- und Tanzorgie endet abrupt, weil aus dem angrenzenden Abteil Rufe laut werden, dass irgendwo im Zug Haschisch vorhanden ist, was die Berufsverbrecher offenbar mehr interessiert.2330 Auch in seinen Beschreibungen des Lagerlebens erwähnt Vardi immer wieder den Gesang einzelner Berufsverbrecher, die in der Baracke zur eigenen Gitarrenoder Bajanbegleitung singen. Zum einen handelt es sich dabei um Lieder, die über das Leben der Berufsverbrecher erzählen, zum anderen um solche, die vom Leid aller Häftlinge handeln.2331 In diesen zweitgenannten Liedern kam die Kritik am sowjetischen System unverhüllt zur Sprache. Zwei Beispiele seien hier aufgeführt: Der verdammte Leiter der ersten Abteilung Schlug mich mit einem Stock auf die Fersen.

2329 =Qcm _c T_\_UQ `_]ra\Q, 2Qcp bTY^d\ ^Q S_Z^V,

1 ]V^p [_^S_Y S_Xpc @_ XQ]dhV^^_Z bcaQ^V. 2VZ! AVWm! ASY! 7TY! 8Q ]Q]Qid _c_]bcY ! 8Q bVbcaV^_[ ^V `a_bcY ! 2VZ! AVWm! ASY! 7TY! Vardi, Podkonvojnyj mir, 1971, S. 27.

2330 Eine ähnliche Begebenheit beschreibt Vardi auch im Lager. Vardi, Podkonvojnyj mir, 1971, S. 247. 2331 Vardi, Podkonvojnyj mir, 1971, S. 53 f., 56 f., 114 f., 246 f. u. 251 f.

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Selbstbestimmtes Musizieren der Häftlinge: die Lagerlieder

Dieser Schinder wollte mir ein fremdes Verbrechen ankreiden. Ärgerte sich, dass er noch nicht alle vernichtet hatte.2332 Es war Lenin, der ihnen den Weg gewiesen hat. Es war Stalin, der uns mit einem Beutelchen fortgeschickt hat. Es ist die Partei, die zum Tode führt. Alles, was der Mensch hat, nimmt sie fort. Wir haben nun keine Frauen, keine Söhne mehr. Und wir wurden aller Lebensgrundlagen beraubt. Es war Lenin, der ihnen den Weg gewiesen hat. Es war Stalin, der uns mit einem Beutelchen fortgeschickt hat.2333

Meist handelte es sich dabei, nach den Schilderungen Vardis, um traurige Lieder, die mit rauer Stimme und Schmerz vorgetragen wurden.2334 Auffällig an diesen Liedern ist die harsche Kritik am Sowjetregime. Dies war sicherlich eine Eigenschaft, die dieses Liedgut auch für nichtkriminelle Lagerinsassen und für die zivile Bevölkerung interessant machen konnte. In den Tagen nach Stalins Tod herrschte eine Aufbruchsstimmung unter den Häftlingen. Vardi berichtet davon, dass in den Baracken Lieder gesungen wurden und Bajan gespielt wurde. Einen Musiker nennt er mit Namen: Es sei ein gewisser Volosˇin gewesen, der vor der Haft in der Leningrader Estrade [leningradskaja e˙strada] beschäftigt war. Die Wachen aber waren verärgert und haben den Gesang verboten.2335 Die meisten der von Vardi zitierten Lieder gehören zur wenig bekannten Lagerfolklore, was sein Buch für eine Erforschung von Lagerliedern besonders interessant macht. Die Sympathie der nichtkriminellen Häftlinge mit dem Liedgut der Berufsverbrecher kam insbesondere in den 1960er-Jahren in der zivilen Gesellschaft zum Ausdruck:2336 2332 @a_[\pclZ ^QhQ\m^Y[ `VaS_T_ _cUV\Q @Q\[_o `_ `pc[Q] [_\_cY\. @aYiYSQ\, cVaXQcV\m, ]^V hdW_V UV\_. 8\Y\bp, hc_ ^V SbVf VjV ^Q bSVcV XQTdRY\. Vardi, Podkonvojnyj mir, 1971, S. 252. 2333 Nc_ ýV^Y^ Y] U_a_W[d d[QXQ\. Nc_ BcQ\Y^ ^Qb b [_c_]_h[_Z `_b\Q\. NcQ `QacYp [ `_TYRV\Y SVUVc. 3bV, hc_ Vbcm d hV\_SV[Q, – _cRVaVc. þVc d ^Qb cV`Vam ^Y Wr^_[, ^Y bl^_S, 9 \YiY\Y ^Qb SbVf WYX^V^^lf _b^_S. Nc_ ýV^Y^ Y] U_a_W[d d[QXQ\. Nc_ BcQ\Y^ ^Qb b [_c_]_h[_Z `_b\Q\. Vardi, Podkonvojnyj mir, 1971, S. 251. 2334 Vardi, Podkonvojnyj mir, 1971, S. 252. 2335 Vardi, Podkonvojnyj mir, 1971, S. 107 f u. 114 f. 2336 Die Lagerthematik kann schon früh in den Liedern der zivilen Gesellschaft beobachtet

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Die Zeit der Blatnye-Lieder war angebrochen. […] Die Intelligenz begann, sie zu singen […].2337

Dies schrieb Nikolaj Arzˇak alias Julij Danie˙l’ in seiner 1964 in New York erstmals veröffentlichten Erzählung Iskuplenie (Sühne). Er begann diese Erzählung mit der Beschreibung dessen, wie Blatnye-Lieder in die Städte wanderten: Sie sickerten langsam aus dem Fernen Osten und dem Hohen Norden durch, die Amnestie sang sie mit zusammengepressten Zähnen, und schließlich kamen sie auf den Schultern der ehemals nach § 58 Verurteilten in die Städte. Es sei als eine gewisse Würze empfunden worden, wenn intelligente Gespräche bei Wodka durch das »melancholische Fluchen eines dochodjaga« unterbrochen wurden. Man hat sich über die Alliterationen und Assonanzen in diesen Liedern unterhalten und sie als eine Literaturgattung behandelt. Danie˙l’ hinterfragt diesen Umgang mit den Blatnye-Liedern, indem er ihnen die unmenschlichen Attribute des Lagerdaseins gegenüberstellt. Der Ich-Erzähler wird angesichts dieser Lieder einen Augenblick lang von Angst befallen, doch der Alkohol und das Lächeln der anderen verscheuchen seine schlechten Gedanken.2338 Boris Sˇragin erzählt in seiner Rezension zu Danie˙l’s Iskuplenie von 1986, dass auch er Anfang der 1960er-Jahre in Gesellschaften bei Wodka im Chor BlatnyeLieder gesungen habe. Das vormals verbotene Thema des stalinschen Terrors war plötzlich erlaubt. Anstatt sich damit auseinanderzusetzen, flüchteten sich die Zeitgenossen aber in die Oberflächlichkeit der Lieder, so Sˇragins Gedankengang. Die Frage nach den Schuldigern hätte geklärt werden müssen, doch man schob die Schuld auf die Regierung und entledigte sich ganz leicht dieses Problems. Hauptsache, man selbst war nicht schuldig, so Sˇragin; man versteckte die Leichen unterm Bett.2339 Danie˙l’s Text kann als eine Kritik an der Rezeption der Blatnye-Lieder interpretiert werden. Die junge Generation sang sie in den 1960er-Jahren, so Danie˙l’, ohne die Situation zu reflektieren, in der diese Lieder entstanden waren. Für sie waren es Exotismen aus einer unbekannten Welt, interessant durch die darin verwendete Sprache der Berufsverbrecher. Bemerkenswert ist jedoch, dass gerade die politischen Häftlinge, die von den Berufsverbrechern so viel Leid in werden. Samuil E˙psˇtejn (1906 – 1998), der von 1937 bis 1939 auf den Solovki in Haft war, berichtet, dass bereits Anfang der 1930er-Jahre die folgende cˇastusˇka in Freiheit gesungen wurde: =Y\lZ ]_Z, `_ZUV] b_ ]^_Z ! Mein Liebster, komm mit mir! @_ZUV], ]_p [QacY^_h[Q ! Komm, meine Schönheit! CVRp dT_^pc S B_\_S[Y Du wirst auf die Solovki fortgejagt, ?bcQ^dbm bYa_cY^di[Q. Und ich werde ganz alleine zurückbleiben. 2337 þQbcd`Y\_ SaV]p R\Qc^lf `VbV^. […] 9f XQ`V\Q Y^cV\\YTV^gYp ; […]. Arzˇak, »Iskuplenie«, 1966, S. 99. 2338 Arzˇak, »Iskuplenie«, 1966, S. 99 f. 2339 Sˇragin, Boris: »Iskuplenie Julija Danie˙lja«, in: Sintaksis, 1986 (Paris), Nr. 16, S. 3 – 33.

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Selbstbestimmtes Musizieren der Häftlinge: die Lagerlieder

den Lagern erfahren mussten, deren Lieder in der zivilen Gesellschaft verbreiteten. Im Sommer 1964 besuchte Michajlo Michajlov aus Jugoslawien Moskau und berichtete in seiner Monografie über diese Reise, wie im Studentenwohnheim der Moskauer Universität Lagerlieder zur Gitarre gesungen wurden. Er hörte sie von einem Studenten aus Sibirien eines Abends, als sich eine Gruppe von Studierenden zusammenfand, um sich mit Trinken und Singen die Zeit zu vertreiben. Den Moment, in dem dieser Student zu singen anfing, beschreibt Michajlov als einen, den er nie vergessen werde, und zwar vor allem wegen der Lieder. Die anderen Studierenden kannten diese Lieder und sangen mit. Darunter waren sowohl fröhliche als auch verzweifelte und auch zynische Lieder. Michajlov nannte sie die wahre Volkskunst im Gegensatz dazu, was das sowjetische Radio sendete.2340 Bei einem der Lieder, welche Michajlov konkret benennt, handelt es sich um den Klassiker der Lagerlieder schlechthin: Vaninskij port (Der Hafen Vanino), das am Ende dieses Kapitels näher betrachtet wird. Lagerlieder wurden Teil einer Subkultur, die als Autorenlied [avtorskaja pesnja] oder Gitarrenpoesie [gitarnaja poe˙zija] bezeichnet wurde. Ihre Vertreter waren beispielsweise die Liedermacher Bulat Okudzˇava (1924 – 1997), Vladimir Vysockij (1938 – 1980) und Aleksandr Gorodnickij (*1933). Die beiden zuletzt genannten bezogen Lagerlieder direkt in ihr Schaffen ein. Gorodnickij beschreibt sogar in seinen Erinnerungen, dass er als Geologe durch Lagerlieder, welche er nördlich des Polarkreises in den 1950er-Jahren abends am Feuer hörte, dazu angeregt wurde, selbst Lieder zu schreiben. Er habe verstanden, dass Lieder ein Kommunikationsmittel darstellen konnten, welches die allgemeinen Leiden, die allgemeine Müdigkeit und Trauer ausdrücken konnte, ohne zu beschönigen. Einige Lieder, die er damals geschrieben hat, haben als »Volkslieder« weite Verbreitung gefunden.2341 Gorodnickijs Lied Na materik (Aufs Festland) ist sogar von ehemaligen Häftlingen als eines tradiert worden, das im Lager entstanden sei. Es handelt davon, dass der letzte Transport vor dem Wintereinbruch aus dem Lager aufbricht und gibt die traurigen Gedanken derjenigen Häftlinge, die zurückbleiben, wieder.2342 Der Begriff materik wurde in vielen abgelegenen Lagern zur Bezeichnung des europäischen Teils der Sowjetunion verwendet;2343 dies hat sich 2340 Michajlov, Michajlo: Leto moskovskoe 1964. Mertvyj dom Dostoevskogo i Solzˇenicyna, 1967, S. 56 f. 2341 Gorodnickij, Aleksandr : Sled v okeane. Dokumental’noe povestvovanie, 2. vervollständigte Ausgabe, 1993, S. 157. 2342 Gorodnickij, Sled v okeane, 1993, S. 157 f.; Zˇiganec, Blatnaja lirika, 2001, S. 261 f. 2343 Bsp. für das Karlag: E˙psˇtejn, »Char’kovcˇanka v ALZˇIRe«, 1991, S. 28 und für das Noril’lag: Klimovicˇ, G.: »Soprotivlenie v GULAGe (zametki byvsˇego uznika)«, in: Kalich, A./Obuchov, V./Sˇmyrov, V. (Hg.): Totalitarizm v Rossii (SSSR) 1917 – 1991, 1998, S. 66.

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soweit eingebürgert, dass in Magadan auch heute noch von materik gesprochen wird, wenn der europäische Teil Russlands gemeint ist, auch wenn die Kolyma keine Insel darstellt. Die Lieder der Gitarrenpoeten wurden in der Sowjetunion nicht publiziert, jedoch über Kassetten-Aufnahmen von der Bevölkerung im ganzen Land verbreitet. Dass Blatnye-Lieder eine große Bedeutung für die Dissidenten-Szene hatten, verdeutlicht ein Aufsatz des Literaturwissenschaftlers und Schriftstellers Abram Terc alias Andrej Sinjavskij, der 1966 zusammen mit Julij Danie˙l’ wegen angeblicher antisowjetischer Propaganda und Agitation zu sieben Jahren Lagerhaft verurteilt wurde, in dem der Verfasser diese Lieder als eine Gattung schildert, welche die russische Mentalität abbildet. Sie enthalten, so Terc, die »ureigene, wie ein Wolf heulende Schwermut und Sehnsucht, vermischt mit wilder Ausgelassenheit«, »den angeborenen Maximalismus in den Ansprüchen und in den Versuchen, das Unerreichbare zu erreichen«, das Vagabundentum, die Lust auf Veränderungen, die Gier nach Risiko, aber auch die Schicksalsergebenheit.2344 Als wichtigste Ursache für die Popularität der Blatnye-Lieder vermutet Il’ja Fonjakov ihren inoffiziellen Charakter. Das Singen dieser Lieder sei stets ein Akt der Unabhängigkeit, der Kampfansage, des Nonkonformismus gewesen, auch wenn er gering, harmlos und spielerisch gewesen sei. Diese Lieder seien Kennworten ähnlich gewesen, anhand derer Gleichgesinnte einander erkennen konnten.2345 Ol’ga Sˇilina erklärt die Popularität der Lagerlieder innerhalb des inoffiziellen Liedrepertoires unter anderem damit, dass es sich bei ihnen um die letzten echten Volkslieder handelte, die nicht auf Geheiß von oben, sondern auf natürliche Art entstanden waren.2346

Weitere Typen von Gulag-Liedern Neben den Blatnye-Liedern sind als weitere Typen von Liedern, die im Gulag rezipiert wurden, folgende zu nennen: a) Revolutionslieder. Beispiele dafür wurden im Kapitel über die Solovki sowie in diesem Kapitel im Abschnitt über die Lieder im Gefängnis genannt. Anatolij Aleksandrov überliefert in einem während der Lagerhaft in Magadan im Jahr 1947 verfassten Gedicht, dass die Häftlinge die Internationale aufrichtig gesungen haben.2347 Nina Gagen-Torn hörte 1937 in Vladivostok Häftlinge, die 2344 Terc, Abram: »Otecˇestvo. Blatnaja pesnja…«, in: Neva, 1991, Nr. 4, S. 161. 2345 Fonjakov, Il’ja: »›Intelligencija poÚt blatnye pesni‹«, in: Literaturnaja gazeta, 17. April 1996, S. 4. 2346 Sˇilina, Vladimir Vysockij i muzyka, 2008, S. 86. 2347 Aleksandrov, Pod rzˇavymi zvÚzdami. Kniga stichov, 1994, S. 33.

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Selbstbestimmtes Musizieren der Häftlinge: die Lagerlieder

Anhänger Lenins waren, Revolutionslieder singen.2348 Dieses Phänomen unter den Bedingungen des Gulag zu begreifen, scheint schwierig. Es muss sich bei den betroffenen Häftlingen offenbar um solche gehandelt haben, die den Glauben an die sowjetischen Ideale trotz ihres Schicksals nicht verloren hatten. Ihr Glaube daran ging so weit, dass sie auch im Lager sowjetische Feste feiern wollten, wie Nadezˇda Kravec schildert. Nach Stalins Tod im März 1953 kam es nämlich zu einer Verschärfung der Haftbedingungen im Sonderlager Ozerlag im Gebiet Irkutsk: Die Radiosender wurden entfernt, die wenigen vorhandenen Bücher und Zeitschriften konfisziert, die Häftlinge mussten sogar das Gras auf dem Gelände des Lagers mit bloßen Händen ausreißen. Die Geige von Nadezˇda Kravec hing nicht mehr in ihrer Baracke, sondern im Gebäude der Lageradministration. Am Vorabend des 1.-Mai-Feiertags mussten alle roten Kleidungsstücke abgegeben werden, damit die Häftlinge nicht feiern konnten, denn Rot war die Farbe dieses Feiertags. Doch sie hintergingen die Administration, indem sie auf Anregung Nadezˇdas eine geheime Feier veranstalteten. Die Geigerin holte unter dem Vorwand der Reinigung ihr Instrument in die Baracke und brachte die leere Hülle in das Administrationsgebäude zurück. Dies blieb unentdeckt, und so veranstalteten die Häftlinge ein unerlaubtes Konzert in der Baracke mit Gedichten und Gesang. Sie spielten auf Kämmen und Nadezˇda leise auf der Geige. Auch rezitierte sie das Gedicht Vladimir Majakovskijs über den sowjetischen Pass.2349 Die Häftlinge waren glücklich über ihre Feier des sowjetischen Festes, obwohl sie aus der Sowjetgesellschaft ausgestoßen waren. Auf der anderen Seite verwendeten sie offizielle Lieder durch die Umdichtung des Textes subversiv gegen das Regime. Michail Nikonov-Smorodin berichtet, dass er Ende der 1920er-Jahre im Butyrka-Gefängnis in Moskau einen alternativen Text der Internationale auf der Gefängnismauer lesen konnte. Dieser veranschaulicht die den Lagerliedern eigene bittere Ironie (vgl. Kapitel A.2.1, Abschnitt »Gesang der Häftlinge«): Steh auf, der du ein halbes Pfund gegessen hast, Geh ins Dorf Mehl holen. Zieh dein letztes Hemd Eigenhändig aus. Nur wir, die Arbeiter der großen Weltarbeiterarmee Haben das Recht auf Landbesitz, Aber nicht auf die Ernte.2350 2348 Vilenskij, Osvencim bez pecˇej, 1996, S. 113. 2349 Kravec, »Sˇest’ let ›rezˇima‹«, 1988, S. 84. 2350 3bcQSQZ[,] `_\ed^c_] ^Q[_a]\V^^lZ, 9UY S UVaVS^o XQ ]d[_Z.

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b) Lieder, die in Freiheit verboten waren bzw. nicht gespielt wurden. Beispielsweise erzählt Aleksandr Vardi vom Esten Kalju Järvi, einem Bildhauer, der in der Baracke zur eigenen Gitarrenbegleitung sang. Dabei hat er, so der Autor, ein Banjo nachgeahmt und auf Englisch gesungen. Ein Protagonist bedauerte das Verbot westlicher moderner Musik in der Sowjetunion, als er dieses Lied hörte. Die Häftlinge waren von Järvis Lied begeistert, trauten sich aber nicht, den Sänger nach mehr zu fragen, weil sie alle spürten, dass er durch die Lagerarbeit und die schlechte Verpflegung derart geschwächt war, dass er nicht mehr als ein Lied singen konnte.2351 Wie bereits an mehreren Stellen dieser Untersuchung gezeigt, hielten sich die Gulag-Insassen nicht an das durch die Zensurbehörden vorgegebene Repertoire. So erinnerte z. B. SemÚn Vilenskij, wie er in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre in einer großen, schlecht beleuchteten Baracke auf der Kolyma, in der ca. 200 Häftlinge lebten, einen Menschen in der Mitte der Baracke stehen sah und singen hörte. Jener intonierte das Lied Zamelo tebja snegom, Rossija (Der Schnee hat ˇ ernov,2352 welches als die Emigrantendich zugeweht, Russland) von Filaret C Hymne bekannt war. Dieser Vorfall offenbarte, laut Vilenskij, die wahre künstlerische Welt der Lager im Gegensatz zur verordneten »Laienkunst«.2353 c) Gesang der gläubigen Häftlinge, welcher ebenfalls schon mehrfach thematisiert wurde. So berichtet davon z. B. Tat’jana Lesˇcˇenko-Suchomlina, wenn sie sich an die Feier des Heiligabend 1950 in ihrer Baracke in Vorkuta erinnert. Frauen aus der westlichen Ukraine hätten damals geistliche Lieder vierstimmig ohne Noten gesungen. Alle, auch die schlimmsten Berufsverbrecherinnen, seien still gewesen und hätten zugehört.2354 Auch Zinaida LichacˇÚva hat einige inhaftierte Nonnen Ende der 1940er-Jahre auf der Kolyma ihre Gebete singen gehört.2355 d) Lieder einzelner Nationalitäten, welche zur Bewahrung ihrer Identität beitrugen. Am häufigsten wird hierbei der Gesang ukrainischer Häftlinge er-

B^Y]QZ `_b\VU^oo adRQi[d, BS_Vo b_RbcSV^^_Z ad[_Z. ýYim ]l – aQR_c^Y[Y SbV]Ya^_Z 3V\Y[_Z Qa]YY cadUQ, 3\QUVcm XV]\VZ Y]VV] `aQS_, 1 da_WQV] ^Y[_TUQ.

Nikonov-Smorodin, Krasnaja katorga, 1938, S. 77. 2351 Vardi, Podkonvojnyj mir, 1971, S. 109 f. 2352 Hörbeispiel: http://www.russian-records.com/details.php?image_id=15966& l=russian (letzter Zugriff am 17. Januar 2012). 2353 Interview der Verfasserin mit SemÚn Vilenskij am 4. Februar 2008 in Moskau. 2354 Vilenskij, Dodnes’ tjagoteet, 1989, S. 460. 2355 LichacˇÚva, »Detal’ monumenta«, 1988, S. 107.

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wähnt. Nadezˇda Kravec berichtet z. B. von jungen Töchtern der banderovcy,2356 welche als Familienangehörige zunächst in Kinderheime eingewiesen und später zu Lagerhaft verurteilt wurden. Im Ozerlag haben sie sich als eine geschlossene Gruppe gehalten, haben viel gearbeitet, sind sehr ordentlich gewesen und haben gerne Chorlieder gesungen.2357 Und Jurij Fidel’gol’c erinnerte sich im Telefoninterview mit der Verfasserin, dass im Lagerpunkt Kilometer 185 des Ozerlag ein Ukrainer namens Kislica, möglicherweise ein professioneller Sänger, in der Baracke russische Volkslieder sang, darunter Nad poljami, da nad cˇistymi (Über den Feldern)2358 und das Scherzlied Govorili, cˇto ja umer (Sie sagten, ich sei gestorben).2359 Erfahrungen mit singenden ukrainischen Häftlingen machte Fidel’gol’c ab 1950 auch auf der Kolyma. Er arbeitete dort in der Wolfram-Förderung in einer feuchten, dunklen und dementsprechend unheimlichen Umgebung. Während der Arbeit sangen die Ukrainer im Chor ihre Volkslieder, darunter Zakuvala ta siva zozulja (Der graue Kuckuck ruft) über Angehörige ihrer Nationalität in türkischer Gefangenschaft, die ihre Rückkehr in die Heimat ersehnen. »Wunderbare Lieder« und »außergewöhnlich schön«, so beschrieb Fidel’gol’c 60 Jahre später ihren Gesang. Die zivilen Beschäftigten des Betriebs – junge Frauen und Männer – eilten dann herbei, um zuzuhören.2360 Auch SemÚn Vilenskij bezeugt den Gesang der Häftlinge aus der westlichen Ukraine, die im Jahr 1956 patriotische ukrainische Lieder sangen, die sich gegen Moskau richteten.2361 Doch nicht nur die Ukrainer nutzten Volkslieder zur Stärkung ihrer nationalen Identität: Ende der 1930er-Jahre sang eine wolgadeutsche Krankenschwester im Vjatlag im Gebiet Kirov deutsche Lieder für eine kranke Gefangene, um sie zu ermutigen. Und in den 1940er-Jahren feierten drei deutsche inhaftierte Frauen im Temlag in der Mordwinischen ASSR Weihnachten, indem sie auf der oberen Pritsche Brot mit Marmelade zu einem Kuchen schichteten und dazu Weihnachtslieder sangen.2362 Zinaida LichacˇÚva hörte im Jahr 1936 im Butyrka-Gefängnis chinesische Häftlinge ihre Lieder singen.2363 e) Kriegslieder. Jurij Fidel’gol’c berichtet, dass in seiner Baracke im Ozerlag viele lyrische Kriegslieder gesungen wurden, darunter E˙ch, dorogi, pyl’ da tuman

2356 Angehörige der Ukrainischen Aufstandsarmee, die im Zweiten Weltkrieg gegen die Rote Armee kämpfte. 2357 Kravec, »Sˇest’ let ›rezˇima‹«, 1988, S. 86. 2358 Http://www.russian-records.com/details.php?image_id=8915& l=russian (letzter Zugriff am 17. Januar 2012). 2359 Telefoninterview der Verfasserin mit Jurij Fidel’gol’c am 12. November 2007 in Moskau. 2360 Telefoninterview der Verfasserin mit Jurij Fidel’gol’c am 12. November 2007 in Moskau. 2361 Vilenskij, Voprosy est’?, 2006, S. 203. 2362 Stark, »Ich muß sagen, wie es war«, 1999, S. 153, 160. 2363 LichacˇÚva, »Detal’ monumenta«, 1988, S. 26.

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(Ach, ihr Wege, Staub und Nebel) von Anatolij Novikov.2364 Denn viele Häftlinge saßen deswegen ein, weil sie in Kriegsgefangenschaft gewesen waren oder auf von deutschen Truppen besetztem Gebiet gelebt hatten; sie waren meist zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. Aber Kriegslieder wurden nicht nur im Original gesungen, sondern einige davon wurden auch umgedichtet. So gab es beispielsweise eine unflätige Variante der Katjusˇa (Frauenname) von Matvej Blanter.2365 Die Strafe, welche die Häftlinge lediglich dafür bekommen haben, dass sie die Besatzung oder die Kriegsgefangenschaft überlebt hatten, überstieg derart ihr Vorstellungsvermögen und verstieß so sehr gegen eine gesunde Vorstellung von Gerechtigkeit, dass sie ihre Situation durch bitteren Humor zu verarbeiten suchten. Sie waren nämlich oftmals wegen angeblicher Kollaboration und/oder möglicher Spionage verurteilt worden. ˇ astusˇki, welche auch in der zivilen Gesellschaft beliebt und weit verbreitet f) C waren. Wie bereits mehrfach geschildert, war diese Gattung im Gulag stets präsent. Die bekannteste cˇastusˇka über die Kolyma, welche in zahlreichen Erinnerungen vorkommt, lautet: Kolyma, du Kolyma, ein wundersamer Planet, zehn Monate Winter, im Übrigen Sommer.

So überliefert Elena Vladimirova diese cˇastusˇka und legt sie einem jungen Häftling in den Mund.2366 Ninel’ Monikovskaja, die im Jahr 1944 ins Lager transportiert wurde, hörte im Zug eine Version, in der sogar von zwölf Monaten Winter die Rede war.2367 Im Gulag gedichtete und komponierte Lieder Anatolij Aleksandrov dichtete als Häftling sowohl im Gefängnis als auch später im Lager. Seine Gedichte schrieb er in kleiner Schrift auf Zettel, die er an2364 Http://sovmusic.ru/download.php?fname=dorogi1 (letzter Zugriff am 17. Januar 2012). 2365 Telefoninterview der Verfasserin mit Jurij Fidel’gol’c in Moskau am 12. November 2007. Hörbeispiel der Originalfassung: http://sovmusic.ru/download.php?fname=katyush2 (letzter Zugriff am 17. Januar 2012). 2366 ;_\l]Q cl, ;_\l]Q, UYS^Qp `\Q^VcQ, UVbpcm ]VbpgVS XY]Q, _bcQ\m^_V – \Vc_. RGALI: F. 1702 (Glavnaja redakcija zˇurnala Novyj mir), op. 9, ed. 89, l. 81. 2367 Monikovskaja, Gody utrat i minuty scˇast’ja, 2001, S. 11. Grigorij Litinskij überliefert die gleiche cˇastusˇka aus Vorkuta mit »Vorkuta, Vorkuta« in der ersten Zeile und cˇudnaja statt divnaja in der zweiten, wobei es sich um Synonyme handelt. Archiv des BachrusˇinTheatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 212.

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schließend ganz fest zusammenrollte und Garn darum wickelte, das er bei sich tragen durfte. Er schrieb meist nicht im Lager, sondern an seinem Arbeitsplatz im Wissenschaftlichen Institut in Magadan, wo er zusammen mit Zivilisten arbeitete.2368 In einem seiner Gedichte schilderte er im Jahr 1947, wie es zur Entstehung von Liedern im Lager kommen konnte: Ich erschaffe ein Lied Bisweilen nach der Anstrengung des brutalen Tages Wärmt mich ein unsichtbares Feuer, Und so, als ob sie aus diesem Feuer aufbraust, Wird eine aufrührerische Musik hörbar. Mein Kopf wird klarer, Ich beginne Worte in die leidenschaftlichen Klänge hineinzuflechten, Ich erschaffe ein neues, kühnes Lied, Wiederhole es in der Seele, aber singe es nicht laut, Denn unter geheimer Aufsicht muss ich ausharren, Um in Zukunft singen zu können.2369

Es sind zwei neu gedichtete und komponierte Lieder aus dem Gulag bekannt, die aus dem Verlangen nach Widerstand heraus entstanden sind. Beide sind mit dem Aufstand der Häftlinge im Sonderlager Nr. 2 Gorlag in Noril’sk verbunden, welcher am 25. Mai 1953 begann und länger als einen Monat dauerte. G. Klimovicˇ erzählt von einer Hymne der Aufständischen von Noril’sk, die er unter

2368 Aleksandrovs Vater war ursprünglich ein Geistlicher. Wegen der Schließung der Kirchen war er dazu gezwungen, seinen Lebensunterhalt als Dirigent zu verdienen. Ab 1933 war er als Chorleiter des Schauspieltheaters in Tomsk tätig. Er wurde 1937 verhaftet und ist nie mehr zurückgekehrt. Sein Sohn Anatolij wurde 1945 verhaftet und zu sechs Jahren Lagerhaft und anschließend drei Jahren Einschränkung der Bürgerrechte verurteilt. Er verbüßte seine Haft von 1946 bis 1951 im Sevvostlag und blieb bis 1953 auf der Kolyma, weil ihm das Geld für einen Wegzug fehlte. Vilenskij, Poe˙zija uznikov GULAGa, 2005, S. 721; Aleksandrov, Pod rzˇavymi zvÚzdami. Kniga stichov, 1994, S. 3 – 5, 9. @Vb^o cS_ao 2369 @_a_Z `_b\V cpT_c WVbc_[_T_ U^p þVXaY]lZ _T_^m b_TaVSQVc ]V^p, 9, b\_S^_ Sb[Y`Qp ^Q nc_] _T^V, =pcVW^Qp ]dXl[Q b\liYcbp ]^V. BSVc\VVc, pb^VVc ]_p T_\_SQ, P S bcaQbc^lV XSd[Y S`\VcQo b\_SQ, P ^_Sdo, b]V\do `Vb^o cS_ao, 3 UdiV `_Sc_apo, ^_ Sb\df ^V `_o: @_U cQZ^l] ^QUX_a_] p U_\WV^ cVa`Vcm 3_ Y]p c_T_, hc_Rl S RdUdjV] `Vcm.

Aleksandrov, Pod rzˇavymi zvÚzdami. Kniga stichov, 1994, S. 48.

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Deck des Schleppkahns verfasst hat, als er zusammen mit anderen Häftlingen nach dem Aufstand aus Noril’sk fortgebracht wurde.2370

Abb. 78: Hymne der Häftlinge des Noril’lag, 1953. Text von G. Klimovicˇ, Musik von V. Nikolisˇin. Ausstellung des Sacharov-Museums in Moskau.

2370 Bei diesem Aufstand sind ca. 1.000 Häftlinge erschossen worden, aber die Lagerleitung sah sich auch dazu gezwungen, einige Zugeständnisse zu machen. Klimovicˇ, »Soprotivlenie v GULAGe«, 1998, S. 66. SemÚn Vilenskij betonte in einem Interview mit der Verfasserin, dass, seines Erachtens, diese Hymne nicht von der Masse der Häftlinge in Noril’sk gesungen werden konnte, weil die Aufständischen zum großen Teil aus der Westukraine stammten und kein Lied auf Russisch gesungen hätten. Interview am 21. Januar 2008 in Moskau. Die Existenz eines lettischen Liedes lässt jedoch vermuten, dass Lieder bei diesem Aufstand doch eine gewisse Rolle gespielt haben.

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Die Noten dieser Hymne sind in der Ausstellung des Sacharov-Museums in Moskau zu sehen.2371 Im virtuellen Gulag-Museum ist eine Aufzeichnung einer weiteren Hymne der Aufständischen von Noril’sk auf Lettisch aus den 1990erJahren vorhanden, welche vom ehemaligen Häftling Bronjus Zlatkus stammt.2372 ˇ eslovas Kavaljauskas, als Komponist Juozas Luksˇis geAls Textdichter wird C nannt. Das Lied soll auf dem Transport aus dem Sonderlager Gorlag in das Berlag, das Sonderlager des Sevvostlag, im Jahr 1953 verfasst worden sein. Wie Gedichte konnten auch Lieder angesichts des Todes von den Häftlingen als das geeignete Medium für den Ausdruck ihres Innenlebens empfunden werden. Veniamin Bromberg, dessen Schicksal in Kapitel A.1 im Abschnitt »Institutionalisierung des verordneten Musiklebens« kurz skizziert wurde, schrieb in der Todeszelle im Mai/Juni 1939 ein Lied nach dem Gedicht Aleksandr Pusˇkins Vospominanie (Erinnerung) von 1828, welches er seiner Frau und seinem damals dreijährigen Sohn widmete. Er schrieb später, nachdem die Todesstrafe nach fast dreimonatigem Warten durch Lagerhaft ersetzt worden war,2373 dass er Pusˇkins Gedicht als Konzentrat seiner eigenen Gefühle empfunden hatte, als er glaubte, sterben zu müssen. Er hatte das Gedicht schon im Jahr 1928 in einem Brief an die Eltern aus dem Gefängnis erwähnt. Das Lied war für einen Tenor vorgesehen. Es war Bromberg sehr wichtig gewesen, ungeachtet seiner Unvollkommenheit, wie er an seine Frau schrieb. Er trug ihr an, einen Pianisten um eine Begleitung für die Melodie zu bitten, falls sich die Gelegenheit ergeben würde.2374 Die Originalhandschrift Brombergs aus der Todeszelle sei hier reproduziert, zusammen mit dem Originaltext und einer Übersetzung des Gedichts von Pusˇkin: Wenn für den Sterblichen der laute Tag verstummt, Wenn still die Gassen und die Plätze Der Schatten aus der Nacht halbdurchsichtig vermummt 2371 Der Text der hier wiedergegebenen zwei Strophen dieser Hymne lautet übersetzt: Wir fürchten uns nicht vor den Tyranneien des Bolschewismus, Wir kennen unermessliches Leid. Uns sind alle Schrecken des Tschekismus bekannt Und die Klage der Menschen auf dem Territorium der UdSSR. Wir haben die Gefängnismauern erfahren Und Lager, in denen jeder ein Opfer war. Die Erschießung der Unschuldigen in den abgesperrten Zonen Weckte mit dem Antwortschrei die Tundra auf. 2372 Http://gulagmuseum.org/showObject.do?object=54570 (letzter Zugriff am 25. Mai 2011). Das Original der Noten wird im Museum für die Geschichte der Erschließung und Entwicklung des Noril’sker Industriegebiets [Muzej istorii osvoenija i razvitija Noril’skogo promysˇlennogo rajona] aufbewahrt. 2373 Http://lists.memo.ru/d5/f290.htm (letzter Zugriff am 5. Juni 2011). 2374 Bromberg, Svet ubitoj zvezdy, 1998, S. 28 f. Dies konnte erst Brombergs Sohn Gerc erreichen, indem er Bekannte darum bat.

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Nebst Schlaf, dem Lohn der Tageshetze, Dann ist es meine Zeit – verschwiegen nähern sich Schlaflose Stunden, ungewisse: In tatenloser Nacht verbrennen weher mich Der Herzensschlange tiefe Bisse; Dann brodeln Phantasien; im Geist, den Leid bedrückt, Drängt sich so vieles Schwermutvolle; Erinnerung hält stumm vors Auge mir gerückt Die aufgerollte lange Rolle; Mit Abscheu lese ich, was einst mein Leben war. Verwünschung bebt in mir zuweilen, Dann klag ich bitterlich, und bitter wein ich gar Und lösch doch nicht die Schmerzenszeilen.2375

Nach dem Transport aus dem Gefängnis hatte Bromberg in einem Lager in Vladivostok Gelegenheit, Geige zu spielen. Er schrieb seiner Frau, dass er Häftlinge damit glücklich machen konnte, indem sie durch Musik für eine Weile ihre Umgebung vergessen konnten, und dass er dadurch auch selbst einen Moment lang glücklich war. Mithäftlinge haben ihm gesagt, dass sie sich in solchen Augenblicken als Menschen fühlten.2376

2375 ;_TUQ U\p b]Vac^_T_ d]_\[^Vc id]^lZ UV^m, 9 ^Q ^V]lV bc_T^l TaQUQ @_\d`a_XaQh^Qp ^Q\pWVc ^_hY cV^m 9 b_^, U^VS^lf cadU_S ^QTaQUQ, 3 c_ SaV]p U\p ]V^p S\QhQcbp S cYiY^V HQbl c_]YcV\m^_T_ RUV^mp : 3 RVXUVZbcSYY ^_h^_] WYSVZ T_apc S_ ]^V 8]VY bVaUVh^_Z dTalXV^mp ; =Vhcl [Y`pc; S d]V, `_UQS\V^^_] c_b[_Z, CVb^Ycbp cpW[Yf Ud] YXRlc_[ ; 3_b`_]Y^Q^YV RVX]_\S^_ `aVU_ ]^_Z BS_Z U\Y^^lZ aQXSYSQVc bSYc_[ ; 9 b _cSaQjV^YV] hYcQp WYX^m ]_o, P caV`Vjd Y `a_[\Y^Qo, 9 T_am[_ WQ\dobm, Y T_am[_ b\VXl \mo, þ_ bca_[ `VhQ\m^lf ^V b]lSQo.

Pusˇkin, Aleksandr : Polnoe sobranie socˇinenij, in 16 Bänden, Bd. 3: Stichotvorenija, 1826 – 1836. Skazki, 1948, S. 102; Übersetzung aus: Puschkin, Alexander: Ausgewählte Werke in vier Bänden, Bd. 1, aus dem Russischen von Johannes von Guenther, 1952, S. 298 f. 2376 Bromberg, Svet ubitoj zvezdy, 1998, S. 98.

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Abb. 79: Aleksandr Pusˇkin/Veniamin Bromberg: Vospominanie (Erinnerung). Privatarchiv Gerc Bromberg.

Ein eindrucksvolles Zeugnis davon, dass Häftlinge ihre Gefühle und Gedanken in Liedern darstellen konnten, bieten die Lagerlieder von Svetlana Sˇilova (1929 – 1992). Sie war Bildhauerin von Beruf und verrichtete als junge Frau in einem Lager des Temlag bei Pot’ma in Mordwinien von 1950 bis 1953 schwere körperliche Arbeit. Sie verfasste in dieser Zeit Lieder (sowohl den Text als auch die Musik), die sie während der Perestroika öffentlich zur Gitarrenbegleitung vortrug.2377 Die Lieder Svetlana Sˇilovas drücken einerseits tiefen Schmerz aus, andererseits kommen aber auch Stellen mit Galgenhumor darin vor. Überliefert worden sind diese Lieder von der Dichterin und Übersetzerin Valentina Popova (*1936), die mit Svetlana Sˇilova verkehrt und auch zusammen mit ihr gesungen hat. Valentina Popova war mit einem ehemaligen Häftling verheiratet und hörte Lagerlieder in den Moskauer Küchen der 1960er- und 1970er-Jahre, wo sich Überlebende der Lager und Interessierte trafen, um Zeit miteinander zu verbringen und dabei, meist zur Gitarrenbegleitung, zu singen. Im November 2007 hat Valentina Popova der Verfasserin ermöglicht, einige von ihr interpretierte Lieder Sˇilovas aufzunehmen. Das dabei aufgenommene Lied Bezymjannaja mogila (Grab ohne Namen) ist in der Transkription des Komponisten Kurt Hopstein bereits an einer anderen Stelle veröffentlicht.2378 In der Melodiefüh2377 Sˇilova, Svetlana: Moj ljubimyj – ˇsest’sot tridcat’ dva, 2000, S. 2; dies.: »Starcˇeskij barak«, in: Murav’Úv, Vladimir (Hg.): Kitezˇ. Proza, poe˙zija, dramaturgija, vospominanija, 2006, S. 90. 2378 Klause, Inna: »Musikausübung als Beitrag zur Stärkung der Identität. Musizierende Frauen im Gulag von 1937 – 1953«, in: Noeske, Nina/Unseld, Melanie (Hg.): Blickwechsel

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rung ihrer Lieder tritt der Improvisationscharakter deutlich hervor, welcher nicht nur den Liedern Sˇilovas, sondern Lagerliedern im Allgemeinen sowie auch der russischer Folklore insgesamt eigen ist.2379 An dieser Stelle wird ihr 1951 entstandenes Stück Pesnja pro starusˇku (Lied von der alten Frau), das von Galgenhumor durchdrungen ist, reproduziert.

OstjWest. Gender-Topographien, 2009, S. 80 – 82. Die Arbeit an der Transkription dieser Lieder hat Kurt Hopstein zu der Komposition Mein Geliebter mit der Nummer 632 für Gesang, Violine, Klarinette und Bajan inspiriert. 2379 Novikov, Anatolij: »Predislovie«, in: Kol’cov, Nikifor (Hg.): Russkie pesni iz repertuara L. Ruslanovoj, 1973, S. 6.

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Abb. 80: Svetlana Sˇilova: Pesnja pro starusˇku (Lied von der alten Frau). Überlieferung der Musik durch Valentina Popova, Transkription von Kurt Hopstein, der Text folgt der Ausgabe: Sˇilova, Svetlana: Moj ljubimyj – ˇsest’sot tridcat’ dva, 2000, S. 6 f.

Die Übersetzung des Textes lautet: Wir gingen zum Filzen, und vor mir Trug eine alte Frau einen Beutel mit ihrem Hab und Gut. Der Aufseher schüttete daraus Zwei alte schwarze Stiefel Und noch irgendwelche Lappen aus. Sie wehten im Wind Wie alte Lagerfahnen Und fielen ins Gras. Er warf ihr den leeren Beutel hin, Nachdem er mit dem Durcheinander fertig war, Und die alte Frau legte Diesen ganzen ausgeblichenen Quatsch zurück. Und ich fragte sie: »Weswegen sind Sie ins Gefängnis gekommen? Haben Sie etwa die Heimat verraten Oder dem Feind Informationen gegeben?« Die alte Frau war ein Spaßvogel Und antwortete mit einem Lagerwitz: »Ich bin für Trockij, für Rykov Und für den Zaren Peter den Großen!« Und so, mit ihrem zahnlosen Mund lachend, Trägt sie jahraus jahrein Ihr Hab und Gut Durch den Sturm der historischen Mühsal.

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Vaninskij port – die Gulag-Hymne Das bekannteste Gulag-Lied, welches oftmals zu Recht als die Gulag-Hymne bezeichnet wurde, trägt den Titel Vaninskij port (Der Hafen Vanino). Der Schriftsteller und ehemalige Kolyma-Häftling Anatolij Zˇigulin nannte Vaninskij port »eines der stärksten und ausdrucksvollsten Gefängnis- und Lagerlieder«.2380 Der Dichter und Schriftsteller Andrej Voznesenskij fand dafür im Jahr 1995 die Worte »›Der heilige Krieg‹ des Gulag«.2381 Damit räumte er diesem Lied in der Geschichte der sowjetischen Zwangsarbeitslager die gleiche Bedeutung ein, die das Lied Svjasˇcˇennaja vojna (Heiliger Krieg) von Aleksandr Aleksandrov für die sowjetische Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg hatte und bis heute in Russland hat, wenn der Zweite Weltkrieg thematisiert wird – ein Lied, welches die Emotionen in Bezug auf ein Ereignis bündelt und als Symbol der Auseinandersetzung damit gelten kann. Die Autorschaft des Liedes Vaninskij port hat vielfach Anlass zu Spekulationen gegeben, und es wurde ab 1990 immer wieder von verschiedenen Autoren behauptet, sie wüssten, wer sein Urheber war.2382 Dementsprechend gibt es auch unterschiedliche Angaben zum Zeitpunkt seiner Entstehung.2383 2380 2381 2382

ˇ Úrnye kamni, 1990, S. 179. Zˇigulin, Anatolij: C Kuz’mina, Marina: »›Ja pomnju tot Vaninskij port…‹«, 2001, S. 36. Im Sammelband Koljucˇaja pravda (M. Sˇmakova [Hg.], Chabarovsk, 1990) wird behauptet, Nikolaj Zabolockij habe das Lied gedichtet. Kuz’mina, »›Ja pomnju tot Vaninskij port…‹«, 2001, S. 36. Valerij Sazˇin nennt Nikolaj Serebrovskij als Textautor. Kozlov, Aleksandr : »›V krugu blatnych ja ne scˇitalsja trusom…‹«, in: Magadanskaja pravda, 14. September 1990, S. 3. Nach der Veröffentlichung dieses Artikels gab es eine Reihe von Publikationen in der Zeitung Magadanskaja pravda, die sich mit der Autorschaft des Liedes befassten. Dazu gehörte ein Artikel von Lev Potapov, in dem der Autor behauptet, ein bereits verstorbener ehemaliger Häftling, der länger als zehn Jahre in Haft war und darüber Gedichte geschrieben hat, habe es verfasst. Potapov, Lev : »›Vaninskij port‹: avtor izvesten?«, in: Magadanskaja pravda, 2. Februar 1993, S. 3. Potapov nennt jedoch keinen Namen, mit der Erklärung, dass er den Autor nicht mehr fragen kann, ob dieser damit einverstanden wäre, und weil er die Entscheidung über die Veröffentlichung des Namens den Verwandten des Dichters überlassen wollte. Vier Jahre nach Potapov veröffentlichte Aleksandr Sˇeluchin den Namen und die Lebensgeschichte des von Potapov verschwiegenen angeblichen Autors Evgenij Karpovicˇ. Sˇeluchin, Aleksandr : »Kto pomnit tot ›Vaninskij port‹?«, in: Vecˇernij Magadan, 11. Juli 1997, S. 6. Gegen seine Autorschaft spricht wiederum ein Brief, den Karpovicˇ zu Lebzeiten verfasst hat und der von Aleksandr Kozlov als Antwort auf Sˇeluchin veröffentlicht wurde. Kozlov, Aleksandr : »Skol’ko zˇe avtorov ›Vaninskogo porta‹?«, in: Vecˇernij Magadan, 15. August 1997, S. 8. L. DÚmin behauptete, der ursprüngliche Text stammte von seinem Vater FÚdor DÚmin. DÚmin, L.: [Leserbrief], in: Vecˇernij Magadan, 1. April 1994, S. 8. Diesen Namen (FÚdor DÚmin-Blagovesˇcˇenskij) nennt auch Andrej Voznesenskij in der überregionalen Zeitung Literaturnaja gazeta vom 21. Juli 1995 und berichtet, wie er sich mit DÚmins Sohn getroffen und die auf Birkenrinde notierten Gedichte seines Vaters gesehen hat. Kuz’mina, »›Ja pomnju tot Vaninskij port…‹«, 2001, S. 36. Aleksandr Birjukov verweist auf mehrere Quellen, die Konstantin Sarachanov als den möglichen Autor dieses Liedes benennen. Birjukov, Aleksandr : »Sever.

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Dass dieses Lied im Gulag gesungen wurde, überliefern zahlreiche Häftlinge. So erzählt SemÚn Vilenskij etwa, dass bei seiner Freilassung aus dem Lager Anfang der 1950er-Jahre die zurückbleibenden Häftlinge zum Abschied Vaninskij port gesungen haben.2384 Die ehemalige Lagerinsassin Elena Glinka erinnerte sich im Jahr 1991 daran, dass sie Vaninskij port zum ersten Mal im Mai 1951 im Durchgangslager Vanino gehört hat, als sie zusammen mit anderen Häftlingen auf das Schiff Minsk, welches sie auf die Kolyma bringen sollte, verladen wurde. Sie nannte das Lied »die Hymne der Kolyma-Häftlinge« und bezeichnete seinen Text als wahrheitsgetreu.2385 Platon Nabokov überliefert in Gedichtform, dass dieses Lied, welches er Kolyma nennt, von Häftlingen des Ozerlag im Jahr 1954 gesungen wurde, und zwar nachts. Für ihn symbolisierte es die »unbesiegte Musik der Häftlinge«.2386 SemÚn Vilenskij berichtet, dass Vaninskij port im Jahr 1955 in Moskau von seinen ehemaligen Schulkameraden und nunmehr einfachen Arbeitern bei einem Treffen gesungen wurde.2387 Sie kannten dieses Lied, obwohl sie selbst keine Lagerhaft verbüßt hatten. Wie bereits oben erwähnt, wurde dieses Lied auch in den 1960er-Jahren von Studierenden in der Sowjetunion gesungen. Der ganze Saal sang es auch auf der von SemÚn Vilenskij veranstalteten Konferenz Soprotivlenie v Gulage (Widerstand im Gulag) im Mai 1992 in Moskau.2388 Der Symbolcharakter dieses Liedes als Gulag-Hymne ist dadurch manifestiert worden, dass seine erste Strophe auf dem Sockel des im Jahr 2001 aufgestellten

2383

2384 2385 2386 2387 2388

Ljubov’. Rabota. Glava iz zˇizni Valentina Portugalova«, in: Proza Sibiri, 1996, Nr. 1, S. 203. ˇ asˇnikov in der Zeitschrift Nauka i zˇizn’ (Wissenschaft und Für ihn spricht sich auch V. C Praxis), 1990, Nr. 9, S. 31 aus; dagegen argumentiert jedoch Aleksandr Kozlov. Kozlov, A.: »Kto avtor ›Vaninskogo porta‹?«, in: Magadanskaja pravda, 3. Dezember 1992, S. 3. Der Schriftsteller Viktor Astaf ’ev sagte in einem Interview, Boris Rucˇ’Úv hätte das Lied geschrieben. »›Ja – poslednij, kto razocˇaruetsja v cˇeloveke‹«, in: Izvestija, 6. Dezember 1997, S. 6. Ein weiterer Autor nennt den Schriftsteller Boris Kornilov als Urheber, sagt aber gleichzeitig, dass diese Version mitnichten auf Beweisen fußt, die Qualität der Dichtung jedoch auf einen professionellen Urheber schließen lässt. Fonjakov, »›Intelligencija poÚt blatnye pesni‹«, 17. April 1996, S. 4. Ein weiterer möglicher Textautor – Nikolaj Kutlanov – wird von Viktor Salov benannt. Salov, Viktor : »Avtor pesni ›Vaninskij port‹ zˇivÚt na Altae«, in: Tribuna, 14. August 1998, S. 3. Bsp.: 1939 (DÚmin, [Leserbrief], 1. April 1994, S. 8), 1949 (Potapov, »›Vaninskij port‹: avtor izvesten?«, 2. Februar 1993, S. 3), 1951 (Kozlov, »Skol’ko zˇe avtorov ›Vaninskogo porta‹?«, 15. August 1997, S. 8). Gegen die zwei letzten Vorschläge spricht das 1946 entstandene Gedicht Anatolij Aleksandrovs, welches im Abschnitt »Lieder auf dem Transport ins Lager« zitiert wurde. Vilenskij, Voprosy est’?, 2006, S. 202. Kuz’mina, »›Ja pomnju tot Vaninskij port…‹«, 2001, S. 40. Nabokov, Drugich ne budet beregov, 1996, S. 168 f. Vilenskij, Voprosy est’?, 2006, S. 202 f. Interview der Verfasserin mit SemÚn Vilenskij am 4. Februar 2008 in Moskau.

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Selbstbestimmtes Musizieren der Häftlinge: die Lagerlieder

Flurkreuzes auf dem ehemaligen Gelände des Durchgangsgefängnisses im Hafen Vanino zitiert wird.2389 Bei den Veröffentlichungen dieses Liedtextes wird der Autor meist als unbekannt angegeben.2390 Bezeichnend für die Diskussion um die Autorschaft ist der Titel eines Artikels in der Zeitung Vecˇernij Magadan von 1997, der mit »Wie viele Autoren hat ›Vaninskij port‹ denn eigentlich?« überschrieben ist.2391 Den Grund dafür, dass die Autorschaft des Liedes nicht weitergegeben wurde, hat ein ehemaliger Häftling auf folgende Weise zusammengefasst: Niemand hat seine Autorschaft zur Schau gestellt. Wenn sich auch einer für die Autorschaft interessiert zeigte, so war es der Staatsanwalt, und niemand war darauf erpicht, ihn öfter als nötig zu treffen.2392

Auf diese Weise ist ein Lied entstanden, welches zu Recht als ein »modernes Volkslied« bezeichnet werden kann,2393 denn seine Urheber sind nicht mehr feststellbar, und es hat eine weite Verbreitung in unzähligen Varianten gefunden. Die zahlreichen Veröffentlichungen des Liedtextes unterscheiden sich sowohl in der Anzahl als auch im Wortlaut der Strophen. Die – größtenteils unwesentlichen – Unterschiede sind auf die mündliche Überlieferung der Lagerlieder zurückzuführen, die eine fortwährende Veränderung zur Folge hatte. So wurden beispielsweise nach dem XX. und XXII. Parteitag zusätzliche Strophen verfasst, die darauf Bezug nahmen.2394 Der ehemalige Häftling Anatolij Zˇigulin zitiert den folgenden Text und nennt ihn die landläufige Variante dieses Liedes: Ich erinnere mich an jenen Hafen Vanino Und den Anblick des finsteren Dampfers, Wie wir über die Gangway an Bord gingen, In die kalten und dunklen Schiffsräume. Der Nebel sank auf das Meer, Das Meer toste. Vor uns lag Magadan, Die Hauptstadt der Kolyma. Kein Lied, sondern ein klagender Schrei Entfuhr jeder Brust. 2389 Rumjanceva, Elena: »Ja pomnju tot Vaninskij port…«, in: 30 oktjabrja, Nr. 23, 2002, S. 6. 2390 Bsp.: Evtusˇenko, Evgenij (Hg.): Strofy veka. Antologija russkoj poe˙zii, 1995, S. 480 f.; Timakov, V. (Hg.): Ja rasskazˇu tebe pro Magadan. Sbornik stichov o Magadane, S. 44. 2391 Kozlov, »Skol’ko zˇe avtorov ›Vaninskogo porta‹?«, 15. August 1997, S. 8. 2392 BS_V QSc_abcS_ ^Y[c_ ^V QeYiYa_SQ\. 6b\Y [c_ Y Y^cVaVb_SQ\bp QSc_abcS_], cQ[ c_\m[_ `a_[da_a, Q SbcaVhQcmbp b ^Y] \Yi^YZ aQX ^Y[_]d ^V f_cV\_bm. Potapov, »›Vaninskij port‹: avtor izvesten?«, 2. Februar 1993, S. 3. 2393 Sedov, V.: »Ju pomnju tot Vaninskij port…«, in: Severnye prostory, Februar 1991, S. 38. 2394 Sedov, »Ju pomnju tot Vaninskij port…«, 1991, S. 38.

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»Lebewohl für immer, Festland!«, Stieß heiser der überanstrengte Dampfer hervor. Wegen des Schaukelns stöhnten die Häftlinge, Einander wie Blutsbrüder umarmend, Und nur manchmal entfuhren ihnen Dumpfe Flüche. Sei verflucht, Kolyma, Die als wunderbarer Planet bezeichnet wird.2395 Hier wird man wider Willen verrückt, Eine Rückkehr von hier gibt es nicht. Fünfhundert Kilometer weit – Taiga. In dieser Taiga leben wilde Tiere. Autos fahren nicht dorthin. Hirsche schleppen sich stolpernd. Dort hat sich der Tod mit dem Skorbut angefreundet, Die Krankenhäuser sind überfüllt. Umsonst werde ich auch in diesem Frühling Von meiner Geliebten eine Antwort erwarten. Sie schreibt nicht und wartet nicht, Und durch die hellen Türen des Bahnhofs Wird sie, ich weiß es, nicht kommen, um mich zu empfangen, Wie sie es versprochen hat. Lebt wohl, meine Mutter und Frau! Lebt wohl, ihr lieben Kinder. Es scheint, als ob ich den bitteren Kelch Bis auf den Grund leeren muss!2396

2395 Diese Formulierung könnte darauf Bezug nehmen, dass der telegrafische Kode des Sevvostlag »Planeta« hieß. Smirnow, Das System der Besserungsarbeitslager in der Sowjetunion 1923 – 1960, 2003, S. 129. 2396 P `_]^o c_c BQ^Y^b[YZ `_ac 9 SYU `Qa_f_UQ dTao]lZ, ;Q[ i\Y ]l `_ caQ`d ^Q R_ac 3 f_\_U^lV ]aQh^lV cao]l. þQ ]_aV b`db[Q\bp cd]Q^, AVSV\Q bcYfYp ]_ab[Qp. ýVWQ\ S`VaVUY =QTQUQ^, Bc_\YgQ ;_\l]b[_T_ [aQp. þV `Vb^p, Q WQ\_R^lZ [aY[ 9X [QWU_Z TadUY SlalSQ\bp. »@a_jQZ ^QSbVTUQ, ]QcVaY[ !« – FaY`V\ `Qa_f_U, ^QUalSQ\bp. ?c [Qh[Y bc_^Q\Y XV[Q, ?R^pSiYbm, [Q[ a_U^lV RaQcmp,

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Selbstbestimmtes Musizieren der Häftlinge: die Lagerlieder

Vaninskij port existiert nicht nur in einer Vielzahl von Text-, sondern auch in zahlreichen Melodievarianten. Über die Melodie dieses Liedes schrieb Anatolij Zˇigulin: Seiner Melodie nach ist das Lied schön, tragisch, hoffnungslos. Und es hinterlässt einen starken Eindruck. Vor allem, wenn es im Chor gesungen wird und wenn Leute, die ihre Haft auf der Kolyma verbüßt haben, es singen oder solche, die Gefängnisse und Lager in anderen Teilen unseres Landes erlebt haben.2397

Elena Glinka beschrieb seine Melodie als »beklemmend-traurig« und benannte eine ihrer Eigenschaften, die dem Lied zu seiner weiten Verbreitung verholfen hat: Sie lasse sich nach dem ersten Hören gut im Gedächtnis behalten.2398 Um einen Eindruck von den verschiedenen Überlieferungen der Melodie zu vermitteln, werden hier drei Varianten angeführt.

9 c_\m[_ `_a_Z b pXl[Q BalSQ\Ybm T\dfYV `a_[\pcmp. 2dUm `a_[\pcQ cl, ;_\l]Q, Hc_ ^QXSQ^Q hdU^_Z `\Q^Vc_Z. B_ZUVim `_^VS_\V b d]Q, ?cboUQ S_XSaQcQ dW ^Vcd. @pcmb_c [Y\_]Vca_S – cQZTQ. 3 cQZTV nc_Z UY[YV XSVaY. =QiY^l ^V f_Upc cdUQ. 2aVUdc, b`_cl[Qpbm, _\V^Y. CQ] b]Vacm `_UadWY\Qbm b gY^T_Z, þQRYcl RYc[_] \QXQaVcl. þQ`aQb^_ Y nc_Z SVb^_Z P WUd _c \oRY]_Z _cSVcQ. þV `YiVc _^Q Y ^V WUVc 9 S bSVc\lV USVaY S_[XQ\Q – P X^Qo – SbcaVhQcm ^V `aYUVc, ;Q[ nc_ _^Q _RVjQ\Q. @a_jQZ, ]_p ]Qcm Y WV^Q ! @a_jQZcV Sl, ]Y\lV UVcY. 8^Qcm, T_am[do hQid U_ U^Q @aYUVcbp ]^V Sl`Ycm ^Q bSVcV ! 2397 @Vb^p `_ ]V\_UYY `aV[aQb^Q, caQTYh^Q, RVXlbf_U^Q. 9 _hV^m S`VhQc\pVc. ?b_RV^^_, Vb\Y `_oc f_a_] Y Vb\Y `_oc [_\l]hQ^V Y\Y \oUY, `VaVWYSiYV coam]l Y \QTVap S Y^lf [aQpf ˇ igulin, CˇÚrnye kamni, 1990, S. 180. ^QiVZ bcaQ^l. Z

2398 Kuz’mina, »›Ja pomnju tot Vaninskij port…‹«, 2001, S. 40.

Entstehung und Rezeption der Lagerlieder

Abb. 81: Vaninskij port. Severnye prostory, Februar 1991 (Nr. 38), S. 38.

Abb. 82: Vaninskij port. Zˇiganec, Blatnaja lirika, 2001, S. 223 f.

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Abb. 83: Vaninskij port. Lesnikov, A. (Hg.): Ljubimye pesni. Dlja golosa v soprovozˇdenii gitary. Vyp. 4, Leningrad (Muzyka) 1989, S. 10 f.

***

Der Gesang stellte offensichtlich ein existenzielles Bedürfnis der Häftlinge dar, er half ihnen, schwierige Situationen im Lageralltag zu ertragen. Die Wichtigkeit des Gesangs im Alltag demonstrieren zahlreiche Häftlingserinnerungen und die darin erwähnte Vielfalt an rezipierten Liedern bis hin zu eigenen Versuchen, Lieder umzudichten oder auch neue zu dichten und zu komponieren.

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Durch das Singen kamen die sogenannten politischen Häftlinge und Alltagsverbrecher in Kontakt mit den Blatnye-Liedern der Berufsverbrecher und partizipierten daran. Diese stellten einen Gegensatz zum offiziellen sowjetischen Liedrepertoire dar und bezogen solche Themen wie das Leben in Gefangenschaft oder die Wut auf das Sowjetsystem mit ein. Die Partizipation der anderen Häftlinge an der Musikkultur der Berufsverbrecher hat, trotz der Brutalität der kriminellen Welt, zu einer Annäherung der verschiedenen Häftlingsgruppen aneinander beigetragen. In den 1960er-Jahren verbreiteten sich die Lieder der Berufsverbrecher in der zivilen Gesellschaft und haben, wie Julij Danie˙l’ und Boris Sˇragin es dargestellt haben, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Geschichte des Gulag, die den Großteil der sowjetischen Bevölkerung umfasst hätte, verhindert. Sie standen an den Anfängen einer systemkritischen Subkultur, der Gitarrenpoesie, und müssen als wichtiges Phänomen stets mitbedacht werden, wenn über die Liedkultur in der Sowjetunion nachgedacht wird.

D

Aderlass des sowjetischen Musiklebens: Versuch eines Überblicks

Abb. 84: Zeichnung von Viktor Grebennikov : »›Volksfeinde‹, Bewohner der estnischen Baracke. Der Geiger links trägt den Nachnamen Rimus. Karabasˇ, 1949.« Volja, Nr. 8 – 9, 2002, S. 275.

Im folgenden Kapitel geht es darum, eine Einschätzung dessen zu versuchen, wie stark Musiker in der Sowjetunion von Verhaftungen und Lagerhaft betroffen waren. Da es sich dabei um einen ersten Versuch handelt, kann keine Vollständigkeit und keine Bewertung dieses Phänomens angestrebt werden. Vielmehr geht es darum, eine Bestandsaufnahme der bekannt gewordenen Fälle vorzunehmen und auf ausgewählte Schicksale genauer einzugehen. Statistische

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Aderlass des sowjetischen Musiklebens: Versuch eines Überblicks

Auswertungen werden nur an Komponisten versucht, wobei Vollständigkeit auch hier nicht erreicht werden konnte. In Beiträgen zur sowjetischen Musikgeschichte wird die These geäußert, es könnte unter Stalin einen »Schonungsbefehl« für Musiker gegeben haben. So formulierte Wolfgang Mende: Ungeklärt ist bis heute die Tatsache, ob es während des Großen Terrors einen »Schonungsbefehl« für Musiker und vor allem Komponisten gegeben hat. Dafür spricht die Tatsache, daß der Musikbereich – im Gegensatz zu Literatur und Theater – von der Terrorwelle im wesentlichen verschont blieb.2399

Und Pauline Fairclough schrieb: Indeed, the perceived ›harmlessness‹ of music served as protection for composers and musicians even during the years of Stalin’s icy grip on Soviet culture; it was far more dangerous to be a writer, film-maker or theatre director.2400

Ein Hinweis auf den Ursprung der These vom »Schonungsbefehl« ist bereits in den von Solomon Volkov verfassten Memoiren des Dmitri Schostakowitsch zu finden und unabhängig von der Diskussion um die Echtheit der Memoiren interessant: Weiter wird man sagen: Wovor hast du Angst gehabt? Musiker ließ man doch ungeschoren. Darauf muß ich antworten: Das ist die Unwahrheit. Sie wurden geschoren – und wie! Die Version, Musiker seien nicht angerührt worden, verbreiten jetzt Chrennikov und seine Handlanger.2401

Bis zu seinem Tod im Jahr 2007 behauptete Tichon Chrennikov, der über 40 Jahre lang Generalsekretär des sowjetischen Komponistenverbands gewesen ist, was auf seiner offiziellen Homepage heute noch nachzulesen ist: […] kein sowjetischer Komponist musste Repressionen erleiden. Darin ist ein direkter Verdienst Tichon Chrennikovs zu sehen, der nicht nur niemals seine Macht dazu 2399 Mende, »Zensur – Klassenkampf – Säuberung – Beugung – Strafverfolgung«, 2004, S. 114. 2400 Fairclough, Pauline: »Narrative Strategies in Shostakovich’s Fourth Symphony«, in: Unseld, Melanie/Weiss, Stefan (Hg.): Der Komponist als Erzähler. Narrativität in Dmitri Schostakowitschs Instrumentalmusik, 2008, S. 147. 2401 Wolkow, Solomon: Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch, 2003, S. 205. Nach diesem Zitat bringt Volkov Beispiele für verfolgte Musiker. Dabei handelt es sich um Nikolaj Zˇiljaev (s. Komponistentabelle), der in den Memoiren als Sˇostakovicˇs Privatlehrer für Komposition gezeichnet wird, Nikolaj Vygodskij (s. Komponistentabelle), Boleslav Psˇibysˇevskij (vgl. Kapitel A.2.2, Abschnitt »Theater des Belbaltlag«) und Dmitrij Gacˇev. Bei Sergej Popov, der hier ebenfalls genannt wird, könnte es sich um den beim Stadtkomitee der Komponisten [gorkom kompozitorov] als wissenschaftlichen Mitarbeiter beschäftigten Musikwissenschaftler handeln, welcher am 18. September 1937 verhaftet und am 13. November 1937 wegen angeblicher »konterrevolutionärer Tätigkeit und antisowjetischer Agitation« in Butovo erschossen wurde. Http://lists.memo.ru/d27/f76.htm (letzter Zugriff am 4. Juni 2011).

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missbrauchte, jemandem Schaden zuzufügen, sondern immer nur danach strebte zu helfen. Der Komponistenverband hat keine einzige negative Beurteilung über seine Mitglieder verfasst, wodurch Verhaftungen vorgebeugt wurde.2402

Ein fundiertes Urteil über diese Aussage, die sich auf die Zeit nach 1948, das Jahr der Einsetzung Chrennikovs als Generalsekretär, bezieht, ist derzeit nicht möglich. Um zu einem Urteil zu gelangen, müsste eine annähernd umfassende Statistik aller verhafteten Komponisten vorliegen und auch die Korrespondenz des Komponistenverbands gründlich untersucht werden. Vom heutigen Wissensstand aus beurteilt, scheint die Zahl der von Verhaftungen betroffenen Komponisten nach dem Machtantritt Chrennikovs im Jahr 1948 unwesentlich zurückgegangen zu sein, 1950 schnellte sie aber hoch, was auf zahlreiche Festnahmen in den baltischen Republiken zurückzuführen ist (vgl. »Auswertung der Komponistentabelle«). Die These vom »Schonungsbefehl« für Musiker stützt sich offenbar auf einen Vergleich mit anderen Künstlergruppen: Es sind mehr prominente Schriftsteller oder auch Theaterleute bekannt, die zu Opfern des OGPU bzw. des NKVD geworden sind als Musiker, wie aus der oben zitierten Aussagen hervorgeht. Auch Zeitzeugen überliefern diese, nach Erkenntnissen der vorliegenden Studie, unhaltbare Meinung. So schreibt der Emigrant Jurij Elagin in seiner 1952 in New York herausgegebenen Monografie: Die große Säuberung des Jahres 1937 hat das Musikleben der Sowjetunion noch weniger tangiert als das Theater.2403

Jedoch ist eine Aussage darüber, welche Künstlergruppe stärker von Repressionen betroffen war, angesichts des heutigen Forschungsstands ebenfalls nicht möglich. Die Aufarbeitung der Schicksale inhaftierter Dichter und Schriftsteller z. B. ist sehr viel weiter fortgeschritten als die der Musikerschicksale. Dies ist nicht zuletzt deswegen so, weil der folgende Gedanke, hier formuliert von Evgenij Evtusˇenko, handlungsleitend wurde: Unser Volk wurde siebzig Jahre lang der Geschichte seiner eigenen Poesie beraubt, es hatte keine Möglichkeit, Dichter zu lesen, die emigriert oder von dem riesigen Gebiss des GULAG zermalmt worden waren. […] nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Gedichte wurden aus dem Leben entfernt.2404 2402 […] ^Y[c_ YX b_SVcb[Yf [_]`_XYc_a_S ^V Rl\ `_USVaT^dc aV`aVbbYp]. 3 nc_] SYUYcbp `ap]Qp XQb\dTQ CYf_^Q FaV^^Y[_SQ, [_c_alZ ^V c_\m[_ ^Y[_TUQ ^V Yb`_\mX_SQ\ bS_VZ S\QbcY S_ SaVU [_]d-\YR_, Q SbVTUQ bcaV]Y\bp \Yim `_]_TQcm. B_oX [_]`_XYc_a_S ^V SlUQ\ ^Y _U^_Z _caYgQcV\m^_Z fQaQ[cVaYbcY[Y ^Q bS_Yf h\V^_S, hc_ `aVU_cSaQjQ\_ QaVbcl. Http://www.khrennikov.ru/biography/ (letzter Zugriff am 2. Juni 2011). 2403 2_\miQp hYbc[Q 1937 T_UQ [_b^d\Qbm ]dXl[Q\m^_Z WYX^Y B_SVcb[_T_ B_oXQ VjV S ]V^miVZ bcV`V^Y, ^VWV\Y cVQcaQ. Elagin, Ukrosˇcˇenie iskusstv, 2002, S. 255. 2404 D ^QiVT_ ^Qa_UQ ^Q bV]mUVbpc \Vc _c_RaQ\Y Ybc_aYo VT_ b_RbcSV^^_Z `_nXYY, \YiYS VT_

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Dies trifft genauso auch auf Komponisten und Musiker zu, nur fehlt in der Musikwissenschaft bislang ein Bewusstsein für die Richtigkeit einer solchen Sichtweise. Nichtsdestotrotz hat es immer wieder Stimmen gegeben, die auf diesen Sachverhalt hingewiesen haben: Beispielsweise schrieb der Violinprofessor, Komponist und Emigrant Michael Goldstein aus Hamburg am 7. Februar 1989 an die internationale Gesellschaft Memorial in Moskau: Es hat sich die nicht zutreffende Meinung herausgebildet, dass der stalinistische Terror die sowjetischen Musiker fast unberührt gelassen hat. Manche leitenden Personen im sowjetischen Komponistenverband glänzen sogar mit dieser Meinung. Aber wenn man die Fakten genauer betrachtet… Und das sollte man. Auf der einen Seite wurde den sowjetischen Musikern Anerkennung und Ehre zuteil. Aber es gab auch die andere Seite. Z. B. ein Operntheater, das vollständig aus Häftlingen und unschuldig Verurteilten bestand.2405

Der ehemalige Kolyma-Häftling SemÚn Vilenskij, der 1990 den Verlag Vozvrasˇˇcenie gründete, welcher sich vor allem durch eine Vielzahl von veröffentlichten Häftlingserinnerungen verdient gemacht hat, sagte in einem Gespräch mit der Verfasserin im Winter 2007/08, es habe genügend Musiker in den Lagern gegeben. Die Berechtigung seiner Aussage konnte, so scheint es, durch die vorliegende Untersuchung nachgewiesen werden und wird in diesem Kapitel weiter untermauert werden. Der Versuch einer Antwort auf die Frage, ob Musiker weniger als die Vertreter anderer Künstlerverbände oder gleich stark von Verhaftungen und Lagerhaft betroffen waren, muss derzeit wegen fehlender Statistiken ausbleiben. Es gibt keine vollständige Statistik, zumindest ist bis heute keine solche bekannt, welche die Gulag-Häftlinge nach ihren Berufen aufschlüsselt oder eine, welche die verfolgten Mitglieder der einzelnen Künstlerverbände aufführt, was Aufschlüsse über verhaftete Komponisten erlauben würde. Es gab in der Sowjetunion auch keine Schrift, die dem Lexikon der Juden in der Musik in Nazi-Deutschland vergleichbar wäre.2406 S_X]_W^_bcY hYcQcm cVf `_nc_S, [_c_alV n]YTaYa_SQ\Y Y\Y Rl\Y `VaV]_\_cl TYTQ^cb[Y]Y hV\obcp]Y 4Dý14Q. […] ^V c_\m[_ _^Y bQ]Y , ^_ Yf bcYfY Rl\Y c_WV YXkpcl YX WYX^Y.

Evtusˇenko, Evgenij: Strofy veka. Antologija russkoj poe˙zii, 1995, S. 10. 2405 B\_WY\_bm ^VSVa^_V ]^V^YV, hc_ bcQ\Y^b[YZ cVaa_a `_hcY ^V [_b^d\bp b_SVcb[Yf ]dXl[Q^c_S. 9^lV ad[_S_UYcV\Y b_oXQ b_SVcb[Yf [_]`_XYc_a_S UQWV RaQSYadoc cQ[Y] ]^V^YV]. þ_ Vb\Y `aYb]_caVcmbp [ eQ[cQ]… 1 ^QU_ Rl. B _U^_Z bc_a_^l b_XUQSQ\Y b_SVcb[Y] ]dXl[Q^cQ] `_hVc Y b\QSd. þ_ Rl\Q Y UadTQp bc_a_^Q. ; `aY]Vad, _`Va^lZ cVQca, gV\Y[_] b_XUQ^^lZ YX XQ[\ohV^^lf Y ^VSY^^_ aV`aVbbYa_SQ^^lf. Memorial Moskau: F. 1, op. 3, d. 1696, l. 3. 2406 Stengel, Theo: Lexikon der Juden in der Musik. Mit einem Titelverzeichnis jüdischer Werke, 1940. Die zwar unvollständige und von Zufällen bestimmte, aber bislang doch umfangreichste Quelle mit Namen von Gulag-Häftlingen stellt die Datenbank Zˇertvy politicˇeskogo terrora v SSSR (Opfer des politischen Terrors in der UdSSR) dar, die von der internationalen Gesellschaft Memorial erstellt und im Jahr 2007 in der vierten Auflage herausgegeben

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Nicolas Werth folgert aus bisherigen Untersuchungen zur Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft, dass diese unter soziologischen und ethnischen Gesichtspunkten ein genaues Abbild der sowjetischen Gesellschaft dargeboten hat, wobei der Anteil der Intellektuellen in den Lagern sogar ein wenig höher lag als in der Zivilbevölkerung.2407 Daraus müsste gefolgert werden können, dass Musiker zum gleichen Prozentanteil in den Lagern vertreten waren wie in der Gesamtbevölkerung.2408 Auch die Zufälligkeit der Verhaftungen, welche z. B. von Aleksandr Solzˇenicyn beschrieben wird, spricht dafür, dass Musiker genauso gefährdet waren wie andere Berufsgruppen, weil der Großteil der Verhaftungen nicht auf reale Taten zurückzuführen war, sondern auf Kontrollziffern, die der Geheimpolizei vorgegeben waren und die innerhalb eines bestimmten Zeitraums erreicht werden mussten.2409 In keinem der bekannten Fälle war Musik der Hauptanklagegrund bei Musikern. Dies schließt natürlich nicht aus, dass Denunzianten, wenn denn eine Verhaftung – wie so oft – auf eine Denunziation zurückging, den Betroffenen aus musikbezogenen Gründen anschwärzten. Aber während der Verhöre und bei der Urteilsfindung scheint Musik keine herausragende Rolle gespielt zu haben.2410 Manchem Untersuchungsrichter dienten mit Musik in Verbindung stehende

2407 2408

2409 2410

wurde (Verlag Zven’ja, Moskau). Sie ist auch im Internet zugänglich (http://lists.memo.ru/ [letzter Zugriff am 24. November 2013]) und enthält über 2.600.000 Namen, was jedoch nur ca. 13 bis 20 Prozent aller Gulag-Insassen entspricht. Entnommen sind die Datensätze regionalen Gedenkbüchern [knigi pamjati], welche Namen rehabilitierter Häftlinge verzeichnen. Der Prozess der Rehabilitation ist aber laut Memorial noch lange nicht abgeschlossen. Und nicht in allen Regionen werden Gedenkbücher herausgegeben, weil ein staatliches Programm zur Publikation von Gedenkbüchern fehlt. Die meisten in der Datenbank enthaltenen Datensätze betreffen wegen Sprachbarrieren nur ehemalige Häftlinge, die auf dem Territorium Russlands rehabilitiert worden sind; andere ehemalige Sowjetrepubliken sind unzureichend oder gar nicht vertreten. Einen weiteren Nachteil bei der Suche nach Komponisten in dieser Datenbank bildet die Tatsache, dass viele Datensätze keine Auskunft über den Beruf des Inhaftierten geben. Die genannten Nachteile sollen keinesfalls den kaum zu überschätzenden Verdienst von Memorial schmälern, dass eine solche Datenbank überhaupt existiert. Werth, »Der Gulag im Prisma der Archive«, 2007, S. 19. Der Zettelkatalog von Memorial Sankt Petersburg, welcher Informationen über ca. 12.000 Opfer verzeichnet, enthielt im September 2007 147 Namen von Musikern. Abgesehen davon, dass auch diese Datensammlung vielfach keine Angaben zum Beruf enthält, wären dies 1,25 Prozent der Verzeichneten. Solzˇenicyn, Archipelag GULag, 1973, Teile I – II, S. 25 u. 82. Diese Überlegungen stützen sich auf Unterlagen von Untersuchungsverfahren, welche in dieser Arbeit zitiert werden, und auf Aussagen ehemaliger Häftlinge sowie ihrer Verwandten und/oder Freunde. Um zu einem abschließenden Urteil zu kommen, müsste es möglich sein, uneingeschränkt Verhörprotokolle und andere Unterlagen der Untersuchungsvorgänge einzusehen, was derzeit nur den ehemaligen Häftlingen selbst und deren Verwandten erlaubt ist. Forscher müssen für den Zugang zu jeder einzelnen Häftlingsakte eine Einverständniserklärung von Nachfahren der Betroffenen einholen. Wenn keine Nachfahren vorhanden sind, besteht keine Möglichkeit des Zugangs.

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Vorwürfe in einer Reihe mit anderen dazu, die Verhafteten zum Bekennen ihrer meist nicht vorhandenen Schuld zu zwingen. Z. B. wurde der Komponist Aleksandr Veprik Ende des Jahres 1950 und zu Beginn des Jahres 1951 unter anderem deswegen inkriminiert, weil er »zionistische Musik« komponiert haben soll.2411 In diesem Kapitel werden im Abschnitt »Strafverfolgung von Instrumentalisten« weitere Beispiele dafür angeführt, wie auf Musik bezogene Fragen in Verhören eingesetzt wurden. Doch unter den bei der Verurteilung letztendlich vorgebrachten Begründungen sind keine musikerspezifischen zu finden. Sie lauteten beispielsweise Spionage, antisowjetische Propaganda, Mitgliedschaft in einer konterrevolutionären Organisation, Kollaboration mit den deutschen Besatzern, Homosexualität, entsprechend den Formulierungen im Strafgesetzbuch. Das heißt, dass es bei der Verurteilung nicht ausschlaggebend war, welchen Beruf die Person hatte. Denunziationen oder sogenannte Operationen gegen bestimmte Nationalitäten und dergleichen konnten Musiker genauso treffen wie alle anderen Berufsgruppen, und deswegen waren sie gleichermaßen von Repressionen betroffen. Denn es herrschte der Zufall, der blinde Terror.2412 Dass Musik kein rettendes Alibi darstellte, zeigt Solzˇenicyn, indem er von einer Gruppe junger Menschen berichtet, die sich zu Musikabenden trafen, um Musik zu hören und danach Tee zu trinken. Um den Tee zu finanzieren, sammelten sie Geld in einer Gemeinschaftskasse. 1927 wurden sie alle verhaftet, und ihr Musikinteresse wurde als Tarnung ihrer angeblichen »konterrevolutionären Gesinnung« ausgelegt. Ihnen wurde unterstellt, mit dem für den Tee zusammengelegten Geld die »Weltbourgeoisie« unterstützen zu wollen. Einige von ihnen wurden zum Tode verurteilt, die anderen mit drei bis zehn Jahren Lagerhaft bestraft.2413 Wie schon an ausgewählten Beispielen gezeigt wurde und in diesem Kapitel noch gezeigt wird, stellte auch die Berühmtheit von Musikern keinen Hinderungsgrund für deren Verhaftung dar. Auf Komponisten trifft dieser Sachverhalt 2411 Nemtsov, »›Ich bin schon längst tot‹«, 2007, S. 323. 2412 Ähnlich argumentierte schon Robert Conquest in The Great Terror von 1968. Die Verhaftungen konnten jeden treffen, so der Autor. Alle Künstlergruppen seien ungefähr gleich stark von Verhaftungen und Lagerhaft betroffen gewesen. In den Lagern habe es viele Schauspieler, Musiker und Tänzer gegeben. Conquest nennt als Beispiel für Musiker einen Dirigenten namens Mikoladze, welcher im Jahr 1937 erschossen wurde. Konkvest, »Bol’sˇoj terror«, 1990, H. 6, S. 157 f. Die Verhaftung von Evgenij Mikoladze wird von Nina Dzˇibuti im Film Podsudimyj Berija (Der Angeklagte Berija) von Lev Lur’e (2008, 5 kanal [Petersburg], Zitat in der 35. Minute) beschrieben. Der Film kann unter http://www.ruarchive.com/archives/375 eingesehen werden (letzter Zugriff am 5. Juni 2011). Roj Medvedev erwähnt unter den Opfern der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre ebenfalls diesen Dirigenten, allerdings in der Schreibweise E. Mikeladze. Medvedev, Roj: O Staline i stalinizme, 1990, S. 399. 2413 Solzˇenicyn, Archipelag GULag, 1973, Teile I – II, S. 55.

Verhaftungen unter Mitarbeitern des Bol’sˇoj-Theaters

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ebenso zu: Das Lied Vzvejtes’ kostrami, sinie nocˇi (Lodert wie Feuer, blaue Nächte) von Sergej Kajdan-Dësˇkin2414 war seit den 1920er-Jahren bis zum Zerfall der Sowjetunion die stets präsente Hymne der landesweiten Jugendorganisation der Pioniere. Diese Tatsache hinderte das OGPU nicht daran, den Komponisten des Liedes 1932 zu zehn Jahren Lagerhaft zu verurteilen, die er in vollem Maße verbüßt hat (s. Komponistentabelle). Das Lied war allgegenwärtig, während sein Urheber im Lager inhaftiert war. Bevor Vergleiche bezüglich der Schwere der Verfolgungen zu anderen Künstlergruppen gezogen werden können, deren Sinn allerdings angezweifelt werden darf, gilt es, Repressionen an Musikern und Komponisten gründlich zu untersuchen, wobei die vorliegende Arbeit nur einen Anfang machen kann.

Verhaftungen unter Mitarbeitern des Bol’sˇoj-Theaters Gegen einen möglichen »Schonungsbefehl« für Musiker spricht neben den oben genannten Gründen die Tatsache, dass die Tschekisten nicht einmal vor dem renommiertesten Musiktheater des Landes, dem Bol’sˇoj-Theater in Moskau, Halt gemacht haben. Während der Zeit des Großen Terrors wurden hier innerhalb eines halben Jahres, vom 15. September 1937 bis 15. März 1938, 47 Mitarbeiter verhaftet. Dazu gehörten 18 Sänger und Musiker, unter denen auch Opernsolisten vorhanden waren.2415 Darüber gibt eine Akte mit Listen von Verhafteten im Archiv des Bol’sˇoj-Theaters Auskunft. Die meisten Verhaftungen unter den Sängern und Musikern des Theaters gab es im Februar 1938, als fünf Personen zu Opfern wurden.2416 So als ob die Theateradministration nach einer Erklärung für die Verhaftungen suchte, notierte sie bei einigen Namen in der Liste der Verhafteten den möglichen Grund dafür, beispielsweise dass die Betroffenen Verwandte in der russischen Exklave Harbin in China hatten.2417 Möglicherweise um einschätzen zu können, wie viele und welche Mitarbeiter von Verhaftungen bedroht sein konnten, legte die Administration weitere Listen ohne Überschriften an, in denen sie Mitarbeiter verzeichnete, deren Lebensumstände zu einer Verhaftung führen konnten. Diese sind in den Listen mit der Überschrift »kompromittierendes Material« versehen. Eine solche Liste mit Namen von Orchestermusikern 2414 Hörbeispiel: http://sovmusic.ru/download.php?fname=vzveytes (letzter Zugriff am 17. Januar 2012). 2415 Zu den verhafteten Musikern gehörte z. B. die Geigerin Klara Chudjakova, die später im Lager in der Nähe von Pot’ma in Mordwinien am Theater tätig war. 2416 RGALI: F. 648 (GABT), op. 8, ed. 53, l. 1 – 2. 2417 RGALI: F. 648 (GABT), op. 8, ed. 53, l. 3.

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Aderlass des sowjetischen Musiklebens: Versuch eines Überblicks

umfasst 60 Personen.2418 Einige dort verzeichnete Musiker sind auch auf den Listen der Verhafteten zu finden. Wann die Listen mit den eventuell belastenden Lebensumständen erstellt worden sind, bleibt unklar. Über den Orchestermusiker Ivan Amanov beispielsweise, der am 15. September 1937 verhaftet wurde, geht aus einer Liste mit Angaben zu »kompromittierendem Material« hervor, dass sein Vater ein Geistlicher war, dem aufgrund seiner religiösen Tätigkeit das Wahlrecht aberkannt worden war. Dieser »kompromittierende« Umstand ist auch bei weiteren Orchestermusikern aufgeführt, nämlich dass einem ihrer Elternteile das Wahlrecht entzogen worden war, beispielsweise weil sie Geistliche oder Händler oder ehemalige Angehörige der zarischen Armee von höherem Rang oder ehemalige Grundbesitzer gewesen waren. Bei den meisten Aufgelisteten ist jedoch angegeben, dass sie Verwandte im Ausland hatten. Weitere Gründe für die Aufnahme in diese Listen waren die Inhaftierung von Verwandten, eine eigene frühere Haft, der Briefwechsel mit Verwandten im Ausland, der Ausschluss aus der Kommunistischen Partei, eine ehemalige ausländische Staatsbürgerschaft oder ein längerer Aufenthalt im Ausland. In einer gesonderten Liste wurden Personen geführt, die ihre ausländische Staatsbürgerschaft nicht abgelegt hatten.2419 In der Liste mit »belastenden Lebensumständen« der Orchestermusiker finden sich die Namen der zwischen dem 15. September 1937 und dem 15. März 1938 tatsächlich verhafteten Ekaterina Fuks-Nemereneckaja und Zenon Svetlikovskij wieder. Bei beiden wird hier ein Briefwechsel mit Verwandten im Ausland aufgeführt, im Falle von Ekaterina Fuks-Nemereneckaja mit solchen in Harbin.2420 Von zwei weiteren Orchestermusikern erfährt man aus dieser Liste, dass sie schon früher von Repressionen der Tschekisten betroffen waren, es sind dies der Orchestermusiker Anton Pisanko, der 1930 vom OGPU nach Archangel’sk verbannt worden war, sowie der zweite Konzertmeister Abram Chalip, der vom OGPU im Jahr 1933 28 Tage lang in Untersuchungshaft festgehalten worden war. In der Liste mit 39 Tänzerinnen und Tänzern ist häufig als »kompromittierendes Material« zu lesen, dass sie adeliger Abstammung waren. In einer weiteren Liste mit 26 Mitarbeitern ist z. B. die Chorsängerin Nadezˇda Sˇustova verzeichnet, deren Bruder in Harbin lebte; sie ist auch in der Liste der Verhafteten zu finden.2421 Über einige der verhafteten Künstler geben erhalten gebliebene Karteikarten 2418 RGALI: F. 648 (GABT), op. 8, ed. 53, l. 6 – 9. Es kann auch die Vermutung angestellt werden, dass solche Listen auf Anfrage des NKVD zusammengestellt werden mussten. Dies müsste anhand des NKVD-Archivs überprüft werden, was derzeit nicht möglich ist. 2419 RGALI: F. 648 (GABT), op. 8, ed. 53, l. 6, 23, 28 – 36. 2420 RGALI: F. 648 (GABT), op. 8, ed. 53, l. 6 – 9. 2421 RGALI: F. 648 (GABT), op. 8, ed. 53, l. 3, 10, 11, 12ob.

Verhaftungen unter Mitarbeitern des Bol’sˇoj-Theaters

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des Bol’sˇoj-Theaters weitere Auskünfte, auf denen ihre Beteiligung an bestimmten Aufführungen vermerkt ist. Auf der Karteikarte der Mezzo-Sopranistin Ol’ga Michajlova ist beispielsweise zu lesen, dass sie seit Oktober 1933 am Bol’sˇoj-Theater tätig war. Am 6. September 1937 hätte sie in Rimskij-Korsakovs Zarenbraut und am 15. September in Delibes’ Lakm¦ singen müssen, ist aber zu beiden Aufführungen nicht erschienen. »Nach dem Urlaub nicht wiedergekommen«, so heißt es in der Karteikarte.2422 In der Liste der verhafteten Mitarbeiter ist aber zu lesen, dass sie am 22. August 1937 verhaftet wurde.2423 Jurij Elagin berichtet, dass sie erschossen worden ist.2424 Artemij Charcˇenko war seit September 1936 am Bol’sˇoj-Theater angestellt. Im September/Oktober 1937 sang er fünfmal den Kutscher in Ivan Dzerzˇinskijs Oper Der stille Don sowie zweimal einen Djaken im Märchen vom Zaren Saltan von Rimskij-Korsakov, das letzte Mal am 6. Oktober. Seit dem 10. Oktober kam er nicht mehr zur Arbeit,2425 denn er befand sich seit diesem Tag in Haft.2426 Einige Informationen über das Schicksal der verhafteten Pianistin und Konzertmeisterin des Bol’sˇoj-Theaters Ljubov’ Aptekareva enthält das Gedenkbuch Butovskij poligon (Polygon Butovo).2427 Sie wurde 1892 in Jalta in einer jüdischen bürgerlichen Familie geboren und hatte eine Hochschulausbildung erhalten. Am Bol’sˇoj-Theater arbeitete sie seit Oktober 1935.2428 Am 2. Oktober 1937 wurde sie verhaftet und der Spionage für Japan angeklagt; am 21. Oktober wurde sie auf dem Polygon Butovo bei Moskau erschossen. Am 2. Oktober 1989 ist sie für unschuldig erklärt und rehabilitiert worden. Einige der verhafteten Musiker des Bol’sˇoj-Theaters hatten ein Stück weit Glück im Unglück: Die Ballerina Raisa Sˇtejn, die im April 1938 verhaftet wurde und ihre Lagerhaft im Usol’lag mit dem Verwaltungszentrum in Solikamsk verbüßt hat, spricht davon, dass im Orchester des Lagers Musiker des Bol’sˇojTheaters mitspielten. Auch hat dort die lettische Sängerin Greta Bulat gesungen.2429 Die Ausmaße der Verhaftungen in den Jahren 1937/38 sind auf den Großen Terror zurückzuführen, welcher damals wütete. Aber auch außerhalb dieser Zeitspanne wurden Mitarbeiter des Bol’sˇoj-Theaters verhaftet, beispielsweise in den Jahren 1933/34 18 Angestellte des Servicepersonals und 20 künstlerische Mitarbeiter, unter ihnen ein Opernregisseur, zwei Orchestermusiker sowie ein 2422 2423 2424 2425 2426 2427 2428 2429

RGALI: F. 648 (GABT), op. 7, ed. 597, l. 47, 47ob. RGALI: F. 648 (GABT), op. 8, ed. 53, l. 1. Elagin, Ukrosˇˇcenie iskusstv, 2002, S. 183. RGALI: F. 648 (GABT), op. 7, ed. 597, l. 52, 52ob. RGALI: F. 648 (GABT), op. 8, ed. 53, l. 1. Blinov, Ju. P. u. a. (Hg.): Butovskij poligon, Bd. 1, 1997, S. 39. RGALI: F. 648 (GABT), op. 7, ed. 597, l. 43. Epsˇtejn, »Iskusstvo za koljucˇej provolokoj«, 1990, Nr. 24, S. 9.

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Chorleiter. Zumindest die drei Letztgenannten wurden innerhalb dieser zwei Jahre wieder entlassen.2430 Unter ihnen befand sich der Orchestermusiker Sergej Gosacˇinskij, der jedoch im Februar 1938 erneut verhaftet wurde. Zu Beginn der 1940er-Jahre kam es zur Verhaftung Boris Mordvinovs, des Intendanten des Bol’sˇoj-Theaters, welcher dort 1939 Glinkas Oper Ivan Susanin inszeniert hatte und gleichzeitig als Professor am Moskauer Konservatorium tätig war. Da er im Lager als künstlerischer Leiter und Intendant des Lagertheaters von Vorkuta gewirkt hat, wurde über ihn in Kapitel B.2 näher berichtet.

Dmitrij Golovin (1894 – 1966) Eines der renommiertesten Opfer des Bol’sˇoj-Theaters war der Bariton Dmitrij Golovin. Die sowjetische Musikenzyklopädie berichtet, dass er von 1921 bis 1924 Gesang am Moskauer Konservatorium studiert hatte und anschließend bis 1943 am Bol’sˇoj-Theater sang. 1928/29 hatte er sich in Italien fortgebildet und war in Monte Carlo, Mailand und Paris aufgetreten. Er interpretierte beispielsweise die Rolle des Boris in Boris Godunov, des Mazeppa und des Fürsten Igor. Seine Verhaftung wird in der Enzyklopädie nicht erwähnt, was angesichts ihrer Veröffentlichung in den 1970er-Jahren auch nicht zu erwarten wäre.2431 Golovins Mithäftling Matvej Grin, der im Lager die Pritsche mit dem Sänger geteilt hat, berichtet über ihn in seinen in den 1980er-Jahren verfassten Erinnerungen an das Lagertheater im Ivdel’lag, welches sich im Gebiet Sverdlovsk im Ural befunden hat.2432 In diesem Theater waren Grin und Golovin als Häftlinge Anfang der 1950er-Jahre beschäftigt, so Grin. Als Conf¦rencier habe Grin unzählige Male die Elegie von Jules Massenet, gesungen von Golovin und begleitet ˇ echmachov2433 sowie dem Cellisten Michail Gessel’ vom Pianisten Georgij C ankündigen müssen. Dieses melancholisch anmutende Stück, in dem die vergangene Liebe besungen wird, scheint den Geschmack der Lagerverwaltung des Ivdel’lag besonders gut getroffen zu haben. Die Geigerin Nadezˇda Kravec berichtet in ihren Erinnerungen, dass Mitte der 1950er-Jahre die Berufsverbrecher im Ozerlag in der Regel bei jedem Konzert dieses Stück als Zugabe verlangten. Sie wurde dabei von einem Akkordeonisten begleitet.2434 Eines Tages, so Grin, fand im Klubhaus des Ivdel’lag ein besonderes Konzert 2430 RGALI: F. 648 (GABT), op. 8, ed. 48. 2431 Zarubin, V. I.: »Golovin Dmitrij Danilovicˇ«, in: Keldysˇ, Muzykal’naja e˙nciklopedija, Bd. 1, 1973, Sp. 1034. 2432 Grin, »Zabveniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 13, S. 30. ˇ achmakov« an. Grin, »Zab2433 An anderer Stelle gibt Grin den Namen abweichend mit »C veniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 15, S. 26. 2434 Kravec, »Sˇest’ let ›rezˇima‹«, 1988, S. 85.

Verhaftungen unter Mitarbeitern des Bol’sˇoj-Theaters

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statt, bei dem ca. 70 Mitglieder einer Expedition der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften anwesend waren, die sich gerade in dieser Gegend aufhielt. Grin bekam von der Lageradministration den Befehl, die Auftretenden ohne Namensnennung anzukündigen. Doch als Dmitrij Golovin die Bühne betrat, erkannten ihn die Gäste und begannen heftig zu applaudieren sowie ihn lautstark zu begrüßen. Nach seinem Auftritt ließen sie ihn nicht gehen, und er musste eine Zugabe nach der anderen singen. Trotz Hinderungsversuchen der Wache kamen die Zuhörer in der Pause hinter die Bühne, einige liefen ins Hotel und brachten Golovin Lebensmittel mit.2435 Auf diese Weise wurde, wie so oft in den Konzerten im Gulag, die Grenze zwischen den Häftlingen und der zivilen Bevölkerung aufgebrochen. Bei den am Theater beschäftigten Häftlingen hinterließ dieser Vorfall eine depressive Stimmung, so Grin, weil ihnen dadurch die Sinnlosigkeit ihrer Haft einmal mehr und deutlich vor Augen geführt wurde. Die Berühmtheit Golovins rettete ihn nicht vor Bestrafungen im Lager. Als der Leiter des KVO des Ivdel’lag, Rodionov, Grin befahl, die Theaterleitung anstelle von Golovin zu übernehmen, und dieser zu bedenken gab, dass man zunächst mit Golovin darüber sprechen müsste, schrie Rodionov nach der Überlieferung Grins: Wenn es nötig sein wird, geht er Äste hacken und wird dort seine Arien singen! Merk’ dir : Unsere Sache ist zu befehlen, eure zu gehorchen! Klar?!2436

Und tatsächlich wurde Golovin während der Haft mehrfach aus dem Lagertheater ausgeschlossen: Der Komponist Aleksandr Varlamov, der ebenfalls im Ivdel’lag inhaftiert war und von 1944 bis 1948 das dortige Lagerorchester dirigierte, erinnerte sich 1989/90 daran, dass Golovin nach einem Konzert kahl geschoren und dazu abkommandiert wurde, Baumstämme aus einem eiskalten Fluss zu ziehen, und zwar deswegen, weil er in Dunaevskijs Lied Moja Moskva (Mein Moskau) die Strophe »wo unser geliebter Stalin wohnt« ausgelassen hatte.2437 In den Erinnerungen von Golovin, die im Archiv der Gesellschaft Memorial in Moskau aufbewahrt werden, ist von einer weiteren Bestrafung zu lesen: Im Oktober 1951 wurde er, ohne zu wissen warum, aus der Stadt Ivdel’ in ein Gefängnis am Fluss Loz’va überwiesen. Die Einzelzellen dieses großen Gefängnisses waren in einen Felsen gehauen. Dort musste Golovin unter erbarmungslosem Wachpersonal und in einem sehr rauen Klima Bäume fällen.2438 Auf 2435 Grin, »Zabveniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 15, S. 26. 2436 þQU_ RdUVc – bdhmp `_ZUVc _RadRQcm Y cQ] `dbcm bS_Y QaYY `_Vc ! 8Q`_]^Y: ^QiV UV\_ `aY[QXlSQcm – SQiV Yb`_\^pcm ! Pb^_?! Grin, »Zabveniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 14, S. 26. 2437 Zavadskaja, »Ostanovlennoe vremja«, 1989, S. 27; Memorial Moskau: F. 1, op. 1, d. 704, l. 6ob. Hörbeispiel: http://sovmusic.ru/sam_download.php?fname=s12607 (letzter Zugriff am 17. Januar 2012). 2438 Memorial Moskau: F. 1, op. 1, d. 1136, l. 76.

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diese Weise wurde die Karriere des berühmten Sängers Dmitrij Golovin durch die Lagerhaft beendet. Seine Haft bewirkte sicherlich, dass er schneller gealtert ist, und so nennt Grin Golovin in seinen Erinnerungen oftmals einen Alten.

Repressionen gegen Sänger anderer Musiktheater Auch das Kirov- und ehemals Mariinskij-Theater in Sankt Petersburg war von Verhaftungen des künstlerischen Personals betroffen. Zoja Zˇizˇimontova (verheiratet Radeeva) war als Chorsängerin dieses Theaters tätig. Sie wurde ˇ ajkovskijs Evgenij Onegin am 2. Januar 1936 mitten in einer Aufführung von C von der Bühne gerufen und verhaftet. Verurteilt wurde sie zu fünf Jahren Haft wegen der Freundschaft mit einer deutschen Staatsbürgerin.2439 Mark Botvinnik, der 1938 im SˇpalÚrka-Gefängnis in Leningrad in Untersuchungshaft saß, erinnerte sich in einem Interview nach der Perestroika, dass in der Nachbarzelle Viktorin Rajskij Konzerte gegeben und dabei Opernarien gesungen hatte. Viktorin Popov-Rajskij (1894 – 1938) war vor der Haft Solist des Kirov-Theaters. Er wurde im Oktober 1937 verhaftet, der Spionage angeklagt und am 15. April 1938 erschossen. Boris Sokolov war in einer Zelle mit PopovRajskij eingesperrt und erzählte ebenfalls in einem Interview nach der Perestroika, dass der Sänger sich tapfer verhalten habe. Er hatte immer Handschellen tragen müssen und war stark gefoltert worden. Die Häftlinge hatten es stets gemocht, wenn er für sie gesungen hatte, allerdings hatte er es leise tun müssen,2440 weil Singen verboten gewesen war. Zusammen mit Viktorin Popov-Rajskij war ein weiterer Solist des KirovTheaters angeklagt – Lev Vitel’s (1901 – 1938), der schon im Juni 1937 verhaftet worden war. Beide gehörten zu 19 Künstlern und Angestellten des Kirov- sowie des Pusˇkin-Theaters, die als angebliche Mitglieder einer japanischen SpionageGruppe zum Tode verurteilt wurden. Ihnen wurde vorgeworfen, einen Anschlag auf Andrej Zˇdanov und Sabotageaktionen zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution in ihren Theatern geplant zu haben. Das Todesurteil wurde gegen alle vollstreckt.2441 Die Sopranistin Ekaterina Olovejnikova (*1906), die am Operntheater in Char’kov sang, galt in den 1930er-Jahren als aufsteigender Opernstar, absolvierte Gastauftritte in Moskau und erhielt eine Einladung an das Kirov-Theater in Leningrad.2442 1988 schrieb sie in einem Brief an Memorial Moskau, dass sie 2439 2440 2441 2442

Kaneva, Gulagovskij teatr Uchty, 2001, S. 151. Larceva, Teatr rasstreljannyj, 1998, S. 81 f., 84 f., 154. Larceva, Teatr rasstreljannyj, 1998, S. 155. Memorial Moskau: F. 1, op. 2, d. 3203; E˙psˇtejn, »Char’kovcˇanka v ALZˇIRe«, 1991, S. 28

Repressionen gegen Sänger anderer Musiktheater

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direkt nach einer Traviata-Aufführung, in der sie die Rolle der Violetta gesungen hatte, im Herbst 1937 verhaftet und als »Familienangehörige eines Vaterlandsverräters« zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt worden war. Ihre Haftstrafe verbüßte sie in einer Lagereinheit des Karlag in Kasachstan, deren Bezeichnung mit ALZˇIR [Akmolinskij lager’ zˇÚn izmennikov rodiny – Akmolinsker Lager für Ehefrauen von Vaterlandsverrätern] abgekürzt wurde und wo viele Ehefrauen der Elite des Landes einsaßen, deren Männer plötzlich zu »Vaterlandsverrätern« erklärt worden waren. Wie schon beim Solovezker Lager (SLON) handelte es sich bei der Bezeichnung dieses Lagers um ein Wortspiel, wobei unklar bleibt, ob sie deswegen gewählt wurde oder sich zufällig ergeben hatte: »Alzˇir« ist nämlich das ˇ ernjuk war Mitglied russische Wort für Algerien. Olovejnikovas Mann Pimen C des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Ukraine gewesen und war kurz vor ihr verhaftet und ohne ihr Wissen erschossen worden. Im Lager musste Ekaterina Olovejnikova Lehmziegel herstellen sowie Getreide ernten. Die Verpflegung war höchst unzureichend, und die einzige Rettung für die Sängerin stellte der Umstand dar, dass Lagerärzte sie aus Mitleid wiederholt ins Lazarett einwiesen. Eines Tages wurde sie schließlich nach Dolinka, wo sich die Verwaltung des Karlag befand, geordert, weil dort ein Operetten-Theater eingerichtet wurde (vgl. Kapitel B.2), was sicherlich zu ihrem Überleben beigetragen hat. Nach Verbüßen der Lagerhaft im Jahr 1945 durfte Ekaterina Kasachstan nicht verlassen, sie arbeitete an der Philharmonie in Karaganda. Erst im Jahr 1956, drei Jahre nach Stalins Tod, wurde sie rehabilitiert. Der Bass Michail Donec (1883 – 1941) war Solist am Kiewer Operntheater und trug seit 1930 den Titel »Verdienter Künstler der Ukrainischen Sowjetrepublik«.2443 Nichtsdestotrotz wurde er im Jahr 1941 verhaftet und erschossen.2444 Die Mezzo-Sopranistin und Schülerin von Evgenija Zbrueva Regina Gurevicˇ (*1906) trat mit Solokonzerten sowohl in der UdSSR als auch im Ausland auf und wurde am 19. Februar 1929 in der Carnegie Hall gefeiert. Am 4. September 1937, einen Monat nach der Verhaftung ihres Mannes Moisej Gurevicˇ, welcher Volkskommissar für das Gesundheitswesen der RSFSR gewesen war und im Oktober 1937 zum Tode verurteilt wurde, wurde sie verhaftet und als »Familienangehörige eines Vaterlandsverräters« für mehr als neun Jahre im Lager inhaftiert.2445 (Hier sind zwei Abbildungen von Ekaterina Olovejnikova veröffentlicht, eine davon ist auch unter http://www.zn.ua/3000/3680/31699/ zu sehen [letzter Zugriff am 27. Juni 2009]). 2443 Kaufman, L. S.: »Donec Michail Ivanovicˇ«, in: Keldysˇ, Muzykal’naja e˙nciklopedija, Bd. 2, 1974, Sp. 289. 2444 Memorial Moskau: F. 1, op. 3, d. 1498. 2445 In ihren Erinnerungen sind Einzelheiten über die Verhaftung, die Verhöre, den Transport ins Lager, die Ankunft dort und den Lageralltag nachzulesen. Glusˇnev, »S nebes v preis-

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Abb. 85: Michail Donec. Memorial Moskau: F. 1, op. 3, d. 1498.

Die Schauspielerin Tat’jana Okunevskaja (*1914), die ohne eine Musikausbildung zu einer berühmten Liedinterpretin aufgestiegen war, wurde im Jahr 1948 wegen angeblicher »antisowjetischer Agitation« gemäß § 58 – 10 zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt und war bis 1954 in Haft.2446 Die Tänzerin und Operettensängerin Valentina Tokarskaja (1906 – 1996), die in der Music Hall und nach deren Auflösung im Satire-Theater in Moskau beschäftigt und als Star gefeiert worden war, geriet während des Zweiten Weltkriegs mit einer »Konzertbrigade« in Gefangenschaft. Sie trat vor deutschen Armeeangehörigen und Zivilisten auf und wurde dafür nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion zu vier Jahren Lagerhaft verurteilt. Nachdem sie eine kurze Zeit mit der Allgemeinheit der Häftlinge gearbeitet hatte, wurde sie in der »Laienkunst« des Lagers eingesetzt und schließlich an das Theater von Vorkuta überstellt (vgl. Kapitel B.2). Sie blieb bis zu Stalins Tod dort, konnte dann nach Moskau zurückkehren und wieder am Satire-Theater tätig werden.2447 podnjuju«, 1989, S. 26 – 29. Http://lists.memo.ru/d10/f134.htm (letzter Zugriff am 1. Juni 2011). 2446 E˙psˇtejn, Evgenij: »Gor’kij put’ poznanija«, in: Muzykal’naja zˇizn’, 1991, H. 17 – 18, S. 24 f. 2447 E˙psˇtejn, Evgenij: »Trinadcat’ – cˇislo rokovoe«, in: Muzykal’naja zˇizn’, 1992, H. 7 – 8, S. 10 f.

Strafverfolgung von Instrumentalisten

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Boris Dejneka (1902 – 1984) war Absolvent des Moskauer Konservatoriums und in den 1930er-Jahren als Solist des Allunionsrundfunks tätig. Seine Interpretation des Liedes Pesnja o Rodine (Lied über die Heimat) von Isaak Dunaevskij aus dem Spielfilm Cirk (1936), welches von Elagin »quasi eine zweite, inoffizielle Hymne der Sowjetunion« genannt wurde,2448 erklang jeden Morgen in der ganzen Sowjetunion im Radio.2449 1942 wurde Dejneka verhaftet und gemäß § 58 zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Als Häftling war er am Theater von Vorkuta beschäftigt und wurde auch im Jahr 1950 nicht aus dem Theater ausgeschlossen, als so gut wie alle gemäß § 58 Verurteilten dieses Schicksal traf. Nach der Auskunft von Grigorij Litinskij konnte auf ihn nicht verzichtet werden. Nach Verbüßen der Lagerhaft war Dejneka in der Stadt Syktyvkar tätig, baute das dortige Theater mit auf und bekam den Titel »Volkskünstler der Komi ASSR« verliehen.2450 Nach der Rehabilitation zog er im Jahr 1962 nach Moskau und starb schließlich vereinsamt und krank in einem Dorf nahe der Hauptstadt.2451 Dies waren nur einige ausgewählte Beispiele für verhaftete Sängerinnen und Sänger. Beim überwiegenden Teil von ihnen hat die Verhaftung ihre Karriere zerstört.

Strafverfolgung von Instrumentalisten Die bisherigen Ausführungen sollten deutlich gemacht haben, dass Verhaftungen selbstverständlich auch Instrumentalisten betroffen haben. Aleksandr Solzˇenicyn berichtet z. B., dass in der Stadt Tambov im Jahr 1939 das gesamte Jazz-Orchester des Kinos Modern verhaftet und zu »Volksfeinden« erklärt wurde.2452 Auch ausländische Musiker, die auf Konzertreisen in die Sowjetunion kamen, waren nicht gegen Verhaftungen gefeit: Jurij Elagin erzählt von holländischen Jazz-Musikern, die mit dem Vorwurf der Spionage im Jahr 1936 oder 1937 verhaftet wurden.2453 Zu den Opfern, die im Archiv von Memorial Moskau verzeichnet sind, gehört die Pianistin Vera Chudjakova (ehemals Gekker [Hecker?]; *1922 in Potsdam), die im September 1941 mit nur 19 Jahren verhaftet und zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt wurde, sowie der Cellist Leonid Broker (*1909), der dreimal verhaftet wurde: im Januar 1934, im April 1934 und im August 1942. Beim ersten Mal wurde er zu drei Jahren Verbannung auf Bewährung, beim 2448 2449 2450 2451 2452 2453

Elagin, Ukrosˇˇcenie iskusstv, 2002, S. 312. Larceva, Teatr rasstreljannyj, 1998, S. 100. Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums, F. 660 (Litinskij, G. M.), Nr. 1, S. 116, 278. Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999; Larceva, Teatr rasstreljannyj, 1998, S. 100. Solzˇenicyn, Archipelag GULag, 1973, Teile I – II, S. 88. Elagin, Ukrosˇcˇenie iskusstv, 2002, S. 250.

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Aderlass des sowjetischen Musiklebens: Versuch eines Überblicks

zweiten zu fünf Jahren und beim dritten zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Sie beide studierten an der Rimskij-Korsakov-Musikfachschule, die dem Moskauer Konservatorium angegliedert war.2454 Ebenfalls im Archiv von Memorial Moskau wird eine im Jahr 1992 verfasste zweiseitige Kurzbiografie aufbewahrt, die übersetzt die Überschrift Kurz über meine Leiden trägt.2455 Verfasst hat sie Georgij Golubev, der zusammen mit fünf weiteren Studenten der Fachhochschule für Musik, die den Namen »Oktoberrevolution« trug, im Januar 1937 verhaftet und gemäß § 58 – 10 zu Zwangsarbeit in Karelien verurteilt wurde. Golubev erzählt eine für jene Zeit typische Geschichte: Er wurde nachts verhaftet, brutal verhört und beschimpft und anschließend zu acht Jahren Arbeitslager verurteilt. Er war damals 23 Jahre alt. In seinen Erinnerungen berichtet er, dass Musik in seinen Verhören eine wichtige Rolle spielte. Der Untersuchungsführer zwang ihn nämlich, eine Erklärung ˇ ajkovskijs Musik verehrt, sowjetische darüber zu unterschreiben, dass er C Komponisten aber verunglimpft hat, und dass er gesagt haben soll, Musikern sei es im Zarismus besser ergangen als im Sowjetstaat. Drei von Golubevs Mitstudenten wurden ebenfalls zu acht Jahren, die anderen zwei zu sechs Jahren Zwangsarbeit verurteilt. In einem kleinen Lagerpunkt in Karelien mit vier überfüllten Baracken musste Golubev zwei Jahre lang Bäume fällen. Mehrmals kam es vor, dass er vor Hunger anschwoll und ins Lazarett eingeliefert wurde; nach diesen kurzen Phasen der Rekreation wurde er aber wieder zum Holzfällen abkommandiert. Als er bereits ein dochodjaga war, wurde er ins Verwaltungsgebäude versetzt. Der Grund dafür könnte seine Jugend gewesen sein, ein Fakt, der beim Lagerleiter möglicherweise Mitleid auslöste, so vermutete es Golubev. Nach der Absetzung Ezˇovs wurde er »auf wundersame Weise« amnestiert, konnte sein Musikstudium abschließen und arbeitete später als Musikpädagoge. Wie es seinen Mitverurteilten ergangen ist, bleibt im Dunkeln. Wie bei Golubev war auch bei den Verhören des Klarinettisten Boris Gol’dberg 13 Jahre später die Musik von großer Bedeutung. Ihm wurde vom Untersuchungsführer während der nächtlichen Verhöre Spionagetätigkeit vorgeworfen, weil er angeblich US-amerikanische Musik gelobt hat sowie bemängelt hat, dass keine US-amerikanischen Orchester in der Sowjetunion auftraten.2456 Vasilij Romanov wurde nach der Überlieferung seiner Frau im Jahr 1933 gemäß § 58 – 10 zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt, weil er sich Ostern nicht an 2454 Memorial Moskau: F. 1, op. 1, d. 1024; Memorial Moskau: F. 1, op. 1, d. 2419; http:// www.memo.ru/history/arkiv/op1017.htm (letzter Zugriff am 9. Juli 2009); http:// www.memo.ru/HISTORY/arkiv/op1010.htm (letzter Zugriff am 9. Juli 2009). 2455 Memorial Moskau: F. 1, op. 2, d. 1446, l. 4, 4ob. 2456 Memorial Moskau: F. 1, op. 2, d. 1453, l. 9ob.

Strafverfolgung von Instrumentalisten

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der »Laienkunst« im dörflichen Klubhaus beteiligt, sondern in der Kirche gesungen hatte.2457 Die Familienangehörigen der Verhafteten bekamen von den Behörden keine Auskunft über den Verbleib ihrer Verwandten. Celina Zˇvirko, die im Eisenbahner-Klub der belorussischen Stadt Zˇlobin als Pianistin gearbeitet hatte, wurde im September 1937 verhaftet. Ca. einen Monat später, so berichtete ihre Tochter Memorial-Mitarbeitern im Jahr 1993, wurde sie mit anderen Häftlingen zusammen abtransportiert. Seitdem hatte ihre Tochter keine Nachricht mehr von ihr erhalten, trotz mehrerer Anfragen. Sie konnte weder den Grund der Verhaftung noch etwas über das weitere Schicksal ihrer Mutter erfahren. Diese starb im Lager und wurde im Jahr 1955 rehabilitiert.2458 Ein tragisches Schicksal ereilte auch die am Moskauer Konservatorium vom herausragenden Klavierpädagogen Aleksandr Gol’denvejzer ausgebildete Pianistin französischer Herkunft Solanzˇ (Solange) Korpacˇevskaja, worüber zwei etwas voneinander abweichende Überlieferungen Auskunft geben. Die erste befindet sich im Archiv von Memorial Moskau und stammt von einer Nichte Evgenij Vegers, Korpacˇevskajas Ehemann, die zweite ist in den im Jahr 2006 veröffentlichten Erinnerungen der Schriftstellerin Ljudmila Petrusˇevskaja, der Enkelin einer Schwester von Evgenij Veger, niedergeschrieben. Korpacˇevskajas Ehemann war als Erster Sekretär des Parteikomitees für das Gebiet Odessa tätig. Er wurde im Juni 1937 festgenommen und zum Tode verurteilt.2459 Die Quelle im Memorial-Archiv erzählt darüber, dass Solange Korpacˇevskaja nach ihrem Mann verhaftet und als »Familienangehörige eines Vaterlandsverräters« zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt wurde. Im Lager, so diese Überlieferung, hat die Pianistin ihren Verstand verloren und ist auf ein Gesuch des Konservatoriums, wofür Gol’denvejzer Unterschriften gesammelt hat, freigelassen worden.2460 Den veröffentlichten Erinnerungen nach ist die Musikerin bereits im Gefängnis durch die nächtlichen Verhöre wahnsinnig geworden und wurde daraufhin freigelassen. Ihr Schwiegervater hatte sie im Gefängnis besucht und erzählte, sie habe ununterbrochen geweint, sei vollständig ergraut, schwarz und ausgehungert gewesen und habe unzusammenhängend geschrien.2461 Über die Umstände ihres Todes herrscht in beiden Überlieferungen Einigkeit: Ihre Mutter zog mit Solange und deren kleinem Sohn in die Ukraine, wo sie alle nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht von den Deutschen ermordet wurden. Der Pianist und Absolvent des Petersburger Konservatoriums Gavriil Ro2457 Panikarov, Ivan: »Za to, cˇto posˇÚl pet’ v cerkov’«, in: Severnaja pravda (Jagodnoe), 10. Juli 1992 (Nr. 28), S. 8. 2458 Memorial Moskau: F. 1, op. 2, d. 1821, l. 1 – 3. 2459 Http://www.memo.ru/HISTORY/arkiv/op1013.htm (letzter Zugriff am 9. Juli 2009). 2460 Memorial Moskau: F. 1, op. 1, d. 746, l. 5 f. 2461 Petrusˇevskaja, Ljudmila: Malen’kaja devocˇka iz »Metropolja«, 2006, S. 28.

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manovskij (1873 – 1942) war zunächst als Professor am Konservatorium seiner Heimatstadt Voronezˇ tätig gewesen. In den Jahren 1919/20 hatte er Konzerte für hochrangige Staatsmänner gegeben, darunter auch Lenin. Er wurde im Alter von 68 Jahren verhaftet und zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt, weil er angeblich Spionage betrieben hatte, denn er gab Kindern ausländischer Botschafter in Moskau Klavierunterricht. Er verbüßte seine Haft im Karlag und starb dort ein halbes Jahr nach seiner Einlieferung.2462 Auch Menschen, die im Verwaltungsapparat des Musiklebens beschäftigt waren, fielen Repressionen zum Opfer. Der Gründer der Georgischen Philharmonie, Tigran Tarumov, gehörte zu den 44.500 Menschen, die in den Jahren 1936 – 1938 auf eigenhändige Sanktion Stalins und weiterer Mitglieder des Politbüros in ihrer Mehrheit zum Tode verurteilt wurden.2463 Er war einer von 439 Georgiern, deren Tod von Stalin, Molotov und Zˇdanov am 22. November 1937 sanktioniert wurde.2464 Schicksale einiger ausgewählter Instrumentalisten, die von einer Verhaftung und Lagerhaft betroffen waren und über die genügend Informationen vorliegen, sollen im Folgenden näher betrachtet werden.

Nadezˇda Kravec (*1924)

Über das Schicksal der Geigerin Nadezˇda Kravec liegt ein autobiografischer Bericht aus dem Jahr 1988 vor, auf dem die folgende Darstellung beruht.2465 Im Jahr 1948 arbeitete sie, nachdem sie das Studium am Moskauer Konservatorium mit Auszeichnung beendet hatte, im Staatsorchester der UdSSR. Nach dem Parteierlass vom 10. Februar 1948 Über die Oper »Die große Freundschaft« von V. Muradeli verschwanden aus dem Repertoire des Staatsorchesters Werke der westlichen und der im Erlass gerügten sowjetischen Komponisten. Daraufhin lud Nadezˇda mehrmals junge Musiker zu sich ein, um beispielsweise die Sinfonien Gustav Mahlers vierhändig am Klavier zu spielen, welche damals, so Kravec, »faktisch verboten« waren. Auch hörten sie Schallplatten mit westlicher Musik, darunter dem Zauberlehrling von Paul Dukas. Die tragischen Ereignisse in Kravec’ Leben begannen damit, dass sie von der Leitung des Staatsorchesters dazu angehalten wurde zu kündigen, und zwar unter dem Vorwand des Personalabbaus. Im Januar 1949 wurde sie verhaftet und fand sich im Lubjanka-Gefängnis wieder. Während der Verhöre wurden ihr die 2462 Lappo, Dmitrij: »Delo No. 17 – 216«, in: Muzykal’naja zˇizn’, 1992, Nr. 9 – 10, S. 10 f. 2463 Memorial Moskau: F. 1, op. 3, d. 5009; http://stalin.memo.ru/images/intro.htm (letzter Zugriff am 1. Juni 2011). 2464 Http://stalin.memo.ru/names/index.htm (letzter Zugriff am 27. Juni 2009). 2465 Kravec, »Sˇest’ let ›rezˇima‹«, 1988, S. 80 – 87.

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Treffen mit den jungen Musikern zur Last gelegt, die der Untersuchungsführer als »widernatürlich« bezeichnete, weil die Anwesenden dabei ohne Alkohol, Tänze und Flirten ausgekommen waren. Des Weiteren wurde der Geigerin die Liebe zu Wagners Musik vorgeworfen, der ein »Faschisten-Komponist« genannt wurde, sowie zur »deutschen Musik« insgesamt – zu der Bachs, Beethovens und Mozarts. Die Musikerin erwiderte darauf, dass Mozart ein Österreicher gewesen war, und dass die große Musik dieser Komponisten zur Weltkultur gehörte. Hiermit lieferte sie dem Tschekisten unbewusst eine Vorlage, über die er sich sehr erfreut zeigte. »Also sind Sie Kosmopolitin?«, fragte er. Dadurch dass die Geigerin sich zu diesem Zeitpunkt bereits seit fünf Monaten in Haft befand, wusste sie nichts von den Attacken der Medien gegen den »Kosmopolitismus« und ahnte nicht, dass die Bejahung dieser Frage den Vorwand für eine Verurteilung liefern konnte. Einen weiteren Vorwand bot Kravec’ Einstellung zur Poesie Anna Achmatovas und Boris Pasternaks, deren Porträts sie in ihrem Zimmer hängen hatte. Der Untersuchungsführer soll die Werke dieser Schriftsteller als »unnütz für das Volk« bezeichnet haben. Nach der Untersuchungshaft musste die Musikerin sechs Jahre lang Zwangsarbeit in Lagern leisten. Ihren Bericht darüber hat sie auf Ereignisse, die mit Musik in Verbindung gestanden hatten, beschränkt. Dies waren, so die Geigerin, wenige Lichtblicke in einem beschwerlichen und furchtbaren Lageralltag. Sie arbeitete zunächst als Holzfällerin, dann wurde sie in die »Kulturbrigade« des Ozerlag (vgl. Kapitel B.1, Abschnitt »›Kulturbrigaden‹«) abkommandiert, die jedoch zwei Monate nach ihrem Eintreffen aufgelöst wurde. Im Herbst und Winter 1952 arbeitete sie im Steinbruch. Trotz der auszehrenden, beschwerlichen Arbeit hatte sie dort noch Kraft, der Lageradministration auf folgende Weise Widerstand zu leisten: Eines Nachts stand der Aufseher an ihrer Pritsche und forderte sie dazu auf, mit der Geige zum Lagerleiter zu kommen. Sie weigerte sich, woraufhin ein weiterer Aufseher kam, und beide überredeten die Musikerin schließlich mitzukommen. Sie ließ ihre Geige jedoch absichtlich in der Baracke zurück. Der Lagerleiter hatte Besuch von einem Kollegen, sie aßen und tranken zusammen, und der hiesige Lagerleiter wollte vor dem anderen mit der Musikerin prahlen. Obwohl Nadezˇda Angst vor den Betrunkenen hatte, weigerte sie sich zu spielen. Dafür wurde sie in einen Karzer eingesperrt – ein Erdloch, welches sehr kalt war. Nach der beschwerlichen Zeit im Steinbruch folgte ein kurzer Aufenthalt im Etappenpunkt Tajsˇet, wo die Geigerin auf den Pianisten Vsevolod Topilin traf und mit ihm musizierte (vgl. nächsten Abschnitt in diesem Kapitel). Im Jahr 1954 wurden ihre Haftbedingungen gelockert, sie arbeitete als Kutscherin und durfte sich alleine außerhalb der Lagerzone bewegen. Im Sommer 1954 wurde sie in eine neu geschaffene »Kulturbrigade« eingewiesen. Diese bereiste in einem Eisenbahnwaggon die Lagerpunkte des Ozerlag, die an der von den Häftlingen

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erbauten Eisenbahnstrecke lagen, und gab dort Konzerte. Den Erinnerungen von Nadezˇda Kravec in der Zeitschrift Sovetskaja muzyka (Sowjetische Musik) ist ein Foto beigegeben, welches sie in Konzertkleidung und mit ihrer Geige nach einem solchen Konzert im Jahr 1955 zeigt. Im Winter 1954 freundete sich die Geigerin mit Ire¯na Bergmane (1909 – 1971) an (vgl. die Komponistentabelle), einer, wie Kravec schreibt, Pianistin aus Riga, die vor der Haft beim lettischen Rundfunk gearbeitet hatte. Sie war Absolventin der Kompositionsklasse von Ja¯zeps Vı¯tols und befand sich von 1950 bis 1955 in Lagerhaft.2466 Im Lagerpunkt, in dem sie aufeinander trafen, stand in der Baracke, in der die Stelle für »Kulturerziehung« untergebracht war, ein, wie die Geigerin berichtet, »niedriges Klavier mit vier Oktaven Umfang«. An freien Tagen spielten sie dort, und zwar Kunstlieder russischer Komponisten, deren Noten im Lager vorhanden waren; andere Häftlinge hörten dabei zu. Im Frühjahr 1955 wurde der inhaftierte Geiger Samuil Zisser in diese »Kulturbrigade« eingeliefert. Nadezˇda Kravec erinnert sich an ihn als an einen talentierten Geiger und Komponisten. Für einen gemeinsamen Auftritt komponierte er im Lager eine schwierige, so Kravec, polyphone Fantasie für zwei Violinen solo auf ukrainische volkstümliche Themen. Die Noten des Stückes behielt die Geigerin. Zisser wurde 1921 in Riga geboren. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung am 9. März 1953, wohlgemerkt nach Stalins Tod, arbeitete er als Geiger an der Tomsker Philharmonie. Er wurde wegen »konterrevolutionärer Sabotage« zu 25 Jahren Lagerhaft und fünf Jahren Einschränkung der bürgerlichen Rechte verurteilt.2467 Nach dem XX. Parteitag im Jahr 1956 wurde er freigelassen und arbeitete später als leitender Dirigent des Musiktheaters von Novosibirsk. 1973 emigrierte er nach Israel.2468 Im Oktober 1955 wurde Nadezˇda Kravec rehabilitiert; sie durfte das Lager verlassen und nach Moskau ziehen. Dank ihres Berufs, so die Geigerin, erlebten Künstler im Lager wenigstens einige Augenblicke, die sie an die Freiheit erinnerten, wodurch sie »glücklicher« (Anführungszeichen durch die Zeitzeugin gesetzt) als die anderen Häftlinge waren. Dies konnte ihnen helfen zu überleben.

Vsevolod Topilin (1908 – 1970) Vsevolod Topilins Vater fiel als General der Weißen Armee im Kampf gegen die Bolschewiki. Offensichtlich gelang es dem Sohn, seine Herkunft geheim zu 2466 Http://vip.latnet.lv/lpra/muziki.htm (letzter Zugriff am 1. Juni 2011). 2467 Http://lists.memo.ru/d13/f352.htm (letzter Zugriff am 11. Juli 2009). 2468 Http://www.angelfire.com/sc3/soviet_jews_exodus/Interview_s/InterviewZisser.shtml (letzter Zugriff am 11. Juli 2009).

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halten, denn er begann zunächst eine erfolgreiche Musikerkarriere. Topilin studierte Klavier am Konservatorium in Char’kov und begleitete nach seinem Studium ab 1930 den Geiger David Ojstrach.2469 Im Jahr 1932 zog der Pianist nach Moskau und war bei der Allunionskonzertdirektion, der Moskauer Philharmonie sowie beim Rundfunk angestellt. Zusammen mit Ojstrach nahm er zahlreiche Werke auf Schallplatte auf und unternahm Gastspielreisen ins europäische Ausland.2470 Svjatoslav Richter erinnerte sich in den Gesprächen mit Bruno Monsaingeon daran, dass er im Jahr 1933 ein Konzert mit Ojstrach und Topilin in Zˇitomir erlebt hatte, welches ihn dazu bewogen hatte, die Laufbahn eines Pianisten einzuschlagen. Topilin soll damals die Vierte Ballade von Chopin vollendet dargeboten haben.2471 1938 wurde Topilin Aspirant und später Assistent von Genrich Nejgauz (vgl. den nächsten Abschnitt in diesem Kapitel). Nach dem Überfall der deutschen Truppen auf die Sowjetunion meldete er sich freiwillig an die Front, geriet aber schon im Herbst 1941 in Gefangenschaft. In einem NS-Konzentrationslager rettete ihn der Umstand, dass der Lagerkommandant einen Klavierstimmer suchte. 1943 durfte Topilin sogar das KZ verlassen und als »Ostarbeiter« tätig werden. Er arbeitete als Organist an einer Berliner Kirche und wurde später in eine »Konzertbrigade« eingezogen, die Konzerte an der Front gegeben hat. 1945 kehrte er nach Moskau zurück.2472 Nadezˇda Kravec traf Topilin im Jahr 1953 in Tajsˇet, einem Etappenpunkt des Ozerlag.2473 Ihrer Beschreibung nach war er vollständig ergraut und unrasiert, seine Haare waren kurz geschoren, und er trug eine verdreckte Wattejacke. Anfangs war er sehr zurückgezogen, nach einigen Tagen aber erzählte er ihr, dass er nach seiner Rückkehr aus der deutschen Gefangenschaft gleich am Bahnhof in Moskau festgenommen und zu 25 Jahren Lagerhaft wegen »Vaterlandsverrats« verurteilt worden war.2474 In der Zeit, in der Nadezˇda Kravec Topilin kennen2469 Nach der Rückkehr Topilins aus dem Lager verweigerte ihm Ojstrach ein Treffen. Manuskript von Viktor Suslin, Appen, 5. September 2004. Zur Verfügung gestellt vom Verfasser. 2470 Ein Foto, welches Topilin und Ojstrach in einer Gruppe von Musikern im Jahr 1934 zeigt, ist in der Zeitschrift Sovetskaja muzyka, 1979, Nr. 1, S. 84 abgebildet. Die Unterschrift zum Bild besagt, dass es sich bei den fünf abgebildeten Personen um diejenigen handelte, die in der Anfangszeit des sowjetischen Rundfunks besonders oft im Radio zu hören waren. 2471 Monsenzˇon, Bruno: Richter. Dialogi. Dnevniki, 2003, S. 38. 2472 Stepanenko, Mikhaylo: »Vsevolod Topilin, der Assistent von Heinrich Neuhaus«, in: Niemöller, Klaus Wolfgang/Koch, Klaus-Peter : Heinrich Neuhaus (1888 – 1964) zum 110. Geburtstag. Aspekte interkultureller Beziehung in Pianistik und Musikgeschichte zwischen dem östlichen Europa und Deutschland, 2000, S. 135 – 137. 2473 Kravec, »Sˇest’ let ›rezˇima‹«, 1988, S. 84 f. 2474 Nach Stepanenko wurde Topilin wegen Vaterlandsverrats sowie Kollaboration mit den Deutschen zum Tode verurteilt; die Strafe wurde dann aber in zehn Jahre Lagerhaft umgewandelt. Der Pianist hat im Lager als Holzfäller, Assistenzarzt und Orchesterleiter

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lernte, gab es im Etappenpunkt Bemühungen, eine »Kulturbrigade« zusammenzustellen. Topilin versuchte deswegen, Akkordeon zu spielen, aber er war derart schwach, dass er den Balg des Instruments nicht bewegen konnte. Doch dann tauchte ein altes kaputtes Klavier im Lager auf. Es stellte sich schnell heraus, dass es unspielbar war. Einem der Häftlinge gelang jedoch die Reparatur, und Vsevolod Topilin machte sich zusammen mit Nadezˇda Kravec an das Stimmen. Letztendlich konnten sie einige Stücke darauf spielen, über deren Noten sie verfügten: Slawische Tänze von Dvorˇ‚k, Zigeunerweisen von Sarasate ˇ ajkovskij und Kabalevskij. und die Violinkonzerte von Mendelssohn, C Das Klavier wurde ins Klubhaus gebracht, und die Musiker bekamen die Erlaubnis, ein Konzert zu veranstalten. Auf dem Programm stand beispielsweise die Meditation aus Jules Massenets Oper Tas. Dazu tanzte eine junge Ballerina aus der Budapester Oper, die ca. ein Jahr darauf im Lager starb. Nach dem Konzert waren die Musiker voller Pläne für weitere Aufführungen, die aber dadurch zunichte gemacht wurden, dass der Lagerleiter das reparierte Klavier aus der Lagerzone abtransportieren ließ, um es seinen Kindern zur Verfügung zu stellen. Einige Tage später wurden die Geigerin und der Pianist in zwei verschiedene Lagerpunkte transportiert. Der Vorfall mit dem Klavier hat den ehemaligen Ozerlag-Häftling Platon Nabokov dazu inspiriert, im Jahr 1994 ein Gedicht darüber zu verfassen. Darin nennt er den Namen des Häftlings, welcher die Restaurierung des Klaviers leitete – es soll Ioganes Pupors aus Litauen gewesen sein. Andere Häftlinge sollen ihm geholfen haben. Im Gedicht wird das Klavier nach seiner Fertigstellung in den Kreml transportiert, weil die Lagerleitung des Ozerlag Stalin ein Geschenk damit machen möchte. Ioganes Pupors aber verletzt sich deswegen absichtlich mit einer Axt am Arm.2475 Es bleibt unklar, ob das Gedicht die real stattgefundenen Ereignisse wiedergibt oder ob auch Fiktives darin Eingang gefunden hat.

gearbeitet. Es bleibt jedoch unklar, welche Quellen Stepanenkos Aussagen zugrunde liegen. Stepanenko, »Vsevolod Topilin, der Assistent von Heinrich Neuhaus«, 2000, S. 137. 2475 Nabokov, Drugich ne budet beregov, 1996, S. 30 – 33.

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Abb. 86: Vsevolod Topilin (li.) und Genrich Nejgauz (re.). Privatarchiv Viktor Suslin.

Im Jahr 1954, so ist bei Mikhaylo Stepanenko zu lesen, wurde Topilin freigelassen, musste aber in Sibirien bleiben. Er ließ sich in Krasnojarsk nieder und unterrichtete dort. 1956 erreichte er, dass er zu seiner alten Mutter nach Char’kov zurückkehren durfte. Er lehrte dort am Konservatorium und an der Spezialmusikschule.2476 In den Jahren 1959 bis 1962 besuchte ihn Svjatoslav Richter dort regelmäßig und versuchte mit Mitbringseln, z. B. Kunstbänden, Topilins Leben zu verschönern. Viktor Suslin, der Topilins Klasse an der Musikschule in Char’kov angehört hatte, erinnerte sich an ihn als einen drahtigen und sehr beweglichen Menschen, der zwar stotterte, aber sehr ausdrucksvoll sprach. Er beherrschte fließend Französisch und Deutsch und war ein sehr guter Wagner-Kenner.2477 1962 wurde Topilin als Klavierprofessor nach Kiew berufen, wo er großes Ansehen genoss.2478 Die Jahre der Haft konnte der Pianist aber weder verdrängen noch verarbeiten – er setzte seinem Leben eigenhändig ein Ende.2479

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Stepanenko, »Vsevolod Topilin, der Assistent von Heinrich Neuhaus«, 2000, S. 137. Manuskript von Viktor Suslin, Appen, 5. September 2004. Stepanenko, »Vsevolod Topilin, der Assistent von Heinrich Neuhaus«, 2000, S. 137. Mündliche Auskunft von Viktor Suslin an die Autorin.

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Aderlass des sowjetischen Musiklebens: Versuch eines Überblicks

Genrich Nejgauz (1888 – 1964) Genrich Nejgauz, Sohn eines deutschen Klavierpädagogen und einer Polin, wurde in der Ukraine geboren und konzertierte bereits im Alter von neun Jahren. Ab 1906 wurde er in Berlin bei Paul Juon in Komposition und bei Leopold Godowsky am Klavier ausgebildet. 1914 absolvierte er die Musikakademie in Wien und 1915 das Petrograder Konservatorium. Er konzertierte sehr viel und ist auch als herausragender Klavierpädagoge in die Musikgeschichte eingegangen. Ab 1919 war er als Professor am Konservatorium in Kiew tätig, ab 1922 am Moskauer Konservatorium. Zu seinen Schülern gehörten z. B. Svjatoslav Richter, E˙mil’ Gilel’s und Jakov Zak. 1956 wurde Nejgauz mit dem Titel »Verdienter Künstler der RSFSR« ausgezeichnet.2480 Wie Nejgauzs Tochter Milica berichtet, wurde er am 4. November 1941 verhaftet; ihm wurde als Verbrechen vorgeworfen, dass er sich geweigert hatte, aus Moskau evakuiert zu werden. Achteinhalb Monate verbrachte Nejgauz in Untersuchungshaft im Lubjanka-Gefängnis, davon fast ein halbes Jahr in einer Einzelzelle. Durch die einseitige Ernährung (Suppe aus Fischresten und Brot) erkrankte der Pianist an Skorbut und verlor fast alle Zähne. Ein halbes Jahr nach der Verhaftung durfte er Pakete erhalten, und auf Bemühungen Marija Judinas stellten Schüler und Freunde des Verhafteten ein Paket zusammen,2481 was in Kriegszeiten kein einfaches Unterfangen war. Im Jahr 2000 veröffentlichte Milica Nejgauz einige Verhörprotokolle ihres Vaters, anhand derer die Verhörpraktik der NKVD-Mitarbeiter nachvollzogen werden kann.2482 Es ist dabei zwar zu beachten, dass der Untersuchungsführer das Protokoll seinem Gutdünken nach erstellte, jedoch kann trotzdem davon ausgegangen werden, dass einige Körnchen Wahrheit darin enthalten sind, wie es bereits der Historiker Sergej Belokon’ ausgeführt hat.2483 Die Fragen während des ersten Verhörs vom 6. November 1941 betrafen die bisherige berufliche Tätigkeit, Auslandsreisen, Verbindungen ins Ausland und engste Freunde. Danach kam der Untersuchungsführer darauf zu sprechen, 2480 Rabinovicˇ, D.: »Nejgauz Genrich Gustavovicˇ«, in: Keldysˇ, Muzykal’naja e˙nciklopedija, Bd. 3, 1976, Sp. 936. 2481 Nejgauz, Genrich: Razmysˇlenija. Vospominanija. Dnevniki. Stat’i, 2008, S. 481. 2482 Nejgauz, Milica: »Dopros«, in: Muzykal’naja zˇizn’, 2000, Nr. 3, S. 39 – 41; Nr. 4, S. 38 – 40. Dieser Publikation (in Nr. 3) ist auch ein Foto Nejgauzs aus der Untersuchungsakte beigegeben. Eine erneute Publikation dieser Dokumente ohne Foto erfolgte in: Nejgauz, Razmysˇlenija, 2008, S. 481 – 499. Eine sehr kurze Zusammenfassung über die Verhörprotokolle in deutscher Sprache findet sich in: Neuhaus, Militsa: »Über das Leben von Heinrich Neuhaus«, in: Niemöller/Koch, Heinrich Neuhaus (1888 – 1964) zum 110. Geburtstag, 2000, S. 105 f. ˇ K-GPU-NKVD-KGB kak istoricˇeskij istocˇnik«, in: 2483 Belokon’, Sergej: »Sledstvennye dela C Obuchov, Leonid (Hg.): Totalitarizm v Rossii (SSSR) 1917 – 1991, 1998, 38 – 42.

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warum Nejgauz sich nicht hat evakuieren lassen. Mit der Antwort, dass familiäre Verhältnisse ihn daran gehindert hätten, und dass er Schwierigkeiten mit der Versorgung und der Arbeitssuche am neuen Ort befürchtete, gab dieser sich nicht zufrieden und behauptete, Nejgauz hat darauf gehofft, dass die deutsche Armee Moskau einnehmen würde und er dann mit den Deutschen kollaborieren könnte. Daraufhin soll Nejgauz geantwortet haben, so hielt der Untersuchungsführer im Protokoll fest, er habe geglaubt, dass eine Niederlage der Sowjetunion im Krieg unvermeidlich wäre, gleichzeitig sei er aber ein Gegner des Hitler-Regimes gewesen. Dem Protokoll nach gab er zu, antisowjetische Äußerungen gegenüber Bekannten gemacht zu haben, ohne sich genau an die Begebenheiten erinnern zu können. Es ist als Beweis von großer Stärke zu werten, dass er sagte, sich an keine konkreten Situationen erinnern zu können, in denen er sich antisowjetisch geäußert hätte. Dadurch schützte er weitere Personen vor Verhaftungen. Nach diesem ersten Verhör folgten weitere, von denen keine Protokolle veröffentlicht worden sind. Das nächste abgedruckte Protokoll ist während eines nächtlichen Verhörs entstanden, welches am 3. Dezember 1941 von 1 bis 6 Uhr dauerte. Diesem ist zu entnehmen, dass Nejgauz sich in vorangegangenen Verhören geweigert hatte, schwerwiegende antisowjetische Äußerungen zuzugeben. Er ist in der Zwischenzeit gefoltert worden,2484 zu Protokoll wurde aber genommen, dass er wegen der Denunziationen, welche dem Untersuchungsführer vorlagen, seine Vergehen nun zugeben wollte. Jedenfalls erklärte Nejgauz laut Protokoll, dass er die volle Wahrheit über seine antisowjetische Tätigkeit darlegen wolle. Es folgen ausgewählte Aspekte, derer sich Nejgauz für schuldig bekannte: Er gab zu, Ähnlichkeiten zwischen der Regierungsform in der Sowjetunion und in Deutschland festgestellt zu haben, und dass er sich gegen den Nichtangriffspakt ausgesprochen hatte. Er war gegen die Besetzung Polens durch Deutschland und die Sowjetunion gewesen, genauso wie gegen die Besetzung des Baltikums durch die Sowjetunion und gegen ihren Krieg gegen Finnland. Bezüglich der Kriegsführung durch die Rote Armee musste er erhebliche Schwächen feststellen. Die sowjetische Gesetzgebung des Jahres 1940, welche z. B. eine Inhaftierung wegen des Zuspätkommens zur Arbeit vorsah, hat er als ungerecht empfunden. Die »sowjetische Demokratie« bewertete er nicht als Demokratie. Auch hat er vor seiner Umgebung nicht verborgen, dass die Musik der Internationale ihm nicht gefiel. Dies alles sei antisowjetisch gewesen, so Nejgauz im Protokoll. 2484 Dies berichtet seine Tochter in: Nejgauz, Razmysˇlenija, 2008, S. 481. Sie spricht von einer Folter, bei der Nejgauz auf einen hohen Hocker gesetzt wurde, sodass seine Füße nicht bis zum Boden reichten. Daraufhin wurde er mit grellem Licht angestrahlt. Wenn er die Augen schloss, wurde über seinem Kopf geklappert.

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In den letzten zwei Absätzen dieses Protokolls geschieht etwas Unerwartetes: Der Untersuchungsführer scheint die Ergebnisse des Verhörs abschwächen zu wollen. In den festgehaltenen Aussagen soll nicht Nejgauzs feste Überzeugung zum Ausdruck gekommen sein, sondern eine vorübergehende Meinung. Im Grunde genommen soll er die Maßnahmen der Sowjetregierung unterstützt haben, wird Nejgauz in den Mund gelegt. Der gleiche Untersuchungsführer verhörte den Pianisten erst am 28. Dezember 1941 wieder und zwang ihm die Aussage ab, dass er die Maßnahmen der Sowjetregierung in Bezug auf die Kunst und Kultur als einschränkend empfunden hatte. Daraufhin waren Niederlagen der Roten Armee im Krieg wieder Thema sowie Nejgauzs Verzicht auf eine Evakuierung, und was er im Falle einer Okkupation Moskaus zu tun gedacht hatte. Der Pianist machte wiederholt klar, dass er ein Gegner des Faschismus war. Zum Abschluss konnte Nejgauz nun doch dazu gezwungen werden, Namen von ihm Nahestehenden zu nennen, mit denen er über seine antisowjetische Einstellung gesprochen haben soll. Dies stellte eine konkrete Gefahr für die Betroffenen dar (seine Frau, seine Cousinen und einige Schüler wie Svjatoslav Richter und Anatolij Vedernikov), die glücklicherweise nicht zur Realität wurde. Es folgten weitere Verhöre, in denen Nejgauz eine Spionagetätigkeit nachgewiesen werden sollte, was jedoch nicht gelungen ist. Im Mai 1942 wurde die Untersuchung eingestellt, und am 4. Juni verurteilte das Sonderkollegium des NKVD SSSR Nejgauz zu fünf Jahren Verbannung. Er wurde am 19. Juli aus dem Gefängnis entlassen und trat nach Ablauf von drei Wochen die Reise nach Sverdlovsk (vor 1924 und nach 1991 Ekaterinburg) an, wo er die Verbannung verbüßen sollte.2485 Die milde Strafe, die über Nejgauz verhängt wurde, überrascht angesichts dessen, dass er sich zu Vergehen bekannt hatte, die nach § 58 – 10 in Kriegssituationen mit Strafen bis hin zum Tod durch Erschießen belangt werden konnten. Es ist möglich, dass eine Person, die Einfluss auf den NKVD ausüben konnte, sich für ihn ausgesprochen hatte. Nach zwei Jahren in schwierigen Lebensverhältnissen, fern seiner Familie und seinen Schülern wurde Nejgauz im Herbst 1944 nach Moskau bestellt, um als Juror bei einem Wettbewerb tätig zu werden. Sieben Persönlichkeiten des Kulturlebens verfassten daraufhin ein Gesuch an Michail Kalinin, den damaligen Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, in welchem sie darum baten, Nejgauz die Rückkehr nach Moskau zu erlauben. Dies waren der Schauspieler und Regisseur Ivan Moskvin, der Schauspieler Vasilij Kacˇalov, der Schriftsteller Sergej Michalkov, der Komponist Dmitrij Sˇostakovicˇ, der Pianist 2485 Über die Zeit, die Nejgauz in Sverdlovsk verbracht hat, berichtet Irina Meltser-Chafran in: »Das Wirken von Neuhaus zwischen 1942 und 1964: Neue Horizonte«, in: Niemöller/Koch, Heinrich Neuhaus (1888 – 1964) zum 110. Geburtstag, 2000, S. 115 – 118.

Komponisten in Lagerhaft

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Konstantin Igumnov, der Schriftsteller Aleksej Tolstoj sowie die Historikerin Milica Necˇkina. Der Direktor des Moskauer Konservatoriums Vissarion Sˇebalin schrieb ein gesondertes Gesuch. Daraufhin wurde es Nejgauz erlaubt, fortan wieder in Moskau zu leben. Erschreckend ist zu sehen, dass Verhaftungen und Inhaftierungen in jener Zeit Gegenstand von Alltagsgesprächen werden konnten. So wurde nach der Entlassung von Nejgauz aus der Untersuchungshaft im Restaurant des Komponistenhauses von Besuchern darüber gesprochen, dass ihm während der Verhöre in der Lubjanka die Zähne ausgeschlagen worden waren.2486

Komponisten in Lagerhaft Bei der Suche nach Komponisten, die von Verhaftung und Lagerhaft betroffen waren, wurde zunächst die Memorial-Datenbank konsultiert.2487 Sie enthält 20 Namen von Komponisten, die mit ihrem Beruf ausgewiesen sind. Diese wurden durch Namen ergänzt, auf welche die Verfasserin während ihrer fünfjährigen Forschungen zur Musik im Gulag gestoßen ist, wobei sich die Recherchen nicht explizit auf Komponisten konzentriert haben und dadurch kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann. Es sind 68 Namen von Komponisten zusammengetragen worden, die in der Regierungszeit Stalins von Verhaftung und Lagerhaft betroffen waren. Diese Zahl scheint angesichts von mehr als 3.000 repressierten Schriftstellern2488 unbedeutend zu sein, doch muss sie vor dem Hintergrund der Gesamtzahl der im sowjetischen Komponistenverband registrierten Mitglieder beurteilt werden. So verzeichnete der Verband im Jahr 1948 nur 908 Mitglieder, und zwar nicht nur Komponisten, sondern auch einige Musikwissenschaftler, während der Schriftstellerverband schon im Jahr 1934 1.500 Mitglieder hatte. 1968 waren im Komponistenverband 1.645 Mitglieder, im Schriftstellerverband aber 1967 6.608 Mitglieder registriert. Der Komponistenverband war der mit Abstand kleinste Künstlerverband in der Sowjetunion. Auch wenn nicht alle schaffenden Künstler in den staatlichen Verbänden organisiert waren, zeigen die Zahlen der Verbandsmitglieder doch eine Tendenz, dass nämlich in der Sowjetunion nicht so viele Komponisten wie andere Künstler gewirkt haben, weswegen es rein quantitativ so aussehen kann, als ob sie weniger von Repressionen betroffen waren.2489 Nicht vergessen werden darf auch, dass die in der 2486 Zavadskaja, »Ostanovlennoe vremja«, 1989, S. 26. 2487 Vgl. Fußnote 2406. 2488 Nach Angabe von Vitalij Sˇentalinskij beim Symposium Composers in the Gulag vom 16. bis 19. Juni 2010 in Göttingen. 2489 Jampol’skaja, C. u. a.: Tvorcˇeskie sojuzy v SSSR (organizacionno-pravovye voprosy), 1970, S. 45.

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Aderlass des sowjetischen Musiklebens: Versuch eines Überblicks

folgenden Tabelle verzeichneten Komponisten nur als vorläufiges Ergebnis einer fünfjährigen Forschung zu betrachten sind, während Untersuchungen zu repressierten Schriftstellern schon seit Jahrzehnten betrieben werden. In die folgende Tabelle wurden nur solche Komponisten aufgenommen, die entweder Komposition studiert hatten oder aber, wie z. B. Julij Chajt, Boris Fomin oder Boris Prozorovskij, zwar kein Studium der Komposition absolviert, aber Lieder geschaffen haben, die eine weite Verbreitung gefunden haben. Von Fomin stammt beispielsweise das weltberühmte Lied Dorogoj dlinnoju (Auf dem langen Weg), welches in der englischen Übersetzung unter dem Titel Those were the Days beispielsweise von der britischen Sängerin Mary Hopkin interpretiert wurde und zur Nummer eins in den britischen und deutschen Charts avancierte. Unter diesen Bedingungen konnte beispielsweise ein Komponist wie Nëbdinsa Vittor (Pseudonym Viktor Savin) (1888 – 1943) nicht berücksichtigt werden, weil er keine professionelle Ausbildung genossen hatte. Jedoch hat er sich als Begründer des nationalen Theaters der Komi, als Schriftsteller und auch als Komponist von ca. 70 Liedern in der Sprache der Komi verdient gemacht. Er wurde 1937 verhaftet und starb im Lager.2490 Auch Soso Begiasˇvili, den Matvej Grin in seinen Erinnerungen an das Ivdel’lag nennt und als Komponisten, Musiker, Regisseur und Schriftsteller vorstellt, der elf Jahre seines Lebens in Lagern inhaftiert war,2491 konnte nicht aufgenommen werden, weil keine weiteren Informationen über ihn gefunden werden konnten. Dasselbe trifft auch auf den Ukrainer Pavel Bocjuk (*1893),2492 den Esten Artur Tormi,2493 den Tschechen Urbanik2494 sowie N. P. Zabelin2495 zu. Die Tabelle enthält auch keine Namen von Gulag-Häftlingen, die erst im Lager zu komponieren anfingen, obwohl eine ganze Reihe solcher Personen bekannt ist. Das Spektrum der von ihnen komponierten Musik reicht von den Liedern Svetlana Sˇilovas (vgl. Kapitel C, Abschnitt »Im Gulag gedichtete und komponierte Lieder«) über die Klavierkompositionen Vladimir Klempners (vgl. Kapitel B.2, Abschnitt »Musiker am Gor’kij-Theater in der Nachkriegszeit«),2496 eine »schwierige polyphone Fantasie« für zwei Violinen auf ukrainische Themen von Samuil Zisser (vgl. Kapitel D, Abschnitt »Nadezˇda Kravec«)2497 bis hin zur Oper Plotina No. 6 (Stau2490 2491 2492 2493 2494 2495 2496 2497

»Pis’mo iz 37-go«, in: Teatral’naja zˇizn’, 1988, Nr. 7, S. 13 f. Grin, »Zabveniju ne podlezˇit«, 1989, Nr. 13, S. 31. Kaneva, Gulagovskij teatr Uchty, 2001, S. 17 – 23. Spielte Akkordeon in der »Kulturbrigade« in Vanino. Fel’dgun, »Zapiski lagernogo muzykanta«, 1997, S. 333, 335, 338; Sandler, Uzelki na pamjat’, 1988, S. 22 – 24. Mitte der 1930er-Jahre in Vjan’-Guba inhaftiert. Tanjuk, »S pulej v serdce…«, 2. März 1989, S. 6. In den Jahren 1934 bis 1937 am Theater von Tuloma des Belbaltlag beschäftigt. Dvorzˇeckij, Puti bol’sˇich e˙tapov, 1994, S. 92. Solschenizyn, Der Archipel GULAG. Folgeband, 1974, S. 468 f. Kravec, »Sˇest’ let ›rezˇima‹«, 1988, S. 86.

Komponisten in Lagerhaft

599

damm Nr. 6), die der am Moskauer Konservatorium ausgebildete Organist Igor’ Vejs als Häftling beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals komponiert hat.2498 Auch konnten junge Musiker mit einem Potenzial zum Komponisten nicht berücksichtigt werden; von ihnen werden wir nie erfahren: Diejenigen, die schon einen literarischen Namen hatten, als sie in diesen Abgrund [den Gulag] stürzten, sind wenigstens bekannt – doch wie viele sind nie beachtet, nie öffentlich erwähnt worden! Und fast keinem ist es gelungen, zurückzukehren. Eine ganze nationale Literatur ist dort geblieben […].2499

Diese Worte aus der Nobelpreis-Rede von Aleksandr Solzˇenicyn, die sich auf Schriftsteller beziehen, treffen auch auf Komponisten zu. Einige Musiker, die durch ihre Verhaftung aus der Ausbildung gerissen wurden, hätten Komponisten werden können. Sie bilden einen Teil der »ungeschehenen« und nicht mehr ergründbaren Musikgeschichte, genauso wie die Schriftsteller, bezüglich derer Roj Medvedev formulierte: Und niemand kann die Bücher herausgeben, die von diesen Menschen angedacht waren, von denen die meisten keine 40 Jahre alt waren, und einige nicht einmal 30.2500

Auch schon niedergeschriebene Manuskripte sind in die »ungeschehene Geschichte«2501 eingegangen. Solzˇenicyn berichtet über die Verbrennung von zahlreichen Handschriften im Lubjanka-Gefängnis; eine ganze Kultur sei dabei untergegangen.2502 Auch Medvedev spricht von der Vernichtung so gut wie aller Archive der Verurteilten.2503 Es ist davon auszugehen, dass von solchen Aktionen nicht nur schriftstellerische, sondern auch musikalische Manuskripte betroffen waren. So berichtet beispielsweise Evgenij E˙psˇtejn in einem Artikel, dass bei der Verhaftung von Sergej Prokof ’evs erster Frau, Lina Prokof’eva, zahlreiche 2498 Anciferov, Nikolaj: Iz dum o bylom. Vospominanija, 1992, S. 383. 2499 Solschenizyn, Alexander : Nobelpreis-Rede über die Literatur 1970, 1973, S. 19. 2500 þ_ ^Y[c_ ^V ]_WVc YXUQcm cVf [^YT, [_c_alV Rl\Y XQUd]Q^l ncY]Y \oUm]Y, R_\miY^bcSd YX [_c_alf ^V Yb`_\^Y\_bm Y 40, Q ^V[_c_al] UQWV 30 \Vc. Medvedev, O Staline i stalinizme, 1990, S. 398. 2501 Dieser von Alexander Demandt eingeführte Begriff (in: Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn…?, 1984) wurde ursprünglich aus Freude an der Spekulation, an nachträglichen Konstruktionen für mögliche Geschichtsverläufe entwickelt. Er kann sehr gut auf die Schicksale verfolgter Musiker angewendet werden, verliert hierbei jedoch sein ursprünglich spielerisches Element. Überlegungen zur Übertragbarkeit dieses Modells der ungeschehenen Geschichte auf die Lebensläufe verfolgter Musiker hat die Verfasserin im folgenden Artikel angestellt: »Rol’ repressij v SSSR v dele marginalizacii kompozitorov (1920 – 1950-e gg.)«, in: Kovnackaja, Ljudmila (Hg.): Sever v tradicionnych kul’turach i professional’nych kompozitorskich ˇskolach, 2012, S. 192 – 203. 2502 Solzˇenicyn, Archipelag GULag, 1973, Teile I – II, S. 146. 2503 Dabei soll es zur Verbrennung von drei Kant-Briefen gekommen sein, welche bei einem Schriftsteller beschlagnahmt wurden, denn die Tschekisten kümmerten sich nicht um den ideellen Wert dieser Dokumente. Medvedev, O Staline i stalinizme, 1990, S. 398, 459 f.

600

Aderlass des sowjetischen Musiklebens: Versuch eines Überblicks

Briefe, Dokumente, Fotografien und Musikhandschriften von den Tschekisten mitgenommen wurden.2504 Eine Liste der beschlagnahmten Unterlagen befindet sich im Archiv des Glinka-Musikmuseums, so E˙psˇtejn.2505

Tabelle der von Verhaftungen und Lagerhaft betroffenen Komponisten Auswertung der Komponistentabelle Nicht alle in der Tabelle aufgeführten Komponisten konnten in die Auswertung einbezogen werden, da über eine Reihe von ihnen nur wenige Daten vorliegen, was an vielen Fragezeichen in der Tabelle erkennbar ist. Deswegen wird in der Auswertung oftmals von einer Mindestanzahl zu lesen sein. Die weitaus meisten Verhaftungen, nämlich 16, fanden im Jahr 1937, in der Zeit des Großen Terrors, statt. Darüber hinaus wurden relativ viele Verhaftungen in den Kriegsjahren und im Jahr 1950 durchgeführt. Sechs von acht Verhaftungen des Jahres 1950 ereigneten sich in den baltischen Republiken (drei estnische und drei lettische Komponisten betreffend). Mindestens 21 der Betroffenen sind in Moskau festgenommen worden, 11 in Leningrad. Mindestens 51 hatten eine Hochschulausbildung erhalten, 15 von ihnen am Moskauer Konservatorium, elf am Konservatorium in Petersburg bzw. Leningrad.

Abb. 87: Anzahl der bislang recherchierten verhafteten Komponisten, geordnet nach dem Jahr ihrer Verhaftung, soweit dieses bekannt ist.

2504 Über das Schicksal Lina Prokov’evas kann beispielsweise auf der Homepage des SacharovZentrums nachgelesen werden: http://www.sakharov-center.ru/asfcd/auth/?t=author & i=1625 (letzter Zugriff am 24. November 2013). 2505 E˙psˇtejn, Evgenij: »Moskva, sotvori blagodarnuju pamjat’!«, in: Muzykal’naja zˇizn’, 1993, Nr. 17.

1901 (Vladimir) – 29. 01. 1943

Bogoslovskij, Georgij Vasil’evicˇ

Russe

1913 (Juzovka, ? heute Doneck) – 1985 (Moskau)

Binkin, Zinovij Jur’evicˇ

Hochschulstudium

08. 04. 1942, Lager Nr. 188 des NKVD

1945, Moskau

Sonderkollegium des NKVD, 13. 01. 1943, Spionage/Hilfeleistungen für die deutschen Besatzer, Tod durch Erschießen

?

Konservatorium Riga

Lettin Moskauer Konservatorium

drei Monate Gefängnis, Tod durch Erschießen

Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR, 25. 08. 1937, Spionage, Tod durch Erschießen ?

24. 05. 1937, Moskau

Pariser Conservatoire

Russe

1882 (Gouvernement Kurland) – 25. 08. 1937 (Moskau) 1909 (Riga) – 1971 (Riga)

Benediktov (Fejgenzon), Maksim Benediktovicˇ Bergmane, Ire¯na 1950, Riga

vier Jahre und vier Monate Gefängnis und Lager, Tod im Lager

Militärtribunal des NKVD für West-Sibirien, 20. 12. 1941, § 58; 8 Jahre Lagerhaft

1941, Leningrad

Hochschulbildung

Russe/Jude (unterschiedliche Angaben in den Quellen)

1905 (Kiew) – 1946 (Siblag)

Barskij, Vladimir Borisovicˇ

neun Monate Gefängnis, Tod durch Erschießen

acht Jahre Gefängnis und Verbannung

fünf Jahre Gefängnis und Lager

Najdicˇ, L.: »Leningradskie filologi na frontach Velikoj Otecˇestvennoj vojny«, in: Kazanskij, N. (Hg.): Lingvistika v gody vojny : ljudi, sud’by, sversˇenija, 2005, S. 248 http://gulagmuseum.org/sho wObject.do ?object=496295; http://gulagmuseum.org/sho wObject.do ?object= 496282 (letzter Zugriff am 23. Mai 2011); Zettelkatalog von Memorial Sankt Petersburg http://lists.memo.ru/d4/f165. htm; http://stalin.memo.ru/ spiski/pg02226.htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011) http://vip.latnet.lv/lpra/muzi ki.htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011) http://www.sever-press.ru/ 501/doc/3.htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011); Keldysˇ, Muzykal’naja e˙nciklopedija, Bd. 6, Moskva 1982, Sp. 686 f.; Interview mit dem ehemaligen Mitinhaftierten Lazar’ Sˇeresˇevskij Ende 2007 in Moskau http://lists.memo.ru/d4/f464. htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011) ?

Konservatorium Leningrad

?

1906 (Dessau) – 1979

Quelle

Haftdauer

Admoni-Krasnyj, Iogann Grigor’evicˇ

Verurteilendes Gremium, Datum der Verurteilung, Begründung, Urteil ?

Datum der Verhaftung, damaliger Wohnort 1941, Leningrad

»Nationalität«a) Ausbildung

Lebensdaten mit Ortsangabe

Name

Komponisten in Lagerhaft

601

?

Jude (?)

1897 (Odessa) – 1961 (KisˇinÚv)

1897 (Kiew) – 1966 (Moskau)

1927 (Sal’sk) – 2003

1875 (Moskau) – Russe 1952 (Leningrad)

1902 (Riga) – 1942 (bei Jenisejsk)

ˇ ernjatinskij, C Nikolaj Nikolaevicˇ

Chajt, Julij Abramovicˇ

Chromusˇin, Oleg Nikolaevicˇ

E˙jchenval’d, Anton Aleksandrovicˇ

Feils, Alfre¯ds

Lette

?

?

14. 02. 1906 ˇ ernigov) – ? (C

ˇ ernjak, Michail C Jakovlevicˇ

Konservatorium Riga

Juni 1941, Daugavpils

?, Spionage, ?

Sonderkollegium des NKVD, 15. 04. 1938, § 58 – 10, Teil 1; Entlassung nach der Untersuchungshaft

§ 58 – 1a; zehn Jahre Lagerhaft und fünf Jahre Entzug der bürgerlichen Rechte

?

Zweite Hälfte der 1940erJahre 1950

?, 21. 06. 1945, § 54 – 1a; zehn Jahre Lagerhaft

Verurteilendes Gremium, Datum der Verurteilung, Begründung, Urteil OGPU-Kollegium, 08. 07. 1929, § 58 – 8, § 58 – 2; fünf Jahre Lagerhaft

17. 04. 1945, KisˇinÚv

Datum der Verhaftung, damaliger Wohnort 30. 04. 1929, Moskau

Privatunterricht in 15. 10. 1937, Komposition (u. a. Kazan’ bei S. Taneev und N. Rimskij-Korsakov)

Konservatorium Leningrad

Privatunterricht in Komposition

Erstes Staatliches Musiktechnikum Moskau Konservatorium Odessa

»Nationalität«a) Ausbildung

Lebensdaten mit Ortsangabe

Name

Fortsetzung

ein Jahr Gefängnis und Lager, Tod im Lager

sechs Monate Gefängnis

vier Jahre Gefängnis und Lager

?

zehn Jahre Gefängnis und Lager

sieben Jahre Gefängnis und Lager (?)

Haftdauer

http://lists.memo.ru/d38/f43. htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011); Keldysˇ, Muzykal’naja e˙nciklopedija, Bd. 6, Moskva 1982, Sp. 494 http://vip.latnet.lv/lpra/muzi ki.htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011)

http://lists.memo.ru/d35/ f489.htm#n128; http://gu lagmuseum.org/showObject. do?object=1434008; http:// www.musica-ukrainica.odes sa.ua/_a-smirnov-wind. html#_t2 (letzter Zugriff am 23. Mai 2011) Safosˇkin, Lidija Ruslanova, 2002, S. 141; Kucˇerova, »Zˇestokij romans«, 2002; Keldysˇ, Muzykal’naja e˙nciklopedija, Bd. 5, Moskva 1981, Sp. 1015 http://www.sakharov-center. ru/asfcd/auth/?t=author& i= 851 (letzter Zugriff am 6. November 2011)

vgl. Kapitel A.2.3

Quelle

602 Aderlass des sowjetischen Musiklebens: Versuch eines Überblicks

Keine professionelle Ausbildung

1900 (Sankt Pe- Russe tersburg) – 1948 (Moskau)

1898 (Gebiet Kiew) – 08. 01. 1938 (Moskau)

1886 (Preil¸i) – 1961 (Riga)

1877 (Gouvernement Vitebsk) – 08. 12. 1937 (Solovki)

1915 (Warschau) – ?

Fomin, Boris Ivanovicˇ

Gejgner, David Isaakovicˇ

Graubin¸sˇ, Je¯kabs

Grinevicˇ, Anton Antonovicˇ

Grisˇpan, Roman Germanovicˇ

Jude

Belorusse

Lette

Jude

Privater Musikunterricht

?

1902 (Odessa) – 1951 (im Lager)

Fomenko, Georgij Nikolaevicˇ

?

Fachhochschule

Konservatorium Riga

Konservatorium Odessa

»Nationalität«a) Ausbildung

Lebensdaten mit Ortsangabe

Name

Fortsetzung

05. 09. 1942, Sovchose Rabocˇij (Lage unbekannt)

03. 12. 1937, Moskau

1937, Moskau

?, 15. 05. 1943, § 58 – 1a; zehn Jahre Lagerhaft

?

vier Jahre Gefängnis und Lager, im Lager Tod durch Erschießen

fünf Jahre Gefängnis und Lager

ein Monat Gefängnis und Tod

http://lists.memo.ru/d10/f4. htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011)

http://vip.latnet.lv/lpra/muzi ki.htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011) http://lists.memo.ru/d9/f473. htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011); Datenbank von Memorial (vgl. Fußnote 2406).

http://lists.memo.ru/d34/ f173.htm ; http://www.musi ca-ukrainica.odessa.ua/_asmirnov-wind.html#_t2 (letzter Zugriff am 23. Mai 2011) http://ru.wikipedia.org/ wiki/E_]Y^,_2_ aYb_9SQ^_SYh_([_]`_XYc_a) (letzter Zugriff am 2. Juni 2011) vgl. Kapitel D, Abschnitt »David Gejgner«

fünfeinhalb Jahre Gefängnis und Lager, Tod im Lager

Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR, 08. 01. 1938, Spionage/Vorbereitung eines Terrorakts, Tod durch Erschießen Frühjahr ?, Hilfeleistungen für die 1950, Riga deutschen Besatzer, fünf Jahre Lagerhaft a) 06. 09. 1933, a) Kollegium des OGPU, Minsk 09. 01. 1934, § 58 – 4 – 6 – 11, Tod durch Erschießen, umgewandelt in zehn Jahre Lagerhaft b) Gefängnis b) Sondertroika des UNKVD auf den Solov- für das Gebiet Leningrad, 25. 11. 1937, § 58 – 10 – 11, Tod ki durch Erschießen

Quelle

Haftdauer

ein Jahr Gefängnis

Verurteilendes Gremium, Datum der Verurteilung, Begründung, Urteil ?, 15. 12. 1945, Mitgliedschaft in antisowjetischen Organisationen, zehn Jahre Lagerhaft ?, Freispruch

Datum der Verhaftung, damaliger Wohnort 21. 08. 1945, Odessa

Komponisten in Lagerhaft

603

Lette

1918 (nahe Kaunas) – 1968 (Kaunas)

1916 (Gebiet Nord-Kasachstan) – ? 1874 (Kaluga) – 27. 11. 1937 (Moskau)

1901 (Vilno) – 1972 (Velikie Luki)

1893 (Riga) – 1948 (Sibirien)

1901 (Kþnnu) – 1969 (Tallinn)

Indra, Juozas Stasevicˇ

Ismagambetov, Madel’chan Mukanovicˇ Izvekov, Georgij Jakovlevicˇ

Kajdan-DÚsˇkin, Sergej FÚdorovicˇ

Kalnin¸sˇ, Eduards

Karindi, Alfred (bis 1935 Karafin, Alfred)

Este

Lette

Beginn 1945, Riga 1950, Tallinn

Höhere Musikschule Tartu, Konservatorium Tallinn

09. 08. 1930, Moskau

02. 11. 1937, Gebiet Moskau

31. 12. 1941, Alma-Ata

Datum der Verhaftung, damaliger Wohnort ?

Konservatorium Petersburg

Fachhochschule

Fachhochschule

Russe

Russe

Fachhochschule

Kasache

Konservatorium Kaunas

»Nationalität«a) Ausbildung

Lebensdaten mit Ortsangabe

Name

Fortsetzung Haftdauer

?

?

dreieinhalb Jahre Gefängnis und Lager, Tod im Lager vier Jahre Gefängnis und Lager

in der zweiten Hälfte der 1940erJahre am Theater von Vorkuta tätig Gericht für das Gebiet Alma- ? Ata, 22. 05. 1942, § 58 – 10; 7 Jahre Lagerhaft Troika des UNKVD für das einen Monat GeGebiet Moskau, 23. 11. 1937, fängnis, Tod durch konterrevolutionäre faschis- Erschießen tische Agitation, Tod durch Erschießen Kollegium des OGPU für zehn Jahre GeMoskau, 05. 01. 1932, fängnis und Lager § 58 – 8 – 11, zehn Jahre Lagerhaft

Verurteilendes Gremium, Datum der Verurteilung, Begründung, Urteil ?

http://de.wikipedia.org/ wiki/Alfred_Karindi (letzter Zugriff am 2. Juni 2011)

http://lists.memo.ru/d15/f57. htm; http://www.sakharovcenter.ru/asfcd/auth/au thor1b3b.html?id=1204 (letzter Zugriff am 2. Juni 2011); Sizov, A.: »Tak slozˇilas’ sud’ba kompozitora«, in: Ne predat’ zabveniju. Kniga pamjati zˇertv politicˇeskich repressij (Pskovskaja oblast’), Bd. 15, 2004, S. 80 – 86 http://vip.latnet.lv/lpra/muzi ki.htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011)

http://lists.memo.ru/d14/ f394.htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011) http://lists.memo.ru/d14/ f227.htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011)

Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999

Quelle

604 Aderlass des sowjetischen Musiklebens: Versuch eines Überblicks

? 1889 (Sankt Petersburg) – 1961 (Temrjuk, Gebiet Krasnodar) 1910 (Moskau) – ? 1980 (Moskau)

1908 (Süd-Ossetien) – 1980

1905 (Sankt Petersburg) – 1994 (Magadan)

Kesˇe, Al’bert Ivanovicˇ

Kirkor, Georgij Vasil’evicˇ

Kokojti, Tatarkan Jasonovicˇ

Kozin, Vadim Alekseevicˇ

Russe

Ossete

Franzose

1898 (Petersburg) – 1970 (Abakan)

Kenel’, Aleksandr Aleksandrovicˇ

keine professionelle Ausbildung

b) Oktober 1959, Magadan

a) 18. 05. 1944, Moskau

b) 14. 10. 1943

a) Militärtribunal der Streit- a) nach sechs Mokräfte des NKVD, 08. 07. naten als schwer 1942, ?, zehn Jahre Lagerhaft Erkrankter entlassen b) NKGB der ASSR Süd-Os- b) elf Monate Gesetien, 27. 09. 1944, ?, Freifängnis spruch a) Sonderkollegium des a) fünf Jahre und sieben Monate GeNKVD SSSR, 10. 02. 1945, fängnis und Lager antisowjetische Agitation, Homosexualität, 8 Jahre Lagerhaft b) Gericht für das Gebiet ? Magadan, 25. 02. 1960, § 19 – 154-a, Teil 1; § 152; drei Jahre Haft

a) ?, Ordzˇonikidze

Konservatorium Tiflis (ohne Abschluss?)

Sonderkollegium des NKVD, ?, § 154a; fünf Jahre Lagerhaft

Mai 1935, Moskau

vgl. Kapitel B.2

http://lists.memo.ru/d17/f19. htm, http://ossetians.com/ rus/news.php?newsid=362 (letzter Zugriff am 2. Juni 2011)

schriftliche Auskunft des Archivs im GCMMK Moskau an die Autorin

vgl. Kapitel B.2

vgl. Kapitel A.2.1

drei Jahre Gefängnis und Lager

mind. zweimal Lagerhaft, insgesamt mind. 15 Jahre Gefängnis und Lager drei Jahre Gefängnis und Lager (wegen guter Produktivität)

Quelle

Haftdauer

Moskauer Konservatorium (ohne Abschluss wegen Verhaftung)

?

Verurteilendes Gremium, Datum der Verurteilung, Begründung, Urteil Kollegium des OGPU, 15. 06. 1927, § 58 – 5; drei Jahre Lagerhaft

a) Beginn der 1940er-Jahre b) Ende der 1940er-Jahre

Datum der Verhaftung, damaliger Wohnort 14. 06. 1927, Leningrad

Konservatorium Berlin (?)

Konservatorium Leningrad

»Nationalität«a) Ausbildung

Lebensdaten mit Ortsangabe

Name

Fortsetzung

Komponisten in Lagerhaft

605

Lette

Ukrainer

Russe

Russe

1893 (Riga) – 1942

1905 (Gebiet Char’kov) – 25. 05. 1938 (Chabarovsk) 1897 (Valka, Lettland) – 1991 (Moskau)

1900 (Kiew) – 1973 (Moskau)

1924 (Leningrad) – 1981 (Voronezˇ)

Lı¯daks, Ka¯rlis

Litvinenko, Nikolaj Vasil’evicˇ

Mosolov, Aleksandr Vasil’evicˇ

Nosyrev, Michail Iosifovicˇ

Lette

Lette

1913 (Matı¯sˇi) – 1978 (Riga)

Lı¯cı¯tis, Ja¯nis

Mikosˇo, Vladimir Vladimirovicˇ

?

1897 (Sankt Petersburg) – 12. 07. 1929 (Moskau)

Kvadri, Michail Vladimirovicˇ

Konservatorium Leningrad

Konservatorium Moskau

Konservatorium Kiew, Konservatorium Moskau

?

Konservatorium Riga

Konservatorium Riga

Konservatorium Moskau

»Nationalität«a) Ausbildung

Lebensdaten mit Ortsangabe

Name

Fortsetzung

?

?, 25 Jahre Lagerhaft

Verurteilendes Gremium, Datum der Verurteilung, Begründung, Urteil Kollegium des OGPU, 08. 07. 1929, § 58 – 6, § 58 – 8, Tod durch Erschießen

30. 11. 1943, Leningrad

13. 03. 1938, Chabarovsk

Militärtribunal des Leningrader Militärbezirks, 10. 12. 1943, § 58 – 1a – 10, Tod durch Erschießen, umgewandelt in zehn Jahre Lagerhaft

Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR, 25. 05. 1938, § 58 – 1a – 7 – 8 – 11, Tod durch Erschießen 1943, KapellMilitärtribunal der Streitmeister an der kräfte des NKVD für das Front Gebiet Kursk, ?, Vaterlandsverrat, zehn Jahre Lagerhaft und fünf Jahre Entzug der bürgerlichen Rechte 04. 11. 1937, Troika des UNKVD für das Moskau Gebiet Moskau, 23. 12. 1937, § 58 – 10, 8 Jahre Lagerhaft

1940

Frühjahr 1950

Datum der Verhaftung, damaliger Wohnort 31. 10. 1928, Moskau

zehn Jahre Gefängnis und Lager, danach Verbannung

zehn Monate Gefängnis und Lager

acht Jahre Lagerhaft und ein Jahr Verbannung

2 Monate Gefängnis, Tod durch Erschießen

Tod durch Erschießen

Barsova, »Dokumente zu den Repressionen gegen Aleksandr Mosolov«, 2004, S. 137 – 148 Zettelkatalog von Memorial Sankt Petersburg; http://no syrev.ru/biography (letzter Zugriff am 2. Juni 2011)

Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999; Markova/ Volkov, Gulagovskie tajny osvoenija Severa, 2001/2002, S. 115 f.

http://vip.latnet.lv/lpra/muzi ki.htm (letzter Zugriff am 23. Mai 2011) http://vip.latnet.lv/lpra/muzi ki.htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011) http://lists.memo.ru/d20/ f226.htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011)

vgl. Kapitel A.2.3, Abschnitt »Die Anfänge des Musiklebens im Dmitlag«

acht Monate Haft, Tod durch Erschießen neun Jahre Gefängnis und Lager

Quelle

Haftdauer

606 Aderlass des sowjetischen Musiklebens: Versuch eines Überblicks

Russe

?

1899 (Tartu) – 1977 (Tallinn)

1888 (Batumi) – 1963 (Armavir)

?

Päts, Riho

Pavlov-Azancˇeev, Matvej Stepanovicˇ Popov, Evgenij Vasil’evicˇ

ausgebildeter Arzt

1891 (Voronezˇ) – 1937 (bei Chabarovsk)

Prozorovskij, Boris Alekseevicˇ

Russe

Konservatorium Kiew

1893 (Moskau) – Russe 1954 (Moskau)

Konservatorium Moskau

Konservatorium Moskau

Konservatorium Tallinn

Konservatorium Odessa

Protopopov, Sergej Vladimirovicˇ

Este

1908 (Moskau) – Russe ?

Orlov, Sergej Borisovicˇ

»Nationalität«a) Ausbildung

Lebensdaten mit Ortsangabe

Name

Fortsetzung Verurteilendes Gremium, Datum der Verurteilung, Begründung, Urteil UNKVD für das Gebiet Odessa, 17. 07. 1937, § 54 – 10, Teil 1; fünf Jahre Lagerhaft und drei Jahre Entzug der bürgerlichen Rechte ? Quelle

http://www.musica-ukraini ca.odessa.ua/a-smirnovwind.html#_t2 (letzter Zugriff am 23. Mai 2011) http://de.wikipedia.org/ wiki/RihoPäts (letzter Zugriff am 2. Juni 2011) vgl. Kapitel D

Haftdauer

?

fünf Jahre Gefängnis und Lager

d) 1937, Lager bei Chabarovsk

d) Tod durch Erschießen

Sonderkollegium des OGPU, 04. 04. 1934, Beschluss des CIK SSSR vom 17. 12. 1933, drei Jahre Lagerhaft a) Februar a) ?, Vorwurf der Bestech1925, Moskau lichkeit, drei Jahre Verbannung aus Moskau b) 20. 11. 1930, b) Troika der bevollmächtigLeningrad ten Vertretung des OGPU für das Leningrader Militärbezirk, 20. 02. 1931, § 58 – 10 – 11; zehn Jahre Lagerhaft c) 1935, Mos- c) Verbannung kau (?)

04. 03. 1934, Moskau

d) Tod durch Erschießen

c) Verbannung nach Svobodnyj bei Blagovesˇcˇensk

b) zwei Jahre und einige Monate Gefängnis und Lager

a) ?

http://lists.memo.ru/d27/ f252.htm ; Smetanin, Sergej: »Boris Prozorovskij«, http:// a-pesni.golosa.info/romans/ prozorovsky/a-prozorovsky. htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011)

http://gulagmuseum.org/sho wObject.do ?object=1433798 (letzter Zugriff am 23. Mai 2011) zwei Jahre und drei Klause, »Sergej Protopopov – Monate Gefängnis ein Komponist im Gulag«, 2010, S. 134 – 146 und Lager

1941, auf einer ?, § 58 – 10, Teil 2; zehn Jahre zehn Jahre GeTournee in Lagerhaft (?) fängnis und Lager Socˇi ? ? im Pecˇorlag inhaftiert

1950, Tallinn

Datum der Verhaftung, damaliger Wohnort 04. 02. 1937, Odessa

Komponisten in Lagerhaft

607

Konservatorium Leningrad Konservatorium Leningrad

Konservatorium Riga

?

Ukrainer (Emigrantenfamilie aus Russland)

Lette

1910 (Riga) – ?

1908 – ?

1910 (Berlin) – 1976 (Berlin)

1910 (Sankt Petersburg) – 1994

1908 (Marseille) – 1973 (Leningrad)

1909 (Riga) – 1941/42 (Astrachan’)

Reimers, Vilis

Ris, Rene˙ Ljudvigovicˇ

Rosner, Adolf (Eddie)

Rozanov, Aleksandr SemÚnovicˇ

Rusakov, Paul Marcel (Pavel) Aleksandrovicˇ

Samts, Edgars

? Stern’sches Konservatorium und Hochschule für Musik Berlin

polnisch-jüdisch

Konservatorium Riga

?

Lette

?

?

Rassadin, Oleg Leonidovicˇ

?

»Nationalität«a) Ausbildung

Lebensdaten mit Ortsangabe

Name

Fortsetzung

13. 04. 1941, Riga

02. 06. 1937, Leningrad

1933, Leningrad

November 1946, L’vov (Lemberg)

Moskau

03. 07. 1946

Datum der Verhaftung, damaliger Wohnort ?

zehn Jahre Gefängnis und Lager

Troika des UNKVD für das Gebiet Leningrad, 20. 11. 1937, Mitgliedschaft in einer antisowjetischen Organisation, Tod durch Erschießen, umgewandelt in zehn Jahre Lagerhaft

Tod durch Erschießen

viereinhalb Jahre Gefängnis und Lager

?, fünf Jahre Lagerhaft

?

knapp acht Jahre Gefängnis und Lager

?

Larceva, Teatr rasstreljannyj, 1998, S. 83 f., 154; http:// www.requiem.spb.ru/list/per son.php3?id=315& y=1 (letzter Zugriff am 24. Mai 2011); Ozˇegin, P.: »Zagadocˇnyj Pol’ Marsel’«, in: Berdinskich, Viktor (Hg.): Istorija odnogo lagerja, 2001, S. 256 – 259 http://vip.latnet.lv/lpra/muzi ki.htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011)

vgl. Kapitel A.2.3, Abschnitt »Der Kompositionswettbewerb«

http://lists.memo.ru/d28/ f135.htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011) vgl. Kapitel B.2

http://gulagmuseum.org/sho wObject.do ?object=621592 (letzter Zugriff am 23. Mai 2011) http://vip.latnet.lv/lpra/muzi ki.htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011)

acht Jahre Gefängnis und Lager zehn Jahre Gefängnis und Lager

Quelle

Haftdauer

Sonderkollegium des MGB SSSR, 07. 07. 1947, § 58 – 1a; zehn Jahre Lagerhaft

?

?, 10. 10. 1946, Vaterlandsverrat, 20 Jahre Lagerhaft

Verurteilendes Gremium, Datum der Verurteilung, Begründung, Urteil ?, 1936, ?, 8 Jahre Lagerhaft

608 Aderlass des sowjetischen Musiklebens: Versuch eines Überblicks

Teplickij, Leopol’d Jakovlevicˇ

1890 (Ekaterinoslavl’) – 1965 (Petrozavodsk)

Sˇutenko, Taisija 1905 (Char’kov) Ivanovna – 1975 (Kiew) ? Tatarinov, Boris Nikolaevicˇ

Sˇtrassenburg, Stanislav Kazimirovicˇ

1893 (Nikolaev) – 27. 08. 1937 (Leningrad)

1904 (Valmieras apr., Katvaru pag.) – 1943 (Sibirien) 1914 (Polock) – ?

Sı¯lis, Artu¯rs

Sorokin, Vladimir Konstantinovicˇ

Lebensdaten mit Ortsangabe

Name

Fortsetzung

?

?

Ukrainerin

Pole

?

Lette

Konservatorium Leningrad

Konservatorium Moskau ?

?

Konservatorium Leningrad

Konservatorium Riga

»Nationalität«a) Ausbildung

?

Verurteilendes Gremium, Datum der Verurteilung, Begründung, Urteil ?

Oktober 1930, Leningrad

Troika des OGPU, 06. 11. 1930, § 58 – 6, drei Jahre Lagerhaft

Kommission des NKVD und der Staatsanwaltschaft der UdSSR, 25. 08. 1937, § 58 – 10 – 11, Tod durch Erschießen 1937, Moskau Als Familienangehörige eines Vaterlandsverräters 1943 (?), Kiew ?, 1943, § 58, ?

07. 08. 1937, Leningrad

?

Datum der Verhaftung, damaliger Wohnort 1941, Ventspils

zwei Jahre und einen Monat Gefängnis und Lager

sieben Jahre Gefängnis und Lager im Gorlag (Sonderlager des Noril’lag) inhaftiert

20 Tage Gefängnis, Tod durch Erschießen

vgl. Kapitel D, Abschnitt »Taisija Sˇutenko« http://www.memorial.krsk. ru/martirol/tas_taia.htm (letzter Zugriff am 24. Mai 2011); Tarakanov, E˙duard: »›Gde ty – blagoslovennoe, trepetnoe, romanticˇeskoe, ZˇIVOE televidenie ?‹«, in: Kasabova, Galina (Hg.): O vremeni, o Noril’ske, o sebe…, 2007, S. 527c) Ausstellung des Heimatkundemuseums in Medvezˇ’ja Gora, September 2011; http://www.rkna.ru/projects/ mosaic/img/huge/3122.jpg (letzter Zugriff am 24. November 2013)

Zettelkatalog von Memorial Sankt Petersburg; Keldysˇ, Muzykal’naja e˙nciklopedija, Bd. 5, Moskva 1981, Sp. 216 http://lists.memo.ru/d37/ f347.htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011)b)

http://vip.latnet.lv/lpra/muzi ki.htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011)

zwei Jahre Gefängnis und Lager, Tod im Lager ?

Quelle

Haftdauer

Komponisten in Lagerhaft

609

Pole

Russe

Jude

1908 (Novgorod) – 1988 (Perm’)

1886 (Sankt Petersburg) – 1958 (Minsk)

1919 (Warschau) – 1996 (Moskau)

1904 (Tambov) ? – 1978 (Moskau)

Terpilovskij, Genrich Romanovicˇ

Turenkov, Aleksej Evlampievicˇ

Vajnberg, Moisej Samuilovicˇ

Val’dgardt, Pavel Petrovicˇ

Konservatorium Leningrad

Konservatorien Warschau und Minsk

Konservatorium Petersburg

Hochschulbildung

»Nationalität«a) Ausbildung

Lebensdaten mit Ortsangabe

Name

Fortsetzung Verurteilendes Gremium, Datum der Verurteilung, Begründung, Urteil a) Verbannung nach AlmaAta

10. 01. 1929, Leningrad

07. 02. 1953, Moskau

d) Sommer 1951, Dorf Atamanovo, Gebiet Krasnojarsk 22. 07. 1944, Minsk

Sonderkollegium des Leningrader OGPU, 22. 07. 1929, Mitgliedschaft im Zirkel Voskresenie, drei Jahre Lagerhaft

gerichtliches Gremium, 23. 06. 1945, § 63 – 1 des Strafgesetzbuches der BSSR (Hilfeleistungen für die deutschen Besatzer), zehn Jahre Lagerhaft und fünf Jahre Entzug der bürgerlichen Rechte -

d) Lagerhaft

b) 29. 10. 1937, b) Troika des UNKVD für das Alma-Ata Gebiet Alma-Ata, 25. 11. 1937, § 58 – 10; zehn Jahre Lagerhaft c) 15. 06. 1949, c) Verbannung in das Gebiet Perm’ Krasnojarsk

Datum der Verhaftung, damaliger Wohnort a) 1935, Leningrad

drei Jahre Gefängnis und Lager

78 Tage Untersuchungshaft

?

d) zwei Jahre Lagerhaft

c) zwei Jahre Verbannung

b) zehn Jahre Gefängnis und Lager

a) zwei Jahre Verbannung

Haftdauer

Vortrag von Inna Barsova auf dem Symposium Composers in the Gulag, Göttingen, 16.–19. Juni 2010 http://lists.memo.ru/d6/f150. htm#n76 (letzter Zugriff am 2. Juni 2011)

http://lists.memo.ru/d33/f87. htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011); Keldysˇ, Muzykal’naja e˙nciklopedija, Bd. 5, Moskva 1981, Sp. 639

http://lists.memo.ru/d32/ f226.htm ; http://www.sakha rov-center.ru/asfcd/auth/au thord662.html?id=1031 (letzter Zugriff am 22. Mai 2011)

Quelle

610 Aderlass des sowjetischen Musiklebens: Versuch eines Überblicks

Hochschule für Musik Leipzig, Konservatorium Moskau Konservatorium Tallinn

1898 (Uniküla) – 1982 (Tallinn)

1990 (Sankt Petersburg) – 1939

Vettik, Tuudur

Vygodskij, Nikolaj Jakovlevicˇ

?

Este Konservatorien Tiflis und Moskau

20. 12. 1950, Moskau

Hochschule für Musik Berlin (Schüler von Paul Hindemith)

Vejs, Pavel Filippovicˇ

?

1950, Tallinn

26. 07. 1937, Semipalatinsk

Konservatorium Moskau

1891 (Moskau) – Russe 1977 (Moskau)

Vasil’ev, Pantelejmon Ivanovicˇ

1905 (Iglû/Nov‚ Ungar Ves, Ungarn, heute Tschechische Republik) – ? Jude Veprik, Aleksandr 1899 (Gebiet Odessa) – 1958 Moiseevicˇ (Moskau)

1934 (?), Moskau

Fachhochschule (Gnesin-Institut Moskau)

1904 (Simbirsk) Russe – 1990 (Moskau)

Datum der Verhaftung, damaliger Wohnort 1943, Moskau

Varlamov, Aleksandr Vladimirovicˇ

»Nationalität«a) Ausbildung

Lebensdaten mit Ortsangabe

Name

Fortsetzung

vgl. Kapitel D, Abschnitt »Aleksandr Varlamov«

acht Jahre Gefängnis und Lager und fünf Jahre Verbannung vier Jahre Gefängnis und Lager (?)

Quelle

Haftdauer

?

?

in der zweiten Hälfte der 1920er auf den Solovki

sechs Jahre Gefängnis und Lager

http://de.wikipedia.org/ wiki/Tuudur_Vettik (letzter Zugriff am 2. Juni 2011) Valaev, »Les’ Kurbas na Solovkach«, 1989, S. 26; http:// mosconsv.ru/page. phtml?11094#prokoll (mit Foto); http://www.mmv.ru/ p/organ/vygodsky.htm (letzter Zugriff am 8. November 2008)

http://lists.memo.ru/d6/f283. htm; http://www.proza.ru/ 2010/03/10/404 (letzter Zugriff am 2. Juni 2011) Troika des UNKVD, 01. 12. ? (ab 1951 in http://lists.memo.ru/d6/ 1937, ?, zehn Jahre Lagerhaft Uchta) f400.htm ; http://dic.academic.ru/dic.nsf/enc_biography/128411/3VZb (letzter Zugriff am 2. Juni 2011) Sonderkollegium, April 1951, drei Jahre und acht Nemtsov, »›Ich bin schon § 58 – 10; 8 Jahre Lagerhaft Monate Gefängnis längst tot‹«, 2007, S. 315 – 339 und Lager

?

Verurteilendes Gremium, Datum der Verurteilung, Begründung, Urteil ?, § 58; acht Jahre Lagerhaft und anschließend »ewige Verbannung«

Komponisten in Lagerhaft

611

1881 (Kursk) – 20. 01. 1938 (Moskau)

1892 (Nı¯taure¯) – Lette 1987 (Tjumen’)

Zˇiljaev, Nikolaj Sergeevicˇ

Zolts, Pe¯teris

Konservatorium Moskau

Konservatorium Moskau

b) ?

c) Sonderkollegium des Gerichts für das Gebiet Jaroslavl’, 08. 08. 1937, § 58 – 10; 6 Jahre Lagerhaft Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR, 20. 01. 1938, § 58 – 1a – 8 – 11, Tod durch Erschießen und Konfiszierung des persönlichen Eigentums ?, zehn Jahre Lagerhaft

b) 1926 (?), Rjazan’ c) Mai 1937, Jaroslavl’

31.01.45

03. 11. 1937, Moskau

Verurteilendes Gremium, Datum der Verurteilung, Begründung, Urteil a) Gefangenschaft als Angehöriger der Weißen Armee

Datum der Verhaftung, damaliger Wohnort a) 1920, an der Front

zweieinhalb Monate Gefängnis, Tod durch Erschießen

c) knapp zwei Jahre Gefängnis und Lager Barsova, »Opfer stalinistischen Terrors: Nikolaj Zˇiljaev«, 2004, S. 149 – 157

vgl. Kapitel B.2

a) zwei Jahre Gefangenschaft b) zwei Jahre Gefängnis (?)

Quelle

Haftdauer

elf Jahre und acht http://vip.latnet.lv/lpra/ Monate Gefängnis muziki.htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011) und Lager a) Diese Kategorie wurde aufgenommen, weil sie in den Unterlagen der verurteilenden Gremien stets verzeichnet wurde, was darauf schließen lässt, dass sie für wichtig erachtet wurde. Da das Judentum in der Sowjetunion als Nationalität galt, wird dies in der Tabelle zur Demonstration der antisemitischen Züge des stalinistischen Regimes beibehalten. b) Aus dem Zettelkatalog von Memorial Sankt Petersburg geht hervor, dass Sˇtrassenburg als Regisseur und Komponist am polnischen Marchlewski-Haus in Leningrad tätig gewesen war. c) Im RGALI ist im Archiv des Sängers Maksim Michajlov eine Notenausgabe von Tatarinov mit einer Widmung vorhanden. Es handelt sich um die in Char’kov veröffentlichte Ballade Dumi moi, dumi… [Gedanken, meine Gedanken] nach einem Text von Taras Sˇevcˇenko. Die Widmung schrieb Tatarinov im Februar 1958 in Noril’sk. F. 2725 (Michajlov), op. 1, ed. 10, l. 53 – 56.

?

Russe

1891 (Rovno, Ukraine) – 1953 (L’vov)

Zaderackij, Vsevolod Petrovicˇ

Konservatorium Moskau

»Nationalität«a) Ausbildung

Lebensdaten mit Ortsangabe

Name

Fortsetzung

612 Aderlass des sowjetischen Musiklebens: Versuch eines Überblicks

Komponisten in Lagerhaft

613

Angehörige russischer Nationalität waren mit mind. 17 Opfern am meisten vertreten, was den allgemeinen Gulag-Statistiken entspricht.2506 Am zweithäufigsten sind mit zwölf Personen lettische Komponistinnen und Komponisten vertreten. Dies ist darauf zurückzuführen, dass auf eine von lettischen Forschern recherchierte Zusammenstellung zurückgegriffen werden konnte, die im Internet zugänglich ist.2507 Dieser Vorsprung hinsichtlich der Aufarbeitung von Schicksalen lettischer Musiker verzerrt sicherlich die ohnehin auf Zufall beruhende Statistik, die aus der Tabelle hervorgeht. Jüdische Komponisten sind darin mit mind. sechs Personen vertreten. Ein so hoher Anteil entspricht nicht den allgemeinen Gulag-Statistiken und ist möglicherweise ein Indiz dafür, dass der Prozentsatz der jüdischen Opfer unter Musikern höher lag als unter der Allgemeinheit der Häftlinge. Der niedrige Frauenanteil in der Tabelle kann zum einen darauf zurückgeführt werden, dass der Prozentsatz der Frauen im Gulag insgesamt niedrig war, z. B. ca. 5,9 Prozent im Jahr 1934, ca. 9,2 Prozent im Jahr 1942 und ca. 19 Prozent im Jahr 1948,2508 und zum anderen darauf, dass der Anteil der Frauen unter den Mitgliedern des Komponistenverbands ebenfalls nicht hoch war. Die von den verhafteten Komponisten geschriebene Musik kann verschiedenen Gattungen zugeordnet werden: Kunstlieder von Boris Fomin, Vadim Kozin, Boris Prozorovskij oder Paul Marcel Rusakov,2509 Massenlieder von Julij 2506 Angehörige russischer Nationalität stellten den Statistiken des GULAG zufolge eine klare Mehrheit unter den Häftlingen dar. Zemskov, »GULAG (istoriko-sociologicˇeskij aspekt)«, 1991, H. 6, S. 17, 26; H. 7, S. 8. 2507 Http://vip.latnet.lv/lpra/muziki.htm (letzter Zugriff am 2. Juni 2011). 2508 Zemskov, »GULAG (istoriko-sociologicˇeskij aspekt)«, 1991, H. 6, S. 23. 2509 Mark Botvinnik, der im Jahr 1938 im SˇpalÚrka-Gefängnis in Leningrad seine Untersuchungshaft verbüßte, erzählte in einem Interview nach der Perestroika, dass es in seiner Zelle eine Art Hymne gegeben hat, die von ihren Insassen gesungen wurde und zu welcher der dort zuvor inhaftierte Komponist Paul Marcel Rusakov die Musik geschrieben hatte. Man erzählte sich in der Zelle, dass Rusakov aus Paris stammte und deshalb wegen Spionage verurteilt worden war. Den Text der Gefängnishymne überliefert Natal’ja Larceva, wie Botvinnik ihn für sie 1989 gesungen hat. Die Tatsache, dass er sich an das Lied nach 50 Jahren noch erinnern konnte, zeigt, wie wichtig Musikausübung für die Häftlinge im Gefängnis sein konnte. Das Lied handelte von der Sehnsucht eines Häftlings nach seiner Liebe und nach einem Leben in Freiheit. Larceva, Teatr rasstreljannyj, 1998, S. 83 f. Paul Marcel Rusakov wurde 1908 in einer russischen Emigrantenfamilie in Marseille geboren. 1919 kehrte die Familie nach Russland zurück, weil sie aus Frankreich ausgesiedelt wurde. Rusakov absolvierte das Leningrader Konservatorium in den Fächern Klavier und Komposition und trat vor allem als Lied- und Tangokomponist hervor. Er vertonte unter anderem Gedichte von Sergej Esenin, Aleksandr Blok und Boris Pasternak. Von ihm stammt das berühmte Lied Druzˇba (Freundschaft), einer der größten Hits von Vadim Kozin (Hörbeispiel: http://www.russian-records.com/details.php?image_id=7976& l=russian [letzter Zugriff am 25. Januar 2013; hier ist der Komponist fälschlicherweise mit Sidorov angegeben]), welches in Russland bis heute populär ist und immer wieder neu interpretiert wird. Am 2. Juni 1937 wurde der Komponist verhaftet und zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Diese verbüßte er im Vjatlag im Gebiet Kirov und arbeitete dort am Theater. Er

614

Aderlass des sowjetischen Musiklebens: Versuch eines Überblicks

Chajt, geistliche Lieder von Al’bert Kesˇe, Jazz von Zinovij Binkin, David Gejgner, Eddie Rosner, Genrich Terpilovskij2510 oder Aleksandr Varlamov und sogenannte ernste Musik von Aleksandr Kenel’, Aleksandr Mosolov, Michail Nosyrev, Sergej Protopopov, Moisej Vajnberg, Aleksandr Veprik, Vsevolod Zaderackij und anderen. Das Alter der Komponisten bei der Verhaftung lag bei durchschnittlich 40 Jahren, es handelte sich also größtenteils um gestandene Künstler, die dem Musikleben entzogen wurden (s. Abbildung 88).

Abb. 88: Altersmäßige Verteilung der bislang recherchierten verhafteten Komponisten zum Zeitpunkt der Verhaftung, soweit bekannt.

Viele der verhafteten Komponisten hatten wichtige Positionen im Musikleben inne, z. B. leiteten sie Orchester (wie Zinovij Binkin, David Gejgner, Matvej Pavlov-Azancˇeev, Eddie Rosner, Aleksandr Varlamov), schrieben Schauspielmusiken für Theater (wie Aleksandr Kenel’ und Paul Marcel Rusakov), unterrichteten an Musikfachschulen (wie Pavel Val’dgardt) oder am Konservatorium (wie Ire¯na Bergmane, Je¯kabs Graubin¸sˇ und Nikolaj Zˇiljaev). Andere steckten noch mitten in einer vielversprechend begonnenen Ausbildung wie Georgij Kirkor2511 und Michail Nosyrev.2512 leitete eine »zentrale Kulturbrigade«, die sowohl vor Häftlingen als auch vor der Wachmannschaft auftrat. In den freien Stunden konnte er im Lager auch als Komponist tätig werden. Wegen guter Arbeitsergebnisse wurde seine Haftdauer um elf Monate verkürzt, sodass er im Januar 1947 freigelassen wurde. 1956 wurde er rehabilitiert und durfte auf ein Gesuch von Dmitrij Sˇostakovicˇ hin nach Leningrad zurückkehren. Hier arbeitete er als musikalischer Leiter und Dirigent im Zirkus. Larceva, Teatr rasstreljannyj, 1998, S. 154; http://www.requiem.spb.ru/list/person.php3?id=315& y=1 (letzter Zugriff am 24. Mai 2011); Ozˇegin, »Zagadocˇnyj Pol’ Marsel’«, 2001, S. 256 – 259. 2510 Über das Schicksal dieses bedeutenden Jazz-Komponisten und Mitbegründers des Jazz in der Sowjetunion erzählt Gladysˇev, Vladimir: Terpiliada. Zˇizn’ i tvorcˇestvo Genricha Terpilovskogo, 2008. 2511 Einen ersten Hinweis auf diesen Komponisten erhielt die Verfasserin aus der Monografie Jurij Elagins Die Zähmung der Künste in der russischen Übersetzung (Moskau, 2002), denn in der

Komponisten in Lagerhaft

615

Bis auf drei Fälle, in denen ein Gericht das Urteil fällte, und 42 Fälle, in denen das verurteilende Gremium unbekannt ist, sind die Komponisten von außergerichtlichen Gremien verurteilt worden, und zwar in den meisten Fällen von Sonderkollegien [osoboe sovesˇcˇanie] des OGPU bzw. des NKVD, was die Regel in der Geschichte der sowjetischen Repressionen darstellt. Die weitaus meisten Urteile, nämlich mindestens 38, wurden gemäß des berühmt-berüchtigten § 58 des Strafgesetzbuches der RSFSR bzw. des § 54 des Strafgesetzbuches der Ukrainischen SSR gefällt. In 30 Fällen ist die Begründung für die Verurteilung unbekannt, viermal wurde Homosexualität bestraft (nach § 19 – 154-a, § 152, § 154a und dem Beschluss des CIK SSSR vom 17. 12. 1933). Die Abbildung 89 zeigt die den Komponisten verkündeten Urteile, soweit sie bekannt sind. deutschen Ausgabe ist der Name mit Kirkow falsch wiedergegeben (Jelagin, Juri [1954], S. 116 u. 278). Elagin berichtet, dass Anfang 1937 eine Gruppe von Studenten des Moskauer Konservatoriums verhaftet wurde, hauptsächlich solchen, die Komposition studiert haben. Kirkor sei einer der begabtesten Kompositionsstudenten gewesen. Elagin, Ukrosˇcˇenie iskusstv, 2002, S. 106. 2512 Der bei der Verhaftung mit Abstand jüngste Komponist in der Tabelle war mit nur 19 Jahren Michail Nosyrev (*1924). Er studierte in seiner Heimatstadt Leningrad am Konservatorium, arbeitete als Solist des Leningrader Rundfunkorchesters und als Praktikant des Dirigenten am Leningrader Theater für Musikkomödie, als er 1943 verhaftet und gemäß § 58– 1a und § 58 –10 zum Tode verurteilt wurde. Zum Verhängnis wurde ihm ein Tagebuch mit »antisowjetischem Inhalt«, in dem der junge Mann seine Gedanken über das Sowjetsystem aufschrieb. Beispielsweise notierte er in den Jahren 1940/41, dass er in einer »Epoche der wilden Sklaverei« lebte, einer »unmenschlichen Unterdrückung«, eines »schrecklichen moralischen Verfalls im Volk und insbesondere in der Jugend«. Http://nosyrev.ru/articles (letzter Zugriff am 4. Juni 2011). Einen Monat nach der Verkündung des Urteils wurde dieses in zehn Jahre Lagerhaft und fünf Jahre Verbannung umgewandelt, welche der Komponist in voller Länge in Vorkuta im Norden Russlands verbüßt hat. Er hatte Glück, am Theater in Vorkuta tätig werden zu können, was zu seinem Überleben beigetragen hat. In den letzten Jahren der Lagerhaft war er jedoch im Sonderlager Nr. 6 Recˇlag mit besonders hartem Regime untergebracht. Doch auch dort hat er sich musikalisch fortbilden können: Ihm wurde erlaubt, mit Rimskij-Korsakovs Grundlagen der Instrumentation zu arbeiten. Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999. Die fünf Jahre Verbannung nach der Haft verlebte der Komponist in der Stadt Syktyvkar in der Republik Komi und dirigierte am dortigen Schauspielhaus. Danach zog er nach Voronezˇ, wo er bis zu seinem Lebensende blieb, und arbeitete dort als Dirigent des Opern- und Balletttheaters. 1967 wurde er auf Empfehlung Dmitrij Sˇostakovicˇs, der Nosyrev einen »zweifellos talentierten Komponisten« nannte, in den Komponistenverband aufgenommen. Zu seinen Kompositionen gehören vier Sinfonien, drei Konzerte (für Violine, Klavier und Cello), drei Streichquartette, drei Ballette und ca. 100 Kammermusikstücke. Rehabilitiert wurde Nosyrev erst sieben Jahre nach seinem Tod. Http://nosyrev.ru/biography (letzter Zugriff am 4. Juni 2011); Zettelkatalog von Memorial Sankt Petersburg; Kazarjan, Nate˙lla: »Simfonii Michaila Nosyreva – sud’ba licˇnosti, sud’ba pokolenija«, in: Muzykal’naja akademija, 2004, Nr. 3, S. 30– 35. Im letztgenannten Aufsatz beschreibt die Autorin vor allem die vier Sinfonien Nosyrevs, ausgehend von der These, dass sie sein Erleben der tragischen Ereignisse der Haft und Verbannung wiedergeben und ein musikalisches Zeugnis seiner Zeit darstellen. Einige Werke Nosyrevs sind auf Tonträger aufgenommen worden (http://nosyrev.ru/discography) und können fragmentarisch im Internet gehört werden (http://nosyrev.ru/tracks). An gleicher Stelle finden sich auch zahlreiche Fotografien des Komponisten (http://nosyrev.ru/photos).

616

Aderlass des sowjetischen Musiklebens: Versuch eines Überblicks

Abb. 89: Die den bislang recherchierten verhafteten Komponisten verkündeten Urteile, soweit bekannt.

Zehn der Komponisten sind zum Tod durch Erschießen verurteilt worden. Die meisten Todesurteile, nämlich acht, wurden in der zweiten Hälfte des Jahres 1937 und in der ersten Hälfte des Jahres 1938 gefällt und vollstreckt, als der Große Terror wütete. Während dieser Zeit sind mehr als 1,7 Millionen Menschen verhaftet und mindestens 725.000 von ihnen erschossen worden.2513 Das Todesurteil traf beispielsweise den ausgesprochenen Kenner Aleksandr Skrjabins Nikolaj Zˇiljaev, der Komposition bei Sergej Taneev und Michail Ippolitov-Ivanov studiert hatte und zum Zeitpunkt seiner Verhaftung zwar nicht als Komponist tätig war, aber eine Kompositionsklasse am Moskauer Konservatorium leitete. Zum Fallstrick wurde ihm seine Freundschaft mit dem Marschall Michail Tuchacˇevskij, der im Juni 1937 hingerichtet worden war.2514 Die von den Komponisten tatsächlich verbüßten Strafen zeigt die Abbildung 90.

2513 Http://lists.memo.ru/ (letzter Zugriff am 3. Juni 2011). 2514 Barsova, »Opfer stalinistischen Terrors: Nikolaj Zˇiljaev«, 2004, S. 149 – 157; Barsova, Inna (Hg.): Nikolaj Sergeevicˇ Zˇiljaev. Trudy, dni i gibel’, 2008.

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Abb. 90: Die tatsächlich von den bislang recherchierten verhafteten Komponisten erlittenen Strafen, soweit bekannt.

Alle gefällten und nicht revidierten Todesurteile sind vollstreckt worden. Mindestens fünf der Komponisten sind im Lager gestorben, mindestens zwei wurden dort erschossen. In 15 Fällen fehlen Angaben über die Dauer der tatsächlich verbüßten Haft. Mindestens 24 Komponisten waren zwischen fünf und mind. 15 Jahren inhaftiert, einige mussten nach der Lagerhaft jahrelang in Verbannung leben, z. B. Vladimir Mikosˇo, Michail Nosyrev, Aleksandr Rozanov und Aleksandr Varlamov. Einige kehrten nie mehr an ihren ursprünglichen Wohnort zurück, sondern verbrachten ihr Leben nach der Haft in Provinzstädten, so Sergej Kajdan-DÚsˇkin, Aleksandr Kenel’, Vladimir Mikosˇo, Michail Nosyrev und Leopol’d Teplickij. Allein diese erste Untersuchung, die sicherlich nur die Spitze des Eisbergs zu zeigen vermag, macht deutlich, wie groß die Verluste der sowjetischen Musikwelt durch die Verhaftung und Inhaftierung von Komponisten waren. Einige ausgewählte Schicksale sollen nun genauer betrachtet werden.

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Aderlass des sowjetischen Musiklebens: Versuch eines Überblicks

Zum Tode verurteilte Komponisten Maksim Benediktov war einer von elf nach der Untersuchungshaft erschossenen Komponisten.2515 Wie im Fall von Tigran Tarumov (vgl. Kapitel D), wurde auch sein Tod von Stalin eigenhändig sanktioniert, und zwar am 20. August 1937; weitere Unterzeichnende waren Vjacˇeslav Molotov, Kliment Vorosˇilov, Stanislav Kosior und Lazar’ Kaganovicˇ. Die Verurteilung erfolgte wegen angeblicher Spionage; das Todesurteil wurde am 25. August 1937 vollstreckt.2516 Das Schicksal des ebenfalls erschossenen Komponisten Michail Kvadri ist in Kapitel A.2.3 im Abschnitt »Die Anfänge des Musiklebens im Dmitlag« dargestellt worden. Es folgt eine Schilderung des Lebens und Todes von David Gejgner, da über ihn genügend Informationen für eine ausführliche Darstellung vorliegen.

David Gejgner (1898 – 1938) Der Komponist, Pianist und Dirigent David Gejgner stammte aus dem Gebiet Kiew.2517 Er war ein musikalisch hochbegabtes Kind, welches populäre Stücke nach Gehör auf dem Klavier spielte. Damit sicherte er schon in jungen Jahren den Familienunterhalt, indem er bei Feiern auftrat und Stummfilme begleitete. Während des russischen Bürgerkriegs war er in einer »Agitationsbrigade« der Roten Armee tätig und komponierte Musik für die Aufführungen der Blauen 2515 Benediktov war Mitglied des Komponistenverbands gewesen. Memorial Moskau: F. 1, op. 1, d. 399. Er kommt in den Erinnerungen des Sekretärs von Isadora Duncan Il’ja Sˇnejder vor, der darüber berichtet, dass Benediktov Anfang der 1920er-Jahre bei Duncan und Sergej Esenin verkehrte. RGALI: F. 1337, op. 4, ed. 43, l. 65, 67 f. Im Zettelkatalog der Musikabteilung der Russischen Staatsbibliothek sind zwölf Lieder für Singstimme mit Klavierbegleitung von ihm verzeichnet. Acht davon sind 1922 in der Reihe Romansy M. Benediktova (Kunstlieder M. Benediktovs) erschienen. Darin vertonte er Texte von Michail Gal’perin, Victor Hugo, SemÚn Nadson, Ivan Bunin, Walt Whitman, Jean Richepin sowie die Symbolisten Konstantin Bal’mont und Valerij Brjusov. Folgt man Sˇnejder, so handelte es sich bei dem Lied Bej, bej, baraban! (Schlag, schlag, Trommel!) um sein bekanntestes. Diesem lag das Gedicht Walt Whitmans Beat! Beat! Drums! zugrunde, welches auch von Paul Hindemith in den Drei Hymnen für Bariton und Klavier op. 14 (1919) sowie von Kurt Weill in den Four Walt Whitman Songs (1942 – 1947) vertont worden ist. 2516 Http://stalin.memo.ru/names/p37.htm (letzter Zugriff am 27. Juni 2009); http://stalin.memo.ru/spiski/tomi02.htm (letzter Zugriff am 11. April 2010); http://lists.memo.ru/ d4/f165.htm (letzter Zugriff am 28. Juli 2011). 2517 Die Darstellung fußt auf: Memorial Moskau: F. 1, op. 1, d. 1022 und Sˇcˇerbakova, Ljudmila: »Poterjannaja muzyka«, http://www.krugozormagazine.com/main/archive/2008/09/ Sherbakova-Musik.html (letzter Zugriff am 27. Juni 2009), gedruckt in: 30 oktjabrja, Nr. 761, S. 4. Für die hier abgedruckten Bilder sowie den ausführlichen Brief über ihren Vater vom Juni 2009 dankt die Verfasserin herzlich der Tochter David Gejgners, Elizaveta Davidovna Rivcˇun, sowie ihrem Sohn Boris Aleksandrovicˇ.

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Bluse (vgl. Kapitel A.2.1, Abschnitt »Professionelle Musiker«). 1926 nahm er das Angebot an, als Dirigent an das Theater für Russische Operette in Vladivostok zu kommen und zog mit diesem Theater 1928 nach Harbin in China um. 1933 ging Gejgner mit einem Teil der Truppe auf Tournee durch China und ließ sich schließlich in Shanghai nieder, wo er bis 1935 blieb. Dort verfasste der Komponist eine Vielzahl von Klavierliedern und Instrumentalstücken sowie das erfolgreich aufgeführte Ballett Maski goroda (Masken der Stadt).

Abb. 91: David Gejgner. Vladivostok, 1928. Privatarchiv Elizaveta Rivcˇun.

In Harbin wurden das von Gejgner gegründete Unterhaltungsorchester sowie er selbst als Begleiter am Klavier mehrfach von der Schallplattenfirma Columbia aufgenommen. Diesen Aufnahmen verdanken wir heute, dass sie uns einen Eindruck von Gejgners Arbeit vermitteln.2518 Es handelt sich dabei um Volkslieder und Foxtrotts, die Gejgner teilweise sehr virtuos und schwungvoll arrangiert hatte, wobei Einflüsse aus jüdischer Folklore und der Musik der Sinti und Roma erkennbar sind. Seiner jüdischen Herkunft fühlte sich Gejgner offenbar verbunden, denn er komponierte ein Stück auf der Grundlage des alten jüdischen Gebets Ejli, Ejli, lomo asavtoni (Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen), welches in Harbin verlegt wurde. Mehrere Stücke widmete 2518 Das Stück Evrejskij fokstrot (Jüdischer Foxtrott) von Mark Varsˇavskij, arrangiert von David Gejgner und in der Interpretation seines Orchesters, wurde von Columbia in Harbin aufgenommen und kann unter http://www.russian-records.com/details.php?image_id= 8811& l=russian angehört werden (letzter Zugriff am 17. Januar 2012).

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Aderlass des sowjetischen Musiklebens: Versuch eines Überblicks

Gejgner dem Sänger Aleksandr Karmelinskij,2519 welcher an der Harbiner Oper tätig war und erfolgreich als Liedsänger auftrat. Auch diese Stücke wurden in Harbin verlegt.

Abb. 92: David Gejgners Lied My slucˇajno s toboju sosˇlis’ (Wir sind uns zufällig begegnet) mit einem Foto von Aleksandr Karmelinskij auf dem Titelblatt. Privatarchiv Elizaveta Rivcˇun.

1935 kehrte Gejgner in die Sowjetunion zurück, weil sein Vater gestorben war und er seiner Familie über diesen Verlust hinweghelfen wollte. In Moskau gründete er ein Tango-Jazz-Orchester, welches mit einer Revue im Restaurant Metropol’ auftrat. Das Programm bestand aus zwei Teilen: Im ersten wurden Tangos, im zweiten Jazz-Stücke gespielt. Zusätzlich arbeitete Gejgner als Komponist und Dirigent des Sinfonieorchesters der Sojuzkinochronika (Unions-Filmchronik). Für das Leningrader 2519 Karmelinskij kehrte, wie viele Harbiner, in den 1930er-Jahren nach Russland zurück. Am 2. August 1937 wurde er in Gor’kij, wo er an der Oper sang, verhaftet und am 22. Dezember 1937 von einer Kommission des NKVD SSSR und des Staatsanwalts der UdSSR gemäß § 58 – 6 und § 58 – 11 zum Tode verurteilt. Am 27. Januar 1938 wurde das Urteil gegen ihn vollstreckt. Http://lists.memo.ru/d15/f290.htm (letzter Zugriff am 8. November 2010).

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Filmstudio Lenfil’m komponierte er, laut seiner Tochter, die Filmmusik zur Komödie Lenocˇka i vinograd (Lenocˇka und die Weintrauben) aus dem Jahr 1936 von Antonina Kudrjavceva. Später wurde sein Name im Nachspann, so wiederum die Tochter, durch den von Nikolaj Strel’nikov ersetzt. Gejgner wurde in den Moskauer Komponistenverband aufgenommen, er komponierte zahlreiche Lieder für damals erfolgreiche Sänger sowie Instrumentalmusik. Seine noch in Harbin komponierte Oper K tem beregam (Zu jenen Ufern) über die russische Emigration wurde vom Moskauer Operettentheater zur Aufführung angenommen.2520 Doch am 3. Dezember 1937 wurde seine erfolgreiche Laufbahn gewaltsam beendet: Gejgner wurde während einer Konzertpause im Metropol’ verhaftet. Deswegen kam seine Oper nicht mehr zur Aufführung. Am 3. Januar 1938 wurde sein Tod zusammen mit dem von 69 weiteren Moskauern von Andrej Zˇdanov, Vjacˇeslav Molotov, Lazar’ Kaganovicˇ und Kliment Vorosˇilov sanktioniert.2521 Begründet wurde seine Erschießung, die am 8. Januar 1938 vollstreckt wurde, damit, dass er angeblich ein Spion gewesen sei und einen Terrorakt vorbereitet habe. Aufnahmen und Noten Gejgners, die seine Familie besaß, sind während des Zweiten Weltkriegs verloren gegangen. Von seiner Hinrichtung erfuhr die Familie erst 19 Jahre später, als sie die Nachricht von seiner Rehabilitierung bekam. Auf dem Foto seines Tango-Jazz-Orchesters, welches kurze Zeit vor der Verhaftung entstanden ist, fällt die Schwärzung eines Gesichts auf. Nach der Auskunft der Tochter David Gejgners handelt es sich bei dem betroffenen Geiger um Miron Seleckij (zweite Reihe, dritter von rechts). Dieser wurde wenige Monate vor Gejgner, und zwar am 25. September 1937, verhaftet und für die angebliche Mitgliedschaft in einer konterrevolutionären terroristischen Spionageorganisation am 10. Dezember 1937 vom Kriegskollegium des Obersten Gerichts zum Tode verurteilt und erschossen.2522 Die Schwärzung von Gesichtern auf Fotografien war ein verbreitetes Phänomen in den Jahren des Terrors.2523 Damit versuchten Menschen, sich vor einer Verhaftung zu schützen, nachdem der auf dem Foto abgebildete Bekannte oder Verwandte verhaftet worden war. Oftmals haben solche Maßnahmen nichts genützt, wie das Beispiel David Gejgners bestätigt.

2520 Trotz mehrerer Versuche ist es der Tochter des Komponisten nicht gelungen, Notenmaterial zu dieser Oper aufzufinden. 2521 Http://stalin.memo.ru/names/index.htm (letzter Zugriff am 27. Juni 2009); http://lists. memo.ru/d8/f193.htm (letzter Zugriff am 8. November 2010). 2522 Http://lists.memo.ru/d29/f404.htm (letzter Zugriff am 8. November 2010). 2523 Davon legen zahlreiche Fotografien im Archiv von Memorial Moskau Zeugnis ab.

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Abb. 93: Tango-Jazz-Orchester unter der Leitung David Gejgners. Unten links David ˇ udnovskaja-Gejgner. Moskau, 1937, einen Gejgner, am Klavier seine Ehefrau Cecilija C Monat vor Gejgners Verhaftung. Privatarchiv Elizaveta Rivcˇun.

Das Schweigen um David Gejgner wurde erst siebzig Jahre nach seinem tragischen Tod gebrochen. Sergej Pestov, welcher passioniert Unterhaltungsmusik aus Russland und aus der russischen Emigration der 1910er- bis 1950er-Jahre sammelte, publizierte einen Artikel anlässlich des 110. Geburtstags des Komponisten. Ein Jahr darauf erschien sein Buch Golosa izdaleka (Stimmen aus der Ferne), in dem er unter anderem die Schicksale David Gejgners und Aleksandr Karmelinskijs behandelt.2524

Einzelne Schicksale von Komponisten, die eine Lagerhaft verbüßen mussten Taisija Sˇutenko (1905 – 1975) Den Namen Taisija Sˇutenkos erwähnt die Ballerina Ida Penzo in den Erinnerungen an ihre nahe Pot’ma in Mordwinien verbüßte Haft. Dort leitete die Ballerina, nachdem sie eine Zeit lang mit der Allgemeinheit der Häftlinge gearbeitet hatte, das dortige Lagertheater. Sie erinnerte sich im Jahr 1990 namentlich an folgende professionelle Musiker dieses Theaters: die Geigerin 2524 Pestov, Sergej: Golosa izdaleka, 2008.

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Klara Chudjakova,2525 die Sängerin Ol’ga Lebedeva, die das Moskauer Gnesin-Institut absolviert hatte, eine Solistin des Musiktheaters von Tiflis mit dem Vornamen Maro, den blinden Bajanisten Gromov, die Unterhaltungssängerin Antonina Mel’nikova sowie die Sängerin Raisa Rojtman. Von Taisija Sˇutenko überliefert Ida Penzo, dass sie im Lager eine Sinfonie geschrieben und diese nach Moskau geschickt hatte; eine Antwort darauf hat sie jedoch nicht erhalten.2526 Nachforschungen über sie haben Folgendes ans Licht gebracht: Taisija Sˇutenko wurde 1905 in Char’kov in der Ukraine geboren und studierte von 1934 bis 1937 Komposition bei Nikolaj Mjaskovskij am Moskauer Konservatorium. Im Nachschlagewerk von Grigorij Bernandt und Aleksandr Dolzˇanskij aus der Sowjetzeit werden in ihrer Biografie die Jahre von 1937 bis 1945 ausgeblendet.2527 Wie in neueren Nachschlagewerken angegeben wird, wurde sie als »Angehörige eines Vaterlandsverräters« verurteilt und war von 1937 bis 1944 im Lager inhaftiert.2528 Ab 1945 unterrichtete sie an einer Musikschule in der Kleinstadt Novocˇerkassk im Gebiet Rostov, ab 1956 in Kiew, wo sie 1975 starb.2529 Nachschlagewerke aus der Periode des politischen Tauwetters verzeichnen unter ihren Werken nur eine Sinfonie. Diese wurde 1936/37 komponiert und trug den Titel Karmeljuk; der Entstehungsort des Stückes wird nicht genannt. Es ist möglich, dass es sich bei diesem Werk um die von Ida Penzo gemeinte Sinfonie handelt. Bei Karmeljuk handelte es sich um einen ukrainischen Freiheits2525 Im Martyrologium der Zeitschrift Teatral’naja zˇizn’ von 1990 sind Angaben zu dieser Geigerin zu finden: Sie wurde 1901 geboren und arbeitete im Orchester des Bol’sˇojTheaters. 1938 wurde sie als »Familienangehörige eines Vaterlandsverräters« zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt. Freigelassen wurde sie 1943 nach einer schweren Operation dank eines Arztes, der ihr eine falsche Diagnose bescheinigt hatte. Teatral’naja zˇizn’, 1990, Nr. 3, S. 33. Die Unterlagen des Bol’sˇoj-Theaters verzeichnen den 20. Dezember 1937 als Datum ihrer Verhaftung. RGALI: F. 648 (GABT), op. 8, ed. 53, l. 2. Die Geigerin starb im Jahr 1973. 2526 Bernsˇtejn, A.: »Muzy i ternii«, in: Muzykal’naja zˇizn’, 1990, Nr. 17, S. 27. Die von Bernsˇtejn festgehaltenen Erinnerungen von Ida Penzo sind sehr lesenswert, weil sie ein außergewöhnliches Schicksal schildern, welches von der fortschrittlichen Künstlerszene der 1920er-Jahre über die Lagerhaft bis zum Reichstag in Berlin als Mitglied der siegreichen sowjetischen Armee und schließlich zu einer zweiten Verhaftung und Gefängnishaft bis nach Stalins Tod führte. In den 1920er-Jahren tanzte Penzo am Bol’sˇoj-Theater und verkehrte mit Isadora Duncan und Sergej Esenin. Sie spielte auch in einigen Filmen mit, darunter die kleine Rolle der Kurtisane in Novyj Vavilon (Das neue Babylon) von Grigorij Kozincev und Leonid Trauberg (1929), und hatte freundschaftlichen Umgang mit vielen Größen des sowjetischen Films, da sie mit dem Kameramann Vladimir Nil’sen (VesÚlye rebjata [Die lustigen Burschen, 1934], Cirk [Der Zirkus, 1936], Volga-Volga [1938]) verheiratet war. Im November 1937 wurde sie, nachdem ihr Mann verhaftet worden war, als »Familienangehörige eines Vaterlandsverräters« verhaftet und zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt. 2527 Bernandt/Dolzˇanskij, Sovetskie kompozitory, 1957, S. 672 f. 2528 Mucha, Anton: Kompozitori Ukrani ta ukrans’ko diaspori, 2004, S. 334. 2529 Bernandt/Dolzˇanskij, Sovetskie kompozitory, 1957, S. 672 f.

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kämpfer aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der mehrmals verurteilt und nach Sibirien verbannt wurde, jedoch immer wieder fliehen konnte. Es gibt mehrere Volkslieder und Legenden über ihn. Die Bezeichnung einer im Lager komponierten Sinfonie mit seinem Namen kann als subversiver Akt gewertet werden.2530 Außer dieser Sinfonie komponierte Taisija Sˇutenko während der Lagerhaft Chorwerke, Lieder (sowohl mit Klavierbegleitung als auch mit Begleitung eines Estrade-Orchesters), Bühnenmusik2531 und bearbeitete Volkslieder für Chor und Klavier.2532 Im Katalog der Notenabteilung der Russischen Staatsbibliothek in Moskau sind rund 50 Ausgaben von Sˇutenkos Stücken verzeichnet. Einige davon, darunter Lieder für Kinder, das Klavierlied My proletarki (Wir Proletarierinnen), ein Kindertanz für Klavier vierhändig sowie das Lied Kolchoznaja (KolchoseLied) für Chor und Blasorchester, sind in der ersten Hälfte der 1930er-Jahre erschienen. Nach der Haft hatte die Komponistin offensichtlich erst in der Zeit des politischen Tauwetters wieder die Möglichkeit, ihre Stücke zu publizieren: Dies waren Tanzstücke für Balalaika und Klavier im Jahr 1958. Sie veröffentlichte des Weiteren viele Chorlieder, Klavierstücke für Kinder und Stücke für Volksinstrumente wie Balalaika und Bandura. Im RGALI werden Briefe Sˇutenkos an den Komponisten Vadim Kocˇetov (1898 – 1951) aus den Jahren 1947 bis 1951 aufbewahrt.2533 Diese vermitteln einen Eindruck davon, wie schwierig der Einstieg ins »normale Leben« für ehemalige Häftlinge war. Aus einer Postkarte vom 17. Juli 1947 geht hervor, dass die Komponistin in der Stadt Novocˇerkassk im Gebiet Rostov wohnte, eine schwere Krankheit hinter sich hatte und unter Geldnöten litt. Ein Jahr später teilte sie mit, dass ihr Sohn Kim an der Musikfachschule in Rostov angenommen worden war und sie Geld für seine Ausbildung aufzubringen hatte. Daraus kann entnommen werden, dass sie alleinerziehend war. Ende 1948 beklagte sich die Komponistin darüber, dass sie schöpferisch tätig sein wollte, anstatt dessen aber sehr viel unterrichten musste, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Sie lehrte Bajan, Akkordeon, Chorgesang und elementare Musiktheorie an der Musikschule. Im Instrumentalunterricht hatte sie 37 Schüler zu betreuen und musste sechs Tage die Woche von 8 bis 20 Uhr arbeiten. Und doch reichte ihr Verdienst nicht aus, sodass sie in den Abendstunden noch anderweitig arbeiten musste. Da sie kein Mitglied des Kompo2530 Es lässt sich derzeit nichts Näheres über die Sinfonie aussagen, weil die Suche nach ihrem Notentext bislang erfolglos geblieben ist. 2531 Es ist bemerkenswert, dass bei den Bühnenmusiken ihr tatsächlicher Entstehungsort, die Mordwinische ASSR, angegeben ist. 2532 Bernandt/Dolzˇanskij, Sovetskie kompozitory, 1957, S. 672 f. Alle genannten Stücke waren für die vorliegende Untersuchung nicht auffindbar. 2533 RGALI: F. 2037 (Kocˇetovy), op. 4, d. 131.

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nistenverbands war, konnte sie keine Hilfe von dort erwarten und hatte auf diese Weise nur 1,5 Stunden in der Woche Zeit, um als Komponistin tätig zu werden. Sie schaffte es jedoch, in nächtlicher Arbeit eine Skizze zu einem sinfonischen Werk mit Chor und Solist fertigzustellen, war sich aber nicht sicher, ob ihre Arbeit einen Sinn hatte, da sie glaubte, die Verbindung zum schöpferischen Leben verloren zu haben. Sie wollte eine Antwort auf die Frage bekommen, ob ihre Arbeit als Komponistin gebraucht wurde. Trotz der jahrelangen Lagerhaft blieb die Komponistin an den Ideen des Sozialismus interessiert: Sie besuchte ab 1949 die Abenduniversität des Marxismus-Leninismus und schrieb Komsomol-Lieder. Sie hat sich aber auch Kritikfähigkeit bewahrt, denn sie nannte den im Jahr 1948 begonnenen Kampf gegen den sogenannten Formalismus in der Musikwelt einen »ideologischen Krieg« und verglich ihn mit der Kollektivierung der Landwirtschaft Ende der 1920er-, Anfang der 1930er-Jahre. In einem Brief Ende 1949 schrieb die Komponistin, dass sie mehrere BajanEnsembles leitete und für sie Stücke bearbeitete. Es sei ihr durch Gespräche mit den Eltern der Schüler gelungen zu erreichen, dass die meisten Kinder von Akkordeon auf Bajan umgestiegen waren.2534 Auch hatte sie ein »gemischtes Ensemble« mit Bajans, vier Pianisten, Geigen, Celli und einem Chor ins Leben gerufen und dafür die »musikalische Byline« Slavnyj put’ (Der ruhmreiche Weg) mit Liedern sowjetischer Komponisten verfasst. Gleichzeitig beklagte sie ihre Lebensumstände, da ihre Mutter krank war. Sˇutenko war erschöpft und träumte von »wirklich großer Arbeit«. Slavnyj put’ wurde im Februar 1950 zum 32. Jahrestag der Sowjetarmee uraufgeführt. Die Komponistin war glücklich darüber, weil das Stück zum Teil ihre eigene Musik enthielt, und zwar in den Übergängen zwischen den Liedern. Es war vollständig von ihr harmonisiert und orchestriert worden, denn die Vorlagen waren einstimmig. Auch war sie es, die das Stück mit dem Orchester eingeübt und bei der Aufführung dirigiert hatte. Sie freute sich sehr darüber, so schrieb sie, dass sie »noch so klingen konnte«.2535 Wie das weitere Leben Sˇutenkos verlief, müsste recherchiert werden. Ziel dieses Einblicks war zu zeigen, dass ihre Karriere als Komponistin durch die Haft und die erschwerte Rückkehr zum »normalen Leben« stark beeinträchtigt wurde. 2534 Vermutlich sah die Komponistin es als einen Vorteil an, dass die damaligen Bajan-Modelle durch die Registerlosigkeit im Ensemble-Spiel eine sauberere Intonation als Akkordeons erreichen konnten. 2535 An dieser Stelle erwähnt sie, dass Stoljarov ihr 1937 Fähigkeiten zum Dirigieren bescheinigt hatte. Gemeint ist vermutlich der Dirigent Grigorij Stoljarov, welcher von 1934 bis 1943 Professor am Moskauer Konservatorium gewesen war. RGALI: F. 2037 (Kocˇetovy), op. 4, d. 131, l. 15ob.

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Matvej Pavlov-Azancˇeev (1888 – 1963) Ein weiteres Schicksal, welches demonstriert, dass eine Komponistenkarriere durch die Lagerhaft stark negativ beeinflusst wurde, ist das von Matvej PavlovAzancˇeev. Matvej Pavlov, der seinen Nachnamen um das Pseudonym Azancˇeev erweiterte, war ein am Moskauer Konservatorium in den Jahren 1904 bis 1907 ausgebildeter Violoncellist, Dirigent und Komponist.2536 Als Kind lernte er im Selbststudium Gitarre zu spielen und propagierte dieses Instrument nach dem Studium durch Konzerte, Vorträge, seine Unterrichtstätigkeit sowie eigene Kompositionen, die er seit spätestens Mitte der 1920er-Jahre verfasste. 1941 wurde er auf eine Denunziation hin in ein Zwangsarbeitslager interniert und musste dort bis 1951 einsitzen. Er hatte im Lager jedoch die Gelegenheit zu komponieren und schrieb unter anderem die Sonate Velikaja Otecˇestvennaja Vojna (Der große vaterländische Krieg).2537 Zu Lebzeiten des Komponisten wurden seine Werke nicht veröffentlicht. Nach seinem Tod sind in den Jahren 1968 bis 1976 97 Originalkompositionen und ca. 600 Bearbeitungen von Pavlovs Bekanntem Vladislav Musatov in einem Archiv gesammelt worden. Im Jahr 1986 schenkte er dieses dem Glinka-Archiv in Moskau. Als erste Interpretin spielte Anastasija Bardina Pavlovs Stücke; ihr folgte Oleg Timofeyev, ein in den USA lebender russischer Emigrant, der Pavlov auch im Ausland bekannt gemacht hat. Aus der Lagerzeit des Komponisten sind einige Briefe erhalten geblieben, die Vladimir Markusˇevicˇ veröffentlicht hat. Aus einem Brief vom 28. August 1946 geht hervor, dass Pavlov in Krasnodar inhaftiert war und seine Tage als gezählt betrachtete. Er fühlte sich mit 58 Jahren bereits als alter Mann. Seine Notenbibliothek, so schrieb er, war bei der Verhaftung konfisziert worden. Er bat seinen Adressaten lediglich um einen Satz Gitarrensaiten sowie um Notenpapier, weil »in seinem Kopf viel Musik geistert[e]«. Des Weiteren teilte er mit, dass er gemäß § 58 – 10, Teil 2 verurteilt worden war, wegen »senilem Geschwätz«, wie er es ausdrückte. Aus diesem Brief geht hervor, dass der Gitarrist die Möglichkeit hatte, seine Kompositionen aus dem Lager an befreundete Adressaten in Freiheit zu senden. Dieser Umstand und der Inhalt der Briefe zeigen, dass Pavlov in einem Lager mit 2536 Die hier referierten Informationen sind entnommen aus: Markusˇevicˇ, Vladimir: »Matvej Stepanovicˇ Pavlov-Azancˇeev«, in: Gitaristy i kompozitory. Http://abc-guitar.narod.ru/ pages/pavlov_azancheev.htm (letzter Zugriff am 16. Juli 2009). Ein Foto von ihm sowie von einem seiner Manuskripte ist zu sehen auf: http://freeweb.dnet.it/timofeyev/gulag.html (letzter Zugriff am 4. Juni 2011). 2537 Genauer dazu in einem Artikel von Oleg Timofeyev, der im Tagungsband zum Symposium Composers in the Gulag (Göttingen, 16.–19. Juni 2010) erscheinen wird. Eine Aufnahme der Sonate ist erschienen auf: Matvei Pavlov-Azancheev : Acrobatic dance. Music from the Gulag, Interpret: Oleg Timofeyev, Hänssler 098.458.000, 2004.

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weniger strengem Regime inhaftiert war, als es beispielsweise in den Lagern auf der Kolyma herrschte. Dementsprechend hieß es nicht »Besserungsarbeitslager«, sondern »Besserungsarbeitskolonie«. Wie es aber möglich war, mit einer Verurteilung gemäß § 58 und einer Haftdauer von zehn Jahren in einer solchen Kolonie untergebracht zu werden, erschließt sich aus den vorliegenden Quellen nicht. Denn nach der Verordnung des Rats der Volkskommissare »Von der Ausnutzung der Häftlingsarbeit« vom 11. Juli 1929 und der Verordnung des Rats der Volkskommissare »Von den Besserungsarbeitslagern« vom 7. April 1930 sollten Häftlinge, die zu mehr als drei Jahren Haft verurteilt waren, ihre Strafe in Lagern und nicht in Kolonien verbüßen. Häftlinge, die durch außergerichtliche Gremien verurteilt worden waren, sollten ihre Haft generell in Lagern verbüßen.2538 In weiteren Briefen, die Markusˇevicˇ veröffentlicht hat, ist dokumentiert, dass zwei Gitarristen sich abgesprochen hatten, sowohl Pavlov als auch seiner Frau, die sich ebenfalls in Lagerhaft befand, Pakete zu schicken, um sie zu unterstützen; andere aber distanzierten sich von ihnen. Im September 1947 beklagte der Komponist verzweifelt, dass er den Brief, den er an seine Frau geschrieben hatte, zurück erhalten hat; er machte sich Gedanken darüber, ob sie noch lebte. Auch hatte sich seine Sehkraft stark verschlechtert. Aus einem weiteren Brief geht hervor, dass die Situation der quälenden Ungewissheit sich nach einem Jahr immer noch nicht verändert hatte. Pavlovs Frau gelang es aber trotz seiner Befürchtungen, die Lagerhaft zu überleben. Nach der Freilassung aus dem Lager hatte Pavlov mit finanziellen Sorgen zu kämpfen. Aus einem Brief seiner Schülerin L. Korpusova vom 1. Dezember 1966, welcher sich ebenfalls im Archiv von Markusˇevicˇ befindet, geht hervor, dass der Gitarrist im Jahr 1960 am Theater arbeitete und hinter der Bühne spielte, während auf der Bühne die Interpretation desselben Stückes gemimt wurde. Nach dem Tod seiner Frau beging er einen Selbstmordversuch, indem er sich einschloss und sein Zimmer in Brand setzte. Die letzten Monate seines Lebens verbrachte er in einem Altenheim. Aleksandr Varlamov (1904 – 1990) Aleksandr Vladimirovicˇ Varlamov war ein Urgroßenkel des Komponisten und Vertreters des russischen städtischen Liedes (bytovoj romans) Aleksandr Egorovicˇ Varlamov (1801 – 1848), der die erste russische Gesangsschule verfasste. Varlamov junior hatte als Kind eine Musikausbildung erhalten, studierte aber zunächst Schauspiel am Moskauer Staatlichen Institut für Theaterkunst (GITIS). Hier fand am 1. Oktober 1922 das erste Jazz-Konzert der Sowjetunion statt, 2538 Rossi, Spravocˇnik po GULAGu, 1991, Bd. 1, S. 160.

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welches von Valentin Parnach organisiert wurde. Varlamov war anwesend und beschloss im Nachhinein, sich dem Jazz zu widmen. Er brach das Schauspielstudium ab und studierte Komposition bei Rejngol’d Glie˙r, Michail Gnesin und Dmitrij Rogal’-Levickij am Gnesin-Institut in Moskau. Nach dem Ende seines Studiums im Jahr 1929 begann Varlamov mit der Gründung einer eigenen Jazz-Band, was fünf Jahre dauerte. Seine Vorbilder waren Louis Armstrong mit Hot Five und Hot Seven sowie Duke Ellington. Seit 1934 trat Varlamov mit einem eigenen Ensemble auf, und seit 1937 war er Mitglied einer russischen Hot Seven – Gorjacˇaja semÚrka, die sehr erfolgreich war. In den Jahren 1938 bis 1940 leitete er das Orchester des Allunionsrundfunkkomitees, seit 1940 das Staatliche Jazz-Orchester der UdSSR und nach Ausbruch des Krieges das Allunionsstudio für Estrade-Kunst.2539 Sein Foxtrott Uchodit vecˇer (Der Abend geht) war vor dem Krieg eines der populärsten Stücke in der Sowjetunion;2540 außer Jazz komponierte er auch Filmmusik.2541 Im Januar 1943 probte Varlamov mit einem Orchester, als plötzlich, so erzählte er über 50 Jahre später, mitten in der Pause das Licht erlosch. Nachdem es wieder angegangen war, haben die Musiker gesehen, dass Varlamov verschwunden war. Über die Zeit danach berichtete der Komponist im Jahr 1989 der Journalistin Nina Zavadskaja2542 und ein Jahr darauf einer Mitarbeiterin von Memorial Moskau,2543 wobei er die dreizehn Jahre der Untersuchungs- und Lagerhaft sowie der anschließenden Verbannung als »still gestandene Zeit« bezeichnete.2544 In Untersuchungshaft haben die Untersuchungsführer planmäßig versucht, seine Persönlichkeit zu zerstören, so Varlamov. In der Lubjanka wurde er mit gleißendem Licht geblendet, geschlagen, wobei er die Zähne verlor, im Gefängnis Lefortovo wurde er gefoltert. Dort gab es eine Presse, in die der Gefangene gestellt und die so lange angezogen wurde, bis die Knochen zu knirschen begannen. Oder man sperrte ihn in eine kleine Steinkammer, die abwechselnd eiskalt oder sehr heiß wurde. Vorgeworfen wurde ihm, dass er die Heimat verraten wollte. Die Ursache für diesen Vorwurf war, wie Varlamov später erfuhr, die Denunziation eines Cellisten, der in seinem damaligen Ensemble spielte. Nach sechsmonatiger Gefängnishaft wurde der Komponist gemäß § 58 zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt und ins Ivdel’lag im Ural transportiert, wo auch der Sänger Dmitrij Golovin einsaß (vgl. Kapitel D). Aus dem Komponistenver2539 Volyncev, Arnol’d: »Aleksandr Varlamov«, in: Dzˇazovye portrety, 1999, S. 19 – 21. 2540 Hörbeispiel: http://www.russian-records.com/details.php?image_id=14898& l=russian (letzter Zugriff am 17. Januar 2012). 2541 Zavadskaja, »Ostanovlennoe vremja«, 1989, S. 26. 2542 Zavadskaja, »Ostanovlennoe vremja«, 1989, S. 26 – 28. 2543 Memorial Moskau: F. 1, op. 1, d. 704. 2544 Zavadskaja, »Ostanovlennoe vremja«, 1989, S. 26.

Komponisten in Lagerhaft

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band, in dem Varlamov seit 1940 Mitglied war, wurde er nach der Verurteilung ausgeschlossen. Im Lager wurde er zunächst beim Holzschlagen eingesetzt. 1944 ließ dann der Lagerleiter Ivan Dolgich Varlamov antreten und beauftragte ihn mit der Gründung eines Lagerorchesters. Der Jazzman weigerte sich zunächst, weil er sich keine Musik im Lager vorstellen konnte. Schließlich ließ er sich überreden, denn Dolgich versprach, dass das Orchester auch für Häftlinge spielen würde. Im Nachhinein sagte Varlamov, dass das Orchester ihn wahrscheinlich gerettet hat, weil er dadurch wieder zum Leben erwacht war. Den Violoncellisten Michail Gessel’ (vgl. Kapitel D) hat die Aufnahme ins Orchester, so Varlamov, vor dem Tod gerettet, weil er davor bereits so weit gewesen war, dass er vor Hunger Abfälle gegessen hatte. Auch Dmitrij Golovin wurde zum Orchester abkommandiert, obwohl er sich lange geweigert haben soll, im Lager zu singen. Das Orchester spielte Opernarien, sowjetische Lieder, russische städtische Lieder des 19. Jahrhunderts, darunter solche, die von Varlamovs Urgroßvater komponiert worden waren, sowie Jazz-Stücke, und zwar »echte«, wie Varlamov im Nachhinein betonte.2545 Konzerte für Häftlinge fanden auf einer kleinen Bühne in der Essbaracke statt, und das Orchester tourte durch alle neun Lagerpunkte des Ivdel’lag. Über 50 Jahre später, im Jahr 1989, kam während der »Woche des Gewissens«2546 eine ergraute Frau auf Varlamov zu, die im selben Lager inhaftiert war, und bedankte sich für die Freude, die das Orchester den Gefangenen gemacht hatte. Sie nannte seine Auftritte ein Ventil für die Häftlinge. 1948 wurde das Lagerorchester infolge des Parteierlasses vom 10. Februar Über die Oper »Die große Freundschaft« von V. Muradeli aufgelöst. Inzwischen hatte auch der Lagerleiter des Ivdel’lag gewechselt, und Varlamov musste wieder drei Jahre lang mit der Allgemeinheit der Häftlinge Holz fällen und abflößen. Nach der Lagerhaft wurde der Komponist in eine lebenslange Verbannung nach Kasachstan geschickt. In einer Kleinstadt wurde er als Pianist im Kindergarten angestellt. Vor dem ersten Arbeitstag dort hatte er Angst, denn er hatte lange nicht mehr gespielt und befürchtete, dass seine Finger ihre Geschmeidigkeit verloren hätten. Nach einiger Zeit gelang es ihm, in die Stadt Karaganda überzusiedeln, wo er in der Musikschule und später auch in der Musikfachschule 2545 Mit der Betonung auf »echt« wollte sich Varlamov möglicherweise von Musikformen distanzieren, welche das Etikett »Jazz« für sich beanspruchten, aber in Wirklichkeit nicht dazu gerechnet werden konnten. In den 1930er- und 1940er-Jahren gab es in der Sowjetunion eine große Menge von Orchestern, die den Namen Jazz-Orchester trugen, ohne das eigentliche Jazz-Repertoire zu spielen. Lücke, Jazz im Totalitarismus, 2004, S. 148 – 151. 2546 Im Jahr 1989 fand in Moskau die Woche des Gewissens [Nedelja sovesti] zum Gedenken an die Opfer des Stalinismus statt, die von der Zeitschrift OgonÚk organisiert wurde und von vielen Künstlerverbänden und Organisationen unterstützt wurde. Skubin, Vitalij: »›Ja kljanus’: dusˇa moja cˇista‹«, in: Muzykal’naja zˇizn’, 1989, Nr. 4, S. 4 f.

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Theorie und Musikgeschichte unterrichtete. Zusätzlich arbeitete er am Theater in Karaganda, komponierte Bühnenmusik und dirigierte. Nach Stalins Tod änderte sich für den Komponisten zunächst nichts. Es vergingen drei weitere Jahre, bevor er mit der Karagandinsker Philharmonie nach Novosibirsk reiste. Dort übergab man ihm im NKVD einen Brief mit der Bescheinigung über seine Rehabilitierung. Er fuhr sofort nach Moskau, wo seine Braut lebte, die all die Jahre auf ihn gewartet hatte. Varlamovs Mitgliedschaft im Komponistenverband wurde wiederhergestellt und er begann, Musik für Zeichentrickfilme zu schreiben. Seine Wohnsituation war jedoch zunächst nicht zufriedenstellend, und er spürte ein Misstrauen aufseiten ehemaliger Kollegen. In den letzten elf Jahren seines Lebens war der Komponist so gut wie blind. Trotzdem komponierte er weiterhin, und seine Frau notierte die Stücke. Auf diese Weise entstand beispielsweise im Jahr 1987 die Rhapsodie Moja zˇizn’ (Mein Leben), die im letzten Teil ein tragisches Requiem enthält, jedoch mit einem Triumph des Positiven endet. Eine Analyse dieses Stückes würde an dieser Stelle über die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit hinausführen. Die Verarbeitung der Gulag-Geschichte in Musikstücken stellt ein eigenes großes und sicherlich lohnendes Thema dar.

Ausblick auf die Zeit nach der Haft Nach der Entlassung aus der Haft wussten viele Häftlinge zunächst nicht, wohin sie gehen sollten; sie fühlten sich verloren. Zinaida LichacˇÚva wollte sogar bei der Miliz übernachten, denn sie kam sich vor, als ob sie mitten »auf einem kahlen Feld aus dem Zug gesetzt« worden sei. Sie hat Kälte und Gleichgültigkeit um sich herum gespürt.2547 Nicht anders wird es auch den professionellen Musikern nach der Haft ergangen sein. Die meisten von ihnen mussten nach der Freilassung zumindest in der Anfangszeit in der Provinz leben bleiben.2548 Ein Teil der 2547 LichacˇÚva, »Detal’ monumenta«, 1988, S. 78. 2548 Ein weiteres Beispiel dafür, mit welch großen Schwierigkeiten die Rückkehr der Häftlinge ins zivile Leben verbunden war, bietet das Schicksal der Sängerin Valentina Isˇcˇenko. 1941 hat sie ihr drittes Studienjahr am Konservatorium in Kiew absolviert. Kurz danach geriet sie in deutsche Gefangenschaft und wurde nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion am Ende des Krieges zu sechs Jahren Lagerhaft verurteilt. Sie arbeitete während der Haft zunächst am Theater von Vorkuta, wurde dann aber zu allgemeinen Arbeiten versetzt, weil sie sich weigerte zu denunzieren. Nach der Freilassung im Jahr 1952 wurde die Sängerin zunächst am Theater angestellt, jedoch nach weniger als zwei Monaten wegen ihrer Häftlingsvergangenheit entlassen. Zwei Jahre lang arbeitete sie in der Telefonzentrale eines Fahrdienstes. 1955 zog sie nach Syktyvkar um und trug dazu bei, dass dort 1958 ein Musik- und Schauspieltheater eröffnet werden konnte, an welchem viele ehemalige Häftlinge tätig waren und wo Isˇcˇenko bis zu ihrer Pensionierung arbeitete. Klejn/Popov, »Zapoljarnaja drama…«, 1999.

Ausblick auf die Zeit nach der Haft

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Künstler, die während der Haft nicht als solche tätig sein konnten, hatte seine Fähigkeiten teilweise eingebüßt oder fühlte sich durch negative Erlebnisse unfähig dazu, wieder künstlerisch tätig zu werden.2549 Es ist nicht verwunderlich, dass I. Gribanova, eine Mitarbeiterin im Kultursektor der Stadt Ust’-Omcˇug auf der Kolyma, im Jahr 1994 zu der, wie sie selbst zugab, paradoxen Feststellung gelangte: Dem Gulag sei es zu verdanken, dass das kulturelle Leben in Ust’-Omcˇug in den 1940er- und 1950er-Jahren pulsierte. Viele Angehörige der Intelligenz konnten nach ihrer Lagerhaft nicht sofort in ihre Heimat zurückkehren und mussten auf der Kolyma bleiben. In dieser Zeit haben sich viele von ihnen am dortigen Kulturleben beteiligt. Auch haben sie, obwohl sie keine Lehrerausbildung hatten, vielfach in der Schule unterrichtet.2550 Die Begeisterung Gribanovas für das vergangene Kulturleben der in den 1990ern aussterbenden Stadt ist gut nachvollziehbar : Als die prominentesten dort Anfang der 1950er-Jahre tätigen Persönlichkeiten sind Leonid Varpachovskij und Aleksandr Dzygar zu nennen (vgl. Kapitel B.2). Auch die deutsche Musikerin Gertrude Richter unterrichtete in Ust’-Omcˇug von 1950 bis 1953 an der Abendschule, hat mit Kindern gearbeitet und Klavier im Klubhaus der Ortschaft gespielt.2551 Wie am Beispiel Aleksandr Kenel’s und Heino Narvas bereits gezeigt (vgl. Kapitel A.2.1 und B.2, Abschnitt über Leonid Varpachovskij), zog die Musikkultur indigener Völker die Aufmerksamkeit einiger ehemaliger Häftlinge auf sich. Auch Vladimir Mikosˇo und Leopol’d Teplickij gehören zu den Komponisten, die sich mit der Musik indigener Völker beschäftigten, die in der Gegend wohnten, in der diese Komponisten inhaftiert gewesen waren. Durch den großen Aderlass, welcher dem sowjetischen Musikleben durch die Verhaftung, Erschießung und Inhaftierung zahlreicher Musiker und Komponisten zugefügt wurde, sind Musikzweige, in denen sie gewirkt haben, geschwächt worden. Ein streng organisiertes Ausbildungssystem für Musiker konnte die meisten Lücken zwar immer wieder schließen,2552 es wird jedoch 2549 LichacˇÚva, »Detal’ monumenta«, 1988, S. 130. 2550 Gribanova, I.: »Kraj muzˇestva, kraj vdochnoven’ja…«, in: Ten’ka, 10. September 1994, S. 2. 2551 Gribanova, I.: »Sochranim zˇe o nich pamjat’!«, in: Ten’ka, 26. November 1994, S. 3; Richter, Totgesagt. Erinnerungen, 1990. 2552 Dass nicht alle Lücken geschlossen werden konnten, geht aus einem Beispiel von Jurij Elagin hervor, in dem er berichtet, dass das Künstlertheater in Moskau in den 1930erJahren einen Glöckner für eine Aufführung gesucht hat. In Moskau konnte keiner gefunden werden, er fand sich aber in einem Lager, und zwar war es der ehemalige Glöckner des Glockenturms »Iwan der Große« des Moskauer Kremls. Dieser sei unverzüglich freigelassen worden und habe an der Aufführung mitgewirkt. Elagin, Ukrosˇcˇenie iskusstv, 2002, S. 45. Es hätte aber auch passieren können, dass der Glöckner bis zu diesem Zeitpunkt schon im Lager gestorben wäre.

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unergründbar bleiben, wie sich das Musikleben in der Sowjetunion ohne diese großen Verluste entwickelt hätte. Angesichts der großen Opferzahl, die noch lange nicht abschließend genannt werden kann, ist es wichtig, dieser Musiker bei der Musikgeschichtsschreibung zu gedenken, um die »ungeschehene Geschichte« ein Stück weit greifbar werden zu lassen. Diese Forderung kommt auch in einem Zitat aus dem 1988 verfassten Vorwort von Mstislav Rostropovicˇ zu Jurij Elagins russischer Ausgabe der Monografie Die Zähmung der Künste zum Ausdruck: Unsere Geschichte wurde so lange, so beharrlich und so unbarmherzig falsifiziert, dass die Anstrengung von mehreren Tausend Menschen nötig sein wird, um die Wahrheit wiederherzustellen. Einschließlich der Wahrheit über die Geschichte unserer Kunst.2553

In diesem Sinne möchte die vorliegende Arbeit als Anregung zu weiteren Forschungsvorhaben über verhaftete Musiker in der Sowjetunion verstanden werden.

2553 þQid Ybc_aYo eQ\mbYeYgYa_SQ\Y cQ[ U_\T_, d`_a^_ Y RVXWQ\_bc^_, hc_ `_^QU_Rpcbp dbY\Yp clbph \oUVZ, hc_Rl S_bbcQ^_SYcm `aQSUd. 3 c_] hYb\V Y `aQSUd _ bdUmRQf ^QiVT_ Yb[dbbcSQ. Elagin, Ukrosˇcˇenie iskusstv, 2002, S. 6.

Epilog

Die Betrachtung des Musiklebens im ersten großen sowjetischen Zwangsarbeitslager auf den Solovki hat gezeigt, dass sich dort bereits viele Formen des Musizierens, wie es sich in den Zwangsarbeitslagern der Stalinzeit darstellte, herausgebildet haben. Einige Phänomene, die aus den zarischen Lagern stammten, darunter das Singen im Lageralltag oder Konzerte, wurden weitertradiert, es haben sich aber auch explizit für das sowjetische Lager typische Musikaktivitäten und damit zusammenhängende Maßnahmen herausgebildet. Dazu gehörten beispielsweise die Einrichtung musikalischer Institutionen wie die eines Orchesters oder eines Theaters, die zwar der »Stelle für Erziehung und Aufklärung«, später »Kulturerziehungsstelle« genannt, unterstellt waren, aber in dieser Anfangszeit des Gulag auf die Initiative der Häftlinge zurückgingen, sowie Privilegien für Künstler, z. B. ihre Freistellung von der Arbeit vor Konzerten. Doch gab es auch gravierende Unterschiede im Musikleben auf den Solovki im Vergleich zu den Lagern, die erst in den 1930er- und 1940er-Jahren eingerichtet wurden. Dazu gehörte beispielsweise der Krjuki-Gesang der Altgläubigen, der auf den Solovki gepflegt wurde. Der wichtigste Unterschied zwischen dem Musik- und Theaterleben auf den Solovki und später eingerichteten Lagern scheint aber die dort bühnenfähige bittere Ironie gewesen zu sein, welche die Wahrheit über das Lagerleben auszudrücken und zu verarbeiten ermöglichte sowie Raum für Provokationen bot. Der Standort des SLON auf einer Inselgruppe mit extremer geografischer Lage, welche im Winter wegen Packeis von der übrigen Welt völlig abgeschnitten war, machte es zu einem stärker abgeschotteten Archipel als andere Lager. Auf den Inseln gab es in der Bestehenszeit des SLON kaum Menschen, welche nichts mit dem Lager zu tun hatten, weswegen es dort keine »Membran zwischen der engeren Zone und der Gesellschaft« gegeben hat.2554 Diese besondere Voraus2554 Armanski, Gerhard: »Der GULag – Zwangsjacke des Fortschritts«, in: Streibel, Robert/ Schafranek, Hans (Hg.): Strategie des Überlebens. Häftlingsgesellschaften in KZ und GULag, 1996, S. 34.

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Epilog

setzung der Abkapselung ist möglicherweise ein Grund dafür, dass offene Kritik während der Konzerte und der Revuen auf den Solovki möglich war. Zum anderen, und das ist vielleicht noch entscheidender, waren die Häftlinge dort möglicherweise mehr zu Kulturarbeit motiviert und konnten eher den Blick eines Außenstehenden einnehmen, welcher Humor möglich macht, da sie im Schnitt kürzere Haftzeiten zu verbüßen hatten als die später Inhaftierten, und weil »Konterrevolutionäre«, aus deren Reihen die Organisatoren der Konzerte und Theatervorführungen kamen, bis Ende der 1920er-Jahre noch nicht als minderwertigere Häftlinge im Vergleich zu Kriminellen gesehen wurden.2555 Die »Erziehungsarbeit« mit Häftlingen steckte auf den Solovki, verglichen mit später existierenden Lagern, noch in den Kinderschuhen: Folgt man den überlieferten Konzertprogrammen, so scheint hier nicht wichtig gewesen zu sein, was gespielt wurde, sondern dass überhaupt gespielt wurde. Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, dass das in den Anfängen des Sowjetstaates von den für die Lager zuständigen Institutionen festgelegte Ziel, das Strafensystem durch eine Reihe von Erziehungsmaßnahmen zu ersetzen, nicht erreicht wurde, obwohl seitens der Lagerhauptverwaltung und einer Reihe von Lagerleitern erheblicher Aufwand zur Intensivierung der Kulturarbeit und damit der beabsichtigten Umerziehung der Häftlinge getrieben wurde. Durch die extrem schwierigen Lebensbedingungen im Gulag stellte die Haft eine harte Strafmaßnahme dar, die bis zum Tod der Inhaftierten führen konnte. Kulturarbeit hat nicht so sehr, wie die Lagerhauptverwaltung es intendierte, zur Disziplinierung der Häftlinge und zur Steigerung ihrer Arbeitsproduktivität beigetragen, auch wenn dies vorgekommen ist, sondern erfüllte in den Haftanstalten andere Funktionen als die ihr zugedachten. Die Funktionen der Musik im Gulag sowie die Motive zur Musikausübung bzw. zur Förderung des Musiklebens müssen nach dem Kontext, den verschiedenen Rezipientengruppen sowie den Ausführenden differenziert werden: Die Lagerleiter und das -personal unterstützten die »Laienkunst«, weil sie von der Lagerhauptverwaltung stets dazu angehalten wurden. Das Fehlen einer »Laienkunst« im Lager konnte Abmahnungen nach sich ziehen. Einen weiteren Grund stellte die Ventilfunktion der Musik dar, welche dem monotonen Lageralltag, der Tristesse der abgeschiedenen Gegenden mit menschenfeindlichem Klima und der schlechten Infrastruktur zu entfliehen helfen konnte. Konzerte boten der Lagerleitung eine Möglichkeit zur Zerstreuung und zum Ausleben verdrängter Gefühle wie Mitleid und Trauer. Die Ventilfunktion stellte nicht nur für das Lagerpersonal, sondern für alle Gruppen, die mit der Musikausübung in Berührung kamen, einen wichtigen Aspekt dar. Die Lagerleiter und Vertreter des repressiven Apparats hatten durch Konzerte 2555 Brodskij, Solovki, 2002, S. 375.

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die Möglichkeit, sich von den Häftlingen feiern zu lassen und damit ihre Machtstellung zu unterstreichen. Diese reichte bis zur Willkür, denn die in der »Laienkunst« beschäftigten Häftlinge konnten jederzeit ihrer privilegierten Stellung enthoben und zu schwerer Arbeit abkommandiert werden. »Kulturbrigaden« und vor allem Lagertheater stellten Prestigeobjekte der Lagerleiter dar, und die darin beschäftigten Häftlinge können zu Recht mit Leibeigenen verglichen werden. Zwecks eigener Unterhaltung stellten einige Lagerleiter sogar die Belange des Theaters über die des KVO, wie dies in Vorkuta der Fall war. Die mit der Musikausübung beauftragten Häftlinge konnten damit, wenn es sich bei ihnen um professionelle Künstler handelte, an ihren Berufsalltag vor der Haft anknüpfen und dadurch Kraft zum Überleben schöpfen, weil Musikausübung ihrem beschwerlichen Dasein einen Sinn verleihen konnte. Musizieren bot den Häftlingen, nach deren eigener Überlieferung, die Möglichkeit der physischen und psychischen Flucht aus dem beschwerlichen Lageralltag, der Flucht vor geistiger Langeweile und Verkümmerung sowie des Vergessens der Situation, in der sie sich befanden. Andererseits hatten sie mit einem inneren Konflikt zu kämpfen, der aus dem Wechsel zwischen der Welt des Lagers und jener der Kunst resultierte und im Extremfall bis zum Freitod führen konnte. Auch der sich durch die Mitarbeit an einem Lagertheater ergebende Kontakt zur zivilen Bevölkerung, welcher zu einer Verflechtung des Lagers mit der Freiheit beitrug, konnte sich sowohl positiv als auch negativ auf die inhaftierten Künstler auswirken: Entweder verlieh der Einblick in das Leben der zivilen Bevölkerung Hoffnung auf ein Überstehen der Haft, oder er löste Verzweiflung aus, weil dieses Leben unerreichbar schien. Einen lebenswichtigen Aspekt der Musikausübung für die daran beteiligten Häftlinge stellte die Tatsache dar, dass sie eine privilegierte Stellung innerhalb der Häftlingsgesellschaft und damit verbunden physische Vorteile genossen, wodurch ihre Chance zu überleben stieg, auch wenn das Überleben damit nicht automatisch gesichert war. Es konnten jedoch nur wenige Häftlinge an diesen Vorteilen partizipieren, denn nur ca. 1 bis 5 Prozent der Gulag-Insassen waren in der »Laienkunst« tätig. Das aktive, selbstbestimmte Handeln auf der Bühne half den Musikern, ihre individuelle Identität und Menschlichkeit zu bewahren oder wiederzuerlangen, welche unter den Bedingungen des Lagers unterzugehen drohten. Musikalisches Handeln trug dazu bei, dass die Häftlinge sich als Menschen fühlten, ihr Lebenswille gestärkt wurde, und das Leben für sie einen Sinn behielt oder wieder erhielt. Durch die zeitliche Komponente der Musikausübung wurde die Zeit des belastenden Nachdenkens über die eigene Situation verkürzt. Probensituationen ergaben mehr Bewegungsfreiheit, die Häftlinge fanden sich in Räumen wieder, die nicht überfüllt und beengt waren wie die Baracken und konnten aufatmen.

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Auch die zuhörenden Häftlinge konnten aus Konzerten psychische Kraft zum Überleben schöpfen und den Lageralltag ein Stück weit vergessen. Wenn Lagertheater, wie dies von den meisten überliefert wird, vor der zivilen Bevölkerung lagernaher Siedlungen auftraten, konnten sie zur Akzeptanz der Lager in der zivilen Bevölkerung beitragen, weil sie positive Assoziationen im Zusammenhang mit den auftretenden Häftlingen auslösten. Dies wurde vom vorgetragenen Repertoire mit einem Schwerpunkt auf klassischen Opern, Operetten und bunten Programmen begünstigt. Durch die Konfrontation der zivilen Bevölkerung mit Häftlingen auf der Bühne verwischte die Grenze zwischen den Lagern und der Freiheit. Es wurde zur Normalität und zur Gewohnheit, mit Häftlingen konfrontiert zu werden. Musik konnte subversiv gegen das Lagersystem genutzt werden, wenn Sowjetlieder im Lager unvollständig gesungen oder umgedichtet wurden, oder wenn eine musikalische Subkultur in Form von Blatnye-Liedern tradiert wurde. Auch klassisches Repertoire, wie z. B. die Arie des Fürsten Igor Ach, gebt mir meine Freiheit wieder von Borodin wurde offensichtlich in mehreren Lagern in einer subversiven Art und Weise genutzt. Wie an zahlreichen Beispielen gezeigt werden konnte, waren Gefängnisse und Lager ein Refugium der offiziell verfemten Kultur.2556 Die musikalische Subkultur setzte sich in den Lagern gegen das von der Lagerhauptverwaltung angestrebte offizielle Musikrepertoire durch. Mehr noch: Lagerlieder verbreiteten sich auch in der zivilen Gesellschaft und unterwanderten dort das offizielle Liedgut. Lagerlieder stellten unter den extremen Bedingungen der Haft ein elementares Bedürfnis der Häftlinge dar und konnten folgende Funktionen erfüllen: zum Zeichen des Protests, als Kommunikationsmittel, zur Selbstvergewisserung, zur Reflexion der eigenen Lage, zur Ablenkung sowie als lebensrettender Faktor. Durch die Schilderung der vielen Einzelschicksale von inhaftierten Musikern wurde versucht zu zeigen, wie viel künstlerisches Potenzial im Gulag untergegangen ist. Angesichts der vielen Opfer darf die Musikgeschichte der Sowjetunion in Zukunft nicht ohne sie geschrieben werden. Solange diese Menschen und das Musikleben im Gulag keine Berücksichtigung in der Historiografie der sowjetischen Musik finden, bleibt diese eine von den damaligen Machthabern diktierte Geschichte. Es wird nur derjenige Teil der sowjetischen Musikwelt gesehen, den die sowjetischen Bürger sehen sollten, mit all seinen akzeptierten, geduldeten oder gerügten Phänomenen. Die Emigranten, lange Zeit unbeachtet, 2556 Das trifft nicht nur auf Musik zu, sondern beispielsweise auch auf Literatur. Solzˇenicyn beschreibt, dass in der Lubjanka-Bibliothek Bücher vorhanden waren, die in der übrigen Sowjetunion offiziell nicht zu bekommen waren, weil sie von verfemten Autoren verfasst worden waren. Dies kam dadurch zustande, dass der Bibliotheksbestand sich aus Büchern zusammensetzte, die bei den verhafteten Personen beschlagnahmt wurden. Solzˇenicyn, Archipelag GULag, 1973, Teile I – II, S. 222.

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finden allmählich ihren Platz darin. Die vielen Musikerinnen und Musiker im Gulag, die größtenteils keine oder stark eingeschränkte Möglichkeiten zur Verwirklichung ihres Potenzials hatten, bleiben aber unberücksichtigt. Auf diese Weise wird die internationale Musikgeschichtsschreibung der Sowjetunion bis heute von den Machthabern des sowjetischen Totalitarismus bestimmt. Solange dies der Fall ist, behält der Gedanke Julij Danie˙l’s aus der Erzählung Iskuplenie (Sühne) seine Aktualität: Genossen! Die Re-pres-salien gehen weiter! Gefängnisse und Lager sind nicht geschlossen! Dies ist eine Lüge! Eine Zeitungsente! Ob wir im Gefängnis sind oder das Gefängnis in uns, macht keinen Unterschied! Wir sind alle Häftlinge! Die Regierung ist nicht imstande, uns zu befreien! Wir brauchen eine Operation! Schneidet die Lager aus ˇ K, der NKVD, der KGB uns euch heraus, entledigt euch ihrer! Ihr denkt, dass die C eingebuchtet haben? Nein, das waren wir selbst. Der Staat sind wir. Trinkt keinen Wein, liebt keine Frauen – sie sind alle Witwen! Wartet, wo wollt ihr hin? Lauft nicht weg! Ihr könnt nicht entkommen! Euch selbst könnt ihr nicht entkommen!2557

Um die Lager aus sich selbst herauszuschneiden, bedarf es ihrer eingehenden Aufarbeitung. Auf dem Gebiet der Musikwissenschaft gibt es hierbei noch sehr viel Forschungsbedarf.

2557 C_SQaYjY ! ?^Y `a_U_\WQoc ^Qb aV-`aV-bbYa_SQcm ! Coam]l Y \QTVap ^V XQ[alcl! Nc_ \_Wm! Nc_ TQXVc^Qp \_Wm ! þVc ^Y[Q[_Z aQX^Ygl : ]l S coam]V Y\Y coam]Q S ^Qb! =l SbV XQ[\ohV^^lV ! @aQSYcV\mbcS_ ^V S bY\Qf ^Qb _bS_R_UYcm ! þQ] ^dW^Q _`VaQgYp ! 3laVWmcV, Sl`dbcYcV \QTVap YX bVRp ! 3l Ud]QVcV, hc_ H;, þ;35, ;42 ^Qb bQWQ\_ ? þVc, nc_ ]l bQ]Y. 4_bdUQabcS_ – nc_ ]l. þV `VZcV SY^_ , ^V \oRYcV WV^jY^ – _^Y SbV SU_Sl!.. @_T_UYcV, [dUQ Sl? þV dRVTQZcV ! 3bV aQS^_ Sl ^Y[dUQ ^V dRVWYcV ! ?c bVRp ^V dRVWYcV ! Arzˇak, »Iskuplenie«, 1966, S. 157.

Literaturverzeichnis2558

Archivbestände2559 Archiv des Bachrusˇin-Theatermuseums

F. 455: Varpachovskij L. V. F. 660 (Litinskij G. M.), Nr. 1: Litinskij, Grigorij: Teatr za poljarnym krugom. Vospominanija i dokumenty 1941 – 1955. Moskau, 1970 – 1973. F. 660 (Litinskij G. M.), Nr. 48: Spravka o rabote teatra kombinata Vorkutugol’, ausgestellt von Grigorij Litinskij, 1947. F. 689, Nr. 147: Brief von Lilijana Gorina an Valentina Tokarskaja, 1991.

Archiv Memorial Moskau

F. 1, op. 1, d. 399: Maksim Benediktov. F. 1, op. 1, d. 704: Aleksandr Varlamov. F. 1, op. 1, d. 746: Solange Korpacˇevskaja. F. 1, op. 1, d. 1022: David Gejgner. F. 1, op. 1, d. 1024: Vera Chudjakova. F. 1, op. 1, d. 1136: Dmitrij Golovin. F. 1, op. 1, d. 2419: Leonid Broker. F. 1, op. 2, d. 1446: Georgij Golubev. F. 1, op. 2, d. 1453: Boris Gol’dberg. F. 1, op. 2, d. 1821: Celina Zˇvirko. F. 1, op. 2, d. 3203: Ekaterina Olovejnikova. F. 1, op. 3, d. 1498: Michail Donec. F. 1, op. 3, d. 1696: Nikolaj Zˇiljaev. F. 1, op. 3, d. 5009: Tigran Tarumov. F. 1, op. 4: Aleksandr Dzygar. 2558 In dieses Literaturverzeichnis sind gedruckte Quellen sowie öffentlich zugängliche Archivbestände aufgenommen worden. Einige kleinere Zeitungsartikel oder Lexikoneinträge, die nur einmal zitiert werden, werden direkt in den Fußnoten nachgewiesen. 2559 Es werden nur Bestände, die in öffentlichen Archiven eingesehen wurden, gelistet; auf private Archive wird direkt im Text verwiesen.

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Literaturverzeichnis

Archiv Memorial Sankt Petersburg

Akte O-B-41: FÚdor FÚdorov. Akte O-B-42: Aleksej Mizonov. Ohne Signatur: Ksenija Medvedskaja: Vsjudu zˇizn’, 1975.

Forschungsstelle Osteuropa Bremen

F. 6/8.5: Theater- und Konzertprogramme des Vorkutinsker Theaters.

GAMO (Gosudarstvennyj archiv Magadanskoj oblasti – Staatsarchiv für das Gebiet Magadan)

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F. R-54, op. 1, d. 17: Plany i otcˇÚty o rabote teatra na 1943 g. F. R-54, op. 1, d. 18: Akty priÚma spektaklej i koncertov, repertuar za 1943 g. F. R-54, op. 1, d. 19: Akty priÚma spektaklej i koncertov, repertuar za 1943 g. F. R-54, op. 1, d. 20: Materialy o gastrol’nych poezdkach, plan vypuska novych postanovok za 1943 g. F. R-54, op. 1, d. 22: Protokoly tarifikacionnoj komissii, spiski sotrudnikov teatra za 1944 g. F. R-54, op. 1, d. 23: Programmy koncertov na 1944 g. F. R-54, op. 1, d. 24: Plany raboty teatra na 1944 g. F. R-54, op. 1, d. 25: Akty priÚma spektaklej, koncertov za 1944 – 1945 gg. F. R-54, op. 1, d. 29: Programmy koncertov na 1945 g. F. R-54, op. 1, d. 30: Akty priÚma spektaklej, koncertov za 1945 g. F. R-54, op. 1, d. 31: Repertuar teatra, raspredelenie rolej na 1945 g. F. R-54, op. 1, d. 34: Protokoly proizvodstvennych sovesˇcˇanij i materialy soc. objazatel’stv za 1946 g. F. R-54, op. 1, d. 35: Repertuar teatra na 1946 g. F. R-54, op. 1, d. 38: Resˇenija oblispolkoma, prikazy politupravlenija, akty, dogovory i perepiska s GUS DS za 1947 – 1949 gg. F. R-54, op. 1, d. 39: Akty priÚma spektaklej i programmy spektaklej za 1947 g. F. R-54, op. 1, d. 40: Plany vypuska spektaklej i repertuar teatra za 1947 – 1948 gg. F. R-54, op. 1, d. 41: Programmy koncertov i spektaklej teatra za 1947 – 1949 g. F. R-54, op. 1, d. 49: Plany rabot Magadanskogo teatra na 1949 g. F. R-54, op. 1, d. 52: Prikazy po proizvodstvennoj dejatel’nosti za 1950 g. F. R-54, op. 1, d. 53: Programmy koncertov i spektaklej, 1951 g. F. R-54, op. 1, d. 55: Plany raboty teatra im. Gor’kogo na 1950 g. F. R-54, op. 1, d. 56: Programmy koncertov i spektaklej, spisok rolej na 1950 – 1951 gg. F. R-54, op. 1, d. 61: Prikazy direktora po voprosam proizvodstvennoj dejatel’nosti teatra za 1951 g. F. R-54, op. 1, d. 63: Otzyvy na spektakli teatra im. Gor’kogo za 1951 g. F. R-54, op. 1, d. 67: Prikazy po proizvodstvennoj dejatel’nosti za 1952 g. F. R-54, op. 1, d. 68: Protokoly zasedanij chudozˇestvennogo sostava i proizvodstvennych sovesˇcˇanij, 1952 g. F. R-54, op. 1, d. 72: Kniga otzyvov na spektakli teatra za 1952 g. F. R-54, op. 1, d. 73: Plany raboty teatra im. Gor’kogo na 1952 g. F. R-54, op. 1, d. 77: Prikazy po proizvodstvennoj dejatel’nosti teatra za 1953 g. F. R-54, op. 1, d. 79: Repertuar teatra i plany spektaklej, koncertov, 1953 g. F. R-54, op. 1, d. 80: Akty priÚma spektaklej za 1953 g. F. R-54, op. 1, d. 87: Akty priÚma koncertov i spektaklej za 1954 g. F. R-54, op. 1, d. 89: Kniga otzyvov o koncertach i spektakljach za 1954 g. F. R-54, op. 1, d. 90: Kniga otzyvov o koncertach i spektakljach za 1954 g. F. R-54, op. 1, d. 144: Programmy teatral’nych spektaklej, 1966 – 1968 gg.

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Noten

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Anhang

Abkürzungsverzeichnis und Begriffserklärungen ALZˇIR

Akmolinskij lager’ zˇÚn izmennikov rodiny – Akmolinsker Lager für die Ehefrauen von Vaterlandsverrätern Bajan russ. für Knopfakkordeon Belbaltlag Belomorsko-Baltijskij Lager’ OGPU – Weißmeer-OstseeLager des OGPU Berlag Beregovoj lager’ – Uferlager, Sonderlager des Sevvostlag blatnoj (Mehrzahl blatnye) Berufsverbrecher bytovik (Mehrzahl ein Häftling, der wegen keines politischen Verbrechens verurteilt wurde;2560 Gelegenheitsverbrecher bytoviki) ˇ aj-Urlag ˇ aj-Ur’inskij ispravitel’no-trudovoj lager’ – C ˇ aj-Ur’inskijC C Besserungsarbeitslager, eine Abteilung des Sevvostlag cˇastusˇka (Mehrzahl s. ausführliche Erklärung auf S. 54 f. cˇastusˇki) CKO Central’nyj karatel’nyj otdel – Zentrale Strafabteilung ˇ SIR C cˇlen sem’i izmennika rodiny – Angehöriger eines Vaterlandsverräters ˇ ukotstrojlag ˇ ukotskij ispravitel’no-trudovoj lager’ – C ˇ ukotskij-BesseC C ˇ ukotka, eine Abteilung des Sevvostlag rungsarbeitslager auf C Dmitlag Dmitrovskij ispravitel’no-trudovoj lager’ – Dmitrover Besserungsarbeitslager dochodjaga (Mehrzahl ein Häftling, der wegen Hungers geistig und körperlich verfällt und kurz vor dem Tod steht2561 dochodjagi) Dorlag Dorozˇnyj ispravitel’no-trudovoj lager’ – Straßenbau-Besserungsarbeitslager, eine Abteilung des Sevvostlag Etappenpunkt peresyl’nyj punkt: Transitlager, in welchem Häftlingstransporte vorübergehend untergebracht wurden GAMO Gosudarstvennyj archiv Magadanskoj oblasti – Staatsarchiv für das Gebiet Magadan 2560 Rossi, Spravocˇnik po GULAGu, 1991, Bd. 1, S. 45. 2561 Rossi, Spravocˇnik po GULAGu, 1991, Bd. 1, S. 105.

668 GARF GCMMK

Glavlit GPU GULAG GUMZ GUPR Indlag Janlag

Juglag JuZGPU Juzlag ˇ KVC KVO Lagerpunkt Maglag MVD nacmen, nacional (Mehrzahl nacmeny, nacionaly) NARCh NKJu NKVD OGPU Primorlag Repression

Anhang

Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii – Staatsarchiv der Russischen Föderation Gosudarstvennyj central’nyj muzej muzykal’noj kul’tury im. M. I. Glinki – Staatliches zentrales Glinka-Museum für Musikkultur Hauptverwaltung für Literatur- und Verlagsangelegenheiten Gosudarstvennoe Politicˇeskoe Upravlenie – Politische Hauptverwaltung Glavnoe upravlenie ispravitel’no-trudovych lagerej i kolonij – Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager und -kolonien Glavnoe upravlenie mest zakljucˇenija – Hauptverwaltung der Haftanstalten Glavnoe upravelnie prinuditel’nych rabot – Hauptverwaltung für Zwangsarbeit Indigirskij ispravitel’no-trudovoj lager’ – Indigirskij-Besserungsarbeitslager, eine Abteilung des Sevvostlag Janskij ispravitel’no-trudovoj lager’ – Janskij-Besserungsarbeitslager, benannt nach dem Fluss Jana, eine Abteilung des Sevvostlag Juzˇnyj ispravitel’no-trudovoj lager’ – Südliches Besserungsarbeitslager, eine Abteilung des Sevvostlag Jugo-zapadnoe gorno-promysˇlennoe upravlenie – Südwestliche Bergbauverwaltung des Sevvostlag Jugo-zapadnyj ispravitel’no-trudovoj lager’ – Südwestliches Besserungsarbeitslager, eine Abteilung des Sevvostlag kul’turno-vospitatel’naja cˇast’ – »Kulturerziehungsstelle« kul’turno-vospitatel’nyj otdel – Abteilung für »Kulturerziehung« Einheit eines Lagerkomplexes Magadanskij ispravitel’no-trudovoj lager’ – das Magadaner Besserungsarbeitslager, eine Abteilung des Sevvostlag Ministerstvo vnutrennich del – Innenministerium Sammelbegriff für Angehörige der im südlichen Teil der Sowjetunion lebenden Nationalitäten, manchmal auch als Begriff für alle in der Sowjetunion lebenden Nationalitäten außer der russischen gebraucht Nacional’nyj archiv respubliki Chakasija – Nationalarchiv der Republik Chakassien Narodnyj komissariat justicii – Volkskommissariat für Justiz Narodnyj komissariat vnutrennich del – Volkskommissariat für innere Angelegenheiten Ob’’edinÚnnoe Gosudarstvennoe Politicˇeskoe Upravlenie – Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung Primorskij ispravitel’no-trudovoj lager’ – Küsten-Besserungsarbeitslager, eine Abteilung des Sevvostlag mit diesem Begriff wird hier, entsprechend dem Wortge-

Abkürzungsverzeichnis und Begriffserklärungen

RGALI Rote Ecke

Sevlag

Sevvostlag SLON stachanovec (Mehrzahl stachanovcy)

Ten’lag

Translag tridcatipjatnik (Mehrzahl tridcatipjatniki)

ULAG USLON USVITL ˇ UVC UVD ˇK VC

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brauch im Russischen, ausschließlich die Unterdrückung durch Verhaftungen und Lagerhaft bezeichnet Rossijskij gosudarstvennyj archiv literatury i iskusstva – Russisches Staatsarchiv für Literatur und Kunst ein Bereich oder ein Raum im Gebäude einer Institution, eines Betriebs oder auch in Wohnheimen, welcher mit kommunistischen Losungen, Porträts der Parteiführer, Tageszeitungen und Sitzgelegenheiten ausgestattet war. Er war dazu bestimmt, als Kommunikationsraum für politische Agitation und »Kulturerziehungsarbeit« zu dienen Severnyj ispravitel’no-trudovoj lager’ – Nördliches Besserungsarbeitslager, mit dem Zentrum in Jagodnoe (37), eine Abteilung des Sevvostlag Severo-Vostocˇnyj ispravitel’no-trudovoj lager’ – Nordöstliches Besserungsarbeitslager Soloveckij lager’ osobogo naznacˇenija – Solovezker Lager zur besonderen Verwendung Arbeiter, welche die Norm deutlich übererfüllten und die Technik so gut wie möglich einsetzten. Die Bezeichnung ging auf Aleksej Stachanov zurück, einen Hauer aus Donbass, der 1935 damit begann, seine Produktivität mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, so weit es ging, zu steigern Ten’kinskij ispravitel’no-trudovoj lager’ – Ten’kinskij-Besserungsarbeitslager, mit dem Zentrum in Ust’-Omcˇug (4), eine Abteilung des Sevvostlag Avtotransportnyj ispravitel’no-trudovoj lager’ – Kfz-Besserungsarbeitslager, eine Abteilung des Sevvostlag »Fünfunddreißiger«: Bezeichnung eines Häftlings, welcher gemäß § 35 des Strafgesetzbuches der RSFSR von 1926 verurteilt wurde. Dieser Paragraf sah Strafen für »gesellschaftlich gefährliche« Personen vor. In den Lagern entwickelte sich dieser Begriff in den 1930er-Jahren zu einer Sammelbezeichnung für kriminelle Häftlinge, die den größeren Teil der Lagerbevölkerung ausmachten. Paradoxerweise wurden sie von der Lageradministration als der Gesellschaft »sozial nahestehende Elemente« betrachtet im Gegensatz zu politischen Häftlingen, den sogenannten sozial fremden Elementen Upravlenie lagerjami – Verwaltung der Lager Upravlenie Soloveckim lagerem osobogo naznacˇenija – Verwaltung des Solovezker Lagers zur besonderen Verwendung Upravlenie Severo-Vostocˇnych ispravitel’no-trudovych lagerej – Verwaltung der Nordöstlichen Besserungsarbeitslager ucˇebno-vospitatel’naja cˇast’ – »Lehrerziehungsstelle« Upravlenie vnutrennich del – Verwaltung für innere Angelegenheiten ˇ rezvycˇajnaja Komissija po Bor’be s KontVserossijskaja C

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Anhang

VOChR ZapGPU oder ZGPU Zaplag

rrevoljuciej, Spekuljaciej i Sabotazˇem – Allrussische Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage Voenizirovannaja ochrana – bewaffnete Wachmannschaft Zapadnoe gorno-promysˇlennoe upravlenie – Westliche Bergbauverwaltung des Sevvostlag Zapadnyj ispravitel’no-trudovoj lager’ – Westliches Besserungsarbeitslager, mit dem Zentrum in Susuman (14), eine Abteilung des Sevvostlag

§ 58 des Strafgesetzbuches der RSFSR in der Fassung von 1926, kurz gefasst In diesem Paragrafen waren Strafmaße für sogenannte konterrevolutionäre Verbrechen festgelegt, er blieb bis Ende 1960 in Kraft. § 58 – 1 § 58 – 2 § 58 – 3 § 58 – 4 § 58 – 5 § 58 – 6 § 58 – 7 § 58 – 8 § 58 – 9 § 58 – 10 § 58 – 11 § 58 – 12 § 58 – 13 § 58 – 14

Verrat an der Heimat Bewaffneter Aufstand oder Versuch der Machtübernahme Kontakte zum Ausland mit konterrevolutionären Absichten Hilfeleistungen für die internationale Bourgeoisie Kollaboration mit fremden Staaten oder ausländischen Gruppen gegen die Sowjetunion Spionage Schädigung der staatlichen Industrie, des Verkehrs, des Handels, des Geld- und Kreditwesens Terroristische Akte Verursachung eines Schadens am Verkehrswesen, an der Wasserversorgung und/oder am Post- und Fernmeldedienst Propaganda und Agitation zum Sturz oder zur Schwächung der Sowjetmacht Vorbereitung von konterrevolutionären Akten Unterlassung der Anzeige Aktiver Kampf gegen die Revolution während der Zarenherrschaft Konterrevolutionäre Sabotage

Karte der Tourneen des Gor’kij-Theaters auf der Kolyma im Jahr 1947

Karte der Tourneen des Gor’kij-Theaters auf der Kolyma im Jahr 1947

Abb. 94: GAMO: F. R-54, op. 1, d. 29, l. 7. Maßstab nach der Verkleinerung 1 cm : ca. 43 km.

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Abstract (deutsch)

Die Untersuchung stellt einen Beitrag zur Erforschung der Musik in der totalitären Sowjetunion dar. Es war Ziel der Verfasserin, möglichst alle Facetten des Musizierens in den sowjetischen Zwangsarbeitslagern zu erfassen und Quellen dazu zu sichern, um weitere Detailstudien anzuregen und im Rahmen der Totalitarismusforschung einen Vergleich zu den nationalsozialistischen Konzentrationslagern zu ermöglichen. Im Fokus des Forschungsinteresses stehen sowohl das verordnete als auch das selbstbestimmte musikkulturelle Handeln und dessen psycho-soziale Funktionen, wobei versucht wird, den Blickwinkel aller am Musikleben beteiligten Personengruppen zu erfassen. Es werden vier Lagerkomplexe behandelt, wobei jedem der vier Kapitel eine Schilderung der jeweiligen Lebensbedingungen vorangestellt wird. Es wurde so vorgegangen, um der Verharmlosung des Gulag vorzubeugen, zu der Beschreibungen des dortigen Musiklebens missbraucht werden könnten. Einen Schwerpunkt bilden die von der »Kulturerziehungsabteilung« der Lagerhauptverwaltung verordneten Musikaktivitäten mit dem Ziel der Umerziehung der Häftlinge. Die Lagerhauptverwaltung und eine Reihe von Lagerleitern trieben einen erheblichen Aufwand zur Intensivierung der Musikarbeit, die zur Disziplinierung der Häftlinge und zur Steigerung ihrer Arbeitsproduktivität beitragen sollte. Darüber hinaus erfüllte sie aber vielfältige andere Funktionen. Lagerleiter förderten und initiierten Musikaktivitäten, weil sie von der Lagerhauptverwaltung stets dazu angehalten wurden, denn das Fehlen kultureller Maßnahmen zog früher oder später Abmahnungen nach sich. Es waren hierbei aber auch eigennützige Gründe relevant: Musiktheater stellten Prestigeobjekte dar, mit denen sich die Lagerleiter vor Kollegen profilieren und ihre Macht unterstreichen konnten. Musik bot nicht zuletzt auch die Möglichkeit zur Zerstreuung, wofür seitens der Lagerleiter sogar eine Nichtbeachtung der Lagerordnung in Kauf genommen wurde. Auch für die Häftlinge erlangte die verordnete Musikarbeit eine große Bedeutung: Die zuhörenden Häftlinge konnten durch Konzerte den beschwerlichen Lageralltag ein Stück weit vergessen und psychische Kraft schöpfen. Die

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Abstract

aktiv daran beteiligten Häftlinge, die jedoch nur einen kleinen Teil der Häftlingsgesellschaft ausmachten, genossen eine privilegierte Stellung und physische Vorteile, wodurch ihre Chancen zu überleben stiegen. Das aktive, selbstbestimmte Handeln auf der Bühne half den Musikern, ihre Identität und Menschlichkeit zu bewahren oder auch wiederzuerlangen. Musikalisches Handeln trug zur Stärkung des Lebenswillens und zur Erhaltung bzw. Rückgewinnung eines Lebenssinns bei. Professionelle Künstler konnten durch die Musikarbeit an ihren Berufsalltag vor der Haft anknüpfen und dadurch der »geistigen Verkümmerung« entkommen sowie sich zum Teil sogar weiterentwickeln. Allerdings beschreiben ehemalige Häftlinge auch einen inneren Konflikt der Künstler, der aus dem Wechsel zwischen der Welt des Lagers und der Bühne resultierte und im Extremfall bis zum Freitod führen konnte. Der durch die Mitarbeit an einem Lagertheater entstehende Kontakt zu Zivilisten konnte sich sowohl positiv als auch negativ auf die inhaftierten Künstler auswirken: Entweder verlieh der Einblick in das Leben der Zivilisten Hoffnung zu überleben oder er löste Verzweiflung aus, weil die Freiheit unerreichbar schien. Wenn Lagertheater, wie dies für die meisten von ihnen überliefert ist, vor den in lagernahen Siedlungen lebenden Zivilisten auftraten oder auf Tourneen gingen, bewirkten sie, dass die Grenzen zwischen der Freiheit und der Lagergesellschaft nicht mehr klar gezogen werden konnten. Neben der offiziell verordneten Musikausübung existierte im Gulag auch ein vielschichtiges selbstbestimmtes Musizieren der Häftlinge, in dessen Rahmen Musik subversiv gegen das Lagersystem verwendet werden konnte. Dies war dann der Fall, wenn z. B. Sowjetlieder umgedichtet wurden oder wenn eine neue Musikkultur in Form von Lagerliedern tradiert wurde, die sich gegen das von der Lagerhauptverwaltung angestrebte offizielle Musikrepertoire durchsetzte. Mehr noch: Lagerlieder verbreiteten sich auch in der Freiheit und unterwanderten dort das offizielle Liedgut. Zahlreiche Beispiele bezeugen zudem, dass Gefängnisse und Lager ein Refugium für offiziell verfemte Kultur darstellten. Selbstbestimmter Gesang sowie selbstbestimmtes Musizieren bildeten ein existenzielles Bedu¨ rfnis der Ha¨ ftlinge und konnten ihnen helfen, schwierige Situationen im Lageralltag zu ertragen. Manche Häftlinge setzten sogar ihr Leben aufs Spiel, um musizieren zu können. Durch die Schilderung der vielen Schicksale von inhaftierten Musikerinnen und Musikern, die einen breiten Raum in der Arbeit einnimmt, wird gezeigt, welch großes künstlerisches Potenzial im Gulag untergegangen ist. Viele Schicksale sowie eine Reihe von unbekannten Musikstücken inhaftierter Komponisten sind dokumentiert worden und können nun in die Geschichtsschreibung einfließen. Die verbreitete Ansicht, dass die sowjetische Musikwelt nicht wesentlich von Repressalien betroffen war, weil es einen »Schonungsbefehl« für Musiker gegeben haben könnte, wird durch die vorliegende Arbeit widerlegt.

Abstract

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Angesichts der vielen Opfer des Gulag-Systems darf die Musikgeschichte der Sowjetunion in Zukunft nicht ohne diese Menschen geschrieben werden. Dabei muss insbesondere gewürdigt werden, dass Häftlinge und ehemalige Häftlinge eine wichtige Funktion als Kulturträger in der Provinz übernommen haben.

Abstract (englisch) This study makes a contribution to researching the music of the totalitarian Soviet Union. The author intended to record all aspects and ascertain sources of the music made in Soviet forced labour camps, in order to promote further detailed study and facilitate a comparison with National Socialist concentration camps as part of the broader research of totalitarian systems. The study treats both prescribed and independent musical and cultural activities, as well as their psychological and social ramifications, and in so doing aims to record the perspective of all groups involved in musical life. Four camp complexes are treated in four chapters, each of which begins by depicting the living conditions of its respective camp. This was done in order to prevent a downplaying of the Gulag by misusing descriptions of local musical life. The study especially focusses on the musical activities prescribed by the camp headquarters’ Department of Cultural Education in order to rehabilitate prisoners. The camp headquarters and a number of camp leaders expended great effort to intensify this musical work, which was meant to serve the official functions of disciplining the prisoners and increasing work productivity, but also served many other purposes not intended by the camp leadership. Camp leaders promoted and initiated musical activities after being urged to do so by the camp headquarters, because an absence of cultural activities would result in a disciplinary letter. However, more self-serving interests were also involved: Having a musical theatre gave camp leaders a degree of prestige with which they could distinguish themselves from their colleagues and flaunt their power. Music also provided a much-needed diversion and amusement for which some camp leaders were even willing to risk non-compliance with camp regulations. The prescribed musical work also held great significance for the prisoners. While listening to a concert, prisoners could forget the burdens of their everyday existences and gain psychological strength. The prisoners who were actively involved in music, although representing a small minority, enjoyed a privileged status and physical advantages that increased their chances of survival. Selfdriven activity on the stage helped musicians to strengthen their will to live and preserve and/or regain their identities, their humanity, and the meaning of life. Professional artists could re-experience the daily routines they had enjoyed

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Abstract

before their imprisonments, thereby avoiding »spiritual decay«, and possibly even further develop their skills. That being said, former prisoners also describe an inner conflict experienced by the artists, which resulted from the incongruity between the world of the camp and that of the stage, and in extreme cases could lead to suicide. The contact with civilians provided by working in a camp theatre could have both positive and negative effects on the imprisoned artists. Insight into the life of civilians could either give prisoners hope of survival or cause despair, since freedom seemed unattainable. When camp theatres appeared before civilians living in local towns, or went on tours, as most evidentially did, the boundaries between free citizens and camp inmates could no longer be clearly drawn. In addition to officially decreed musical practices, there was also a multilayered independent music-making of the prisoners in the Gulag, through which music could be subversively used against the camp system. Examples include giving Soviet songs new texts, or passing on a new musical culture in the form of camp songs that prevailed against the official music repertoire prescribed by the central camp authority. Furthermore, camp songs were also spreading in the free world, becoming an opposite of its official song heritage. Numerous examples also indicate that prisons and camps served as a refuge for officially ostracized culture. Independent singing, like independent music-making, represented an existential need of the prisoners, and could help them to bear difficult situations they faced daily in the camp. Some prisoners even risked their lives in order to make music. A major part of this study consisted of cataloguing the fates of many imprisoned musicians, thereby showing the enormous artistic potential that was lost in the Gulag. The study also documents many formerly unknown pieces of music by imprisoned composers that can now be incorporated into historiography. The pervasive opinion that the Soviet musical world was essentially unaffected by arrests and imprisonment, because of a »leniency directive« that may have existed for musicians, is disproven by the present work. Considering the number of victims of the Gulag system, the future musical history of the Soviet Union could not be written without them. In this regard, the important contribution made by prisoners and former prisoners who became culture ambassadors in the provinces must be especially appreciated.

Personenregister

Abaz‚, Arkadij 473 Abdulaev, Achmadulla 240 Abuladze, Tengis 13 Achmatova, Anna 121, 292, 529, 589 Achubadze 240 Ackeret, Markus 27 f. Adamova-Sliozberg, Ol’ga 274, 506, 518, 524 Admoni-Krasnyj, Iogann 601 Adolina, E˙milija 388, 390, 432 Afanas’ev 240 Agafonov 188 Ageev, K. N. 240 Akimov, Nikolaj 436, 459 AksÚnov, Vasilij 406 Al’, Daniil 541, 543 Alb¦niz, Isaac 351, 433 Al’ber 240 Aleksandrov, Aleksandr 54, 339, 361, 374, 378, 562 Aleksandrov, Anatolij 492, 508, 510, 515, 525, 532, 538, 549, 553 f., 563 Aleksandrov, Boris 372 Aleksandrov, Grigorij 54, 208 Aleksandrova, Alla 424 Aleksandrova, S. 218 Aleksandrova, Svetlana 24 Alekseev, Aleksej 146 Ali-Zade, Klare˙nchanum 240 Aljab’ev, Aleksandr 330 f., 492 Alymov, Sergej 137 f., 145, 164 – 170, 293, 510 f., 532 Amanov, Ivan 578

Aminov 240 Ananov, V. 87, 121 Anciferov, Nikolaj 510 Andreev, Igor’ 377, 390 Andreev-Chomjakov, Gennadij 81 – 85, 94 Andreev 104, 240 Andrijanov, Vasilij 94, 121 Andronnikov 90 Annenko, Aleksej 111 f., 120 Antonov, Nikolaj 354, 363, 390, 431, 433 Aptekareva, Ljubov’ 579 Arap, Olja 240 Arendt, Hannah 248 Arenskij, Anton 370 Armanskij, Sergej 42 Armfel’d, Viktor (auch Armfel’t) 159, 169, 414 Armstrong, Lois 628 Arsˇ, Michail 380, 431 Artamonov, Nikolaj 332, 388, 394, 411 Asaf ’ev, Boris 179 Asatiani, G. G. 121 Asatiani-Eristov, PÚtr 121 Asˇkenazi, David 136, 333 Bach, Johann Sebastian 383, 446, 448, 589 Bacˇinskij, I. 218 Badova, Evgenija 24 Bakaev, Abal 240 Bakarov, Abdul 240 Baklina, Lidija 287

190, 284, 294,

678 Balajan 240 Balasanjan 240 Balas’jan 240 Balbukov 240 Bal’mont, Konstantin 618 Barakaev 240 Bardina, Anastasija 626 Barskij, Vladimir 601 Barth, Karl Heinrich 470 Batov 240 Beaumarchais, Pierre Augustin Caron de 452 Bechterev, Ju. 53 Beethoven, Ludwig van 102 f., 188, 196, 377 f., 414, 422, 433, 446, 454, 589 Begiasˇvili, Soso 598 Beljavskaja, Alla 460 Beloded 191, 196 Belousov 240 Belov, PÚtr 124 Belov, Vasilij (Häftling im Sevvostlag) 365 Belov, Vasilij (stellvertretender Leiter der Politverwaltung des Dal’stroj) 364 Belyj, Viktor 168, 204, 206, 339, 349 Benavente, Jacinto 354, 363 Benediktov, Maksim 601, 618 B¦ranger, Pierre-Jean de 46, 96 Bergmane, Ire¯na 590, 601, 614 Berija, Lavrentij 307, 477, 489 Berlioz, Hector 378 Berman, Matvej 540 Bert’e, David 444 Berzin, E˙duard 301, 305 f., 310, 314, 344 Bessonov, P. F. 240 Bevern, Julie 506 Bezkaravajnyj, K. 443 Biksˇeev, Vejsy 240 Bilida 328 Binkin, Zinovij 601, 614 Birjukov, Aleksandr 444, 562 Birjukov, Jurij 368 – 370 Bizet, Georges 101, 154, 160, 188, 288, 330, 332, 374, 378, 394, 413, 418, 436, 448 Bjul’-Bjul’ 516

Personenregister

Blanter, Matvej 339, 350, 363, 408, 435, 553 Bliznjuk 240 Blok, Aleksandr 518, 523, 533, 613 Boccherini, Luigi 350 Bocjuk, Pavel 412 f., 598 BocˇkarÚv 307 Bogoljubov, Arsenij 288 Bogoslovskij, Georgij 601 Bogoslovskij, Nikita 330, 338, 406, 433, 435, 438, 457 Bogusˇev, Aleksej 354, 365 Bojcov 191, 196 Bojko, Marina 24, 393, 465, 468 Borchman, Aleksandr 234 Borin, Makar 76 Borisov 240 Borodin, Aleksandr 89, 154, 201, 232 f., 318, 339, 378, 454 f., 636 Botvinnik, Mark 582, 613 Brahms, Johannes 312, 379, 433 Branovickij 240 Bratisˇcˇev 240 Brezˇnev, Leonid 453 Brjusov, Valerij 618 Brodskij, Jurij 59, 65, 71 f., 100 f. Broker, Leonid 585 Bromberg, Veniamin 56 f., 335, 556 – 558 Bronska-Pampuch, Wanda 308, 531 Brüder Pokrass 183, 281, 348 f. Buchvostov 240 Bud’-Dobryj 284 Bulat, Greta 579 Bülow, Hans von 470, 473 Bul’sˇko 240 Bunin, Ivan 618 Burdakov, SemÚn 389 Burkov, Georgij 389 Bykov 188, 240 Byron, George Gordon 523 ˇ ajkovskij, PÚtr 100 f., 104, 120, 154, 158, C 201 f., 232, 284, 288, 318, 330 – 332, 339, 350, 368 – 370, 372 – 374, 377 – 380, 382, 384, 399, 408, 414, 416, 418, 422, 424,

Personenregister

446, 448, 450, 453 – 455, 470 f., 509, 582, 586, 592 ˇ alov 336 C ˇ aplinskij, Genrich 414 C Carapkin, Sergej 529 ˇ aripov 240 C Catoire, Georgij 178 ˇ eburakov, I. 240 C ˇ Cecˇel’nickaja, Lidija 399 ˇ echmachov, Georgij 580 C ˇ Cechov, Anton 79, 189, 330 – 332, 373, 379 f., 384, 396, 418, 438 Cedrik, Nikolaj 204, 208 f., 212, 217 Cejtlin, S. 163 ˇ ekarÚv, Nikolaj 365, 372, 386, 411, 430 f. C ˇ Cekmazov, Aleksej 139 ˇ eljapov, Nikolaj 204 C ˇ emberdzˇi, Nikolaj 204 C ˇ erÚmuchin, Michail 178 C ˇ ernjak, Michail 177 – 181, 184 f., 187, C 189 – 198, 203, 205 – 207, 209, 212, 214, 217, 231, 602 ˇ ernjatinskij, Nikolaj 602 C ˇ ernjuk, Pimen 583 C ˇ ernov, Filaret 551 C ˇ ernova 424 C ˇ ernysˇov, Vasilij 248, 256 C ˇ ervjakov, Evgenij 167 C ˇ etverikov, Boris 529 C ˇ etverikova, Polja 194, 241 C Chacˇaturjan, Aram 336, 339, 361 Chajt, Julij 168, 287, 598, 602, 614 Chalat’jan 241 Chal’fan 121 Chalip, Abram 578 Chamedov 241 Chamidov 241 Charcˇenko, Artemij 579 Chareckaja 241 Charisov 241 Chasˇisˇev od. Chasˇimov 241 Chejfic 169, 241 Cherubini, Luigi 483 Chochlov 191, 241 Chopin, Fr¦d¦ric 339, 382, 386, 419, 446, 450, 452, 470, 591

679 Chorosˇij, Fedot 121 Chrapcˇenko, Michail 236, 462 Chrapov, Nikolaj 481, 483 Chrennikov, Tichon 15, 424, 479, 572 f. Chromusˇin, Oleg 602 ChrusˇcˇÚv, Nikita 427, 492 Chudjakova, Klara 577, 623 Chudjakova, Vera 585 Churchill, Winston 488 Cikkel’ 390 Ciomasˇko 241 ˇ irkov, Jurij 77, 86 – 88, 90, 104, 506, 513, C 516, 523 ˇ uchin, Ivan 88, 103, 125, 128, 131, 146 f., C 532 ˇ udnovskaja-Gejgner, Cecilija 622 C Cui, C¦sar 233 ˇ upasˇvili, Foru 241 C Cvetaeva, Marina 292 Cybul’nik, Boris 284 Dajdykov 241 Dajneka, Nikolaj 336 d’Ambrosio, Alfredo 351 Danie˙l’, Julij 503, 547, 549, 569, 637 Dardykina 241 Dargomyzˇskij, Aleksandr 39, 201, 232, 371, 394, 422 Davydov, Konstantin 363 Debussy, Claude 454 Dejneka, Boris 419 f., 585 Delibes, L¦o 154, 378, 433, 579 Dement’eva, Inna 403 Demidov, Georgij 282, 330, 441 – 443, 514, 526 DÚmin-Blagovesˇcˇenskij, FÚdor 562 Derevjanko, Andrej 338 – 340 Deribas, Terentij 311 Dobler, Frida 233 Dobrinskaja, Marija 24, 408 Dolgich, Ivan 629 Dolgorukij, Oleg 344 Doman’skij, V. 41, 47 f. Donec, Michail 583 f. Donskoj 241 Dorda, Nina 466

680 Dostoevskij, FÚdor 28 f., 71, 96 Drabkin, Evel’ 364 Draugel, Wilhelm Otto von 466 – 469 Drdla, Frantisˇek 331 Drigo, Riccardo 332 Dukas, Paul 588 Dumas, Alexandre 384, 491 Dunaevskij, Isaak 208, 290, 332, 336, 339, 347 f., 350 f., 399, 408, 435, 462, 581, 585 Duncan, Isadora 618, 623 Dvorˇ‚k, Anton†n 39, 454, 592 Dvorzˇeckij, Vaclav 124, 127, 152 – 155, 159, 162 f., 411, 514 Dvoskin 390 Dzˇabarov 241 Dzerzˇinskij, Ivan 203 f., 206, 318, 579 Dzygar, Aleksandr 80, 398 f., 407, 450, 452, 454 – 460, 471, 491, 531, 631 Einstein, Albert 484 Eisler, Hanns 349 E˙jchenval’d, Anton 602 E˙jchmans, FÚdor 78 Elagin, Jurij 92, 348, 425, 573, 579, 585, 614 f., 631 f. El’cin, Boris 13 Eldyrev 191 E˙l’gurkaev, Musof 169, 241 Ellington, Duke 628 E˙ntin, Boris 370, 372, 381, 492 E˙psˇtejn, Samuil 547 E˙rdman, Nikolaj 92 f. Eresˇcˇenko, Vasilij 160 Esenin, Sergej 292, 498, 523, 613, 618, 623 E˙tlis, Miron 13, 24, 289, 295, 516 f. E˙vers, Raisa 156 – 158, 169 f. Evstigneev, Sergej 286 Evtusˇenko, Evgenij 495, 573 Ezˇov, Nikolaj 175, 450, 477, 586 Fajko, Aleksej 117 Fastenko, Anatolij 527 f. FÚdorov, FÚdor 89 FÚdorova, Z. 236 Feils, Alfre¯ds 602 Fejgin, Vladimir 385 f.

Personenregister

Fel’dgun, Georgij 291, 334 – 336, 400 Feodosij (Archimandrit) 68 Ferkel’man, Michail (auch: Moisej) 351, 408, 435 Fersˇtudt, Nikolaj 104, 121 Fichtengol’c, Michail 57 Fidel’gol’c, Jurij 24, 280, 282, 284, 286 f., 321, 552 Filipcˇenko, E. 64 Firin, SemÚn 129, 132, 144, 171, 174 f., 187 f., 202, 204 f., 541 Flesch, Carl 461 Florenskij, Pavel 104, 511 Fogt, Anna 112 Fokin, Valerij 397 Fomenko, Georgij 603 Fomin, Boris 332, 433, 598, 603, 613 Foregger, Nikolaj 113 Fradkin, Mark 408 Francˇuk, Vera 415 f. Frid, Valerij 272 Friml, Rudolf 416 Frolovskij, B. 107, 121 Fuks-Nemereneckaja, Ekaterina 578 Gacˇev, Dmitrij 230, 375, 444 – 452, 523, 572 Gadzˇiev 241 Gafindzˇa 241 Gagen-Torn, Nina 440 f., 508, 519, 549 Gal’perin, Michail 618 Gamil’ton, Nina 375, 377, 430 Ganesˇin, Dmitrij 102 Gaucheron-Delafosse, Alexandre 116 Gavorskij, G. F. 188, 241 Gechtman, I. 218 Gedike, Aleksandr 108, 179 Gejgner, David 603, 614, 618 – 622 Gelikonskaja, Susanna 527 Gerbst, Sof ’ja 329, 331 f., 364, 369 f., 372, 450, 469 f. German, Pavel 168 Germanov, Sergej 348 Gernet, Michail 37 Gessel’, Michail 580, 629 Gilel’s, Elizaveta 57

Personenregister

Gilel’s, E˙mil’ 594 Giljarovskij, Vladimir 348 Ginzburg, Evgenija 294, 328, 406, 507, 526 Ginzburg, G. Ja. 241 Girnjak, Iosif 411 f. Gladkov, Aleksandr 517 Glazunov, Aleksandr 155 Glebova, Natal’ja 420 Glie˙r, Rejngol’d 154, 318, 339, 435, 628 Glinka, Elena 563, 566 Glinka, Michail 100, 201 f., 223 f., 339, 378 f., 381 f., 408, 419, 442, 446, 448, 454 f., 509, 580 Gljasser, Ignatij 112 Glubokovskij, Boris 70, 75, 83, 85, 95 – 98, 135 Glud, Genrietta 399 Gnesin, Michail 628 Godowsky, Leopold 594 Gogol’, Nikolaj 318, 435 Gol’dberg, Boris 586 Gol’denvejzer, Aleksandr 587 Goldoni, Carlo 90, 452 Goldstein, Michael 574 Gol’dsˇtejn, Boris 57 Gol’dsˇtejn, Urie˙l’ 454 Golicyn, Sergej 541 Golovanov, Nikolaj 474, 478 Golovin, Dmitrij 424, 580 – 582, 628 f. Golubev, Georgij 505, 586 Gomoljaka, Vadim 459 Goncˇarov 191, 241 Gordon, Marija 374, 430 Gorelova 46 Gorina, Lilijana 401 Gor’kij, Maksim 57, 103, 107, 130, 144, 173, 186, 203, 225, 329, 350, 374, 511 Gorodeckij 98, 121 Gorodnickij, Aleksandr 548 Gorosˇcˇenko, Olimpiada 232, 234, 236 Gorsˇecˇnikov 407 Gosacˇinskij, Sergej 580 Gounod, Charles 101, 378, 381, 419, 442, 483 Govorskij, Gennadij 204, 241

681 Graubin¸ˇs, Je¯kabs 603, 614 Grebennikov, Viktor 279 f., 571 Grecˇaninov, Aleksandr 331 Gribanova, I. 631 Gridasova, Aleksandra 80, 403 Grieg, Edvard 373, 379, 402, 446, 448, 454, 509 Grin, Matvej 255, 268, 284, 290, 292, 413, 417, 424, 512, 580 – 582, 598 Grinevicˇ, Anton 603 Grisˇpan, Roman 603 Grjaznova, S. 380, 382 Gromov 623 Grosblat, Evgenija 533 Grosˇeva, Elena 462 Grossman 121 Gryzlov, Aleksandr 394, 399 Gulak-Artemovskij, SemÚn 331, 339, 372, 408, 433 GumilÚv, Nikolaj 523 Gurenenko 241 Gurevicˇ, Moisej 583 Gurevicˇ, Regina 293, 375, 533, 535, 583 Gusev, Viktor 332 Guzikova 241 H‚ba, Alois 115 Hal¦vy, Jacques Fromental 379, 394 Händel, Georg Friedrich 98, 383, 459 Herv¦ 363, 367 Hindemith, Paul 415, 611, 618 Hitler, Adolf 374, 386, 595 Hopkin, Mary 598 Hopstein, Kurt 24, 558 f., 561 Hörmann, Artur 253, 283 f., 393, 415 f. Hubay, Karl 351 Hugo, Victor 618 Igumnov, Konstantin 107, 179, 344, 451 f., 597 Ikonnikov, A. 218 Il’in, Aleksej 467 Il’ves, Michail 489, 499, 501 f. Inber, Vera 144 Indra, Juozas 420, 604 Ionov, Michail 313, 354, 363, 373, 375

682 Ipatova 241 Ippolitov-Ivanov, Michail 179, 448, 454, 478, 616 Ircˇan, Miroslav 160 Isˇcˇenko, Valentina 630 Ismagambetov, Madel’chan 604 Ivanov, Azarij 54, 72 f. Ivanov, Konstantin 420 Ivanov, Vsevolod 186 Ivanov (Häftling im Dmitlag) 191, 196 Ivanova, Ol’ga 398 – 400, 433 f., 469, 481, 483 Izvekov, Georgij 604 Jablin, Nikolaj 449 f. Jadrov 99, 121 Jagoda, Genrich 130, 171, 175, 199, 299 f. Jagunov, Dmitrij 460 Jagunova, Lidija 24, 451, 460 Jakovlev, Michail 202 Jakovlev, Tit 409, 434 Jankovicˇ, Anna 399, 436 Jansen, David 168 Jarikov, FÚdor 362 f., 367, 371, 430 Järvi, Kalju 551 Jasenovskij 185 Javorskij, Boleslav 177, 179 f., 191, 229 – 236 Johannes Chrysostomos 523 Juchin, Aleksandr 489 f. Judina, Marija 116, 594 Jungfer, T. 419 Juon, Paul 594 Jusipenko, Michail 270 Kabalevskij, Dmitrij 204, 206 – 209, 344 f., 436, 592 Kac, Efim 521 Kac, Sigizmund 368 Kacˇalov, Vasilij 596 Kacman, Georgij 347, 376 Kacˇura 185 Kaganovicˇ, Lazar’ 618, 621 Kajdan-DÚsˇkin, Sergej 577, 604, 617 Kalafati, Vasilij 223 Kalasˇnikov, PÚtr 442

Personenregister

Kalent’ev, Veniamin 204, 212, 216 Kalinin, Michail 30, 596 K‚lm‚n, Emmerich 321, 356, 399, 406, 408, 416, 420 f., 435, 438, 457, 459, 481 Kalnin¸sˇ, Eduards 604 Kalugin 121 Kancel’ 122 Kancerov 241 Kaneva, Anna 389, 411 f., 427 Kanin, V. E. 241 Kant, Immanuel 599 Kantutis 288 Kaplun-Vladimirskij, Vladimir 413 f. Karindi, Alfred 604 Karlov 241 Karmanov 400 Karmelinskij, Aleksandr 620, 622 Karmeljuk 623 Karpovicˇ, Evgenij 562 Kasymov 241 ˇ eslovas 556 Kavaljauskas, C Kavinin, Aleksandr 298 Keep, E. P. 122 Kenel’, Aleksandr 83, 102, 107, 111 f., 114 – 122, 224, 605, 614, 617, 631 Kenin 241 Kersnovskaja, Evfrosinija 295, 423, 509 f., 536, 539 Kesˇe, Al’bert 368, 372, 390, 395, 399, 469, 481 – 484, 605, 614 Kiricˇenko, I. I. 242 Kirjuchina, Katja 200, 242 Kirkor, Georgij 605, 614 f. Kirspuu, Tija 404 Kislica 552 Kjuss, Maks 176 Klassen, Ja. I. 242 Klejn, Aleksandr 417, 420 f., 423 Klempner, Vladimir 401 f., 598 Klimova, Dina 501 f. Klimovicˇ, G. 555 Klin, Viktor 474 Klinger, A. 80 Knipper, Lev 204 Kobeleva, Marija 24 Kocˇetov, Vadim 624

Personenregister

Kodackaja, Mura 525 Kogan, Lazar’ 129 f., 176 Kokojti, Tatarkan 605 Kolbe, Erna 506 Koldobenko, M. 169 Komarova, Lidija 274, 522 Kompaneec, Zinovij 350 Kondrat’ev 183 Konjus, Georgij 378, 382 Konovalova 242 Konsˇin, Sergej 344 f. Konstantinovskaja (Fürstin) 87 Koralli, Nikolaj 204, 242 Korcˇakovskij, P. V. 163, 170 Kornblitt 35, 41, 48 Kornev, Stepan 204 Korneva, Zinaida 411, 414 Kornilov, Boris 563 Korobkov, Vasilij 368 Korobovskij, S. D. 99, 122 KorolÚv, Sergej 485 Korpacˇevskaja, Solange 587 Korpusova, L. 627 Korsakov, Georgij 352 Kosior, Stanislav 618 Kotljar, E˙mmanuil 289 Koval’, Marian 349, 479 Kovalenko 196 Kovner, Iosif 339 Kozicyn, Jurij 374 Kozij, A. Ja. 242 Kozin, Vadim 23, 395, 398 f., 408, 453, 469, 485 – 503, 539, 605, 613 Kozincev, Grigorij 623 Kozlov, Aleksandr 23, 324, 328, 345, 396, 399, 409, 463 Kravcˇenko, Polina 242 Kravcˇisˇina, Marija 538 Kravec, Nadezˇda 287 – 290, 295, 428, 509, 518, 550, 552, 580, 588 – 592 Kravec, Sara 414 Kreisler, Fritz 373, 446 Krejn, Boris 414 Kre˙n, N. 128 Kreutzer, Leonid 470 Krivozubov, Georgij 366 f., 371

683 Krjukov, Ja. L. 242 Krjukov, Vladimir 286 Kruc, Lev 339, 435 KrucˇÚnych, Aleksej 142 Krucˇinin, Valentin 350 Kruglov, Sergej 248, 255, 264 Krus’ 242 Krylov, Porfirij 384 Ksendzovskij, M. D. 122, 150 f., 159, 170, 242 Kudrjavceva, Antonina 621 Kupov 242 Kuprijanov, Michail 384 Kurbas, Oleksandr 160 f. Kurc 352 Kurganov 46 Kur’janov, Gennadij 372 f. Kurnykov, V. N. 163, 170 Kurskij, Dmitrij 33 Kus’ko 242 Kutlanov, Nikolaj 563 Kuusik, Reinhold 336 Kuz’min (Häftling im Dmitlag) 270 Kuz’min (KVO GULAG-Leiter) 270 Kuz’min, D. (Tenor auf den Solovki) 98, 122 Kuznecova, Dusja 242 Kvadri, Michail 178 – 180, 606, 618 Kvantaliani, Gedeon 24, 270 Labusˇnjak, D. T. 242 Ladejsˇcˇikov, Valerij 274 Ladirdo, PÚtr 328, 378 f., 388, 390 Lampel, Lothar 462 Landau, Lev 441 Langhagel, Karl-Heinz 272 Lavendel’, Vladimir 370 f. Lavrent’ev, Aleksandr 133 Lavrov, Georgij 360 f. Lazarev 242 Lebedev, L. 218 Lebedeva, Ol’ga 623 Lebedev-Kumacˇ, Vasilij 281 Leer, Marianna 415 f. Leh‚r, Franz 161, 288, 318, 330 f., 414, 416, 459

684 Lemesˇev, Sergej 451 Lenin, Vladimir 32, 34, 99, 341, 349 f., 356, 363, 367, 380, 475, 489, 534, 546, 550, 588 Lenivov 203 Leon, Zˇorzˇ 81, 85, 106, 109, 122 Leoncavallo, Ruggero 103, 154, 158, 161, 332, 379, 394, 419 Lepesˇa 79 Lermontov, Michail 117 f., 236, 239, 318, 523 Lesˇcˇenko, PÚtr 470, 539 Lesˇcˇenko-Suchomlina, Tat’jana 18, 369, 401, 419 – 422, 507, 522, 539, 551 Lesnjak, Boris 269, 386 Levi, Natalija 349 Levkassi, I. S. 79, 98, 100, 106, 122 LichacˇÚv, Dmitrij 69 f., 76, 83 – 85, 87, 100, 102 f., 117, 128, 164, 170, 522 LichacˇÚva, Zinaida 294, 392, 425, 443, 516, 524, 527, 531, 539 f., 551 f., 630 Lı¯cı¯tis, Ja¯nis 285, 606 Lı¯daks, Ka¯rlis 606 Liszt, Franz 98, 234, 339, 378 f., 402, 419, 436, 452, 470 Litinskij, Grigorij 289, 361, 412, 416 – 422, 522, 553, 585 Litvin, Nikolaj 78, 94 Litvinenko, Nikolaj 606 Ljadov, Anatolij 233, 455 Ljalin, Michail 331, 354, 362, 370, 433 Ljubarskij, Lev 178 Lochvickij, Sergej 218, 343 f. Losik, Michail 204 Lucchesi, Jose Maria de 531 Luganceva 242 Lukasˇenko 242 Luksˇis, Juozas 556 Lunacˇarskij, Anatolij 360 Lundstrem, Oleg 451 Lysenko, Nikolaj 190 Mahler, Gustav 588 Majakovskij, Vladimir 114, 143, 373, 379, 550 Makarenko 242

Personenregister

Maksimcˇuk, I. E. 242 Malachovskij, N. 115 Malenkov, Georgij 111, 466 Maljuk, Senja 336 Mal’ko, Nikolaj 108, 179 Mandel’sˇtam, Osip 530 Martynov 41 Mascagni, Pietro 158 Massalitinov, Konstantin 349 Massenet, Jules 294, 459, 580, 592 Matorin, Dmitrij 328 Matveenko, V. R. 242 Matveev, Boris 466 Medvedev, Michail 284 Medvedev, N. 213 Medvedev, Roj 274, 522, 599 Medvedskaja, Ksenija 524, 535 Mejer, Aleksandr 116 Mejerchol’d, Vsevolod 357, 366, 384 Melesˇkin, D. A. 242 Mel’nikov, T. 510, 532 Mel’nikova, Antonina 623 Mendelssohn Bartholdy, Felix 98, 446, 454, 457, 459, 592 Merekov, Aleksej 537 Merzlikin 242 Mesˇkovskaja, Marusja 200, 242 Michajlov (Häftling im Dmitlag) 242 Michajlov, Maksim 612 Michajlov, Michajlo 548 Michajlova, Ol’ga 579 Michalkov, Sergej 596 Micheev, Michail 366, 368, 448 Michlin, E. 28 Midlin 122 Mikoladze, Evgenij 576 Mikosˇo, Vladimir 375, 418 – 420, 606, 617, 631 Milenin 185 Milenusˇkina, Valentina 399 Milikovskaja, Ada 385 Miljutin, Jurij 92 f., 330, 339, 435 Miller, Glenn 336 Milovanov 98, 122 Mil’sˇtejn, Natan 57 Minch, Nikolaj 339, 435

Personenregister

Minkus, L¦on 350 Mironenko, Dina 399 Mirov, Roman 201 f. Mitman 378, 382 Mizonov, Aleksej 109 – 111, 122 Mjaken’ko, Serafima 332 Mjaskovskij, Nikolaj 178 f., 378, 623 Moldavan, A. 377 MoliÀre 114 Molotov, Vjacˇeslav 588, 618, 621 Molozin, FÚdor 375 Monikovskaja, Ninel’ 263, 518, 531, 553 Monsaingeon, Bruno 591 Monti, Vittorio 280 f., 373 Mordvinov, Boris 412, 417 – 419, 580 Moroz, Jakov 412 Moskvin, Ivan 596 Mosolov, Aleksandr 179, 606, 614 Moszkowski, Moritz 454 Mozart, Wolfgang Amadeus 188, 420, 422, 433, 469, 589 Mravinskij, Evgenij 236 Muchin, Jurij 336 Muchina, Irina 332, 374 Muchtafutdinov 242 Muradeli, Vano 176, 435, 479, 588, 629 Murav’Úv, Vladimir 521 Musatov, A. P. 159, 170 Musatov, Vladislav 626 Musorgskij, Modest 154, 201 f., 233, 311, 339, 372, 378 f., 435, 442, 455 Mussolini, Benito 379 Mysenko 28 Nabokov, Platon 522, 538, 563, 592 Nadson, SemÚn 618 Nal’skij, Naum 345, 370, 433 Nappel’baum, Ida 290 f. Narva, Heino 389, 395, 399, 469, 631 Naumenko, Galina 496 Navruzov 196, 242 Necˇaj 242 Necˇkina, Milica 597 Nejgauz, Genrich 179, 385, 452, 591, 593 – 597 Nejgauz, Milica 594

685 Nekrasov, Nikolaj 72, 102, 117, 523 Nemcˇinova-Sˇedel’, Varvara 414 Nemilodinov 184 Nemtsov, Jascha 473 Nesterov, Georgij 331 Neznamov, Vladimir 399 Niftan 122 Nikisˇov, Ivan 329, 359, 371, 388, 430, 433 Nikitina, Polina 416 Nikolaev, Leonid 223 Nikolajsˇvili 243 Nikolisˇin, V. 555 Nikol’skij, Jurij 178 Nikonov-Smorodin, Michail 55, 141, 550 Nil’sen, Vladimir 623 Nisˇcˇinskij, PÚtr 378 Nosaev, Nikolaj 204 Nosyrev, Michail 420, 606, 614 f., 617 Novickij 122 Novikov, Anatolij 339, 351, 436, 553 Novikov, M. 160 Novikova 243 Novogrudskij, Kanan 329, 331 f., 372, 387 Novossad, Antonina 24 Oborin, Lev 178 – 180, 344 f. Offenbach, Jacques 90, 154, 161, 348, 351, 357 f., 416, 435, 448 Ogurcov 243 Ojstrach, David 57, 294, 591 Okudzˇava, Bulat 548 Okunevskaja, Tat’jana 330, 529, 538, 584 Olechnowicz, Franciszek 101 Olickaja, Ekaterina 65, 67, 99, 510 Oliger, M. 332 Oliker, Boris 506 Olovejnikova, Ekaterina 416, 526, 582 f. Orlov, Aleksandr 474, 478 Orlov, Georgij 225 Orlov, Sergej 607 Orlova od. Osnova (Operettensängerin auf den Solovki; auch im Dmitlag eine Inhaftierte mit diesem Namen) 122, 243 Orlova, Aleksandra 224 f. Osˇman, Elena 122 Osˇman, Nina 122

686 Ostrovskij, Aleksandr 189, 338 Ovcˇinnikov 170, 243 Ovodov, Aleksandr 347 Oyt 389 Paganini, Niccolo 436 Pancˇenko, Grigorij 137 f. Panikarov, Ivan 23 Panin, Ivan 79, 96, 122 Panina, Varja 487 Pankrat’ev, Michail 478 Parchomenko 360 Parnach, Valentin 383, 628 Pasecˇnik, Natal’ja 473 Pasternak, Boris 18, 518, 523, 589, 613 Päts, Riho 607 Pavel’skij, V. 350, 357, 368, 371 Pavlov, Anatolij 189 Pavlov, Karp 306, 312 Pavlov-Azancˇeev, Matvej 607, 614, 626 f. Pavlova, Ija 416 Pavlovicˇ 191 Pecˇkovskij, Nikolaj 442 Pekar’, Vsevolod 370 Pel’tcer, Pavel 366 Penzo, Ida 290, 622 f. Perepelicyna, Tat’jana 287 Pergament, Moses 351 Perlova, Valentina 475 Pesˇkova, Ekaterina 57 Pestov, Sergej 622 Petrov 243 Petrusˇevskaja, Ljudmila 587 Pevzner 243 Pfeiffer, Adolf 282 f. Pidoplicˇko, Grigorij 4, 443 f. Piljasov, Aleksandr 302 Pirogov 243 Pisanko, Anton 578 Pisˇcˇalin 243 Pjatnickij, Mitrofan 190, 339 Planquette, Robert 379 Plytnik 475 Pochvalenskij, Aleksandr 164 f., 170 Podgorskij 243 Podufanova 243

Personenregister

Pogodin, Nikolaj 86, 130, 134 f., 137, 167 Pol’ 243 Poljakin, Miron 331 Poljanovskij, E˙duard 498 – 500 Poljanskij 243 Polonskij, Jakov 523 Polosin 243 Polovinkina, Vera 443 Ponomarenko, Pantelejmon 461 Popov, A. 417, 420 f., 423 Popov, Evgenij 607 Popov, N. A. 41, 48 Popov, Sergej (1937 erschossen) 572 Popov, Sergej (Tenor aus Leningrad) 399 Popova, Valentina 24, 558, 561 Popov-Rajskij, Viktorin 582 Portanenko, Vasja 243 Portugalov, Valentin 295, 366, 382, 389 Prichod’ko, Anatolij 399, 435 Prigozˇij, Jakov 168 Prikazcˇikov 186 Privalov, Leonid 89, 122, 159, 170 Prokof ’ev, Sergej 331, 376, 383, 599 Prokof ’eva, Lina 599 Protopopov, Sergej 40, 198 f., 205 – 209, 228 – 239, 243, 293, 444, 607, 614 Provatorov 188, 243 Provotorov od. Provorotov 243 Prozorovskij, Boris 170, 223, 243, 598, 607, 613 Psˇibysˇevskij, Boleslav 155, 170, 572 Puccini, Giacomo 158, 161, 330, 394, 420, 436 Pupors, Ioganes 592 Pusˇkin, Aleksandr 200 – 202, 225, 227, 234, 240, 242, 370, 372, 418, 459, 518, 523, 556 – 558, 582 Pusˇkov, Venedikt 347 Pyrev, Ivan 55 Rachimov 243 Rachman 98, 122 Rachmaninov, Sergej 102 – 104, 107, 109, 332, 370, 378, 436, 470 Rachmanov, S. F. 159, 170 Rachmatulaev od. Rachmatullaev 243

Personenregister

Radeeva, Zoja (auch: Zˇizˇimontova) 414, 582 Radko, N. 107, 122 Raevskij, Aleksandr 111, 122 Rafalovicˇ, Moisej 365, 368 Ragimov, Asˇdar 516 Raidma 389 Ramensky, Gabriel 77 Rapoport, Jakov 152, 174, 181 Rassadin, Oleg 608, 415 Ravel, Maurice 485 Ravtopullo od. Ravtopulla od. Ravtopulo 122 Rebane, Jan 430 Reimers, Vilis 608 Rejnsˇtejn, Lev 421 Richepin, Jean 618 Richter, Gertrude 514, 631 Richter, Svjatoslav 591, 593 f., 596 Rimskij-Korsakov, Georgij 114 f. Rimskij-Korsakov, Nikolaj 99, 154, 158, 223, 233, 287, 318, 331, 339, 350, 378, 420, 446, 453 – 455, 579, 602, 615 Rimus 571 Ris, Rene˙ 608 Rivcˇun, Elizaveta 618 – 620, 622 Rjabov, Aleksej 339 Rodcˇenko, Aleksandr 130, 133 f., 143 Rodionov 581 Rodnov 98, 122 Rogackij, Lev 353, 355 – 357 Rogal’-Levickij, Dmitrij 628 Rogov, PÚtr 204, 208, 215 – 217 Rojtman, Raisa 623 Romanov, Vasilij 586 Romanovskij, Gavriil 587 f. Romasˇcˇenko 122 Rosner, Eddie 336, 393, 399, 460 – 468, 492, 608, 614 Rossini, Gioacchino 103, 196, 284, 378, 436, 448 Rostropovicˇ, Mstislav 632 Rozanov, Aleksandr 201, 204, 206 – 209, 223 – 228, 243, 608, 617 Rozanov, Michail 87 Rozensˇtrauch, E˙lli 159

687 Rozensˇtrauch, Jurij 329, 331 f., 370, 372 – 374, 410 Rubinsˇtejn, Anton 89, 232, 330, 379, 442 Rubinsˇtejn, Jasˇa 98, 122 Rucˇ’Úv, Boris 563 Ruchlin, Vasilij 437 Rudakovskij, E. 287 Rudinskaja, Inna 453 Rumin, Ursula 529 Rusakov, Paul Marcel 608, 613 f. Ruslanova, Lidija 147, 284 – 288, 486 Rutkovskij, Teodor 421 Ruubel, Voldemar 401 Sacharova, Tamara 243 Sachiev 243 Sˇachnarovicˇ, L. 357 f. Sˇafer, Naum 416 Saint-SaÚns, Camille 122 f., 459 Saitov 243 Sajanov, Vissarion 329 Sˇalamov, Varlam 252, 269, 273, 376 f., 395, 441, 490, 520 f., 523, 539, 541, 543 Sˇaljapin, FÚdor 294 Sˇalygin 198, 243 Samocha, Pavel 346 Samts, Edgars 608 Sancˇenko 243 Sandler, Asir 292, 334 – 337, 516 f., 521 f. Sˇapovalov, A. 191, 243 Sarachanov, Konstantin 562 Saradzˇev, Konstantin 179 Sarancˇa, Vasilij 204, 206, 214 f., 243 Sarasate, Pablo de 330 – 332, 347, 381, 433, 436, 454, 592 Sˇaripov 196, 243 Sˇasˇkova 243 Satzger, Antonie 506 Savcˇenko (Häftling im Dmitlag) 191, 196 Savcˇenko, Boris 387, 394 f., 397, 457, 486 f., 490, 492, 494 – 496, 498, 502 f., 531 Savel’ev, Michail 191, 204, 244 Savel’ev, Nikolaj 191, 204, 206, 244 Savusˇkin, Leonid 372 f. Savvatij (Mönch) 59

688 Sˇcˇedrin, Nikolaj 198, 204, 244 Sˇcˇeglov 244 Sˇcˇerbina, I. Ja. 244 Sˇcˇerbovicˇ 90, 122 Schubert, Franz 378, 422, 446, 448, 454, 529 Schumann, Robert 234, 446 Schünemann, Irmgard 271 Sˇebalin, Vissarion 178 f., 597 Sˇechter, Boris 204, 206 Sederholm, Boris 80 f. Sedleckaja, Ol’ga 24 Seleckij, Miron 621 Sˇelest, Georgij 514 Selivanov, Aleksandr 180, 519 Sˇelkovnikov 83 Sel’vinskij, Il’ja 329 Semper, Natal’ja 172 f. Senderichin, Danja 197, 244 Sˇ enejch, Tamara 234 Serebrov, Feliks 427 Serebrovskij, Nikolaj 218, 562 Sˇeremet 244 Sˇeremet’ev, Aleksandr 370 Sˇeresˇevskij, Lazar’ 24, 411, 601 Sergeeva, Tamara 24 Sesorov 346 Sˇestopal, Nikolaj 294 Sˇestov 244 Sˇevcˇenko, Grigorij 204, 207 f., 212 – 214, 217, 244 Sˇevcˇenko, L. 377 Sˇevcˇenko, Taras 612 Severjanin, Igor’ 292 Sˇevljakova, Tanja 199 f., 242, 244 Shakespeare, William 114 Sibelius, Jean 459 Sibor 46 Sidorov (Komponist) 331, 613 Sidorov, Ivan 359, 362, 365, 430 Sˇil’cov, Anatolij 199 Sˇilina, Ol’ga 549 Sı¯lis, Artu¯rs 609 Sˇilova, Svetlana 558 f., 561, 598 Simonov, Konstantin 498 Sinicyn 190, 244

Personenregister

Sinjavskij, Andrej 549 Sˇirjaev, Boris 60 f., 71, 78 f., 83, 91 f., 94, 96, 98, 102, 106 f. Sˇirvani, Jusuf-Zija 209 Sˇirvindt, Evsej 31, 33, 35, 40, 48 Sivopljas 244 Sivova, Nina 500 Skalon, Natal’ja 107 Sˇklovskij, Viktor 130 Sˇkol’nik, Arkadij 386 Sˇkred, Nikolaj 145 Skrjabin, Aleksandr 235, 332, 350, 383, 452, 470, 474, 616 Slivinskij, V. P. 159, 170 Smagin 336 Smetana, Bedrˇich 339 Smirnov, Nikolaj 444 Smolina, Tamara 286, 494 Smol’janinov, Georgij 481, 483 Snegov, Aleksej 427 Sˇnejder, Il’ja 618 Sokolov, Boris 582 Sokolov, Nikolaj 384 Sokolovskij, Nikolaj 328 Sollertinskij, Ivan 179 Sˇolochov, Michail 416, 435 Solockij 390 Solomonovicˇ 268 Solonevicˇ, Ivan 126, 425, 428 Solov’Úv, A. 197, 244 Solov’Úv, Emel’jan 72, 84 Solov’Úv, Vladimir 379 Solov’Úv-Sedoj, Vasilij 339, 381, 408, 434 Solzˇenicyn, Aleksandr 17 f., 59, 67, 124 f., 130, 139 f., 151, 172, 297, 303, 329, 401 f., 424, 508, 511, 514, 518, 524 f., 529, 575 f., 585, 599, 636 Sorin, Grigorij 356 Soroka, Nikolaj 420 Sorokin, V. N. 244 Sorokin, Vladimir 609 Sosnovskij, Vladimir 272, 291, 410, 521 f. Sˇostakovicˇ, Dmitrij 108, 112, 155, 178 f., 206 – 208, 224, 236, 329, 339, 378, 435, 459, 473, 572, 596, 614 f. Sotcˇak, Ol’ga 315

Personenregister

Spendiarov, Aleksandr 287 Spendiarova, Marina 287 Speranskij 122 Sˇpil’man, Alik 336 Sˇragin, Boris 547, 569 Stachanov, Aleksej 175, 669 Stalin, Iosif 13, 22, 77, 124, 130, 139 f., 178, 207, 220, 248, 265, 279, 285, 290, 294, 298 f., 329, 339 – 341, 346 – 350, 361, 363, 367, 374, 392, 395, 416, 438, 451, 464 f., 475, 489, 517, 534, 545 f., 550, 572, 581, 583 f., 588, 590, 592, 597, 618, 623, 630 Stanesku, Goga 88 f., 122 Starickij, Michail 372 Stark, Meinhard 271, 506 Starokadomskij, Michail 178 f., 204 Sˇtejn, Raisa 288, 579 Sˇtejnberg, Maksimilian 108, 112 Stojano, Aleksandr 420 Stoljarskij, PÚtr 57, 335 Sˇtrassenburg, Stanislav 609 Strauss, Johann 377 f., 414, 416, 433, 435, 448, 459, 462 Strauss, Richard 476 Strel’cov 424 Strel’nikov, Nikolaj 399, 406, 416, 457, 621 Sˇtromberg, Nikolaj 122 Strucˇko, E˙duard 202, 204, 207, 214, 244 Strucˇkov 191 Sˇtrukgof 98, 123 Sˇuchaev, Vasilij 362, 370, 372, 396 Suchinov, B. M. 244 Suchodol’skij, V. A. 163, 170 Suchomisˇcˇenko 408 Sˇuksˇin, Vasilij 292 Sˇul’man, Michail 447 Sˇulubina, Svetlana 302 Sˇumskij, Nikolaj 331 Supp¦, Franz von 196, 435 Susˇko, Iosif 285, 287 Suslin, Viktor 593 Sˇustova, Nadezˇda 578 Sˇutenko, Taisija 609, 622 – 625 Sˇvarcburg, Ananij 121, 164, 364, 373,

689 379 f., 382, 385, 392, 399, 448, 450 – 454, 457 Sˇvejnik, Filipp 453 Svendsen, Johan 373 Svetlikovskij, Zenon 578 Svetlov, M. 183 Sviridov, Ivan 465 Tabacˇnikov, Modest 433 Tager, Elena 297 Tajbalin, Grigorij 108, 116 Tajnickaja, Elena 24 Tallgren, Ernst 268, 272 Tamarova, Natal’ja 426 Taneev, Jakov 367, 432 Taneev, Sergej 454, 602, 616 Tarasova, Evdokija 329, 332, 370, 374 Taristy 244 Tartakovskij, SemÚn 351 Tarumov, Tigran 588, 618 Tatarinov, Boris 609, 612 Teplickij, Leopol’d 155 f., 170, 609, 617, 631 Terent’ev (Orchestermusiker im Dmitlag) 244 Terent’ev, Igor’ 142 – 144, 174, 199 Terent’eva, Marija 526 Termen, Lev 484 f. Terner, Boris 436 Terpilovskij, Genrich 610, 614 Thibaud, Jacques 400 Timofeev (Maler) 360 Timofeev, Boris 136 Timofeyev, Oleg 626 Titov, Nikolaj 403 Tjuricˇ, Jurij 46 Tjutcˇev, FÚdor 523 Tkacˇenko 191, 244 Tochnir, Nikolaj 523 Tokarskaja, Valentina 401, 584 Tokarzewski, Szymon 29 Tolstoj, Aleksej 329, 597 Tolstov 151, 170 Topilin, Vsevolod 442, 589 – 593 Tormi, Artur 334, 336, 598 Toropov 244

690 Trambickij 244 Trauberg, Leonid 623 TrenÚv, Konstantin 347 Tret’jakov, Sergej 114 Tret’jakova, Marija 526 Trockij, Lev 445, 561 Tuchacˇevskij, Michail 616 Tuchner, Sofija 160, 170 Tupolev, Andrej 485 Turenkov, Aleksej 610 Turevskij 390 Turgan, Evald 334, 336, 399 f., 435 f. Tvardovskij, Aleksandr 338, 416 Twain, Mark 332, 382 Urbanik 160 f., 170, 598 Uspenskij, Dmitrij 86, 139 Ustieva, Vera 80, 469, 490 UtÚsov, Leonid 541 Vachnjanskij, Moisej 380 Vajn, A. O. 123 Vajnberg, Moisej 610, 614 Vajner, Ljudmila 485 Vajskopf, Jakov 73, 541 f. Valaev, Rustem 88, 109 Val’dgardt, Pavel 102, 107 f., 116, 123, 610, 614 Valeev, Sˇavkat 365 Valentinov-Sobolevskij, Valentin 71, 82 Valjanskij, Nikolaj 204, 244 Val’ter, Aleksandr 336 Vardi, Aleksandr 294, 425 f., 428, 486, 514, 543 – 546, 551 Varlamov, Aleksandr Egorovicˇ 408, 627 Varlamov, Aleksandr Vladimirovicˇ 581, 611, 614, 617, 627 – 630 Varlamova, N. 350 Varpachovskij, FÚdor 385, 397 Varpachovskij, Leonid 374 f., 380, 383 – 392, 394 – 397, 410, 434, 452, 457, 469 Varpakhovskaya, Anna 24, 387, 391 – 393, 490 Varsˇavskij, Mark 619 Vasil’ev (Häftling im Dmitlag) 244 Vasil’ev, Pantelejmon 611

Personenregister

Vasil’ev, Pavel 109, 123 Vasilevskij 181 Vas’kov, Rodion 301 Vavrzˇikovskij, Vladimir 334, 336 Vedernikov, Anatolij 596 Vegener, Leonid 382 Veger, Evgenij 587 Vejs, Igor’ 170, 599 Vejs, Pavel 415, 611 Vel’egorskij, Matvej 202 Vel’jaminov 400 Vengerova, Evgenija 329, 331 f., 369 f., 372, 374, 377, 394, 433 Veprik, Aleksandr 576, 611, 614 Verbickaja, Anastasija 46 f. Verdi, Giuseppe 101, 103, 160, 332, 350, 378 f., 381, 383, 394, 414, 420, 422, 448 Vertinskij, Aleksandr 381, 539 Vetlugina, Sˇura 200, 244 Vetrova, Galina 399, 404, 407, 469 – 472, 491 Vettik, Tuudur 611 Viardot, Pauline 223 Vilenskij, SemÚn 14, 24, 128, 247, 273, 289 f., 293, 321, 330, 389, 425, 512, 516 – 518, 521, 523, 525, 527, 529, 551 f., 555, 563, 574 Vinnik, Antonina 435 Visˇneveckij (Häftling im Dmitlag) 203 Visˇneveckij, Aleksandr 329, 331, 368, 370, 372, 433 Vitel’s, Lev 582 Vitlin, Viktor 339, 435 Vı¯tols, Ja¯zeps 590 Vittor, NÚbdinsa 598 Vladimirova, Elena 5, 274, 279, 439 f., 512 – 514, 522, 553 Volkov, Oleg 128 Volkov, Solomon 155, 572 Volkova, Sˇura 244 Volosˇin 546 Volosˇina, Evgenija 24 Vorosˇilov, Kliment 618, 621 Vorozˇejkin, Vasilij 336 Vostrcˇil 244 Voznesenskij, Andrej 562

Personenregister

Vygodskij, Nikolaj 89, 104, 108 f., 123, 572, 611 Vygon, Michail 273 Vygorskij 420 Vysˇinskij, Andrej 123, 477 Vysockij, Vladimir 548 Wagner, Richard 188, 448, 476, 589, 593 Wallace, Henry A. 376 f. Weber, Carl Maria von 379 Weill, Kurt 618 Whitman, Walt 618 Wieniawski, Henryk 103, 381, 454, 459 Zabelin, N. P. 163, 170, 598 Zabolockij, Nikolaj 562 Zacharov, Vladimir 349 Zaderackij, Vsevolod Petrovicˇ 473 – 480, 612, 614 Zaderackij, Vsevolod Vsevolodovicˇ 24, 473 – 477, 479 f. Zajcev, K. A. 244 Zak, Jakov 453, 594 Zalesskaja, Asja 123 Zamyko 331 f. Zare˙, Michail 357 Zarod, Kazimierz 271 Zaslavskij, Grigorij 394 Zav’jalov, A. 191 f., 198, 244 Zbrueva, Evgenija 583 Zdanevicˇ, Il’ja 142 Zdanevicˇ, Kirill 142 Zdanevicˇ, Vadim 399 Zˇdanov, Andrej 582, 588, 621

691 Zelinskij, Kornelij 144 f., 461 f. Zeller, Carl 154, 435 Zˇerebcova, Raisa 156, 170 Zˇigulin, Anatolij 298, 562, 564, 566 Zˇigul’skij, I. 186 Zil’berman, I. A. 244 Zil’bersˇtejn 245 Zˇiljaev, Nikolaj 179, 572, 612, 614, 616 Zˇilov, Nikolaj 70 f. Ziskina, Ida 21, 80, 329, 382, 387 f., 390, 392 – 396, 411, 490 Zisser, Samuil 590, 598 Zˇitomirskij, Aleksandr 112 Zˇizˇimontova, Zoja (auch: Radeeva) 414, 582 Zlatkus, Bronjus 556 ZolotarÚv, Vladislav 22 Zolotov 245 Zolts, Pe¯teris 612 Zosˇcˇenko, Michail 130, 348, 358, 373 Zosima (Mönch) 59 Zubko, Stepan 160, 170 Zuev, D. F. 245 Zˇuk, R. S. 245 Zˇukov (stellvertretender Dal’stroj-Leiter) 341 Zˇukov, Georgij 286 Zˇukova 245 Zul’fikarov, Nasir 245 Zˇvirko, Celina 587 Zvjagina, Lidija 414 Zvodzinskaja, Jadviga 331 Zykov, Leonid 528 f. ZˇzˇÚnov, Georgij 274, 409 f., 432 f., 519